Einsatz ohne Krieg?: Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Militärgeschichte, Sozialwissenschaften, Zeitzeugen [1 ed.] 9783666336096, 9783525336090

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Einsatz ohne Krieg?: Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer             Wirklichkeit. Militärgeschichte, Sozialwissenschaften, Zeitzeugen [1 ed.]
 9783666336096, 9783525336090

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Jochen Maurer Martin Rink (Hg.)

Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit

Bundeswehr im Einsatz Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Band 1

Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Militärgeschichte, Sozialwissenschaften, Zeitzeugen Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegeben von

Jochen Maurer und Martin Rink

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Bundeswehr/Andrea Bienert Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Fachbereich Publikationen (0833-01) Koordination, Bildrechte: Annabel Franceschini Satz: Martina Reuter Lektorat: Stefan Kahlau Texterfassung: Antje Lorenz, Martina Reuter Grafiken: Carola Klinke, Bernd Nogli

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-33609-6

Inhalt 7



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Vorwort Jochen Maurer und Martin Rink

Einsatz ohne Krieg?

Militär, Gesellschaft und Semantiken zur Geschichte der Bundeswehr nach 1990

Martin Rink

Was ist »Krieg«? Was nennen wir »Krieg«? Eckart Conze

Sicherheit ohne Ende.

Bundesrepublik und Bundeswehr in den Dynamiken von Versicherheitlichung und Sicherheitsexport seit 1990

Hans-Peter Kriemann

»Nie wieder Krieg«

Wie die Bundeswehr in den Kosovo-Konflikt geriet

Wolfgang Knöbl

91

Die Produktion von Paradoxien.





Markus Holzinger





Klaus Naumann

Theorie und Praxis von Friedensmissionen oder »Wir wollten nur das Beste, aber dann kam es wie immer«

107 »Neue Kriege« als sozialtheoretischer Ausnahmezustand? 129 Eine Rechnung mit vielen Unbekannten.

Determinanten des Wandels in der deutschen Sicherheitspolitik seit 1990





Philipp Münch

151 Ein paradoxer Krieg.

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan





Jéronimo L. S. Barbin

173 Antworten auf die Asymmetrie.

Westliche Militärdoktrinen zur Aufstandsbekämpfung im Vergleich

Gerhard Kümmel 199 Von Comedy bis hin zu Versuchen, das Unerklärbare zu erklären. Das Militär im bundesrepublikanischen Film





Kay Hoffmann

227 Zwischen Transparenz und Kontrolle.

Dokumentarfilme und TV-Reportagen zur Bundeswehr seit 1989

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Inhalt





Philipp Fraund





Markus Steinbrecher und Meike Wanner

243 Die Bundeswehr, das Fernsehen und der Krieg 255 Alles eine Frage des Erfolgs?

Einstellungen zum internationalen Engagement Deutschlands und zum Einsatz in Afghanistan





Gerd Hankel





Angelika Dörfler-Dierken

277 Dominiert die Macht das Recht oder umgekehrt? 291 Referenzrahmen Krieg – Referenzrahmen Frieden. Ethische Erwägungen





Winfried Nachtwei

313 »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner sieht es.«

Gibt es eine systematische Debatte zur militärischen Sicherheits- und Friedenspolitik?





Sönke Neitzel





Jochen Maurer

327 Die Bundeswehr zwischen Friedensdiskurs und den Herausforderungen des Einsatzes. Vier Militärzeitschriften 2001‑2011 347 »Hier ist Krieg!«

Der ISAF-Einsatz und seine Perzeption in Ego-Dokumenten von Soldaten der Bundeswehr





Peter Klaus Bomhardt

367 Innere Führung und Führung im Einsatz am Beispiel des ISAF-Einsatzes. Resümee eines Stabsoffiziers





Rainer Glatz, Christian Madl, Jared Sembritzki, Ilja Sperling, Mike Zimmermann, moderiert von Anja Seiffert

379 Am scharfen Ende des Einsatzes

Erfahrungen von fünf Zeitzeugen vom Mannschaftssoldaten bis zum General





Eberhard Zorn

405 Wofür braucht Deutschland Soldaten? Wofür töten, wofür sterben?

417 Bildteil 427 Personenregister 431 Autorinnen und Autoren

Vorwort Die seit 1990 vergangene Zeitspanne ist bereits jetzt länger als der Zeitabschnitt, in dem die Berliner Mauer existierte. Schon dies rechtfertigt es, die Geschichte der vereinten Bundesrepublik und ihrer Bundeswehr als eine eigene Ära zu betrachten. Zugleich wird die berühmt gewordene Frage der US-amerikanischen Historikerin Barbara Tuchmann aufgeworfen: »Sollte – oder vielleicht auch kann – man über Geschichte schon schreiben, während sie noch qualmt?«1

Die Autorin mahnte zur Vorsicht. Zweifellos und leider trifft dieses »Qualmen« für die jüngste Bundeswehrgeschichte nicht nur in metaphorischer Weise zu. Dieser Band stellt sich der Frage: »Einsatz ohne Krieg?« Die komplexe Geschichte der Bundeswehr seit 1990 kann indessen nicht auf die Formel »Krieg« reduziert werden. Nicht nur hinsichtlich der rechtlichen Qualifizierung ist dieser Begriff problematisch. Gleichwohl können »kriegsähnliche Zustände« und die damit verbundenen Aspekte von Gefecht, von Töten, Verwundung, Tod und den psychischen Folgen nicht ausgeblendet werden; genauso wenig wie die Herausforderungen im Heimkehrprozess von Soldatinnen und Soldaten in ihre Stammtruppenteile und Familien. Gleichzeitig gilt es, diese Geschichte so zu differenzieren, dass das gesamte Spektrum der militärischen Einsätze sichtbar wird. Ohne die Ergebnisse dieses Bandes vorwegzunehmen, lässt sich feststellen, dass viele Soldatinnen und Soldaten an ihren Einsätzen gewachsen sind. Auch die Bundeswehr als Gesamtorganisation hat sich stark verändert. Zudem ist die Rolle von Politik und Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Bei aller Kritik, welche die Auslandseinsätze auf sich zogen, kann doch von einer pauschalen Verurteilung der Bundeswehr oder von einer generellen Geringschätzung ihres Personals keine Rede sein. Die Bevölkerungsumfragen zeigen hier ein deutlich vielschichtigeres Bild. Der vorliegende Band geht auf die 58. Internationale Tagung für Militärgeschichte zurück, die vom 21. bis 23. Juni 2017 in Potsdam stattfand. Diese Veranstaltung war zugleich eine Tagung für Sozialwissenschaften, Politikwissenschaften und Medienwissenschaften – unter Einbeziehung von Ethik und Recht. Alle diese Aspekte spiegeln sich in diesem Sammelband wider. Von dieser Bandbreite der Neuesten Militärgeschichte zeugt die Vielfalt der Betrachtungsebenen dieser Publikation. Sie befasst sich mit der Aufarbeitung einer noch sehr nahen Vergangenheit. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr – jene im Einsatz, jene im Heimatland und auch Reservedienstleistende sowie jene, die den aktiven Dienst verlassen haben – prägen unsere Gesellschaft. Daher ist es wichtig, »ihre« Geschichte zu erzählen.

1

Barbara Tuchman, Wann ereignet sich Geschichte? In: Geschichte denken. Essays, Düsseldorf 1982, S. 31‑39, hier S. 31.

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Vorwort

Dafür, dass sie diese zahlreichen Facetten zunächst in der Tagung und nun im vorliegenden Band gebündelt haben, danke ich an erster Stelle den beiden Herausgebern, Jochen Maurer und Martin Rink. Mein besonderer Dank gilt weiterhin allen Autorinnen und Autoren, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Ausdrücklich bekunde ich dabei meinen Dank und Respekt für die wertvollen Erkenntnisse der einsatzerfahrenen Zeitzeugen. Für die Koordination und Realisierung dieses Buchprojektes, einschließlich der Bildredaktion sowie der grafischen und satztechnischen Umsetzung, danke ich dem Fachbereich Publikationen. Dank gebührt außerdem Stefan Kahlau für das sorgfältige Lektorat. Dieser Band vereint vielfältige Darstellungsansätze und Meinungen. Er ist die erste Publikation der neuen Schriftenreihe »Bundeswehr im Einsatz«. Die bisherige Reihe »Neueste Militärgeschichte« wird damit inhaltlich fortgeführt und weiterentwickelt. Der vorliegende Band soll wie die weiteren Studien zur multiperspektivischen Beschreibung und Bewertung der Auslandseinsätze der Bundeswehr beitragen. Ich wünsche diesem Buch und der neuen Reihe viele Leserinnen und Leser in der Wissenschaft, Bundeswehr und Öffentlichkeit. Dr. Jörg Hillmann Kapitän zur See und Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Jochen Maurer und Martin Rink

Einsatz ohne Krieg? Militär, Gesellschaft und Semantiken zur Geschichte der Bundeswehr nach 19901 »Stell Dir vor, es ist Krieg ... und keiner gibt es zu.«

Mit dieser abgewandelten Zeile eines Bertolt Brecht zugeschriebenen Gedichts konfrontierten nach Afghanistan gereiste Journalisten Ende 2008 einen deutschen Generalstabsoffizier der Panzertruppe.2 Und tatsächlich stellt sich die Frage: Befinden sich deutsche Soldaten im Krieg? Offiziell und formaljuristisch gewiss nicht. Dennoch haben die Auslandseinsätze nicht nur die Streitkräfte und die Gesellschaft, sondern auch den politischen Diskurs darüber verändert. Schon in den 1990er Jahren begleitete die umstrittene Frage nach der Kriegsbeteiligung die Bundeswehr auf ihrem Weg von der »Armee der Einheit« zur »Armee im Einsatz«. Nach ihrem Selbstverständnis sind die Bundesrepublik und ihre Bundeswehr aber schon deswegen nicht im Krieg, weil ihnen der (Angriffs)Krieg verfassungsrechtlich und durch die UN-Charta verboten ist.3 1

2

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In den ersten Teil dieses Beitrags sind früher publizierte Gedanken eingeflossen: Martin Rink, Einsatz ohne Krieg? Militär, Gesellschaft und Semantiken zur Geschichte der Bundeswehr nach 1990. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, 2 (2017), S. 18‑21. Zitat eines Reporters nach einem mehrtägigen Truppenbesuch in Fayzabad, 17. Einsatzkontingent Afghanistan nach Oberst i.G. Andreas Durst. In: Kommando Heer, Aus dem Einsatz lernen. 13 Jahre ISAF, Strausberg 16.3.2015, S. 145‑150, hier S. 148. Vgl. Christoph Reuter, Stell dir vor, es ist Krieg ... und keiner gibt es zu. In: Stern Online, 19.10.2008 (letzter Zugriff 12.6.2020). Zum angeblichen Brecht-Zitat: Christoph Drösser, Stimmt’s? Von Brecht? Unvorstellbar. In: Die Zeit, 06/2002 (21.2.2017). Vgl. auch Johannes Hartmann, Stell Dir vor, es ist Krieg, und Keiner geht hin. In: Spiegel Online, 6.2.2016 (letzter Zugriff 12.6.2020). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe mit ausführlichen Verweisungen, umfangreichem Sachregister sowie einer Einführung von Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 64. neu bearb. Aufl., München 2016, S. 1‑78, Artikel 26 (1), S. 19; Charter of the United Nations and Statute of the International Court of Justice, San Francisco, 26.6.1945 (letzter Zugriff 12.6.2020).

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Jochen Maurer und Martin Rink

Eingedenk der militärischen und moralischen Katastrophe der im Zweiten Weltkrieg verübten rassenideologisch motivierten Verbrechen pflegte die bundesdeutsche Armee das Selbstbild von einer Friedensarmee. Daher und wegen der Nuklearbedrohung im Kalten Krieg wurde ein Soldatentypus favorisiert, der sich vom NS-Kämpferideal klar abhob. In diesem Sinn entwarf das Führungskonzept der Inneren Führung des Wolf Graf von Baudissin das Leitbild vom Soldaten in der Demokratie als einem »Soldaten für den Frieden«.4 Auch nach 1990 und bis zum heutigen Tag blieben die Sicherung oder Wiederherstellung des Friedens das Hauptanliegen der Bundeswehr als Einsatzarmee – nun allerdings, im Auslandseinsatz, in einem Umfeld von Bürgerkrieg, schwacher Staatlichkeit und Terror. Doch Deutschlands engste sicherheitspolitische Partner sehen dies augenscheinlich anders.5 Angesichts der Anschläge in Paris im November 2016 sprach der französische Präsident François Hollande umstandslos von »Krieg«.6 Auch die US-Präsidenten führen seit 2001 einen »Krieg gegen den Terrorismus«.7 Ein großer Teil des Einsatzspektrums der Bundeswehr im vergangenen Vierteljahrhundert lässt sich dagegen kaum als Krieg bezeichnen. Der Begriff »Einsatz« umschreibt indessen eine große Bandbreite: vom Ausbildungsauftrag, der Luftraum- oder Seeüberwachung über Stabilisierungsmissionen bis hin zum Kampf; hinzu kommen »einsatzgleiche Verpflichtungen«. Dennoch ist die Debatte um »Krieg oder Nichtkrieg« Teil der Bundeswehrgeschichte im Einsatz. Das zeigt die hohe Zahl der »Sicherheitsvorfälle« – also der Anschläge oder Gefechte mit ihren Verwundeten und Gefallenen. Die Frage nach dem Krieg eignet 4

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Wolf Graf von Baudissin, Soldat für den Frieden: Entwürfe für eine zeitgemäße Bundeswehr. Hrsg. und eingel. von Peter v. Schubert, München 1969; hierzu: Martin Rink, Die Bundeswehr 1950/55‑1989, München 2015 (= Militärgeschichte kompakt, 6), S. 40, 90. Hans-Georg Ehrhart, Krieg und Kriegführung im 21. Jahrhundert. In: Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen. Hrsg. von Hans-Georg Ehrhart, Baden-Baden 2017, S. 7‑30, hier S. 18. Discours du Président de la République devant le Parlement réuni en Congrès, Versailles, 16.11.2015 (letzter Zugriff 12.6.2020). George W. Bush, Address to a Joint Session of Congress and the American People, 20.9.2001 (letzter Zugriff 12.6.2020); George W. Bush, Graduation Speech at West Point, New York, United States Military Academy, 1.6.2002 (letzter Zugriff 12.6.2020). Distanzierter, doch ebenfalls auf das Wort »Krieg« rekurrierend: Barack Obama, Adress to the Nation by the President, 6.12.2015 (letzter Zugriff 12.6.2020). Auch Obama bezeichnete den Afghanistaneinsatz als »good war« und als »war of necessity«. Stephan Bierling, Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart, München 2014, S. 167. Das Motiv »to defeat terrorism and protect civilization« durch Soldaten als »warriors of freedom« findet sich wieder in der blumig-direkten Diktion von US-Präsident Donald Trump: Remarks by President Trump and First Lady Melania Trump to Troops and Families, U.S. Naval Air Base Sigonella, Italien, 27.5.2017 (letzter Zugriff 12.6.2020).

Einsatz ohne Krieg?

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sich daher sehr gut als Ausgangspunkt und Analysefolie, um die jüngste Bundeswehrgeschichte zu historisieren.

1. »Kriegsähnliche Zustände« Am 3. November 2009, sechs Tage nach seinem Amtsantritt als Bundesverteidigungsminister, brach Karl-Theodor zu Guttenberg in einem Interview mit der Bild-Zeitung ein Tabu: Angesichts der Sicherheitslage in Teilen Afghanistans sprach er von »fraglos kriegsähnlichen Zuständen«. In seiner Wortwahl folgte Guttenberg gewissermaßen seinen Kritikerinnen und Kritikern im Bundestag. Namentlich Abgeordnete der Linkspartei hatten die Bundeswehreinsätze schon vorher ablehnend als »Krieg« kritisiert. Mit seinen Worten rechtfertigte der junge Minister die Sprache und die Sicht der Truppe: »Ich selbst verstehe jeden Soldaten, der sagt: In Afghanistan ist Krieg, egal, ob ich nun von ausländischen Streitkräften oder von Taliban-Terroristen angegriffen, verwundet oder getötet werde.«8

Und tatsächlich hatten deutsche Soldaten zu diesem Zeitpunkt bereits wiederholt im Feuer gestanden – und dabei stets Gefallene und Verwundete zu beklagen: So waren am 19. Mai 2007, am 27. August 2008 und am 20. Oktober 2008 Soldaten bei Anschlägen ums Leben gekommen. Gleichwohl stellte Verteidigungsminister Franz Josef Jung bei einem Truppenbesuch in Afghanistan fest: »Wir befinden uns nicht im Krieg.«

Obwohl Jung mit dieser Äußerung lediglich der Diktion seiner Vorgänger folgte, brachte ihn der anwesende US-amerikanische General und ISAFBefehlshaber David McKiernan prompt und recht undiplomatisch in Verlegenheit, indem er ihm entgegnete: »Natürlich sind wir im Krieg«.9

Am 29. April 2009 fiel mit dem Hauptgefreiten Sergej Motz der erste deutsche Soldat seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Feuergefecht, vier weitere Soldaten wurden verwundet. Die Einsatzrealität kam nun um das »K-Wort« für »Krieg« kaum mehr herum. Der Vater des Gefallenen, der selbst als sowjetischer Soldat in Afghanistan gedient hatte, hatte ihn noch vor dem Einsatz 8

9

Kriegsähnliche Zustände in Teilen Afghanistans, Karl-Theodor zu Guttenberg im Interview mit der Bild-Zeitung, 3.11.2009 (letzter Zugriff 12.6.2020). Zitate: Stefan Kornelius, Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan, Hamburg 2009, S. 64; Bierling, Vormacht (wie Anm. 7), S. 164; vgl. auch Rainer L. Glatz, International Security Assistance Force (ISAF) – Erfahrungen im Afghanistaneinsatz. In: Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke. Hrsg. von Rainer L. Glatz und Rolf Tophoven, Bonn 2015 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1584), S. 60‑77, hier S. 76, Anm. 11.

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beschworen, der offiziellen Charakterisierung des ISAF-Einsatzes nicht zu glauben: »Ich habe ihm gesagt, das ist Krieg, Sergej, Krieg! Keine Friedensmission«.10

Von nun an gehörten Hinterhalte, Feuergefechte und bald auch offensive Maßnahmen zum Aufgabenspektrum der außerhalb der Feldlager eingesetzten Bundeswehrsoldaten. In der Nacht zum 4. September 2009 befahl der Kommandeur des Provincial Reconstruction Teams in Kunduz den Luftschlag gegen einen gekaperten Tanklastzug. Neben Taliban starben hierbei auch Zivilisten.11 Der Vorfall wurde in den folgenden Jahren kontrovers diskutiert, wurde vor Gericht – auch dem Bundesverfassungsgericht – verhandelt12 und steht im Hintergrund der Äußerungen Guttenbergs. Eine Woche nach ihrem Minister, am 14. November 2009, machte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel dessen Diktion zu eigen. Auch sie konzedierte,

»dass aus der Sicht unserer Soldaten kriegsähnliche Zustände in Teilen Afghanistans herrschen, auch wenn der Begriff Krieg aus dem klassischen Völkerrecht für die jetzige Situation nicht zutrifft«.13

Später, im März 2010, bemerkte Guttenberg, dass

»wir manchmal auch in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten sicher noch an ›Verdruckstheit‹ gelitten haben, was unangenehme außen- und sicherheitspolitische Themen angeht.«

Und schon im erwähnten Bild-Interview hatte er rhetorisch gefragt:

»Glauben Sie, auch nur ein Soldat hat Verständnis für notwendige juristische, akademische oder semantische Feinsinnigkeiten?«14

Kurz darauf, am Karfreitag, den 2. April, fielen erneut drei Soldaten im Feuergefecht. Die »kriegerische« Einsatzrealität für die beteiligten Soldaten belegten nur zwei Wochen später, am 15. April, vier weitere Gefallene der Bundeswehr.15 10 11

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14

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Lars Gaede, Das ist Krieg, Sergej, Krieg! In: taz am Wochenende, 2.10.2010, S. 20 f. Laut einem Bericht der von der afghanischen Regierung beauftragten Untersuchungskommission »seien mehr als 150 Personen getötet oder verletzt worden«, darunter 69 getötete Taliban. Deutscher Bundestag, Drucksache 17/7400, 17. Wahlperiode, 25.10.2011, S. 83 (letzter Zugriff 12.6.2020). Bundesverfassungsgericht, Beschluss der 3. Kammer des zweiten Senats vom 19. Mai 2015 2 BvR 978/11 – Rn. (1‑41) (letzter Zugriff 12.6.2020). Die Krise ist noch längst nicht überstanden, Angela Merkel im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 14.11.2009 (letzter Zugriff 12.6.2020). Verdruckstheit im Umgang mit dem Afghanistaneinsatz, Karl-Theodor zu Guttenberg im Interview mit dem Deutschlandfunk, 14.3.2010 (letzter Zugriff 12.6.2020); Kriegsähnliche Zustände (wie Anm. 8). Planungsamt der Bundeswehr IV 2 (4) Strategische Einsatzauswertung, Oberstleutnant i.G. Peter Bomhardt, Auswertebericht Nachbetrachtung ISAF, Berichtszeitraum 22.12.2001‑31.12.2014, 23.2.2015, Anlage 2: Chronologie des Einsatzes in

Einsatz ohne Krieg?

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Vorher wie nachher kreiste die politische Argumentation um die Semantik des Krieges. In der Bundestagsdebatte am 8. September 2009 sprach Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier im Bemühen um neutrale Formulierungen vom »Kampf gegen den Terrorismus«, der »nicht nur mit militärischen Mitteln zu gewinnen« sei. Die Bundeskanzlerin sprach in ihrer Regierungserklärung deutlicher vom zusammen mit den Bündnisstreitkräften durchgeführten »Kampfeinsatz der Bundeswehr« und betonte gleichzeitig die Verbindung militärischer, diplomatischer, polizeilicher, humanitärer und anderer Akteure:

»Wurde die Bundeswehr in der Vergangenheit oft als Brunnenbauer verspottet, so ist die Politik der vernetzten Sicherheit heute Konsens unter den Verbündeten.«

Oskar Lafontaine von der Linkspartei sprach dagegen unumwunden von »Krieg« – und bemerkte weiter: »Krieg ist kein Mittel der Politik.«

Jürgen Trittin von den Grünen erklärte hingegen:

»Dass es in Afghanistan Krieg gibt, heißt nicht, dass die Bundeswehr dort einen Krieg führt.«16

Er vertrat damit die Haltung der von 1998 bis 2005 amtierenden rot-grünen Regierung. Hatten die Bundesregierungen seit den 1990er Jahren unter Helmut Kohl trotz zunehmenden Bundeswehrengagements im Ausland noch sorgsam jede Verwendung des Begriffs »Krieg« vermieden, stand dieser seit der Jahreswende 1998/99 unumgänglich im Raum. Schließlich hatten die seit 1991 eskalierenden Konflikte zwischen den und innerhalb der Nachfolgestaaten Jugoslawiens den Krieg nach Europa zurückgebracht.17 Dies kontrastierte mit der popularisierten These des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, wonach mit dem Ende des Kalten Krieges die Welt einem westlichen, liberal-demokratischen Entwicklungsmodell folgen werde, sodass nun ein »Ende der Geschichte« zu konstatieren sei.18 Einige Jahre spä-

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Afghanistan ISAF (einschließlich der weiteren Gefechte); Matthias Gebauer, Protokoll der Alptraumnacht von Kunduz, 26.11.2009 (letzter Zugriff 12.6.2020); Chris Helmecke, Gefallen und verwundet im Kampf. Deutsche Soldaten im Karfreitagsgefecht. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, 2 (2018), S. 4‑9; Martin Rink, Das Karfreitagsgefecht am 2. April 2010. In: Kompass. Soldat in Welt und Kirche 04 (2020), S. 6‑8. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 233. Sitzung, Berlin, 8.9.2009, Plenarprotokoll 16/233 (letzter Zugriff 12.6.2020), S. 26302 (Steinmeier), 26298 f. (Merkel), 26304 f. (Lafontaine), 26206 (Trittin). Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 308‑326; Überblicksdarstellungen in: Wegweiser zur Geschichte. BosnienHerzegowina, 2. Aufl. 2007. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Agilolf Keßelring; Wegweiser zur Geschichte. Kosovo, 3. Aufl. 2008. Im Auftrag des MGFA hrsg. von Bernhard Chiari und Agilolf Keßelring. Dabei handelte es sich um eine – möglicherweise gerade in Deutschland dankbar aufgenommene – vereinfachte Rezeption der komplexen Geschichtsphilosophie Fukuyamas, die ein Fortbestehen des Krieges nicht ausschloss. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992; dazu: Stefan Jordan, Francis Fukuyama und das »Ende der Geschichte«. In: Zeithistorische Forschungen, 6 (2009), 1, S. 159‑163.

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Jochen Maurer und Martin Rink

ter rückte dagegen das von Mary Kaldor und Herfried Münkler vertretene Schlagwort der »neuen Kriege« in den Fokus von Politikwissenschaft und Öffentlichkeit. Der »klassische Staatenkrieg« sei demnach ein »historisches Auslaufmodell«.19 Angesichts der seit 1991 von der Bundeswehr erwarteten Unterstützung internationaler militärischer Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets stand die Bundesregierung vor einem Dilemma: Einerseits galt es, die Bündnistreue, andererseits die bundesdeutsche Tradition militärischer Zurückhaltung zu bewahren. Dem entsprach die sogenannte Kohl-Doktrin: Wo deutsche Soldaten Krieg geführt und Kriegsverbrechen begangen hatten, wie in Jugoslawien, dürfe deutsches Militär nicht stationiert werden.20 Demgegenüber wurden die Forderungen des Bündnisses nach einem verstärkten deutschen militärischen Engagement immer lauter. Nachdem die internationale Staatengemeinschaft offenkundig nicht in der Lage gewesen war, den Genozid im ostafrikanischen Ruanda von 1994 zu verhindern, und als im Sommer 1995 das an 7000 bis 8000 Bosniern verübte Massaker von Srebrenica die Grenzen des gewaltfreien UN-Blauhelm-Einsatzes aufgezeigt hatte, gelangte das Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect) in den Vordergrund völkerrechtlicher Erörterungen. Es wurde in den Jahren 2000/2001 entwickelt und vier Jahre später von den Staaten der Vereinten Nationen mehrheitlich anerkannt.21 Wie in Kambodscha 1992/93 und Somalia 1993/94 begann der Bundeswehreinsatz auf dem Balkan zunächst humanitär. Die Ausweitung des Bundeswehrengagements erfolgte erst mit sanitätsdienstlichen (UNPROFOR), dann mit logistischen (IFOR), schließlich mit Stabilisierungskräften (SFOR).22 Ab September 1998 hatte sich die neu gewählte rot-grüne Regierungskoalition 19

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22

Herfried Münkler, Die neuen Kriege, 5. Aufl., Reinbek 2003, S. 7 (Zitat); Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era, 3. Aufl., Cambridge 2001. Diskussion des Begriffs: Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Hrsg. von Anna Geis, Baden-Baden 2006; hier insbesondere Sven Chojnacki, Kriege im Wandel. Eine typologische und empirische Bestandsaufnahme (ebd., S. 47‑74, insbes. S. 48, 61, 66‑68); Klaus Schlichte, Neue Kriege oder alte Thesen? Wirklichkeit und Repräsentation kriegerischer Gewalt in der Politikwissenschaft (ebd., S. 111‑132); Herfried Münkler, Was ist neu an den neuen Kriegen? – Eine Erwiderung auf die Kritiker (ebd., S. 133‑150); Christopher Daase, Die Theorie des Kleinen Krieges revisited (ebd., S. 151‑166). Bierling, Vormacht (wie Anm. 7), S. 25 f.; Brendan Simms, From the Kohl to the Fischer Doctrine: Germany and the Wars of the Yugoslav Succession, 1991‑1999. In: German History, 21 (2003), 3, S. 393‑414. Matthew Jamison, Humanitarian Intervention since 1990 and »Liberal Interventionism«. In: Humanitarian Intervention: A History. Hrsg. von Brendan Simms und David J.B. Trim, Cambridge 2011, S. 365‑380, hier S. 371; Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, 4. Aufl., München 2016, S. 346‑348. Zur Zahl der Opfer von Srebrenica: United Nations International Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of International Humanitarian Law Committed in the Territory of Former Yugoslavia since 1991, Case No IT-98-33-/, 2.8.2001, S. 174 (letzter Zugriff 12.6.2020). Vgl. Wegweiser zur Geschichte. Auslandseinsätze der Bundeswehr. Hrsg. von Bernhard Chiari und Magnus Pahl, Paderborn [u.a.] 2010.

Einsatz ohne Krieg?

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dennoch der Frage nach dem Krieg zu stellen. Das bis 2008 noch zu Serbien/ Jugoslawien gehörige Kosovo war Schauplatz massiver Vertreibungen und Gewalt durch serbische Sicherheitskräfte und entsprechender Gegengewalt.23 In Übereinstimmung mit den NATO-Partnern, doch ohne UN-Mandat, verließ die Bundesregierung unter Gerhard Schröder die bisherige politische Linie, Bundeswehreinsätze nur dort zuzulassen, wo das Risiko, militärische Waffengewalt einsetzen zu müssen, gering war. Die Entscheidung der rot-grünen Regierung zur deutschen Beteiligung an den NATO-Luftschlägen gegen die jugoslawische (serbische) Armee wurde zwar vom Parlament gebilligt, blieb aber umstritten. Trotz der Beteiligung an Luftschlägen – einschließlich der Bekämpfung der jugoslawischen Flugabwehr durch BundeswehrTornados und trotz des Einsatzes von Kampftruppen des Deutschen Heeres im Rahmen der KFOR – galten diese Einsätze keineswegs als Krieg. In seiner Fernsehansprache am 24. März 1999 rechtfertigte Bundeskanzler Schröder den Einsatz als notwendig zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe im Kosovo. »Der jugoslawische Präsident«, so der Kanzler, »führt dort einen erbarmungslosen Krieg.« Doch sofort stellte er klar: »Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.«24

Gewissermaßen handelt es sich hierbei um die Aneignung eines Denkmusters, das im Eigenlob der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie zum Ausdruck gekommen war: »bella gerant alii« – Kriege mögen die anderen führen. Vom Tenor her reihte sich die rot-grüne Regierung damit in eine Linie ein, die von der Vorgängerregierung Kohls bis zu den Nachfolgeregierungen Merkels reicht: Ungeachtet der zurückhaltenden Diktion nahm der Einsatz für die Soldaten vor Ort einen zunehmend »kriegsähnlichen« Charakter an. Auf diese Diskrepanz bezog sich Guttenbergs Kritik am »verdrucksten« deutschen Sprachgebrauch. Denn die im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik besonders im politisch linken Lager erfolgte Gleichsetzung von Krieg mit dem rassenideologischen Vernichtungskrieg des NS-Staates richtete sich gegen diejenigen ihrer politischen Gegner, die in konservativer Absicht die Exzesse des NS-Staates und auch der Wehrmacht über Jahrzehnte hinweg verharm23

24

Zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit 1990 mit unterschiedlichen Bewertungen: Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 1158‑1170, 1120‑1231; Rödder, 21.0. (wie Anm. 21), S. 344‑350; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 872‑881, 889‑899; Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998‑2005, München 2013, S. 64‑94, 279‑326; Bierling, Vormacht (wie Anm. 7), S. 26‑46, 79‑106, 156‑187, 266‑271. Zit. nach Wolfrum, Rot-Grün (wie Anm. 23), S. 64. Vgl. ZDF-Dokumentation Geschichte treffen: Kosovo‚ 99, produziert von Wolf-Christian Ulrich, 30.11.2016 , 24:24‑25:15 (letzter Zugriff 12.6.2020). Zu den Luftschlägen: Hans-Peter Kriemann, Nie wieder Auschwitz – die Bundesrepublik und der Kosovo-Einsatz 1999. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, 4 (2016), S. 31; Hans-Peter Kriemann, Der KosovoKrieg 1999 (= Kriege der Moderne), Ditzingen 2019, S. 59‑76.

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lost hatten.25 Folgerichtig wirkte jeder Bundeswehreinsatz, der als »Krieg« qualifiziert werden könnte, als Rückschritt in eine unheilvolle Vergangenheit. Mit dem drohenden Völkermord im zerbrochenen Jugoslawien sah sich die Bundesregierung nun aber in der Pflicht, moralisch gebotene Militäreinsätze im Interesse der Weltgemeinschaft zu führen – aber nicht als »Krieg«. In diesem Sinne erklärte Bundesaußenminister Joschka Fischer auf der Sonderbundesdelegiertenkonferenz seiner Partei am 13. Mai 1999: »[I]ch stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermorde, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.«26

Auf die Stabilisierungsmissionen auf dem Balkan folgte kaum zweieinhalb Jahre später der Afghanistaneinsatz. Am 24. Oktober 2008 erweiterte der kurz zuvor durch den ISAF-Oberbefehlshaber wegen seiner zurückhaltenden Wortwahl brüskierte Verteidigungsminister Franz Josef Jung das offizielle Bundeswehr-Vokabular um das Wort »Gefallener«. Zwei Wochen zuvor hatte er mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit die Gefechtsrealität gewürdigt. Dies dokumentiert seit November 2008 auch das Ehrenmal der Bundeswehr am Bendlerblock, dem Sitz des Verteidigungsministeriums in Berlin. Zwei Jahre später stiftete sein Nachfolger die Einsatzmedaille Gefecht.27 Symbolisch erfolgte so die Anerkennung einer komplexen Einsatzrealität, die – nach wie vor – mit dem Wort »Krieg« nur unzureichend beschrieben ist; zumal die Einsatzsoldaten selbst zwischen den teils in heftigen Gefechten stehenden »Draußis« und den numerisch überwiegenden »Drinnis« im Routinedienst der Feldlager unterscheiden. In den Jahren 2009 und 2010 kämpften Soldaten der Bundeswehr dann in Gefechten bis zur Führungsebene Bataillon, die für die Betroffenen wohl kaum anders denn als »Krieg« zu bezeichnen waren.28 25

26

27 28

Zur Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd 5 Bundesrepublik und DDR 1949‑1990, München 2008, S. 19‑23, 301‑303; Edgar Wolfrum, Die Bundesrepublik Deutschland 1949‑1990, Stuttgart 2005 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 23), S. 219‑221, 499‑504; Herbert, Geschichte Deutschlands (wie Anm. 23), S. 657‑668, 1015‑1022. Zit. nach Wolfrum, Rot-Grün (wie Anm. 23), S. 77. Zu »Auschwitz« als (de)legitimierende Denkfigur: Michael Epkenhans, Das Ende der Geschichte? Der Wandel deutscher Politik und Gesellschaft im Hinblick auf die Anwendung militärischer Gewalt. In: Auftrag Auslandseinsatz. Neueste Militärgeschichte an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Streitkräften. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br. [u.a.] 2012 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 1), S. 55‑62. Loretana de Libero, Tod im Einsatz. Deutsche Soldaten in Afghanistan, Potsdam 2014, S. 35‑39, 55. Feindkontakt. Gefechtsberichte aus Afghanistan. Hrsg. von Sascha Brinkmann, Joachim Hoppe und Wolfgang Schröder, Hamburg [u.a.] 2013; Jared Sembritzki, Kampfmoral und Führen mit Auftrag – Entscheidende Voraussetzungen für das Bestehen im Gefecht? In: Schützen, Retten, Kämpfen – Dienen für Deutschland. Hrsg. von Alois Bach und Walter Sauer, Berlin 2016, S. 207‑212; ferner: Hans-Werner Fritz, Hendrik Staigis und Mathias Weber, Counterinsurgency und Führungsverantwortung im Einsatz am Beispiel ISAF für das Jahr 2010. In: Stabilisierungseinsätze als gesamtstaatliche Aufgabe. Erfahrungen und Lehren aus dem deutschen Afghanistaneinsatz zwischen Staatsaufbau und Aufstandsbewältigung (COIN). Hrsg. von Robin Schroeder und Stefan Hansen, Baden-Baden 2015, S. 211‑232; Christian von Blumröder, Shape, Clear, Hold, Build –

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Dessen ungeachtet kommt zumindest eine Streitkräfte-interne Auswertung zu dem Ergebnis, dass das kameradschaftliche Band zwischen denjenigen Einsatzsoldaten mit und denjenigen ohne Gefechtserfahrung generell nicht beeinträchtigt gewesen sei.29 Die Diskrepanz zwischen Realität und offizieller Diktion thematisierte auch das Staatsoberhaupt: Nach einem Truppenbesuch in Afghanistan sprach Bundespräsident Horst Köhler am 22. Mai 2010 von »kriegsähnlichen Verhältnissen«. Sein Vorschlag, die internationalen Handelswege im Interesse der Staatengemeinschaft militärisch zu schützen,30 zog indessen derartige Kritik nach sich, dass sich Köhler veranlasst sah, vom Amt zurückzutreten – ein weiterer Beleg für den verminten deutschen Diskurs zur Sicherheitspolitik.

2. Militärische Einsätze im Dilemma Als Joschka Fischer am 13. Mai 1999 den Einsatz militärischer Gewalt zur Eindämmung der Gewalt rechtfertigte, sprach er mit blutrot verschmiertem Revers. Ein Gegner des Militäreinsatzes hatte ihn mit einem Farbbeutel beworfen und dabei verletzt. So zeigte sich im Großen wie im Kleinen die Paradoxie in der Debatte um das »K-Wort«: Gewalt auszuüben, um sie im größerem Maßstab zu verhindern. Westliche, demokratisch legitimierte Armeen im Einsatz agieren im mehrfachen Dilemma. Erstens in humanitärer Hinsicht: Sowohl militärisches Handeln als auch Nicht-Handeln kann je nach Umständen katastrophale Folgen haben. Dies betonte schon 1995 Bundespräsident Roman Herzog, dem am 8. September 2009 in ähnlicher Wortwahl die Bundeskanzlerin folgte.31 Und so problematisch die militärische Untätigkeit der Weltgemeinschaft in Ruanda oder – anfangs – in Bosnien-Herzegowina war, so problematisch erwies sich die von USPräsident George W. Bush geschmiedete »Koalition der Willigen« für den Irakkrieg von 2003. Dies führt zu einem zweiten, dem politischen Dilemma – nämlich zwischen Bündnissolidarität und dem Interesse an innen- und parteipolitischer Harmonie daheim. Drittens erscheint die Bundeswehr im Licht der Öffentlichkeit zwiespältig: In Meinungsumfragen erzielt sie respektable Resultate.32 Viel Zustimmung erhält sie bei humanitären Einsätzen, etwa der Flüchtlingshilfe im Mittelmeer von 2015 bis 2019. Aber je »kriegsähnli-

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31 32

Die Operation Halmazag des Ausbildungs- und Schutzbataillions in Kundus. In: ebd., S. 233‑243; Marcel Bohnert, COIN an der Basis: Zur Umsetzung des Konzeptes in einer Kampfkompanie der Task Force Kundus. In: ebd., S. 245‑258. Kommando Heer, Aus dem Einsatz lernen (wie Anm. 2), S. 58. »Sie leisten wirklich Großartiges unter schwierigsten Bedingungen«, Horst Köhler im Interview mit dem Deutschlandradio, 22.5.2010 (letzter Zugriff 12.6.2020). Bierling, Vormacht (wie Anm. 7), S. 38, 165. Vgl. hierzu den Beitrag von Markus Steinbrecher und Meike Wanner in diesem Band.

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cher« die Einsätze sind, desto stärker sinkt die Zustimmung. So stellt sich die Frage nach der Legitimität militärischen Handelns, wenn die Kernbefähigung zum Kampf gefordert ist. Damit ist viertens die Paradoxie im soldatischen Selbstbild verbunden: Die unter Nuklearbedingungen geltende Devise »Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen« transformiert sich bei Schutz- und Stabilisierungsaufträgen zur Maxime »Kämpfen können, um den Frieden zu erzwingen«. Und so blieb es der Bundeswehr nicht erspart, bewaffnete Gewalt auszuüben – und selbst mit deren Folgen in Form von Tod, Verwundung und psychischen Schädigungen konfrontiert zu werden. Und immer bleibt das Risiko, sich durch schuldhaftes Gewalthandeln starken negativen Sanktionen auszusetzen – genauso wie durch Nicht-Handeln. So fanden sich Soldaten der Bundeswehr, die im Einsatz im Auftrag ihres Dienstherrn von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hatten, regelmäßig vor der Staatsanwaltschaft wieder, die routinemäßig überprüfte, ob es sich dabei um Straftaten handelte.33 Gleichzeitig war (und ist) es unklar, ob denn der Versicherungsschutz für abgeschlossene Lebensversicherungen auch im – nicht als »Krieg« definierten, aber dennoch möglicherweise versicherungsseitig so einstufbaren – Auslandseinsatz gültig bleibt. Die Einsätze der Bundeswehr sind auch in den Wohnzimmern der Deutschen angekommen. Den Luftschlag von Kunduz verarbeitete eine ZDFDoku-Fiktion;34 die bundesdeutsche Institution der Krimi-Reihe »Tatort« rückte wiederholt vom Einsatz gezeichnete (Ex-)Soldaten ins Bild, so etwa die 1000. Folge im November 2016.35 Große Aufmerksamkeit erregte das von Ferdinand von Schirach verfasste Theaterstück Terror, das ab 2015 auf 49 deutschen Bühnen aufgeführt und am 17. Oktober 2016 im Ersten Deutschen Fernsehen sowie in Österreich und der Schweiz ausgestrahlt wurde. Obwohl die hier aufgezeigten ethischen und juristischen Dilemmasituationen und Entscheidungszwänge die Luftraumüberwachung (Air Policing) im deutschen Luftraum betrafen, können sie für den Einsatz bewaffneter militärischer Gewalt insgesamt verallgemeinert werden.36 Naturgemäß ironisch nehmen Zeitungskarikaturen die Einsätze ins Visier. So zeichnete Klaus Stuttmann im Juli 2006 einen Kampfpanzer der 33

34 35

36

Rainer L. Glatz, Führen im Einsatz – Verantwortung über Leben und Tod – eine berufsethische Annäherung. In: Am Hindukusch – und weiter? (wie Anm. 9), S. 187‑202, hier S. 196 f. Eine mörderische Entscheidung, Deutschland, Regie Raymond Ley, Drehbuch Hannah Ley, Erstausstrahlung 30.8.2013. Taxi nach Leipzig (1000. »Tatort«-Folge), Regie Alexander Adolph, Erstausstrahlung 13.11.2016. Vgl. u.a. Heimatfront, Regie Jochen Alexander Freydank, Drehbuch Christian Heider, Christiane Hütter, Erstausstrahlung 23.1.2011. Zur habituellen Distanz der Verantwortlichen für die Fernsehproduktionen gegenüber Bundeswehrthemen einer der Hauptdarsteller, der später selbst als Soldat der Reserve Einsatzerfahrung sammelte: Gregor Weber, Krieg ist nur vorne Scheiße, hinten geht’s! Ein Selbstversuch, München 2014, S. 44‑47. Ferdinand von Schirach, Terror. Ein Theaterstück und eine Rede, München 2015; Terror – Ihr Urteil, Regie Lars Krause, Drehbuch Ferdinand von Schirach und Oliver Berben, Erstausstrahlung ARD 17.10.2016.

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Bundeswehr inmitten eines Trümmerfeldes unter Beschuss: Drinnen diskutiert die Besatzung den Unterschied ihres Afghanistaneinsatzes zum Irakkrieg mit Verweis auf die offizielle Sprachregelung: »Die [Amerikaner im Irak] führen dort Krieg! Wir sichern den Frieden!« Eine genau drei Jahre später erschienene Karikatur mit demselben Motiv (und noch dramatischeren Kampfszenen) ließ die Soldaten ausrufen: »Wenigstens haben wir keinen Krieg hier!« Der Untertitel verwies namentlich auf Verteidigungsminister Jung; so auch eine ebenfalls im Sommer 2009 erschienene Karikatur, auf der sich der Minister im Fahrradslalom um die Buchstaben »Krieg« herumbewegt. Die aus Sicht der Soldaten mangelnde Rechtssicherheit infolge von Einsatzregeln (Rules of Engagement), die noch auf Stabilisierungsoperationen ausgerichtet waren, spießte der Zeichner Götz Wiedenroth 2009 auf: Zwei Soldaten verlassen ein Flugzeug, der eine in Polizeibegleitung und Handschellen – Text: »Hat ohne Bundestagsbeschluss das Gewehrfeuer der Taliban erwidert« –, der andere im Sarg: »Hat unter Taliban-Gewehrfeuer auf einen Bundestagsbeschluss gewartet«. Eine Karikatur Stuttmanns von Oktober 2010 nahm auf politische Klärungsprozesse Bezug. Ein Soldat in Splitterschutzweste – augenscheinlich im Gefecht – wird von seinem Kameraden informiert, der aus einem Papier vorliest: »Übrigens befinden wir uns ab heute offiziell in einem ›bewaffneten Konflikt im Sinne des Völkerrechts‹.«

Antwort:

»Dann entwickelt sich ja wenigstens eins positiv: der Realitätssinn.«

Das brachte die zwischenzeitlichen sicherheitspolitischen Aushandlungsund Lernprozesse auf den Punkt. An eine Karikatur aus dem Jahr 2009, die einen Bunker – offensichtlich im Feldlager – mit der Aufschrift: »In Afghanistan führen wir keinen Krieg!« abbildete, konnte im Jahr 2014 angeknüpft werden. Diesmal wird im Inneren des Bunkers verkündet, dass die Sicherheitsmission erfolgreich beendet worden sei. Allerdings endet der Redner mit der bangen Frage: »Traut sich jemand raus, um die Fahne einzuholen?«37

Diese provozierenden Auffassungen skizzieren den Diskurs um die Einsätze mit grobem Stift. Doch bündeln und verdichten sie das Bild, das die Öffentlichkeit von den Einsätzen hatte. Zudem zeigen sie, wie sehr sich in wenigen Jahren unter verschiedenen Regierungen und Verteidigungsministern die Einsatzrealität veränderte – und gleichzeitig die Art und Weise, wie sie wahrgenommmen und zur Sprache gebracht wurde.

37

Vgl. die Online-Auftritte der Karikaturisten Klaus Stuttmann , Götz Wiedenroth , Heiko Sakurai sowie den Bildteil dieses Buches S. 415 f.

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3. Ebenen der Betrachtung Im großen Maßstab offenbaren die kontrovers diskutierten semantischen Inkonsistenzen bei der Frage nach dem Krieg die Notwendigkeit eines »Dilemma-Managements« auf mehreren Ebenen.38 Neben den juristischen Finessen um die einsatzbezogenen Regeln, Gesetze und verfassungsmäßigen Fragen und jenseits der für eine parlamentarische Demokratie konstitutiven Kontroversen eröffnet das Aufzeigen der vielfältigen Paradoxien um die Frage »Einsatz ohne Krieg?« den Zugang zu einer zeithistorischen Verortung der Bundeswehrgeschichte seit 1990. Und immerhin steht den 35 Jahren Bundeswehrgeschichte von 1955 bis 1990 eine Zeit von nunmehr 29 Jahren nach Ende des Kalten Krieges gegenüber. Der Einsatzgeschichte soll in diesem Band in fünffacher Hinsicht nachgegangen werden, wobei sich die Betrachtungsperspektiven mehrfach überkreuzen und miteinander verzahnen. In historiografischer Hinsicht ist ein Überblick über militärische Operationen der Bundeswehr sowie über die hierzu erforderlichen Anpassungsprozesse zu geben. Trotz einer in jüngerer Zeit anschwellenden Einsatzliteratur wie Erfahrungsberichten und ungeachtet einiger politik- und sozialwissenschaftlicher Studien existiert nach wie vor keine geschichtswissenschaftliche Gesamtdarstellung zur Bundeswehr im Einsatz. Diese kann auch mit diesem Band nicht vorgelegt werden. Wohl aber können – hoffentlich – Impulse gegeben werden, die zu einer Historisierung beitragen. Einer geschichtswissenschaftlichen Erzählung müssen Überlegungen vorausgehen, nach welchen Kriterien und unter welchen leitenden Fragen diese erfolgen kann. Paradoxerweise ist die Geschichtswissenschaft hierzu einerseits deswegen geeignet, weil die mit der Geschichtsschreibung befassten Menschen notwendigerweise erst spät – und für ein aktives Handeln stets zu spät – auf das Betrachtungsfeld gelangen. Andererseits bietet die geschichtswissenschaftliche Methodik, die erzählende Narration – als tendenziell kaleidoskopartige Zusammenschau verschiedener Perspektiven – möglicherweise genau deswegen eine geeignete Grundlage, weil hierbei im Gegensatz zu den stärker begrifflich ausgearbeiteten Wissenschaften wie den Sozial-, Rechts- oder Politikwissenschaften ein gleichsam »schwach strukturierter« Ansatz zum Tragen kommt. Die vielfältigen Verzahnungen des Themas »Bundeswehr, Einsatz, Krieg« sind zunächst, vor einer abschließenden Zuordnung, »idiografisch«, also gewissermaßen durch relativ »schwach strukturierte Begriffe« darzulegen.39 Dieses Operieren mit noch offenen Begriffskonzepten bietet 38 39

Zum Begriff siehe Klaus Naumann, Der blinde Spiegel. Deutschland im afghanischen Transformationskrieg, Hamburg 2013, S. 165; ähnlich ebd., S. 80 f., 96 f., 122 f., 138 f. Zu nomothetischen gegenüber idiografischen Wissenschaften klassisch: Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg, Straßburg 1894, S. 12‑18 (letzter Zugriff 12.6.2020). Zum Unterschied der empirischen (historischen und soziologischen) gegenüber »dog-

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den Vorteil, dass dabei die in anderen Wissenschaften oder im Politikbetrieb zutage tretenden Grenzen des Sagbaren überwunden oder wenigstens ausgeleuchtet werden können. Dies ist aber mit dem offenkundigen Nachteil verbunden, dass hier mit Begriffen – oder gewollt wie ungewollt ironischen Wendungen – operiert werden muss. Diese entziehen sich aber tendenziell der konzeptionellen Klarheit einer nomothetischen, also an der Beschreibung raum- und zeitübergreifender Regelmäßigkeiten interessierten Wissenschaft. Allerdings wirft der rein historiografische Zugang Probleme auf, die insbesondere bei zeitnahen Forschungsthemen nicht leicht gelöst werden können: Denn der auf eine noch unabgeschlossene Geschichte fokussierte, nacherzählende Ansatz muss zwangsläufig unvollständige Erzählungen produzieren. Mehr noch: Solange keine leitende Fragestellung entwickelt wurde, droht das Betrachtungsobjekt in einen bunten Strauß unverbundener Einzelfakten zu zerfallen. Offene Begriffskonzepte sind klärungsbedürftig. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind daher ergänzende Ansätze notwendig. Und nur tendenziell nomothetische Aussagen sind geeignet, solche leitenden Fragestellungen und die zu ihrer Beantwortung erforderlichen zeitund raumübergreifenden Begrifflichkeiten zu entwickeln. Diese gegenseitige Verzahnung ist mit dem seit 2013 in dieser Form bestehenden Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) organisatorisch und wissenschaftlich umgesetzt worden – und hier speziell mit der Abteilung Einsatz, in der Sozialwissenschaftler und Historiker zusammenarbeiten. So soll auf der Grundlage der etablierten sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeiten der historisch-narrative Ansatz ergänzt werden. Erst die Verwendung sozialwissenschaftlicher Methoden ermöglicht es, Aussagen zur gegenwartsnahen Zeitgeschichte zu treffen. Dabei setzt der empirisch-quantitative Ansatz seinerseits voraus, dass hinreichend stabile und abgrenzbare Begriffe entwickelt wurden, um die Untersuchungsergebnisse zu erzeugen. So ist beispielsweise eine Kategorisierung unerlässlich, um eine quellennahe Erhebung über die die Bundeswehr im Einsatz betreffenden »Sicherheitsvorfälle« oder die Anzahl der im Einsatz gefallenen Soldaten durchzuführen. Diese einfach erscheinende Frage erfordert jedoch kategoriale Vorab-Entscheidungen, die durchaus nichttriviale Aspekte betreffen.40 Erst die interdisziplinäre Integration mehrerer Wissenschaften – und damit auch gewachsener Denkkulturen – ermöglicht es, die jüngere Bundeswehrgeschichte hinsichtlich der dort im »kriegerischen« (und auch im sonstigen) »Einsatz« üblichen Handlungsmuster zu untersuchen. So wichtig die Verwendung, Bildung und Erörterung klarer, eher im Feld der Sozialwissenschaften beheimateter Begriffe ist, so sehr bleibt

40

matischen« Wissenschaften (wie Recht und Theologie): Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie [1921], 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 1 f.; zum Problem der Abstraktion und Konkretion zwischen Umfang und Eindeutigkeit der Begriffe: ebd., S. 9‑11. Im Projektbereich Einsatzdokumentation der Abteilung Einsatz am ZMSBw ist hierzu ein Datenbankprojekt in Arbeit.

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die Geschichtswissenschaft nach wie vor gefordert. Denn erst eine historisierende Fragestellung ermöglicht es, politik- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden als zeitgebunden wahrzunehmen. Ungeachtet dessen, als wie zeit- und raumübergreifend nomothetische Aussagen von ihren Urhebern gedacht werden, geben sie stets auch Aufschluss über ihre Entstehungszeit und ihre Urheber. Daher sind politik- und sozialwissenschaftliche Theorieangebote selbst als historische Quellen zu betrachten – genauso wie auch die Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung.41 In semantischer Hinsicht ist also abseits der sozialwissenschaftlich-nomothetischen Begrifflichkeit bezüglich des »Einsatzes von Streitkräften« eine Reihe von Konzepten und Begriffen zu untersuchen, die einerseits in pluraler Diversität nebeneinander bestehen, andererseits sich im Zeitverlauf gewandelt haben. Da die Quellenlage notwendigerweise noch recht dünn ausfällt und obendrein selektiv und perspektivgebunden beurteilt wird, stellt sich zudem das Problem, dass Kategorien der Deskription auch mit normativen Begrifflichkeiten aufgeladen sind – so etwa diejenigen in politik-, sozial-, und wirtschaftswissenschaftlichen teleologischen Fortschrittsannahmen, die sich bei einer Historisierung als zeitgebundene Kategorien erwiesen haben.42 Erschwerend kommt hinzu, dass die Militäreinsätze der westlichen Staatenwelt seit 1990 mit ebensolchen Fortschrittsannahmen westlicher Modernisierungsleistungen legitimiert worden sind und immer noch werden. Auch fehlen intersubjektiv und zeitlich stabile Begriffe: Verständlicherweise sind diese umstritten; teils sogar derart, dass die semantisch-begriffliche Offenheit geradezu als Grundlage für das jeweilige Gewalthandeln herangezogen wird: Die Kennzeichnung von Gewaltphänomenen als »Terrorismus«, »Spezielle Operationen« oder »Krieg« impliziert Eigenoder Fremdzuschreibungen der Akteure, die als verbale Waffen der Auseinandersetzung in Anschlag gebracht werden. Dies gilt sowohl für die mediale Berichterstattung und Pressearbeit regierungsamtlicher Stellen als auch für die Inszenierung der Gewalt durch die Akteure des Terrorismus – und für alle denkbaren Zwischenstufen. In medialer Hinsicht ist daher ausschnittsweise zu untersuchen, in welcher Weise die Narrative über die Einsätze benutzt oder erst erzeugt werden. Die Wechselwirkung zwischen medialen und »realen« Größen wurde am 11. September 2001 offensichtlich, als die Terroranschläge in Echtzeit auf die Bildschirme der Weltöffentlichkeit gelangten.43 Bereits der Golfkrieg von 1991 war durch den »CNN-Effekt« geprägt: Der Übertragung der Operation 41

42 43

Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozial­ wissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), 4, S. 479‑508. Graf/Priemel, Zeitgeschichte (wie Anm. 41), S. 494 f., 502, 505‑507. Die Welt nach 9/11. Auswirkungen des Terrorismus auf Staatenwelt und Gesellschaft. Hrsg. von Thomas Jäger, Wiesbaden 2011 (= Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, Sonderheft 2); Bernd Greiner, 9/11: der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011. Vgl. hierzu die Beiträge von Philipp Fraund, Kay Hoffmann und Gerhard Kümmel in diesem Band.

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der US-Streitkräfte durch Kriegsreporter oder »eingebettete« Journalisten, die den Krieg in (vermeintlicher) Echtzeit dem Fernsehpublikum präsentierten, folgten Fernsehbilder von (vermeintlich) »chirurgischen« Luftschlägen aus der Perspektive der Zielkameras. Die US-geführte Operation Restore Hope in Somalia führte im Dezember 1992 zu einer massiven Ausweitung des bis dahin eher kleinen UN-Einsatzes; Auslöser dafür waren Fernsehbilder von der humanitären Katastrophe. In den nachfolgenden Kampfhandlungen entstanden Fernsehbilder von getöteten amerikanischen Soldaten, die das Ende des US-Engagements einleiteten. Mittelbar wirkte sich dies sowohl auf die Geschichte der Bundeswehr – sie war am Somalia-Einsatz UNOSOM II von März 1993 bis März 1994 beteiligt – als auch auf die Mediengeschichte aus: Der Film Blackhawk Down von Ridley Scott aus dem Jahr 2001 setzte die Operationen von Spezialkräften während der »Schlacht von Mogadischu« im Oktober 1993 in Szene.44 Diese Verquickung von militärischen Aktivitäten und medialer Präsentation sind natürlich nichts Neues in der Geschichte von militärischen Einsätzen oder Kriegen.45 Aus historisch epochenübergreifender Sicht erscheinen die neuen Kriege als die alten; der Begriff der »Neuen Kriege« beruht somit auf einer »Medienkarriere«.46 Und dies ist der Punkt: Schließlich haben seit den 1990er Jahren die elektronischen Speicher- und Übertragungsmedien eine derart neue Qualität erreicht, dass Gewalt und Medien zusammengedacht werden müssen.47 Noch in der Zeit des Kalten Krieges war das Gefüge zwischen Sendern und Empfängern bei audiovisuellen Massenmedien durch eine tendenzielle Asymmetrie gekennzeichnet: Dem Massenpublikum standen Massenmedien gegenüber, die aufgrund der technisch aufwendigen Produktion und Distribution von audiovisuellen Inhalten entweder staatlich organisiert oder in Mediengroßunternehmen zusammengefasst waren. Zu der nach wie vor bestehenden Medienmacht der »großen« (meist staatlichen) Akteure sind durch 44

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Blackhawk Down, USA 2001, Regie Ridley Scott. Hierzu unter Betonung der Kontinuitäten von Imperialkriegen zu humanitären Interventionen: Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014, S. 226. Philipp Fraund, »The Picture Survives«: Zur Geschichte der Kriegsberichterstattung. Korea, Vietnam, Afghanistan, globaler Krieg gegen den Terror, Dissertation Univ. Konstanz 2009; Gerhard Paul, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn [u.a.] 2004; Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 59); Sebastian Haak, The Making of The Good War. Hollywood, das Pentagon und die amerikanische Deutung des Zweiten Weltkriegs 1945‑1962, Paderborn [u.a.] 2013. Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender und Dieter Langewiesche, Einführung: Zur Klassifikation von Kriegen. In: Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender und Dieter Langewiesche, Paderborn [u.a.] 2007 (= Krieg in der Geschichte, 37), S. 9‑15, hier S. 13 (2. Zitat), 14 (1. Zitat). Ähnlich: Bernhard R. Kroener, interviewt von Jan Kixmüller, Die neuen Kriege sind die alten. In: Potsdamer Neueste Nachrichten, 6.3.2013, S. 21. Rödder, 21.0. (wie Anm. 21), S. 18‑39.

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die Entwicklung von sozialen Netzwerken im frühen 21. Jahrhundert technische Möglichkeiten hinzugetreten, die sich auch (sicherheits)politisch als relevant erweisen: von der medial vermittelten Misshandlung Gefangener im USMilitärgefängnis Abu Ghraib im Irak und skandalisierungstaugliche Bilder deutscher Soldaten im Einsatzland über den durch soziale Netzwerke ausgelösten Arabischen Frühling 2011 und die Internetpropaganda des »Islamischen Staates« bis hin zu der Debatte über »alternative Fakten« zu Beginn der Amtszeit des US-Präsidenten Donald Trump.48 Jetzt schon ist absehbar, dass die rasche und kaum zu widerrufende Verbreitung von digital verfügbaren Bewegtbildern über soziale Medien auf das Verhalten der Bundeswehr selbst zurückwirkt. Das »Bild vom Soldaten im Einsatz« im Spiegel der Bewegtbilder ist damit tendenziell in einer Welt der Echtzeitkommunikation angelangt – mit allen Vorzügen und allen Risiken der Beschleunigung.49 In der bundesdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik zeigt dies die Relevanz medialer Äußerungen von Ministern, militärischem Führungspersonal oder auch einfachen Soldaten. Die um die Jahreswende 2009/10 diskutierten »kriegsähnlichen Zustände« sind hierfür nur das herausstechendste Beispiel;50 aber genau deswegen bietet es sich an, den hier verquickten Konnex von Einsatz, Krieg, Bundeswehr, Medien und Gesellschaft als Gesamtphänomen zu betrachten. Auf der Arbeitsebene scheint die Bundeswehr Medienvertretern bisweilen als bürokratisch-militärisch selbst­ referenzieller Bereich gegenüberzutreten. Dies korrespondiert geradezu spiegelbildlich mit dem Eindruck eines sicherheitspolitischen Experten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, der die in den Nachrichtenmedien »verbreitete sicherheitspolitische Ahnungslosigkeit« kritisiert. Wer sich in diesen öffentlichen Leitmedien mit dem Thema Streitkräfte befasse, gelte dort als »skurril, wenn nicht suspekt«.51 Kritik an der eigenen Organisation ist auch bei Soldaten im Einsatz anzutreffen. Einerlei, ob im Pressedienst oder in den Kampftruppen eingesetzt, verfestigte sich bei manchen von ihnen der Eindruck, dass die offizielle Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr im Bemühen nach unangreifbarer Oberfläche das Gegenteil des Gewünschten 48

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Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard, Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 67 (2017), 13, S. 4‑10; Stefan Marschall, Lügen und Politik im »postfaktischen Zeitalter«. In: ebd., S. 17‑22; Frieder Vogelmann, »Postfaktisch«. Die autoritäre Versuchung. In: Soziopolis, 20.12.2016 (letzter Zugriff 12.6.2020); Niall Ferguson, The Square and the Tower. Networks, Hierarchies and the Struggle for Global Power, New York 2017, S. 386‑389. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005; Paul Virilio, Rasender Stillstand, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2002. Zur Relevanz für die Truppe im Einsatz: Auswertebericht Nachbetrachtung ISAF (wie Anm. 15), S. 6. Eckart Lohse und Markus Wehner, Guttenberg. Biographie, 2. Aufl., München 2011, S. 243‑258. Christian Thiels, Der Krieg und die Wahrheit – Die Rolle medialer Berichterstattung bei künftigen Einsätzen. In: Schützen, Retten, Kämpfen (wie Anm. 28), S. 332‑334, hier S. 335.

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erzeuge – vom durch alle Instanzen faktenbereinigten Pressebericht bis hin zu den »Monkey-Shows« von Truppenvorführungen für Reporter auf Truppenbesuch.52 Die seit den 1990er Jahren nahezu greifbare mediale Echtzeitkommunikation ermöglicht es heute öffentlich verbreiteten Bildern, die Stelle des öffentlichen Raums einzunehmen.53 Die Entgrenzung der Medien korrespondiert dabei mit den Möglichkeiten zur Entgrenzung von vernetzten militärischen Aufklärungs- und Wirkmitteln.54 Sowohl die vernetzten Operationen selbst als auch die medial in Szene gesetzten Kampfhandlungen als auch die der Kampfführung vor- und nachgelagerten Prozesse der Medialisierung zeigen, dass die Wirklichkeit der »neuen Kriege« so eng mit ihrer Darstellung in den »neuen Medien« verzahnt ist, dass beides zusammengedacht werden muss.55 Medien integrieren Kommunikationsräume, indem sie Kommunikationsgemeinschaften verdichten oder gar erst schaffen – oder voneinander spalten. Medien sind zudem geeignet, Differenzen zwischen unterschiedlichen Akteuren mit vormals diskursfremden Konfliktfeldern aufzuladen und so bestehende Auseinandersetzungen zu beschleunigen. Das hervorstechendste Beispiel hierfür ist die religiöse Aufladung und Umdeutung der Konflikte im Nahen Osten.56 Die Geschichte der medialen Umbrüche seit 1990 ist selbst keine Militärgeschichte. Doch kann ohne sie weder die Geschichte der Sicherheitspolitik noch die des Militärs angemessen geschrieben werden. In normativer Hinsicht sind damit ethische und juridische Fragen aufgeworfen. Wenn das Recht die Machtverhältnisse und im Idealfall die vorherrschenden Wertvorstellungen einer Gesellschaft abbildet und kodifiziert, muss die mediale Verdichtung auch ein Anzeichen für das Aufeinanderprallen von disparat gedachten Normensphären sein: Rechtsnormen und -praxen prallen dann massenmedial und verdichtet aufeinander. Wenige Beispiele zeigen dies so plastisch wie die unterschiedlichen Auffassungen von Krieg und 52

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Andreas Timmermann-Levanas und Andrea Richter, Die reden – Wir sterben. Wie unsere Soldaten zu Opfern der deutschen Politik werden, Bonn 2010 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1119), S. 38‑51; Achim Wohlgethan, Operation Kundus. Mein zweiter Einsatz in Afghanistan, Berlin 2009, S. 226 f.; Weber, Krieg (wie Anm. 35), S. 166‑169. »[O]n est passé de l’espace public à l’image publique«. Dromologie: logique de la course, Interview von Giairo Draghini mit Paul Virilio. In: Multitudes, 5 (1991) (letzter Zugriff 12.6.2020). Virilio, Rasender Stillstand (wie Anm. 49). Karl Prümm, Die Historiographie der neuen Kriege muss Mediengeschichte sein. In: Zeithistorische Forschungen, 2 (2005), 1, S. 100‑104. Volker Perthes, Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay, Bonn 2016 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1702); Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, Bonn 2008 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 757); Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht, Bonn 2016 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1695), S. 64‑72; Alia Brahimi, Religion in the War on Terror. In: The Changing Character of War. Hrsg. von Hew Strachan und Sibylle Scheipers, Oxford 2011, S. 184‑201.

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Frieden bereits innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft: Die in den USA und in Europa, besonders in Deutschland, unterschiedliche Wahrnehmung der Irakkriege von 1991 und 2003 im Speziellen und die der Berechtigung militärischer Interventionen im Allgemeinen belegen dies.57 Neben der Geltung unterschiedlicher Rechtsnormen tritt das Phänomen von »lawfare« in den Vordergrund, also der – mal restriktive, mal kreative, mal zynische – Gebrauch von Rechtsnormen zur Kennzeichnung des »Eigenen« und des »Anderen«.58 Im Hintergrund stehen kollektive historische Erfahrungen über »die Macht und das Recht«59. Während sich dieser Komplex in Friedenszeiten als kaum problematisch erweist, bilden Gefechte oder gar »kriegsähnliche Verhältnisse« die Prüfsituationen dafür, wie ernsthaft die jeweiligen Bekenntnisse zur Wahrung des Rechtes – und der durch dieses gesicherten Friedensordnung – ausfallen. Einerseits ist jede Aufweichung von Normen des Humanitären Völkerrechts nach politischen oder militärischen Zweckmäßigkeitserwägungen rechtsfremd. Insbesondere für die Praxis der Bundeswehr im »kriegerischen« Einsatz ist also zu überprüfen, ob das Bekenntnis zum Rechtsstaat als grundgesetzlich verankerte Staatszielbestimmung auch im kontingenten, kaum exakt steuerbaren »Krieg« so vorbehaltlos umgesetzt werden kann, wie dies die Rechtsnormen und, ihnen folgend, die Medienöffentlichkeit fordern. Andererseits kann eine Rechtsnorm nur dann Verbindlichkeit beanspruchen, wenn sie auch praktisch von den – hier: militärischen – Durchsetzungsorganen zu realisieren ist. »Soldaten der Bundeswehr beachten die Regeln des humanitären Völkerrechts bei militärischen Operationen in allen Arten bewaffneter Konflikte.« Diese in der an alle Soldaten verteilten einschlägigen Taschenkarte von 2004 klar benannte Norm wurde im Folgedokument von 2006 angepasst. Nunmehr galt die Normbindung »soweit praktisch möglich«. Der Natur einer Rechtsnorm entsprechend können allerdings »Zwänge der Praxis keinesfalls darüber entscheiden [...], was in einer bestimmten Kriegssituation Recht oder Unrecht ist und wann das Recht den angeblichen militärischen Notwendigkeiten zu weichen hat.« Eine »ernsthafte Einhegung des Krieges« erscheint mit dieser Aufweichung kaum vereinbar.60 Letztlich aber bleibt die »Inkaufnahme unvermeidbarer Schäden an unbeteiligten Personen und Objekten« gegenüber dem »erwarteten militärischen Vorteil« Gegenstand einer Güterabwägung – politisch, juristisch, ethisch und militärisch.61 Diese 57 58 59

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Bierling, Vormacht (wie Anm. 7), S. 26‑39, 93‑106; Wolfrum, Rot-Grün (wie Anm. 23), S. 279‑326. Sibylle Scheipers, Unlawful Combatants. A Genealogy of the Irregular Fighter, Oxford 2015, S. 188. Die Macht und das Recht. Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Gerd Hankel, Hamburg 2008. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gerd Hankel in diesem Band, S. 219‑293. Gerd Hankel, Die Politik der Taschenkarte. Wie das Verteidigungsministerium das humanitäre Völkerrecht relativiert. In: Mittelweg, 36 (2008), 2, S. 89‑92, hier S. 90. Gerhard Stöhr, Mit Recht kämpfen. Über den verfassungsmäßigen Auftrag zum Ethos des Soldaten. In: Feindkontakt (wie Anm. 28), S. 197‑206, hier S. 206.

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juristisch-normative Problematik spiegelt die ethisch-normative Zwickmühle von demokratischen Kriegen für den Frieden. Diese »Paradoxien des (un)gerechten Krieges«62 kennzeichnen die Bundeswehr im Einsatz.

4. Die Beiträge des Bandes Die von Heinrich August Winkler hervorgehobenen historischen Zäsuren seit dem »Krisenjahr 2014«63 legen es nahe, die 1990er und 2000er Jahre als nunmehr eigenen historischen Abschnitt zu betrachten. Die Einsatzgeschichte der Bundeswehr hatte hieran einen bedeutenden Anteil. Die archivgestützte Forschung hierzu befindet sich erst in ihren Anfängen.64 Gleichwohl liegt mittlerweile eine Fülle an sozial- und politikwissenschaftlichen Studien vor,65 zu denen eine Reihe zeithistorischer Publikationen66 und Zeitzeugenstudien67 getreten ist. Der Beitrag von Martin Rink gilt den unterschiedlichen Konzepten und Definitionsansätzen von »Krieg«. Dabei ist der Kriegsbegriff insbesondere gegenüber denjenigen Formen kollektiver Gewalt abzugrenzen, die nicht mehr als »Krieg« bezeichnet werden können oder sollten. Die als »Neue Kriege«, »kleine Kriege« oder neuerdings »hybride Kriege« in Erscheinung tretenden Gewaltformen sind dabei besonders zu betrachten. Mit dem 62

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Matthias Iser, Paradoxien des (un)gerechten Krieges. In: Den Krieg überdenken (wie Anm. 19), S. 179‑200; Lothar Brock, Kriege der Demokratien. Eine Variante des Demokratischen Friedens. In: ebd., S. 203‑228. So Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd 4: Die Zeit der Gegenwart, 3. Aufl., München 2016, S. 11, 549‑578; vgl. den damaligen Generalinspekteur der Bundeswehr: Volker Wieker, Auftrag und Fähigkeiten deutscher Streitkräfte in der Zukunft. In: Schützen, Retten, Kämpfen (wie Anm. 28), S. 135‑140, hier S. 135. Hans-Peter Kriemann, Der Kosovokrieg 1999 (wie Anm. 24). Weiterhin sind Studien zu den Balkan- und Adria-Einsätzen von Hans-Peter Kriemann, Agilolf Keßelring und von Christian Jentzsch in Bearbeitung. Anja Seiffert und Julius Heß, Afghanistanrückkehrer. Der Einsatz, die Liebe, der Dienst und die Familie: Ausgewählte Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Langzeitbegleitung des 22. Kontingents ISAF, Potsdam 2014 (= Forschungsbericht des ZMSBw, 101). Wegweiser zur Geschichte. Auslandseinsätze (wie Anm. 22). Wegweiser zur Geschichte. Afghanistan, hrsg. von Bernhard Chiari, 4. Aufl. neu bearbeitet von Karl-Heinz Lutz, Paderborn [u.a.] 2020; Auftrag Auslandseinsatz (wie Anm. 26); From Venus to Mars? Provincial Reconstruction Teams and the European Military Experience in Afghanistan, 2001‑2014. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br. [u.a.] 2014 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 3); Periphery or Contact Zone? The NATO Flanks 1961 to 2013. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernd Lemke, Freiburg i.Br. [u.a.] 2013 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 4); Stabilisierungseinsätze (wie Anm. 28); Am Hindukusch – und weiter? (wie Anm. 9). Vgl. Anm. 65. Weiterhin: Hans-Werner Ahrens, Die Luftbrücke nach Sarajevo 1992 bis 1996. Transportflieger der Luftwaffe und der Jugoslawienkrieg, Freiburg i.Br. [u.a.] 2012 (= Neueste Militärgeschichte. Einsatz konkret, 1); Schützen, Retten, Kämpfen (wie Anm. 28).

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Ende des Kalten Krieges konnte die »Suche nach Sicherheit«,68 welche die europäischen Staaten und speziell die beiden deutschen Staaten und ihre Gesellschaften geprägt hatte, vorläufig als beendet gelten; aber nur für kurze Zeit. Eckart Conze erörtert die Dynamiken der Versicherheitlichung und den Export von Sicherheit, die sich mit dem erweiterten Konzept von Sicherheit verbanden. Die Frage nach der Rolle Deutschlands zwischen Bündnistreue und einem eigenen Weg stellte sich bereits in den 1990er Jahren bei den Bundeswehreinsätzen auf dem Balkan. Hans-Peter Kriemann erörtert in seiner Betrachtung, wie die Bundeswehr in den Kosovo-Konflikt geriet. Dabei boten sich durchaus Möglichkeiten für Deutschland, auf dem Weg zur europäischen Gestaltungsmacht voranzuschreiten – klar im Gegensatz zur nach außen proklamierten Politik der Zurückhaltung. Neben der Ebene zeithistorischer Empirie ergeben sich sozialtheoretische Implikationen von erheblicher Reichweite. Denn letztlich basieren die militärischen Einsätze der westlichen Staatengemeinschaft auf Modernisierungstheorien, deren Gültigkeit nun als nicht mehr gesichert erscheint. Wolfgang Knöbl erörtert bezüglich Theorie und Praxis von Friedensmissionen die Produktion von Paradoxien, die westliche sozialtechnokratische Ansätze bereits während des Kalten Krieges gekennzeichnet hat. Mit ihnen wurden teils die Probleme (mit)erschaffen, die im »globalen Krieg gegen den Terrorismus« der Milleniumsjahre bekämpft wurden. Diese Frage verbindet sich mit grundsätzlichen methodischen Überlegungen zu dem Verhältnis von Kontingenz und Regelhaftigkeit sicherheitspolitischen Handelns und deren adäquaten Erfassungsmöglichkeiten durch die Geschichts- oder Sozialwissenschaften.69 Die insbesondere im Deutschland der 1990er Jahre gepflegte Hoffnung auf eine Weltgesellschaft nimmt Markus Holzinger zum Anlass, die in Form der Neuen Kriege und des Bürgerkrieges hervortretende kollektive Gewalt konzeptionell zu hinterfragen. Denn oft mündete die völkerrechtlich legitimierte Schutzverantwortung in die Paradoxien eines Kampfeinsatzes. Stellen diese Konfliktformen einen sozialtheoretischen Ausnahmezustand dar, weil sich hierfür – im Gegensatz zum großen Krieg – kein Konzept gefunden hat? Der oft kritisierte Mangel an bundesdeutscher Gesamtstrategie für den Afghanistaneinsatz vermittelte bisweilen den Eindruck, es handle sich um einen »Einsatz ohne Ziel«.70 Klaus Naumann zeichnet den Weg der Deutschen Sicherheitspolitik seit 1990 als einen Wandel mit Hindernissen nach. Auch parlamentarisch-politische Experten rügten die im politischen Berlin gepflegte Mentalität aus »strukturelle[r] Unehrlichkeit, Selbsttäuschung und Realitätsverlust«.71 Die gleitende Skala im 68 69 70 71

Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 23). Markus Holzinger, Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007. Naumann, Der blinde Spiegel (wie Anm. 37); Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel. Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008. Winfried Nachtwei, Selbstkritische Bilanz und dringende Lehren nach 13 Jahren deutschen Afghanistaneinsatzes. In: Stabilisierungseinsätze (wie Anm. 28), S. 401‑412, hier

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Aufgabenspektrum zwischen humanitärem Einsatz und Gefecht ließ für manche Betrachter die Frage aufkommen, ob denn ein politisches Gesamtkonzept überhaupt existiert habe. So kennzeichnet Philipp Münch den Einsatz der Bundeswehr zwischen humanitärem Einsatz, Nation-Building, Kampf und Teilrückzug als einen paradoxen Krieg. Dies verknüpft Jéronimo Barbin mit einer Untersuchung verschiedener Doktrinen zur Counterinsurgency zwischen »Bewältigung« und Bekämpfung von Aufständen im internationalen Vergleich. Zur Betrachtung aus der Außenperspektive auf die Bundeswehrgeschichte zwischen 1990 und 2017 bietet sich die Untersuchung des Mediums Film an. In seiner sozialwissenschaftlichen Längsschnittstudie beleuchtet Gerhard Kümmel das Militär im bundesrepublikanischen Film. Im Kino- oder Fernsehfilm dargestellte deutsche Soldaten lassen sich thematischen Kategorien zuordnen. Dabei treten in den Filmen vor und nach 1990 bleibende Narrative hervor. Erst diese ermöglichen es, das spezifische Bild des Bundeswehrsoldaten im Einsatz herauszuarbeiten. Den Resonanzboden für die Rolle der Bundeswehr zwischen »Einsatz« und »Krieg« zeigen zwei Filmwissenschaftler im Spiegel von Dokumentarfilmen und Fernsehfilmproduktionen. Kay Hoffmann verortet die Produktion von Dokumentarfilmen im Spannungsverhältnis zwischen notwendiger Transparenz der Bundeswehr gegenüber den Produktionsteams einerseits und dem Kontrollgebaren der Institution Bundeswehr andererseits. Auch Philipp Fraund zeigt das komplexe Verhältnis zwischen Binnen- und Außenperspektive, das in der Produktion von Fernsehfilmen zur Bundeswehr – speziell im Auslandseinsatz – zum Ausdruck gelangt. Entgegen einer oft angestellten Vermutung ist die deutsche Bevölkerung nicht pauschal kritisch gegenüber der Bundeswehr und ihren Einsätzen eingestellt. Meinungsumfragen ergeben, dass sich humanitäre Bundeswehreinsätze im Gegensatz zu Kampfeinsätzen einer hohen Wertschätzung erfreuen. Markus Steinbrecher und Meike Wanner erörtern dieses Paradoxon zwischen Ablehnung, Sturm im Wasserglas und pluralistischer Ignoranz, also die Tatsache, dass Umfrageteilnehmer der Bevölkerung eine negativere Grundhaltung zur Bundeswehr attestieren, als sie selbst für sich bekunden. Gleichwohl bleibt die Frage, ob die Bevölkerung nicht genau die Erfüllung derjenigen Aufgaben von ihren Streitkräften erwartet, die nicht als spezifisch »militärisch« zu qualifizieren sind. Abzurunden sind diese Binnenperspektiven durch eine Betrachtung aus rechtlicher und ethischer Sicht. Dominiert die Macht das Recht oder umgekehrt? Diese Frage von Gerd Hankel mündet im Dreieck zwischen Macht, Recht und Ethik; eine Frage, an die Angelika Dörfler-Dierken zum Thema Bundeswehr, Einsätze und Ethik anknüpft: Vom Referenzrahmen Frieden zum Referenzrahmen Krieg? Ethische Erwägungen zu den Folgen für Bundeswehr und Gesellschaft. Die abschließenden Beiträge dieses Bandes gelten den Erfahrungen von Auslandseinsätzen bei den betroffenen Soldatinnen und Soldaten selbst. Als S. 404, vgl. S. 406.

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langjähriger politischer Praktiker in der Sicherheitspolitik stellt Winfried Nachtwei die provozierende Frage: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner sieht es – Gibt es eine systematische Debatte zur militärischen Sicherheits- und Friedenspolitik? Das Spannungsverhältnis zwischen Friedensdiskurs und der Logik des Kampfes verdeutlicht Sönke Neitzel anhand ausgesuchter Quellen aus der Truppenpublizistik der Bundeswehr. Zumindest in den Jahren 2001 bis 2011 wurde die Eskalation des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan zu intensiven Gefechten im offiziellen Diskurs offenbar beschönigt. Jochen Maurer zeichnet die Entwicklung der Bundeswehr zur Einsatzarmee anhand von privat verfassten Einsatztagebüchern, Erlebnisberichten und weiteren EgoDokumenten nach. Trotz der prägenden Erfahrung des Einsatzes für die betroffenen Soldaten stand nur ein geringer Teil von ihnen direkt im Gefecht. Zurückgreifend auf seine Erfahrungen als Stabsoffizier, im Einsatz wie im Rahmen der bundeswehrinternen Auswertung der Auslandseinsätze, schildert Peter Bomhard die Paradoxien und Anpassungsprozesse, welche die Bundeswehr zwischen militärischem Grundbetrieb im Heimatland und den Auslandseinsätzen zu bewältigen hatte. Wie zuvor auch Dörfler-Dierken und in der Folge Eberhard Zorn betont auch Bomhardt, dass Innere Führung und Führung im Einsatz keineswegs als Gegensätze zu werten sind, sondern aufeinander bezogen bleiben. Ihre prägenden Erlebnisse beim Gebrauch gegenseitig ausgeübter und erfahrener Waffengewalt – mit dem Risiko, zu kämpfen, zu töten zu sterben – schildern ausgewählte Soldaten mit Gefechtserfahrung in einem Zeitzeugenforum. Die Befähigung zum Einsatz tödlicher Waffengewalt genauso wie die Gefahr, dieser ausgesetzt zu sein, bleiben ein zentraler Bestandteil des militärischen Dienens. So wenig es zu bestreiten ist, dass die Mehrzahl der Männer und Frauen der Bundeswehr im Auslandseinsatz ihren Dienst nicht als »Krieg« bezeichnen würden, so wenig würde es ihren Erfahrungen gerecht, diesen als reinen Friedensdienst darzustellen; sicher aber als Dienst am Frieden. Den Band beschließt der Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn mit der Frage: Wofür braucht Deutschland Soldaten? Wofür töten, wofür sterben? Den Herausgebern dieses Bandes ist wohl bewusst, dass die vorliegenden Beiträge eine spezifisch deutsche – oder »bundesrepublikanische« – Perspektive erörtern. Sicher hätten die in die Beiträge eingewobenen internationalen Bezüge eine noch eingehendere Betrachtung verdient. Dies allerdings hätte den Rahmen dieses Bandes überfrachtet. Sowohl die Perspektiven der Bündnispartner und anderer am Einsatz beteiligter Nationen als auch die (sicherheits)politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Einsatzregionen selbst sollten daher in künftigen Forschungen von einer transnational angelegten Vergleichs- und/oder Verflechtungsgeschichte noch genauer dargestellt werden. Hierzu muss allerdings zunächst die deutsche Perspektive geklärt werden – einschließlich der Vielzahl der sich damit verbindenden Fragen.

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Was ist »Krieg«? Was nennen wir »Krieg«? »In Deutschland redet man nicht vom Krieg – und wenn, dann mit Abscheu oder in der Kombination ›und Frieden‹.«1 Mit dieser Aussage stand die Publizistin Cora Stephan im Jahr 2012 nicht mehr allein. Damit ist das Schweigen über den Krieg – und das Reden über dieses Schweigen, womit der Krieg letztlich ja doch thematisiert wurde – ein Teil der bundesdeutschen Zeitgeschichte. Die Afghanistan-Erfahrung der Bundeswehr seit Ende 2001 und spätestens die Eskalation der Gewalt in den Jahren 2009 bis 2011 offenbart das Abgleiten eines mit zivilem Antlitz geplanten Militäreinsatzes in Situationen, die für die Beteiligten vor Ort nur als »Krieg« zu bezeichnen waren. Dagegen mag die bundesdeutsche Thematisierung des Krieges juristisch als irrelevant, da längst geklärt erscheinen. Die UN-Charta lässt bewaffnete Konflikte nur zur Verteidigung zu. Unstreitig sind die bundesdeutschen Institutionen an diese Norm gebunden. Schon deshalb gelten die seit 1990 weltweit ausgedehnten Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht als Krieg. Die auf Carl von Clausewitz zurückgehende Aussage, Krieg sei Mittel der Politik, gilt deskriptiv als Beschreibung einer Ziel-Mittel-Relation. Sie kann aber präskriptiv dahingehend (miss)verstanden werden, dass sie die Anwendung kriegerischer Gewalt rechtfertige. Einsatzkritische Parlamentarier im Deutschen Bundestag bekundeten: »Krieg ist kein Mittel der Politik.«2 Ein Vertreter der Regierungskoalition hielt dagegen: »Militär ist immer auch ein Mittel der Politik.«3 Über alle politischen Lager hinweg ist indessen unstrittig: »Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein.«4 In Anlehnung an die juristische Normenauslegung hält der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages den »Begriff des Krieges« für »wenig 1 2

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Cora Stephan, Ungeliebte Soldaten. Über das Verhältnis von Bundeswehr und Öffentlichkeit. In: IP. Internationale Politik, 5 (2012), Sep./Okt., S. 118‑128, hier S. 118. So Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen) am 3. März 1994, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 213. Sitzung, Plenarprotokoll 12/213, Berlin 1994, S. 18428; Oskar Lafontaine (Die Linke) am 8. September 2009, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 233. Sitzung, Plenarprotokoll 16/233, Berlin 2009, S. 26304 f. Online einsehbar via . Ernst-Reinhard Beck (CDU/CSU) am 16. Dezember 2009, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 11. Sitzung, Plenarprotokoll 17/11, Berlin 2009, S. 848. Paul Schäfer (Die Linke) am 1. Dezember 2011, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 146. Sitzung, Plenarprotokoll 17/146, Berlin 2011, S. 17439.

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ertragreich«. Er sei »in der völkerrechtlichen Praxis und Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg [...] durch den Begriff des bewaffneten Konfliktes abgelöst worden«.5 Während in der Vergangenheit eine förmliche Kriegserklärung vorausgesetzt wurde, ergebe dieses Kriterium in der Gegenwart keinen Sinn mehr. Deshalb sei der »Beginn des ersten Waffeneinsatzes« maßgeblich. Dieser historisch argumentierende Vergleichsmaßstab ist aber zu hinterfragen, wenn dabei die historische Realität, auf die verwiesen wird, außerhalb der Betrachtung bleibt. Denn auch zahlreiche frühere Konflikte erfolgten bekanntlich ohne Kriegserklärung. Unter dem Eindruck des Luftschlags von Kunduz am 4. September 2009 und der allgemein eskalierenden Gefechtssituation prägte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg den Ausdruck »kriegsähnliche Verhältnisse«. Dazu äußerte sich kurze Zeit später der spätere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels als Vertreter der damals oppositionellen SPD: »Willkommen in der Wirklichkeit! [Guttenberg] sprach von kriegsähnlichen Zuständen in Afghanistan und hat den Eindruck erweckt [...]: Da ist Krieg. Diesem Eindruck ist er – zu Recht – sofort wieder entgegengetreten. Natürlich handelt es sich nicht um Krieg. Wir haben noch nicht die richtige Begrifflichkeit dafür.«6

Somit treten Sprachspiele um Legitimität und Mittel der Kriegführung bereits in der Hinführung zum Thema hervor. Nichtstaatliche, als »irregulär« bezeichnete Organisationsformen erlangen in einer Zeit, in der sich Konflikte entstaatlichen und transnationalisieren, an Bedeutung.7 Erklärbar bleibt die Nicht-Einstufung der Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1990 als Krieg nur dann, wenn diese gewissermaßen als militärische Polizeieinsätze gelten würden – was wiederum mit dem in der Verfassungspraxis eingeübten Trennungsgebot zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben in Konflikt geriete.8 So ergeben sich für die Bundeswehr im Einsatz Probleme: Aus dem Grundbetrieb stammende Verwaltungsbestimmungen kollidieren

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Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Zur völkerrechtlichen Kategorisie­ rung von Konflikten, Aktueller Begriff, Nr. 46/10 (28. Juni 2010) (letzter Zugriff 12.6.2020). Hans-Peter Bartels (SPD) am 20. Januar 2010, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 15. Sitzung, Plenarprotokoll 17/15, Berlin 2010, S. 1317; bezogen auf: KarlTheodor zu Guttenberg (CSU) am 10. November 2009, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht 3. Sitzung, Plenarprotokoll 17/3, Berlin 2009, S. 85 sowie auf: Kriegsähnliche Zustände in Teilen Afghanistans, Karl-Theodor zu Guttenberg im Interview mit der Bild-Zeitung, 3.11.2009 (letzter Zugriff 12.6.2020). Felix Wassermann, Asymmetrische Kriege. Eine politiktheoretische Untersuchung zur Kriegführung im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. [u.a.] 2015, S. 27, 172. Wilfried von Bredow, Der Streit um Einsätze der Bundeswehr im Inland. In: Europäische Sicherheit & Technik, 66 (2017), S. 13‑15; Thomas Wiegold, Ausnahmefall Deutschland. Die Debatte um einen Bundeswehreinsatz im Innern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 67 (2017), 32/33, S. 24‑27.

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nicht selten mit den Anforderungen im Rahmen von »robusten« Mandaten.9 So betonte der frühere Inspekteur des Heeres, Gerd Gudera, die Bundeswehr sei »weder ein bewaffneter Sozialdienst noch ein gepanzertes Technisches Hilfswerk«.10 Solche »normativen Dissonanzen«11 zwischen asymmetrischen, nichtstaatlichen Konfliktlagen und der Kernbefähigung zum hochintensiven Kampf gilt es zu überprüfen. Das Argument, der Begriff des Krieges sei »wenig ertragreich«, fußt auf der zutreffenden Beobachtung, dass die »Anwendbarkeit der kriegsrechtlichen Regeln in das Belieben der Konfliktparteien gestellt war«.12 Daran hat sich allerdings auch mit Einführung der Kategorie des »nicht-internationalen bewaffneten Konflikts« wenig geändert. Dahinter verbirgt sich ein konzeptionelles Problem, der »grammar-book-effect«: Schon die (deskriptive) Beschreibung eines Sachverhalts kann normativ (präskriptiv) als Kodifizierung von Sollensregeln gelesen und deklariert werden.13 Der allgemeine Sprachgebrauch und auch offizielle Dokumente verkürzen nicht selten den Ausdruck »rechtmäßige Kombattanten« zu »Kombattanten«. Solange letztere in Anlehnung an das französische Wort »combattre« als »Kämpfer« verstanden werden und »Nichtkombattanten« als Menschen, die faktisch nicht an Kampfhandlungen teilnehmen, ist die Sachlage klar; nicht so jedoch, wenn als »Kombattanten« nur solche im Soldatenstatus oder Angehörige von organisierten Gewaltgruppierungen gemäß den Kriterien der UN-Charta verstanden werden. Dann nämlich fielen diejenigen Akteure aus der Betrachtung heraus, die den gegenwärtigen Konflikten ihre besondere Prägung geben: klar als Kämpfer auftretende Gewaltakteure ohne rechtmäßigen Kombattantenstatus.14 Und auch in der deutschen Vorschriften- und Verwaltungssprache ist die Aufweichung der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen tendenziell (vor) gegeben. Im amtlichen Schriftverkehr bedeutet die Formulierung »es ist«: »Es soll so sein«. Der militärische Jargon macht daraus die resignierend-ironische Formulierung »isso«.15 Dies betrifft zumal solche Aufträge, deren Sinn infrage gestellt werden, die aber keine Rückfrage zulassen. Wo von vorgesetzter Seite 9 10 11 12 13

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Klaus Naumann, Der blinde Spiegel. Deutschland im afghanischen Transformations­ krieg, Hamburg 2013, S. 9. Zit. nach Tina Hildebrandt und Alexander Szandar, Eine Wehrreform. Ein Ende mit Schrecken? In: Der Spiegel 12/2003, S. 50. Naumann, Der blinde Spiegel (wie Anm. 9), S. 59 f. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Zur völkerrechtlichen Kategorisierung (wie Anm. 5). David Graeber, The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, New York, London 2015, S. 197. Kritisch gegenüber dem (sicherheits)politischen Realismus auch: Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992, S. 248. Sibylle Scheipers, Unlawful Combatants. A Genealogy of the Irregular Fighter, Oxford 2015, S. 232‑235. Zu diesem Ausdruck die treffenden Glossen in der Rubrik Truppenzeitschrift Y. Das Magazin der Bundeswehr »Isso & Vorschau«, 12 (2011), S. 98, 02 (2012), S. 94, 03 (2012), S. 98, 04 (2012), S. 86, 05 (2012), S. 90, 06/07 (2012), S. 106, 12 (2012)/01 (2013), S. 118, 02 (2013), S. 94, 03 (2013), S. 90, 04 (2013), S. 102, 05 (2013), S. 98, 06/07 (2013), S. 110, 08 (2013), S. 102. Vgl. den Eintrag in der ebenfalls für Soldaten bestimmten Zeitschrift

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festgestellt wird »Wir führen keinen Krieg«, quittiert dies der nachgeordnete Bereich mit »isso« – ungeachtet der sehr unterschiedlichen Einsatzrealität, auch derjenigen mit Gefechtseinschlag. Demgegenüber waren viele Soldaten, gerade solche, die zwischen 2009 und 2011 an intensiven Gefechten in Afghanistan beteiligt waren, um ihre Wortwahl nicht verlegen. Unumwunden sprachen sie von »Krieg«.16 Unüberhörbar war die Kritik aus ihren Reihen an dem von der Bundeswehrführung auferlegten defensiven Einsatzkonzept. Denn dieses habe – wie bei den Karfreitagsgefechten am 2. April 2009 – den Raumgewinn der Taliban bis wenige Kilometer vor das deutsche Feldlager erst ermöglicht. Gegenüber den amerikanischen Kameraden, denen ein offensiveres Vorgehen erlaubt war, bestand teils das Gefühl, als Verräter dazustehen.17 Über die verschiedenen Führungsebenen hinweg eint die Soldaten ihre Kritik an der »streng reglementierten, verqueren Welt« der Feldlager mit ihrer Fokussierung auf die Normen des Friedensbetriebs von Verwaltungs-, Straßenverkehrs- und Anzugsordnung.18 Dagegen zeigt sich offenbar mitunter ein Bedürfnis, das Gefecht – wenn es denn geführt werden muss – »symmetrisch« auf gleicher Augenhöhe gegen offen kämpfende Gegner zu führen.19 Das widerspiegelt eine Konzeption vom »Krieg« als symmetrischem Kampf unter Gleichen.

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JS-Magazin, 03 (2016), Rubrik: »Das letzte Wort habt ihr!« zur Frage »Welchen Spruch könnt ihr nicht mehr hören?« Antwort eines Hauptfeldwebels »Isso!« (ebd., S. 34). Marcel Bohnert, COIN an der Basis: Zur Umsetzung des Konzeptes in einer Kampfkompanie der Task Force Kunduz. In: Stabilisierungseinsätze als gesamtstaatliche Aufgabe. Erfahrungen und Lehren aus dem deutschen Afghanistaneinsatz zwischen Staatsaufbau und Aufstandsbewältigung (COIN). Hrsg. von Robin Schroeder und Stefan Hansen, Baden-Baden 2015, S. 245‑258, hier S. 257. Vgl. den Beitrag von Jochen Maurer in diesem Band. Johannes Clair, Vier Tage im November. Mein Kampfeinsatz in Afghanistan, Berlin 2012, S. 23, 88, 166, 300 f. Weitere Stimmen: Herlinde Koelbl, Afghanistaneinsatz. »Ich hatte noch nie so sehr das Gefühl, Steuergelder zu verschwenden«. Zehn junge Männer erzählen, wie es ist, in den Krieg zu ziehen. In: Die Zeit 49/2011, 1.12.2011, Zeitmagazin (letzter Zugriff 12.6.2020); Chris Helmecke, Gefallen und verwundet im Kampf. Deutsche Soldaten im Karfreitagsgefecht. In: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung, 2 (2018), S. 4‑9. Clair, Vier Tage (wie Anm. 17), S. 297. Vgl. Rudolf Schlaffer und John Zimmermann, Wo bitte geht’s zur Schlacht? Kurioses aus dem deutschen Militär von A‑Z, Berlin 2009, S. 7‑9, 31‑33, 183‑186. Beispiele in: Clair, Vier Tage (wie Anm. 17), S. 284, 340; Christian von Blumröder, Die Operation Halmazag. In: Feindkontakt. Gefechtsberichte aus Afghanistan. Hrsg. von Sascha Brinkmann, Joachim Hoppe und Wolfgang Schröder, Hamburg [u.a.] 2013, S. 75‑103, hier S. 100; Hauptmann L., Die Operation »Freies Tal« – Landung aus der Luft. In: Feindkontakt (ebd.), S. 105‑121, hier S. 116; Marcel Bohnert, 200 Tage Kunduz. Erfahrungen einer Kampfkompanie in Afghanistan (letzter Zugriff 12.6.2020).

Was ist »Krieg«? Was nennen wir »Krieg«?

