Einführung in die Philosophie: Mit einem Anhang von Aloys Wenzl [2 ed.] 9783428400713, 9783428000715

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Einführung in die Philosophie: Mit einem Anhang von Aloys Wenzl [2 ed.]
 9783428400713, 9783428000715

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Einführung in die Philosophie

Von

Erich Becher

Duncker & Humblot . Berlin

Erich

Becher

Einführung i n die Philosophie

Einführung in die Philosophie Von

Dr. E r i c h Becher f o. Professor der Philosophie an der U n i v e r s i t ä t M ü n c h e n

Zweite Auflage m i t einem Anhang von

Dr. A . W e n z l o. Professor der P h i l o s o p h i e an der U n i v e r s i t ä t M ü n c h e n

BERLIN VERLAG

UND

M Ü N C H E N

VON DUNGKER

&

/

1949

H U M B L O T

A l l e

R e c h t e

v o r b e h a l t e n

Copyright by Duncker & H u m b l o t , Berlin und München 1949. Β 234 I S B , Berlin Satz und D r u c k der T i t e l e i und des Anhanges : Carl Gerber, München Unveränderter Nachdruck des Textes : Omnitypie-Gesellschaft, Stuttgart

V o r w o r t zur ersten Auflage. Die vorliegende Einführung entwickelt zunächst die Aufgabe der Philosophie und das System der Teilaufgaben, die aus ihr erwachsen. Sie versucht jedoch nicht, alle die philosophischen Teilwissenschaften zu behandeln, die auf die Lösung dieser Teilaufgaben abzielen; sie beschränkt sich darauf, die Erkenntnistheorie als grundlegende und die Metaphysik als zentrale Disziplin der Philosophie zu bearbeiten. So w i l l sie gleichsam bis zur M i t t e des weiten Reiches der Philosophie führen und dabei die Fülle der Teilgebiete und -probleme nach allen Seiten sichtbar werden lassen. Wenn der Leser ein Werk sucht, das durch alle diese Teilgebiete hindurchführt, so mag er zu dem Bande des von Max Dessoir herausgegebenen Lehrbuchs der Philosophie greifen, der den T i t e l : „Die Philosophie in ihren Einzelgebieten" (Berlin 1925) trägt. I n diesem Bande hat der Unterzeichnete der Erkenntnistheorie und Metaphysik eine der hier vorliegenden entsprechende, aber viel kürzere Darstellung gewidmet. Erich

Becher.

V o r w o r t zur zweiten Auflage. Erich Becher verlangt für die philosophische Gedankenführung und Darstellung Klarheit und Schlichtheit. Seine „Einführung in die Philosophie" besitzt diese Vorzüge i n so hohem Maße, daß allein sie schon die Neuauflage rechtfertigen dürften. Das Buch soll zum Gedächtnis der 20. Wiederkehr des Todestages seines "V erf assers erscheinen. A u d i die Forschungswege, die Erich Becher ging, waren klar und streng umrissen. Bei aller Anerkennung des Wertes einer höheren A r t der Wahrnehmung, der I n t u i t i o n und der aprioristischen Methode, die auf erfahrungsfreien Wegen zu den stolzen Gedankenbauten des deutschen Idealismus führte, wie sie Fichte, Schelling

und Hegel

errichteten,

schlägt er andere Pfade ein

Schon als junger Student sieht er, wie sich der Idealismus über den extremen Pessimismus Schopenhauers h i n i n müde buddhistische

Resignation verirrt

und i n die gefährliche

Erschütterung

des Wertbewußtseins bei Nietzsche. Still, wie besonnene Werkleute, geht er darum von der schlichten Wahrnehmung aus und gelangt zu der empirisch induktiven Methode, die einst im 13. Jahrhundert von Roger Bacon,

dem „doctor mirabilis" der Hoch-

scholastik, für die Naturwissenschaften gefordert und um 1600 von Francis Bacon erneuert wurde, um die Vorurteile aus dem Wege zu räumen, die damals herrschten. Vor

allem aber ist Erich

Bechers

Forschungsweg

richtung-

gebend, weil er unbestechliche Wahrheitsliebe m i t einem unbeirrbaren Ethos verbindet. Wenn Thomas Hobbes, Bacons jüngerer Landsmann, bei der Anwendung dieser Forschungsmethode auf den Menschen zu einem krassen Naturalismus und der Über-

Vorwort zur zweiten Auflage.

VII

zeugung gelangt, daß der natürliche

Selbsterhaltungstrieb

Menschen

„bellum

immer

wieder

zu

einem

omnium

des

contra

omnes" führen müsse, so bringt Erich Becher durch sein ganzes Sein und Schaffen den Beweis dafür, wie von denselben Forschungsgrundlagen

und

derselben

Forschungsweise

aus

diver-

gierende Linien verlaufen können. Er gehört i n die Reihe der Metaphysiker, die, wie Aristoteles

auf die

Gesamtwirklichkeit

gerichtet, von Bacons Methode ausgehend, den Versuch machen, dio menschliche Wissenschaft und ihre praktische Auswertung für die Gemeinschaft der Menschen untereinander von unten her zu untermauern und audi den festen Grund der

experimentellen

Beobachtung zu stellen, die im Sinne Newtons zu einer Erweiterung der menschlichen Erfahrung führt. I n Deutschland hat dieser kritische Realismus, der, metaphysisch gesprochen, Erich Becher zu einem Stufenbau der Welt, i n dem eine stoffliche, vitale und psychische Schicht sich überlagern und der schließlich zu einem psychistischen Seinsbegriff für die Gesamtwirklichkeit führte, mit Fechner und Lotze begonnen. Er wurde von Denkern wie Wundt, Külpe, Driesch, Brentano, her, Dyroff,

Baeum-

Geyser und anderen bis in die Gegenwart fortgesetzt.

Sie errichten auf dem Fundament des vom Menschengeist erarbeiteten Wissens keine Turmbauten zu Babel, sondern bescheidene Häuser nach den Maßen des Goldenen Schnittes, wie es einst Thomas von Aquin getan hat. Sie wissen, daß selbst aus den Fenstern des obersten Stockwerkes dieser Häuser kein sicheres Erkennen der metaphysischen Fernen und Weiten möglich ist, daß aber der ahnende Ausbiidt auf die fernleuchtenden Brücken, die ins Land des Geistes — die bessere Welt — führen, für uns Menschen schon Seligkeit bedeutet. Sie wissen auch, daß der vermessenen Unphilosophie, ihrem seelenlosen Mechanismus und unbegrenzten Machtstreben, ihrer nihilistischen Metaphysiklosigkeit — wie sie gerade i n der unlängst verflossenen Zeit, die ihr Reich nur auf dieser Welt suchte, in Deutschland so verhängnisvoll erstarkte — so wenig m i t der leicht abirrenden Waffe phantastischer Wunschbilder zu begegnen

VIII

Vorwort zur zweiten Auflage.

ist wie m i t der Gewaltlösung neuer Kriege, sondern nur m i t der heiligernsten Erziehungsarbeit des leidgestählten Weisen, für den das Glück darin besteht, wertvolle Geistesinhalte i n der Welt zu mehren. E i n solcher Erzieher war Erich Becher. Metaphysiker wie er und Aloys Wenzl, der einst sein Schüler war und ihm nach dem Kriege auf seinem Lehrstuhl i n München folgte, weisen ernsten Wahrheitssuchern i n diesem Buche einen begrenzten, aber festgefügten Ordnungsplan des Denkens und ein i n seiner Zielsetzung auf die Ewigkeit h i n orientiertes Ideal; für Erich Becher war die Gesinnung der Caritas sapientis des Christenmenschen oberstes Ziel der Menschenerziehung. — Darum kann sein Werk auch heute noch zum „Wegbahner" religiöser Überzeugungen werden. Dr. Hedwig Münster, Westf., 5. Januar 1949.

Becher.

Inhaltsverzeichnis. Einleitung. Aufgabe

und

Einteilung

der

Seite

Philosophie

1

Hauptziele der Philosophie 1 Philosophie und Religion 2 Gefährdung des philosophischen Erkenntnisstrebens durch Gefühle und Wünsche 4 Bedeutung der Klarheit und Schlichtheit der Gedankenführung und Darstellung für die Philosophie 6 Forderung der Strenge des philosophischen Denkens 7 Außerwissenschaftliche und wissenschaftliche Philosophie. Aufgabe der Philosophie 8 Einteilung der Philosophie 11 Philosophie und Psychologie 17 Plan unserer Einführung in die Philosophie 21

Erkenntnistheorie. Aufgabe

der

Erkenntnistheorie

23

Geschichtliches 23 Erkenntnispsychologie und Erkenntnistheorie 28 Wirklicher Erkenntnisvorgang und logischer Erkenntnisgehalt . . . . 32 Fundamentalfrage der Wissenschaftslehre; Wahrheitstheorie 35 Hauptaufgabe der Wissenschaftslehre 35 Hauptaufgabe der Logik 37 Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie 38 Nebenaufgaben der Erkenntnistheorie 43 W a h r h e i t s t h e o r i e . V o m W e s e n d e r W a h r h e i t u n d E r k e n n t n i s 46 Der logische Urteilsgehalt als Träger der Wahrheit Wesen der Erkenntnis und des Wissens. „Wahrheiten" Außerwissenschaftliche oder realistische Wahrheitsauffassung . . . . Real- und Idealgegenstände, Real- und Idealurteile, Real- und Idealwissenschaften Objektivistische Wahrheitsauffassung Bestandteile des logischen Urteilsgehaltes. Der logische Begriffsgehalt . Abgeleitete Eigenschaften der Wahrheit und der Falschheit Der Subjektsgegenstand als Richtschnur des Urteils Rolle des Subjektsgegenstandes bei Idealurteilen

46 48 49 50 56 60 62 66 67

Inhaltsverzeichnis. Seite

Die letzten rung oder

Erkenntnisgrundlagen Rechtfertigung

und

ihre

Siche-

A. Die gesicherten letzten Erkenntnisgrundlagen Erste Klasse der gesicherten Erkenntnisgrundlagen: Die schlichten Wahrnehmungsurteile Möglichkeit von gesicherter Erkenntnis Grenzen der schlichten Wahrnehmungserkenntnis. Unentbehrlichkeit weiterer Erkenntnisgrundlagen Die Soseinswahrnehmung oder Wesensschau Zweite Klasse der gesicherten Erkenntnisgrundlagen: Die analytischen Urteile Dritte Klasse der gesicherten Erkenntnisgrundlagen: An Hand der Soseinswahrnehmung gesicherte synthetische Idealurteile, die Beziehungen zwischen Soseinsobjekten feststellen Erweiterung der dritten Klasse der Erkenntnisgrundlagen. Bedeutung derselben. Anwendung auf Realgegenstände Zweite Erweiterung der dritten Klasse der Erkenntnisgrundlagen. Synthetische Idealurteile, die an zusammengesetztem Sosein Gestalten feststellen Apriorität der Erkenntnisgrundlagen der dritten Klasse? . . . . Unmittelbare Evidenz und unmittelbare Denknotwendigkeit als Wahrheitskriterien. Unmittelbar evidente Notwendigkeit . . . . Gibt es noch andere gesicherte Erkenntnisgrundlagen? Intuitive Erkenntnis des Göttlichen?

69 69 69 73 73 75 77

82 86

92 94 95 99

B. Die nicht-sicherbaren letzten Grundlagen der Realerkenntnis . . . 102 Unentbehrlichkeit weiterer Grundlagen für unsere Realerkenntnis . 102 Die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens als unentbehrliche, nicht-sicherbare Erkenntnisgrundlage 104 Die Regelmäßigkeitsvoraussetjung als unentbehrliche, nicht-sicherbare Erkenntnisgrundlage 109 Die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung 113 „Apriorität" der Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens und der Regelmäßigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit des Wirklichen . . . 116 Die z u r ü c k f ü h r b a r e n E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n und ihre Sicherung 118 Der Begriff der Kausalität und das Kausalprinzip 118 Die Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit einer Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins. Naiver und physikalischer Realismus 125 K r i t i k des physikalischen Realismus. Phänomenalismus, Konszientialismus, Solipsismus und Gegenwartssolipsismus 129 K r i t i k des Gegenwartssolipsismus, des Solipsismus und des Konszientialismus. Rechtfertigung der Annahme transzendenter Realobjekte . 132 K r i t i k des Phänomenalismus. Möglichkeit einer Erkenntnis der Außenwelt-an-sich 137 Leistungen des naiven und des physikalischen Realismus 139 Läuterung des naiven Realismus 141 Läuterung des physikalischen Realismus. Der kritische Realismus . . 144 Umfang und Grenzen der kritisch-realistischen Außenweltserkenntnis; formaler Charakter derselben 150 Kritisch-realistische und dynamistische Auffassung der Außenwelt . . 152 Die Voraussetzung der Existenz unc( Erkennbarkeit von Fremdseelischem 153

Inhaltsverzeichnis.

XI

Metaphysik. ^

Aufgabe

und

Methode

der

J

Seite

Metaphysik

160

Aufgabe der Metaphysik. I h r Verhältnis zu den Einzelrealwiseenschaften 160 Zusammenhang der Metaphysik mit der Erkenntnistheorie 164 Verhältnis von Metaphysik und Religion 164 Methode der Metaphysik 165 Das B a u m a t e r i a l

der

Welt

175

Der Materialismus K r i t i k des Materialismus Der Spiritualismus oder psychistische Monismus Der Dualismus. Der psychistische Dualismus Der psychistische Monismus im strengeren Sinne oder die psychistische Identitätshypothese K r i t i k der psychistischen Identitätshypothese. Rückkehr zum Dualismus Der

Zusammenhang

von

Seele

und M a t e r i e - a n - s i c h

unbewußten

190 193

. 200

Wechselwirkungshypothese und partieller Parallelismus K r i t i k des partiellen und Begründung des universellen Parallelismus . K r i t i k des universellen dualistischen Parallelismus Der parallelistische Zwei-Seiten-Monismus Der psychistisch-parallelistische Monismus oder die psychistische Identitätshypothese Rückkehr zur Wechselwirkungshypothese; Forträumung von Einwänden Vulgäre Form der Wechselwiikungshypothese Verbesserte Form der Wechselwirkungshypothese. Die Doppeleffektund Doppelursachenhypothese Weitere Ausgestaltung der Wechselwirkungshypothese. Die Führungshypothese (Führerrolle des Seelischen im Großhirn) Vom

175 177 182 187

Seelischen

200 206 211 213 215 217 220 222 225 232

Begriff und Annahme eines unbewußten Seelischen. Unbewußte geistige Arbeit 232 Die unbewußt-seelischen Gedächtnisspuren. Physiologische und psychistische Gedächtnishypothese 235 Das unbewußte Seelische als breite, beharrende Grundlage unseres Bewußtseins 242 Das S e e l i s c h e

als G r u n d f a k t o r

alles

Lebens

Die Beseelung aller Lebewesen und aller ihrer Organe und Zellen. Die unbewußte Beseelung unseres Leibes Das Seelische als Grundfaktor des Lebens. Der Psychovitalismus . . . Die organische Zweckmäßigkeit und die Darwinsche Selektionshypothese Die organische Zweckmäßigkeit und das Lamarcksche Prinzip der W i r kung von Gebrauch und Nichtgebrauch Die organische Zweckmäßigkeit und das Ausnutzungsprinzip . . . . Die organische Zweckmäßigkeit und die transzendent-psychistische, theistische Teleologie Die organische Zweckmäßigkeit und die immanent-psychistische, psychovitalistische Teleologie Innerer Ausbau der immanent-psychistischen Zweckmäßigkeitserklärung. Die Probier-Lern-Hypothese und der Psycholamarckiemus

245 245 249 254 260 262 263 269 271

Inhaltsverzeichnis. Seite

Ergänzung der nur primitives Seelisches voraussetzenden Probier-LernHypothese durch Annahme unbewußter Intelligenz 278 Das

ü b e r i n d i v i d il e i l e

Seelische

283

Die fremddienliche Zweckmäßigkeit Das Zustandekommen der fremddienlichen Zweckmäßigkeit. Unzulänglichkeit mechanistischer Erklärungsversuche Psychistische Erklärung der Entstehung des Fremddienlich-Zweckmäßigen. Die Hypothese eines überindividuellen Seelischen Verbindung des immanent-psychistischen Vitalismus mit der Hypothese eines überindividuellen Seelischen Die Stufenordnung der seelischen Faktoren. Psychistisch-vitalistischer Dynamismus Literaturverzeichnis

283 289 296 300 302 306

Anhang. V o r w o r t z u m A n h a n g Zur

313

Wissenschaftslehre

315

Psychologie und Philosophie Existentialphilosophie Zur Wahrheitstheorie

315 316 318

Zur Erkenntnistheorie Das Kausalprinzip Realismus Das Zeitproblem

319 319 320 321

Zur Metaphysik Aufgabe und Methode Die organische Zweckmäßigkeit — Vitalismus und Darwinismus Materialismus und Spiritualismus

322 322 323 326

. . . .

N e u e r e (nach 1926 erschienene) L i t e r a t u r

328

Zeittafel

329

Einleitung. Aufgabe und Einteilung der Philosophie. Hauptziele der Philosophie. Mit dem Worte Philosophie ist eine reiche Fülle und Mannigfaltigkeit

geistiger

Bestrebungen

und

Schöpfungen

bezeichnet

worden. Bei den alten Griechen bedeutete Philosophie zunächst das Streben nach Wissenschaft, Bildung und Weisheit, das von der Vernunft geleitete Erstreben von Tugend und Glück; aber auch Ergebnisse jenes Strebens: Wissenschaft, Weltanschauung und Lebensweisheit, wurden Philosophie genannt. Die Hauptziele des griechischen Philosophierens waren W e l t a n s c h a u u n g ,

also einheitlich-

übersichtliche Erkenntnis der Gesamtwirklichkeit, und L e b e n s a u f fassung,

d. h. Beantwortung der Fragen, wie das menschliche

Leben und das, was uns- i m Leben begegnet, zu bewerten, und wie unser Lebenslauf, unser Handeln glücklich, schön oder tugendhaft, kurz wertvoll zu gestalten sei. Die Unzulänglichkeiten der Weltanschauungs-Systeme, die Widersprüche zwischen ihnen drängten ferner zur Untersuchung der Frage, ob unser Erkennen befähigt sei, zu einer feststehenden Weltanschauung zu gelangen. Und diese Frage führte zu den allgemeinen Problemen, ob überhaupt echte Erkenntnis und Wissenschaft möglich seien, wie sie möglich seien, und bis zu welchen Grenzen sie möglich seien. Damit war schon dem griechischen Philosophieren eine weitere wichtige Aufgabe, die der W r i s s e n s c h a f t s l e h r e , der E r k e n n t n i s t h e o r i e und L o g i k , gestellt. W i r gebrauchen das W o r t Philosophie nicht mehr in so weitem Sinne wie die alten Griechen; wir bezeichnen mit i h m nicht mehr das Streben nach Bildung oder die Wissenschaft schlechthin. Aus der Philosophie, die ursprünglich allé wissenschaftliche Erkenntnis in sich schloß, sind die ältesten mathematischen, Natur- und Geisteswissenschaften herausgewachsen. Sie haben sich fast alle von ihr B e c h e r , Einführung in die Philosophie.

1

Einleitung.

2

abgetrennt, und neben ihnen sind neue Einzelwissenschaften in großer Zahl unabhängig von der Philosophie entstanden. Die Hauptziele des griechischen Philosophierens sind jedoch in den

Jahrtausenden

der Philosophiegeschichte vorherrschend

ge-

blieben. Immer wieder strebte das philosophische Denken in der Metaphysik

nach W e l t a n s c h a u u n g ,

samtwirklichen, in W e r t t h e o r i e

nach Erkenntnis des Ge-

u n d E t h i k nach L e b e n s a u f -

f a s s u n g , nach Erkenntnis des wahrhaft Wertvollen und Schlechten, die uns zu wertvoller Lebensgestaltung anleiten kann; und immer wieder führten die Schwierigkeiten und Fehlschläge der metaphysischen Bemühungen zu den Problemen der W i s s e n s c h a f t s l e h r e , der E r k e n n t n i s t h e o r i e u n d L o g i k , zu den Fragen, ob und wie und inwieweit Erkenntnis möglich ist. Führt die Wissenschaftslehre zu dem Ergebnis, daß Erkenntnis des Gesamtwirklichen nicht möglich ist, so haben wir auf diese, auf Metaphysik, zu verzichten. Nicht wenige Philosophen, z. B. die sogenannten Positivisten, haben diesen Verzicht auf Metaphysik auf Grund erkenntnistheoretischer Überlegungen gefordert.

Somit erscheint es angebracht, die Wissen-

schaftslehre vor der Metaphysik zu behandeln; jene beantwortet die Vorfrage, ob metaphysische Erkenntnis möglich ist, indem sie allgemein untersucht, ob und wie und inwieweit Erkenntnis möglich ist.

Philosophie und Religion. Weltanschauung und Lebensauffassung sind also von alters her Hauptziele der Philosophie. Doch dürfen

w i r keineswegs Welt-

anschauung und Lebensauffassung ohne weiteres mit Philosophie identifizieren. Es gibt j a auch r e l i g i ö s e Weltanschauungen

und

Lebensauffassungen, und diese unterscheiden sich in typischen, wenn auch nicht in allen Fällen sehr deutlich von den philosophischen. Das unterscheidende Merkmal liegt offenbar in den seelischen Quellen, aus denen die Weltanschauungen und Lebensauffassungen

ent-

springen, in den geistigen Grundlagen, auf die sie sich stützen. Die Philosophie

erwächst

aus

dem

natürlichen

Erkenntnisver-

m ö g e n ; sie stützt sich auf die n a t ü r l i c h e E r f a h r u n g und V e r n u n f t . Religiöse Weltanschauung und Lebensauffassung aber beruhen nicht allein und meist nicht in erster Linie auf dem natür-

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

liehen

Erkennen,

sondern

auf

Gefühl,

Glaube und A u t o r i t ä t s e i n f l u ß ;

Gemütsbedürf

3

Iiis,

Religionen stützen sich viel-

fach auf ü b e r n a t ü r l i c h e E r f a h r u n g u n d O f f e n b a r u n g . Dieser Unterschied der Grundlagen

verleiht

den philosophischen Über-

zeugungen ein anderes, m e h r i n t e l l e k t u e l l e s G e p r ä g e als den religiösen. Er bleibt anzuerkennen, wenn auch hinzugefügt werden muß, daß viele Philosophien eine religiöse Färbung aufweisen und andererseits religiöse Weltanschauungen

und Lebensauffassungen

nicht selten mehr oder weniger philosophischen Charakter annehmen. Es sind eben Zwischenformen zwischen Philosophie und Religion möglich, weil natürliches Erkenntnisvermögen und religiöser Glaube und Gefühl sich als Quellen und Grundlagen von Welt- und Lebensauffassungen verbinden lassen. Inhaltlich können religiöse und philosophische Weltanschauung und Lebensauffassung ganz oder teilweise übereinstimmen oder auch in scharfem Widerstreit stehen. Manchmal sind aus solchem Widerstreit fanatische

Feindschaft

und grausame Verfolgung hervor-

gegangen. Andererseits begegnet uns in der Philosophiegeschichte immer wieder das Bestreben, Religion und Philosophie in Harmonie zu bringen. I n der P a t r i s t i k und der c h r i s t l i c h e n S c h o l a s t i k ordnet sich die Philosophie der religiösen, kirchlichen Weltund Lebensauffassung als Dienerin unter; sie trachtet danach, einen Teil des religiösen Glaubensinhaltes m i t dem natürlichen Erkenntnisvermögen, dem „lumen naturale", zu erfassen. Aber auch die n e u z e i t l i c h e n , von der kirchlichen Autorität sich frei fühlenden Philosophen haben sich bis auf unsere Tage zumeist stark bemüht, ihre Lehren mit dem religiösen Bewußtsein in Einklang zu bringen. Sie haben versucht, die ihnen als wesentlich erscheinenden religiösen Grundüberzeugungen, z. B. den Gottes- oder den Unsterblichkeitsglauben, durch natürliche Erfahrung oder Vernunft sicherzustellen; sie haben auch manchmal religiöse Glaubenssätze i m Sinne ihrer philosophischen Lehren aus- und umgedeutet. Die aller Religion gleichgültig oder gar feindlich gegenüberstehenden Philosophien treten an Zahl und Bedeutung i n der gesamten und auch i n der neuzeitlichen Philosophiegeschichte gegenüber den religionsfreundlichen ohne Zweifel zurück. 1*

Einleitung.

4

Das Bemühen zahlreicher Philosophen, religiöse Überzeugungen zu stützen und Konflikte mit ihnen zu vermeiden, hat vielfach Bedenken wachgerufen. Gefährdet nicht dieses Hinzielen und Rücksichtnehmen auf religiöse Lehren die Unbefangenheit des Slrebens nach Wahrheit? Aufgabe der Philosophie ist es, E r k e n n t n i s zu gewinnen, Erkenntnis des Gesamtwirklichen,

der Werte usw. Die vornehmste

Eigenschaft der Erkenntnis aber ist die W a h r h e i t ; nur wo Wahrheit vorliegt, kann von Erkenntnis die Rede sein. Darum muß bei allen philosophischen Lehren die entscheidende Frage die sein, ob sie w a h r sind oder nicht. Unbeirrbar muß die Philosophie nach Wahrheit streben, wenn sie ihrer Aufgabe treu bleiben, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will. Auch bei allen jenen Problemen, bei denen sie mit der Religion in Berührung kommt, muß sich also die Philosophie ohne Vorbehalt vom Ideal der Wahrheit loiten lassen. Strebt sie auf ihrem Wege, dem Wege des natürlichen Erkenn ens, ernst und sorgsam und mit steter Treue nach diesem Ideal, so wird sie auch dann, wenn sie zu religiösen Überzeugungen

gelangt, den Vorwurf dogmatischer Befangenheit

nicht zu scheuen brauchen.

Gefährdung des philosophischen Erkenntnisstrebens durch Gefühle und Wünsche. Wenn man befürchtet, daß starke religiöse Gefühle und Bedürfnisse das philosophische Erkenntnisstreben aus seiner eigenen, streng nach dem Leitstern der Wahrheit gerichteten Bahn hinausdrängen können, so w i r d man übrigens auch beachten müssen, daß r e l i g i o n s f e i n d l i c h e Stimmungen das reine philosophische Wahrheitssuchen zu stören vermögen. Nicht wenigen erscheint eine philosophische Überzeugung von vornherein

verdächtig oder gar un-

annehmbar, wenn sie mit einem religiösen Glaubensinhalt übereinstimmt oder einem solchen nahekommt. Daß solche antireligiösen Vorurteile

und Gefühle

die Unbefangenheit des philosophischen

Forschens gefährden können, liegt auf der Hand, und könnte an Beispielen aue den Weltanschauungskämpfen unserer Zeit leicht gezeigt werden.

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

5

Aber auch andere Gefühle und Bedürfnisse können das philosophische Streben irreführen. So kann das ä s t h e t i s c h e Bedürfnis dazu verleiten, beim philosophischen Schaffen in erster Linie nach S c h ö n h e i t und E r h a b e n h e i t der Welt- und Lebensauffassung und ihrer Darstellung zu streben und dabei das Suchen nach der W a h r h e i t und nach ihrer S i c h e r u n g , nach sorgfältiger

Begründung,

zu vernachlässigen. Die Schönheit eines Gedankens oder seines sprachlichen Gewandes kann so bestechend wirken, daß eine sorgfältige kritische Prüfung, die seine Wahrheit oder Falschheit festzustellen hätte, unterbleibt. Gewiß ist die edle Schönheit, die nicht wenige Werke großer Denker auszeichnet, ein hoher Wert. Aber nie darf dieser Wert die unbedingte Herrschaft des Wahrheitsideales in der Philosophie antasten. Mag ein Gedanke noch so schön, mag seine sprachliche Gestaltung noch so glänzend erscheinen, der Philosoph muß ihn unerbittlich verwerfen, wenn er nicht wahr ist. Dies fordert die Aufgabe der Philosophie, die Erkenntnis, also Wahrheit, nicht aber Schönheit verlangt. Der mühevolle Weg der Forschung, des Wahrheitsuchens, ist keineswegs

überall schön. Wer Schönheit sucht,

wende sich zu den Gefilden der Kunst. I n der Philosophie dürfen weder ästhetische noch irgendwelche anderen Gefühle die Herrschaft an sich reißen, die hier allein der Liebe zur Wahrheit gebührt. Wer, wie es dem Philosophen geziemt, mit ganzer Seele und mit unverbrüchlicher Treue dem Ideal der Wahrheit dienen will, der muß bereit sein, den nüchternen Weg des Erkennens zu gehen und alle die G e f ü h l e und W ü n s c h e des Herzens abzuweisen, welche die Gedanken aus dieser Bahn abzulenken drohen. Reichtum, Wärme und Zartheit des Gefühlslebens sind kostbare Güter, und wir beklagen bitterlich unsere harte, rohe Zeit ob ihrer Armut an feineren Gefühlen. Atter so sehr w i r auch bereit sind, die Rechte des Gemüts gegen moderne Gefühlsverachtung zu verteidigen, wir müssen doch warnend darauf hinweisen, daß die starken Gefühle und Wünsche, die mit Weltanschauungen und Lebensauffassungen verbunden zu sein pflegen, die Unbefangenheit des philosophischen Wahrheitssuchens schwer bedrohen. Solche Gefühle geben Weltanschauungskämpfen unsachliche Schärfe, verhindern ruhige Würdigung gegne-

Einleitung.

6

rischer Ansichten und Einwände, machen blind gegen die Mängel der eigenen Gedankengebäude. Darum gilt es, auf der Hut zu sein und durch nüchterne K r i t i k und Selbstkritik die Reinheit des philosophischen Erkenntnisstrebens zu wappnen gegen die verführerische Macht unserer Gefühle und Wünsche.

Bedeutung der Klarheit und Schlichtheit der Gedankenführung und Darstellung für die Philosophie. Das Streben nach Schönheit der Darstellung ist auch auf philosophischem Gebiete löblich, sofern dadurch die Förderung der Erkenntnis nicht beeinträchtigt wird. Soweit jene Schönheit auf der K l a r h e i t der Darstellung beruht, ist sie sogar für den philosophischen Fortschritt überaus wertvoll. Wie immer wieder betont werden muß, ist die entscheidende Frage gegenüber philosophischen Gedankengängen stets die Wahrheitsfrage. Wenn aber ein Gedankengang unklar, verschwommen oder gar unverständlich dargestellt ist, so ist die Entscheidung darüber, ob er wahr oder falsch ist, sehr erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Auch werden durch die Dunkelheit der Darstellung zahllose Mißverständnisse und unnütze Streitereien

veranlaßt.

Unklarheit und Schwerverständlichkeit der

Darstellung verraten viel öfter Unklarheit und Unfertigkeit als Tiefe der Gedanken. Auch die unnötige Einführung zahlreicher neugeschaffener, schwer verständlicher Bezeichnungen, die das Studium mancher philosophischer Schriften so unerquicklich macht, erschwert oft die Prüfung der Gedanken und verwirrt die ohnehin schon verworrene, überreiche philosophische Terminologie noch mehr. Gewiß ist es nicht selten nötig, f ü r neue Begriffe neue Fachausdrücke zu prägen. Aber hinter gehäuften,

neugebildeten, gelehrt klingenden Wortungetümen ver-

bergen sich meist alte, nicht selten sehr simple oder aber unklare Gedanken. Welche Konfusion und Schädigung würde z. B. in der Chemie oder Botanik eintreten, wenn jeder Forscher eine eigene komplizierte Terminologie einführen wollte! Auch in der Philosophie w i r d der Erkenntnisfortschritt durch die Verworrenheit der Terminologie wesentlich erschwert. Wer den trügerischen Schein des Tiefsinns und der Orginalität verachtet und ehrlich dem philosophischen

7

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

Erkenntnisfortschritt dienen will, wer die Prüfung der Gedanken auf ihre Wahrheit und Begründung hin erleichtern, Mißverstehen und Vorbeireden verhindern will, der muß nach jener edlen K l a r heit

und S c h l i c h t h e i t

der Gedankenführung und Darstellung

trachten, die wir bei manchen philosophischen Klassikern, wie Descartes, Berkeley und Hume, bewundern.

Forderung der Strenge des philosophischen Denkens. Klarheit und Schlichtheit des Denkens und Darstellens erleichtern zwar die Entdeckung von Irrtümern, schließen jedoch falsche Gedankengänge nicht aus. Zur Ausmerzung des Falschen und zur Sicherstellung der Wahrheit ist überdies und vor allem S t r e n g e des Denkens erforderlich. Zu ihr gehört die Abwehr aller Einflüsse, die das Philosophieren von seiner auf Erkenntnis gerichteten Bahn abzulenken drohen, also z. B. die oben schon geforderte Abweisung irreführender Gefühle und Wünsche. Die Strenge des Denkens betätigt sich in sorgfältiger K r i t i k und S e l b s t k r i t i k , in genauer Nachprüfung fremder Behauptungen und eigener Annahmen und dessen,

was

schließenden

zu ihrer

Sicherstellung angeführt

Begründungen,

der

wird,

Wahrnehmungen

und

also der anderer

Grundlagen, auf welche die Behauptungen sich stützen. Jedoch verlangt die Forderung der Strenge nicht nur K r i t i k bereits vorliegender Begründungen usw.; sie verlangt auch von uns, daß wir bei Annahmen, die noch nicht sichergestellt sind, nach S i c h e r s t e l l u n g oder Widerlegung suchen. Sie verlangt ferner, daß wir ungesicherte Behauptungen auch als ungesichert charakterisieren, daß wir nicht bloße Annahmen oder Hypothesen zu sicheren Erkenntnissen stempeln, was überaus häufig geschieht und zu viel Streit und Ärgernis Anlaß gibt. Unser Forschen und insonderheit unser Philosophieren vermag auch bei größter

Strenge das Erkenntnisideal: völlig gesicherte

Wahrheit, auf weiten Erkenntnisgebieten nicht zu erreichen.

Wir

müssen uns dann mit w a h r s c h e i n l i c h e n Ergebnissen begnügen. Die Forderung der Strenge des Denkens verlangt hierbei, daß wir uns dem Erkenntnisideal der gesicherten Wahrheit so weit wie möglich annähern, indem wir m ö g l i c h s t h o h e W a h r s c h e i n l i c h k e i t

Einleitung.

8

unserer Resultate erstreben. Dazu gehört, daß wir unbefangen, ohne voreiliges Stellungnehmen und mit größter Umsicht und Genauigkeit bei jedem Problem alle möglichen Lösungsversuche und Hypothesen prüfen, alles Für und Wider sorgfältig abwägen, so umständlich und mühsam dies auch sein mag. Nicht immer führt solches unparteiische Abwägen der Annahmen zu dem Ergebnis, daß eine von ihnen die anderen an Wahrscheinlichkeit übertrifft. Dann gebietet die Forderung der Strenge, daß wir nicht aus unsachlichen Motiven irgendeine der Annahmen bevorzugen, sondern ehrlich bekennen, daß eine Entscheidung zwischen ihnen nicht möglich ist. Kurz, das Gebot der Strenge fordert, daß wir unentwegt nach Sicherheit

unserer

Behauptungen,

nach möglichst hoher Wahr-

scheinlichkeit unserer Annahmen streben, und daß wir gesicherte Erkenntnisse, wahrscheinliche Hypothesen und bloß mögliche Annahmen reinlich auseinanderhalten und als gesichert, als wahrscheinlich, als bloß möglich bezeichnen. Endlich fordern Strenge und Ehrlichkeit, daß wir es nicht vertuschen, wenn wir ein Problem nicht zu lösen vermögen. Nur wenn die Philosophen mit aller Kraft nach Klarheit und Schlichtheit, nach Strenge und Ehrlichkeit des Denkens und Darstellens streben, dürfen sie hoffen, die niederdrückende Flut der Streitigkeiten und Mißverständnisse einzudämmen und s i c h e r e Erkenntnisfortschritte zu erzielen.

Außerwissenschaftliche und wissenschaftliche Philosophie. Aufgabe der Philosophie. Weltanschauungen und Lebensauffassungen, die im wesentlichen aus dem natürlichen Erkenntnisvermögen erwachsen und also philosophischen Charakter wissenschaftlicher

tragen, begegnen uns manchmal in nicht-

Gestaltung. So finden wir zuweilen etwa einen

Hirten, Landwirt oder Handwerker, der sich auf Grund seiner natürlichen Erfahrung mit seinem natürlichen Denken eine vielleicht recht achtungswerte Welt- und Lebensauffassung zurechtgezimmert hat. W i r nennen einen solchen der Wissenschaft sehr fern stehenden nachdenklichen Menschen dann einen Philosophen, ebenso wie den

9

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

Dichter, der in nicht-wissenschaftlicher Weise, wenn auch vielleicht stark von der Wissenschaft beeinflußt, seine aus natürlichem Erkennen hervorgehende Welt- und Lebensauffassung gestaltet. Die außer- oder vorwissenschaftliche Philosophie ist i m alten Griechenland allmählich

in

wissenschaftliche

Philosophie

über-

gegangen, wie überhaupt aus dem vorwissenschaftlichen Erkennen durch

Ansammlung,

Bereicherung,

Systematisierung,

strengere

Sicherstellung und schärfere begriffliche Fassung der Erkenntnis, sowie durch ihre Loslösung von praktischen Interessen die Wissenschaft erwachsen ist. Das wissenschaftliche Erkennen stellt eine Vervollkommnung des außer wissenschaftlichen dar; in der Tat hat es unseren Erkenntnisbesitz über den vorwissenschaftlichen Stand hinaus ungeheuer zu erweitern vermocht. Die Philosophie wird angesichts ihrer großen und schwierigen Aufgaben allen Anlaß haben, sich die Vorzüge des vollkommeneren, wissenschaftlichen Erkenntnisverfahrens zu eigen zu machen. Die Aufgaben, das Gesamtwirkliche zu erfassen, den Wert unseres Lebens, unserer Handlungen und dessen, was uns i m Leben begegnet, festzustellen, auch zu untersuchen, ob und wie und inwieweit Erkenntnis möglich ist, sind so kompliziert und bieten so viele zusammenhängende Teilprobleme, daß nur eine geordnete, zusammenhängende, systematische Bearbeitung wesentlichen Erfolg versprechen kann. Daß diese Bearbeitung nach strengster Sicherstellung der Erkenntnis und klarster, schärfster Fassung streben muß> hat sich uns oben schon ergeben. Die Philosophie m u ß also, um ihren großen Erkenntniszielen näherzukommen, das systematische, strenge, scharfe Erkenntnisverfahren der Wissenschaft anwenden. Außerwissenschaftliche Philosophie ist höchst unvollkommene Philosophie; von einem Philosophieren, dem wissenschaftliche Strenge, Klarheit, Genauigkeit und Ordnung fehlen, kann kein gesicherter Erkenntnisfortschritt erwartet werden. Nach

alledem

wissenschaftliche

hat

die

Philosophie

Weltanschauung,

und Wissenschaftslehre

die Aufgabe,

eine

Lebensauffassung

zu e r a r b e i t e n . Sie hat als Wissen-

schaftslehre die Fragen, ob, wie und inwieweit Erkenntnis möglich ist, wissenschaftlich zu beantworten, als Metaphysik wissenschaftliche, einheitlich-übersichtliche Erkenntnis der Gesamtwirklichkeit,

Einleitung.