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1. Krieg oder Nichtkrieg. Zwischen Verteidigung und Bündnistreue Kritische Stimmen sehr unterschiedlicher Provenienz beklagten eine Leerstelle im deutschen sicherheitspolitischen Denken: zwischen der beschworenen Bündnistreue und der Weigerung, die daraufhin erfolgenden Kampfeinsätze als »Krieg« einzustufen; zwischen bekundetem Multilateralismus, innenpolitischem Kontrollgebaren gegenüber dem Militär und (angeblichem) strategischem Dilettantismus.20 So habe die Kluft zwischen offiziellem Schweigen und gewaltgeprägter – und teils eben »kriegerischer« – Einsatzrealität dazu beigetragen, »das zu schaffen, wovor man doch Angst hat: eine eigene militärische Realität«.21 In offiziellen Dokumenten der Bundeswehr kommt der Krieg kaum mehr vor. Das 2016 herausgegebene Weißbuch verwendet dieses Wort allenfalls im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg. Auch von »hybrider Kriegführung« ist hier die Rede – als der »gezielten Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden«.22 Die zentrale Führungsvorschrift des bundesdeutschen Heeres von 1962 sprach den »Krieg« noch klar an: als »bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten oder Gruppen von Staaten«.23 Die Folgedokumente bis 1987 definierten immerhin die »Kriegsmittel« und rechneten hierzu auch die bundesdeutschen Streitkräfte.24 Bis zum Jahr 2000 verschob sich die vorschriftskonforme Diktion zu »Krise und Krieg«.25 Die Führungsvorschrift von 2007 sprach nur mehr von »Kriegsgefangenen«; 20

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Vgl. die in der Diktion unterschiedlichen, doch in der Zielrichtung deckungsgleichen Stimmen aus Sicht eines Zeithistorikers, eines Journalisten und von vormaligen militärischen Verantwortlichen: Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008, S. 31‑40; Eric Chauvistré, Wir Gutkrieger. Warum die Bundeswehr im Ausland scheitern wird, Frankfurt a.M. 2009; Stefan Kornelius, Der unerklärte Krieg. Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan, Hamburg 2009; Egon Ramms, Was bedeutet Vernetzte Sicherheit konkret? In: Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz. Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke. Hrsg. von Rainer Glatz und Rolf Tophoven, Bonn 2015 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1584), S. 56 f.; Rainer L. Glatz, International Security Assistance Force (ISAF) – Erfahrungen im Afghanistaneinsatz. In: Am Hindukusch (ebd.), S. 60‑77, hier S. 67 f. Konzise Zusammenfassung der Debatten und Entwicklungen in: Rainer L. Glatz, Wibke Hansen, Markus Kaim und Judith Vorrath, Die Auslandseinsätze der Bundeswehr im Wandel, Berlin 2018 (= SWP-Studie, 7), S. 11‑32. Zitat: Stephan, Ungeliebte Soldaten (wie Anm. 1). Weiterhin: Timo Noetzel und Benjamin Schreer, Krieg oder Nicht-Krieg? Plädoyer für eine ernsthafte Debatte über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. In: IP. Internationale Politik, 4 (2007), Apr., S. 100‑105. Weißbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Berlin 2016, S. 32. Vgl. auch S. 37‑39, 65, 78, 88. Heeresdienstvorschrift 100/1 Truppenführung, [Bonn] Oktober 1962, S. 11‑13 (Zitat S. 11); gleichlautend: HDv 100/2 Führungsgrundsätze des Heeres für die atomare Kriegführung, [Bonn] April 1961, S. 11 f. HDv 100/100 Truppenführung, [Bonn] 1973, Nr. 301‑308; gleichlautend: HDv 100/100 Truppenführung (TF), 2. Aufl. der TF/G 1973, [Bonn] 1987, Nr. 301‑308. HDv 100/100 Truppenführung, Bonn 2000, Nr. 101‑108, hier insbes. Nr. 107, 313.

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sie gebe es »nur in Zeiten internationaler bewaffneter Konflikte«. Auch sei der symmetrische »klassische Krieg zwischen Staaten oder Bündnissen« lediglich eine der Möglichkeiten inmitten einer »Vielfalt symmetrischer und asymmetrischer Bedrohungsformen.«26 Die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 erwähnen den Krieg einzig im Zusammenhang von Risiken und Bedrohungen wie »Bürgerkrieg, Destabilisierung von Regionen, humanitäre Krisen und damit verbundene Phänomene wie Radikalisierung und Migrationsbewegungen«.27 Ganz offenkundig ist der »Krieg« für die Bundeswehr im 21. Jahrhundert keine Leitvokabel militärischen Handelns mehr. Das Grundgesetz verbietet nach Artikel 26 alle »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges«.28 Entsprechend rekurrierten die 1954/56 verabschiedeten Wehrgesetze nicht auf den Krieg, sondern auf »Verteidigung«.29 Und spätestens seit der im Juni 1968 mit Artikel 115 eingefügten Notstandsverfassung und der im Folgejahr gewählten sozialliberalen Regierungskoalition bestimmte das Kürzel »V« für Verteidigung die offizielle Semantik der bundesdeutschen Sicherheitspolitik.30 Die einschlägige Rechtsnorm des Artikels 87a (1) lässt jedoch die Frage nach dem Objekt unbeantwortet: Verteidigung wessen? Nur vor dem Hintergrund dieser Uneindeutigkeit wurde die berühmt gewordene Einlassung von Peter Struck möglich, Deutschland werde »auch am Hindukusch verteidigt«. Doch nur der gesamte Zitattext erhellt die vom damaligen Verteidigungsminister gemeinte Bandbreite. Er bezog sich auf die im Mai 2003 neu erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien; diese hatten bündig festgestellt, Verteidigung lasse sich »geografisch nicht mehr begrenzen«.31 Struck erklärte am 11. März 2004: »Die Sicherheitslage hat sich entscheidend verändert. Deutschland wird absehbar nicht mehr durch konventionelle Streitkräfte bedroht. Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt, wenn sich dort Bedrohungen für unser Land wie im Fall international organisierter Terroristen formieren.«32

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HDv 100/100 Truppenführung, Bonn 2007, Nr. 3038 (S. 53), Nr. 8041 f. (S. 95), Nr. 16056 (S. 296), Nr. 32012 (S. 419 f.), Nr. 32019 (S. 422). Verteidigungspolitische Richtlinien, Berlin 27. Mai 2011, S. 8. Grundgesetz, Artikel 26 (1), zit. nach: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe mit ausführlichen Verweisungen, umfangreichem Sachregister sowie einer Einführung von Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, 64. neu bearb. Aufl., München 2016, S. 4‑78, hier S. 19. Vgl. hierzu auch Andreas Voßkuhle, Das Grundgesetz. Einführung, ebd., S. XI‑XXVIII, hier S. XX‑XXIII. Grundgesetz, Artikel 87a, (wie Anm. 28), S. 42, 62‑65. Martin Rink, Die Bundeswehr 1950/55‑1989, München 2015 (= Militärgeschichte kompakt, 6), S. 40. Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Berlin 21.5.2003, S. 12. Peter Struck, Die Bundeswehr – auf richtigem Weg, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 97. Sitzung, 11.3.2004, Erklärung der Bundesregierung, S. 8601 (letzter Zugriff 12.6.2020).

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Explizit nahm Struck dabei Bezug auf die Wünsche der Partnernationen. »Verteidigung« gilt hier also auch für Bündnisverpflichtungen. Die Präambel der bundesdeutschen Verfassung bekundet den »Willen [...], als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen«. Artikel 24 (2) wird hierzu deutlicher, wenn er dem Bund zugesteht, dass sich dieser »zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen« könne. Explizit räumt das Grundgesetz hierbei auch »die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte« ein, wenn diese – also die Beschränkungen – »eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern«.33 An die Frage von Krieg und Frieden knüpfen sich der Grad an nationaler Souveränität – und somit die Befugnisse von Bundesregierung, Bundestag und Bundesverfassungsgericht, Hoheitsrechte gegenüber den Bündnissystemen zuzugestehen oder einzuschränken. Die seit Ende des Kalten Krieges betonte Ausweitung des Sicherheitsbegriffs führte zum Konzept des Vernetzten Ansatzes (Comprehensive Approach). Auf ihrem Gipfel in Lissabon beschlossen die NATO-Mitgliedstaaten im November 2010, politische, zivile und militärische Aufgaben eng miteinander zu verknüpfen, und zogen so Lehren aus NATO-Operationen auf dem Westbalkan und in Afghanistan.34 Die Bundesrepublik bekennt sich dezidiert zu diesem Ansatz. Dies wird jedoch dann problematisch, wenn die kriegerische Seite von Militäreinsätzen zur Sprache kommt – oder eben nicht, denn: »Was in der NATO unter der Rubrik des ›Comprehensive Approach‹ diskutiert wird, ist dem neo-klassischen COIN-Konzept sehr ähnlich, auch wenn nicht nur in Deutschland die ›kinetische‹, die gewalttätige Seite des Ansatzes gern ausgeblendet wird.«35 Das Instrumentarium der Counterinsurgency (COIN) – also Aufstandsbekämpfung – versucht mit allen »militärischen, paramilitärischen, polizeilichen, diplomatischen, entwicklungspolitischen, wirtschaftlichen, psychologischen und gesellschaftlichen Mitteln und Aktivitäten«, Aufstände gegen die Staatsgewalt zu beenden.36 Stattdessen favorisiert die Bundeswehr 33 34

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Grundgesetz, Präambel, Artikel 24 (2), (wie Anm. 28), S. 19. NATO, Active Engagement, Modern Defence. Strategic Concept for the Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organization. Adopted by Heads of State and Government at the NATO Summit in Lisbon 19‑20 November 2010 , S. 19 (letzter Zugriff 12.6.2020). Hierzu: Ramms, Was bedeutet Vernetzte Sicherheit konkret? (wie Anm. 20). Peter Rudolf, Zur Kritik der COIN-Doktrin – 10 Thesen. Arbeitspapier der SWP, 21.9.2010, S. 1. Jeremy Black, Insurgency and Counterinsurgency. A Global History, Lanham [u.a.] 2016; Douglas Porch, Counterinsurgency. Exposing the Myths of the New Way of War, Cambridge 2013; Dirk Freudenberg, Counterinsurgency. Aufstandsbekämpfung als Phase zur Überwindung schwacher Staatlichkeit und zur Etablierung des Aufbaus einer stabilen Nachkriegsordnung, Berlin 2016. Wilfried Loth, Staatenbeziehungen und Machtbeziehungen im Wandel. In: Geschichte der Welt 1945 bis Heute. Die globalisierte Welt. Hrsg. von Akira Iriye und Jürgen Osterhammel, München 2013 (= Geschichte der Welt, 6), S. 15‑181, hier S. 67‑69; Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014; Patrick

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den Ausdruck »Aufstandsbewältigung« oder spricht umständlicher von der »Herstellung von Sicherheit und staatlicher Ordnung in Krisengebieten«.37 Der Grundgesetzartikel 87a (4) schränkt den Einsatz der Bundeswehr im Innern ein, nämlich auf den inneren Notstand, wenn die Fähigkeiten der Polizeien der Länder und des Bundes hierzu nicht ausreichen. Explizit gilt dies auch für die »Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer«. Die Bekämpfung solcher »Insurgents« gehört zum Auftragsspektrum der Bundeswehr im Auslandseinsatz, zumal das von Deutschland als Leitnation übernommene Engagement beim Aufbau der afghanischen Polizei durch die Polizeien selbst zumindest quantitativ als mäßig einzustufen ist: Trotz des guten Einvernehmens zwischen Polizei und Militär auf der Arbeitsebene war eine eklatant geringe Zahl von Polizeibeamten vor Ort im Einsatz, die zudem keinesfalls in militärische Führungsstrukturen eingebunden werden durften.38 Zudem stellt sich die Frage, ob denn der Auslandseinsatz deutscher Polizeibeamter zu deren Paramilitarisierung führen könne. Schließlich hat der Bundesgrenzschutz im Jahr 1994 seinen Kombattantenstatus aufgegeben und firmiert seit 2005 unter dem Namen Bundespolizei. Von deren Beamten darf somit in Krisengebieten keine militärische Kampfhandlung ausgehen. Dies versetzt in Kriegsgebiete entsandte deutsche Polizeibeamte in eine paradoxe Lage. Auch wenn es sich um eine kritische Minderheitsmeinung handelt, lautet die gedankliche Extremposition, »dass sie bei der Abwehr eines Angriffs durch Kombattanten [...] völkerrechtswidrig handeln und [dass sie dann] als das einzustufen wären, wovor sie eigentlich schützen sollten: ›Partisanen‹«.39

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Porter, Military Orientalism. Eastern War Through Western Eyes, London 2009. Zur Anwendung dieses Konzepts durch die Bundeswehr: Bernhard Chiari, Die Bundeswehr als Zauberlehrling der Politik? Der ISAF-Einsatz und das Provincial Reconstruction Team (PRT) Kunduz 2003 bis 2012. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 72 (2013), 2, S. 316‑351, hier S. 338‑349. Hans-Georg Ehrhart und Roland Kästner, Aufstandsbekämpfung: Konzept für deutsche Sicherheitspolitik? Lehren aus Afghanistan, Hamburg 2010 (= Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, 48), S. 3. Vgl. den Beitrag von Jéronimo Barbin in diesem Band. Steffen Eckhard und Dinonys Zink, Hat sich stets bemüht. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist verheerend, auch die EU-Polizei-Trainingsmission konnte daran nichts ändern. In: IPG Internationale Politik und Gesellschaft, 15.3.2017 (letzter Zugriff 12.6.2020). Demnach seien ab 2001 durchschnittlich 40 und bis 2005 maximal 80 deutsche Polizeibeamte nach Afghanistan entsandt worden. Ein Experte des Bundesinnenministeriums nannte für 2014 eine Zahl von 134 Polizeibeamten: Jörg Bentmann, Stabilisierungseinsätze zur internationalen Konfliktprävention und -bewältigung. Ein Beitrag aus innenpolitischem Blickwinkel. In: Stabilisierungseinsätze (wie Anm. 16), S. 197‑208, hier S. 202 f. Vgl. Deutsches Engagement beim Polizeiaufbau in Afghanistan. Hrsg. vom Auswärtigen Amt, Referat B 4, Berlin 2012; Winfried Nachtwei, Es braucht politische Vorgaben. In: Behörden Spiegel, März (2018), S. 41; Ramms, Was bedeutet Vernetzte Sicherheit (wie Anm. 20), S. 45. Andreas Fischer-Lescano, Soldaten sind Polizisten sind Soldaten. Paradoxien deutscher Sicherheitspolitik. In: Kritische Justiz, 1 (2004), S. 69‑83, hier S. 77.

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In dem Maße, wie Antiterroreinsätze im Ausland den Streitkräften übertragen wurden, sind auch Stabilisierungseinsätze der Bundeswehr in eine Konstabularisierung eingemündet: In zahlreichen Einsätzen vom Kosovo bis nach Afghanistan wurde deutschen Soldaten ein Polizei-ähnlicher Auftrag zugewiesen. Demgegenüber kämpften in der Hochphase scharfer Gefechte in Afghanistan in den Jahren 2009 bis 2011 deutsche, US-amerikanische, belgische und afghanische Soldaten zusammen mit afghanischen Polizeikräften. Durch die – auch dadurch erzeugte – Zurückhaltung des Engagements ziviler Aufbauhelfer geriet die Bundeswehr oft in eine Rolle, die einem klassischen Einsatz von Streitkräften zuwiderläuft. Ihr Einsatz im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit wurde gerade auch in der medialen Außendarstellung gern hervorgehoben: von der Polizeiausbildung bis hinunter zu Bau- und Infrastrukturprojekten für die Bevölkerung vor Ort. Gerade bei diesen vielfältigen Tätigkeiten führt die Bundeswehr also keinen »Krieg«. Gleichzeitig blieben zivile Akteure, deren Aufgabenspektrum nur außerhalb kriegerischer Tätigkeiten denkbar ist, auf Distanz. Das führte zur paradoxen Folge, dass eine militärische Handlungslogik auf nicht originär militärischen Feldern geradezu verstärkt worden ist. Im Rahmen der deutschen Verantwortlichkeit ruhte die Hauptlast beim Polizeiaufbau in Afghanistan eben auf der Bundeswehr. Damit ist diese nach deutschem Verständnis »zivile« Aufgabe »militarisiert« worden.40 Gleichzeitig aber wird einer »Militarisierung« von Polizei- und Entwicklungsarbeit eine scharfe Absage erteilt.41 Dieses offenkundige Paradoxon resultiert aus dem Widerstreit von Normen und Grundsätzen, die für sich genommen aus gutem Grunde favorisiert wurden und die Geschichte der bundesdeutschen Sicherheitspolitik und ihrer Streitkräfte bestimmten: dem Friedensgebot des Grundgesetzes und der Integration in die westliche Sicherheitsarchitektur sowie in die bundesdeutsche Gesellschaft; alles mit dem Ziel, mit möglichst »zivilem« Antlitz aufzutreten. Der vom Grundgesetz weit gesteckte Rahmen verhindert nicht, dass die unterschiedlichen Normen zwischen Friedensgebot (Artikel 26 GG), Verteidigung (Artikel 87a GG) und kollektiver Sicherheit (Artikel 24 GG) durch Inkonsistenzen auf der Durchführungsebene gekennzeichnet sind. Denn verfassungsrechtliche Normen sind zu allgemein und unspezifisch, um daraus für jeden konkreten Fall eindeutige Handlungsanleitungen abzuleiten. Dies zu kritisieren würde aber am Wesenskern einer Verfassung vorbeigehen: Diese soll den allgemeinen Rahmen abstecken, der durch Gesetzgebung und Regierungshandeln konkret auszufüllen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint das über ein Vierteljahrhundert währende Ringen um die Ausgestaltung sicherheitspolitischer Zielkonflikte als wenig erstaunlich.

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Klaus Naumann, Der blinde Spiegel (wie Anm. 9), S. 80‑97, 120‑123; Wilfried von Bredow, Der Streit um Einsätze der Bundeswehr im Inland (wie Anm. 8). Fischer-Lescano, Soldaten sind Polizisten (wie Anm. 39), S. 73‑77.

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2. Der Krieg – Definitionsansätze für ein nach unten offenes Gewaltphänomen Das Reden vom »Krieg« steht im Dilemma: Einerseits mangelt es nicht an Definitionen. Als Minimaldefinition kann »Krieg« als ein Großkonflikt zwischen legitimen (staatlichen) Akteuren verstanden werden. Ab wann diese Schwelle überschritten ist und welche Gewaltakteure die Legitimation zum Kriegführen besitzen, bleibt umstritten. Deshalb ist das Phänomen – andererseits – so komplex und schillernd, dass bisweilen die Auffassung vertreten wird, eine angemessene Definition sei gar nicht möglich. Solange aber von »Krieg« gesprochen wird, muss es Phänomene geben, auf die sich dieses Wort bezieht. Und auch das Nicht-Reden über »Krieg« entgeht nicht der Notwendigkeit, Kategorien der kollektiven Gewalt zu entwickeln, deren Definitionen sich dann aber als nicht minder verwickelt erweisen. Auch stellt sich die Frage, ob dem Wort »Krieg« ein Substrat an Phänomenen entspricht, für die ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten existierte – über alle interessegeleiteten, methodischen und kulturellen Unterschiede der am Konflikt Beteiligten hinaus. Diese Bedeutungsgehalte gilt es schon deswegen aufzuhellen, weil der »Krieg« als Quellenbegriff ja existiert. Deshalb stellt sich die Frage nach diesem Begriff, trotz seiner Sperrigkeit, stets von Neuem. Allerdings ist vom Plural der Bedeutungen auszugehen. Denn auch das Umoder Wegdefinieren ist ja bereits Teil der Konfliktaustragung. In einer sehr allgemeinen Weise soll das Phänomen »Krieg« zunächst pragmatisch als die bewaffnete Ausübung organisierter Gewalt in größerem Maßstab verstanden werden: als »gewaltsame[r] Kampf zwischen Gemeinschaften«, so Andreas Herberg-Rothe.42 Martin van Creveld rekurriert auf die physische Gewalt als Essenz des Krieges. Um aus diesem Begriff illegale Gewalt wie Gewaltverbrechen und das hochritualisierte, regelhafte »Spiel« von Duellen oder Turnieren herauszufiltern, nennt er drei Kriterien: Den Krieg konstituiere erstens eine kollektive Gewaltausübung, dahingehend, dass die Gewalt gegen einen Angehörigen der gegnerischen Gruppe als Gewalt gegen die Gesamtgruppe angesehen wird; zweitens, dass die Gewalt der Kämpfenden als koordinierte Aktivität erfolgt, und drittens, dass die Gegner durch eine präzise Identität gekennzeichnet sind, die eine reziproke Gewaltausübung als legitim rechtfertigen und gleichzeitig Zivilpersonen als Nichtbeteiligte aus den spezifischen Rechten, Pflichten und Legitimationskriterien ausschließen.43 Hew Strachan und Sibylle Scheipers nennen fünf Kriterien für das Vorhandensein von Krieg: erstens den Gebrauch von Gewalt; und zwar, zweitens, auf der Basis von Reziprozität. Drittens ist erst ab einer gewissen Schwelle an Intensität und Dauer des Konflikts von Krieg zu reden; viertens handelt es sich um nicht-private, also um kollektive 42 43

Andreas Herberg-Rothe, Der Krieg. Geschichte und Gegenwart. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2017, S. 9. Martin van Creveld, More on War, Oxford 2017, S. 47‑50.

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Auseinandersetzungen, die fünftens (zumindest deklaratorisch) im Namen eines übergeordneten Ziels stehen.44 Der auf die Kampfhandlungen fokussierte Ansatz ist zu ergänzen durch das Kriterium der Vergemeinschaftungsform der Kämpfenden. Sven Chojnacki erweitert den Kriegsbegriff über den zwischenstaatlichen Krieg hinaus um Formen kollektiver Gewalt auf niedrigeren Ebenen. Innerstaatliche Kriege zwischen regulären (oder ähnlich organisierten) Streitkräften sind dabei mit dem hergebrachten Begriff der »Bürgerkriege« belegt. Als extrastaatliche Konflikte sind solche definiert, bei denen reguläre oder irreguläre Kämpfer außerhalb ihres eigenen Staates zum Einsatz gelangen, so auch beim Untertypen der Interventionskriege. Nach dieser Einteilung gilt auch der substaatliche Konflikt als Krieg. Da die Staatlichkeit als Kriterium nun wegfällt, spricht Chojnacki ab einer Schwelle von 1000 Todesopfern von Krieg, um das Phänomen nach unten hin abzugrenzen.45 Auf die Veränderlichkeit der Begrifflichkeit rekurriert Hans-Henning Kortüm. Als Krieg bezeichnet er eine Konfliktaustragung, die erstens in hinreichend hohem Maß organisiert ist und in der zweitens das Töten des Gegners ohne die im Innern der Gesellschaften herrschenden Sanktionen erfolgen darf. Er bildet seine Kriegstypologie nach binären Gegensatzpaaren: öffentlich versus privat, transkulturell versus intrakulturell, symmetrisch versus asymmetrisch, regelgeleitet versus regellos sowie begrenzt versus total.46 Diese Kriterien werden jedoch zeit- und raumabhängig von Akteuren wie Betrachtern fortwährend umgedeutet, sodass sich Kriege typologisch »fast immer als mehrdeutig« erweisen: »Welche Typologisierung sich letztlich durchsetzt, ist von der gesellschaftlichen Deutungsmacht und Deutungshoheit der in der Gesellschaft miteinander konkurrierenden Diskurse abhängig.«47 Die Fluidität der Begriffe ergibt sich durch die Sprechergemeinschaften: Mit der Gedankenoperation der Intension prägen sie neue Begriffskategorien anhand eines »neuen« (oder so erscheinenden) Phänomens.48 Mit dem Verfahren der Extension übertragen sie bereits existierende Namen auf – gegebenenfalls nur vordergründig – ähnliche Phänomene. Insbesondere die »asymmetrisch« genannten Konflikte bieten hierfür hervortretende Beispiele. Die von Kortüm 44

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Hew Strachan und Sibylle Scheipers, The Changing Character of War. In: The Changing Character of War. Hrsg. von Hew Strachan und Sibylle Scheipers, Oxford 2011, S. 1‑24, hier S. 6 f. Sven Chojnacki, Auf der Suche nach des Pudels Kern: Alte und neue Typologien in der Kriegsforschung. In: Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender und Dieter Langewiesche, Paderborn [u.a.] 2007 (= Krieg in der Geschichte, 37), S. 479‑502, hier S. 490 f.; Sven Chojnacki, Kriege im Wandel. Eine typologische und empirische Bestandsaufnahme. In: Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Hrsg. von Anna Geis, Baden-Baden 2006, S. 47‑74. Hans-Henning Kortüm, Kriegstypus und Kriegstypologie im Mittelalter. Über Möglichkeiten und Grenzen einer Typusbildung von »Krieg« im Allgemeinen und von »mittelalterlichem Krieg« im Besonderen. In: Formen des Krieges (wie Anm. 45), S. 71‑98, hier S. 85 f. Kortüm, Kriegstypus (wie Anm. 46), S. 98. Ebd., S. 74‑79.

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herangezogene Übertragung des Wortes »Guerillakrieg« vom spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Truppen Napoleons von 1808/09 bis 1813/1449 auf alle in der Zeit davor oder danach erfolgenden nichtstaatlichen Konflikte ist ein Beispiel für eine begriffliche Extension.50 Doch war dieser eine begriffliche Intension vorangegangen: »Guerilla« bedeutet(e) seit dem 19. Jahrhundert eine neue Art der Kriegführung, die im Jahrhundert zuvor noch auf die taktischen Kampfhandlungen des sogenannten kleinen Krieges zwischen regulären Soldaten bezogen war.51 Das Verständnis dieses Wechselspiels von Intension durch Begriffsbildung anhand eines historisch konkreten Ereignisses und der anschließenden Extension, also Begriffsübertragung auf andere Konflikte, kann zur Klärung der als »neuartig« diskutierten Konfliktformen in der Zeitgeschichte beitragen: Damit könnte der Ausdruck »Neue Kriege« als eine historisierende Beschreibung der in den 1990er Jahren wahrgenommenen Realität herangezogen werden; genauso wie die Begrifflichkeit der »hybriden Kriegführung« auf die Zeit seit 2014. Dieses Wechselspiel zwischen Begriffs(um)bildung und deren Erweiterung auf die historischen Ereignisse ist naturgemäß an den Grenzzonen zwischen »irregulärer« und »regulärer« Gewalt besonders ausgeprägt. Wenn der Großkonflikt zwischen Staaten fraglos zur Definition des Krieges hinzugerechnet wird, bleiben dessen Grenzen nach unten offen. Damit bilden die »kleinen Kriege« sowohl in klassifikatorischer wie in zeithistorischer Sicht ein Forschungsproblem; mit ihnen die »Grauzone« zwischen »konven-

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Ebd., S. 75. Zum Konflikt: Charles Esdaile, Fighting Napoleon. Guerillas, Bandits and Adventurers in Spain, 1808‑1813, New Haven, London 2004; Antonio Moliner Prada, La guerrilla en la Guerra de la Independencia, Madrid 2004; La guerra de la independencia en España. Hrsg. von Antonio Moliner Prada, Madrid 2007; Ronald Fraser, Napoleon’s Cursed War. Spanish Popular Resistance in the Peninsular War, 1808‑1814, London [u.a.] 2008; Antonio Carrasco Àlvarez, La guerra interminable. Claves de la guerra de guerrillas en España, Astorga 2013. Walter Laqueur, Guerrilla: A Historical and Critical Study, London 1977; David Kilcullen, The Accidental Guerrilla: Fighting Small Wars in the midst of a Big One, London 2009; Max Boot, Invisible Armies: An Epic History of Guerrilla Warfare from Ancient Times to the Present, New York [u.a.] 2013. Semantische Analysen in: Carrasco Álvarez, La guerra interminable (wie Anm. 49), S. 34‑55, 298‑302; Antonio Moliner Prada, La guerrilla (wie Anm. 49), 22‑32; Vittorio Scotti Douglas, Spagna 1808: La genesi della guerriglia moderna. 1. Guerra irregolare, »petite guerre«, »guerrilla«. In: Spagna Contemporanea 18/2000, Lluís Roura i Aulinas, Guerra pequeña y formas de movilización armada en la Guerra de la Independencia: ¿Tradicion o innovación? In: La Guerra de la Independencia. Estudios. Hrsg. von José Antonio Armillas Vicente, Saragossa 2001, S. 275‑300, hier S. 282‑290; Ludolf Pelizaeus, Von der staatlichen zur privaten Guerilla in Spanien und im südlichen Lateinamerika, 1808‑1853. In: Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Stig Förster, Christian Jansen und Günther Kronenbitter, Paderborn [u.a.] 2010 (= Krieg in der Geschichte, 57), S. 171‑188, hier S. 171‑177; Martin Rink, Die Verwandlung. Die Figur des Partisanen vom freien Kriegsunternehmer zum Freiheitshelden. In: Rückkehr der Condottieri? (ebd.), S. 153‑169; Martin Rink, Guerilla. In: Staatslexikon der GörresGesellschaft, 7. Aufl., Bd 2, Eid-Insemination, Freiburg i.Br. 2018, Sp. 2127‑2130.

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tionellen« und »irregulären« Konfliktakteuren.52 Dies führt zu einem originär historischen Problem: Denn erst die Semantik der Moderne unterscheidet klar zwischen »regulären« und »irregulären« Akteuren. Das frühneuzeitliche Verständnis von »Krieg« umfasste dagegen eine ganze Bandbreite: Gängige deutschsprachige Lexika belegten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch noch Aufstände oder Adelsfehden mit diesem Wort, Formen der Gewalt also, die im 19. und 20. Jahrhundert gerade nicht mehr hierzu gerechnet wurden. Dies war schon deswegen kaum anders möglich, da das Recht zum Kriegführen, das ius ad bellum, auf eine Souveränität rekurrierte, die sich bis zur Epochenschwelle um das Jahr 1800 auf mehrere Hierarchieebenen und teils auch auf überlappende territoriale Zuständigkeiten verteilte.53 In diesem Sinne definierte Martin Luther in seiner Kriegsleute-Schrift von 1526 den Krieg doppelt: »Jemand kämpft gegen seinesgleichen, das heißt, keiner von beiden ist dem anderen [zum Gehorsam] verpflichtet oder untertan [...] Ebenso ist es, wenn ein Höhergestellter gegen einen Untergebenen Krieg führt und auch wenn der Untergeordnete gegen den Übergeordneten streitet.«54

Erstens handelt es sich also um staatliche Akteure – oder um deren frühneuzeitlichen Äquivalente, also Fürsten oder Reichsstände – mit dem Recht zur offenen Gewaltausübung. Freilich blieb diese Legitimation innerhalb des (Heiligen Römischen) Reiches (Deutscher Nation) eine komplexe Angelegenheit, die sich weder vor noch nach 1648 in das von den Politikwissenschaftlern oft favorisierte »Westphälische Modell« staatlicher Souveränität einfügt.55 Zweitens rechnete Luther Aufstände genauso zum Krieg wie deren Bekämpfung. Obgleich der Reformator den Aufstand gegen die Obrigkeit ablehnte, blieb für ihn das Begriffspaar von – modern gesprochen – »Insurgency« und »Counterinsurgency« mit dem Thema Krieg verknüpft. Damit wird klar, dass zwar im Zeitverlauf zwischen Früher Neuzeit und Moderne manche Wörter konstant blieben, nicht aber deren Begrifflichkeit. Im Kern rekurrieren diese Wandlungen auf die Norm der Staatlichkeit. Der spätantike Kirchenvater Augustin von Hippo hielt den irdischen Staat nicht 52

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Christopher Daase, Kleine Kriege – große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik verändert, Baden-Baden 1999; Hans-Georg Ehrhart, Postmoderne Kriegführung in der Weltrisikogesellschaft. In: Krieg und Kriegführung im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen. Hrsg. von Hans-Georg Ehrhart, Baden-Baden 2017, S. 31‑55, hier S. 33‑36. Markus Meumann, La semantica di »guerra« e »pace« nella prima età moderna. In: Militari e società civile nell’Europa dell’età moderna (secoli XVI‑XVIII). Hrsg. von Claudio Donati und Bernhard R. Kroener, Bologna 2007, S. 643‑679, hier S. 662‑664; Giorgio Chittolini, Il »militare« tra tardo medioevo e prima età moderna. In: ebd., S. 53‑102, hier S. 55‑62. Martin Luther, Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können [1526]. Hrsg. von Angelika Dörfler-Dierken und Matthias Rogg, Delitzsch 2014 (= Schriften der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr), S. 29 (Einfügung in eckigen Klammern ebd.). Heinz Duchhardt, »Westphalian System«. Zur Problematik einer Denkfigur. In: Historische Zeitschrift, 269 (1999), 2, S. 305‑315.

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für wesentlich. Er urteilte bezüglich der irdischen Welt, der civitas terrena, vormodern – und gewissermaßen wieder postmodern:

»Was sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt. Wenn dieses üble Gebilde durch Zuzug verkommener Menschen ins Große wächst [...], nimmt es ohne weiteres den Namen Reich an«.56

Gemäß dieser Diktion macht es keinen Unterschied, ob Soldaten oder Milizionäre, ob lose vernetzte Terroristen oder Organisationen wie der sogenannte Islamische Staat agieren. Das Problem einer trennscharfen Benennung der »Krieg« führenden Akteure stellte sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Begriffen der »Guerilla« und des »Partisanen«.57 Dass auch irreguläre Kämpfer ihren Kampf als »Krieg« deklarieren, um diesen als rechtmäßig darzustellen, blieb ein Kennzeichen der Partisanenbewegungen im Zeitalter der Weltkriege bis zu den Dekolonialisierungskonflikten. Umgekehrt wurden auch ausgewachsene Großkonflikte – so etwa der Dekolonialisierungskrieg in Algerien (1954‑1961) oder der Vietnamkrieg (1964‑1973) von den etablierten Mächten dezidiert nicht »Krieg« genannt. Erst seit Oktober 1999 bezeichnet die offizielle französische Diktion die vormals »Operationen« und »Ereignisse« (»évènements«) genannten Kampfhandlungen in Algerien als Krieg – und legitimiert damit ex post die vormaligen Gegner als rechtmäßige Kombattanten.58 Wenn es einen Grund gibt, die bereits in sich extrem unterschiedlichen Zeiten der Vormoderne der gegenwartsnahen Zeit gegenüberzustellen, dann denjenigen, dass während der »Sattelzeit«59 um 1800 die Konzepte von Staat und Nation verschmolzen und zum normativen Konzept des Nationalstaates festgeschrieben wurden. Diese im 19. und 20. Jahrhundert 56

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Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat [426 n. Chr.], aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Hrsg. von Carl Andresen, 3. Aufl., München 1991, Kap. IV, 4, S. 173 f. Vgl. Charles Tilly, War Making and State Making as Organized Crime. In: Bringing the State back in. Hrsg. von Peter Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol, Cambridge 1985, S. 169‑187, hier S. 170. Martin Rink, Das Ende des Partisanen als Soldat und Militärunternehmer. Militärische Taktik, Ökonomie und Semantik am Beispiel des kleinen Krieges. In: Reformverlierer 1000‑1800. Zum Umgang mit Niederlagen in der Geschichte der europäischen Vormoderne. Hrsg. von Andreas Bihrer und Dietmar Schiersner, Berlin 2016 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 53), S. 217‑252; Rink, Die Verwandlung (wie Anm. 51). Loi relative à la subsitution, à l’expression »aux opérations effectuées en Afrique du Nord« de l’expression »à la guerre d’Algérie ou aux combats en Tunisie et au Maroc«, Paris 5.10.1999 (letzter Zugriff 12.6.2020). Zur »Sattelzeit«: Reinhart Koselleck, Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd 1, Stuttgart 1972, S. XV. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 3. Aufl., München 2009, S. 104‑109.

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ausgeformte Perspektive wurde dabei auch von der Geschichtswissenschaft zumeist auf eine vormoderne Betrachtungszeit zurückprojiziert.60 Genau diese perspektivische Verzerrung aufzuheben, ist Anliegen der unter das Signum der »Postmoderne« gebrachten Denk- und Forschungsansätze. Wenn der neuzeitliche Begriff vom Krieg an den des Staates gekoppelt ist, wird freilich eine erklärungsbedürftige Größe an die andere geknüpft. Schließlich entsprach die Herausbildung des westlich-europäischen Staates keinesfalls dem zielgerichteten Prozess, den politische wie militärische Akteure bis ins späte 20. Jahrhundert noch für selbstverständlich gehalten haben.61 Dabei ist neben den »harten« Fakten auch auf das gesellschaftliche Umfeld zu achten, hat doch der Aufschwung der Nationalismusforschung die »Konstruiertheit« der Nation als – zunächst imaginierte und erst dann realisierte – Vergemeinschaftungsform hervorgehoben.62 Damit aber wurde die Allzuständigkeit des Staates und des ihn (angeblich allein) konstituierenden Staatsvolkes als Nation relativiert; somit aber auch das Monopol des Staates als kriegführende Instanz – und gleichermaßen des Nationalstaates als Monopsonisten (also Monopolnachfragers) auf die Humanressourcen seiner jungen männlichen Bevölkerung qua Wehrpflicht.63 Der Verweis auf die Phänomene der »Guerilla« oder der »Partisanen« zeigt aber bereits, dass auch die hohe Zeit des Nationalstaates, das 19. und (frühe) 20. Jahrhundert, durch »irreguläre« Formen kollektiver Gewalt gekennzeichnet war: »Die neuen Kriege sind die alten.«64 Wenn dieses Diktum Bernhard Kroeners gilt, reichen auf die Staatlichkeit rekurrierende Definitionen des Krieges nicht aus, um die Bandbreite des semantischen Feldes »Krieg« auszuleuchten. Zu diesem erweiterten Begriffsfeld gehört dann auch der Terrorismus.65 Die in den 1980er und 1990er Jahren gehegten Hoffnungen auf eine postnationale Weltgesellschaft rückten das Verhältnis von Krieg und Frieden in 60

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Markus Meumann und Ralf Pröve, Die Faszination des Staates und die historische Praxis. Zur Beschreibung von Herrschaftsbeziehungen jenseits teleologischer und dualistischer Begriffsbildungen. In: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. Hrsg. von Markus Meumann und Ralf Pröve, Münster 2004, S. 11‑49, hier S. 16‑23. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 509 f., 535 f. Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller, Perspektiven einer politik- und kulturgeschichtlichen Nationalismusforschung. Einleitung. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760 bis 1960. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Jörg Echternkamp und Sven Oliver Müller, München 2002 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 56), S. 1‑24. Vgl. die Beiträge in: Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Roland G. Foerster, München 1994 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 43). Bernhard R. Kroener, interviewt von Jan Kixmüller, Die neuen Kriege sind die alten. In: Potsdamer Neueste Nachrichten, 6.3.2013, S. 21. Fast gleichlautend: Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender und Dieter Langewiesche, Einführung: Zur Klassifikation von Kriegen. In: Formen des Krieges (wie Anm. 45), S. 9‑15, hier S. 14. Strachan/Scheipers, The Changing Character (wie Anm. 44), S. 2 f., 5.

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ein neues Licht. Allerdings mündet die Frage, welche Instanz denn in einer Weltinnenpolitik66 als Hüterin des Gewaltmonopols auftreten solle, in neuen Dilemmata. Die Konzeption vom Nebeneinander und Gegeneinander der Staaten wurde erst angezweifelt, dann tendenziell abgelöst durch eine kosmopolitische Vorstellung der Rechtsordnung. Dies wirft die Frage nach dessen Durchsetzbarkeit auf. So sprach Jürgen Habermas schon 1991 von der »heute noch fehlenden Polizeistreitmacht der UNO«.67 Diese Rolle als »Weltpolizei« wurde offenkundig seit dem – so perzipierten – »unilateralen Moment« von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten wahrgenommen. Und ungeachtet der sehr unterschiedlichen Ausrichtungen der US-Regierungen seit 1991 war dieser »liberale Imperialismus«68 durchaus nicht uneigennützig.69 In diesem Rahmen konnten Konflikte nur mehr als »asymmetrisch« gedacht werden. Eine Asymmetrie der Stärke kennzeichnet die Einsätze, an denen auch die Bundeswehr als Juniorpartnerin der »westlichen Welt« teilnimmt. Dem gegenüber steht die als Asymmetrie der Schwäche zu kennzeichnende Vorgehensweise von nicht-staatlichen Gewaltakteuren, die seit den 1990er Jahren unter dem Rubrum der »neuen Kriege« diskutiert wurde.70 Die Frage, ob es sich bei diesen nichtstaatlichen (besser: nicht beiderseits durch ausschließlich staatliche Akteure gekennzeichneten) Konflikten um »Krieg« handle, bezieht sich wesentlich auf dessen politische Legitimation – und auf die Bewertung kollektiver Gewalt durch die »Weltöffentlichkeit«.71 Die britische Politikwissenschaftlerin Mary Kaldor charakterisiert das von ihr auf den Begriff gebrachte Phänomen der »neuen Kriege« durch die Aufweichung von bisher gültigen Unterscheidungen zwischen öffentlich und privat, zwischen innerhalb und außerhalb der betreffenden Territorien, zwischen politischem und wirtschaftlichem Handeln sowie zwischen zivilen und militärischen Aktivitäten. Die bisherige Unterscheidung zwischen legitim waffentragenden rechtmäßigen Kombattanten einerseits und Nichtkombattanten sowie Kriminellen andererseits ist hier in Zweifel gezogen.72 Hieran anknüpfend kennzeichnet Herfried Münkler drei Formen künftiger Kriege: erstens Ressourcenkriege an der Peripherie der Wohlstandszonen, bei denen sich die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem, politischem und militärischem Handeln aufgelöst hat; zweitens Pazifizierungskriege, also militärische 66

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Ulrich Beck, Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, Berlin 2010; Jürgen Habermas, Die Erweiterung des Horizonts. In: Neue Rundschau, 14.11.2006 (letzter Zugriff 12.6.2020). Zit. nach: Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel, Opladen 2002, S. 93. Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens, München 2016, S. 32. Bernd Greiner, 9/11: der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011. Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Frankfurt a.M. 2006; Wassermann, Asymmetrische Kriege (wie Anm. 7). Jürgen Osterhammel, Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart, München 2017, S. 54‑74. Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era, 3. Aufl., Cambridge 2012, S. 22.

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Interventionen, bei denen geostrategische, wirtschaftliche und humanitäre Motive miteinander verflochten sind; und drittens Verwüstungskriege.73 Oft bleiben hier selbstreferenzielle Gewaltspiralen im Gange, denen mit bisher gängigen Rational-Choice-Erklärungsmustern nicht beizukommen ist.74 Münkler verdeutlicht seinen Begriff der »neuen Kriege« am Beispiel des Dreißigjährigen Krieges – als ein Modell, das sich von jenem des »westphälischen« Zeitalters abhebt. Erst mit der Verstaatlichung des Krieges erfolgte seine Symmetrisierung, die es möglich macht, diesem die »asymmetrischen Konflikte« gegenüberzustellen.75 Ungeachtet der Ausführungen Carl von Clausewitz‘ zu Phänomenen der irregulären Gewalt wie dem kleinen Krieg und dem »Volkskrieg«76 wurde das »neue Kriegsbild« in den 1990er Jahren den staatszentrierten »Clausewitzschen Kriegen« bisweilen entgegengestellt; durchaus verbunden mit einer Kritik an tendenziell bürokratisch überorganisiert scheinenden militärisch-politischen Apparaten.77 Diese Kritik trifft freilich weniger Clausewitz selbst, als vielmehr dessen Auslegungsart im 19. Jahrhundert.78 Clausewitz wählte als Ausgangspunkt seiner Definition des Krieges das Sprachbild vom »erweiterten Zweikampf«:

»Jeder versucht, den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen.«79

Damit ist Krieg von einer Symmetrie der Gewaltaustragung gekennzeichnet, wobei die angestrebte Niederwerfung des Gegners sowohl physisch als auch »moralisch« (also psychologisch und legitimatorisch) verstanden wird. Somit erweist sich die im 19. Jahrhundert besonders im preußisch-deutschen Militär favorisierte »Niederwerfungsstrategie« mit ihrem Streben nach »Vernichtung« des Gegners von vornherein als Verkürzung der Gedankenführung von Clausewitz.80 Dessen Definition des Krieges betonte die Gegenseitigkeit der Gewaltaustragung. Dies wiederum musste dahingehend zum Ausdruck kommen, dass gerade der Verteidiger den Gewaltkonflikt 73 74 75

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Herfried Münkler, Was ist neu an den neuen Kriegen? – Eine Erwiderung auf die Kritiker. In: Den Krieg überdenken (wie Anm. 45), S. 133‑150. Stefan Deißler, Eigendynamische Bürgerkriege. Von der Persistenz und Endlichkeit innerstaatlicher Gewaltakteure, Hamburg 2016, S. 79. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, 5. Aufl., Reinbek 2003, S. 59‑124. Vgl. Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma, Berlin 2017, S. 817‑843. Vgl. Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1832‑1834). Hrsg. und eingel. von Werner Hahlweg, 19. Aufl., Bonn 1991, 6. Buch, Kap. 26, S. 799‑807. Martin van Creveld, Die Gesichter des Krieges, München 2009, S. 315 f.; Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998, S. 84 f., 89; John Keegan, Die Kultur des Krieges, Köln 2012, S. 34. Beatrice Heuser, Clausewitz lesen! Eine Einführung, München 2005 (= Beiträge zur Militärgeschichte. Militärgeschichte kompakt, 1), S. 15‑30. Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 76), 1. Buch, Kap. 1, Nr. 2, S. 191. Heuser, Clausewitz lesen! (wie Anm. 78), S. 131‑146; Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusinger, Paderborn [u.a.] 2012 (= Zeitalter der Weltkriege, 9), S. 76‑78; Sven Lange, Delbrück und der »Strategiestreit«, Freiburg i.Br. 1995, S. 83‑124.

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auslöse, denn: »Der Eroberer ist immer friedliebend«;81 er beabsichtige also, seine Gewaltanmaßung idealerweise ohne Gegenwehr zu praktizieren. Demgemäß obliege es den Verteidigern, die Übergriffe des Invasoren durch die Anwendung eigener Gewalt zu verhindern oder zurückzuschlagen. Dies mündet in einer Paradoxie: Denn die 1948 unter dem Eindruck der rassenideologischen NS-Verbrechen von den Vereinten Nationen bekundete Ächtung des Krieges leitet ihr stärkstes Argument von einem Phänomen ab, das im Anschluss an den Gedankengang von Clausewitz sinnvollerweise nicht mehr als Krieg bezeichnet werden kann. Der Genozid ist die maximale Steigerung einseitiger Gewalt bei Fehlen einer Gegenwehr.82 Denn wer sich wehrt, verkehrt in legitimer Gegenwehr die Rolle vom (reinen) Opfer zum Gewaltakteur. Die Kopplung der Begriffe »Krieg« an die Chiffre »Auschwitz«, also an den Völkermord, entspricht folglich einer spezifisch deutschen historischen Perspektive. Zweifellos erfolgten die NS-Menschheitsverbrechen im Rahmen des Zweiten Weltkrieges; gleichzeitig aber waren sie das Gegenteil von »Krieg« als symmetrischer Auseinandersetzung unter Gleichen. Das von Clausewitz in der Zweikampf-Metapher eingeforderte Mindestmaß an »symmetrischer« Gegenseitigkeit kontrastiert mit der anschließend erörterten Vielgestaltigkeit des Phänomens: Schließlich sinken die Chancen auf einen regulären Zweikampf nach Art eines Duells in dem Maß, in dem die Heterogenität der Gewaltakteure zunimmt. Clausewitz sieht den Krieg als »ein wahres Chamäleon«. Daran knüpft er sein Diktum der »wunderlichen Dreifaltigkeit«: erstens »Gewaltsamkeit« wie Hass und Feindschaft; diese ordnet er dem »Volk« als Akteur zu. Den Krieg kennzeichne zweitens das »Spiel der Wahrscheinlichkeit«, was er mit den kriegführenden Akteuren, den Feldherrn und ihren Armeen, in Verbindung bringt. Drittens sei der Krieg ein »politische[s] Werkzeug«.83 Diesen Aspekt betont das berühmte Diktum, wonach »Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln«.84 Somit ist Krieg einerseits mit dem RationalChoice-Ansatz als »Instrument der Politik« zu beschreiben. Dieser findet aber andererseits seine Grenzen an der »Wahrscheinlichkeit« und an den »moralischen Größen«. Schon aufgrund des Zweikampfcharakters des Kampfes ist die volle Rationalitätserwartung politischer und militärischer Akteure infrage zu stellen. In diesem Sinne hieß es in der Truppenführungsvorschrift der Bundeswehr von 1959: »Ungewissheit ist das Element des Krieges, das Unerwartbare die Regel. Die Lagen im Kriege sind von unbegrenzter Mannigfaltigkeit. Sie wechseln oft und plötzlich und lassen sich nur selten von vornherein übersehen. Unberechenbare Größen haben oft maßgebenden Einfluss. Dem eigenen Willen begegnet der unab-

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Clausewitz: Vom Kriege (wie Anm. 76), 6. Buch, Kap. 5, S. 634. Herberg-Rothe, Der Krieg (wie Anm. 42), S. 18. Clausewitz, Vom Kriege (wie Anm. 76), 1. Buch, Kap. 28, S. 212 f. Ebd., Kap. 24, S. 210.

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hängige Wille des Feindes. Reibungen und Fehler sind alltägliche Erscheinungen. So muß die Führung sich häufig auf ein System von Aushilfen stützen.«85

Eine friktionsfreie Abarbeitung administrativer Regelungen ist mit diesem Kriegsverständnis unvereinbar, so sehr sich die politische Leitung, parlamentarische Kontrolle und die Öffentlichkeit eine solche wünschen mögen.86 Und in der Tat entzündeten sich an diesem Problem Konflikte zwischen (früheren) Soldaten und der mächtigen Zivilbeamtenschaft seit der Gründungsphase des Bundesministeriums der Verteidigung – zwischen Regelungsdichte und Handlungsspielraum, zwischen verliehener Macht und deren Missbrauch.87 Bezogen auf die Einsätze der Bundeswehr ergibt sich somit die Frage nach der Balance zwischen rechtsstaatlich gebotener Planbarkeit militärischen Handelns einerseits und der erforderlichen Flexibilität militärischer Führung andererseits. Ein Verzicht auf Unsicherheit im militärischen Handeln im Einsatz könnte in die möglichen Denkalternativen münden, entweder auf – per se kontingente – Kampfeinsätze ganz zu verzichten, oder aber diese als – klar planbar erscheinende – einseitige Vollstreckungsmaßnahmen durchzuführen, etwa mit Luftschlägen, Drohnen oder mit Spezialkräften. Auch eine derart asymmetrische Strategie der Stärke ginge indessen mit hohen ethischen und politischen Nebenfolgen einher. Überdies kann der Asymmetriebegriff bis zur Trivialität verallgemeinert werden: Ausgehend von der praktischen Unmöglichkeit, dass zwei gleiche Gegner mit gleichartigen Waffen, politischen, militärischen und gesellschaftlichen Systemen gegeneinander in »symmetrischer« Weise Krieg führen, wäre Krieg stets als »asymmetrisch« zu bezeichnen.88 Demgegenüber ist stets ein gewisses Maß an Symmetrie vorauszusetzen, um noch von Kampf oder gar Krieg zu sprechen – mit der für die Kämpfenden beiderseits geteilten Chance zu töten sowie dem Risiko getötet zu werden. Es sind also die vielfältigen Symmetrien oder Asymmetrien der Konfliktparteien jeweils klar zu benennen; die Gegenüberstellung von »symmetrischen« und »asymmetrischen« Konflikten führt genauso wenig weiter wie diejenige zwischen »alten« und »neuen« Kriegen.

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Truppenführung (TF), Bonn 25. August 1959, Nr. 4 (S. 6). Roderich Kiesewetter, Auf Leben und Tod – Die Gewissensentscheidung eines MdB über Kampfeinsätze. In: Schützen, Retten, Kämpfen – Dienen für Deutschland. Hrsg. von Alois Bach und Walter Sauer, Berlin 2016, S. 269‑280, hier S. 273. Rink, Die Bundeswehr (wie Anm. 30), S. 48; vgl. allgemein: Dieter Krüger, Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg i.Br. 1993. So Kortüm, Kriegstypus (wie Anm. 46), S. 85; Walter Feichtinger, Differenzierung von Asymmetrie im Kontext bewaffneter Konflikte. In: Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik? Hrsg. von Josef Schröfl und Thomas Pankratz, Baden-Baden 2004, S. 117‑120; Erwin Schmidl, »Asymmetrische Kriege« – Alter Wein in neuen Schläuchen? In: Asymmetrische Kriegführung (ebd.), S. 121‑132. Mit einer erweiterten Konzeption des Begriffs: Wassermann, Asymmetrische Kriege (wie Anm. 7), S. 128‑160.

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3. Begriffe vom Krieg – und die Logik Das Problem zwischen begrifflicher Abstraktion und historischer Konkretion stellt sich auch bei der Definition des Krieges. Zum einen ist jeder Konflikt in Raum, Zeit und Akteurskonstellation einzigartig. Zum anderen muss jede Begriffsbildung eine historisch übertragbare Typisierung beinhalten. Der relativen Undeutlichkeit dieses Ausdrucks ist bereits aus logischen Gründen kaum zu entgehen: Schließlich bezieht sich der Begriff »Krieg« mit hohem Allgemeinheitsgrad auf einen großen »Umfang« einzelner und daher in sich heterogener Phänomene. Daher muss diese Begrifflichkeit inhaltlich relativ schwach hinterlegt sein: Denn »Inhalt und Umfang eines Begriffes stehen gegen einander in umgekehrtem Verhältnisse. Je mehr nämlich ein Begriff unter sich enthält, desto weniger enthält er in sich und umgekehrt«89 – so Immanuel Kants Einlassung zur Begriffslogik. Demgemäß ist ein sehr allgemeiner Begriff des Krieges zwar inhaltsarm und tendenziell diffus. Demgegenüber sind aber aussagekräftige, inhaltsreiche Begriffe an das Erfordernis geknüpft, den Begriff operabel einzuengen. Oft geschieht dies fachlich-korrekt in derartiger Weise, dass die Vielfalt der historischen Erscheinungsformen kaum mehr zu erfassen ist. Somit besteht das Problem der Konkretion: dass also jede handhabbare Definition zum »Absinken« im Abstraktionskontinuum führt. Klar definierte Begriffe entstehen so durch das Herausfiltern (scheinbar) irrelevanter Größen. Gleichsam werden »nebulöse« Dinge herausdefiniert, die vorher zum Krieg – zumindest »umgangssprachlich« – gehört haben. Dies erklärt die Unterscheidung Guttenbergs zwischen dem allgemeinen, »umgangsprachlichen« und dem konkreten, juristisch korrekten Sprechen über den »Krieg«. Der Gewinn der sprachlichen Operationalisierung von juristischen, militärischen oder sicherheitspolitischen Fachbegriffen liegt auf der Hand: Konkret definierte Aussagen sind für die jeweiligen Gestaltungsfelder »handhabbar«. Hierfür ist jedoch ein Tribut dahingehend zu entrichten, dass manche im allgemeinen, umgangssprachlichen Begriffsverständnis noch enthaltenen Aspekte aus der Fachsprache definitorisch ausgeblendet werden. Insbesondere gilt dies für die – qua Definition – als »irregulär« eingestuften Aspekte. Sie unterscheiden den »Krieg« nach allgemeinem Verständnis von demjenigen in juristisch-politisch korrekter Sprache. Jede ausdefinierte Begriffskonkretion tendiert dazu, die Grauzonen auszublenden. Exakt dies geschah, als auf Grundlage der »westlichen«, politisch-juristisch ausgearbeiteten Begrifflichkeit in den Jahren nach 1990 das Nebulöse zurückkehrte: zuerst in Form der »neuen Kriege«, dann als »Terrorismus«, dann als »hybride Kriege«. Die Problematik dieser neuartig scheinenden Konflikte ergibt sich aus den Grenzen, sie mit dem auf staatlich-völkerrechtliche Normen rekurrierenden Begriffsapparat der etablierten sicherheitspolitischen Akteure angemes89

Immanuel Kant, Logik. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd 9, Berlin 1923, S. 1‑150, hier S. 95; Zum selben Problem: Kazimierz Ajdukiewicz, Abriss der Logik, Berlin (Ost) 1958 (= Zarys logiki, 1952), S. 19‑34.

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sen zu fassen. Insofern ist das Auftreten dieser neuen, schwammigen Begriffe ein Indiz für sicherheitspolitische Umwälzungen. Das Problem zwischen Abstraktion und Konkretion steht dem Diskurs über den Krieg im Wege: Wo deutsche Juristen und Regierungspolitiker – aus ihrer Sicht zu Recht – hervorheben, dass die Bundeswehr weder vor noch nach 1990 Krieg geführt habe, lag ein juristisch klar ausgearbeiteter Begriff zugrunde. Freilich war so im parlamentarisch-politischen wie im administrativ-militärischen Arbeitsprozess diejenige Abstraktionsebene begrifflich verloren gegangen, die das komplexe Gewaltgeschehen hätte miterfassen können; es waren just diejenigen Gewaltphänomene, welche die Bundeswehr im Kampfeinsatz betrafen. Ohne allgemeine – und gleichsam bodenferne – Begriffe wäre aber jeder Überblick unmöglich. Dieser Ansatz kann (was wohl nicht selten auch bewusst genutzt wird) zu einem Missverständnis bezüglich der Vergleichsebenen führen: dass nämlich der vom jeweiligen politischen Gegner verwendete Ausdruck »Krieg« zu allgemein, zu unwissenschaftlich und damit ungeeignet sei, die Materie angemessen darzulegen. Umgekehrt kann eine die Umgangssprache sich aneignende Kritik unterstellen, die »etablierten« Diskurspartner oder -gegner würden Verschleierung und Schönrednerei betreiben. Als in den Jahren ab 2009 verschiedene Diskurssphären miteinander in Berührung gerieten, war Verwirrung daher kaum vermeidlich. Mit der Überquerung der Diskursebenen war offenbar ein »Aufsteigen« oder »Absinken« der Begriffe in den Abstraktionsebenen einhergegangen. Genau das brachte Guttenberg in seiner Einlassung zu den umgangssprachlich »Krieg« genannten Verhältnissen zur Sprache.90 Wo die rechts-, sozial- oder politikwissenschaftliche Fachbegrifflichkeit vorgefundene allgemeine Begriffe wissenschaftlich operationalisiert hatte, waren sie hinreichend konkret gemacht worden, um damit zu arbeiten. Damit sank aber auch der ursprüngliche Allgemeinheitsgrad! Gleichzeitig blieben im öffentlichen – nichtwissenschaftlichen und daher tendenziell diffusen – Sprachgebrauch ursprüngliche Bedeutungen auf höherer Abstraktionsebene erhalten. Die Skala zwischen wissenschaftlichen »Theorien und Gerede« bleibt gleitend.91 Das bereits Clausewitz zur Last gelegte Operieren mit abstrakten – und für eine soldatische Leserschaft oft zu abstrakten – Begriffen kritisierte der französische Militärschriftsteller Hubert Camon im Jahr 1911 als »metaphysischen Nebel«.92 Indessen können auch Metaphern hilfreich sein, einen Gegenstand

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Verdruckstheit im Umgang mit dem Afghanistaneinsatz, Karl-Theodor zu Guttenberg im Interview mit dem Deutschlandfunk, 14.3.2010 (letzter Zugriff 12.6.2020). Wilfried von Bredow, Frieden – Krieg. In: Umkämpfte Begriffe. Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus. Hrsg. von Gereon Flümann, Bonn 2017 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 10024), S. 167‑189, hier S. 168‑170. Nach Raymond Aron, Clausewitz. Penser la guerre, Bd 2: L‘1age planétaire, Paris 1976, S. 9, 315.

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darzulegen93 – abgesehen davon, dass es sich bei nicht wenigen Fachbegriffen um metaphorische Aneignungen handelt, derer sich die Sprechergemeinschaft erst dann bewusst wird, wenn sich die leitende Semantik verändert. Wie bei jeder Begriffsbildung muss das Unterfangen scheitern, einen Kriegsbegriff inhaltsreich mit hinreichend präziser Konkretion auszuformen und gleichzeitig eine hohe Verallgemeinerungsfähigkeit anzustreben. Damit bleibt es notwendig bei einer gewissen Mehrdeutigkeit bei der geschichtswissenschaftlichen Annäherung an den Krieg.

4. Krieg, Frieden, Sicherheit Mit dem Problem zwischen Abstraktion und Konkretion seines Begriffs und demjenigen zwischen der Regularität und Irregularität seiner Akteure verbindet sich das Verhältnis des Krieges mit seinen semantischen Nachbarbegriffen »Frieden« und »Sicherheit«. Hier wirken die Kriterien der Lehre vom Gerechten Krieg (bellum iustum) im Völkerrecht nach: Krieg unter Führung einer legitimen Autorität, mit einem gerechten Grund und unter Einhaltung allgemein anerkannter Regeln durch die dazu berechtigten, legitimen Akteure.94 Solange also »souveräne Körperschaften gleichen Ranges« Konflikte mit hoher Intensität austragen, ist die Frage nach einem Vorhandensein von Krieg eindeutig zu bejahen. Nachdem die staatszentrierte Konzeption der internationalen Ordnung seit den 1990er Jahren durch die vermehrte Rolle nichtstaatlicher, transnationaler oder supranationaler Organisationen ins Wanken geraten ist, stehen diese Kriterien des Krieges auf dem Prüfstand. Angesichts dieser in den »neuen Kriegen« entstandenen entstaatlichten und damit gleichsam privatisierten Gewalträume ist zu fragen, inwieweit sich deren Akteure der legalen Hülle des seiner Kernfunktionen beraubten Staates bemächtigt haben.95 Freilich folgt diese Bemächtigung eines staatlichen Erscheinungsbildes einem Interesse an Selbstlegitimation, das auf den Wert des Staates als Legitimationsressource verweist; genauso, wie die Einstufung von Ländern als »failed states« die dort herrschenden Akteure delegitimieren soll. So könnte das auf souveräne Staatlichkeit beruhende Weltordnungsmodell – aus der Perspektive der von diesem Ausgeschlossenen – auch als »organisierte Heuchelei« gekennzeichnet werden.96 Erneut ergibt sich der schwer auflösbare Zusammenhang von Definitionsmacht und normativen Setzungen. In die 93 94 95

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Zum heuristischen Wert von Metaphern: Wassermann, Asymmetrische Kriege (wie Anm. 7), S. 92‑115. Matthias Iser, Paradoxien des (un)gerechten Krieges. In: Den Krieg überdenken (wie Anm. 45), S. 179‑200. Reinhard Meyers, Krieg. In: Handwörterbuch Internationale Politik. Hrsg. von Richard Woyke und Johannes Varwick, 13. Aufl., Opladen, Toronto 2015, S. 258‑267, hier S. 262‑264. Hanns W. Maull, Staat/Staatlichkeit. In: Handwörterbuch (wie Anm. 95), S. 455‑466, hier S. 258, 264.

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Wiederbelebung dieser alten Debatte mischt sich auch dahingehend Kritik, dass von »Krieg« – oder gar »gerechtem Krieg« – nicht die Rede sein könne oder dürfe. Stattdessen favorisierten die ökumenischen Kirchen in Ost- wie in Westdeutschland bereits im Jahr 1989 das Konzept vom »gerechten Frieden«, das sich dann um die Jahrtausendwende der Weltkirchenrat zu eigen machte. Neben christlich-pazifistischen oder quietistisch-politikfernen Positionen einerseits halten andererseits einige christliche Kirchen, so im angelsächsischen Raum, das Konzept des Gerechten Krieges aber nach wie vor für angemessen.97 Letztere Position stützte sich inbesondere auf das Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to protect), das in den Jahren 2000/2001 entwickelt und fünf Jahre später von den Vereinten Nationen verankert wurde.98 Letztlich bleiben »abendländisch-westliche« Konzeptionen vom Gerechten Krieg historisch wie semantisch Ausgangspunkte für die Idee vom Gerechten Frieden, genauso wie für die geltenden Normen des Völkerrechts. Schließlich verweisen die Begriffe »Frieden« und »Krieg« aufeinander: Denn es geht um die Frage nach einer gerechten Ordnung. Damit besteht das dem Nexus zwischen Krieg, Frieden und Ordnung inhärente Dilemma der (gerechten) Gewaltanwendung in semantischer Umkehrung fort. In seiner Gegenüberstellung zum Krieg ist der Begriff des Friedens ebenfalls mit mehrfachen Bedeutungen aufgeladen: Frieden gilt als Wertekomplex, als Prozess, als Zustand und als Vision. Somit muss der jeweilige Gegenbegriff von Krieg und Frieden stets mitgedacht werden. Entsprechend erscheinen Streitkräfte – natürlich in der jeweiligen Eigensicht – als Friedensbringer. Von Volker Rühe (CDU) bis zu Peter Struck (SPD) kennzeichneten deutsche Verteidigungsminister verschiedener Parteicouleur die Bundeswehr als »die größte Friedensbewegung Deutschlands«.99 Wie beim Begriff des Krieges ist auch derjenige des Friedens mit dem Problem einer kontextabhängigen Füllung der Begriffe behaftet: So stellen sich drei Fragen: erstens nach der Definitionsmacht – Wer definiert? –, zweitens die nach dem historisch-politischen Zusammenhang – also wann? – und drittens nach den medialen 97

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Ines-Jacqueline Werkner, Gerechter Frieden. Das fortwährende Dilemma militärischer Gewalt, Bielefeld 2018, S. 35‑48, 64‑69, 76‑82. Weiterhin: Gerhard Arnold, Auslandseinsätze der Bundeswehr – ethische Zugänge. In: Am Hindukusch (wie Anm. 34), S. 173‑186, hier S. 180‑182. Vgl. etwa: Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, S. 65‑70. UN-Resolution 1674, 28.4.2006, Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten (letzter Zugriff 12.6.2020). Vgl. Humanitarian Intervention: A History. Hrsg. von Brendan Simms und David J.B. Trim, Cambridge 2011; Just and Unjust Military Intervention: European Thinkers from Vitoria to Mill. Hrsg. von Stefano Recchia und Jennifer M. Welsh, Cambridge 2013. Erklärung der Bundesregierung durch Bundesminister der Verteidigung Peter Struck, 11.3.2004, Berlin (letzter Zugriff 12.6.2020). Zu Rühe: Wolfram Wette, Kriegs-Erklärungen: Die Entwicklung von Bundeswehr und Nato nach dem Kalten Krieg. In: Informationszentrum 3. Welt IR3W, 237 (1999) (letzter Zugriff 12.6.2020).

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Verbreitungsprozessen: Wie wird über Frieden – und damit umgekehrt auch über Krieg – kommuniziert? An der Basis durchziehen zwei kontrastierende Annahmen die politischen Debatten. Auf der einen Seite kann Friede als kosmisches Ordnungsprinzip und somit als »natürlicher vorgesellschaftsvertraglicher Zustand« dargestellt werden. Dieser ethisch begründeten Konzeption erscheint Krieg als »barbarischer« Austritt aus diesem Normalzustand, als Verbrechen. Dagegen betont die »realistische« Schule in Anlehnung an Thomas Hobbes den Krieg als Naturzustand. Nach dieser Lesart ist Frieden ein durch menschliche Aktivität zu stiftendes Kulturprodukt – auf der Basis eines (staatlichen) Gewaltmonopols.100 Das Verständnis von Sicherheit ist demnach keine statische, sondern eine dynamische Größe, die sich im späten 20. Jahrhundert multidimensional erweitert hat. Die seit den 1990er Jahren beschworene »Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen«101 bezog sich auf die Globalisierung der als relevant angesehenen Akteure hin zur Konzeption einer multipolaren Welt. Die Steigerung globaler Interdependenzen bildet demnach die Voraussetzung für effiziente, globale Wirtschaftsströme; dies erweitert aber die Bedrohungswahrnehmung und damit den Sicherheitsbegriff. Im Ergebnis stehen verringerte Störungstoleranz und entsprechend erhöhte Risiko-Aversion. Die in dem Vierteljahrhundert seit 1990 auch politisch-deklaratisch vorangetriebene Ökonomisierung aller Lebensbereiche stilisierte bisweilen Protagonisten der internationalen Wirtschaftselite zu »Helden«102 und versprach eine Entgrenzung der ökonomischen Aktivitätssphären, die dem Modell des klassischen Marktes nahezukommen versprachen. Mit dem Aufkommen neuer Informationsmedien erfolgten, so die Erwartung, eine raum-zeitund personenübergreifende informationelle Entgrenzung, sodass die klassischen Homogenitätsbedingungen des perfekten Marktes in realisierbarer Reichweite schienen.103 Damit aber musste sich jeder Störfaktor zur Bedrohung auswachsen: Das hierfür unabdingbare Sicherheitsgefühl bot den Ansatzpunkt für eine neue Form des transnationalen Terrorismus. Dies und nicht die Zahl der Todesopfer erklärt das Entsetzen angesichts der Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington. Gerade in der Milleniumsära, als die Aussicht auf eine globalisierte Wirtschafts- und 100 101

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Reinhard Meyers, Frieden. In: Handwörterbuch (wie Anm. 95), S. 115‑123, Zitat S. 121. Vgl. Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen. Hrsg. von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Hamburg [u.a.] 2001; Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen, Ergänzungsband 1. Hrsg. von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Hamburg [u.a.] 2004. Vgl. auch den Beitrag von Eckart Conze in diesem Band. David Priestland, Merchant, Soldier, Sage: A New History of Power, London 2012, S. 189‑247; Fukuyama, The End of History (wie Anm. 13), S. 233 f. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2016, S. 48 f., 86‑88; Thomas W. Zeiler, Offene Türen in der Weltwirtschaft. In: Geschichte der Welt (wie Anm. 36), S. 318‑321, 343‑356; Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, 4. Aufl., München 2016, S. 41, 47‑58; Andreas Wirsching, Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989, München 2015, S. 73‑87.

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Werteordnung den Generaltrend zu markieren schien, widersprach die parallele Globalisierung der kollektiven Gewalt eklatant den im vorangegangenen Jahrzehnt gehegten Erwartungen.104 Mit der Erweiterung des Sicherheitskonzepts musste auch die Schwelle für den Beginn eines militärischen Eingreifens sinken. Dies bot den Ansatzpunkt für einen Interventionismus, um die Welt nach eigenem Bild umzugestalten. Aufgrund der relationalen Eigenschaft des Sicherheitsbegriffs in Abhängigkeit von den zu erfüllenden Erwartungen konnte die normative Aufladung des Friedensbegriffs im Problem einer Hypermoralisierung münden.105 Dem durch die westlichen, euro-atlantischen Mächte maßgeblich geprägten erweiterten Sicherheitsbegriff und damit den Konzepten von Vernetzter Sicherheit, Schutzverantwortung und auch der Counterinsurgency haftet somit die Eigenschaft an, stets das Gute zu wollen, aber damit stets, so die Kritik, das Böse zu schaffen. Wo der politische Realismus mit dem Problem des zynischen Pragmatismus beim Einsatz militärischer Gewalt behaftet bleibt, droht dessen idealistische Negation in eine »kosmopolitische Verpolizeilichung« zu führen – mit humanitären Interventionen als säkularen Kreuzzügen. Diesbezüglich ernüchterte Stimmen sprechen folglich von einer post-interventionistischen Ära.106 Somit steht die Idee der Schutzverantwortung angesichts ihrer Dilemmata auf dem Prüfstand, kaum dass sie als Leitkonzept verankert wurde: Schließlich zeitigt der pazifistische Kosmopolitismus das Problem, über die Aushebelung der Staatssouveränität geradezu die Entgrenzung von Konflikten zu beschleunigen; dies mit Interventionen, die – je nach Perspektive – auch als »Ausdruck einer westlich dominierten internationalen Entscheidungsfindung« erscheinen können.107 Humanitäre Interventionen an der Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik108 stellen besonders bundesdeutsche Akteure in eine für sie problematische Grauzone von Militär-, Polizei- und Entwicklungseinsätzen. Das zeigten wiederholt die kontroversen Debatten über die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Auch haben sich manche in den Politikwissenschaften getroffene Aussagen als voreilig erwiesen, so das von Francis Fukuyama diskutier-

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Akira Iriye, Die Entstehung einer transnationalen Welt. In: Geschichte der Welt (wie Anm. 36), S. 796‑803. In Anlehnung an Peter Rudolf: Stephan Bierling, Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart, München 2014, S. 86. Zitat in Anlehnung an John Mueller: Michael Brzoska, Aktuelle Herausforderungen der normativen Ordnung der Kriegführung durch große Militärmächte. In: Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen. Hrsg. von Hans-Georg Ehrhart, Baden-Baden 2017, S. 253‑281, hier S. 277. The Armed Forces: Towards a PostInterventionist Era? Hrsg. von Gerhard Kümmel und Bastian Giegerich, Wiesbaden 2013 (= Schriftenreihe des ZMSBw, 14). Glatz [u.a.], Die Auslandseinsätze (wie Anm. 20), S. 24 (Zitat); Stephan Böckenförde, Sicherheitspolitik. In: Handwörterbuch (wie Anm. 95), S. 444‑455. Manuel Fröhlich, Schutzverantwortung/R2P. In: Handwörterbuch (wie Anm. 95), S. 437‑443.

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te »Ende der Geschichte«109 – und vor allem die öffentliche Wahrnehmung, welche die dort getroffenen Aussagen zum »thymotischen« Ursprung von Arbeit, aber auch deren Gewalt ignorierten.110 Zudem scheinen die um die Jahrtausendwende unter dem Eindruck der technischen Informationsmedien und der organisatorischen Vorreiterrolle globaler Unternehmen beschworenen Konzepte zur Umgestaltung der Streitkräfte entweder als selbstverständlich oder aber als vorübergehende »Organisationsmoden«:111 so die Revolution in Military Affairs, die Transformation oder die Ökonomisierung der Streitkräfte.112 Die wirtschaftlichen und politischen Krisen und Gewaltkonflikte seit 2008 (Bankenkrise), seit 2011 (Arabischer Frühling und seine im Sinne der westlich-liberalen Leitvorstellung enttäuschenden bis katastrophalen Folgen in Libyen und Syrien), die Krise um die Ukraine seit 2014 und die weiteren Spannungen in Ostmitteleuropa sowie auch die Infragestellung der stetigen Integrationsfortschritte beim europäischen und nordatlantischen Vergemeinschaftungsprozess durch populistische und partikularistische Bewegungen – all diese Ereignisse lassen vermuten, dass die leitenden Ideen, denen die westliche und auch bundesdeutsche Sicherheitspolitik seit 1990 gefolgt ist, ein Vierteljahrhundert später einer erneuten Zäsur unterlag.113 Es bleibt zu vermuten, dass die Einsätze westlicher Streitkräfte – und besonders diejenigen der Bundeswehr – durch konkurrierende Anforderungen hervorgerufen werden, die den »westlichen«, universell gedachten Konzepten überhaupt inhärent sind. Dies gilt etwa für den Einsatz von Streitkräften zugunsten des intendierten Demokratieexportes mit den Folgeproblemen der humanitären Schutzverantwortung. Nicht zuletzt die ungeklärten Begriffe und dahinterliegenden Konzepte trugen dazu bei, dass der bundesdeutsche Diskurs über den »Einsatz« bisweilen von einer gewissen Ziel- oder

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Francis Fukuyama, The End of History? In: National Interest, 16 (1989), Summer, S. 1‑18; dazu: Stefan Jordan, Francis Fukuyama und das »Ende der Geschichte«. In: Zeithistorische Forschungen, 6 (2009), 1, S. 159‑163. Fukuyama, The End of History (wie Anm. 13), S. 235‑237, 330, 336 f. Alfred Kieser, Moden & Mythen des Organisierens. In: Die Betriebswirtschaft, 56 (1996), S. 21‑39. Vgl. Die ökonomische Modernisierung der Bundeswehr. Sachstand, Konzeptionen und Perspektiven. Hrsg. von Gregor Richter, Wiesbaden 2007 (= Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, 4); Neuausrichtung der Bundeswehr. Beiträge zur professionellen Führung und Steuerung. Hrsg. von Gregor Richter, Wiesbaden 2012 (= Schriftenreihe des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, 12); Streitkräftemanagement. Neue Planungs- und Steuerungsinstrumente in der Bundeswehr. Hrsg. von Eva-Maria Kern und Gregor Richter, Wiesbaden 2014; Am Puls der Bundeswehr. Militärsoziologie in Deutschland zwischen Wissenschaft, Politik, Bundeswehr und Gesellschaft, Wiesbaden 2016 (= Schriftenreihe des ZMSBw, 16); hier insbes.: Gerd Portugall, Verwaltungsmodernisierung in der Bundeswehr in den letzten 20 Jahren – eine kurze Entwicklungsgeschichte aus politikwissenschaftlicher Perspektive, S. 153‑176. Heinrich August Winkler, Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika, München 2017; Stefan Weidner, Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken, München 2018.

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Strategielosigkeit geprägt zu sein scheint.114 Möglicherweise war dies aber die Kehrseite eines bundesdeutschen Friedens- und Integrationsdiskurses, der sich dieser Narrative – durchaus erfolgreich – im eigenen Interesse bedient hat.

5. Vorläufiges Fazit: Die Bundeswehr und der Krieg Kriege sind typologisch mehrdeutig und ihre Merkmale abhängig von der jeweiligen Deutungshoheit. Nicht, was der Krieg wirklich ist, erweist sich daher als ausschlaggebend, sondern was die betroffenen Sprechergemeinschaften als solchen bezeichnen. Deswegen ist die Historisierung der Phänomene nicht nur wünschenswert, sondern entscheidend. Da sich Rechtsnormen im Zeitverlauf verändern, da sie unterschiedlich interpretiert werden und da sich der Interpretationsrahmen ändert (und sich gleichzeitig die Rahmenbedingungen ändern, die diesen Interpretationsrahmen ihrerseits verändern), greift die im bundesrepublikanischen Sprechen über den Krieg oft gepflegte legalistische Sichtweise zu kurz. Bezogen auf die Bundeswehr und den »Krieg« seit 1990 ergibt sich somit ein – vorläufiges – vierfaches Fazit: Erstens: Kaum überraschend stilisierte sich die Bundesrepublik auch nach der Zeitenwende von 1989/90 als Friedensmacht. Das in Deutschland aus guten Gründen gepflegte kosmopolitische Ziel, eine friedliche globale Wirtschafts- und Werteordnung zu verwirklichen, stand im Hintergrund der semantischen Abrüstung – und der Aussonderung des Begriffs »Krieg« aus dem militärischen Fachvokabular. Deshalb standen aber keine passenden Begriffe mehr zur Verfügung, als sich die »neuen Kriege« erhoben; spätestens, als die Bundeswehr im Kampf mit irregulären Gewaltakteuren stand. Die mit dem Begriff der Vernetzten Sicherheit proklamierte Entwicklung vom Mars zur Venus115 erzeugte Folgeprobleme: Nun verschwammen »zivile« und »militärische« Ebenen der Sicherheit zur Hybridform. Zweitens: Die Bundesrepublik gefiel sich in ihrer Rolle als Bündnispartnerin par excellence, um sich so von einer durch Nationalismus und Militarismus geprägten Geschichte zu distanzieren. Das hierzu gewählte Mittel der militärischen Zurückhaltung kontrastierte mit ihrem Willen, im Bündnis weiterhin 114

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Naumann, Der blinde Spiegel (wie Anm. 9); Naumann, Einsatz ohne Ziel? (wie Anm. 20); Chauvistré, Wir Gutkrieger (wie Anm. 20); Philipp Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen, Freiburg i.Br. [u.a.] 2015 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 5); Philipp Münch, Strategielos in Afghanistan. Die Operationsführung der Bundeswehr im Rahmen der International Security Assistance Force, Berlin 2011 (= SWP-Studie, S 30). Robert Kagan, Of Paradise and Power. America and Europe in the New World Order, New York 2003, S. 3; vgl. From Venus to Mars? Provincial Reconstruction Teams and the European Military Experience in Afghanistan, 2001‑2014. Hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br. 2014 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 3).

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gleichberechtigt mitreden zu wollen. Im Ergebnis standen bündnispolitisch motivierte Militäreinsätze, denen jedoch die Zuweisung kriegerischer Mittel und Handlungsvollmacht lange versagt blieb. Trotz – oder auch wegen – dieser Ambivalenz nutzte die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik Spielräume zur Verfolgung ihrer Interessen. Drittens: Die historische und rechtliche Aufladung des Kriegsbegriffs führte zu einem äußerst voraussetzungsreichen semantischen Konstrukt. Dies wiederum erhöhte die Wahrscheinlichkeit einer »Kriegsverdrängung«. Zugleich war es eine Kontingenzverdrängung,116 eine »Suche nach Sicherheit«117 durch semantische Selbstberuhigung. Das Nicht-Reden vom »Krieg« war zwar aus Gründen der exakten juristisch-politischen Fachsprache vorgegeben, fiel aber umso stärker auf, als dann wirklich Gefallene zu beklagen waren. Zumindest für einige Phasen der Einsatzgeschichte der Bundeswehr bescheinigen auch abgewogen formulierende und mit den Interna gut vertraute Experten dem politisch-militärischen Establishment eine möglicherweise systemisch bedingte »Einsatzferne«.118 Viertens: Die Jahreswende 2009/10 markierte auch offiziell einen erhöhten Grad an Ehrlichkeit gegenüber der deutschen Öffentlichkeit; aber auch gegenüber kampferfahrenen, verwundeten oder traumatisierten Soldaten sowie gegenüber den Angehörigen und Kameraden von Gefallenen. Dies ist eine Zäsur in der Bundeswehrgeschichte. So ergibt sich letztlich die Notwendigkeit, einen vermeintlich überkommenen Forschungsansatz erneut aufzugreifen. Es ist an der Zeit, eine Einsatzgeschichte auch als Organisationsgeschichte und als Operationsgeschichte zu schreiben – im erweiterten Sinne dieser Begriffe;119 und für ein Publikum, dem dieser Aufsatz zu theoretisch erscheinen musste.

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Hans Joas und Wolfgang Knöbl, Kriegsverdrängung: Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie, Frankfurt a.M. 2008; Markus Holzinger, Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft. Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007. Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 15‑18. Rainer L. Glatz, Innere Führung – Bewährung im Einsatz? In: Schützen, Retten, Kämpfen (wie Anm. 86), S. 42‑53, hier S. 49. Sönke Neitzel, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege. In: Geschichte der Politik. Alte und neue Wege. Hrsg. von Hans-Christof Kraus und Thomas Nicklas, München 2007 (= Historische Zeitschrift, Beih. 44), S. 287‑308, hier S. 307 f.; Chiari, Die Bundeswehr als Zauberlehrling (wie Anm. 36).

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Sicherheit ohne Ende. Bundesrepublik und Bundeswehr in den Dynamiken von Versicherheitlichung und Sicherheitsexport seit 1990 Militärgeschichte seit 1990 ist stärker als jemals zuvor integraler Bestandteil einer breit verstandenen Geschichte von Sicherheit und Sicherheitspolitik. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik und die Bundeswehr, aber es wird auch an den Entwicklungen in Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges deutlich. In den Dynamiken erweiterter Sicherheit beziehungsweise eines erweiterten Verständnisses von Sicherheit hat sich die Rolle der Bundeswehr fundamental verändert: von Streitkräften der territorialen Verteidigung hin zu einer Armee im weltweiten Einsatz.1 Die Entwicklung der Bundeswehr lässt sich deshalb nicht angemessen analysieren, wenn man sie nicht auf jene Dynamiken der Sicherheit bezieht und als Teil dieser Dynamiken betrachtet. Militärgeschichte wird in dieser Perspektive Teil einer Historischen Sicherheitsforschung, die in den letzten Jahren Gestalt angenommen hat.2 Aus dieser Verortung insbesondere der jüngsten Militärgeschichte ergeben sich auch Möglichkeiten einer Kooperation mit den Sozialwissenschaften, wo eine Sicherheitsforschung (security studies), die über Fragen traditioneller Sicherheitspolitik hinausgeht, seit geraumer Zeit zu den dynamischsten Forschungsfeldern gehört.3

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Siehe dazu: Wegweiser zur Geschichte. Auslandseinsätze der Bundeswehr. Hrsg. von Bernhard Chiari und Magnus Pahl, Paderborn [u.a.] 2010; sowie Auftrag Auslandseinsatz. Neueste Militärgeschichte an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Streitkräften. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br. 2012 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 1). Zu diesem neuen Forschungsfeld siehe jetzt im Überblick Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2018. Siehe dazu beispielsweise Columba Peoples und Nick Vaughan-Williams, Critical Security Studies. An Introduction, London 2015; The Routledge Handbook of New Security Studies. Hrsg. von J. Peter Burgess, London 2010.

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1. Militärgeschichte als Historische Sicherheitsforschung In einem knappen Satz resümiert das von der Bundesregierung veröffentlichte Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr jene komplexe und spannungsreiche Entwicklung, die das Leitthema dieses Bandes darstellt. »Die Dynamik unseres Sicherheitsumfelds«, so heißt es dort, habe »zu einem Anstieg der weltweiten Einsätze der Bundeswehr geführt«.4 Was unter diesen »weltweiten Einsätzen« heute zu verstehen ist, listet das Weißbuch wenige Seiten später auf, wenn es die Aufgaben der Bundeswehr definiert, dabei dem »internationalen Krisenmanagement« einen wichtigen Platz zuweist und insbesondere auf »aktive militärische und zivil-militärische Beiträge« abhebt, auf Beiträge – ich nenne kurz die wichtigsten – »im Rahmen internationaler Organisationen, Bündnisse und Partnerschaften zur Konfliktverhütung, Krisenbewältigung, Krisennachsorge und Stabilisierung«; »zu Friedensmissionen der Vereinten Nationen«; »zum Kampf gegen den transnationalen Terrorismus, gegen Bedrohungen aus dem Cyber- und Informationsraum und gegen neuartige Gefahren hybriden Charakters«; »zum Schutz von Seeverbindungslinien« sowie »zur Durchsetzung von Embargos und Sanktionen«. All dies diene dem Ziel, »unser internationales Umfeld im gesamten Bedrohungs- und Krisenspektrum zu stabilisieren und Gefahren für unser Land und unsere Verbündeten abzuwenden«.5 Die Formen internationaler Einsätze der Bundeswehr, die dieser Katalog aufführt, haben sich im Laufe der letzten gut 25 Jahre entwickelt. Jede Einsatzform hat – in ihrer Genese, ihrer politischen Durchsetzung, ihrer Implementierung – ihre eigene Geschichte, die längst zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher und zunehmend auch zeithistorischer Analyse geworden ist. Aber auch die sicherheitspolitischen Dynamiken des vergangenen Vierteljahrhunderts insgesamt sind zum Forschungsthema geworden, zum Forschungsthema auch der Geschichtswissenschaft, welche die Geschichte der allerjüngsten Vergangenheit als Gegenwartsgeschichte schreibt, perspektivisch auf die Jetzt-Zeit ausgerichtet.6 Im Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr wird diese Forschung in der Abteilung »Einsatz« betrieben, was auf den unabgeschlossenen Charakter dieser Entwicklung verweist, aber doch zugleich unterstreicht, dass die Bundeswehr als »Armee im Einsatz« mittlerweile ihre eigene Geschichte und dass diese Geschichte innerhalb der deutschen und internationalen Militärgeschichte ihr eigenes Gewicht hat.7

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Weißbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Berlin 2016, S. 89. Weißbuch 2016 (wie Anm. 4), S. 92. Exemplarisch und zugleich programmatisch: Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015. Siehe dazu die Publikationen in der Reihe »Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien« des ZMSBw.

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Diese Geschichte der Bundeswehr als »Armee im Einsatz« und die Geschichte der Auslandseinsätze der Bundeswehr lassen sich als Teil einer Geschichte der Sicherheit schreiben, einer Geschichte der Sicherheit, die sich nicht allein auf Sicherheitspolitik im traditionellen Sinne bezieht, sondern der ein weites Verständnis von Sicherheit zugrunde liegt.8 Die Historische Sicherheitsforschung folgt dabei einer gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs, die wir zeithistorisch seit den 1970er, 1980er Jahren greifen können, die sich aber fraglos seit 1990 noch einmal verstärkt hat und zu der auch der weitere Aufstieg von »Sicherheit« als einem zentralen politisch-sozialen Wertbegriff gehört. In diese Dynamiken der Sicherheit gehören auch die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Veränderung der Sicherheitspolitik der Bundesrepublik, die zu diesen Einsätzen führte, ja, sie ermöglichte.

2. Erweiterte Sicherheit Grundsätzlich lässt sich argumentieren, dass Sicherheit jenseits der äußeren Sicherheit immer schon auf ganz unterschiedliche Politikfelder bezogen werden konnte. Aber seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts können wir doch eine qualitativ neuartige Dynamik der Erweiterung von Sicherheit beobachten, die den gewissermaßen expansiven Charakter des Sicherheitsbegriffs und von Sicherheitspolitik widerspiegelt. Ausgehend von Unsicherheitswahrnehmungen, Bedrohungsvorstellungen oder Gefahrendiagnosen werden immer mehr politische Handlungsfelder als sicherheitspolitische Handlungsfelder markiert. Fassen lassen sich diese Prozesse, der Aufstieg von Konzepten wie »extended security« oder »comprehensive security« seit den 1970er Jahren.9 In der Bundesrepublik war Helmut Schmidt einer der wichtigsten Vertreter solcher Vorstellungen »erweiterter Sicherheit«, beispielsweise in seiner Rede im Oktober 1977 vor dem Londoner Internationalen Institut für strategische Studien (IISS), in der er Fragen der militärischen, der nuklearen Sicherheit, Fragen der inneren Sicherheit (auf dem Höhepunkt des RAF-Terrorismus) und Fragen wirtschaftlicher Sicherheit (Energie- und Rohstoffversorgung) miteinander verband.10 Aber die Erweiterung des Verständnisses von Sicherheit und die politische Diskussion darüber waren nicht nur deutsche, sondern internationale Phänomene, die wir etwa zeitgleich überall in den Gesellschaften der 8 9 10

Siehe dazu Conze, Geschichte der Sicherheit (wie Anm. 2), S. 33‑35. Ausführlicher dazu: Conze, Geschichte der Sicherheit (wie Anm. 2), S. 47‑50. Der Text der Rede ist abgedruckt in: Helga Haftendorn, Sicherheit und Stabilität. Außenbeziehungen der Bundesrepublik zwischen Ölkrise und NATO-Doppelbeschluss, München 1986, S. 195‑212. Vgl. zu Schmidts Rede auch Klaus Wiegrefe, Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen, Berlin 2005; Hartmut Soell, Helmut Schmidt. Macht und Verantwortung. 1969 bis heute, München 2008; Kristina Spohr, Helmut Schmidt. Der Weltkanzler, Stuttgart 2016.

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westlich-industriellen Welt identifizieren können. Das ist insofern nicht überraschend, als die Debatte über erweiterte Sicherheit ursächlich zusammenhängt mit der Erfahrung der internationalen Krisen in den mittleren 1970er Jahren, die auch das Ende des ökonomischen Booms der Nachkriegsjahrzehnte bedeuteten. Die Debatte begann in der Folge des Nahost-Kriegs von 1973 und dem vor diesem Hintergrund politisch intendierten Anstieg der Ölpreise, erfasste zunächst die Bereiche der Energiesicherheit und, damit zusammenhängend, der Sicherheit von wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Stabilität. Dass solche Fragen im öffentlichen Diskurs immer häufiger als Sicherheitsfragen verhandelt wurden, verweist auf einen Bedeutungsgewinn des Wertbegriffs »Sicherheit« vor dem Hintergrund eines sich verändernden gesellschaftlichen Sicherheitsbewusstseins. Beide Entwicklungen – Erweiterung des Sicherheitsverständnisses und Veränderung des Sicherheitsbewusstseins – waren aufeinander bezogen und verstärkten sich gegenseitig. Gerade in der Vorstellung von »umfassender Sicherheit« (comprehensive security) kam der Grundgedanke zum Ausdruck, dass Sicherheit und Sicherheitspolitik nicht länger auf ein Feld oder auf einzelne, voneinander getrennte Felder zu reduzieren waren, sondern umfassend, also in ihren Wechselwirkungen und Zusammenhängen, zu betrachten und politisch zu behandeln waren. Zugleich wurde durch das Konzept der comprehensive security11 der Handlungs- und Steuerungsanspruch des Staates unterstrichen, der sich selbst – und dies durchaus auch in legitimierender Absicht – die umfassende Zuständigkeit für »Sicherheit« und für politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Unsicherheit oder Gefahr zuschrieb. Darüber hinaus ebnete die Rede von der comprehensive security einer Verschmelzung bislang politisch und funktional voneinander getrennter Sicherheitsbereiche den Weg. Grenzen nicht nur zwischen Politikbereichen, sondern auch zwischen Sicherheitsakteuren wie insbesondere Militär und Polizei wurden fließend; Zuständigkeiten konnten ineinander übergehen. Der Begriff der »erweiterten Sicherheit« ist seit den 1970er Jahren – und das nicht nur in Deutschland – aus dem politischen Vokabular nicht mehr verschwunden. Paradoxerweise trug das Ende des Kalten Krieges zu neuen Unsicherheitswahrnehmungen bei; an die Stelle klarer, politisch-ideologisch und militärisch bestimmter Konfliktstrukturen traten neue, unübersichtliche Konstellationen. Hinzu kamen dann, spätestens mit dem 11. September 2001, neue Verunsicherungen angesichts des internationalen Terrorismus. Politische Programme und politische Rhetorik spiegeln das wider. Die erste Regierungserklärung des wiedergewählten Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) hatte 2002 zwar den Titel »Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung«, doch im Kern des von Schröder vorgestellten Regierungsprogramms ging es um Sicherheit. Seine Regierung verste11

Zum Konzept der »comprehensive security« siehe David H. Capie und Paul M. Evans, The Asia-Pacific Security Lexicon, Singapur 2007, Kapitel Comprehensive Security, S. 65‑75.

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he »Sicherheit als ein elementares Bürgerrecht«, lautete ein zentraler Satz der Rede, und der Bundeskanzler vertrat sodann einen, wie er es nannte, »erweiterten Sicherheitsbegriff«, der deutlich über die Sicherheit von Leib und Leben vor Krieg und Kriminalität hinausgehe.12 Als die CDU im Jahr 2007 ein neues Grundsatzprogramm verabschiedete, stand dieses unter der Überschrift »Freiheit und Sicherheit«. Die CDU stehe, so heißt es dort, für eine Gesellschaft, in der angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein neues Verständnis von Sicherheit notwendig sei. Dieses umfasse »gleichermaßen die innere und äußere Sicherheit in einer Welt mit immer neuen Bedrohungen. Es umfasst aber auch die soziale Sicherheit unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft und der demografischen Veränderungen sowie des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft und die Sicherheit, auch in Zukunft in einer lebenswerten Umwelt leben zu können, die jede Generation für die nächste bewahrt«.13 Das ist eine Dynamik, die bis in die Gegenwart nicht nachgelassen hat. Die politischen Programme aller Parteien, nicht nur in Deutschland, strotzen vor Sicherheitsversprechen. Zu Beginn des Bundestagswahlkampfs 2017 präsentierte die Konrad-AdenauerStiftung ein Papier unter der Überschrift »Freiheit und Sicherheit durch einen starken Staat«. Da schwang die Legitimation staatlichen Handelns wieder mit. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) publizierte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) »Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten«. Ebenfalls in der FAZ reagierte darauf der damalige SPDVorsitzende Sigmar Gabriel mit seiner Vorstellung von innerer Sicherheit als »sozialem Bürgerrecht«.14 In diesen Dynamiken der Sicherheit veränderten sich auch die Bundeswehr und die ihr zugewiesenen Aufgaben. Die Bundeswehr ist, wie bereits eingangs angedeutet, zu einer weltweit einsetzbaren und eingesetzten Armee geworden – soweit der Zustand ihrer Bewaffnung und Ausrüstung das zulässt. In ihren Strukturen haben sich die deutschen Streitkräfte seit den 1990er Jahren den veränderten Anforderungen anzupassen versucht, die sich von den traditionellen Mustern aus den Jahrzehnten des Ost-West-Konflikts deutlich entfernt haben. Im Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr hieß es zur Ortsbestimmung der Bundeswehr in der deutschen Sicherheitspolitik: »Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen (...) bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung.« Und weiter: »Sicherheit kann weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. 12

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Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Deutschen Bundestag am 29. Oktober 2002 in Berlin, »Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung schaffen. Für eine Partnerschaft in Verantwortung«, abgedruckt in: Bulletin des Presseund Informationsamts der Bundesregierung, Nr. 85‑1, 29.10.2002. Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland, Hannover 2007 (letzter Zugriff 15.4.2019), S. 3. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 9.1.2017, S. 6.

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Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist.«15 In solchen Formulierungen spiegeln sich die grundlegenden nationalen und internationalen Wandlungsprozesse seit 1990, aber auch der schon seit den 1970er Jahren wahrnehmbare Bedeutungsgewinn der Sicherheit in Politik und Gesellschaft. Die Sicherheits- und Unsicherheitsdiskurse der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart beziehen sich nicht länger primär auf die Sicherheit des Staates, sondern es ging immer häufiger um Bedrohungen oder Gefährdungen der Sicherheit der Gesellschaft.16 Das war anfangs noch stark national ausgerichtet, Gesellschaft wurde in den Grenzen eines Staates gedacht, und es gab auch Bereiche, in denen die Diskurse stärker national beziehungsweise nationalgesellschaftlich blieben, beispielsweise hinsichtlich der demografischen Entwicklung oder auch im wirtschaftlichen Bereich, in dem es um die Sicherung des »Standorts Deutschland« ging. Doch in zunehmendem Maße war nicht mehr beziehungsweise nicht mehr ausschließlich die nationale, nationalstaatliche Gesellschaft das primäre Referenzobjekt von Sicherheitsdiskursen. Das gilt vor allem für die ökologische Sicherheit, wo Gefahren einerseits subnational, regional oder gar lokal identifiziert wurden und sich daraus entsprechend kleinräumigere Diskurse, nicht selten in Gestalt von Protestbewegungen, entwickelten; wo es aber andererseits auch zur Transnationalisierung von Diskursen kam, weil gerade die Bedrohung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen nicht national, sondern jenseits des einzelnen Staates transnational und global zu fassen waren. Es ging um die Sicherheit der Gesellschaft als subnationale, lokale oder regionale Gesellschaft, als – nach wie vor – nationale Gesellschaft und als transnationale Gesellschaft, als Weltgesellschaft (ein von Niklas Luhmann Mitte der 1970er Jahre geprägter Begriff), als Menschheit. So stellte etwa der »Brundtland-Bericht« der Vereinten Nationen von 1987 fest, dass die Zerstörung der Umwelt dazu führe, »die Sicherheit in globalem Maßstab zu bedrohen«.17 Die Sicherheitsdiskurse, die sich auf diesen unterschiedlichen Ebenen, von der globalen zur lokalen, entwickelten, waren vielfach miteinander verflochten und aufeinander bezogen, und allein diese Wechselbezüge 15 16

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Weißbuch 2006. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Berlin 2006, S. 9. In der Konzeptionalisierung der Erweiterung von Sicherheit folge ich Christopher Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff. In: Internationale Politik als Überlebensstrategie. Hrsg. von Mir Ferdowski, München 2009, S. 137‑153; vgl. auch Christopher Daase, National, Societal and Human Security. On the Transformation of Political Language. In: Historical Social Research, 35 (2010), 4, S. 22‑37, sowie Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50 (2010), S. 9‑16 (Schaubild auf S. 10). In stärker historischer Perspektive siehe auch Emma Rothschild, What is Security? In: Daedalus, 124 (1995), 3, S. 53‑98. Brundtland-Bericht 1987, zit. nach Daase, Wandel der Sicherheitskultur (wie Anm. 16), S. 11.