10

als Wertphilosophie wissenschaftliche Erkenntnis der Werte zu erstreben. Nach dieser Aufgabenbestimmung liegt die Frage nahe, ob es sachlich berechtigt ist, Wissenschaftslehre, Metaphysik und Wertphilosophie als Teilwissenschaften e i n e r einheitlichen Wissenschaft, der Philosophie, zusammenzufassen. Diese drei Disziplinen haben ja ganz verschiedene Gegenstände zu behandeln : die Möglichkeit der Erkenntnis, das Gesamtwirkliche, die Werte. Trotzdem hängen sie eng zusammen. I m Gebiete der Metaphysik stößt das menschliche Forschen auf besonders große Schwierigkeiten, so daß die Fragen aufgeworfen werden müssen, ob und wie hier Erkenntnis überhaupt möglich ist. Diese Fragen aber gehören in den Bereich der Wissenschaftslehre, die a l l g e m e i n untersucht, ob und wie und inwieweit Erkenntnis möglich ist. Damit leistet die Wissenschaftslehre unentbehrliche Vorarbeit f ü r die Metaphysik. Es kommt hinzu, daß die Wissenschaftslehre, indem sie in der Erkenntnistheorie die Grundlagen des Erkennens erforscht, auf denen die Möglichkeit desselben beruht, unter diesen Grundlagen Voraussetzungen feststellt, die sich auf das gesamte Wirkliche beziehen. Mit der Untersuchung dieser äußerst wichtigen Erkenntnisgrundlagen, z. B. der „Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung'nach welcher das gesamte Wirkliche

durchweg

Gesetzmäßigkeit aufweist, und des

„Kausalprinzips", nach welchem alles entstehende Wirkliche seine Ursache hat, gelangt die Erkenntnistheorie tief in die Metaphysik, die Wissenschaft vom Gesamtwirklichen, hinein. So hängen diese Disziplinen sehr eng zusammen. Wie f ü r die Metaphysik, so ist auch für die Wertphilosophie die Vorarbeit der Wissenschaftslehre und insbesondere der Erkenntnistheorie unentbehrlich; auch auf diesem Gebiete drängen das Hinund-Her der Meinungen und Richtungen und die in i h m sich offenbarende Schwierigkeit und Unsicherheit des Erkenntnisfortschritts zu der Frage, ob und wie hier Erkenntnis überhaupt möglich ist, ob tragfähige Grundlagen f ü r sie zu finden sind. Auch Metaphysik

und Wertphilosophie sind aufs engste ver-

bunden. Die Erkenntnis des Wertvollen und Schlechten i m Gesamtwirklichen muß sich auf die Erkenntnis des Gesamtwirklichen

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

11

stützen. Es gibt eine n i c h t - w e r t e n d e M e t a p h y s i k , die das Gesamtwirkliche untersucht, ohne nach Wert oder Unwert zu fragen, die also nicht prüft, ob das Gesamtwirkliche gut oder schlecht ist, ob es sich zum Guten oder Schlechten hin entwickelt, ob der Urgrund der Welt wertvoll ist oder nicht, woher das Böse in der Welt stammt, und wohin es führt, usw. Doch haben die Metaphysiker m i t der nicht-wertenden Betrachtung des Gesamtwirklichen, seiner Herkunft, seiner Entwicklung usw., meist die wertende Beurteilung unmittelbar verbunden, indem sie etwa als Optimisten die Welt oder die Gesamtwirklichkeit gut oder höchst wertvoll priesen oder als Pessimisten das Wirklichkeitsganze äußerst schlecht und fürchterlich fanden, indem sie die Welt von einer absolut vollkommenen Gottheit herleiteten oder sich zu einem wertvollen, göttlichen Ziele hin entwickeln ließen, indem sie den Kampf eines guten und eines bösen Prinzips und den endlichen Sieg des Guten in der Welt lehrten, eine sittliche Weltordnung annahmen usw. Diese w e r t e n d e M e t a p h y s i k gehört ebenso zur Wertphilosophie wie zur Metaphysik, zur Lebensauffassung wie zur Weltanschauung; sie rechtfertigt die Zusammenfassung beider i n der Einheit der Philosophie, zu der nach dem Dargelegten überdies noch die Wissenschafstlehre hinzugehört.

Einteilung der Philosophie. Wissenschaftslehre,

Metaphysik

und

Wertphilosophie

sind demnach die vielfach verbundenen Hauptgebiete der Philosophie. Schon i m Altertum begegnen uns o f t ähnliche Dreiteilungen der Philosophie. Man kann unsere Dreiteilung auf eine Zweiteilung zurückführen,

indem man Wissenschaftslehre und nicht-wertende

Metaphysik unter der Bezeichnung t h e o r e t i s c h e P h i l o s o p h i e zusammenfaßt und dieser die Wertphilosophie als p r a k t i s c h e P h i l o s o p h i e zur Seite stellt. Indem die Wertphilosophie feststellt, was wahrhaft wertvoll ist, lehrt sie uns die rechte, wertvolle Lebenspraxis, das vernünftige Handeln, das nach wertvollen Zielen strebt; darum kann sie als praktische Philosophie bezeichnet werden. I n jedem von den drei Hauptgebieten der Philosophie kann man engere Teilgebiete unterscheiden. Das Hauptproblem der W i s s e n s c h a f t s l e h r e , die Frage, wie Erkenntnis möglich ist, fordert eine

Einleitung.

Untersuchung des Schließens

und schließenden Beweisens; denn

durch diese Denkformen gelangen wir, wie z. B. das mathematische Beweisen zeigt, zu gesicherter

Erkenntnis.

Alles Schließen und

schließende Beweisen setzt aber schon Urteile („Vordersätze") voraus, aus denen man schließt, wie wiederum an den schließenden Beweisen der Mathematik sofort ersichtlich ist; au? nichts kann man nichts erschließen.

Wenn also das Schließen Erkenntnis möglich

machen soll, so muß es grundlegende, letzte Erkenntnisse geben, von denen das Schließen ausgehen kann. Solche letzten Erkenntnisse oder Erkenntnisgrundlagen haben wir z. B. in den mathematischen Axiomen vor uns, aber auch in Wahrnehmungs- oder Beobachtungserkenntnissen,

auf

welche Natur- und Geisteswissenschaften sich

gründen. Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis fordert also eine Untersuchung des Schließens und eine solche der Grundlagen unseres Erkennens. Die Untersuchung des Schließens oder schließenden Beweisens und der in i h m enthaltenen Denkgebilde sowie der zugehörigen Hilfsoperationen des Denkens ist die Aufgabe der L o g i k ; die Erforschung der Grundlagen unseres Erkennens ist die Aufgabe der E r k e n n t n i s t h e o r i e . Beide fordern als gemeinsame Vorarbeit eine Klärung des Zieles, auf das es bei allem Erkenntnisstreben ankommt, eine klare Bestimmung des Begriffes der Wahrheit. W i r bezeichnen eine Untersuchung, die diese Vorarbeit leistet, die das Wesen der Wahrheit feststellt, als W a h r h e i t s theorie. Die Wissenschaf tsiehre z e r f ä l l t demnach in W a h r heitstheorie, Erkenntnistheorie und Logik. — Auch in der M e t a p h y s i k können wir eine Anzahl von Teilwissenschaften unterscheiden. Wenn sie auch auf Erkenntnis des Gesamtwirklichen abzielt, muß sie doch dessen Teile ins Auge fassen, um zu sehen, welche Rolle dieselben i m Gesamtwirklichen spielen. Werden Teilgebiete der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkte der Metaphysik, d. h. der Gesamtwirklichkeits-Betrachtung, untersucht, so entstehen metaphysische Spezialdisziplinen, wie z. B. die M e t a p h y s i k d e r N a t u r . Sie unterscheidet sich von den Naturwissenschaften dadurch, daß sie nicht, wie diese, irgendwelche Bestandteile oder Seiten der Natur für sich, ohne Rücksicht auf das Gesamtwirkliche, erforscht, sondern die Natur, die Körper weit., gerade im

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

13

Hinblick auf das Gesamtwirkliche, in ihrer Bedeutung f ü r dieses, betrachtet. Ebenso betrachtet

die M e t a p h y s i k des S e e l i s c h e n

dieses nicht f ü r sich, sondern i m Hinblick auf das Gesamtwirkliche, während

die nicht-metaphysische

Psychologie und die anderen

Geisteswissenschaften (Geschichte, Philologie usw.) das Seelenleben bzw. irgendwelche besonderen Erscheinungen der seelisch-geistigen Welt ohne Einstellung auf die Gesamtwirklichkeit behandeln. Es sind auch noch speziellere metaphysische Disziplinen, z. B. eine M e t a p h y s i k der l e b e n d e n N a t u r , der G e s c h i c h t e , der K u l t u r usw., möglich, die eben diese spezielleren Wirklichkeitsgebiete, die lebende Natur, die Geschichte, die Kultur, unter metaphysischem Gesichtspunkte, d. h. mit Einstellung auf das Gesamtwirkliche, betrachten. Alle diese speziellen metaphysischen Disziplinen, auch die n i c h t w e r t e n d e und die w e r t e n d e M e t a p h y s i k , stehen i m Dienste der Metaphysik schlechthin, der Erkenntnis des Gesamtwirklichen. — Die wertende Metaphysik gehört zugleich auch zur W e r t p h i l o sophie. Deren grundlegenden Teil bildet die (allgemeine)

Wert-

t h e o r i e , die ganz allgemein untersucht, was wertvoll, was ein Wert und ein Unwert ist, ob Werte nur f ü r einige oder f ü r alle Subjekte wertvoll sind, ob sie vielleicht gar unabhängig von jedem Subjekt ihren Wertcharakter besitzen, welche Arten von Werten es gibt, wie sich diese Wertarten zueinander verhalten, ob man verschiedene Werte aneinander messen kann, usw. M i t den verschiedenen Wertarten beschäftigen sich dann speziellere Wertlehren; so die E t h i k

mit

dem Sittlich-Wertvollen, das uns i m Gebiete des WolJens und Handelns, der Motive und Charaktereigenschaften begegnet. Eine spezielle Art des Sittlich-Wertvollen ist das Gerechte, mit dessen Feststellung und Untersuchung es die R e c h t s p h i l o s o p h i e zu tun hat. Mit Ethik und Rechtsphilosophie gehören G e s e l l s c h a f t s - u n d S t a a t s p h i l o s o p h i e eng zusammen, die zu untersuchen haben, welchen Wert Gesellschaft und Staat und deren verschiedene Formen besitzen, wie sie am besten der Verwirklichung von Werten dienen. Neben dem Sittlichen steht als eine weitere wichtige Wertart das Schöne, dessen Wesen, Arten, Vorkommen in Kunst und Natur usw. die Ä s t h e t i k zu erforschen hat. Ferner kommt neben dem Sittlichen und dem Schönen als eine besondere Werlart das Religiös-Wertvolle, das

14

Einleitung.

Fromme, Heilige in Frage, das von der R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e zu untersuchen i s t Eine besonders wichtige, den sinnenden Menschengeist aufs stärkste bewegende Aufgabe der Wertphilosophie liegt in der Frage, wie es mit den Werten i m Gesamtwirklichen bestellt ist. Ist dasselbe überwiegend wertvoll oder schlecht; gibt es eine Macht in der Welt, die den Sieg des Guten verbürgt; wird das Wertvolle und Schlimme in unserer eigenen Seele mit unserem Tode zunichte, oder bleibt es in irgendeiner Weise i m Gesamtwirklichen erhalten? Die philosophische Bearbeitung solcher Fragen haben w i r oben als w e r t e n d e M e t a p h y s i k bezeichnet; sie wird manchmal auch der R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e zugewiesen. So bildet die wertende Metaphysik oder die Religionsphilosophie, indem sie Metaphysik und Wertphilosophie, Weltund Lebensauffassung verbindet, den Abschluß und die Krönung des Gesamtsystems der Philosophie. Ob wertende Metaphysik und alle die anderen angeführten philosophischen Teilwissenschaf ten faktisch möglich sind, muß freilich einstweilen dahingestellt bleiben. — I m folgenden bringen w i r unsere Einteilung der Philosophie in nebenstehender Übersichtstafel zur Darstellung. I n diesem System der philosophischen Wissenschaften scheinen manche wesentliche Disziplinen zu fehlen. Wenn aber z. B. die N a t u r p h i l o s o p h i e nicht ausdrücklich angeführt ist, so findet sich doch die Metaphysik der Natur auf unserer Übersichtstafel, und die Naturphilosophie war meist nichts anderes als Metaphysik der Natur oder auf diese aufgebaute Gesamtmetaphysik. Gegenwärtig rechnet man zur Naturphilosophie auch die Erkenntnistheorie des Naturerkennens, die Untersuchung seiner Grundlagen (z. B. des Kausalprinzips), die als Vorarbeit f ü r die Metaphysik der Natur unentbehrlich ist. Diese aber hat die Gesamtnatur als Teil der Gesamtwirklichkeit zu erfassen. Ähnlich steht es mit der ebenfalls i n unserer Übersicht nicht ausdrücklich angeführten

Geschichtsphilosophie.

Sie war meist

(wertende) Geschichtsmetaphysik; sie entwarf ein Gesamtbild der vergangenen und zukünftigen Menschheitsgeschichte i m Rahmen der Gesamtwirklichkeit, indem sie z. B. den Geschichtsverlauf als Erziehung

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

15

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16

Einleitung.

der Menschheit durch die Gottheit oder als Entwicklung des göttlichen Weltgrundes auffaßte. I n der gegenwärtigen Geschichtsphilosophie spielt die Wissenschaftslehre der Geschichte, die Untersuchung ihrer Erkenntnisgrundlagen und Denkformen (insbesondere der historischen Begriffe) eine große Rolle. Die auf unserer Übersichtstafel nicht genannte K u l t u r p h i l o s o p h i e ist eine Art von Wertphilosophie, die eine allgemeine Werttheorie, sowie spezielle Wertlehren von den „Kulturwerten" der Sittlichkeit, des Rechtes, der Gesellschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion usw. einzuschließen und in einer wertenden Metaphysik der Kultur, einer Art Religionsphilosophie, ihren Abschluß zu finden pflegt. Von spezielleren, engeren philosophischen Disziplinen seien als Beispiele noch die Philosophie der Mathematik und die Philosophie des Raumes angeführt. Heutigestags ist die P h i l o s o p h i e der M a t h e m a t i k i m wesentlichen eine Wissenschaftslehre,

eine Erkenntnis-

theorie und Logik dieser Wissenschaft, d. h. eine Untersuchung ihrer Erkenntnisgrundlagen und Denk-, insbesondere Beweisformen. Die P h i l o s o p h i e des R a u m e s ist z. T. Erkenntnistheorie der Raumerkenntnis, z. T. Metaphysik des Raumes; sie fragt, auf welchen Grundlagen die geometrische und die naturwissenschaftliche

Er-

kenntnis des Raumes beruht, was der Wahrnehmung des Raumes in der Außenwelt zugrunde liegt, und welche Rolle der Raum oder das, was i h m in der Außenwelt zugrunde liegt, im Gesamtwirklichen spielt. Die Metaphysik des Raumes kann man auch der Philosophie der Mathematik, speziell der Philosophie der Geometrie einfügen. Früher hat auch die Metaphysik der Zahl, die, vielfach in mystischer Weise, von der Bedeutung der Zahlen i m Gesamtwirklichen handelte* eine erhebliche Rolle gespielt; wir könnten sie ebenfalls in die Philosophie der Mathematik einordnen. Nach alledem dürfen wir wohl annehmen, daß alle philosophischen Disziplinen in unserem System unterzubringen sind. Die in unserer Übersichtstafel nicht genannten Disziplinen sind entweder Teilgebiete der angeführten philosophischen Wissenschaften, der Erkenntnistheorie, Metaphysik usw., oder sie fassen mehrere Teilgebiete zusammen, wie z. B. die Naturphilosophie Natur-Erkenntnis-Theorie und Natur-Metaphysik zusammenfaßt.

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

17

Philosophie und Psychologie. Vielleicht erregt es Bedenken, daß in unserem System der philosophischen Wissenschaften die Psychologie nicht angeführt ist, die doch oft als ein Hauptgebiet der Philosophie betrachtet wird. Nach unserer Auffassung ist die Psychologie, die Wissenschaft vom Seelischen, so wie sie gegenwärtig meist gepflegt wird, nicht eine philosophische, sondern eine E i n z e l w i s s e n s c h a f t .

Sie be-

handelt die Tatsachen des seelischen Lebens, zunächst die in der Erfahrung gegebenen, die Sinneswahrnehmungen,

Gedächtnis-

und

Phantasievorstellungen, Gedanken, Gefühle, Willens Vorgänge usw., wie die Physiologie die Tatsachen des leiblichen Lebens, die Wajhstumsvorgänge, Stoffwechselprozesse usw., behandelt. Sie erforscht kleine Teile der Wirklichkeit, z. B. Geruchsempfindungen, Lustgefühle, ohne sich um das Gesamtwirkliche zu kümmern, geradeso wie

andere

Teil-Wirklichkeitswissenschaften,

wie

Geschichte,

Philologie, Mineralogie, Physiologie, Teile der Wirklichkeit

er-

forschen, ohne sich um das Gesamtwirkliche zu kümmern. Wenn der Psychologe feststellt, daß es vier Grundempfindungen des Geschmackssinnes gibt, nämlich die Süß-, die Sauer-, die Bitter- und die Salzig-Empfindung, wenn er untersucht, wie beim Erlernen eines Gedächtnisstoffes die zeitliche Verteilung der einprägenden Wiederholungen auf das Einprägungs-Ergebnis wirkt, wenn er beobachtet, was die Aufmerksamkeit des sechsjährigen Kindes fesselt, so tragen solche Forschungen offenbar nicht philosophischen, sondern einzelwissenschaftlichen Charakter. Die Psychologie ist eine Einzelwissenschaft, sofern sie die seelischen Tatsachen feststellt, beschreibt und erklärt, ohne das Gesamtwirkliche in Betracht zu ziehen. Sobald w i r aber das seelische W i r k liche i m Hinblick auf das Gesamtwirkliche erforschen, treiben wir nicht mehr einzelwissenschaftliche

Psychologie,

sondern

Meta-

p h y s i k des Seelischen. Diese gehört selbstverständlich, wie alle Metaphysik, in die Philosophie. Sie fragt z. B., ob das Seelische i m Gesamtwirklichen aue dem Körperlichen entstanden ist, oder ob allezeit Seelisches i m Gesamtwirklichen existiert hat, ob die Einzelseele mit dem Tode restlos vernichtet wird, oder ob ihre Realität in irgendB e c h e r , Einführung in die Philosophie.

2

18

Einleitung.

einer Form im Gesamtwirklichen fortexistiert, ob die Menschenseelen die höchststehenden Seelen sind, oder ob es i m Gesamtwirklichen noch höhere Seelen, etwa einen göttlichen Geist gibt. W i r können die Metaphysik des Seelischen auch als m e t a p h y s i s c h e P s y c h o l o g i e bezeichnen. Die m e t a p h y s i s c h e G o t t e s l e h r e , die p h i l o s o p h i sche T h e o l o g i e , pflegt man übrigens der metaphysischen Psychologie nicht einzuordnen; wegen ihrer Wichtigkeit und wegen der Eigenart des göttlichen Geistes hat man sie als eine besondere Disziplin neben die metaphysische Psychologie gestellt. Übrigens steht die Psychologie nicht nur durch die Metaphysik des Seelischen mit der Philosophie in enger Verbindung. W i r müssen auch eine Wissenschaftslehre,

speziell eine E r k e n n t n i s t h e o r i e ,

f ü r das E r k e n n e n des Seelischen fordern, geradeso wie eine Wissenschaftslehre und insbesondere eine Erkenntnistheorie für das Naturerkennen. Leider ist die Theorie der Erkenntnis des Seelischen noch viel weniger durchgearbeitet als die Natur-Erkenntnis-Theorie. Die Psychologie hängt also durch die Wissenschaftslehre von der Erkenntnis des Seelischen und durch die Metaphysik des Seelischen mit der Philosophie in entsprechender Weise zusammen, wie die Naturwissenschaft durch die Wissenschaftslehre der Naturerkenntnis und durch die Metaphysik der Natur. W i ^ kommt es nun, daß die einzelwissenschaftlichen

Naturwissenschaften:

die Physik,

Astro-

nomie, Botanik, Zoologie, Physiologie usw., seit langem aus dem Rahmen der Philosophie, der einst alle Wissenschaft einschloß, herausgetreten sind, während sich erst in unserer Zeit die einzelwissenschaftliche Psychologie von der Philosophie allmählich ablöst? Zum Teil liegt es gewiß daran, daß die Naturwissenschaften durch das schnellere Anwachsen ihres gesicherten Erkenntnisbesitzes die Psychologie stark überholt haben. Die Physik z. B. ist längst ein so großes Gebiet geworden, daß die Philosophen nicht mehr imstande sind, seine Bearbeitung neben ihren anderen Aufgaben zu übernehmen. Der Umfang der Psychologie ist erst seit einigen Jahrzehnten stärker gewachsen; er macht darum erst in unserer Zeit das Selbständigwerden der einzelwissenschaftlichen Psychologie erforderlich. Daß die Psychologie sich später und schwerer von der Philosophie ablöst als die Naturwissenschaften,

beruht aber noch auf einem

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

19

weiteren, wesentlicheren Umstand: sie hat zahlreichere Berührungsflächen mit der Philosophie. Das Erkennen, das Schließen, wie überhaupt das Denken, das Werten, auch speziell das ethische Werten sowie das sittliche Wollen, Fühlen usw., das ästhetische Werten sowie die künstlerische Produktion und der Genuß des Schönen, das religiöse Erleben und Werten sind seelische Tatsachen; demnach werden sich die Erkenntnistheorie und die Logik, die Werttheorie, die Ethik, die Ästhetik und die Religionsphilosophie eng mit der Psychologie berühren. Da diese mit der Metaphysik durch die metaphysische Psychologie innig verbunden ist, steht sie mit allen Hauptgebieten der theoretischen und praktischen Philosophie i n enger Berührung oder Verknüpfung. Daran wird das zu erhoffende weitere Wachstum der psychologischen Erkenntnis nichts ändern, mag es auch eine äußerliche Abtrennung der Psychologie von der Philosophie erzwingen. Die äußerliche Ablösung darf die inneren Zusammenhänge, die zwischen Naturwissenschaft und Philosophie und in noch größerer Zahl zwischen Psychologie und Philosophie bestehen, nicht zerreißen. Da Erkennen und Schließen, Werten,

sittliches

Wollen

und

Fühlen usw., künstlerisches Produzieren und ästhetisches Genießen, sowie religiöses Erleben seelische Tatsachen sind, liegt die Auffassung nahe, daß Erkenntnistheorie und Logik, Werttheorie, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie Teilgebiete der Wissenschaft von den seelischen Tatsachen, der Psychologie, seien. Die Erkenntnistheorie wäre Psychologie des Erkennens, die Logik Psychologie des Schließens, die Werttheorie Psychologie des Wertens, die Ethik Psychologie des sittlichen, die Ästhetik Psychologie des ästhetischen und die Religionsphilosophie Psychologie des religiösen

Verhaltens. Von hier aus

führt ein kleiner Schritt zu der Meinung, daß alle Philosophie nichts weiter sei als Psychologie. W i r halten diese „ p s y c h o l o g i s t i s c h e " Auffassung der Philosophie, der Erkenntnistheorie, Logik, Werttheorie, Ethik, Ästhetik und Religionsphilosophie, f ü r verfehlt. Die Psychologie beschreibt und erklärt die T a t s a c h e n des Erkennens, des Schließens, des Wertens, des sittlichen, ästhetischen und religiösen Verhaltens. Die Erkenntnistheorie aber w i l l nicht die t a t s ä c h l i c h e n Erkenntnis2*

Einleitung.

20

vorginge beschreiben und erklären,

sondern untersuchen,

welche

E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n echte Erkenntnisse ermöglichen und deren W a h r h e i t s i c h e r s t e l l e n . Die Logik w i l l nicht das t a t s ä c h l i c h e , oftmals falsche Schließen beschreiben und erklären, sondern sie fragt, welche Schlußformen r i c h t i g und zur Erkenntnisgewinnung und Sicherung geeignet sind. Die Werttheorie zielt nicht auf die Beschreibung und Erklärung des manchmal recht törichten t a t s ä c h l i c h e n Wertens, sondern sie will die e c h t e n Werte feststellen, die m i t R e c h t gewertet werden können. Ebenso will die Ethik in letzter Linie nicht das zuweilen falsche t a t s ä c h l i c h e ethische Werten und die t a t s ä c h l i c h hier oder dort als sittlich angesehenen Handlungsweisen und Willensrichtungen feststellen und erklären, sondern es kommt ihr schließlich darauf an, das w a h r h a f t Sittliche zu erkennen, das m i t R e c h t als solches gewertet wird. Auch die philosophische Ästhetik und die Religionsphilosophie gehen über die psychologische Beschreibung und Erklärung des

tatsächlichen

ästhetischen und religiösen Verhaltens hinaus und erstreben ein Erkennen der e c h t e n , m i t

R e c h t zu wertenden ästhetischen

und

religiösen Werte. Kurz, die Erkenntnistheorie und Logik, die Werttheorie, Ethik, philosophische Ästhetik und Religionsphilosophie zielen nicht auf Erkenntnis seelischer Tatsachen, sondern auf die Feststellung wahrheit-sichernder,

wissen-ermöglichender

Erkenntnisgrundlagen

und

Schlußformen, echter Werte bzw. speziell echter ethischer, ästhetischer und religiöser Werte. Jene philosophischen Disziplinen haben also andere Ziele als die Psychologie des Erkennens, des Schließens, des Wertens, des ethischen, des ästhetischen, des religiösen Wertens und Verhaltens. Jene philosophischen Disziplinen und diese psychologischen Spezialgebiete stellen wegen der wesentlichen Verschiedenheit ihrer Ziele wesentlich verschiedene Wissenschaften dar:

Er-

kenntnistheorie ist keineswegs Erkenntnispsychologie, Logik nicht Psychologie Wertens,

des Schließens, Werttheorie

Ethik

nicht

Moralpsychologie,

nicht

Psychologie des

philosophische Ästhetik

nicht psychologische Ästhetik, Religionsphilosophie nicht Religionspsychologie. Und darum ist Philosophie nicht Psychologie, wie in jüngster Zeit behauptet worden ist. Wer in unklarer Vermengung

21

Aufgabe und Einteilung der Philosophie.

oder gar grundsätzlich psychologische Untersuchungen an die Stelle erkenntnisthcoretischer,

logischer oder wertphilosophischer

For-

schungen setzt, der begeht den verbreiteten Fehler des „Psychologismus". Die Furcht vor dem in unseren Tagen oft getadelten Psychologismus hat manche Philosophen in den anderen Fehler verfallen lassen, die engen und zahlreichen Beziehungen zwischen Philosophie und Psychologie außer acht zu lassen oder gar zu verkennen und die wertvollen Dienste abzulehnen, welche die Psychologie der Philosophie leisten kann. Und doch liegt es auf der Hand, daß z. B. die psychologische Feststellung der tatsächlich vorkommenden

Arten

des Schließenseine wertvolle Vorarbeit darstellt f ü r die logische Feststellung der Arten des richtigen Schließens. Das tatsächliche Schließen ist ja sehr oft, wenn auch leider nicht immer, ein riclitiges Schließen. Bei der Einführung in die Philosophie muß man heutzutage i n gleicher Weise vor dem Psychologismus und vor Unterschätzung der Beziehungen zwischen Philosophie und Psychologie warnen.

Plan unserer Einführung in die Philosophie. Ein Buch, das in die Philosophie einführen will, hat keineswegs die Aufgabe, den Leser durch alle wesentlichen Teilgebiete derselben hindurchzuführen.

Der Weg durch alle diese Gebiete des weiten

Reiches der Philosophie würde für eine Einführung gar zu lang werden; die Fülle der Probleme und Untersuchungen,

durch

die

dieser Weg hindurchführen müßte, würde zunächst leicht verwirrend wirken. 0 . Külpe's ,,Einleitung in die Philosophie" ( n .

Auflage,

herausgegeben von A. Messer, Leipzig 1928), die alle wichtigeren Gebiete und Richtungen der Philosophie behandelt, ist in der Tat unseres Erachtens als Einleitung trotz der Klarheit ihrer Darstellung zu schwierig und allzu reich an Stoff; wir empfehlen dieses wertvolle Buch wärmstens f o r t g e s c h r i t t e n e n Studierenden der Philosophie zur Orientierung über das Gesamtgebiet. Eine Einführung in die Philosophie hat vor allen Dingen diejenige Teildisziplin zu behandeln, welche für die ganze Philosophie grundlegend ist und unentbehrliche Vorarbeit für wissenschaftliche Weltanschauung und Lebensauffassung oder, anders ausgedrückt, f ü r

Einleitung.

22

Metaphysik und Wertphilosophie bietet: die E r k e n n t n i s t h e o r i e , die Wissenschaft von den Grundlagen des Erkennens. Sie soll i m folgenden in systematischer Form entwickelt und durch eine W a h r h e i t s t h e o r i e , die ihr als Fundament dient, unterbaut werden. Das, was die Philosophie eigentlich anstrebt: wissenschaftliche Weltanschauung und Lebensauffassung, kann die Erkenntnistheorie selbstverständlich nicht bieten. Wenn wir uns auf Erkenntnistheorie beschränkten, würde unsere Einführung also bereits i m Vorhof der Philosophie haltmachen und darum den Leser wohl kaum befriedigen. Unsere Betrachtungen sollen deshalb weiterführen bis in die wissenschaftliche Weltanschauung, die M e t a p h y s i k hinein, die meist den zentralen und Hauptteil der Philosophie gebildet hat. Mitten in der Metaphysik und damit der Philosophie mag unsere Einführung ihr Ende finden; hat sie den Leser bis ins Zentrum der Philosophie geführt, so hat eine Einführung unseres Erachtens ihre Aufgabe erfüllt. W i r werden hier also keine systematisch-vollständige Metaphysik darstellen, sondern uns i m wesentlichen auf die Bearbeitung zentraler

Probleme

der

nicht-wertenden

Metaphysik

be-

schränken; dabei werden Hauptfragen der N a t u r p h i l o s o p h i e und der m e t a p h y s i s c h e n P s y c h o l o g i e behandelt werden. Die wertende Metaphysik werden w i r nur gelegentlich berühren. I m übrigen werden wir die Wertphilosophie wie auch die Logik in dieser Einführung nicht behandeln, obgleich wir sie für sehr wichtige Teile der Philosophie halten. Aber eine Einführung hat, wie schon betont, nicht die Aufgabe, ein Gesamtsystem der Philosophie darzubieten. Es versteht sich fast von selbst, daß der Verfasser i m folgenden seine eigenen Anschauungen entwickelt und begründet; doch werden in weitem Umfange auch andere Ansichten eingehend betrachtet und geprüft werden.

Erkenntnistheorie· Aufgabe der Erkenntnistheorie. Geschichtliches. Unsere bisherigen Betrachtungen über die Aufgabe der Erkenntnistheorie bedürfen noch der Erweiterung und Vertiefung. I n der Geschichte der Philosophie hat sich frühzeitig ein Kreis von Aufgaben, der von der Erkenntnistheorie zu bearbeiten ist, dem erkenntnissuchenden

Geiste

aufgedrängt.

Schon

vorsokratische

Denker, die dem landläufigen Weltbild ihrer Zeit eine eigene Weltanschauung entgegenstellten, sahen sich veranlaßt zu fragen: woher stammt dieser Widerspruch der Weltbilder, und wie rechtfertigt sich die eigene Weltanschauung als echte Erkenntnis gegenüber anderen, etwa den landläufigen Meinungen. So hat schon etwa 5oo Jahre v. Chr. P a r m e n i d e s , das Haupt der Schule von E l e a , den Widerspruch zwischen seiner kühnen Lehre von der Einheit und Unveränderlichkeit des Seienden und dem herrschenden Weltbild auf die verschiedenen Q u e l l e n zurückgeführt, aus denen die widerstreitenden Überzeugungen stammen. Die echte Erkenntnis stammt, so findet er, aus der Vernunft, die landläufige Meinung aus der sinnlichen Wahrnehmung. Damit ist das Problem der „Quelle" oder „Quellen" der echten Erkenntnis aufgeworfen, welches sich immer wieder aufgedrängt hat bis i n unsere Tage. Dies Problem wird von den Eleaten i m Sinne des extremen R a t i o n a l i s m u s gelöst: die Vernunft, die ratio, ist die Q u e l l e oder G r u n d l a g e der echten Erkenntnis. Das Problem der Q u e l l e n oder G r u n d l a g e n der echten Erkenntnis ist, wie oben schon kurz dargelegt wurde, das H a u p t p r o b l e m der Erkenntnistheorie. Bald drängt der wachsende Widerstreit der vulgären, religiösen und philosophischen Weltbilder

zu weiteren Fragen. Zeigt nicht

Erkenntnistheorie.

24

dieses beständige Gegeneinander der Überzeugungen, daß eine für alle gültige Welterkenntnis unmöglich ist? So lehrt der S o p h i s t P r o t a g o r a s , daß es eine f ü r a l l e g ü l t i g e Erkenntnis nicht gibt, sondern daß eine Erkenntnis, eine Überzeugung immer nur für den Einzelmenschen gültig, f ü r andere, anders organisierte individuelle Subjekte aber nicht geltend sei ( e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r

Indi-

v i d u a l i s m u s oder S u b j e k t i v i s m u s ) . Eine „Erkenntnis" jedoch, die nicht, wie die Gleichung 2 X 2 = 4, f ü r alle gültig wäre, wäre keine echte Erkenntnis. I n der Tat lehrt ein anderer, radikalerer Sophist, der erkenηtnistheoretische N i h i l i s t G o r g i a s , daß es überhaupt keine Erkenntnis, kein Wissen gebe. Damit sind die Fragen aufgeworfen: G i b t es E r k e n n t n i s , die f ü r a l l e g ü l t i g i s t ? I s t überhaupt Erkenntnis

möglich?

Mit der Verneinung dieser Fragen konnte sich S o k r a t e s begreiflicherweise nicht abfinden. Könnten wir nicht erkennen, und zwar in f ü r alle gültiger Weise, was gut und was böse ist, so fehlte unserem praktischen, sittlichen Leben die feste Richtschnur. Gegenüber dem Subjektivismus und Nihilismus der Sophisten wollten nun S o k r a t e s und P l a t o dartun, daß u n d w i e E r k e n n t n i s m ö g l i c h ist. Diese A u f g a b e aber, die wir oben bereits der Wissenschaftslehre zugewiesen haben, f ü h r t uns wieder zu dem Hauptproblem der Erkenntnistheorie,

zu der F r a g e n a c h den Q u e l l e n

oder

G r u n d l a g e n der E r k e n n t n i s ; denn um Erkenntnis als möglich zu erweisen, muß man Quellen echter Erkenntnis, tragfähige Erkenntnisgrundlagen, aufweisen. P l a t o erblickte wiederum i r der Vernunft die Quelle oder Grundlage der echten Erkenntnis; er war also Rationalist. Sein großer Schüler A r i s t o t e l e s wußte als Naturforscher die Bedeutung der Erfahrung

als

Erkenntnisquelle

oder

- g r u n d l a g e neben

d e r V e r n u n f t zu würdigen, wenn er auch k e i n e s w e g s , wie der ausgesprochene E m p i r i s m u s , in der Erfahrung die alleinige Erkenntnisgrundlage sah. Auch in der nacharistotelischen Periode der Philosophie des Altertums werden auf das Erkennen bezügliche Fragen bearbeitet. E p i k u r huldigt dem erkenn tnis theoretischen S e n s u a l i s m u s , der in der S i n n e s Wahrnehmung, der sinnlichen Erfahrung, den L i r s p r u n g

25

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

oder die Q u e l l e

der E r k e n n t n i s findet. Der Sensualismus ist

eine spezielle Form des Empirismus, weil er nur speziell in der s i n n l i c h e n , ä u ß e r e n E r f a h r u n g den Ursprung oder die Grundlage des Erkennens sieht, während der E m p i r i s m u s sonst auch berücksichtigt, daß es außer der s i n n l i c h e n , ä u ß e r e n noch eine i n n e r e Wahrnehmung und Erfahrung unseres eigenen bewußten Seelenlebens, unseres Denkens, Fühlens, Wollens usw., gibt. Bei den S t o i k e r n r u f t der Widerstreit der Überzeugungen, an dem sich das erkenntnistheoretische Nachdenken immer wieder entzündet, die Frage nach dem Prüfstein

der E r k e n n t n i s ,

dem

K r i t e r i u m , wach, das die Wahrheit vom I r r t u m zu unterscheiden gestattet. Auch diese Frage führt auf diejenige nach den Erkenntnisgrundlagen zurück; letztere z. B. die Wahrnehmung, die Erfahrung, sind zugleich Kriterien f ü r die Wahrheit von in Frage stehenden Erkenntnissen. Die dritte Hauptrichtung der nacharistotelischen Philosophie, der Skeptizismus,

ist charakterisiert

Frage nach der

durch seine Antwort auf die

M ö g l i c h k e i t s i c h e r e r E r k e n n t n i s . Die Ant-

wort des Skeptizismus ist eine mehr oder weniger v e r n e i n e n d e . Der radikale Skeptizismus findet jede angebliche Erkenntnis durchaus zweifelhaft und kommt so dem erkenntnistheoretischen Nihilismus nahe. Doch tritt der Skeptizismus auch i n gemäßigten Formen auf. Skeptische Gedankengänge werden immer wieder angeregt durch den Widerstreit

vermeintlicher

anschauungen,

der

Erkenntnisse, insbesondere der

metaphysischen Systeme;

dieser

Welt-

Widerstreit

drängt die F r a g e nach und den Z w e i f e l an der M ö g l i c h k e i t der E r k e n n t n i s notwendig auf, drängt zur P r ü f u n g d e r G r u n d l a g e n unseres Erkennens in bezug auf ihre Haltbarkeit. Durch diese k r i t i s c h e Prüfung unseres Erkennens, insbesondere seiner Fundamente, durch die immer tiefer dringende „ E r k e n n t n i s k r i t i k " , hat sich der Skeptizismus große Verdienste erworben; die skeptische Ablehnung aller Erkenntnis erscheint freilich unhaltbar angesichts des offenbaren

Erkenntnisbesitzes

und

-fortschrittes

vieler

Wissen-

schaften, z. B. der mathematischen. Die Philosophie des ausgehenden heidnischen Altertums erstrebt, angetrieben von starkem religiösem Bedürfnis, eine Erkenntnis des

Erkenntnistheorie.

26

Göttlichen, und sie vertraut m y s t i s c h e n Q u e l l e n , aus denen unmittelbar eine solche Erkenntnis zu entspringen scheint. Unmittelbares, schauendes Erkennen und Erfassen des Göttlichen, ja Einswerden m i t i h m in der Ekstase ist das Ziel. Das Problem mystischer Erkenntnisquellen,

unmittelbarer,

intuitiver

Erfassung

des Gött-

lichen, des Höchsten und Tiefsten in der Welt, des Weltgrundes, ist durch die christliche Philosophie hindurch lebendig geblieben bis i n unsere Zeit. Die c h r i s t l i c h e

Philosophie

der

Kirchenväterzeit

und

des M i t t e l a l t e r s bearbeitet die auf unser Erkennen bezüglichen Fragen i m Anschluß an den Piatonismus, den religiös gestimmten Neuplatonismus des ausgehenden heidnischen Altertums,

sowie,

namentlich in der Blütezeit der Scholastik, i m Anschluß an Aristoteles. Augustin findet i m eigenen B e w u ß t s e i n ein festes Fundament unserer Erkenntnis und bringt damit einen großen Fortschritt. Durch jene kirchlichen Glaubenslehren, die dem „natürlichen" Erkenntnisvermögen, dein „lumen naturale", unerreichbar sind, wird die Frage nach den G r e n z e n o d e r dem U m f a n g der E r k e n n t n i s wachgerufen, die eine Verfeinerung der Frage nach der Möglichkeit des Erkennens darstellt. Denn nun bandelt es sich nicht bloß darum, ob ü b e r h a u p t Erkenntnis möglich ist, sondern genauer darum, i n w i e w e i t , bis zu welchem U m f a n g , i n wrelchen G r e n z e n Erkenntnis möglich ist, falls sie überhaupt möglich, falls ihr Umfang nicht gleich Null ist. Wie weit und hoch aber unser Erkenntnisgebäude reichen kann, hängt wieder in erster Linie davon ab, wie weit tragfähige

Grundlagen

des Erkennens reichen. Überhaupt werden

durch die Beziehungen zwischen Dogma und natürlichem Erkennen, die sich freundlich wie auch feindlich gestalten können, die Erkenntnisprobleme vielfach angeregt. Gegen Ende der Scholastik erwachsen aus diesem Verhältnis und Widerstreit Zersetzungstendenzen in der mittelalterlichen Philosophie, die zu Antrieben der Philosophie der Neuzeit werden. Die ersten Klassiker der neueren Philosophie fühlen sich als Gegner der Scholastik, als Neubegründer der Philosophie und Wissenschaft. Darum trachten sie danach, der philosophischen, überhaupt der wissenschaftlichen Erkenntnis neue, sichere Grundlagen zu geben.

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

27

So tritt die Hauptfrage der Erkenntnistheorie, das P r o b l e m der E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n , von neuem hervor, und die beiden Grundrichtungen der neuzeitlichen philosophischen Entwicklung bis auf Kant, die r a t i o n a l i s t i s c h e , die mit D e s c a r t e s , und die e m p i r i s t i s c l i e , die mit B a c o n beginnt, unterscheiden sich durch die gegensätzlichen Antworten, die sie auf diese Frage geben: dort gilt die Vernunft, hier die Erfahrung als die wichtigste Erkenntnisquelle oder -grundlage. Bei B a c o n

taucht die Idee einer b e s o n d e r e n

W i s s e n s c h a f t v o m E r k e n n e n auf, die den Zusammenhang der angedeuteten und verwandter Fragen zu behandeln hat, und sein Nachfolger L o c k e geht in einem breit angelegten Werke an die Verwirklichung dieser Idee. Die Betrachtung des wissenschaftlichen Erkennens jener Zeit, der aufblühenden naturwissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis und der sicher fortschreitenden mathematischen Vernunfterkenntnis, mußte zu Vermittlungsversuchen zwischen Empirismus und Rationalismus drängen. In der Tat sehen wir, wie i m vorkantischen Empirismus der Vernunft, dem nicht auf Erfahrungsgrundlagen ruhenden Denken, im vorkantischen Rationalismus der Erfahrung als Erkenntnisgrundlage eine mehr oder weniger bedeutende Rolle zugestanden wird. I m größten Stile hat K a n t den Versuch eines s c h i e d s r i c h t e r l i c h e n Ausgleichs tischen

zwischen

Richtungen

widerstreitenden unternommen.

In

erkenntnistheoresystematischer

Unter-

suchung w i l l er die empirischen und nicht-empirischen (— „ a p r i o r i schen") Grundlagen, auf denen die Gültigkeit unseres Erkennens beruht, freilegen und i m Zusammenhang damit auch die G r e n z e n unseres E r k e n n e n s bestimmen. K a n t s schiedsrichterlicher

Ausgleich zwischen den erkenntnis-

theoretischen Richtungen hat den Gegensatz von Rationalismus und Empirismus nicht aus der Welt geschafft. I n der nachkantischen deutschen Philosophie ist zunächst der Rationalismus neu erstarkt und wagemutig über die Grenzen hinweggeschritten, die Kant dem theoretischen Erkennen gezogen hatte. Nach dem katastrophalen Niedergang dieser rationalistischen, „spekulativen" deutschen Philosophie hat dann der N e u k a n t i a n i s m u s wieder an die kantische Erkenntnistheorie angeknüpft. Auch der Empirismus hat bei uns wie

28

Erkenntnistheorie.

in anderen Ländern neue, bedeutende Vertreter gefunden. Die Erkenntnistheorie wurde so zu der in Deutschland zeitweise durchaus vorherrschenden Disziplin, und wenn in allerjüngster Zeit auch andere philosophische Wissenschaften wieder erstarkt sind, so bleiben doch die erkenntnistheoretischen Fragen nach Grundlagen,

Möglichkeit

und Grenzen des Erkennens durchaus im Vordergrunde des philosophischen Interesses unserer Zeit.

Erkenntnispsychologie und Erkenntnistheorie. Unsere äußerst skizzenhaften philosophiegeschichtlichen Angaben dürften genügen, um zu zeigen, wie i n der Entwicklung des philosophischen Denkens mancherlei Fragen in bezug auf unser Erkennen hervorgetreten sind und, aufgedrängt insbesondere durch den unaufhörlichen Widerstreit der philosophischen Lehrmeinungen und Systeme, hervortreten m u ß t e n . W i r haben auch gesehen, wie diese Fragen nach Ursprung, Quellen, Grundlagen, nach Möglichkeit, Umfang, Grenzen, Kriterien der Erkenntnis usw. eng zusammenhängen. So erscheint die Idee einer Wissenschaft, einer T h e o r i e des E r k e n n e n s naheliegend, die diese zusammenhängenden

Fragen

in

systematischem Zusammenhange zu bearbeiten hätte. Nun ist das Erkennen ein seelischer Vorgang. Erforschung der seelischen Vorgänge, der Vorgänge des Erkennens, Fühlens und Wollens, ist Aufgabe der Seelenlehre, der Psychologie. Also scheint die E r k e n n t n i s t h e o r i e als Wissenschaft vom Erkennen i n die P s y c h o l o g i e , und zwar s p e z i e l l i n die P s y c h o l o g i e des E r k e n n e n s h i n e i n z u g e h ö r e n o d e r m i t dieser i d e n t i s c h zu sein. Diese Auffassung ist in der Tat vertreten worden. Auf der anderen Seite aber werden z. B. von Kant und vielen Philosophen der Gegenwart Erkenntnistheorie und Erkenntnispsychologie scharf geschieden, und ihre Identifizierung und unklare Vermengung werden streng getadelt. I n der Tat haben diese Wissenschaften, wie wir oben schon kurz feststellten und nun eingehender darlegen müssen, ganz verschiedene Aufgaben. Die Psychologie ist eine Wissenschaft von den w i r k l i c h e n seeli«/ ο sehen T a t s a c h e n , eine „ R e a l w i s s e n s c h a f t " vom Seelischen, die diese Tatsachen, also auch die des Erkennens, zu beschreiben, zu

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

29

klassifizieren, zu erklären, verständlich zu machen, auch ihren tatsächlichen „Ursprung" zu erforschen hat. Da es neben einwandfreien auch unvollkommene, neben zur Wahrheit führenden auch irrtümliche

Prozesse

des Erkenntnislebens,

des Wahrnehmungs-,

Er-

innerungs- und Gedankenlebens tatsächlich gibt, hat die Erkenntnispsychologie jene wie diese zu beschreiben und als wirkliche Geschehnisse zu erklären. Indessen kann man eine echte oder vermeintliche Erkenntnis noch von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus betrachten als dem tatsachenwissenschaftlichen der Erkenntnispsychologie, nämlich unter dem Gesichtspunkte des Erkenntnisideals, der g e s i c h e r t e n W a h r h e i t . Man fragt dann nicht, wie eine Erkenntnis tatsächlich in unserer Seele erlebt wird und zustandekommt, sondern ob und warum sie echt oder wahr oder gültig oder berechtigt und in ihrer Wahrheit gesichert ist. Eine Überzeugung ist vielleicht tatsächlich in einem Menschen zustandegekommen, weil sie seinen Gefühlen schmeichelte; dieser Tatsachen Z u s a m m e n h a n g ,

dieser wirkliche „Ursprung" von

Überzeugungen ist von der Psychologie zu erforschen. Dabei bleibt aber die Frage, ob jene Überzeugung wahr, gültig, berechtigt und gesichert ist, noch durchaus unentschieden; f ü r diese Frage kommt es nicht auf den t a t s ä c h l i c h e n U r s p r u n g , die t a t s ä c h l i c h e n E n t s t e h u n g s g r ü n d e der Überzeugung in diesem oder jenem Menschen an, sondern auf ihre „ R e c h t s g r ü n d e " ,

eben auf das, was ihre

Wahrheit sicherstellen kann. T a t s ä c h l i c h e

Entstehungsgründe

und w a h r h e i t s i c h e r n d e

sind wohl zu unter-

Rechtsgründe

scheiden. Der tatsächliche Entstehungsgrund der Überzeugung, daß (a-|-b) 2 =

a

2

+ 2 a b 4 - b "

ist, liegt bei einem Schüler vielleicht in

seinem Glauben an die Autorität des Lehrers oder Lehrbuches; der wahrheitsichernde Rechtsgrund aber liegt in dem mathematischen Beweisverfahren und den Axiomen, auf die es sich in letzter Linie stützt. Die psychologische Tatsachenbetrachtung des Erkenntnislebens: die Beschreibung und Erklärung desselben, die Feststellung der tatsächlichen Entstehungsgründe, bietet also wesentlich andere Aufgaben als die Betrachtung des Erkennens unter dem Gesichtspunkte des Erkenntnisideals, der Wahrheit und ihrer Sicherung.

30

Erkenntnistheorie.

Die Fragen nach der Wahrheit und der Sicherung der Erkenntnis liegen dem wahrheitsuchenden Menschengeiste aber selbstverständlich ganz besonders nahe, und gerade sie wurden den Philosophen immer wieder aufgedrängt durch den Widerstreit der Weltanschauungen, von denen jede f ü r sich in Anspruch nahm, wahr und gesichert zu sein. Und so hatte man diesen Gesichtspunkt der Wahrheit und ihrer Sicherung vornehmlich auch bei jenen auf das Erkennen sich beziehenden Fragen i m Auge, die uns oben bei unserer eiligen Durchwander ung der Philosophiegeschichte entgegengetreten sind. Wenn man nach U r s p r u n g , Q u e l l e n u n d G r u n d l a g e n der Erkenntnis fragte, so suchte man vornehmlich jenen Ursprung, solche Quellen und die Grundlagen, welche die Echtheit der Erkenntnis rechtfertigen, die Wahrheit sicherstellen. Bei dem Problem, ob Erkenntnis f ü r a l l e g ü l t i g sei, und bei der Frage nach dem K r i t e r i u m der Erkenntnis handelte es sich selbstverständlich um die echte, die wahre Erkenntnis; die Wahrheit sollte eben durch das gesuchte Kriterium sichergestellt, und zwar als f ü r alle gültig sichergestellt werden. Wenn nach der M ö g l i c h k e i t und dem U m f a n g e oder den G r e n z e n der Erkenntnis gefragt wurde, so meinte man nicht, ob t a t s ä c h l i c h Erkenntnisvorgänge i n dieser oder jener Menschenseele oder im Durchschnittsmenschen möglich seien bzw. i n diesem oder jenem Umfange möglich seien, sondern der Sinn der Fragen war, ob und inwieweit dem Menschen g r u n d s ä t z l i c h echte Erkenntnis zugänglich und ihre Wahrheit sicherbar ist. Der ganze Fragenzusammenhang, der uns zur Idee der Erkenntnistheorie führte, steht also unter dem Gesichtspunkte des Erkenntnisideals: der Wahrheit

und ihrer Sicherung. Und weil dieser be-

herrschende Gesichtspunkt, aus dem die Erkenntnistheorie die Erkenntnis betrachtet, ein wesentlich anderer ist als der Gesichtspunkt der Psychologie, die auf Beschreibung und Erklärung der Tatsachen des Seelenlebens einschließlich der Erkenntnisvorgänge zielt, hat die Erkenntnistheorie wesentlich andere Auf gaben und ist sie eine wesentlich andere Wissenschaft als die Erkenntnispsychologie. Dies schließt freilich nicht aus, daß Erkenntnistheorie und Erkenntnispsychologie, die es doch beide mit dem Erkennen zu tun haben, hier und dort einander berühren. Solche Berührungspunkte

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

31

ergeben sich etwa, wenn der Erkenntnistheoretiker nach dem Umfang oder den Grenzen unseres Erkennens fragt. Auch wenn er dabei nicht an die geistigen Fähigkeiten des einzelnen, begabten oder unbegabten Menschen denkt, muß er doch die tatsächlichen, dem Menschen zukommenden Erkenntnisvermögen der Wahrnehmung, der Erinnerung, des Schließens usw. ins Auge fassen; denn von diesen Tatsachen hängt es ab, wie weit das echte Erkennen des Menschen reichen und Wahrheit von Menschen sichergestellt werden kann. Diese tatsächlichen Erkenntnisvermögen des Menschen hat aber die Erkenntnispsychologie festzustellen, und so berührt diese sich hier mit der Erkenntnistheorie und kann ihr Dienste leisten. Das ist neuerdings manchmal übersehen worden. Die Berührungen zwischen Erkenntnistheorie

und Erkenntnis-

psychologie dürfen nicht zu unklaren Vermengungen oder zur Identifizierung der beiden Disziplinen verleiten. Die Gefahr der Vermengung liegt besonders nahe, weil manche

erkenntnistheoretischen

Fragen dem Wortlaute nach auch erkenntnispsychologisch aufgefaßt werden können. Dies gilt insbesondere von der F r a g e n a c h d e m U r s p r u n g , der Q u e l l e o d e r der G r u n d l a g e d e r E r k e n n t n i s ; es liegt sehr nahe, dies Problem

entwicklungspsychologisch

( „ p s y c h o g e n e t i s c h " ) zu verstehen, so daß es sich darum handeln würde, woher die Erkenntnisvorgänge tatsächlich in unsere Seele kommen, ob aus Sinneseindrücken,

angeborenen Anlagen,

Mit-

teilungen anderer, wie dabei unsere Gefühle und Wünsche mitbeteiligt sind, usw. Die so verstandene Frage, das „psychogenetische Ursprungsproblem", gehört zunächst nicht in die Erkenntnistheorie, weil mit der tatsächlichen Herkunft der Erkenntnisvorgänge, die von der Erkenntnispsychologie zu erforschen ist, etwa mit dem Herstammen aus der Sinneswahrnehmung oder aus angeborenen Anlagen, keineswegs schon darüber entschieden ist, wie es mit der Wahrheit der aus solchen Quellen fließenden „Erkenntnis" und mit ihrer Sicherung steht. Aus der Sinneswahrnehmung wie aus angeborenen Anlagen kann ja möglicherweise I r r t u m wie Wahrheit stammen. Wenn aber gezeigt wird, daß bzw. wie der Ursprung, die Quelle oder Grundlage einer Erkenntnis ihre Wahrheit sicherstellt, dann gewinnt die Untersuchung Bedeutung f ü r die Erkenntnistheorie; dann

Erkenntni s theorie.

32

ordnet sie sich ja deren oberstem Gesichtspunkt, dem der Wahrheitssicherung, unter. Die eigentlich erkenntnistheoretische Frage nach Ursprung, Quelle oder Grundlage der Erkenntnis richtet sich also nicht auf die tatsächlichen Entstehungsgründe, die Ursachen eines Erkenntnisvorganges, sondern auf jene „Quelle" oder „Grundlage", welche die Wahrheit der Erkenntnis sichert. Von dem p s y c h o g e n e t i s c h e n P r o b l e m des t a t s ä c h l i c h e n U r s p r u n g s

ist das e r -

kenntnistheoretische

des w a h r h e i t s i c h e r n d e n ,

rechtferti-

der S i c h e r u n g s g r u n d l a g e n

unserer Er-

genden U r s p r u n g s ,

kenntnis, durchaus zu unterscheiden. — W i r s i n d also v o r l ä u f i g zu der Idee e i n e r v o n der

tat-

s a c h e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r k e n n t n i s p s y c h o l o g i e zu u n t e r s c h e i d e n d e n E r k e n n t n i s t h e o r i e g e l a n g t , w e l c h e den K o m p l e x v o n F r a g e n n a c h U r s p r u n g , Q u e l l e n oder G r u n d l a g e n , nach M ö g l i c h k e i t

und U m f a n g oder Grenzen, nach

dem

K r i t e r i u m der E r k e n n t n i s u n d d e r g l e i c h e n u n t e r dem Gesichtspunkte

der

Wahrheit

und ihrer Sicherung

zu be-

a r b e i t e n hat.

Wirklicher Erkenntnisvorgang und logischer Erkenntnisgehalt. Die Psychologie untersucht (beschreibt, klassifiziert, erklärt) die wirklichen Erkenntnisvorgänge; f ü r sie kommt es darauf an, was i n der Seele wirklich ist. Für den erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt der Wahrheit aber kommt die seelische Verwirklichung einer Erkenntnis nicht i n Betracht. Wenn ich mich frage, ob die angebliche Erkenntnis oder das Urteil: i 3 x 17 = 221, wahr ist, dann kann ich davon absehen, ob dieses Urteil i n einer oder mehreren, Menschenseelen wirklich, als seelische Tatsache lebendig ist, weil davon die Wahrheit oder Falschheit des Urteils gar nicht abhängt. Diese hängen selbstverständlich auch nicht davon ab, ob ich selbst das Urteil denke (wenngleich ich es nicht auf seine Wahrheit prüfen kann, ohne es wirklich zu denken). Für die Wahrheitsfrage kommt also die Verwirklichung, das „Dasein" einer echten oder vermeintlichen kenntnis, eines Urteils, nicht in Betracht.

Er-

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

33

Und auch wenn ich nach der Sicherstellung einer Erkenntnis, nach der Rechtfertigung der Wahrheit eines Urteils forsche, kann ich von der Verwirklichung der Erkenntnis i n einem seelischen Vorgang, vom Dasein des Urteilsvorganges i n einer oder mehreren Menschenseelen absehen. Ist der Beweis f ü r das Urteil, daß (a + b) (a — b) = a 2 — b 2 ist, in Ordnung, so ist seine Wahrheit sichergestellt, ohne daß ich mich darum zu bekümmern brauche, ob dasselbe hier oder dort oder überhaupt in einer Seele daseiend oder wirklich ist. Für die Fragen nach der Echtheit einer Erkenntnis, der Wahrheit eines Urteils und nach deren Sicherung kommt das Dasein dieser Erkenntnis, dieses Urteils nicht in Betracht. — Fassen wir irgendein wirkliches, daseiendes Etwas von körperlicher oder seelischer Natur ins Auge, also z. B. ein Eisenstück, eine Pendelschwingung oder ein Gefühl, so können wir an diesem E t w a s oder „ G e g e n s t a n d " zwischen seinem D a s e i n und seinem Sosein unterscheiden. Das Sosein besteht in der Gesamtheit der Beschaffenheiten oder Züge des Etwas oder Gegenstandes, durch welche dieser eben so ist, wie er ist; das Dasein besteht darin, d a ß er ist oder vorhanden ist. Das Sosein (oder die „Washeit", Wesenheit oder Essenz) des Eisenstücks besteht in seiner Gestalt, Härte, Farbe, seinem spezifischem Gewicht, elektrischem und Wärme-Leitungsvermögen, seinen magnetischen Eigenschaften usw. I n Wirklichkeit kann man Dasein und Sosein eines Gegenstandes nicht trennen; wohl aber kann man in Gedanken zwischen ihnen unterscheiden. Man kann nur das Sosein beachten und berücksichtigen zu bestimmten Denkzwecken und vom Dasein absehen („abstrahieren"), und umgekehrt das Dasein beachten und vom Sosein absehen ; man kann selbstverständlich auch beide Seiten, Sosein und Dasein, beachten. — W i r hatten nun gefunden, daß f ü r die Echtheit einer Erkenntnis, die Wahrheit eines Urteils und ihre Sicherung das Dasein der Erkenntnis oder des Urteils nicht i n Betracht kommt, und daß somit bei der Wahrheits- und Wahrheitssicherungs-Frage vom Dasein der Erkenntnis oder des Urteils abstrahiert werden kann. Wenn wir vom Dasein einer Erkenntnis oder eines Urteils absehen, so bleibt uns ihr Sosein, die Gesamtheit ihrer Beschaffenheiten, durch welche Erkenntnis und Urteil so sind, wie sie sind. Und es muß also auf das B e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

3

Erkenntnistheorie.

34

Sosein der Erkenntnis oder des Urteils ankommen, ob jene echt, ob dieses wahr ist, und ob die Echtheit oder Wahrheit gesichert ist oder werden kann. I n der Tat bringt die verschiedene Beschaffenheit, das verschiedene Sosein der beiden Urteile es mit sich, daß das Urteil: 2 x 2 = 4, wahr und sicherbar, das Urteil:

2 X 2 = 5, hingegen

falsch ist. Aber es kommt n i c h t das ganze Sosein eines Erkenntnis- oder Urteilsvorganges in Betracht, wenn wir nach der Wahrheit

und

Wahrheitssicherung bei i h m fragen. W i r können bei dieser Frage nicht nur vom Dasein, sondern auch von manchen Beschaffenheiten, Zügen oder Seiten des Soseins absehen, weil auch sie für die Wahrheit oder Falschheit und die Wahrheitssicherung keine Bedeutung haben. Betrachten wir z. B. die Erkenntnis oder das Urteil: Die Erde hat die Gestalt einer abgeplatteten Kugel! Dies Urleil nimmt, wenn es in verschiedenen Menschenseelen lebendig wird, sehr verschiedene Beschaffenheit an, wie die Psychologie lehrt. Bei dem einen vollzieht sich der Erkenntnis- oder Urteilsvorgang kräftig und lebendig, bei dem anderen matt und flüchtig; ein dritter sieht dabei mit dem geistigen Auge einen Schulglobus, der vierte eine stark abgeplattete Kugel von heller Farbe in dunklem, leerem Räume oder von dunkler Farbe auf

hellem Grunde; wieder ein anderer hört innerlich, d. h. in

aus dem Gedächtnis auftauchenden Worten, den Satz: Die Erde hat die Gestalt . . . Auf

alle diese und manche anderen Seiten,

Teile oder Anhängsel des Soseins unseres Erkenntnis- oder Urteilsvorgangs, z. B. auch darauf, ob er schnell oder langsam sich abspielt, kommt es nicht an, wenn wir nach seiner Wahrheit oder Falschheit und nach deren Sicherung fragen. Also weder das Dasein, noch das ganze Sosein des Erkenntnisoder Urteils Vorgangs kommt bei diesen Fragen in Betracht. Andererseits liegt doch in der Erkenntnis oder dem Urteil, und zwar, wie w i r sahen, i m Sosein derselben, jenes Moment, das die Wahrheit oder Falschheit mit sich bringt. Wir

wollen nun diejenige

Seite des E r k e n n t n i s -

oder

U r t e i l s s o s e i n s , a u f d i e es b e i den F r a g e n n a c h der W a h r heit oder Falschheit und der W a h r h e i t s s i c h e r u n g allein an-

35

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

k o m m t , als „ l o g i s c h e n E r k e n n t n i s - o d e r U r t e i l s g e h a l t " (öder „logischen E r k e n n t n i s - oder U r t e i l s s i n n " )

bezeichnen.

Da es sich i n d e r E r k e n n t n i s t h e o r i e nun gerade um diese Fragen handelt, kommt f ü r sie auch gerade diese Seite des E r k e n n t n i s - oder U r t e i l s s o s e i n s , eben d e r l o g i s c h e E r k e n n t n i s · oder U r t e i l s g e h a l t , i n Betracht. Kurz: die Erkenntnispsychologie erforscht die daseienden „tatsächlichen", seelisch-wirklichen Erkenntnisvorgänge ; die Erkenntnistheorie betrachtet den logischen Erkenn Inisgehalt oder -sinn unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit und Wahrheitssicherung.

Fundamentalfrage der Wissenschaftslelire ; Wahrheitstheorie. W i r fanden, daß die ganze erkenntnistheoretische Fragestellung und Betrachtung vom Gesichtspunkt der Wahrheit beherrscht ist; Wahrheit und ihre Sicherung ist eben das Ziel des Erkenntnisstrebens. Wenn wir also Klarheit haben wollen über das, worauf es i n der Erkenntnistheorie ankommt, dann müssen w i r zunächst diesen beherrschenden Gesichtspunkt klarlegen. So ergibt sich als grundlegend für die Erkenntnistheorie, als Fundamental- oder, wenn man so will, als Vorfrage derselben die Pilatusfrage: W a s i s t W a h r h e i t ? Ein grundlegender Teil der Erkenntnistheorie, der übrigens auch f ü r die Logik grundlegend ist, und mit beiden zusammen als schaftslehre"

„Wissen-

bezeichnet werden kann, hat diese vielumstrittene

Frage zu bearbeiten und so eine L e h r e v o m W e s e n d e r W a h r h e i t , eine „ W a h r h e i t s t h e o r i e " zu bieten. Man kann dieselbe, wie gesagt, als grundlegenden Teil der Erkenntnistheorie auffassen; da sie aber für die Erkenntnistheorie u n d die Logik die unentbehrliche Grundlage bildet, kann man sie auch als eine V o r a r b e i t f ü r beide betrachten.

Hauptaufgabe der Wissenschaftslehre. Vielleicht w i r f t nun die Betrachtung der Hauptaufgabe der Wissenschaftslehre, welche die Wahrheitstheorie, die Logik und die Erkenntnistheorie umfaßt, neues Licht auf die Aufgaben der Erkenntnistheorie. 3*

36 Das

Erkenntnistheorie.

Erkenn tnisideal,

das

der

Erkenntnistheorie

und

ihrer

Schwesterwissenschaft, der Logik, ihren beherrschenden Gesichtspunkt gibt, fordert nicht nur Wahrheit, sondern g e s i c h e r t e Wahrheit. Erst diese macht die vollkommene Erkenntnis, das ideale Wissen, das Ziel der W i s s e n s c h a f t aus. Darum erwächst aus dem obersten Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie und Logik und damit der Wissenschaftslehre unmittelbar die zweite, die H a u p t f r a g e der letzteren: W o r i n b e s t e h t die W a h r h e i t s s i c h e r u n g ? W i e k a n n die W T a h r h e i t e i n e r E r k e n n t n i s s i c h e r g e s t e l l t w e r d e n ? I n unseren einleitenden Betrachtungen über die Hauptaufgaben der Philosophie hatten w i r der Wissenschaftslehre die Bearbeitimg der Fragen zugewiesen, o b , w i e u n d i n w i e w e i t (echte)

Erkennt-

n i s m ö g l i c h sei. Die Hauptfrage von diesen dreien ist offenbar die, w i e Erkenntnis möglich ist. Denn wenn wir wissen, w i e Erkenntnis möglich ist, so wissen w i r damit auch, daß die Frage, ο b Erkenntnis möglich ist, bejaht werden m u ß ; und i n w i e w e i t , bis zu welchem Umfange, Erkenntnis möglich ist, hängt davon ab, w i e sie möglich ist, oder, anders ausgedrückt, welche Mittel und Wege zur Erkenntnisgewinnung zur Verfügung stehen. D i e F r a g e a b e r , w i e , a u f w e l c h e W e i s e , (echte) E r k e n n t nis m ö g l i c h ist, f ä l l t m i t der Frage, wie W a h r h e i t sicherg e s t e l l t w e r d e n k a n n , i m P r i n z i p zusammen. Denn ein Verfahren, von dem ich weiß, daß es m i r echte, also wahre Erkenntnisse gibt, stellt m i r die Wahrheit der betreffenden Erkenntnisse sicher; und umgekehrt gibt m i r ein Verfahren, daß m i r die Wahrheit irgendwelcher Urteile (Vermutungen, Annahmen usw.) sicherstellt, damit echte Erkenntnisse. I n der Tat haben die Verfahren der Wahrnehmung (Beobachtung) und des Schließens zugleich die Aufgabe, E r k e n n t n i s z u g e w i n n e n und W a h r h e i t

sicherzustellen.

D i e H a u p t f r a g e der WTissenschaf tslehre: W i e k a n n W a h r h e i t s i c h e r g e s t e l l t w e r d e n ? oder: W i e i s t (echte) E r k e n n t n i s m ö g l i c h ; w i e k a n n sie g e w o n n e n w e r d e n ? stellt das wesentlichste Motiv der Entstehung und Entwicklung dieser Disziplin und speziell auch der Erkenntnistheorie seit der Zeit der Eleaten dar. Mit der alten Frage nach den Quellen oder Grundlagen der Erkenntnis zielte man ja doch i n erster Linie auf j e n e Quellen, die echte

37

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

Erkenntnis l i e f e r n und s i c h e r n , auf d i e Grundlagen, welche die W a h r h e i t der Erkenntnis s i c h e r s t e l l e n ; ebendies sollte auch das gesuchte Kriterium der Wahrheit leisten. Nicht immer gelingt es unserem Erkenntnissireben,

gesicherte

Wahrheit zu erreichen; oft müssen w i r uns auch in der Wissenschaft bei unseren Problem-Lösungs-Versuchen m i t W a h r s c h e i n l i c h k e i t begnügen. Mit der Gewinnung wahrscheinlicher Problem-Lösungen suchen wir dem Ideal gesicherter Erkenntnis möglichst nahe zu kommen. D i e W i s s e n s c h a f t s l e h r e w i r d d a h e r a u c h zu f r a g e n haben, w i e W a h r s c h e i n l i c h k e i t g e w o n n e n w e r d e n k a n n , wo g e s i c h e r t e E r k e n n t n i s u n e r r e i c h b a r ist.

Hauptaufgabe der Logik. Wenn wir echte, wohlgesicherte Erkenntnis betrachten wollen, um herauszufinden, wie Erkenntnis möglich ist, und worin Wahrheitssicherung besteht, so werden uns etwa die Lehrsätze der reinen Mathematik in den Sinn kommen. Die Sicherung dieser Lehrsätze wird

durch

ihre Beweise

geleistet,

die

aus

zusammengefügten

Schlüssen bestehen. So e r s c h e i n t das s c h l i e ß e n d e B e w e i s e n als eine

Art

der

Wahrheitssicherung,

der

Gewinnung

ge-

s i c h e r t e r E r k e n n t n i s . I n der U n t e r s u c h u n g des s c h l i e ß e n d e n Beweisens erblicken wir i m Anschluß an A r i s t o t e l e s , St. M i l l u. a. die H a u p t a u f g a b e der L o g i k . Da die schließenden Beweise sich aus Schlüssen verschiedener Form zusammensetzen und die Schlüsse wieder aus Urteilen verschiedener Form, in welchen dann Begriffe als Bausteine sich finden, und da auch hier die Erforschung des Zusammengesetzten immer die Kenntnis des Einfacheren voraussetzt, hatte die L o g i k von den B e g r i f f e n , U r t e i l e n , S c h l ü s s e n und endlich von den s c h l i e ß e n d e n Beweisen zu handeln. Selbstverständlich kann die Logik nicht alle die zahllosen Begriffe, Urteile, Schlüsse und schließenden Beweise behandeln, die in den Wissenschaften

und i m

außerwissenschäftlichen

Erkennen

vor-

kommen, sondern nur die Arten o d e r Formen der B e g r i f f e ,

Ur-

t e i l e , Schlüsse u n d s c h l i e ß e n d e n Beweise, die hier oder dort auf den mannigfachen Erkenntnisgebieten Anwendug finden können. Man definiert die Logik vielfach als die W i s s e n s c h a f t v o n d e n

Erkenntnistheorie.

38

F o r m e n des D e n k e n s , wobei hinzuzufügen wäre, daß diese Formen von der Logik unter dem G e s i c h t s p u n k t der W a h r h e i t

und

W a h r h e i t s s i c h e r u n g zu untersuchen sind. Diese Definition der Logik läuft schließlich ungefähr auf dasselbe heraus, wie unsere Begriffsbestimmung, da Begriffe, Urteile, Schlüsse und schließende Beweise dann als die wichtigsten Denkformen zu gelten haben. Zur Hauptaufgabe der Logik, der Untersuchung der schließenden Beweise und ihrer Bestandteile, der Schlüsse (die ihrerseits schon einfache Beweise darstellen), Urteile und Begriffe, kommt dann noch die damit eng zusammenhängende Aufgabe der Untersuchung einiger gedanklicher Hilfsoperationen, wie der Begriffsbestimmung („Definition"), Einteilung u. dgl. Die L o g i k

ist

d e m n a c h die W i s s e n s c h a f t ,

welche

die

s c h l i e ß e n d e n Beweise u n d i h r e B e s t a n d t e i l e ( u n d g e d a n k l i c h e H i l f s o p e r a t i o n e n des E r k e n n e n s ) u n t e r dem G e s i c h t s p u n k t e der W a h r h e i t u n d W a h r h e i t s s i c h e r u n g u n t e r s u c h t .

Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie. Ein Blick auf das wissenschaftliche (z. B. das mathematische) Erkennen zeigt, daß das schließende Beweisen bei der Wahrheitssicherung eine ungeheure Rolle spielt. Jedoch ist es f ü r sich genommen keinesfalls imstande, unsere Erkenntnis zu sichern. Denn das schließende Beweisen von Erkenntnissen setzt, wie an den mathematischen Beweisen sogleich zu ersehen ist, immer schon Erkenntnisse voraus, a u s denen etwas erschlossen und bewiesen wird. Aus dem Nichts heraus kann man nichts erschließen. Nun werden die Erkenntnisse, aus denen etwas erschlossen und so bewiesen wird, vielfach ihrerseits durch schließendes Beweisen gesichert. Aber dieses setzt dann wiederum, wie am Beispiel der Mathematik sogleich sich bestätigt, schon Erkenntnisse voraus, aus denen geschlossen wird. Und so bedeutet das schließende Beweisen immer nur eine Sicherstellung von Erkenntnissen durch Erkenntnisse, nach deren Sicherung dann von neuem zu fragen ist; Erkenntnisse werden durch andere sichergestellt, und diese wiederum durch andere und so fort. Wenn es aber bei dieser Zurückführung auf weitere und weitere Erkenntnisse nicht schließlich solche gäbe, welche nicht erst

39

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

durch schließendes Beweisen sicherzustellen sind, von denen vielmehr die Kette der schließenden Beweise als von festen Ursprungspunkten ausgehen kann, dann hinge eben diese ganze Kette (oder das Netzwerk) der schließenden Beweise haltlos i n der L u f t . Es muß also wohl fundamentale Erkenntnisse, letzte Erkenntnisgrundlagen geben, die nicht erst durch schließendes Beweisen, sondern auf irgendeine andere Art zu sichern oder zu rechtfertigen sind. Sind solche sicheren Erkenntnisgrundlagen in genügender Weise vorhanden, dann kann auf sie das schließende Beweisen bauen und, Schlüsse auf Schlüsse türmend, höher und immer höher emporstreben. Gibt es aber keine solchen, ohne schließendes Bew(isen sicheren Fundamental-Erkenntnisse, so kann uns kein schließendes Beweisen gesicherte Erkenntnisse liefern. W i r stehen hier also vor der Schicksalsfrage des Erkennens. Über Sein oder Nichtsein, Möglichkeit oder Unmöglichkeit echter, gesicherter Erkenntnis entscheidet die Antwort auf die Frage nach den letzten, ohne schließendes Beweisen sicherzustellenden oder zu rechtfertigenden Erkenntnisgrundlagen. D i e E r f o r s c h u n g der l e t z t e n E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n , a u f denen die G ü l t i g k e i t u n d W a h r heitssicherung

aller weiteren Erkenntnisse r u h t ,

ist

die

H a u p t a u f g a b e der E r k e n n t n i s t h e o r i e . Das Hauptproblem der W/ssenschaftslehre, die Frage, wie echte Erkenntnis möglich oder wie Wahrheit sicherbar ist, verzweigt sich also in zwei Aufgaben, in die Hauptaufgabe der Logik, die Uniersuchung des erkenntnis-liefernden und -sichernden schließenden Beweisens, und die Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie, die Erforschung der letzten Sicherungsgrundlagen der Erkenntnis; vor beiden Aufgaben steht das Fundamentalproblem der Wissenschaftslehre, die Aufgabe der Wahrheitstheorie : die Frage nach dem Wesen der Wahrheit. — (Die Bezeichnungen Logik und Erkenntnistheorie sind leider, wie so viele philosophische Fachausdrücke, nicht eindeutig. Die ganze Wissenschaftslehre wird zuweilen als Logik, seltener auch als Erkenntnislehre oder -theorie bezeichnet. Die Erkenntnistheorie in dem oben festgelegten Sinne würden wir an sich lieber

Erkenntnis-

g r u n d l a g e n t h e o r i e nennen. Doch soll man, wie früher schon be-

40

Erkenntnistheorie.

tont, nicht ohne Not neue philosophische Fachausdrücke einführen; es gibt ihrer ohnehin schon verwirrend viele. An sich sagte man wohl auch besser Erkenntnis- oder Wissenslehre statt Wissenschaftslehre; denn was diese lehrt, gilt nicht nur von der wissenschaftlichen, sondent auch von der außerwissenschaftlichen Erkenntnis. Immerhin haben wir in der Wissenschaft das dem Erkenntnisideal zustrebende Erkennen in vollkommenster Ausprägung vor uns. Der Ausdruck Erkenntnislehre aber ist dem W o r t Erkenntnistheorie doch gar zu verwandt, das fast stets nur einen Teil der Wissenschaftslehre bezeichnet, und häufig wird Erkenntnislehre mit Erkenntnistheorie, nicht aber mit Wissenschaftslehre im Ganzen gleichgesetzt. — Nicht selten wird, besonders bei von Kant stärker beeinflußten Philosophen, von Erkenntniskritik statt von Erkenntnistheorie gesprochen. —) Es liegt auf der Hand, daß in der Tat i m außer wissenschaftlichen wie i m wissenschaftlichen Denken grundlegende Erkenntnisse vorausgesetzt werden, die man ohne schließenden Beweis für gesichert hält, und auf die dann das schließende Beweisen baut. Solche letzten Erkenntnisgrundlagen erblickt man in den durch E r f a h r u n g , also durch B e o b a c h t u n g , durch W a h r n e h m u n g , gesichert erscheinenden Erkenntnissen. Daß die schwache Saccharin-Lösung, die ich soeben bei einem Experiment trinke, kräftig süß schmeckt, und daß ich jetzt die Vorstellung eines kleinen, weißen Zuckerstückes in meinem Bewußtsein habe, erscheint m i r nicht durch schließenden Beweis, sondern durch e r f a h r u n g l i e f e r n d e s i n n l i c h e bzw. i n n e r e o d e r S e l b s t - W a h r n e h m u n g gesichert. Daß es solche durch Erfahrung, durch Wahrnehmung gesicherte Erkenntnisgrundlagon geben kann und in Hülle und Fülle gibt, erscheint ohne weiteres plausibel. Aber außer diesen d u r c h E r f a h r u n g g e s i c h e r t e n , „ e m p i r i s c h e n " E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n scheint es auch n i c h t - d u r c h - E r f a h r u n g - g e s i c h e r t e ,

nicht-empirische,

„ a p r i o r i s c h e " E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n zu geben. W i r erinnern zunächst an die Axiome der reinen Mathematik, an Erkenntnisgrundlagen wie die Sätze: Sind zwei Größen einer dritten gleich, so sind sie auch untereinander gleich; das Ganze ist größer als sein Teil; a + b = b + a . Diese Sätze scheinen (es ist freilich nicht unbestritten) sicher und doch nicht bloß empirisch gesichert oder gerechtfertigt

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

41

zu sein; man hat jedenfalls den Eindruck, daß sie über alle Erfahrung hinaus und unabhängig von i h r gelten müssen. Auch die als wichtige Erkenntnisgrundlage dienende Überzeugung (auf die der Naturforscher bei seinem Schließen beständig baut), daß die Naturgesetze auch dort gelten, wo ihr Walten nicht beobachtet wurde, also z. B. auch in Zukunft gelten, ist nicht durch Erfahrung sichergestellt; wir haben ja vom Nichtbeobacihieten, z. B. von der Zukunft, keine Erfahrimg. Es scheint also auch mancherlei wichtige Erkenntnisgrundlagen zu geben, die nicht durch Erfahrung gesichert werden, sondern auf irgendeine andere Weise zu rechtfertigen sind. W i r nennen sie (wie überhaupt n i c h t d u r c h E r f a h r u n g , s o n d e r n a u f andere W e i s e zu r e c h t f e r t i g e n d e

Erkenntnisse)

nicht-empirisch

oder

a p r i o r i s c h . Es ist, wie gesagt, von vornherein einigermaßen plausibel, daß Erkenntnisgrundlagen empirisch gesichert werden können; weit dunkler erscheint die Frage, w i e es

nicht-empirische,

a p r i o r i s c h e E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n geben k ö n n e . Hier handelt es sich in der Tat um ein besonders schwieriges Teilproblem der Hauptaufgabe unserer Wissenschaft, um ein Teilproblem, mit dem Kant mit der ganzen Energie seines Denkens gerungen hat, ohne seiner in befriedigender Weise Herr zu werden. — Die wahrheitsichernden oder rechtfertigenden Grundlagen der Erkenntnis oder jene Faktoren, die, wie die Wahrnehmung oder E r fahrung, die Sicherung oder Rechtfertigung der Erkenntnisgrundlagen bieten, kann man auch als wahrheitsichernde oder rechtfertigende „ Q u e l l e n " oder „Ursprünge" der Erkenntnis bezeichnen. Die

erkenntnistheoretisch

verstandene

Frage

nach

den

„ Q u e l l e n " o d e r „ U r s p r ü n g e n " der E r k e n n t n i s i s t d e m n a c h mit

der

erkenntnistheoretischen

Hauptfrage

nach

den

w a h r h e i t s i c h e r n d e n oder r e c h t f e r t i g e n d e n G r u n d l a g e n der E r k e n n t n i s i d e n t i s c h ; sie ist aber durchaus zu unterscheiden von der entstehungspsychologischen Frage nach den tatsächlichen Quellen oder Ursprüngen der seelisch-wirklichen, daseienden Erkenntnisvorgänge. — Was gehört nun zur Lösung der Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie, zur Erforschung der Erkenntnisgrundlagen unter dem Ge-

42

Erkenntnistheorie.

sichtspunkte der Wahrheit und Wahrheitsicherung? Die erste T e i l a u f g a b e , die zu erledigen ist, besteht in der F e s t s t e l l u n g d e r Erkenntnisgrundlagen.