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stellen schon ein wichtiges Untersuchungsfeld dar, zumal sich in ihnen und durch sie auch Staatlichkeit veränderte und die Rolle des Staates beziehungsweise staatlicher Akteure sich wandelte, weil beispielsweise ihre Letztzuständigkeit in Sicherheitsbelangen hinterfragt und relativiert wurde. In der Frage der ökologischen Sicherheit und angesichts der hier erkennbaren Entnationalisierung deutet sich bereits eine weitere Veränderung des Sicherheitsverständnisses an, nämlich die Erweiterung von der Sicherheit des Staates über die Sicherheit der Gesellschaft (auch sub- oder transnational) hin zur Sicherheit des Individuums als Referenzobjekt von Sicherheitsdiskursen und Sicherheitspolitik. Der in den 1990er Jahren, nach dem Ende des Ost-WestKonflikts, entstandene Begriff der »Human Security« trug dem Rechnung. Sicherheit erweiterte sich also in unterschiedlichen Dimensionen: in der Sachdimension von der militärischen zur humanitären Sicherheit; in der Raumdimension von der nationalen zur globalen Sicherheit; in der Referenzdimension vom Staat über die Gesellschaft zum Individuum.18 Die »erweiterte Sicherheit« hat aber noch eine weitere Dimension, die der Politikwissenschaftler Christopher Daase als die »vielleicht folgenreichste Dimension der Ausdehnung des Sicherheitsbegriffs« bezeichnet hat. Diese betrifft »die Art und Weise, wie Gefahren verstanden und Unsicherheit konzeptionalisiert wird«.19 Was sich hier erkennen lässt – in einem zeitlichen Bezugsrahmen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, ist eine Entwicklung von Bedrohung beziehungsweise Bedrohungswahrnehmungen und Bedrohungsvorstellungen und, entsprechend, von Sicherheitspolitik als Politik der Bedrohungsabwehr (beispielsweise in den ersten Jahrzehnten des Kalten Krieges) hin zur Denkfigur der Verwundbarkeit. Diese hebe nicht nur auf die in der Regel militärische Bedrohung durch einen klar identifizierten Gegner ab, sondern stelle die mögliche eigene Schwäche gegenüber einer Vielzahl denkbarer externer Effekte ins Zentrum.20 Vulnerabilität, ein zunächst in der ökologischen Forschung verwandter Begriff, ist in den letzten Jahren immer stärker zum Ausgangspunkt von Sicherheitsstrategien geworden.21 Das zeigt ein Blick in die jüngsten Weißbücher der Bundeswehr beziehungsweise des Bundesverteidigungsministeriums.22 Cyber-Security spielt in diesem Zusammenhang eine ganz wichtige Rolle. Sicherheitspolitik zielt vor diesem Hintergrund nicht mehr ausschließlich auf die Abwehr von – primär militärischer – Bedrohung und die Bekämpfung von Stärken eines Gegners, sondern eben auf die Identifikation und Reduzierung eigener Schwächen und die Schaffung von Resilienz, wie es seit einigen Jahren immer 18 19 20

21 22

Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff (wie Anm. 16). Daase, Wandel der Sicherheitskultur (wie Anm. 16), S. 14. Siehe zum Konzept der Verwundbarkeit (Vulnerabilität) auch Herfried Münkler, Das Ende des klassischen Krieges als sicherheitspolitische Herausforderung im beginnenden 21. Jahrhundert. In: Sicherheit in der Vormoderne und Gegenwart. Hrsg. von Maximilian Lanzinner, Paderborn 2013, S. 71‑81. Münkler, Das Ende des klassischen Krieges (wie Anm. 20), S. 103. Siehe hierzu beispielsweise Weißbuch 2016 (wie Anm. 4), S. 49.

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häufiger heißt.23 Als eine weitere Ausdehnung des Gefahren- und mithin des Sicherheitsbegriffs lässt sich schließlich die Benennung – und Behandlung – von Sicherheitsproblemen als Risiken betrachten, als mögliche Gefahren also, als Gefahren, die in Zukunft erst noch entstehen könnten. Unsicherheit (insecurity) wird hier also als Ungewissheit (uncertainty) gedeutet, dadurch entkonkretisiert und zum Gegenstand nicht mehr reaktiver, sondern »proaktiver Sicherheitspolitik« gemacht.24

3. Sicherheitsexport Durchaus im Kontext der Dynamiken erweiterter Sicherheit werden die Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Literatur auch mit dem Begriff des »Sicherheitsexports« beschrieben.25 Der Begriff tauchte zunächst in der politischen Sprache auf, wurde aber rasch auch als Forschungsbegriff übernommen. Sicherheit, verstanden als politische Stabilität, werde aus Deutschland »exportiert«, um aktuelle oder künftige Bedrohungen der eigenen Sicherheit abzuwenden.26 Es gehe darum, Sicherheit im eigenen Territorium durch den Transfer von Modi der Sicherheitsherstellung in andere Territorien zu schaffen. Zu solchen Modi der Sicherheitsherstellung gehören fraglos militärische Interventionen oder ein militärisches Engagement, aber auch an23

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Siehe dazu beispielsweise Ulrich Bröckling, Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution. In: Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr. Hrsg. von Christopher Daase, Philipp Offermann und Valentin Rauer, Frankfurt a.M. [u.a.] 2012, S. 94‑108; Stefan Kaufmann, Resilienz als »Boundary Object«. In: Sicherheitskultur, ebd., S. 109‑131; Herfried Münkler und Felix Wassermann, Von strategischer Vulnerabilität zu strategischer Resilienz. In: Perspektiven der Sicherheitsforschung. Hrsg. von Lars Gerhold und Jochen Schiller, Frankfurt a.M. 2012, S. 77‑95. Andere Sozialwissenschaftler halten am Bedrohungsbegriff durchaus fest, beispielsweise Stefan Kaufmann, der zwar konstatiert, dass nationale Sicherheit nicht mehr vorrangig von der Kriegsgefahr her gedacht werde, aber doch weiterhin gegenüber einem »Bedrohungskontinuum« definiert werde, das heute von Terrorismus, organisierter Kriminalität bis hin zu illegaler Immigration reiche. Siehe Stefan Kaufmann, Zivile Sicherheit. Vom Aufstieg eines Topos. In: Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Leon Hempel, Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling, Wiesbaden 2011 (= Leviathan, Sonderheft 25), S. 101 f. Vgl. beispielsweise Hubert Zimmermann, Security Exporters. Germany, the United States, and Transatlantic Cooperation. In: After Iraq: The Alliance under Stress. Hrsg. von David M. Andrews, Cambridge 2005, S. 128‑151; Hubert Zimmermann, Von der Lastenteilung zum Sicherheitsexport. Eine funktionale Erklärung der Sicherheitsund Bündnispolitik Deutschlands und Japans. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 16 (2006), 4, S. 1325‑1348; Hubert Zimmermann, Exporting Security. Success and Failure in the Securitization and Desecuritization of Foreign Military Interventions. In: Journal of Intervention and Statebuilding. 11 (2017), 2, S. 225‑244; Derek S. Reveron, Exporting Security. International Engagement, Security Cooperation, and the Changing Face of the U.S. Military, Washington, D.C., 2010. Ralph Thiele, Zur Bedeutung der Vernetzten Sicherheit – eine militärische Perspektive. In: Sicherheit und Frieden, 30 (2012), 2, S. 81‑87.

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dere Formen, zum Teil auch in Kombination, sind denkbar: wirtschaftliche Hilfe, Geheimdienstkooperation, Unterstützung beim Aufbau demokratischer Strukturen oder kulturelle Zusammenarbeit.27 Entscheidend ist also – und hier liegt der Kern des Konzepts »Sicherheitsexport« – eine doppelte Transformation von Sicherheitspolitik: zum einen eine Ausweitung, die sich nicht auf militärische Bedrohungen im engeren Sinne bezieht; zum anderen, wenn auch damit verbunden, ein Verständnis von Sicherheitspolitik, in dem Sicherheitspolitik nicht – oder nicht mehr – eine primär auf das staatliche Territorium gerichtete Aufgabe im Sinne der Landesverteidigung ist. Wahrgenommenen Sicherheitsbedrohungen oder Unsicherheitspotenzialen durch Krisenlagen außerhalb des eigenen Territoriums soll nicht zuletzt durch den Einsatz militärischer Mittel in solchen Krisenregionen begegnet werden.28 Zum Begriff des Sicherheitsexports gehört als Korrespondenzbegriff der Begriff des »Sicherheitsimports«. Gerade im vergleichenden Blick auf die deutschen Entwicklungen seit 1990 begegnet der Begriff des Sicherheitsimports immer wieder. Er steht für die deutsche Sicherheitspolitik in der Zeit des Kalten Krieges, als die Bundesrepublik sich auf Landesverteidigung konzentrierte und in erheblichem Ausmaß Sicherheit von den Bündnispartnern, insbesondere den Vereinigten Staaten, importierte (in Gestalt der in Deutschland stationierten Truppenkontingente). Es wäre eine eigene Betrachtung wert, was die Übertragung der beiden Begriffe »Import« und »Export« aus der wirtschaftlichen in die politische Sphäre bedeutet, und ob der Transfer der Begriffe auch den Transfer ökonomischer Logiken impliziert: Gewinnund Verlustrechnungen, Export-Import-Relationen, Preisentwicklungen, Dynamiken von Angebot und Nachfrage und damit letztlich Marktlogiken. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der in den Critical Security Studies seit geraumer Zeit diskutierten Frage nach der Kommodifizierung (commodification) von Sicherheit. In dieser Ökonomisierung der Sprache liegt eine Problematik der Begriffe »Sicherheitsimport« und »-export«, der man sich bei der Verwendung der Begriffe bewusst sein muss und die der wissenschaftlichen Reflexion bedarf. Das kann dieser Beitrag nur andeuten. Die jüngere zeithistorische Forschung hat die Transformation deutscher Sicherheitspolitik seit Ende des Kalten Krieges und den Wandel der Bundeswehr zu einer »Armee im Einsatz« innerhalb dieser Transformation durchaus bereits thematisiert. Sie hat vor dem Hintergrund der Geschichte vor 1989 mit ihren humanitären Auslandseinsätzen der Bundeswehr die Debatte über den Golfkrieg 1991 und über die deutsche Beteiligung daran ebenso dargestellt wie die Einsätze in Kambodscha und Somalia sowie vor

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Hubert Zimmermann, Versicherheitlichung und Sicherheitsexport (Teilprojekt B 06). In: Dynamiken der Sicherheit. Formen der Versicherheitlichung in historischer Perspektive (Antrag zur Errichtung eines SFB/Transregio), Marburg, Gießen 2013, S. 247‑262, hier S. 247. Zimmermann, Versicherheitlichung und Sicherheitsexport (wie Anm. 27), S. 252.

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allem im ehemaligen Jugoslawien, zunächst in Bosnien, ab 1999 im Kosovo sowie dann, seit 2002, in Afghanistan und seither an weiteren Einsatzorten.29 Was führte zu dieser Transformation der Streitkräfte: die veränderte geostrategische Situation nach Ende des Kalten Krieges, die Rückkehr des Krieges nach Europa, neue Gefahren oder Bedrohungen, insbesondere der inter- beziehungsweise transnationale Terrorismus? Auf all diese Faktoren – und andere mehr – ist in der bisherigen Forschung hingewiesen worden. Aber die politischen Entscheidungen, die zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr führten, sind damit – auch in historischer Perspektive – noch nicht hinreichend erklärt. Entscheidend in der politischen Debatte war das Argument, dass Krisen, politische Instabilitäten oder Gewalteskalationen in einer anderen Weltregion unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit Deutschlands haben würden. In seinem mittlerweile geflügelten Wort vom Dezember 2002, die Sicherheit der Bundesrepublik werde auch am Hindukusch verteidigt, brachte Bundesverteidigungsminister Peter Struck diese Argumentation eingängig zum Ausdruck. In den 2003 verabschiedeten Verteidigungspolitischen Richtlinien wurde sie weiter ausgearbeitet.30 In diesem Dokument und darüber hinaus in jenen politischen Prozessen, die seit Beginn der 1990er Jahre zur Beteiligung der Bundeswehr an bewaffneten Auslandseinsätzen führten, darunter der nicht UN-mandatierten NATO-Intervention in Serbien, spiegelt sich, so könnte man das formulieren, eine auf die Bundesrepublik bezogene Versicherheitlichung internationaler Krisen- und Bedrohungspotenziale.

4. Versicherheitlichung Das Konzept der Versicherheitlichung – securitization – geht zurück auf die sogenannte Kopenhagener Schule der Critical Security Studies. Es wurde in den 1990er Jahren von dem dänischen Politikwissenschaftler Ole Wæver und seinem britischen Kollegen Barry Buzan entwickelt und hat entscheidend zur Dynamisierung der Sicherheitsforschung beigetragen.31 Mit dem Konzept der Versicherheitlichung versuchte man zunächst, Antworten zu finden auf die ebenso einfache wie grundlegende Frage: Wie wird etwas zu einem Sicherheitsproblem? Und was bedeutet das politisch, für den politischen Prozess und politische Entscheidungen? Hinter diesen Fragen steht 29 30 31

Siehe beispielsweise Auslandseinsätze der Bundeswehr (wie Anm. 1); Auftrag Auslandseinsatz (wie Anm. 1). Verteidigungspolitische Richtlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung, Berlin 21.5.2003, S. 12. Barry Buzan, Ole Wæver und und Jaap de Wilde, Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998; Ole Wæver, Securitization and Desecuritization. In: On Security. Hrsg. von Ronnie D. Lipschutz, New York 1995, S. 46‑86. Die Literatur und die Debatte zum Thema »securitization« sind mittlerweile nahezu unüberschaubar geworden. Für einen Überblick in historischer Perspektive siehe Conze, Geschichte der Sicherheit (wie Anm. 2), S. 82‑101.

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die Annahme, dass mit dem Sicherheitsbegriff beziehungsweise mit der Bezeichnung einer bestimmten Thematik als sicherheitsrelevant oder als Sicherheitsproblem über die Priorität, präziser: über die Priorisierung politischer Ziele entschieden wird – bis hin zu politischen Forderungen, die Handlungen jenseits der jeweils geltenden normativen, also insbesondere gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Grenzen und Beschränkungen politischen Handelns implizieren und legitimieren.32 Zu diesen Beschränkungen politischen Handelns zählten in dem Kontext, der uns hier interessiert, erstens: die Bestimmungen des Grundgesetzes (Art. 24 und Art. 87a), die zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber durch das Bundesverfassungsgericht 1994 gleichsam re-interpretiert wurden – mit der entscheidenden normativen Fixierung des Parlamentsvorbehalts; zweitens: die Imperative, die sich, so der jahrzehntelange Konsens, aus der nationalsozialistischen Vergangenheit, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust ergaben, und die erst neu gedeutet werden mussten, insbesondere vor dem Hintergrund genozidaler Gewalt im ehemaligen Jugoslawien, um aus einer Verhinderungsnorm eine Ermöglichungsnorm zu machen; und schließlich drittens – und in Verbindung damit: eine Neubestimmung des Verständnisses der Bundeswehr als einer Friedensarmee, die nun kämpfen musste, um Frieden zu sichern, wiederherzustellen oder zu stabilisieren. Das war angesichts einer breit geteilten Friedenssehnsucht und weit verbreiteter Vorstellungen globalen Friedens nach dem Ende des Kalten Krieges gesellschaftlich und politisch nicht leicht zu vermitteln beziehungsweise durchzusetzen.33 Die Debatten darüber begannen in Deutschland schon in der Zeit des ersten Golfkrieges (1991), als die Bundesrepublik sich bekanntlich der US-geführten Militärallianz gegen den Irak nicht anschloss und stattdessen die Kriegführung logistisch und finanziell unterstützte (etwa 10 Mrd. von 61 Mrd. US-Dollar), was zum Vorwurf der »Scheckbuch-Diplomatie« führte. Dass Deutschland sich im Laufe der 1990er Jahre an verschiedenen Auslandseinsätzen beteiligte (Kambodscha, Somalia, Bosnien) und dass das Verfassungsgericht diesen Auslandseinsätzen eine Grundlage gab, änderte an der Intensität der gesellschaftlichen und politischen Debatten nur wenig.34 32 33

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In historischer Perspektive: Eckart Conze, Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz. In: Geschichte und Gesellschaft, 38 (2012), 3, S. 453‑467. Vgl. Zimmermann, Exporting Security (wie Anm. 25), S. 11 f., sowie Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 878‑881. Zu den verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Dimensionen vgl. Thomas Breitwieser, Verfassungshistorische und verfassungsrechtliche Aspekte der Auslandseinsätze. In: Auslandseinsätze der Bundeswehr (wie Anm. 1), S. 153‑165. Exemplarisch zu diesen Debatten Marc Chaouali, »Kanzler, schick die Tornados los!« – Printmediale Berichterstattung in der Bundesrepublik im Zeichen des Golfkonflikts 1990/91. In: Medien und Kulturen des Konflikts. Pluralität und Dynamik von Generationen, Gewalt und Politik. Hrsg. von Henrik Gummert, Jelena Henkel-Otto und Dirk H. Medebach, Wiesbaden 2017, S. 211‑233; Marc Chaouali, Medien und Sicherheitsverständnis. Die Debatte um Auslandseinsätze der Bundeswehr 1987‑1991. In: Bundeswehr und Medien. Ereignisse – Handlungsmuster – Mechanismen in jüngs-

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Gerade vor diesem Hintergrund – und weil ja das Bundesverfassungsgericht der Regierung keine Generalvollmacht erteilt hatte, sondern, im Gegenteil, immer wieder aufs Neue die Zustimmung des Bundestags gefordert hatte – musste die Bundesregierung die Situationen im Ausland, die in ihren Augen einen Bundeswehreinsatz erforderlich machten, versicherheitlichen (securitize), als eine Bedrohung der Sicherheit der Bundesrepublik darstellen, um auf diese Weise zumindest die parlamentarische Zustimmung zu Out-of-AreaEinsätzen zu erhalten, im Idealfall auch die gesellschaftliche Zustimmung. Die Bedrohungskommunikation, die Versicherheitlichungsprozesse begleitet und vorantreibt, zeichnet Bilder existenzieller Gefährdungen und dramatisiert sie. Damit ist nicht gemeint, dass Sicherheitsprobleme oder Bedrohungen herbeigeredet werden; entscheidend ist vielmehr der Modus ihrer kommunikativen und damit auch rhetorischen Präsentation, der einer politisch-parlamentarischen Entscheidung den Boden bereiten will. Dazu gehören – und das hat in der politischen Kultur der Bundesrepublik eine Tradition, die in die Zeit vor 1990 zurückreicht – Bezüge auf den Nationalsozialismus und den Holocaust. 1983 hatte der grüne Abgeordnete Joschka Fischer die NATONachrüstung mit Auschwitz in Verbindung gebracht; während des BosnienEinsatzes der Bundeswehr hatte Fischer als Abgeordneter der Opposition im Bundestag die Position vertreten, »dass deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht deeskalieren« würden; 1999, nunmehr Außenminister der rot-grünen Regierung, hatte sich das Argument gedreht: »Ich habe nicht nur gelernt«, so Fischer, »Nie wieder Krieg! Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz!« Dazwischen lag freilich die Erfahrung von Srebrenica.35 Auch die Entwicklungen, die nach dem 11. September 2001 zur Beteiligung der Bundesrepublik an der Operation »Enduring Freedom« und, im weiteren Verlauf, an der ISAF-Mission führten, lassen sich mit dem Konzept der Versicherheitlichung fassen. Für eine Dramatisierung musste nicht gesorgt werden, die hatten die Anschläge von 9/11 bewirkt. Aber die Situation in Afghanistan musste als eine existenzielle Bedrohung der deutschen Sicherheit charakterisiert werden. Zwei Argumente tauchten in den öffentlichen, auch den parlamentarischen Debatten über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan immer wieder auf: die Notwendigkeit der Solidarität gegenüber den deutschen Bündnispartnern, allen voran den USA, sowie die Notwendigkeit, Afghanistan zu befrieden und zu stabilisieren, um

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ter Geschichte und heute. Hrsg. von Heiner Möllers und Jörg Jacobs, Baden-Baden 2019, S. 249‑261. Allgemein siehe Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 33), S. 853‑884 und 889‑899. Zit. nach: Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 33), S. 880 f. Vgl. auch Eckart Conze, Missile Bases as Concentration Camps. The Role of National Socialism, the Second World War, and the Holocaust in the West German Discourse on Nuclear Armament. In: Nuclear Threats, Nuclear Fear and the Cold War of the 1980s. Hrsg. von Eckart Conze, Martin Klimke und Jeremy Varon, Cambridge 2017, S. 79‑97.

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Deutschland vor dem Terror sich dort aufhaltender und von dort aus operierender oder gesteuerter fanatischer Extremisten zu schützen.36 Um nicht missverstanden zu werden: Versicherheitlichung ist kein Mechanismus, dessen sich eine Regierung oder eine politische Elite einfach bedienen kann, um ein bestimmtes politisches Ziel durchzusetzen. Versicherheitlichung findet in liberal-demokratischen Gesellschaften im öffentlichen Raum statt; das Publikum (audience), wie es im Jargon der Sicherheitsforschung heißt, muss überzeugt werden. Im Zweifel muss auch zusätzlicher politischer Druck ausgeübt werden, um einer Versicherheitlichung und entsprechenden politischen Maßnahmen zum Erfolg zu verhelfen: wie beispielsweise die Vertrauensfrage, die Bundeskanzler Schröder angesichts starker Vorbehalte gegen einen Afghanistaneinsatz in der eigenen Koalition im November 2001 stellte. Paradoxien und Dilemmata bleiben: Ob eine sicherheitspolitische Maßnahme, darunter auch Auslandseinsätze der Bundeswehr, zu mehr oder zu weniger Sicherheit führt, darüber wurde und wird immer wieder heftig gestritten. So kennzeichneten die Gegner des deutschen Afghanistaneinsatzes diesen sofort als eine Bedrohung der deutschen Sicherheit und nicht als Beitrag zur Lösung eines Sicherheitsproblems. Die Sprache der Sicherheit ist polyvalent; gerade in seiner Werthaftigkeit ist Sicherheit ein umstrittenes Konzept.37 Der Versicherheitlichung (securitization) folgte, um im Jargon zu sprechen, die Gegenversicherheitlichung (counter-securitization).38 Drei knappe Schlussfolgerungen sind aus den vorstehenden Ausführungen zu ziehen: zum Ersten, dass es wichtig und möglich ist, die Geschichte der Bundeswehr als einer »Armee im Einsatz« zu historisieren, sie zeithistorisch zu erforschen; zum Zweiten, dass wir der jüngsten Militärgeschichte (nicht nur der Bundeswehr, sondern der Bundesrepublik) analytisch angemessen gerecht werden, wenn wir sie als Teil einer Historischen Sicherheitsforschung betreiben und damit gesellschaftlich und politisch breit kontextualisieren; und zum Dritten, dass sich gerade in diesen gegenwartsnahen Zusammenhängen, jedoch nicht beschränkt auf sie, Kooperationsmöglichkeiten für Historiker und Sozialwissenschaftler ergeben; Kooperationsmöglichkeiten, beispielhaft dargestellt am Konzept der Versicherheitlichung, die zu frischen Perspektiven auf die Forschungsgegenstände und Fragestellungen beider Disziplinen führen können.

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Vgl. Zimmermann, Exporting Security (wie Anm. 25), S. 12, sowie Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 33), S. 889‑895. Bei Sicherheit (als Wertbegriff) handelt es sich um ein grundsätzlich umstrittenes Konzept im Sinne von Walter B. Gallie, Essentially Contested Concepts. In: The Importance of Language. Hrsg. von Max Black, Englewood Cliffs 1962, S. 121‑146. Siehe Zimmermann, Exporting Security (wie Anm. 25), S. 15, sowie Holger Stritzel und Sean C. Chang, Securitization and Counter-securitization in Afghanistan. In: Security Dialogue, 46 (2015), 6, S. 548‑567.

Hans-Peter Kriemann

»Nie wieder Krieg« – Wie die Bundeswehr in den Kosovo-Konflikt geriet1

»Die wichtigste Konsequenz aus der deutschen Geschichte lautet für uns: Nie wieder Krieg. Aber sie lautet gleichzeitig auch: Nie wieder Auschwitz. [...] Unsere Aufgabe ist es, an der notwendigen Zivilisierung der internationalen Politik mitzuwirken. Wir wollen eine deutsche Außenpolitik der machtpolitischen Selbstbeschränkung und der globalen Friedenspolitik. Wir wenden uns deshalb entschieden gegen die wachsenden Tendenzen einer neuerlichen Militarisierung des politischen Denkens.«2

Diese Worte stammen aus einem Antrag auf der Bundesversammlung von Bündnis 90/Die Grünen am 9. Oktober 1993, an dem maßgeblich Joschka Fischer beteiligt war. Sie umreißen das Spannungsfeld, in dem sich die innenpolitische Debatte über die künftige Rolle der Bundeswehr in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik der frühen 1990er Jahre bewegte. Welche Bedeutung besaßen dabei die Auslandseinsätze der Bundeswehr für die außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung? Hier wird die These vertreten, dass die Bundesrepublik Deutschland auch nach dem 3. Oktober 1990, und zwar in Fortsetzung ihrer multilateral geprägten Außen- und Sicherheitspolitik, durchaus selbstbewusst als europäische Gestaltungsmacht agierte. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr waren Teil dieser Strategie. In der innenpolitischen Debatte boten die Forderungen der Bündnispartner eine Legitimationsbasis für die Teilnahme Deutschlands an internationalen Missionen wie in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo.

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Dieser Artikel basiert auf der Dissertation des Autors, die voraussichtlich Ende 2020 erscheinen wird: »Hineingerutscht? Die NATO und Deutschland im Kosovo-Krieg. Das Zusammenspiel von Politik, militärischem Denken und internationalen Konflikten« (Arbeitstitel). Siehe auch: Hans-Peter Kriemann, Der Kosovokrieg 1999, Ditzingen 2019. Archiv Grünes Gedächtnis (AGG), B.II.2 305(1), Hubert Kleinert, Joschka Fischer [u.a.], Antrag zur außerordentlichen Bundesversammlung von Bündnis 90/Die Grünen am 9.10.1993 in Bonn.

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Hans-Peter Kriemann

1. Große Erwartungen – die veränderte Rolle des vereinten souveränen Deutschland Der Kalte Krieg war gerade zu Ende gegangen. Mit der Erklärung von London hatte die NATO dem Warschauer Pakt die Hand zur Kooperation gereicht. Mit dem »Zwei-plus-Vier«-Vertrag war nicht nur für die Deutschen der Weg frei, sich am 3. Oktober 1990 in einem Staat zu vereinen, sondern auch für einen besonderen Gipfel der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Mit der »Charta von Paris für ein neues Europa« vom 21. November 1990 sollte die Tür ins 21. Jahrhundert aufgestoßen und »[e]in neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit« geschaffen werden.3 Der heraufziehende Zweite Golfkrieg konfrontierte das gerade in der Wiedervereinigung begriffene Deutschland 1990 mit neuen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen; das betraf sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit.4 Bei dieser intensiven Selbstverständigung über den Einsatz militärischer Gewalt spielten die unter den Bedingungen der deutschen Teilung sowie des Kalten Kriegs entstandenen bundesdeutschen außen- und sicherheitspolitischen Prinzipien eine wesentliche Rolle.5 Im Kern ging es der Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl auch darum, dem Kurs »Westbindung plus Ostverbindungen« treu zu bleiben. Trotz der mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation einhergehenden tief greifenden Veränderungen des internationalen Koordinatensystems und der damit notwendig gewordenen Neuorientierung der deutschen Außenpolitik hielt diese unverändert am Paradigma des Multilateralismus fest. Zusammen mit Frankreich trieb sie die europäische Integration voran und blieb gemeinsam mit den atlantischen Mächten, insbesondere mit den USA, ein wesentlicher Motor für kollektives Handeln in der NATO und der WEU.6 In dieser Hinsicht war die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in den Jahren des massiven Umbruchs des europäischen Staatensystems also durch ein hohes Maß an Kontinuität geprägt. Von einer grundlegend neuen Außenpolitik eines zu voller Souveränität gelangten, selbstbewussteren Deutschland kann 3

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Vgl. KSZE-Gipfeltreffen in Paris (19.‑21. November 1990), Die »Charta von Paris für ein neues Europa« vom 21. November 1990. Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs. In: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949 bis 1994. Hrsg. aus Anlass des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amts, Köln 1995, Nr. 253 und 253.1, S. 757‑767. Vgl. Den Ernstfall nicht gewagt. In: Der Spiegel, 7/1991, 11.2.1991, S. 18‑26. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Republik ohne Kompass. Anmerkungen zur deutschen Außenpolitik, Berlin 2005, S. 16; Helga Haftendorn, Gulliver in der Mitte Europas. Internationale Verflechtung und nationale Handlungsmöglichkeiten. In: Deutschlands neue Außenpolitik, Bd 1: Grundlagen. Hrsg. von Karl Kaiser und Hanns W. Maull, München 1994 (= Internationale Politik und Wirtschaft, 59), S. 129‑152. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 12/5 vom 30. Januar 1991, S. 69: Regierungserklärung Bundeskanzler Kohls; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 856; vgl. Haftendorn, Gulliver (wie Anm. 5), S. 139 f.

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daher keine Rede sein; ebenso wenig wie von einer »Machtvergessenheit« der Deutschen vor 1990.7 In den Jahrzehnten davor hatte die Bundesrepublik vielmehr gelernt, die Organisationen NATO, Europäische Gemeinschaft und KSZE als Foren zur aktiven Gestaltung ihrer Politik im Rahmen der Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen. Nach dem 3. Oktober 1990 knüpfte die Bundesregierung daran an, um ein stabiles Umfeld für das vereinte Deutschland zu schaffen.8 Dieser Kurs, so sollte sich zeigen, wurde auch während des Golfkonflikts von 1991 beibehalten und sollte zum Prüfstein für die Außen- und Sicherheitspolitik des vereinten Deutschland werden. Der wesentliche Unterschied zur Zeit vor dem 3. Oktober 1990 lag einerseits in der gestiegenen Erwartungshaltung der deutschen Partner und andererseits im vergrößerten außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum. Dieser musste nun definiert und ausgestaltet werden. Verantwortlich dafür waren weniger die Stärke und Zahl deutscher Streitkräfte oder Machtambitionen der Bundesregierung als vielmehr die veränderte Rolle des vereinten und nun voll souveränen Landes.9 Die deutschen Verbündeten erwarteten, dass die Bundesrepublik vom Importeur zum Exporteur von Sicherheit wurde. Das schloss die Übernahme größerer militärischer Lasten durch die Teilnahme an UN-Missionen mit ein. Vor allem aber sollte Deutschland durch politische Initiativen auf die Gestaltung der internationalen Politik einwirken.10 Zudem hatten die USA Deutschland als ihren wichtigsten europäischen Festlandspartner auserkoren. Damit stieg der Einfluss der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Allianz, band sie multilateral enger ein. Das war aber auch mit höheren Erwartungshaltungen verbunden. Vor diesem Hintergrund reagierten die Bündnispartner der Bundesrepublik, allen voran die USA, empfindlich darauf, dass die Deutschen aus ihrer Sicht keine vorbehaltlose Unterstützung des Vorgehens der NATO im Zweiten Golfkrieg von 1991 signalisierten.11 Diese Fremdwahrnehmung der deutschen Verbündeten kollidierte mit der Selbstwahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit. Ob die Deutschen es nun wahrhaben wollten oder nicht: Nach dem Wegfall des durch die 7

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Hans-Peter Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985. Die Untersuchungen zur Epochenwende am Ende des Kalten Krieges widmeten sich daher eher der Frage von Kontinuitäten und Diskontinuitäten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, vgl. Schwarz, Republik ohne Kompass (wie Anm. 5). Harald Müller, Diplomatie als Instrument deutscher Außenpolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66 (2016), 28/29, S. 26‑31, hier S. 28; Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, München 2003, S. 382‑390; vgl. Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945‑2000, Stuttgart, München 2001, S. 388. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 12/5 vom 30. Januar 1991, S. 69: Regierungserklärung Bundeskanzler Kohls. Haftendorn, Gulliver (wie Anm. 5), S. 149. Shaky Ground: Vote Defeat May Undermine Kohl’s Efforts With Allies. In: International Herald Tribune, 23.4.1991.

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Teilsouveränität begründeten Vorbehalts, die Bundeswehr nicht außerhalb der Landesgrenzen einsetzen zu können, wurde deren Nicht-Entsendung nunmehr international als Signal mangelnder politischer Unterstützung durch Deutschland gedeutet. So führte der Multilateralismus als zentrales strategisch-operatives Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik zur Forderung an den größten europäischen NATO-Partner, die militärischen Unternehmungen der Allianz auch durch einen Beitrag deutscher Streitkräfte mitzutragen.

2. Die deutsche Debatte und die Bundeswehr auf dem Weg zur Einsatzarmee Nach den Wahlen zum ersten gemeinsamen Bundestag und unmittelbar nach dem Abschluss der Kabinettsbildung Ende 1990 löste diese Frage eine heiße innenpolitische Debatte aus. Es war ein Selbstverständigungsdiskurs über die Anwendung militärischer Gewalt außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen.12 Innerhalb der ersten fünf Jahre nach der deutschen Einheit entwickelten sich nach intensiven Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung, den Fraktionen im deutschen Bundestag, der deutschen Öffentlichkeit sowie den internationalen Akteuren die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und damit auch zum Verhältnis zwischen Politik und Militär. Dieser Entwicklung folgte ein langwieriger Lernprozess, wie dies konkret auszugestalten sei.13 Hatte der Zweite Golfkrieg 1991 noch eine innenpolitische Debatte über die Entsendung von deutschen Streitkräften ausgelöst, so wurde der Krieg in Bosnien-Herzegowina dafür zu einem wesentlichen Katalysator. Im Kern dieser Auseinandersetzung über die Beteiligung der Bundeswehr an Auslandseinsätzen ging es um die Frage nach dem Wann und Wofür. Das schloss die Frage nach dem Ob und Wie der Anwendung militärischer Gewalt mit ein.14 Welche Bedeutung haben also diese Einsätze für die außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands gespielt? Kaum waren die Kämpfe des Zweiten Golfkrieges im Frühjahr 1991 beendet, wurden die internationale Staatengemeinschaft und vor allem die 12

13 14

Randolph Nikutta und Caroline Thomas, Die BRD als »normale« militärische Mittelmacht? (II) Vor einem neuen militärischen Interventionismus? In: Wissenschaft und Frieden, (1991), 3 (letzter Zugriff 15.4.2019). Vgl. Conze, Die Suche nach Sicherheit (wie Anm. 6), S. 873. Vgl. Michael Epkenhans, Das Ende der Geschichte? Der Wandel deutscher Politik und Gesellschaft im Hinblick auf die Anwendung militärischer Gewalt. In: Auftrag Auslandseinsatz. Neueste Militärgeschichte an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Streitkräften. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br. 2012 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 1), S. 55‑62, hier S. 60‑62.

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Europäer mit der Krise im zerfallenden Jugoslawien konfrontiert. Als die Spannungen im Sommer 1991 in Kroatien in einen blutigen Bürgerkrieg mündeten – in Slowenien hatten die Kämpfe nach zehn Tagen geendet –, übernahm Deutschland eine Führungsrolle bei der Gestaltung des politischen Prozesses zur Lösung des Konflikts.15 Zwar endete der kroatische Bürgerkrieg im Dezember 1991, doch begannen Kämpfe nun umso heftiger im benachbarten Bosnien-Herzegowina zu wüten. Bald kristallisierte sich für die internationale Gemeinschaft heraus, dass diplomatische Mittel allein zur Lösung dieser Auseinandersetzung nicht genügten.16 Auf der Grundlage der daraufhin verabschiedeten UN-Resolution 743 vom 21. Februar 1992 sollte die United Nations Protection Force (UNPROFOR) ein sicheres Umfeld als Voraussetzung zur politischen Bewältigung des Konflikts schaffen.17 Deutschland sah sich mit Verweis auf die bestehenden rechtlichen und politischen Hintergründe nicht in der Lage, Bundeswehrsoldaten als Teil der internationalen UNPROFOR zu entsenden. Aus Sicht ihrer Partner hatte die Bundesregierung durch ihren Alleingang bei der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens den Bürgerkrieg in Bosnien zwar nicht verschuldet; sie trug jedoch in ihrer Vorstellung eine hohe Mitverantwortung.18 Da Deutschland die dadurch entstandenen militärischen Lasten nicht mittragen wollte, wurde die Bundesregierung durch ihre westlichen Verbündeten kritisiert. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren europäischen Partnern zu folgen, die bei der Bewältigung des Bosnien-Konflikts nun ihrerseits die Rolle des Taktgebers übernahmen.19 In der Folge suchte die Bundesregierung nach Möglichkeiten der Beteiligung deutscher Streitkräfte an internationalen Einsätzen zur Krisenbewältigung, um ihren außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum zu erweitern.20 Ein Motiv dafür waren auch die innenpolitischen Folgen der Flüchtlingsbewegungen aus dem vom Bürgerkrieg gezeichneten ehemaligen Jugoslawien. Aus diesem Grund ging es der Bundesregierung um eine nachhaltige Stabilisierung Südosteuropas. Allein bis Jahresende 1992 hatten 15 16 17 18

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Franz-Josef Meiers, Zu neuen Ufern? Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer Welt des Wandels 1990‑2000, Paderborn [u.a.] 2006, S. 258. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt a.M. 1996, S. 158‑166. Vgl. UN-Resolution 743 vom 21. Februar 1992 (letzter Zugriff 15.4.2019). Vgl. Michael Libal, Limits of Persuasion. Germany and the Yugoslav Crisis, 1991‑1992, Westport, CT 1997, S. 161‑164. Libal weist außerdem zu Recht darauf hin, dass der Anerkennungspolitik, wenngleich durch den massiven Einfluss Deutschlands vorangetrieben, eine Konsensentscheidung der westlichen Partnerstaaten zugrunde lag. Auch Holm Sundhaussen betont die Komplexität der Ereignisse, die zum Ausbruch des Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina führten. Deutschlands Anerkennungspolitik habe den Zerfall Jugoslawiens weder ausgelöst noch beschleunigt. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943‑2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien [u.a.] 2012, S. 322. Meiers, Zu neuen Ufern? (wie Anm. 15), S. 266. Vgl. Michael Berndt, Deutsche Militärpolitik in der »neuen Weltordnung«. Zwischen nationalen Interessen und globalen Entwicklungen, Münster 1997, S. 226.

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mehr als 350 000 Menschen Zuflucht in Deutschland gesucht.21 Das wirkte sich in mehrfacher Hinsicht auf die innere Sicherheit Deutschlands aus. Einschließlich der sogenannten Gastarbeiter befanden sich bis Ende 1992 dann fast 750 000 aus Jugoslawien stammende Menschen dort.22 Die Mehrzahl der Asylbewerber seit 1990 waren Albaner oder Sinti und Roma.23 Vor allem die kroatische Diaspora übte erheblichen politischen Druck auf die Bundesregierung aus, um die staatliche Anerkennung Kroatiens und Sloweniens zu erreichen.24 Außerdem entbrannte eine innenpolitische Debatte über das Bleiberecht und die angemessene Verteilung der Flüchtlinge. Vor allem aber berichteten die Medien immer häufiger über mafiöse Handlungen und auffällig scheinende Lebensgewohnheiten der jugoslawischen Flüchtlinge.25 Mit dem Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994, demzufolge sich die Bundesrepublik Deutschland mit ihren Streitkräften im Rahmen kollektiver Sicherheitsbündnisse an internationalen Einsätzen beteiligen darf, wurde schließlich rechtliche Klarheit geschaffen.26 Auf dieser Grundlage begann eine über Jahre währende innenpolitische Auseinandersetzung über die konkrete Ausgestaltung dieses Rahmens. Das Urteil ermöglichte den bei der NATO-Operation Sharp Guard in der Adria bereits eingesetzten Schiffen der Deutschen Marine, sich nun uneingeschränkt an der Überwachung und der Durchsetzung des durch die UN sanktionierten Embargos zur Beendigung des Bürgerkrieges in Bosnien-Herzegowina zu beteiligen.27 Auch die deutschen Soldaten an Bord der AWACS-Maschinen28, 21

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Zu den Flüchtlingszahlen siehe: Rafael Biermann, Lehrjahre im Kosovo. Das Scheitern der internationalen Krisenprävention vor Kriegsausbruch, Paderborn [u.a.] 2006, S. 417 und S. 615; Weißbuch 1994. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr. Im Auftrag der Bundesregierung hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1994, S. 69. Bis 1995 erfasste das Auswärtige Amt die ethnische Zugehörigkeit der Bewerber nicht. Biermann, Lehrjahre (wie Anm. 21), S. 262. Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), VIII-012, 107/3, Protokoll der Fraktionssitzung am 27. Juni 1991, S. 4, Bericht Alfred Dregger und S. 21, Redebeitrag Karl-Heinz Hornhues; vgl. Beverly Crawford, German Foreign Policy and European Political Cooperation: The Diplomatic Recognition of Croatia in 1991. In: German Politics and Society, 13 (1995), 2, S. 1‑34, hier S. 17; Anders Michael Libal: Er sieht Crawfords These des zunehmenden Drucks deutscher politischer Eliten auf Kohl und Genscher durch das schrittweise Vorgehen der deutschen Außenpolitik als widerlegt an. Libal, Limits of Persuasion (wie Anm. 18), S. 150, hier Anm. 4. Die hier verwendeten Akten des Bestands ACDP, VIII-012 stützen allerdings eher die These Crawfords. Im Oktober und November 1991 wird in der CDU/CSU-Fraktion zum Handeln aufgerufen und erklärt, dass Slowenien und Kroatien längst hätten anerkannt werden müssen. Biermann, Lehrjahre (wie Anm. 21), S. 262, 417. Vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Auslandseinsatz der Bundeswehr vom 12. Juli 1994. In: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente (wie Anm. 3), Nr. 338, S. 1071‑1080. Rüdiger Schiel, Operation »Sharp Guard«: Die Deutsche Marine auf dem Weg von der Escort Navy zur Expeditionary Navy. In: Auftrag Auslandseinsatz (wie Anm. 14), S. 161‑173, hier S. 166. AWACS = Airborne Early Warning and Control System. Dabei handelt es sich um ein luftgestützt operierendes Luftraumaufklärungs- und Frühwarnsystem, das zudem als Einsatzleitzentrale eingesetzt wird.

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die im Rahmen der NATO-Luftoperation Deny Flight die durch die UN sanktionierten Flugverbotszonen über Bosnien-Herzegowina überwachten und immerhin 40 Prozent des Gesamtpersonals der AWACS-Flotte stellten, konnten auf der Basis des Bundesverfassungsgerichtsurteils ihren Dienst weiterhin versehen.29 Zusammen mit der Absicht der Bundesregierung, die internationale Mission UNOSOM II in Somalia mit einem Logistikverband zu unterstützen, war die deutsche Beteiligung an den AWACS-Flügen der Anlass für die Klagen von SPD und FDP im Frühjahr 1993 gewesen und führte mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu, dass die verfassungsrechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Auslandseinsätze der Bundeswehr abgesteckt wurden. Diese Rechtssicherheit ermöglichte es der Bundesregierung auch, sich basierend auf einer Anfrage der NATO vom Herbst 1994 ab dem Frühjahr 1995 mit 14 deutschen Tornados an Deny Flight zu beteiligen.30 Ein weiterer Schritt in Richtung der sogenannten Normalisierung stellte der Einsatz dieser acht ECR- und sechs Aufklärungs(RECCE-)Tornados der Luftwaffe im Rahmen des Kampfeinsatzes der NATOLuftoperation Deliberate Force dar. Die Aufgabe der deutschen Tornados war dabei der Schutz der NATO Rapid Reaction Force am Boden, die zum Schutz der UNPROFOR ab Juni 1995 entsandt worden war, indem die kampffähigen ECR-Tornados die eigenen RECCE-Tornados schützten.31 Trotz dieser Einschränkungen setzte Deutschland damit ein sichtbares Zeichen seiner vollen Unterstützung dieses Vorgehens der NATO-Staaten. Deren sichtbarer Zusammenhalt schuf eine glaubhafte militärische Drohkulisse und verlieh dem Einsatz militärischer Gewalt nach Einschätzung der NATO-Partner zudem Legitimität. Im Oktober 1995 vereinbarten die bosnischen Kriegsparteien schließlich einen Waffenstillstand. Auch wenn die ECR-Tornados keine einzige ihrer HARM-Raketen verschießen mussten, bestand doch die Möglichkeit, in Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Zumindest aus Sicht der deutschen Flugzeugbesatzungen handelte es sich denn auch um den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.32 Diese deutsche Beteiligung an den UN-mandatierten und von der NATO geführten und geplanten multinationalen Einsätzen zur Beendigung des Bosnienkriegs ebenso wie an UNOSOM II in Somalia verfehlte ihre Wirkung nicht. Dadurch gelang es Deutschland, sich einen festen Platz in der zur Lösung des Konflikts in Bosnien auf russische Initiative im April 1994 gebildeten Kontaktgruppe zu sichern, zu der noch die USA, 29 30 31 32

Immer im Einsatz. 50 Jahre Luftwaffe. Hrsg. von Hans-Werner Jarosch, Hamburg [u.a.] 2005, S. 139. Meiers, Zu neuen Ufern? (wie Anm. 15), S. 281 f. Marco Overhaus, Die deutsche NATO-Politik. Vom Ende des Kalten Krieges bis zum Kampf gegen den Terrorismus, Baden-Baden 2009, S. 195. In der deutschen Öffentlichkeit wurde die Beteiligung der Bundeswehr an der NATOLuftoperation »Allied Force« gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ab dem 24. März 1999 als erste Beteiligung deutscher Soldaten an einem Kampfeinsatz seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wahrgenommen. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/32 vom 15. April 1999, S. 2622: Regierungserklärung Bundeskanzler Gerhard Schröder.

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Frankreich und Großbritannien gehörten.33 Damit eröffnete sich ein weiteres wichtiges Gestaltungsforum deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, das kaum unterschätzt werden kann. Der internationale diplomatische Prozess zur Beendigung des Bosnienkriegs war das Vehikel eines Positionierungsprozesses der westlichen Mächte, in dem auch die künftige Rolle und Bedeutung der internationalen Organisationen nach dem Ende des Kalten Kriegs verortet wurde.34 Nach den gescheiterten Versuchen in KSZE, EG, WEU und NATO, eine nachhaltige Friedensordnung im früheren Jugoslawien zu schaffen, verlagerte sich dieser Prozess in die Kontaktgruppe. Die internationalen diplomatischen Bemühungen mündeten schließlich in ein Friedensabkommen, das in Dayton ausgehandelt und am 14. Dezember 1995 in Paris unterzeichnet wurde. Am Konzert der Großen war erstmals auch Deutschland beteiligt.35 Mit der Zugehörigkeit zur Kontaktgruppe und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 endete die diplomatische Zurückhaltung, die Deutschland nach der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens an den Tag gelegt hatte.36 Während sich die Bundesregierung sehr früh der Bedeutung der Entsendung deutscher Streitkräfte für die eigenen außen- und sicherheitspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten bewusst war, wurde dies in der innenpolitischen Debatte weitaus kritischer gesehen.37 Die daraus resultierende Spannung zwischen der Debatte im Innern und der Außenpolitik versuchte die Bundesregierung in einem Trial-and-Error-Lernprozess aufzulösen: Es geriet zu einem scheibchenweisen Herantasten an die Frage, unter welchen Umständen innenpolitischer Konsens über die Entsendung deutscher Streitkräfte erzielt werden konnte. Ab 1996 beschränkte sich Deutschland bei der Beteiligung an der Implementation Force (IFOR) noch, indem es das internationale Kontingent in Bosnien von Kroatien aus mit Logistik-, Sanitätsdienst und Pionierkräften unterstützte. Bereits im folgenden Jahr setzten Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Stabilisation Force (SFOR) das UNMandat mit robust mandatierten Bodentruppen durch.38 Drei Jahre später wurde der Kosovo-Konflikt als Höhepunkt dieser Entwicklung zum eigentlichen Lackmustest für die Bereitschaft einer deutschen Regierung, auch bewaffnete militärische Gewalt einzusetzen. 33 34 35 36 37

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Calic, Krieg und Frieden (wie Anm. 16), S. 201. Susan L. Woodward, Balkan Tragedy. Chaos and Dissolution after the Cold War, Washington, DC 1995, S. 162. Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. 18), S. 361 f. Biermann, Lehrjahre (wie Anm. 21), S. 334. Vgl. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 12/240 vom 22. Juli 1994; vgl. Zur Mitwirkung deutscher Soldaten an der Überwachung des Flugverbotes über Bosnien-Herzegowina, Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. April 1993. In: Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente (wie Anm. 3), Nr. 294, S. 911 f. Vgl. Meiers, Zu neuen Ufern? (wie Anm. 15), S. 288‑293; vgl. Agilolf Keßelring, Vom Friedensabkommen von Dayton zum Einsatz der EUFOR. In: Wegweiser zur Geschichte. Bosnien-Herzegowina. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Agilolf Keßelring, Paderborn [u.a.] 2005, S. 67‑71.

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3. Die deutsche Beteiligung am Kosovo-Konflikt Als die Sicherheitslage in der zur Bundesrepublik Jugoslawien gehörenden serbischen Provinz Kosovo Anfang März 1998 eskalierte, übernahm die Bundesregierung von Beginn an eine sichtbare Führungsrolle bei der Gestaltung des internationalen diplomatischen Prozesses. Auch diesmal waren Deutschland und Frankreich von den daraus resultierenden Flüchtlingsbewegungen unmittelbar betroffen, und die Bundesregierung fürchtete eine ähnliche Situation wie am Anfang des Jahrzehnts, als nach dem Ausbruch der Bürgerkriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina bis Ende 1992 mehr als 350 000 Menschen Zuflucht in Deutschland suchten.39 Daher prüfte das deutsch-französische Tandem militärische Abschreckungsmöglichkeiten durch die WEU, zumal das Weiße Haus angesichts der innenpolitischen Herausforderung durch die Lewinsky-Affäre wenig Interesse an einer Beteiligung an militärischen Maßnahmen zeigte.40 Im Fokus der Gespräche stand besonders die Überwachung der kosovarischen Grenze zu Albanien. Dies scheiterte jedoch rasch daran, dass sich die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage sah, einen entsprechenden militärischen Beitrag zu stellen. Dahinter stand die Befürchtung, dass deutsche Soldaten tatsächlich militärische Gewalt anwenden müssten. Aus innenpolitischen Gründen kam das nur bei Vorliegen eines UN-Mandats infrage. Angesichts der fortgesetzten russischen Verweigerungshaltung war damit jedoch nicht zu rechnen.41 Nach Abstimmungen zwischen dem in der Sache federführenden Auswärtigen Amt mit dem Bundesministerium der Verteidigung blieb es beim Konzept einer Beteiligung der Bundeswehr an einer möglichen Folgeoperation im Rahmen der United Nations Preventive Deployment Force (UNPREDEP) in Mazedonien42 und einer Aufstockung der WEU-Polizeiberater (sogenannter MAPE-Einsatz) in Albanien von 60 auf 100 Polizisten, im Übrigen der einzigen Beteiligung der WEU an diesem Konflikt.43 Nachdem der erhoffte Dialog zwischen der serbischen und kosovo-albanischen Seite nicht, wie durch die Bundesregierung angestrebt, binnen einer Woche nach dem letzten Treffen der Kontaktgruppe vom 25. März 1998 zustande gekommen war und die Aussichten auf eine diplomatische 39 40 41 42

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Vgl. Kehr um, Milošević! In: Der Spiegel 25/98, 15.6.1998, S. 135. Ivo H. Daalder und Michael E. O’Hanlon, Winning Ugly. NATO’s War to Save Kosovo, Washington, DC 2000, S. 29 f. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA), Zwischenarchiv, Bd 223 997. Die UNPREDEP war als Folgeoperation der UNPROFOR seit dem 31. März 1995 mit der Überwachung der Grenzen der Former Yugoslav Republic of Macedonia (FYROM) beauftragt, um damit zur Gewährleistung ihrer und der regionalen Stabilität beizutragen. (letzter Zugriff 15.4.2019). Vgl. WEU Ministerial Council, Rhodes Declaration, 12 May 1998; WEU Ministerial Council, Rome Declaration, 17 November 1998; Marc Weller, The Crisis in Kosovo 1989‑1999. From the Dissolution of Yugoslavia to Rambouillet and the Outbreak of Hostilities, Cambridge 1999 (= International Documents and Analysis, 1), S. 233 f. Beim MAPE-Einsatz handelte es sich um ein multinationales, beratendes Polizeikontingent der WEU in Albanien.

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Lösung zunehmend schwanden, wandte sich das Auswärtige Amt an die Washingtoner Administration mit dem Ziel, die US-Regierung davon zu überzeugen, dass die Lage nun der Führung durch die USA bedürfe und militärische Schritte in die Prüfung der Möglichkeiten einzubeziehen seien. Das US-Außenministerium zeigte sich sehr interessiert an diesem Vorschlag, dem das Pentagon und das Weiße Haus jedoch noch bis weit in den Monat Mai hinein ablehnend gegenüberstanden.44 Es war das Auswärtige Amt, das bereits den ganzen Monat Mai über im NATO-Militärausschuss und im Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) dafür geworben hatte, die militärischen Planungen auf eine Grundlage weit gefächerter Optionen von Luft- und Bodenoperationen zu stellen. Einerseits sollte eine militärische Drohkulisse aufgebaut werden. Andererseits beabsichtigte man, sich den eigenen politischen Handlungsspielraum durch militärische Planungen nicht beschneiden zu lassen.45 Vor dem Treffen der NATO-Außenminister in Luxemburg am 28. Mai 1998 hatte sich das Weiße Haus, das bis dahin kein Interesse an der Ausübung militärischen Drucks auf den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević gezeigt hatte,46 offenbar entschieden, der Sichtweise des US-amerikanischen Außenministeriums zu folgen. Es forderte nun ebenfalls eine bewaffnete Intervention in das Kosovo in Betracht zu ziehen. Außenminister Klaus Kinkel schloss sich nunmehr offiziell dieser Position an und forderte öffentlich, im Falle einer Ausdehnung des Konflikts auch die Bundesrepublik Jugoslawien und das Kosovo in die Prüfung militärischer Optionen einzubeziehen.47 Tatsächlich hatte das Auswärtige Amt diese Forderung bereits seit Längerem in internen Gesprächen mit Washington und innerhalb der NATO gestellt. In der Öffentlichkeit konnte es seine Position so darstellen, als sei es nicht selbst Initiator dieses innenpolitisch heiklen Kurses. Denn zu einem früheren Zeitpunkt hätte die Absicht des Auswärtigen Amtes, militärisch zu handeln, der öffentlich akzeptierten Meinung widersprochen, wonach sich Deutschland militärisch zurückzuhalten hatte. In der Außenpolitik folgte die Bundesregierung jetzt mit der Entsendung deutscher Soldaten offenbar wohl oder übel den Wünschen der Bündnispartner.48 Während die Bundesregierung das deutsche Verhalten der Öffentlichkeit als zurückhaltend präsentierte, trat sie tatsächlich den Bündnispartnern gegenüber selbstbewusst, strategisch taktierend auf und hielt sich alle Handlungsmöglichkeiten einschließlich der militärischen offen. Daraus folgte eine bis heute noch nicht 44 45

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PA AA, Zwischenarchiv, Bd 223 997, Kosovo, hier Kontaktgruppe (KG) Kosovo, Bd 4 04/98‑04/98. PA AA, Zwischenarchiv, Bd 223 997, Kosovo, hier Kontaktgruppe (KG) Kosovo, Bd 4 04/98‑04/98 und Bd 223 998, Jugoslawien-Kosovo, Kosovo-Kontaktgruppe-KG, Bd 5 05/98‑05/98; vgl. Roland Friedrich, Die deutsche Außenpolitik im Kosovo-Konflikt, Wiesbaden 2005, S. 40. Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 30. Overhaus, Die deutsche NATO-Politik (wie Anm. 31), S. 211. Meiers, Zu neuen Ufern? (wie Anm. 15), S. 354.

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aufgelöste Diskrepanz zwischen öffentlicher Wahrnehmung und tatsächlichem Akteursverhalten. Nach dem Treffen der NATO-Außenminister am 28. Mai 1998 hatte der Nordatlantikrat die NATO-Militärbehörden beauftragt, die Option präventiver Stationierungen von Truppen in Albanien und Mazedonien zu prüfen.49 Dadurch sollte ein »Spillover« des Konflikts in die angrenzenden Staaten verhindert werden. Während diese Maßnahmen noch auf eine Stabilisierung des Balkan-Raumes insgesamt zielten, hatten sich die Perspektiven spätestens zum Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 11. Juni 1998 zugunsten der Prüfung und Planung einer militärischen Intervention verschoben. Mehrere wichtige NATO-Mitgliedstaaten erachteten die Fähigkeit der raschen militärischen Kräfteprojektion (»to project power rapidly«) als unzureichend. So hatte der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe anstatt eher symbolischer Lösungen wie Grenzsicherungsmaßnahmen glaubwürdige militärische Optionen als Hebel und Druckmittel des politischen Prozesses gefordert.50 Da auch die NATO-Militärbehörden von »Preventive Deployments« abrieten, begann der Internationale Militärstab der NATO ab Anfang Juli 1998 mit der Planung breit gefächerter offensiver Optionen, die unter dem Begriff Kategorie-3-Maßnahmen firmierten. Am 1. Juli 1998 legte der Internationale Militärstab einen Entwurf mit den Optionen A und B vor, die von der Durchsetzung eines Waffenstillstandsabkommens bis zum gewaltsamen Einmarsch von Land-, Luft- und Seestreitkräften der NATO zur Beendigung der Feindseligkeiten reichten.51 Schon bald kristallisierte sich heraus, dass sich die phasenweisen Luftschläge der Operation Allied Force am ehesten zur Unterstützung des politischen Prozesses zur Bewältigung des Kosovo-Konflikts eigneten. Durch die Staffelung in Phasen ermöglichten sie eine schrittweise militärische Eskalation, hofften die NATO-Politiker doch, dass Milošević spätestens bei Beginn einer Luftoperation, die der militärischen Drohkulisse Glaubwürdigkeit verleihen sollte, einlenken und die Bedingungen der UN-Resolution 1160 vom 31. März 1998 umsetzen würde.52 Außerdem versprach der Einsatz der hochtechnisier49

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Hans-Peter Kriemann, Germany’s participation in the NATO intervention in the Kosovo conflict in 1998 and 1999: Germany on its way to becoming an European formative power? In: Periphery or Contact Zone? The NATO Flanks 1961 to 2013. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr hrsg. von Bernd Lemke, Freiburg i.Br. [u.a.] 2015 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 4), S. 141‑159, S. 146‑153. Die folgenden Ausführungen basieren auf dort bereits publizierten Forschungsergebnissen meiner Dissertation. Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 33. Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv (BArch), Freiburg i.Br., BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. »Further Measures by NATO with respect to the crisis in Kosovo – Assessment of Ground Options« vom 2. Juli 1998; BArch, BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. »Assessment of Ground Options by NATO with Respect to the Crisis in Kosovo« vom 3. Juli 1998. Resolution 1160 (1998), 31 March 1998. In: Weller, The Crisis in Kosovo (wie Anm. 43), S. 188 f. Die in der Resolution genannten Bedingungen entsprechen den Forderungen

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ten Luftstreitkräfte und Präzisionswaffen sowohl eigene Verluste als auch zivile Opfer zu minimieren; ein Umstand, der mit Blick auf die Innenpolitik für alle NATO-Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle spielte.53 So mag es dann auch nicht überraschen, dass die NATO-Botschafter wenig Interesse an einem gewaltsamen Eindringen von 200 000 NATO-Soldaten in das Gebiet Serbiens im Rahmen der Option B hatten, und auch nicht an der Option B minus, welche den Einmarsch von mindestens 75 000 Soldaten in das Kosovo vorsah.54 Folglich sollten die NATO-Militärbehörden vor allem die Varianten der Luftoperationen und den Einsatz von Bodentruppen im Szenario der Option A (Waffenstillstandsabkommen und Friedensvereinbarung) verfeinern, da ein Luftschlag nur in Verbindung mit der Absicherung durch Bodenkräfte Aussicht auf Erfolg versprach.55 Von Deutschland wurden die mit HARM-Raketen ausgerüsteten acht ECR-Tornados, die ihre ferngelenkten Waffen aus großer Höhe abfeuern konnten und die NATO-Flugzeuge vor den jugoslawischen Raketenabwehrstellungen schützen sollten, sowie sechs RECCE-Tornados zur Aufklärung angeboten. Angesichts der von ihr mit Nachdruck vorangetriebenen Planungen von Luftoperationen zum Aufbau von glaubwürdigem militärischen Druck konnte die Bundesregierung den sich gerade auch daraus erwachsenen Verpflichtungen im Bündnis nachkommen. Mit Blick auf die innenpolitische Debatte wurde das Risiko eigener Verluste so gering wie möglich gehalten, während die Präzisionswaffen der ECR-Tornados im Kampf gegen feindliche Flugabwehrstellungen dazu beitrugen, sogenannte Kollateralschäden zu vermeiden. Auf diese Weise eignete sich die Entsendung dieser 14 Kampfflugzeuge in verschiedener Hinsicht zur Umsetzung deutscher politischer Vorgaben. Die Hauptlast der Luftschläge trugen die USA. Sie absolvierten rund 61 Prozent der Kampfeinsätze, während sich Deutschland mit gerade drei Prozent daran beteiligte.56

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der Kontaktgruppe vom 9. März 1998, die sich nur wenige Tage nach der erneuten Eskalation der Gewalt im Kosovo getroffen hatte. Statement by the Contact Group, London, 9 March 1998. In: Weller, The Crisis in Kosovo (wie Anm. 43), S. 235 f. Zum militärischen Planungsprozess der Luftoperationen siehe: BArch, BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. »SACEUR Contingency Operation Plan for the Air Response to the Crisis in Kosovo – CONOPLAN 10601 ›ALLIED FORCE‹« vom 28. Juli 1998; BArch, BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. »SACEUR Contingency Operation Plan for the Air Response to the Crisis in Kosovo – CONOPLAN 10601 ›ALLIED FORCE‹« vom 31. Juli 1998; BArch, BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. »SACEUR Contingency Operation Plan for the Air Response to the Crisis in Kosovo – CONOPLAN 10601 ›ALLIED FORCE‹« vom 6. August 1998. BArch, BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. »SACEUR Contingency OPLAN 10410 FOR THE IMPLEMENTATION OF A CEASE FIRE AGREEMENT (CFA) IN KOSOVO« vom 8. September 1998; vgl. Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 34. Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 34. BArch, BW 2/36261, AStudÜbBw Nationaler Auswertebericht Kosovo, BMVg Fü S V 2, Betr. »Auswertebericht des Amtes für Studien und Übungen der Bundeswehr zum

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Nachdem die Gewalt im Kosovo im September 1998 erneut eskaliert war, hatte vor allem die US-Regierung darauf gedrängt, Milošević ein letztes Ultimatum zu stellen und bei Nichterfüllung der in der UN-Resolution 1199 vom 23. September 1998 geforderten Maßnahmen mit Luftschlägen zu beginnen.57 Dadurch wurde die neu gewählte rot-grüne Regierungskoalition unmittelbar nach den Wahlen zum Deutschen Bundestag am 27. September 1998 mit dem Dilemma konfrontiert, im Spannungsfeld zwischen außenpolitischem Vorgehen und innenpolitischer Debatte handeln zu müssen.58 Einerseits hieß es im rot-grünen Koalitionsvertrag: »Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik.«59 Andererseits fürchtete die Bundesregierung einen erheblichen Ansehens- und Bedeutungsverlust in der NATO, falls sie die Operation Allied Force nicht durch deutsche Kampfflugzeuge unterstützte.60 Schließlich hatte sich Deutschland deutlich zugunsten eines militärischen Eingreifens ausgesprochen und die Planungen der Luftoperationen massiv unterstützt. So sah sich die seit den Bundestagswahlen am 27. September 1998 designierte und ab dem 27. Oktober amtierende rot-grüne Bundesregierung in Abstimmung mit der schwarz-gelben Vorgängerregierung gezwungen, der NATO-Activation-Order zur Operation Allied Force und der Beteiligung deutscher Tornados zuzustimmen.61 Mit Rücksicht auf die Innenpolitik bediente Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung am 10. November 1998 wieder das Bild deutscher Zurückhaltung und Selbstbeschränkung hinsichtlich des Einsatzes militärischer Mittel: »Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen ohne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiativen zu ergreifen.«62

Mithin wollte Deutschland nicht als Führungsmacht wahrgenommen werden. Ausschlaggebend für das deutsche Verhalten im Kosovo-Konflikt waren zwei Motive. Zum einen strebte Deutschland, wie bereits bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, auch im Dayton-Prozess danach, als europäische Gestaltungsmacht in Erscheinung zu treten. Während sich die Akteure der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bei der Anwendung militäri57 58 59

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Kosovo-Einsatz ›Lessons Learned‹« vom 11. April 2000. Im Flugzeug diktierter Vermerk Kinkels vom 8.10.1998, PA AA, Zwischenarchiv, Bd 224 000, Jugoslawien-Kosovo Kosovo-Kontaktgruppe-KG, Bd 7 07/98‑12/98. Joschka Fischer, Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik – vom Kosovo bis zum 11. September 2001, 2. Aufl., Köln 2007, S. 104. Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert, Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/ Die Grünen, Bonn, 20. Oktober 1998 (letzter Zugriff 15.4.2019). BArch, BW 2/34950, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 23, BMVg Fü S III 6, Betr. Deutsche Beteiligung an einem NATO-geführten Einsatz im Kosovo, hier: mögliche Konsequenzen bei Nichtteilnahme deutscher Streitkräfte, Bonn, 11. Oktober 1998. Fischer, Die rot-grünen Jahre (wie Anm. 58), S. 107. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 14/3 vom 10. November 1998, S. 65.

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scher Mittel zurückhaltend gaben, übernahmen sie an der Seite Frankreichs und der USA ansonsten eine führende Rolle. Das andere handlungsleitende Motiv war ein innenpolitisches und hing mit den Auswirkungen der Flüchtlingsbewegung zusammen.63 Die Bundesregierung verstand es, im Kosovo-Konflikt durch ihre flexible Verhandlungsführung und vor allem durch ihre Vermittlerrolle vitale deutsche Interessen durchzusetzen. Dabei bot der Kosovo-Konflikt die Möglichkeit, auf das europäische und transatlantische Umfeld gestaltend einzuwirken. Die Bundesregierung nutzte die für Deutschland entscheidenden Foren von NATO, EU und G8, um auf einen stärkeren Einfluss der Europäer in der Allianz hinzuwirken und die europäische Integration nach ihren Vorstellungen und bei gleichzeitiger Stärkung ihrer Rolle als Motor und Richtungsgeber in der EU erfolgreich voranzutreiben. Nach dem Ende des Kalten Kriegs ging es um nicht weniger als um die Positionierung der großen europäischen Mächte und der USA zueinander sowie darum, welche Rolle die NATO, aber auch EU, OSZE und UN in dieser Konstellation spielen sollten.64 Gefährlich wurde es für die Bundesregierung, als sich die militärische Dimension im Konfliktverlauf nicht mehr von der Außen- und Sicherheitspolitik trennen ließ. Als nämlich Milošević trotz aller diplomatischer Sanktionen und der Androhung militärischer Gewalt durch die NATO nicht einlenkte, befürchtete das Bündnis, und hier vor allem die USA, einen Glaubwürdigkeitsverlust der NATO. Dieser Aspekt wurde zum wesentlichen Motiv des Handelns der Allianz und trug auch dadurch zum Ausbruch des Luftkriegs gegen die Bundesrepublik Jugoslawien entscheidend bei.65 Obwohl Milošević am 13. Oktober 1998 nach der Androhung von Luftschlägen der NATO auf die Forderungen der internationalen Gemeinschaft zunächst eingegangen war, verschlechterte sich die Sicherheitslage im Kosovo zur Jahreswende erneut massiv. Auch wenn die genauen Hintergründe nie genau geklärt wurden, stand und steht das »Massaker von Račak« vom 15. Januar 1999 bis heute für die Schuld der serbischen Regierung für die an den Kosovo-Albanern begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und führte mit der Konferenz in Rambouillet zu einem letzten politischen Lösungsversuch.66 Nach den fehl63 64 65

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Kehr um, Milošević! (wie Anm. 39), S. 135. Vgl. Woodward, Balkan Tragedy (wie Anm. 34), S. 162. BArch, BW 2/34949, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 22, BMVg Fü S III 6, Betr. Kosovo, hier: US-Forderung zur Einleitung einer formellen Streitkräfteabfrage, Bonn, 21. September 1998. Vgl. Günter Joetze, Der letzte Krieg in Europa? Das Kosovo und die deutsche Politik, Stuttgart [u.a.] 2001, S. 46‑49; vgl. auch: Renate Flottau, Claus Christian Malzahn und Roland Schleicher, Täuschen und Vertuschen. In: Der Spiegel 12/2001, 19.3.2001, S. 238‑244. Laut Joetze fanden die OSZE-Beobachter am folgenden Tag 34 Tote, im Spiegel-Beitrag wird von 43 Toten berichtet. Der Hergang der Ereignisse in Račak am 15. Januar 1999 konnte bis heute nicht genau rekonstruiert werden. Weder ist es ausgeschlossen, dass einige Opfer auch im Kampf starben, noch ist sicher, wer sie tötete. Auch könnten einige der Verstümmelungen an den Leichen von Tierfraß herrühren.

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geschlagenen Verhandlungen vom 6. bis zum 23. Februar 1999 in Rambouillet und vom 15. bis zum 19. März 1999 in Paris sahen die NATO-Mitgliedstaaten keine andere Alternative mehr als die Umsetzung der gegenüber Milošević angedrohten Luftschläge.67 Neben der Verhinderung einer humanitären Katastrophe hatte also der Aspekt der Glaubwürdigkeit des Bündnisses eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Entschluss der Allianz gespielt.68 Am 24. März 1999 begann die NATO mit einer Luftstreitmacht von 350 Flugzeugen einen Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Noch am Abend der ersten Luftangriffe äußerte die US-Außenministerin Madeleine Albright im Fernsehen: »I don’t see this as a long-term operation. I think that this is something [...] that is achievable within a relatively short period of time.«69

Für das Bündnis war das durchaus repräsentativ. Doch sollten sich bis zum Ende der Luftangriffe am 10. Juni 1999 über 900 Flugzeuge aus 14 Mitgliedstaaten der Allianz an diesem Krieg beteiligen, die in über 38 000 Einsätzen, sogenannten Sorties, mehr als 28 000 Bomben und Flugkörper über dem Gebiet der Bundesrepublik Jugoslawien abwarfen.70 Nach Abschluss eines militärtechnischen Abkommens mit der Bundesrepublik Jugoslawien am 9. Juni 1999 marschierte schließlich die Kosovo Force (KFOR) auf Grundlage der UN-Resolution 1244 am 12. Juni 1999 in die vom Bürgerkrieg schwer gezeichnete Provinz ein, um für ein sicheres Umfeld für die Rückkehr der Flüchtlinge zu sorgen.71

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PA AA, Zwischenarchiv, Bd 223 853, Jugoslawien-Kosovo Kosovokonflikt: Berichte der Delegation in Rambouillet, Sonderband, Bd 4, 20.2.1999‑3.1999. BArch, BW 2/34951, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 26, BMVg FüS III 6, Betr. Phased Air Operations, Phase 2 vom 19. März 1999; vgl. BArch, BW 2/34951, Vorlagen Einsatz – ehemaliges Jugoslawien, Ordner 26, BMVg Fü S III 6, Betr. Bekämpfung zusätzlicher Ziele im Rahmen der Phase 2 PAO vom 30. März 1999. Zitiert nach: Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 91; Friedrich, Die deutsche Außenpolitik (wie Anm. 45), S. 92; vgl. Joetze, Der letzte Krieg (wie Anm. 66), S. 91, S. 121; vgl. Tim Judah, Kosovo. War and Revenge, 2. Aufl., New Haven [u.a.] 2002, S. 229. BArch, Bw 18/6860, BerÜbEAA, Fachbereich Einsatzauswertung, Kosovo Lessons Learned, Jahresbericht 99, Führungszentrum der Bundeswehr, Vorläufiger Auswertebericht des Bundesministeriums der Verteidigung zur Operation »Allied Force« – Nationale Auswertung vom 23. November 1999, S. 9. Vgl. Jugoslawien und NATO schließen Militärabkommen über Rückzug aus Kosovo. Military Technical Agreement between the International Security Force (KFOR) and the Governments of the Federal Republic of Yugoslavia and the Republic of Serbia from 9 June 1999. In: Dokumentation zur Abrüstung und Sicherheit. Bd XXVIII: 1999/2000. Hrsg. von Joachim Krause und Christiane Magiera-Krause, Sankt-Augustin 2001, Nr. 28. (9.VI.1999), S. 87‑90; Sicherheitsrat der Vereinten Nationen billigt Waffenstillstand im Kosovo. Resolution 1244 des VN-Sicherheitsrats, verabschiedet am 10. Juni 1999. In: ebd., Nr. 29. (10.VI.1999), S. 90‑96; zum Einmarsch der KFOR siehe Kai Lehmann, Der Luftkrieg der NATO und die deutsche Beteiligung am Einmarsch in das Kosovo 1999. In: Wegweiser zur Geschichte. Kosovo. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari und Agilolf Keßelring, Paderborn [u.a.] 2008, S. 85‑93, hier S. 90‑93.

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Im Ergebnis trugen die NATO-Luftschläge nicht nur entscheidend dazu bei, die Vertreibungen und die massenhafte Flucht der Kosovo-Albaner zu beenden sowie die Gewalt insgesamt einzudämmen. Sie hatten auch Zeit für den politischen Prozess zur Klärung der Statusfrage des Kosovo »gekauft«. Die Kosovo Force und die Interimsverwaltungsmission der UN (UNMIK) waren dabei die Wegbereiter dieses politischen Prozesses. Im Kern war die UNMIK mit der UN-Resolution 1244 am 10. Juni 1999 mit der Errichtung einer zivilen Übergangsverwaltung im Kosovo beauftragt worden, die den Einwohnern des nach wie vor zu Serbien gehörenden Kosovo faktisch ein von Belgrad autonomes Leben bis zur Klärung der Statusfrage ermöglichen sollte.72 Das nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen legitimierte Eingreifen stellte einen wichtigen Meilenstein der Entwicklung einer völkerrechtlichen Praxis humanitärer Interventionen dar, die in dieser Form wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.73 Der militärische Erfolg des Luftkriegs war jedoch bis in den Mai 1999 hinein ungewiss. Tatsächlich hatte Milošević noch zu Beginn des Monats kein Anzeichen für ein Einlenken gezeigt. Unter dem Druck, sich gegen diesen kleineren Gegner durchsetzen zu müssen, hatte die westliche Allianz zu diesem Zeitpunkt mit den Planungen einer groß angelegten Bodenoffensive begonnen. Auf einem Treffen der sogenannten Quint-CHOD (Chief of Defence), also der höchsten militärischen Vertreter Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands, am 24. Mai 1999, präzisierte der SACEUR, General Wesley Clark, seine Planungen auf der Basis der bereits im Sommer 1998 erwogenen Optionen für den Einsatz von Bodentruppen. Basierend auf der früheren Option B minus zur Absicherung eines Waffenstillstandsabkommens favorisierte Clark eine rasche Einnahme des Kosovo im Kampf durch etwa 75 000 bis 100 000 Mann starke NATO-Verbände – ausgerüstet mit Kampfpanzern und schweren Waffen. Die im Idealfall bis zu sechs Divisionen umfassende Truppe sollte die serbischen Kräfte im Kosovo nach intensiven Luftschlägen zur Vorbereitung des Angriffs schnellstmöglich besiegen, um eigene Verluste und auch die Zahl der Opfer einer solchen Bodeninvasion insgesamt gering

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Manfred Eisele, Die Vereinten Nationen und Kosovo. In: Der Kosovo-Konflikt. Ursachen – Akteure – Verlauf. Hrsg. von Konrad Clewing und Jens Reuter, München 2000, S. 485‑498, hier S. 489 f.; vgl. Marie-Janine Calic, Kosovo: der jüngste Staat in Europa. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 58 (2008), 32, S. 33‑40. Vgl. zur Frage der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Völkerrechts angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen wie im Falle des Kosovo-Konflikts und dem Spannungsverhältnis zwischen moralischer Verpflichtung, politischen Interessen und Legitimität Johannes Varwick, Humanitäre Intervention und die Schutzverantwortung (›Responsibility to Protect‹): Kämpfen für die Menschenrechte? Kiel 2009 (= Kieler Analysen zur Sicherheitspolitik, 25).

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zu halten.74 Einschließlich der erforderlichen Unterstützungskräfte rechnete Clark daher mit einem Gesamtkräftebedarf von 175 000 Soldaten.75 Der ausbleibende militärische Erfolg der Operation Allied Force setzte die NATO unter Zugzwang und trug dadurch zur stetigen Ausweitung des Krieges bei. In Deutschland führte das fast zum Zerbrechen der rot-grünen Regierungskoalition und zur Spaltung der grünen Fraktion.76 Angesichts bestehender Planungen des SACEUR, die eine deutsche Beteiligung an einer Bodeninvasion mit 16 000 Soldaten vorsahen, bestand die reelle Gefahr für Deutschland, in einen hinsichtlich Umfang und Dauer unabsehbaren europäischen Krieg verwickelt zu werden.77 Die deutsche Bundesregierung, wie ihre europäischen Partner, vor allem Frankreich und Italien, hatte sich vehement gegen ein militärisches Engagement der NATO gesträubt, ganz zu schweigen von einem Bodenkrieg. Weder hatten die Regierungen mit Blick auf ihre Innenpolitik Interesse an einem Waffengang, vor allem aber lag aufgrund der Weigerungshaltung der USA und Russlands kein UN-Mandat vor.78 Es drohte damit ein Präzedenzfall. Nachdem die schwarz-gelbe Bundesregierung aber im Frühjahr 1998 auf die Androhung militärischer Gewalt gegen die Bundesrepublik Jugoslawien hingewirkt hatte, war eine Dynamik in Gang gekommen, die der neuen rot-grünen Bundesregierung schließlich die Hände band und zur deutschen Beteiligung am Luftkrieg der NATO führte. Dieser hätte sich leicht zu einem Bodenkrieg ausweiten können. Letztlich war dies der Preis der deutschen multilateralen Außen- und Sicherheitspolitik. Kriege lassen sich offensichtlich nicht so einfach berechnen. Der als »kurzer« Waffengang der NATO geplante Krieg war nicht nach wenigen Tagen beendet, sondern hatte sich stetig ausgeweitet mit der durchaus nicht unrealistischen Perspektive einer Bodeninvasion der NATO in das Kosovo. Deutschland hatte daraus wichtige Lehren gezogen. Die Paradigmen, die sich im ersten Jahrzehnt nach der Herstellung der deutschen Einheit bis zum Kosovo-Konflikt herauskristallisierten, sind bis in die Gegenwart wirkmächtig 74

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ZMSBw, Depositum Vizeadmiral a.D. Hans Frank, Vermerk über das Quint-CHODTreffen bei SHAPE am 24.5.99; zu den Planungen einer möglichen Bodeninvasion der Allianz vgl. Wesley K. Clark, Waging Modern War. Bosnia, Kosovo and the Future of Combat, New York 2001, S. 300; vgl. Friedrich, Die deutsche Außenpolitik (wie Anm. 45), S. 113; vgl. Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 157. Clark, Waging Modern War (wie Anm. 74), S. 302. Fischer, Die rot-grünen Jahre (wie Anm. 58), S. 221 f.; zur Zwangslage einer großen Koalition hinsichtlich der Bündnissolidarität im Falle des Scheiterns der rot-grünen Bundesregierung vgl. ebd. ZMSBw, Depositum Vizeadmiral a.D. Hans Frank, Vermerk über das Quint-CHODTreffen bei SHAPE am 24.5.99. PA AA, Zwischenarchiv, Bd 224 000; vgl. Fischer, Die rot-grünen Jahre (wie Anm. 58), S. 103 f., 107; vgl. Joetze, Der letzte Krieg (wie Anm. 66), S. 37 f.; vgl. Daalder/O’Hanlon, Winning Ugly (wie Anm. 40), S. 44. Sowohl die USA als auch Russland hatten aus ganz unterschiedlichen Gründen kein Interesse an einem UN-Mandat. Dies hätte nämlich auch für die USA eine zukünftige Einschränkung ihres außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraums hinsichtlich der Androhung und des Einsatzes militärischer Gewalt bedeutet. Näheres hierzu in Kürze bei: Kriemann, Hineingerutscht? (wie Anm. 1).

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geblieben. Das gilt sowohl für das Paradigma des Multilateralismus als auch für die Notwendigkeit eines UN-Mandats für den Einsatz von Streitkräften.79 Für die innenpolitische Debatte bedeutete die Beteiligung der Bundeswehr im Kosovo-Konflikt eine Wegmarke. Erschien der Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen wenige Jahre zuvor noch undenkbar, hatte die deutsche Beteiligung am Luftkrieg der NATO im Kosovo dazu geführt, dass sich der Einsatz militärischer Mittel zur internationalen Krisenbewältigung als außen- und sicherheitspolitisches Rational auch deutscher Politik sukzessive etablierte. Dieser Wandel zeigt sich am deutlichsten in der durch Joschka Fischer vertretenen rot-grünen Außenpolitik. Und so soll dieser Beitrag enden, wie er begonnen hat, mit einem Zitat von Joschka Fischer, nunmehr Außenminister, aus seiner Rede vor der außerordentlichen Bundesversammlung von Bündnis 90/ Die Grünen am 13. Mai 1999 in Bielefeld:

»Jetzt ist Krieg, ja. Und ich hätte mir nie träumen lassen, dass Rot-Grün mit im Krieg ist. Aber dieser Krieg geht nicht erst seit 51 Tagen, sondern seit 1992 [...]. Er hat mittlerweile Hunderttausenden das Leben gekostet, und das ist der Punkt, wo Bündnis 90/Die Grünen nicht mehr Protestpartei sind. [...] [I]ch stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus! Beides gehört für mich zusammen. [...] Ich halte zum jetzigen Zeitpunkt eine einseitige Einstellung, unbefristete Einstellung der Bombenangriffe für das grundfalsche Signal. Milošević würde dadurch gestärkt und nicht geschwächt. Ich werde das nicht umsetzen, wenn ihr das beschließt – damit das klar ist.«80

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Vgl. Markus Kaim, Die Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. In: BpB-Dossier Deutsche Verteidigungspolitik, 26.5.2015 (letzter Zugriff 15.4.2019). AGG (wie Anm. 2) VK-ND 201-K4, BDK Bielefeld 1999, Bd 1, Redebeitrag Joschka Fischer auf der Bundesdelegiertenkonferenz Bündnis 90/Die Grünen in Bielefeld am 13.5.1999.

Wolfgang Knöbl

Die Produktion von Paradoxien. Theorie und Praxis von Friedensmissionen oder »Wir wollten nur das Beste, aber dann kam es wie immer« 1. Einleitung Alle zu Herzen gehenden Geschichten fangen bekanntlich so an: »Es war einmal« oder »Vor langer, langer Zeit«. Für wissenschaftliche Aufsätze gilt das gewöhnlich nicht. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass man gelegentlich auch mit einer Märchengeschichte in ein wissenschaftliches Thema einführen kann; ein Versuch wäre:

»Vor langer, langer Zeit, als unsere Väter und Großväter noch lebten, wollte der Herrscher eines großen, mächtigen und reichen Landes den Menschen in einem armen Land helfen, auf dass es diesen besser gehe, und zwar so gut, wie den eigenen Untertanen. Natürlich würde das nicht leicht werden, denn das arme Land war weit entfernt, die Sprachen und Sitten beider Länder so verschieden. Aber wenn man es will, wenn man es wirklich will, dann – so glaubte der mächtige Herrscher – könne man alle Widerstände überwinden und aus einer armseligen Gegend ein fruchtbares Land machen. Und wenn es tatsächlich gelänge, diesem armen Land auf die Beine zu helfen, dann sollte man doch immer und überall Erfolg haben, dann würde der Ruhm des Herrschers bald alles und jeden überstrahlen zum Nutzen der ganzen Welt. So ging der reiche und mächtige Herrscher also ans Werk. Und siehe da, es kam wie immer!«

Die meisten Leserinnen und Leser dieser Zeilen werden vermuten, dass dieses Märchen keineswegs allein meiner Fantasie entsprungen ist, sondern dass es – und zwar auf zynische Weise – die oft vergeblichen Anstrengungen zumeist westlicher Staaten beleuchten soll, den Ländern des globalen Südens zu helfen, dort Frieden zu schaffen, funktionierende Nationalstaaten aufzubauen et cetera Tatsächlich ist das auch der Fall, aber das Märchen bezieht sich weniger auf die generelle Thematik der stets problematischen Nord-Süd-Beziehungen. Sinn jener Märchenerzählung ist es vielmehr, sehr konkret die schicksalhafte Verstrickung zweier ganz bestimmter Länder (und ihrer Herrscher) ins Visier zu nehmen, nämlich diejenige zwischen den reichen Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und dem armen Afghanistan andererseits. Denn in

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der jüngeren medialen Diskussion wird allzu oft vergessen, dass diese beiden Länder nicht erst seit 9/11 und den darauffolgenden, vom US-Militär angeführten militärischen Maßnahmen gegen die Taliban eine gemeinsame Geschichte verbindet. Diese begann deutlich früher mit dem Einsetzen des Kalten Krieges, und sie war lediglich durch den sowjetischen Einmarsch 1979 für kurze Zeit unterbrochen. Auf diese frühe wie lange Beziehungsgeschichte hat ein Jahr nach 9/11 und damit zu dem Zeitpunkt, als die direkten Beziehungen zwischen den USA und Afghanistan auf wahrhaft eindrückliche, nämlich militärische Weise wiederaufgenommen werden sollten, der US-amerikanische Historiker Nick Cullather im hoch angesehenen Journal of American History aufmerksam gemacht. Seine Forschungsergebnisse verdeutlichen, warum sich das Verhältnis der USA zu Afghanistan durchaus in der Form eines zynischen Märchens beschreiben lässt. Was hatte Cullather in seinem Aufsatz herausgefunden? Afghanistan war spätestens seit Ende der 1940er Jahre für die USAmerikaner zu einem wichtigen Land am Rande der sowjetischen Einflusszone geworden, das es aus ihrer Sicht aus strategischen Gründen auch zu halten galt. Spätestens mit dem Beginn des Koreakrieges wurde mit Blick auf Afghanistan immer wieder auch von einem »afghanischen Korea« gesprochen, um einerseits die strategische Bedeutung des Landes zu betonen und um andererseits anzudeuten, was man mit Afghanistan vorhatte: Der Süden Afghanistans, der zur amerikanischen Einflusszone gehörte, sollte zu einer Art Musterregion ausgebaut werden, um die Überlegenheit sowohl des amerikanischen politischen wie ökonomischen Systems zu demonstrieren. Die Region Helmand wurde dabei zum Zentrum der amerikanischen Bemühungen, dort sollte – wie es bei Cullather heißt – »a piece of America« entstehen.1 Dieser Wille, an gewissermaßen uramerikanische Traditionen anzuknüpfen, wurde auch dadurch demonstriert, dass man die »Helmand Valley Authority« schuf und allein schon durch die Namensgebung an die berühmte »Tennessee Valley Authority« erinnerte – und somit an das große amerikanischen Entwicklungsprojekt im Rahmen von Roosevelts New Deal der 1930er Jahre, als man das riesige Einzugsgebiet des Tennessee River mithilfe von Dammbauten zur Energiegewinnung, mithilfe von Industrieansiedlungen und mithilfe von Umweltschutzprojekten gegen die Bodenerosion sanierte oder neu gestaltete. Was in den USA zwei Jahrzehnte zuvor gelungen war, sollte nun noch einmal außerhalb, in Afghanistan, in Angriff genommen werden. Südafghanistan und das Helmand-Gebiet sollten schon damals – um es nochmals zu betonen – zu einer Art Demonstrationsobjekt für erfolgreiches Nation-Building werden. »Think Big!« war dabei die Devise. Denn Ziel war eben nicht Piecemeal Engineering, sondern der Ehrgeiz der US-Amerikaner bestand darin, ein integriertes, systematisches und langlebiges Großprojekt ins Leben zu rufen, in dem gerade Dämme die entscheidende Rolle für die 1

Nick Cullather, Damming Afghanistan: Modernization in a Buffer State. In: The Journal of American History, 89 (2002), 2, S. 512‑537, hier S. 512.

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zu erwartende ökonomische und dann auch politische Modernisierung Afghanistans spielen sollten. Dem Bau von Dämmen kam aus der Perspektive der ausländischen Modernisierer auch deshalb eine so zentrale Bedeutung zu, weil diese zwar teuer, aber politisch sehr viel leichter durchzusetzen waren als Landreformen, die man eigentlich für wichtiger hielt. Organisatorisch und machtpolitisch war das Ganze konkret so gedacht, dass man die Paschtunen als diejenige Volksgruppe identifizierte, die als »weiße Rasse« mit ihren Sitten am ehesten die westlichen Wertvorstellungen zu verkörpern schienen. Daher wollte man auch mit ihnen zusammenarbeiten im Sinne einer Befriedung möglicher Konflikte durch Wasser- und Ressourcenverteilung, die ja durch den Dammbau möglich geworden wäre. Den US-Amerikanern schlossen sich im Lauf der Jahrzehnte andere westliche Nationen an, die Afghanistan dann mit Entwicklungshilfegeldern geradezu überschütteten – ganz im Sinne eines weithin ausstrahlenden Demonstrationseffektes, den man sich durch eine gelungene Modernisierung Afghanistans erhoffte. Das Problem freilich war, dass man – und dies zeichnete sich lange vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen im Jahr 1979 ab – bei jenem Versuch der Modernisierung und des Nation-Building schon an simplen ökologischen und dann auch machtpolitischen Voraussetzungen scheiterte. Was man nicht antizipiert hatte, war unter anderem die Tatsache, dass der forcierte Dammbau zu einer erheblichen Versalzung der Böden führte, die unter anderem den massenhaften Anbau von Mohn ermöglichte mit der Konsequenz einer Verschärfung der sich schon damals abzeichnenden Drogenproblematik vor allem in weiten Teilen der westlichen Welt.2 Wichtiger war aber wohl noch, dass die Paschtunen sich nicht als diese leicht zu führende »weiße Rasse« entpuppten: Vielmehr nutzten sie ihre durch den Dammbau gewonnene ökonomische und politische Machtstellung wie selbstverständlich für sich selbst, was zu Konflikten mit anderen »Stämmen« führte und damit das Problem des Tribalismus zwar nicht hervorrief, aber doch verstärkte. Dem glaubte man auf westlicher Seite in den 1960er und 1970er Jahren dann nur wieder durch eine eben nicht partikularistische, sondern universalistische Ideologie entgegentreten zu können, wobei – aus heutiger Sicht besonders irritierend – eigentlich nur der Islam infrage kam.3 Wie sonst ließen sich die ständig aufbrechenden und als ethnisch interpretierten Konflikte einhegen oder ablenken wenn nicht durch eine alle ethnischen Differenzen transzendierende Religion? Dass all dies nicht gut ging, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Vielmehr möchte ich an dieser Stelle mein Märchen und mein Referat der Forschungsergebnisse Nick Cullathers auch beenden. Beide sollten nur dazu dienen, um Folgendes in Erinnerung zu rufen: Als die USA und ihre westlichen Verbündeten zu Beginn der 2000er Jahre mit der Operation Enduring Freedom und dann mit dem ISAF-Mandat darangingen, Afghanistan umzuge2 3

Cullather, Damming Afghanistan (wie Anm. 1), S. 535. Ebd., S. 530.

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stalten, stellten sie sich einer Aufgabe, an der sie – genau am selben Ort – zwei bis drei Generationen zuvor schon einmal grandios gescheitert waren, und zwar in einer vergleichsweise koordinierten, sich über viele Jahrzehnte hinziehenden und wahrlich nicht kostengünstigen Anstrengung. Aufbauend auf dieser Einsicht lassen sich die Überlegungen des nun anschließenden Hauptteils folgendermaßen skizzieren: Nach einer sehr allgemein gehaltenen Schilderung der politischen Schwierigkeiten, denen sich jede militärische und humanitäre Intervention gegenübersieht (2.), sollen die spezifischen Probleme des Einsatzes in Afghanistan (3.) und dann die Schlussfolgerungen (4.) zur Sprache kommen. Beginnen wir – in jener allgemeinen Perspektive – zunächst mit den innenpolitischen Konsequenzen von militärischen oder humanitären Interventionen, die zwar nicht immer, aber auch nicht selten zu merkwürdigen Verwerfungen und Paradoxien führen.

2. Zur innenpolitischen Konfliktstruktur militärischer oder humanitärer Interventionen Bekanntlich sind nach dem Ende des Kalten Krieges zahlreiche herkömmliche außen- und sicherheitspolitische Begriffe ins Schwimmen geraten, haben Termini wie »Peacekeeping«, »Peacemaking«, »humanitäre Intervention«, »militärische Intervention«, »Konfliktlösung« et cetera zum Teil drastische Bedeutungsveränderungen erfahren. Gerade bei den beiden zuletzt genannten Begriffen wird man feststellen, dass noch vor 20 Jahren der Begriff der »militärischen Intervention« kaum je mit dem der »Konfliktlösung« vereinbart werden konnte, entstammt doch der erste einem zweifellos militärischen, wenn nicht gar militaristischen Kontext, der zweite aber einem pazifistischen. Nun wird der Begriff der »militärischen Intervention« verstärkt auch im Hinblick auf die Erreichung bestimmter humanitärer Ziele wie die Beendigung eines Völkermords oder das Unterbinden gravierender und anhaltender Menschenrechtsverletzungen verwendet, oder auch mit Blick auf die Beendigung bürgerkriegsähnlicher Konflikte – Konflikte, die vermeintlich nur von außen und eben mit Gewalt zu lösen sind. Wie auch immer die je konkreten Zielsetzungen dieser militärischen/humanitären Interventionen aussehen mögen, klar erscheint auf jeden Fall, dass sich mit ihnen erhebliche völkerrechtliche und ethische Probleme stellen. Dies sieht man allen gängigen Definitionen von »humanitärer Intervention« auch unmittelbar an, etwa wenn man diese bestimmt als »die Androhung von Gewalt oder [den] Gebrauch derselben über Staatsgrenzen [...] hinweg mit dem Ziel, vielfältig vorkommende und schwere Verletzungen fundamentaler Verletzungen der Rechte von Individuen, die nicht Bürger des intervenierenden Staates sind,

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entweder zu verhindern oder zu beenden, wobei dies ohne Erlaubnis des Staates geschieht, auf dessen Gebiet diese Gewalt angewendet wird.«4 Wenn man diese durchaus typische Definition heranzieht, dann stellen sich sofort mindestens drei unmittelbar die Innenpolitik betreffende Fragen: Erstens: Wie schwer müssen Menschenrechtsverletzungen sein, damit ein militärisches Eingreifen legitimiert werden kann? Zweitens: Wer entscheidet legitimerweise über die Intervention? Die UNO, regionale Sicherheitsorganisationen oder Militärbündnisse, einzelne Staaten? Drittens: Welche Konsequenzen hat die damit bedingte Erosion des völkerrechtlichen Begriffs der (staatlichen) Souveränität? Die hier aufgeworfenen Fragen will ich im Folgenden als soziologische beziehungsweise machtpolitische behandeln und dabei die Feinheiten juristischer und völkerrechtlicher Argumentation beiseitelassen. Wie sich zeigt, sind bei einer Beantwortung der drei Fragen mindestens fünf größere Problemkonstellationen zu bedenken, die alle die Legitimität des militärischen Einsatzes und damit auch die Legitimität insbesondere derjenigen Institution berühren, die diesen Einsatz auch durchführt: die Legitimität des Militärs. Erstens: Jede Hoffnung darauf, dass sich ein eindeutiger Kriterienkatalog finden ließe, der als Maßstab für die Legitimierung von humanitären oder militärischen Interventionen dienen könnte, dürfte vergebens sein. Derartige Interventionen lassen sich nicht mit einer messerscharfen Argumentationsführung rechtfertigen, sie werden und können nur erfolgen bei massiven Menschenrechtsverletzungen und ungeheurem kriegerischen Leid, was aber selbstverständlich Auslegungssache ist; nicht jeder Bürgerkrieg und nicht jede Menschenrechtsverletzung wird zur Intervention führen. Es wird im Einzelfall immer ein komplizierter Abwägungsprozess notwendig sein, der selbstverständlich nicht für alle beispielsweise in Deutschland relevanten politischen Gruppen zu einem überzeugenden Ergebnis führen kann. Damit sind innenpolitische Konflikte vorprogrammiert. – Man muss sich darüber hinaus auch im Klaren sein, dass es häufig die Medien sind, die über die Schwere von Menschenrechtsverletzungen »bestimmen«, weil sie »uns« die entsprechenden Bilder und Informationen liefern – natürlich nur sehr selektiv. Aber die Medien sind Teil von modernen Gesellschaften und insofern aus der Diskussion um die »Schwere« von Menschenrechtsverletzungen oder um das »Ausmaß« kriegerischen Leids nicht wegzudenken. Mit dieser Medienselektivität wird aber die Diskussion über das »Wo« und »Wie« von militärischen Einsätzen erheblich verkompliziert, weil es immer auch Akteure in einer demokratischen Gesellschaft geben wird, die diese Medienselektivität zum Thema machen, die darauf hinweisen, dass andernorts noch sehr viel schwerwiegendere Menschenrechtsverletzungen oder sehr viel blutigere Bürgerkriege, über die aber kaum berichtet wird, zu beobachten sind, wo 4

Jeff L. Holzgrefe, The Humanitarian Intervention Debate. In: Humanitarian Intervention. Ethical, Legal, and Political Dilemmas. Hrsg. von J.L. Holzgrefe und Robert O. Keohane, Cambridge 2003, S. 15‑52, hier S. 18 (Übersetzung: W.K.).

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aber nicht militärisch eingegriffen wurde und wird. All dies bedeutet, dass die politischen und militärischen Entscheidungsträger stets das hohe Risiko des Legitimitätsverlusts eingehen, wenn sie sich für eine militärische respektive humanitäre Intervention entscheiden, zumindest dann, wenn man unterstellt, dass die Medien und damit die politische Öffentlichkeit nicht einfach im Sinne der Entscheidungsträger zu manipulieren sind. Zweitens: Selbst angesichts ungeheuren Leids und massivster Verbrechen wird ein Staat, der sich der humanitären Intervention verschrieben hat, nicht immer und überall intervenieren können. Es wird Fälle geben, bei denen es fast alle staatlichen wie zivilgesellschaftlichen Akteure eigentlich für geboten halten einzugreifen, bei denen aber die Intervention allein deshalb unterbleiben muss, weil man andernfalls in einen größeren Krieg hineingezogen würde, weil es zu gefährlich wäre und so weiter. Da Interventionen für die handelnden Staaten immer auch Risiken mit sich bringen, gibt es keine Pflicht zum Eingreifen; sie haben und werden stets auf freiwilliger Basis erfolgen, und es ist selbstverständlich, dass hierbei eine wie auch immer auszubuchstabierende Staatsräson, auch das nackte Interesse, eine motivierende Rolle spielen wird. Staaten sind schließlich keine ausschließlich moralisch agierenden Organisationen. Es geht bei humanitären oder militärischen Interventionen deshalb auch nicht vorwiegend um moralische Konsistenz. Die Tatsache, dass man nicht überall eingreifen kann oder will, sollte deshalb nicht zu dem Argument führen, dass man nirgends intervenieren darf. Eine automatische weltweite Zuständigkeit eines Staates einzufordern, ist deshalb nicht wirklich plausibel. – Aber selbst wenn man dem zustimmt, muss man sich gleichzeitig im Klaren darüber sein, dass genau derart rigide Forderungen immer wieder auch in der politischen Auseinandersetzung auftauchen werden, dass nicht zuletzt auch im politischen Diskurs von Demokratien – und daran ist nichts Schlechtes zu finden – häufig eine erhebliche Moralisierung außenpolitischer Fragen zu beobachten sein wird, die wiederum im Hinblick auf die Legitimität von Interventionen und der diese tragenden militärischen Institutionen erhebliche Probleme aufwerfen kann. Drittens: Wenn sich Staaten auf Interventionen einlassen, dann tun sie dies aus Gründen der Legitimitätswahrung am besten nicht auf der Basis eines von Martin Shaw so benannten »risk-transfer war«5: Die Schonung des eigenen Militärs unter Inkaufnahme hoher Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung des Landes, in dem interveniert wird – eine solche Kriegsstrategie werden Demokratien vermutlich nicht lange ohne erheblichen Legitimitätsverlust durchhalten. Die Bombenstrategie des »Westens« im Kosovo-Krieg und die vorwiegend von den USA geführten aktuellen Drohnenkriege in nicht wenigen Teilen der Welt haben dies gezeigt oder werden dies bald zeigen. Mir scheint das Argument deshalb moralisch wie politisch zwingend, dass Soldaten von Interventionstruppen demokratischer Staaten ebenfalls Risiken auf sich zu 5

Martin Shaw, War and Genocide. Organized Killing in Modern Society, Cambridge 2003, S. 238‑240.

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nehmen haben, bevor sie das Leben von Zivilisten gefährden.6 Anders dürfte eine langfristige Legitimität der jeweiligen Intervention nicht zu erreichen sein, außer man würde unterstellen, dass Außen- wie Militärpolitik in Zeiten des Postfaktischen ohnehin kaum mehr einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Nimmt man Letzteres aber nicht an und folgt man gleichzeitig dem Rat, bei militärischen Interventionen eben keine »risk-transfer wars« zu führen, so bedeutet dies, dass Interventionen auch Opfer, vielleicht sogar viele tote und verwundete Soldaten aufseiten der intervenierenden Staaten mit sich bringen werden. Die Frage wird dann immer sein, ob und wie lange westliche Demokratien wie beispielsweise Deutschland derartige Verluste politisch aushalten können und werden. Wie auch immer: Interventionen, selbst Interventionen zur Verfolgung humanitärer Ziele im Rahmen internationaler Solidarität, haben ihren Preis, und man sollte sich vorher gut überlegen, ob man diesen Preis zu zahlen bereit ist. Viertens: »Peacekeeping« und »Peacemaking« werden ja zumeist unter Maßgabe des Zieles eines »minimal stay«7 verfolgt, was bedeutet, dass die Interventionstruppen so schnell wie möglich das Land verlassen sollten, um eine koloniale Situation gar nicht erst entstehen zu lassen, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht zu untergraben. Aber derartige Überlegungen ändern nichts an der Tatsache, dass Interventionen etwa in Form von »Peacekeeping«, in der Regel höchst kostspielig sind. Es ist deshalb nur allzu verständlich, dass die intervenierenden Staaten oftmals ein Interesse daran haben, dieses teure Engagement schnellstmöglich zu beenden. In der Vergangenheit hat sich nun in verschiedenen Krisengebieten gezeigt, dass ein allzu rascher »Exit« der internationalen Organisationen und der sie militärisch unterstützenden Einheiten zur rapiden Destabilisierung der Situation vor Ort geführt hat.8 Interventionen mit dem Ziel von »Peacemaking« erfordern – vorausgesetzt man glaubt an deren Sinnhaftigkeit – viel Zeit und viel Geld, um überhaupt erfolgreich sein zu können. Auch dies ist als deutlicher Hinweis darauf zu verstehen, dass die Frage der Intervention gut überlegt sein will. Und es bedeutet auch, dass unter Bedingungen stets knapper finanzieller Mittel militärische Interventionen notwendig selektiv erfolgen müssen, was wiederum allen Anforderungen nach moralischer Konsistenz widersprechen dürfte. Wenn nun diese Ausdauer und Geduld nicht gegeben ist, und dies ist leider meist der Fall, dann folgt eine Entwicklung, die Michael Ignatieff vor fast 15 Jahren als die »Nation-Building-Karawane« der UNO beschrieben hat: Diese Karawane

6

7 8

Michael Walzer, Arguing for Humanitarian Intervention. In: The New Killing Fields. Massacre and the Politics of Intervention. Hrsg. von Nicolaus Mills und Kira Brunner, New York 2002, S. 19‑35, hier S. 28 f. Ebd., S. 32. Ben Reilly, Democratic Validation. In: Contemporary Peacemaking. Conflict, Violence and Peace Processes. Hrsg. von John Darby und Roger Mac Ginty, Houndmills [u.a.] 2003, S. 174‑183, hier S. 177.

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»hat 1993 in Kambodscha begonnen, wo die UNO die Wahlen überwachte; sie ging dann 1994 nach Angola, wo sie bei der Sicherung des Friedens scheiterte; danach erreichte sie Sarajevo, wo sie eine multi-ethnische Demokratie aufbauen sollte; danach kam sie nach Pristina, wo sie die siegreichen Kosovaren vom Töten der verbliebenen Serben abhalten sollte; danach landete sie in Dili, in Ost-Timor, wo sie eine Regierung schaffen sollte für ein Land, das durch die abziehenden indonesischen Milizen verwüstet worden war. Wo immer die reisende Karawane der Nationenbildner sich niederlässt, werden Boomtowns geschaffen, die von fremdem Geld und der Hoffnung leben. Aber Boomtowns gehen unweigerlich wieder unter. In Sarajevo, zum Beispiel, sind die ›Internationalen‹ 1996 nach Dayton mit sechs Milliarden Dollar im Gepäck angekommen. Nun, sechs Jahre später, ist das Geld fast ganz ausgegeben, aber die Karawane ist mittlerweile auch schon weitergezogen nach Kabul.«9

Die ökonomischen und politischen Langzeit- und Nebeneffekte von »Peacekeeping« und »militärischen Interventionen« sind oft enorm – und sie gilt es, wenn man dazu prospektiv überhaupt in der Lage ist, abzuwägen und mit Normen wie dem »Selbstbestimmungsrecht« von Nationen zur Vermeidung einer kolonialen Situation in Übereinstimmung zu bringen. Es muss nicht betont werden, dass dies eine enorm große Aufgabe mit einer ebenso großen Wahrscheinlichkeit des Scheiterns ist. Fünftens: Schließlich ist die Frage der Legitimation militärischer Interventionen im Hinblick auf die unmittelbaren Entscheidungsträger nochmals aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Es ist ja zu wünschen, dass Interventionen mit einer umfassenden Legitimität ausgestattet sind, dass – im heutigen Kontext – am besten die UNO die militärischen Interventionen trägt, also ein UN-Mandat vorliegt. Man weiß aber zum einen, dass dies in der Vergangenheit beileibe nicht immer der Fall war und dass es eine Reihe von Interventionen gab, denen es – obwohl ein solches UN-Mandat nicht vorlag – dennoch gelang, schwerste Menschenrechtsverletzungen oder gar Völkermorde zu verhindern. Der Einmarsch Vietnams in das Kambodscha Pol Pots über die Jahreswende 1978/79 war etwa ein solcher Fall! Man weiß zum anderen, dass das politische und militärische Handeln unter dem Schirm internationaler Institutionen fast notwendigerweise zu erheblichen Reibungsverlusten und Problemen führt, die es ebenfalls zu bedenken gilt, zumindest dann, wenn man ernsthaft an den Erfolg einer Intervention glaubt. Die unter dem Schirm internationaler Institutionen erfolgte Intervention hat also – Stichwort: Kohärenz der strategischen Ziele im Spannungsfeld nationaler und internationaler Organisationen – durchaus ihren Preis. Darauf will ich nun zu sprechen kommen, wobei ich mich zunächst auf den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr im Rahmen der ISAF-Mission beziehe.

9

Michael Ignatieff, Empire Lite. Nation-Building in Bosnia, Kosovo and Afghanistan, Toronto 2003, S. 93 f. (Übersetzung: W.K.).

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3. Zur Realität militärischer Interventionen vor Ort – der Fall Afghanistan Die Probleme des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr sind aus meiner Sicht mittlerweile gut aufgearbeitet. Im Folgenden möchte ich lediglich soziologisch relevante und auffällige Aspekte aus der vorhandenen Literatur beleuchten, diese in kondensierter Form präsentieren und auf den vorhergehenden Teil meiner Ausführungen beziehen, bevor ich dann mit einigen allgemeinen Betrachtungen schließen werde. Erstens: Wenn man an das unmittelbar zuvor Referierte anknüpfen will, dann ist zuallererst darauf hinzuweisen, dass der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan kaum mit einer klar definierten Zielsetzung begonnen wurde. Vielmehr war die 2001 beschlossene ISAF-Mission gewissermaßen ein Nachfolgeprojekt der Operation Enduring Freedom der US-Amerikaner, musste sich demzufolge immer an dieser orientieren, was dann auch für die Formulierung der konkreten Zielsetzung der Mission galt und gelten musste. Zwar war die ISAF-Mission vom UN-Sicherheitsrat mandatiert und erfolgte auf Einladung afghanischer Führungspersönlichkeiten, sodass der Einsatz den Charakter einer Mission zur Friedenskonsolidierung hatte und als Stabilisierungseinsatz konzipiert war.10 Aber wie abhängig man tatsächlich von den Amerikanern mit ihren eher militärischen Interessen war, zeigte sich spätestens mit dem Irakkrieg der USA, an dem die Deutschen nicht teilnehmen wollten und für diese Verweigerungshaltung den außenpolitischen Preis eines verstärkten militärischen Engagements in Afghanistan zahlen mussten – was freilich den Amerikanern insofern entgegenkam, als sie Truppen aus Afghanistan abziehen und in den Irak verlegen konnten.11 Philipp Münch hat dies wunderbar klar folgendermaßen formuliert: »Bereits Anfang 2002 bemühte sich Präsident Karzai, das Einsatzgebiet der ISAF über Kabul hinaus auf die Provinzen auszuweiten. Nachdem die US-Vertreter dies anfangs abgelehnt hatten, erschien eine Ausdehnung angesichts der spätestens 2003 wieder verstärkten Aktivitäten der Taliban auch ihnen sinnvoll, zumal sie in dieser Zeit immer mehr Kräfte nach Irak verlegen mussten. Den Durchbruch brachten schließlich die Vertreter der ISAF-Truppensteller, darunter insbesondere Deutschlands. Diese konnten hierdurch die Frage der turnusmäßig das Führungspersonal stellenden lead nation dauerhaft klären, sich innerhalb der NATO distinguieren sowie Solidarität mit den USA demonstrieren, ohne militärisch in den umstrittenen und schließlich desaströs verlaufenden Irakkrieg verwickelt zu werden. Im Ergebnis erweiterte sich bis 2006 das Einsatzgebiet der ISAF

10

11

Imken Heitmann-Kroning, Deutsche Sicherheitspolitik zwischen »never alone« und »never again«. Der Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan, Opladen [u.a.] 2015, S. 126. Heitmann-Kroning, Deutsche Sicherheitspolitik (wie Anm. 10), S. 151 f.

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auf ganz Afghanistan, und ihre Truppenstärke erhöhte sich schließlich auf rund 130 000 Soldaten im Jahr 2010 bis zum Beginn der Truppenreduzierung 2012.«12

Der Ausformulierung klarer Ziele dienten diese sich ständig verändernden politischen Konstellationen und jene wahrhaft merkwürdige Verschränkung außen- und militärpolitischer Überlegungen wohl kaum. Zweitens: Die Ausweitung des ISAF-Auftrags über die Hauptstadt Kabul hinaus im Jahre 2003 führte dazu, dass zur damaligen Zeit die vorliegenden Befriedungs- und Nation-Building-Konzepte der US-Amerikaner auch sofort übernommen wurden. Denn der ursprünglichen Konzentration der ISAF auf Kabul lag die irgendwie mitteleuropäisch-absolutistische Vorstellung zugrunde, man könne ein Land ausgehend von der Hauptstadt aus stabilisieren und regieren.13 Mit der Realität vor Ort hatte das freilich nur wenig zu tun. Die Ausweitung des ISAF-Einsatzes über Kabul hinaus hatte nun freilich zur Folge, dass man – vermutlich unvorbereitet – die politischen Konzeptionen der US-Amerikaner übernahm, die diese schon im Rahmen der Operation Enduring Freedom erprobt hatten: Demzufolge sollten Inseln der Stabilität in jenem unruhigen afghanischen Meer geschaffen werden; Inseln, die dann immer größer werden und – um im Bild zu bleiben – zu einer friedlichen Landmasse zusammenwachsen sollten. Es entstanden die Provincial Reconstruction Teams (PRTs), die von einzelnen Nationen der ISAFMission geführt wurden und die eben zu jener gewissermaßen dezentral erfolgenden Stabilisierung beitragen sollten. So sinnvoll ein Abrücken von der Kabul-zentrierten Politik auch gewesen sein mag, so zeigte sich doch sehr schnell, dass mit den PRTs und dem damit gegebenen Versuch, die schwache Zentralregierung von Karzai gewissermaßen dezentral zu unterstützen,14 Nebeneffekte einhergingen, die man kaum in den Griff kriegen konnte. Denn ganz abgesehen davon, dass die einzelnen Nationen mit ihren PRTs offensichtlich jeweils durchaus unterschiedliche oder gar sich widersprechende Zielsetzungen verfolgten15 und selbst innerhalb nationaler PRTs sich höchst unterschiedliche Ressortinteressen lautstark bemerkbar machten,16 was schon dadurch kaum zur Schaffung eines irgendwie einheitlichen Landes führen konnte, wurden mit dieser Strategie alle Einsichten ignoriert, die man eigentlich aus dem europäischen Staatsbildungsprozess der vergangenen 12

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14

15 16

Philipp Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen, Freiburg i.Br. [u.a.] 2015 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 5), S. 160. Conrad Schetter, The Unknown Unknowns: The Use of Knowledge in Western Intervention Politics. In: From Venus to Mars? Provincial Reconstruction Teams and the European Military Experience in Afghanistan, 2001‑2014. Hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg i.Br. 2014 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 3), S. 87‑101, hier S. 95. Peter Dreist, Provincial Reconstruction Teams as Elements of OEF and ISAF: The Development of an Operational Tool to Stabilize Afghanistan. In: From Venus to Mars? (wie Anm. 13), S. 31‑49, hier S. 31. Philipp Rotmann und Lauren Harrison, Critical Voices: Did the PRTs Perform Well in Afghanistan? In: From Venus to Mars? (wie Anm. 13), S. 51‑63, hier S. 53 f. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 12), S. 173.

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Jahrhunderte hätte lernen können: Eine einigermaßen stabile Staatlichkeit ist dort entstanden, wo es (wie gewaltsam auch immer) gelungen ist, die »Ressourcenextraktionsfähigkeiten« eines zentralen Herrschers auf Dauer zu stellen, also Steuern zu erheben. Gelang dies nicht, dann zerbrachen die entsprechenden Gebilde meist sehr schnell. Die Provincial Reconstruction Teams taten aber nun nichts für die Extraktionsfähigkeit17 des afghanischen Zentralstaates. Ganz im Gegenteil: Die von außen eingespeisten Ressourcen vergrößerten vielmehr immer stärker die Autonomie der Regionen und die Konfliktfähigkeit der lokalen Machthaber außerhalb Kabuls,18 was der Idee des Aufbaus eines einheitlichen Zentralstaates massiv widersprach – und zwar unabhängig davon, ob die Schaffung eines solchen Zentralstaates in Afghanistan überhaupt je im Bereich des Möglichen lag. Drittens: In diesem Zusammenhang wurde in der Literatur zum Afghanistaneinsatz zu Recht immer wieder auch darauf verwiesen, dass bei allen Beteiligten zumindest am Anfang der Mission – mehr oder weniger klar ausformuliert – die Vorstellung zugrunde lag, es ginge in Afghanistan um »Nation-Building«, wobei die konkreten Mittel und Wege zur Erreichung dieses Ziels im Laufe der Zeit sich freilich verändern sollten. Mit diesem Konzept des Nation-Building knüpfte man nun natürlich genau da an, wo die USAmerikaner nach 1945 weltweit und dann – wie oben gezeigt – besonders auch in Afghanistan begonnen hatten, um die später dann sogenannte Dritte Welt umzugestalten. Die Vorstellung war schlicht die, dass sich erfolgreiche Staatsund Nationenbildung in nicht-westlichen Ländern zwar verspätet, aber eben schließlich irgendwann doch ähnlich, wie dies im 18. und 19. Jahrhundert im »Westen« geschehen war, einstellen werde. Ja, man müsste noch stärker formulieren: Staats- und Nationenbildung wurde in der Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre zur Voraussetzung von Frieden und Stabilität und vielleicht dann auch sogar von Demokratie in nicht-westlichen Regionen erklärt.19 Eine derartige Vorstellung begleitet bis heute zu einem nicht geringen Teil die Debatte um die »failed states«, womit impliziert wird, dass eben nur starke Staaten (mit einem irgendwie einheitlichen Staatsvolk) friedliche Stabilität garantieren. Unglücklicherweise – und dies wurde zu lange völlig ignoriert – war und ist aber nun das Staats- und Nationskonzept eines, das einen sehr westlichen Hintergrund hat und das zudem nicht zufällig in der Epoche ausformuliert wurde, in der auch der europäische Kolonialismus seinen Höhepunkt erreichte. Es kann in diesem Zusammenhang nicht schaden, an ein eindringliches Zitat des in den USA lehrenden britischen Historikers David Armitage zu erinnern: »[I]t is notable that those European countries that accumulated the earliest overseas empires were also those that earliest consolidated their states; [...] Empires

17 18 19

Gemeint ist die Fähigkeit, Mittel für eine Staatsbildung oder gar einen »good governance«-Ansatz nach westlichem Muster aus eigener Kraft aufzubringen. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 12), S. 59. Wolfgang Knöbl, Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001, S. 155‑218.

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gave birth to states, and states stood at the heart of empires. Accordingly, the most precocious nation-states of early-modern Europe were the great empire-states: the Spanish Monarchy, Portugal, the Dutch Republic, France, and England (later, Britain).«20

Berücksichtigt man diese hier von Armitage formulierte Einsicht des engen Zusammenhangs von Staat und Empire, so kann man sich nur darüber wundern, wie die Idee und die Institution des Nationalstaats, die so eng mit dem Kolonialismus verbunden waren, immer und immer wieder als Exportschlager zur Stabilisierung und vielleicht sogar Demokratisierung genau jener Regionen herhalten sollten, die unter diesem Kolonialismus doch erheblich gelitten haben. Hier ist also etwas schief, und man fragt sich im Rückblick etwas ratlos, wie es sein konnte, dass der ungeheure Optimismus der Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre, der ja auch die Entwicklungspolitik in Afghanistan in dieser Epoche geprägt und angeleitet hatte und der spätestens ab den 1970er Jahren an der harten Realität zerschellt war, wenige Jahrzehnte später erneut – und zwar ungebrochen – aufblühen konnte! Viertens: Nun wird man mit Blick auf den Afghanistaneinsatz freilich auch sagen können, dass sich sowohl Politik als auch Militär als einigermaßen lernfähig gezeigt haben, wurde doch – wie in der Literatur immer wieder betont – ab 2007 und dann vor allem mit dem Amtsantritt Präsident Barack Obamas in den USA immer stärker vom ursprünglichen Nation-Building-Konzept mit seinen emphatischen normativen Vorstellungen Abstand genommen, nicht zuletzt auch deshalb, weil man die zunehmenden Attacken der Taliban und anderer Gruppen schlicht nicht unterbinden konnte. Rhetorisch und semantisch wurde in Reaktion darauf also abgerüstet, weshalb immer häufiger nur mehr von Stabilität, vom Schutz der Bevölkerung, von der Eindämmung der Gewalt, von »selbsttragender Sicherheit« die Rede war.21 Akzeptiert wurde nun auch, dass die lokalen Eliten vor Ort nicht einfach illegitime Player waren,22 sondern dass man mit ihnen kooperieren musste und dass es galt, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen mit ins Boot zu holen, ein Strategiewechsel, den Conrad Schetter als »tribal turn« bezeichnet hat,23 wobei freilich nie so ganz geklärt werden konnte, was denn eigentlich solche »Stämme« sein sollen. Mit jener rhetorischen und semantischen Abrüstung, also mit der Abkehr von emphatischen westlichen Nation-Building-Vorstellungen, ging nun scheinbar paradoxerweise eine massive westliche Truppenverstärkung einher, weil der Schutz der Bevölkerung und die nun vergleichsweise neue Counterinsurgency-Politik der US-Amerikaner, die dann auch von der ISAF so übernommen wurde, genau dies erforderte: »Clear, hold, build«! Die Höchstzahl von 130 000 Soldaten in Afghanistan wurde eben nicht zufällig genau zu dem Zeitpunkt erreicht – nämlich im Jahre 2010 –, als man von den 20 21 22 23

David Armitage, The Ideological Origins of the British Empire, Cambridge 2000, S. 15. Heitmann-Kroning, Deutsche Sicherheitspolitik (wie Anm. 10), S. 224. Schetter, The Unknown Unknowns (wie Anm. 13), S. 97. Ebd., S. 99.

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überschwänglichen Zielen des Nation-Building längst Abschied genommen hatte.24 Weg vom Nation-Building und hin zur Counterinsurgency mit dem Ziel, die Sicherheitsaufgaben nach dem militärischen Abzug dann letztlich an eine aufzubauende afghanische Polizei und an afghanische Streitkräfte zu übergeben – war dies nun ein Lernprozess? Vermutlich ja, wobei man sofort hinzufügen sollte, dass man bekanntlich auch schlechte Dinge und Angewohnheiten lernen kann! Dieser Hinweis erscheint angebracht, weil die neu aufkommende Debatte um Counterinsurgency in Wahrheit eine relativ alte ist und man sich nicht der Illusion hingeben sollte, in dieser Debatte seien über die Jahrhunderte und Jahrzehnte große Erkenntnisfortschritte gemacht worden, was auch immer hier »Fortschritt« heißen kann. Denn sieht man sich beispielsweise die Schriften und Vorschläge von Alexis de Tocqueville zu Algerien in den 1840er Jahren an,25 vergleicht man sie mit denjenigen USamerikanischer Strategen im Vietnamkrieg und diese beiden wiederum mit den allerneuesten Ausführungen zu Afghanistan, so ist man immer wieder überrascht, wie stereotyp die Argumente nur wiederholt, allenfalls leicht variiert werden. Letztlich sind diese Counterinsurgency-Strategien verbrämte Ausführungen dazu, wie schwierig es ist, militärische Auseinandersetzungen in weit entfernten Gebieten zu führen. Schärfer formuliert gleicht die Situation derjenigen von Kolonialkriegen etwa im 19. Jahrhundert: Weil die meist westlichen Eroberer in der Regel schnell merkten, dass eine dauerhafte Umgestaltung und Durchdringung eines kulturell »fremden« Landes kaum je zu bewerkstelligen war, schwankte man oft ziemlich abrupt und wenig vorhersehbar zwischen brutalem Gewalteinsatz gegen die indigene Bevölkerung auf der einen Seite und Kooperationsangeboten an die indigenen Eliten auf der anderen.26 Ein solches Schwanken war dann auch nach 2001 in Afghanistan zu beobachten, was kritische Hinweise auf nach wie vor bestehende koloniale Situationen und Verhältnisse nicht gerade unplausibel erscheinen lässt.

4. Schlussbemerkung Meine Einschätzung der ISAF-Mission in Afghanistan wirft insgesamt keine positiven Schlaglichter auf diesen Einsatz. Spätestens seit der Abzugsdebatte aus Afghanistan wurde intensiv darüber diskutiert, ob überhaupt irgendwelche vernünftigen Ziele durch die Intervention erreicht worden seien.27 Um nochmals Philipp Münch zu zitieren: 24 25 26

27

Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 12), S. 160. Alexis de Tocqueville, Gedanken über Algerien. In: Alexis de Tocqueville. Kleine politische Schriften. Hrsg. von Harald Bluhm, Berlin 2006, S. 109‑162. Vgl. Wolfgang Knöbl, Imperiale Herrschaft und Gewalt. In: Mittelweg 36, 21 (2012), 3, S. 19‑44; Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion: Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014. Heitmann-Kroning, Deutsche Sicherheitspolitik (wie Anm. 10), S. 223.

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»Im Widerspruch zur feierlich erklärten ›Transition‹ halten die meisten mit Afghanistan befassten Wissenschaftler und sogar Praktiker, die vor Ort in Schlüsselstellungen tätig waren, gleichwohl das selbst gesteckte Ziel der Intervention mehr als zehn Jahre nach ihrem Beginn nicht für erreicht. [...] Während allein der in kürzester Zeit nach 2001 dramatisch angestiegene Fluss an internationalen Hilfen den Wohlstand der Menschen in Afghanistan auf niedrigem Niveau deutlich anhob, veränderten sich die lokalen politischen Machtstrukturen kaum, sodass der angestrebte Staatsaufbau eindeutig nicht umfassend gelang. Ebenso waren die 2002 aus ihrer zentralen Machtstellung vertriebenen Taliban und andere bewaffnete Gruppen, die gegen die mit dem Bonner Abkommen vom Dezember 2001 eingesetzte Zentralregierung kämpften, weiterhin in der Lage, signifikant organisierte Gewalt auszuüben.«28

Überraschend ist dies nicht angesichts der Erfahrungen, die man mit NationBuilding im Afghanistan der 1950er, 1960er und 1970er Jahre schon gemacht hatte, und angesichts derjenigen, die man mit Counterinsurgency-Strategien weltweit ebenfalls – auch schon sehr viel früher – hatte machen dürfen. Für die internationale Politik und eben auch für die deutsche Außenpolitik drängt sich damit die Frage auf, wie man in Zukunft bei Fällen, die demjenigen in Afghanistan ähneln könnten, reagieren soll, welche Konzepte und Strategien man hat, die gewissermaßen diejenigen ersetzen könnten, die man schon in Afghanistan mit wenig Erfolg ausprobiert hat. Eine Antwort darauf habe ich nicht, und ich bin mir auch nicht sicher, ob überhaupt andere und bessere Antworten vorliegen (können). So sind auch meine letzten Gedanken in diesem Aufsatz, die sich freilich nun nicht mehr auf die nachträgliche Krisenbewältigung wie in Afghanistan beziehen, sondern auf die von Politikern, aber auch von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern häufig ins Gespräch gebrachten Ideen zur Krisenprävention, von erheblicher Skepsis geprägt. Denn wie sieht es tatsächlich aus mit der vorausschauenden Krisensteuerung durch geteilte (multilaterale) regionale Verantwortungsstrukturen, wie dies in Deutschland spätestens seit den 1990er Jahren beispielsweise in außenpolitischen Programmatiken der Partei der »Grünen«, aber ganz generell im linken oder linksliberalen Lager formuliert und gefordert worden ist? Hierzu nur eine Anmerkung auf etwas abstrakterer Ebene. Es scheint mir manchmal so zu sein, dass mit derartigen Ideen enorm hohe und kaum realistische Annahmen bezüglich der Planbarkeit der Welt oder der Weltpolitik verbunden sind. Ich finde es irritierend, wenn in der politischen Diskussion vonseiten linker oder linksliberaler Vordenker eine auch von mir geteilte Skepsis gegenüber enthusiastischen State- und Nation-Building-Konzepten artikuliert, gleichzeitig aber ignoriert wird, dass regionale oder gar globale Politiken noch einen wesentlich größeren Koordinationsaufwand erfordern, der vermutlich sehr schnell an die Grenzen der Machbarkeit stoßen würde, und zwar in genau der 28

Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 12), S. 1.

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gleichen Weise, wie dies schon bei den doch begrenzteren und kleinräumigeren State- und Nation-Building-Versuchen der Vergangenheit der Fall war. Diese schon angesprochene Skepsis gegenüber den Möglichkeiten von Krisenprävention führt somit notwendigerweise wieder zurück zur Frage militärischer Intervention. Aber für sie gilt gerade angesichts meiner Ausführungen im Hauptteil eben Folgendes: Selbst wenn es klare und systematische Planungen für Interventionen gibt, selbst wenn die Ziele eindeutig ausformuliert sind, sollte man bedenken, dass sich Planungen in der Vergangenheit nicht selten als sinnlos herausgestellt haben, und zwar deshalb, weil Planungen im Großmaßstab fehleranfällig sind und oft zu verqueren und nicht beabsichtigten Ergebnissen führen. Alle Nation- und State-Building-Konzepte der 1950er und 1960er Jahre hatten als Hintergrund die Planungseuphorie der Kriegszeit und der darauffolgenden keynesianischen Wirtschaftspolitik. Aber nicht wenige dieser Konzepte sind eben zerschellt, weil sich soziale und kulturelle Prozesse mindestens so schwer steuern lassen wie rein wirtschaftliche! Dies aber bedeutet: Wenn man militärisch irgendwo aus humanitären Gründen interveniert, dann wird man auf ein Stück Glauben, auf ein Stück Hoffen und vielleicht auch Beten, dass es danach besser wird, nicht verzichten können; es sei denn, man ist noch allen Ernstes von der problemlosen technischen Verfügbarkeit sozialer Verhältnisse überzeugt. Eine gehörige Portion Demut, Nüchternheit, Realismus sind also meines Erachtens angebracht, sollte man sich wieder für eine ähnliche Intervention wie diejenige in Afghanistan entscheiden. In diesem Zusammenhang ist es dann auch wichtig, dass man sich – und hier komme ich an den Anfang meiner Ausführungen zurück – der Märchen und Geschichten von früher erinnert, um nicht allzu naiv in unübersichtliches Gelände zu stolpern und um die Paradoxien, die Interventionen fast notwendig produzieren, vorhersehen und dann auch ertragen zu können.

Markus Holzinger

»Neue Kriege« als sozialtheoretischer Ausnahmezustand?

1. Folgen für die Friedens- und Sicherheitspolitik Seit einigen Jahren ist unverkennbar, dass die Kriegsforschung zunehmend darum bemüht ist, Typologien von heterogenen Formen kriegerischer Auseinandersetzungen zu entwerfen. Denn gerade Entwürfe von dem als »normal« erachteten, zwischenstaatlichen Krieg korrelieren kaum mehr mit der heutigen, sehr viel unübersichtlicheren Weltlage. War in den 1990er Jahren eine Debatte um die »asymmetrischen«, »kleinen« beziehungsweise »neuen Kriege« entbrannt, so wird diese derzeit fortgesetzt, indem man über sogenannte »hybride Kriege« diskutiert, in denen kaum mehr präzise Grenzen zwischen je unterschiedlichen Akteuren zu ziehen sind und zudem äußere Interventionen verdeckt erfolgen.1 Nun gab es freilich schon immer asymmetrische Kriege, wie die Kritiker des Konzepts der »neuen Kriege« monierten.2 Das Attribut »neu« ziehe seinen besonderen Appeal aus der Suggestion, dass im Sinne einer diachronen Klassifizierung eine präzise zeitliche Bestimmung und binäre Kodierung in »alte« und »neue« Kriege gegeben sei.3 Es ist hier 1

2

3

Siehe etwa die Beiträge in: Ethik und Militär, Hybride Kriege – die Ohnmacht der Gegner?, 2 (2015); Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 2016, S. 162. Vgl. z.B. Martin Kahl und Ulrich Teusch, Sind die »neuen Kriege« wirklich neu? In: Leviathan, 32 (2004), 3, S. 382­‑401; Klaus Schlichte, Neues über den Krieg? In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 9 (2002), 1, S. 113‑138. So Sven Chojnacki, Auf der Suche nach des Pudels Kern: Alte und neue Typologien in der Kriegsforschung. In: Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Dietrich Beyrau, Michael Hochgeschwender und Dieter Langewiesche, Paderborn [u.a.] 2007 (= Krieg in der Geschichte, 37), S. 479‑502. Die Möglichkeit gewaltsamer Konfliktaustragung, die keinerlei Begrenzung der Gewalt und kontrafaktische Reziprozitätsannahmen anerkennt, war im Kolonialkrieg, aber auch im zwischenstaatlichen Krieg die Regel. »Neu ist allenfalls, dass die europäischen Beobachter wahrnehmen, was sich jenseits ihrer Grenzen an alten Kriegen ereignet. [...] Die neuen sind alte Kriege, die durch die mediale Vermittlung nun auch für uns zu einer unabweisbaren Realität geworden sind.« Jörg Baberowski, Kriege in staatsfernen Räumen: Rußland und die Sowjetunion 1905‑1950. In: Formen des Krieges (wie oben), S. 291‑309, hier S. 292 f.

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Markus Holzinger

nicht der Raum, auf diese Debatte näher einzugehen.4 Das Typische der neuen Kriege läge vielleicht darin, wie Herfried Münkler argumentiert,

»dass in ihnen die Art des Kleinen Krieges sehr viel stärker die Entwicklungsrichtung vorgibt als der Große Krieg«.5

Bei dem Begriff des »neuen Krieges« handelt es sich somit um einen Versuch, der zunehmenden »Unzulänglichkeit« von herkömmlichen Klassifikationsbegriffen zur begrifflichen Ordnung der politischen Welt Rechnung zu tragen.6 Die Janusköpfigkeit der neuen Kriege soll im folgenden Text im Spannungsfeld einer Reihe von jüngst zu beobachtenden Herausforderungen im Bereich globaler Sicherheitspolitik schlaglichtartig aufgezeigt werden. Um dieses Argument zu entfalten, sollen in einem kurzen Abriss zunächst Aspekte des neuen Krieges skizziert werden (Abschnitt 2). Dieser Kriegstyp lässt sich insbesondere in zwei Formen des Krieges einteilen. Zum einen sind die Staatszerfallskriege oder die innerstaatlichen Kriege an den Rändern der Peripherie gemeint. Zum anderen ist an die dschihadistischen Netzwerkorganisationen und ihre Anhängerschaft zu denken, gleichgültig ob sie nun Al-Qaida oder Islamischer Staat heißen. Für beide Kriegstypen ist charakteristisch, dass in ihnen die Staaten das Monopol der Kriegführungsfähigkeit verloren haben. An die Stelle der Kriege zwischen regulären Armeen »ist ein diffuses Gemisch aus unterschiedlichen Gewaltakteuren getreten«. Dem Selbstmordattentäter steht die »Verpolizeilichung des Krieges«7 respektive die militärische Polizeiaktion gegenüber. Die als Zivilisten getarnten Kämpfer Letzterer treffen auf geheime »unsichtbare staatliche Armeen« Ersterer.8 »Neue Kriege« meint freilich mehr als nur die Veränderung des Militärwesens und der Kriegführung. Es geht vor allem um die Veränderungen der politischen und sozialen Rahmenbedingungen der beiden Aggregatzustände von Krieg und Frieden selbst. Münkler drückt es im historischen Rückblick wie folgt aus:

»Je präziser die beiden Aggregatzustände des Politischen definiert und die Übergänge zwischen ihnen juridifiziert wurden, desto stärker bildete sich eine Binarität der politischen Ordnung heraus, die auf dem Prinzip des tertium non datur beruhte: Es herrschte Krieg oder Frieden, ein Drittes dazwischen gab es nicht. Die Pointe des Begriffs ›hybrider Krieg‹ ist, dass er genau für dieses ›Dazwischen‹ steht, für ein Drittes, das die Ordnung der Binarität auflöst.«9

Damit haben insbesondere »die Hüter der binären Ordnung«, die Völkerrechtler, ihre Probleme. Denn wofür die Redewendung von den 4 5 6 7 8 9

Dazu: Herfried Münkler, Wie lässt sich eine Theorie des Krieges entwickeln und eine Geschichte des Krieges schreiben? In: Erwägen – Wissen – Ethik, 19 (2008), 1, S. 126‑142. Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 212. Herfried Münkler, Hybride Kriege. Die Auflösung der binären Ordnung von Krieg und Frieden und deren Folgen. In: Ethik und Militär, (2015), 2, S. 22‑25, hier S. 22. Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 217 f. Max Boot, Invisible Armies. An Epic History of Guerrilla Warfare from Ancient Times to the Present, New York [u.a.] 2013. Münkler, Hybride Kriege (wie Anm. 6), S. 23.

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»neuen Kriegen« ebenfalls steht, »ist eine wachsende Distanz zwischen der völkerrechtlichen Normstruktur und dem tatsächlichen Gewalt- bzw. Kriegsgeschehen«10. Kommentatoren haben darauf hingewiesen, dass die neuen Kriege zu einer »Missachtung des Kriegsrechts«11 oder gar zu einem Belagerungszustand im Sinne eines (rechtlichen) Ausnahmezustandes auf Dauer führen würden.12 Der Ausnahmezustand erweise sich, so Giorgio Agamben, in der Politik der Gegenwart »immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens«.13 Die Grenzen »zwischen den scheinbar anthropologisch gesicherten Dualen – Krieg und Frieden, Zivilgesellschaft und Militär, Feind und Freund, Krieg und Verbrechen, Militär und Polizei« würden zunehmend durchlässig, so Ulrich Beck.14 Um den Umfang dieses Beitrages nicht zu sprengen, kann hier nur am Rande auf den komplexen Begriff des ersten Typus – die innerstaatlichen Kriege – eingegangen werden, obgleich dieser quantitativ das Kriegsgeschehen nach 1945 bestimmt.15 In Abschnitt 3 und 4 möchte ich stattdessen die Eskalationsdynamik der neuen Kriege anhand des transnationalen Terrorismus und deren Nebenfolgen genauer beschreiben, mit denen die konventionellen Streitkräfte zu tun haben. Man kann nicht übersehen, dass wir seit einigen Jahren Zeugen einer Entwicklung sind – das ist die leitende These der folgenden Betrachtungen –, die man als Dialektik von asymmetrischen Konflikten bezeichnen kann.16 Schon bald nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 kam es in der Sicherheitspolitik zu einem folgenreichen strategischen Paradigmenwechsel, bei dem das Konzept der Resymmetrierung eine wichtige Rolle spielt. Um asymmetrische Gewaltanwendung der Gegner zu beantworten und eine Gleichverteilung von Chancen herzustellen, gleichen sich staatliche Organe schwachen Gegnern an. Wie substaatliche Akteure greifen Regierungsgewalten nun auf asymmetrische und damit unkonventionelle Kampfweisen zurück. Es kommt gleichsam zu einer Symmetrie der Asymmetrie. Auch Staaten haben somit unter bestimmten strategischen Bedingungen als ultima ratio die Möglichkeiten des unkonventionellen

10 11 12 13 14 15

16

Ebd. Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 218. Markus Holzinger, Stefan May und Wiebke Pohler, Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, Weilerswist 2010. Giorgio Agamben, Ausnahmezustand (Homo Sacer II.I), Frankfurt a.M. 2004, S. 9. Ulrich Beck, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt a.M. 2004, S. 199. Siehe dazu Markus Holzinger, Kriegerische Gewalt und Dynamik der Bürgerkriege in den »Peripherien«. Über den Mythos der Globalen Moderne. In: Archiv für Sozialgeschichte, 57 (2017), S. 347‑364. Siehe auch Holzinger/May/Pohler, Weltrisikogesellschaft (wie Anm. 12); Markus Holzinger, Resymmetrierung der Asymmetrie: Zur Rückwirkung asymmetrischer Konflikte auf die rechtsstaatliche Sicherheitsarchitektur. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 49 (2010), 1, S. 95‑103; Markus Holzinger, Der Tod Osama bin Ladens und die Informalisierung des Rechts. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 50 (2011), 2, S. 104‑115.

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Kampfes, des asymmetrischen Krieges für sich erkannt.17 Im Abschnitt 5 sollen daher einige normative und völkerrechtliche Probleme diskutiert werden, die sich aus den neuartigen Konstellationen ergeben.

2. Was sind die neuen Kriege? Erster Fall: Post-nationalstaatliche Kriege Beginnen wir mit dem ersten Typ, den man als substaatliche oder »post-nationalstaatliche Kriege« bezeichnen könnte, da der Staat in vielen Fällen nicht mehr der Bezugspunkt der Konfliktsituation ist.18 Was das Kriegsgeschehen betrifft, so lassen sich folgende Momente festhalten: 94 Prozent aller mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte waren in den 1990er Jahren innerstaatliche Konflikte. Die von der AKUF-Kriegedatenbank der Universität Hamburg zwischen 1945 und 1992 gezählten 129 rein innerstaatlichen Kriege dauerten im Durchschnitt 96 Monate.19 Die durchschnittliche Dauer der rein zwischenstaatlichen Kriege im selben Zeitraum lag bei 25 Monaten. Circa 40 Prozent aller innerstaatlichen Gewaltkonflikte dauern mindestens sechs Jahre. Der Bürgerkrieg in Sierra Leone dauerte von 1991 bis 2002. Im Zweiten Kongokrieg kamen über drei Millionen Menschen in nur fünf Jahren zu Tode, bis heute gibt es dort kriegerische Auseinandersetzungen. Der Krieg in Somalia begann 1988 und ist ebenfalls bis heute nicht beendet. Diese Kriege waren jedoch kurz im Verhältnis zum Bürgerkrieg in Kolumbien, dem mit einer Dauer von rund 50 Jahren längsten Bürgerkrieg weltweit. Ein besonderes Merkmal dieser Kriege ist insbesondere in ihrer langen Dauer zu sehen. Was sind die strukturellen Ursachen dafür? Die Gründe für diese Tendenz sind vielfältig und können hier nicht umfassend behandelt werden. Zudem sind die wirtschaftlichen und sozialen Umfelder und die historischen Voraussetzungen des Staatszerfalls für jeden Staat isoliert zu betrachten. Die dominante Bedingung für die kriegerischen Konflikte dürfte jedoch in den Staaten der »Dritten Welt« – und hier ist insbesondere an die Regionen in Afrika südlich der Sahara zu denken – in ihrer »nachholenden Konsolidierung vor17 18

19

Dirk Freudenberg, Theorie des Irregulären. Partisanen, Guerillas und Terroristen im modernen Kleinkrieg, Wiesbaden 2008, S. 383. Mark Duffield, Globalization, Transborder Trade, und War Economies. In: Greed and Grievance. Economic Agendas in Civil Wars. Hrsg. von Mats Berdal and David M. Malone, Oxford 2000, S.  69‑89; Markus Holzinger, Ist die Weltgesellschaft funktional differenziert? Niklas Luhmanns Staatskonzept im Spiegel parastaatlicher Gewalt und informeller Staatlichkeit. In: Politisches Denken. Jahrbuch 2012. Hrsg. von Volker Gerhardt [u.a.], Berlin 2012, S. 201‑231; Markus Holzinger, Informalisierung des Rechtsstaates? Über das Nebeneinander formaler und informaler Regelsysteme. In: Zeitschrift für Theoretische Soziologie, 4 (2015), 1, S. 5‑31; Holzinger, Kriegerische Gewalt (wie Anm. 15). Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) (letzter Zugriff 30.1.2018).

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ausgesetzter Staatlichkeit« liegen.20 Dies gilt beispielsweise für Äthiopien, Birma, Burundi, Kongo DRC, Liberia, Nepal, Sierra Leone, Somalia, Sudan, Tschad und die Zentralafrikanische Republik. Robert H. Jackson und Carl G. Rosberg hatten bereits 1982 auf folgendes Phänomen hingewiesen:

»It is evident that the term ›empirical state‹ can only be used selectively to describe many states in Black Africa today. With some notable exceptions – for example, Kenya and the Ivory Coast – it seems accurate to characterize Africa’s states as empirically weak or underdeveloped. If we adopted a narrow empirical criterion of statehood – such as Weber’s monopoly of force – we would have to conclude that some African countries were not states, and that statehood in others has periodically been in doubt.«21

Man hat es dort mit »Quasi-Staaten« zu tun, weil sie ja qua völkerrechtlichem Status und externer Subventionierung auch unabhängig von ihrer Gesellschaft existieren könnten.22 An dieser Stelle erscheint es notwendig, auf ein fundamentales Charakteristikum dieser Staaten hinzuweisen, das Gerhard Hauck als dialektisches Verhältnis von schwacher Regulationsmacht und starken Akkumulations- beziehungsweise Mehrproduktaneignungschancen begreift: Die Akkumulationssicherungsmacht des Staates »kann sehr stark ausgeprägt sein, auch wenn seine Regulationsmacht sehr schwach ist – was mir in der Tat die Situation in vielen afrikanischen Staaten zu kennzeichnen scheint.«23 Einer der wesentlichen Gründe für die geringe Regulationsmacht des Staatsapparats besteht darin, dass sich in den sogenannten Entwicklungsländern, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, im Prozess der Nationenbildung häufig nur eine Hülse des Staats, nicht aber seine Legitimität durchgesetzt hat. »Schwarzafrika hat sich in weiten Teilen nicht nur dem Staat verweigert. Es hat sich im Besonderen dem Rechtsstaat verweigert.«24

Während in der Soziologie vielerorts – ob in der »World Polity Theory« von John W. Meyer oder in den Spielarten der Luhmannschen Weltgesellschafts20

21 22

23 24

Dietrich Jung, Klaus Schlichte und Jens Siegelberg, Kriege in der Weltgesellschaft. Strukturgeschichtliche Erklärung kriegerischer Gewalt 1945‑2002, Wiesbaden 2003, S. 60. Robert H. Jackson und Carl G. Rosberg, Why Africa’s Weak States Persist. The Empirical and the Juridical in Statehood. In: World Politics, 35 (1982), 1, S. 1‑24, hier S. 12. »In the most extreme cases, the state has, more or less, been reduced to its coercive apparatuses (army, police, and prisons), which are then employed, crudely, to safeguard the authoritarian political framework within which governments, faced with a host of donor conditionalities, attempt to abide by the neo-liberal agenda for the reform of the economies – and politics – of African countries.« Liisa Laakso und Adebayo O. Olukoshi, The Crisis of the Post-Colonial Nation-State Project in Africa. In: Challenges to the Nation-State in Africa. Hrsg. von Adebayo O. Olukoshi und Liisa Laakso, Uppsala 1996, S. 7‑39, hier S. 10. Gerhard Hauck, Schwache Staaten? Überlegungen zu einer fragwürdigen entwicklungspolitischen Kategorie. In: Peripherie, 24 (2004), 96, S. 411‑427, hier S. 419. Trutz von Trotha, Gewalt, Parastaatlichkeit und konzentrische Ordnung. Beobachtungen und Überlegungen über (nicht nur) afrikanische Wege zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Hrsg. von Jutta Allmendinger, Opladen 2003, S. 725‑736, hier S. 729.

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theorie – nach wie vor die Mär von der globalen »Einheitlichkeit (Isomorphie) formaler nationalstaatlicher Strukturen«25 als unantastbare Wahrheit verkündet wird, ist mittlerweile in informierten Fachkreisen evident, dass einschließlich der Entwicklungs- und Transformationsgesellschaften schätzungsweise zwei Drittel der heutigen Staatenwelt zu »Räumen begrenzter Staatlichkeit« gehören.26 Die Einheit des Staates war in Europa, besonders aber in Afrika immer schon ein »ideologisches Artefakt«, so Philip Abrams.27 Es sei die Maske des europäischen Staatsmodells selbst, die uns daran hindert, die politische Praxis so zu sehen, wie sie tatsächlich ist, und nicht bloß als (ideologische) Selbstbeschreibung. Das legitime Gewaltmonopol des Staats über ein ganzes Territorium und die Etablierung von Gewaltenteilung waren in Afrika unvollständig ausgeprägt.28 Auch ein elaboriertes Steuersystem zur Bedarfsdeckung des politischen Verbandes fehlte: »Während in entwickelten bürgerlichen Staaten der Anteil von personenbezogenen Abgaben an den laufenden Einnahmen der Staaten zwischen 50 und 75 Prozent ausmacht, liegt dieser Anteil in den Staaten der Dritten Welt zwischen 3 und 15 Prozent.«29

Die defizitäre Penetrationsfähigkeit der staatlichen Institutionen, die sich ebenso in der mangelnden Kompetenz zur Extraktion von Finanzressourcen manifestierte, musste kompensiert werden. »Extraversion« ist daher die Kehrseite mangelnder Regulationsmacht.30 Mit anderen Worten: Ausgeprägt an diesen Staaten sind vor allem, um mit Hauck zu sprechen, die Akkumulationschancen der herrschenden Clique.31 Das nachkoloniale Organisationsgefüge, das sich anstelle des europäischen Staats herauskristallisiert hat, wird daher häufig nicht von ungefähr mit dem Modell des »Rentierstaates« erklärt.32 Außenpolitik dient dabei einer Art »Abschöpfung international zirkulierender Ressourcen durch staatliche Akteure zugunsten interner Entwicklungsprozesse, 25

26 27 28 29

30 31

32

Tobias Werron, Worum konkurrieren Nationalstaaten? Zu Begriff und Geschichte der Konkurrenz um »weiche« globale Güter. In: Zeitschrift für Soziologie, 41 (2012), 5, S. 338‑355, hier S. 345. Siehe auch John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M. 2005. Thomas Risse und Ursula Lehmkuhl, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Aus Politik und Zeitgeschichte, 20‑21 (2007), S. 3‑9, hier S. 5. Philip Abrams, Notes on the Difficulty of Studying the State. In: Journal of Historical Sociology, 1 (1988), 1, S. 58‑89, hier S. 81. Holzinger, Informalisierung des Rechtsstaats (wie Anm. 18). Klaus Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft. Politische Herrschaft in der Dritten Welt und die Theorie globaler Vergesellschaftung, Frankfurt a.M., New York 2005, S. 201. Jean-François Bayart, The State in Africa. The Politics of the Belly. 2. Aufl., Cambridge [u.a.] 2009, S. 207. »Schwache« Staaten sind die des heutigen Afrika demnach allenfalls in Bezug auf die Regulations-, nicht in Bezug auf die Akkumulationssicherungsmacht des Staatsapparats. Hauck, Schwache Staaten? (wie Anm. 23), S. 420. »Rente« im hier gebrauchten Sinne ist ein unverdientes Einkommen, das nicht der eigenen Leistung des eigenen Landes geschuldet ist, sondern von außen einer Regierung zurückfließt. Zu nennen sind hier Rohstoffrenten (mineralische Rohstoffe, Agrarprodukte, Einnahmen aus dem Erdölsektor) sowie Entwicklungshilferenten.

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Klientelbildung, Legitimationsbeschaffung und Selbstprivilegierung«.33 Somalia beispielsweise bezog den Staatshaushalt zu etwa 80 Prozent von einer externen Entwicklungshilfe.34 In Saudi-Arabien werden 70 Prozent des Haushalts durch die sich in staatlicher Hand befindenden Öl-Einnahmen bestritten. Gemäß Schätzungen haben die Öleinnahmen bei reinen Ölrentiers »einen Anteil von 90 Prozent am Staatsbudget und tragen 60 bis 80 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei«.35 Die Rente als Allokationsmechanismus hat für die Staatsklasse eine höchst politische Funktion. Nur so ist sie imstande, einen kohärenten »politischen Block« herauszubilden36 – wie weit auch immer das gelungen ist. Ist der Staat in der Akquisition von Renten erfolgreich, so steht seiner Dynamik nach außen »ein enormer Handlungsspielraum nach innen gegenüber«.37 Sogenannte Big Men benutzen das öffentliche Gewaltmonopol zur Kontrolle über Ressourcenströme, um so an öffentliche Güter und Gelder zu gelangen. In Rentierstaaten werden wohlfahrtsstaatliche Leistungen gegen politische Rechte eingetauscht: Dieser Gesellschaftsvertrag (rentier bargain) kommt gewissermaßen einer Umkehrung des Diktums der Amerikanischen Revolution – »no taxation without representation« – gleich: »Solange der Staat aufgrund ausreichender Renteneinkommen seine Gesellschaft nicht besteuern muss, gelten politische Forderungen auf Mitsprache als illegitim. Politische Legitimität ist auf materielle Leistungen gegründet und manifestiert sich in der Fähigkeit des Staates, seine Wohlfahrtsleistungen zu erfüllen.«38

Mit dem Ende des Kolonialismus etablierte sich eine politische Klasse, die sich durch Aneignung der Rente eine eigene Legitimationsbasis verschaffte – zumindest dann, wenn ihr die Transformation vom bürokratischen zum parastaatlichen Herrschaftssystem gelang. Mit der Übergabe des Staates an die jeweiligen patrimonialen Führer wird dieser in ein Werkzeug von Patronage umgeformt. Big Men betrachten den Staat als ihre Pfründen. Die Vermehrung der Staatseinnahmen, die dann in die Klientelnetzwerke fließen, wird im radikalen Sinne zu einer Kleptokratie. In einem solchen Milieu blüht staatliche Korruption, weil es zu einer staatlichen Gewaltenteilung oder einer weitgehenden Rollendifferenzierung, wie sie die Märchenwelt der Modernisierungstheorie immer noch zeichnet,39 gar nicht gekommen ist. 33 34 35 36 37 38

39

Peter Pawelka, Die politische Ökonomie der Außenpolitik im Vorderen Orient. In: Orient, 35 (1994), 3, S. 369‑390, hier S. 372. Rainer Tetzlaff und Cord Jakobeit, Das nachkoloniale Afrika. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 130. Martin Beck, Die Erdöl-Rentier-Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, Münster [u.a.] 1993, S. 44. Bayart, The State in Africa (wie Anm. 30), S. 207. Peter Pawelka, Der Vordere Orient und die Internationale Politik, Stuttgart 1993, S. 105. Rolf Schwarz, Der Rentierstaats-Ansatz und aktuelle Debatten in den Internationalen Beziehungen. In: Der Nahe Osten im Umbruch: Zwischen Transformation und Autoritarismus. Hrsg. von Martin Beck, Cilja Harders, Annette Jünemann und Stephan Stetter, Wiesbaden 2009, S. 100‑125, hier S. 109. So etwa Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000. Zu den Grenzen der Modernisierungstheorien vgl. den Beitrag von Wolfgang Knöbl in diesem Band.

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Der formale Staat stellt als »Schattenstaat« keine vollständige Sphäre eigener (moderner) Ordnung dar. Er ist nur eine Hülle, damit die »Staatsklasse«40 durch Personalisierung der Macht an öffentliche Gelder gelangen kann. In exemplarischer Zuspitzung wird dieser Prozess im Kongo deutlich. Der von 1965 bis 1997 in der heutigen Demokratischen Republik Kongo (von 1971 bis 1997: Zaire) regierende Diktator (Joseph-Désiré) Mobutu Sese Seko brachte es durch »Rentenökonomie« auf ein Fünf-Milliarden-Dollar-Vermögen, das er sich durch den Zugriff auf die Staatskassen angesammelt hatte. »It has been estimated that as much as 6o percent of the annual national budget is misappropriated by the governing elite.«41

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Typus von Staat? Da in diesen Ländern von einer »Überpolitisierung« des gesamten sozialen Lebens42 gesprochen werden muss, kann es nicht ausbleiben, »dass der interne ökonomische Konkurrenzkampf der Bourgeoisie in erster Linie als Kampf um den Zugang zu politischer Entscheidungsmacht« geführt wird.43 Das wichtigste Rekrutierungsschema für die Inklusion in den Kreis der Machtelite heißt Kooptation. Im Regelfall werden Oppositionen durch finanzierte Pfründen kooptiert. Die Hauptaufgabe des Präsidenten besteht darin, »den Ressourcenfluss des Staates so zu lenken, dass er die konkurrierenden Netzwerke ausbalancieren kann«.44 Im Kongo zur Zeit Mobutus wurden allein circa 65 Prozent des staatlichen Budgets für die Klientelpolitik des Herrschers verwendet. Diese Form der »reziproken Assimilation« verschiedener Gruppierungen bezieht sich aber nicht nur auf die Integration der politischen Eliten.45 Auch die soziale Stellung der Zivilbevölkerung ist davon abhängig, ob sie sich zur »Gruppe der Renten-Nutznießer«46 zählen kann. Zwischen 1956 und 1976 stieg im Iran die Zahl der Staatsbediensteten um über 600 Prozent. In jedem fünften iranischen Haushalt bezog ein Mitglied sein Gehalt direkt vom Staat.47 In extremen Fällen wie Katar, Kuwait oder den Arabischen Emiraten sind rund 90 Prozent der Beschäftigten des Landes beim Staat angestellt:48 Im Unterschied zum langwierigen europäischen Prozess der institutionel40 41 42 43 44 45 46

47 48

Hartmut Elsenhans, Abhängiger Kapitalismus oder bürokratische Entwicklungsgesellschaft. Versuch über den Staat in der Dritten Welt, Frankfurt a.M. 1981. Jackson/Rosberg, Africa’s Weak States (wie Anm. 21), S. 10. Gerhard Hauck, Gesellschaft und Staat in Afrika, Frankfurt a.M. 2001, S. 177. Ebd., S. 177. Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft (wie Anm. 29), S. 124. Bayart, The State in Africa (wie Anm. 30), S. 150. Claudia Schmid und Peter Pawelka, Der moderne Rentier-Staat im Vorderen Orient und seine Strategien der Krisenbewältigung. In: Arabische Golfstaaten in der Krise. Hrsg. von Peter Pawelka und Aves Maho, Frankfurt a.M. 1990, S. 91‑117, hier S. 101. Peter Gatter, Khomeinis Erben. Machtpolitik und Wirtschaftsreformen im Iran, Hamburg 1998, S. 29. »By the 1970s, most citizens who held jobs in Kuwait, Qatar, or the UAE were employed by the state (or in a state-owned enterprise), and today the figures are around 90 percent.« Michael Herb, A Nation of Bureaucrats? Political Participation and Economic Diversification in Kuwait and the United Arab Emirates. In: International Journal of Middle East Studies, 41 (2009), 3, S. 375‑395, hier S. 382.

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len Entkopplung des Staats von den personalen Einflüssen derjenigen, die die führenden Positionen innehaben, existiert die staatliche Administration bestenfalls als Fassade, nicht jedoch jenseits personaler, clan- oder stammesgebundener Loyalitäten. Die Unterwanderung des formalen Staats vollzieht sich, so hatte Jean-François Bayart den Sachverhalt bezeichnet, durch das unterirdische Labyrinth des Rhizoms (Wurzel).49 Es sei der welthistorische »Normalfall«, dass tribale Relationen und Verbindungen den politischen Raum – bis tief in das Wurzelwerk des Staats hinein – strukturieren. So lange die etablierten Mechanismen und die Renten-Allokation hinreichen, die externen Zahlungen nicht sinken oder gar wegfallen, können Konflikte ohne Gewalt auskommen. So lange ist ein solches System recht stabil. Rentenstaaten sind jedoch dennoch fragil, »weil sich die Höhe der Rente stets ändern kann«.50 Der Segen der Ressourcen kann sich in Krisenzeiten zu einem veritablen entwicklungspolitischen Fluch der Ressourcen entwickeln. Die politische Fokussierung der eigenen Ethnie produziert ein permanentes Konfliktpotenzial. Regionalistische Konflikte, die häufig gewaltsam eskalierten, sind somit durch die »ethnische Fragmentierung« des Staats vorprogrammiert.51 Die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Konflikte steigt, wenn die Konkurrenz um Ressourcen – wie zum Beispiel in Zeiten ökonomischer Rezession – nicht mehr über die bestehenden klientelistischen Netzwerke ausgetragen werden kann.52 Zu einer solchen Verknappung externer Ressourcen kam es in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, als die Entwicklungshilfe als wichtigste Quelle von westlichen Geldtransfers langsam austrocknete. Die Weltbank forderte die Liberalisierung des Außenhandels und »good governance« im Modus des Neoliberalismus. Gerade weil politische Herrschaft personal vermittelt bleibt, setzt sich dann temporär immer nur eine selektive Inklusion durch. In Krisenzeiten, in denen die Politik der »reziproken Assimilation« zerfällt,53 lösen sich Parlamente in »ethno-regionale Parteien« auf, »die sich gegenseitig von den Futterkrippen des Zentrums« auszuschließen trachten.54 »Die sozialen Kämpfe, die das Streben nach Hegemonie und die Produktion des Staates ausmachen, zeugen vom Rennen um die Ressourcen der Macht, an dem alle Akteure – reiche und arme – in einem Universum von Netzwerken teilnehmen. Jenen, die nichts haben, bleibt keine andere Wahl, als sich auf den selben Weg zu begeben.«55 Benachteiligte Gruppen, die aus dem 49 50 51

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53 54 55

Bayart, The State in Africa (wie Anm. 30), S. 220. Schlichte, Der Staat in der Weltgesellschaft (wie Anm. 29), S. 205. René Lemarchand, Political Clientelism and Ethnicity in Tropical Africa: Competing Solidarities in Nation-Building. In: American Political Science Review, 66 (1972), 1, S. 68‑90, hier S. 69. Klaus Schlichte, Staatsbildung oder Staatszerfall? Zum Formwandel kriegerischer Gewalt in der Weltgesellschaft. In: Politische Vierteljahresschrift, 47 (2006), 4, S. 547‑570, hier S. 561. Bayart, The State in Africa (wie Anm. 30), S. 150. Hauck, Gesellschaft und Staat (wie Anm. 42), S. 269. Markus Brunner, The Unfinished State: Demokratie und Ethnizität in Nigeria, Hamburg 2002 (= Hamburger Beiträge zur Afrika-Kunde, 72), S. 119.

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klientelistischen Verbund exkludiert werden, sehen angesichts einer solchen Entwicklung keine andere Wahl, als eine gewaltsame Opposition zu organisieren. Zu Akteuren eines Konflikts werden die Träger dieser Wahrnehmung aber erst, wenn sie sich zu bewaffneten Gruppen zusammenschließen. Die Rekrutierungsmaßnahmen und die Motivationen der Akteure sind freilich heterogen, wie die Forschung in den letzten Jahren gezeigt hat. Sie reichen von ökonomischen, ideologischen und finanziellen Anreizen bis hin zur Ausübung von Zwang.56 Wo der Staat nicht mehr für Ordnung sorgen kann und wo Staaten schwach sind, diffundiert das Politische vom Staat zu anderen substaatlichen Gruppierungen. Bei Extremfällen des Staatszerfalls oder Staatskollapses – Beispiele sind Somalia, die Demokratische Republik Kongo, der Sudan, der Tschad, Liberia und Sierra Leone – verliert der Staat die Kontrolle über das Gewaltmonopol und die damit verbundenen physischen Zwangsmittel. Die Entwicklung hin zu einer dezentralen Ordnung wird dann wahrscheinlich, wenn der ursprüngliche Zentralstaat nicht mehr in der Lage oder willens ist, ihm zugedachte Aufgaben adäquat auszuführen und das Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten. Es kommt zum Defekt eines staatlichen Gewaltmonopols und zur Entstehung »gewaltoffener« Räume oder »Gewaltoligopolen«.57 In den Mittelpunkt rücken nun Militärs oder Warlords, welche die Sicherung einer lokal begrenzten Kriegsökonomie unter ökonomischen Handlungsimperativen als ihre Chance betrachten: Die »neuen Kriege« dieses Typus gehen daher häufig von Staaten aus, deren Gewaltmonopol schwach, gescheitert oder vollkommen zerstört ist. Der Staat ist nicht mehr der »selbstverständliche Monopolist des Krieges«,58 weil nun andere Gewaltakteure wie etwa private Militär- und Sicherheitsagenturen oder marodierende Räuberhorden die Gewaltkonflikte bestimmen. Höhepunkte der Kriegsentwicklung waren die 1990er Jahre mit 16 laufenden Kriegen etwa in Ruanda, Somalia, Uganda, Burundi und Äthiopien. Ein Hauptschauplatz von Kriegen sind aber ebenso die arabischen Erdölstaaten. Alle sieben Staaten der arabischen Halbinsel haben Schwierigkeiten, rechtsstaatliche Strukturen aufzubauen. Die Region erwies sich daher auch als besonders kriegsanfällig. Diese Kriege stellen vor allem Militärstrategien und völkerrechtliche Konstellationen vor erhebliche Schwierigkeiten: Zum einen haben diese Kriege eine »Tendenz zur Selbstperpetuierung«. Der Krieg findet in diesem Kontext kein Ende durch Auszehrung, wie üblich in einem zwischenstaatlichen Krieg. Die Erlöse aus Kriegsökonomien und die Kopplung an die globalen Märkte und Schattenglobalisierung sichern Ressourcenzuflüsse in die 56

57 58

Klaus Schlichte, Mit dem Staat gegen den Staat? Die Formierung bewaffneter Gruppen. In: Identität, Institutionen und Ökonomie. Ursachen innenpolitischer Gewalt. Hrsg. von Margit Bussmann, Andreas Hasenclever und Gerald Schneider, Wiesbaden 2009 (= PVS-Sonderheft, 43), S. 283‑306, hier S. 284. Andreas Mehler, Legitime Gewaltoligopole – eine Antwort auf strukturelle Instabilität in Westafrika? Hamburg 2003. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 7.

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Kriegsregion und verhindern eine schnelle Auszehrung. Häufig fehlen zudem in einem schwachen Staat die staatlichen Institutionen. Oft scheitert der »Siegfrieden« somit schon daran, dass keine der Kriegsparteien je die dazu notwendige Überlegenheit und die Souveränität über das Gewaltmonopol erreicht. Selbst wenn die kriegerischen Aktivitäten durch Verhandlung eine Zeit lang ruhen, bedeutet dies nicht, dass ein Krieg definitiv zu Ende ist. Denn auch ein »Verhandlungsfrieden« kann nur dann erfüllt sein, wenn der neue Machthaber sich mit den konkurrierenden Gewaltakteuren einigen und sich gegen Opposition durchsetzen kann.59 Schließlich können die Bürgerkriege durch eine auswärtige Intervention beendet werden. Auch hier dürften allerdings die Probleme erheblich sein. Abgesehen davon, dass »postheroische« Gegenwartsgesellschaften und deren labile ökonomische und psychische Infrastruktur eine schwindende Opferbereitschaft zeigen, stellen diese Bürgerkriege eine intervenierende Macht vor große Herausforderungen. Das Negativbeispiel bietet hier immer noch Somalia im Jahr 1993, als die Interventionskräfte der USA die Hauptstadt Mogadischu nach verlorenen Gefechten fluchtartig wieder verließen. Dass Friedensmissionen dennoch einen entscheidenden Beitrag zur Aufrechterhaltung des Friedens nach Bürgerkriegen leisten, bleibt dabei unbenommen.60 Zum anderen ist auch völkerrechtlich die Lage unübersichtlich. Zwar hat es in den letzten Jahrzehnten völkerrechtliche Normierungen in Richtung einer »Weltinnenpolitik« gegeben: Unter dem Titel »Responsibility to Protect« hat sich in den vergangenen Jahren ein Konzept herauskristallisiert, das darauf abzielt, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden – aber gerade in diesem Kontext, so mein Eindruck, lässt sich eine enorme »Unbestimmtheit des Rechts« aufzeigen. Denn aufseiten demokratischer Staaten steht dem eher ein Interesse gegenüber, die rechtlichen Legitimationsressourcen »möglichst flexibel zu nutzen«.61

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Philipp Genschel und Klaus Schlichte, Wenn Kriege chronisch werden: Der Bürgerkrieg. In: Leviathan, 25 (1997), 4, S. 501‑517, hier S. 508 (»Selbstperpetuierung«), S. 510 (»Verhandlungsfrieden«), S. 512 (»Siegfrieden«). Tobias Hofmann und Lena Schaffer, Einmal Frieden und zurück? Friedensmissionen und die wiederkehrende Eskalation innerstaatlicher Gewalt. In: Identität, Institutionen und Ökonomie (wie Anm. 56), S. 307‑334. Lothar Brock, Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung. Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien. In: Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Zur Kritik einer Theorie liberaler Außen- und Sicherheitspolitik. Hrsg. von Anna Geis, Harald Müller und Wolfgang Wagner, Frankfurt a.M. 2007, S. 45‑68, hier S. 66.

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3. Was sind die neuen Kriege? Zweiter Fall: Terrorismus als »Krieg« Der zweite Typus, der bei der Entstehung der neuen Kriege relevant sein dürfte, hängt mit dem Phänomen des »transnationalen Terrorismus« in seinen verschiedenen Spielformen zusammen. Insbesondere Münkler argumentiert, dass sich die asymmetrische Kriegführung zu einem taktischen Element des transnationalen Terrorismus entwickle.62 Das Ziel des alten Terrorismus war es, die Bevölkerung einzuschüchtern und Panik- und Schockeffekte zu erreichen. Im Zentrum steht dabei nicht das Ergebnis der Zerstörung, vielmehr gilt der mittlerweile klassisch gewordene Satz: »Terrorists want a lot of people watching, but not a lot of people dead.«63

In der Regel setzt der Terrorismus primär auf psychische und symbolische Wirkungen und weniger auf Zerstörungseffekte. Während der Guerilla- und Partisanenkrieg noch eine Kampftaktik des kleinen Krieges im Rahmen der strategischen Defensive beinhaltete, handelt es sich beim neuen Terrorismus um eine offensive Strategie. Die Terroristen greifen dort an, wo diese Gesellschaften am leichtesten zu attackieren sind. Das Hauptangriffsziel ist die labile, psychische Infrastruktur hochentwickelter Gesellschaften, wenn etwa das Alltagsleben in den Großstädten gewaltsam durch Zerstörung von Zielen wie Wolkenkratzer, Massenverkehrssysteme oder touristische Einrichtungen zum Erliegen kommt. Partisanen und Guerillas orientierten sich noch am »zu interessierenden Dritten«,64 transnationale Terroristen dagegen nicht mehr allein. Münkler begründet dies mit der zunehmend glaubhafteren Androhung, Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Der transnationale Terrorismus wird aber auch durch die Art, wie die westlichen Mächte auf ihn reagieren, zu einer Form der Kriegführung. Zunächst ist festzustellen, dass die amerikanische Regierung, die NATO und auch der UN-Sicherheitsrat unter der Formulierung »Krieg gegen den Terror« immer mehr verstanden haben als eine bloße Metapher. Und die am 7. Oktober 2001 einsetzenden amerikanischen und britischen Kampfhandlungen in Afghanistan wurden ja realiter auch von Beginn an als »Krieg« geführt. Speziell die US-amerikanischen Maßnahmen entsprechen nicht der polizeilichen Verbrechensbekämpfung. Vielmehr richten sich in diesem Eroberungsfeldzug auch klassische militärische Maßnahmen direkt gegen nicht-staatliche Terrororganisationen.

»Das Vorgehen der Staatengemeinschaft gegen Terrorgruppen nicht mehr nur mit Polizeikräften, sondern verstärkt mit multinationalen Streitkräften offenbart, dass die terroristische Gewalt den qualitativen Schritt von sporadischen

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Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges, Weilerswist 2006. Brian Michael Jenkins, The New Age of Terrorism. In: The McGraw-Hill Handbook of Homeland Security. Hrsg. von David G. Kamien, 2005, S. 117‑130, hier S. 118 (letzter Zugriff 15.4.2019). Münkler, Der Wandel des Krieges (wie Anm. 62), S. 235.

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Gewaltakten zu einem über die nationalen Grenzen hinausgehenden bewaffneten Konflikt vollzogen hat.«65

Betrachtet man unvoreingenommen das Zerstörungspotenzial heutiger Terroristen, könne man, wie Michael Pawlik kommentiert, den Terminus »Krieg« kaum mehr vermeiden.

»Der Befund, dass der moderne Terrorismus ein funktionales Äquivalent zum Staatenkrieg darstellt, lässt sich von Seiten des Rechts nicht einfach ignorieren. Er legt vielmehr die Schlussfolgerung nahe, dass es den Angegriffenen nicht grundsätzlich verwehrt sein kann, sich bei der Bekämpfung des Terrorismus an Wertungen kriegsrechtlicher oder zumindest kriegsrechtsähnlicher Provenienz zu orientieren.«66

Der Terrorismus sei durchaus als eine Art »Nachfolger des herkömmlichen Staatenkrieges« (Pawlik) aufzufassen. Und so wurde von Völkerrechtlern wie etwa Anne-Marie Slaughter und William Burke-White gefordert, dass das Gewaltverbot sich nun auch auf die neuen Phänomene privater Gewalt (»stateless, networked individuals«) beziehen müsse.67 Zudem signalisiert ja die Anerkennung des Selbstverteidigungsfalles durch den UN-Sicherheitsrat, dass Terrorismus durchaus als Kriegsgeschehen einzustufen sei. Die vermeintlich nicht vorstellbare Subsumtion des neuen Terrorismus unter den Kriegsbegriff wird durch die rechtmäßige Ausübung des Selbstverteidigungsrechts durchbrochen. Hier liegt in der Tat ein Paradigmenwechsel vor. Mit der Resolution 1368 eröffnete er den Mitgliedstaaten den Rückgriff auf die in Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen aufgeführten Möglichkeiten zur Wiederherstellung des Friedens durch Zwangsmaßnahmen, einschließlich des Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung gegen einen substaatlichen Akteur. Es hat somit den Anschein, als würden Terrorgruppen nun als mit Rechtssubjektivität versehene Konfliktparteien – als eine Art »asymmetrischer Kombattanten« – an Kampfhandlungen teilnehmen und als asymmetrische Völkerrechtssubjekte anerkannt werden, ohne freilich als terroristische Kämpfer »in den Genuss von Berechtigungen zu kommen«.68 Die Resolution 1368 des UN-Sicherheitsrates vom 12. September 2001 basiert auf der »Anerkennung des naturgegebenen Rechtes zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit der Charta«. Die am 28. September folgende Resolution 1373 bestätigt das in der Resolution 1368 angenommene Recht auf Selbstverteidigung.

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Lars Mammen, Völkerrechtliche Stellung von internationalen Terrororganisationen, Baden-Baden 2008, S. 169 f. Michael Pawlik, Der Terrorist will nicht resozialisiert werden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.2.2008, S. 40. Hier auch nachfolgendes Zitat. Klaus Schlichte, Mit dem Staat gegen den Staat? (wie Anm. 56), S. 283‑306. Anne-Marie Slaughter und William Burke-White, An International Constitutional Moment. In: Harvard International Law Journal, 43 (2002), 1, S. 1‑21. Mammen, Völkerrechtliche Stellung (wie Anm. 65), S. 283 (1. Zitat), S. 250 (2. Zitat).

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4. Asymmetrierung und Resymmetrierung des Krieges in der Terrorismusbekämpfung Es ist seit Langem bekannt, dass konventionelle Regierungskräfte bei der Bekämpfung der an Kampfkraft und Gefechtswert vielfach unterlegenen asymmetrischen Gegner trotzdem immensen Problemen gegenüberstehen.69 Resymmetrierung bedeutet die Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts, sodass sich die Kampfmittel in ihrer Ausprägung und Struktur von Neuem sehr ähneln. Die Stabilität des westfälischen Systems im europäischen Staatengefüge der Neuzeit beruhte auf der Grundlage, dass die einzelnen Mächte immer wieder symmetrische Konfigurationen nach dem Prinzip der Reziprozität herstellten. Wie sich derzeit aber an den weitreichenden Veränderungen in der Sicherheitspolitik ablesen lässt, kommt das Prinzip der Resymmetrierung – das ist die Ironie der Lage – nun gewissermaßen in umgekehrter Richtung zur Anwendung. Die Resymmetrierungserfordernisse der konventionellen Streitkräfte richten sich in diesem Fall auf das Ziel, die Unterlegenheit gegen den Gegner wettzumachen, die sich für die staatliche Regierungsgewalt aus dessen spezifisch irregulären Kampfstrategien ergeben. In dieser Situation bleiben dem staatlichen Akteur zwei Möglichkeiten, um eine Resymmetrierung zu gewährleisten. Zum einen kann die Staatsgewalt die eigene Asymmetrie vorantreiben und dem schwächeren Gegner mittels einer »Asymmetrie aus Stärke« durch technologische Entwicklungen schwere Niederlagen zufügen.70 Das wäre die Ausrichtung auf eine Strategie der militärischen Überlegenheit, wie sie das Konzept der »Revolution in Military Affairs« konsequent zu Ende denkt.71 Damit ist das Streben nach HightechWaffensystemen und die umfassende Vernetzung dieser Waffen mit modernster Informationstechnologie gemeint. Schon im Golfkrieg von 1991 suggerierten Videoaufnahmen von exakt ihre Ziele treffenden Raketen, dass nun Angriffe mit »chirurgischer« Präzision gegen bewusst ausgewählte Objekte möglich seien. Konsequenterweise folgte die erste Phase des AfghanistanFeldzuges dem im Fachjargon als »Network Centric Warfare« (NCW) bezeichneten Konzept. Dieser basiert auf einer umfassenden Digitalisierung aller Informationen, die über den Gegner, das Kampfgebiet, aber auch über die eigenen Truppen vorliegen. Das Ziel besteht darin, durch den kontinuierlichen Datenaustausch zwischen allen Einheiten eine Art »System der Systeme« zu kreieren.72 Auf Basis von Computertechnologien soll ein einheit69

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Vgl. Christopher Daase, Kleine Kriege, große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegsführung die internationale Politik verändert (= Weltpolitik im 21. Jahrhundert, 2), Baden-Baden 1999. Münkler, Der Wandel des Krieges (wie Anm. 62), S. 71. Markus Holzinger, Risikotransfer-Kriege: Zu den militärischen, politischen und rechtlichen Implikationen neuer Waffentechnologien. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 50 (2011), 1, S. 107‑118. Stefan Kaufmann, Network Centric Warfare. Den Krieg netzwerktechnisch denken. In: Politiken der Medien. Hrsg. von Daniel Gethmann und Markus Stauff, Zürich 2005, S. 245‑264.

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licher virtueller Kampfplatz entstehen. Indem für alle relevanten Akteure alle wichtigen Informationen gleichzeitig verfügbar sind, entsteht ein Bewusstsein für die Komplexität des Kriegsgeschehens. Nun kann das Kampfkollektiv die Aktionen schneller miteinander synchronisieren. Der Netzwerkbegriff und die vernetzte Operationsführung stellen hohe technische Anforderungen. Informationen aus höchst unterschiedlichen Quellen – die Palette reicht von Satelliten über Drohnen, die aus kurzer Distanz einen Raum erkunden sollen, bis zu Sensoren, die am Körper eines Soldaten angebracht werden sollen – müssen innerhalb eines Computersystems kompatibel sein. Zum anderen kann die konventionelle Regierungsgewalt die Asymmetrie des Gegners spiegeln und ebenso zu Partisanenstrategien und verdeckter Kriegführung greifen.73 Es kommt zu einer Symmetrie der Asymmetrie, zu einer Resymmetrierung der Kriegführung.74 Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass die Wiederherstellung der Symmetrie nur dann gewährleistet werden kann, wenn reguläre Streit- und Sicherheitskräfte im Kampf gegen Partisanen und Terroristen – überspitzt gesagt – selbst zu solchen werden und »einer Strategie der Terrorisierung der Terroristen« folgen.75 Auch der reguläre Gegner führt dann den Krieg unter Missachtung der kriegsrechtlichen Konventionen. Worin drückt sich dies aus? Erstens: Je »schmutziger« ein Krieg im Rahmen der Aufstandsbekämpfung geführt wird, desto mehr verwandelt sich der Krieg in einen Konflikt der Geheimdienste und »polizeiförmiger Militäroperationen«.76 Die Konspiration der Geheimdienstarbeit passt sich mimetisch an die Klandestinität des Gegners an. Der Krieg findet in Form von Spezialoperationen, extraordinary renditions und der extensiven Nutzung von Gefangenenlagern gleichsam im Dunkeln statt. Der ehemalige US-Vizepräsident Dick Cheney äußerte in diesem Zusammenhang:

»Wir müssen sozusagen auf der dunklen Seite arbeiten. Wir müssen uns im Schatten der Geheimdienstwelt bewegen.«77

In der Praxis arbeite dieses System dann mit Verschleppungen, verdeckter Kriegführung, geheimen Inhaftierungen, der Anwendung des Feindstrafrechts und dem Einsatz von sogenannter »Rettungsfolter«. Diese Methoden aber unterwanderten fast notwendigerweise die Moral der Exekutive, weil mit zunehmender Dauer eines solchen Konflikts unklarer wird, was den regulären Soldaten noch vom bekämpften »Terroristen« oder »Aggressor« unterscheidet. Zweitens: Auch der Drohnenkrieg ist eine Antwort auf den asymmetrischen Krieg. Er spiegelt die Asymmetrie des Gegners wider. Die Dynamiken der Globalisierung haben zu einer Bedeutungsveränderung ehemals klarer 73 74 75 76 77

Daase, Kleine Kriege (wie Anm. 69), S. 233. Holzinger, Resymmetrierung der Asymmetrie (wie Anm. 16). Freudenberg, Theorie des Irregulären (wie Anm. 17), S. 389. Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 17. Jeremy Scahill, Schmutzige Kriege. Amerikas geheime Kommandoaktionen, München 2013, S. 41.

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Grenzen zwischen den Nationalstaatsgesellschaften geführt. Der transnationale Terrorismus reduziert sich nicht auf eine Kriegsregion, weil jeder Ort der Welt im Prinzip zum Kriegsschauplatz deklariert werden kann.78 Die neue »Geographie des Krieges« ist global und urban, da der Schwerpunkt von Kampfhandlungen sich zunehmend in die Groß- und Megastädte verlagern wird.79 Daher ist von einer »Aufweichung« oder »Verwischung« nationaler Grenzen die Rede: »military power, policing and state intelligence cross-fertilize to target the urban quotidian at home and abroad in increasingly integrated ways«.80

Drohnen sind scheinbar diejenigen Waffen, die gegen einen hochmobilen Gegner ohne feste Territorialität besonders geeignet sind. Durch die Synthese von genauer Information und mit hoher Präzision ausgestatteten Lenkflugkörpern auf einer Plattform können Ziele im Moment ihrer Entdeckung angegriffen werden. »Das Paradigma ist nicht jenes von zwei Kämpfern, die einander gegenüberstehen, sondern ein anderes: ein Jäger, der seinen Vorstoß macht, und eine Beute, die flieht oder sich versteckt.«81 Der Drohnenkrieg ist eine Form des Gegenhandelns, bei der mit dem Netzwerkkonzept ernst gemacht wird. Es werden Personen bevorzugt an den »Knotenpunkten des Netzwerks« identifiziert, die durch entsprechende Angriffe »ausgeschaltet« werden sollen.82 Er ist eine, wie Herfried Münkler kommentiert, »resymmetrierende Antwort« auf die asymmetrische Herausforderung des Terrorismus. »Was in der Strategie des Terrorismus der Selbstmordattentäter ist, ist in der ›westlichen‹ Reaktion die raketenbestückte Drohne. Das suizidale Selbstopfer wird technologisch gekontert.«83 Der Strategiewechsel vom Boden- zum Drohnenkrieg, das zeigen die empirischen Daten, wurde vor allem mit dem Präsidentschaftswechsel von George W. Bush zu Barack Obama im Januar 2009 vollzogen. Pakistan war mit insgesamt 319 Angriffen seit 2004 zahlenmäßig am häufigsten von Drohnenangriffen betroffen. Als ein neuer Brennpunkt der Drohnenangriffe gilt der Jemen. Mit dem Übergang der Regierung von Bush zu Obama verlagerte sich überdies auch der Schwerpunkt von »Personality«- hin zu »Signature«-Schlägen. Im Rahmen von »Signature Strikes« werden sogar Personen getötet, deren Identität nicht bekannt ist, deren Verhalten aber als verdächtig eingestuft wird. Die CIA meinte, Männer im wehrpflichtigen Alter, die in einer bestimmten Region großen Versammlungen beiwohnten oder Kontakte zu gefährlichen Terroristen hätten, könnten als Ziele für Drohnenangriffe betrachtet werden. Man kann auf verschiedene Weise verdächtig werden: indem man 78 79 80 81 82 83

Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 317. Amin Krishnan, Gezielte Tötung. Die Individualisierung des Krieges, Berlin 2012, S. 83. Stephen Graham, The Urban »Battlespace«. In: Theory, Culture & Society, 26 (2009), 7‑8, S. 278‑288, hier S. 282. Grégoire Chamayou, Ferngesteuerte Gewalt: Eine Theorie der Drohne, Wien 2014, S. 44. Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 199. Herfried Münkler, Aufklärungs- und Kampfdrohnen: Waffen zwischen Krieg und Frieden, Sicherheitspolitik-Blog (letzter Zugriff 15.4.2019).

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etwa mit bestimmten Personen E-Mail-Kontakt hat oder indem man in eine bestimmte Moschee geht. »Eine klare Identifizierung sei nicht nötig, nur einige ›Signaturen‹, die die CIA selbst entwickelt hatte, um Terrorverdächtige zu erkennen.«84 Bei Ersteren werden die vermeintlichen Anführer nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen zum Ziel des Angriffs, während Letztere viel weitergehend Terrorismus-Verdächtige, Drogenbarone oder als militant bezeichnete Zivilpersonen zum Ziel haben. Drittens: Um jedoch im Drohnenkrieg erfolgreich zu sein, braucht man Informationen über die Bewegungen und zeitweiligen Aufenthaltsorte des Gegners. Um einen vermeintlichen oder tatsächlichen Gegner »exekutieren« zu können, müssen die Roboterwaffen zuvor mit entsprechenden Daten programmiert worden sein. So kommt es nicht von ungefähr, dass der Krieg gegen den Terror mehr und mehr zu einer Angelegenheit des IT-Experten geworden ist. »Der Zweck besteht darin, die durch Entterritorialisierung unsichtbar gewordenen potenziellen Angreifer in Form von Kommunikationsüberwachung schließlich doch wieder erkennbar zu machen.«85 Die Überwachungs- und Kontrollsysteme sind darauf ausgelegt, potenziell jeden von uns zu identifizieren und zu überwachen, weil an die Stelle der staatlichen Akteure als militärische Gefahr Netzwerkorganisationen treten, die aus der Tiefe des sozialen Raums heraus agieren. So kann man möglicherweise erkennen, ob sich in bestimmten Regionen ein Ansteigen von Verbindungsfrequenzen registrieren lässt oder Zahlungsanweisungen zugenommen haben, um die Pläne terroristischer Gruppierungen zu durchkreuzen.86 Fast alles ist irgendwo gespeichert, und es kommt darauf an, die verschiedenen Datenspuren, welche die Individuen im Netz hinterlassen, zu verbinden. »We kill people based on metadata«, sagte der frühere NSA- und CIA-Chef Michael Hayden 2014.87 Wer die passenden Metadaten kennt, weiß, wohin er die tödliche Drohne schicken muss. Der Rechner wird, wie Zygmunt Bauman in Anlehnung an Michel Foucault sagt, zum »Minipanoptikum«.88 Dem Drohnenkrieg geht die kybernetische Steuerung der Gesellschaft voraus. Viertens: Schließlich verbirgt sich hinter dem Drohnenkrieg noch ein Präventionsaspekt. Der Wandel, der sich hier nachweisen lässt, ist die Verschiebung von konkreten Bedrohungen im Rahmen des Kalten Krieges über Verwundbarkeiten hin zu potenziellen Risiken. Diese Konstellation verändert freilich die Anforderungen an Politik. Denn wenn nicht nur vor konkreten Bedrohungen, sondern vor potenziellen Risiken geschützt werden soll, muss die Sicherheitspolitik viel früher aktiv werden. Ziel muss es nämlich sein, möglichst im Vorfeld ein Risiko zu identifizieren und zu entschärfen. Es 84 85 86 87

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Scahill, Schmutzige Kriege (wie Anm. 77), S. 311. Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 319. Münkler, Aufklärungs- und Kampfdrohnen (wie Anm. 83). Auch der Drohnenkrieg ist daher ein »Krieg im Dunkeln und im Geheimen, der dem herkömmlichen Krieg der Geheimdienste mehr ähnelt als dem klassischen Krieg des Militärs.« Münkler, Kriegssplitter (wie Anm. 1), S. 200. Zygmunt Bauman und David Lyon, Daten, Drohnen, Disziplin, Berlin 2013, S. 95.

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geht im Drohnenkrieg daher weniger darum, spezifische Angriffe zu erwidern, »als vielmehr die Entstehung neuer Bedrohungen durch die frühzeitige Ausschaltung ihrer potenziellen Agenten zu verhindern«.89 Fünftens: Es nimmt daher nicht wunder, dass der Drohnenkrieg nur eine Art Vorhut künftiger Entwicklungen ist, die im Cyberwar ihre Fortsetzung finden.90 Ähnlich wie mit dem sogenannten War on Terror verfolgen die Amerikaner auch mit Cyberwar eine breit angelegte Konzeption, die auch nachrichtendienstliche und polizeiliche Aspekte unter die Kriegsagenda einbezieht. Gerade die US-Streitkräfte haben auf die digitalen Herausforderungen der Kriegführung mit Errichtung eines militärischen Cyber Command neben Land, See, Luft und Weltraum reagiert und den Cyberspace zum fünften militärischen Operationsraum erklärt.91 Gleichzeitig erlebt die Diskussion – wie im Herbst 2010 in Zusammenhang mit dem Schadprogramm »Stuxnet« – eine bemerkenswerte rhetorische Aufrüstung im kriegsrelevanten Kontext:92 Die Rede ist von einer »new era of warfare«.93 Das gilt natürlich nicht nur für die Vereinigten Staaten von Amerika. Einer veröffentlichten Studie des United Nations Institute for Disarmament Research (UNIDIR) zufolge verfolgen 47 Staaten Cyberprogramme mit explizit militärischen Anteilen, wobei zehn dieser Staaten auch offensive militärische Planung betreiben.94 Nach jüngsten Untersuchungen der Europäischen Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) nehmen Sicherheitsvorfälle im Cyberraum mit alarmierender Geschwindigkeit zu. Daher legt die Europäische Union besonderes Augenmerk auf die kritischen Infrastrukturen, die sich weitestgehend in privater Hand befinden. 89

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Chamayou, Ferngesteuerte Gewalt (wie Anm. 81), S. 44. Weiterhin: Thomas B. Hunter, Targeted Killing. Self-Defence, Preemption and the War on Terrorism, Charleston 2009, S. 14: »Targeted Killing is, without question, a form of preemption. Its goal is to proactively eliminate terrorists before they have a chance to inflict harm on the affected state’s citizens and/or homeland.« Siehe z.B. Sandro Gaycken, Cyberwar: Das Internet als Kriegsschauplatz, München 2011; vgl. auch die Beiträge in: Ethik und Militär (wie Anm. 1). Roman Schmidt-Radefeldt und Christine Meissler, Automatisierung und Digitalisierung des Krieges. Drohnenkrieg und Cyberwar als Herausforderungen für Ethik, Völkerrecht und Sicherheitspolitik, Bonn 2012, S. 16. Ebd., S. 17: »›Der digitale Erstschlag ist erfolgt‹ – ›NATO rüstet sich für ComputerKriege‹ – ›Krieg im Cyber-Space‹ – ›Die neuen Cyberkrieger‹ oder ›Das Netz als Schlachtfeld‹. Wo sich die deutsche Politik jahrelang damit schwertat, den Bundeswehreinsatz in Afghanistan als ›Krieg‹ zu bezeichnen, erscheint die einhellige (und mediale Aufmerksamkeit heischende) Cyberkriegsrhetorik umso erstaunlicher.« United Nations Institute for Disarmament Research (UNIDIR), The Cyber Index – International Security Trends and Realities, Genf 2013 (= UNIDIR/2013/3), S. 91: »Many states are now developing national strategies to implement safer and more secure digital infrastructures. Some argue that humankind is entering ›a new era of warfare‹; others believe that militarization of the cybersphere is looming, including new kinds of cyberweapons. It is often argued by military thinkers that cyberspace is becoming the ›5th battlefield‹, after land, sea, air, and space.« Vgl. UNIDIR, The Cyber Index (wie Anm. 93). Ebenso: Thomas Reinhold, Cyberspace als Kriegsschauplatz? Herausforderungen für Völkerrecht und Sicherheitspolitik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 66 (2016), 35‑36, S. 22‑27.

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5. Rechtliche Probleme der »Verpolizeilichung des Krieges« Ausgangspunkt und Leitfaden unserer Darstellung der Debatte um die neuen Kriege war die Frage nach deren Nebenfolgen. Im letzten Punkt haben wir gesehen, dass asymmetrische Kriege für konventionelle Kräfte als stetiger Stachel wirken. Um asymmetrische Gewaltanwendung der Gegner zu beantworten und eine Gleichverteilung von Chancen herzustellen, gleichen sich staatliche Organe dem schwachen Gegner an. Wie substaatliche Akteure greifen Regierungsgewalten nun auf asymmetrische und damit unkonventionelle Kampfweisen zurück. Die Paradoxie besteht darin, dass sich die auf die Terrorismusbekämpfung fokussierten Sicherheitsbemühungen der konventionellen Sicherheitsbehörden ihrerseits zu einer Sicherheitsbedrohung entwickeln und die Legitimität des Staates aufs Spiel setzen. Die Techniken, die der Staat aufwendet, um der Sicherheitsrisiken Herr zu werden, stehen potenziell in Gefahr, sich immer mehr in solche zu verwandeln, die den gegnerischen Gewaltstrategien zum Verwechseln ähnlich sehen. Mit anderen Worten: Rechtlich befinden wir uns derzeit in einem hybriden, unscharfen Bereich. Aber worin besteht das Problem? Ich will hier in aller Kürze nur zwei rechtliche Problembereiche des Völkerrechts ansprechen. Erstens: Beim Vorliegen eines bewaffneten Konflikts kommt in der Regel das humanitäre Völkerrecht zur Anwendung.95 Bei Maßnahmen zur Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung (law enforcement) wird der Täter hingegen einer ordentlichen Strafgerichtsbarkeit überantwortet. Terroristen sind nach dieser Auffassung durch die Polizei und Justizbehörden abzuurteilen und nicht als Kombattanten oder als Kriegsgefangene zu behandeln. In bewaffneten Konflikten sind »gezielte Tötungen« unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Davon abhängig ist jedoch, welche Akteure der bewaffneten Auseinandersetzung zugerechnet werden: staatliche Regierungstruppen oder auch nicht-staatliche Akteure wie Aufständische oder Terroristen? Kritiker bemängeln, dass es sich bei den Zielen um Akteure handle, die keine Kombattanten im Sinne des Völkerrechts seien, sondern, streng genommen, kriminelle Zivilisten. Gezielte Tötungen wären dann quasi nichts anderes als der Vollzug einer Todesstrafe ohne Gerichtsurteil. Befürworter erwidern, bei Al-Qaida-Mitgliedern und anderen kriminellen Terrororganisationen handle es sich um Kombattanten im »globalen Krieg gegen den Terror«, was sie zu legitimen militärischen Zielen qualifiziere. Die USA interpretieren diesen Angriffstatbestand mit Rekurs auf das – eigentlich zwischenstaatlich wirkende – Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UNCharta seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sehr weitreichend. Rechtsfolge wäre, dass diese Personen – als Kombattanten – legitime Ziele von Gegenangriffen sein können. Als Ausgleich dazu müssten Kombattanten jedoch Kombattantenimmunität und den Kriegsgefangenenstatus genießen. 95

Ausführlich siehe Holzinger, Der Tod Osama bin Ladens (wie Anm. 16).

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Doch auch hier liegt ein rechtliches Problem vor: Denn viele mutmaßlichen Al-Qaida-Mitglieder oder Taliban-Kämpfer werden eben gerade nicht wie Kombattanten behandelt, sondern als »unrechtmäßige Kämpfer« ohne die Rechte eines Kriegsgefangenen inhaftiert. Offenkundig wird hier zweierlei völkerrechtliches Maß angelegt. Zweitens: Da der gesamte Drohnenkrieg von nachrichtendienstlichen Informationen abhängig ist, geht es überdies um die Grundrechte der Bürger.96 Die von Edward Snowden 2013 an die Öffentlichkeit gebrachten Dokumente zeigen, dass die amerikanische National Security Agency (NSA) und ihre Partnerdienste jede Form elektronischer Kommunikation überwachen wollen. Aus Unterlagen, welche die Bundesregierung dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zur NSA-Affäre vorgelegt hat, geht laut Medienberichten hervor, dass auch der Bundesnachrichtendienst (BND) der NSA jahrelang Daten deutscher Bürger illegal zugeleitet und hierzu einen Frankfurter Netzknoten der Deutschen Telekom, an dem Datenströme der Internetanbieter und Unternehmen zusammenkommen, illegal angezapft hat.97 Der Rechercheverbund hatte Informationen öffentlich gemacht, wonach der BND zwischen 2004 und 2007 in Frankfurt abgegriffene Daten an die NSA weitergeleitet haben soll. Damals hieß es aber, dass diese Daten deutsche Bürger nicht betroffen haben. Laut einer Recherche von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung forderte der Bundestags-NSAUntersuchungsausschuss infolge des damaligen Berichts neue Unterlagen an, die darauf hingedeutet hätten, »dass vermutlich weder die in Deutschland für Zugriffe auf Kommunikation zuständige G-10-Kommission noch das Parlamentarische Kontrollgremium von der Weitergabe der Daten an die NSA gewusst haben.« Ein Teil der abgezogenen Daten wurde an die NSA weitergeleitet.98 96 97

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Siehe Matthias Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt, Berlin 2009. Siehe dazu: BND leitete offenbar Daten deutscher Bürger an NSA, Welt Online, 3.10.2014 (letzter Zugriff 15.4.2019). Siehe dazu auch Matthias Bäcker, Der BND baut sich einen rechtsfreien Raum: Erkenntnisse aus dem NSA-Untersuchungsausschuss, Verfassungsblog (letzter Zugriff 15.4.2019). Generell dazu: Marcel Rosenbach, Holger Stark, Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung, München 2014. Medien: BND übermittelte jahrelang Daten an die NSA, Süddeutsche Zeitung, 4.10.2014, (letzter Zugriff 15.4.2019). Der Internet-Knoten DE-CIX in Frankfurt a.M. ist der größte Datenaustauschpunkt der Welt. Dort kommen die Datenströme der Internetanbieter und Unternehmen zusammen und werden auf dem Weg zu ihren jeweiligen Zieladressen weitergeleitet. Ausländische Geheimdienste haben nach Angaben der Betreiber definitiv keinen Zugriff. Der BND darf die Datenströme aber überwachen. In der Praxis sieht das offenbar anders aus. Um die Ausnahme der Auslandsüberwachung von den Vorgaben der G-10-Gesetzgebung in der Praxis umzusetzen, muss der BND zwischen reiner Auslandskommunikation und Kommunikation mit einer Verbindung zwischen Ausland und Inland unterscheiden. Diese Unterscheidung ist allerdings bei Internet-basiertem

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6. Schlussbemerkung Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes verbreitete sich die trügerische Erwartung, dass Kriege der Vergangenheit angehören würden. In der Hoffnung auf die kosmopolitische Weltgesellschaft wurde ein Bild vermittelt, nach dem die moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts automatisch in einen sozialen Raum des Friedens und der Zivilität hinübergleiten würde. Tatsächlich ging zwar die Ära des klassischen zwischenstaatlichen Krieges zu Ende. Aber die »neuen Kriege« trieben bereits ihr Unwesen und lösten die alten Gewaltdynamiken ab. Wie dieser Aufsatz zeigen sollte, ist für die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts ein Aspekt maßgeblich, auf den Christopher Daase wiederholt hingewiesen hat: Der symmetrische Krieg hat die Formalisierung der Normen und Regeln des Völkerrechts letztlich eher gestärkt. Asymmetrische Kriege rühren hingegen an die zentralen Normen und Regeln des internationalen Systems.99 Man könnte beispielsweise en detail zeigen, wie sich die USA im Krieg gegen den Terror mit ihrer neuen Sicherheitsdoktrin – spiegelbildlich zu ihrem nichtstaatlichen Gegner – immer weiter »aus der Völkerrechtsordnung verabschiedet« haben.100 Die Problematik der rechtlichen Einordnung des transnationalen Terroristen in ein bisher geltendes Schema zeigt sich an der Unschärfe der bisherigen Lösungsmöglichkeiten. Dort, wo die Grenzen zwischen innerer Sicherheit und Krieg verschwimmen, folglich auch die Grenze zwischen Polizei und Militär unklar wird, entsteht quasi ein rechtliches Vakuum. In dieser Perspektive, so hat Giorgio Agamben den Sachverhalt in einem schneidenden Kommentar zugespitzt, seien auch in westlichen Demokratien die staatlichen und rechtlichen Strukturen in einen »Prozess der Auflösung geraten«. Im »Krieg« gegen den Terror werde der Ausnahmezustand zunehmend »zur Regel«.101 Diese Entwicklung geht also mit einer Informalisierung des Rechts einher.102 Entgegen der im politischen und öffentlichen Diskurs verbreiteten »Weltgesellschaftsromantik« könnte man konstatieren, dass bei den neuen Kriegen in puncto Völkerrecht zunehmend neue Zonen von Unsicherheit, unklare Lagen zwischen Regel und Ausnahme entstehen. Insbesondere bezüglich der Übertragbarkeit des Völkerrechts auf den Drohnenkrieg und in den Cyberspace und die damit verbundenen Fragen nach den polizeilichen, militärischen oder geheimdienstlichen Zuständigkeiten stehen wir konzeptionell

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Datenverkehr technisch sehr schwierig zu operationalisieren. Gegen eine Verschärfung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses (G-10Gesetz) hat Amnesty Deutschland Verfassungsklage eingereicht. Daase, Kleine Kriege (wie Anm. 69). Münkler, Der Wandel des Krieges (wie Anm. 62), S. 280. Giorgio Agamben, Der Gewahrsam – Ausnahmezustand als Weltordnung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.4.2003, S. 33. Vgl. z.B. Holzinger, Der Tod Osama bin Ladens (wie Anm. 16).