Das ist nicht einfach eine psychologi-

sche oder wissenschaf tsgeschichtliche Aufgabe; denn die Grundlagen, auf die unsere durch Schließen beweisbaren Erkenntnisse logisch sich stützen, sind zuweilen weder in der Seele der Forscher, noch in der Geschichte der Wissenschaften zu finden. Sie müssen vielmehr durch l o g i s c h e Z e r g l i e d e r u n g unserer Erkenntnisse aufgedeckt werden. W i r müssen uns fragen, ob und wie diese Erkenntnisse schließend bewiesen werden können ; wir müssen prüfen, aus welchen „Vordersätzen" oder Beweisgrundlagen die zu erschließenden Erkenntnisse zu beweisen sind. So kommen dann die verborgenen, sonst nicht zum Bewußtsein gelangenden letzten Erkenntnisgrundlagen zutage. Selbstverständlich sind nicht alle Erkenntnisgrundlagen verborgen. Manche von ihnen treten i m Bewußtsein der Forscher, in der Darstellung der Forschungen und i n der Geschichte der Wissenschaften deutlich hervor, wie das z. B. bei einer Reihe von mathematischen Axiomen der Fall ist. Darum können die Psychologie der Forschung und die Geschichte der Wissenschaften der Erkenntnistheorie die Feststellung der Erkenntnisgrundlagen erleichtern. Eine Anzahl von Erkenntnisgrundlagen ist bereits von der Erkenntnistheorie

festgestellt

worden.

Ob schon a l l e

Erkenntnis-

fundamente festgestellt sind, bleibt zweifelhaft. Selbstverständlich kann nicht jede einzelne empirische Erkenntnisgrundlage, die irgendwo durch Wahrnehmung gewonnen wird, besonders von der Erkenntnistheorie behandelt werden. Es kommen ganze Klassen vori Erkenntnisgrundlagen in Betracht. Letztere müssen also k l a s s i f i z i e r t , überhaupt g e o r d n e t werden, wie überall, wo eine Wissenschaft eine größere Vielheit von Objekten (z. B. Pflanzen oder Tieren) zu erforschen hat, eine Klassifikation und Ordnung derselben durchzuführen ist. Die Klassifikation und Ordnung muß sich auf die V e r w a n d t s c h a f t s b e z i e h u n g e n und V e r s c h i e d e n h e i t e n der E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n stützen. Überhaupt muß selbstverständlich die Bes c h a f f e n h e i t der Erkenntnisgrundlagen studiert werden.

43

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

Am w i c h t i g s t e n sind f ü r den Erkenntnistheoretiker, entsprechend dem für ihn maßgebenden Gesichtspunkt, die Fragen, ob d i e E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n w a h r , ob u n d w i e sie g e s i c h e r t s i n d . W i r müssen dabei von vornherein mit der Möglichkeit rechnen, daß es unentbehrliche Erkenntnisgrundlagen gibt, deren Sicherung uns nicht oder doch nicht ganz gelingt. Dann werden wir uns wohl oder übel damit begnügen müssen, solche Grundlagen oder

Voraus-

setzungen irgendwie zu r e c h t f e r t i g e n , so g u t es eben geht.

Nebenaufgaben der Erkenntnistheorie. An die Hauptaufgabe der Erkenntnistheorie schließen sich nun Nebenaufgaben an, wie sich schon i n unserer historischen Skizze zeigte. An erster Stelle sei die alte Frage nach der M ö g l i c h k e i t

der

E r k e n n t n i s angeführt. Diese Frage findet ihre Beantwortung durch die Erforschung der Erkenntnisgrundlagen. Gäbe es keine gesicherten Erkenntnisgrundlagen,

so gäbe es überhaupt keine gesicherte Er-

kenntnis; denn auf unsicheren Grundlagen läßt sich kein gesichertes Erkenntnisgebäude errichten; mit jenen bleibt auch das, was aus ihnen erschlossen wird, unsicher. Gibt es aber gesicherte Erkenntnisgrundlagen (und wir werden festzustellen haben, daß es solche gibt, z. B. in Gestalt von Wahrnehmungs-Erkenntnissen), so haben wir in ihnen ja bereits gesicherte Erkenntnisse, und die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis ist dann also sogleich bejahend zu beantworten. Eine Verfeinerung dieser Frage liegt in dem Problem, w i e w e i t E r k e n n t n i s m ö g l i c h ist. Damit stehen wir vor einer zweiten, wichtigen Nebenaufgabe der Erkenntnistheorie, vor der Frage nach dem U m f a n g oder den Grenzen d e r f ü r uns m ö g l i c h e n E r k e n n t nis. Da das Schließen keine Zaubertätigkeit ist, die aus den „Vordersätzen", den Grundlagen, von denen es ausgeht, etwas herausholen könnte, was in keiner Weise schon in und mit ihnen feststeht, ergibt sich, daß der Umfang und die Grenzen der möglichen Erkenntnis durchaus von der R e i c h w e i t e der E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n

ab-

hängen. Auch die Bearbeitung dieser Nebenfrage führt auf die Haupt-

M

Erkenntnistheorie.

frage der Erkenntnistheorie, auf die Untersuchung der letzten Erkenn tnisgrundlageii, zurück. Ein weiterer Komplex von Problemen betrifft, so möchte ich es ausdrücken, die „ z u r ü c k f ü h r b a r e n

Erkenn tnisgrundlagen".

Es handelt sich hier um weitreichende Annahmen, auf welche sich das außerwissenschaftliche Erkennen, aber auch Wissenschaften wie Physik, Geschichte usw. stützen, ohne daß ihnen dies zum Bewußtsein zu kommen braucht; um Annahmen, welche meist als selbstverständlich angesehen und darum i m Rahmen der Einzelwissenschaften nicht beachtet oder doch nicht genau genug betrachtet, nicht oder nicht genügend gerechtfertigt zu werden pflegen. Zurückführbar

nenne ich diese f ü r wissenschaftliches und außerwissen-

schaftliches Erkennen grundlegenden Annahmen,

weil sie durch

Schließen auf die l e t z t e n , nicht weiter zurückführbaren Erkenntnisgrundlagen zurückgeführt rückführbaren

werden können. Beispiele solcher z u -

Erkenntnisgrundlagen

bieten, wie unten zu

zeigen sein wird, die Annahmen der E x i s t e n z u n d E r k e n n b a r k e i t e i n e r A u ß e n w e l t a u ß e r h a l b unseres B e w u ß t s e i n s sowie eines Seelenlebens i n unseren M i t m e n s c h e n . Diese Annahmen werden von den Vertretern der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften wie von jedermann i m täglichen Leben als etwas Selbstverständliches

vorausgesetzt.

Scheinbar

Selbstverständliches

aber kann falsch sein (wie z. B. die Annahme, daß die Erde unbeweglich inmitten des Himmelsgewölbes ruhe, die auch vielen selbstverständlich war und ist) ; jene weitreichenden Annahmen, auf welche w i r in Einzelwissenschaften bauen, bedürfen daher sehr der genauen kritischen Betrachtung und Sicherung. Die Erkenntnistheorie, die aufs strengste auf Wahrheitssicherung zu sehen hat, muß die von den Einzelwissenschaften vernachlässigte Untersuchung der zurückführbaren Erkenntnisgrundlagen durchführen und womöglich ihre Sicherung nachholen. — Als Lösung der Frage, ob e c h t e E r k e n n t n i s o d e r W a h r h e i t n u r f ü r das E i n z e l i n d i v i d u u m o d e r aber f ü r a l l e g i l t , wird sich uns aus der Feststellung des Wesens der Wahrheit, also in der Wahrheitstheorie, ergeben, daß Wahrheit f ü r a l l e gelten muß. — Was endlich die Frage nach den K r i t e r i e n oder K e n n z e i c h e n

Aufgabe der Erkenntnistheorie.

45

der W a h r h e i t angeht, so wird eine erschlossene Erkenntnis dadurch iils wahr gekennzeichnet, daß sie aus gesicherten Erkenntnisgrundlagen mittels gesicherter Schlußformen gewonnen wird. Somit sind Εrkeimtnisgr undlagen und Schlüsse, Erkenntnistheorie und Logik an der Kennzeichnung des Wahren beteiligt. Das ist schließlich selbstverständlich ; denn die Kennzeichen des Wahren sollen die Erkenntnis sicherstellen; die Frage aber, wie Erkenntnis sicherzustellen ist, ist die Hauptfrage der ganzen Wissenschaftslehre, der Erkenntnistheorie und Logik.

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis. Der logische Urteilsgehalt als Träger der Wahrheit. W i r wollen nun an die Grundfrage nicht nur der Erkenntnistheorie, sondern der ganzen Wissenschaftslehre herantreten, an die Frage: W a s i s t W a h r h e i t ? Da ist zunächst eine Vorfrage zu behandeln, die Frage nämlich: W o k o m m e n W a h r h e i t u n d das G e g e n t e i l v o n

Wahrheit:

F a l s c h h e i t , ü b e r h a u p t vor? Wir

schreiben Wahrheit

und

Falschheit den verschiedensten

Gegenständen, z. B. auch körperlichen Objekten, zu. So sprechen w i r z. B. von einem w a h r e n Orkan oder von einem f a l s c h e n Zopf. Das ist nun offenbar ein übertragener Sprachgebrauch; der Orkan ist stark, aber nicht i m eigentlichen Sinne wahr, und der Zopf ist nicht i m entsprechenden Sinne falsch oder nicht-wahr, sondern nachgemacht und täuschend. Wenn w i r sagen : Das ist ein wahrer Orkan, so meinen wir eigentlich nicht, der Orkan selbst sei wahr, sondern wir wollen sagen, daß die Behauptung, das U r t e i l : Das ist ein Orkan, wahr ist. Und den angehängten Zopf nennen wir i m übertragenen Sinne falsch, weil er das falsche U r t e i l nahelegt, er sei auf dem Kopf, der ihn trägt, gewachsen und eingewurzelt. So wenden w i r die Prädikate wahr und falsch auch auf manche seelische G e g e n s t ä n d e nur in übertragenem Sinne an. Wenn wir einen Menschen einen wahren Helden nennen, wobei wir in erster Linie seine Seele i m Auge haben, so wollen wir wieder eigentlich ausdrücken, daß das U r t e i l : Dieser Mensch ist ein Held, wahr, und zwar unzweifelhaft wahr ist. Und wenn wir ein Gefühl, das etwa ein Liebender zeigt, z. B. seinen Abschiedsschmerz, wahr nennen, so wollen w i r sagen, das Gefühl sei nicht vorgetäuscht, sondern tatsächlich vorhanden, sodaß uns durch den Gesichtsausdruck usw.

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

47

nahegelegte U r t e i l , das Gefühl sei i n dem Liebenden lebendig, wahr ist. Wenn der Dichter mahnt: Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr! Laß nie die Lüge deinen Mund entweihn ! so zeigt die zweite Zeile, wie das geforderte Wahr-Sein des Kindes im übertragenen Sinne zu verstehen ist. Kind, sei wahr! heißt: sprich wahr, sprich keine Lüge aus! oder noch tiefer und richtiger verstanden: Gestalte Deinen Charakter so, daß D u nur wahre U r t e i l e zu fällen und auszusprechen bemüht sein wirst. Auch bloße V o r s t e l l u n g s b i l d e r sind nicht wahr oder falsch. Ich sage zwar: „ I c h hatte eine falsche Vorstellung vom Niederrhein", wenn in meinem Vorstellungsbild die Farbe des Stromes grüner, seine Breite geringer erschien, als sie in Wirklichkeit ist. Aber nicht das bloße Vorstellungsbild als solches war schon falsch, so wenig irgendeine Phantasievorstellung als solche wahr oder falsch ist. Das Vorstellungsbild war einfach da in meiner Seele; falsch aber wrar die eng mit dem Vorstellungsbild verbundene Ü b e r z e u g u n g , das U r t e i l , daß dies Bild dem wirklichen Niederrhein, seiner Farbe und Breite entspreche. Ebenso steht es, wenn wir von wahren oder falschen B e g r i f f e n sprechen. W i r

sagen freilich, das Kind, das meint, jede Pflanze

müsse eine Wurzel und Blätter haben, habe einen falschen Begriff. Aber der Begriff eines Wesens, das eine Wurzel und Blätter hat, ist an sich weder falsch noch wahr; falsch ist erst die Anwendung, die das Kind von diesem Begriff macht, indem es u r t e i l t ,

jede

Pflanze sei ein Wesen, das eine Wurzel und Blätter hat. E i n B e g r i f f ist ein Gedanke, w e l c h e r i r g e n d e i n Etwas, einen

„Gegen-

s t a n d " i m w e i t e s t e n S i n n e des W o r t e s (z. B. ein Pferd, eine Kreisbewegung, eine imaginäre Zahl) d e n k t , o h n e etwas zu beh a u p t e n , zu u r t e i l e n . Ein solcher bloßer Begriff kann verwendbar und wertvoll, oder er kann unnütz sein, wie etwa der Begriff eines kilometerhohen, grünen Pferdes ; aber falsch ist dieser unnütze Begriff nicht, da er ja nichts behauptet. Erst wenn w i r in Urteilen unsere Begriffe

anwenden, etwa den B e g r i f f Säugetier auf den

Walfisch anwendend u r t e i l e n : Der Walfisch ist ein Säugetier, dann

48

Erkenntnistheorie.

kommt Wahrheit oder Falschheit in Frage. Solange wir aber nur Begriffe bilden, Begriffsmerkmale zusammendenken, ohne etwas zu behaupten, also ohne zu urteilen, kann von Wahrheit und Falschheit nicht die Rede sein ; selbst unsinnige Begriffe, wie der einer violetten, dreieckigen Tugend, und widersinnige, wie der einer

durch

2

teilbaren ungeraden Zahl, sind nicht eigentlich falsch i m Sinne von unwahr, da sie nichts behaupten. W i r stoßen also immer wieder auf Überzeugungen, Behauptungen usw., kurz, auf U r t e i l e als Träger der Eigenschaften wahr und falsch. A l l e U r t e i l e u n d n u r U r t e i l e h a b e n die E i g e n s c h a f t der W ' a h r h e i t o d e r der F a l s c h h e i t . Jedes Urteil urteilt, besagt, behauptet etwas, und das stimmt dann entweder, oder es stimmt nicht, ist entweder wahr oder nicht-wahr. Und nur dort kann i m eigentlichen Sinne von Wahrheit oder Falschheit ( = Unwahrheit) die Rede sein, wo etwas ausgesagt, behauptet, angenommen, kurz, wo geurteilt wird. W i r haben nun bereits früher erkannt, daß f ü r die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils sein Dasein und auch manche Seiten seines Soseins nicht in Betracht kommen, sondern daß es dabei nur auf den l o g i s c h e n U r t e i l s g e h a l t ankommt. I h m und i h m allein, so können w i r nun hinzufügen, kommt Wahrheit oder Falschheit zu. D i e l o g i s c h e n U r t e i l s g e h a l t e u n d n u r sie s i n d d i e e i g e n t l i c h e n T r ä g e r der W a h r h e i t u n d der Falschheit.

Wesen der Erkenntnis und des Wissens. «Wahrheiten*. Jede echte Erkenntnis ist wahr; da nach dem Dargelegten nur Urteile wahr sein können, muß also j e d e E r k e n n t n i s e i n U r t e i l , u n d z w a r e i n w a h r e s , r e p r ä s e n t i e r e n . Umgekehrt stellt jedes wahre Urteil eine Erkenntnis dar. Zu einer v o l l k o m m e n e n

Er-

kenntnis, einem W i s s e n , gehört überdies die S i c h e r u n g der Wahrheit. Damit ist das Wesen der Erkenntnis und des Wissens angegeben. D e r l o g i s c h e E r k e n n t n i s g e h a l t , d. h. die Seite des Erkenntnissoseins, auf der die Wahrheit der Erkenntnis beruht, i s t i d e n t i s c h m i t dem l o g i s c h e n G e h a l t eines w a h r e n U r t e i l s . Eine bloß vermeintliche Erkenntnis, die also nicht eine Wahrheit,

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis

49

sondern eine Unwahrheit darstellt, ist als etwas Unwahres ein falsches Urteil. W i r haben soeben von „ e i n e r Wahrheit", „ e i n e r Unwahrheit" gesprochen. Damit ist nicht Wahrheit oder Unwahrheit als etwas dem Urteil Zukommendes gemeint, sondern das wahre bzw. unwahre Urteil selbst. Man nennt wahre Urteile kurz „ W a h r h e i t e n " , falsche Urteile kurz

„Unwahrheiten". E r k e n n t n i s s e u n d W a h r h e i t e n

s i n d also i d e n t i s c h . Oft meint man übrigens nicht das wahre bzw. falsche reale Urteil, sondern den w a h r e n bzw. f a l s c h e n l o g i s c h e n U r t e i l s g e h a l t , wenn man von e i n e r W a h r h e i t bzw. e i n e r U n w a h r h e i t spricht. Man muß also beachten, daß die Wörter Wahrheit und Unwahrheit mehrdeutig sind. Einmal bedeuten Wahrheit und Unwahrheit (=

Falschheit)

etwas, was Urteilen zukommt, sozusagen Eigen-

schaften der Urteile, und i n diesem Sinne werden hier die Wörter meist gebraucht. Andererseits versteht man unter einer Wahrheit ein Urteil

oder einen l o g i s c h e n

U r t e i l s g e h a l t , dem die Eigen-

schaft Wahrheit anhaftet, und unter einer Unwahrheit ein Urteil oder einen logischen Urteilsgehalt, dem Unwahrheit oder Falschheit eigen ist. Ein unabsichtlich falsches Urteil nennt man einen Irrtum. Die Vermengung der eben unterschiedenen

Bedeutungen

des

Wortes Wahrheit hat zuweilen Verwirrung in der Erkenntnistheorie angerichtet.

Außerwissenschaftliche oder realistische Wahrheitsauffassung. W i r kehren nun zur Grundaufgabe der Wissenschaftslehre zurück und fragen: Worin bestehen die „Eigenschaften 44 von Urteilen, die wir Wahrheit und Falschheit nennen. Die nächstliegende Antwort, die der außer wissenschaftlichen Auffassung entsprechen dürfte, wird etwa lauten: W a h r i s t e i n U r t e i l , w e n n es „ s t i m m t " ,

d. h. ü b e r e i n s t i m m t m i t d e m

Wirk-

l i c h e n , über das man urteilt. Wahr ist das Urteil: Die Münchener Frauenkirche ist 99 m hoch, wenn sie in Wirklichkeit so hoch ist. U n w a h r oder f a l s c h

wäre

dementsprechend ein U r t e i l ,

das n i c h t m i t d e m b e u r t e i l t e n W i r k l i c h e n B e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

übereinstimmt. 4

Erkenntnistheorie.

50

Falsch ist z. B. das Urteil: München hat eine Million Einwohner, da es in Wirklichkeit nicht so vi Die

angeführte

fassung,

hat.

a u ß e r wisse n s c h a f t l i c h e

die übrigens

vielfach

in

die

Wahrheitsauf-

Wissenschaft herüber-

genommen wird, können wir auch als die r e a l i s t i s c h e bezeichnen, w eil nach i h r die Übereinstimmung mit dem Wirklichen oder Realen die Wahrheit ausmacht.

Real- und Idealgegenstände, Real- und Idealurteile, Real- und Idealwissenschaften. Die realistische Wahrheitsauffassung klingt sehr annehmbar, und wir meinen, daß sie in der Tat der richtigen Ansicht vom Wesen der Wahrheit nahe kommt. Doch bedarf sie einer Erweiterung Es gibt nämlich

Urteile, die gar nicht von etwas Wirklichem

sprechen, und deren Wahrheit also auch nicht in der Übereinstimmung mit Wirklichem bestehen kann. Man denke z. B. an Urteile über imaginäre Zahlen, wie etwa: i 3 = — i ; dieses Urteil bezeichnet der Mathematiker als wahr und das andere: i 3 = i, als falsch, obgleich hier von Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit W i r k lichem nicht die Rede sein kann, da imaginäre Zahlen in der W i r k lichkeit nicht vorkommen. W i r stoßen hier darauf, daß es nicht nur w i r k l i c h e o d e r reale, sondern auch „ i d e a l e " G e g e n s t ä n d e gibt; zu diesen gehören nämlich die imaginären Zahlen, auch der Pegasus und das Schlaraffenland. W i r müssen nun die Begriffe des Real- und des Idealgegenstandes klären, um zu einer Wahrheitsauffassung zu gelangen, die nicht nur auf Urteile über Wirkliches, über Realgegenstände, sondern auch auf Urteile über Idealgegenstände anwendbar i s t Zu diesem Ende stellen w i r zunächst fest, was hier unter einem Gegenstande zu verstehen i s t E i n G e g e n s t a n d o d e r O b j e k t i m Sinne

der Wissenschaftslehre

i s t n i c h t n u r jedes

wirk-

l i c h e Etwas, sondern ü b e r h a u p t alles, w o m i t sich i r g e n d ein

Gedanke

befassen k ö n n t e . Darum sind alle körperlichen

Dinge, Eigenschaften, Vorgänge und Beziehungen, aber auch alle seelischen Realitäten,

ferner

auch

imaginäre

Zahlen,

goldene

Schlösser und andere unwirkliche Phantasiegebilde Gegenstände i m

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

51

Sinne der Erkenntnistheorie; denn m i t alledem könnten sich Gedanken befassen. Es gibt nichts so Verborgenes in der weiten W i r k lichkeit, i m Unsichtbar-Kleinen, in fernster Vergangenheit oder Zukunft, das nicht Gegenstand in diesem Sinne wäre; denn mit alledem könnte sich i m Prinzip ein Gedanke, etwa ein göttlicher, befassen. Was ist nun speziell ein w i r k l i c h e r G e g e n s t a n d , ein R e a l o b j e k t ? Nahe liegt die Antwort: W i r k l i c h ist ein Gegenstand, der wirkt oder doch wirken kann. Tatsächlich ist das Wirken ein immerfort in Leben und Wissenschaft benütztes, beweisendes Zeichen f ü r die Wirklichkeit eines Wirkenden. Wenn w i r an einem sonnigen Morgen Straßen und Gärten naß finden, so sagen w i r etwa: Es hat wirklich geregnet, weil uns die W i r k u n g des Regens als beweisendes Zeichen f ü r

seine in diesem Falle bereits in der Vergangenheit

liegende Wirklichkeit dient. Der Planet Neptun wurde aus seinen Störungswirkungen

auf den Nachbarplaneten Uranus von Bessel,

Leverrier und Adams als wirklich erschlossen, ehe er wahrgenommen wurde. Nur Wirkliches wirkt, und wir dürfen wohl annehmen, daß alles Wirkliche wirkt. Indessen wenn w i r von einem Etwas aussagen, es sei wirklich, so meinen wir doch noch etwas anderes, als daß es wirkt oder wirken kann. Darum kann ich z. B. von meinem Zahnschmerz sicher sagen, daß er wirklich ist, ohne mich darum zu kümmern, ob er wirkt oder wirken kann. Es ist die Auffassung vertreten worden, daß die Bewußtseinsinhalte, d. h. Empfindungen, Gefühle,

Wünsche usv., also auch der Zahnschmerz, nicht wirken

können; dürfte

ich nun, wenn ich diese Auffassung f ü r richtig

hielte, nicht mehr sagen: Ich habe w i r k l i c h Zahnschmerzen!? Ich meine, ich dürfte dies trotzdem sagen; denn meine unmittelbare Wahrnehmung derselben verbürgt mir, daß diesen Schmerzen D a sein zukommt i n meinem Bewußtsein, und w i r n e n n e n a l l e s , was D a s e i n h a t , a u c h w i r k l i c h . W i r k l i c h k e i t o d e r R e a l i t ä t i s t dasselbe w i e Dasein. (Man könnte auf den Oedanken kommen, zwischen Dasein und wirkungsfähigem wirklich

Dasein zu unterscheiden, und nur das letztere

zu nennen.

Indessen entspräche diese

Unterscheidung 4«

Erkenntnistheorie.

52

schwerlich dem Sprachgebrauch, der alles Daseiende wirklich nennt, ohne sich erst darum zu kümmern, ob es zu wirken vermag. Es liegt aber kein genügender Anlaß vor, hier dem Sprachgebrauch zum Trotz

zu unterscheiden, da alles Daseiende wohl auch wirkungs-

fällig ist. Man hat auch zuweilen zwischen Wirklichkeit und Realität unterschieden und wirklich das i m Bewußtsein Daseiende, also z. B. den Zahnschmerz, real aber das außerhalb des Bewußtseins Daseiende genannt. Diese Unterscheidung erscheint m i r terminologisch höchst unglücklich, da man doch sonst überall die Wörter wirklich und real als gleichbedeutend ansieht. Viel besser erscheint es mir, das i m Bewußtsein Daseiende als „bewußtseinswirklich", das außerhalb des Bewußtseins

Daseiende als „außerbewußt-wirklich"

zu be-

zeichnen.) Wras aber unter „ D a s e i n " zu verstehen ist, das wissen w i r v o n dem Daseienden her, welches w i r i n unserem Bewußtsein w a h r n e h m e n , von unseren Sinneswahrnehmungs-, Gedächtnis- und Phantasiebildern,

Denkvorgängen,

Gefühlen, Wünschen, Willens-

akten usw. Sie alle haben bei aller Verschiedenheit ihres Soseins dies gemein, daß sie Dasein haben, und w e n n w i r v o n dem Sosein d i e s e r „ B e w u ß t s e i n s i n h a l t e " a b s t r a h i e r e n , so erfassen w i r das i h n e n g e m e i n s a m e M o m e n t des Daseins o d e r der Wirklichkeit. Noch deutlicher tritt das, was wir Dasein oder Wirklichkeit nennen, hervor, wenn w i r gleichen.

es m i t

Nicht-Daseiendem, Unwirklichem ver-

Nicht-Daseiendes kann ich zwar nie unmittelbar wahr-

nehmen, aber doch denken. So kann ich jetzt, wo kein Zahnschmerz in meinem Bewußtsein wirklich ist, doch denken, fingieren (wenn auch nicht glauben), daß Zahnschmerz in meinem Bewußtsein sei. I m Unterschied zu diesem unwirklichen, nur gedachten Zahnschmerz ist

ein w i r k l i c h e r

Zahnschmerz, überhaupt e i n

daseiender

G e g e n s t a n d , n i c h t n u r g e d a c h t , s o n d e r n er i s t u n a b h ä n g i g d a v o n , ob

er

g e d a c h t w i r d , ob er G e g e n s t a n d eines Ge-

d a n k e n s i n i r g e n d e i n e r Seele ist. Das gilt auch z. B. von einem wirklichen, daseienden Gedanken; auch er ist miabhängig davon, ob

Wahheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

er G e g e n s t a n d eines Gedankens ist, d. h. ob ein zweiter Gedanke sich auf ihn richtet, sich mit ihm befaßt. Diese Eigenschaft des Wirklichen, Daseienden, unabhängig zu sein davon, ob es Gegenstand eines Gedankens ist, d. h. ob ein Gedanke sich auf dasselbe richtet, ist ein bedeutsamer Zug desselben. Wenn jemand sagt: Gott hat Dasein, ist wirklich, so w i l l er vielleicht gerade dies betonen, daß Gott nicht bloß Gegenstand unserer Gedanken, sondern unabhängig davon ist. Aus dem Umstände, daß unser Begriff des Daseins von der Betrachtung unserer Bewußtseinsinhalte herstammt, aus ihnen gewonnen ist durch

Abstraktion

von ihrem

Sosein, darf man nicht

schließen, daß er also auch nur auf unsere Bewußtseinsinhalte anwendbar sei, daß nur diese Dasein hätten oder wirklich seien. Dieser Fehlschluß ist tatsächlich gemacht worden. Indessen kann ich einen Begriff auch auf andere Gegenstände anwenden als auf diejenigen, durch deren Betrachtung ich ihn gewonnen habe. Den Begriff des Metalles habe ich wohl durch Betrachtung von festen Metallen gewonnen; ich kann ihn aber auch auf flüssiges Metall, auf Quecksilber, anwenden. So kann ich den Begriff des Daseienden, W i r k lichen, den ich aus in meinem Bewußtsein daseienden Gegenständen (Empfindungen, Gefühlen usw.) gewonnen habe, auch anwenden auf Gegenstände, die nicht in meinem Bewußtsein, sondern etwa i m Bewußtsein eines Mitmenschen oder außerhalb der Bewußtseine von Menschen, Tieren usw. sind. W i r werden später sehen, daß triftige Gründe für eine solche Anwendung bestehen. Nach der Auffassung des täglichen Lebens, die auch in den Einzelwissenschaften (der Physik, Zoologie, Psychologie usw.) durchaus vorherrscht, sind nicht nur die seelischen, in unserem Bewußtsein sich findenden Tatsachen wirklich, sondern vor allem die körperlichen Dinge, Eigenschaften und Vorgänge; ferner wird vielfach auch Unbewußt-Seelischem Wirklichkeit zugesprochen. D i e daseienden oder w i r k l i c h e n G e g e n s t ä n d e z e r f a l l e n also n a c h der a u ß e r u n d der e i n z e l w i s s e n s c h a f t l i c h e n A u f f a s s u n g i n d i e b e i d e n g r o ß e n K l a s s e n der seelischen u n d der k ö r p e r l i c h e n R e a l objekte. Urteile

über

Realgegenstände

nennen w i r

Realurteile;

Erkenntnistheorie.

W i s s e n s c h a f t e n , d i e a u f d i e E r k e n n t n i s r e a l e r Gegenstände a b z i e l e n , b e z e i c h n e n w i r als R e a l w i s s e n s c h a f t e n . Der Einteilung der Realobjekte i n seelische (geistige) und körperliche entspricht die einschneidende Einteilung der Realwissenschaften in G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n (Psychologie, Geschichte, Philologie, Nationalökonomie usw.) und N a t u r w i s s e n s c h a f t e n (Physik, Chemie, Astronomie, Zoologie usw.). Dabei ist zu bedenken, daß die Geisteswissenschaften das Seelisch-Geistige i m Zusammenhang mit Körperlichem behandeln, weil es in unserer Erfahrung stets an Körperliches gebunden erscheint — Übrigens ist die Einteilung der Realwissenschaften i n Geistes- und Naturwissenschaften nicht allgemein als zweckmäßig anerkannt

Sie scheint uns aber dem Ganzen dieser

Wissenschaften am besten zu entsprechen. — W i r kamen zu dem Ergebnis, daß Realobjekte daseiende Gegenstände sind. Was unterscheidet nun Idealobjekte, wie die imaginären Zahlen, von den Reaiobjekten? Den imaginären Zahlen fehlt die Wirklichkeit oder das Dasein, und ebenso ist es beim Pegasus und dem Schlaraffenland.

Eigenschaften oder eine Beschaffenheit, ein

Sosein, ein Wesen, haben jedoch auch die imaginären Zahlen, der Pegasus und das Schlaraffenland. A l l g e m e i n n e n n e n w i r G e g e n s t ä n d e , d i e z w a r e i n S o s e i n , aber k e i n D a s e i n h a b e n , I d e a l objekte. Idealobjekte können durch gedankliche Neukonstruktion (Umbildung und Kombination anderer Gegenstände) g e s c h a f f e n w e r d e n ; so haben die Geometer durch begriffliche Neubildung die Idealobjekte: vierdimensionaler Raum, sphärischer Raum usw. geschaffen; so haben die Zahlenwissenschaftier die imaginären Zahlen erdacht

Aber

I d e a l o b j e k t e können auch d u r c h Erfassung

des b l o ß e n Soseins r e a l e r G e g e n s t ä n d e u n t e r F o r t l a s s u n g i h r e s Daseins ( u n t e r „ A b s t r a k t i o n " v o n diesem) g e w o n n e n werden. So gewinnen wir, wenn wir vom Dasein der roten Farbe abstrahieren, den Idealgegenstand oder das bloße Sosein Rot. Diese G e w i n n u n g von I d e a l o b j e k t e n , von bloßen Soseins-Gegens t ä n d e n , d u r c h F o r t l a s s u n g des D a s e i n s v o n r e a l e n Gegens t ä n d e n i s t das p r i m ä r e V e r f a h r e n z u r E r l a n g u n g v o n I d e a l o b j e k t e n ; sekundär können dann durch gedankliche Umbildung,

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

Neukombination usw. aus den so gewonnenen Idealobjekten neue konstruiert werden. Zu den I d e a l g e g e n s t ä n d e n gehören d i e l o g i s c h e n E r k e n n t nis-

u n d U r t e i l s g e h a l t e ; denn diese kommen ja dadurch zu-

stande, daß wir vom Dasein der Erkenntnisse und Urteile (und überdies von manchen Seiten ihres Soseins) abstrahieren. Ferner gehören zu den Idealobjekten s ä m t l i c h e G e g e n s t ä n d e der r e i n e n M a t h e m a t i k , a u c h d i e der r e i n e n G e o m e t r i e , also nicht nur die imaginären Zahlen, vierdimensionalen Räume u. dgl., sondern auch die reellen Zahlen i , -8, y 2 ,

der Punkt, die Gerade, die Ellipse, die

Kugel. Denn die reine Mathematik abstrahiert überall vom etwaigen Vorkommen ihrer Objekte i n der Wirklichkeit; f ü r sie ist es i m Prinzip gleichgültig, ob es in Wirklichkeit Anzahlen von Objekten, Summen, Geraden, Kugeln usw. gibt. Sie behandelt diese und alle ihre Gegenstände nur mit Rücksicht auf ihre Beschaffenheit, ihr Sosein, ohne Rücksicht auf ihre etwaige Realität. Die elementarsten mathematischen Soseinsgegenstände sind zunächst aus Realobjekten durch

Abstraktion

vom Wirklichsein und weitere vereinfachende

Abstraktion von Teilen oder Seiten gewonnen; so kommen wir von 2 Stäbchen zur reinen Zahl 2, von einem geraden Strich an der Tafel zur geometrischen geraden Linie usw. Aus den so durch Abstraktion aus wahrgenommenen, „anschaulichen" Realobjekten gewonnenen elementaren mathematischen Idealobjekten können dann durch Neukonstruktion, durch Umbildung, Kombination usw., kurz durch D e f i n i t i o n , weitere mathematische Idealobjekte in unbegrenzter Zahl gewonnen werden; so z. B. die höheren positiven ganzen Zahlen. Übrigens sind nicht etwa a l l e durch Abstraktion aus Realobjekten gewonnenen Gegenstände des Denkens Idealobjekte. Wenn der Physiker vom Licht oder vom elektrischen Strom spricht, der Psychologe von der Empfindungsintensität, der Historiker von der Kultur der Renaissance, so handelt es sich um Gegenstände, die durch Abstraktionsprozesse aus den zugrundeliegenden konkreten physikalischen, psychischen, historischen

Realitäten gewonnen sind; aber diese

Gegenstände sind a b s t r a k t e

R e a l o b j e k t e , weil bei jenen Ab-

straktionsprozessen keineswegs γόη der Wirklichkeit abstrahiert, sondern diese vielmehr den genannten Objekten gelassen wurde ; Der

Erkenntnistheorie.

Physiker meint das wirkliche Licht, wenn er in abstrakter, allgemeiner Weise vom Licht, etwa von seiner Fortpflanzungsgeschwindigkeit, spricht; und so meint der Psychologe die wirkliche Intensität wirklicher

Empfindungen,

der Historiker die Kultur, die in der

Renaissance wirklich war. Durch

Abstraktion

werden

also aus k o n k r e t e n

Real-

o b j e k t e n I d e a l o b j e k t e oder abstrakte Realobjekte gewonn e n , j e n a c h d e m b e i der A b s t r a k t i o n v o n der W i r k l i c h k e i t a b s t r a h i e r t w i r d , o d e r n i c h t v o n d i e s e r , s o n d e r n n u r von Soseinsmomenten abstrahiert wird. — Wie

wir

Urteile

über

(konkrete oder abstrakte)

Real-

o b j e k t e R e a l u r t e i l e n e n n e n , so b e z e i c h n e n w i r U r t e i l e ü b e r I d e a l o b j e k t e als I d e a l u r t e i l e . W i e w i r W i s s e n s c h a f t e n , d i e a u f die E r k e n n t n i s v o n R e a l o b j e k t e n z i e l e n , R e a l w i s s e n s c h a f t e n n e n n e n , so bezeichnen wir

Wissenschaften,

objekten

die auf

a b z i e l e n , als

die E r k e n n t n i s

von

Ideal-

I d e a l w i s s e n s c h a f t e n . Als klassisches

Beispiel einer Idealwissenschaft sei die reine Mathematik angeführt.

Objektivistische Wahrheitsauffassung. Die rea istische Wahrheitsauffassung besagt, ein Urteil sei wahr, wenn es übereinstimmt mit dem Wirklichen, über das es urteilt. Diese Auffassung ist zu eng, weil es Urteile gibt, die nicht über wirkliche, sondern über Idealgegenstände etwas aussagen. Die Erweiterung, deren die realistische Wahrheitsauffassung bedarf, um nicht nur auf Realgegenstände, sondern auch auf Idealgegenstände anwendbar zu werden, ergibt sich fast von selbst: E i n U r t e i l i s t w a h r , w e n n es m i t d e m b e u r t e i l t e n Gegenstande ü b e r e i n s t i m m t , mag dieser nun ein realer oder ein idealer sein. Das Realurteil: Der Himmel ist blau, ist wahr, wenn es mit dem beurteilten Realgegenstande übereinstimmt, also wenn der wirkliche Himmel tatsächlich blau ist; das Idealurteil: Das gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, ist wahr, weil es mit dem beurteilten Idealgegenstande, dem gleichseitigen Dreieck, übereinstimmt;

dieses muß ja, wie leicht be-

wiesen werden kann, gleichwinklig sein.