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erst am Anfang.103 Ernst-Wolfgang Böckenförde kommentiert diese Sachlage so: »Für diesen Zwischenstatus haben wir noch keine Kategorien, sitzen da voll in der Falle und tragen das Dilemma auf dem Rücken der Soldaten aus.«104

Insofern birgt das in der deutschen Politik und ihrer Gesellschaft verbreitete Hadern mit dem Krieg – zwischen proklamierter »uneingeschränkter Solidarität« gegenüber dem US-amerikanischen Bündnispartner einerseits und dem Beharren auf der Einhaltung etablierter Rechtsnormen andererseits – erhebliche Irritationen und Widersprüche. Die Analyse der damit verbundenen Paradoxien könnte sich indessen aber als fruchtbarer erweisen als ein Festhalten am problematischen Paradigma eines »Krieges« im Ausnahmezustand.

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Ein ganzes Arsenal an Problemkomplexen sieht z.B. Thomas Reinhold durch die Virtualität des Cyberspace auf die militärischen Strategien zukommen, die mit der Reziprozität des symmetrischen Krieges nichts mehr zu tun haben dürften: Das betreffe etwa »das völkerrechtliche Gebot zum Gewaltverzicht und das Recht zur Selbstverteidigung nach Artikel 2 Ziffer 4 beziehungsweise Artikel 51 der UN-Charta sowie die Prinzipien der Angemessenheit und Proportionalität von militärischen Reaktionen: Was bedeutet »Anwendung von Gewalt« im Cyberspace? Wann handelt es sich bei Malware und diversen Cyberangriffshilfsmitteln und -methoden um eine »Waffe« – im militärischen Jargon als »Wirkmittel« bezeichnet? Wann kann von einem »bewaffneten Angriff« gesprochen werden?« Reinhold, Cyberspace als Kriegsschauplatz? (wie Anm. 94), S. 22‑27. Das Schadprogramm Stuxnet – im Juni 2010 wurde im Iran auf speziellen Industriesteuerungscomputern einer Urananreicherungsanlage eine Schadsoftware (Malware) entdeckt – »is viewed by many legal scholars as the equivalent of an ›armed attack‹ under international law because it did actual physical damage, rather than simply manipulating data«, UNIDIR, The Cyber Index (wie Anm. 93), S. xi. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Berlin 2012, S. 371.

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Eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Determinanten des Wandels in der deutschen Sicherheitspolitik seit 1990 Keine Frage, seit den frühen 1990er Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik einen weiten Weg zurückgelegt. Schrittweise ist die deutsche Politik in neue Verantwortungsbereiche eingetreten, in wiederholten Reformanstrengungen wurde versucht, die Streitkräfte auf den Stand der aktuellen und künftigen Anforderungen zu bringen, und die Beiträge zu internationalen Militäreinsätzen haben mit derzeit (im Jahr 2018) 18 zeitgleichen Missionen eine Dimension erreicht, die sich 1990 wohl keiner hätte träumen lassen. Seit 1991 und bis August 2017 waren insgesamt 408 932 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in 52 mandatierten Auslandseinsätzen unterwegs. Gleichwohl herrscht der Eindruck des Ungenügens. Obwohl die deutsche Vereinigung mehr als ein Vierteljahrhundert zurückliegt, wirkt noch immer vieles unfertig, unentschlossen oder unzureichend.1 Diesem Eindruck ist die deutsche Politik – Stichwort Münchener Sicherheitskonferenz von 2014 – mit der Willenserklärung entgegengetreten, künftig »früher, entschlossener und substanzieller« zu agieren.2

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2

Aus der Vielzahl der Stimmen vgl. Martin Sebaldt, Nicht abwehrbereit. Die Kardinalprobleme der deutschen Streitkräfte, der Offenbarungseid des Weißbuchs und die Wege aus der Gefahr, Norderstedt 2017; Joachim Jens Hesse, Auf dem Weg zu einer neuen Bundeswehr? In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 13 (2015), 1, S. 127‑151; Franz-Josef Meiers, Bundeswehr am Wendepunkt. Bundeswehr. Perspektiven deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, Wiesbaden 2016; Paul Taylor, Über den eigenen Schatten springen. Deutschland und die Zukunft der europäischen Verteidigung, Brüssel 2017 (= Friends of Europe, Report); Klaus Naumann, Ein zäher Wandel. Deutsche Sicherheits- und Militärpolitik. In: Erbe des Kalten Krieges. Hrsg. von Bernd Greiner, Tim B. Müller und Klaas Voß, Hamburg 2013 (= Studien zum Kalten Krieg, 6), S. 209‑226. Zum konzeptionellen Unterbau vgl. Christian Tuschhoff, Distanzverbreiterung vs. Gemeinschaftsbildung. Die Rolle von Medien und Denkfabriken bei der Verarbeitung der Rede von Bundespräsident Gauck. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 8 (2015), Sonderheft 6, S. 99‑122; Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch. Hrsg. von Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund (GMF), Berlin 2013.

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Auf diesem glatten Parkett sind seitdem eine Reihe von Schritten eingeleitet worden. Verkompliziert wurde der neuerliche Neubeginn freilich durch die weltund europapolitischen Erschütterungen der jüngsten Zeit, die mit der Häufung von Krisen, schockartig auftretenden Konfliktherden und einem Verfall internationaler Ordnungsstrukturen strategische Grundannahmen infrage gestellt haben. Die deutsche Sicherheitspolitik steht damit vor der Herausforderung, nicht allein »mehr vom Gleichen« zu verabreichen (bei den Streitkräften beispielsweise mittels »Trendwenden« in Personalausstattung, Finanzierung, Investitionsquoten oder Ausrüstung), sondern die nach 1990 nicht ohne Mühen und Verzögerungen renovierten Strukturen, Verfahren und Strategien einer weiteren tief greifenden Revision zu unterziehen.3 Nach den vielfachen Reformwellen der Vergangenheit ist das wenig verlockend. Umso mehr könnte nun die Illusion gedeihen, es reiche der Griff in den bewährten konventionellen Instrumentenkasten der Streitkräfte, um die »Rückorientierung« auf die Bündnisverteidigung, die seit 2014 in den Vordergrund der NATOBeschlüsse getreten ist, zu absolvieren. Ins Haus steht indessen ein ergebnisoffener Laborversuch, wie künftig konventionelle Fähigkeiten, asymmetrische (»hybride«) Herausforderungen und internationale Krisenbewältigung unter einen Hut zu bringen sind. Mit anderen Worten, die Anforderungen an die sicherheitspolitische Erneuerungs- und Gestaltungsfähigkeit, die sich nach 1990 bereits erhöht hatten, haben eine weitere Steigerung erfahren. Unter diesen Vorzeichen scheint es angebracht, im Folgenden an einige Determinanten – »Treiber« und »Bremser« – des sicherheitspolitischen Wandels zu erinnern, die nicht immer in den Blick geraten, wenn über dessen Schwerpunkte und Reichweiten, Belastungsproben und Unwägbarkeiten nachgedacht wird. Da ist zum einen das Paradigma der Sicherheit zu nennen, das die herkömmlichen Verteidigungsdoktrinen überlagert, zum anderen die alt-neuen Herausforderungen europäischer Mittellage, die wieder stärker zur Geltung gelangen, und zum dritten das spannungsreiche Verhältnis zwischen hard und soft power, das immer wieder das sicherheitspolitische Selbst- und Rollenverständnis deutscher Politik auf die Probe stellt. Alle drei Determinanten zeichnen sich durch ein hohes Maß an Unbestimmtheit aus, das die Staats- und Regierungskunst herausfordert; zugleich geben sie Auskunft über die Eigentümlichkeiten der deutschen strategischen und Sicherheitskultur; und schließlich helfen sie uns, die irritierenden Unfertigkeiten dieses Wandlungsprozesses zu verstehen. Diese Betrachtungen liefern die Grundlage, um in einem weiteren Schritt dem Ächzen der Wehrinstitutionen nachzulauschen, um die Veränderungen 3

Als Vorbote der kommenden »Konzeption der Bundeswehr« hat das »Bühler-Papier« dafür eine Reihe militärpolitischer Stichworte geliefert. Vgl. Erhard Bühler, Aktuelle Planung in der Bundeswehr: Anspruch und Ambition, 16.3.2017 (letzter Zugriff 15.4.2019); Johannes Leithäuser und Marco Seliger, Bis zu den Sternen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.4.2017.

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in der Balanceordnung der politisch-militärischen Beziehungen aufzuspüren. Abschließend folgt eine Betrachtung der politischen Kultur der Sicherheitsreformen. Entworfen wird damit eine Bewegungsstudie des Wandels, jedoch kein Protokoll der Reformagenden.4

1. Von der Verteidigung zur Sicherheit – und wieder zurück? Unter dem Eindruck der rund um Europa aufbrechenden Krisen und zum Teil offenen, zum Teil eingefrorenen Konflikte, der Rückorientierung der NATO auf Bündnis- und Landesverteidigung und des Abschieds von großflächigen Militärinterventionen mit aufgreifendem Gestaltungsanspruch scheint es so, als habe sich der sicherheitspolitische Impetus der letzten zwanzig Jahre verbraucht. Der Anspruch des Weißbuchs 2006, den Krisen »dort zu begegnen, wo sie entstehen«5, hat sich letztlich als unerfüllbar erwiesen, denn diese Krisen sind inzwischen vor und hinter der eigenen Haustür angekommen. Hat also das Sicherheitsparadigma, das sich seit Beginn der 1990er Jahre verstärkt Geltung verschafft hatte, seinen Zenit bereits überschritten? Eine solche Sicht unterschätzt die langfristigen Entwicklungstrends (nicht nur) der deutschen Sicherheitspolitik. Mit den frühen Voten der 1990er Jahre für ein erweitertes Sicherheitskonzept6 trat kein neues Paradigma in Erscheinung. Als Streben nach »kollektiver Sicherheit« und als Angebot »gegenseitiger Sicherheit« hatte sich das Konzept bereits seit der Zwischenkriegszeit angekündigt und wurde später während des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation allmählich durchgesetzt.7 Damit einher ging eine schleichende Relativierung der überkommenen und traditionell auf das Militär zentrierten Auffassung von Landes- oder Bündnisverteidigung, denn nun erschienen die nicht-militä4

5 6

7

Als Überblick der Reformkaskaden seit 1990 vgl. Arne Freiherr von Neubeck, Die Transformation der Bundeswehr von der Verteidigungs- zur Einsatzarmee, Dissertation Univ. Würzburg 2007; Ulf von Krause, Der Einsatz der Bundeswehr im Innern: Ein Überblick über eine aktuelle, kontroverse politische Diskussion, Wiesbaden 2017; Wilfried von Bredow, Sicherheit, Sicherheitspolitik und Militär, Wiesbaden 2015. Weißbuch 2006. Zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Berlin 2006, S. 23. Prominent beispielsweise Dieter Wellershoff, Mit Sicherheit. Neue Sicherheitspolitik zwischen gestern und morgen, Bonn 1999; als erste Dokumente Verteidigungspolitische Leitlinien für den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung (VPR). Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 26.11.1992; Weißbuch 1994. Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1994. Vgl. Christopher Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff, Frankfurt a.M. 2010 (= Work­ ing Paper Sicherheitskultur im Wandel, 1); Stefan Fröhlich, Der Sicherheitsbegriff wird mehrdimensional. Amerikanische Vorstellungen auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Ordnung. In: Zeitschrift für Politik, 40 (1993), 3, S. 285‑303. In militärhistorischer Perspektive auf die Weimarer Republik vgl. Michael Geyer, Aufrüstung oder Sicherheit? Die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik 1924‑1936, Wiesbaden 1980.

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rischen Voraussetzungen und Bedingungen eines wirksamen Schutzes von ähnlicher Bedeutung zu sein wie das militärische Potenzial. In der deutschen Politik nach 1990 schlug sich das vor allem in der Absichtserklärung nieder, Sicherheit sei fortan als eine »gesamtstaatliche« und »ressortgemeinsame« Aufgabe zu betrachten. Die Orientierung am Sicherheitsparadigma ist nicht unumstritten geblieben. Bis heute hat sie mit dem verbreiteten Vorbehalt zu rechnen, den Radius sicherheitsstaatlichen Handelns bis zur Wirkungslosigkeit zu überdehnen, die normativen und institutionellen Schranken – etwa zwischen den staatlichen Gewalten, zwischen inneren und äußeren Belangen, polizeilichen oder militärischen Zuständigkeiten – einzuebnen oder generell eine Vielzahl politischer Materien der Definitionshoheit der Sicherheitsvorsorge (»securization«; »Bellizismus«) zu unterwerfen.8 Dennoch scheinen Protagonisten wie Kritiker des sicherheitspolitischen Denkens in einer Hinsicht übereinzustimmen. Sie teilen den Befund, dass die Komplexität und die Verwundbarkeit hochindustrieller Gesellschaften dramatisch zugenommen haben. Die Anfälligkeit für vielfältige, oftmals diffuse und immer komplexe Risiken hat zu dem geführt, was Carl Friedrich von Weizsäcker bereits an der Wende zu den 1970er Jahren als »strukturelle Kriegsunfähigkeit« moderner Gesellschaften analysiert hatte.9 Während damals das Überleben in einer atomaren Konfrontation im Zentrum der Betrachtung stand, sind in den zeitgenössischen Risikolagen Resilienz, Widerstandskraft und Stabilität moderner Gesellschaften zu einem Desiderat geworden. Das Staatshandeln ist dadurch in eine Zwickmühle geraten. Einerseits gelten Prävention und Vorsorge als Leitmotive einer zeitgemäßen Sicherheitspolitik, andererseits hat die staatliche Gestaltungsfähigkeit innerhalb wie außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen abgenommen. Mit anderen Worten, auch die jüngere Veränderung der sicherheitspolitischen Konstellation und der verteidigungspolitischen Prioritäten hat das Sicherheitsparadigma nicht obsolet werden lassen. Der Wandel seit 1990 kann daher trotz aller Akzentwechsel als eine Kontinuität beschrieben werden, die eine Reihe exemplarisch gültiger Herausforderungen an das politische Handeln auf die Tagesordnung gesetzt hat. 8

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Vgl. Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50/2010), S. 9‑16; Security. A New Framework for Analysis. Ed. by Barry Buzan, Ole Wæver and Jaap De Wilde, London 1998. In historischer Perspektive auf die Vergesellschaftung der Gewalt und Totalisierung der Kriegführung vgl. Frank Reichherzer, »Alles ist Front!« Wehrwissenschaften in Deutschland und die Bellifizierung der Gesellschaft vom Ersten Weltkrieg bis in den Kalten Krieg, Paderborn [u.a.] 2012 (= Krieg in der Geschichte, 68). Vgl. Kriegsfolgen und Kriegsverhütung. Hrsg. von Carl Friedrich von Weizsäcker, München 1971; dazu: Durch Kriegsverhütung zum Krieg? Die politischen Aussagen der Weizsäcker-Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung«. Hrsg. von Horst Afheldt [u.a.], München 1972. Zur aktuellen Problematik vgl. Herfried Münkler und Felix Wassermann, Von der strategischen Vulnerabilität zur strategischen Resilienz. Die Herausforderung künftiger Sicherheitsforschung und Sicherheitspolitik. In: Perspektiven der Sicherheitsforschung. Beiträge aus dem Forschungsforum öffentliche Sicherheit, Frankfurt a.M. 2012, S. 77‑95.

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Die deutsche Sicherheitspolitik ist Schritt für Schritt dem Ressortzuschnitt auf das Verteidigungsministerium entwachsen. Spätestens nach der Ausweitung des Afghanistaneinsatzes 2003 bis 2006 und in Übereinstimmung mit der damaligen Meinungsbildung in NATO und EU wurde Kurs auf den Ausbau des integrierten, vernetzten oder auch gesamtstaatlichen Ansatzes genommen. Das musste Folgeprobleme bei Zuständigkeiten, Federführung, Koordination und Kooperation sowohl auf staatlicher Ebene wie mit den nicht-staatlichen Akteuren aufwerfen, die seitdem alle Anstrengungen des Umbaus begleiten.10 Ferner spitzte sich infolge der Ausweitung des geopolitischen Handlungsrahmens über das Bündnisgebiet und dann über Europa hinaus (»out-of-area«) das Problem der Entgrenzung von Reichweite und Geltungsansprüchen der Sicherheitsvorsorge zu. Beispielhaft ablesen ließ sich das am Streit um die Formulierung des damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, »Deutschlands Sicherheit« werde »auch am Hindukusch verteidigt«.11 Diese Formulierung mochte hingehen, um die Einsatzbegründung zu plausibilisieren, in der umstandslosen Zusammenziehung von »Verteidigung« und »Sicherheit« verbarg sich indessen die grundlegend neue Herausforderung des Sicherheitsparadigmas. Denn für die deutsche Beteiligung am Afghanistaneinsatz (wie auch anderswo) hatten andere als vitale oder gar existenzielle Interessen den Ausschlag gegeben, wie sie ansonsten in einem Verteidigungsfall aufgerufen worden wären. Ein beredtes Zeugnis davon gab der Umstand, dass alle Bundesregierungen davor zurückscheuten, Wehrpflichtige – die geborenen Vaterlandsverteidiger – in die Auslandseinsätze zu entsenden. Sicherheitsvorsorge gehorchte offenbar eigenen Regeln, und diese standen nicht nur quer zu den geografischen, sondern auch zu den institutionellen Grenzen des bisherigen Staatshandelns. Dass dies auch den geläufigen und normativ wie institutionell festgeschriebenen Gegensatz zwischen innerpolitischen und äußeren Zuständigkeiten betraf, rückte erst mit dem aufkommenden internationalen Terrorismus nach 2001 und seit den zunehmenden Cyberattacken seit 2014 verstärkt ins Blickfeld. Die Auseinandersetzungen um die Linienführung in der Sicherheitspolitik waren nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung um derartige Grenzmargen geprägt. Ging man nach 1990 nicht mehr von einer unmittelbaren Bedrohung der territorialen Integrität und Unversehrtheit Deutschlands aus und stellte man in Rechnung, dass der Primat des Militärischen in der Sicherheitspolitik nicht mehr ohne weiteres Bestand haben könne, entfielen zugleich die gewohnten Ableitungs- und Legitimationsgrößen für die einschlägi-

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11

Dazu vgl. Martin Zapfe, Sicherheitskultur und Strategiefähigkeit. Die ressortgemeinsame Kooperation der Bundesrepublik Deutschland für Afghanistan, Dissertation Univ. Konstanz 2011. Peter Struck, Die Bundeswehr – auf richtigem Weg, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 97. Sitzung, 11.3.2004, Erklärung der Bundesregierung, S. 8601 (letzter Zugriff 9.5.2017).

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gen Aufwendungen im Bundeshaushalt.12 Nicht allein die Kalkulation der für den Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) als notwendig erachteten Haushaltsmittel verlangten intelligente Begründung; in der Ära der »Friedensdividende« wurde die Bereitstellung von Truppenstärken, Ausrüstungen, Waffensystemen, Finanzaufwendungen und die Wehrform selbst zu einem Legitimationsproblem ersten Ranges. Mehr noch, mit Bezug auf das erweiterte Sicherheitsverständnis konnte zudem schlüssig argumentiert werden, dass Ausgaben und Ressourcen für zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung oder Entwicklungszusammenarbeit einer gleichwertigen Aufmerksamkeit und Zuwendung bedurften.13 Die aktuelle Debatte um die von der NATO-Ratstagung 2014 in Wales deklarierte Richtgröße, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für »Verteidigungsausgaben« auszugeben, ist nur ein jüngster Ausläufer dieser Problematik. Kurzum, in der neuen Sicherheitspolitik stellte sich zunehmend das Problem einer politischen und zugleich haushälterischen Balance zwischen den traditionellen Militärausgaben, den Aufwendungen für Prävention, Kooperation und Krisenbearbeitung sowie – das kam noch hinzu – dem steigenden Mittelbedarf für innere Sicherheit und Zivilschutz.14 Die Manövriermasse der Sicherheitspolitik nahm sichtlich zu, und damit erhielt auch die Frage nach der politischen Handlungs- und Führungsfähigkeit eine Dringlichkeit, die sich in der Bonner Republik so nicht gestellt hatte. Blockkonfrontation, Frontlage, deutsche Teilung, alliierte Vorbehaltsrechte und die weitgehende Delegation strategischer Kompetenzen (jenseits der Korpsebene) an die NATO hatten die Bundesrepublik auf einen Kurs indirekter und multilateraler Souveränitätsmaximierung verwiesen, der sich in Gestalt der später so genannten »Kultur der Zurückhaltung« einer »Zivilmacht« als stilprägend erweisen sollte. Diese Zurückhaltung wurde in den inner- und außereuropäischen Konflikten seit den 1990er Jahren zunehmend zum Problem. Was immer an deren Stelle treten sollte, verlangt war eine Klärung nationaler Interessen, Ambitionen und Prioritäten; ein Prozess, der seit den ersten Regierungserklärungen nach 1990 unter dem Stichwort einer »neuen« oder »erweiterten Verantwortung« firmierte. Im Regierungsstil blieb die Politik zunächst den überkommenen Mustern der Bonner Ära treu. Das sicherheitspolitische und militärische Engagement der Bundesrepublik – in Kambodscha oder Somalia, auf dem Balkan, im Kongo oder in Afghanistan – folgte dezidiert multilateralen Gesichtspunkten, hinter denen das erklärte Eigeninteresse oftmals soweit zurücktrat, dass Kritiker von einer regel12 13

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Vgl. Ulf von Krause, Die Bundeswehr als Instrument deutscher Außenpolitik, Wiesbaden 2013, S. 215; vgl. VPR 1992 (wie Anm. 6), Ziff. 25. Vgl. beispielsweise: Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Von der Bundesregierung beschlossenes politisches Strategiepapier, Berlin 2004; sowie »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern«. Leitlinien der Bundesregierung, Berlin 2017. Vgl. etwa Philip Rotmann, Mehr Ausgaben für Sicherheit. Brot und Bomben. In: Der Tagesspiegel, 28.3.2017.

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rechten »Multilateralismusfalle« sprachen.15 Die Taktik einer schrittweisen Gewöhnung an die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen (die sogenannte Salamitaktik), die gegenüber der deutschen Öffentlichkeit eingeschlagen wurde, tat ein Übriges, die sich aufstauenden Führungsprobleme in Politik und Militär zu kaschieren und auf Dauer zu stellen. Provoziert wurde damit eine anhaltende Ungleichzeitigkeit zwischen den Führungsebenen, denn Militärpolitik und Streitkräfteentwicklung bedurften strategischer Vorgaben und einer längeren Anlaufphase in Planung, Ausrüstung oder Beschaffung als die den kurzfristigen Schwankungen des Tagesgeschäfts folgende Politik. Ein Durchbruch zu einer nachhaltigen Strukturanpassung erfolgte erst seit den Bestandsaufnahmen und Empfehlungen der rot-grünen Koalition (1998‑2005), die dann, wiederum mit Verzögerungen, zu den Anstrengungen der »Transformation« der Bundeswehr, der Ausgestaltung des »vernetzten Ansatzes« und der Etablierung einer koordinierten zivilen Krisenprävention führte. Den Unterbau lieferte die allmähliche Straffung der militärischen Führungsorganisation, sowohl innerhalb der Streitkräfteorganisation (Stärkung des Generalinspekteurs mit den Erlassen von 2005 und 2012) als auch in der operativen Einsatzführung (Einsatzführungskommando seit 2001). Gleichwohl ist die deutsche Führungskultur eine Gefangene ihrer eigenen Pfadabhängigkeit geblieben, die mit der Orientierung an einer dezentralen Führungsorganisation und einem konsensorientierten Führungsverfahren in den politischen wie militärischen Strukturen – ein Erbe der »halb-souveränen« deutschen Regierungskonstruktion (Lewis J. Edinger) – immer wieder an Grenzen stieß.16

2. Ambivalenzen der Mittellage – eine sicherheitspolitische Zwickmühle Die Streitfrage, ob der sicherheitspolitische Wandel in den letzten 25 Jahren weit gekommen oder ob zu wenig zu spät erreicht worden sei, lässt sich nicht 15

16

Vgl. Markus Kaim, Deutsche Auslandseinsätze in der Multilateralismusfalle? In: Auslandseinsätze der Bundeswehr. Leitfragen, Entscheidungsspielräume, Lehren. Hrsg. von Stefan Mair, Berlin 2007 (= SWP-Studie, S 27), S. 43‑49; Winrich Kühne, Interessen, Kriterien und Probleme deutscher Beteiligung an Friedenseinsätzen. Wann? Wohin? Warum? In: Die Friedens-Warte, 82 (2007), 1, S. 23‑40. Catherine McArdle Kelleher, Defense Organization in Germany: A Twice Told Tale. In: Reorganizing America’s Defense. Leadership in War and Peace. Ed. by Robert J. Art, Vincent Davis and Samuel P. Huntington, Washington, DC 1985, S. 82‑107; Tom Dyson, Deutsche Verteidigungspolitik – ein Blick von Außen. In: Deutsche Verteidigungspolitik. Hrsg. von Ina Wiesner, Baden-Baden 2013, S. 373‑398; Timo Noetzel und Martin Zapfe, Den Einsatz im Fokus? Das Verteidigungsministerium und die Auslandseinsätze. In: Eine neue Sicherheitsarchitektur – Impulse für die nationale Strategiedebatte. Hrsg. von Robert Glawe, Berlin 2009 (= Wissenschaft und Sicherheit, 6), S. 187‑194; Lewis J. Edinger, West-German Politics, New York 1986.

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einfach beantworten; sie verweist auf das Hintergrundproblem der deutschen geopolitischen und -ökonomischen Konstellation in der Mitte des europäischen Kontinents.17 Dieser Herausforderung schien der Bonner Teil- und Frontstaat entkommen zu sein. Obwohl in riskanter Lage, befand sich die alte Bundesrepublik in eindeutigen Verhältnissen. Sie war Importeurin bündnispolitischer Sicherheitsleistungen, Landes- und Bündnisverteidigung fielen unmittelbar zusammen, und bei Anfragen zu auswärtigen Bundeswehreinsätzen – etwa im Rahmen der UN – hielt man sich weitgehend bedeckt.18 Nachfragen richteten sich vornehmlich an die Lastenteilung im Bündnis, die Kompatibilität von Abschreckung und Entspannung oder an die deutsche Bereitschaft, die militärischen Modernisierungsvorhaben des Bündnisses (»Nachrüstung«) mitzutragen. Durch die deutsche Vereinigung ergab sich eine neue sicherheitspolitische Lage. Jetzt wurden eigene und substanzielle deutsche Beiträge zur kollektiven Sicherheit – und nicht nur »Scheckbuchdiplomatie« – erwartet und nachgefragt. Während die Landesverteidigung nun hinter die Bündnisverteidigung und diese hinter die Kriseneinsätze am Rande oder außerhalb Europas zurücktrat und sich nach der Jahrtausendwende ein dramatischer Ordnungsverfall in den internationalen Beziehungen ankündigte, blieb die deutsche Haltung vielfach unbestimmt, reaktiv oder defensiv. Das hatte außen- wie auch innenpolitische Gründe, in denen die geopolitische Klemme zum Ausdruck kam, in der die deutsche Politik steckte. Nahm sie Führungsverantwortung wahr, riskierte sie Widerspruch in der eigenen Bevölkerung, konnte aber auch nicht sicher sein, ob ihre Beiträge innerhalb und außerhalb Europas immer und ohne Weiteres akzeptiert wurden.19 Enthielt sie sich der Teilnahme an Kriseneinsätzen (Irak 1991 und 2003; Libyen 2011; Syrien 2014), geriet sie mit ihrem multilateralen Credo in Konflikt; beteiligte sie sich indessen – mit Vorbehalten – an Auslandsmissionen, so wurde sie mit dem Vorwurf ihrer Partner konfrontiert, die Risiken der Kampfeinsätze zu scheuen. Begab sie

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18

19

Vgl. dazu Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015; Hans Kundnani, German Power. Das Paradox der deutschen Stärke, München 2016; Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994; Gregor Schöllgen, Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, München 2003. Vgl. Thomas Maulucci, Die Regierung Schmidt und die Frage der Out-of-Area-Einsätze der Bundeswehr, 1974‑1982. In: Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Detlef Junker. Hrsg. von Manfred Berg und Philipp Gassert, Stuttgart 2004, S. 521‑541; Nina Philippi, BundeswehrAuslandseinsätze als außen- und sicherheitspolitisches Problem des geeinten Deutschland, Frankfurt a.M. 1997. Vgl. Martin Zapfe, Nach Kabul und Krim – Deutschland in NATO und EU. In: Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke. Hrsg. von Rainer L. Glatz und Rolf Tophoven, Bonn 2015 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1584) S. 326‑341.

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sich aber in Kampfeinsätze, hatte sie mit einer starken Ablehnungsfront in Deutschland zu rechnen.20 Das alles mochten atmosphärische Dissonanzen sein, aber das Spannungs- und Konfliktpotenzial einer neuen Mittellage fand auch in den Strukturen des sicherheitspolitischen Wandels seinen Niederschlag. Ursächlich dafür waren die changierenden Selbst- und Rollenbilder deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die wiederum auf den internationalen Kontextwandel reagierten.21 Vor diesem Hintergrund fiel es schwer, nationale Interessen und Ambitionen zu definieren, die Kombinatorik von soft und hard power strategisch und klug zu kalkulieren oder Zwecke, Ziele und Mittel der Sicherheitspolitik in dauerhafte Übereinstimmung zu bringen. Paradigmatisch für dieses Spannungsverhältnis war die immer wieder umstrittene Gewichtung zwischen Landesverteidigung, kollektiver Verteidigung und Krisenmanagement, also zwischen dem – wie es hieß – wahrscheinlichsten und dem grundlegenden Fall der Fälle. Das war kein Streit um Worte, sondern um Strukturen, Fähigkeiten und Ressourcen. Diese aber konnten (und sollten) nur im Einvernehmen mit dem Bündnis entwickelt werden. Das verwies wiederum auf eine Klärung der deutschen Rolle, und deren Anspruchsniveau wurde bis hinein in die Kalkulation von Truppenstärken und die Bestimmung des Level of Ambition mit den Potenzialen Frankreichs oder Großbritanniens verrechnet. Die Formel »Breite vor Tiefe«, welche die Bundeswehrreformen als ein unverzichtbares Credo begleitete, glich insofern einem geopolitischen Statement. Sie signalisierte Unentschiedenheit und zugleich den Anspruch einer europäischen Führungsmacht, die freilich zur Einlösung ihres Geltungsanspruchs dringend auf die Kooperation mit den Bündnispartnern angewiesen war.22 Insofern lag es nahe, dass die deutsche Politik zunächst eine zentristische Haltung einnahm, als im Umfeld der NATO-Ratstagung von Wales 2014 über die Gewichtung »östlicher« und »südlicher« Präferenzen, also zwischen dem Vorrang der Bündnisverteidigung an der osteuropäischen Peripherie beziehungsweise der Bedeutung des Krisenengagements im mediterraneren Nachbarschaftsraum, debattiert wurde. Diese Haltung bestimmt auch die gegenwärtige Bundeswehrplanung, verleiht ihr aber eine gewisse 20

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22

Eine Übersicht über die deutschen Vorbehalte in den Auslandseinsätzen gibt FranzJosef Meiers, Von der Scheckbuchdiplomatie zur Verteidigung am Hindukusch. Die Rolle der Bundeswehr bei multinationalen Auslandseinsätzen 1990‑2009. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 3 (2010), 2, S. 201‑222. Vgl. Gunther Hellmann, Im offensiven Mittelfeld – Deutschlands neue SpielmacherRolle in der europäischen Politik. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 8 (2015), Sonderheft 6, S. 473‑491. Vgl. Franz-Josef Meiers, Aufbau, Umbau, Abbau: die Neuausrichtung der Bundeswehr. In: Österreichische Militärische Zeitschrift, 50 (2012), 3, S. 286‑295; Christian Mölling, Wege aus der europäischen Verteidigungskrise. Bausteine für eine Verteidigungssektorreform, Berlin 2013 (= SWP-Studien, S 08); Marcel Dickow und Hilmar Linnenkamp, Breite vor Tiefe. Eine Fessel deutscher Verteidigungs- und Kooperationsplanung? Berlin 2016 (= SWP-Aktuell, 38).

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Doppelbödigkeit.23 Denn verbal hält die derzeit (2018) absehbare Konzeption der Bundeswehr an der »Gleichgewichtigkeit« von Bündnisverteidigung und Krisenengagement fest, lässt im Weiteren aber erkennen, dass den Fähigkeiten zur Bündnisverteidigung in konventionellen Szenarien letztlich Vorrang eingeräumt werden soll. Die Konsequenz kann sein, dass bei eskalierenden Auslandsmissionen, die mit »Missionspaketen« aus dem selben Kräftedispositiv bedient werden sollen wie die Bündnisverteidigung, Aufstellung wie Durchhaltefähigkeit auf ähnliche Engpässe stoßen werden wie schon in den 1990er Jahren.24 Vergleichbare Tücken signalisiert auch das Konzept der »Rahmennation«, mit dem sich die deutsche Sicherheitspolitik in richtiger Erkenntnis ihrer Stärken und Schwächen des Zusammenwirkens der verbündeten Streitkräfte versichern will. In ihrer künftigen Funktion als »Ankerarmee« übernähme die Bundeswehr nicht allein indirekte Verantwortung für die Koentwicklung verbündeter Streitkräfte; die deutsche Politik würde zudem mit der Rückfrage konfrontiert werden, ob der eingenommenen Führungsrolle die Verbindlichkeit der eigenen Beiträge entspräche oder ob diese – abhängig vom Koalitionswillen und den geltenden Regelungen des Parlamentsvorbehalts – fallweise zur Disposition stünden.25 – Kurzum, die Fallstricke einer »Macht in der Mitte« (Münkler) bleiben eine dauerhafte Begleiterscheinung der sicherheitspolitischen Entwicklungen.

3. Hard und/oder Soft Power – das Legitimationsproblem der Streitkräfte Unterscheidet man mit Herfried Münkler zwischen verschiedenen – politischen, ökonomischen, kulturellen und militärischen – Machtsorten, so war es insbesondere die Letztgenannte, die zum Gegenstand wiederholter

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24 25

Vgl. dazu Rainer L. Glatz und Martin Zapfe, Ambitionierte Rahmennation. Deutschland in der NATO. Die Fähigkeitsplanung der Bunddeswehr und das »Framework Nation Concept«, Berlin 2017 (= SWP-Aktuell, 62); Claudia Major und Christian Mölling, Das Rahmennationen-Konzept. Deutschlands Beitrag, damit Europa verteidigungsfähig bleibt, Berlin 2014 (= SWP-Aktuell, 67). Vgl. die Klagen in: Bestandsaufnahme. Die Bundeswehr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn, 3. Mai 1999. Die Rühe-Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte (Bericht Juni 2015) hat hier keine Klärung gebracht. Allerdings hat der Bundestag zwischen 1994 und 2015 allen 138 Anträgen der Bundesregierung zum Einsatz bewaffneter Kontingente zugestimmt. Wenn es Abstinenzen gab, gingen sie von den Bundesregierungen aus und führten gar nicht erst zu Mandatsdiskussionen. Unterrichtung durch die Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Abschlussbericht der Kommission. Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode Drucksache 18/5000, 16.6.2015, online einsehbar über (letzter Zugriff 8.1.2015).

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Kontroversen wurde.26 So stabil das öffentliche Vertrauen in die Institution Bundeswehr in den letzten 25 Jahren auch geblieben ist, die Zustimmung bröckelte, sobald die Streitkräfte massive militärische Gewalt zum Einsatz brachten. Den nicht unbegründeten Vorbehalten wurde jedoch seitens der Politik nicht offensiv und argumentativ entgegengetreten; vielmehr führten die öffentlichen Aversionen – bisweilen reichte ihre bloße Antizipation aus – zu einer langlebigen Praxis der Beschönigungen und verbalen Kosmetik, die selbst dann aufrechterhalten wurde, als die Lageentwicklung längst eine ganz andere Qualität gewonnen hatte.27 Nicht nur das, auch die deutschen Einsatzmandate und die Rules of Engagement für die Truppe wurden restriktiv formuliert, eine ungeschminkte Berichterstattung unterblieb, und auf die offizielle Auswertung und Evaluierung der Missionen wurde weitgehend verzichtet. Der fehlenden Akzeptanz der Einsatzpolitik durch die deutsche Bevölkerung war so nicht zu begegnen. Ebenso bedeutsam war ein indirekter Effekt der politischen Legitimationsschwäche. Durchgängig scheute die deutsche Politik davor zurück, Sinn, Nutzen und die Nützlichkeit des »robusten« Einsatzes militärischer Gewalt fallbezogen, aber auch grundsätzlich zum Gegenstand öffentlicher und politischer Erörterung zu machen.28 Dabei drängten die im Einzelnen respektablen, aufs Ganze gesehen aber wenig nachhaltigen Beiträge des Militärs zur Befriedung, Sicherheit und Stabilisierung in den Einsatzgebieten geradezu danach, diese Problematik zu klären. Das wäre nicht allein im Hinblick auf das öffentliche Verständnis und Wohlwollen unumgänglich gewesen. Zugleich hätte man dadurch Anstöße gegeben, die Rolle und Aufgaben der Streitkräfte konkret zu bestimmen; eine Problemstellung, die in der militärischen Publizistik des verbündeten Auslands hohe Beachtung gefunden hat.29 Die Haltung der deutschen Regierung machte hingegen deutlich, wie brisant das Verhältnis von hard und soft power war. Wurden die Chancen 26 27

28

29

Vgl. Münkler, Macht in der Mitte (wie Anm. 17); Kerry Longhurst, Germany and the Use of Force, Manchester, New York 2004. Als ein Beispiel unter vielen: vgl. Rainer L. Glatz, International Security Assistance Force (ISAF) – Erfahrungen im Afghanistaneinsatz. In: Am Hindukusch – und weiter? (wie Anm. 19), S. 60‑77, hier S. 76, Anm. 11: Noch im März 2008 versicherte der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung, die Lage im Norden Afghanistans sei aufgrund eigener Erfolge sicherer geworden. Dem widersprach der damalige ISAF-Kommandeur General McKiernan. In keinem Fall wurden die Weißbücher von 1994, 2006 und 2016 zum Anlass einer gründlichen sicherheits- und militärpolitischen Klärung in der Öffentlichkeit genommen; die Mandatierung der laufenden Einsätze führte bereits in den 1990er Jahren binnen Kurzem zu Parlamentsroutine. Generell bildete das Parlament kein wirksames und kritisches Kontrollinstrument gegenüber der Bundesregierung. Vgl. Ulf von Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr. Politischer Entscheidungsprozess mit Eskalationsdynamik, Wiesbaden 2010. Vgl. beispielsweise Rupert Smith, The Utility of Force. The Art of War in the Modern World, New York 2007; Modern War and the Utility of Force: Challenges, Methods and Strategy. Ed. by Jan Angstrom and Isabelle Duyvesteyn, New York 2010; Emile Simpson, War from the Ground Up. Twenty-First-Century Combat as Politics, London 2012.

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und Tücken des vernetzten Ansatzes erörtert, blieb das militärische Gewaltpotenzial stets ein sensibles Reizthema (nicht zuletzt zwischen den einschlägigen Ministerien) und fand daher eine nur geringe konzeptionelle Aufmerksamkeit.30 In den militärpolitischen Fachdiskussionen bis hinein in die Planungspapiere standen hingegen Strukturfragen der Organisation, Gliederung, Fähigkeitsentwicklung und Ausrüstung im Mittelpunkt. Darüber hinaus gingen jedoch die Überlegungen zur »Aufstandsbewältigung« (2009 bis 2013), die Vorarbeiten zu den »Einsatzrichtlinien der Bundeswehr« (Entwurf September 2015) oder die Konzepte der »Ertüchtigungsinitiativen«, die sich mit der neuen Realität eines »komplex-dynamischen Einsatzumfeldes« auseinandersetzten und damit zugleich der Vielfalt der Akteursgruppen in den Konfliktgebieten vermehrte Aufmerksamkeit schenkten.31 Auf der Führungsebene wiederholten sich jedoch – in abgemilderter Form – jene Ungleichzeitigkeiten, die schon das Verhältnis von politischer Führung und militärpolitischer Planung geprägt hatten. Es war allemal leichter, sich (unter den Stichworten »Zeit kaufen« oder »befähigen«) auf eine subsidiäre Rolle des Militärs zu verständigen, als sich politisch-strategisch darüber zu einigen, worin die Rolle des Militärs und der Beitrag militärischer Zwangsgewalt in den komplexen Krisenszenarien bestehen konnte. Infolgedessen entwickelte sich eine weitere Diskrepanz zwischen den konkreten Lernprozessen in den Einsatzgebieten und der Ausformulierung und Operationalisierung von Regelwissen und Führungspraktiken.32 Eine Klärung der Frage, wie mittels unterschiedlicher Wirkmittel und Handlungsstrategien lokale Konfliktprozesse positiv beeinflusst werden kön30

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Dafür stehen offizielle Zeugnisse wie der Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung«. Hrsg. von der Bundesregierung, Berlin 2004. Siehe weiterhin die vom Auswärtigen Amt, den Bundesministerien der Verteidigung und für Wirtschaftliche Zusammenarbeit herausgegebenen Leitlinien: »Für eine kohärente Politik der Bundesregierung gegenüber fragilen Staaten – Ressortübergreifende Leitlinien«, Berlin 2012. Ferner: Review Prozess 2014. Hrsg. vom Auswärtigen Amt (letzter Zugriff 4.1.2018). Auch die jüngsten Leitlinien der deutschen Bundesregierung »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« (wie Anm. 13) sind im Kleingedruckten nicht frei davon. Vgl. Klaus Naumann, Der blinde Spiegel. Deutschland im Afghanischen Transformationskrieg, Hamburg 2013, S. 83‑97; Klaus Naumann, Ein Dachdokument ohne Dach. Konfliktbilder, vernetzter Ansatz und die Einsatzrichtlinien der Bundeswehr. In: Jahrbuch Innere Führung 2016. Hrsg. von Uwe Hartmann und Claus von Rosen, Berlin 2016, S. 57‑74; Dyson, Deutsche Verteidigungspolitik (wie Anm. 16); Noetzel/ Zapfe, Den Einsatz im Fokus? (wie Anm. 16). Festzuhalten ist, dass das ErtüchtigungsKonzept Eingang in das Weißbuch 2016 gefunden hat. Vgl. Weißbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Berlin 2016. Beispielsweise war es nicht möglich, ein ressortgemeinsames Konzept für die Zusammenarbeit in den Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan zu entwickeln. Die Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« (wie Anm. 13) von 2017 bieten jetzt Instrumente der Ressortkoordinierung an, beschränken sich aber letztlich auf die Absichtserklärung, die »bestehenden Mechanismen [... zu] überprüfen und weiter[zu]entwickeln«, ebd., S. 110‑113, Zitat S. 113.

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nen, ist ein konzeptionelles wie praktisches Desiderat geblieben. Im Hinblick auf das Selbstverständnis des Militärs ist eine Verständigung umso dringender, als mit der Zuspitzung des Afghanistaneinsatzes nach 2004/05 die innermilitärischen Erfahrungen mit dem »scharfen Ende« des heißen Gefechts in den Vordergrund drängten und den Eindruck vermitteln konnten, hier sei – endlich – der profilbildende Kern des Soldatenberufs freigelegt worden. Verstärkt wird diese Tendenz möglicherweise durch die Rückorientierung von NATO und Bundeswehr auf die Bündnisverteidigung im osteuropäischen Teil des Vertragsgebietes. Sowohl die – notwendige – Ausrichtung auf Operationen in Großverbänden als auch die futuristischen Überlegungen der Heeresführung zur digitalisierten Kampfführung können dem Eindruck Vorschub leisten, man habe es künftig (wieder) vorrangig mit konventionellen Szenarien oder gar mit einem »leeren Schlachtfeld« zu tun, aus dem nun auch der Soldat verschwunden sei.33 Den realen Herausforderungen aktueller Abschreckung unter den Bedingungen hybrider Konfliktstrategien ist damit freilich nicht beizukommen.34 Kurzum, das Spannungsverhältnis in der Mischung und Verabreichung von Machtsorten zog und zieht sich als ein weiteres Strukturproblem durch die gesamte Sicherheitspolitik.

4. Das Ächzen der Institutionen – Sicherheitspolitische Checks & Balances Wenig verwunderlich war, dass der Übergang von einer reinen Verteidigungsstruktur zur globalen Sicherheitsvorsorge unter deutschen Bedingungen besondere Belastungen mit sich brachte. Eine aus historischen Erfahrungen erwachsene und an den bündnispolitischen Anforderungen des Kalten Kriegs ausgestaltete Wehrordnung sah sich nach 1990 gänzlich neuen Konstellationen ausgesetzt. Nun konnten die institutionellen Arrangements, auf denen die imponierende Stabilität der politisch-militärischen Beziehungen fast 40 Jahre lang beruht hatte, selbst zum Problem werden. Die Stärke, aber auch die prospektive Schwäche dieser Ordnungsstrukturen hat Franz-Josef Meiers treffend beschrieben: »Im Fall der Bundesrepublik gibt es eine strukturelle Übereinstimmung zwischen der Einhegung staatlicher Autonomie durch die Einbindung in multila-

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Vgl. das Thesenpapier der Heeresführung »Wie kämpfen die Landstreitkräfte künftig?« Dieses Dokument wird referiert in: Marco Seliger, Mit Drohnenschwärmen das Siegen lernen. In: FAZ, 18.10.2017; Marco Seliger, Krieg der Zukunft. In: loyal, 11/2017, S. 20‑23. Vgl. Martin Zapfe, Deterrence fromt the Ground Up. Unterstanding NATO’s Enhanced Forward Presence. In: Survival, 59 (2017), S. 147‑160.

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terale Integrationsstrukturen nach außen bzw. durch horizontale und vertikale Gewaltenverschränkung nach innen.«35

In der Wehrverfassung der alten Bundesrepublik kam dieses Entsprechungs­ verhältnis in der bündnispolitischen Vollintegration der Bundeswehr, der politisch-parlamentarischen Kontrolldichte gegenüber dem Militär und in dezentralisierten Leitungs- und Führungsstrukturen in Ministerium und Streitkräften zum Ausdruck. Hierum entwickelte sich ein stabiles Regelwerk, das hier kurz rekapituliert werden soll, um die institutionellen Spannungsmomente des strukturellen Wandels zu identifizieren. Der Primat der Politik gegenüber den Streitkräften war in der Wehr­ reform der 1950er Jahre erstmals in der deutschen Geschichte parlamentarisch und rechtsstaatlich konsequent durchgesetzt worden; als »Sicherheitsimporteurin« aber hatte die Bundesrepublik auf die Entwicklung eigener strategischer Kompetenzen und entsprechender Führungsfähigkeiten (wie einen »Generalstab«) verzichtet. Die soziale und politische Integration des Soldaten war gelungen; geschuldet war das dem Modell des Staatsbürgers in Uniform, das jedoch – jenseits seiner Rechtsgrundlagen – eng an Wehrpflicht und Landesverteidigung gebunden war. Der Soldatenberuf war zu einem »Beruf wie jeder andere« entschärft worden, aber das konnte nur solange vorhalten, wie die Hauptaufgabe der Bundeswehr darin bestand, durch Abschreckung zur Kriegsverhinderung beizutragen. Die Drohkulisse der nuklearen Konfrontation schweißte Zivilbevölkerung und Streitkräfte zusammen, aber diese Risiko- und Schicksalsgemeinschaft blieb an die Prämissen von Blockkonfrontation und Frontstaatlichkeit gebunden. Würde der Radius der »Sicherheitsproduktion« anders gezogen, mussten sich neue Fragen an die Akzeptanz und Legitimation der Bundeswehr stellen. Diese selbst war als konventionelle Verteidigungsarmee konzipiert und aufgebaut worden; sie war Instrument der existenziellen Kollektivnotwehr gegen einen potenziellen Aggressor. Dieser Daseinszweck kam in Strukturen, Fähigkeiten, Ausrüstung, Umfang und Soldatenbild zum Ausdruck, sodass jegliche Veränderung oder Ausweitung ihres Auftrags einen »Wesenswandel der Bundeswehr« (Heiko Biehl) provozieren musste.36

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Franz-Josef Meiers, Zu neuen Ufern? Die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer Welt des Wandels 1990‑2000, Paderborn [u.a.] 2006, S. 75. Zum Folgenden vgl. Klaus Naumann, Monopolisierung der Gewalt und Praxen des Vertrauens. Zum stillen Wandel der bundesdeutschen Sicherheitsinstitutionen. In: Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Bielefeld, Heinz Bude und Bernd Greiner, Hamburg 2012, S. 610‑631; Naumann, Ein zäher Wandel (wie Anm. 1); Elmar Wiesendahl, Was bleibt und was sich ändern muss an einer Inneren Führung für das 21. Jahrhundert. In: Innere Führung für das 21. Jahrhundert. Die Bundeswehr und das Erbe Baudissins. Hrsg. von Elmar Wiesendahl, Paderborn [u.a.] 2007, S. 155‑166; Heiko Biehl, Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee. Konturen eines gehemmten Wandels. In: Streitkräfte im Einsatz: Zur Soziologie militärischer Interventionen. Hrsg. von Gerhard Kümmel, Baden-Baden 2008, S. 9‑20. Biehl, Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee (wie Anm. 35), S. 10.

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Der Übergang zur Sicherheitsvorsorge setzte eine Vielzahl der bislang hochstabilen Arrangements unter einen Anpassungsdruck. Während die Komponenten des Wehrgefüges in der Bonner Ära erkennbar – und trotz aller Konflikte – ineinandergriffen, gewannen nun zentrifugale Tendenzen an Gewicht. Zuerst einmal war die existenzielle Klammer zwischen Bevölkerung und Streitkräften mit dem Ende der Blockkonfrontation aufgebrochen. Die Aussetzung der Wehrpflicht, das Verschwinden der Bundeswehr aus der Fläche und die abnehmende öffentliche Sichtbarkeit der Truppe veränderten die Bedingungen und Formen gesellschaftlicher Integration. Von einem »Spiegelbild der Gesellschaft« konnte fortan nicht mehr umstandslos gesprochen werden. Der Abstand zur Gesellschaft wuchs, während sich für die Einsatzarmee, die jetzt ausdrücklich als »Instrument« der deutschen Sicherheitspolitik und nationaler »Selbstbehauptung« begriffen wurde, der Abstand zur Politik verringerte.37 Bemerkbar machte sich das, wenn Auftragslagen, Einsatzziele und -orte nicht zweifelsfrei mit vitalen deutschen Interessen begründet werden konnten. Das Militär folgte dann den politischen Mandaten und militärischen Aufträgen, während in der deutschen Öffentlichkeit recht unterschiedliche, ja gegensätzliche Meinungen vertreten wurden. Jedenfalls war die Eindeutigkeit des Verteidigungsfalls nicht mehr gegeben, und die prozedurale Legitimation der Einsätze durch parlamentarische Mandate übersetzte sich nicht automatisch in öffentliche Zustimmung. Davon blieb die Stellung des Soldaten nicht unberührt. Von der Truppe wurde der gesellschaftliche Rückhalt vermisst und eingefordert, während zugleich die Erfahrungswelten von Zivilbevölkerung und Einsatzsoldaten auseinandertraten und das lang gepflegte Wunschbild eines »Berufs wie jeder andere« verblasste. Obendrein war die Bundeswehr als eine Einsatz-, Freiwilligenund Berufsarmee neuen Fragen nach ihrer Identität, Professionalität und Tradition ausgesetzt, die sich nur in Auseinandersetzung mit – oftmals konkurrierenden – Leitbildern, Rollendefinitionen und Selbstentwürfen klären lassen würden. Die Irritationen, die von dem schleichenden Wandel der bisherigen Selbstverständlichkeiten ausging, strahlten aus auf die politisch-militärischen Institutionen und Verfahren. Man musste sich Gedanken darüber machen, wie das mit den ausgreifenden Herausforderungen einer »aus den Fugen geratenen« neuen Welt- und Sicherheitsordnung, mit den überkommenen deutschen Rollenbildern und mit den militärischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Ein Springpunkt der fälligen Neujustierungen berührte das Verhältnis von Exekutive und Legislative, ein zweiter betraf die Verknüpfung zwischen Kanzleramt, Kabinett und Ministerverantwortung, ein weiterer die Führungsstrukturen in den Streitkräften.

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Wiesendahl, Was bleibt (wie Anm. 35), hat etwas überspitzt von einer »Verstaatlichung der Armee« gesprochen (ebd., S. 163).

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Bahnbrechend für die erstgenannte Problematik war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bezüglich der Auslandseinsätze. Jenseits der Erleichterungen über die gewonnene Handlungssicherheit von Regierung und Parlament war unübersehbar, wie schwerfällig den geschriebenen und ungeschriebenen Implikationen des Gerichtsspruchs Folge geleistet wurde.38 Allein der Weg zum Parlamentsbeteiligungsgesetz nahm zehn Jahre in Anspruch, obwohl sich die Einsatzmandate inzwischen um ein Vielfaches vermehrt hatten. Die Mandatierung der Missionen an die Komplexität ihrer militärisch, politisch und zivil ausgelegten Aufgabenstellung anzupassen, gelang jedoch auch in der Folgezeit nicht. Der eifersüchtig gehütete Parlamentsvorbehalt reichte nicht aus, die sorgfältige und ungeschminkte Unterrichtung des Bundestages zu erzwingen. Als Korrektiv und kritische Instanz der laufenden Einsätze fiel das Parlament weitgehend aus und verschrieb sich bald routinemäßigen Mandatsverlängerungen. Auswertungen und Evaluierungen laufender wie abgeschlossener Missionen wurden nicht durchgesetzt; sie finden sich erst jetzt als Willenserklärungen in den Leitlinien der Bundesregierung zum Krisenengagement.39 Ob künftige Einsätze, die im Rahmen von Ad-hoc-Koalitionen durchgeführt werden, also nicht automatisch durch »Systeme kollektiver Sicherheit« nach Artikel 24 (2) des Grundgesetzes gedeckt sind, eine verfassungsrechtliche wie politische Billigung finden werden, ist noch ungewiss – während das Weißbuch 2016 genau dieses Handlungsformat in den Vordergrund gerückt hat.40 Demgegenüber war die Exekutive vom Verfassungsgericht 1994 nicht ausdrücklich aufgefordert worden, ihren Regierungs- und Führungsapparat den Anforderungen eines neuen Falls der Fälle gemäß Art 24 (2) GG anzupassen. Hier setzte ein schleichender Wandel ein, dessen Ergebnisse die Weise-Kommission (2010) mit ähnlichen Rügen bedachte wie zehn Jahre zuvor die Weizsäcker-Kommission (2000): Ministerium und Bundeswehr, hieß es, böten das Bild einer »systematisch überstrapazierten Gesamtorganisation, bei der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwangsläufig unklar bleiben.«41 Die Folgen zeigten sich nicht allein in der Diskrepanz von Ambitionen, Aufgaben und Haushaltsmitteln; dafür war das Ministerium nur bedingt verantwortlich. Schwerwiegender war, dass im Zuge der Reformwellen das 38 39 40

41

Ich folge den Verlaufsanalysen bei Krause, Die Bundeswehr als Instrument (wie Anm. 12); Neubeck, Die Transformation (wie Anm. 4). Vgl. die Leitlinien »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« (wie Anm. 13), S. 140‑143. Vgl. Weißbuch 2016 (wie Anm. 31), S. 80‑82; zur Problematik vgl. Günther Maihold, Über den Tag hinaus. Deutsche Außenpolitik jenseits des Krisenmodus. In: Ausblick 2016: Begriffe und Realitäten internationaler Politik, Berlin 2016 (= SWP-Studien, S 00), S. 49‑54. Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz. Hrsg. von der Strukturkommission der Bundeswehr, Berlin 2010, S. 30; vgl. Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr. Bericht der Kommission an die Bundesregierung, 23.5.2000; Kelleher, Defence Organization (wie Anm. 16), hatte 15 Jahre früher von einer »unstrukturierten Struktur« gesprochen (ebd., S. 83).

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Gleichgewicht zwischen Struktur, Ausrüstung, Beschaffung und Ressourcen verloren ging und bis heute nicht wiedergewonnen worden ist.42 In jedem Fall hat der seit 2011 begonnene gleichzeitige Umbau von Ministerium und Streitkräften zu Friktionen geführt, die sich in Kritik, Unzufriedenheit und Ratlosigkeit niederschlugen.43 Wie weit die innerministeriellen Maßnahmen, beispielsweise im Beschaffungswesen, langfristig greifen, ist heute noch nicht abzusehen. Vor neue Herausforderungen gestellt waren indessen nicht nur Ministerium und Bundeswehr, sondern auch alle am vernetzten Ansatz beteiligten Ministerien, das Kabinett und nicht zuletzt das Kanzleramt. Insbesondere die Impulse, die vom Einsatz in Afghanistan ausgingen, führten zu interministeriellen Arbeitsstrukturen, die jedoch die Einbeziehung nicht-staatlicher Organisationen vermissen ließen.44 Aus ihrer anlassbezogenen (also ad hoc erfolgten) Genese sind diese Gremien nicht herausgekommen und litten zudem unter der Rivalität der beteiligten Ministerien. Eine strategiegebende, führungsfähige Klammer jenseits der Staatssekretärsrunden und Sonderbeauftragten hat es nie (und bis heute nicht) gegeben.45 Als Protagonist von Kohärenz und Koordination fiel das Kanzleramt aus. Der Bundessicherheitsrat, ein seit 1955 bestehender ständiger Kabinettsausschuss, wurde als Leitinstanz zwar häufig ins Spiel gebracht, aber bisher niemals in dieser Funktion benutzt. Auf regelmäßige sicherheitspolitische Strategiedokumente, die als Ausdruck einer politischen Selbstverpflichtung zur Orientierung, Konsensbildung und öffentlichen Transparenz beitragen könnten, hat die Politik bisher verzichtet. Es bleibt abzuwarten, ob die drängende Feststellung des Weißbuchs 2016, es bedürfe »strategischer Entscheidungen, ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert«46, hier Änderungen anzustoßen vermag. Demgegenüber mögen die Führungsstrukturen der Streitkräfte wie Gegenbeispiele einer funktionsfähigen, effektiven Führungshierarchie erscheinen. Doch der Eindruck trügt.47 Die nationale militärische Führungsfähigkeit der Bonner Ära war bündnispolitisch beschränkt, einen Generalstab als Planungszentrale gab es nicht und sollte es auch künftig nicht geben. Soweit die Führungsstrukturen dem Ministerium zugehörten, unterlagen sie den 42 43

44 45

46 47

Über die einschlägigen Klagen der Wehrbeauftragten 2005, 2007 und 2009 informiert Krause, Die Bundeswehr als Instrument (wie Anm. 12), S. 325 f. Vgl. Gerd Strohmeier und Christoph John, Zivile und militärische Führungskräfte der Bundeswehr bewerten die aktuelle Situation der Bundeswehr. TU Chemnitz, Juni 2013; Gregor Richter, Veränderungsmanagement in der Neuausrichtung der Bundeswehr. Zweite Befragungswelle 2014. Kurzbericht. Hrsg. vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr, Potsdam 2014. Vgl. Zapfe, Sicherheitskultur (wie Anm. 10); Naumann, Der blinde Spiegel (wie Anm. 31), S. 66‑79. Das Weißbuch 2016 (wie Anm. 31) verspricht Besserung durch eine Erhöhung der »Strategiefähigkeit«, verweist im Übrigen aber lediglich auf die künftige Rolle des Bundessicherheitsrats als »strategischer Impulsgeber« und auf die ressortgemeinsamen Gremien des Krisenengagements (ebd., S. 57, 138). Ebd., S. 57. Grundsätzlich vgl. Krause, Die Bundeswehr als Instrument (wie Anm. 12).

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Modalitäten der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien mit ihren langwierigen Arbeitsabläufen. Aus dieser Einbindung konnten sich die militärischen Instanzen nur allmählich und unvollständig lösen. Der Generalinspekteur wurde inzwischen als »Hauptabteilungsleiter« gegenüber den zivilen Abteilungsleitern hervorgehoben, diese sind ihm gegenüber zur »Zusammenarbeit« verpflichtet, aber es besteht keine Weisungsbefugnis. Hinzu kommt die innermilitärische »Machtbalance« (Ulf von Krause) zwischen den Teilstreitkräften und dem Generalinspekteur, die erst mit den Berliner und Dresdener Erlassen (2005, 2012) zugunsten des Generalinspekteurs als »ministerieller Instanz«, ranghöchstem Soldaten und militärischem Letztverantwortlichen der Einsatzführung relativiert wurde. Im nachgeordneten Bereich unterhalb des Ministeriums klafft nach wie vor eine Schere zwischen Verantwortungen und Kompetenzen, sodass von einer Einheitlichkeit der militärischen Führung letztlich (noch) nicht die Rede sein kann. Hat der sicherheitspolitische Wandel zu einer neuen Balance in der Wehrordnung geführt? Die Unfertigkeiten und Dissonanzen sind beträchtlich, wenn auch nicht bedrohlich. Zum einen liegt das in der Natur der Sache, denn die Politik wurde nach einer Phase von »Abwickelungen«, die der Auflösung der Blockkonfrontation folgten, mit einer neuen Konstellation des Ordnungsverlustes, der Krisenhäufung und der Unberechenbarkeiten konfrontiert, die Flexibilität zur Dauerforderung werden ließ. Dem war – auch institutionell – Rechnung zu tragen. Dabei ging es um mehr als um die alten Unwägbarkeiten, wie sie durch die Zwänge der Finanzplanung, des Personalaufkommens, der Ressourcenbewirtschaftung und des Strukturwandels ohnehin gegeben waren. Hinzu kamen nun, vor allem nach den Erschütterungen der Jahrtausendwende, neue Ungewissheiten, die sich im Wandel der Wehrordnung selbst geltend machten. Als ein neues Strukturproblem erwies sich der Fortfall der Notwehrgemeinschaft des Kalten Krieges, die Bevölkerung und Streitkräfte vereint hatte. Nach 1990 hatte der Sicherheitsgewinn darin bestanden, dass Risiken an die europäische Peripherie abgedrängt worden waren. So erfreulich das war, die Kehrseite zeigte sich darin, dass das existenzielle Risiko nunmehr vollends dem Einsatzsoldaten zufiel. Mit dem sich seit 2014 abzeichnenden Übergang zum Primat der Bündnisverteidigung an den Rändern der Allianz ist dieses Problem nicht automatisch behoben. Wie mit den neuen, in die innere Sicherheit hineinreichenden Gefährdungen, etwa durch Terrorismus oder Cyberattacken, umzugehen ist und welche Rolle die Streitkräfte dabei spielen können (und sollen), ist noch weithin ungeklärt.48 Bestehen bleibt ferner die Legitimationsschwäche von Kriseneinsätzen jenseits der europäischen Peripherie, zumal dann, wenn die Militärbeiträge – etwa bei den Ertüchtigungsinitiativen – in Wirksamkeit und Nachhaltigkeit nur schwer nachvollziehbar sind. Die Problematik verlängert sich unter anderen Vorzeichen in den politisch-parlamentarischen Raum hin48

Vgl. Krause, Der Einsatz der Bundeswehr im Innern (wie Anm. 4).

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ein, da bei zunehmender multilateraler Einbindung und Vernetzung der europäischen Streitkräfte – siehe Rahmennation und Anlehnungspartnerschaften – die Frage nach der künftigen Verlässlichkeit deutscher Beiträge auf glaubwürdige Antworten drängen wird. Knirscht es beim sicherheitspolitischen Hintergrundkonsens in den Fugen, gilt dies in anderer Form auch für die gesellschaftliche Positionierung der Bundeswehr. In der Bevölkerung konnte die Bundeswehr das Institutionenvertrauen bewahren, aber das galt nicht für jeden der vielfältigen Auslandseinsätze. Eine bürgergesellschaftliche Pragmatik, die den Soldaten achtet, auch wenn sie seinen Aufträgen und Gewaltmitteln skeptisch gegenübersteht, ist erst in Entwicklung begriffen. Und die Anstrengungen, über den parlamentarischen Konsens hinaus zu einer öffentlichen Akzeptanz über Sinn, Zweck, Verlauf und Ziele der sicherheitspolitischen Unternehmungen zu kommen, ließen zu wünschen übrig. Währenddessen drifteten die Erfahrungswelten von Einsatzkräften und Zivilbevölkerung auseinander. Politik, Bundeswehr und Öffentlichkeit waren gleichermaßen gefordert, kommunikative Brücken zu bauen. Das wurde umso bedeutsamer, seitdem die Streitkräfte auf den Arbeitsmärkten in Konkurrenz treten müssen, ohne einerseits einen »Beruf wie jeden anderen« anbieten zu können (und zu wollen), andererseits aber darauf zu achten haben, keine partikularistischen Präferenzen zu nähren. Auf eine neue und bisher wenig beachtete Art und Weise wurde dadurch die Binnenwelt der Streitkräfte zu einem zivil-militärischen Thema, dessen Relevanz weit über die Auslösereize von Zwischenfällen, Skandalen und auch »Attraktivitätsagenden« hinausgeht. Die Öffentlichkeit nahm durchaus wahr, ob die Bundeswehr ein Führungsoder ein Haltungsproblem hat, wenn auch gelegentlich zu anderen Anlässen als das Ministerium – beispielsweise bei Fragen der innermilitärischen Fehlerkultur, des Führungsstils, des Change Managements, der Transparenz von Entscheidungen und der Kommunikation über Sachfragen wie Beschaffungswesen, Ausrüstungsmängel, Materialengpässe oder Rüstungsexporte. Ob man von einem Civil-Military Gap in Deutschland sprechen möchte oder nicht, der Abstand zwischen Gesellschaft und Streitkräften hat zugenommen. Die Suche nach einer neuen Balance des veränderten Wehrgefüges ist noch nicht abgeschlossen. Der Schwarze Peter, wenn es denn einer ist, liegt nicht allein in einer angeblich »postheroisch« gestimmten, militäraversen Gesellschaft; er liegt zugleich bei Politik und Militär, die sich Gedanken darüber machen müssen, wie die Integrationsformel des Staatsbürgers in Uniform unter Bedingungen einer professionellen einsatzorientierten Armee mit neuem Leben erfüllt werden kann.49

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Vgl. Klaus Naumann, Innere Führung 4.0. Gedanken zum Konzept des Staatsbürgers in Uniform. In: Innere Führung, 1 (2017), S. 14‑21.

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5. Quadratur des Dreiecks? Der politische, öffentliche und militärische Umgang mit dem sicherheitspolitischen Wandel Der Wandel in der deutschen Sicherheitspolitik wurde stark geprägt durch die spannungsreichen Beziehungen zwischen Politik, Militär und Öffentlichkeit. Die Herausforderungen, die sich nach 1990 aufdrängten, waren neu und ungewohnt, aber worin sie genau bestanden, wie ihnen zu begegnen war und mit welchen Strategien, Mitteln und Ressourcen, das alles wurde zum Gegenstand anhaltender Differenzen und Reibungen, deren auffälligstes Merkmal darin bestand, dass sie sich weder auf der politischen Bühne noch in der Öffentlichkeit noch im Militär in klärenden Interventionen entluden. So wurden in den Folgejahren zwar gravierende Weichenstellungen vollzogen und folgenreiche Entscheidungen gefällt, aber keine tiefergehende Verständigung oder belastbare Konsensbildung erreicht. Das Ergebnis war ein merklicher Riss zwischen dem – auch international – bekundeten sicherheitspolitischen Anspruchsniveau und der innenpolitisch motivierten Halbherzigkeit der Reformpolitik und des Einsatzengagements. Die sicherheitspolitischen Anpassungsprozesse der Bundesrepublik standen unter dem Vorzeichen eines Primats der Innenpolitik. Das hatte handfeste Konsequenzen, denn in der Regierungspolitik, im Parlament und auch in der Medienöffentlichkeit reduzierte sich Wahrnehmung der Wehrreformen überwiegend auf Reizthemen wie die Höhe des Wehretats, den Truppenumfang, die Dauer der Wehrpflicht (oder ihre Aussetzung) und die Anzahl der Stationierungsorte. In der Einsatzpolitik hingegen dominierte ein Piece-MealEngineering, das auf eine schrittweise Gewöhnung der Öffentlichkeit, die sozialverträgliche Verbrämung der Aufträge und das geräuschlose Abarbeiten bündnispolitischer Verpflichtungen abstellte, denen man sich »nicht entziehen« konnte. Fragen der Interessenlage, Kriterien der Einsatzbeteiligung, Parameter strategischen Handelns oder Bekundungen eines entschiedenen Gestaltungswillens erreichten kaum die politischen Foren oder stellten sich erst mit großer Zeitverzögerung ein. Sicherheitspolitik angesichts neuartiger Risiken und Krisen mit militärischen wie nicht-militärischen Mitteln und Agenturen aus der neu entstandenen europäischen Mittellage heraus zu entwickeln war ein Großprojekt, für das der Erfahrungsraum der alten Bundesrepublik grundlegende Orientierungsmargen anbot, die jedoch der Übersetzung in einen verwandelten Kontext bedurften. Darin bestand der eigentliche Kernvorgang einer sicherheitspolitischen – und nicht nur militärischen – Transformation. Gleichwohl ist das Wehrressort bis in die letzten Jahre hinein die treibende Kraft des sicherheitspolitischen Wandels geblieben, während andere Ressorts erst allmählich aufschlossen und sich den selbst verordneten Maximen eines »gesamtstaatlichen« oder »vernetzten« Handelns verschrieben. Und doch lassen sich die Blockaden und Verzögerungen des Reformprozesses nicht allein auf die Rivalitäten zwischen den Ministerien oder die akuten Führungsschwächen einer Kanzlerdemokratie zurückführen. Das politisch-militärische Kerngeschäft

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selbst unterlag Handlungsmustern, die sich nur aus den Routinen einer etablierten politisch-strategischen Kultur erklären lassen. Naturgemäß war nicht zu erwarten, dass ein Umbau der Sicherheitspolitik in einem Guss und in kurzer Frist vollendet werden konnte, doch die an eine Springprozession erinnernden mehrfachen Reformanläufe seit Beginn der 90er Jahre tragen eine eigene Handschrift. Am Beginn standen verfassungspolitische Restriktionen (»out-of-area«), finanzpolitische Kürzungen (»Friedensdividende« und Einheitskosten) und integrationspolitische Belastungen (NVA-Auflösung), deren gemeinsames Resultat darin bestand, dass militärische Planungen und strategische Überlegungen für die nunmehr wahrscheinlichsten Fälle von Auslandseinsätzen zwar angedacht und konzipiert werden konnten (so die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 und das Weißbuch 1994), aber keine politische Rückendeckung fanden. Damit öffnete sich eine doppelte Schere, die weit über die ersten Jahre hinaus Bestand haben sollte. Einerseits zeigten sich Schwächen in der Wahrnehmung des Primats der Politik, andererseits wurden die Streitkräfte zunehmend mit Aufgaben konfrontiert, denen abnehmende Potenziale und Ressourcen gegenüberstanden. Das eine trug zu Spannungen zwischen Militär und Politik bei, die weitgehend unter dem Teppich gehalten wurden; das andere führte zu einer Dauerüberlastung der Truppe. Für eine Übergangszeit waren solche Friktionen verständlich, doch sie erwiesen sich als schulbildend. Auch in den Folgejahren blieb die Diskrepanz zwischen Planungen, Beschaffungen und Strukturmaßnahmen und den bereitgestellten Mitteln erhalten. Die Weizsäcker-Kommission konnte im Mai 2000 in ihrer Zwischenbilanz des Reformgeschehens nur konstatieren, dass sich die Bundeswehr nicht »im Gleichgewicht« befand, während die Wehrbeauftragten wiederholt die Schwäche des Primats der Politik beklagten. Dieses Ungleichgewicht vermochten die folgenden Reformanstrengungen, die 2004 in die »Transformation« der Bundeswehr mündeten, nicht zu beheben. Die neuerlich veränderten Kräftestrukturen dienten auch in der Folgezeit als Steinbrüche eines »dynamischen Verfügbarkeitsmanagements«, das sich zur Auffüllung der Einsatzverbände aller irgendwie greifbaren Potenziale bediente, sodass es vorkam, dass beispielsweise die 6000 Angehörigen des deutschen KFOR-Kontingents aus rund 1000 Dienststellen zusammengesucht werden mussten.50 Bleibende Merkmale der Dauerreform waren nicht allein die Mangelverwaltung, sondern auch die Auszehrung der militärorganisatorischen Substanz. Der Bewährung im Einsatz stand ein Gesichtsverlust der zusammengewürfelten (wenn nicht aufgelösten) Verbände und Einheiten gegenüber. Der Tiefpunkt dieser Entwicklung war 2010 erreicht, als die »hohlen Strukturen« einer unterfinanzierten Truppe mit dem Vorsatz versehen wur-

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Hans Peter von Kirchbach, Rede des Generalinspekteurs auf der 37. Kommandeurtagung der Bundeswehr in Hamburg, 29. November 1999. In: Informationen zur Sicherheitspolitik, 12 (1999).

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den, weitere Etatkürzungen zur Haushaltskonsolidierung seien ein strategisches Gebot der Staatsräson.51 Im Ergebnis hatte sich Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts ein stabiles Missverhältnis entwickelt, bei dem die wachsenden politischen Ansprüche an die Streitkräfte mit einer unzulänglichen Ressourcenausstattung kollidierten, während die Öffentlichkeit die Dauerreformen mit geringem Interesse und die Einsätze – insbesondere die robusten – mit Skepsis und nur begrenzter Zustimmung begleiteten. Die seither laufenden Bemühungen um einen Kurswechsel in der Sicherheitspolitik, einen neuerlichen Umbau der Streitkräfte, die innere Konsolidierung der Truppe und die öffentliche Akzeptanz der vielfältigen Auslandseinsätze stehen vor einer Rechnung mit vielen Unbekannten, deren Lösung Geduld und politische Klugheit verlangt.

51

Vgl. Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg, Rede an der Führungsakademie der Bundeswehr, 27. Mai 2010.

Philipp Münch

Ein paradoxer Krieg. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan

Zahlreiche Paradoxien prägten den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Operation Enduring Freedom (OEF) und der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. Bereits der öffentliche Diskurs der politisch Verantwortlichen war häufig widersprüchlich. So behaupteten diese, dass der Einsatz der Bündnissolidarität mit den USA oder der NATO, der eigenen Sicherheit, aber auch der Entwicklung Afghanistans dienen würde.1 Diese Ziele ließen sich zwar theoretisch, praktisch jedoch kaum miteinander vereinen. Mit Ausnahme des Sicherheitsarguments betonten sie also rein altruistische Motive. Eine weitere Paradoxie bestand daher darin, dass dieser öffentlich artikulierte Altruismus in Widerspruch zu offenbar ebenfalls verfolgten, eher egoistischen Zielen wie dem Bedeutungsgewinn Deutschlands in den internationalen Beziehungen stand. Schließlich war auch die Praxis der Bundeswehrangehörigen, welche die politischen Entscheidungen ausführten, nicht selten paradox. So wurden für ganz andere Bedingungen entworfene Vorgehensweisen und Regeln auf Afghanistan übertragen.2 1

2

Vgl. zur Bündnissolidarität die Reden Bundeskanzler Gerhard Schröders am Tag nach den Anschlägen und eine Woche darauf: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 186. Sitzung, 12. September 2001, S. 18293; Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 187. Sitzung, 19. September 2001, S. 18302. Vgl. zu seiner Ankündigung eines »wirklich umfassenden Hilfsprogramm[s]« und eines »Prozess[es] einer dauerhaften Stabilisierung« Afghanistans respektive: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 192. Sitzung, 11.10.2001, S. 18680; Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 202. Sitzung, 16.11.2001, S. 19856. Das Sicherheitsargument findet sich ebenfalls bereits bei Schröder, am einprägsamsten jedoch in der bekannten Äußerung des späteren Bundesministers der Verteidigung Peter Struck aus dem Jahr 2002, wonach die Sicherheit Deutschlands »auch am Hindukusch verteidigt« würde. Peter Struck, Die Bundeswehr – auf richtigem Weg, Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, 97. Sitzung, 11.3.2004, Erklärung der Bundesregierung, S. 8601 (letzter Zugriff 9.5.2017). Vgl. in dieser Hinsicht zum Charakter des militärischen Nachrichtenwesens und der Operationsführung: Philipp Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan. Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen, Freiburg i.Br. 2015 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 5), S. 219‑233, 280‑315. Im öffentlichen Bewusstsein erschien vor allem die Anwendung von für den Dienst in der Heimat entworfenen bürokratischen Regeln in Afghanistan paradox. Deutscher Bundestag,

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Philipp Münch

Dieser Beitrag soll nicht die genannten Paradoxien weiter ausbreiten, sondern die Frage beantworten, ob sich diese auf eine Hauptursache zurückführen lassen. Das zentrale Argument lautet, dass die Paradoxien des Afghanistaneinsatzes ihren hauptsächlichen Ursprung in der Selbstreferenzialität der beteiligten Akteure hatten. Das heißt, das Handeln der höchsten politischen Entscheidungsträger und der ihre Aufträge ausführenden Bundeswehrangehörigen war nicht in erster Linie an Afghanistan orientiert, sondern an Zielen, die nichts mit dem Einsatzland zu tun hatten.3 Gleichzeitig soll der hier verwendete interdisziplinäre Ansatz zeigen, dass Sozial- und Geschichtswissenschaft keineswegs unvereinbar, sondern vielmehr komplementär sind. Um das zentrale Argument zu untermauern, geht dieser Beitrag wie folgt vor. Zunächst wird gezeigt, dass der politische Zweck der Mission für die höchsten deutschen Entscheidungsträger nicht unmittelbar mit Afghanistan verbunden war. Vielmehr wollten sie hiermit andere, nicht explizit formulierte politische Ziele erreichen. Sodann wird dargestellt, dass die Verantwortlichen unterhalb der ministeriellen Ebene dies oftmals nicht erkannten – zumal ihre politischen Vorgesetzten öffentlich das Gegenteil behaupteten. Sie versuchten daher, auf Afghanistan bezogene Ziele zu verwirklichen. Da sich die politischen Entscheidungsträger nicht auf klare Ziele und eine hieraus abgeleitete Strategie einigen konnten, verfolgten die Ausführenden nicht aufeinander abgestimmte Ziele. Unter den möglichen auf Afghanistan bezogenen Zielen wählten sie unbewusst nicht die sinnvollsten aus, sondern jene, die am ehesten ihren eigenen Interessen dienten.

1. Verstehender Ansatz Der hier verwendete interdisziplinäre Ansatz beruht auf der bereits von Norbert Elias geteilten Annahme, dass die Unterscheidung der wissenschaftlichen Disziplinen nicht rational, sondern ein Ergebnis eher zufälliger historischer Entwicklungen ist.4 Die geschichtlich gewachsene institutionelle Aufteilung von Geschichts- und Sozialwissenschaft lässt vergessen, dass zum einen letztlich jede wissenschaftliche Arbeit über menschliches Handeln auf theoretischen Annahmen beruht – auch wenn diese im Fall der meisten ge-

3

4

16. Wahlperiode, Drucksache 16/6032 (Bürokratische Hemmnisse bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr), 9.7.2007, S. 5. Detailliert argumentierte ich auf diese Weise bereits in meiner Monografie zum Thema. Vgl. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2). Dieser Beitrag spitzt dagegen einige der Aspekte weiter zu und greift dafür auf einige neu zugängliche oder neu gesammelte Quellen und aktuellere Literatur zu. Allgemein lege ich den Schwerpunkt zudem stärker auf eine geschichtswissenschaftliche Vorgehensweise. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 16.

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schichtswissenschaftlichen Studien implizit bleiben. Zum anderen folgt jede Studie einer Methodik, die sich bei geschichtswissenschaftlichen Arbeiten gleichwohl größtenteils auf Quellenkritik beschränkt. Eben diese ignorieren wiederum die meisten Sozialwissenschaftler. Auch wenn positivistisch und quantitativ orientierte Sozialwissenschaftler überwiegend von »Daten« sprechen, so handelt es sich hierbei – genau wie in der Geschichtswissenschaft – um historische Quellen, da kein Mensch gleichzeitig Informationen sammeln, darüber reflektieren und schreiben kann. Entgegen der etablierten Wissenschaftspraxis versteht dieser Beitrag beide Disziplinen als komplementär. Er versucht, die blinden Stellen geschichtswissenschaftlicher Arbeiten mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und umgekehrt zu füllen. Kern der theoretischen Vorannahmen, auf denen dieser Beitrag beruht, ist die »verstehende Soziologie« Max Webers und der darauf aufbauende Ansatz von Pierre Bourdieu. Demnach determiniert das Handeln von Menschen, dass sie zuvorderst eigenen Interessen folgen. Allerdings – und das ist ein grundlegender Unterschied zu sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen RationalChoice-Ansätzen – sind sie sich dieser überwiegend nicht bewusst. Weber unterschied dementsprechend treffend zwischen dem »gemeinten Sinn«, den die Akteure ihren Handlungen selbst geben, und dem durch die distanzierte wissenschaftliche Betrachtung erkennbaren Sinn.5 So können etwa wohlhabende Menschen aufrichtig davon überzeugt sein, dass sie aus rein altruistischen Motiven Mitglied karitativer Organisationen sind. Wissenschaftler könnten dagegen Widersprüche zu ihrem sonstigen Lebenswandel erkennen und darauf verweisen, dass der tatsächliche Sinn ihrer Handlungen darin liegen könne, als großzügig zu erscheinen und sich somit Legitimität zu verschaffen.6 Letzteres verweist darauf, dass diese Interessen nicht im Wesen der Akteure selbst liegen, sondern gesellschaftlich erzeugt werden. Also – um bei dem Beispiel zu bleiben – nur weil Wohltätigkeit als hohes gesellschaftliches Gut gilt, streben die Akteure danach, anderen als wohltätig zu erscheinen. Bourdieu bezeichnete dies als den spezifischen »Wert des Spiels«, den die Akteure auf unterschiedlichen sozialen »Feldern« zu erlangen versuchen. Während es also zum Beispiel auf dem Feld der Investmentbanker darum geht, möglichst viel Geld anzuhäufen, streben etwa die »Spieler« auf dem akademischen Feld danach, als besonders brillant zu erscheinen. Durch Sozialisation auf den Feldern übernehmen die Akteure den jeweiligen Wert des Spiels. Dieser, zusammen mit den unterschiedlichen Machtressourcen der Akteure, ergibt die spezifische »Logik der Praxis« jedes Felds.7 5 6 7

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Studienausg., Tübingen 1980 [1922], S. 1‑11. Vgl. als guten Überblick Richard Swedberg, Can There Be a Sociological Concept of Interest? In: Theory and Society, 34 (2005), 4, S. 359‑390, hier S. 381‑383. Loïc J.D. Wacquant und Pierre Bourdieu, Die Ziele der reflexiven Soziologie. In: Reflexive Anthropologie. Hrsg. von Pierre Bourdieu und Loïc J.D. Wacquant, Hamburg 2006 [1992], S. 95‑249, hier S. 126‑128, 148; Pierre Bourdieu, Ist interessenfreies Handeln möglich? In: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Hrsg. von Pierre

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Weber wie Bourdieu bezeichneten die Summe dieser Einstellungen eines Menschen als »Habitus«. Bourdieu legte im Rahmen seiner Arbeiten die Doppelnatur des Habitus näher dar: Dadurch, dass er durch Sozialisation auf den Feldern entsteht, schlagen sich in ihm die sozialen Verhältnisse nieder. Gleichzeitig reproduziert er aber auch ebenjene Bedingungen, da er auf Grundlage dieser Sozialisation entsprechende Handlungen hervorbringt. Bourdieu bezeichnete die Rückkopplung zwischen den subjektiven Bewertungen der Akteure mit den objektiven Bedingungen, unter denen sie leben, als »stille Komplizenschaft« zwischen Habitus und Struktur. Denn sie geschieht weitgehend »hinter dem Rücken der Akteure«, also unbewusst. Wie Bourdieu in empirisch dichten Studien am Beispiel von Geschmack und Stilempfinden darlegte, ist dies der Grund dafür, dass Arbeiter einfaches Essen der haute cuisine – die sie sich objektiv ohnehin nicht leisten könnten – subjektiv vorziehen und Wohlhabende avantgardistische Kunst subjektiv schätzen, da sie ihnen aufgrund ihres hohen Preises objektiv zur Distinktion dient.8 Ein verstehender Ansatz nimmt also die Perspektive der Akteure ernst, wie dies konstruktivistische Theorien tun. Allerdings tut er dies, ohne sie für absolut zu nehmen und dementsprechend sich in reiner Diskursanalyse zu erschöpfen. Stattdessen setzt er sie in Beziehung zu den tatsächlichen Gegebenheiten. Dieser Beitrag soll die skizzierten Vorannahmen auf die politische und militärische Praxis des Afghanistan-Engagements übertragen.9 Dieser Ansatz ermöglicht es, die in der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen übliche Vergegenständlichung der Akteure zu Staaten oder Organisationen zu überwinden. Vielmehr rückt ein solches Vorgehen einzelne Personen in den Vordergrund, ohne sie aus ihrem sozialen Kontext herauszulösen.10

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9

10

Bourdieu, Frankfurt a.M. 1998 [1994], S. 139‑157, hier S. 140‑143; Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997 [1980], S. 122 f. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979 [1972], S. 164 f., 172, 178, 200, 229; Bourdieu, Sozialer Sinn (wie Anm. 7), S. 98 f., 106, 108, 122, 255; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1989 [1982], S. 279‑281; Wacquant/Bourdieu, Die Ziele der reflexiven Soziologie (wie Anm. 7), S. 160 f. Vgl. allgemein zur Anwendung von Bourdieu auf Militär im Allgemeinen und die Bundeswehr im Besonderen Philipp Münch, The German Approach to Counterinsurgency. Concepts and Practice. In: Afghanistan in the Balance. Counterinsurgency, Comprehensive Approach and Political Order. Hrsg. von HansGeorg Ehrhart, Sven Gareis und Charles Pentland, Montreal, Kingston 2012, S. 51‑62; Ulrich vom Hagen, Homo Militaris. Perspektiven einer kritischen Militärsoziologie, Bielefeld 2012 (= Sozialtheorie); Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 34‑46. Vgl. auch Vincent Pouliot und Frédéric Mérand, Bourdieu’s Concepts. Political Sociology in International Relations. In: Bourdieu in International Relations. Rethinking Key Concepts in IR. Hrsg. von Rebecca Adler-Nissen, London, New York 2013, S. 24‑44.

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Um ein möglichst vielschichtiges Bild zu erhalten, stützt sich dieser Beitrag auf unterschiedliche Quellenarten. Hierzu zählen zum einen die amtliche Überlieferung in Form von – aufgrund des kurzen zeitlichen Abstands – vorzeitig freigegebenen Akten sowie Bundestagsdrucksachen. Zum anderen stützt er sich auf Zeitzeugeninterviews, Presseerzeugnisse und Erinnerungsliteratur in Form von öffentlichen Berichten der Akteure über ihr Handeln in den Zeitschriften privater Soldatenverbände. Die unterschiedlichen Quellengattungen sollen dabei helfen, zwischen der subjektiven Bewertung ihrer Verfasser und den »von außen« erkennbaren Bedingungen zu differenzieren. Sie gelten damit einerseits als Beleg für eine objektive Praxis, die sich nur durch Quellenkritik ermitteln lässt, und andererseits als Zeugnis für subjektive Wertungen.

2. Logik der höchsten politischen Entscheidungen Den Impuls für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gab die Reaktion der US-Regierung auf die Anschläge vom 11. September 2001 in Washington und New York. Daher muss die Logik der deutschen außenpolitischen Entscheidung rekonstruiert werden, an der auf »9/11« folgenden und zunächst rein US-geführten Intervention teilzunehmen. Als Quellen hierfür dienen Studien, die sehr detailliert die veröffentlichten offiziellen Positionierungen der damaligen Bundesregierung untersuchten, sowie Presseinterviews mit den Beteiligten. Hinzu kommen auf Antrag des Nachrichtenmagazins Der Spiegel nach dem Informationsfreiheitsgesetz freigegebene Dokumente des Bundeskanzleramts und des Auswärtigen Amts aus dieser Zeit.11 Die von dem Magazin nur in kurzen Zitaten wiedergegebenen Dokumente wurden hierfür erstmals wissenschaftlich ausgewertet.12 11

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Die Dokumente dienten einem aufwendig recherchierten Leitartikel zum Beginn des deutschen Afghanistan-Engagements anlässlich des 10. Jahrestages des 11. September 2001. Ralf Beste, Ulrike Demmer, Christoph Hickmann, Marc Hujer, Christoph Schwennicke, Holger Stark, Rainer Staudhammer und Klaus Wiegrefe, Ein deutscher Krieg. In: Der Spiegel, Nr. 36, 2011, S. 74‑87, hier S. 76. Vom Verfasser eingesehene, freigegebene – hier teilweise zitierte – Dokumente des Bundeskanzleramts und des Auswärtigen Amts. Es fehlen die damals ebenfalls freigegebenen Dokumente aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, da die Akte mit Angaben zu den an »Der Spiegel« übergebenen Dokumenten bereits vernichtet wurde. Ebenso fehlen die offensichtlich aus anderen Quellen beschafften Drahtberichte der Botschaften Washington vom 11.9. und Islamabad vom 12.9., das Redemanuskript Bundeskanzler Gerhard Schröders vom 17.9. und der bei seinem außen- und sicherheitspolitischen Berater Michael Steiner am 5.11.2001 eingegangene Brief der US-Botschaft in Berlin. Soweit aus den Akten des Bundeskanzleramts und des Auswärtigen Amts ersichtlich, hat »Der Spiegel« die Dokumente korrekt zitiert. Eine Ausnahme ist das Beileidstelegramm Schröders an Bush vom Tag des Anschlags. Anders als im Artikel ausgeführt, ist hierin – obwohl dies die Argumentation von »Der Spiegel« stützt – noch nicht von der »uneingeschränkten Solidarität« die Rede. Ebd., S. 77; Telegramm Gerhard Schröder an George W. Bush, undatiert.

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Eine Analyse allein des öffentlichen Diskurses der höchsten deutschen Entscheidungsträger nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zeigt, dass sich diese vor allem auf eine »uneingeschränkte Solidarität« mit den USA und eine »Bündnispflicht« zur Beteiligung an einer US-amerikanisch geführten Reaktion beriefen. Demnach hätten die Angriffe deutlich gemacht, dass von global agierenden »Terrorgruppen« eine Gefahr für »die Zivilisation« ausgehe. Deutschland müsse deshalb einen Beitrag zu deren Bekämpfung leisten. Zudem fordere die NATO, die am 12. September 2001 unter Vorbehalt den Bündnisfall erklärt hatte, dass Deutschland nun den USA in diesen schweren Stunden beistehe.13 Diskursanalytisch vorgehende Politikwissenschaftler sind dieser Argumentation der Akteure meist gefolgt. Sie haben sie als Beleg dafür gedeutet, dass sich die deutsche Außenpolitik nach 1945 zuvorderst an Werten wie internationaler Zusammenarbeit orientiere, anstatt eine egoistische Machtpolitik zu betreiben.14 Allerdings legt ein Blick auf nicht-offene Quellen und eine kritische Betrachtung der offenen Quellen eine andere Praxis der höchsten deutschen Entscheidungsträger frei. Denn obwohl Bundeskanzler Gerhard Schröder die US-Administration unter Präsident George W. Bush mehrfach der »uneingeschränkten Solidarität« Deutschlands versicherte,15 äußerte diese aus eigener Initiative kein Interesse an einem deutschen militärischen Beitrag in Afghanistan.16 Zwar strebte insbesondere das Department of State unter Colin Powell eine möglichst breite internationale politische Unterstützung für die US-Antwort auf »9/11« an. Doch gerade das von Donald Rumsfeld 13

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Vgl. die Reden Bundeskanzler Schröders am Tag nach den Anschlägen und eine Woche darauf: Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 186. Sitzung, 12.9.2001, S. 18293; Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 187. Sitzung, 19.9.2001, S. 18302. Vgl. auch die Pressekonferenz am Tag des Anschlags: Pressekonferenz 96/2001 am Mittwoch, dem 12.9.2001, 14:00 Uhr, BPK, Unkorrigiertes Manuskript, S. 13. Harald Müller und Jonas Wolff, Demokratischer Krieg am Hindukusch? Eine kritische Analyse der Bundestagsdebatten zur deutschen Afghanistanpolitik 2001‑2011. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 4 (2011), Suppl. 1, S. 197‑221, hier S. 206; Sebastian Harnisch, Deutschlands Rolle in Afghanistan: State-BuildingDilemmata einer Zivilmacht. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 4 (2011), Suppl. 1, S. 223‑251, hier S. 245; Thomas Risse, Deutsche Identität und Außenpolitik. In: Handbuch zur deutschen Außenpolitik. Hrsg. von Siegfried Schmidt, Gunther Hellmann und Reinhard Wolf, Wiesbaden 2007, S. 49‑61, hier S. 55. Schreiben Bundeskanzler Gerhard Schröders an George W. Bush, Nr. 377/01, 12.9.2001. Ein paar Tage später bezog sich Schröder zudem explizit auf eine Zusammenarbeit bei der »Bekämpfung des internationalen Terrorismus«, die »neben möglichen militärischen Schritten auch Maßnahmen im politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und Sicherheitsbereich umfasst«. Schreiben Bundeskanzler Gerhard Schröders an George W. Bush, 18.9.2001. Vgl. zum Unterstützungswillen in militärischen Fragen auch die Gesprächsunterlagen für das Treffen des Chefs des Bundeskanzleramts mit dem US-Botschafter in Berlin, Daniel Coats. [Bundeskanzleramt] Ihr Gespräch mit USBotschafter Coats am 1. Oktober 2001, 25.9.2001, S. 2. Deutsche Botschaft Washington, Drahtbericht Nr. 1500, Betr.: Transatlantisches »coalition building« nach den Terroranschlägen, hier: Briefing von ASS Elizabeth Jones, VS-NfD, 14.9.2001, S. 2; [Bundeskanzleramt Gesprächsunterlagen], Unterrichtung der Partei- und Fraktionsvorsitzenden am 4. Oktober 2001, 19:30 Uhr, S. 2.

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geführte Department of Defense wollte angesichts der aus seiner Sicht negativen Erfahrungen mit der Koalitionskriegführung gegen Jugoslawien gut zwei Jahre zuvor eine Beteiligung von Nationen als Selbstzweck vermeiden. Diese würde keine entscheidenden militärischen Fähigkeiten, dafür aber jede Menge Abstimmungsschwierigkeiten und Beteiligungsforderungen mit sich bringen.17 Jüngst offengelegte US-Dokumente und die auf Antrag des Nachrichtenmagazins Der Spiegel freigegebenen deutschen Akten zeigen dementsprechend, dass die US-Administration kein deutsches Kontingent für die US-Operation Enduring Freedom anforderte, sondern dass dies erst das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) anbot. Demnach offerierte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Harald Kujat, bereits am 16. September 2001 »10 000 troops (Special Forces [,] Light infantry, artillery and logistics) plus a Tornado air wing«. Allerdings war dies offenbar nicht mit dem Bundesminister der Verteidigung Rudolf Scharping abgesprochen. Laut der Spiegel-Recherchen habe Scharping gegenüber Schröder sogar implizit seinen Rücktritt angedroht, nachdem Kujat zehn Tage später dem Kanzler erneut ein Kontingent der Größenordnung vorgeschlagen hatte.18 Am Ende entsandte das BMVg nur ein Kontingent des Kommandos Spezialkräfte (KSK), das aber über keine Lufttransportkapazitäten verfügte. Die KSK-Soldaten mussten in ihrem Verfügungsraum in Oman schließlich darauf drängen, dass sie von US-Kräften ins Einsatzland eingeflogen wurden. Dort setzten die US-Kommandeure die deutschen Kommandosoldaten vorwiegend für abseitige Aufgaben wie Patrouillen oder Objektschutz ein, die eigentlich konventionelle Truppen wahrnehmen. Somit war, wie auch Kujat vor dem Murat-Kurnaz-Untersuchungsausschuss aussagte, der deutsche OEF-Beitrag in dieser Phase der Intervention militärisch weitgehend sinnlos.19 Bereits offen zugängliche Quellen zeigen, dass die Initiative zur Auslösung des NATO-Bündnisfalls am Tag nach den Anschlägen aufgrund ihrer erwähnten Skepsis gegenüber der Bündniskriegführung nicht von den USA ausging, sondern aus den Reihen des NATO-Verwaltungsstabs und der Botschafter der anderen Mitgliedsstaaten hervorging.20 Die freigegebenen deutschen Dokumente lassen erkennen, dass schließlich auch die Bundesregierung diesen Schritt unterstützte, klare Beitragszusagen für eine mögliche NATO17 18

19 20

Bob Woodward, Bush at War, New York [u.a.] 2002, S. 179. Rumsfeld an Feith, Subject: Germany, 16.9.2001; Rumsfeld an Vice Admiral Giambastiani, Subject: German MoD, 17.9.2001, Anhang: Memo Wolfowitz, Subject: Phonecon with German MoD Scharping 1245-1300EDT 16 Sept 01. Dokumente (4492; 4661‑4664) abrufbar unter: (letzter Zugriff 24.6.2020). Beste [u.a.], Ein deutscher Krieg (wie Anm. 11), S. 80. Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/10650 [Kurnaz-Untersuchungsausschuss], 15.10.2008, S. 105, 171. Deutsche Botschaft Washington, Drahtbericht Nr. 1597, Betr.: Anti-Terrorismuskampagne, hier: Besuche von US-Verbündeten in Washington, 39. KW EUPräsidentschaft/Kommission, JPN, ITA-AM, IRL-AM, NLD-AM, VS-NfD, 28.9.2001, S. 2; Sten Rynning, NATO in Afghanistan. The Liberal Disconnect, Stanford 2012, S. 73 f.

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Mission aber von den zu erwartenden diesbezüglichen US-Entscheidungen abhängig machte.21 Sie konnte außerdem vermeiden, dass die USA nur die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und die Anrainerstaaten Afghanistans in das Krisenmanagement einbezog.22 Zudem drängte sie erfolgreich darauf, Bonn zum Austragungsort einer internationalen Konferenz zu machen, auf der eine afghanische Übergangsregierung bestimmt werden sollte.23 Dabei setzte sich die Bundesregierung gegen weitere Erfolg versprechende Anwärter für diesen Tagungsort durch.24 Insgesamt musste den höchsten deutschen Entscheidungsträgern nach dem 11. September 2001 ein ziviles und militärisches Engagement in Afghanistan keineswegs von den USA oder der NATO aufgedrängt werden, wie viele Stimmen im Nachhinein behaupteten.25 Vielmehr versuchten sie aktiv, sich an prominenter Stelle an einem solchen zu beteiligen. Offensichtlich beabsichtigten die Verantwortlichen, durch ihr Bekenntnis zur »Bündnissolidarität« und die Beteiligung an dem nun initiierten USgeführten globalen Projekt des »War on Terror« in den internationalen Beziehungen an Einfluss zu gewinnen oder zumindest zu verhindern, ihn durch Nichtbeteiligung zu verlieren.26 In diesem Sinne schrieb Schröder in einem publizierten Essay – in dem er gleichwohl an dem Narrativ des von der NATO aufgedrängten Kriegs festhielt – siebeneinhalb Jahre später: »Die Entscheidung des Parlaments setzte einen Schlusspunkt unter das Kapitel der eingeschränkten Souveränität Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir sind damit zu einem gleichberechtigten Partner in der internationalen Staatengemeinschaft geworden, der Pflichten zu erfüllen hat, etwa solche, die sich aus dem Nato-Bündnis im Fall Afghanistan ergeben haben; aber wir Deutschen haben ebenso auch Rechte erworben, etwa im Fall des Irak-Krieges nein zu sagen, weil wir von dem Sinn einer militärischen Intervention nicht überzeugt waren.

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[Bundeskanzleramt] Abteilungsleiter 2 Jan Friedrich über Chef des Bundeskanzleramts an Bundeskanzler, betr.: Ihr Gespräch mit NATO-GS Robertson am 20. September 2001, hier: Gesprächsunterlagen, Az: 211‑301 05 Na 14, 19.9.2001. Lutz Holländer, Die politischen Entscheidungsprozesse bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr 1999‑2003, Frankfurt a.M. 2007 (= Kieler Schriften zur politischen Wissenschaft, 19), S. 100 f. Beste [u.a.], Ein deutscher Krieg (wie Anm. 11), S. 85. Holländer, Die politischen Entscheidungsprozesse (wie Anm. 22), S. 63. Laut Fischer habe er sich dabei gegen die USA und Großbritannien durchgesetzt. Joschka Fischer, »I‘m not convinced«. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, Köln 2011, S. 63. Unerwähnt ließ er hierbei, dass sich auch Katar um den Austragungsort beworben hatte und die UN-Verwaltung offenbar nicht Deutschland vorzog. Deutsche Botschaft Doha, Drahtbericht Nr. 757, Betr.: Künftige Regierung in Afghanistan, hier: Vorbereitungstreffen afghanischer Stämme [sic], 19.11.2001. Vgl. etwa die von Ulf von Krause gesammelten Zeitzeugenaussagen, ders. Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr. Politischer Entscheidungsprozess mit Eskalationsdynamik, Wiesbaden 2011, S. 138, Anm. 244. Vgl. auch – wenn auch etwas inkonsistent im Urteil – Scott Brunstetter, A Changing View of Responsibility? German Security Policy in the Post-9/11 World. In: Old Europe, New Europe and the US: Renegotiating Transatlantic Security in the Post 9/11 Era. Hrsg. von Tom Lansford und Blagovest Tashev, Aldershot 2005, S. 26 f., 32.

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Der Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch ist also Ausdruck der vollständigen Souveränität Deutschlands über seine Außen- und Sicherheitspolitik.«27

Ebenfalls am Bündnisnarrativ festhaltend, gestand noch später der damalige außen- und sicherheitspolitische Berater Schröders, Michael Steiner, ein, dass die Entscheidung zur deutschen Beteiligung »null Prozent mit Afghanistan zu tun hatte und 100 Prozent mit den USA«.28 Es stellt sich die Frage, wie diese Praxis theoretisch zu verstehen ist. Eine genauere, aktengestützte Untersuchung des deutschen Entscheidungsprozesses im Kosovo zeigt, dass die letzte Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl genauso wie die darauffolgende unter Schröder auch hier offenbar vor allem daran interessiert war, ihren internationalen Einfluss zu erweitern.29 Auch die vorhergegangene deutsche Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich so interpretieren, wenn man berücksichtigt, dass die deutschen Bundeskanzler bis 1990 die volle Souveränität erst einmal zurückerlangen mussten. Diese Kontinuität legt nahe, dass die Entwicklungen nicht den individuellen Charaktereigenschaften der Entscheidungsträger zugeschrieben werden können. Das verdeutlicht insbesondere ein Blick auf die mit der »68er«-Bewegung verknüpften Biografien der führenden Mitglieder der rot-grünen Koalition, die sie deutlich von ihren Vorgängern unterschied.30 Vielmehr war es offenbar das »Feld«, auf dem sie sich bewegten und dessen Logik sie folgten, das die Kontinuität der Praxis bestimmte. Konkret heißt dies, dass die Akteure den »Wert des Spiels« auf dem »Feld« verinnerlicht hatten. Angesichts der Praxis lässt sich dieser Wert darin sehen, dass die hierauf tätigen Akteure in den internationalen Beziehungen eine möglichst wichtige Rolle einzunehmen versuchten und die von ihnen verfolgte Politik mit diesem Ergebnis positiv bewertet wird. Da sich ihre Entscheidungen inhaltlich nicht an Afghanistan als Politikziel orientierten, vermochten die höchsten außenpolitisch Verantwortlichen sowohl unter Schröder als auch seiner Nachfolgerin im Amt Angela Merkel nie, einen eindeutigen Zweck für das langfristige Engagement in diesem Land zu definieren.31 Lediglich punktuell wurden Entscheidungen gefällt, die gleichwohl weiterhin nicht darauf ausgerichtet waren, in Afghanistan etwas zu verändern. Dieser Handlungslogik folgte insbesondere der Entschluss von Bundeskanzler Schröder im Jahr 2003, ein US-amerikanisches Provincial Reconstruction Team (PRT) zu übernehmen. Zu dieser Zeit beabsichtigte die 27 28 29 30

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Gerhard Schröder, Heimkehr in zehn Jahren. Zur Zukunft des deutschen Engagements in Afghanistan. In: Der Spiegel, Nr. 7, 2009, S. 100‑101, hier S. 100. Nico Fried, Christoph Hickmann und Tobias Matern, Krieg im toten Winkel. In: Süddeutsche Zeitung, 17.6.2017, S. 11. Siehe den Beitrag von Hans-Peter Kriemann in diesem Band. Hanns W. Maull, Die prekäre Kontinuität. Deutsche Außenpolitik zwischen Pfadabhängigkeit und Anpassungsdruck. In: Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. Innen- und Außenpolitik seit 1949. Hrsg. von Manfred G. Schmidt und Reimut Zohlnhöfer, Wiesbaden 2006, S. 421‑445, hier S. 421‑424. Bezüglich einer mangelnden Strategie im Rückblick selbst Fischer, »I‘m not convinced« (wie Anm. 18), S. 74.

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US-Administration, die im Bonner Abkommen nur für Kabul vorgesehene multinationale ISAF auf das gesamte Land auszuweiten. Schröder sah die Möglichkeit, durch Übernahme eines US-PRTs das Verhältnis zu den USA zu verbessern, die über die deutsche Weigerung, den Irakkrieg politisch zu unterstützen, verärgert waren.32 Da dieses Ziel keinem mit Afghanistan verbundenen Zweck diente, fehlte auch eine klare deutsche Strategie für den neu hinzugekommenen Aufgabenbereich. Weitere wichtige politische Entscheidungen betrafen den Umfang der bis 2010 schrittweise erhöhten Truppenzahlen und Hilfsgelder. Auch diesen lagen keine durch die Verantwortlichen präzisierten Ziele zugrunde.33

3. Die ministerielle Logik der Entscheidungen Somit hatten die mit der Umsetzung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik in Afghanistan befassten Bundesministerien keine klare Weisung, an der sie ihr Handeln hätten strategisch ausrichten können. Unabhängig voneinander definierten sie daher ihre Aufgaben vor allem so, wie es ihren Mitteln entsprach. Damit verfolgten sie das Interesse, die Relevanz ihrer ressortspezifischen Fähigkeiten und ihres jeweiligen Ressorts zu erhöhen.34 Die in der Folgezeit verfassten Konzepte für das deutsche Engagement spiegelten in ihrer Systematik also weniger einen inhaltlichen Plan als vielmehr die Ressortgrenzen wider. Demnach stand der in dem jeweiligen Konzept als »Politische Unterstützung«, »Politischer Prozess« oder »gute Regierungsführung« bezeichnete Abschnitt offensichtlich für das Auswärtige Amt. »Einsatz der Bundeswehr«, »Sicherheitsunterstützung« und »Sicherheit« stand für das BMVg und »Wiederaufbau« und »Entwicklung« für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Das Bundesministerium des Inneren (BMI) konnte hingegen keine Federführung beanspruchen, da es mit vergleichsweise wenig Personal in Afghanistan engagiert war. Der Polizeiaufbau wurde daher wechselweise unterschiedlichen Aufgabenfeldern zugeordnet.35 Zusammengeführt 32

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Holländer, Die politischen Entscheidungsprozesse (wie Anm. 22), S. 111. Vgl. auch die Aussage des von Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr (wie Anm. 25), S. 153, Anm. 282, befragten Zeitzeugen. Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008, S. 12; Falk Tettweiler, Lernen in Interventionen? Evaluation am Beispiel der deutschen Afghanistan-Mission, Berlin 2011 (= SWP-Studie, S22), S. 28. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 169 f. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Material für die Presse. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001: Bundesregierung handelte konsequent, schnell und besonnen, Berlin 6.9.2002, S. 9‑12; Auswärtiges Amt, Bundesministerium des Inneren, Bundesministerium der Verteidigung und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Das Afghanistan-Konzept der Bundes­ regierung, [Berlin] 12.9.2006, S. 5‑17; Bundesregierung, Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, Berlin August 2007, S. 4‑18; Bundesregierung, Das Afghanistan-

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wurden die Aufgabenfelder nur mit vagen Formeln wie der »Stabilisierung Afghanistans«, die sich zudem oftmals widersprachen oder zumindest nicht unbedingt miteinander vereinbar waren.36 Hierzu zählte insbesondere das meistgenannte Ziel, Afghanistan nicht mehr zum Rückzugsraum von international tätigen »Terrorgruppen« werden zu lassen, das etwa ab November 2001 mit dem völlig andersartigen Vorhaben der »Entwicklung« und Demokratisierung des Landes verbunden wurde.37 Offenbar handelte es sich um Kompromissformeln, die gleichzeitig schwammig und umfassend genug waren, um die Vertreter aller beteiligten Ressorts zufriedenzustellen.38 Die Vertreter der verschiedenen Bundesministerien setzten in der Regel die wichtigsten politischen Entscheidungen in gegenseitigem Einvernehmen um. Das führte dazu, dass die Praxis der vor Ort eingesetzten Kräfte von Kompromissen zwischen den Ressortinteressen geprägt war. Dies galt auch für Schröders PRT-Entscheidung. Während die Vertreter des BMVg für den PRT-Einsatz in einem möglichst sicheren Raum eintraten, um ihre Soldaten zu schonen, plädierten die des AA für einen Stützpunkt, dessen Präsenz im internationalen Umfeld möglichst »sichtbar« sein sollte. Am Ende einigten sich beide Ressorts auf die Provinz Kunduz als Kompromiss.39 Gleiches galt bei der Festlegung der Truppenstärken. Hier drängten die Vertreter des AA meist auf niedrigere Personalstärken als die des BMVg, sodass sich die Forderungen beider Ministerien meist in der Mitte trafen. So brachte etwa der Bundesminister der Verteidigung Karl-Theodor zu Guttenberg 2010 eine Zahl von 1500 zusätzlichen Soldatinnen und Soldaten in die Kabinettsverhandlungen ein, während der Bundesminister des Auswärtigen, Guido Westerwelle, überhaupt keine weitere Personalaufstockung vorsah. Schließlich einigten sich beide auf eine Zahl von 850 Soldaten, von denen allerdings 350 in Reserve verblieben.40

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Konzept der Bundesregierung, Berlin September 2008, S. 7‑29; Bundesregierung, Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung. Das deutsche Afghanistan-Engagement nach der Londoner Konferenz, 25.1.2010, S. 7‑12. Vgl. zur Kompetenzverteilung Martin Zapfe, Sicherheitskultur und Strategiefähigkeit. Die ressortgemeinsame Kooperation der Bundesrepublik Deutschland für Afghanistan, Diss. Universität Konstanz 2011 (letzter Zugriff 5.9.2019), S. 192. Philipp Münch, Strategielos in Afghanistan. Die Operationsführung der Bundeswehr im Rahmen der International Security Assistance Force, Berlin 2011 (= SWP-Studie, S30), S. 8. Beste [u.a.], Ein deutscher Krieg (wie Anm. 11), S. 82; Auswärtiges Amt, Bundesministerium des Inneren, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Das AfghanistanKonzept der Bundesregierung, 2006 (wie Anm. 35), S. 2; Bundesregierung, Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, 2007 (wie Anm. 35), S. 1; Bundesregierung, Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, 2008 (wie Anm. 35), S. 1; Bundesregierung, Auf dem Weg zur Übergabe (wie Anm. 35), S. 1. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 170 f. Holländer, Die politischen Entscheidungsprozesse (wie Anm. 22), S. 112 f.; Interview mit ehemals in Afghanistan eingesetztem Angehörigen des AA in Berlin, 28.6.2012. Embassy Berlin, Defense Minister zu Guttenberg Reveals Struggle with FM Westerwelle on Troop Increase for Afghanistan In: Wikileaks. Secret US Embassy Cables, 4.2.2010, (letzter Zugriff 3.7.2018); Zapfe, Sicherheitskultur und Strategiefähigkeit (wie Anm. 35), S. 210.

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Der Blick auf die ministerielle Praxis zeigt, dass für diese ein inhaltliches Ziel – das ja auch nicht existierte – nicht entscheidend war. Vielmehr stand die Wahrung der jeweiligen Ressortinteressen im Vordergrund. Dabei ist zu bemerken, dass sich das Interesse an einer Intervention nach der jeweiligen ministeriellen Position der Akteure richtete. In der Bundeswehr etwa war der Generalinspekteur an Auslandseinsätzen interessiert, da ihm hierfür 1998 die Verantwortung übertragen worden war und er nur auf diesem Feld an Einfluss gewinnen konnte. Demgegenüber verloren die Inspekteure der Teilstreitkräfte und militärischen Organisationsbereiche bei Einsätzen an Spielraum. Sie waren dem Generalinspekteur bis 2012 nicht direkt unterstellt und mussten befürchten, dass die von ihnen einsatzbereit zu haltenden Truppenteile »abgenutzt« wurden.41 Letztlich verdeutlicht die Praxis der Ressortvertreter, dass diese auf ihren Feldern den Wert des Spiels verinnerlicht hatten, ihrer jeweiligen Organisation einen Bedeutungszuwachs zu verschaffen. Somit blieb es in Afghanistan nachrangig, Aufgaben im Sinne des proklamierten Einsatzzwecks umzusetzen. Die meisten Ansätze der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen konnten diese Logik bisher nicht erfassen, da sie Staaten oder internationale Organisationen als geeinte Akteure vergegenständlichen. Lediglich die an zahlreichen Fallbeispielen geschärften »Bureaucratic Politics«-Ansätze gehen einen ähnlichen Weg wie der hier verfolgte Erklärungsansatz. Allerdings beschränken sie sich in der Regel auf die nationale Ebene.42

4. Die militärische Logik des deutschen Engagements Die Angehörigen der militärischen Führung unterhalb des BMVg erkannten oft nicht, dass die politische Führung gar nicht vordringlich die Absicht verfolgte, eine konkrete Zielvorstellung in Afghanistan umzusetzen. Denn in Pressestatements und veröffentlichten Dokumenten wie den »AfghanistanKonzepten« ließ die Bundesregierung die vagen Ressortkompromisse für die Öffentlichkeit kohärent erscheinen und gab damit Zielstrebigkeit vor. Dementsprechend versuchten die Verantwortlichen auf der Arbeitsebene tatsächlich, bestimmte Ziele in Afghanistan zu erreichen. Hierbei hatten sie einen großen Interpretationsspielraum, da die Vorgaben keine klaren, auf Afghanistan bezogenen politischen Ziele erkennen ließen, sondern nur Ansammlungen von widersprüchlichen, nicht priorisierten Absichten beinhalteten. Unzweideutig war nur – auch wenn dies wohl nie explizit als Strategie formuliert wurde –, dass die höchsten politischen Entscheidungsträger keine 41 42

Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 111, 172. Vgl. Morton H. Halperin, Priscilla Clapp und Arnold Kanter, Bureaucratic Politics and Foreign Policy, Washington, D.C. 2006; Graham T. Allison und Philip Zelikow, Essence of Decision. Explaining the Cuban Missile Crisis, New York [u.a.] 1999.

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negative Medienöffentlichkeit wünschten. Als skandalisierungsträchtig galt ihnen insbesondere, wenn das deutsche Engagement als zu kriegerisch erschien und wenn Soldaten ums Leben kamen.43 Die Verantwortlichen in der Truppe nutzten den ihnen zugestandenen Interpretationsspielraum bei der Auswertung ihres Auftrags so, dass sie vor allem jene Aufgaben umsetzten, die ihren eigenen Interessen dienten. Aufgrund der Vagheit der Vorgaben der politischen und militärischen Führung sowie der Tatsache, dass auch international höchst umstritten war, welche Vorgehensweisen in Krisengebieten am ehesten Erfolg versprachen, eröffnete sich ihnen hierbei ein sehr breites Spektrum. Wie anhand von Bourdieus Theorie erläutert, ist dies nicht als bewusste Handlung zu verstehen, sondern als eine unbewusste Abstimmung zwischen ihrem Habitus und dem jeweiligen Feld. Das heißt: Es sollte davon ausgegangen werden, dass die Bewertungsschemata der meisten Habitus44 diese Aufgaben als zielführend klassifizierten. Im Folgenden wird dies am Beispiel der Führung von Operationen im Rahmen des deutschen ISAF-Anteils verdeutlicht.

5. Operationsführung I: Logik der Präsenzpatrouillen In ihrer Praxis legten die Verantwortlichen auf dem Feld der Operationsführung zunächst wie in den Balkan-Einsätzen einen starken Schwerpunkt auf Präsenzpatrouillen.45 Diese bestanden aus mindestens drei Fahrzeugen, die anfangs gar nicht oder nur leicht, nachdem sich die Angriffe gehäuft hatten, jedoch immer stärker gepanzert waren. Sie sollten allein durch ihre Präsenz in möglichst vielen Teilen des eigenen Verantwortungsbereichs »Sicherheit« herstellen. Dabei ist unklar, ob dies auf die gefühlte »Sicherheit« der 43 44 45

Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 213‑216. In Einklang mit den dominierenden Übersetzungen der Werke Bourdieus wird »Habitus« hier als Singular- und Pluralform verwendet. Vgl. für die Praxis den Beitrag des Kommandeurs des ersten deutschen Einsatzkontingents Carl-Hubertus von Butler, Der Beginn des deutschen Engagements in Afghanistan. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2010), 6, S. 12‑13, S. 12 f., sowie von dessen Nachfolger Manfred Schlenker, Soldaten der Luftlandebrigade 26 – Saarland – in Afghanistan. Teil 1 – Bericht von Brigadegeneral Manfred Schlenker. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2003), 2, S. 14‑16, hier S. 15, und Georg Auer, Unterstützung auf dem Weg zu Frieden, Freiheit und Wohlergehen. KMNB: Unterstützung der afghanischen Sicherheitspartner. In: Europäische Sicherheit, 54 (2005), 9, S. 48‑52, hier S. 50, ferner den Beitrag des damaligen deutschen ISAF-Kommandeurs Norbert van Heyst, Der deutsche Beitrag zur ISAF in Afghanistan. In: Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr. 1955 bis 2005. Hrsg. von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack und Martin Rink, Freiburg i.Br. 2005, S. 615‑629, hier S. 620. Vgl. für die Provinzen: Kersti Larsdotter, Exploring the Utility of Armed Force in Peace Operations. German and British Approaches in Northern Afghanistan. In: Small Wars & Insurgencies, 19 (2008), 3, S. 352‑373, hier S. 361; Marc Lindemann, Unter Beschuss. Warum Deutschland in Afghanistan scheitert, Berlin 2010, S. 30 f.

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Bevölkerung zielte oder auf die allgemeine Eindämmung der Gewalt zwischen allen Akteuren.46 In jedem Fall dürften Präsenzpatrouillen die »objektive Sicherheit« nicht erhöht haben. Denn die deutschen Soldatinnen und Soldaten verfügten, anders als etwa im Kosovo, nicht über polizeiliche Befugnisse, sondern mussten stets an »die afghanischen Behörden« verweisen.47 Teilweise führten sie auch gemeinsame Patrouillen mit Armee, Polizei und dem Geheimdienst Afghanistans durch.48 Allerdings dürfte die Kooperation mit den lokalen Sicherheitskräften bestenfalls einigen Bevölkerungsteilen ein höheres Sicherheitsgefühl gegeben haben. Denn Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte erhielten oft keinen oder nur einen von ihren Vorgesetzten reduzierten Sold. Schadlos hielten sie sich darum an der Bevölkerung. Dementsprechend schrieben die deutschen Soldaten – teilweise noch Jahre nach Beginn der ISAF-Mission – über die »falschen Verhaltensweisen der [afghanischen] Polizisten«49, die stete Gefahr, dass diese »in kriminelle Aktivitäten abgleiten«50, und das »nicht sonderlich ausgeprägte Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei«.51 Zudem stammten die Sicherheitskräfte oft aus Fraktionen des Bürgerkriegs, die bestimmte Bevölkerungsteile weiterhin als Gegner wahrnahmen und bewusst benachteiligten. Durch ihre Kooperation mit diesen Akteuren wurden die Angehörigen der Bundeswehr von vielen Afghanen als Komplizen dieser Gruppen wahrgenommen.52 Hinzu kam, dass die meisten Afghanen nach 2001 auch das formale Justizsystem als hochgradig korrupt erlebten.53 46

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Das erste Grundlagendokument, das die Präsenzpatrouillen konzeptualisierte, dürfte das Afghanistan-Konzept von 2003 sein. Es verwies einerseits darauf, dass allgemein bereits in Kabul durch »die Präsenz der ISAF-Truppen [...] die Sicherheitslage verbessert werden« konnte. Andererseits hieß es konkreter, dass die Präsenzpatrouillen zur »Erhöhung des Gefühls der Sicherheit durch Sichtbarkeit« beitragen könnten. Auswärtiges Amt, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und Bundesministerium des Inneren, Das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung, [Berlin] 1.9.2003, S. 5, 7. Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/2380 [Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen der Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe], 9.8.2006, S. 10; Lindemann, Unter Beschuss (wie Anm. 45), S. 36 f. Johann Fritsch, Dem Frieden eine Chance geben. Deutsche Fallschirmjäger in Kabul. In: Der Infanterist, (2002), 1, S. 10‑11. Georg Auer, Deutsch-Französische Brigade zurück aus Afghanistan. In: Der Infanterist, (2005), 1, S. 71‑74, hier S. 72, nannte ein Drittel der Patrouillen, die sie mit der afghanischen Polizei oder des »Sicherheitsdienstes« durchführten – womit offenbar der berüchtigte Geheimdienst gemeint war, der nach 2001 National Directorate of Security (NDS) hieß. Schlenker, Soldaten der Luftlandebrigade 26 (wie Anm. 45), S. 16, schrieb für seine Zeit gar von »[m]indestens 50 %« der Patrouillen. Fritsch, Dem Frieden eine Chance geben (wie Anm. 48), S. 11. Van Heyst, Der deutsche Beitrag (wie Anm. 45), S. 620. Schlenker, Soldaten der Luftlandebrigade 26 (wie Anm. 45), S. 16. Vgl. zur Korruption in der Polizei auch Wolf-Dieter Löser, Mit dem Eurokorps in Afghanistan. In: Der Infanterist, (2005), 1, S. 70‑71, hier S. 70. Philipp Münch, Local Afghan Power Structures and the International Military Intervention. A Review of Developments in Badakhshan and Kunduz Provinces, 2013 (= AAN Thematic Report, 03/2013), S. 35, 62, 68. Antonio Giustozzi und Christoph Reuter, The Insurgents of the Afghan North. The Rise of the Taleban, the Self-Abandonment of the Afghan Government and the Effects of

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Auch für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bedeuteten die Patrouillen keineswegs mehr Sicherheit im Sinne einer geringeren Wahrscheinlichkeit, getötet oder verwundet zu werden. Der Grund war zum einen wie eben dargelegt, dass einige Bevölkerungsteile der Bundeswehr eher feindlich gegenüberstanden. Zum anderen boten die Patrouillen ein willkommenes Ziel für Aufständische. Soweit bekannt, richtete sich sowohl der erste »komplexe Angriff«54 im Juni 2006 gegen eine (Aufklärungs-)Patrouille als auch jener vom April 2009, in dem der erste deutsche Soldat im Lauf eines längeren Kampfes getötet wurde.55 Zwar versuchten die Patrouillen zu vermeiden, auf immer denselben Straßen in ihre Basen zurückzukehren, aber die Möglichkeiten hierzu waren begrenzt. Diese Tendenz verschärfte sich im Lauf der Zeit, da die Bundeswehr aufgrund der gehäuften Angriffe immer stärker geschützte und damit auch schwerere Fahrzeuge verwendete, die nur auf besonders festen, in Afghanistan jedoch kaum vorhandenen Straßen fahren konnten.56 Insgesamt scheinen die Präsenzpatrouillen also kontraproduktiv gewesen zu sein, weshalb sie von (ehemaligen) Soldaten auch kritisiert wurden.57 Dies wirft die Frage auf, warum die Verantwortlichen sie dennoch weiter nutzten und nach der Verstärkung des Mali-Einsatzes sogar in einem weiteren Einsatzgebiet auf sie zurückgriffen.58 Ein Grund dafür, warum die Habitus der Verantwortlichen die Praxis der Präsenzpatrouillen für sinnvoll hielten, liegt in dem dadurch erzielten Mehrwert für ihr »kulturelles Kapital«. Bourdieu bezeichnete mit diesem Begriff angeeignetes Wissen und Fähigkeiten als eine der Ressourcen, um die Akteure auf den Feldern konkurrieren. Er beobachtete bereits in einer Studie über die staatliche französische Verwaltung, dass sich erfahrene Angehörige unter anderem deshalb gegen Neuerungen wehren, weil hierdurch das Wissen um etablierte Verfahren, durch die sie sich von anderen unterschieden, entwertet werden würde.59 Dementsprechend

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ISAF’s »Capture-and-Kill Campaign«, 2011 (= AAN Thematic Report, 04/2011), S. 18 f.; International Crisis Group, Reforming Afghanistan’s Broken Judiciary, Kabul, Brüssel 2010 (= ICG Asia Report, 195), S. 25 f. Hierunter verstanden die Praktiker einen Angriff, der nicht bloß einen Anschlag mit unterschiedlich verbrachtem Sprengstoff darstellte, sondern meist einen solchen mit taktisch ausgefeilteren Aktionen von zusätzlichen Kämpfern. Winfried Nachtwei, Afghanistan-Besuch im Oktober 2006: Zwischen Anschlagsgefahren und Aufbaufortschritten, 24.11.2006 (letzter Zugriff 4.3.2014); Lindemann, Unter Beschuss (wie Anm. 45), S. 42, 249 f.; Trauer um den im Feuergefecht gefallenen Soldaten, Berlin 30.4.2009 (letzter Zugriff 16.5.2009). Nachtwei, Afghanistan-Besuch im Oktober 2006 (wie Anm. 55). Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 287. Susanne Hähnel, Tausendmal im Raum: Auf Patrouille in Mali, Berlin 3.11.2017, (letzter Zugriff 2.12.2017). Pierre Bourdieu, The Social Structures of the Economy, Cambridge [u.a.] 2005 [1988], S. 113.

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erscheint auch die Fortführung der Balkan-Patrouillen als Bemühung, den Wert von Expertise zu erhalten. Ein weiterer Grund war womöglich, dass Patrouillen eine Möglichkeit waren, die Truppe überhaupt einzusetzen. Die Form ihres Einsatzes wurde durch die vorhandenen Verfahren und die auf sie zugeschnittenen Fahrzeuge mit vorherbestimmt.60 Schließlich ließ sich die Anzahl der gefahrenen Patrouillen als Beleg für die Effektivität des eigenen Engagements anführen, der auf andere Weise schwer zu erbringen war.61

6. Operationsführung II: Logik der Offensivoperationen Mitte der 2000er Jahre intensivierten sich die Angriffe von Aufständischen gegen die internationalen Truppen, einschließlich der Bundeswehr. Die Anfang 2007 von den USA übernommene ISAF-Führung entschloss sich daher zu einem aktiveren Vorgehen. Sie befahl seit diesem Jahr, CounterinsurgencyOperationen durchzuführen.62 Auch deutsche Truppenführer begannen ab 2007 – zunächst auf eigene Initiative – mit offensiven Operationen, die sie unter dem Begriff Counterinsurgency zusammenfassten.63 Schließlich wies auch das BMVg die Truppe an, »Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und 60

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Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 278. Ende der 1990er Jahre erhielt die Bundeswehr das wohl am besten geschützte und dabei noch vergleichsweise bewegliche, für Patrouillen ausgelegte Fahrzeug »Dingo«. Sie setzte es auch bald in Afghanistan ein. Allerdings erwies es sich als ungeeignet für intensivere Gefechte, da die Bordwaffe einen großen toten Winkel hatte. Zudem erschwerte es das schnelle Absitzen der Besatzung, um sich am Kampf zu beteiligen, da sie die komplette Ausrüstung nicht bereits im Fahrzeug anlegen konnte und die Türen sehr exponiert waren. Vgl. z.B. Manfred Schlenker, Erfahrungen aus dem 2. ISAF-Kontingent in Afghanistan. In: Europäische Sicherheit, 52 (2003), 5, S. 14‑20, hier S. 16; Auer, Deutsch-Französische Brigade (wie Anm. 48), S. 72. Van Heyst, Der deutsche Beitrag (wie Anm. 45), S. 620, berichtete, dass es unter seinem Kommando gelungen sei, die Anzahl der Präsenzpatrouillen zu verdoppeln bzw. bei Bedarf sogar zu vervierfachen. Philipp Münch, »Counterinsurgency« in der Bundeswehr. Konzeption, Interpretation und Praxis. In: Sicherheit und Frieden, 28 (2010), 4, S. 211‑216, hier S. 212. Anders als oftmals dargestellt, war die Verwendung des Begriffs »Counterinsurgency« für Operationen der ISAF somit keineswegs eine Innovation von General Stanley McChrystal, der 2009 das Kommando übernahm. Auch den ihm zugeschriebenen Begriff der »population-centric counterinsurgency« verwendete – semantisch nur leicht abgewandelt – bereits im Jahr 2003 der Kommandeur der OEF-Kräfte in Afghanistan Lieutenant General David Barno. Hierzu: Astri Suhrke, When More Is Less. The International Project in Afghanistan, New York 2011, S. 62; David W. Barno, Fighting »The Other War«: Counterinsurgency Strategy in Afghanistan, 2003‑2005. In: Military Review, 87 (2007), 5, S. 44‑37, hier S. 35. Vgl. z.B. Axel Grunewald, Ulrich Meyfeld und Sebastian Fuchs, IED-Bedrohung und Counterinsurgency in Kunduz. Erfahrungen des Fallschirmjägerbataillons 373. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2008), 2, S. 23‑26, hier S. 25; Bernd Schulte, Die »Oldenburgische« Luftlandebrigade 31 im Einsatz im Norden von Afghanistan. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2008), 2, S. 5‑6, hier S. 6; Dieter Warnecke, Operationsführung mit ANSF. Harekate Yolo II ein Muster für Afghanistan? In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2008), 2, S. 11‑14, hier S. 11.

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aktiv gegen diese vorzugehen«.64 Das US-amerikanische CounterinsurgencyKonzept war jedoch äußerst vage und konnte sich letztlich auf fast alle denkbaren Vorgehensweisen gegen »insurgents« beziehen. Seine prominentesten Vertreter stellten sich darunter jedoch zivile und militärische Mittel vor, mit denen – im Gegensatz zu klassischen militärischen Operationen – die sozialen Beziehungen und Wertungen von Menschen langfristig beeinflusst werden sollten. Ziel war es also nicht, die Kräfte der Aufständischen zu vernichten, sondern die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, die in Bedrängnis geratene Regierung als legitim anzuerkennen und keine Aufständischen zu unterstützen.65 Allerdings unterschied sich die Praxis der deutschen wie der meisten anderen ISAF-Truppenführer deutlich von diesem Ideal. Den Kern militärischen Denkens bildete weiterhin die klassische Trias der Operationsführung, die als wichtigste Gesichtspunkte der Planung »Raum« (das Gelände), »Zeit« und »Kräfte« (die eigenen sowie die des Gegners) in den Blick rückte. Diese Operationsführung stand in einigem Gegensatz zum Counterinsurgency-Ideal. So orientierten sich die Verantwortlichen bei der Planung von Operationen im Allgemeinen am Gelände: Sie versuchten – durch die Fokussierung auf konventionelle Waffenwirkung und auf wichtige Straßen – »strategisches« Gelände zu gewinnen. Dies zeigt sich etwa an der Positionierung von Außenposten.66 Nachrangig war also, wo sich die entscheidenden Bevölkerungsteile tatsächlich befanden – worüber das eher vernachlässigte Nachrichtenwesen ohnehin kaum Informationen liefern konnte.67 Die Operationen waren in der Regel auf einige Tage, höchstens auf wenige Wochen ausgelegt.68 Das heißt, sie sollten innerhalb kurzer Zeit im 64

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BMVg Leiter Einsatzführungsstab, Az 31-70-00, Jahresweisung 2009 zur Ausplanung und für den Einsatz DEU Kräfte im Rahmen der Beteiligung an der NATO Operation ISAF, 8.5.2009, zit. nach Vorläufiger Bericht, VS-NfD, Nur für AG85, S. 1, Anm. 1,

(letzter Zugriff 5.9.2019). Michael Fitzsimmons, Hard Hearts and Open Minds? Governance, Identity and the Intellectual Foundations of Counterinsurgency Strategy. In: Journal of Strategic Studies, 31 (2008), 3, S. 337‑365, hier S. 339‑342. Interview mit einem 2008/2009 im Headquarter RC-North tätigem Offizier, 8.2.2010, und mit ehemals in der Führung der QRF 3 tätigem Offizier in Potsdam, 8.2.2011. Vgl. zu den Außenposten: B., Tapfer und treu. Im Einsatz als Infanteriekompanie in Kunduz. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2010), 5, S. 5‑8, hier S. 7; Marco Seliger, Vom Kriege. In: Loyal, (2010), 10, S. 6‑17, hier S. 8, 14; Christoph Reuter, Foxtrott auf Höhe 432. In: Stern, (2010), 26, S. 45‑49, hier S. 47. Andreas Trenzinger, Handeln ins Ungewisse. Führung einer Kompanie im Einsatz in Afghanistan unter Berücksichtigung des Kampfes gegen irreguläre Kräfte. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2010), 6, S. 25‑30, hier S. 28‑30. Vgl. z.B. Sascha Brinkmann, Corporate Mission – Operation Naiad Kuistani III. Gelebte Multinationalität im Einsatz: Das FschJgBtl 313 in Afghanistan. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2008), 2, S. 20‑23, hier S. 22 f.; Marc Paare, Aufklärung als Schlüssel zum Erfolg. Die Erfahrung der gemischten Aufklärungskompanie in der Operation »Harekate Yolo II« vom 8.10. bis 9.11.2007. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2008), 2, S. 17‑20, hier S. 18 f.; Bernhard Chiari, A New Model Army. The Bundeswehr in Kunduz, 2003‑2012. In: From Venus to Mars? Provincial Reconstruction Teams and the

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Sinne eines klassischen Gefechts die militärische Entscheidung herbeiführen. Gleichzeitig waren sie so angelegt, dass sie die implizite Forderung der politischen Führung erfüllen konnten, möglichst keine eigenen Soldatinnen und Soldaten zu verlieren. Dafür planten die verantwortlichen Stäbe meist sehr lange im Voraus alle Details des Vorgehens; zudem erkundeten Vorauskommandos teilweise die Wege, verbesserten die Infrastruktur oder trafen Absprachen mit lokalen Führern.69 Im Vergleich zu anderen ISAFTruppenstellern setzte die Bundeswehr darüber hinaus vor allem auf mechanisierte Kräfte, also auf schwergepanzerte Kettenfahrzeuge wie Schützenpanzer Marder 1A5, die zugehörigen Pionierfahrzeuge und schließlich auch auf die Panzerhaubitze 2000. Diese für den Kampf in Mitteleuropa ausgelegten Fahrzeuge waren zwar besser geschützt und hatten eine höhere Feuerkraft als andere Gefechtsfahrzeuge, jedoch waren sie auch schwerer, langsamer, lauter und unter den afghanischen naturräumlichen Bedingungen störungsanfälliger.70 Somit war ein überraschender Einsatz – ungeachtet der geleisteten Kampf- und Feuerunterstützung durch Schützenpanzer und Artillerie – mit diesem Gerät kaum möglich. Die afghanischen Aufständischen waren äußerlich nicht von der Bevölkerung zu unterscheiden. Selbst wenn sie identifiziert waren, konnten sie mit handelsüblichen Fahrzeugen schnell oder unerkannt ausweichen. Allein deshalb gelang es nicht, sie mit diesen raumzentrierten Operationen zurückzudrängen.71 Somit stellt sich die Frage, weshalb die Habitus der verantwortlichen Truppenführer dennoch keinen Widerspruch in dieser Form der Operationsplanung erkannten – oder warum entsprechende Kritik aus der Truppe offenbar versandete. Überzeugende Antworten liefert erneut der Blick auf das kulturelle Kapital, nach dem die Akteure auf der mittleren und höheren militärischen Führungsebene strebten. Denn maßgeblich für das kulturelle Kapital von Stabsoffizieren und Generalen der Bundeswehr blieb die Fähigkeit, Truppenverbände nach den etablierten Verfahren des »Gefechts der verbundenen Waffen« beziehungsweise »verbundenen Kräfte« erfolgreich im Kampf zu führen. Dementsprechend war Taktik das ent-

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European Military Experience in Afghanistan, 2001‑2014. Hrsg. von Bernhard Chiari unter Mitarbeit von Thijs Brocades Zaalberg, Nicola Labanca und Ben Schoenmaker, Freiburg i.Br. 2014 (= Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien, 3), S. 135‑156, hier S. 149. Brinkmann, Corporate Mission (wie Anm. 68), S. 22 f.; Paare, Aufklärung als Schlüssel (wie Anm. 68), S. 18 f.; Christian von Blumröder, Partnering: Auflage, Auftrag und Chance. Erfahrungen des 1. Kontingents Ausbildungs- und Schutzbataillon Kunduz von Juli 2010‑Januar 2011. In: Der deutsche Fallschirmjäger, (2011), 3, S. 5‑13, hier S. 7 f.; Interview mit 2010/2011 in der Führung des ASB Kundus tätigem Offizier, 14.7.2011. Vgl. zum Einsatz des Marders Marcel Bohnert und Andy Neumann, German Mechanized Infantry on Combat Operations in Afghanistan, Norderstedt 2017, S. 21‑23, 48 f.; vgl. zum Einsatz der Panzerhaubitze 2000 Thomas Lowin, Jochen Koch und Sven Trusch, Das System Artillerie im ISAF-Einsatz. Erste Erfahrungen. In: Zu Gleich, (2010), 2, S. 5‑12; vgl. zu den Pionierkräften Blumröder, Partnering (wie Anm. 69), S. 5 f. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 297‑300.

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scheidende Fach bei den wichtigsten Lehrgängen für Offiziere.72 Positionen im Bereich Operationsführung (A3 oder G3 beziehungsweise J3) garantierten im »Verwendungsaufbau« einen erfolgreichen Karriereverlauf.73 Die Operationen in Afghanistan so zu gestalten, wie sie es erlernt hatten, ermöglichte gerade älteren Truppenführern, den Wert ihres kulturellen Kapitals zu bewahren und gegenüber ihren Vorgesetzten zu beweisen. Zugleich verdeutlicht der Blick auf den Habitus dessen historische Genese. Wie Gerhard P. Groß dargelegt hat, zieht sich das hier auch am ISAF-Beispiel aufgezeigte Ideal von »operativer Führungskunst« wie ein roter Faden durch die deutsche Militärgeschichte von den Einigungskriegen des 19. Jahrhunderts bis zur Bundeswehr.74 Es bestand darin, selbst einen überlegenen Gegner durch eine besonders agile Operationsführung – auch unter Vernachlässigung einer zwar genauen, aber langwierigen Lagebeurteilung – schlagen zu können. Obwohl diese Doktrin nur in den deutschen Einigungskriegen 1864 bis 1871 erfolgreich war und in den Weltkriegen trotz Anfangserfolgen die zahlenmäßige und materielle deutsche Unterlegenheit operativ nicht ausgleichen konnte, blieb es in den Köpfen des militärischen Spitzenpersonals verankert. Diese Kontinuität reicht bis in die Bundeswehr. Bei der Gestaltung von Ausbildung, Organisationsstrukturen und der Interpretation der Lage reproduzierten deutsche Offiziere immer wieder erneut unbewusst die Bedingungen, auf denen ihr auf »operative Führungskunst« ausgerichteter Habitus beruhte. So verfassten die frühen in Reichswehr und Wehrmacht – sowie teilweise noch in den kaiserlichen Kontingentheeren – sozialisierten Offiziere der Bundeswehr beispielsweise die neuen Dienstvorschriften auf Grundlage der alten und sahen selbst im Atomwaffenzeitalter noch Raum für klassische Operationsführung.75

7. Fazit: Paradoxe Eigenlogik des Afghanistan-Engagements Anhand der höchsten politischen Entscheidungen nach dem 11. September 2001 und am Fall der deutschen Operationsführung im Rahmen der ISAF zeigt dieser Beitrag, dass die Logik des deutschen Afghanistan-Engagements 72

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Luke G. Grossman, Command and General Staff Officer Education for the 21st Century. Examining the German Model, Fort Leavenworth, Kansas 2002, S. 25; Hilmar Linnenkamp, Neue Aufgaben der Bundeswehr – alte Ausbildung? In: Sicherheit und Frieden, 16 (1997), 3, S. 166‑171, hier S. 168‑170. Martin Kutz, Operative Führung als Denkfigur und Handlungskonzept der Heeresführung der Bundeswehr. Implikationen und Gefahren einer Wiederbelebung Schlieffenscher Denkmuster. In: Realitätsflucht und Aggression im deutschen Militär. Hrsg. von Martin Kutz, Baden-Baden 1990 (= Militär, Rüstung, Sicherheit, 62), S. 49‑86; Hagen, Homo Militaris (wie Anm. 9), S. 202 f. Gerhard P. Groß, Mythos und Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusinger, Paderborn 2012 (= Zeitalter der Weltkriege, 9), S. 317, 321. Münch, Die Bundeswehr in Afghanistan (wie Anm. 2), S. 86‑90.

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wenig mit dem Land selbst und den sich hier stellenden militärischen Herausforderungen zu tun hatte. Bereits mit ihrer Entscheidung, sich an der Intervention beteiligen zu wollen, zielten die höchsten politischen Entscheidungsträger nicht darauf ab, etwas in Afghanistan zu verändern, sondern die Stellung der Bundesrepublik in den internationalen Beziehungen und – auf der Hierarchieebene darunter – ihres jeweiligen Ressorts auf dem Feld der deutschen Regierung zu verbessern. Da sie auf dieser Grundlage keinen auf Afghanistan bezogenen politischen Zweck formulieren konnten, gab es auch nie entsprechend konsistente strategische Ziele. Vielmehr nutzten die ausführenden Akteure ihre Freiheit bei der Gestaltung ihrer Praxis dahingehend, dass sie vor allem das taten, was ihre Bedeutung stärkte. Vor dem Hintergrund von Bourdieus Konzept der »Komplizenschaft« zwischen Habitus und Struktur erscheint diese Praxis als überwiegend unbewusst. Als übergreifende Hauptursache für die vielfach beobachteten Paradoxien des deutschen Afghanistaneinsatzes lässt sich die Selbstreferenzialität ausmachen. Das Handeln der Verantwortlichen auf den unterschiedlichen Feldern des deutschen Engagements hatte also weniger mit dem zentralasiatischen Land als mit den eigenen Einstellungen und Interessen zu tun. Vor dem Hintergrund des hier vertretenen theoretischen Ansatzes und allgemeiner Beobachtungen des Wesens formaler Organisationen kann man schlussfolgern, dass dies auf jede vergleichbare Praxis – also nicht nur des AfghanistanEngagements – zutrifft. Dies scheint grundsätzlich der Fall zu sein. Allerdings mutet der Grad der Selbstreferenzialität im hier behandelten Fall höher an als etwa bei vergleichbaren Konstellationen in den Weltkriegen. Der Grund für diese außergewöhnlich hohe Selbstreferenzialität liegt darin, dass die entscheidenden Felder sehr unabhängig voneinander waren. Die Felder, auf denen die – zumeist aus dem Heimatland agierenden – höchsten Verantwortlichen für das deutsche Afghanistan-Engagement ihre Anweisungen konzipierten, waren sehr unabhängig von jenen Feldern, auf denen diese Anweisungen in Afghanistan umgesetzt werden mussten. Dies verdeutlicht der Vergleich mit der Situation in den beiden Weltkriegen. Auch hier bestand eine große Distanz zwischen dem Feld der höchsten Entscheidungsträger in der Heimat und dem der »Front«, doch waren beide Felder enger miteinander verknüpft. Denn der Verlauf des Krieges bestimmte deutlich stärker über das Schicksal dieses Personenkreises – bis hin zum buchstäblichen Überleben. Demgegenüber waren Erfolg oder Misserfolg im deutschen Afghanistaneinsatz vor allem eine Frage der jeweiligen Interpretationen vor dem Hintergrund meist dürftiger Informationen und oft sehr unterschiedlicher Zielvorstellungen. Anders als in bisherigen deutschen Kampfeinsätzen mussten die Verantwortlichen auf den höchsten Ebenen in keinem Fall fürchten, vom Gegner, also von afghanischen Akteuren, existenziell bedroht zu werden. All dies galt für das gesamte internationale Engagement im Land. Es folgte letztlich einer paradoxen Eigenlogik, dass einzelne Akteure ihre je eigenen Ziele zu verwirklichen versuchten, ohne die Folgen für das Land in ausrei-

Ein paradoxer Krieg

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chendem Maß zu beachten. So war nicht klar, ob das Ziel zu verhindern, dass Afghanistan erneut zu einem Rückzugsort international tätiger »Terroristen« wird, im Vordergrund stand oder die »Entwicklung« des Landes. Daher unterstützten die Intervenienten oftmals lokale Akteure, die sie für Gegner der »Terroristen« hielten, auch wenn diese gleichzeitig die Macht der Zentralregierung sowie allgemeine Prinzipien liberaler Staatlichkeit unterliefen. Da es für die meisten politisch Verantwortlichen wichtiger war, wie die jeweils eigene Öffentlichkeit den Einsatz ihres Landes vor dem Hintergrund liberaler Werte wahrnahm, griffen sie zudem oftmals ein, wenn die afghanische Zentralregierung dem entgegenstehende Entscheidungen – etwa im Sinne afghanischer Traditionen – fällte. Hierdurch verlor die afghanische Regierung aber an Legitimität gegenüber der eigenen Bevölkerung, der sie zunehmend als Marionettenregierung der in Afghanistan agierenden ausländischen Mächte erschien. Diese Paradoxien schlugen sich auch auf den vom Militär als »taktische Ebene« bezeichneten Feldern nieder. Ohne klaren Auftrag wählten die verantwortlichen Truppenführer ihr Vorgehen gemäß der von ihnen verinnerlichten Grundsätze klassischer, geländeorientierter Operationsführung. Größere Truppenbewegungen und Außenposten – sowie deren Versorgungslinien – boten aber überhaupt erst Angriffspunkte für Aufständische. Das wiederum erforderte es, noch mehr Gelände und Straßen zu sichern, was den Aufständischen weitere Angriffsmöglichkeiten bot. Um keine Verluste zu erleiden, mussten die Verantwortlichen mitunter Abkommen mit lokalen afghanischen Kommandeuren – die sie teilweise zuvor noch bekämpft hatten – schließen, obwohl damit das proklamierte Ziel eines Staatsaufbaus unterlaufen wurde.76 Das Fehlen strategischer Ziele mündete somit in eine von niemandem geplante paradoxe, nicht zu beherrschende Eigenlogik des deutschen militärischen Engagements in Afghanistan.

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Philipp Münch und Alex Veit, Intermediaries of Intervention: How Local Power Brokers Shape External Peace- and State-Building in Afghanistan and Congo. In: International Peacekeeping, 25 (2018), 2, S. 266‑292.

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Antworten auf die Asymmetrie. Westliche Militärdoktrinen zur Aufstandsbekämpfung im Vergleich Terroristische Bedrohungen, fragile Staatlichkeit, Bündnisverpflichtungen und wachsende internationale Erwartungen führen westliche Staaten seit den 1990er Jahren in zahlreiche militärische Interventionen, in denen sie sich militärisch mit nichtstaatlichen Gewaltakteuren konfrontiert sehen. Diese sogenannten »asymmetrischen« Konflikte, in denen ungleiche und ungleichartige Kontrahenten aufeinander treffen,1 dominieren mittlerweile das internationale Handlungsumfeld militärischer Interventionen demokratischer Staaten. Sie haben ihnen schmerzhaft verdeutlicht, dass diese Konfliktform besondere Anforderungen an ihre Streitkräfte stellt, die konzeptionell mit dem lange Zeit im Fokus stehenden »symmetrischen« Staatenkrieg nicht zu fassen sind. Dabei sind diese asymmetrischen Konfliktmuster keineswegs neu. »Asymmetrische Konfliktkonstellationen sind mit großer Wahrscheinlichkeit [sogar] älter als symmetrische Kriege, und vor allem stellen sie, weltgeschichtlich betrachtet, die Regel dar.«2 Empirische Datensätze wie das Correlates of War-Projekt belegen in der Tat, dass mindestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren das internationale Kriegsgeschehen beherrschen und dass erstaunlicherweise der vermeintliche Goliath nicht immer siegreich aus diesem Kräftemessen mit dem vermeintlichen David hervorgeht.3 In der longue durée konnten staatliche Akteure zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert zwar mehr als 70 Prozent der Konflikte zu ihren Gunsten entscheiden. Eine genaue Betrachtung verdeutlicht jedoch, dass dieses Verhältnis mit der Zeit kontinuierlich abgenommen 1

2 3

Laut Herfried Münkler liegt eindeutig eine Asymmetrie vor, wenn sowohl bei der Rekrutierung als auch bei der Bewaffnung und Ausbildung der aufgebotenen militärischen Kräfte keine Gleichartigkeit der Kontrahenten festgestellt werden kann. Vgl. Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2014, S. 161 f. Münkler, Der Wandel des Krieges (wie Anm. 1), S. 151. Vgl. Meredith R. Sarkees, Frank W. Wayman und J. David Singer, Inter-State, IntraState, and Extra-State Wars. A Comprehensive Look at their Distribution over Time, 1816‑1997. In: International Studies Quarterly, 47 (2003), 1, S. 49‑70.

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und sich ab 1950 sogar umgekehrt hat, sodass nicht-staatliche Akteure in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich 55 Prozent aller asymmetrischen Konflikte für sich entscheiden konnten.4 Beispielhaft hierfür stehen die Kriege Frankreichs in Indochina (1946‑1954) und Algerien (1954‑1962), der USA in Vietnam (1965‑1975) oder der Sowjetunion in Afghanistan (1978‑1989), in denen reguläre Streitkräfte trotz zahlenmäßiger und technologischer Überlegenheit abziehen mussten, ohne ihre Ziele erreicht zu haben. Dass – zumal demokratische – Staaten sich trotz ihrer militärischen Überlegenheit in asymmetrischen Kriegen oftmals nicht durchsetzen können und Niederlagen erfahren beziehungsweise dass es nichtstaatlichen Akteuren immer wieder gelingt, solche begrenzten Kriege trotz militärischer Unterlegenheit für sich zu entscheiden, ist mindestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Gegenstand kontroverser Debatten, die gleichermaßen im Militär, in sicherheitspolitischen Kreisen und auch in der Wissenschaft geführt werden. Die Auseinandersetzung um dieses strategische Paradox gewann zu Anfang des 21. Jahrhunderts erneut an Aufmerksamkeit, als im Laufe der jüngsten westlichen Militärinterventionen im Irak (2003‑2011) und in Afghanistan (2001‑2014) strategische Erfolge erneut ausblieben.5 Während liberale Erklärungsansätze dieses wiederkehrende Scheitern vor allem auf die innere Verfasstheit demokratischer Staaten zurückführten, richteten strategische Erklärungsansätze ihr Augenmerk vor allem auf die vermeintlich »erfolgreichere« Kriegführung der Gegner. In engem Zusammenhang zu diesen beiden theoretischen Ansätzen stehen einerseits die Entwicklung eines technologiegestützten, auf Opfervermeidung ausgerichteten »Western Way of War«6 in den 1980er und 1990er Jahren sowie andererseits die Entwicklung von westlichen Doktrinen zur Aufstandsbekämpfung ab 2006, für welche die US-amerikanische Doktrin COIN (Counterinsurgency) taktgebend war. Diese unterschiedlichen Erklärungsansätze werden im folgenden Beitrag zunächst vorgestellt und kritisch diskutiert, bevor schließlich in vergleichender Perspektive die jüngsten COIN-Doktrinen der USA, Frankreichs und Deutschlands untersucht werden. Dieser vergleichende Blick soll den grundlegenden und parallelen Wandel in der Betrachtung und Bewältigung von Aufständen verdeutlichen und der Frage nachgehen, ob von einem »Western Way of Counterinsurgency« gesprochen werden kann.

4 5

6

Siehe Ivan Arreguín-Toft, How the Weak Win Wars. A Theory of Asymmetric Conflict. In: International Security, 26 (2001), 1, S. 93‑128, hier S. 97. Wir halten es hier mit Kissinger: »The guerilla army wins if he does not lose. The conventional army loses if it does not win.« Henry A. Kissinger, The Viet Nam Negotiations. In: Foreign Affairs, 47 (1969), 2, S. 211‑234, hier S. 214. Martin Shaw, The New Western Way of War, Cambridge 2005.

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1. Der liberale Erklärungsansatz Eine der bekanntesten Erklärungen zum Scheitern westlicher Staaten in asymmetrischen Kriegen wurde nach dem Vietnamkrieg von Andrew Mack formuliert. Er führte diesen kontraintuitiven Befund auf die Interessen- und Bedrohungsasymmetrie in der Perzeption der Kontrahenten in asymmetrischen Konflikten zurück.7 Durch die scheinbare Schwäche des Gegners und die von ihm ausgehende indirekte Bedrohung werde der Konflikt vom staatlichen Akteur lediglich mit begrenzten Zielen und halbherzig verfolgt. Dadurch bestehe auch lediglich ein begrenztes Interesse an einer langwierigen militärischen Auseinandersetzung, die sowohl die menschlichen als auch die finanziellen Kosten steigen lasse. »Where the war is perceived as ›limited‹ – because the opponent is ›weak‹ and can pose no direct threat – the prosecution of the war does not take automatic primacy over other goals.«8 Anders sei dies beim nicht-staatlichen Akteur, für den die militärische Auseinandersetzung einen totalen Charakter annehme, da er einerseits viel zu verlieren habe – es geht um seine vollkommene physische und strukturelle Eliminierung –, andererseits aber auch viel gewinnen könne, beispielsweise die politische oder staatliche Unabhängigkeit. »In a situation of total-war, the prosecution of the war does take automatic primacy above all other goals.«9 In Anlehnung an Carl von Clausewitz, wonach Krieg »ein Akt der Gewalt [sei], um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen«,10 macht Mack den relativen politischen Willen einer Konfliktpartei somit zur entscheidenden Variable, mit der materielle Ungleichgewichte kompensiert werden können und die schließlich über den erfolgreichen oder erfolglosen Ausgang einer asymmetrischen militärischen Auseinandersetzung entscheide. Macks These ist in vielerlei Hinsicht interessant, doch kann sie nicht abschließend erklären, wieso einige Staaten asymmetrische Kriege verlieren, obwohl die politische Entschlossenheit durchaus gegeben ist. So konnte man den französischen politischen und militärischen Entscheidungsträgern der Vierten Republik kaum Mangel an Entschlossenheit im Algerienkrieg vorwerfen; einem Krieg, dem knapp eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen und in dem die französische Armeeführung zunächst Carte blanche von der politischen Führung erhielt, was jene ihr sodann mit mehreren Putschversuchen dankte. Gleichsam wäre es eine bittere Ironie, wenn die Erfolglosigkeit von Unabhängigkeitsbestrebungen – wie jene der Tibeter oder Kurden – auf mangelnde Entschlossenheit zurückgeführt werden würde. Auch muss hervorgehoben werden, dass Verhandlungs- und Amnestieangebote die Alternativen für nichtstaatliche Akteure nicht (mehr) nur auf Überleben oder 7 8 9 10

Andrew Mack, Why Big Nations Lose Small Wars. The Politics of Asymmetric Conflict. In: World Politics, 27 (1975), 2, S. 175‑200. Mack, Why Big Nations Lose Small Wars (wie Anm. 7), S. 184. Ebd. Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hrsg. und eingel. von Werner Hahlweg, 19. Aufl., Bonn 1980, 1. Buch, Kapitel 1, S. 192.

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Vernichtung beschränken. Nichtdestotrotz erlangte Macks These eine gewisse Anerkennung in den USA. So formulierte US-Verteidigungsminister Caspar Weinberger 1984 in Reaktion auf den Anschlag auf den US-Stützpunkt von Beirut in einer Rede vor dem National Press Club die sogenannte Weinberger-Doktrin,11 in der er klare Regeln für den künftigen Einsatz von US-amerikanischen Streitkräften aufstellte. Hierzu gehörten die notwendige Berührung vitaler nationaler Interessen, ein eindeutiger Wille zum Sieg, klar definierte militärische und politische Ziele sowie ausreichende Unterstützung der Kriegsziele durch die Bevölkerung. Doch Weinbergers strikte Differenzierung zwischen »wars of choice« und »wars of necessity« erwies sich bereits damals als wenig praktikabel. Kurz- und mittelfristige Entwicklungen in fernen Ländern oder auch eine Verschlechterung der Sicherheitslage in einem Stabilisierungseinsatz haben die Sicherheitsinteressen westlicher Länder bereits oft derart berührt, dass sich politische Entscheidungsträger veranlasst sahen, auch kurzfristig einen robusteren Einsatz militärischer Gewalt anzuordnen – so im Afghanistaneinsatz oder auch im Vorfeld der französischen Operation Serval in Mali, die innerhalb weniger Tage beschlossen wurde.12 Autoren wie Gil Merom, die eine weitere Variante des liberalen Ansatzes vertreten, verstehen dagegen nicht die Interessenasymmetrie, sondern den Regimetyp selbst als Grundursache für den wiederkehrenden Misserfolg insbesondere demokratischer Staaten in asymmetrischen Kriegen.13 Demokratien fehle nicht der kriegerische Wille oder die Entschlossenheit aufgrund begrenzter politischer Ziele, sondern es mangele ihnen aufgrund ihrer partizipativen Entscheidungsprozesse schlicht an der Fähigkeit, einen asymmetrischen Krieg erfolgreich zu Ende zu führen. Problematisch sei für Demokratien insbesondere der notwendige Blutzoll, der mit asymmetrischen Kriegen einhergehe. »The most disturbing conclusion from our current moral vantage point is that brutality pays.«14 Diesen Weg seien demokratische Staaten – im Gegensatz zu nicht-demokratischen – jedoch nicht bereit zu beschreiten. »[Democracies] find it extremely difficult to escalate the level of violence and brutality to that which can secure victory.«15 Ihre wertegeladene Scheu vor menschlichen Verlusten, vor Kollateralschäden und Gefallenen stehe im engen Zusammenhang zu den Möglichkeiten »of their most articulate citizens«,16 ihre moralischen Wertvorstellungen über die Massenmedien vermitteln und so die öffentliche, aber auch die internationale Meinung prägen zu können. Einen Weg, diesem Wertekorsett zu entgehen und Kriege trotz 11

12 13 14 15 16

Caspar W. Weinberger, The Uses of Military Power, Washington, DC, 28. November 1984, (letzter Zugriff 29.1.2018). Vgl. Bernard Barrera, Opération Serval. Notes de guerre – Mali 2013, Paris 2015. Gil Merom, How Democracies Lose Small Wars. State, Society, and the Failures of France in Algeria, Israel in Lebanon, and the United States in Vietnam, New York 2003. Merom, How Democracies Lose Small Wars (wie Anm. 13), S. 47. Ebd., S. 15. Ebd., S. 15.

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begrenzter politischer Interessen und Ziele führen zu können, sieht Merom im militärtechnologischen Fortschritt. »The development of military technology is likely to increase the autonomy of the state because it reduces the need to rely on society, permits armies to fight ›cleaner‹ wars, and condenses the time frame of operations.«17

Meroms Thesen sind in vielerlei Hinsicht problematisch, unter anderem weil sie den internationalen und innenpolitischen Gestaltungsspielraum nicht-demokratischer Staaten in militärischen Interventionen karikieren. Sie sind es außerdem, weil sie die Anwendung militärischer Gewalt verklären. Eine Brutalisierung der Kriegführung war – betrachtet man die Kriegsverläufe in Algerien, Vietnam oder Irak – oftmals nicht nur militärisch kontraproduktiv, sondern ist angesichts jener Werte, für die demokratische Staaten zu den Waffen greifen, auch politisch und ethisch inakzeptabel. Interessanter sind dagegen Meroms Thesen zum Spannungsverhältnis demokratischer Interventionen zwischen militärischer Effektivität und politischer Legitimität, die an die Arbeiten des Militärsoziologen Martin Shaw anknüpfen. Laut Shaw habe dieses Spannungsverhältnis westliche Staaten zum massiven Rückgriff auf Militärtechnologien zur (Re)Legitimierung des Krieges verleitet und zur Entstehung eines »New Western Way of War« geführt, die das gesamte Konfliktspektrum westlicher Kriegführung präge, von der konventionellen Kriegführung bis hin zur Aufstandsbekämpfung. Dieses Vorgehen, das sich im Falkland-, Golf- und Kosovo-Krieg herausgebildet hat und schließlich auch das anfänglich militärische Vorgehen in Afghanistan und Irak prägte, steht in engem Zusammenhang mit der Revolution in Military Affairs der 1980er Jahre. Es sieht den massiven Einsatz von Luftangriffen und Präzisionslenkwaffen zur Transferierung militärischer Risiken sowie die Kontrolle des Informationsraumes durch Medienmanagement und »embedded journalism« zur Minimierung politischer Risiken vor.18 Die direkte und gleichzeitige Bekämpfung von Gefechtsständen, logistischen Nachschubwegen und Kommunikationszentralen durch den gefahrlosen Einsatz »intelligenter« Bomben aus der Luft hat zum Zweck, strategische Effekte durch eine Überlastung beim Gegner und seiner Entscheidungsprozesse erzielen zu können, ohne zuvor taktische und kampfintensive Erfolge vorweisen zu müssen. In der Folge kommt den Landstreitkräften eine neue Rolle zu, da sie nunmehr »keine Manöver mehr durchführen, sondern nach Kampfhandlungen mit Gebietssicherung beauftragt werden (Kosovo), oder, große Neuerung, noch vor Kampfhandlungen in einem Zwischenzustand zwischen Frieden und Krieg platziert werden (Bosnien)«.19

17 18 19

Ebd., S. 249 f. Shaw, The New Western Way (wie Anm. 6). Michel Goya, Dix millions de dollars le milicien. La crise du modèle occidental de guerre limitée de haute technologie. In: Politique étrangère, 1 (2007), S. 191‑202, hier S. 194.

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2. Der strategische Erklärungsansatz Mit den Interventionen in Afghanistan, im Irak, aber auch mit dem Libanonkrieg von 2006 geriet dieser Western Way of War allerdings in eine Krise, als seine Effektivität mangels strategischen Erfolgs infrage gestellt wurde. Dieser »Technologismus«, die Illusion, dass sich ein Krieg auf die Zerstörung gegnerischer militärischer Fähigkeiten beschränken ließe, habe zu einer Vernachlässigung der politischen Faktoren eines jeden Konflikts geführt, so die Kritiker.20 Zwar sei es den US-Streitkräften und ihren Verbündeten innerhalb kürzester Zeit und mit geringsten Verlusten gelungen, das afghanische Taliban-Regime zu Fall zu bringen und Bagdad zu erobern, doch versagten sie in der Nachkriegsphase, als es galt, den Frieden zu konsolidieren und sich gegen aufständische Gruppierungen zu behaupten. An Bedeutung gewannen deshalb Ansätze, die den »Feind«21 abseits seiner materiellen Erscheinungsformen in seiner politischen Andersartigkeit anerkennen und ihn ins Zentrum der militärischen Planung stellen. Beispielhaft hierfür ist der strategische Ansatz von Ivan Arreguín-Toft, der das wiederkehrende Scheitern von Staaten in asymmetrischen Kriegen auf die militärstrategische Interaktion zwischen den Kontrahenten zurückführt. Solche Interaktionen können, so Arreguín-Toft, zwei Formen annehmen: Interaktionen mit gleichem Vorgehen (»same-approach interaction«) und Interaktionen mit gegenteiligem Vorgehen (»opposite-approach interaction«), je nach Einsatz von indirektem oder direktem militärischen Vorgehen durch die Kontrahenten.22 Illustriert am Beispiel des Vietnamkrieges und unterfüttert mit quantitativen Daten zu den Ausgängen asymmetrischer Konflikte seit Beginn des 19. Jahrhunderts, erläutert Arreguín-Toft, dass Interaktionen mit gegenteiligem Vorgehen für staatliche Akteure mehrheitlich erfolglos ausgingen, da sich in diesen Fällen die überlegenen technologischen, finanziellen, menschlichen Ressourcen meist nicht in konkrete militärische Überlegenheit umwandeln ließen. »Opposite-approach interactions – whether direct-indirect or indirect-direct – favor weak actors because they sacrifice values for time.«23

20 21 22

23

Vgl. Vincent Desportes, Armées: »Technologisme« ou »juste technologie«? In: Politique étrangère, 2 (2009), S. 403‑418; Goya, Dix millions de dollars le milicien (wie Anm. 19). Zur Diskussion des Begriffs siehe beispielsweise: Laure Bardiès, Nier l’ennemi, est-ce toujours nier la guerre? In: Défense & Sécurité Internationale, 132 (2017), S. 66‑69. Hervé Coutau-Bégarie definiert eine direkte Strategie als ein Vorgehen, welches die schnellstmögliche Vernichtung des Gegners vorsieht, während eine indirekte Strategie auf die Destabilisierung, die Schwächung sowie die Ermüdung des Gegners abzielt. Laut Dirk Freudenberg richte sich Erstere primär gegen feindliche Streitkräfte und suche die Entscheidungsschlacht, um mittels eines klaren militärischen Sieges den politischen Zweck zu erreichen, während Letztere auch nicht-militärische Ziele ins Visier nehme, eine solche Schlacht zu verhindern suche und oftmals das politische Ziel durch psychologische Effekte zu erreichen wünsche. Hervé Coutau-Bégarie, Traité de Stratégie, Paris 2003, S. 380‑382. Vgl. Dirk Freudenberg, Theorie des Irregulären. Partisanen, Guerillas und Terroristen im modernen Kleinkrieg, Wiesbaden 2008, S. 387‑389. Arreguín-Toft, How the Weak Win Wars (wie Anm. 4), S. 122.

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Siegreich gehe der militärisch stärkere Akteur hingegen meist aus Interaktionen mit gleichem Vorgehen hervor, da in diesen Fällen unter Verfolgung gleichartiger Ziele nach gleichen Regeln gekämpft werde. »Because nothing [...] intervenes between raw power and goals, strong actors will win same-approach interactions in proportion to their advantage in relative power.«24

Der Historiker Edward L. Katzenbach Jr. konstatierte bereits in den 1950er Jahren, dass die militärische Effektivität und Kraftentfaltung eines staatlichen Akteurs in hohem Maße abhängig von der Vorgehensweise des Gegners ist:

»[T]he success of Western military technology in the past can only be explained with an addendum to the effect that the tactics of the indigenous armies made its use possible.«25

Dass nichtstaatliche Akteure in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Hälfte aller asymmetrischen Konflikte für sich entscheiden konnten, erklärt Arreguín-Toft mit dem zeitgleichen Trend zu »opposite-approach interaction« im Zuge der Revolutionierung der asymmetrischen Kriegführung zur Mitte des 20. Jahrhunderts durch Mao Tse-tung, der die Guerillakriegführung unter dem Eindruck des Chinesischen Bürgerkrieges (1927‑1949) systematisierte. Maos größte Errungenschaft sei dabei die Entdeckung der revolutionären Kraft des Bauerntums sowie die militärpolitische Bedeutung einer Organisation, die nicht nur zur Massenmobilisierung, sondern auch zur Staatsbildung fähig sei, so der Historiker und Publizist Sebastian Haffner.26 Durch zahlreiche Übersetzungen seiner militärtheoretischen Schriften erreichten Maos Prinzipien eine breite Leserschaft in der kolonialen Welt, aber auch im Westen, wo sein Konzept des »revolutionären Krieges« in den 1960er und frühen 1970er Jahren eine teils schwärmerische Aufnahme fand.27 Die damalige Romantisierung und Idealisierung des Volkskrieges maoscher Prägung war eng verbunden mit den damaligen Erfolgen von Aufstandsbewegungen in Indochina, Algerien, Malaya, auf Kuba und den Philippinen, die sich von Maos Prinzipien zur Guerillakriegführung leiten ließen. Um einer solchen asymmetrischen Kriegführung begegnen zu können, empfiehlt Arreguín-Toft eine Anpassung der Kriegführung des staatlichen Akteurs an die ihrer Gegner. Stelle sich der nicht-staatliche Akteur also keiner direkten militärischen Konfrontation, die den staatlichen Akteur begünstige, müsse Letzterer eine Symmetrierung seines militärischen Vorgehens vornehmen, um eine »same-approach interaction« und somit eine Symmetrie 24 25 26

27

Ebd., S. 121. Edward L. Katzenbach Jr. und Gene Z. Hanrahan, The Revolutionary Strategy of Mao Tse-Tung. In: Political Science Quarterly, 70 (1955), 3, S. 321‑340, hier S. 321. Sebastian Haffner, Der neue Krieg. Einleitender Essay zu Mao Tse-tung, Theorie des Guerillakrieges oder Strategie der Dritten Welt, Reinbek 1966, S. 6‑49. (Bezeichnenderweise erneut abgedruckt in: Die RAF und der linke Terrorismus. Hrsg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, Bd 1, S. 157‑181). Vgl. Mao Tse-tung, Theorie des Guerillakrieges (wie Anm. 26); vgl. Jeffrey James Byrne, Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization and the Third World Order, New York 2016.

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der Asymmetrie herzustellen.28 Dies beinhalte – insbesondere angesichts einer asymmetrischen Kriegführung maoscher Prägung, die sich auf die Bevölkerung stütze – ebenfalls eine auf die Bevölkerung ausgerichtete indirekte Strategie. Ein Vorgehen, das lediglich in destruktiver Weise darauf abziele, diese Unterstützung zu unterbinden, beispielsweise durch strategische Luftangriffe, laufe allerdings Gefahr, eine langfristige politische Stabilisierung durch kurzfristige militärische Erfolge zu untergraben.

»An ideal [...] strategic response in an asymmetric conflict therefore demands two central elements: (1) preparation of public expectations for a long war despite U.S. technological and material advantages, and (2) the development and deployment of armed forces specifically equipped and trained for COIN operations.«29

Für die Durchführung von sogenannten COIN-Operationen ist also weit mehr als lediglich eine Anpassung der Kriegführung vonnöten, da in einem solchen Szenario das Militär eine ganz andere Rolle zugewiesen bekommt. Eine Armee, die für den Staatenkrieg europäischer Prägung ausgerüstet und darauf trainiert ist, im Zuge einer Entscheidungsschlacht einem Feind mit massivster Feuergewalt zu begegnen, ist nur bedingt fähig, in einem Aufstandsbekämpfungsszenario die Gewaltanwendung auf das Nötigste zu reduzieren und durch verstärkt wirtschaftliche und soziale Maßnahmen die Bevölkerung für sich zu gewinnen. Eine besondere Bedeutung kommt bei einer solchen Anpassung deshalb Militärdoktrinen zu, da sie neue Einsatzrealitäten widerspiegeln und jene Grundsätze beinhalten, »an denen Streitkräfte ihre Maßnahmen zur Erreichung von Zielen ausrichten«.30 Durch diesen handlungsleitenden Charakter können sie auch als »tools of change«31 genutzt werden, mit denen sich Streitkräfte organisatorisch und operativ neu ausrichten lassen.

28

29 30 31

Markus Holzinger und Herfried Münkler benutzen den Terminus »Resymmetrierung«, um eine »Wiederherstellung des Kräftegleichgewichts [zu beschreiben], sodass sich die Kampfmittel in ihrer Ausprägung und Struktur von Neuem sehr ähneln«. Da zuvor weder ein solches Gleichgewicht der Kräfte noch eine Ähnlichkeit in der Struktur und Organisation der Kontrahenten bestand, wird hier deshalb der Begriff der »Symmetrierung« bevorzugt. Markus Holzinger, Resymmetrierung der Asymmetrie. Zur Rückwirkung asymmetrischer Konflikte auf die rechtsstaatliche Sicherheitsarchitektur. In: Vorgänge, 2010, 1, S. 95‑102, hier S. 95; Münkler, Der Wandel des Krieges (wie Anm. 1), S. 141. Arreguín-Toft, How the Weak Win Wars (wie Anm. 4), S. 123. Bundeswehr, Doktrin. In: Datenbank für Terminologie der Bundeswehr (27.9.2017). Harald Høiback, What is Doctrine? In: Journal of Strategic Studies, 34 (2011), 6, S. 879‑900; Olof Kronvall und Magnus Petersson, Doctrine and Defence Transformation in Norway and Sweden. In: Journal of Strategic Studies, 39 (2016), 2, S. 280‑296.

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3. Aufstandsbekämpfung wider Willen Zu Beginn der westlichen Militärinterventionen in Afghanistan und Irak besaßen – bis auf die britische Armee – die beteiligten Streitkräfte keine COIN-Doktrinen. In den USA hatten Anhänger der Republikanischen Partei und Teile des Militärestablishments mit der als Transformation bekannten Reform der Streitkräfte erfolgreich eine Konzentration auf das militärische Kerngeschäft durchgesetzt. Es galt, Kriege mittels modernster Technologien und geringem Kosten- und Personalaufwand möglichst schnell und präzise zu führen. In der passiven Rolle der Streitkräfte in den Friedens- und Stabilisierungsmissionen der 1990er Jahre sahen sie eine Gefahr der Verweichlichung für die Truppe. »Carrying out civil administration and police functions is simply going to degrade the American capability to do the things America has to do. We don‘t need to have the 82nd Airborne escorting kids to kindergarten«,32 so Condoleezza Rice, damalige Sicherheitsberaterin von Präsidentschaftskandidat George W. Bush im Herbst 2000. Entsprechend wurden die Einsätze zum Regimewechsel in Afghanistan und Irak durchgeführt. Shock and Awe-Kampagnen gegen die Taliban und die irakische Armee führten der Welt die Mobilität und Schlagkraft der westlichen, speziell der US-Streitkräfte vor Augen. Paradoxerweise waren es zugleich aber auch ebenjene beiden Kriege, die der Welt die Grenzen der hochtechnologisierten Kriegführung aufzeigten. Die westlichen Streitkräfte gingen zwar als Sieger aus den konventionellen Kampfhandlungen in der Anfangsphase der Konflikte hervor, doch gelang es ihnen nicht, den Frieden dauerhaft zu sichern. Das Sicherheitsvakuum, das durch Auflösung der irakischen Sicherheitskräfte sowie durch die Delegation der afghanischen inneren Sicherheit an Warlords entstand, führte in beiden Ländern zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.33 Mit der zunehmenden Explosion der Gewalt im Irak ab 2005 wurden dort Improvisationen vorgenommen, um sich dem Vorgehen des asymmetrischen Gegners anzupassen.34 Eine wesentliche Stellschraube erkannten die Entscheidungsträger der USStreitkräfte insbesondere bei der Militärdoktrin. »Although there are many reasons why the [US-]Army was unprepared for the insurgency in Iraq, among the most important was the lack of current counterinsurgency doctrine.«35 Diese doktrinäre Lücke wurde Ende 2006 mit der Veröffentlichung der US32

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34 35

Michael R. Gordon, The 2000 Campaign: The Military; Bush Would Stop U.S. Peacekeeping in the Balkan Fights. In: New York Times, 21.10.2000 (letzter Zugriff 14.12.2017). Philipp Münch, Local Afghan Power Structures and the International Military Intervention. A Review of Developments in Badakhshan and Kunduz Provinces, 2013, (= AAN Thematic Report, 03/2013). Vgl. James A. Russel, Innovation, Transformation, and War. Counterinsurgency Operations in Anbar and Ninewa Provinces, Iraq, 2005‑2007, Stanford 2011. US Army/Marine Corps, Counterinsurgency Field Manual, Chicago 2007 (John A. Nagl, Vorwort zu US Army 2007: XIV).

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amerikanischen Aufstandsbekämpfungsdoktrin COIN geschlossen, die ihre Ursprünge in der britischen und französischen Kolonialkriegführung hat.36 Sie trug nicht nur zu einem Wandel im Vorgehen der US-Streitkräfte im Irak bei, sondern beeinflusste im Zuge der Zentralisierung der Operationsführung durch das ISAF Joint Command auch das Vorgehen der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. So übernahmen zahlreiche westliche Staaten in den Folgejahren die COIN-Doktrin der USA – unter ihnen Großbritannien (2007), Kanada (2008), Frankreich (2009), Italien (2011) und Deutschland (2013) – und bestätigten so den allgemeineren Trend zur sicherheits- und verteidigungspolitischen Konvergenz zwischen westlichen Staaten.37 Doch war das Thema Aufstandsbekämpfung in Deutschland und Frankreich zunächst politisch unerwünscht und historisch vorbelastet. Der Leitgedanke dieser Doktrin, wonach »asymmetrischer Kriegführung nur asymmetrisch beizukommen«38 sei, rief in beiden Ländern spezielle Fragen zum Einsatzspektrum und den Handlungsbefugnissen der Streitkräfte ebenso wie zur eigenen (Militär-)Geschichte hervor. In Deutschland war zum einen die politische Debatte über den Afghanistaneinsatz bis mindestens 2009 vom Stabilisierungsnarrativ geprägt, das wiederum als inkompatibel mit den Erfordernissen der Aufstandsbekämpfung galt.39 Zum anderen wurde »Aufstandsbekämpfung« in Deutschland mit der Partisanenbekämpfung im 36

37 38

39

Vgl. Jéronimo L. S. Barbin, Imperialkriegführung im 21. Jahrhundert. Von Algier nach Bagdad – Die kolonialen Ursprünge der COIN-Doktrin, Berlin 2015; Douglas Porch, Counterinsurgency. Exposing the Myths of the New Way of War, Cambridge 2013; Jochen Hippler, Counterinsurgency – Theorien unkonventioneller Kriegführung: Callwell, Thompson, Smith und das US Army Field Manual 3‑24. In: Handbuch Kriegstheorien. Hrsg. von Thomas Jäger und Rasmus Beckmann, Wiesbaden 2012, S. 256‑283; Matthias Strohn, Von »Imperial Policing« zu »Low Intensity Operations«: Britische Counterinsurgency-Klassiker und ihre programmatische Aktualität. In: Aufstand und Demokratie. Counterinsurgency als normative und praktische Herausforderung. Hrsg. von Martin Sebaldt und Alexander Straßner, Wiesbaden 2011, S. 133‑146; Thomas Rid, The Nineteenth Century Origins of Counterinsurgency Doctrine. In: Journal of Strategic Studies, 33 (2010), 5, S. 727‑758; Bertrand Valeyre und Alexandre Guerin, De Galula à Petraeus. L’héritage français dans la pensée américaine de la contre-insurrection, Cahier de la recherche doctrinal, juin 2009; Christian Olsson, Afghanistan et Irak. Les origines coloniales des guerres antiterroristes. In: Au nom du 11 Septembre... Les démocraties à l’épreuve de l’antiterrorisme. Hrsg. von Didier Bigo, Laurent Bonelli und Thomas Deltombe, Paris 2008, S. 50‑62; Peter Paret, French Revolutionary Warfare from Indochina to Algeria. The Analysis of a Political and Military Doctrine, London 1964. Tom Dyson, Neoclassical Realism and Defense Reform in Post-Cold War Europe, New York 2010. Andreas Stupka, Kriegsgeschichte und klassische kriegstheoretische Betrachtungen zur asymmetrischen Kriegführung. In: Asymmetrische Kriegführung – ein neues Phänomen der Internationalen Politik? Hrsg. von Josef Schröfl und Thomas Pankratz, Baden-Baden 2004, S. 41‑56, hier S. 56. Vgl. Carolin Hilpert, Strategic Cultural Change and the Challenge for Security Policy. Germany and the Bundeswehr’s Deployment to Afghanistan, New York 2010, S. 106; Timo Noetzel und Benjamin Schreer, Counter-what? Germany and Counter-Insurgency in Afghanistan. In: RUSI Journal, 153 (2008), 1, S. 42‑46, hier S. 44.

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Zweiten Weltkrieg verbunden und stand daher für zügellose und rechtsfreie Gewaltanwendung.40 Konzeptionell hatten sich westdeutsche Militärexperten letztmalig unmittelbar vor Beginn der Aufstellung der Bundeswehr mit dem Thema »Kampf gegen Aufständische« beschäftigt – und das Thema schließlich verworfen, sodass es in den einschlägigen Führungsvorschriften nicht zutage trat.41 Lediglich die Spezialkräfte verfügten ab 2005 über ein Einsatzkonzept Operationen gegen Irreguläre Kräfte, das den Schwerpunkt jedoch auf die »kinetischen« Aspekte durch die militärische Bekämpfung von Irregulären selbst legte und somit eher Counterguerilla-Operationen glich und weniger dem umfassenden Ansatz der COIN-Doktrin entsprach.42 Die aufgrund dieser konzeptionellen Lücke notwendige bundeswehrinterne Auseinandersetzung mit dem Konzept, das 2008 auch durch erste Erarbeitungsschritte einer entsprechenden Doktrin auf NATO-Ebene angestoßen wurde, endete jedoch abrupt im ersten Anlauf, als der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan 2009 seine Unterschrift unter die Konzeptionelle Grundvorstellung zur Wahrnehmung militärischer Aufgaben im Rahmen von Counterinsurgency (KG COIN) verweigerte.43 Ein zweiter Anlauf wurde 2010 unternommen, als das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) in Kooperation mit dem Center for a New American Security von der Abteilung Politik des Bundesministeriums der Verteidigung beauftragt wurde, eine Studie mit Blick auf eine zukünftige Erarbeitung eines COINDokuments durchzuführen.44 Parallel hierzu veröffentlichte im selben Jahr das Heeresamt der Bundeswehr ein Dokument mit dem Titel Vorläufige Grundlagen für den Beitrag von Landstreitkräften zur Herstellung von Sicherheit und staatlicher

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44

Christian Dewitz, Zwölf Jahre Afghanistaneinsatz – eine Zwischenbilanz, 24.5.2014 (letzter Zugriff 6.12.2016); Jens Jessen, »Der Afghanistaneinsatz ist ein Partisanenkrieg!«, 9.9.2009 (letzter Zugriff 6.12.2016); Lothar Rühl, Afghanistan und Pakistan. Übergang zum Partisanenkrieg, 24.5.2009 (letzter Zugriff 19.2.2018). In der Neubearbeitung der Heeresdienstvorschrift HDv 100/1 von 1952 befassen sich im Kapitel XII zwei Abschnitte mit dem »Gefecht gegen aufständige Bevölkerung« sowie dem »Kleinen Krieg«. Vgl. Neubearbeitung der Heeresdienstvorschrift HDv 100/1, General der Infanterie a.D. Busse, 1952, BArch-MA, BHD 1. Vgl. Timo Noetzel und Benjamin Schreer, Missing Links: The Evolution of German Counter-Insurgency Thinking. In: RUSI Journal, 154 (2009), 1, S. 16‑22, hier S. 20. Martin Zapfe, Strategic Culture Shaping Allied Integration: The Bundeswehr and Joint Operational Doctrine. In: Journal of Strategic Studies, 39 (2016), 2, S. 246‑260, hier S. 253; Benjamin Schreer, Political Constraints. Germany and Counterinsurgency. In: Security Challenges, 6 (2010), 1, S. 97‑108, hier S. 105. Thomas Rid und Martin Zapfe, Mission Command without a Mission. German Military Adaptation in Afghanistan. In: Military Adaptation in Afghanistan. Hrsg. von Theo Farrell, Frans Osinga und James A. Russel, Stanford 2013, S. 192‑218, hier S. 200; Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK), Studie Counterinsurgency. Erfahrungen, Strategien und Aussichten unter besonderer Berücksichtigung des ressortübergreifenden Ansatzes (Abschlussbericht), Kiel 2013.

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Ordnung in Krisengebieten.45 Deren Bearbeiter stellten jedoch klar, dass es sich bei diesem Dokument um keine Vorschrift handle. Mit der Veröffentlichung beabsichtigten sie lediglich eine Diskussionsanregung auf informierter Grundlage. 2013 entstand schließlich unter Federführung der Arbeitsgruppe Joint and Combined Operations (AG JACOP) an der Führungsakademie der Bundeswehr ein Leitfaden zur Aufstandsbewältigung, der lediglich für das Heer gilt und ebenfalls keinen Vorschriftencharakter besitzt.46 Das Dokument, das »sich vorrangig an Truppenführer, ihre Führergehilfen sowie militärische Berater für zivile Akteure richtet«, zielt dennoch darauf ab, die Praxis des »militärischen Beitrags zur Aufstandsbewältigung in einem Einsatzgebiet der Bundeswehr« zu prägen, indem es »militärischen Führern Hilfestellung bei der Vorbereitung und Durchführung von Operationen zur Aufstandsbewältigung auf der taktischen Ebene an die Hand« geben soll.47 Aufgrund der Tatsache, dass das Dokument durch den Inspekteur des Heeres erlassen wurde, war es – bis zur offiziellen Übernahme der NATO-Doktrin AJP 3.4.4 im Jahr 2017 – das einzige offizielle deutsche Dokument zur Aufstandsbekämpfung. Der Leitfaden richtet sich zudem an Bundeswehrvorschriften aus, indem darauf verwiesen wird, dass er »über die allgemeinen Grundsätze der HDv 100/100« Truppenführung von Landstreitkräften (TF) hinausgehe und diese ergänze.48 Die Vorschrift wird als Teilaspekt einer Gesamtanstrengung verstanden, die lediglich den militärischen Beitrag der Landstreitkräfte zur Aufstandsbewältigung beschreibt, sodass sie – trotz aller offizieller Bekenntnisse zum Vernetzten Ansatz – weder ressort- noch streitkräfteübergreifend gilt. Berührungsängste mit dem Thema Aufstandsbekämpfung gab es aufgrund der traumatischen Erfahrungen während des Algerienkriegs (1954‑1962) auch in Frankreich. Die dort zur Anwendung gekommene »Doktrin des revolutionären Krieges« hatte nicht nur unzählige Menschenrechtsverletzungen zur Folge – darunter Zwangsumsiedlungen, Verschleppungen, Folterungen und standrechtliche Erschießungen –, sondern auch eine Aufkündigung des Primats der Politik durch große Teile der hohen Generalität samt Putschversuchen.49 Mit dem Algerienkrieg endete vorerst auch der Vorrang jener Art militärischer Operationen, die durch die Kolonial- und Dekolonialisierungskriege im 19. und 20. Jahrhundert 45 46

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Heeresamt, Vorläufige Grundlagen für den Beitrag von Landstreitkräften zur Herstellung von Sicherheit und staatlicher Ordnung in Krisengebieten, Köln 2010. Vgl. Bruno Kasdorf, Der Leitfaden »Aufstandsbewältigung« als Beispiel für die Entwicklung und Implementierung von Doktrin-Dokumenten im Heer. In: Stabilisierungseinsätze als gesamtstaatliche Aufgabe. Erfahrungen und Lehren aus dem deutschen Afghanistaneinsatz zwischen Staatsaufbau und Aufstandsbewältigung (COIN). Hrsg. von Robin Schroeder und Stefan Hansen, Baden-Baden 2015, S. 133‑135; Jan H. Rassaerts, Die Einsatzdoktrin der Bundeswehr. In: Europäische Sicherheit & Technik, 60 (2011), 12, S. 46‑50. Leitfaden Aufstandsbewältigung. Handlungsempfehlungen für Truppenführer. Hrsg. vom Inspekteur des Heeres, Strausberg 2013, S. I. Ebd. Vgl. Barbin, Imperialkriegführung (wie Anm. 36), S. 140‑142.

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in gewisser Weise zu einem Wesensmerkmal der französischen Art des Krieges geworden war. Zwar fanden sich Aspekte der »Pazifizierung« und Aufstandsbekämpfung teilweise auch nach dem Algerienkrieg in den militärischen Operationen Limousin im Tschad (1969‑1972) und Lamantin in Mauretanien (1977‑1978) wieder.50 Doch das Wissen um die Praktiken der Pazifizierung und Aufstandsbekämpfung wurde in den Streitkräften ab 1962 aufgrund der Nuklearisierung und Konventionalisierung der französischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihrer Fokussierung auf einen möglichen Kampf in Mitteleuropa verdrängt. Dadurch wurde, so Kritiker, eine Transformation der französischen Soldaten »from warriors to managers« eingeläutet.51 Zugleich erfolgte eine regelrechte institutionelle Tabuisierung des Wissens um asymmetrische Kriege, die erst im Zuge des Afghanistaneinsatzes und der damit verbundenen »Wiederentdeckung« des eigenen asymmetrischen Erbes wieder in den Vordergrund trat.52 Unter dem Eindruck der sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan und des medial stark thematisierten Taliban-Hinterhalts im Uzbin-Tal im August 2008 begann eine intensive interne und öffentliche Debatte zum Vorgehen der französischen Streitkräfte. So stieß insbesondere das Centre de Doctrine d’Emploi des Forces (CDEF) – eine Art Think-Tank innerhalb der französischen Streitkräfte – durch zahlreiche Veröffentlichungen eine Fachdebatte an, die sich insbesondere mit den theoretischen Aspekten der Aufstandsbekämpfung und den eigenen historischen Erfahrungen auseinandersetzte. In der Folge entstand 2009 eine taktische Doctrine de contre-rébellion53, die eine Grundlage für das taktische Handeln der Streitkräfte in Afghanistan, aber auch für zukünftige Einsätze gleicher Art liefern sollte.

4. Westliche COIN-Doktrinen im Vergleich Vergleicht man die COIN-Doktrinen der US-amerikanischen, französischen und deutschen Streitkräfte, die unter dem Eindruck der Interventionen im Irak und in Afghanistan entstanden sind, so wird deutlich, dass alle drei eine Anpassung an die Kriegführung eines asymmetrischen Gegners beabsichtigen. Alle drei Doktrinen gehen von der Grundannahme aus, dass westliche 50 51 52

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Vgl. CDEF, 50 ans d’OPEX en Afrique (1964‑2014), Cahier du RETEX – Recherche, Septembre 2015, S. 37. Michel-Louis Martin, Warriors to Managers. The French Military Establishment since 1945, Chapel Hill 1981. Vgl. Grégory Daho, La transformation des armées. Enquête sur les relations civilo-militaires en France, Paris 2016, S. 102 sowie 251; Grégory Daho, L’érosion des tabous algériens. Une autre explication de la transformation des organisations militaires en France. In: Revue française de science politique, 64 (2014), 1, S. 57‑78; Mokrane Ouarem, Lyautey au chevet de l’Afghanistan. In: Le Monde, 1.4.2010. Die englische Übersetzung trägt den Titel »Doctrine for Counterinsurgency at the Tactical Level«. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency at the Tactical Level, Paris 2010.

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Streitkräfte ihre technologische Überlegenheit nicht ausspielen können, da der Gegner einer Entscheidungsschlacht ausweicht und sich zur Erreichung seiner Ziele althergebrachter Methoden des Aufstandes, der Guerillakriegführung und des Terrorismus bedient, die sich in besonderer Weise auf die Bevölkerung stützen.54 Die in Irak und Afghanistan beobachteten Methoden des Aufstandes seien nicht neu, sondern nur neuartig, da sie, laut französischer und USDoktrin, bereits im 20. Jahrhundert im Algerien- und im Vietnamkrieg sowie in Lateinamerika angewandt wurden.55 Klassische Theorien zur Aufstandsbekämpfung, die hauptsächlich vor dem Erfahrungshintergrund der Dekolonialisierungskriege nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert wurden, bilden deshalb die konzeptionelle Grundlage dieser drei »neoklassischen«56 Doktrinen. Entsprechend wird in den Bibliografien der französischen und US-Doktrin explizit auf Werke von Veteranen französischer und britischer Kolonial- und Dekolonisierungskriege verwiesen, unter ihnen Charles Callwell, David Galula, Frank Kitson, T.E. Lawrence, Robert Thompson und Roger Trinquier.57 Im Zuge der »Wiederentdeckung« der eigenen historischen Erfahrungen mit asymmetrischen Kriegen verweist die französische Doktrin interessanterweise zudem auf Doktrinen zur Aufstandsbekämpfung des Algerienkrieges58 sowie auf die Doktrin Lucha de guerrillas y contraguerrillas des franquistischen Spaniens und das kolumbianische Reglamento de operaciones en combate irregular von 2004. Der deutsche Leitfaden nimmt nur indirekt auf die klassische COIN-Theorie Bezug. In seinem Quellenverzeichnis wird zwar kein einziger der oben genannten Autoren aufgeführt und bezieht sich hauptsächlich auf Literatur, die ab 1990 erschienen ist. Dafür verweist der Leitfaden aber auf die COIN-Doktrinen der NATO, der British Army und auf das US-amerikanische Field Manual 3‑24. Die prägnantesten inhaltlichen und konzeptionellen Überschneidungen zwischen den US-amerikanischen, französischen und deutschen Doktrinen lassen sich aber insbesondere in drei zentralen Aspekten ausmachen, 54

55 56

57 58

CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 12; U.S. Army Field Manual FM 3‑24/ Marine Corps Warfighting Publication No. 3‑33.5, Counterinsurgency, Washington, DC, 15.12.2006, S. LI; Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 3. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 9; U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 10. Vgl. Stefan Goertz, Die Streitkräfte demokratischer Staaten in den Kleinen Kriegen des 21. Jahrhunderts. Analyse der doktrinären und organisationsstrukturellen Eignung der U.S.-Streitkräfte für die Counterinsurgency-Aufgaben Kleiner Kriege, Berlin 2012, S. 59. Zur kritischen Besprechung neoklassischer COIN-Doktrinen siehe auch: David Kilcullen, Counterinsurgency. The State of a Controversial Art. In: The Routledge Handbook of Insurgency and Counterinsurgency. Hrsg. von Paul B. Rich und Isabelle Duyvesteyn, New York 2012, S. 128‑153. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 391; CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 70. TTA 123/1 – Instruction de contre guérilla, EMA, octobre 1959; Les commandos de chasse dans la contre guérilla, Commandement en chef des forces en Algérie, juillet 1959; TTA 123 bis – Operations de contre guérilla dans le cadre du maintien de l’ordre en Afrique du Nord, EMA, août 1956.

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nämlich beim Umgang mit der Bevölkerung, bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit sowie bei der militärischen Gewaltanwendung. Erstens, ein bevölkerungszentrierter Ansatz: Die drei Doktrinen verstehen Aufstände klassischerweise als eine bilaterale Konfrontation um politische Macht zwischen einer Aufstandsbewegung auf der einen und Aufstandsbekämpfern auf der anderen Seite. So definiert das Field Manual einen Aufstand als »an organized, protracted politico-military struggle designed to weaken the control and legitimacy of an established government, occupying power, or other political authority while increasing insurgent control«.59 Auch der Leitfaden versteht einen Aufstand als eine organisierte Widerstandsbewegung, die »durch koordinierten und fortwährenden Einsatz von Gewaltakten und politischer Agitation versucht, die staatliche Autorität zum Scheitern zu bringen und langfristig ihre politischen Ziele und Ordnungsvorstellungen zu realisieren«.60 Die französische Doktrin fügt hinzu, dass ein Aufstand ein bewaffneter Widerstand sei, der primär politische und weniger militärische Ziele verfolge.61 In einem solchen Aufstandsbekämpfungsszenario spiele die Bevölkerung eine zentrale Rolle, da sowohl die Aufständischen als auch die Aufstandsbekämpfer um ihre Gunst und Kontrolle kämpfen. »Both try to sustain that struggle while discouraging support for their adversaries.«62

Den Aufständischen diene die Bevölkerung als Rückzugsraum, aber auch als Rekrutenpool, als Informationsquelle, zur logistischen und finanziellen Unterstützung sowie als Legitimitätsquelle.63 Daraus folge, dass – im Gegensatz zu einem feindzentrierten Ansatz mit seinem Schwerpunkt auf die militärische Bekämpfung der Aufständischen – auch die Aufständsbekämpfer einen bevölkerungszentrierten Ansatz verfolgen müssen, mit dem Ziel, die Legitimität der staatlichen Autorität in der Bevölkerung (wieder) herzustellen und den Aufständischen den Rückhalt in der Bevölkerung zu entziehen.64 Dadurch werde die Bevölkerung zum »principal actor and prize of the conflict«,65 zum »zentralen Element der Auseinandersetzung zwischen Aufständischen und der staatlichen Autorität«,66 zum »center of gravity – the deciding factor in the struggle«.67

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U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 2. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 1. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 6. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 15. Ebd., S. 101; Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 2; CDEF, Doctrine de contre rebellion, Paris 2009, S. 13. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 12 f.; CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 19; U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 6. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 6. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 2. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. XXV.