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

W i r können ohne weiteres hinzufügen: E i n U r t e i l i s t f a l s c h , w e n n es m i t d e m b e u r t e i l t e n G e g e n s t a n d e n i c h t

überein-

stimmt. Die soeben angeführte Wahrheitsauffassung bezeichnen w i r als o b j e k t i v i s t i s c h e , weil nach i h r der beurteilte G e g e n s t a n d darüber entscheidet, ob ein Urteil wahr ist. Der Gegenstand gibt gleichsam die Norm dafür ab, was von i h m prädiziert werden darf; nur das darf von i h m ausgesagt werden, was m i t i h m übereinstimmt. Leicht ergibt sich nun eine etwas genauere Bestimmung der objektivistischen Auffassung. Mit dem U r t e i l s g e g e n s t a n d soll das Urteil übereinstimmen. Damit feststeht, womit es übereinstimmen soll, muß also das Urteil den Urteilsgegenstand irgendwie f e s t legen. Dies geschieht durch einen Teilgedanken, der i m Urteil enthalten ist, nämlich durch den S u b j e k t s b e g r i f f . W i r haben oben schon gesagt: E i n

B e g r i f f i s t e i n G e d a n k e , der e i n e n

be-

s t i m m t e n G e g e n s t a n d d e n k t , o h n e ü b e r i h n zu u r t e i l e n . So denkt auch der i m Urteil enthaltene S u b j e k t s b e g r i f f

einen be-

stimmten Gegenstand und l e g t i h n d a d u r c h f e s t als denjenigen, mit dem das Urteil übereinstimmen soll. I n dem Urteil: Das Isarwasser ist weißlichgrün, legt der Subjektsbegriff: Isarwasser, den beurteilten Gegenstand fest. Mit

dem

vom

Subjektsbegriff

festgelegten,

dem

be-

u r t e i l t e n oder S u b j e k t s - G e g e n s t a n d e soll nun das wahre Urteil übereinstimmen. Was das heißt, wird klar an einem Beispiel, etwa an dem Urteil: Das Isarwasser ist weißlichgrün. Dieses (Real-)Urteil müßte als wahres mit dem Urteilsgegenstande, dem wirklichen Isarwasser, übereinstimmen; an letzterem müßte sich also etwas finden, womit das Urteil übereinstimmt. I n der Tat, an dem wirklichen Isarwasser finden wir, daß es weißlichgrün ist, finden wir „das W e i ß lichgrünsein

des I s a r w a s s e r s " ,

und mit diesem „objektiven

Sachverhalt" stimmt das Urteil genau überein, da es ja dasselbe, nämlich „das Weißlichgrünsein des Isarwassers", aussagt. A l s „ o b j e k t i v e n S a c h v e r h a l t " b e z e i c h n e n w i r das a m U r t e i l s - o d e r S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s i c h F i n d e n d e , m i t d e m das U r t e i l i m F a l l e der W a h r h e i t ü b e r e i n s t i m m t . I n unserem Falle ist also das Weißlichgrünsein des Isarwassers, das an dem wirklichen Isar-

Erkenntnistheorie.

wasser sich findet, der (reale) objektive Sachverhalt. Zu dem Idealurteil : Das gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, gehört als (idealer) objektiver Sachverhalt das Gleichwinkligsein des gleichseitigen Dreiecks, das an diesem Idealobjekt sich findet. Da der logische Urteilsgehalt dasjenige am Urteil ist, was wahr oder falsch ist, muß gerade er beim wahren Urteil mit dem objektiven Sachverhalt übereinstimmen. E i n l o g i s c h e r U r t e i l g e h a l t i s t w a h r , w e n n er m i t e i n e m an d e m S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s i c h findenden

objektiven

Sachverhalt

übereinstimmt.

Darin

liegt das S t i m m e n , das Z u t r e f f e n des Urteils. Hinzufügen dürfen w i r nun sogleich: E i n

logischer

Urteilsgehalt

ist falsch,

w e n n er n i c h t m i t e i n e m an d e m U r t e i l s g e g e n s t a n d e s i c h findenden objektiven Sachverhalt

übereinstimmt.

Damit ist eine genauere, allerdings etwas geschraubte Formulierung der objektivistischen findet

Wahrheitsauffassung

erreicht. Gewiß

sich an dem Isarwasser „das Weißlichgrünsein des Isar-

wassers"; aber es findet sich doch zunächst an i h m einfach das Weißlichgrün.

Und dies Weißlichgrün, das ein „ Z u g " ,

eine

„Seite", ein „Moment" des Gegenstandes Isarwasser, ein an diesem sich findender, von i h m in der Abstraktion absonderbarer Gegenstand ist, stimmt nun überein mit dem Gegenstande, der i m P r ä d i katsbegriff

unseres wahren

Urteils: Das Isarwasser ist w e i ß -

l i c h g r ü n , gedacht und damit festgelegt ist. Wenn wir dies beachten und verallgemeinern, so kommen wir zu der folgenden Formulierung: E i n l o g i s c h e r U r t e i l s g e h a l t i s t w a h r , w e n n d e r

im

P r ä d i k a t s b e g r i f f gedachte u n d d a d u r c h festgelegte Gegenstand ü b e r e i n s t i m m t

mit

(oder g l e i c h i s t ) e i n e m Gegen-

s t a n d e , der a m S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s i c h f i n d e t . Nennen wir den i m

Prädikatsbegriff

gedachten Gegenstand „Prädikatsgegen-

stand", so können w i r kurz sagen: E i n l o g i s c h e r U r t e i l s g e h a l t i s t w a h r , w e n n d e r P r ä d i k a t s g e g e n s t a n d e i n e m am S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s i c h f i n d e n d e n G e g e n s t a n d e g l e i c h ist. Nennen w i r ein an einem Gegenstande sich findendes Etwas ein „Moment" demselben, so ergibt sich die Formulierung: E i n l o g i s c h e r U r t e i l s gehalt

ist

wahr,

wenn sein

Prädikatsgegenstand

einem

M o m e n t seines S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s g l e i c h ist. Ohne weiteres

Wahrheittheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

können w i r hinzufügen: E i n l o g i s c h e r U r t e i l s g e h a l i i s t f a l s c h , wenn sein P r ä d i k a t s g e g e n s t a n d n i c h t e i n e m M o m e n t e seines Subjektsgegenstandes gleich i s t W i r können nun noch eine weitere Modifikation an unserem Ergebnis vornehmen. Wenn w i r urteilen: Das Isarwasser ist

weiß-

lichgrün, so haben w i r bei dem „weißlichgrün" eigentlich nicht ein solches i m Auge, das dem Weißlichgrün des Isarwassers nur gleich wäre; sondern wir

wollen das a m I s a r w a s s e r s i c h f i n d e n d e

Weißlichgrün durch das Urteil dem Isarwasser zusprechen. Und wahr ist unser Urteil, wenn das i m Prädikat gedachte Weißlichgrün am Isarwasser als ein Moment desselben sich findet, mit anderen Worten: wenn dieses Weißlichgrün m i t einem Moment des Isarwassers nicht nur gleich, sondern geradezu identisch i s t

Formu-

lieren wir wiederum allgemein, was wir an unserem Beispiel festgestellt haben, so ergibt sich: W a h r i s t e i n l o g i s c h e r gehalt,

wenn der

stand i d e n t i s c h

im

Prädikatsbegriff

Urteils-

gedachte Gegen-

i s t m i t e i n e m M o m e n t des i m S u b j e k t s -

b e g r i f f g e d a c h t e n G e g e n s t a n d e s ; oder kürzer: W a h r i s t e i n logischer

Urteilsgehalt,

wenn

der

Prädikatsgegenstand

e i n M o m e n t des S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s i s t , oder, anders ausgedrückt: w e n n das i m P r ä d i k a t s b e g r i f f G e d a c h t e a m S u b j e k t s g e g e n s t a n d s i c h f i n d e t W i r fügen sogleich hinzu: F a l s c h ist ein logischer U r t e i l s g e h a l t , wenn der P r ä d i k a t s g e g e n s t a n d k e i n M o m e n t des S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s ist. Diese objektivistische Wahrheits- und Falschheitsauffassung paßt für alle Urteile, f ü r Ideal- wie Realurteile. Das Realurteil : Die Rose duftet, ist wahr, wenn der Prädikatsgegenstand, d. h. das i m Prädikat Gedachte, also „duften", „Rose"

ein Moment

des Subjektsgegenstandes

ist, d. h. an der Rose sich findet. Das Idealurteil: Das

gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, ist wahr, weil der Prädikatsgegenstand, die Eigenschaft „gleichwinklig", ein Moment des Subjektsgegenstandes, des gleichseitigen Dreiecks i s t Das Beziehungsoder Relationsurteil: Diamant ist härter als Glas, ist wahr, weil das i m Prädikatsbegriff Gedachte, das „härter als Glas 44 , ein Moment des Diamanten, genauer: des Diamanten i m Verhältnis zum Glase, ist; und der Diamant i m Verhältnis zum Glase ist in unserem Urteil

Erkenntn istheorie.

60

der eigentliche Subjektsgegenstand, d. h. der Gegenstand, über den geurteilt wird. Der Prädikatsgegenstand oder das Moment des Subjektsgegenstandes, m i t dem jener i m wahren Urteil identisch ist, kann einfacher, aber auch mehr oder weniger zusammengesetzter Natur sein. Ein recht komplexer Prädikatsgegenstand liegt z. B. in dem Urteil vor: Fechner ist ein entschiedener Vertreter der empirisch-induktiven Methode in der Metaphysik. I m Grenzfalle kann der Prädikatsgegenstand eines wahren Urteils mit

dem ganzen Subjektsgegenstand

identisch sein, wie in dem ebenso wahren, wie trivialen Urteil: A ist A. W i r brauchen diesen Grenzfall in unserer Formulierung der objektivistischen Wahrheitsauffassung wohl nicht ausdrücklich zu berücksichtigen; w i r können ja jeden Gegenstand als ein Moment seiner selbst, als Grenzfall eines solchen Moments auffassen.

Bestandteile des logischen Urteilsgehaltes. Der logische Begriffsgehalt. Als logischen Urteilsgehalt bezeichneten wir jene Seite des Soseins eines Urteils, von der dessen Wahrheit oder Falschheit abhängt. W i r haben jetzt festgestellt, daß die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils allein davon abhängt, ob der Prädikatsgegenstand i m oder am Subjektsgegenstand sich findet, ob er i h m als Seite, Zug, Teilgegenstand, oder wie man es nennen mag, angehört. Bei der Wahrheitsfrage kommt es also auf dreierlei an: i . auf den Prädikatsgegenstand, 2. auf den Subjektsgegenstand, 3. auf die Beziehung der Angehörigkeit, des Sich-Findens des Prädikatsgegenstandes am Subjektsgegenstand oder, wie wir auch sagen können, auf die Identität des Prädikatsgegenstandes mit einer Seite des Subjektsgegenstandes. Am Urteil entsprechen diesen drei Punkten: i . der Prädikatsbegriff, 2. der Subjektsbegriff, 3. die Kopula, d. h. der Beziehungsgedanke der An- oder Zugehörigkeit des Prädikatsgegenstandes zum Subjektsgegenstande. Auf diese drei Teile des Urteils kommt es aber bei der Wahrheitsfrage nur insoweit an, als sie eben für die Festlegung ι . des Prädikatsgegenstandes, 2. des Subjektsgegenstandes, 3. der Angehörigkeitsbeziehung in Betracht kommen;

denn diese letz-

teren drei Faktoren bestimmen ja primär über

Wahrheit

und

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

(J^

Falschheit des Urteils. Folglich gehören zum logischen Urteilsgehalt der Prädikatsbegriff, der Subjektsbegriff und die Kopula nur insoweit, als sie zur Festlegung des Prädikatsgegenstandes, des Subjektsgegenstandes und der An- oder Zugehörigkeitsbeziehung jenes Gegenstandes zu diesem in Betracht kommen. Dafür kommt aber nicht das ganze D r u m und Dran des Prädikatsbegriffes, des Subjektsbegriffes und der Kopula i n Betracht, nicht ob sie unter Begleitung dieser oder jener Vorstellung, ob sie kurz oder lang, von Hans oder Kunz gedacht werden; sondern dafür kommt (wie beim logischen Urteilsgehalt)

nur eine Seite ihres Soseins in Betracht, diejenige

nämlich, die den Prädikatsgegenstand, den Subjektsgegenstand bzw. die

Angehörigkeitsbeziehung

jenigen

S e i t e n des

festlegt.

Soseins

Wir

nennen n u n

die-

des P r ä d i k a t s b e g r i f f e s ,

des

S u b j e k i s b e g r i f f e s u n d der K o p u l a , d u r c h d i e w i r den P r ä dikatsgegenstand,

den

Subjektsgegenstand,

bzw.

jene

I d e n t i t ä t s - oder A n g e h ö r i g k e i t s b e z i e h u n g

f e s t l e g e n , den

logischen

des S u b j e k t s -

Gehalt

des

Prädikatsbegriffes,

b e g r i f f e s u n d der K o p u l a . Da nun diese drei logischen Gehalte den Prädikatsgegenstand, den Subjektsgegenstand und die Identitäts- oder Angehörigkeitsbeziehung festlegen, und da es nur auf die drei Letztgenannten bei der Frage nach Wahrheit oder Falschheit des Urteils ankommt, entscheiden als Urteilsbestandteile jene drei logischen Gehalte und sie allein über Wahrheit oder Falschheit. Somit gehören sie und sie allein zum logischen Urteilsgehalt, der ja aus den Bestandteilen oder Seiten des Urteils besteht, die über Wahrheit und Falschheit entscheiden. W i r kommen so zu folgendem f ü r die ganze Wissenschaftslehre sehr wichtigen Ergebnis: D e r l o g i s c h e U r t e i l s g e h a l t aus

dem

logischen

Subjektsbegriffes

Gehalt

besieht

des P r ä d i k a t s b e g r i f f e s ,

des

u n d der K o p u l a .

Nunmehr haben wir den Begriff des logischen Gehaltes, zu dem uns der die ganze Wissenschaftslehre beherrschende Gesichtspunkt der Wahrheit bei der Betrachtung der Erkenntnis oder des Urteils führte, auch auf B e g r i f f e angewandt, und zwar speziell auf die Subjektsbegriffe, die Prädikatsbegriffe und den Kopula begriff. A l l gemein können wir nun sogleich definieren: D e r l o g i s c h e G e h a l t

6

Erkenntnistheorie.

eines B e g r i f f e s i s t j e n e Seite seines Soseins, d u r c h die d e r Begriffsgedanke

den v o n i h m g e d a c h t e n G e g e n s t a n d be-

s t i m m t o d e r f e s t l e g t . Wie der Begriff diese Festlegung des Gegenstandes (durch Angabe von Merkmalen desselben usw.) erreicht, wird i n der Logik untersucht Es liegt die Frage nahe, wie es möglich ist, daß der Begriff des logischen Gehaltes, der doch aus dem Gesichtspunkt der Wahrheit entspringt, auch auf B e g r i f f e anwendbar ist, obwohl diese nicht wahr oder falsch sind. Darauf wäre zu antworten, daß es der Zweck der Begriffe ist, als Subjekts- und Prädikatsbegriffe in Erkenntnissen, in Urteilen zu fungieren, und in dieser Funktion, zusammengefügt i m Urteil, gewinnen sie auch Bedeutung f ü r die Wahrheit; darauf beruht es, daß wir auch bei Begriffen vom logischen Gehalt sprechen können.

Abgeleitete Eigenschaften der Wahrheit und der Falschheit. Aus dem dargelegten Wesen der Wahrheit und der Falschheit lassen sich leicht weitere Eigenschaften derselben, bzw. der wahren und falschen logischen Urteilsgehalte, der Wahrheiten und Unwahrheiten, ableiten. Ob ein Urteil wahr oder falsch ist, das hängt nur vom logischen Urteilsgehalt ab; es hängt gar nicht davon ab, i n wessen Seele dieser logische Urteilsgehalt Dasein gewinnt. D i e W a h r h e i t eines l o g i schen U r t e i l s g e h a l t s

gilt für

a l l e , die i h n d e n k e n ,

u,nd

ebenso d i e F a l s c h h e i t . Wahr ist eben ein logischer Urteilsgehalt, wenn der i m logischen Prädikatsbegriffsgehalt festgelegte Gegenstand sich an dem durch den logischen Subjektsbegriffsgehalt festgelegten Gegenstande findet; falsch ist ein logischer Urteilsgehalt, wenn jener Gegenstand sich nicht an diesem findet. A u f das Individuum, welches das Urteil denkt, kommt es also gar nicht an, sondern nur auf den logischen Prädikats- und Subjektsbegriffsgehalt, zuletzt auf die durch diese Begriffsgehalte festgelegten Gegenstände. Denken verschiedene Individuen denselben logischen Urteilsgehalt und damit denselben Prädikatsbegriffs- und Subjektsbegriffsgehalt, so legen sie damit denselben Prädikats- und Subjektsgegenstand fest Ist nun dieser Prädikatsgegenstand eine Seite dieses Subjektsgegenstandes, so denken eben

W a h r i t s t h o r i . Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

a l l e jene Individuen ein wahres Urteil; ist er es nicht, so denken sie a l l e ein falsches Urteil. Der Sophist Protagoras war also i m Unrecht, als er die nur individuelle Geltung, die Subjektivität der Erkenntnis lehrte. Eine echte Erkenntnis hat ü b e r i n d i v i d u e l l e G e l t u n g , eine Wahrheit, d. h. ein wahrer logischer Urteilsgehalt, ist für. alle wahr, eine Unwahrheit ist f ü r alle unwahr. Man wird vielleicht einwenden, das Urteil: Diese Speise schmeckt mir

schlecht, sei, von A gedacht, wahr; das gleiche Urteil aber

sei falsch, wenn es von Β gedacht werde, dem jene Speise gut schmecke. Darauf ist folgendes zu erwidern. Wenn A und Β das Urteil denken: Diese Speise schmeckt m i r schlecht, so denken ßie keineswegs das gleiche Urteil, den gleichen Urteilsgehalt, weil das „mir* 1 in beiden Fällen Verschiedenes bedeutet, das gleiche W o r t „ m i r " verschiedene Begriffsgehalte bezeichnet; i m einen Falle ist mit „ m i r " A, i m anderen Β gemeint. A urteilt eben: Das Essen schmeckt mir, d. h. A, schlecht; Β urteilt: Das Essen schmeckt mir, d. h. B, schlecht. Das sind aber zwei verschiedene Urteile, von denen selbstverständlich das eine wahr und das andere falsch sein kann, ohne daß damit in Frage gestellt würde, daß jede Wahrheit f ü r alle gilt. Wenn aber das Urteil des A : Diese Speise schmeckt m i r schlecht, wahr ist, so ist zwar nicht diese seine sprachliche Formulierung, wohl aber sein logischer Gehalt, den w i r genauer mit den Worten ausdrücken: Diese Speise schmeckt A schlecht, ohne Zweifel f ü r alle gültig. — Zum logischen Gehalt eines Urteils, auf den es bei der Frage nach seiner Wahrheit oder Falschheit ankommt, gehört nicht sein Dasein, sein wirkliches Gedachtwerden. Darum kommt es auch bei jener Frage nicht darauf aü, w a n n ein logischer Urteilsgehalt wirklich gedacht wird, ob heute, morgen oder nach tausend Jahren. Bleibt der logische Urteilsgehalt, also auch der logische Prädikatsbegriffsund Subjektsbegriffsgehalt derselbe, so bleibt auch der Prädikatsund der Subjektsgegenstand derselbe, und somit bleibt auch das Sichfinden oder das Sich-nicht-finden des Prädikatsgegenstandes

am

Subjektsgegenstande, also die Wahrheit oder Falschheit des Urteils. Ist also ein logischer Urteilsgehalt zu irgendeiner Zeit wahr oder falsch, so ist er zu jeder Zeit w a h r bzw. f a l s c h . Man hat darum

Erkenntnistheorie.

6

oft von der E w i g k e i t der W a h r h e i t gesprochen und kann ebensogut von der E w i g k e i t der F a l s c h h e i t sprechen. Den Kern der Sache trifft man, wenn man von der Z e i t u n a b h ä n g i g k e i t o d e r

Un-

z e i t l i c h k e i t der W a h r h e i t u n d F a l s c h h e i t redet. Zum logischen Gehalt eines Urteils, dem Wahren oder Falschen an ihm, gehört eben nicht das Dasein, die seelische Verwirklichung des Urteils und darum auch nicht die Zeit dieser Verwirklichung. Der

logische

Urteilsgehalt und seine Wahrheit oder Falschheit haben mit dieser Zeit des Urteils gar nichts zu tun. Das drückt man aus, indem man den logischen Urteilsgehalt und seine Wahrheit bzw. Falschheit unzeitlich nennt. Auch hier kann leicht ein Einwand auftaudien: Jetzt, am i 5 . März 1926, ist das Urteil: Der vor meinem Fenster stehende Baum ist unbelaubt, wahr; in einigen Wochen wird der Baum sich belauben, und dann wird dasselbe Urteil falsch sein. Darauf ist zu erwidern, daß es sich dann zwar noch um denselben Urteils-Wortlaut, nicht aber um denselben logischen Urteilsgehalt handeln wird. Wenn ich heute sage: Der Baum vor meinem Fenster ist unbelaubt, so drücke ich den wahren Urteilsgehalt, den ich meine, unvollständig aus; ich meine ja nicht, daß der Baum jederzeit unbelaubt sei (was falsch wäre), sondern ich meine, daß der Baum in seiner jetzigen Verfassung, in der Verfassung vom i 5 . März 1926, unbelaubt ist. Das ist wahr, weil deT Prädikatsgegenstand, die Eigenschaft „unbelaubt", eine Seite des Subjektsgegenstandes „Baum vor meinem Fenster in der Verfassung vom i 5 . März 1926" ist. Dieser Urteilsgehalt bleibt darum auch jederzeit wahr. Wenn ich aber am i 5 . Mai 1926 sage: Der Baum vor meinem Fenster ist unbelaubt, so spreche ich zwar die gleichen Worte aus wie am 15. März, aber ich denke nicht den gleichen logischen Urteilsgehalt; dieser wäre vielmehr am i 5 . Mai zu formulieren: Der Baum vor meinem Fenster i n der Verfassung vom i 5 . März 1926 war unbelaubt. Der darin liegende Urteilsgehalt wäre der am i 5 . März gemeinte, und er wäre wiederum wahr, weil der Prädikatsgegenstand: unbelaubt, eine Seite des Subjektsgegenstandes : Baum vor meinem Fenster i n der Verfassung vom 15. März 1926, wäre. Man sieht, daß manchmal d i e g l e i c h e s p r a c h l i c h e

Formu-

Wahrheitstheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

lierung,

der

g l e i c h e Satz, verschiedene l o g i s c h e

gehalte ausdrücken

kann,

Urteils-

u n d daß z u m A u s d r u c k

selben l o g i s c h e n U r t e i l s g e h a l t e s

unter

Umständen

des(etwa

wenn es sich um verschiedene Urteilende oder um verschiedene Zeiten des Urteilens handelt) rungen,

verschiedene

verschiedene

sprachliche

Formulie-

Sätze n o t w e n d i g sein k ö n n e n .

s p r a c h l i c h e F o r m u l i e r u n g i s t also v o m l o g i s c h e n

Die

Urteils-

g e h a l t s o r g f ä l t i g zu u n t e r s c h e i d e n . Wie die sprachliche Formulierung auch lauten möge, derselbe logische Urteilsgehalt liegt nur dann vor, wenn der

Prädikats-

begriffsgehalt und der Subjektsbegriffsgehalt unverändert dieselben geblieben sind, wenn also auch der Prädikatsgegenstand und der Subjektsgegenstand genau dieselben geblieben sind. Ist das aber der Fall, und war zu irgendeiner Zeit der Prädikatsgegenstand identisch mit einer Seite des Subjektsgegenstandes, dann muß selbstverständlich auch zu einer beliebigen anderen Zeit genau derselbe Prädikatsgegenstand identisch sein mit genau derselben Seite genau desselben Subjektsgegenstandes. War also der logische Urteilsgehalt zu irgendeiner Zeit wahr, so ist er jederzeit wahr. — Zuweilen stellt man den e i n e n wahren oder falschen logischen Urteilsgehalt den v i e l e n wirklichen Urteilen gegenüber, in denen er von verschiedenen Menschen bzw. zu verschiedenen Zeiten gedacht wird. Da es bei der Wahrheit oder Falschheit eines Urteils nicht darauf ankommt, ob es einmal, zehnmal oder tausendmal gedacht wird, gehört es nicht zum logischen Urteilsgehalt, wie oft das Urteil gedacht wird. D e r l o g i s c h e U r t e i l s g e h a l t i s t n i c h t s E i n m a l i g e s oder M e h r m a l i g e s , s o n d e r n o h n e s o l c h e Z a h l b e s t i m m u n g , weil beim Übergang vom Urteil zum logischen Urteilsgehalt von der Einmaligkeit oder Mehrmaligkeit des Urteils abstrahiert werden muß, da es darauf bei der Wahrheitsfrage nicht ankommt. Unter einem anderen Gesichtspunkte kann man allerdings vom logischen Urteilsgehalt in der Einzahl und von zwei, drei usw. logischen Urteilsgehalten sprechen. Der logische Gehalt des Urteils 2 X 2 = 4 z. B. ist immer derselbe, so oft es auch wirklich gedacht werden mag. Alles, was die zu verschiedenen Zeiten und von verBecher, Einführung in die Philosophie.

5

Erkenntnistheorie.

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schiedenen Individuen gedachten, wirklichen Urteile 2 X 2 = 4 unterscheidet, also z. B. das Zu-verschiedenen-Zeiten-Gedachtwerden, das Von-verschiedenen-Individuen-Gedachtwerden, die verschiedene Dauer dieser wirklichen Urteile, fällt durch die Abstraktion, die vom wirklichen Urteil zum logischen Urteilsgehalt führt, fort. Ebenso ist z. B. der logische Gehalt des Urteils 5 + 3 = 8 immer derselbe, wo, wann und wie es auch gedacht werden mag. Der logische Gehalt des Urteils 2 X 2 = 4 ist aber von demjenigen des Urteils 5 + 3 = 8 verschieden, und von dem logischen Gehalt des Urteils η — ι = 6 sind die beiden erstgenannten Gehalte verschieden. Indem w i r dies beachten, können w i r sagein, daß hier drei verschiedene oder kurz d r e i logische Gehalte vorliegen, und i m Vergleich damit können wir den logischen Gehalt

2 X 2 = 4 (und ebenso jeden anderen)

einen

nennen. Doch müssein w i r dabei daran festhalten, daß ein logischer Gehalt nicht etwas Einmaliges oder Zweimaliges oder Dreimaliges ist, da beim Übergang vom wirklichen Urteil zum logischen Urteilsgehalt vom einmaligen oder zweimaligen oder dreimaligen Vorkommen des Urteils ziu abstrahieren ist.

Der Subjektsgegenstand als Richtschnur des Urteils. Ob ein Urteil, welches ich denke, wahr ist, hängt nicht von mir und meinem Belieben ab, sondern davon, ob der i m Prädikatsbegriff gedachte Gegenstand eine Seite des i m Subjektsbegriff gedachten Gegenstandes ist. Wenn ich also über einen Gegenstand wahr urteilen will, so bestimmt dieser Gegenstand, welche Prädikate ich ihm zusprechen darf und welche nicht. D e r n a c h W a h r h e i t Strebende d a r f i n seinen U r t e i l e n a u f e i n e n S u b j e k t s b e g r i f f n u r s o l c h e P r ä d i k a t s b e g r i f f e a n w e n d e n , d e r e n Gegenstände Seiten des S u b j e k t s g e g e n s t a n d e s s i n d ; er m u ß s i c h n a c h dem S u b j e k t s g e g e n s t a n d e r i c h t e n . Letzterer befiehlt ihm gleichsam: Diese Urteile s o l l s t D u über mich fällen, diese Prädikatsbegriffe auf mich anwenden, jene hingegen nicht. Das n a c h W a h r h e i t

strebende

U r t e i l e n steht, b i l d l i c h gesprochen, unter einem i h m von den v o r l i e g e n d e n U r t e i l s - o d e r S u b j e k t s g e g e n s t ä n d e n a u f e r l e g t e n S o l l e n ; wahr ist ein Urteil, das diesem Sollen entspricht, falsch ein Urteil, das i h m nicht entspricht.

Wahrheittheorie. Vom Wesen der Wahrheit und Erkenntnis.

Rolle des Subjektsgegenstandes bei Idealurteilen. Auch bei Idealurteilen muß sich der Prädikatsbegriff nach dem Subjektsgegenstande richten. Dieser ist freilich beim Idealurteil nichts Wirkliches, sondern ein Idealobjekt, ein bloßes Sosein. A b e r a u c h ein solches I d e a l - o d e r S o s e i n s o b j e k t h a t seine „ M o m e n t e " ( T e i l e , E i g e n s c h a f t e n usw.), u n d diese u n d n u r sie d ü r f e n von i h m ausgesagt w e r d e n . So hat z. B. das Idealobjekt „Pegasus" als Teile Flügel, und so hat das Idealobjekt „gleichseitiges Dreieck" als Moment die Gleichseitigkeit. Darum dürfen w i r i n Idealurteilen dem Pegasus Flügel, dem gleichseitigen Dreieck Gleichseitigkeit zusprechen. Die Flügel sind i m Begriffe des Pegasus, die Gleichseitigkeit ist im Begriffe des gleichseitigen Dreiecks schon mitgedacht. N u n s i n d aber m a n c h m a l m i t den S o s e i n s m o m e n t e n , d i e i m B e g r i f f e eines Soseins- oder I d e a l g e g e n s t a n d e s s c h o n g e d a c h t u n d angegeben s i n d , w e i t e r e S o s e i n s m o m e n t e n o t w e n d i g

ver-

k n ü p f t , die i n diesem B e g r i f f e n o c h n i c h t angegeben s i n d ; auch diese weiteren Momente gehören dann notwendig zu dem betreffenden Idealgegenstande und dürfen

also von ihm ausgesagt

werden. W i r wollen dies hier nur kurz an Beispielen verdeutlichen, da wir später darauf zurückkommen. Zum Soseinsobjekt „gleichseitiges Dreieck" z. B. gehört notwendig das Soseinsmoment „gleichwinklig", obwohl dieses Moment i m Begriff des gleichseitigen Dreiecks nicht angegeben ist. Ebenso schließt das zusammengesetzte Soseinsobjekt „Schwarz und W e i ß " notwendig das Soseinsmoment „verschieden" als Beziehung zwischen dem Schwarz und dem Weiß in sich, obwohl i m Begriff „Schwarz und W e i ß " der Begriff „verschieden" noch nicht enthalten ist. W e i l aber das Idealobjekt „gleichseitiges Dreieck" das Moment „gleichwinklig" notwendig i n sich trägt, dürfen wir das Idealurteil fällen:

„Das gleichseitige Dreieck ist

gleichwinklig"; und weil das Idealobjekt „Schwarz und Weiß" notwendig das Moment „verschieden" einschließt, gilt das Idealurteil: „Schwarz und Weiß sind verschieden." Auch die Idealobjekte haben also bestimmte Momente (Teile, Eigenschaften usw.), die z. T. in den Begriffen jener Objekte angegeben 5*

6

Erkenntnistheorie.

sind, ζ. T. in diesen Begriffen zwar nicht angegeben sind, aber doch notwendig jenen Objekten angehören. Wenn ein Idealurteil wahr sein soll, so darf es nur Momente (Teile, Eigenschaften usw.) des beurteilten Idealobjektes von diesem aussagen. Auch bei Idealurteilen entscheidet also der beurteilte oder Subjektsgegenstand über Wahrheit und Falschheit, obwohl i h m die Wirklichkeit fehlt; auch heim Urteilen über Idealgegenstände müssen wir uns nach den zu beurteilenden Gegenständen richten. Dies gilt auch dann, wenn unser Denken diese Idealgegemstände durch Definitionen konstruiert oder gleichsam geschaffen, hat. So hat mathematisches Denken ζ. B. den Idealgegenstand „Produkt aus gleichen Faktoren" erdacht und geschaffen und dann mit dem Namen Potenz ausgestattet. Dieser Gedanke: „Produkt aus gleichen Faktoren" behauptet nichts, ist nicht wahr oder falsch, ist kein Urteil, sondern er denkt nur einen Gegenstand und legt ihn dadurch fest; er ist ein Begriff. Nachdem nun durch diesen Begriffsgedanken der Gegenstand: „Produkt aus gleichen Faktoren", festgelegt ist (und dann noch ziemlich willkürlich mit dem Namen „Potenz" gleichsam etikettiert worden ist), nachdem so der Idealgegenstand „Potenz" definiert, erdacht und erschaffen ist, kann man über ihn auch urteilen. Aber welche Urteile man über ihn fällen, welche Produkte man i h m zusprechen darf, das hängt nun ganz von diesem Idealgegenstande ab, d. h. von dem Sosein, das der gegenstandschaffende Begriffsgedanke festgelegt hat. M a n d a r f

von dem d e f i n i e r t e n

Idealgegen-

stande erstens d i e M o m e n t e aussagen, d i e i m s c h a f f e n d e n B e g r i f f i h m b e i g e l e g t s i n d (wie ζ. B. dem gleichseitigen Dreieck das Moment der Gleichseitigkeit), zweitens die M o m e n t e , die z w a r i m s c h a f f e n d e n B e g r i f f n o c h n i c h t angegeben s i n d , aber n o t w e n d i g m i t den i m B e g r i f f angegebenen M o m e n t e n v e r k n ü p f t s i n d und daher dem geschaffenen

Idealgegen-

stande g l e i c h f a l l s z u k o m m e n (wie ζ. B. dem gleichseitigen Dreieck das Moment der Gleichwinkligkeit).

Die letzten Erkenntnisgrundlagen u n d ihre Sicherung oder Rechtfertigung. A. Die gesicherten l e t z t e n E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n . Erste Klasse der gesicherten Erkenntnisgrundlagen : Die schlichten Wahrnehmungsurteile. Nachdem w i r i n der Wahrheitstheorie das Grundproblem

der

Wissenschaftslehre, die Frage: Was ist Wahrheit? beantwortet haben, kämen wir nunmehr zum Hauptproblem, zu der Frage: Was sichert Wahrheit? Was rechtfertigt Erkenntnis? oder: Wie gelangen wir zu gesicherter oder gerechtfertigter

Erkenntnis? An der Wahrheits-

sichcrung ist das schließende Beweisen beteiligt, dessen Erforschung Hauptaufgabe der Logik ist. Das schließende Beweisen fordert aber letzte Grundlagen, von denen es ausgehen kann. So läuft schließlich die Sicherung oder Rechtfertigung aller Erkenntnis auf die der letzten Erkenntnisgrundlagen hinaus. D i e s i c h e r n d e , r e c h t f e r t i gende E r f o r s c h u n g der l e t z t e n E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n

ist

die H a u p t a u f g a b e der E r k e n n t n i s t h e o r i e . Die nächstliegende Antwort auf die Frage, wie grundlegende Erkenntnisse gesichert werden können, dürfte lauten: durch E r f a h r u n g . Zweifellos spielt diese bei der Grundlegung der Erkenntnis in

allen

Realwissenschaften,

in den Geisteswissenschaften

(der

Psychologie, Geschichte, Philologie, Volkswirtschaftslehre usw.) wie in den Naturwissenschaften eine sehr große Rolle. Unter Erfahrung aber verstehen w i r oft — z. B. wenn wir von der „reichen Erfahrung" eines alten Arztes sprechen — etwas sehr Zusammengesetztes. Was ist nun die einfachste Erfahrung, die eine Erkenntnis sichert? Darauf ist offenbar zu antworten: D i e e l e m e n t a r e E r f a h r u n g , d i e E r k e n n t n i s s i c h e r t , i s t die W a h r n e h m u n g . Sie bietet das Baumaterial für alle Erfahrung.

Erkenntnistheorie.

0

Wie aber kann die Wahrnehmung eine Erkenntnis, ein Urteil sichern? Um dies zu erreichen, muß sie feststellen, daß der Prädikatsgegenstand am Subjektsgegenstand sich findet. W e n n der i m Prädikatsbegriff dem

im

eines U r t e i l s

Subjektsbegriff

gedachte Gegenstand

g e d a c h t e n Gegenstande

an

durch

W a h r n e h m u n g f e s t g e s t e l l t w i r d , d a n n i s t d a m i t die W a h r h e i t des U r t e i l s f e s t g e s t e l l t ; denn diese besteht ja darin, daß der i m Prädikatsbegriff gedachte Gegenstand an dem i m Subjektsbegriff gedachten sich findet. Damit ich aber den i m Prädikatsbegriff eines Urteils gedachten Gegenstand an dem i m Subjektsbegriff

gedachten

Gegenstand

wahrnehmen, „schauen", „unmittelbar erfassen" und feststellen kann, muß m i r der Subjektsgegenstand und an i h m der Prädikatsgegenstand, kurz der objektive Sachverhalt, g e g e n w ä r t i g sein. Denn nur G e g e n w ä r t i g e s , nicht aber Vergangenes oder Zukünftiges, kann ich durch bloße Wahrnehmung erfassen und feststellen. Und nur das kann ich wahrnehmen, was m i r gegenwärtig oder „unmittelbar gegeben" ist: das Weiß und Grün, das ich empfinde, das Gedächtnisbild eines Hauses, das Phantasiebild eines goldenen Schlosses, das ich m i r vorstelle, das Urteil: 6 x 7 = 42, das ich denke, die Freude, die Sehnsucht nach dem Frühling, die ich verspüre, den Entschluß, weiterzuarbeiten, den ich fasse. A l l e s dies, was i c h erlebe u n d als v o n m i r e r l e b t , m i r „ u n m i t t e l b a r gegeben", w a h r n e h m e n k a n n , b i l d e t m e i n B e w u ß t s e i n , g e h ö r t zu i h m , b i l d e t meine B e w u ß t s e i n s i n h a l t e . Sie u n d n u r sie k a n n i c h i m e i g e n t l i c h e n S i n n e w a h r n e h m e n und durch meine Wahrnehmung unmittelbar erfassen und feststellen. Was ich nicht unmittelbar erlebe, m i r nicht unmittelbar gegeben ist, nicht in meinem Bewußtsein sich findet, nicht unmittelbar von m i r wahrgenommen werden kann, das nenne ich „ m e i n e m B e w u ß t sein t r a n s z e n d e n t " . Meinem Bewußtsein sind transzendent Empfindungen, Gedanken, Gefühle von Mitmenschen 1 , die Außenwelt der Atome, Moleküle, Lichtstrahlen usw., die nach naturwissenschaftlicher Auffassung hinter meinen Wahrnehmungsbildern, Empfin1

Siebe unten S. 4 54 ff.