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Ein fundiertes Wissen über die sozialen Missstände im Einsatzland sowie über die dortige Bevölkerung selbst sei daher von entscheidender Bedeutung. Den Aufstandsursachen wird in den jeweiligen Doktrinen dabei unterschiedliches Gewicht beigemessen. Die deutsche Doktrin hebt eindeutig hervor, dass »ohne Kenntnis der jeweiligen Aufstandsursachen [...] eine erfolgsversprechende Aufstandsbewältigung nicht möglich« sei.68 Auch die US-Doktrin unterstreicht: »[L]ong-term success in COIN [...] requires the government to eliminate as many causes of the insurgency as feasible.«69

Dem gegenüber geht die französische Doktrin nur sporadisch auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ein. Einig sind sich die Doktrinen wieder in der Feststellung, dass die effektive Bekämpfung eines Aufstands auch eine Kontrolle der Bevölkerung erfordere, um die aufständische Organisation zu zerschlagen. Ein bevorzugtes Instrument hierfür, das von allen drei Doktrinen aufgeführt wird, ist die Erfassung biometrischer Daten Einheimischer.70 Dies solle eine Identifizierung der Bevölkerung sowie ein Wissen über ihre Bewegungen, Lieferketten, bevorzugten Kommunikationsmittel, die Zusammensetzung von Haushalten sowie über soziale und familiäre Beziehungen ermöglichen. Zweitens, die zivil-militärische Zusammenarbeit: Einig sind sich die drei Doktrinen auch in der Feststellung, dass ein bevölkerungszentrierter Ansatz nicht von den Streitkräften allein durchgeführt werden könne. Analog zum Vorgehen der Aufständischen, die sowohl auf gewaltsame als auch nicht-gewaltsame Maßnahmen zur Mobilisierung der Bevölkerung und zur Entfremdung dieser von der legitimen Regierung zurückgreifen, müssten auch Aufstandsbekämpfer »ganzheitlich« handeln. Nach deutscher Lesart erfordere dies ein zivil-militärisches Vorgehen zur »Aufstandsbewältigung«, in dessen Rahmen dem Militär nur ein Teilbeitrag zukomme. Ein solches »ganzheitliches« Vorgehen stütze sich somit auf eine Zusammenarbeit zwischen den bundesdeutschen Ressorts im Sinne des deutschen Konzepts der »Vernetzten Sicherheit« und strebe eine Kooperation mit internationalen Organisationen, staatlichen Organisationen im Gastland sowie Nichtregierungsorganisationen an.71 Dies solle auch eine Koordinierung aller Maßnahmen von der strategischen über die operative bis hinunter zur taktischen Ebene gewährleisten. Das französische Dokument befürwortet ebenfalls ein ganzheitliches Handeln, beschränkt sich aber mit seinen Ausführungen zum Konzept der manoeuvre globale – in Anlehnung an das strategische Konzept der approche glo-

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71

Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 5. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 2. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 28; U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 180; CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 23. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 5.

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bale72 – rein auf die taktische Ebene, da es von einer Wesenstrennung des französischen taktischen Konzepts der contre rébellion und dem angelsächsischen Konzept der Counterinsurgency ausgeht, das eher dem französischen Begriff der stabilisation entspreche.73 Im Gegensatz zu dieser Trennung zwischen taktischer und strategisch-operativer Ebene hebt insbesondere die US-Doktrin die Verwischung dieser Ebenen hervor. Insbesondere Soldaten der niedrigeren Dienstgradgruppen – die »strategic corporals« – müssten sich bewusst sein, dass ihre taktischen Entscheidungen strategische Konsequenzen haben können.74 Auch das deutsche Dokument verweist auf die enge Verbindung dieser Ebenen, wenn es betont, dass im Einsatzgebiet nationale Vorbehalte zu berücksichtigen sind und Kontingentführer diese geltend machen müssen.75 Die Durchführung zivil-militärischer Projekte habe jedoch natürliche Grenzen, beispielsweise wenn es zivilen Akteuren aufgrund ihrer Strukturen, Kapazitäten oder der Sicherheitslage nicht möglich ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. In diesen Fällen »müssen zivile Aspekte der Aufstandsbekämpfung zeitlich befristet durch die militärischen Kräfte übernommen werden«.76 Dies beinhalte beispielsweise auch die Gewährleistung der Nahrungsund Trinkwasserversorgung für die Bevölkerung, der grundlegenden Gesundheitsvorsorge, die Bereitstellung von Notunterkünften sowie die Schaffung oder Wiederherstellung von Infrastruktur und Energieversorgung.77 Diese Meinung vertreten auch die US-amerikanische und die französische Doktrin und stützen sich hierfür auf französische COIN-Theoretiker. So zitiert die US-Doktrin David Galula mit den Worten:

»To confine soldiers to purely military functions while urgent and vital tasks have to be done, and nobody else is available to undertake them, would be senseless. The soldier must then be prepared to become [...] a social worker, a civil engineer, a schoolteacher, a nurse, a boy scout.«78

Die französische manoeuvre globale beruht dagegen auf den taktischen Prinzipien Roger Trinquiers, die er in seinem Buch Guerre – Subversion – Révolution aufgeführt hatte.79 Neben der Trennung der Aufständischen von 72 73

74 75 76 77 78 79

Vgl. Cécile Wendling, L’approche globale dans la gestion civilo-militaire des crises. Analyse critique et prospective du concept, 2010 (= Cahier de l’IRSEM, 6), S. 79. Auf diese Übersetzungsschwierigkeiten wird im Vorwort der englischen Fassung der »Doctrine de contre rébellion« eingegangen: »In order to avoid confusion and possible misunderstanding with our allies, the French word ›contre rébellion‹ is translated as ›counterinsurgency‹. Although the American and British meaning of this term better corresponds to the French notion of ›stabilization‹ (stabilization phase), counterinsurgency in this document, should exclusively be understood as referring to the tactical level of operations«. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 6. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 50. Ähnlich auch im Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 16. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 8. Ebd., S. 17. Ebd., S. 10. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 68; David Galula, Counterinsurgency Warfare. Theory and Practice, Westport 2006, S. 62. Roger Trinquier, Guerre Subversion Révolution, Paris 1968.

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der Bevölkerung und der Mobilisierung der Bevölkerung für die eigenen Ziele plädiert er für eine Ausstattung der Bataillone der Aufstandsbekämpfer mit Medizinern zur Erstversorgung von Familien und insbesondere Kindern, mit Sozialarbeitern sowie Spezialisten zur Durchführung psychologischer Operationen.80 Drittens, das Vorgehen der Streitkräfte: Dem Verständnis der US-Doktrin nach führen die Streitkräfte sogenannte full spectrum operations durch. Diese bestehen aus defensiven, offensiven und Stabilisierungsoperationen.

»Offensive and defensive operations focus on defeating enemy forces. [...] In contrast, stability operations focus on security and control of areas, resources, and populations.«81

Die militärische Bekämpfung der Aufständischen sei somit zwar eine essenzielle Aufgabe von Streitkräften, doch »the military forces’ primary function in COIN is protecting the populace«.82 Zur Schaffung eines sicheren Umfeldes empfiehlt die COIN-Doktrin drei Vorgehensweisen – Clear-holdbuild, Combined action und Limited support. Von ihnen wird die Erste am detailreichsten beschrieben. Das Vorgehen nach Clear-hold-build, das oftmals auch als Ink-spot-Strategy, Oil-spot-Strategy83 oder seinem französischen Ursprung nach auch als »principe de la tache d’huile« bezeichnet wird,84 soll neben der offensiven Schaffung eines sicheren Umfeldes auch den Rahmen zur Gebiets- und Bevölkerungskontrolle durch die Regierung des Gastlandes herstellen. Der militärische Schutz und die Kontrolle der Bevölkerung verfolgt dabei zwei Ziele: einerseits den Aufständischen die Unterstützung durch die Bevölkerung zu entziehen und andererseits eine Vertrauensbasis für die Informationsgewinnung zu schaffen; Informationen, mit denen schließlich die Aufständischen innerhalb der Bevölkerung identifiziert werden sollen.

»Without good intelligence, counterinsurgents are like blind boxers [...]. With good intelligence, counterinsurgents are like surgeons cutting out cancerous tissue while keeping other vital organs intact.«85

Die französische Doktrin wiederum fokussiert ihr militärisches Vorgehen in anderer Weise. Die Doctrine de contre rébellion versteht »counterinsurgency (at the tactical level) [as] a course of action that consists of neutralizing an organization that practices armed violence [...], by reducing that organization’s freedom of movement by confinement, or even eliminating it«.86 Die militärische Kraftentfaltung richtet sich somit primär gegen die aufständische Organisation mit dem Ziel, diese geografisch zu isolieren und militärisch zu bekämpfen. Die französische Doktrin listet hierfür detaillierte Maßnahmen 80 81 82 83 84

85 86

CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 33. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 166. Ebd., S. 54. Vgl. U.S. Army, FM 3‑24.2 Tactics in Counterinsurgency, Washington, DC 2009, S. 84. Vgl. Christopher Griffin, A Revolution in Colonial Military Affairs. Gallieni, Lyautey, and the Tache d’huile, Paper Prepared for the 2009 British International Studies Association Conference, Leicester, 14.12.2009. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 41. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 9.

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auf, so die erwähnte Methode des »Ölflecks« sowie das »Quadrillage«System. Beide sind eng miteinander verbunden und haben ihren Ursprung in der französischen Kolonialkriegführung.87 In Anlehnung an antike Rastersysteme teilten im 19. Jahrhundert französische Militärgouverneure wie Théophile Pennequin, Joseph Gallieni und Hubert Lyautey die zu »befriedenden« Kolonialgebiete in Quadranten auf, an deren Knotenpunkten sie Wachposten positionieren ließen. Dieses statische »Quadrillage«-System wurde zugleich von »nomadisierenden« mobilen Einheiten der französischen Afrikaarmee gedoppelt, um ihre indigenen Gegner in einem permanenten Unruhezustand zu halten, damit sich das eigene Einflussgebiet – wie ein »Ölfleck« – stetig weiter ausbreite.88 Die französische COIN-Doktrin knüpft an diese Tradition der Gebietskontrolle aus den Pazifizierungskriegen wieder an – die in der Doktrin interessanterweise als »past peacekeeping operations« übersetzt wurden – und hat zum Ziel, die Bevölkerung zu schützen und zu kontrollieren sowie offensive Operationen zu jeder Zeit zu ermöglichen.89 Die Bevölkerungskontrolle bildet dabei, ähnlich wie bei der US-amerikanischen Vorgehensweise, die Grundlage für den Aufbau eines Informantennetzwerks. »This network can only be effective if the population, which alone knows the basic elements of the insurgent organization, can denounce them.«90

Den Autoren des Leitfadens ist es dagegen wichtig zu betonen, dass »es keine Patentrezepte [gibt], sondern es stets [gilt], kreative, lagebezogene Lösungsansätze zu entwickeln«.91 Dennoch befürworten sie in leicht abgewandelter Form das Clear-hold-build-Vorgehen der US-Doktrin, indem sie diese drei Aufgabenfelder für Operationen zur Aufstandsbewältigung identifizieren: vorbereiten, sichern, entwickeln.92 Sie weisen zudem darauf hin, dass die militärischen Kräfte in erster Linie in ihren Kernkompetenzen – zu verstehen als die Anwendung militärischer Gewalt- und Zwangsmaßnahmen – eingesetzt gehören, nicht zur Übernahme ziviler Aufgaben.93 Interessanterweise sehen sie sich sogar veranlasst hervorzuheben, dass der »Kampf gegen Aufständische [...] legitimer Teil des umfassenden Ansatzes zur Aufstandsbewältigung« sei.94 Diese Akzentsetzung des deutschen Ansatzes der 87 88

89 90 91 92 93 94

Zu den weiteren Überschneidungen zwischen US-amerikanischer COIN-Doktrin und französischer Kolonialkriegführung siehe: Barbin, Imperialkriegführung (wie Anm. 36). Vgl. Marie-Catherine Villatoux, La défense en surface. Le contrôle territorial dans la pensée stratégique française d’après-guerre (1945‑1962), Vincennes 2009. Die französischen Streitkräfte greifen dieses doppelte Vorgehen aus statischem »Quadrillage«System und »nomadisierenden« mobilen Einheiten im Rahmen ihrer Operationen Barkhane und Sabre in Mali erneut auf. Siehe: Didier François, Traque aux djihadistes dans le désert. In: Le Figaro Magazine, 12.1.2018, S. 40‑47; Didier François, Amiral [Laurent] Isnard. »Nous recherchons les terroristes partout où ils se trouvent«. In: Le Figaro Magazine, 12.1.2018, S. 48 f. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 29. Ebd., S. 23. Leitfaden Aufstandsbewältigung (wie Anm. 47), S. 34. Ebd., S. 18. Ebd., S. 10. Ebd.

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»Aufstandsbewältigung« unterscheidet sich in diesem Punkt doch merklich von der Schwerpunktsetzung der US-amerikanischen und französischen Doktrin einer »Aufstandsbekämpfung«. Letztlich muss auch diese Gewaltanwendung durch die militärischen Kräfte neu gedacht werden. In einem solchen Konflikt finden die »kinetischen« Maßnahmen zur »Neutralisierung« gegnerischer Kräfte zwar weiterhin Anwendung – Isolierung, Abschneiden von Verbindungs- und Versorgungswegen, Festsetzung und Bekämpfung. Doch streicht der deutsche Leitfaden heraus, dass angesichts der Gefahr eines »Hydra-Effekts« der »Einsatz militärischer Gewalt [...] vorher auf positive und negative Wirkungen analysiert [...] und durch Informationsoperationen vorbereitet, begleitet und nachbereitet« werden müsse.95 Dies gelte sowohl für groß angelegte Operationen als auch für den Umgang mit einzelnen Personen, wie die französische und insbesondere die US COIN-Doktrin hervorheben.96 Der Algerienkrieg wird dort in einem Schaukasten mit der Überschrift »Lose Moral Legitimacy, Lose the War« als abschreckendes Beispiel dargestellt:97

»People who have been maltreated or have had close friends or relatives killed by the government, particularly by its security forces, may strike back at their attackers. Security force abuses and the social upheaval caused by collateral damage from combat can be major escalating factors for insurgencies.«98

5. Doktrinäre Divergenzen bei der Bewältigung von Aufständen Der Vergleich der COIN-Doktrinen hat zahlreiche Überschneidungen bei den Maßnahmen zur Bewältigung von Aufständen zwischen den USA, Frankreich und Deutschland erkennen lassen. So ist allen drei Doktrinen die zentrale Rolle der Bevölkerung gemeinsam, die ins Zentrum des militärischen Vorgehens zur Überwindung eines Aufstandes rückt. Dieser bevölkerungszentrierte Ansatz soll die Grundlage zur Bevölkerungskontrolle und Informationsgewinnung bilden, um schließlich die Identifizierung der Aufständischen inmitten der Zivilbevölkerung zu ermöglichen. Für die anschließende Trennung von Aufständischen und Zivilisten seien jedoch nicht nur militärische Maßnahmen notwendig, sondern sie müsse auch von einem zivil-militärischen Ansatz unterfüttert werden. Die militärische Gewaltanwendung müsse zudem auf das Nötigste reduziert werden, um die Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen. Jeder Einsatz militärischer Gewalt sei deshalb hinsichtlich der Vor- und Nachteile gründlich abzuwägen. Trotz dieser grundsätzlichen Überschneidungen lassen sich bei den Doktrinen allerdings auch deutliche Unterschiede in zahlreichen Bereichen 95 96 97 98

Ebd. CDEF, Doctrine for Counterinsurgency (wie Anm. 53), S. 18 f. U.S. Army FM 3‑24, Counterinsurgency (wie Anm. 54), S. 252. Ebd., S. 16.

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ausmachen. Hervorzuheben ist hier zum einen die klar wahrnehmbare Zurückhaltung der Autoren des Leitfadens gegenüber der Übernahme ziviler Aufgaben durch das Militär. Während die US-amerikanische und die französische Doktrin militärische und zivile Aufgaben nicht strikt voneinander trennen, betonen die Autoren der deutschen COIN-Doktrin, dass die Kernkompetenz der Bundeswehr in einem Aufstandsszenario vornehmlich in der militärischen Gewaltanwendung zur Herstellung von Sicherheit liege. Dies ist vor dem Hintergrund des in Deutschland grundgesetzlich verankerten Trennungsgebots zwischen militärischen und zivilen, also auch polizeilichen Aufgaben zu verstehen;99 eine Trennung, die so weder in den USA mit seiner paramilitärischen National Guard noch in Frankreich mit seiner paramilitärischen Gendarmerie nationale existiert. Zum anderen spiegelt der Fokus auf den »Kampf« allerdings auch die bundeswehrinterne Debatte ab 2008 wider, als zahlreiche Afghanistan-Rückkehrer robustere militärische Maßnahmen als Antwort auf die sich verschlechternde Sicherheitslage forderten.100 Interessant sind auch die unterschiedlichen Begrifflichkeiten, die zur Beschreibung dieser westlichen Konzepte genutzt beziehungsweise nicht genutzt werden. So knüpft das US Field Manual 3‑24 bereits allein durch die erneute Bezeichnung als »Counterinsurgency« begrifflich an die 1960er Jahre und das »golden age of counter-insurgency«101 an, als John F. Kennedy die Gründung einer Special Group Counterinsurgency102 und die Erstellung einer national counterinsurgency doctrine103 zur Bekämpfung »subversiver« Aufstände in Südostasien veranlasste. Ganz bewusst wurden damals wie heute nicht die Begriffe »Counter-rebellion« oder gar »Counterrevolution« genutzt, obwohl Letzterer insbesondere angesichts der damaligen sowjetischen Unterstützung für sogenannte »revolutionäre Kriege«104 eine durchaus treffende Bezeichnung gewesen wäre. Die im US-amerikanischen Verständnis positive Konnotation der Begriffe »Rebellion« und »Revolution« – zurückgehend auf die zahlreichen Rebellionen gegen britische Kolonialherrschaft und nicht zuletzt die

99 100

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102 103 104

Vgl. Art. 87a Abs. 2 GG. Eric Sangar, The Weight of the Past(s). The Impact of the Bundeswehr’s Use of Historical Experience on Strategy-Making in Afghanistan. In: Journal of Strategic Studies, 38 (2015), 4, S. 411‑444, hier S. 436. James D. Kiras, Irregular Warfare. In: Understanding Modern Warfare. Hrsg. von David Jordan, James D. Kiras, David J. Lonsdale, Ian Speller, Christopher Tuck und C. Dale Walton, Cambridge 2008, S. 224‑291, hier S. 260. The White House, National Security Action Memorandum No. 124, 18.1.1962 (letzter Zugriff 17.5.2018). The White House, National Security Action Memorandum No. 182, 24.8.1962 (letzter Zugriff 17.5.2018). In einer Rede von 1961 kündigte Nikita Chruschtschow die Unterstützung der Sowjetunion für revolutionäre Kriege gegen den Kapitalismus an, solange der Kolonialismus fortbestehe. Siehe: Walter Grottian, Das sowjetische Regierungssystem. Die Grundlage der Macht der kommunistischen Parteiführung, Leitfaden und Quellenbuch, Wiesbaden 1965, S. 387.

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Revolution von 1775/76, die den USA die Unabhängigkeit ermöglichte – verhinderte jedoch die Nutzung solch reaktionärer Bezeichnungen.105 Obwohl es sich um die formal korrekte Übersetzung des US-amerikanischen Begriffspaares »counterinsurgency«/»insurgency« handelt, entschieden sich die Autoren der Doctrine de contre rébellion gegen die Nutzung der Begriffe »contre-insurrection« und »insurrection«.106 Letzterer ist im Französischen aus geschichtlichen Gründen nämlich positiv aufgeladen, da mit Ereignissen wie der Insurrection républicaine von 1832 oder der Insurrection de février von 1848 grundsätzlich positive Assoziationen verbunden sind. Mit der Rückkehr Frankreichs in die integrierten militärischen Strukturen der NATO im April 2009 – drei Monate nach Veröffentlichung der Doctrine de contre rébellion – änderten sich die grundsätzlichen Rahmenbedingungen französischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik allerdings maßgeblich. Die daraus resultierende Notwendigkeit verstärkter Interoperabilität zwischen den Alliierten, die auch die Harmonisierung von Begrifflichkeiten beinhaltet, führte zur Favorisierung des Begriffes »contre-insurrection« und der Nutzung des Akronyms COIN für die englischsprachige Übersetzung der Doctrine de contre rébellion von April 2010 und für die streitkräfteübergreifende Doktrin »DIA-3.4.4 – Contre-insurrection (COIN)« von November 2010. Auch in Deutschland tat man sich zunächst schwer, adäquate Bezeichnungen für die veränderten Aufgaben der Bundeswehr in Afghanistan zu finden. »The term ›counterinsurgency‹ (COIN) is an emotive subject in Germany«, bekannte bereits das Heeresamt in einem Diskussionspapier von 2010.107 Um Irritationen – insbesondere beim Auswärtigen Amt108 – zu vermeiden, wurde der Begriff COIN deshalb zunächst übersetzt mit der Umschreibung »Herstellung von Sicherheit und staatlicher Ordnung in Krisengebieten«. In diesem Zusammenhang wurde eine »Insurgency« nicht als Aufstandsbewegung oder eine Gruppe von Aufständischen verstanden, sondern als »the process of destabilisation caused by political, economic and/ or social grievances, which affects both the effectiveness and legitimacy of the governmental system; this process is exacerbated by insurgent activity«.109 Dies ermögliche eine Abkehr von feindzentrierten Maßnahmen hin zu den »echten Herausforderungen« einer COIN-Mission, so das Heeresamt. Mit der Schaffung des Begriffs »Aufstandsbewältigung« im Leitfaden wurde dieses begriffliche Vakuum nur scheinbar gefüllt. Denn er vermag es nicht, die bestehende semantische Konfusion zwischen zivilen und militärischen 105 106

107 108 109

The Oxford Companion to American Military History. Hrsg. von John Whiteclay Chambers II, New York 1999, S. 69, 189. Vgl. Colonel R. Zbienen, La publication du FM 3‑24 (COIN) et l’élaboration de la doctrine de contre-insurrection française. Retour sur une convergence doctrinale, 16.12.2016 (letzter Zugriff 17.5.2018). Preliminary Basics for the Role of Land Forces in Counterinsurgency. Hrsg. von German Army Office, Köln 2010, Foreword. Martin Zapfe, Strategic Culture Shaping Allied Integration (wie Anm. 43), S. 253. Preliminary Basics for the Role of Land Forces in Counterinsurgency (wie Anm. 107), S. 1.

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Aufgaben auf der einen und originär deutschen Begrifflichkeiten und transposierten NATO-Konzepten auf der anderen Seite aufzulösen. So wird »die Gesamtheit aller zivilen und militärischen Maßnahmen [zur Beseitigung] mittelbar oder unmittelbar gegen die staatliche Ordnung gerichtete Subversion und Gewalt« als Aufstandsbewältigung bezeichnet, der militärische Beitrag – der »Kampf gegen Aufständische als legitimer Teil des umfassenden Ansatzes zur Aufstandsbewältigung« – für diese Aufgabe allerdings ebenfalls, sodass ein Teil und sein Ganzes mit ein und demselben Begriff bezeichnet werden. Eine begriffliche Trennung zwischen militärischer »Bekämpfung« und gesamtstaatlicher »Bewältigung« von Aufständen hätte diesbezüglich mehr Klarheit gebracht. Ein letzter nennenswerter Unterschied zwischen den Doktrinen ist der Umgang mit vergangenen Erfahrungen zur Aufstandsbekämpfung. Während das französische und das US-amerikanische Dokument bereitwillig auf Erfahrungen und Konzepte aus Kolonial- und Dekolonialisierungskriegen des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgreifen und ihren Soldaten konkrete Vorgaben machen, blendet das deutsche Dokument den Blick in die Geschichte ganz bewusst aus. Von konkreten Handlungsanweisungen wird hier größtenteils Abstand genommen, und die militärischen Truppenführer werden aufgefordert, eigene »kreative« Lösungsansätze zu entwickeln. Dieser unterschiedliche Umgang mit Erfahrungen lässt sich auf bestimmte organisationskulturelle Prägungen und Denkschulen zurückführen, die zum damaligen Zeitpunkt in den jeweiligen Streitkräften dominierten. Sowohl in den USA als auch in Frankreich waren es Anhänger der sogenannten Historischen Schule110, die als Autoren und Entscheidungsträger maßgeblichen Einfluss auf die Doktrinen hatten. US-Militärs wie David Petraeus, John A. Nagl oder auch Herbert R. McMaster, die sich in ihren Dissertationen insbesondere mit dem Vietnamkrieg auseinandergesetzt hatten,111 nahmen jene Forderungen nach Geschichtslehren im Sinne von »lessons learned« auf, die »besonders laut aus den Reihen der jungen und doch kampferfahrenen amerikanischen Soldaten [klangen], die von der ›revolution in military affairs‹ und von der Wiederbelebung der postmodernen Blitzkrieglegenden enttäuscht worden sind«.112 Aufgrund der einflussreichen Positionen der Anhänger dieser applikatorischen Methode flossen die »Lehren« der Vergangenheit – die »ewigen Prinzipien« der Aufstandsbekämpfung – einerseits in die COIN-

110 111 112

Zur »Historischen Schule« siehe: Beatrice Heuser, Den Krieg denken. Die Entwicklung der Strategie seit der Antike, Paderborn 2010, S. 248‑250. Bspw. David H. Petraeus, The American Military and the Lessons of Vietnam. A Study of Military Influence and the Use of Force in the post-Vietnam Era, Princeton 1987. Donald Abenheim, Geschichtserziehung, Traditionspflege, »lessons learned«. Historische Bildung in den US-Streitkräften unter dem Aspekt der neueren Kriege. In: Perspektiven der Militärgeschichte. Raum, Gewalt und Repräsentation in historischer Forschung und Bildung. Hrsg. von Jörg Echternkamp, Wolfgang Schmidt und Thomas Vogel, München 2010 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 67), S. 343‑362, hier S. 343.

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Doktrin und andererseits in die US-amerikanische Operationsführung in Irak und Afghanistan ein.113 In Frankreich befanden sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der französischen Doktrin mit Vincent Desportes als Direktor des Centre de doctrine et d’emploi des forces (CDEF) – dem Herausgeber des französischen COINDokuments – und Michel Goya als Berater für doktrinäre Fragen beim französischen Generalstab wiederum zwei prominente Kritiker der technologiebasierten Kriegführung an einflussreicher Stelle. Allen voran Desportes forderte die Rückbesinnung auf die Lehren der Vergangenheit, indem er in zahlreichen Veröffentlichungen und öffentlichen Stellungnahmen die Notwendigkeit hervorhob, insbesondere in asymmetrischen Konflikten das Umfeld und die Bevölkerung mit ausreichend Soldaten zu kontrollieren. »Seit Urzeiten gibt es nur eine Lösung, sei es im Inland wie im Ausland: Wer kontrollieren möchte, muss in ausreichender Zahl dort präsent sein, wo die Krisen entstehen [...] Den Krieg gewinnen, heißt, das Gelände zu kontrollieren.«114

In Deutschland entschied man sich nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen ganz bewusst, mit der eigenen Tradition der applikatorischen Methode zu brechen. An die klassische, anwendungsbezogene, apolitische und zeitgeschichtlich geprägte Kriegsgeschichte unter Vernachlässigung gesellschaftlicher Phänomene, wie sie sowohl in der historischen Sektion des preußischen Generalstabs, in den kriegsgeschichtlichen Abteilungen des Großen Generalstabs des Kaiserreichs, als auch im Reichsarchiv der Weimarer Republik betrieben wurde und die schließlich zur Zeit der NSDAP-Herrschaft eine rassenideologische Aufladung erhielt, wollte man in der Bundeswehr nicht mehr anknüpfen.115 Mit dem Aufbau des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA) der Bundeswehr und dem hausinternen Methodenstreit in den 1960er Jahren setzte sich eine neue Konzeption von Militärgeschichte durch, die der Bildung und der Schulung des Denkens der Soldaten dienen sollte. Dass »aus der Geschichte vergangener Kriege keine taktisch-operativen Regeln [...] für Gegenwart und Zukunft abgeleitet werden [könne]«,116 wurde bis 1990 mit dem atomaren Paradigmenwechsel sowie der veränderten geopolitischen Lage Deutschlands und nach 1990 vor allem wissenschaftstheoretisch begründet. Bezeichnend für die weiterhin bestehenden Vorbehalte gegenüber der applikatorischen 113

114 115

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David Petraeus läutete einerseits als Kommandeur von Fort Leavenworth ab 2005 die konzeptionelle Neuorientierung der US-Armee ein und konnte andererseits die von ihm mitverfasste COIN-Doktrin ab 2007 als Kommandeur der Multi-National Force – Iraq bzw. ab 2010 als Kommandeur der ISAF konkret umsetzen. Vincent Desportes, Des forces terrestres au Coeur du système de défense. In: Revue de Défense Nationale, (2007), 5, S. 118‑124, hier S. 124. Vgl. hierzu: 50 Jahre Militärgeschichtliches Forschungsamt. Eine Chronik. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, bearb. von Martin Rink, Potsdam 2007, S. 5‑12; die Beiträge in: Perspektiven der Militärgeschichte (wie Anm. 112); Jörg Echternkamp, Militärgeschichte. In: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, 12. Juli 2013 (letzter Zugriff 17.5.2018). 50 Jahre Militärgeschichtliches Forschungsamt (wie Anm. 115), S. 27.

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Methode sind die »Wegweiser zur Geschichte«, die vom MGFA und dann vom ZMSBw117 herausgegeben werden. Diese landeskundlichen Führer informieren die Soldaten hauptsächlich über die »Geschichte, Kultur und aktuellen Konfliktbereiche eines [Einsatz]Landes beziehungsweise einer Region«, sodass beispielsweise der Wegweiser zu Afghanistan ausschließlich die historischen und kulturellen Aspekte des Landes behandelt, jedoch keine Handlungsanleitungen zu primär militärischen Aufgaben vermitteln möchte.118

6. Fazit Die asymmetrischen Kriege des 21. Jahrhunderts haben westliche Streitkräfte vor Herausforderungen gestellt, die bei ihnen ein grundlegendes Umdenken hinsichtlich der Führung begrenzter Kriege ausgelöst haben. Die US-amerikanischen, französischen und deutschen Doktrinen zur Aufstandsbekämpfung sind Ausläufer dieses Umdenkens, mit dem eine Symmetrierung des militärischen Vorgehens in asymmetrischen Konflikten erreicht werden soll. So wurde die feindzentrierte Kriegführung samt den Stabilisierungseinsätzen der 1990er Jahre, die nach einer schnellen Entscheidung durch technologisch überlegene Streitkräfte strebte, Anfang der 2000er Jahre von einem bevölkerungszentrierten Ansatz abgelöst, der eine langfristige und massive Präsenz in der Fläche vorsah, um eine Kontrolle der Bevölkerung zu ermöglichen. Durch den Vergleich der Doktrin sind zahlreiche Überschneidungen in der Aufstandsbekämpfung der jeweiligen Streitkräfte deutlich geworden, insbesondere hinsichtlich der bevölkerungszentrierten Vorgehensweise, der zivil-militärischen Zusammenarbeit und der militärischen Gewaltanwendung. Dabei ist jedoch auch deutlich geworden, dass westliche Streitkräfte – trotz immer stärkerer sicherheits- und verteidigungspolitischer Konvergenzen – weiterhin nationale Instrumente der Gewaltanwendung sind, die sich in einem Spannungsfeld aus rechtlichen und politischen Vorgaben sowie gesellschaftlichen Prägungen und organisationskulturellen Eigenarten bewegen. Nur so lassen sich die jeweiligen Schwerpunktsetzungen, semantischen Feinheiten und militärtheoretischen Überlegungen erklären. Allerdings ist ein Wandel der Doktrin weder mit einem Wandel der militärischen Praxis gleichzusetzen119 noch ein Garant für militärischen Erfolg. 117

118 119

Im Zuge der Fusion des MGFA mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr entstand das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). So die Beschreibung auf der Internetseite des ZMSBw: (letzter Zugriff 1.6.2018). Vgl. Theo Farrell, Figuring Out Fighting Organisations. The New Organisational Analysis in Strategic Studies. In: Journal of Strategic Studies, 19 (1996), 1, S. 122‑135, hier S. 125.

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Zwar ist zeitgleich zur Einführung der COIN-Doktrin ab 2007 ein massiver Rückgang der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg zu verzeichnen.120 Doch konnte dieser vermeintliche Erfolg weder in Afghanistan wiederholt werden, noch trug er zu einer langfristigen Stabilisierung der Einsatzländer bei. So werden nach dem Abzug der USA 2011 im Irak jährlich weit über 10 000 zivile Todesopfer dokumentiert, und auch in Afghanistan bleibt nach dem Ende des ISAF-Einsatzes 2014 die Zahl der in Kampfhandlungen getöteten Zivilisten konstant bei knapp 3000 Personen pro Jahr.121 Aus militärsoziologischer Sicht stellt sich zudem die Frage, welche Auswirkungen solche Aufstandsbekämpfungseinsätze mit ihrer Verwischung von Militär- und Polizeiaufgaben auf die Denkmuster zur inneren Sicherheit haben.122 Denn es besteht durchaus die Gefahr einer Rückkopplung in die Entsendestaaten, wenn – wie in den USA – im Zuge des 1033-Program militärische Ausrüstung und minengesicherte Fahrzeuge kostenfrei an Polizeieinheiten übergeben und diese gegen soziale Unruhen und Proteste eingesetzt werden.123 Auch werden zur Aufstandsbekämpfung entwickelte Überwachungstechniken und -technologien wie die von der US-Luftwaffe zur Überwachung irakischer Städte angewandten Persistent Surveillance Systems mittlerweile sowohl von US-amerikanischen Polizeibehörden als auch zur Sicherung von Großveranstaltungen wie den Olympischen Spielen oder G-20-Gipfeln genutzt.124 Durch die Fokussierung der COIN-Doktrin besteht letztlich auch die Gefahr einer einseitigen Spezialisierung der Streitkräfte. Die militärischen Interventionen der vergangenen Jahrzehnte haben einen starken Einfluss auf die Strukturen der militärischen Organisationen und die Ausrüstung der Soldaten gehabt. Wehrpflichtarmeen mit schwerem Gerät und einer auf die Operation von geschlossenen Großverbänden ausgerichtete Gliederung wurden von Berufsarmeen mit leicht verlegbaren und kontingentsweise gegliederten Kräften verdrängt. Mit dem Aufkommen hybrider Bedrohungen, welche die Bündnis- und Landesverteidigung wieder auf den Plan ruft, stellt sich somit erneut die Frage nach der besten strukturellen, doktrinären und materiellen Anpassung an das vermeintlich realistischere oder zumindest bedrohungsreichste militärische Szenario. 120

121

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Statista, Anzahl der dokumentierten zivilen Todesopfer im Irakkrieg und in den folgenden Jahren von 2003 bis 2017 (letzter Zugriff 1.6.2018). Ebd.; Statista, Anzahl der in Folge von Kampfhandlungen getöteten und verletzten zivilen Opfer in Afghanistan von 2009 bis 2016 (letzter Zugriff 1.6.2018). Vgl. Bernard E. Harcourt, The Counterrevolution. How Our Government Went to War Against Its Own Citizens, New York 2018. Do not Resist. [DVD] Regie Craig Atkinson. USA 2016, Produktion Vanish Films. Do not Resist (wie Anm. 123); Rheinmetall Defence, Persistent Surveillance System – PSS (letzter Zugriff 13.8.2018).

Gerhard Kümmel

Von Comedy bis hin zu Versuchen, das Unerklärbare zu erklären. Das Militär im bundesrepublikanischen Film Geht es um Medien, Medien- und Medienwirkungsanalyse, werden gern die Worte des großen Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann zitiert. Mitte der 1990er Jahre formulierte er den einprägsamen, richtigen wie falschen, Satz: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«1

Falsch an diesem Satz ist die Annahme, wir würden die Welt ausschließlich durch die Medien wahrnehmen; ist doch das eigene Erleben ebenfalls ein wichtiger Quell der Perzeption unserer Umgebung.2 Richtig an diesem Satz ist jedoch, dass die Medien bei unserer Wahrnehmung und Interpretation der Welt durchaus eine wichtige Rolle spielen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Medien ein ubiquitäres Phänomen geworden sind. So wenden wir Deutsche für die Beschäftigung mit den verschiedenen Medien gegenwärtig nicht weniger als zehn Stunden und mehr pro Tag auf.3 Dabei werden den (Massen-)Medien in den Kommunikationswissenschaften unterschiedliche Funktionen zugewiesen.4 An erster Stelle wird in der Regel die Informationsfunktion genannt. Diese erstreckt sich auf politische, soziale, ökonomische wie auch ökologische Themen- und Sachgebiete und soll den Adressaten die Zusammenhänge in den jeweiligen Bereichen erläutern, die verschiedenen Positionen, die zu diesen Bereichen existieren, deutlich machen und dadurch Transparenz und Öffentlichkeit herstellen. In politischer Hinsicht erhofft man sich von den Medien auch, dass sie ihre Nutzer und Adressaten in die Lage versetzen, eine Urteils- und auch Kritikfähigkeit zu entwickeln, sodass die Medien häufig als »fourth estate« 1 2 3 4

Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2. erw. Aufl., Opladen 1996, S. 9. Vgl. auch Jo Reichertz, Die Macht der Worte und der Medien, 2. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 17. Christian Klenk, Macht und Einfluss der Medien in Deutschland. In: Ost-West. Europäische Perspektiven, 11 (2010), 2, S. 85‑96, hier S. 85. Vgl. zum Folgenden Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, 4. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg i.Br. 2003.

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neben Exekutive, Legislative und Judikative verstanden werden. Zu den sozialen Funktionen der Medien wiederum zählt, dass sie den Adressaten die gesellschaftlichen Normen und Werte vermitteln wie auch Verhaltens-, Handlungs- und Rollenmuster zur Orientierung anbieten und damit zur gesellschaftlichen Integration beitragen. Sie leisten zudem einen wichtigen Beitrag zur Rekreation und Entspannung der Adressaten. In ökonomischer Hinsicht stellen die Medien den Adressaten/Konsumenten Informationen über Produkte und Waren zur Verfügung, die sie bei ihren Kaufentscheidungen berücksichtigen können. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die basale Funktion des Systems der Medien in der Produktion von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft besteht, die darum in der Summe auch so etwas wie das Gedächtnis der Gesellschaft bilden. So können sie beispielsweise Themen auf die Agenda der gesellschaftlichen und politischen Diskussion setzen (Agenda-SettingFunktion) und ein gesellschaftliches Räsonieren über diese Themen anstoßen. Entsprechend werden die Medien zum Ziel und zum Objekt von Interessen. Unterschiedliche Akteure versuchen, die Kommunikation und Information seitens der Medien in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie betätigen sich damit als strategische Kommunikatoren und hoffen, dass ihre Botschaften möglichst unverfälscht beim Publikum ankommen.5 Systemtheoretisch gesprochen, versuchen Akteure aus anderen gesellschaftlichen Subsystemen auf das System der Medien in ihrem Sinne einzuwirken. Dabei bedienen sie sich ökonomischer oder politischer Machtmittel. Die entsprechenden Einflusskanäle sind zwar zweifelsohne vorhanden, doch ist die Vorstellung eines unidirektionalen Beziehungsgeflechts unzutreffend. Vielmehr gilt auch hier, dass man sich dieses Beziehungsgeflecht im Sinne eines Interpenetrationszusammenhangs vorstellen muss. Entsprechend weisen die Medien und Medienakteure der Gesellschaft ein hinreichendes Maß an Souveränität und Widerständigkeit auf und sind eigeninitiativ tätig. Darüber hinaus hilft ihnen bei der Aufrechterhaltung der systemischen Grenzen auch, dass sich die Adressaten, Konsumenten und Rezipienten der Medien in dem medialen Kommunikationsprozess selektiv, reflexiv, interpretativ, produktiv und kreativ verhalten können.6 Die konkrete Art und Weise der Aneignung der Medieninhalte durch das Publikum ist somit nur schwierig, wenn überhaupt steuerbar.

5 6

Vgl. hierzu Christopher Paul, Strategic Communication. Origins, Concepts, and Current Debates, Santa Barbara, CA 2011. Vgl. hierzu John Fiske, Television Culture, London 1991; Alexander Geimer, Filmrezeption und Filmaneignung: Eine qualitativ-rekonstruktive Studie über Praktiken der Rezeption bei Jugendlichen, Wiesbaden 2010; Rainer Winter, Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess, 2. erw. u. überarb. Aufl., Köln 2010; Michael Jäckel, Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, 5. vollst. überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2011.

Von Comedy bis hin zu Versuchen, das Unerklärbare zu erklären

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1. Die Bundeswehr im Bewegtbild In unserem Fall haben wir es nun zum einen konkret mit dem Militär, hier: der Bundeswehr, zu tun. Als Akteurin möchte diese ihren Einfluss auf ihr Bild, ihre Darstellung und ihr Image in den Medien und darüber hinaus in der Gesellschaft als Ganzes nehmen und des Weiteren auch die Kenntnisse und das Wissen über sie selbst in der Gesellschaft steuern. Die Bundeswehr tut dies in unterschiedlicher Form. So stellt sie selbst Medienprodukte her und verteilt sie auf unterschiedlichen Wegen in der Gesellschaft. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an den vom Bundesministerium der Verteidigung selbst initiierten und von Kurt Neher umgesetzten Werbefilm Die ersten Schritte (1956),7 an die Werbemittel der Bundeswehr8 oder auch an die Presse-, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums und der Streitkräfte insgesamt, die sich sowohl nach außen als auch – beispielsweise bei Zeitschriften der Truppeninformation und militärischen Fachzeitschriften – nach innen richtet und dann auf die Produktion von interner Kohäsion abzielt.9 Im Zuge der technologischen Entwicklung wie auch der Weiterentwicklung der Medienlandschaft und in Zeiten, in denen die »institutionelle Präsenz«10 der Streitkräfte im gesellschaftlichen Leben infolge ihrer Umfangsreduzierung abgenommen hat und gleichzeitig die Bundeswehr seit 1990 in weitaus stärkerem Maße eine »Einsatzarmee« geworden ist,11 ist dies noch wichtiger geworden. So zeigt beispielsweise die Bevölkerungsumfrage des Zentrums der Bundeswehr für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften (ZMSBw) aus dem Jahr 2013, dass das persönliche Erleben der Bundeswehr in der eigenen Lebenswelt für die Wahrnehmung der Bundeswehr eine zusehends gerin7

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Vgl. hierzu Katja Protte, Auf der Suche nach dem Staatsbürger in Uniform. Frühe Ausbildungs- und Informationsfilme der Bundeswehr. In: Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 59), S. 569‑610. Thorsten Loch, Das Gesicht der Bundeswehr. Kommunikationsstrategien in der Freiwilligenwerbung der Bundeswehr, München 2008 (= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland, 8); Michael Schulze von Glaßer, An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr, Köln 2010. Vgl. hierzu Tile von Damm, Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr – die Truppe als modernes Promotion- und Marketingunternehmen. In: Medien zwischen Krieg und Frieden. Hrsg. von Ulrich Albrecht und Jörg Becker, Baden-Baden 2002, S. 55‑63; Fabian Virchow, Das Militär als Deutungsinstanz. Medienapparat und Medienpolitik der Bundeswehr in aktuellen Konflikten. In: Kriegskorrespondenten. Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft. Hrsg. von Barbara Korte und Horst Tonn, Wiesbaden 2007, S. 93‑112; Gerhard Brandt und Ludwig von Friedeburg, Aufgaben der Militärpublizistik in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1966. James Burk, The Military’s Presence in American Society, 1950‑2000. In: Soldiers and Civilians. The Civil-Military Gap and American National Security. Hrsg. von Peter D. Feaver und Richard H. Kohn, Cambridge [u.a.], S. 247‑274. Vgl. Gustav Däniker, Wende Golfkrieg. Vom Wesen und Gebrauch künftiger Streitkräfte, Frankfurt a.M. 1992; Christopher Dandeker, Flexible Forces for the Twenty-First Century, Karlstad 1999.

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gere Rolle spielt im Vergleich zu der indirekten Rezeption der Bundeswehr qua Medien wie Fernsehen, Zeitung, Zeitschriften, Radio und Internet.12 Entsprechend ist die Bundeswehr in den vergangenen Jahren auf dem Gebiet der Social Media aktiv geworden und unterhält Accounts auf Facebook und Instagram. Ferner hat sie auf YouTube einen eigenen Kanal eingerichtet und postet dort unterschiedliche Informationsfilme und Dokumentationen über das Leben als Soldat, vor allem um Nachwuchswerbung zu betreiben. Als relativ erfolgreich in Bezug auf die Entwicklung der Bewerberzahlen für die Bundeswehr erwiesen sich dabei – trotz einiger Kritik bis hin zu Hohn und Spott – die YouTube-Serien Die Rekruten (2016), die zwölf Rekruten auf ihrem Weg in der Bundeswehr begleitete, und Mali (2017), die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr während des Auslandseinsatzes mit der Kamera einfing.13 Darüber hinaus unterstützen das Verteidigungsministerium und die Bundeswehr – durchaus auch nach amerikanischem Vorbild14 – in einem nicht unerheblichen Umfang die Produktion von journalistischen Darstellungen, Dokumentationen, Dokumentarfilmen und auch fiktionalen Darstellungen und Unterhaltungsfilmen über die deutschen Streitkräfte. In den Jahren 2005 bis 2010 kamen beispielsweise 54 Produktionen mit dokumentarischem Charakter und zehn Produktionen mit fiktivem Inhalt in den Genuss solcher Fördermaßnahmen. So wäre zum Beispiel eine Produktion wie die Mini-Serie Streitkräfte im Einsatz – Sonja wird eingezogen (2006) ohne die Hilfe der Bundeswehr nicht zu realisieren gewesen, absolviert dort doch die RTLModeratorin Sonja Zietlow in vier Folgen eine Grundausbildung in den Streitkräften als Crash-Kurs. In der Serie Die Rettungsflieger (1997‑2007) fungierte die Bundeswehr in elf Staffeln und 108 Folgen sogar als Koproduzentin.15 Diese Serien sollen uns jedoch im Folgenden ebenso wenig interessieren wie der ARD-Dauerbrenner Die Lindenstraße (ab 1985; Hans W. & Hana Geißendörfer), in der Til Schweiger in mehreren Folgen den Zeitsoldaten Jo Zenker spielt, wodurch beim Publikum auch die Bundeswehr, die Frage nach 12

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Thomas Bulmahn und Meike Wanner, Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage 2013 zum Image der Bundeswehr sowie zur Wahrnehmung und Bewertung des Claims »Wir.Dienen.Deutschland.« Forschungsbericht, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften, Potsdam 2013. Als ein Vorläufer ähnlichen Zuschnitts kann die ZDF-Serie »Beim Bund« (1982) gelten. Vgl. etwa Andreas Elter, Die Kriegsverkäufer. Geschichte der US-Propaganda 1917‑2005, Frankfurt a.M. 2005; Peter Bürger, Kino der Angst. Terror, Krieg und Staatskunst aus Hollywood, 2. Aufl., Stuttgart 2006. Michael Schulze von Glaßer, Der unterhaltsame Krieg. »Militainment made in Germany«. In: Ausdruck – Magazin der Informationsstelle Militarisierung e.V., 8 (2010), 44, S. 6‑9. Siehe auch Werbemaßnahmen der Bundeswehr in Medien. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heike Hänsel, Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke (Drucksache 16/14035), Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/14094, 29.9.2009, Berlin: Deutscher Bundestag (letzter Zugriff 30.1.2018). Vgl. auch den Beitrag von Kay Hoffmann in diesem Band.

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ihrer Existenz und ihrer Legitimation als Themen aktiviert werden. Auch die ARD-Serie Nicht von schlechten Eltern (1993) von Rainer Boldt und Christoph Mattner, in der Ulrich Pleitgen einen überaus sympathischen, freundlichen und verständnisvollen Marineoffizier spielt, der mit ähnlichen Problemen konfrontiert wird »wie du und ich«, sodass die Bundeswehr hier in einem alltäglich-normalen Antlitz ohne »den Gewalt- und Tötungskontext« erscheint, wird im Folgenden nicht behandelt.16 Vielmehr liegt der Fokus der weiteren Darstellung auf der Medienform der Kino- und Fernsehfilm-Produktionen. Fernseh- und Kinofilme sind Phänomene der Populärkultur und bilden »ein wichtiges Feld (wissenschaftlicher) Beschäftigung«, da in und mit ihnen »eine Vielzahl aktueller gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Konflikte lokalisiert« und behandelt werden.17 Zudem gilt vor allem das Fernsehen als »zentrale[s] Medium der gesellschaftlichen Selbstverständigung« und als »›kulturelles Forum‹ [, das ...] wie kaum ein anderes Massenmedium zum Ort der gesellschaftlichen Symbolproduktion geworden« ist.18 Im Folgenden wird der Versuch einer Inhaltsanalyse19 der Kino- und Fernsehfilme unternommen, die seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland erschienen sind.20 Die nachstehende Analyse versteht sich dabei als Beitrag zu einer soziologischen Filmanalyse, die in den letzten rund zehn Jahren auch unter Rückgriff auf Ansätze der Kultur- und der Mediensoziologie wieder neuen Schwung bekommen hat21 und die danach 16

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Joan K. Bleicher und Knut Hickethier, Der Blick des Fernsehens auf die Bundeswehr. In: Die Bundeswehr 1955‑2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven. Hrsg. von Frank Nägler, München 2007, S. 269‑290, S. 288, Zitat S. 290. Andreas Hepp, Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, 3. überarb. u. erw. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 9. Bleicher/Hickethier, Der Blick des Fernsehens (wie Anm. 16), S. 271. Dies verdeutlichen auch die Zuschauerzahlen: Die Tatort-Folge »Heimatfront« sehen mehr als 8,5 Mio. Menschen, was einem Marktanteil von über 22 % entspricht. Die Erstausstrahlung von »Fette Hunde« erreicht über 8 Mio. Zuschauer und einen Marktanteil von über 24 %. »Auslandseinsatz« sehen über 3,5 Mio Menschen, was einem Marktanteil von annähernd 12 % entspricht. Den Film »Schutzengel« schauen sich in den ersten sechs Monaten nach seiner Uraufführung in Deutschland über 710 000 Kinobesucher an, was Rang 7 bei den Kinobesuchern des Jahres 2012 bedeutet. Eine umfassende Filmanalyse einschließlich der Untersuchung von Schnitt, Kameraführung, Musik etc. kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Vgl. Knut Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, 5. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart 2012; Werner Faulstich, Grundkurs Filmanalyse, 3. aktual. Aufl., Paderborn 2013; Lothar Mikos, Film- und Fernsehanalyse, 3. überarb. u. aktual. Aufl., Konstanz 2015. Im Wesentlichen auf der Basis dieser Liste von Filmen zum Thema Bundeswehr: (letzter Zugriff 30.1.2018). Eine Betrachtung von Kino- und Fernsehfilmen der DDR muss an dieser Stelle aus Platzgründen unterbleiben. Vgl. hierzu: Stefan Kahlau, Volksarmee im Wandel. Die Darstellung der NVA im DEFA-Spielfilm von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, München 2015. Manfred Mai und Rainer Winter, Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film. In: Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Hrsg. von Manfred Mai und Rainer Winter, Köln 2006, S. 7‑23; Gesellschaft im Film. Hrsg. von Markus Schroer, Konstanz 2008; Perspektiven der Filmsoziologie. Hrsg.

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fragt, »was eine Interpretation von Produkten aus Film und Fernsehen für die Erforschung gegenwärtiger Gesellschaften zu leisten vermag«.22 Schon angesichts der rein quantitativen Bedeutung konzentriert sich die Betrachtung dabei nicht allein auf Kino- und Fernsehfilme mit Bezug zur Bundeswehr, sondern schließt auch solche Filme ein, die einen generellen Bezug zur deutschen militärischen Vergangenheit aufweisen. Schließlich diente, zumal im öffentlichen Diskurs der Nachkriegszeit, die Wehrmacht nicht selten als Folie für die Bundeswehr. So erhöht sich deren Anteil an den Gesamtproduktionen nämlich von 3 Prozent im Zeitraum von 1950 bis 1954 auf 10 Prozent im Zeitraum von 1955 bis 1960.23 Allerdings kann die vorliegende Untersuchung keine Vollerhebung sein, also nicht sämtliche Filme dieses Genres einschließen.

2. Die Inhaltsanalyse Der auf dieser Basis entstandene Korpus an Filmen konnte nach einer inhaltsanalytischen Auswertung zehn thematischen Kategorien zugeordnet werden, was die folgende in dieser Form erstmals präsentierte Kartografie dieses Feldes ergibt: Der lustige/karikierte Soldat, der desertierte Soldat, der besiegte/kriegsgefangene Soldat, der funktionierende Soldat, der böse Soldat, der verletzte Soldat, der moralische Soldat, der verführte/verheizte Soldat, der politische Soldat und der »andere« Soldat. Erste Kategorie – der lustige und der karikierte Soldat: In diese Kategorie fallen die Produktionen, die das Soldatenleben unter dem Aspekt der Heiterkeit oder als Militärgroteske darstellen. Humoristisches steht im Vordergrund des kommerziell überaus erfolgreichen Dreiteilers 08/15 (1954) von Paul May, der auf Hans Hellmuth Kirsts gleichnamigen dreibändigen Roman zurückgeht und das ernste Thema des übermäßigen militärischen Drills behandelt. Hier wird der Kanonier Vierbein zum Opfer schikanöser Behandlung durch seine Vorgesetzten Schulz und Platzek, der er sich jedoch mithilfe des Gefreiten Asch und vermeintlich verschwundener Munition entledigen kann. Bei Himmel, Amor und Zwirn (1960) von Ulrich Erfurth handelt es sich sodann um eine humoristisch-unterhaltsame Kasernenhoferzählung, in welcher der Schneider Friedrich Himmel seinen Wehrdienst bei den Gebirgsjägern ableistet, dabei allerdings ein Baby mit im Gepäck hat, das fortan das Leben in der Kaserne kräftig durcheinanderwirbelt. Géza von Cziffras Gauner in Uniform, ebenfalls aus dem Jahr 1960, ist eine Art locker-flockiger Hauptmann von Köpenick in Bundeswehruniform. Die beiden »Gauner« Emil Kowalek und Heini Haase

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von Carsten Heinze, Stephan Moebius und Dieter Reicher, Konstanz 2012; Anja Peltzer und Angela Keppler, Die soziologische Film- und Fernsehanalyse. Eine Einführung, Berlin [u.a.] 2015. Peltzer/Keppler, Die soziologische Film- und Fernsehanalyse (wie Anm. 21), S. VII. Hans J. Wulff, Bundesdeutsche Kriegs- und Militärfilme der 1950er Jahre. Eine Filmbibliographie. In: Medienwissenschaft, (2012), 132, S. 1‑13, hier S. 1.

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erbeuten bei einem Einbruch in eine Liegenschaft der Bundeswehr Uniformen, die sie fortan für ihre Zwecke nutzen, was ihnen angesichts einer immer noch bestehenden Uniformgläubigkeit der Menschen, auf die sie treffen, auch recht lange gelingt. Wenige Jahre später versucht Paul May mit Barras heute (1963) inhaltlich wie kommerziell an seinen 08/15-Dreiteiler anzuknüpfen. Er lässt die Filmkamera eine Gruppe von Wehrpflichtigen während ihres Wehrdienstes beobachten und schildert deren Erlebnisse und Schwierigkeiten. Auch hier dominiert das humoristische Element, was allerdings nicht zu einem Erfolg an den Kinokassen führte.24 Auf das Komische zielt ferner Hubert Franks Bundeswehrklamotte Lilli – Die Braut der Kompanie (1972) über die Nichte eines Generals, die sich als Mann verkleidet für eine Reportage in eine Kaserne schmuggelt und dort für allerlei Wirbel sorgt. Ein Vierteljahrhundert später greift Granz Henmanns Kein Bund fürs Leben (2007) dieses Genre wieder auf. Der Film erzählt, wie Basti Lämmle sich vergeblich vor dem Wehrdienst drücken möchte, dann nachträglich verweigern will und schließlich doch mit seinen Kameraden einen prestigeträchtigen Wettbewerb gegen amerikanische Soldaten gewinnt. Nur ein Jahr später folgt Morgen, ihr Luschen! (2008) von Mike Eschmann, eine Actionkomödie, welche die Bühnenfigur des »Ausbilders Schmidt« zu einer Filmfigur machen möchte, ein Experiment, das eher als gescheitert zu bezeichnen ist. Ganz anders dagegen Oliver Schmitz’ erfolgreicher Fernsehfilm Allein unter Töchtern (2007) um die Figur des Oberst Harald Westphal, der sich nach dem Unfalltod seiner ExFrau um seine drei Töchter kümmern möchte. Dies fällt ihm als ehemaligem Vollblut-Berufssoldaten, der nach der Scheidung von der Mutter den Kontakt zu seinen Kindern abgebrochen hat, indes reichlich schwer. Der Erfolg dieser Komödie bemisst sich daran, dass nicht weniger als weitere vier Sequels produziert wurden (Allein unter Schülern, 2009; Allein unter Müttern, 2010; Allein unter Nachbarn, 2012 und Allein unter Ärzten, 2014). Der ARD-Fernsehfilm Neue Vahr Süd (2010) von Hermine Huntgeburth schließlich adaptiert den gleichnamigen Roman von Sven Regener und begleitet den jungen, eher links-alternativen Frank Lehmann, als dieser 1980 zum Wehrdienst eingezogen wird und dann nachträglich verweigern möchte, was jedoch abgelehnt wird, sodass Lehmann nun das Gelöbnis verweigern möchte. Nach allerlei Durchmogeln und zuletzt nach Vortäuschung eines Suizidversuchs wird er schließlich vorzeitig entlassen. Der die Bundeswehr und ihren Dienstbetrieb karikierende Film erhielt mehrere Preise, so etwa den Grimme Preis 2011 für die Regie, den Bayerischen Filmpreis in der Kategorie Regie und Bester Hauptdarsteller

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Weil der Film zugleich auch einen unübersehbar dokumentarischen Charakter hat, kann er durchaus als ein Werbefilm für die Bundeswehr gelten. Vgl. Wolfgang Schmidt, »Barras heute«. Bundeswehr und Kalter Krieg im westdeutschen Spielfilm der frühen sechziger Jahre. In: Krieg und Militär im Film (wie Anm. 7), 2003, S. 501‑541, S. 508‑517, 522‑528. Angaben zu diesem und den weiteren Filmen sind über die entsprechenden Suchfunktionen auf der Website der Internet Movie Database (www.imdb.com), auf dem Portal Filmdienst (www.filmdienst.de) sowie in der Wikipedia zu finden.

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und die Auszeichnung als Beste TV-Komödie beim Deutschen Comedy-Preis 2011. Zweite Kategorie – der desertierte Soldat: Diese Kategorie umfasst Filme, die Geschichten von der unerlaubten Abwesenheit von der Truppe erzählen. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre richtet Falk Harnack in Unruhige Nacht (1958) nach der gleichnamigen Novelle von Albrecht Goes erstmals einen filmischen Blick auf das Thema der Desertion in der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Der Obergefreite Fedor Baranowski verliebt sich während des Russlandfeldzuges 1942 in Ljuba aus der Ukraine. Die beiden versuchen, gemeinsam dem Krieg zu entfliehen, und verstecken sich im Wald, werden aber gefasst. Fedor wird vor dem Kriegsgericht wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt und hat nun Anspruch auf geistlichen Beistand durch einen Militärpfarrer. Dieser verbringt mit Fedor dessen letzte Nacht vor Fedors Hinrichtung, die zugleich die letzte Nacht vor dem Aufbruch der Soldaten nach Stalingrad in ihren – wie das Fernsehpublikum der Nachkriegszeit natürlich wusste – ziemlich sicheren Tod ist. Der Geistliche ringt mit seinem Gewissen, als Fedor ihm von seiner Liebe zu Ljuba berichtet. Gleichwohl wird Fedor am nächsten Tag von den erbarmungslosen Schergen des ebenso erbarmungslosen Kriegsgerichts exekutiert, und dem Kriegspfarrer wird ein »Erschießungsschnaps« angeboten.25 Auch in dem gut 20 Jahre später erscheinenden Fernseh-Krimi/Roadmovie Kreutzer (1979) von Klaus Emmerich absentiert sich ein Hauptmann der Bundeswehr, Andreas Kreutzer, aus Liebe zu einer Schwedin von der Truppe und wird an der dänischen Grenze von zwei Feldjägern aufgespürt. Als diese ihn mit der Bahn nach München zurückbringen, stoßen die drei Männer auf die beiden Bankräuber Ross und Schweiger, die nach einem Coup gerade auf der Flucht sind und deswegen die beiden Feldjäger töten. In der Folge wird auch Schweiger getötet. Kreutzer schließt sich notgedrungen Ross an und flüchtet mit ihm. Ulrich Köhlers Spielfilm Bungalow (2002) wiederum erzählt die Geschichte einer Desertion als individuelle Befreiung und als Coming-of-Age des Rekruten Paul. Dieser entfernt sich nach einem Sommer-Manöver von der Truppe und versteckt sich im Bungalow seiner in den Urlaub verreisten Eltern. Pauls älterer Bruder Max taucht unvermittelt dort auf und übernimmt die Rolle des verantwortungsbewussten älteren Bruders, während dessen Freundin Lene durchaus Sympathien für den widerständigen Paul hegt. Zwischen den Brüdern entwickelt sich nun ein Widerstreit um Lene. Dritte Kategorie – der besiegte/kriegsgefangene Soldat: Die Inhaftierung deutscher Soldaten durch die Siegermächte bildet eine weitere thematische Kategorie für die vorliegenden Filme. Wegen des sich immer deutlicher abzeichnenden Ost-West-Konflikts gerät hier aber vor allem die sowjetische Kriegsgefangenschaft in den Blick. Die bekannteste einschlägige Produktion ist hier zweifellos Géza von Radványis Der Arzt von Stalingrad (1958) über die Erlebnisse des Stabsarztes Dr. Fritz Böhler im sowjetischen Lager 5110/47 25

Schluß mit Jubel. In: Der Spiegel, Nr. 43, 22. Oktober 1958, S. 68 f., hier S. 69.

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nach der Niederlage der Sechsten Armee in Stalingrad 1943. Dieser Kinofilm basiert auf dem gleichnamigen Roman von Heinz G. Konsalik, der dabei von den Berichten über die Realfigur des Stabsarztes Ottmar Kohler inspiriert wurde. Kohler befand sich nahezu elf Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und vollbrachte dort unter widrigsten Bedingungen medizinisch-chirurgische Höchstleistungen, sodass er sich bestens für die Darstellung als guter, als menschlicher, als altruistischer Deutscher und darüber hinaus auch als Gegenbild zu einer entmenschlichten Medizin im Nationalsozialismus eignete.26 Im Fernsehen wurde das Trauma Kriegsgefangenschaft wiederum insbesondere in dem Sechsteiler So weit die Füße tragen (1958) behandelt, eine Produktion, bei der deren antikommunistische Stoßrichtung noch deutlicher wurde. Sönke Wortmanns Kinofilm Das Wunder von Bern (2004) schließlich dreht sich um den Endspielsieg der deutschen Mannschaft in der Fußballweltmeisterschaft von 1954. Geschildert wird das Familiensystem der Lubanskis, das nach der Spätheimkehr des Vaters Richard aus sowjetischer Gefangenschaft neu austariert werden muss. Da Richard aus der Gefangenschaft traumatisiert zurückkehrt und erhebliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in die Muttergesellschaft hat, erweist sich insbesondere das Verhältnis zu seinem Sohn Mattes als schwierig. Das Ende des Films sieht Vater und Sohn aber nach der Fußballweltmeisterschaft 1954 auf einem guten Weg, sowohl, was ihr bilaterales Verhältnis, als auch, was die Heilungsaussichten für den Vater anbelangt,27 als Parabel für die mit sich versöhnte, erfolgreiche Nachkriegsgesellschaft. Vierte Kategorie – der funktionierende Soldat: In dieser thematischen Kategorie werden Filme gruppiert, die den Soldaten als funktionierendes, weitgehend unpolitisches militärisch-professionelles Rädchen im militärischen Uhrwerk zeichnen. Hierbei ist etwa der Kinofilm Haie und kleine Fische (1957) von Frank Wisbar zu nennen, in denen die »kleinen Fische« den »Haien« auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Das Minensuchboot Albatros bekommt mit Heyne, Stollenberg, Teichmann und Vögele vier neue Kadetten zugewiesen, die bis zuletzt unpolitisch funktionieren werden. Kurz darauf finden sich das Boot und seine Besatzung in schweren Kämpfen im Nordatlantik wieder, in deren Verlauf Vögele getötet wird. Teichmanns unerfüllbare Liebe zu der Ehefrau seines Flottillenchefs Wegener führt dazu, dass er zu einem U-Boot wechselt, während sein Freund Heyne Suizid begeht, als ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters im KZ Bergen-Belsen erreicht. Stollenberg wiederum stirbt bei einem britischen Angriff auf das U-Boot, während Teichmann, obzwar verletzt, mit einigen wenigen anderen zusammen gerettet wird. Der Stern von Afrika (1957) von Alfred Weidenmann über die deutsche Fliegerikone Jochen 26

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Bernd P. Laufs, Der Arzt von Stalingrad. Projektionsfläche für die Suche nach dem guten Deutschen. In: Deutsches Ärzteblatt, 105 (2008), 5, S. 1385 f. Vgl. zu den Werken Konsaliks auch Matthias Harder, Erfahrung Krieg. Zur Darstellung des Zweiten Weltkrieges in den Romanen von Heinz G. Konsalik, Würzburg 1999. Vor diesem Hintergrund kann dieser Film auch der thematischen Kategorie des verletzten Soldaten (siehe unten) zugeordnet werden.

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Marseille wiederum weist gewisse Parallelen zu Top Gun – Sie fürchten weder Tod noch Teufel (1986) von Tony Scott auf. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Realfigur Jochen Marseille. Trotz wiederholter Probleme wegen seines undisziplinierten Verhaltes während seiner Ausbildung an der Luftwaffenkriegsschule beweist er in der Luftschlacht um England und bei den Kämpfen des Afrikakorps sein enormes fliegerisches Talent und avanciert zum besten Jagdflieger. Und trotz gewisser Bedenken gegen den Krieg kehrt er nach einem Kurzurlaub mit Brigitte entgegen deren Wunsch wieder zu seiner Einheit nach Nordafrika zurück, wo er kurz darauf bei einem Absturz seiner Maschine ums Leben kommt. Der Kinofilm U 47 – Kapitänleutnant Prien (1958) von Harald Reinl erzählt eine fiktive Geschichte um die Realperson des U-Boot-Kommandanten Günther Prien herum. Dessen auch historisch verbürgte militärische Expertise, die er insbesondere mit der Versenkung der HMS Royal Oak im britischen Marinestützpunkt Scapa Flow unter Beweis gestellt hat, wird in dem Film um seine den Schrecken des Krieges geschuldete, aber fiktive Läuterung ergänzt, bei der die gleichfalls fiktive Person des Pfarrers Kille, ein Jugendfreund Priens, eine wichtige Rolle spielt. Allerdings bleibt diese Läuterung folgenlos, da U 47 kurz darauf auf Feindfahrt versenkt wird.28 Zwei Jahrzehnte später beobachtet die Kamera des Fernsehspiels Planübung (1977) von Wolfgang Petersen nüchtern und zugleich auch mit einem fast schon dokumentarischen Einschlag die Simulation einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den »Roten« und den »Blauen« auf der Lagekarte. Die kühle Beobachtung der virtuellen Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland im Falle eines Krieges zwischen Ost und West als militärisches Sandkastenspiel offenbart dabei eine geradezu erschreckende Sachlichkeit und Emotionslosigkeit aufseiten der Militärs, die in dieser »Planübung« weder ein Bewusstsein noch ein Gespür für die im Ernstfall bei einem solchen Konflikt zu erwartenden zivilen Kollateralopfer zu besitzen scheinen.29 Nur wenige Jahre später adaptiert derselbe Wolfgang Petersen einen Roman von Lothar-Günther Buchheim für seinen Film Das Boot (1981). Der gleichnamige Roman, in den der Autor auch seine autobiografischen Erlebnisse als Kriegsberichterstatter einfließen ließ, wird zur Vorlage eines der aufwendigsten und teuersten deutschen Kinofilme überhaupt. Dieser wird mehrere wichtige nationale wie internationale Auszeichnungen erhalten, darunter in den Jahren 1981 und 1982 den Deutschen Filmpreis, den Bayerischen Filmpreis, den Deutschen Schallplattenpreis und den Golden Globe für den besten ausländischen Film. Im Jahr 1983 ist er zudem in nicht weniger als sieben Kategorien für den Oscar nominiert. Der Film begleitet die Besatzung von U 96 (und den ihr zugewiesenen Kriegsberichterstatter) Ende 28

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Vgl. auch In der kleinen Hafenbar. Prien-Film. In: Der Spiegel, Nr. 39, 24. September 1958, S. 60‑62. Wenn seiner Läuterung Taten im Sinne dieser Läuterung gefolgt wären, wäre »U 47 – Kapitänleutnant Prien« der thematischen Kategorie des politischen Soldaten zuzuordnen gewesen. Peter Buchka, Der sportliche Weltkrieg. In: Die Zeit, Nr. 38, 16. September 1977.

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des Jahres 1941 auf Feindfahrt im Nordatlantik und im Mittelmeer. Dabei vermittelt er dem Publikum einen ethnografisch-realistisch-klaustrophobischen Eindruck von dem Leben unter Deck sowie den Härten und Gefahren des U-Boot-Krieges. Die Crew und ihr Kommandant finden sich immer seltener in der Rolle des Jägers und immer öfter in der des Gejagten wieder, sodass das Ende des Films, die Versenkung von U 96 und der Tod großer Teile der Besatzung und (vermutlich auch) ihres Kommandanten, nur wenig überraschen kann.30 Eindeutig militärkritisch gibt sich sodann das Fernsehspiel Im Zeichen des Kreuzes (1983) von Rainer Boldt und Hans Rüdiger Minow mit seinem Katastrophenszenario des Nuklearzeitalters. Der Politthriller dreht sich um die beiden Familien Bensch und Wiechmann; der Plot beschreibt einen Atommülltransport, bei dem es in der Nähe eines Dorfes in Niedersachsen zu einem Unfall kommt, sodass die umliegende Bevölkerung durch den ausgetretenen Atommüll radioaktiv verstrahlt wird und deswegen hermetisch abgeriegelt und isoliert werden muss. Als eine Gruppe der Eingeschlossenen unbewaffnet der Quarantäne zu entfliehen und dabei eine Straßensperre der Bundeswehr zu durchbrechen versucht, erteilt der verantwortliche Offizier nach Abwägung der Sachlage zwischen dem eigentlich regelwidrigen Schießen auf unbewaffnete Zivilisten einerseits und der möglicherweise eintretenden radioaktiven Verstrahlung anderer Zivilisten im Falle eines Unterlassens andererseits den Schießbefehl. Die Todesfahrt der MS SeaStar (1999) von Mark von Seydlitz wiederum ist ein Actionfilm, in dem zunächst der Kampfschwimmer Sven Tauchert als Vater der kleinen Laura vorgestellt wird, der seinen Familienpflichten einsatzbedingt zu wenig nachkommt. Er soll sich aber an Bord des Luxusliners MS SeaStar um Laura kümmern, während seine Frau Anna an einem Artikel über das Kreuzfahrtschiff arbeitet. Als dann Terroristen das Schiff kapern, muss sich Tauchert bewähren, was ihm am Ende auch gelingt. Auch bei Hans Horns Film Der Bunker – eine todsichere Falle aus demselben Jahr handelt es sich um einen Actionthriller, in dem deutsche und amerikanische Soldaten in einem feierlichen Zeremoniell im Beisein einer Delegation russischer Soldaten den NATO-Bunker Thorwald schließen und die beiden letzten sich dort noch befindenden Atomsprengköpfe vernichten wollen. Die Delegation aus Russland erweist sich indes als Terrorgruppe, die den Bunker in ihre Gewalt bringt. Nun ist der frühere Elitesoldat der Bundeswehr Nick Krämer gefordert, und auch er wird seine Bewährungsprobe mit großer militärischer Professionalität bestehen. Das dokumentarisch angelegte Fernsehdrama Die Nacht der großen Flut (2005) von Raymond Ley 30

Wilhelm Bittorf, »Das Boot«: Als Wahnsinn imponierend. In: Der Spiegel, Nr. 53, 29. Dezember 1980, S. 78‑87; Michael Salewski, Von der Wirklichkeit des Krieges: Analysen und Kontroversen zu Buchheims »Boot«, 2. Aufl., München 1985; Linda Maria Koldau, Mythos U-Boot, Baden-Baden 2010. Lothar-Günther Buchheim, Das Boot, München 1973 (zahlreiche weitere Aufl.). Weitere Publikationen u.a.: LotharGünther Buchheim, U-Boot-Krieg, München [u.a.] 1976; Lothar-Günther Buchheim, U-Boot-Fahrer. Die Boote, die Besatzungen und ihr Admiral, München [u.a.] 1998.

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berichtet am Fall der Familien Brandt und Langer von den Geschehnissen in der Nacht vom 16./17. Februar 1962, als Hamburg von einer gewaltigen Sturmflut heimgesucht wird. Der Leiter des Krisenstabes, Innensenator Helmut Schmidt, versucht, Herr der Lage zu werden, und fordert ohne verfassungsrechtliche Legitimation die Unterstützung der Bundeswehr und der NATO-Partner an, sodass die Bundeswehr hier in der Rolle des kompetenten Katastrophenschützers präsentiert wird. Til Schweigers Schutzengel (2012) schließlich fällt erneut in die Kategorie des Actionthrillers. Er dreht sich zunächst um die Ausreißerin Nina, die den Mord an ihrem Freund durch den Waffenhändler Thomas Backer beobachtet und deswegen bis zum Prozess gegen diesen in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wird. Dennoch besteht für Nina keine Sicherheit. Es gibt einen Maulwurf unter den Beteiligten des Zeugenschutzprogramms, sodass ihr Unterschlupf verraten und der Versuch unternommen wird, sie zu töten. Dabei werden zwei der ihr zugeteilten Personenschützer, Leo und Helena, getötet. Max, dem dritten und letzten ihrer Personenschützer, einem früheren Soldaten der Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK), gelingt jedoch mit Nina die Flucht, die sich actiongeladen, temporeich und turbulent gestalten wird. Rudi, ein Freund und Kamerad von Max, der in Afghanistan beide Beine verloren hat, als er auf eine Sprengfalle trat, gewährt ihnen Unterschlupf in seinem abseits gelegenen Haus. Doch auch dieses Versteck wird von Ninas Verfolgern ausfindig gemacht. In dem Schusswechsel verliert Rudi sein Leben. Der hinzukommende Max kann die Angreifer jedoch neutralisieren, wobei er selbst verletzt wird und mit Nina flüchten kann, was sie schließlich zu der Staatsanwältin Sara Müller führt, die früher mit Max liiert war. Als die drei zu Rudis Haus zurückkehren, um den Toten zu ehren und sich würdig von ihm zu verabschieden, kommt es zu einem Showdown, in dessen Verlauf Nina mit Sara flüchtet, während sich Max den zahlreichen Angreifern stellt und dabei vermeintlich ebenfalls sein Leben verliert. Kurze Zeit später sterben jedoch der Waffenhändler Thomas Backer und sein Bodyguard bei der Explosion einer Autobombe. Am Schluss erweist sich der Staatsanwalt als der Maulwurf, der für Backer gearbeitet hat. Er erhält einen Anruf von Max, in dem dieser ihm droht, ihn auffliegen zu lassen, sofern er Max, Sara und Nina nicht in Ruhe lässt. Diesen Deal akzeptiert der Staatsanwalt. Am Ende sieht man Max, Sara und Nina als glückliche Quasi-Familie an der Pier in Brighton, wo Max und Sara schon früher einmal sehr glücklich gewesen sind. Auch Raymond Leys Doku-Drama Eine mörderische Entscheidung (2013) über den Luftangriff bei Kunduz in der Nacht zum 4. September 2009 fällt letztlich in diese Kategorie. Im Mittelpunkt des Films steht die Realfigur des Oberst Georg Klein, den seinerzeitigen Kommandanten des deutschen Provincial Reconstruction Teams (PRT) im afghanischen Kunduz. Der Film versucht sich an einer minutiösen Rekonstruktion des tatsächlichen Geschehens und des Entscheidungsfindungsprozesses bei Oberst Klein, webt dabei aber einige fiktive Elemente in die Story mit ein, wie vor allem den realiter nicht existenten BND-Mitarbeiter Henry Diepholz und die Anspielung auf ein

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so nicht belegtes Komplott der afghanischen Verbündeten. Die Situation in Kunduz und Umgebung ist angespannt; es gibt Meldungen über verstärkte Aktivitäten der Taliban und Anschläge auf die deutschen Soldaten. Dann fallen zwei Tanklastzüge mit 58 000 Liter Benzin in die Hände der Taliban, bleiben aber im Fluss Kunduz stecken. Es gibt Vermutungen, dass die Taliban mit den Tanklastern einen Anschlag auf das deutsche Lager planen; Meldungen kursieren, um die Laster herum hielten sich 50 bis 70 Aufständische auf. Obwohl die zur Unterstützung angeforderten Piloten der beiden amerikanischen Kampfflugzeuge vorschlagen, vor einer Bombardierung der Tanklastzüge im Tiefflug über sie hinwegzufliegen, um die dort versammelten Menschen zu vertreiben, weil sie daran zweifeln, dass tatsächlich eine akute Gefahrenlage gegeben ist, ordnet Oberst Klein die Bombardierung an. Über 100 Tote, zumeist Zivilisten, darunter auch Kinder, sind die Folge. Fünfte Kategorie – der politische Soldat: In diese thematische Kategorie fallen Filme, die ein soldatisches Agieren in politischer Absicht gegenüber der militärischen und politischen Führung zeigen. In diese Schublade kann zunächst die – nicht ganz werkgetreue – Adaptierung des Bühnenspiels Des Teufels General (1946) von Carl Zuckmayer für das Kino durch Helmut Käutner im Jahr 1954 gesteckt werden. Im Mittelpunkt des Films steht der weltoffene General Harry Harras, der in freier Anlehnung an Generaloberst Ernst Udet von Curd Jürgens verkörpert wird. Harras, ein Flieger aus Leidenschaft, ist im Jahr 1941 für die Produktion neuer Flugzeuge zuständig und hat sich der Vereinnahmungsbestrebungen der Nationalsozialisten bislang erfolgreich erwehrt. Als sich – auch tödliche – Unfälle häufen, gerät er unter Druck. Dann identifiziert er seinen Freund und verantwortlichen Ingenieur Karl Oderbruch als den Urheber dieser Materialfehler und erkennt, dass dieser in eine geplante Sabotage-Aktion von Widerständlern verwickelt ist. In dieser Situation trifft er eine politisch-kameradschaftliche Entscheidung und erklärt sich selbst zum Verantwortlichen für die Materialfehler, schützt damit seinen Freund und die Gruppe von Widerständlern, klettert in eine der präparierten Maschinen und fliegt in den Tod. Bei Canaris (1955) von Alfred Weidenmann handelt es sich um eine Filmbiografie über den langjährigen Leiter des militärischen Abwehrdienstes Admiral Wilhelm Franz Canaris, der darin wesentlich positiver gezeichnet wird, als es der Realfigur entspricht. Im Film sieht sich Canaris einerseits mit den Machtambitionen Reinhard Heydrichs, des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, konfrontiert; andererseits erkennt er immer mehr die menschenverachtende Brutalität des Nationalsozialismus, sodass er Kontakte zum militärischen Widerstand knüpft und schließlich hingerichtet wird. Trotz der cineastischen geschichtsverfälschenden Übersteigerung der Realfigur Canaris erhielt der Film den Deutschen Fernsehpreis und den Bambi für den erfolgreichsten Film dieses Jahres und wurde von dem Filmverleih als Chiffre, als Allegorie für das Schicksal der Deutschen insgesamt beworben.31 31

Vgl. Philipp von Hugo, Kino und kollektives Gedächtnis? Überlegungen zum westdeutschen Kriegsfilm der fünfziger Jahre. In: Krieg und Militär im Film (wie Anm. 7),

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Ebenfalls im Jahr 1955 folgen gleich zwei Spielfilme, die halb-dokumentarisch die Geschehnisse um das Attentat auf Hitler herum schildern und den militärischen Widerstand gegen Hitler beleuchten: Georg Wilhelm Pabsts Es geschah am 20. Juli und Der 20. Juli von Falk Harnack. Anders als Pabst geht Harnack in seinem Film dabei auch auf weitere Widerstandsgruppen ein.32 Fast 50 Jahre später, im Jahr 2004, erscheint mit der Fokussierung auf die Person Stauffenberg der gleichnamige Spielfilm von Jo Baier, der den Deutschen Filmpreis in der Kategorie Bester Film erhält. Sechste Kategorie – der moralische Soldat: Dieser Kategorie werden Filme zugerechnet, wenn sie ein explizit moralisches, ethisch-sittliches Verhalten von Soldaten beschreiben. Mörderischer Frieden (2007) von Rudolf Schweiger versteht sich als erste filmische Darstellung eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr und schildert, wie zwei Bundeswehrsoldaten der KFOR im Jahr 1999 in dem offiziell befriedeten, faktisch aber noch immer zwischen Albanern und Serben strittigen Kosovo ihren Dienst verrichten. Dort retten sie Mirjana, einer jungen Serbin, das Leben, als sich diese an einem Checkpoint aufhält, der angegriffen wird. Daraus entwickelt sich eine Liebesbeziehung zwischen einem der beiden Soldaten und der Serbin, die daraufhin Objekt albanischer Repressalien wird. Die Situation zwischen den Serben und den Albanern droht zu eskalieren. Aufgrund bürokratischer Hindernisse greift die Bundeswehr zwar erst verspätet ein, aber sie greift ein und konsolidiert so die Lage. Der ARD-Fernsehfilm Auslandseinsatz (2012) zeigt Daniel Gerber, Ronnie Klein und Emal Demir, drei junge Soldaten der Bundeswehr, die im Rahmen ihres ISAF-Einsatzes in Afghanistan eigentlich nur humanitäre Hilfe leisten möchten, dabei aber unentrinnbar in den Mahlstrom der Konflikte zwischen der afghanischen Zivilbevölkerung, den Taliban und den amerikanischen Streitkräften geraten. Eigentlich wollen sie nur afghanischen Mädchen den Schulbesuch ermöglichen und die Dorfschule wieder aufbauen, müssen dann aber ohnmächtig erleben, dass sie Tara, der von den Taliban zwei Finger abgeschnitten wurden, weil ihre Fingernägel lackiert waren, nicht helfen dürfen, weil dies die militärischen Einsatzregeln verbieten. Dann geraten die drei in einen Hinterhalt der Taliban, bei dem ein junges Mädchen im Kugelhagel stirbt. Ein weiterer junger Protagonist, Yasin, der Sohn des Dorfältesten, wird getötet, als er direkt auf das Versteck einer amerikanischen Spezialeinheit zuläuft und dieses dadurch zu enttarnen droht. Zwischen den dreien, der Ärztin Sarah Schulz und der Lehrerin Anna Wöhler werden die Handlungsmöglichkeiten diskutiert – und ob man überhaupt helfen kann. Als Anna, Tara und Emal von den Taliban entführt werden, stehen Daniel und Ronnie vor der Frage, ob sie das Nichteinmischungsgebot ihrer Einsatzregeln befolgen können oder versuchen sollen, die Entführten zu retten. Es kommt zu einem Streit zwischen 32

S.  453‑477, hier S. 462. Eberhard Görner, Der 20. Juli 1944 im deutschen Film. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B27 (2004), S. 31‑38; C.E.L., Zweimal 20. Juli. In: Die Zeit, Nr. 26, 30. Juni 1955 (letzter Zugriff 30.1.2018).

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ihnen und Ronnie entschließt sich zum Eingreifen; Daniel folgt ihm zögerlich. Sie entdecken die Entführten in dem Versteck der Taliban und werden Zeuge von Annas Erschießung. Emal greift die Taliban daraufhin an, wird aber dabei selbst getötet. Daniel und Ronnie wiederum gelingt die Flucht mit Tara. Daniel nimmt die Schuld und Verantwortung für die Befehlsmissachtung auf sich und wird deswegen aus der Bundeswehr entlassen, wobei ihm aber sein Vorgesetzter, Hauptmann Glowalla, privat seinen Respekt bekundet. Auch im Kameradenkreis denken viele, dass Daniel und Ronnie richtig gehandelt haben. In der Schlussszene verübt Yasins Bruder Asib ein Selbstmordattentat auf einen amerikanischen Konvoi, der Kreislauf der Gewalt dreht sich weiter. Feo Aladags Filmdrama Zwischen Welten (2014) schließlich wurde in erheblichem Umfang in Kunduz und Mazar-e-Sharif, den Einsatzgebieten der Bundeswehr in Afghanistan, gedreht und erzählt die Geschichte von Jesper, der als Hauptmann der Bundeswehr mit seiner Einheit in Afghanistan ein kleines Dorf im Nirgendwo vor den Taliban schützen soll. Dabei lernt er den jungen Afghanen Tarik kennen, der als Übersetzer für die Bundeswehr tätig ist. Über die tiefen kulturellen Gräben hinweg entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden. Dadurch wird Jesper immer wieder vor die Frage gestellt, ob er seinem Gewissen oder den Befehlen seiner Vorgesetzten folgen soll. Als jemand, der für die »Besatzer« arbeitet, lebt Tarik nicht ungefährlich. Auch seine Schwester Nala wird bedroht, sodass er sich erfolgreich darum bemüht, sie in die Aufsicht der Deutschen zu bringen. Auf der Fahrt wird ihr Auto beschossen und Nala lebensgefährlich verletzt. Jesper bittet seine Vorgesetzten um die Erlaubnis, sie in das Bundeswehrlazarett bringen zu dürfen, was ihm indes verweigert wird. Er missachtet jedoch diesen Befehl und bringt sie trotzdem dorthin, wo man ihr das Leben retten kann. Während dieser Befehlsverweigerung wird sein militärischer Stellvertreter in einem Hinterhalt der Taliban getötet. Jesper wird deswegen aus dem Militärdienst entlassen. Tarik wiederum wird in der letzten Szene des Films aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen. Auch in diesem Film geht der Irrsinn weiter. Siebente Kategorie – der »andere« Soldat: Diese thematische Kategorie umfasst Filme mit Darstellungen von eher untypischen Soldatenfiguren. Der Fernsehfilm Kongo (2010) von Peter Keglevic dreht sich um den vermeintlichen Selbstmord des Unteroffiziers Renz im Auslandseinsatz im Kongo, den ein untypischer, weil weiblicher Soldat, Frau Oberleutnant Nicole Ziegler von den Feldjägern, eigentlich nur halbherzig aufklären soll. Sie lässt sich darauf jedoch nicht ein und wird schließlich von Hauptman Kosak, dem Kompaniechef des dort stationierten Kontingents, unterstützt. Ein Video, das sie auf dem Handy des Toten finden, führt sie auf die richtige Spur. Es zeigt, wie ein kongolesisches Kind von einem deutschen Soldaten erschossen wird. Dieser hat allein oder mit weiteren Personen vermutlich auch Renz erschossen. Kosak kann zwar die beteiligten Soldaten identifizieren, doch wird Ziegler ihr Auftrag entzogen. Auf eigene Faust ermittelt sie dennoch weiter, stellt dabei ihre militärische Professionalität und Expertise unter Beweis und

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findet Patrice, ein Kind, dessen Aussage Licht in das Dunkel bringen kann. Patrice wird jedoch getötet, bevor er aussagen kann, und der Fall verläuft im kongolesischen Sand. Am Ende gilt der Todesfall weiterhin nicht als Mord, sondern als ein Suizid aufgrund von Depressionen des Betroffenen.33 Die Folge Zapfenstreich (2010, Christoph Stark) der ARD-Krimiserie Polizeiruf 110 dreht sich ebenfalls um Soldatinnen, die dem klassischen männlich geprägten Soldatenbild entgegenlaufen. Es geht um den Mord an einer schwangeren Bundeswehrsoldatin, die gerade einen Lehrgang zur Vorbereitung auf einen Auslandseinsatz absolviert. Im Zuge ihrer Ermittlungen stößt Kommissarin Ulrike Steiger auf den Kompaniefeldwebel Melzer, dem ganz offensichtlich Frauen im Militär ein Dorn im Auge sind, findet aber schließlich die Mörderin der jungen Soldatin unter ihren drei Kameradinnen. Die schönste Nacht des Lebens (2015) von Andreas Senn ist die 36. Folge der ZDF-Krimiserie Bella Block. In dieser Folge ist die Kommissarin a.D. Bella Block auf Bitten des Staatsanwaltes hin als Privatermittlerin tätig, um den Tod des Offizieranwärters Fritz Mühlstadt aufzuklären. Die offizielle Darstellung der Marine versucht, Mühlstadts Tod als Unfall infolge übermäßigen Alkoholkonsums zu erklären, doch deuten die gerichtsmedizinischen Befunde auf ein Gewaltverbrechen. Bella Block stößt bei ihren Recherchen auf fünf weitere Marinesoldaten, mit denen Mühlstadt in seiner Todesnacht gefeiert hat. Nun wird auch Mühlstadts Homosexualität offenbar. Schließlich deutet alles darauf hin, dass Mühlstadt von seinen eigenen Kameraden erst vergewaltigt und anschließend getötet wurde. Am Ende erweist sich jedoch der gleichfalls homosexuelle Erste Offizier Thorsten Schmalbrink als Täter, der eine kurze Liaison mit Mühlstadt hatte und diesen davon abhalten wollte, die eigene Homosexualität und die seiner Partner publik zu machen. Ein Stück weit an den tragischen Fall von Kadettin Jenny Böken an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock aus dem Jahr 2008 erinnernd, problematisiert dieser Film das Spannungsfeld zwischen Homosexualität einerseits und dem klassischen Verständnis vom Soldaten als Verkörperung einer heterosexuellen Männlichkeit andererseits. Achte Kategorie – der verführte/verheizte Soldat: In diese thematische Kategorie fallen Filme, welche die Verführung, die Täuschung und/oder das »Verheizen« von Soldaten durch ihre militärische oder politische Führung zum Gegenstand haben. Unter Rückgriff auf einen Roman von Herbert Reinecker behandelt der Kinofilm Kinder, Mütter und ein General (1955) von Lázló Benedek das Thema der Verführung und Irreleitung der Jugend durch den Nationalsozialismus. Eine Gruppe kriegsbegeisterter Hitler-treuer Gymnasiasten will in den letzten Tagen des Krieges noch am heroischen Abwehrkampf teilnehmen und begibt sich an die Front. Ihre Mütter machen sich jedoch auf die Suche nach ihnen, finden sie schließlich und versuchen, 33

Weil es in diesem Film um einen Mord an einem Soldaten durch Soldaten geht, hätte »Kongo« auch der Kategorie »Der böse Soldat« zugeordnet werden können. Das Besondere an diesem Film ist jedoch nicht dieser Aspekt, sondern die Weiblichkeit der ermittelnden Soldatin.

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sie von ihrem aberwitzigen Vorhaben abzubringen. Interessanterweise wurde der Film in zwei Fassungen produziert. In der deutschen Produktion werden die Kinder und ihre Mütter von einem erfahrenen Soldaten vor der Front versteckt und überleben. In der Fassung für den internationalen Markt endet der Film hingegen mit dem Transport der Jugendlichen an die Front und damit sehr wahrscheinlich in ihren sicheren Tod.34 Dieses Thema der Verführung und des »Verheizens« wird in Bernhard Wickis Die Brücke (1959) geradezu systematisch kontextualisiert, sodass dieser Film mit fünf Deutschen Filmpreisen und einem Golden Globe für den besten ausländischen Film bedacht und sogar für einen Oscar in der gleichen Kategorie nominiert wird. Der Film adaptiert die gleichnamige Autobiografie von Manfred Gregor (alias Gregor Dorfmeister) und schildert eindrücklich eine Gruppe von sieben 16-Jährigen, die von den nationalsozialistischen Durchhalteparolen fanatisiert in einem absurd-sinnlosen Unterfangen eine Brücke verteidigen, die ohnehin zur Sprengung vorgesehen war. Nur einer von ihnen überlebt. Im selben Jahr erscheint Frank Wisbars Hunde, wollt ihr ewig leben nach dem gleichnamigen Roman von Fritz Wöss, ein Film, der den Kessel von Stalingrad und dessen militärische Aussichtslosigkeit beschreibt, sodass sogar der junge Oberleutnant Wisse, ein bekennend-fanatischer Nationalsozialist, die Sinnlosigkeit dieses Vorhabens anerkennen muss. Der über 30 Jahre später erscheinende Film Stalingrad (1991/92) von Joseph Vilsmaier widmet sich demselben Thema und beschreibt ein Bataillon Sturmpioniere. Anfangs noch zuversichtlich, dass es einen schnellen Sieg geben wird, zerplatzen diese Träume an der harten Realität des ins Stocken geratenen Vorstoßes und des Häuserkampfes wie Seifenblasen. Auch die Versorgungslage verschlechtert sich zusehends. Die Moral der Truppe wie auch ihre Disziplin zerfallen, am Ende wird die gesamte Einheit aufgerieben werden. Der für den SWR und Arte produzierte Fernsehfilm Das Kommando (2004) von Thomas Bohn hingegen ist ein Familiendrama um den Brigadegeneral Heinz Büchner, der einen Eliteverband in Anlehnung an das Kommando Spezialkräfte kommandiert. In diesem dient auch sein Sohn Christopher als Oberleutnant, während seine friedensbewegte Ex-Frau Ellen für Ärzte ohne Grenzen arbeitet. Dieses Drama wird vor dem Hintergrund eines geheimen Auftrages entfaltet, mit dessen Durchführung General Büchner betraut ist. Die von dem ehrgeizigen Sohn Christopher geführte Gruppe soll in einem Himmelfahrtskommando im Kaukasus klandestin gegen eine Terrorgruppe vorgehen, die angeblich einen terroristischen Anschlag mit einer schmutzigen, also radioaktiven Bombe auf das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Heidelberg plant. Die Eindeutigkeit des Auftrages wird im Laufe des Films indes zusehends aufgeweicht, denn es entsteht der Verdacht, dass es sich bei diesem Einsatz um eine illegale Amtshilfe der Bundeswehr 34

Felicitas Milke, »Die Zeit ist für einen solchen Film noch nicht reif«. Kinder, Mütter und ein General (1955) als Vermächtnis von Erich Pommer. In: Filmblatt, 16 (2011), 45, S. 75‑90.

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für die amerikanischen Streitkräfte handelt, die den Einsatz zu einem fragwürdigen und dubiosen Exekutionskommando degradieren würde, was das familiäre Beziehungsgeflecht der Familie Büchner auf eine harte Probe stellt. Neunte Kategorie – der böse Soldat: Schildert ein Film ein verbrecherisches, kriminelles, völkerrechtswidriges, menschenrechtsverletzendes, illegales und/ oder moralisch verwerfliches Handeln, wird er dieser thematischen Kategorie zugeordnet. So thematisiert der Fernsehfilm Einer von sieben (ARD, 1960) die völkerrechtswidrige Erschießung von Zwangsarbeitern durch deutsche Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Nur ein einziger aus der siebenköpfigen Gruppe weigert sich, dem Schießbefehl nachzukommen, und wird dafür von den anderen erschossen. Die übrigen sechs machen nach dem Krieg Karriere, sind gesellschaftlich respektiert, angesehen und gut situiert. So trifft der Bruder des Erschossenen, der sich auf die Suche nach der Wahrheit über das Schicksal seines vermissten Bruders begibt, dessen ehemalige Kameraden an. Ihre Schuld ist offensichtlich, sie bleibt in dem Film jedoch ungesühnt.35 Im selben Jahr behandelt der Fünfteiler Am grünen Rand der Spree von Fritz Umgelter bereits in seiner ersten Folge Das Tagebuch des Jürgen Willms die internationales Recht brechende Massenexekution von Juden durch die Deutschen in dem russischen Ort Orscha. In Egon Monks Fernsehspiel Schlachtvieh (1963) hingegen muss sich ein angehender junger Offizier auf einer Zugreise mit seinen vornehmlich älteren Mitreisenden auseinandersetzen. Während er selbst daran interessiert ist zu erfahren, was sich in den hinteren ominösen und verschlossenen Waggons des Zuges befindet, will die übrige Reisegesellschaft davon nichts wissen. Dieses Sujet lässt sich somit als eine Parabel auf die Bürde der deutschen Vergangenheit, welche die Elterngeneration lieber verdrängen möchte, lesen. In dieser Frage entscheidet sich unser junger Offizieranwärter am Ende gegen seine Neugierde und lässt die Waggons ebenfalls verschlossen. Richtiggehend »böse« präsentiert sich sodann die Figur des Hauptmanns von Stransky in den beiden Steiner – Das Eiserne Kreuz-Filmen aus den Jahren 1977 und 1979, bei denen es sich um deutsch-britische Co-Produktionen für die Kinoleinwand handelt. Während der erste Teil von Sam Peckinpah und Wolf C. Hartwig realisiert wird und sich auf eine literarische Vorlage, den Roman Das geduldige Fleisch von Willi Heinrich, bezieht, zeichnen für das Sequel Andrew V. McLaglen und erneut Wolf C. Hartwig verantwortlich. Auch die Darsteller der beiden Hauptrollen, die Widersacher und Kontrahenten Hauptmann von Stransky und Unteroffizier und später Feldwebel Steiner, sind in den beiden Filmen nicht identisch. So wird Stransky einmal von Maximilian Schell und einmal von Helmut Griem verkörpert; in die Rolle des Steiner schlüpfen James Coburn und Richard Burton. In dem ersten Film jagt Stransky, ein Spross aus einer preußischen Aristokratenfamilie, während 35

Knut Hickethier, Kriegserlebnis und Kriegsdeutung im bundesdeutschen Fernsehen der fünfziger Jahre. In: Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945‑1961). Hrsg. von Ursula Heukenkamp, 2 Bände, Bd 2, Amsterdam [u.a.] 2001, S. 759‑775, hier S. 763.

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des Zweiten Weltkrieges an der Ostfront dem Eisernen Kreuz hinterher und versucht, dieses durch Lug, Trug, Erpressung und sogar Mord zu erlangen. Steiner, dessen Streben und Wirken dem Überleben seiner Kameraden in einer militärisch praktisch aussichtslosen Situation gilt, stellt sich dem entgegen und positioniert sich in dem Sequel erneut als Gegenspieler Stranskys, als dieser den Tod der Zivilbevölkerung eines kleinen französischen Dorfes in der Normandie billigend in Kauf nimmt, um den Vormarsch der Alliierten nach deren Landung zu stören. In dem finalen Showdown führt Steiner Stransky schließlich seiner gerechten Strafe zu und erschießt ihn. Die actiongeladenen, an Kampfszenen reichen und von ihrem Schnitt her sehr interessanten SteinerFilme wollen ein Statement gegen die Grausamkeiten des Krieges sein, sind indes alles andere als eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und rufen widersprüchliche Reaktionen und Einschätzungen hervor. So schreibt Rubenstein in seiner Kritik: »Of course, one detail is curiously absent – Nazis. Steiner is certainly too cynically decent to believe in much of anything; Stransky is too selfish to think about anything except returning to his ancestral Prussian estate with a war decoration.«36

Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden wiederum verlieh dem Film 1978 das Prädikat »Wertvoll«. An den Kinokassen erwiesen sich die beiden Filme als kommerzielle Erfolge, was vielleicht gerade daran liegt, dass insbesondere die kleine Kampfgemeinschaft um Steiner bar jeder politischen Inklinationen als Gruppe funktionierender Soldaten präsentiert wird, sodass diese beiden Filme auch der oben angeführten Kategorie des funktionierenden Soldaten zugerechnet werden können. In dem ZDF-Zweiteiler Das Ding von Ulrich Edel und Peter Zenk aus dem Jahr 1978 wiederum geht es um den Zerfall einer Männerfreundschaft unter vier Wehrdienstleistenden. Rocky, Sprinter, Engelchen und Joker nutzen 1973 ihre Wehrdienstzeit dazu, sich an den Waffenbeständen der Bundeswehr zu bedienen, um ihre kriminellen Absichten zu realisieren. So setzen sie zusammen mit ihrer gemeinsamen Freundin Michaela die entwendeten Gasgranaten gegen einen Konvoi aus vier Geldtransportern ein, die zusammen 250 Millionen D-Mark in frisch geprägten Fünf-D-Mark-Münzen transportieren. Im Versteck passiert jedoch ein erstes Malheur, als Rocky versehentlich einen Beifahrer der Geldtransporter erschießt, sodass zu dem Straftatbestand des Raubes der des Mordes hinzukommt. Dann ereilt die Gruppe die Hiobsbotschaft, dass die deutsche Regierung hinter dem Raub ein terroristisches Motiv vermutet und deshalb neue, veränderte Münzen prägen möchte, was ihre Beute praktisch wertlos macht. Die Gruppenkohäsion zerbröselt daraufhin. Lediglich Rocky versucht, die Münzen einzuschmelzen, um sich ihres Silberanteils zu bemächtigen. Dabei erleidet er jedoch einen Unfall, der ihn querschnittsgelähmt und voller Hass auf seine Freunde zurücklässt, die er nun aus Rache umbringen möchte. 36

Lenny Rubenstein, Where Have All the Nazis Gone? In: Cinéaste, 8 (1977), 2, S. 32‑35, hier S. 34.

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Mit dem ProSieben-Psychodrama Die Friedensmission – 10 Stunden Angst (1997) wendet sich das Fernsehen erstmals den neuen Aufgaben der Streitkräfte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und den damit verbundenen Herausforderungen für die Soldaten der Bundeswehr zu. Der Stabsunteroffizier Matthis aus dem Sanitätsdienst gehört einer Bundeswehreinheit an, die im Rahmen von SFOR zur Sicherung des Friedens auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens stationiert ist. Dort tötet er, so will es die Dramaturgie, während einer Routinekontrolle versehentlich die Mutter eines kleinen Jungen, der Zeuge des gesamten Geschehens wird, sowie einen Kameraden. Der kleine Junge kann flüchten, wird aber nun von dem Stabsunteroffizier fieberhaft gesucht, der sich hierfür von der Truppe unerlaubt entfernt, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Nun wird nach ihm von seinen Vorgesetzten und dem Militärpfarrer als Amokläufer gefahndet, doch wie sich am Ende herausstellen wird, ist der wahre Täter ein anderer. Der WDR-Fernsehfilm Fette Hunde (2012) ist eine Produktion für die ARD-Krimi-Reihe Tatort. Der 55. Fall des Kölner Ermittler-Duos Max Ballauf und Freddy Schenk führt zwei Stränge zusammen: einmal die Rückkehr einer Gruppe Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan, unter denen sich auch Sebastian Brandt, der Ehemann ihrer früheren Kollegin Lissy, befindet, und zum anderen das Schicksal der beiden afghanischen Drogenkuriere Amina und Milad Rahimi. Die beiden Geschwister transportieren das in Kondome verpackte Rauschgift in ihrem Magen nach Köln, doch platzt eines der Kondome in Milads Bauch. Amina schafft es mit ihrem Bruder noch zum Übergabeort, wo sie dann aber mit ansehen muss, wie Milad erschossen wird. Als Mordzeugin schwebt sie nun selbst in Lebensgefahr. Die beiden Ermittler kommen recht schnell auf Aminas Spur und fahnden nach ihr, da sie höchstwahrscheinlich wie der regelrecht ausgeweidete Milad ebenfalls als Drogenbote fungiert. Recht bald nehmen sie an, dass sich in der Gruppe der zurückgekehrten Bundeswehrsoldaten eine oder mehrere Personen befinden, die in das Drogengeschäft verwickelt sind. Auch Sebastian Brandt wird befragt, da Milad vor seinem Tod dessen Nummer angerufen hat. Sebastian Brandt und seine beiden zufällig anwesenden Kameraden Thomas Klages und Matthias Jahn räumen ein, Amina und Milad zu kennen. Amina findet schließlich Sebastian, der offensichtlich eine Affäre mit ihr hatte. Sie werden zu einem Übergabeort bestellt, wo Sebastians Kamerad Matthias Jahn Amina und die Drogen gegen Constantin, den von ihm entführten Sohn Sebastians, eintauschen will. Dabei gibt er zu, Milad getötet zu haben. Gerade noch rechtzeitig können Ballauf und Schenk die Situation retten und den kriminell gewordenen Soldaten Matthias Jahn unschädlich machen. Zehnte Kategorie – der verletzte Soldat: Diese thematische Kategorie umfasst Filme, die einen an Körper, Geist und Seele verletzten Soldaten mit der Kamera beobachten. Der Fernsehfilm Nacht vor Augen (2008) von Brigitte Bertele thematisiert die Traumatisierung eines Bundeswehrsoldaten nach dessen Einsatz in Afghanistan. Der junge Bundeswehrsoldat David Kleinschmidt kehrt verschlossen, mürrisch, aggressiv, als Bettnässer und als ein anderer

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Mensch aus dem Auslandseinsatz zurück. Für seine vermeintliche Heldentat, das Erschießen eines afghanischen Attentäters in Notwehr, wird er von der Bundeswehr ausgezeichnet, doch verfolgt ihn in seinen Albträumen in Wahrheit ein kleiner afghanischer Junge, den er praktisch grundlos erschossen hat. Die Bilder von Toten, Verwundeten und Verstümmelten, die er seinen Mitmenschen von seinem Einsatz in Afghanistan zeigt, haben eine verstörende Wirkung auf sein Umfeld, sodass sich Kleinschmidt in der Folge immer mehr von seiner Umwelt abschottet. Den Besuch des Rückkehrerseminars der Bundeswehr wie auch die Konsultierung eines Psychologen lehnt Kleinschmidt ab. Einzig um seinen kleinen achtjährigen Halbbruder Benny kümmert er sich. Um zu verhindern, dass dieser weiterhin gemobbt wird, unterrichtet er ihn im Nahkampf, was aber dessen Aggressivität steigert. Benny tritt zunehmend gewalttätiger auf. Schließlich erkennt Kleinschmidt, dass er für sich und damit auch für Benny etwas tun muss, und begibt sich in psychotherapeutische Behandlung. Auch in der ARD-Serie Polizeiruf 110 wird die Traumatisierung von Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz zum Thema gemacht. So wird in der Folge Klick gemacht! (2009, Stephan Wagner) Oberleutnant Rolf Darkow entführt, weil der Entführer ihm die Schuld für den Tod von drei deutschen Soldaten in der Nähe von Kunduz gibt. Diese fielen einem Taliban-Anschlag zum Opfer, als sie auf einer Route fuhren, die ihnen von Darkow als sicher empfohlen worden war. Hierfür soll Darkow nun büßen. Der Entführer positioniert ihn im Wald auf einer Mine mit Entlastungszünder, lässt dies von einer Kamera aufnehmen und an die Polizei übertragen. Das ungleiche Ermittler-Duo Kriminalhauptkommissar Friedl Papen und Hauptmann Ulrike Steiger, in deren Gesprächen das Für und Wider des Auslandseinsatzes der Bundeswehr in Afghanistan ausführlich diskutiert werden wird, stößt im Zuge seiner Recherchen auf ehemalige Bundeswehrsoldaten, die traumatisiert von ihrem Einsatz in Afghanistan nach Deutschland zurückgekehrt sind. Da ist der zitternde und zu viel Alkohol trinkende Rollstuhlfahrer Peter Jünnemann, der am Ende Selbstmord begeht. Und da ist vor allem Tom Brauer, der seinen Schmerz mit Medikamenten betäuben muss: darüber, dass er seinen Kameraden Robert Wegener auf dessen eigenen Wunsch hin erschossen hat, nachdem dieser bei dem Angriff der Taliban sehr schwere Verwundungen davon getragen hatte. Der SWR-Spielfilm Willkommen zuhause (2009) erzählt die Geschichte des Afghanistan-Rückkehrers Ben Winter, der in Afghanistan mit seinem Kameraden und besten Freund Torben Kesselbach in einen Hinterhalt gerät, bei dem der Zufall ihn überleben, seinen Freund aber sterben lässt, weshalb er vorzeitig nach Hause repatriiert wird. Winter entwickelt in der Folge immer größere Verhaltensauffälligkeiten. Das Geschehen hat ihn sprachlos gemacht, er zieht sich zurück, verprügelt in einem Anfall einen Freund, weigert sich aber lange, sich wegen seiner offensichtlichen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) medizinisch untersuchen und behandeln zu lassen. Erst nach langer Zeit willigt er doch in eine Behandlung ein. Diese ver-

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läuft erfolgreich. Am Ende des Films ist Ben offenbar geheilt, kann über das Vorgefallene sprechen, und seine Freundin ist hochschwanger. Die letzten Minuten des Films zeigen Redeausschnitte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, seines Außenministers Joschka Fischer und seines Verteidigungsministers Peter Struck sowie einen Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Afghanistan. Die von Oscargewinner Jochen Alexander Freydank (Spielzeugland) verantwortete Folge Heimatfront (2011) des Saarländischen Rundfunks für die ARDKrimi-Reihe Tatort behandelt den Mord an der jungen Künstlerin Viktoria Schneider. Bei den Recherchen finden die beiden Ermittler Franz Kappl und Stefan Deininger heraus, dass sie für die Psychologin Dr. Vera Bergmann Schreibarbeiten übernommen und sich in diesem Kontext widerrechtlich Zugang zu Videoaufnahmen von Therapiesitzungen mit vier schwer traumatisierten Afghanistan-Veteranen verschafft hatte, um dies in ihr Anti-KriegsProjekt einzuarbeiten. Dadurch geraten die betroffenen vier Fallschirmjäger Philipp Weitershagen, Ingo Böcking, Lars Leroux und Hendrik Milbrandt in das Fadenkreuz der Ermittlungen. Bei allen vieren steht der Abschied von der Bundeswehr kurz bevor, und die Schwierigkeiten beim Übergang in das zivile Leben sind unübersehbar. Kurzzeitig wird Schneiders Freund Markus Schwarz verdächtigt, der den Mord aus Eifersucht verübt haben könnte, weil Viktoria eine Affäre mit Böcking hatte, was auch dessen Kameraden gewusst haben. Als Böcking vernommen werden soll, flüchtet dieser gemeinsam mit Weitershagen. Leroux, der im Einsatz ein Bein verloren hat, gibt Kappl und Deininger einen Hinweis, wo sich die beiden möglicherweise versteckt halten. Dort treffen sie auf Böcking, der gesteht, Viktoria aus enttäuschter Liebe heraus getötet zu haben. Weitershagen versucht nun, Böcking zur Flucht zu verhelfen, und bedroht die Ermittler. Obwohl sich Böcking redlich bemüht, auf Weitershagen einzuwirken, dies nicht zu tun, versucht dieser, Kappl zu töten und wird dabei von einem Scharfschützen des Spezialeinsatzkommandos der Polizei tödlich getroffen. Böcking wiederum wird verhaftet.

3. Resümee Die vorangegangene Inhaltsanalyse der seit den 1950er Jahren produzierten deutschen Kino- und Fernsehfilme mit militärischen Bezügen konnte diese Produktionen sozusagen kartografieren und insgesamt zehn verschiedenen thematischen Kategorien zuordnen. Dieser zeitlich übergreifende Ansatz macht überdauernde Narrative der Filmproduktion deutlich, zeigt aber auch, welchen Veränderungen die Erzählplots unterworfen waren. So thematisieren die Filme den moralisch richtig handelnden Soldaten, der hierfür notfalls auch bereit ist, gewisse Grenzen und Verbote zu überschreiten. Sie beschreiben ferner den »anderen«, den weiblichen und den homosexuellen Soldaten, der das Geschlechtergefüge der Streitkräfte erschüttert. Sie schildern den bö-

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sen Soldaten, der verwerfliche, menschenrechtsverletzende oder schlicht kriminelle Taten verübt. Sie zeichnen den von seiner militärischen und/oder politischen Führung verführten, getäuschten und/oder »verheizten« Soldaten. Sie beleuchten das Schicksal von den besiegten/kriegsgefangenen Soldaten. Sie werfen einen Blick auf den politischen Soldaten und dessen Gewissenskonflikt zwischen militärischer Gehorsamspflicht auf der einen Seite sowie einem politisch und moralisch möglicherweise gebotenen widerständigen Verhalten auf der anderen Seite. Sie zeigen zum Zweck der Unterhaltung oder als Satire den lustigen beziehungsweise karikierten Soldaten. Sie werfen ein Schlaglicht auf den desertierten Soldaten, der sich willentlich in einem souveränen Akt der Befreiung entscheidet, Fahnenflucht zu begehen. Sie berichten von den nach einem Einsatz oder Krieg an Körper und/oder Seele verletzten Soldaten und deren Schwierigkeiten, den Weg zurück ins Leben zu finden. Und sie zeigen schließlich den eher unpolitischen, militärisch-professionell agierenden funktionierenden Soldaten. Überblickt man den gesamten hier behandelten Zeitraum und fragt nach Mustern in der inhaltsanalytischen Entwicklung der Produktionen, so gilt es zunächst festzuhalten, dass das Interesse an vor allem Kino- und etwas später dann auch Fernsehfilmen in den 1950er Jahren sehr hoch war, was sich auch in der Verwendung der Bezeichnung »Kriegsfilmwelle« widerspiegelt.37 Krieg und Militär waren zu dieser Zeit ein so präsentes Sujet im Kinofilm, dass sogar von einer cineastischen »Überthematisierung« gesprochen wurde.38 Die Produktionen beschäftigen sich fast ausschließlich mit dem nur wenige Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkrieg und kreisen zumeist um den Soldaten, dessen individuelle Leistung in der Rückschau gewürdigt wird, was vor allem auch dadurch möglich wird, dass sie nicht eingehender »in soziale oder politische Zusammenhänge« gestellt wird.39 Die Filme fallen dann wie bei U 47 – Kapitänleutnant Prien (1958) häufig in die thematische Kategorie des funktionierenden Soldaten. Der Kinobesuch bietet dadurch die Möglichkeit, die eigene Kriegsteilnahme zu legitimieren, zu exkulpieren und eine Opferperspektive einzunehmen, in die in der Folge auch die Wehrmacht affirmativ als »saubere« Institution einbezogen wird, die füglich von der »bösen« SS und dem Nationalsozialismus separiert wird. Es ist zwar bezweifelt worden, ob das Bild der »sauberen Wehrmacht« im bundesdeutschen Kriegsfilm des ersten Nachkriegsjahrzehnts »als kollektive Form der Erinnerung« gelten kann.40 Auch ist der Hinweis ernst zu nehmen, die Übernahme der filmischen Deutungsangebote über die Vergangenheit nicht zu überschätzen, doch muss gleichzeitig festgehalten werden, dass die37 38 39

40

Hugo, Kino und kollektives Gedächtnis? (wie Anm. 31), S. 453‑477, hier S. 454 f. Die zumindest in den Anfängen von einer »Enthaltsamkeit im Fernsehen« begleitet wird. Hickethier, Kriegserlebnis (wie Anm. 35), S. 764. Wolfgang Mühl-Benninghaus, Vergeßt es nie! Schuld sind sie! Zu Kriegsdeutungen in den audiovisuellen Medien beider deutscher Staaten in den vierziger und fünfziger Jahren. In: Schuld und Sühne? (wie Anm. 35), S. 743‑757, hier S. 755. Hugo, Kino und kollektives Gedächtnis? (wie Anm. 31), S. 454‑456, hier S. 461 f.

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ses Bild von der vermeintlich »sauberen Wehrmacht« öffentlichkeitswirksam erst mit den beiden Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der Wehrmacht (1995‑1999; 2001‑2004) nachhaltige Risse erhalten hat,41 sodass die Wirkmächtigkeit der filmischen Interpretationen und Deutungsangebote auch nicht unterschätzt werden sollte. Die thematische Kategorie des funktionierenden Soldaten und damit auch der Topos der sauberen Wehrmacht sind jedenfalls zentrale Narrative dieser Zeit. Diese Erzählweise wird auch durch Petersens Das Boot (1981) noch einmal reaktiviert. Zwar feiert ein Großteil der Kritik Das Boot als einen überaus gelungenen, unprätentiösen und unpathetischen (Anti‑)Kriegsfilm und schließt sich der Meinung seines Produzenten Günter Rohrbach an: »Gerade dann, wenn wir die Tapferkeit der Offiziere und Matrosen zeigen, kommen Widersinn und Grausamkeit dieses Krieges besonders eindringlich heraus.«42

Darin liegt jedoch durchaus auch etwas Problematisches. So formuliert Rohrbach nämlich auch:

»Unser Schuldbewußtsein als Deutsche sollte uns nicht mehr hindern anzuerkennen, daß auf deutscher Seite mit unerhörter Tapferkeit gekämpft worden ist und daß es sehr viele hervorragende und integre Offiziere wie den ›Alten‹ gegeben hat«, also den Kommandanten von U 96, verkörpert von Jürgen Prochnow.43

Fritz Raddatz wertete diesen Film als »Trivialschnulze [...], deren politische Qualität – sprich: Nicht-Qualität – mich geradezu empört. Ein Kriegsfilm am Rande der Verherrlichung.«44 Demgegenüber findet man in den 1950er Jahren Kinofilme über Militär und Krieg aus der thematischen Kategorie des lustigen oder des karikierten Soldaten weniger häufig. Meist sind sie im Sinne eher unpolitischer Comedy zu begreifen, die »letztlich eine unterhaltende Bestätigung des Militärs und damit auch des Krieges« betreibt.45 Eine filmische Darstellung der Bundeswehr sucht man in dieser Zeit sogar vergebens. Sie wird allerdings subkutan als potenzielle Vergleichsreferenz vor allem zur Wehrmacht mitthematisiert. Auch für die 1960er und frühen 1970er Jahre ist festgehalten worden, dass die Bundeswehr nicht nur in der Regel lediglich anlassbezogen, bei Skandalen, Gegenstand der Medienberichterstattung geworden ist,46 sondern vom deutschen Fernsehen auch weitgehend »tabuisiert« wurde.47 Dennoch wird die 41 42 43 44

45 46 47

Vgl. hierzu Christian Hartmann, Johannes Hürter und Ulrike Jureit, Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005. Zit. nach Bittorf, Das Boot (wie Anm. 30), S. 78. Ebd. Fritz J. Raddatz, Das Boot ist leer. Einspruch gegen ein politisch fragwürdiges Heldenepos. In: Die Zeit, Nr. 11, 8. März 1985 (letzter Zugriff 30.1.2018). Hickethier, Kriegserlebnis (wie Anm. 35), S. 765. Vgl. Frank Dörner, Das Verhältnis zwischen den Massenmedien und der Bundeswehr, Diss. Universität Mainz, 1991. Joachim Kannicht, Die Bundeswehr und die Medien. Material zur Presse und Öffentlichkeitsarbeit in Verteidigungsfragen, Regensburg 1982, S. 235.

Von Comedy bis hin zu Versuchen, das Unerklärbare zu erklären

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Bundeswehr in den 1960er häufiger als noch in den 1950er Jahren Gegenstand von Filmproduktionen, wobei hier interessanterweise vorwiegend die thematische Kategorie des lustigen Soldaten bedient wird. In die Zeit des Übergangs von der »formierten Gesellschaft« der 1950er Jahre zu den durch die Studentenbewegung geprägten 1960er Jahren wird der filmische Blick zumindest mit Blick auf das Militär der Vergangenheit kritischer und distanzierter. So beschäftigt sich Unruhige Nacht (1958) erstmals mit dem Thema des desertierten Soldaten, während Kinder, Mütter und ein General (1955) sowie Die Brücke (1959) den verführten/verheizten Soldaten in den Blick nehmen und die Frage nach der ideologisch-mentalen Verführung und dem militärischen »Verheizen« der Jugend durch den Nationalsozialismus aufwerfen. Dieser Aspekt wird dann wieder bei den Verfilmungen der Schlacht um Stalingrad reaktiviert. Das Fernsehspiel Schlachtvieh thematisiert gleich ganz viele böse Soldaten und böse Menschen, als Teil einer Gesellschaft, die für die Last der Vergangenheit als Ganzes verantwortlich ist; die NSBelastung soll am besten verschlossen und hermetisch abgeriegelt und damit neutralisiert in den letzten Waggons des Zuges verbleiben, während im Fernsehen die Erschießung von Zwangsarbeitern (Einer von Sieben, 1960) und die Massenexekution von Juden (Das Tagebuch des Jürgen Willms, 1960) behandelt werden. Der kritische Blick auf die Bundeswehr erfolgt dann in den 1970er und 1980er Jahren, zum einen unter dem Eindruck gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse und zum anderen unter dem Eindruck nuklearstrategischer Veränderungen im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses. Dies zeigen Petersens Planübung (1977) genauso wie Im Zeichen des Kreuzes (1983). Für die 1990er Jahre wird dann ein Prozess der Normalisierung konstatiert, in deren Verlauf die Bundeswehr sogar »mediensexy« wird. »Die Gesellschaft hat auch in ihren kritischen Lagern mit der Bundeswehr weitgehend ihren Frieden gemacht.«48 Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Auflösung des Ost-West-Konflikts wird der deutschen Gesellschaft ein Großteil der Angst vor einem Atomkrieg genommen, der deutsches Territorium zum Kriegsschauplatz gemacht hätte. Doch neue Bedrohungen und neue Aufgaben ziehen rasch am Horizont herauf. Es geht nun um »Neue Kriege«, »asymmetrische Kriege«, den »Krieg gegen den Terror«, den digitalen Krieg im Cyberspace und um humanitäre Einsätze. Für diese Einsätze wünscht sich die Bundeswehr gesellschaftlichen Rückhalt und gesellschaftliche Akzeptanz, sodass sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit die Produktion von Medien unterstützt, die ihre Einsätze auf dem Balkan thematisieren. Kritiker sehen darin die Gefahr einer Militarisierung der deutschen Gesellschaft, die auf Linie der Bundeswehr gebracht werden soll.49 Mörderischer Frieden (2007) aus der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts unübersehbar an Bedeutung gewinnenden thematischen Kategorie des mo48 49

Bleicher/Hickethier, Der Blick des Fernsehens (wie Anm. 16), Zitate S. 286 und S. 289. So etwa Schulze von Glaßer, Der unterhaltsame Krieg (wie Anm. 15), S. 6‑9. Auch andere Beobachter sorgen sich um »eine Remilitarisierung, nur jetzt auf Samtpfoten«. Bleicher/Hickethier, Der Blick des Fernsehens (wie Anm. 16), S. 290.

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Gerhard Kümmel

ralischen Soldaten tut dies noch, ohne dass die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimation für diesen Einsatz aufgeworfen wird, sodass die Soldaten der Bundeswehr in dem Film »auch noch wunderbar symbolträchtig ein bisschen Frieden zwischen den Menschen«50 stiften. Es sei ein »Eingreifmärchen, wie es sich die PR-Abteilung der Bundeswehr nicht schöner hätte ausdenken können«. In Produktionen wie Auslandseinsatz (2012) oder Zwischen Welten (2014) wird hingegen ein deutlich differenzierteres Bild gezeichnet, inklusive der Frage: »Was tun wir hier eigentlich?«51 In diesem Kontext gewinnt dann auch die thematische Kategorie des verwundeten oder seelisch verletzten Soldaten rasch an Bedeutung. Entsprechend häufig findet sich ab dem Jahr 2008 das Thema der Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) in den fiktionalen Produktionen. Geradezu prototypisch erfolgt dies in Willkommen zuhause (2009) und Heimatfront (2011). Diese beiden Kategorien, der moralische Soldat und der verletzte Soldat, bilden die beiden zentralen Narrative der Filmproduktionen seit den 1990er Jahren. Aber auch der lustige/karikierte Soldat wird in den Filmproduktionen wie Morgen, ihr Luschen! (2008) oder Neue Vahr Süd (2010) wieder etwas stärker bedient, in denen sich auch ein Rückgriff auf Stereotype der Militärgroteske zeigt.52 Andere thematische Kategorien treten hingegen erst neu hinzu. Hier ist neben der Kategorie des moralischen Soldaten an die des »anderen«, also des weiblichen und/oder des homosexuellen Soldaten zu denken. Wieder andere wie etwa der besiegte/kriegsgefangene Soldat treten gegenüber früheren Darstellungen in den Hintergrund. Über den gesamten hier betrachteten Zeitraum hinweg ist jedoch die thematische Kategorie des funktionierenden Soldaten die am stärksten besetzte. Sie hat vor allem mit Til Schweigers Schutzengel (2012) dann auch in der Ära nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Renaissance erfahren. In der Gesamtschau tragen die Kino- und Fernsehfilme schließlich zu einer »Pluralisierung« des Kriegs- und Einsatzerlebnisses sowie zu einer »Differenzierung« der Deutung des Kriegs- und Einsatzgeschehens und seiner Modellierung bei.53 Da jedoch »die modernen Bildmedien gesellschaftliche und politische Wirklichkeiten nicht bloß – wie verzerrt auch immer – abbilden; da sich Kino und politische Wirklichkeit eben nicht zueinander wie die Abbildung zum Abgebildeten verhalten, sondern selbst zu Akteuren geworden sind und unsere Wahrnehmung des Krieges sowie unser Verhalten zum

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51

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Christian Buß, Bundeswehrdrama »Mörderischer Frieden«. Kuscheln im Kosovo. In: Spiegel Online, 28. November 2007 (letzter Zugriff 30.1.2018). Joachim Käppner, »Auslandseinsatz« im Ersten. Was tun wir hier eigentlich? In: Süddeutsche Zeitung, 16. Oktober 2012 (letzter Zugriff 30.1.2018). So etwa auch Leander Hausmanns Spielfilm »NVA« (2005). Hickethier, Kriegserlebnis (wie Anm. 35), S. 771.

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Krieg beeinflussen«;54 da sie also an der sozialen Konstruktion der Realität55 gestaltend mitwirken, ist dieses Feld auch immer wieder eines, in dem um Deutungen gerungen wird. Damit wird Film- und Fernsehanalyse soziologisch, wird Gesellschaftsanalyse.56 Gerade das öffentlich-rechtliche Fernsehen und der Bereich der Filmförderung für Kinoproduktionen bieten Raum für die Interventionen und Einflussnahmeversuche verschiedener politischer, ökonomischer (Product Placement) und gesellschaftlicher Akteure. So musste schon Gauner in Uniform (1960) »wegen politischer Bedenken« seinen Titel ändern und gelangte dann als Hauptmann, deine Sterne in die Kinos.57 Bei dem Film Im Zeichen des Kreuzes (1983) wiederum ist es die vermeintliche Unwahrscheinlichkeit eines solchen im Film geschilderten Unfalls eines Atommülltransportes und der legaliter nicht gestattete Beschuss von unbewaffneten Zivilisten durch Soldaten der Bundeswehr, was zu heftigen Diskussionen über den Film bei den Fernsehprogrammverantwortlichen der ARD führte, die schließlich von einer Ausstrahlung des Films in der ARD absahen. Die Wochenzeitschrift Der Spiegel kommentierte dies in der Folge als ein dem politischen Druck nachgebendes Kneifen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens »vor seiner eigenen Courage«.58 Mehrere Wochen nach dem ursprünglich geplanten Sendetermin wurde der Film dann aber zumindest im WDR und im NDR gezeigt.59 Mörderischer Frieden (2007) wiederum wurde erst möglich durch eine umfangreiche Unterstützung durch das Bundesministerium der Verteidigung in Gestalt militärfachlicher Beratung und der Erteilung von Drehgenehmigungen. Während die Bundeswehr eine Unterstützung der Produktion Heimatfront (2011) ablehnte, erhielt Schutzengel (2012) öffentliche Mittel in Millionenhöhe. Schweigers Film wurde dementsprechend erstmals am 24. Juni 2012 vor deutschen Soldaten in Afghanistan im Beisein des Produzenten und Hauptdarstellers gezeigt. Der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière kommentierte schließlich die Frage nach der Filmförderung für diesen Film mit den Worten:

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59

Gerhard Paul, Krieg und Film im 20. Jahrhundert. Historische Skizze und methodologische Überlegungen. In: Krieg und Militär im Film (wie Anm. 7), S. 3‑76, hier S. 3. Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 19. Aufl., Frankfurt a.M. 2003. Peltzer/Keppler, Die soziologische Film- und Fernsehanalyse (wie Anm. 21), S. 1. Von Cziffra selbst spricht in diesem Kontext von »eine[r] der größten Enttäuschungen« seines Lebens. Zit. nach Der Spiegel, Nr. 42, 12. Oktober 1960, S. 94. Lohn der Angst. Ein WDR-Fernsehspiel, das die Folgen eines Atom-Unfalls in einem niedersächsischen Dorf ausmalt, ist unter politischem Druck aus dem ARD-Programm katapultiert worden. In: Der Spiegel, Nr. 16, 18. April 1983, S. 209‑214, hier S. 209. Vgl. zu diesem Politikum: Lohn der Angst. In: Der Spiegel (wie Anm. 58); vgl. auch Ulrich Greiner, Im Zeichen des Schafes. In: Die Zeit, Nr. 17, 22. April 1983 (letzter Zugriff 30.1.2018).

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Gerhard Kümmel

»Es ist ja gerade umgekehrt: Nicht wir werben für Herrn Schweiger. Sondern Herr Schweiger macht Werbung für die Bundeswehr!«60

Deutlich zurückhaltender agierten Verteidigungsministerium und Bundeswehr hingegen in der Frage der Unterstützung für Eine mörderische Entscheidung (2013), was angesichts des nach dem Luftangriff eingesetzten Untersuchungsausschusses, der auch zu personellen Konsequenzen geführt hat,61 durchaus nachvollziehbar ist. So wurden die Interviewanfragen des Produktionsteams abgelehnt, und bundeswehreigene Filmdokumente blieben unter Verschluss.62 Beim abschließenden Versuch einer filmsoziologischen Gesamtbewertung der Kino- und Fernsehfilme fällt indessen zunächst auf, dass die identifizierten thematischen Kategorien auf eine differenzierte und pluralisierte Film- und Fernsehlandschaft verweisen und ein vielfältiges und eine große Bandbreite abdeckendes mediales Bild der Bundeswehr zeichnen. Dabei reflektieren die zu beobachtenden Konjunkturen der einzelnen thematischen Kategorien gesellschaftliche, politische, soziale und militärische Veränderungsprozesse. Die Zuschauerzahlen für die Film- und Fernsehproduktionen zeigen ferner, dass sich die bundesdeutsche Gesellschaft durchaus für ihre Streitkräfte interessiert – und für das, was in ihnen, um sie herum und durch sie passiert. Ihre Bereitschaft, sich mit dem Militär und mit seinen Einsätzen reflexiv auseinanderzusetzen, ist durchaus vorhanden. Schließlich präsentiert sich die Film- und Fernsehlandschaft auch als hinreichend souverän, um den Interessen verschiedener Akteure nach einer inhaltlichen Steuerung der medialen Deutungsangebote zu widerstehen. Die Checks and Balances erscheinen insofern ganz intakt zu sein. Um die zivil-militärischen Beziehungen in Deutschland ist es also gar nicht so schlecht bestellt, wie man manchmal vermuten könnte.

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61

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Zit. nach Michael Schulze von Glaßer, Nur schöne Bundeswehrbilder. In: Junge Welt, 24. Oktober 2012, zit. nach (letzter Zugriff 30.1.2018). Franz Josef Jung, der Verteidigungsminister in der fraglichen Zeit, trat am 30. November 2009 von seinem – letztlich nur für 33 Tage – bekleideten Amt als Bundesarbeitsminister zurück. Im Bundesverteidigungsministerium mussten Staatssekretär Peter Wichert und Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan ihren Hut nehmen. Klein selbst hingegen wurde – nach entlastenden disziplinaren und juristischen Ermittlungen in erster Instanz – am 27. März 2013 zum Brigadegeneral befördert. »Wir werden uns über die Rolle der Bundeswehr verständigen müssen«. Interview mit Ulrich Lenze. In: Eine mörderische Entscheidung. Pressemappe. Hrsg. von NDR Presse und Information, Hamburg 2013, S. 19‑21, hier S. 19.

Kay Hoffmann

Zwischen Transparenz und Kontrolle. Dokumentarfilme und TV-Reportagen zur Bundeswehr seit 1989 Medien sind ein wichtiges Informationsmittel der Bevölkerung hinsichtlich politischer Fragen etwa zur Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, also auch zur Bundeswehr und ihren Aufgaben. Das Image der Bundeswehr und das Wissen um ihre Aufgaben werden von den Medien stark geprägt. Die vom ehemaligen Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr durchgeführte Bevölkerungsumfrage von 2012 kam zu dem Ergebnis, dass die Befragten zu 72 Prozent über das Fernsehen und zu 64 Prozent über Zeitungen und Zeitschriften auf die Bundeswehr aufmerksam werden. Der direkte Kontakt ist dagegen eher selten.1 Die Umfrage hat zudem ergeben, dass grundsätzlich eine große Zustimmung zur Bundeswehr besteht, wobei die Zustimmung zu den Auslandseinsätzen deutlich geringer ausfiel. Die Bedeutung der medialen Vermittlung ist auch dadurch gewachsen, dass die Zahl der Angehörigen der Bundeswehr von 650 000 im Jahr 1991 auf inzwischen rund 180 000 reduziert wurde; davon sind inzwischen rund 21 000, also zwölf Prozent, Frauen. Zahlreiche Standorte wurden geschlossen und die allgemeine Wehrpflicht 2011 abgeschafft. Die Bevölkerung tritt seitdem nur noch selten in direkten Kontakt zur Bundeswehr. Gerade bei der notwendigen Rekrutierung von Fachkräften konkurriert die Bundeswehr unmittelbar mit der freien Wirtschaft und anderen staatlichen Bereichen. Darüber hinaus haben sich seit den 1990er Jahren die Aufgaben der Bundeswehr stark verändert. Zu der eigentlich im Grundgesetz vorgesehenen Beschränkung auf die Landesverteidigung kamen internationale Bündnisaufgaben sowie außen- und sicherheitspolitische Verpflichtungen hinzu, bis hin zur »Abwehr 1

Thomas Bulmahn, Wahrnehmung und Bewertung des Claims »Wir. Dienen. Deutschland.«, Image der Bundeswehr sowie Haltungen zum Umgang mit Veteranen. Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage 2012. Kurzbericht, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg 2012. Weiterhin: Heiko Biehl und Rüdiger Fiebig, Zum Rückhalt der Bundeswehr in der Bevölkerung. Empirische Hinweise zu einer emotional geführten Debatte. Hrsg. vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, Strausberg 2011 (= SOWI-Thema, 2), S. 1‑16. Vgl. den Beitrag von Markus Steinbrecher und Meike Wanner in diesem Band.

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Kay Hoffmann

sicherheitspolitischer Bedrohungen für unsere offene Gesellschaft und unsere freien und sicheren Welthandels- und Versorgungswege«, so die offizielle Angabe im Weißbuch 2016.2 Durch transatlantische Partnerschaften ist eine multinationale Zusammenarbeit in einer globalisierten Welt gefordert, wie insbesondere die verschiedenen Auslandseinsätze zeigen. Diese aber werden hauptsächlich über die Medien vermittelt. Deswegen spielen die öffentlich-rechtlichen Sender und das private Fernsehen eine besondere Rolle für die Akzeptanz der Bundeswehr, wie 2016 die Bevölkerungsumfrage ergeben hat, die das Meinungsforschungsinstitut Emnid jährlich im Auftrag des Presse- und Informationsstabes der Bundeswehr durchführt.3 Dass die Bundeswehr seit rund zehn Jahren gezielt Film- und Fernsehproduktionen durch Drehgenehmigungen, durch organisatorische Unterstützung, Transportleistungen, durch finanzielle Förderung und durch Auftragsproduktionen fördert, dürfte ihr positives Image gestärkt haben. Damit folgt sie einem Konzept, das sich in den USA bewährt hat, wo das Pentagon zahlreiche Hollywood-Spielfilme logistisch unterstützte oder sogar mitfinanzierte.4 Dadurch wird gerade bei Fernsehproduktionen oft ein von der Bundeswehr erwünschtes Bild von sich selbst gezeigt. Zwischen 2005 und Ende 2009 wurden beispielsweise insgesamt 64 Produktionen unterstützt, von denen 54 Dokumentations- beziehungsweise Dokutainment-Formate waren.5 Allein für das Jahr 2009 sind 22 Produktionen nachzuweisen, bei denen eine Filmproduktion eng mit der Bundeswehr zusammenarbeitete. Im Fernsehen gibt es neben der aktuellen Berichterstattung in Nachrichtensendungen und -magazinen zahlreiche Reportagen, die meist sehr wohlwollend vom Alltag in der Bundeswehr und den Auslandseinsätzen berichten. In seinem Buch »An der Heimatfront« setzte sich Michael Schulze von Glaßer kritisch mit der Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr auseinander.6 Journalisten wie der N24-Auslandsreporter und Militärexperte Guido Schmidtke haben sich auf das Thema spezialisiert und produzieren zahlreiche Reportagen. Letzterer berichtete 2003 als »embedded correspondent« bei der US-amerikanischen Armee7 von der völkerrechtswidrigen, hauptsächlich US-amerikanischen und britischen Militärinvasion in den Irak zum Sturz von 2 3

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Weißbuch 2016. Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Berlin 2016, S. 90. Tilmann Engel, Umfrage: Hohe Zustimmung zu Auftrag und Missionen der Bundeswehr, 21.3.2016 (letzter Zugriff 15.12.2017). Peter Bürger, Kino der Angst – Terror, Krieg und Staatskunst aus Hollywood, Stuttgart 2006; Peter Bürger, Bildermaschine für den Krieg. Das Kino und die Militarisierung der Weltgesellschaft, Hannover 2007. Michael Schulze von Glaßer, Der unterhaltsame Krieg. In: Telepolis, 19.9.2010 (letzter Zugriff 15.12.2017). Michael Schulze von Glaßer, An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr, Köln 2010. Pressemitteilung N24, N24-Korrespondent: »Das war ein Höllentrip«, 28.3.2003 (letzter Zugriff 15.12.2017).

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Saddam Hussein. Unter dem Begriff »embedded journalism« versteht man, dass das Militär ausgewählten Journalisten Zugang zur kämpfenden Truppe genehmigt:

»Auf diese Weise wurde ihnen die Berichterstattung unmittelbar vom Kampfgeschehen ermöglicht und gleichzeitig ein gewisser Schutz geboten. Der große Nachteil: Auf diese Weise hatte das US-Militär die Journalisten auch unter Kontrolle. Journalisten, die embedded arbeiten, geben damit gleichzeitig ein Stück ihrer kritischen Distanz auf. Auch über die Perspektive der Gegenseite zu berichten, ist so von vornherein unmöglich, genauso wie Hintergrundberichte über die Zivilbevölkerung.«8

Außerdem drehte Schmidtke für N24 zahlreiche Reportagen über verschiedene Aspekte des Alltags in der Bundeswehr und wie viele andere Sender 2006 auch über das 50-jährige Jubiläum der Bundeswehr. Das ZDF strahlte zwischen 1997 und 2007 elf Staffeln mit 108 Folgen der Serie Die Rettungsflieger aus, die maßgeblich von der Bundeswehr als Koproduzentin unterstützt wurde. Neue Wege ging die Bundeswehr 2016 mit der Webserie Die Rekruten, in der sie zwölf Rekruten bei ihrem Alltag in der Armee begleitet. »1,7 Millionen Euro lässt sich die Bundeswehr die auf zwölf Wochen der Grundausbildung angelegte Webserie kosten, weitere 6,2 Millionen Euro gibt sie für die begleitende Werbung aus, inklusive Spots im Internet, Radio und mit Plakaten.«9 Trotz zeitweiligem Spott – einige Kritiker sprachen von einer Inszenierung als »Abenteuerspielplatz« – kam die YouTube-Serie bei seiner Zielgruppe, jungen Erwachsenen, sehr gut an. Nach drei Wochen waren täglich eine Million Zugriffe zu verzeichnen, und eine Viertelmillion Internetnutzer abonnierten die Serie.10 Während der Ausstrahlung stiegen die Bewerbungen für die Laufbahnen der Mannschaften und Unteroffiziere nach Angaben der Bundeswehr um 21 Prozent.11 Die Werbung der Armee um neue Rekruten war also äußerst erfolgreich; mit RTL2 wurde über die Übernahme der Serie ins Fernsehprogramm verhandelt. Aufgrund dieses Erfolges startete im Herbst 2017 die neue Serie Mali mit 29 Folgen, bei der acht Protagonisten bei ihrem Einsatz im Rahmen einer UN-Mission begleitet werden. Für Mali stellte das Bundesverteidigungsministerium sechs Millionen Euro aus dem Budget der Nachwuchswerbung bereit.12 Folge 25 behandelt das dramatischste Ereignis der Serie, den Absturz eines Kampfhubschraubers vom Typ »Tiger«, 8 9

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11 12

Ian Umlauff, Kein einfacher Job. Krisen- und Kriegsberichterstattung. In: Film & TV Kameramann, (2013), 3, S. 27. Michael Hanfeld, Ich glaub’, mein Schwein pfeift. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.11.2016 (letzter Zugriff 15.12.2017). Matthias Gebauer, TV-Sender buhlen um Bundeswehr-Reality-Show. In: Spiegel Online, 1.12.2016 (letzter Zugriff 15.12.2017). Christoph Hickmann, In der Hitze der Nacht. In: Süddeutsche Zeitung, 14./15.10.2017, S. 6. Matthias Schiermann, Hitze, Staub und Kasernensprüche. In: Stuttgarter Zeitung, 17.10.2017, S. 3.

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bei dem die beiden Bundeswehrpiloten ums Leben kamen. Aufgearbeitet wird dies Ereignis durch Interviews mit den »Kameraden«, die den Ablauf des Unglücks schildern. An der Absturzstelle durfte nicht gedreht werden. So sind die Trauerfeier und das Spalier für die Gefallenen die dramaturgischen Höhepunkte am Ende der Folge. Bei allem Realismus sind diese beiden YouTube-Serien doch als Werbung gedacht – mit schnellen Schnitten, flapsigen Sprüchen und melodramatischer Musikuntermalung. Sie unterscheiden sich damit stilistisch sehr stark von Reportagen und Dokumentarfilmen, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder entstanden.

1. Historischer Rückblick: Dokumentarfilm, Propaganda, Militär Wenn es um die Bundeswehr und die Produktion von Dokumentarfilmen über sie geht, dann liegt die Vermutung sehr nahe, dass sich mit den Dreharbeiten Differenzen und Herausforderungen verbinden: Die Bundeswehr ist ein geschlossenes System mit eigenen Regeln, die danach strebt, ihre Außendarstellung weitgehend zu kontrollieren. Die Ethnologin Marion Näser-Lather untersuchte die »Parallelgesellschaft Bundeswehr«. Sie wurde dafür Reserveoffizierin und ging 2008 selbst nach Afghanistan. Dies ermöglichte ihr die teilnehmende Beobachtung als Grundlage ihrer Analyse, wie die Sinne durch militärisches Training nach dem Konzept der »sensory ethnography« geschult werden. »Meine These wäre, dass das nur durch starke Rituale des Zusammenhalts funktioniert. Rituale dienen ja dazu, Sinn zu stiften. Jemandem das Gefühl zu vermitteln, dass er an etwas Großem teilhat. Sie erhöhen die Motivation und geben Sicherheit. [...] Der sogenannte Haar- und Barterlass lässt bei Männern und Frauen nur bestimmte Frisuren zu. Das alles unterstützt stromlinienförmiges Verhalten und unterdrückt individuelles Verhalten.«13

Dies gilt in Friedenszeiten und mehr noch im Auslandseinsatz – um das Wort »Krieg« für diese eindeutig militärischen Einsätze zu vermeiden. Solche Interessenkonflikte zwischen Filmschaffenden und Militär sind nichts Neues. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es Auseinandersetzungen zwischen Propagandaminister Joseph Goebbels, dem Reichskriegsministerium und dem Oberkommando der Wehrmacht. Goebbels wollte in den Propagandakompanien (PK) ausgebildete Journalisten und Filmfachleute einsetzen, um möglichst gute Resultate im Sinne der NS-Propaganda zu erzielen. Das Militär erblickte in ihnen in erster Linie ausgebildete Soldaten, die voll in 13

Zit. nach Vanessa Vu, Parallelgesellschaft Bundeswehr, In: Zeit Online, 15.5.2017 (letzter Zugriff 15.12.2017); Marion NäserLather, Experiencing War. The Reconfiguration of the Senses among German Soldiers deployed to Afghanistan. In: Critical Military Studies, 4 (2015), 3, S. 227‑243.

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die militärischen Strukturen eingegliedert werden sollten. Der Kompromiss bestand dann darin, dass die Propagandakompanien zwar in die militärischen Hierarchien integriert wurden und eine militärische Kurzausbildung durchliefen, jedoch gewisse Freiheiten bei der Berichterstattung hatten. Die PKs übernahmen verschiedene Bereiche der Berichterstattung, ihre Angehörigen stellten schreibende Reporter, Foto- und Radioreporter sowie Pressezeichner oder Filmteams, die Aufnahmen für die Deutsche Wochenschau produzierten.14 Ihre Aufgabe war, die Bevölkerung über den Kriegsverlauf zu informieren und eine Brücke von der kämpfenden Truppe zur »Heimatfront« zu schlagen. Dies funktionierte vor allem in Zeiten der militärischen Erfolge. Es gab dabei auch Differenzen zwischen Adolf Hitler und seinem Propagandaminister Goebbels, der die deutsche Bevölkerung schon sehr früh auf einen dramatischen Kriegsverlauf vorbereiten wollte. Hitler wünschte stattdessen selbst nach der Niederlage von Stalingrad in der Wochenschau weiterhin eine positive Berichterstattung des Kriegsverlaufs. Diese machte die Deutsche Wochenschau zunehmend unglaubwürdig, was sich auch an den Reaktionen des Publikums in den Kinos zeigte.

2. Soldaten der Bundeswehr im Dokumentarfilm seit 1955 Die 1956 gegründete Bundeswehr war von Anfang an ein Thema für den Dokumentarfilm, sowohl im Fernsehen als auch im Kino. Viele Filmschaffende interessierten sich für diese Welt, die ihren eigenen Regeln folgte. Doch dabei wollten sie stets die absolute Kontrolle über ihre Filme behalten und sich nicht immer den Wünschen der Militärs unterordnen müssen. Dieser Konflikt zeigte sich schon bei dem ersten langen SDR-Dokumentarfilm Die deutsche Bundeswehr von Heinz Huber, der im Oktober 1956 ausgestrahlt wurde, am Tag des Amtsantritts des neuen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß. Der Film erboste Politik und Bundeswehr gleichermaßen, da er die neu aufgebaute Armee kritisch beleuchtete. Er präsentierte lediglich die Luftwaffe als Teil einer modernen Armee, während andere Truppenteile sehr stark an alte Traditionen und Kadavergehorsam anknüpften. Bei den Zuschauern wurde die Produktion überwiegend positiv bewertet; lediglich 23 Prozent beurteilten sie als »schlecht« und »sehr schlecht«. Hubers Film war sozusagen das journalistische Gegenstück zu dem vom Verteidigungsministerium in Auftrag gegebenen Werbefilm Die ersten Schritte (1956), der von Kurt Neher realisiert wurde.15 Der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder 14

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Kay Hoffmann, »Kämpfer und Künder«. Die Propagandakompanien. In: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Bd 3 »Drittes Reich« 1933‑1945. Hrsg. von Peter Zimmermann und Kay Hoffmann, Stuttgart 2005, S. 649‑662. Zu den ersten Dokumentarfilmen der Bundeswehr: Katja Protte, Auf der Suche nach dem Staatsbürger in Uniform. Frühe Ausbildungs- und Informationsfilme der Bundeswehr. In: Krieg und Militär im Film des 20. Jahrhunderts. Im Auftrag des

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Kay Hoffmann

(CDU) warf Huber »demagogische Verzerrungen« vor.16 Ein Beitrag in der Zeitschrift Wehrkunde forderte als Konsequenz die direkte Einflussnahme des Bundesverteidigungsministeriums auf die Berichterstattung im Fernsehen und möglichst eine feste wöchentliche Sendezeit von 30 Minuten über militärische Themen. Der Verfasser kommentierte den Film seinerseits sehr kritisch, bei dem er eine positive Darstellung der Soldaten vermisste. Der Artikel schließt mit dem patriotischen Appell:

»Es ist der stärkste Wunsch und Hoffnung des Verfassers, dass die Wehrlosigkeit der deutschen Soldaten während dieses Vor-Krieges im Äther endlich aufhört, und in Abwehr und Angriff auch hier alles getan wird, um die Seelen und Hirne der jungen Streitkräfte zu festigen!«17

Drei Wochen nach der Ausstrahlung organisierte der Süddeutsche Rundfunk (SDR) eine Diskussionsrunde mit Verteidigungsminister Strauß, dem damaligen Oberst Wolf Graf von Baudissin, dem damaligen Major Gerd Schmückle, Erich Kuby, einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung, dem damaligen Redakteur Martin Walser, Regisseur Heinz Huber und dem Intendanten des SDR Fritz Eberhard. Die Diskussion verlief sachlich; einige Missverständnisse konnten in ihrem Verlauf ausgeräumt werden. Der Minister bemängelte, dass die Montage des Materials im Schnitt nicht mit militärischen Stellen abgestimmt worden sei. Zu dem vorgebrachten Vorwurf, der Film sei nicht objektiv, stellte Huber fest: »Absolute Objektivität ist in diesem Zusammenhang ein reines Schlagwort, das von den Kritikern gebracht wird, ohne dass sie sich näher überlegen, was damit gemeint ist. Jeder, der einigermaßen mit der Filmtechnik vertraut ist, weiß, dass absolute Objektivität überhaupt nicht möglich ist. Allein schon die Notwendigkeit, den realen Zeitablauf eines Vorganges durch Schnitte zu verkürzen und durch wechselnde Einstellungen aufzulockern, beweist, daß strikte Objektivität schon rein technisch nicht durchzuführen ist. Objektivität kann immer nur eine scheinbare sein, ein so tun als ob, wobei aber dann die völlig unvermeidliche subjektive Einflußnahme von Kameramann, Regisseur, Cutter etc. nur kaschiert ist.«18

Einige Probleme im Verhältnis von Militär, Öffentlichkeit und Medien haben mithin eine lange Tradition. Wie bereits erwähnt, wollen Filmschaffende sich selbst einen Eindruck von dem Alltag in der Armee verschaffen und diesen in ihren Filmen vermitteln. Dazu muss es ihnen möglich sein, mit ihrem Team uneingeschränkt zu arbeiten. Auf der anderen Seite hat die Bundeswehr den Wunsch nach angemessener Würdigung ihrer Leistungen. Auch um die Soldaten vor allzu kritischen Fragen der Filmschaffenden zu schützen und

16 17 18

Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Bernhard Chiari, Matthias Rogg und Wolfgang Schmidt, München 2003 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 59), S. 569‑610. Kay Hoffmann, Zeichen der Zeit, München 1996, S. 183. O.V., Aufzeichnung über die Wehrpropaganda in Funk und Fernsehen. In: Wehrkunde. Organ der Gesellschaft für Wehrkunde, November 1956, S. 10. Heinz Huber, Zusammenfassung der in Pressekritiken und Teilnehmerzuschriften vorgebrachten Argumente gegen den Film »Die deutsche Bundeswehr« vom 31.10.1956, SDR Archiv HA 29/00294.

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»falsche Antworten« im Sinne der Armee zu verhindern, wird seitens der Militärs oft die Anwesenheit von Presseoffizieren gefordert, was natürlich die Drehsituation selbst verändert. Wie all diese verschiedenen Erwartungen bei den Dreharbeiten konkret umgesetzt werden, ist von Produktion zu Produktion unterschiedlich. Gerade wenn Dokumentarfilmer mehrere Wochen oder sogar Monate vor Ort sind, entwickelt sich eher ein beiderseitiges Vertrauensverhältnis – anders als bei kurzfristigen Drehs von wenigen Stunden oder Tagen. Thomas Riedelsheimer gehört zu den anerkannten Dokumentarfilmregisseuren in Deutschland und hat sich mit Filmen wie Rivers and Tides (2001), Touch the Sound (2004), Breathing Earth (2012), Die Farbe der Sehnsucht (2016) oder Leaning into the Wind – Andy Goldworthy (2017) einen Namen gemacht. Während seines Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen in München drehte er 1988 den Dokumentarfilm Dann werden Sie schon schießen ... Drei Monate Grundausbildung bei der Bundeswehr, der Ende 1989 bei der Duisburger Filmwoche Premiere hatte. Plastisch arbeitet er dabei die alltäglichen Konflikte heraus, die aus der Spannung zwischen den Erwartungen der Rekruten und dem militärischem Drill innerhalb der Institution erwachsen. Denn diese habe das Ziel einer Vereinheitlichung des soldatischen Verhaltens, wie es in einer Filmbesprechung im katholischen Filmdienst hieß.19 Durch diese teilnehmende Beobachtung, der die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs bei seinem Wehrdienst zugrunde liegen, wird ein Schlaglicht auf die Zeiten der Wehrpflicht und den Moment geworfen, in dem junge Bundesbürger mit dem System Bundeswehr konfrontiert werden. Im Mittelpunkt steht der Rekrut Andreas, der sich in seinem Tagebuch, das mehrmals zitiert wird, zunehmend kritisch zur Bundeswehr äußert. Er bekommt den Eindruck, dass es in erster Linie darum gehe, jegliche Individualität zu brechen, damit Rekruten im System funktionieren und sich völlig unterordnen. Andreas, den Riedelsheimer im Rahmen einer Recherche ausfindig gemacht hatte, begleitet der Film während der Grundausbildung. Die Desillusionierung während der Ausbildung ist ein häufiges Motiv von Dokumentarfilmen über die Bundeswehr, bei denen es um die persönlichen Perspektiven der Protagonisten geht, so auch im Film Drei Monate Grundausbildung. Denn viele junge Menschen gehen mit falschen Erwartungen zur Armee. Den sehr persönlichen Äußerungen des Rekruten werden Interviews mit Gruppenführern gegenübergestellt, die sich zumeist klar für den klassischen militärischen Drill aussprechen. Ziel sei es nicht zu töten, sondern den Gegner kampfunfähig zu machen, was aber durchaus seinen Tod bedeuten könne. Eine eingespielte Fernsehdokumentation im Unterricht macht das Feindbild des Warschauer Paktes deutlich, der jederzeit angreifen könne. Bei der Schießausbildung mit scharfer Munition verweigert Andreas entgegen seinen vorherigen 19

Internet-Portal Filmdienst, Überblick: Dann werden Sie schon schießen (letzter Zugriff 15.4.2019).

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Ankündigungen den Befehl und wird als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Riedelsheimer und sein Team sind nahe am Geschehen, sie leben selbst neun Wochen in der Kaserne – nur mit einer Armbinde »Film« gekennzeichnet. Mit dem Sonderstatus von Filmhochschülern und versehen mit der Drehgenehmigung durch das Verteidigungsministerium hatte Riedelsheimer beim Drehen großen Spielraum. Dem Regisseur ging es darum zu zeigen, wie die Bundeswehr funktioniert, wie Individuen dazu gebracht werden, etwas zu tun, was sie nicht unbedingt tun wollen. Bei der Ausstrahlung im ZDF als »Kleines Fernsehspiel« erzielte der Film hohe Einschaltquoten. Obwohl sich die im Film interviewten Unteroffiziere falsch dargestellt fühlten, wurde der Film später bei der Bundeswehr für Ausbildungszwecke eingesetzt.

3. Frauen bei der Bundeswehr Frauen waren zunächst von sämtlichen militärischen Aufgaben ausgeschlossen, arbeiteten allerdings in zivilen Funktionen bei der Bundeswehr. Im Februar 1975 stimmte die Bundesregierung dem Vorschlag zu, approbierte Ärztinnen, Zahnärztinnen, Tierärztinnen und Apothekerinnen als Sanitätsoffiziere in der Bundeswehr einzustellen. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes im Januar 2000, die besagt, dass die deutschen Rechtsvorschriften, die Frauen vollständig vom Dienst mit der Waffe ausschließen, gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Gleichstellung von Männern und Frauen verstoßen, sind seit 2001 in Deutschland alle Laufbahnen der Bundeswehr uneingeschränkt für Frauen geöffnet.20 Ende 2017 leisteten etwa 21 000 Soldatinnen Dienst in der Bundeswehr. Sie stellten einen Anteil von rund zwölf Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten; im Sanitätsdienst der Bundeswehr betrug der weibliche Anteil mehr als ein Drittel.21 Nach ihrem Studium an der HFF Potsdam-Babelsberg begleitete Regisseurin Aelrun Goette 2011 für ihren Debütfilm Feldtagebuch – Allein unter Männern die Grundausbildung von vier Frauen in der 6. Kompanie des Panzergrenadierbataillons 294 in der Albkaserne in Stetten am kalten Markt. Ausbilder ist ein Hauptfeldwebel, der von Anfang an Vorbehalte gegen 20

21

Vgl. Gerhard Kümmel, Freundin oder Feindin? Frauen als Soldatinnen der Bundeswehr. In: Entschieden für Frieden: 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005. Hrsg. von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack und Martin Rink, Freiburg i.Br. [u.a.] 2005, S. 483‑505; Gerhard Kümmel, Truppenbild mit Dame. Eine sozialwissenschaftliche Begleituntersuchung zur Integration von Frauen in die Bundeswehr (SOWIForschungsbericht, 82), Strausberg 2008; Gerhard Kümmel, Truppenbild ohne Dame? Eine sozialwissenschaftliche Begleituntersuchung zum aktuellen Stand der Integration von Frauen in die Bundeswehr (ZMSBw-Forschungsbericht, 106), Potsdam 2014. Nach Angaben der Bundeswehr (Stand: Mai 2020), »Wie viele Frauen dienen wo«? (letzter Zugriff 16.7.2020).

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weibliche Soldaten hat und sich darin schnell bestätigt fühlt. Anfangs sind die Soldatinnen optimistisch und erwartungsvoll. Doch die Stimmungslage der vier Neulinge ändert sich schnell. Nicht erwartet hatten sie die extreme körperliche Belastung, den Schlafmangel und die täglichen Strapazen beispielsweise beim Sport. Von ihnen wird ebenso wie von ihren männlichen Kollegen Leistung bis an das Limit gefordert. Die Soldatinnen fühlen sich bald überfordert und ungerecht behandelt, die männlichen Kameraden wollen keine Rücksicht nehmen. Die Ausbilder sind insgesamt nicht begeistert über diesen Jahrgang, der Engagement und Durchsetzungswillen vermissen lasse. Sie trauern den alten Zeiten nach, als es mit der Disziplin noch geklappt habe; zudem erscheint der Regisseurin das in der Truppe gelebte Traditionsverständnis noch starke Bezüge zur Wehrmacht aufzuweisen. Die evangelische Produktionsfirma Eikon Südwest schreibt dazu:

»Die Ausbilder hätten am liebsten eine Armee, wie sie früher war – mit richtigen Männern. Sie schimpfen auf die Rekrutierungsabteilung der Bundeswehr, die den Frauen bei der Bewerbung nicht sagt, was sie wirklich erwartet. Nach Tränen, Erschöpfung und Verzweiflung schaffen es schließlich zwei der vier Frauen. Eine ist verletzt und muss pausieren, die andere scheitert an der Rekrutenprüfung.«22

Der Film hatte Konsequenzen, da er mit seiner Darstellung von übermäßig hart erscheinender Ausbildung und Schikane so gar nicht dem Selbstbild der Bundeswehr entsprach. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages nahm in seinem Jahresbricht 2004 zu Feldtagebuch Stellung: »Der Film dokumentierte Fehlverhalten im Umgangston von Ausbildern und unangemessenes Führungsverhalten von Vorgesetzten. In zwei Fällen sind gerichtliche Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Der Sachverhalt wurde durch die betroffenen Truppenteile unter maßgeblicher Mitwirkung des Heeresführungskommandos eingehend in Einheitsführertagungen und in Offizier- und Unteroffizierweiterbildungen aufgearbeitet.«23

4. Therapie mit Hunden und Pferden Von den verschiedenen Auslandseinsätzen, die Gefechte und andere belastende Erlebnisse beinhalten, kommt eine vierstellige Zahl von Soldatinnen und Soldaten mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) nach Hause. Dies wurde bisher in einigen fiktionalen Produktionen thematisiert, aber auch im dokumentarischen Bereich. Ein sehr frühes Beispiel dafür ist die ARD-Produktion Sie finden keinen Frieden (2007) von Gesine Enwaldt und 22

23

Feldtagebuch, Dokumentation, 90 Minuten, Erstausstrahlung 2002, Produzent Ernst Ludwig Ganzert, Produktion Eikon Südwest GmbH (letzter Zugriff 15.4.2019). Deutscher Bundestag, Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten. Jahresbericht 2002 (44. Bericht) vom 11.3.2003, S. 11 (letzter Zugriff 15.12.2017).

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Achim Gutzeit. Anhand einiger Rückkehrer zeigen sie ohne Effekthascherei die Folgen der Einsätze:

»Da ist zum Beispiel Peter, ein stämmiger Kerl, den sie früher in der Truppe den ›Tiger von Kabul‹ genannt haben. In Afghanistan eskortierte er vor vier Jahren [am 7. Juni 2003] Kameraden zum Flughafen, dann raste ein Taxi samt Sprengstoffladung in den Bus. Vier Soldaten starben, 29 konnten aus dem glühenden Wrack befreit werden. Von dem Geruch, den Schreien und den Bildern konnte sich Peter bis heute nicht befreien. Jetzt hält ihn nur eine umfassende Medikation vom Schlimmsten ab. Job, Freunde und Familie – alles ist verloren gegangen. Lediglich seine Mutter ist ihm aus seinem alten Leben noch geblieben, aber sie hat zu Peter ebenfalls ein distanziertes Verhältnis und spricht traurig in die Kamera: ›Er ging als Sohn und kam als Fremder zurück.‹«24

Selbst wenn die Reportage nicht die Einsätze selbst infrage stellt, zeigt sie doch eindrücklich die möglichen Folgen einer solchen Konfrontation mit der Gewalt, die eine kriegerische Auseinandersetzung mit sich bringt und auf welche die Soldaten durch ihre Ausbildung eigentlich vorbereitet sein sollten. Hundesoldaten ist der Abschlussfilm von Lena Leonhardt an der Filmakademie Baden-Württemberg, der im März 2017 den Grimme Preis als Bester Dokumentarfilm gewann. Darin geht es um die Hundeschule der Bundeswehr. Hunde, die schon als Welpen an Gewehrfeuer gewöhnt werden, lernen im militärischen Dienst im Verbund von Mensch, Tier und Waffe zu agieren. Soldaten lernen, diese zu führen. Ein weiterer Aspekt ist der Einsatz von Hunden bei Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) am Beispiel eines Afghanistan-Veteranen. Leonhardt begleitete diese Prozesse mit der Kamera. Von der Geburt eines Wurfes bis zum Abschluss der Ausbildung der Hunde und ihrer Führer waren sie und ihr Team dabei. Hund und Hundeführer gehen eine spannende Beziehung ein. Denn im Dienst müssen sie perfekt funktionieren, in der Freizeit müssen sie »abschalten« können – beide. Ausgangspunkt war ein Zeitungsartikel über die Hundeschule der Bundeswehr, auf den Leonhardt bei ihrer Suche nach einem Thema für ihren Abschlussfilm stieß. Sie wollte erneut etwas zum Verhältnis von Mensch und Tier drehen, denn darauf hatte sie sich in ihren bisherigen Filmen konzentriert. Es folgte eine erste Kontaktaufnahme und viel Überzeugungsarbeit bei den zuständigen Stellen der Bundeswehr, bis die Dreharbeiten genehmigt wurden. Deren Forderung lautete: Es sollte auf keinen Fall ein neues Feldtagebuch entstehen. Wichtig war den Bundeswehrverantwortlichen besonders der Aspekt der PTBS-Therapie, der auch für die Hundeschule ein neues Aufgabenfeld darstellte. Daher nahmen sie auch Einfluss, wer dabei im Film präsentiert werden soll. Lena Leonhardt verbrachte zunächst ohne Kamera und ohne Team einige Zeit in der Kaserne, um die Strukturen kennenzulernen. Sie hatte Drill 24

Christian Buß, Bundeswehr-Doku in der ARD. Die Axt im Schädel. In: Spiegel Online, 3.5.2007 (letzter Zugriff 15.4.2019).

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bei der Ausbildung erwartet. Dass es dabei vor allem darum ging, eine enge Beziehung zwischen Hund und Hundeführer aufzubauen, hat sie überrascht. Diesen Doppelcharakter der Tiere als Dienst- und »Schmuse«hund wollte sie deshalb zum Thema machen, ebenfalls deren Funktion als Therapiehund. Im Prinzip war es Zufall, mit welcher Ausbildungsgruppe sie dann letztlich drehte und die sie ein Jahr lang begleitete. Bei den Recherchen hatte sie einige Soldaten kennengelernt, mit denen sie ungern hätte drehen wollen. Gern hätte sie Frauen in der Gruppe gehabt, was sich aber nicht ergeben hatte. Auch gab es keinen aktuellen Einsatz der ausgebildeten Hunde. In dem langen Vorspann zeigt Leonhardt die Geburt eines Wurfes und die erste Gewöhnung an Lärm, Schüsse und spezielle Aufgaben. Zunächst waren die begleiteten Soldaten skeptisch gegenüber dem Filmprojekt, doch durch die lange Anwesenheit des kleinen Teams (Regie, Kamera, Ton) öffneten sie sich zunehmend. Bei den Dreharbeiten durfte das Team den dienstlichen Ablauf nicht stören und sich vor allem nicht in die Kommunikation zwischen Hundeführer und Hund einmischen. Die Tiere sollten sich voll auf ihr Herrchen konzentrieren. Beim Schnitt des Films fiel die Entscheidung für den essayistischen, zum Teil philosophischen gesprochenen Kommentar, der die Filmbilder begleitet. Durch ihn konnte die Regisseurin das Geschehen in einen größeren Kontext einordnen, kritische Anmerkungen geben und Zusammenhänge herstellen, die sonst nur schwer verständlich gewesen wären. Ursprünglich hatte Leonhardt noch einen längeren historischen Exkurs zur Verwendung von Hunden beim Militär geplant, die eine lange Tradition hat. Archivaufnahmen zu finden war nicht das Problem, allerdings waren einige so teuer, dass sie doch nicht in den Film aufgenommen wurden. Hundesoldaten ist weit davon entfernt, ein Werbefilm für die Bundeswehr zu sein, wie ein Kritiker ihm beim DokFestival Leipzig vorwarf. Dazu zeigt er die Ausbildungssituation zu realistisch. Gerade deshalb war für das Filmteam die Abnahme in der Hundeschule selbst sehr spannend. Die Vorführung vor der Dienststellenleiterin und ihrem Stab verlief konzentriert und in absoluter Stille. Die beteiligten Militärs waren jedoch mit dem Film einverstanden. Mit einer besonderen Therapie von PTBS-Erkrankungen nach dem Auslandseinsatz beschäftigt sich auch der Dokumentarfilm Stiller Kamerad (2017) von Leonhard Hollmann, der an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf entstand.25 Aus jedem dieser Auslandseinsätze mit kriegsähnlichen Situationen kehren Soldaten nach Deutschland zurück, bei denen häufig erst nach einigen Jahren die Störung ihres seelischen Gleichgewichtes etwa in Form der PTBS festgestellt wird. Die Soldatinnen und Soldaten leiden unter Albträumen und dem Wiedererleben ihrer Einsätze. Die Therapien der psychomedizinischen Versorgung der Bundeswehr können dabei nicht jedem helfen. Dort, wo die Schulmedizin an ihre Grenzen kommt, setzt die Therapeutin Claudia Swierczek mit ihren Pferden an. In jahrelanger Arbeit hat sie eine 25

Weitere Informationen zum Film: (letzter Zugriff 15.4.2019).

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Therapiemethode entwickelt, die besondere Fähigkeiten von Pferden nutzt, um solchen Patienten zu helfen. Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms stehen zwei Soldaten und eine Soldatin, die durch die Pferde ihr Trauma allmählich überwinden. Dabei wirft der Film einen sehr persönlichen Blick auf die unterschiedlichen Charaktere mit ihren individuellen Erfahrungen. Die sensiblen Tiere führen dem Menschen unmittelbar seine Blockaden, Unsicherheiten und Ängste vor Augen. Angesprochen wird im Film ebenfalls, dass diese erfolgreiche Therapie von der Bundeswehr bisher nicht anerkannt und bezahlt wird. Eine andere Art der Bewältigung solch einschneidender Erlebnisse bei Auslandseinsätzen zeigt der Film Sandkastenkrieger (2008) von Arne Birkenstock und Katharina Knees. Sie begleiten drei Unteroffiziere, die sich in Hamburg in der Reichspräsident-Ebert-Kaserne in einer dreijährigen Umschulung zu staatlich anerkannten Erziehern für Einrichtungen außerhalb der Bundeswehr ausbilden lassen. Nach Einsätzen im Kosovo und in Afghanistan hat ihre Begeisterung für die Truppe merklich nachgelassen. Die Reportage zeigt, dass sie sich Drill und Gehorsam regelrecht abgewöhnen und den Umgang mit Kindern von Grund auf lernen müssen. Als Scharfschütze hatte einer der Unteroffiziere emotionslos agieren müssen, um das Geschehen des Kriegseinsatzes nicht an sich herankommen zu lassen. Nun muss er erst einmal lernen, Gefühle zuzulassen und zu zeigen. Als Erzieher in der offenen Jugendarbeit in einem sozialen Brennpunkt versucht er, die Jugendlichen an Disziplin heranzuführen; er sieht seinen Wirkungsbereich als potenzielles Kriegsgebiet. Als Reservist würde er für die Bundeswehr jederzeit wieder in den Einsatz gehen.

5. Aktuelle Einsätze Eine andere Perspektive auf den Einsatz in Afghanistan beleuchtet der mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilmregisseur Shaheen Dill-Riaz (Eisenfresser, Sand und Wasser) in seinem Film Schulter an Schulter (2012),26 bei dem er einen deutschen Hauptmann im Feldlager in Kunduz einem afghanischen Leutnant gegenüberstellt, der von den Deutschen ausgebildet wird. Jenseits der politischen und gesellschaftlichen Diskussionen über den Einsatz in Afghanistan und dessen Sinnhaftigkeit rückt der Regisseur zwei unmittelbar involvierte Menschen und ihre Familien in den Mittelpunkt. Er fragt sich, wie es sich anfühlt, als Soldat in einem Krisengebiet eingesetzt zu werden. Ihn interessieren die emotionalen Zustände und die Wahrnehmungen der Soldaten. Äußerst sensibel porträtiert Shaheen Dill-Riaz die beiden überzeugten Berufssoldaten, 26

Christoph Sydow, Afghanistan-Doku im ZDF. Wenn der Einsatz im Sand verläuft. In: Spiegel Online, 26.11.2012 (letzter Zugriff 15.4.2019).

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in die er sich nicht zuletzt deshalb gut hineinversetzen kann, weil er von seinen Eltern sechs Jahre auf eine Kadettenschule in Bangladesch geschickt worden war, um eine militärische Karriere einzuschlagen. Lediglich seine geringe Körpergröße hatte diese Pläne verhindert, worüber er im Nachhinein aber glücklich ist. Die Ehefrauen der beiden im Film gezeigten Soldaten eint, dass sie beide nicht begeistert sind über den Beruf ihrer Männer und ständig Angst haben, ob diese vom Einsatz lebend zurückkehren werden. Für den deutschen Hauptmann ist dies jedoch »das wahre Leben«. Dem Regisseur ist mit dieser Gegenüberstellung gelungen, einen großen und tiefgründigen Dokumentarfilm zu drehen. Die Bundeswehr habe den Filmemacher ohne besonderen Privilegien als Journalisten behandelt. Er hat Verständnis, dass er aus Sicherheitsbedenken nicht alles drehen konnte. Letztlich erhielt er jedoch einigen Freiraum für seine Dreharbeiten und konnte beispielsweise allein Soldaten begleiten. Dass dies keineswegs selbstverständlich ist, zeigte 2006 eine ministerielle Weisung zum restriktiven Umgang mit der Presse, die das Nachrichtenmagazin Der Spiegel entsprechend bissig kommentierte:

»Befremden herrscht im Isaf-Hauptquartier über die Anordnung von Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU), Parlamentariern und Journalisten den Besuch von deutschen Soldaten zu untersagen. Die Pressestelle organisiert aber weiterhin Besuche für deutsche Journalisten bei nicht-deutschen Einheiten. Jung hatte das Besuchsverbot mit Sicherheitsbedenken begründet.«27

Schon am zweiten Tag seiner ersten Recherchereise im April wurde Dill-Riaz mit den Realitäten in Afghanistan konfrontiert:

»Diese Reise fiel in eine Zeit, als zwei traurige Ereignisse in kurzer Folge geschahen. Am 2. April 2010 wurde ein Anschlag auf die deutschen Soldaten in Kundus verübt, bei dem drei von ihnen starben. Gut eine Woche später fand wieder ein Anschlag in Kundus statt, bei dem vier Menschen ums Leben kamen. Dies hat die Lage verschärft, die Leute waren nervös und eigentlich mit anderem beschäftigt, als mit einem Filmemacher offen darüber zu reden. Trotzdem hatte ich die volle Kooperation von Bundeswehrsoldaten und auch von der Führung und dem ganzen Verwaltungsapparat. Ich war in Mazar-i Scharif und habe hautnah erlebt, wie die Kameraden damit umgegangen sind, habe mit den Soldaten gesprochen.«28

Eine besondere Stärke des Films ist, dass die Position der Afghanen einen wichtigen Anteil im Film einnimmt. Die Bevölkerung bekundet konkrete Erwartungen an den ausländischen Militäreinsatz, die nicht immer erfüllt werden. Es fehlt dem Land an Infrastruktur und funktionierenden Institutionen wie der Polizei:

27

28

ISAF-Einsatz Afghanistan. Bundeswehr soll bald im gefährlichen Süden operieren. In: Spiegel Online, 28.8.2006 (letzter Zugriff 15.4.2019). Shaheen Dill-Riaz, Pressemappe: Schulter an Schulter, 24.10.2012 , S. 6 (letzter Zugriff 15.12.2017).

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»Hier treffen unterschiedliche Perspektiven aufeinander: Der afghanischen Bevölkerung bedeuten die großen politischen Zusammenhänge zunächst wenig. Ihr leuchtet nicht ein, warum überhaupt eine Polizeistation gebaut und mit Waffen bestückt werden soll, wenn die Polizisten ohnehin korrupt sind. Aus deutscher Sicht macht die Maßnahme schon Sinn, weil damit Infrastruktur geschaffen wird. Dass diese mit korrupten Leuten besetzt wird, ist ein ganz anderes Thema, das ist ja eine innenpolitische Angelegenheit. Die ganz einfachen Dorfbewohner können das nicht unterscheiden. Oft können sie zum Beispiel noch nicht einmal Polizist und Soldat unterscheiden: Da ist ein Mann mit Gewehr und der ist in der Lage, mich zu schützen. Hier ist ein Unrecht passiert, also warum tut er nichts? Wenn die Soldaten in so einem Fall nicht helfen, können die Einheimischen das nur schwer verarbeiten. Und wenn sie das wiederholt erleben, wächst Abneigung und die Überzeugung, dass die Anwesenheit der Ausländer sinnlos ist.«29

Nach Ansicht von Dill-Riaz ist sich sowohl die Bevölkerung als auch die International Security Assistance Force (ISAF) darüber bewusst, dass die Anwesenheit der ausländischen Soldaten den Zusammenbruch des Staates und den Ausbruch eines Bürgerkriegs verhindert haben. Mit den Konsequenzen des Abzugs der ISAF-Truppen im Sommer 2014 beschäftigt sich der vielfach ausgezeichnete ARD-Reporter Ashwin Raman in Das 13. Jahr. Der verlorene Krieg in Afghanistan (2015). Er kennt das Land sehr gut, das er seit 20 Jahren immer wieder besucht hat. Seine Kompetenz wird in seinem Kommentar deutlich und auch durch den Zugang, den er zur Zivilbevölkerung hat. In der Programmankündigung der ARD heißt es:

»Mehr als zwei Monate lang ist er hier unterwegs. Er trifft deutsche und amerikanische Einheiten beim Aufbruch in die Heimat; er besucht die Ausbildungslager der afghanischen Armee, auf der nun alle Hoffnungen auf Frieden und Sicherheit ruhen. Vor allem aber reist er auf eigene Faust durch das Land und dokumentiert den afghanischen Alltag. Er ist allein mit einer Kamera unterwegs. So gelingen ihm unmittelbare Einblicke in den Alltag der Menschen dort, der geprägt ist von Angst, denn noch nie war das Leben hier so unsicher wie heute. Täglich kommt es zu Anschlägen und Attentaten. Der islamistische Terror der Taliban ist zurückgekehrt. Der Krieg gegen den Terror, in dem mehr als 3000 alliierte Soldaten starben und mehr als 20 000 afghanische Zivilisten ihr Leben ließen, scheint gescheitert.«30

Es ist eine sehr persönliche Reportage mit einem durchgehenden Kommentar des Regisseurs, der interessante Einblicke in die afghanische Gesellschaft und in deren Alltag gibt. Christian Buß kommentierte im Spiegel:

»Der grüblerische, ältere Herr ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich allgemein unter einem Kriegsreporter vorstellt. Vielleicht hilft das, Kontakt zu den unterschiedlichsten am Konflikt beteiligten Personen herzustellen. Raman ist weniger an spektakulären Bildern interessiert, sondern an Menschen, die andere Berichterstatter in ihren Krisenberichten meist nicht auf dem Zettel haben.

29 30

Ebd., S. 10 f. Die Story im Ersten: Das 13. Jahr, Das Erste, 2.3.2015 (letzter Zugriff 15.4.2019).

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Etwa die vielen indischen Gastarbeiter, die beim Isaf-Einsatz am Hindukusch ihren Anteil hatten. Sie arbeiteten in der Küche oder in der Reinigung und waren, so heißt es im Film, ›die Schattenarmee der ausländischen Truppen‹. Internationale Konzerne, so Raman, verdienten Millionen mit dem Verleih solcher Billiglöhner, die sonst zum Beispiel in Dubai arbeiten.«31

Eine aktuelle Bestandsaufnahme der Situation der Bundeswehr liefert Stresstest für die Bundeswehr (2017) von Djamila Benkhelouf, die selbst zwei Jahre als deutsche Soldatin gedient hat, und Nino Seidel. Der Film zeigt die vielfachen Herausforderungen bei einem NATO-Manöver in Litauen und die UN-Mission im westafrikanischen Mali, wo die Bundeswehr zusammen mit niederländischen Soldaten im Einsatz ist. Der Film verdeutlicht, dass neben Auslandseinsätzen seit dem Jahr 2014 wieder die Aufgabe Landes- und Bündnisverteidigung im Fokus des medialen Interesses steht. Jahrelang wurde gespart, wurden erfahrene Soldaten aus der Armee verabschiedet. Nun müssen multinationale Zusammenarbeit trainiert und junge Soldaten ausgebildet werden. Die Marine versucht mit Schnuppertagen, Schülerinnen und Schüler für den Dienst bei der Bundeswehr zu begeistern. Seit 2013 sind knapp 900 Soldatinnen und Soldaten in Mali im Camp Castor im Einsatz, wo auch die Ursachen für die Flucht und Migration nach Europa vor Ort bekämpft werden sollen. Der Film spricht Materialmängel, Schwierigkeiten der Rekrutierung von Fachkräften ebenso wie rechtsradikale Tendenzen und Missbrauchsvorwürfe in der Armee offen an, die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen unter Zugzwang setzten. In der ARD-Ankündigung wird der Konflikt klar formuliert: »Die Ministerin attestierte der Truppe öffentlich ein Haltungsproblem. Differenzen zwischen Soldaten und oberster Führung sind plötzlich offen sichtbar – die Truppe ist von der mangelnden Rückendeckung ihrer Dienstherrin enttäuscht, das Verhältnis angespannt. Dabei müssen die politischen Verantwortlichen und die Bundeswehr gerade jetzt einig und eng zusammenstehen, wenn sie gegenwärtige Ziele und künftige Herausforderungen gemeinsam meistern wollen.«32

6. Fazit Die vorangegangene Untersuchung hat gezeigt, dass das Verhältnis der Bundeswehr zu Dokumentarfilmern nicht immer ganz einfach ist. Erstaunlicherweise gibt es bisher kaum Veröffentlichungen zur Bundeswehr 31

32

Christian Buß, Doku zur Bundeswehr in Afghanistan. Alles muss raus. In: Spiegel Online, 2.3.2015 (letzter Zugriff 15.4.2019). Die Story im Ersten: Stresstest für die Bundeswehr, Das Erste, 25.9.2017 (letzter Zugriff 15.4.2019).

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im Dokumentarfilm. Viele Studien beziehen sich allein auf fiktionale Stoffe, deren Produktion von der Bundeswehr oft unterstützt wird. Allerdings gibt es zahlreiche Reportagen und Dokumentarfilme, die sich mit dem Alltag bei der Bundeswehr beschäftigen. Auch sie werden häufig unterstützt von den Streitkräften, die allerdings versuchen, die Dreharbeiten zu kontrollieren und Einfluss darauf zu nehmen, was aufgenommen wird. Da sich Dreharbeiten im dokumentarischen Bereich oft über mehrere Wochen hinziehen und durch intensive Recherchen langfristig vorbereitet werden, entstand oft ein Vertrauensverhältnis, das beide Seiten achteten. Gleichwohl entsprachen einige filmische Darstellungen vom Alltag bei der Truppe nicht dem offiziellen Selbstbild der Bundeswehr. Daher haben solche Filme große Bedeutung für die Militärs und die Bevölkerung. Sie helfen, einen realistischen Eindruck von dieser besonderen beruflichen Situation zu bekommen und darauf zu reagieren. Dass sich die Rolle und Funktion der Bundeswehr nach der Wiedervereinigung fundamental gewandelt haben, ist unumstritten. Die Strukturen und Traditionen müssen sich in oft schwierigen Prozessen an die neuen Herausforderungen anpassen. In den zahlreichen Produktionen wurden diese grundlegenden Probleme und der Missmut der Soldaten dokumentiert, die sich von der Politik und der Gesellschaft oft nicht verstanden fühlen. Umso wichtiger ist es, den Zuschauerinnen und Zuschauern ein realistisches Bild von der Bundeswehr zu liefern. Probleme herunterzuspielen oder überhaupt nicht zu erwähnen, wie in den beiden von der Bundeswehr finanzierten Web-Serien Die Rekruten und Mali geschehen, kann keine Lösung sein. Schließlich warfen diese Produktionen keinen differenzierten Blick auf den Alltag in der Armee, sondern waren reine Werbefilme, um Nachwuchs für die Bundeswehr zu rekrutieren. Dieses Ziel scheinen sie erreicht zu haben. Ob sich die echten Rekruten bewähren, muss sich erst noch zeigen – im soldatischen Alltag und in der Praxis im Einsatz.

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Die Bundeswehr, das Fernsehen und der Krieg An zwei Dienstagen im Oktober 2013 zeigte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) zur besten Sendezeit eine zweiteilige Dokumentation Unser Krieg – Kampfeinsatz Afghanistan1. In dieser Dokumentation bekam der Zuschauer zum ersten Mal Bilder von den Kampfhandlungen der »Operation Halmazag«2 im November 2010 zu sehen. Derart eindrückliche Bilder eines Bundeswehreinsatzes waren so nie zuvor im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden. Die beiden Autoren, Michael Renz und Christian Deick, zeichneten die Geschichte des Einsatzes der deutschen International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan nach und zeigten auf, wie sich dieser immer mehr zum Kampfeinsatz entwickelte.3 Am Beispiel des deutschen Einsatzes in Afghanistan soll in diesem Beitrag das Verhältnis zwischen den Medien – insbesondere dem Fernsehen – und der Bundeswehr thematisiert werden.4 Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die Frage, was die Hauptnachrichtensendungen der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Deutschlands, der ARD und des ZDF, von der Arbeit und den Einsätzen der Bundeswehr zwischen 2010 und 2017 berichteten. Dabei werden drei Faktoren näher beleuchtet: erstens Tagesaktualität, zweitens Kriegs- und Krisenberichterstattung und drittens die Pressepolitik der Bundeswehr. Der erste Faktor bezieht sich auf das Kriterium der Tagesaktualität in den Fernsehredaktionen: Im Verlauf eines Nachrichtentages muss jede Redaktion 1 2

3

4

Michael Renz und Christian Deick, Unser Krieg. Kampfeinsatz in Afghanistan; ZDF 2013, Sendedatum 8. und 13. Oktober 2013. Siehe hierzu ausführlich Christian von Blumröder, Operation »Halmazag«. In: Feindkontakt. Gefechtsberichte aus Afghanistan. Hrsg. von Sascha Brinkmann, Joachim Hoppe und Wolfgang Schröder, 2. Aufl., Hamburg 2014, S. 75‑104; Johannes Clair, Vier Tage im November. Mein Kampfeinsatz in Afghanistan, Berlin 2014. Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF), Zu Guttenberg kritisiert deutsche Strategie in Afghanistan, zweiteilige ZDFzeit-Dokumentation »Unser Krieg« zieht Bilanz und deckt Geheimnis auf, Mainz 4.10.2013 (letzter Zugriff 5.1.2018). Zu den Beziehungen zwischen Bundeswehr und Medien siehe Martin Löffelholz, Claudia Auer und Kathrin Schleicher, Vorsichtige Annäherung. Die Beziehungen der Bundeswehr zu den Medien vom Ende des Kalten Krieges bis heute. In: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 70 (2011), 1, S. 69‑84; Philipp Fraund, »The Picture Survives«. Zur Geschichte der Kriegsberichterstattung. Korea – Vietnam – Afghanistan – Globaler Krieg gegen den Terror (Diss. Universität Konstanz), Konstanz 2009.

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Philipp Fraund

eine Auswahl an Themen treffen, die ihrer Meinung, Einschätzung und Erfahrung nach das Geschehen an diesem Tag am besten widerspiegeln. Hierbei dominieren in aller Regel innenpolitische Ereignisse, deren Auswirkungen für den Zuschauer unmittelbar zu spüren sind. In diesem innenpolitischen Kontext taucht die Bundeswehr nur dann in den Nachrichten auf, wenn beispielsweise über das Besuchsverbot deutscher Parlamentarier auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik und dessen Folgen zu berichten ist. So geriet die Bundeswehr zum Gegenstand der Berichterstattung, als die diversen Skandale rund um die Innere Führung oder die Gerichtsverhandlung um die Fehler des Sturmgewehrs G36 in den Nachrichten thematisiert wurden.5 Im ständigen Wettbewerb um die Aufmerksamkeit in den Redaktionen fallen außenpolitische Ereignisse, die nicht tagesaktuell sind, oftmals durch das Raster.6 Zu diesen zählen auch Auslandseinsätze der Bundeswehr. In aller Regel dauern sie lang und bieten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wenig tagesaktuellen Stoff zur Berichterstattung in den Medien. So erklärte beispielsweise der damalige Chefredakteur des amerikanischen Fernsehsenders CNN kurz nach den Ereignissen des 11. September 2001, dass ein Ereignis – für seinen Sender – nach zwei Wochen nur noch historischen Wert habe und damit für die Medien bereits uninteressant geworden sei.7 Der zweite Faktor betrifft den Umstand, dass die Berichterstattung aus Krisen- und Kriegsgebieten ein Unterfangen ist, das große Anstrengungen und auch Verantwortung für die Fernsehsender bedeuten. Die Entsendung von Reportern in Krisen- und Kriegsgebiete geht mit einem großen logistischen Aufwand einher. Die umfangreiche technische Ausrüstung muss zunächst an Ort und Stelle gebracht werden. Visabestimmungen sind im Vorfeld abzuklären und zu erfüllen, auch die Zollabfertigung kann mitunter lange dauern. Zum anderen sind umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen der entsendenden TV-Sender wie beispielsweise Versicherungen, Impfungen und Schutzausrüstung zu organisieren. Reporter, die heute aus einem Krisenoder Kriegsgebiet berichten, müssen zuerst ein sogenanntes Krisentraining

5

6 7

Vgl. Heckler & Koch gewinnt Prozess gegen Bundesregierung. Teasertext: Erfolg für Heckler & Koch: Der Waffenhersteller hat sich im Streit um das Sturmgewehr G36 gegen die Bundesregierung durchgesetzt. Ein Gericht wies die Forderungen nach Schadenersatz zurück. In: Spiegel Online, 2.9.2016 (letzter Zugriff 15.5.2018), ferner der Beitrag: Bitte nicht so viel schießen. Teasertext: Seit 15 Jahren ist das Gewehr G36 bei der Bundeswehr im Einsatz, nun stellt sich nach SPIEGELInformationen heraus: Die Waffe wird bei langen Gefechten zu heiß, die Präszision lässt dramatisch nach. Was sollen Soldaten im Kampf also tun? Die Gebrauchsanweisung gibt einen einfachen Tipp. In: Spiegel Online, 1.4.2012 (letzter Zugriff 15.5.2018). Siehe hierzu ausführlich Michael Segbers, Die Ware Nachricht. Wie Nachrichtenagenturen ticken, Konstanz 2007. Vgl. Michael Jeismann, 15 Tage. Ausschlußfrist: Wann darf die Geschichte beginnen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2001, S. 19.

Die Bundeswehr, das Fernsehen und der Krieg

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absolvieren. Nur wer im Besitz einer solchen Befähigung ist, kann überhaupt in diesen Gebieten eingesetzt werden.8 Um auf den harten und gefährlichen Alltag in Krisen- und Kriegsgebieten vorbereitet zu sein, lernen Journalisten, alle möglichen Situationen einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten. Mit wenigen Ausnahmen werden diese Schulungen von britischen und amerikanischen Firmen angeboten, bei denen ehemalige Kommandosoldaten ihr Wissen anbieten, wie beispielsweise die britische Firma AKE Group. Deren Kurs mit der treffenden Bezeichnung »Surviving Hostile Regions« steckt sich das Ziel

»to assist individual journalists and media teams to prepare for and manage risk whilst travelling to and working in complex and potentially hostile situations. The programme is delivered through a mixture of lectures, discussion groups, workshops and practical simulations and exercises to suit varied learning styles, with particular focus on preparation and planning, threat identification & risk mitigation strategies, self-sufficiency, situational awareness and trauma management.«9

Solche Schulungen vermitteln zwar das Grundwissen, um in Krisen- und Kriegsgebieten einigermaßen sicher auftreten zu können, sie sind aber noch lange keine Gewähr für eine sichere Arbeit vor Ort. Auch die Bundeswehr bietet in Zusammenarbeit mit der Medienakademie von ARD und ZDF solche Lehrgänge an. Im Unterschied zu den Seminaren der großen kommerziellen Anbieter setzt die Medienakademie bei ihren Kursen erfahrene Journalisten als Trainer ein.10 Diesen Veranstaltungen, die im Vereinte Nationen Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg stattfinden, liegt ein viel umfangreicheres Curriculum zugrunde: »Der Einsatz in Krisen- und Kriegsgebieten gehört gegebenenfalls zur festen Aufgabe von Auslandskorrespondent/-innen. Dafür sind jedoch eine gute Vorbereitung und ausreichend Kenntnisse über die Besonderheiten des Einsatzes Voraussetzung. Neben der handwerklichen Kompetenz als Berichterstatter sind unter anderem das Ergreifen von Selbstschutz-Maßnahmen, die Reflexion der besonderen Ausnahmesituation sowie basale Kenntnisse militärischer Fachtermini erforderlich. Im ›Vereinte Nationen Ausbildungszentrum‹ der Bundeswehr lernen Sie das Verhalten bei Situationen in Krisen- und Kriegsgebieten. Dabei geht es ebenso um konkrete Tipps und Verhaltensregeln wie um Fragen der Qualität von Berichterstattung in Zeiten einer zunehmenden Instrumentalisierung der Medien.«11

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Vgl. Safety Guide for Journalists. A Handbook for Reporters in High-Risk Enviroments. Hrsg. von Reports Without Borders/International Secretariat, Paris 2018 (letzter Zugriff 5.1.2018). AKE International Training, AKE’s award winning training services set the benchmark for travel safety, medical and hostile environment training (letzter Zugriff 20.12.2017). Stefan J. Pauli, ARD.ZDF medienakademie (letzter Zugriff 20.12.2017). ARD.ZDF medienakademie: Vorbereitungskurs Krisen- und Kriegsberichterstattung (letzter Zugriff 20.12.2017). Vgl. o.V., Zurück vom Krieg. In: Die Zeit, Januar 1996 (letzter Zugriff 20.12.2017); Elke Michel, Die Angst lässt einen nie los. Von Sarajevo nach Ramallah. Wie sich eine Fernseh-Reporterin dem Krieg annäherte. In: Die Zeit, 5.7.2001 (letzter Zugriff 5.1.2018). Vgl. o.V.: Zurück vom Krieg (wie Anm. 12); Michel, Die Angst (wie Anm. 12); Peter Miroschnikoff, Die beste Lebensversicherung ist Teamwork. Aus 30 Jahren Krisen- und Kriegsberichterstattung. In: Deutsche Welle, »Sagt die Wahrheit: die bringen uns um!«. Krisen- und Kriegsberichterstattung: zur Rolle der Medien in Krisen und Kriegen, Berlin 2001, S. 37‑46; Malcom W. Browne, PBS 2018. Saigon AP Bureau Handbook

(letzter Zugriff 5.1.2018); Malcom W. Browne, Paddy War. Guerilla War in the Mekong Delta, December 1961. In: Reporting Vietnam. American Journalism 1959‑1975. Hrsg. von Milton J. Bates, New York 2000, S. 3‑10. Arthur A. Humphries, Two Routes to the Wrong Destination. Public Affairs in the South Atlantic War. In: Naval War College Review, 36 (1993), 3, S. 56‑71, hier S. 71. Siehe auch Phillip Knightley, The First Casualty. From the Crimea to Vietnam. The War Correspondent as Hero, Propagandist, and Myth Maker, London [u.a.] 1982, S. 368.

Die Bundeswehr, das Fernsehen und der Krieg

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gefragt, um sich rückzuversichern.15 Die Einhaltung des Dienstweges führt dazu, dass bis zur Beantwortung einer Anfrage viel Zeit verstreicht. Dies hat zur Konsequenz, dass die Bundeswehr oftmals auf Ereignisse nur noch reagieren kann und als von der Presse getrieben dasteht. Wenn aber die Bundeswehr kaum eine Chance hat, die Art und Weise, wie über ein Thema berichtet wird, mitzubestimmen, dann bleibt ihr aus dieser Position heraus kaum eine Möglichkeit mehr, eine aktive Pressepolitik zu betreiben. Die Bundeswehr stellt im Internet ein umfangreiches Verzeichnis all ihrer Pressestellen zur Verfügung.16 Auf 25 Seiten nennt dieses Dokument die Verantwortlichen für die Presse- und Informationsarbeit jeder einzelnen Dienstelle. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit diese Form der bürokratisch verregelten Transparenz wirklich zur effizienten Beantwortung von Presseanfragen beitragen kann oder eher ein Teil des Problems ist. Die eingangs skizzierten drei Faktoren bestimmen das Verhältnis zwischen Medien und Bundeswehr. Anhand des Beispiels des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr sollen nun diese drei Faktoren näher beleuchtet und kritisch hinterfragt werden. Erstens, die Berichterstattung über Afghanistan in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF gestaltete sich sehr einseitig. In den 13 Jahren des deutschen ISAF-Einsatzes am Hindukusch von 2002 bis 2014 berichtete das deutsche Fernsehen nur dann zu diesem Thema, wenn die Verlängerung des Afghanistan-Mandats anstand, diverse Minister sich ein Bild der Lage vor Ort machten oder wenn der schlimmste aller denkbaren Fälle – der Tod von Soldaten – zu vermelden war. Dieses geringe mediale Echo kann auf den Umstand zurückgeführt werden, dass generell innenpolitische Themen die tagesaktuelle Medienlandschaft bestimmen. Im Bereich der Außenpolitik tritt die Konkurrenz der tagesaktuellen Themen noch einmal verschärft hervor, da hier Ereignisse aus der ganzen Welt um den knappen Sendeplatz buhlen. Fragen der Sicherheitspolitik im Allgemeinen und der deutsche Afghanistaneinsatz im Speziellen werden in Fernsehbeiträgen zumeist außerhalb der sogenannten Prime Time, ab 23:30 Uhr, gezeigt. Dieser Umstand erklärt sich mit der eher unterentwickelten öffentlichen Debatte über den Einsatz in Afghanistan. Hierbei ist eine Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung17 und veröffentlichter Meinung zu konstatieren. Die deutsche Politik tut sich offenkundig mit der Legitimation des deutschen Einsatzes schwer. Deshalb scheut sie eine öffentliche Debatte. Dieser Eindruck spiegelt sich in den Reihen der Bundeswehr wider: Das Ziel sei »eigentlich immer darauf gerichtet gewesen, im Inland möglichst wenig zu berichten über 15 16

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Vgl. Löffelholz [u.a.], Vorsichtige Annäherung (wie Anm. 4), S. 79‑83. Zum Zeitpunkt der Recherche verfügbar: Adress- und Telefonverzeichnis Informationsarbeit des Bundesministeriums der Verteidigung und der Bundeswehr. Hrsg. vom Presse- und Informationsstab des BMVg, Presselagezentrum, Stand: 15.8.2016