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

düngen usw. steht und diese hervorruft; denn die Empfindungen, Gedanken, Gefühle eines Eskimo und die Atome und Moleküle und Lichtwellen oder Lichtquanten erlebe ich nicht; sie sind m i r nicht unmittelbar gegeben oder gegenwärtig, und ich kann sie nicht wahrnehmen, wie m e i n e Empfindungen, Gefühle usw. Wahrnehmen, durch Wahrnehmung feststellen kann ich nur m i r gegebene Gegenstände, nur meine gegenwärtigen Bewußtseinsinhalte (Empfindungen, Gefühle usw.). A l s o k a n n i c h d u r c h W a h r n e h m u n g n u r die W a h r h e i t von solchen U r t e i l e n sicherstellen, deren P r ä d i k a t s g e g e n s t ä n d e

mit

und

an den

Subjekts-

gegenständen i n m e i n e m B e w u ß t s e i n s i c h f i n d e n . Betrachten wir ein Beispiel! Ich nehme gegenwärtig (indem ich Kohlenrauch rieche) eine Geruchsempfindung wahr und an i h r den Gegenstand „unangenehm". Dementsprechend

urteile ich:

Diese

meine Geruchsempfindung ist unangenehm. Die Wahrheit dieses Urteils ist gesichert; denn m i r und meiner Wahrnehmung ist ja der Prädikatsgegenstand „unangenehm" m i t und an dem Subjektsgegenstand „diese Geruchsempfindung" unmittelbar gegenwärtig gegeben; in meinem Bewußtsein habe ich diese Gegenstände selbst, „leibhaftig"; meine Wahrnehmung erfaßt beide unmittelbar und erfaßt den Prädikatsgegenstand an dem Subjektsgegenstand; dadurch stellt sie fest, daß jener an diesem sich findet. Ist dies aber der Fall, so ist das Urteil wahr. Darum kann m i r auch niemand zweifelhaft machen, daß diese, meine Geruchsempfindung unangenehm ist. D i e b l o ß e W a h r n e h m u n g s i c h e r t also d i e W a h r h e i t v o n U r t e i l e n ü b e r i m B e w u ß t s e i n des W a h r n e h m e n d e n g e g e n w ä r t i g e Gegenstände. Übrigens

kann

die Wahrnehmung

keineswegs bei jedem

in

unserem Bewußtsein befindlichen Gegenstande leicht und sicher feststellen, was an ihm ist und was nicht, was i h m demnach in Urteilen zugesprochen werden darf und was n i c h t Es gibt viele nur schwer und undeutlich wahrnehmbare Gegenstände i n unserem Bewußtsein, insbesondere in dem sogenannten „Hintergrund" oder der „Peripherie" des Bewußtseins; man denke etwa an schwach anklingende, flüchtige Gefühle und Gedanken. Hier gelingt es schwer oder gar nicht, wahrnehmend festzustellen, welche „Seiten" diese Gegenstände

Erkenntnistheorie.

haben. Weil die wahrnehmende Feststellung oft versagt, kommt es vielfach zu unsicheren und falschen Urteilen über Bewußtseinsgegenstände. Dies hindert jedoch nicht, daß die Wahrnehmung in vielen Fällen die Wahrheit von Urteilen über gegenwärtige Bewußtseinsgegenstände durchaus sicherstellen kann, indem sie feststellt, daß die Prädikatsgegenstände an den Subjektsgegenständen sich finden. Gegenstände, die wir wahrnehmen, also Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche usw., haben Dasein; wo nichts Daseiendes, Wirkliches ist, ist auch nichts wahrzunehmen. Freilich können wir bei einem gegenwärtig wahrgenommenen, daseienden Bewußtseinsgegenstande, z. B. einem Lustgefühl, vom Dasein abstrahieren

und nur

das Sosein Lust beachten. Diese „Soseinswahr-

nehmung" oder „Wesensschau" ist jedoch, wie gesagt, erst infolge einer Abstraktion vom Dasein des Gegenstandes möglich. Die einfache, nicht durch eine solche Abstraktion vom Dasein komplizierte Wahrnehmung, die wir „ s c h l i c h t e W a h r n e h m u n g " nennen wollen, e r f a ß t d a s e i e n d e G e g e n s t ä n d e , R e a l o b j e k t e ; die d u r c h s c h l i c h t e W a h r n e h m u n g als w a h r g e s i c h e r t e n U r t e i l e , d i e s c h l i c h t e n W a h r n e h m u n g s u r t e i l e , s i n d R e a l u r t e i l e , da ja ihre

Prädikats- und Subjektsgegenstände, welche durch schlichte

Wahrnehmung erfaßt werden, Realgegenstände sind. In der Tat, i m oben angeführten schlichten Wahrnehmungsurteil: Diese meine Geruchsempfindung ist unangenehm, ist der Subjektsgegenstand: diese meine Geruchsempfindung, ein daseiender Gegenstand, und auch der Prädikatsgegenstand, die Eigenschaft unangenehm, ist daseiend oder wirklich; dies schlichte Wahrnehmungsurteil ist ein Realurteil. I m übrigen können die Subjekts- und Prädikatsgegenstände dieser schlichten Wahrnehmungsurteile sehr verschiedener Art sein; es kann sich etwa um Vorgänge, Eigenschaften, Beziehungen handeln. Z. B. in dem schlichten Wahrnehmungsurteil : Diese meine gegenwärtige Rotempfindung und jene m i r ebenfalls gegenwärtige Braunempfindung sind verschieden, ist der Prädikatsgegenstand, der dem Zusammen der realen Rot- und der realen Braunempfindung zukommt, eine Relation, nämlich die Beziehung „verschieden' 1 ; es handelt sich um ein Realurteil mit Relationsbegriff als Prädikatsbegriff. —

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

Möglichkeit von gesicherter Erkenntnis. W i r wollen die ausdrückliche Feststellung nicht versäumen, daß i m vorigen Abschnitt bereits die Möglichkeit von gesicherter Erkenntnis dargetan ist. G e s i c h e r t e E r k e n n t n i s i s t m ö g l i c h , w e i l die W a h r h e i t

schlichter Wahrnehmungsurteile

gesichert

werden k a n n ; dadurch nämlich kann sie gesichert werden, daß die Wahrnehmung die Prädikatsgegenstände solcher Urteile an und mit deren Subjektsgegenständen unmittelbar erfaßt. So ist z. B. mein Urteil : Mein Bewußtsein enthält jetzt eine W^eißempfindung, eine gesicherte Erkenntnis. Es g i b t demnach gesicherte Erkenntnis; also ist gesicherte Erkenntnis m ö g l i c h . Damit

ist

der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e

Nihilismus

eines

Gorgias, der alle Erkenntnis leugnet, aber auch der r a d i k a l e S k e p t i z i s m u s , der alle Erkenntnis als zweifelhaft ansieht, abgetan. Verfehlt war es, wenn vom Erkenntnistheoretiker gelegentlich verlangt wurde, er solle d u r c h s c h l i e ß e n d e n Beweis die Möglichkeit von Erkenntnis dartun. Das ist in abschließender Weise selbstverständlich nicht möglich, weil jeder schließende Beweis Schlußgrundlagen oder „Vordersätze" haben muß, die dann wieder schließend bewiesen werden müßten, wozu wieder Vordersätze erforderlich wären, usw., so daß man mit solchem Beweisen nie ans Ende käme. N i c h t durch

schließenden

sicherter

Erkenntnis

Beweis, sondern d u r c h A u f w e i s

ge-

ist die M ö g l i c h k e i t von E r k e n n t n i s

d a r z u t u n und oben dargetan worden.

Grenzen der schlichten Wahrnehmnngserkenntnis. Unentbehrlichkeit weiterer Erkenntnisgrundlagen. W i r haben i m vorletzten A b s c h n i t t eine erste K l a s s e v o n E r kenntnisgrundlagen

und ihre Wahrheitssicherung kennen ge-

lernt: d i e w a h r e n s c h l i c h t e n W a h r n e h m u n g s u r t e i l e . Sie sind Realurteile, und zwar über gegenwärtig i m Bewußtsein des Wahrnehmenden und Urteilenden daseiende Gegenstände. I c h k o m m e also m i t dieser Klasse v o n E r k e n n t n i s s e n n i c h t ü b e r m e i n eigenes, g e g e n w ä r t i g e s B e w u ß t s e i n h i n a u s . Auch dann nicht, wenn ich diese als wahr gesicherten Urteile als alleinige Grundlagen

Erkenntnistheorie.

oder Vordersätze von allen möglichen schließenden Beweisen benutze; denn das Schließen ist, wie die Logik zeigt, kein Zauberfittich, der uns aus dem Gegenstandsgebiet der Schlußgrundlagen in ein neues Gegenstandsgebiet hineintragen könnte. Handelt es sich also in den Schlußgrundlagen nur um in meinem Bewußtsein gegenwärtige Realgegenstände, so können mich auch die auf jenen fußenden Schlüsse nicht über mein gegenwärtiges Bewußtsein hinausführen. Beschränkung auf diese erste Klasse von Erkenntnisgrundlagen, auf die s c h l i c h t e n W a h r n e h m u n g s - oder E r f a h r u n g s u r t e i l e , würde also bedeuten, daß jedes Individuum in seinem Erkennen auf sein eigenes gegenwärtiges

Bewußtsein eingeschränkt

wäre. Die

Grenzen des Erkennens wären dann so eng gezogen, daß nicht nur unsere Wissenschaften, sondern auch die f ü r unser praktisches Leben unentbehrliche Erkenntnis ausgeschlossen wäre; es würden dieser wie jenen die erforderlichen Erkenntnisgrundlagen fehlen. Die Idealwissenschaften wären ohne Erkenntnisgrundlagen; denn sie bestehen aus und fußen

auf Idealurteilen, während die schlichten Wahr-

nehmungsurteile Realurteile sind. Die Realwissenschaften aber, die Geistes- und die Naturwissenschaften, gehen allesamt über mein gegenwärligesBewußtsein hinaus. Die Naturwissenschaften erforschen nicht mein gegenwärtiges Bewußtsein, sondern die Körperwelt, ihre Eigenschaften,

Vorgänge, Gesetze usw., und zwar nicht nur die

Gegenwart der Körperwelt, sondern auch ihre Vergangenheit und Zukunft. Und in den Geisteswissenschaften, in der Psychologie, Geschichte, Philologie, Staatswissenschaft usw., handelt es sich durchaus nicht nur um mein gegenwärtiges Bewußtsein. Als Psychologe w i l l ich ja nicht nur dieses kennen lernen, sondern die in m i r und meinen Mitgeschöpfen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lebendige Welt des Seelischen erforschen. Und daß der Historiker, der Philologe, der Staatswissenschaftler, der Nationalökonom, der Jurist, der Religions-, der Kunstwissenschaftler sich nicht auf sein eigenes gegenwärtiges

Bewußtsein beschränken kann, ohne seine

Wissenschaft aufzugeben, liegt auf der Hand. Die Einschränkung des Erkennens auf das G e b i e t der s c h l i c h t e n Erfahrung,

auf

m e i n eigenes g e g e n w ä r t i g e s

Bewußtsein,

würde m i r jedoch sogar jene Erkenntnis versagen, die mir unent-

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

5

behrlich ist zur Erhaltung des Lebens. Der Mensch wird in seinem Tun und Lassen nicht ausreichend durch blinde Instinkte geleitet, sondern er bedarf des Vorauswissens, der Zukunftserkenntnis, um für die Zukunft in rechter Weise Vorsorge treffen zu können. Wenn wir nicht vorauswüßten, daß aus dem Samen der Halm m i t Ähre und Korn wachsen wird, würde kein Bauer säen. Und solches Vorauswissen stützt sich auf Vergangenheitserkenntnis, auf das Wessen, daß früher aus dem Samen der Halm mit Ähre und Korn erwachsen ist. Vergangenheits- und Zukunftserkenntnis, über

die schlichte

H i n a u s s c h r e i ten

Wahrnehmungserkenntnis

somit f ü r Leben u n d Wissenschaft

erscheinen

unumgänglich.

W i r müssen uns also nach weiteren Erkenntnisgrundlagen

um-

sehen.

Die Soseins Wahrnehmung oder Wesensschau. Die schlichten Wahrnehmungsurteile sind Realurteile. Der sichere Fortschritt

der mathematischen

Idealwissenschaften legt uns die

Frage nach g e s i c h e r t e n g r u n d l e g e n d e n I d e a l u r t e i l e n nahe. Idealurteile aber sind Urteile über b l o ß e Soseinsgegenstände. I n der schlichten Wahrnehmung erfassen wir daseiende oder Realgegenstände. W i r sahen aber bereits, daß m a n b e i der

Wahr-

n e h m u n g eines Gegenstandes a u c h v o n dessen D a s e i n a b sehen u n d n u r sein Sosein b e t r a c h t e n k a n n . Nachdem wir die schlichte Wahrnehmung als Erkenntnisquelle f ü r Realurteile kennen gelernt haben, liegt es nahe, die unter Absehung vom Dasein sich vollziehende, bloß das Sosein erfassende Wahrnehmung daraufhin zu untersuchen, ob sie vielleicht eine sichernde Erkenntnisquelle für Idealurteile darstellt. W i r b e z e i c h n e n die u n t e r A b s e h u n g v o m D a s e i n s i c h v o l l ziehende

(das D a s e i n g l e i c h s a m „ e i n k l a m m e r n d e " ) ,

das Sosein eines Gegenstandes erfassende

bloß

Wahrnehmung

k u r z als „ S o s e i n s w a h r n e h m u n g " oder (mit dem HusserFschen Ausdruck) als „ W e s e n s s c h a u " . Die Gegenstände, deren Sosein wir unter Absehung von ihrem Dasein wahrnehmen, müssen uns wiederum in unserem Bewußtsein gegenwärtig gegeben sein. Denn was uns nicht in unserem Bewußt-

6

Erkenntnistheorie.

sein gegenwärtig ist, das können wir überhaupt nicht wahrnehmen, weder als daseiend, noch unter „Einklammerung" in

bloßer

Soseinswahrnehmung.

des Daseins

Soseinswahrnehmung

oder

W e s e n s s c h a u l ä ß t s i c h also n u r an g e g e n w ä r t i g e n B e w u ß t seinsgegenständen

ausüben.

Durch eine Soseinswahrnehmung oder Wesensschau erfasse ich ein Sosein, ein Idealobjekt, das an oder in einem daseienden Bewußtseinsgegenstande sich findet. Dabei brauche ich nicht das ganze Sosein des betreffenden Bewußtseinsgegenstandes zu betrachten; wie das Dasein, so kann ich auch noch Teile oder Seiten des Soseins beiseite lassen und so ein abstrakteres Sosein, ein inhaltärmeres Idealobjekt „schauen". Wählen w i r als Beispiel eines Bewußtseinsgegenstandes eine Tonempfindung, die ich gerade höre! Ich kann diese Tonempfindung als daseiend wahrnehmen, kann aber auch, indem ich von ihrem Dasein absehe, i n der Wesensschau ihr Sosein erfassen. Ich kann jedoch in der Abstraktion noch weitergehen und an dieser Tonempfindung eine Seite ihres Soseins, etwa ihre Tonhöhe oder ihre Intensität, als abstrakteres

Idealobjekt in der Soseinswahrnehmung er-

fassen. Als weiteres Beispiel diene eine Weißempfindung, die in meinem Bewußtsein existiert. I n der Soseinswahrnehmung kann ich von dem Im-Bewußtsein-Sein und von sonstigem D r u m und Dran absehen, so daß ich nur noch das Sosein „ w e i ß " übrig behalte. Dieses Sosein, diesen Idealgegenstand „ w e i ß " kann ich zwar nur an einem Bewußtseinsgegenstande schauen, aber an dem Sosein „ w e i ß " ist nichts mehr von dieser Beziehung zum Bewußtsein; denn von ihr habe ich ja abgesehen, um zum bloßen Sosein „ w e i ß " zu gelangen. Das Absehen vom Im-Bewußtsein-Sein pflegt sich ganz von selbst, ohne darauf gerichtete Absicht, zu vollziehen. D u r c h an B e w u ß t s e i n s g e g e n s t ä n d e n ausgeübte Soseinsw a h r n e h m u n g o d e r W e s e n s s c h a u k a n n i c h also I d e a l o b j e k t e e r f a s s e n , zu d e r e n Sosein die B e z i e h u n g zu e i n e m B e w u ß t sein n i c h t g e h ö r t , i n d e m i c h b e i der S o s e i n s a u f f a s s u n g v o n d i e s e r B e z i e h u n g absehe o d e r a b s t r a h i e r e .

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

Das ist wichtig und mag darum an einem weiteren bedeutsamen Beispiel verdeutlicht werden. Ich sehe gegenwärtig zwei schwarze Punkte; diese finden sich in einem Wahrnehmungsbilde, einem Bewußtseinsgegenstande.

Durch

Absehen vom Dasein und manchen

Zügen des Soseins (vom Im-Wahrnehmungsbilde-Sein, Im-Bewußtsein-Sein, vom Schwarz, von der Punktform usw.) gelange ich zu der Soseinswahrnehmung des Idealobjektes „zwei". Z u d i e s e m Sosein oder I d e a l o b j e k t „ z w e i " g e h ö r t n i c h t m e h r d i e B e z i e h u n g zu m e i n e m o d e r i r g e n d e i n e m B e w u ß t s e i n . D a r u m i s t i n der Z a h l e n w i s s e n s c h a f t v o m B e w u ß t s e i n n i c h t d i e Rede. Auf Grund der Soseins Wahrnehmung kann man vielfach nachher das geschaute Sosein, das Idealobjekt, d e n k e n , ohne darüber zu urteilen. Ein Gedanke aber, der einen Gegenstand denkt, ohne über ihn zu urteilen, ist ein Begriff. A u f G r u n d der S o s e i n s w a h r n e h m u n g , der W e s e n s s c h a u e i n es I d e a l g e g e n s t a n d e s

ge-

w i n n e n w i r also u n t e r g e e i g n e t e n U m s t ä n d e n e i n e n B e g r i f f desselben. So können wir, nachdem wir das Sosein „Tonhöhe" oder „Tonintensität" oder „ w e i ß " oder „zwei" durch Wesensschau erfaßt haben, diese Idealobjekte auch durch Begriffe denken. Viele und insbesondere grundlegende Begriffe, wie zwei, rot, Gestalt, Summe, gewinnen wir so auf Grund der Soseinswahrnehmung (Soseinsanschauung). Aus den auf diese Weise gewonnenen Begriffen können wir usw,)

dann durch gedankliche Konstruktion

(Kombination

weitere Begriffe gewinnen; so aus den Begriffen: Summe,

Summand, gleich, den Begriff des Produktes als einer Summe aus gleichen Summanden.

Zweite Klasse der gesicherten Erkenntnisgrundlagen: Die analytischen Urteile. W i r hatten nun freilich nicht gefragt, wie man Begriffe gewinnen könne, sondern vielmehr,

was es außer den schlichten Wahr-

nehmungsurteilen noch f ü r weitere grundlegende Urteile gebe, und wie sie gesichert werden können. Und zwar hatten wir zunächst an Idealurteile gedacht. Kann uns nun die Soseinswahrnehmung zur Sicherung von Idealurteilen verhelfen? Die Wahrheit eines Idealurteils besteht darin,

Erkenntnistheorie.

daß sein idealer Prädikatsgegenstand an seinem idealen Subjektsgegenstand sich findet. So ist das Idealurteil: die Zahl vier ist gerade, ein wahres, weil das Sosein gerade (d. h. durch zwei teilbar) sich an der Zahl vier findet, sich an ihr nachweisen läßt. Die Soseinswahrnehmung erscheint in der Tat geeignet, sicherzustellen, daß ein Idealobjekt oder Sosein an einem anderen sich findet. Ich erfasse z. B. das Sosein „ein hoher T o n " in einer Soseinswahrnehmung, und an diesem Sosein nehme ich das Sosein „hoch" wahr. Indem meine Sosein s Wahrnehmung das Idealobjekt „hoch" an dem Idealobjekt „ein hoher T o n " feststellt, sichert sie das Idealurteil: Ein hoher Ton (d. h. das Sosein „ein hoher Ton") ist hoch. Indessen erscheint hier die Wahrnehmung zur Sicherstellung gänzlich überflüssig. Um die Wahrheit derartiger Urteile sicherzustellen, bedarf es nicht der Wahrnehmung, weil dis W'ahrheit sich aus dem Urteilsgehalte selbst immittelbar ergibt. Es handelt sich hier um ein „ a n a l y t i s c h e s " Urteil, d. h. um ein U r t e i l , bei dem nicht nur der Prädikai\sgegenstand jektsgegenstand

Fall ist), s o n d e r n der P r ä d i k a t s begriff begriff

am Sub-

sich findet (wie das bei jedem wahren Urteil der (hoch) i m S u b j e k t s -

(ein hoher Ton) e n t h a l t e n ist. Analytisch ist auch das

Urteil: Der Körper ist ausgedehnt, oder: Alle Körper sind ausgedehnt, weil ein Körper seinem Begriffe nach ein nach den drei Dimensionen des Raumes a u s g e d e h n t e s , räum erfüllendes Ding ist. Analytische

Urteile

s i n d i m m e r w a h r ; sie müssen w a h r

sein, s i n d notwendig w a h r . Das ergibt sich sogleich aus ihrem gedanklichen, logischen Gehalt, ohne Appell an die Wahrnehmung, wie folgende Überlegung zeigt. Wenn in einem ersten Begriff (z. B. dem Gedanken: hoher Ton) ein zweiter Begriff (z. B. der Gedanke: hoch) enthalten oder mitgedacht ist, so denkt jener erste einen Gegenstand (hoher Ton), i n oder an dem der Gegenstand des zweiten Begriffes (der Gegenstand: hoch) sich findet. Ist nun der erste Begriff (hoher Ton) der Subjektsbegriff, der zweite (hoch) der Prädikatsbegriff eines Urteils, so findet sich auch in oder an dem Subjektsgegenstand (hoher Ton) der Prädikatsgegenstand (hoch) ; dann aber ist das Urteil wahr. E i r a n a l y t i s c h e s U r t e i l , d. h. e i n U r t e i l , dessen P r ä dikatsbeô

f f i m S u b j e k t s b e g r i f f e n t h a l t e n i s t , m u ß also

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

w a h r sein, w e i l s e i n P r ä d i k a t s g e g e n s t a n d s i c h i m o d e r am Subjektsgegenstand finden

muß.

Das Denken findet, wenn es analytisch urteilt, in sich selbst, i m Urteil selbst die Gewähr, daß dieses wahr sein m u ß . S o l c h e U r t e i l e , d i e i n s i c h selbst d i e G e w ä h r d a f ü r t r a g e n , daß sie w a h r s i n d u n d sein m ü s s e n , n e n n e n w i r d e n k n o t w e n d i g w a h r . D i e a n a l y t i s c h e n U r t e i l e s i n d also d e n k n o t w e n d i g w a h r . Wie schon gesagt, kann man analytische Urteile manchmal auch durch Wahrnehmung sicherstellen; dann nämlich, wenn der Subjektsgegenstand (z. B. ein hoher Ton) mit dem in oder an i h m sich findenden Prädikatsgegenstand (hoch) sich der Wahrnehmung darbietet. Aber diese Sicherung durch Wahrnehmung erscheint hier als überflüssige Bestätigung der denknotwendigen Wahrheit. Ganz anders liegt die Sache bei den eigentlichen schlichten Wahrnehmungsurteilen, z. B. bei dem Urteil: Meine gegenwärtige Geruchsempfindung ist angenehm. Diese e c h t e n s c h l i c h t e n

Wahrnehmungs-

u r t e i l e s i n d n i c h t a n a l y t i s c h ; sonst würden sie ja der Wahrheitssicherung durch Wahrnehmung nicht bedürfen. I n dem Subjektsbegriff, dem gegenstandfestlegenden Gedanken „meine gegenwärtige Geruchsempfindung", ist in der Tat der Begriff „angenehm" nicht enthalten, und so bedarf es hier der Wahrnehmung, um festzustellen, daß der Prädikatsgegenstand „angenehm" sich am Subjektsgegenstand „meine gegenwärtige Geruchsempfindung" Wir

nennen

Urteile,

Subjektsbegriff

findet.

b e i denen der P r ä d i k a t s b e g r i f f

im

nicht e n t h a l t e n i s t , die also nicht analytisch

sind, s y n t h e t i s c h e U r t e i l e , weil in ihnen der nicht i m Subjektsbegriff

enthaltene Prädikatsbegriff m i t dem Subjektsbegriff v e r -

b u n d e n wird. Die echten s c h l i c h t e n

Wahrnehmungsurteile

s i n d also s y n t h e t i s c h . Im

analytischen Urteil

wird nichts Neues mit dem Subjekts-

begriff verbunden, da hier der Prädikatsbegriff schon i m Subjektsbegriff enthalten, gleichsam schon in i h m gebunden ist. Darin liegt hier auch die Gewähr, daß w i r den Prädikatsbegriff urteilend zum Subjektsbegriff hinzustellen dürfen* H i n g e g e n w i r d i m s y n t h e t i schen

Urteil

etwas

Neues als P r ä d i k a t s b e g r i f f

mit

dem

S u b j e k t s b e g r i f f verbunden, und darum erhebt sich h i e r d i e

0

Erkenntnistheorie.

F r a g e : W a s r e c h t f e r t i g t diese V e r b i n d u n g , diese Synthese? B e i m s c h l i c h t e n W a h r n e h m u n g s u r t e i l lautet die Antwort: Die s c h l i c h t e W a h r n e h m u n g , d i e r e i n e E r f a h r u n g , die eben zeigt, daß der Prädikatsgegenstand am Subjektsgegenstand sich findet, wenn auch der Prädikatsbegriff i m Subjektsbegriff nicht enthalten ist. Die Wahrheit der analytischen Urteile ist unabhängig von der Erfahrung gesichert oder gerechtfertigt; sie ist gleichsam schon v o r der Erfahrung,

von vornherein, „a priori", gesichert. W i r

z e i c h n e n d a r u m d i e a n a l y t i s c h e n U r t e i l e als

be-

nicht-empi-

risch oder apriorisch. — W i r haben nun eine z w e i t e Klasse von Urteilen gefunden, die ohne schließenden Beweis als wahr gesichert sind und insofern geeignet scheinen, als l e t z t e E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n zu dienen: die K l a s s e d e r a n a l y t i s c h e n U r t e i l e . Und in e i n e r Hinsicht kann diese Klasse zunächst vielversprechend erscheinen. Während nämlich das Gegenstands- oder Erkenntnisgebiet der schlichten Wahrnehmungsurteile auf das gegenwärtige Bewußtsein des Wahrnehmenden beschränkt ist, ist das Gegenstandsgebiet der analytischen Urteile von solchen einengenden Grenzen frei: Über jeden Gegenstand, den w i r denken, von dem wir also einen vollkommeneren oder unvollkommeneren Begriff haben, können w i r auch analytisch urteilen. W i r brauchen ja nur zu diesem Begriff als Subjektsbegriff einen Teilbegriff desselben oder aber den ganzen Begriff als Prädikatsbegriff zu setzen. Denn auch i m letzteren Fall erhalten wir ein denknotwendig wahres, apriorisches Urteil, das w i r als analytisches, als Grenzform des analytischen Urteils, betrachten können. „Rot ist r o t " ; „eine Pflanze ist eine Pflanze", sind Beispiele f ü r diese Grenzform des analytischen Urteils. Auch bei diesen Urteilen steckt ja der Prädikatsbegriff i m Subjektsbegriff, nur daß er nicht bloß einen Tei(, sondern das Ganze des Subjektsbegriffes ausmacht. Durch letzteren Umstand wird aber offenbar i n bezug auf die Wahrheitssicherung gar nichts geändert ; auch analytische Urteile von der Form : A ist A, sind notwendig wahr, weil der Gegenstand A am Gegenstand A sich findet und finden muß. Von jedem Gegenstand A, den w i r denken, können wir also wenigstens das eine analytische und darum sicherlich wahre

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung

Urteil: A ist A, denken. K u r z , über j e d e n d e n k b a r e n G e g e n stand kann man analytisch urteilen. Diese Weite ihres Gegenstandsgebietes ist eine vortreffliche Eigenschaft der Klasse der analytischen Urteile, und daß dieselben stets wahr sind, ist auch sehr erfreulich. Leider stehen jedoch solchen Vorzügen Nachteile gegenüber: Das a n a l y t i s c h e U r t e i l sagt n u r Selbstverständliches was s c h o n

und

kommt

im Subjektsbegriff

n i c h t ü b e r das h i n a u s ,

liegt.

Die Eigenschaft der

Selbstverständlichkeit wäre nicht so bedenklich; denn sehr wichtige Erkenntnisgrundlagen (z. B. der reinen Mathematik) tragen diesen Charakter. Aber der Umstand, daß die analytischen Urteile unser Denken nicht hinausführen über das schon in den Subjektsbegiiffen Gedachte, ist allerdings mißlich. Analytisch können wir z. B. über den „hohen T o n " nur urteilen: Der hohe Ton ist hoch, ist ein Ton, u. dgl. Das analytische Urteilen zieht nur die Begriffe, die wir schon besitzen, zu Urteilen auseinander, indem es einen Teilbegriff eines Begriffes zu diesem als Prädikat setzt. Unser wissenschaftliches und außer wissenschaftliches Erkennen aber erstrebt und leistet viel mehr. Es setzt zu Subjektsbegriffen Prädikatsbegriffe, die in jenen noch nicht enthalten sind, die jenen gegenüber neu sind, über jene also hinaus- und immer weiter hinausführen. N i c h t d i e a n a l y t i s c h e n , s o n d e r n die s y n t h e t i s c h e n U r t e i l e b i e t e n den e i g e n t l i c h e n Erkenntnisfortschritt.

Als Oersted fand, daß der elektrische

Strom die Magnetnadel ablenkt, da ergab sich ein s y n t h e t i s c h e s Urteil, indem zum Subjektsbegriff „der elektrische Strom" der neue, in i h m nicht enthaltene Prädikatsbegriff „ablenken der Magnetnadel" kam. Mit dem Dargelegten ist keineswegs gesagt, daß die analytischen Urteile überhaupt keine Bedeutung für unser Erkennen hätten. Wenn sie auch f ü r sich genommen keinen Erkenntnisfortschritt

bringen,

so können sie doch solchem Fortschritt dienen, indem sie zusammen mit

synthetischen

Urteilen als Grundlagen oder Vordersätze von

Schlüssen fungieren. Wenn man z. B. beweisen will, daß ( a 2 ) 2 = a 4 , so muß man sich auf die analytischen Urteile:

(a2)2 = a2 · a2,

a2 = a · a,

stützen. Daraus ergibt sich : Becher, Einführung in die Philosophie.

a · a · a · a = a4, 6

Erkenntnistheorie.

( a 2)2 =

a2

. a2 =

(a . a) . (a .

a)

Nun muß man das nicht analytische Urteil:

(a · a) · (a · a) = a · a · a · a, heranziehen. Dann folgt:

(a2)8 = a 2 · a2 = (a · a) · (a · a) = a · a · a · a = a 4 ,

(a2)8 = a4.

Auch bei der Unterordnung von vorliegenden Gegenständen unter vorliegende Begriffe spielt das Auseinanderlegen der Begriffe in analytische Urteile eine Rolle. Wenn z. B. jemand dartun will, daß der Gegenstand Walfisch unter den Begriff Säugetier gehört, so wird er in analytischen Urteilen vom Säugetier die in seinem Begriff enthaltenen „Merkmale" aussagen und dann feststellen, daß diese sich auch beim Walfisch finden.

Dritte Klasse der gesicherten Erkenntnisgrundlagen: An Hand der Soseinswahrnehmung gesicherte synthetische Idealurteile, die Beziehungen zwischen Soseinsobjekten feststellen. Welche Bedeutung die analytischen Urteile auch haben mögen, sie bieten jedenfalls keine ausreichenden Grundlagen für Idealwissenschaften wie die reine Mathematik. Unter den Erkenntnisgrundlagen, den Axiomen der Zahlenmathematik, befindet sich z. B. das Urteil: a + b = b - f a , oder, anders ausgedrückt: die Größe der Summe zweier Zahlen ist unabhängig von der Reihenfolge der Summanden, d. h. unabhängig davon, ob ich diese Zahl zu jener oder jene zu dieser hinzuzähle. Das ist ein synthetisches, nicht ein analytisches Urteil; denn i m Subjektsbegriff „Größe der Summe zweier Zahlen" ist der Prädikatsbegriff „unabhängig von der Reihenfolge der Summanden" nicht enthalten; schon der Begriff „unabhängig", der i m Prädikatsbegriff

steckt, ist i m Subjektsbegriff nirgendwo zu finden. Ein-

leuchtend wird uns dies grundlegende Urteil in der W a h r n e h m u n g , an Kugeln der Rechenmaschine, Streichhölzern u. dgl. Aber dieses Urteil spricht als Axiom der reinen Mathematik nicht von Realobjekten, sondern von Zahlen, Summen usw„ als daseinsfreien, als Idealgegenständen. Die reine Zahlenmathemalik, eine Ideal Wissenschaft, ruht also — wenigstens teilweise 1 — auf letzten Erkenntnisgrundlagen, die s y n t h e t i s c h e I d e a l u r t e i l e darstellen.

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

W i e lassen s i c h n u n s y n t h e t i s c h e I d e a l u r t e i l e

sichern?

Das betrachtete methematische Beispiel legt die Vermutung nahe, daß die Sicherung durch Wahrnehmung zu erreichen sei. Da es sich um Idealurteile, um Urteile über Ideal- oder Soseins-Gegenstände handelt, kommt insbesondere die Soseinswahrnehmung, die Wesensschau, in Betracht. W i r fragen also: K a n n S o s e i n s w a h r nehmung synthetische Idealurteile sichern? Wenn ich an einem realen Sosein, z. B. an einem „ S ü ß " , das ich als Empfindungsqualität erlebe, ein anderes Sosein, z. B. „angenehm", wäre, sodaß jenes Sosein dieses unter allen Umständen, u n b e d i n g t Sosein Süß aussagen, daß es angenehm ist. Doch kann ich durchaus noch nicht behaupten, daß dieses Süß als bloßes Sosein oder Idealobjekt angenehm ist. Ich weiß ja nicht, ob das Sosein „Angenehm" dem Sosein „dieses Süß" als solchem anhaftet, oder ob das „ A n genehm" diesem Süß nur unter gewissen Umständen zugesellt ist. Möglicherweise ist dieses gleiche Süß unter anderen Umständen, etwa i m Bewußtsein eines anderen Menschen oder eines Tieres, nicht angenehm, sondern unangenehm. Dann wäre das Idealurteil: Das Sosein „dieses Süß'" ist angenehm, offenbar unzulässig. Wenn ich aber feststellen könnte, daß i n dem Sosein „dieses Süß" das Sosein „angenehm" sozusagen e i n g e w u r z e l t oder v e r a n k e r t wäre, sodaß jenes Sosein dieses unter allen Umständen, u n b e d i n g t oder n o t w e n d i g

an sich tragen m ü ß t e , dann dürfte ich auch

schlechthin dem Sosein oder Idealobjekt „dieses Süß'" das Sosein „angenehm" zuerkennen; dann wäre das Idealurteil: Das Sosein „dieses Süß'" ist angenehm, gesichert. I m Sosein „dieses angenehme Süß" ist offenbar

das Sosein

„angenehm" nicht nur e i n g e w u r z e l t , sondern sogar e i n g e s c h l o s sen, so daß das Sosein „dieses angenehme Süß" das Sosein „angenehm" u n b e d i n g t oder n o t w e n d i g in sich tragen m u ß ; darum ist das Idealurfceil: Das Sosein „dieses angenehme Süß" ist angenehm, sicher wahr. Doch ist dies Urteil leider analytisch, während wir nach der Sicherung synthetischer Idealurteile fragten. W i r vermuteten, daß S o s e i n s w a h r n e h m u n g synthetische Idealurteile sicherzustellen vermöge. Kann nun Soseinswahrnehmung feststellen, daß in dem Sosein „dieses Süß" das Sosein „angenehm" der6*

Erkenntnistheorie.

art verwurzelt ist, daß jenes Sosein dieses notwendig an sich tragen muß? Damit wäre das offenbar s y n t h e t i s c h e Idealurteil: Das Sosein „dieses Süß" ist angenehm, sichergestellt. Unterziehen wir aber ein i n unserem Bewußtsein sich darbietendes, angenehmes Süß der Soseinswahrnehmung, so kann diese keineswegs feststellen, daß in dem Sosein „dieses Süß" das Sosein „angenehm" derart verwurzelt oder verankert ist, daß jenes Sosein dieses u n b e d i n g t oder n o t w e n d i g an sich tragen m u ß . Demnach ist die Soseinswahrnehmung nicht imstande, das synthetische Idealurteil: Das Sosein „dieses Süß" ist angenehm, sicherzustellen. Gibt es aber vielleicht andere Fälle, i n denen Soseinswahrnehmung doch imstande ist, festzustellen, daß ein Sosein ein anderes Sosein, dessen Begriff nicht i m Begriff des ersteren Soseins eingeschlossen ist, n o t w e n d i g an sich tragen m u ß , weil in diesem ersteren Sosein das letztere Sosein sozusagen fest eingewurzelt oder verankert ist? I n der Tat scheint es derartige Fälle zu geben. Betrachten wir einmal das zusammengesetzte Sosein „ W e i ß und Schwarz"! Es wird festgelegt durch den Begriff „ W e i ß und Schwarz", in welchem die Soseinszüge „ W e i ß " , „und"

„Schwarz", sowie der durch das Wörtchen

bezeichnete Zug gedacht sind. Dieser letztere Zug ist das

„Zusammen", durch

welches die b e i d e n

Gegenstände „ W e i ß " ,

„Schwarz" zu dem e i n e n zusammengesetzten Gegenstande „Weiß und Schwarz" werden. Ich habe nun gegenwärtig eine Weiß- und eine Schwarzemplindung, sehe einen schwarzen Fleck auf weißem Papier. I n schlichter Wahrnehmung erfasse ich dabei daseiendes Weiß und Schwarz. An oder in dem Realgegenstande „dieses Weiß und Schwarz" kann ich aber noch etwas anderes wahrnehmen, nämlich die Beziehung „verschieden", die zwischen dem Weiß und dem Schwarz besteht. Indem ich diese Beziehung wahrnehmend in dem Realgegenstande „dies Weiß und Schwarz" feststelle, sichere ich das Realurteil: dies daseiende Weiß und Schwarz sind verschieden. Nun gehe ich von der schlichten zur Soseinswahrnehmung über; ich sehe also vom Dasein des vorliegenden Weiß und Schwarz ab und erfasse nur noch das Sosein „dieses Weiß und Schwarz". I n diesem Sosein, gleichsam zwischen dem Teilsosein oder Soseinszug

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung

„dieses W e i ß " und dem Soseinszug „dieses Schwarz", kann ich nun wieder den Zug „verschieden" feststellen, und ich kann (was von großer Bedeutung ist) dabei erfassen, daß dieses „verschieden" gerade in den Soseinszügen „dieses W e i ß " , „ u n d " , „dieses Schwarz" wurzelt, daß es an i h n e n hängt und nicht am Dasein dieser Züge oder an sonst irgend etwas. Ich erfasse, daß das Sosein „dieses Weiß" und das Sosein „dieses Schwarz" zusammen, also als Züge des zusammengesetzten Soseins „dieses Weiß und dieses Schwarz", den weiteren

Zug „verschieden"

„setzen" und ihrer

zwischen sich begründen

oder

„ N a t u r " , eben ihrem Sosein nach begründen

müssen, daß sie diesen neuen Zug „verschieden" an sich tragen müssen, daß sich das bei diesen Soseinszügen gar nicht vermeiden läßt, daß es n o t w e n d i g ist; daß das Sosein „verschieden" in dem Sosein „dieses Weiß und dieses Schwarz" gleichsam unlösbar fest verwurzelt, oder verankert ist. So komme ich an Hand der Soseinswahrnehmung dazu, in dem Soseinsgegenstande „dieses Weiß und dieses Schwarz"

den Zug „verschieden"

festzustellen als etwas

jenem Gegenstande unvermeidlich oder notwendig Eingefügtes. D a m i t i s t a u f G r u n d der S o s e i n s w a h r n e h m u n g das I d e a l u r t e i l : Dieses

Weiß

u n d dieses S c h w a r z s i n d v e r s c h i e d e n ,

ge-

sichert. Dieses I d e a l u r t e i l aber i s t e i n s y n t h e t i s c h e s . Der Subjektsbegriff „dieses Weiß und dieses Schwarz" denkt nur die Soseinszüge „dieses Weiß", „ u n d " , „dieses Schwarz", nicht aber den Zug „verschieden". Der P r ä d i k a t s f e e j j f r i / / joktsbegriff

„verschieden" ist im Sub-

„dieses W e i ß u n d dieses S c h w a r z " n i c h t e n t -

h a l t e n ; wohl aber findet sich der Prädikats gegenständ „verschieden" an dem Subjektsqregrenstand „dieses Weiß und dieses Schwarz", weil nämlich dessen Züge „dieses W e i ß " , „ u n d " , „dieses Schwarz" den Zug „verschieden" notwendig mit sich bringen oder zwischen sich „setzen". W i r können also durch Soseinswahrnehmung synthetische Idealurteile

sicherstellen, indem wir

zwischen in der Wahrnehmung

gegenwärtigen Soseinsobjekten (z. B. zwischen einem Weiß und einem Schwarz)

Beziehungen erfassen und feststellen, daß diese

durch die Soseinsobjekte notwendig gesetzt werden.

Erkenntnistheorie.

6 Es g i b t

an H a n d der S o s e i n s w a h r n e h m u n g

sicherbare

s y n t h e t i s c h e I d e a l u r t e i l e , die z w i s c h e n S o s e i n s o b j e k t e n Bez i e h u n g e n f e s t s t e l l e n , w e l c h e von diesen S o s e i n s o b j e k t e n n o t w e n d i g gesetzt werden. Damit haben w i r wiederum eine Klasse von Urteilen festgestellt, die ohne schließenden

Beweis gesichert werden können, und die

darum als letzte Erkenntnisgrundlagen in Betracht kommen. Sie bilden eine d r i t t e Klasse v o n

Erkenntnisgrundlagen.

Erweiterung der dritten Klasse der Erkenntnisgrundlagen. Bedeutung derselben. Anwendung auf Realgegenstände. Das Idealurteil, an dem wir die neue Klasse und ihre Sicherung dargelegt haben, erscheint sehr trivial. Indessen mag uns der Umstand, daß letzte Erkenntnisgrundlagen der reinen Mathematik ebenfalls trivial erscheinen, davor warnen, die neue Urteilsklasse geringschätzig beiseitezuschieben. Bedenken wir, wie bedeutsam z. B. die trivial klingenden Axiome: Das Ganze ist größer als sein Teil, und: a -f- b = b + a, f ü r die Mathematik sind ! Wenn wir aber diese und andere mathematische Axiome ins Auge fassen, so bemerken wir, daß auch sie, wie die grundlegenden Urteile unserer dritten Klasse, Beziehungen zwischen Soseins- oder Idealobjekten feststellen,

a + b ist ein Soseinsobjekt, da Dasein oder

Realität den reinen Mathematiker nichts angeht, in seiner Wissenschaft außer Betracht bleibt. Dasselbe gilt von b + a, und das Axiom: a + b = b + a, sagt nun von diesen beiden Soseinsobjekten aus, daß die Beziehung der Gleichheit zwischen ihnen besteht, wie das von uns i m vorigen Abschnitt betrachtete Idealurteil: dieses Weiß und dieses Schwarz sind verschieden, von zwei Soseinsobjekten aussagt, daß die Beziehung der Verschiedenheit zwischen ihnen besteht. Und wie die Soseinsobjekte „dieses W e i ß " und „dieses Schwarz" die Beziehung „Verschiedenheit" zwischen sich begründen und setzen, so begründen und setzen die Soseinsobjekte a + b und b + a zwischen sich die Beziehung „Gleichheit". Wie wir endlich die Verschiedenheit zwischen dem Sosein „dieses W e i ß " und dem Sosein „dieses Schwarz" auf

Grund

der

Soseinswahrnehmung

feststellen,

so

scheinen

wir auch die Gleichheit der Soseinsobjekle a + b und b + a irgend-

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

wie an Hand der Wahrnehmung zu erfassen, etwa an zwei Gruppen von Rechenmaschinenkugeln oder Streichhölzern, indem wir einmal Gruppe a zu Gruppe b, dann Gruppe b zu Gruppe a hinzutun. Ebenso steht es mit dem mathematischen Axiom: Das Ganze ist größer als sein Teil. „Das Ganze" und „sein Teil" sind f ü r die reine Mathematik, die von der Realität absieht, wiederum Soseinsoder Idealobjekte, die w i r an Hand der Soseinswahrnehmung kennen lernen. Diese Soseinsobjekte begründen oder setzen zwischen sich die Beziehung „größer", nämlich des Größerseins des Ganzen gegenüber dem Teil. Die Sicherstellung des Urteils, daß das Ganze größer ist als sein Teil, dürfte wieder so erfolgen, daß ich das Sosein „das Ganze" und das Sosein „seinen Teil" irgendwie \vahrnehmend erfasse und dabei die Beziehung, die diese Soseinsobjekte zwischen sich setzen oder tragen, feststelle. Es scheint also, daß diese (und andere) Axiome der reinen Mathemathik in unsere dritte Klasse von ohne schließenden

Beweis

gesicherten Urteilen hineingehören. Damit wäre die große Bedeutung dieser Urteilsklasse f ü r die Erkenntnisgrundlegung dargetan. Man bedenke, daß die reine Mathematik voll ist von Urteilen, die eine Gleichheit, Verschiedenheit, Ähnlichkeit, eine Beziehung des Größer, Kleiner, des Zusammenfallens, Nichtzusammenf aliens usw. in bezug auf Idealobjekte aussagen; soweit solche Urteile durch schließende Beweise sicherbar sind, gründen sie sich zuletzt auf ohne Beweis gesicherte, grundlegende Urteile, die eine Gleichheit, ein „Größer" usw. aussagen. Doch stößt die Einordnung dieser mathematischen Axiome in unsere dritte Urteilsklasse vorläufig noch auf ein Bedenken, das an unseren Beispielen leicht zutage tritt. Unsere dritte Urteilsklasse war zunächst repräsentiert durch das Idealurteil: Dieses W e i ß

und

dieses Schwarz sind verschieden; das mathematische Axiom aber lautet nicht: Dieses Ganze ist größer als d i e s e r sein Teil, sondern vielmehr a l l g e m e i n : Das Ganze ist größer als sein Teil. Und ebenso ist in dem Axiom: a + b = b + a, ganz a l l g e m e i n von Summen aus zwei Summanden die Rede. Der angedeutete Unterschied erscheint aber sehr bedeutsam für die Frage der Wahrheitssicherung auf Grund von Soseinswahrnehmung.

Daß ich bei der Betrachtung eines in

Erkenntnistheorie.

meinem Bewußtsein gegenwärtigen Weiß und Schwarz von deren Dasein absehen und so in der Soseinswahrnehmung „dieses Weiß" und „dieses Schwarz" erfassen und die Verschiedenheit zwischen ihnen feststellen kann, erscheint begreiflich; ebenso wohl auch, daß ich bei Betrachtung einer Strecke und eines Teiles derselben vom Dasein absehen und so in der Soseinswahrnehmung „dieses Ganze" und „diesen T e i l " erfassen und die Beziehung „größer" zwischen ihnen feststellen kann. Um aber in der Soseinswahrnehmung feststellen zu können, daß nicht nur „dieses Ganze" (nämlich diese ganze Strecke) größer ist als „ d i e s e r sein T e i l " , sondern allgemein das Ganze größer ist als sein Teil, mußte ich wohl „das Ganze" schlechthin und „seinen Teil"

schlechthin wahrnehmend erfassen

können. Und um nicht nur das Idealurteil : Dieses Schwarz und dieses Weiß sind verschieden, sondern das andere : Schwarz und Weiß sind verschieden, in der Soseins Wahrnehmung sichern zu können, müßte man wohl nicht nur „dieses Schwarz" und „dieses Weiß", sondern „Schwarz" schlechthin und „ W e i ß " schlechthin in der Soseinswahrnehmung erfassen und vergleichen können. Sind wir dazu imstande? Man mag zunächst geneigt sein, diese Frage zu verneinen und zu sagen: Wahrnehmen oder Schauen kann ich immer nur ein

be-

s t i m m t e s Schwarz (z. B. das des Ofenrohres), das entweder tief oder weniger tief, vielleicht auch bläulich, bräunlich o. dgl. ist, nicht aber Schwarz schlechthin, das weder tief noch weniger tief usw. wäre; und ebenso kann ich nur ein b e s t i m m t e s Weiß, ein bes t i m m t e s Ganzes (z. B. das dieses Meterstabes oder dieses Papierblattes), einen b e s t i m m t e n Teil dieses bestimmten Ganzen (z. B. die Hälfte dieses Meterstabes oder ein Viertel dieses Papierblattes) wahrnehmen, nicht aber das Ganze schlechthin und seinen Teil schlechthin. An dieser Meinung ist gewiß etwas Wahres. Schwarz schlechthin, Weiß schlechthin, das Ganze schlechthin und sein Teil schlechthin begegnen m i r nicht als isolierte Gegenstände in meinem Bewußtsein ; als solche kann ich sie nicht wahrnehmen. Aber wenn ich einmal verschiedene Schwarz, tiefes und weniger tiefes, bläuliches, bräunliches usw., wahrgenommen habe, kann ich jedenfalls „Schwarz schlechthin"

d e n k e n , d. h. Schwarz denken, ohne es tief oder

Die letzten Erkenntnigrundlagn und ihre Sicherung oder Rechtfertigung

weniger tief, bläulich oder bräunlich usw. zu denken. Wenn ich z. B. urteilend denke: Schwarz ist die Trauerfarbe, so denke ich dabei i m Subjektsbegriff „Schwarz" schlechthin, nicht aber dieses oder jenes tiefe oder weniger tiefe, bläuliche oder bräunliche Schwarz. Und ebenso kann ich, nachdem ich ganze Papierblätter und ganze Kuchen usw. wahrgenommen habe, auch „das Ganze schlechthin" denken. Wenn nun ein bestimmter, bläulich- und tief-schwarzer Tintenfleck von m i r w a h r g e n o m m e n wird, dann kann ich zwar das „Bläulich"

und das „ T i e f "

nicht beiseite schieben, um das

„Schwarz schlechthin" als isoliertes übrig zu behalten und isoliert wahrzunehmen; ich kann jedoch bei der Wahrnehmung das „Bläulich" und das „ T i e f " i n G e d a n k e n gleichsam beiseiteschieben oder „einklammern" oder außer Betracht lassen und so in dem bläulichtief-schwarzen Tintenfleck das „Schwarz schlechthin" erfassen und in Betracht ziehen. Und ebenso kann ich an dem wahrgenommenen ganzen Kuchen das „Ganze schlechthin" erfassen, indem ich „einklammere" oder außer Betracht lasse, daß es sich um diesen Kuchen handelt, und nur das „Ganze" an i h m in Betracht ziehe. So kann ich wahrnehmend an dem bläulich-tief-schwarzen Tintenfleck das Schwarz schlechthin, an dem ganzen Kuchen das Ganze schlechthin, an einem Drittel des Kuchens den Teil schlechthin erfassen oder in Betracht ziehen. W i r wollen dies Erfassen eines faktisch nicht isolierbaren Abstrakten in der Wahrnehmung ein wahrnehmendes Erfassen desselben nennen; w i l l man es kurz als ein Wahrnehmen oder Schauen bezeichnen, so darf man jedenfalls nicht außer acht lassen, welche wichtige Rolle dabei das Denken spielt. Wenn ich nun überdies bei der Wahrnehmung noch das Dasein „ i n Gedanken beiseite schiebe" oder „einklammere", so komme ich zum Erfassen des Soseins „Schwarz" oder des Soseins „das Ganze" schlechthin. Mit dem Dargelegten ist offenbar die Art und Wreise charakterisiert, in der der Mathematiker seine Idealobjekte in der Wahrnehmung erfaßt. Wenn er z. B. ein auf dem Papierblatt entworfenes Dreieck betrachtet, so läßt er dessen bestimmte Größe, bestimmte Seitenlängen und -färben und manches andere sowie auch dessen Dasein außer Betracht, und er zieht nur das allgemeine Sosein „ D r e i -

0

Erkenntnistheorie.

eck" in Betracht, nur die Soseinszüge, die jedem Dreieck zukommen. So erfaßt er wahrnehmend das allgemeine Idealobjekt „Dreieck" in dem daseienden, individuell bestimmten Dreieck. Weil die Soseinszüge, die er dabei in Betracht zieht, jedem Dreieck zukommen, gilt das, was er an dem Idealobjekt „Dreieck" findet, f ü r jedes Dreieck. Jetzt wird verständlich, wie w i r an Hand der Soseins Wahrnehmung nicht nur das Urteil: Dies Schwarz und dies Weiß sind verschieden, sondern auch das allgemeinere: Schwarz und Weiß sind verschieden, sicherstellen können. Ich nehme etwa einen bläulich-schwarzen Fleck auf rötlich-weißem Papier wahr. Nun „schiebe ich i n Gedanken beiseite" das Dasein, die Fleckgestalt, das Bläuliche des Schwarz, das Rötliche des Weiß usw., und ich erfasse so an Hand der Soseinswahrnehmung „Schwarz" und „ W e i ß " schlechthin. Und indem ich nur das „Schwarz" und das „ W e i ß " , nicht aber das „Bläulich", das „ R ö t l i c h " usw. an dem Fleck und dem Papier in Betracht ziehe und vergleiche, stelle ich fest, daß Schwarz und Weiß m i t Notwendigkeit zwischen sich die Relation „verschieden" fundieren oder setzen, und damit sichere ich das Urteil: „Schwarz und Weiß sind verschieden." I n ganz entsprechender Weise ist nun z. B. das mathematische Axiom: Das Ganze ist größer als sein Teil, oder das andere: a + b = b + a, an Hand der Soseinswahrnehmung sicherzustellen.

Ich

nehme z. B. einen Metermaßstab wahr und an i h m seinen zehnten Teil, ein Stück von 10 cm Länge. Auf Grund der Wahrnehmung kann ich urteilen : Dieses Ganze ist größer als dieser Teil desselben. Aber ich kann nun auch durch „gedankliches Beiseiteschieben" des Daseins sowie des Umstandes, daß es sich gerade um das Ganze dieses M c t e r m a ß s t a b e s handelt und um diesen z e h n t e n Teil desselben, an i h m in der Soseinswahrnehmung die allgemeinen Soseinszüge „das Ganze" und „seinen T e i l " erfassen und vergleichend in Betracht ziehen ; und so kann ich feststellen, daß gerade in diesen allgemeinen Soseinszügen „das Ganze" und „sein Teil" die Beziehung „größer" wurzelt, daß diese Soseinszüge die Relation größer notwendig zwischen sich fundieren oder setzen. Damit ist dann an Hand der Soseinswahrnehmung

das synthetische Idealurteil und

mathematische Axiom : Das Ganze ist größer als sein Teil, sichergestellt.

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

W i r haben nunmehr unsere d r i t t e Klasse von Erkenntnisgrundlagen wesentlich e r w e i t e r t . Aber sie ist immer noch zu charakterisieren als die Klasse der an H a n d der S o s e i n s w a h r n e h m u n g zu

sichernden

synthetischen

Soseinsobjekten diesen

Idealurteile,

Beziehungen

Soseinsobjekten

feststellen,

notwendig

gesetzt

haben jetzt erkannt, d a ß es s i c h d a b e i a u c h

die

zwischen

welche

von

werden.

Wir

u m allgemeine

Soseinsobjekte handeln kann. Die

dritte

Klasse der E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n

nun mathematische Axiome

schließt

ein. Damit ist ihre große Be-

deutung f ü r die Idealwissenschaften außer Zweifel gesetzt. Wenn man ferner bedenkt, welche Bedeutung die A n w e n d u n g der M a t h e m a t i k i m G e b i e t e der R e a l w i s s e n s c h a f t e n , z. B. der Physik, besitzt, so erkennt man, daß unsere d r i t t e G r u n d lagenklasse,

indem sie der Mathematik Erkenntnisfundamente

bietet, a u c h f ü r

die Realwissenschaften

von großer

Be-

d e u t u n g sein w i r d . Die

M ö g l i c h k e i t der

Anwendung

Realwissenschaften beruht darauf,

der

Mathematik

daß s i c h viele

in

Ideal-

u r t e i l e i n R e a l u r t e i l e u m w a n d e l n lassen. So ergeben sich aus dem Idealurteil: 5 + 7 = 12 die Realurteile: 5 wirkliche Gegenstände und 7 wirkliche Gegenstände sind 12 wirkliche Gegenstände, und: 5 Äpfel und 7 Äpfel sind 12 Äpfel. Man erkennt leicht, w a r u m diese Überführung von Idealurteilen in Realurteile, diese Anwendung der Mathematik auf Realgegenstände berechtigt sein muß. Wenn ein Ideal- oder Soseinsurteil wahr ist, so ist das in seinem Prädikatsbegriff festgelegte Sosein dem in seinem Subjektsbegriff festgelegten Sosein angehörig; jenes Sosein muß an oder in diesem Sosein sich finden. Jenes muß also auch an oder in diesem Sosein sich finden, w e n n dieses i r g e n d w a n n u n d -wo

daseiend ist. Was dem Sosein „ W e i ß und Schwarz"

zu-

kommt, nämlich etwa die Relation „verschieden" zwischen beiden, das kommt auch dem irgendwann, irgendwo und irgendwie daseienden Weiß und Schwarz zu: auch daseiendes Weiß und Schwarz, auch das Weiß des Schnees und das Schwarz der Steinkohle sind verschieden.

Erken η tili eth eorie.

92

Als P r i n z i p der Ü b e r f ü h r u n g v o n I d e a l u r t e i l e n i n R e a l u r t e i l e u n d d a m i t der A n w e n d u n g der M a t h e m a t i k a u f R e a l o b j e k t e ergibt sich uns also der Satz: Was e i n e m Sosein angeh ö r t , g e h ö r t i h m a u c h als d a s e i e n d e m Sosein an. Da dem Idealobjekt „ W ü r f e l mit der Kantenlänge a" der Rauminhalt a 3 angehört, gehört dieser auch einem wirklichen W ü r f e l mit der Kantenlänge a an. Dank solcher Überführbarkeit i n Realurteile haben Idealurteile unserer

dritten

Erkenntnisgrundlagen-Klasse

weitreichende

Be-

deutung f ü r das wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Realerkennen. Doch ist die Rolle, welche diese Urteile da spielen, noch keineswegs genügend erkannt. Sie wird leicht übersehen, weil man Selbstverständliches leicht unbeachtet läßt. Daß Weiß und Schwarz allezeit und überall verschieden sind, ist eben eine solche Selbstverständlichkeit, der wir i m außerwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erkennen nicht leicht besondere Beachtung schenken, obgleich wir uns o f t — ζ. B. bei der Unterscheidung der weißen und der schwarzen Menschenrassen — auf sie stützen.

Zweite Erweiterung der dritten Klasse der Erkenntnisgrundlagen. Synthetische Idealurteile, die an zusammengesetztem Sosein Gestalten feststellen. Die dritte Klasse der Erkenntnisgrundlagen bedarf noch einer zweiten, wiederum auch f ü r die Mathematik wesentlichen Erweiterung. Davon kann man sich an Beispielen leicht überzeugen. Wahrnehmung zeigt uns, daß zwei sich schneidende gerade Linien vier Winkel zwischen sich haben. W i r wollen bei dieser Wahrnehmung wieder das Dasein „einklammern", also zur Soseinswahrnehmung übergehen. Dann erfassen wir, daß es nicht am D a s e i n der Linien, sondern an ihrem Sosein hängt, daß sie vier Winkel zwischen sich bilden. W i r können ferner bei unserer Soseinswahrnehmung noch „ i n

Gedanken beiseite schieben", was die beiden

geraden Linien zu diesen geraden Linien macht, und dann feststellen, daß allgemein

das zusammengesetzte Sosein „zwei sich

schneidende Geraden" vier Winkel an oder in sich trägt. Dabei können wir auch erfassen, wie in dem Sosein „zwei sich schneidende

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

Geraden" das Sosein „vier Winkel zwischen ihnen" gleichsam fest eingewurzelt

ist, wie jenes Sosein dieses n o t w e n d i g m i t sich

bringt, mit sich bringen m u ß — ebenso wie das Sosein „ W e i ß und Schwarz" das Sosein „verschieden" notwendig mit sich bringt oder in sich schließt. W i r kommen so auf Grund von Soseinswahrnehmung zu dem gesicherten Idealurteil: Zwei sich schneidende Geraden haben vier Winkel zwischen sich. Dies Urteil ist s y n t h e t i s c h ; sein Prädikatsbegriff ist in seinem Subjektsbegriff nicht enthalten; der i m Prädikatsbegriff enthaltene Teilgedanke „ W i n k e l " ist i m Subjektsbegriff nicht zu finden. Erst die Wahrnehmung, die Anschauung zeigt, daß die beiden sich schneidenden Geraden etwas Neues bilden, nämlich vier Winkel. Ebenso

sichert

„geometrische

Anschauung",

welche Soseins-

wahrnehmung ist, z. B. das Idealurteil : Drei sich in drei Punkten schneidende Geraden bilden eine in ihrer Ebene abgeschlossene Flächengestalt. Auch dieses Urteil ist synthetisch; denn z. B. der Prädikatsbegriffsbestandteil „abgeschlossen" ist i m Subjektsbegriff nicht zu finden. Wie nach dem Zeugnis unserer Soseinswahrnehmung die Soseinsobjekte „ W e i ß " und „Schwarz" notwendig das weitere Sosein „verschieden" zwischen sich setzen, so setzen auch die Soseinsobjekte „sich schneidende Geraden" notwendig das neue Sosein „ W i n k e l " zwischen sich. Der Winkel ist etwas ganz anderes als die beiden geraden Linien, die ihn setzen; das geht daraus hervor, daß man den Winkel, nicht aber die geraden Linien, mit Winkelmaßen messen kann. Und ebenso ist die „abgeschlossene Flächengestalt" etwas ganz anderes als die drei in drei Punkten sich schneidenden Geraden ; denn man kann zwar die Flächengestalt, nicht aber die drei sich schneidenden Geraden mit Flächenmaßen messen. Die abgeschlossene Flächengestalt und der Winkel sind G e s t a l t e n . W i r erkennen somit an unseren Beispielen, d a ß m a n an H a n d der Soseinswahrnehmung

synthetische

Idealurteile

sichern

k a n n , d i e an z u s a m m e n g e f a ß t e n S o s e i n s o b j e k t e n G e s t a l t e n f e s t s t e l l e n , w e l c h e v o n diesen S o s e i n s o b j e k t e n n o t w e n d i g gesetzt werden.

Erkenntnistheorie.

Unsere dritte Klasse von gesicherten Erkenntnisgrundlagen wurde bisher von den an Hand der Soseinswahrnehmung gesicherten synthetischen Idealurteilen gebildet, die zwischen Soseinsobjekten Beziehungen feststellen, welche von diesen Soseinsobjekten notwendig gesetzt werden. W i r können nun diese dritte Klasse um die in diesem Abschnitt behandelten Urteile erweitern und gelangen dann zu folgendem Ergebnis: Die Hand

dritte

Klasse der E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n b i l d e n an

der S o s e i n s w a h r n e h m u n g

Idealurteile,

die

gesicherte

an z u s a m m e n g e f a ß t e n

synthetische

Soseinsobjekten

B e z i e h u n g e n o d e r G e s t a l t e n f e s t s t e l l e n , w e l c h e v o n diesen S o s e i n s o b j e k t e n gesetzt werden. Wie unsere Beispiele schon andeuten, haben auch die neu in unsere dritte Klasse aufgenommenen Urteile Bedeutung f ü r die Idealwissenschaften, insbesondere für die Geometrie. Ferner können auch solche Idealurteile in Realurteile umgewandelt und so beim Realerkennen angewandt werden. Doch brauchen wir darauf hier wohl nicht nochmals einzugehen.

Apriorität der Erkenntnisgrundlagen der dritten Klasse ? Oben bezeichneten wir die analytischen Urteile als apriorisch, weil ihre Wahrheit unabhängig von der schlichten Wahrnehmung, der Erfahrung, gesichert ist. Auch die synthetischen Urteile der reinen Mathematik werden von Kant und vielen anderen als apriorisch bezeichnet. I n der Tat werden ja die grundlegenden synthetischen Idealurteile dieser Wissenschaft, die in unsere dritte Erkenntnisgrundlagen-Klasse hineingehören, nicht durch schlichte Wahrnehmung, sondern an Hand der Soseinswahrnehmung sichergestellt. Indessen nennen w i r die Urteile unserer dritten Erkenntnisgrundlagen-Klasse nur ungern apriorisch; denn dies W o r t ist wenig bezeichnend. Diese Urteile sind zwar nicht durch schlichte Wahrnehmung gesichert, aber in bezug auf ihre Sicherung doch von einer anderen Wahrnehmungsart, von der Soseinswahrnehmung, abhängig. Sie sind also (wenn man es so ausdrücken will) nicht schon „ v o r " der Soseinswahrnehmung gesichert, nicht „apriorisch" in bezug auf diese Wahrnehmungsart.

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

5

Unmittelbare Evidenz und unmittelbare Denknotwendigkeit als Wahrheitskriterien. Unmittelbar evidente Notwendigkeit. Nachdem w i r die Wahrlieitssicheruiig von Erkenntnisgrundlagen an drei Klassen grundlegender Urteile kennen gelernt haben und damit in der Bearbeitung des Hauptproblems der Erkenntnistheorie zu einigen Ergebnissen gelangt sind, wollen wir unser Augenmerk wieder einmal auf eine Nebenfrage unserer Wissenschaft richten, auf die Frage nach K r i t e r i e n , welche die Wahrheit von Urteilen sicherzustellen vermögen. W i r sahen früher, wie dies alte Problem der

Wahrheitskriterien

mit

dem Hauptproblem

der Wahrheits-

sicherung zusammenhängt, und wollen nun zusehen, wie sich die wahrheitsichernden Faktoren, die w i r bei den betrachteten drei Erkenntnisgrundlagen-Klassen aufweisen konnten, als Kennzeichen der Wahrheit auffassen lassen. Von vornherein ist ja klar, daß Faktoren, welche die Wahrheit eines Urteils sicherstellen, damit dieses Urteil

als wahr

kennzeichnen, d a ß

also

wahrheitsichernde

F a k t o r e n als W a h r h e i t s k r i t e r i e n a u f g e f a ß t w e r d e n k ö n n e n . Als wahrheitsichernden Faktor fanden wir nun bei den Erkenntnisgrundlagen der ersten und der dritten Klasse die Wahrnehmung, welche den Prädikatsgegenstand an oder in dem i m Bewußtsein gegenwärtigen Subjektsgegenstand unmittelbar erschaut oder erfaßt. So erfaßt schlichte Wahrnehmung das „ h o c h " in einer gegenwärtigen realen Tonempfindung und sichert so das Realurteil der ersten Grundlagenklasse: Diese Tonempfindung ist hoch; Soseinswahrnehmung (die dabei freilich vom Denken unterstützt wird) erfaßt in dem Idealgegenstande „ W e i ß und Schwarz" das „verschieden" und sichert damit das Idealurteil unserer dritten Grundlagenklasse: Weiß und Schwarz sind verschieden. Da wahrheitsichernde Faktoren zugleich Wahrheitskriterien darstellen, ergibt sich, daß die W a h r n e h m u n g des

Prädikatsgegenstandes

im

Subjektsgegenstande

ein

W a h r h e i t s k r i t e r i u m darstellt. Wenn bei einem Urteil (logischen Urteilsgehalt) der Prädikatsgegenstand i m Subjektsgegenstand unmittelbar wahrnehmbar, „erschaubar", „wahrnehmend erfaßbar" ist, dann ist das Urteil wahr. W i r können also auch sagen: D i e u n mittelbare

Wahrnehmbarkeit

oder

Erschaubarkeit

des

Erkenntnistheorie.

6 Prädikatsgegenstandes Kriterium

der

im

Subjektsgegenstande

W a h r h e i t des b e t r e f f e n d e n

ist

Urteils

ein

(logi-

schen U r t e i l s g e h a l t e s ) . W i r nennen die u n m i t t e l b a r e W a h r n e h m b a r k e i t oder E r s c h a u b a r k e i t des P r ä d i k a t s g e g e n s t a n d e s i m S u b j e k t s g e g e n stande u n m i t t e l b a r e E v i d e n z . D i e u n m i t t e l b a r e E v i d e n z i s t also e i n W r a h r h e i t s k r i t e r i u m ;

unmittelbar evidente, d. h. un-

mittelbare Evidenz besitzende Urteile sind wahr. Doch sind durchaus nicht alle wahren Urteile auch unmittelbar evident. Z. B. das Urteil: Eine 0 , 0 0 0 0 0 1 m m lange Sirecke ist 0 , 0 0 0 0 0 1 m m lang, ist wahr, da es j a analytisch ist; aber es ist nicht unmittelbar evident, da man ja eine Strecke von 0,000001 mm nicht wahrnehmen kann. Es gibt auch zahllose wahre synthetische Urteile, deren Wahrheit wir nicht durch Feststellimg ihrer unmittelbaren Evidenz, sondern nur durch schließenden Beweis sicherstellen können; das gilt z. B. f ü r die überwiegende Mehrzahl der mathematischen Sätze. Unmittelbar grundlagen

evident

unserer

sind

ersten

die und

gesicherten

Erkenntnis-

d r i t t e n K l a s s e , also die

d u r c h schlichte W a h r n e h m u n g gesicherten Realurteile und d i e a u f G r u n d der S o s e i n s w a h r n e h m u n g g e s i c h e r t e n I d e a l urteile,

die

an z u s a m m e n g e s e t z t e n

Soseinsobjekten

Be-

z i e h u n g e n o d e r G e s t a l t e n f e s t s t e l l e n , w e l c h e v o n diesen Sos e i n s o b j e k t e n gesetzt w e r d e n . D i e a n a l y t i s c h e n U r t e i l e s i n d z w a r a l l e s a m t w a h r , aber n u r z u m T e i l u n m i t t e l b a r e v i d e n t . Ein Beispiel eines nicht unmittelbar

evidenten analytischen Urteils wurde soeben angeführt.

Analytisch und zugleich unmittelbar evident ist das Urteil: Ein unangenehmer Schmerz ist unangenehm; denn ich kann dieses Urteil durch Wahrnehmung des „unangenehm" in oder an einem unangenehmen Schmerz sicherstellen. Zur Sicherung der Wahrheit eines analytischen Urteils brauchen w i r allerdings auch in den Fällen, i n denen unmittelbare Evidenz vorliegt, d. h. die Sicherung durch Wahrnehmung erfolgen kann, nicht erst an diese zu appellieren, da der logische Gehalt des analytischen Urteilsgedankens schon von sich aus seine Wahrheit sicher-

Die letztenErkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

stellt: was i m Subjektsbegriff mitgedacht ist, m u ß am Subjektsgegenstand sich finden und i h m also als Prädikat zukommen. Dieses Wahrsein-Müssen, das unmittelbar vom logischen Gedankengehalt eines Urteils gefordert wird, nannten wir u n m i t t e l b a r e notwendigkeit. heitsichernde

Wir

Denk-

können also nunmehr sagen: Das w a h r -

M o m e n t o d e r das W a h r h e i t s k r i t e r i u m ,

das

an a l l e n a n a l y t i s c h e n U r t e i l e n s i c h f i n d e t , i s t die u n m i t t e l bare D e n k n o t w e n d i g k e i t ; unmittelbare Evidenz hingegen finden wir nur bei einem Teil der analytischen Urteile. Unmittelbare Evidenz und unmittelbare D e n k n o t w e n d i g keit

s i n d nach dem Gesagten sehr v e r s c h i e d e n e

wahrheit-

s i c h e r n d e F a k t o r e n o d e r K r i t e r i e n . Unmittelbar evident, aber nicht denknotwendig ist das Urteil : Diese (von m i r gegenwärtig wahrgenommene) Tonempfindung ist schwach; unmittelbar denknotwendig, aber nicht unmittelbar evident ist das analytische Urteil: Ein unendlicher Raum ist unendlich. Unmittelbare Denknotwendigkeit und unmittelbare Evidenz stimmen darin überein, daß sie „unmittelbar", d. h. ohne schließendes Beweisen, die Wahrheit sichern. Doch leistet beim unmittelbar denknotwendigen Urteil schon der Urteilsgehalt durch sich selbst die Sicherung, während beim unmittelbar evidenten

Urteil

die

Wahrnehmung

(eventuell unterstützt vom

Denken) diese Leistung übernimmt. V o n der u n m i t t e l b a r e n D e n k n o t w e n d i g k e i t i s t a b e r f e r n e r die u n m i t t e l b a r e v i d e n t e N o t w e n d i g k e i t zu u n t e r s c h e i d e n , die häufig mit jener vermengt wird. Unmittelbar evident notwendig sind die Erkenntnisgrundlagen unserer dritten Klasse, z. B. das Urteil: Weiß

und Schwarz

sind verschieden.

W i r erfassen hier wahr-

nehmend, daß zwischen dem Sosein Weiß und dem Sosein Schwarz nicht nur tatsächlich die Beziehung „verschieden" sich findet, sondern daß diese in dem Weiß und Schwarz gleichsam fest verwurzelt ist und n o t w e n d i g zwischen ihnen bestellen m u ß ; diese N o t w e n d i g k e i t i s t h i e r an Hand der Wahrnehmung unmittelbar erfaßbar oder u n m i t t e l b a r e v i d e n t . U n m i t t e l b a r d e n k n o t w e n d i g e U r t e i l e (wie: das gleichseitige Dreieck ist gleichseitig; der Körper ist ausgedehnt) u n d u n m i t t e l b a r e v i d e n t - n o t w e n d i g e U r t e i l e (wie: Schwarz und Weiß sind Becher, Einführung in die Philosophie. 7

Erkenntnistheorie.

verschieden) u n t e r s c h e i d e n s i c h d a d u r c h , daß b e i j e n e n d i e N o t w e n d i g k e i t i h r e r W a h r h e i t s c h o n aus d e m l o g i s c h e n Ged a n k e n g e h a l t des U r t e i l s h e r v o r g e h t , b e i diesen aber erst aus d e r w a h r n e h m e n d e n E r f a s s u n g des S a c h v e r h a l t s . Die analytischen Urteile sind unmittelbar denknotwendig, die

Urteile

unserer

dritten

Klasse u n m i t t e l b a r

evident-

n o t w e n d i g . Das schlichte Wahrnehmungsurteil : Diese Müdigkeit ist angenehm, ist weder d e n k - n o c h e v i d e n t - n o t w e n d i g ; denn ich kann weder aus dem bloßen Urteil, noch durch Wahrnehmung feststellen, daß diese Müdigkeit angenehm sein müsse, sondern ich finde nur, daß sie t a t s ä c h l i c h

angenehm ist. Unser schlichtes

Wahrnehmungsurteil ist nicht unmittelbar evident-notwendig, wohl aber unmittelbar evident, weil durch Wahrnehmung unmittelbar gesichert. Zum Schluß dieses Abschnittes sei vor weiteren, nicht selten vorkommenden Vermengungen gewarnt: M i t d e r e c h t e n E v i d e n z d a r f subjektive Scheinevidenz, d. h. S i c h e r h e i t s - o d e r Ü b e r z e u g u n g s B e w u ß t s e i n ( „ - G e f ü h l " ) , m i t der echten D e n k n o t w e n d i g k e i t subjektiver

Denk- oder Urteilszwang

n i c h t v e r w e c h s e l t werden.

Ein Liebender mag noch so stark das „Sicherheitsgefühl", das „ E v i denzgefühl", die „unmittelbare Überzeugung", kurz die Scheinevidenz haben, daß seine Geliebte i h m treu ist; unmittelbar evident ist diese Überzeugung, dieses Urteil nicht, wie schon daraus hervorgeht, daß es falsch sein kann. Nur wenn der Liebende die Treue in der Geliebten unmittelbar wahrnehmen könnte, besäße seine Überzeugung echte unmittelbare Evidenz. Dazu müßte aber die Geliebte mit ihrer Treue i m Bewußtsein des Liebenden gegenwärtig sein. Vor einigen Jahrhunderten bestand f ü r viele Menschen ein subjektiver, psychologisch zu erklärender „Denkzwang", zu urteilen, daß Antipoden, d. h. Menschen auf der der unsrigen entgegengesetzten Seite der Erde, die uns ihre Fußsohlen zuwenden, von der Erde hinabfallen müßten, wie Puppen von der Unterseite einer Tischplatte. Dieser subjektive Denkzwang war irreführend; tatsächlich fallen unsere Antipoden ja keineswegs von der Erde hinab. Eine echte unmittelbare Denknotwendigkeit kommt denn auch dem Urteil: Die Antipoden fallen von der Erde, keineswegs zu; denn aus dem logi-

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

sehen Ürteilsgehalt ergibt sich keineswegs unmittelbar, daß er wahr sein muß. Außer der echten unmittelbaren Denknotwendigkeit gibt es noch eine echte m i t t e l b a r e D e n k n o t w e n d i g k e i t , d i e aus l o g i s c h s t r e n g e n s c h l i e ß e n d e n Beweisen e r w ä c h s t . Sie ist in der Logik zu untersuchen. Subjektive sind

nicht

Scheinevidenz

und subjektiver

w i e echte u n m i t t e l b a r e

Evidenz

Denkzwang und

Denk-

n o t w e n d i g k e i t s i c h e r e B ü r g e n o d e r K r i t e r i e n der W a h r h e i t .

Gibt es noch andere gesicherte Erkenntnisgrundlagen? Intuitive Erkenntnis des Göttlichen? Kehren wir zum Hauptproblem der Erkenntnistheorie zurück, so wäre nunmehr die schwierige Frage zu stellen, ob es außer den drei betrachteten n o c h w e i t e r e K l a s s e n v o n g e s i c h e r t e n l e t z t e n E r kenntnisgrundlagen

gibt.

Unsere

bisherigen

Betrachtungen

schließen dies selbstverständlich keineswegs aus. Es käme schließlich darauf an, ob jemand noch weitere Klassen von einwandfrei gesicherten Erkenntnisgrundlagen aufzuweisen vermag. Die angeschnittene Frage soll hier nicht systematisch behandelt, jedoch durch den Hinweis auf eine besondere, „ h ö h e r e " nehmungsart

Wahr-

beleuchtet werden, die vielfach angenommen und

oft mit dem allerdings vieldeutigen Ausdruck „ I n t u i t i o n " bezeichnet worden ist. U n t e r I n t u i t i o n v e r s t e h t m a n o f t eine h ö h e r e A r t der W a h r n e h m u n g o d e r des S c h a u e n s , d i e

unmittel-

bar den K e r n o d e r t i e f s t e n G r u n d der W i r k l i c h k e i t , g ö t t l i c h e n W e l t g r u n d oder Gott e r f a ß t

den

und so unmittelbar

evidente, sichere Erkenntnis von i h m gibt. Diese intuitive Erkenntnis würde selbstverständlich eine überaus wichtige Erkenntnisgrundlagen-Art darstellen. Die in Religion und Philosophie immer wieder auftretende Überzeugung vom Vorkommen einer solchen höheren Wahrnehmung oder Intuition ist durchaus nicht von vornherein abzulehnen. Es ist sehr wohl denkbar, daß ein überindividueller, göttlicher Weltgrund in unsere Seele und unter geeigneten Bedingungen in unser Bewußtsein 7*

Erkenntnistheorie.

0

hineinragt, und daß wir ihn dann da unmittelbar wahrnehmen oder „schauen", „ i n t u i t i v " erfassen können. Es fragt sich allerdings, ob die Tatsachen der ekstatischen, mystischen, philosophischen Intuitionserlebnisse die Überzeugung rechtfertigen, daß es sich i n ihnen wirklich um Wahrnehmungen von etwas Göttlichem handelt; ob nicht vielmehr eine andere Deutung dieser Erlebnisse wahrscheinlicher ist, welche in den vermeintlichen Intuitionen des Göttlichen psychologisch erklärliche Trugerlebnisse, Halluzinationen oder dergleichen erblickt. Diese äußerst wichtige Frage ist sehr schwer zu entscheiden. Für den Trugcharakter jener „Intuitionen" scheint zu sprechen, daß einander widersprechende Lehren sich auf sie berufen. Auf der anderen Seite ist jedoch unverkennbar, daß die auf solche Intuitionen sich gründenden Aussagen in sehr wesentlichen Punkten übereinzustimmen pflegen, vor allem darin, daß das Erschaute etwas überaus Hohes, Herrliches, Beglückendes sei. Uns scheint, daß die f ü r unser Erkennen, ja für unser ganzes Leben ungeheuer wichtige Frage nach Echtheit oder Trugcharakter dieser Intuitionen noch nicht endgültig gelöst ist. Vielleicht kann sie überhaupt nicht wissenschaftlich gelöst werden. Jedenfalls darf sie vom Erkenntnistheoretiker nicht aus Gefühlen, Wünschen oder Abneigungen heraus vorschnell entschieden, sondern sie muß sachlich und k ü h l untersucht werden, wie jedes andere wichtige Problem. Sollte sich dabei einwandfrei feststellen lassen, daß es eine echte unmittelbare Wahrnehmung Gottes in unserem eigenen Inneren gibt, so wäre die i h r entspringende Erkenntnis bei aller Würdigung ihrer hochbedeutsamen Eigenart übrigens wohl unserer alten ersten Erkenntnisgrundlagen-Klasse einzuordnen; die i n t u i t i v e E r k e n n t n i s des

Göttlichen

würde

eine hervorragend

schlichten Wahrnehmungserkenntnis

wichtige A r t

der

darstellen.

Soseinswahrnehmung könnte an dem i n uns gegenwärtigen Göttlichen möglicherweise auch intuitive synthetische Idealurteile sicherstellen, die unserer dritten Erkenntnisgrundlagen-Klasse einzuordnen wären. Bezüglich dieser dritten Klasse liegt überhaupt die Frage nahe, ob es nicht noch andere, ihr einzufügende synthetische Idealurteile

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

J

gebe als die von uns angeführten, die von zusammengesetzten Soseinsobjekten Beziehungen und Gestalten aussagen. Allerdings muß man sich sehr vor der Gefahr hüten, mit subjektiver Scheinevidenz ausgestattete, „einleuchtende", plausible Urteile, die auf Erfahrung beruhen (die durch Verallgemeinerung schlichter Wahrnehmungsergebnisse gewonnen sind), f ü r evident-notwendige Idealurteile zu halten, die durch Soseinswahrnehmung, durch „Wesensschau" gesichert sind. Viele angeblich durch Wesensschau gesicherte Urteile scheinen uns in der Tat Erfahrungsurteile zu sein. — Beim Problem der höheren Wahrnehmungsart oder Intuition drängt

sich weiterhin die Frage auf, ob es ein i n t u i t i v e s

Er-

k e n n e n des G u t e n u n d Bösen, S c h ö n e n u n d H ä ß l i c h e n usw., kurz des W e r t v o l l e n u n d W e r t w i d r i g e n gebe. Sind etwa die G e w i s s e n s e n t s c h e i d u n g e n als gesicherte intuitive Erkenntnisse zu betrachten, oder geht das nicht an, weil es Widersprüche zwischen ihnen gibt? Es liegt auf der Hand, daß die Frage nach solchen i n tuitiven Erkenntnisgrundlagen f ü r die Werttheorie, die Ethik, Ästhetik usw. von fundamentaler Bedeutung ist. Hier taucht nun die weitere Frage auf, ob es — wiederum etwa auf ethischem, ästhetischem, religiösem Gebiete, überhaupt i m Gebiete der Werte — eine echte, wissenschaftlich einwandfreie Sicherung von Erkenntnissen durch G e f ü h l e gebe. W i r haben bereits betont, daß das „Evidenzgefühl" oder „Sicherheitsgefühl" nicht mit echter Evidenz verwechselt und keineswegs als sicherer Bürge f ü r die Wahrheit einer Überzeugung betrachtet werden darf. Es ist überhaupt nicht einzusehen, wie Gefühle für sich genommen imstande sein sollen, die Wahrheit von Urleilen sicherzustellen, also festzustellen, daß deren Prädikatsgegenstände an den betreffenden Subjektsgegenständen sich finden. Weiter können wir hier auf die Frage der Erkenntnissicherung durch Gefühle nicht eingehen. Auch die Ansicht, daß die Wahrheit von Überzeugungen durch E r l e b e n sicherzustellen sei, muß hier außer Betracht bleiben. — Der menschliche Geist verfügt über z w e i V e r m ö g e n , d e r e n Bef ä h i g u n g zur E r k e n n t n i s s i c h e r u n g keinem Z w e i f e l liegt:

Wahrnehmungsvermögen

unter-

u n d D e n k v e r m ö g e n . Eine

große und offenkundige Leistung des Denkens f ü r die Erkenntnissicherung liegt i m schließenden Beweisen, in der mittelbaren Er-

Erkenntnistheorie.

0

kenntnissicherung. Unmittelbar, d. h. ohne schließendes Beweisen, kann das auf sich selbst gestellte Denken nur die analytischen Urteile sichern. Der Erkenntnisfaktor, der unzweifelhaft unmittelbar synthetische Urteile zu sichern vermag, ist die W a h r n e h m u n g o d e r A n schauung.

Sie i s t d i e j e n i g e

Quelle gesicherter

scher E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n , d i e o h n e Z w e i f e l

synthetianerkannt

w e r d e n m u ß . Freilich bedarf die Wahrnehmung, wie wir sahen, schon bei der Sicherung letzter Erkenntnisgrundlagen vielfach der Mitwirkung des Denkens.

B. Die n i c h t - s i c h e r b a r e n letzten G r u n d l a g e n der Realerkenntnis. Unentbehrlichkeit weiterer Grundlagen für unsere Realerkenntnis. Mögen die von uns aufgewiesenen Erkenntnisgrundlagen-Klassen die Gesamtheit der sicherbaren letzten Erkenntnisgrundlagen

er-

schöpfen oder nie* Λ jedenfalls genügen sie nicht zur Grundlegung unserer

wissenschaftlichen

und

außerwissenschaftlichen

Real-

erkenntnis. Die schlichten Wahrnehmungsurteile sprechen nur von Realgegenständen, die gegenwärtig i m Bewußtsein des Urteilenden sich finden. Die analytischen Urteile bringen uns nicht weiter. Das analytische Urteil : Ein grüner Gegenstand ist grün, besagt : Ein Gegenstand, der grün ist, ist grün; und so sagt jedes analytische Urteil: Ein Gegenstand, der ein Etwas in oder an sich hat, hat dieses Etwas in oder an sich. Damit ist keine neue Erkenntnis gewonnen, auch keine neue Wirklichkeitserkenntnis. Komme ich nun mit der d r i t t e n Klasse von Erkenntnisgrundlagen über die engen Schranken meines gegenwärtigen Bewußtseins hinaus? Diese Klasse -wird gebildet von Soseinsurteilen, die an Idealobjekten (z. B. an Weiß und Schwarz, an zwei sich schneidenden Geraden) Beziehungen (z. B. Verschiedenheit) oder Gestalten (z. B. Winkel) feststellen. Ich kann diese Soseinserkenntnisse auf reales Sosein, z. B. wirkliches Weiß und Schwarz, anwenden und urteilen:

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

Wirkliches Weiß und Schwarz sind verschieden. Aber das w i r k liche Sosein muß ich, um solche Soseinserkenntnis darauf anwenden zu können, eben schon festgestellt haben. So lange ich also an w i r k lichem Sosein, an wirklichen Gegenständen nur die in meinern gegenwärtigen Bewußtsein befindlichen (durch schlichte Wahrnehmung) festgestellt habe, kann ich die Idealurteile der dritten Grundlagenklasse nur eben auf diese wirklichen Gegenstände anwenden und auf diese Weise an ihnen Beziehungen und Gestalten feststellen. Auch damit kommt also meine Realerkenntnis nicht über die unerträglich engen Grenzen meines gegenwärtigen Bewußtseins hinaus. Man wird nun vielleicht meinen, wenn man Urteile unserer * rei Grundlagen-Klassen

irgendwie kombiniert

als Fundamente oder

„Vordersätze" von schließenden Beweisen benutze, so könne man vielleicht Urteile erschließen, die uns etwas über Wirkliches außerhalb des eigenen gegenwärtigen Bewußtseins sagen. Aber auch diese Hoffnung ist trügerisch. Strenges schließendes Beweisen führt, wie die Logik zeigen kann, nicht über das Gegenstandsgebiet der Schlußfundamente, der Vordersätze hinaus. Solange in diesen nur Realgegenstände festgestellt sind, die sich in meinem gegenwärtigen Bewußtsein finden, kann schließendes Beweisen keine weiteren Realgegenstände feststellen und die Schranken des eigenen gegenwärtigen Bewußtseins nicht durchbrechen. Andererseits würden wir, in diese Schranken eingeschlossen, auf unsere Realwissenschaften und sogar auf f ü r unser Leben unentbehrliche Wirklichkeitserkenntnisse verzichten müssen. W i r würden ja weder vergangenes noch zukünftiges Wirkliches erkennen können, nicht einmal unsere eigenen vergangenen oder zukünftigen Bewußtseinsinhalte, ferner nicht das außerhalb des eigenen Bewußtseins existierende Seelenleben

unserer Mitgeschöpfe,

selbstverständlich

auch keine Dinge, Vorgänge usw., die außerhalb des Bewußtseins von Menschen und Tieren existieren mögen. Ich könnte sogar nicht einmal erkennen, daß außerhalb meines gegenwärtigen Bewußtseins etwas Wirkliches überhaupt e x i s t i e r t , existiert hat oder existieren wird, daß es eine wirkliche Vergangenheit gegeben hat, eine w i r k liche Zukunft geben wird, daß es ein Seelenleben in Mitmenschen und Tieren, sowie eine Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins gibt.

Erkenntnistheorie.

0

Blicken wir nun aber auf die sich vielfach bewährende außerwissenschaftliche

Realerkenntnis und gar auf die in unüberseh-

barem Reichtum sich entfaltenden, rüstig fortschreitenden Realwissenschaften, so gewinnen wir den Eindruck und die Hoffnung, daß doch eine Erkenntnis von vergangenem und zukünftigem W i r k lichem, von fremdem

Bewußtseinsleben und von außerbewußten

Außenweltsrealitäten möglich ist. Alles dies scheint doch tatsächlich m i t Erfolg erforscht und erkannt zu werden. W e n n n u n die ges i c h e r t e n E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n unserer d r e i Klassen z u r Fundierung

der

außerwissenschaftlichen

schaftlichen

Realerkenntnis

nicht

und

ausreichen,

wissenso

muß

diese w o h l n o c h a u f a n d e r e n G r u n d l a g e n r u h e n , m ö g e n d i e selben v i e l l e i c h t a u c h u n g e s i c h e r t u n d n i c h t - s i c h e r b a r sein. W i r haben nun die Aufgabe, nach diesen Grundlagen oder Voraussetzungen zu forschen. Und wenn wir sie gefunden haben, dann werden wir, falls wir auf eine eigentliche, strenge Sicherung verzichten müssen, doch zu prüfen haben, was sich zu ihrer Rechtfertigung anführen läßt.

Die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens als unentbehrliche, nicht-sicherbare Erkenntnisgrundlage. Wir

wollen bei der Aufsuchung der unentbehrlichen Voraus-

setzungen des Realerkennens

schrittweise vorgehen und zunächst

fragen! Wie kommen wir dazu, statt nur g e g e n w ä r t i g e eigene Bewußtseinsgegenstände überhaupt eigene Bewußtseinsgegenstände, also auch v e r g a n g e n e und z u k ü n f t i g e , zu erkennen? Offenbar stützt sich die Erkenntnis der Zukunft auf die der Vergangenheit; wir erwarten, daß in Zukunft wieder der Tag auf die Nacht folgen, der Magnet Eisen anziehen, ein echtes Kunstwerk uns erfreuen und erheben werde, weil in der Vergangenheit dies geschah. Demnach wird zu allererst zu fragen sein: W i e e r k e n n e n w i r vergangene eigene B e w u ß t s e i n s g e g e n s t ä n d e , also früher von uns bewußt Erlebtes? Man wird zu antworten haben : in letzter Instanz mit Hilfe des Gedächtnisses, d u r c h E r i n n e r u n g . Gewiß können mir auch allerlei körperliche Zeichen, z. B. eine Notiz in meinem Tagebuch, beim Erkennen von Vergangenem wertvolle Dienste leisten. Aber auch wenn

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung. J(J5

ich solche körperlichen Zeichen bei der Vergangenheitserkenntnis benutze, muß ich mich doch auf meine Erinnerung stützen. Denn die Notizen in meinem Tagebuch sind jetzt, wo ich sie ansehe, etwas Gegenwärtiges, und sie können mich nur darum erkenntnisspendend in die Vergangenheit führen, weil ich aus der Erinnerung weiß, daß ich m i r früher derartige Notizen gemacht, daß ich dies Tagebuch geführt habe, daß die Schrift in i h m meine Schrift ist, usw. Ohne Gedächtnis wüßte ich überhaupt nichts von der Vergangenheit; alle die Reste und Spuren von Vergangenem, die dank der Erinnerung so eindrucksvoll von diesem zu m i r reden, die Bilder und Briefe und Andenken der verstorbenen Eltern und Freunde usw., wären nichts für mich als gegenwärtige Objekte. Als

Erinnerungen

aber

bezeichnen w i r

Bewußtseins-

i n h a l t e , d u r c h d i e w i r V e r g a n g e n e s , das i n u n s e r e m Bew u ß t s e i n w a r , zu e r f a s s e n g l a u b e n . Wenn ich mich jetzt des vergangenen Weihnachtsfestes erinnere, so ist meine Erinnerung ein gegenwärtiger Bewußtseinsinhalt; aber sie bedeutet mehr f ü r mich, sie gibt m i r — davon bin ich überzeugt — etwas Nicht-GegenwärtigErlebtes, etwas Vergangenes wieder. Die E r k e n n t n i s von Vergangenem d u r c h E r i n n e r u n g ist keineswegs u n m i t t e l b a r e v i d e n t . Allerdings kann i h r eine starke Scheinevidenz, ein kräftiges subjektives Sicherheitsbewußtsein beiwohnen. Echte unmittelbare Evidenz aber liegt nur da vor, wo ich den Prädikatsgegenstand am oder i m Subjektsgegenstand unmittelbar wahrnehmen kann. Dazu muß der Subjektsgegenstand mit dem Prädikatsgegenstand in meinem Bewußtsein gegenwärtig sein. Erinnerungserkenntnis aber betrifft Vergangenes, Nicht-Gegenwärtiges, und darum auch Nicht-Wahrnehmbares,

Nicht-mit-unmittelbarer-

Evidenz-Erfaßbares. Das Erinnerungsurteil: Der gestrige Tag war kalt, ist nicht unmittelbar evident, weil der gestrige Tag nicht gegenwärtig ist in meinem Bewußtsein, und daher der Gegenstand „ k a l t " nicht unmittelbar an i h m wahrgenommen werden kann. Die Erinnerungserkenntnis ist auch nicht unmittelbar denknotwendig oder analytisch. Z. B. das Erinnerungsurteil: Der gestrige Tag war kalt, erweist sich nicht schon aus seinem eigenen Gedankengehalt heraus als notwendig wahr, was bei unmittelbar denknot-

Erkenntnistheorie.

0

wendigen Urteilen j a der Fall ist. Wäre das angeführte Urteil unmittelbar denknotw r endig, d. h. durch sich selbst als notwendig wahr gesichert, dann brauchte ich ja nicht die Erinnerung als Bürgen dieses Urteils. Unser Urteil: Der gestrige Tag war kalt, könnte an sich, lediglich nach seinem Gedankengehalte betrachtet, so gut falsch wie wahr sein, ist darum nicht denknotwendig. Das Urteil ist selbstverständlich nicht analytisch; denn i m Begriff „der gestrige Tag" ist der Begriff „ k a l t " nicht enthalten. Wenn ich nun die weder unmittelbar evidenten noch unmittelbar denknotwendigen Erinneru/ngsurteile auf Grund meiner Erinnerung als wahr hinnehme, so setze i c h d a b e i v o r a u s , daß die E r i n n e r u n g V e r t r a u e n v e r d i e n t , daß sie m i r v e r g a n g e n e B e w u ß t s e i n s g e g e n s t ä n d e r i c h t i g w i e d e r z u g e b e n p f l e g t . O h n e die Voraussetzung,

daß E r i n n e r u n g m i r V e r g a n g e n e s r i c h t i g

oder doch meist r i c h t i g w i e d e r g i b t , k ö n n t e mein Erkennen überhaupt

nicht

an

vergangene

Gegenstände

heran-

k o m m e n . Diese „ V o r a u s s e t z u n g des E r i n n e r u n g s v e r t r a u e n s " (wie wir kurz sagen wollen) i s t also eine u n e n t b e h r l i c h e G r u n d lage f ü r

die E r k e n n t n i s

von Vergangenem

und damit

für

außerwissenschaftliche und wissenschaftliche Realerkenntnis. (Praktisch können w i r das Vertrauen zur Erinnerung nicht einmal beim mathematischen Forschen entbehren, obwohl die Sätze der reinen Mathematik sich nicht mit Zeit und Vergangenheit befassen.) Die

Wahrheit

trauens

kann

der

nun

Voraussetzung

aber

auf

keine

des E r i n n e r u n g s v e r Weise

sichergestellt

w e r d e n , weder unmittelbar, d. h. ohne schließenden Beweis, noch mittelbar, d. h. durch einen solchen. Unmittelbar kann unsere Voraussetzung weder durch Wahrnehmung noch durch Denken sichergestellt werden; d. h. sie ist weder unmittelbar evident noch unmittelbar denknotwendig. Von unmittelbarer Evidenz, von Sicherung durch

Wahrnehmung,

kann bei unserer Voraussetzung nicht die

Rede sein; denn ich kann ja Vergangenes nicht wahrnehmen und darum auch nicht durch Wahrnehmung feststellen, daß Vergangenes durch Erinnerung richtig oder meist richtig wiedergegeben wird. Unmittelbar denknotwendig ist die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens auch durchaus nicht; denn dem eigenen Gedankengehalte

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

des Urteils: Die Erinnerung gibt Vergangenes meist richtig wieder, ist auf keine Weise zu entnehmen, daß dies Urteil wahr sein muß. Es ist sehr wohl denkmöglich, daß Erinnerung m i r keineswegs Vergangenes richtig wiederzugeben pflegt. Vielleicht wendet man ein, die „Voraussetzung", daß Erinnerung uns Vergangenes richtig wiedergebe, sei analytisch und darum auch denknotwendig und gesichert. I m Begriff der Erinnerung liege, daß sie uns Vergangenes richtig wiedergebe, und darum sei das Urteil, daß sie dies tue, analytisch. Indessen wenn man die Erinnerung von vornherein als einen Bewußtseinsinhalt definiert,

der Vergangenes

richtig erfaßt oder wiedergibt, so fragt es sich eben, ob es solche Bewußtseinsinhalte gibt. Das Urteil aber, daß gewisse tatsächlich vorkommende Bewußtseinsinhalte, in denen wir Vergangenes zu erfassen glauben (und die wir darum als Erinnerungen bezeichnen), uns in der Tat Vergangenes m e i s t r i c h t i g wiedergeben, ist ohne Zweifel synthetisch und nicht denknotwendig. Gerade dies Urteil repräsentiert jedoch die unentbehrliche Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens, die aller Erkenntnis von Vergangenem zugrunde liegt. Diese Voraussetzung ist also weder unmittelbar evident noch unmittelbar denknotwendig und darum überhaupt nicht unmittelbar gesichert. Sie kann aber auch nicht mittelbar, d. h. durch schließendes Beweisen, sichergestellt Erinnerungsvertrauens

werden. Ohne die Voraussetzung des

ist mein

Realerkennen

auf

mein eigenes

gegenwärtiges Bewußtsein eingeschränkt; ohne sie weiß ich nichts von der Existenz und Beschaffenheit von Vergangenem.

Es sind

dann gar keine Ansatzpunkte, keine Vordersätze zu Schlüssen zu finden,

welche mich zur Erkenntnis von Vergangenem

führen

könnten. Wenn ich aber ohne die in Frage stehende Voraussetzung durch Schlüsse gar nichts über Vergangenes ausmachen kann, dann kann ich auch nicht erschließen und beweisen, daß Vergangenes meist so existiert hat und beschaffen war, wie die Erinnerung es darstellt. Ich kann mithin die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens nicht schließend beweisen. Wenn meine Erinnerung an ein Erlebnis mit Aufzeichnungen übereinstimmt, die ich mir darüber gemacht habe, so betrachte ich dies

0

Erkenntnistheorie.

freilich als Beweis dafür, daß meine Erinnerung mich in diesem Falle nicht täuscht. Doch setzt dieser Beweis die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens schon voraus; denn wenn ich mich dabei auf meine Aufzeichnungen stützen will, muß ich schon der Erinnerung vertrauen, die m i r sagt, daß ich diese Schriftzeichen einst als Darstellung meines Erlebnisses niedergeschrieben habe. Ohne die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens dürfte ich diese Schriftzeichen nur als gegenwärtige Gegenstände, nicht aber als Bürgen meines vergangenen Erlebnisses betrachten. W i r haben also weder eine unmittelbare noch eine durch Beweis zu erlangende Sicherheit dafür, daß wir der Erinnerung vertrauen dürfen. W i r sind aus guten Gründen überzeugt, daß sie uns zuweilen täuscht, und es ist nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß sie uns meist oder immer täuscht. T r o t z d e m müssen w i r die V o r a u s s e t z u n g des E r i n n e r u n g s v e r t r a u e n s f e s t h a l t e n , w e i l sie u n e n t b e h r l i c h i s t f ü r unser R e a l e r k e n n e n i n L e b e n u n d W i s s e n s c h a f t . W i r sind hier also auf eine unentbehrliche Erkenntnisgrundlage gestoßen, die theoretisch nicht gesichert werden kann. Nur ihre U n e n t b e h r l i c h k e i t und der Umstand, daß wir mit dieser grundlegenden Voraussetzung ziemlich gut durchkommen, daß sie sich i m großen und ganzen gut b e w ä h r t , können zur R e c h t f e r t i g u n g angeführt werden. Das ist f ü r den Erkenntnistheoretiker, der nach der Wahrheitssicherung der letzten Grundlagen unseres Erkennens strebt, eine sehr unerfreuliche Sachlage. Doch ist er verpflichtet, auch die Mängel unserer Erkenntnisgrundlagen festzustellen. Ist meine Erkenntnis auf der Basis der gesicherten Erkenntnisgrundlagen auf das enge Gebiet meines eigenen gegenwärtigen Bewußtseins beschränkt, so w i r d durch Hinzunahme der Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens die Vergangenheit meines eigenen Bewußtseins dem Realerkennen zugänglich; allerdings nur teilweise, da meine Erinnerung nicht alles wiederzugeben vermag, was einmal i n meinem Bewußtsein war.

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung

Die Regelmäßigkeitsvoraussetzung als unentbehrliche, nichtsicherbare Erkenntnisgrundlage. Ich kann meine Realerkenntnis nicht auf die Gegenwart und Vergangenheit meines Bewußtseins einschränken. Um mein Leben zu erhalten, muß ich Zukünftiges voraussehend erkennen, um f ü r meine Zukunft sorgen zu können. Und i m wissenschaftlichen Realerkennen, in Geistes- und Naturwissenschaften, muß ich über Gegenwart und Vergangenheit meines eigenen Bewußtseins weit hinausgreifen, sei es in das Seelenleben der Mitgeschöpfe, sei es in die jenseits unseres Bewußtseins liegende Außenwelt. Der Historiker und der Paläontologe dringen in eine Vergangenheit ein, die weit hinter derjenigen ihres

Bewußtseins liegt; der Astronom weiß von Sonnenfinster-

nissen, die weit vor der Gegenwart seines Bewußtseins in der Zukunft liegen. Mit den gesicherten Erkenntnisgrundlagen, die wir festzustellen vermochten, kommt mein Realerkennen nicht über mein gegenwärtiges Bewußtsein hinaus, und die nicht gesicherte Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens vermag m i r nur meine eigene Vergangenheit teilweise zu erschließen. Wenn ich also weitergelangen w i l l zur Erkenntnis der Zukunft, der nicht durch bloße Erinnerung erkennbaren Vergangenheit,

des Fremdseelischen

(d. h. des Seelischen

außerhalb meiner Seele, i n Mitmenschen usw.), der Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins, dann brauche ich eine oder vielleicht mehrere neue Erkenntnisgrundlagen. Die neue Erkenntnisgrundlage

nun, die ich brauche, um von

meinem eigenen gegenwärtigen und vergangenen Bewußtsein aus alle diese anderen Gebiete der Wirklichkeit erschließen zu können, ist die wiederum liche überall

nicht sicherbare

A n n a h m e , d a ß das

Wirk-

und allezeit Regelmäßigkeit aufweist.

Wir

wollen diese Annahme als R e g e l m ä ß i g k e i t s v o r a u s s e t z u n g bezeichnen. Schon in meinem gegenwärtigen und vergangenen, durch Wahrnehmung und Erinnerung erkennbaren Bewußtsein finde ich manche Regelmäßigkeiten; so ist der Wahrnehmung der Tageshelle regelmäßig die des Nachtdunkels, dem Erleben des Winters regelmäßig

Erkenntnistheorie.

0

das des Frühlings gefolgt. Wenn ich nun urteile, daß auch in Zukunft der Tageshelle Nachtdunkel, dem Winter der Frühling folgen wird, so kann ich diese Z u k u n f t s e r k e n n t n i s

nur rechtfertigen

durch ein Schließen von der Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft, und dieses Schließen muß sich stützen auf die Annahme, daß eine Regel, die in der Vergangenheit und Gegenwart sich zeigte, auch über diese hinaus i n Zukunft gelten wird. So muß sich alles Erkennen von Zukünftigem, wenn es sich rechtfertigen will, auf die Voraussetzung stützen, daß auch die Zukunft Regeln gehorcht, denen Vergangenheit und Gegenwart entsprachen und entsprechen. Und diese Voraussetzung gehört in den Rahmen unserer Regelmäßigkeitsvoraussetzung; es würde ja eine Unregelmäßigkeit bedeuten, wenn Regeln, die bisher galten, hinfort ihre Geltung verlören. Auch V e r g a n g e n e s kann auf Grund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung erschlossen werden. Auf sie muß sich z. B. meine Überzeugung stützen, daß ich auch in meinem fünften Lebensjahre nach dem Winter den Frühling erlebt habe; meine Erinnerung läßt mich da nämlich i m Stich. Ferner bedarf die Annahme einer a u ß e r h a l b unseres B e w u ß t seins e x i s t i e r e n d e n ( „ b e w u ß t s e i n s t r a n s z e n d e n t e n " ) A u ß e n w e l t zu ihrer Rechtfertigung der Regelmäßigkeitsvoraussetzung bzw. einer Spezialisierung derselben, des Kausalprinzips (das wir unten genauer betrachten müssen). Zahllose Sinneswahrnehmungen, z. B. von Kraftwagensignalen, knarrenden Wagen, menschlichen Stimmen und Schritten, Glockenschlägen, treten unregelmäßig, oft in wirrem Durcheinander in mein Bewußtsein ein. Erst wenn ich eine außerhalb meines Bewußtseins existierende Außenwelt annehme, fügt sich das Auftreten meiner Sinn es Wahrnehmungen in R e g e l u n d Gesetz ein; alle die scheinbar so regellos auftretenden Sinneswahrnehmungen erscheinen dann als r e g e l m ä ß i g e Folgen von bestimmten Außenweltsvorgängen, von „Sinnesreizen", regelmäßige

Vorläufer,

nämlich

die ihrerseits

Ursachen, in der

wieder

Außenwelt

haben. So befriedigt erst die Annahme einer Außenwelt außerhalb unseres

Bewußtseins die Voraussetzung der Regel- (und Gesetz-)

mäßigkeit des Wirklichen, und so erscheint, wie noch genauer dar-

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

zulegen sein wird, die Regel- (und Gesetz-) mäßigkeitsVoraussetzung (und das Kausalprinzip) als Rechtfertigungsgrundlage f ü r die Außenweltsannahme. Ebenso muß sich die E r k e n n t n i s v o n F r e m d s e e l i s c h e m , wenn wir nach ihrer

Rechtfertigung fragen, auf die Regelmäßigkeits-

voraussetzung stützen. Wenn ich vom Sprechen oder Weinen der Mitmenschen, von Schriftzeichen oder Kunstwerken, kurz von irgendwelchen körperlichen

„Zeichen"

auf etwas Fremdseelisches, auf

Gedanken, Schmerz usw. in Mitmenschen schließe, so setze ich dabei voraus, daß auch bei diesen das Sprechen mit Gedanken, das Weinen mit Schmerz, die Entstehung der Schriftzeichen und Kunstwerke mit gewissen seelischen Vorgängen r e g e l m ä ß i g zusammenhängen. Und wenn ich annehme, daß ein Kind sich freut, wenn in i h m die Erwartung eines erwünschten Geschenkes erweckt wird, so rechtfertigt sich diese Annahme wieder durch ein Schließen, das Regelmäßigkeit voraussetzt; ich setze voraus, daß die Regel des Zusammenhanges von Geschenkerwartung und Freude auch bei diesem Kinde sich bewährt. Alle A n a l o g i e -

u n d I n d u k t i o n s s c h l ü s s e des Realerkennens

gründen sich auf unsere Regelmäßigkeitsvoraussetzung. Diese induktiven Schlüsse i m weiteren Sinne oder

Erweiterungsschlüsse

schließen von bisher Wahrgenommenem, Beobachtetem, Festgestelltem auf nicht Wahrgenommenes, nicht Festgestelltes, indem sie voraussetzen, daß jenes und dieses in gleicher Weise der Regelmäßigkeit des Wirklichen unterstehen. So erschließe ich, nachdem ich beim Kosten des einen von zwei gleich aussehenden Äpfeln diesen sauer gefunden habe, durch Analogieschluß, daß auch der andere, nicht gekostete, sauer sein werde, durch Induktionsschluß, daß alle Äpfel dieser Sorte sauer sein werden, wobei ich voraussetze, daß r e g e l m ä ß i g mit dem gleichen Aussehen der Äpfel der gleiche Geschmack verbunden ist. Auf Grund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung kann mein Realerkennen die Grenzen der Vergangenheit und Gegenwart meines Bewußtseins überschreiten und eindringen i n die Weiten und Tiefen des Gesamtwirklichen,

der

Zukunft

und fernen

Vergangenheit, der

Außenwelt und des Fremdseelischen. Ohne Regelmäßigkeitsvoraus-

Erkenntnistheorie.

Setzung kann ich nichts von dem, was außerhalb jener Grenzen liegt, erkennen, ja nicht einmal erkennen, daß es außerhalb jener Grenzen überhaupt irgend etwas gibt. Schon die Überzeugung, daß mit dem gegenwärtigen

Moment der Zeitlauf nicht aufhört, daß auf das

jetzige Jetzt ein weiteres Jetzt folgen wird, wie auf das vergangene Jetzt immer wieder ein weiteres Jetzt folgte, fußt auf der Voraussetzung, daß die Regelmäßigkeit, die i m bisherigen Zeitablauf lag, über die Grenze des gegenwärtigen Moments hinausreicht. Ist nun eine unmittelbare oder mittelbare S i c h e r u n g dieser ungeheuer weittragenden, unentbehrlichen Voraussetzung, daß das Gesamtwirkliche regelmäßig ist, möglich? Eine unmittelbare Sicherung durch Wahrnehmung, durch u n m i t t e l b a r e E v i d e n z , i s t n i c h t m ö g l i c h ; denn das Gesamtwirkliche, einschließlich des zukünftigen, vergangenen und außerbewußten Wirklichen, kann man nicht unmittelbar wahrnehmen, und somit kann man auch nicht unmittelbar wahrnehmen, daß dies Gesamtwirkliche regelmäßig ist in Sein und Ablauf. Wahrnehmung zeigt auch keineswegs, daß das Wirkliche n o t w e n d i g regelmäßig ist und darum ü b e r a l l regelmäßig sein m u ß . Wenn ich mir das meiner Wahrnehmimg zugängliche Wirkliche, die eigenen gegenwärtigen Bewußtseinstatsachen, daraufhin ansehe, ob der Wirklichkeit notwendig Regelmäßigkeit innewohnt, wie etwa dem Gegenstand „Schwarz und W e i ß " notwendig Verschiedenheit innewohnt, so vermag meine Wahrnehmung durchaus nicht festzustellen, daß Wirkliches mit Notwendigkeit regelmäßig ist. Ich sehe sofort, daß Schwarz und Weiß verschieden sein müssen, aber ich sehe keineswegs, daß das Wirkliche sich regelmäßig verhalten muß. Ich kann den wirklichen Bewußtseinstatsachen nicht ansehen, daß sie sich regelmäßig verhalten müssen, und ich kann darum erst recht nicht durch Wahrnehmung feststellen, daß ganz allgemein das Wirkliche sich regelmäßig verhalten muß. Auch

ist die Regelmäßigkeitsvoraussetzung

mittelbar

denknotwendig.

Es ist offenbar

nicht un-

keineswegs denk-

notwendig, daß das Gesamtwirkliche oder z. B. speziell das zukünftige Wirkliche regelmäßig sein und den Regeln gehorchen muß,

die

bisher geherrscht haben. Es ist z. B. sehr wohl denkbar, daß von

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

jetzt ab auf den Frühling nicht mehr regelmäßig der Sommer, sondern regellos bald der Winter, bald der Sommer folgen werde. Das Urteil: Das Gesamtwirkliche oder gesamte Daseiende ist regelmäßig, ist n i c h t a n a l y t i s c h ; denn der Begriff „regelmäßig" ist i m Begriff des Wirklichen, Daseienden, und darum auch i m Begriff des gesamten

Wirklichen

nicht

enthalten.

Unsere

Empfindungen,

Freuden, Leiden, Wünsche usw. sind wirklich oder daseiend, mögen sie Regeln unterworfen sein oder nicht; also schließt der Begriff der Wirklichkeit den der Regelmäßigkeit nicht ein. Aber a u c h e i n e m i t t e l b a r e

Sicherung der

Regelmäßig-

k e i t s v o r a u s s e t z u n g , d. h. e i n e S i c h e r u n g d u r c h s c h l i e ß e n den B e w e i s , i s t n i c h t m ö g l i c h . Für einen solchen fehlen die erforderlichen Grundlagen oder Vordersätze. Ohne Regelmäßigkeitsvoraussetzung ist mein Realerkennen auf die Vergangenheit und Gegenwart meines Bewußtseins beschränkt Diese Gebiete des W i r k lichen sind aber, f ü r sich betrachtet, reich an Unregelmäßigkeiten, wenn sie auch andererseits manche Regelmäßigkeiten aufweisen. Von der Erkenntnis meines an Unregelmäßigkeiten reichen vergangenen und gegenwärtigen Bewußtseins führt aber kein Schließen zu dem Urteil, daß die Gesamtwirklichkeit überall und allezeit Regelmäßigkeit aufweist. D i e R e g e l m ä ß i g k e i t s v o r a u s s e t z u n g i s t also w i e d i e V o r aussetzung

des

Erinnerungsvertrauens

nicht-sicherbar.

Trotzdem müssen wir sie festhalten, weil sie f ü r unser Realerkennen und damit auch f ü r unser Leben u n e n t b e h r l i c h ist. Darin und in dem Umstände, daß sie sich gut bewährt, liegt eine — allerdings unbefriedigende — Rechtfertigung derselben.

Die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung. W i r sind uns i m außerwissenschaftlichen Erkennen der Regelmäßigkeitsvoraussetzung zumeist nicht bewußt, wenn unsere Urteile sich, logisch betrachtet, auf sie stützen müssen, wenn wir z. B. über Zukünftiges oder über Seelisches i n unseren Mitmenschen urteilen. Doch darf man diese Voraussetzung wohl als einen Besitz des außerwissenschaftlichen Erkennens bezeichnen, da dasselbe sich nicht nur immerfort auf sie stützt, sondern gelegentlich auch zu der klar beB e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

8

Erkenntnistheorie.

wußten Überzeugung gelangt, daß die Welt und ihr Lauf i m Großen und Ganzen regelmäßig beschaffen sind. Hingegen besitzt der von der Wissenschaft nicht beeinflußte Mensch noch nicht die Überzeugung, daß alles und jedes Wirkliche, z. B. jede Laune des Wetters oder der Menschen, absolut strenger und ausnahmsloser Regelmäßigkeit oder „ G e s e t z m ä ß i g k e i t " untersteht. I n diese strengere und bestimmtere „ G e s e t z m ä ß i g k e i t s v o r a u s s e t z u n g " wandelt sich die Regelmäßigkeitsvoraussetzung erst unter dem Einfluß

der Wissenschaft

um. Diese, insbesondere manche

Zweige der Naturwissenschaft, wie Astronomie und Physik, fanden immer wieder Regelmäßigkeiten von einer Strenge und Genauigkeit, die das vor wissenschaftliche Erkennen kaum geahnt hatte. Und oftmals verloren Ausnahmen von Regeln bei eindringender wissenschaftlicher Betrachtung den Charakter bloßer Unregelmäßigkeiten, indem sie sich ihrerseits irgendwelchen Regeln unterordneten. Die Neigung des menschlichen Denkens zum Einfachen, Radikalen, Unbedingten kam hinzu, und so wurde aus der noch etwas vagen Regelmäßigkeitsvoraussetzimg

die radikale

Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung,

d. h. die A n n a h m e , daß alles W i r k l i c h e a b s o l u t g e n a u e n , ausnahmslosen Regeln oder „Gesetzen" untersteht. Wie steht es nun mit der Sicherung dieser Überzeugung, die von zahllosen Forschern und wissenschaftlich Beeinflußten gehegt wird und vielen als fast selbstverständlich erscheint? Da muß gesagt werden, daß d i e G e s e t z m ä ß i g k e i t s v o r a u s s e t z u n g so w e n i g o d e r e i g e n t l i c h n o c h w e n i g e r g e s i c h e r t w e r d e n k a n n w i e die Regelmäßigkeitsvoraussetzung.

Durch Wahrnehmung, durch

unmittelbare Evidenz kann sie nicht gesichert werden;

sie greift

j a weit über das Gebiet des Wahrnehmbaren hinaus, und Wahrnehmung vermag auch keineswegs zu zeigen, daß das Wirkliche n o t w e n d i g gesetzmäßig ist. Ich kann dem meiner Wahrnehmung zugänglichen

Wirklichen,

meinen eigenen

Bewußtseinstatsachen,

nicht ansehen, daß sie sich gesetzmäßig verhalten müssen, und ich kann daher erst recht nicht durch Wahrnehmung feststellen, daß ganz allgemein das Wirkliche sich gesetzmäßig verhalten muß. Unmittelbar denknotwendig ist es auch keineswegs, daß alles W i r k liche absolut genauen Gesetzen untersteht. Und beweisen kann man

Die letzten Erkenntnigrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung.

dies so wenig wie die Regelmäßigkeitsvoraussetzung; wie sollte man beweisen können, daß vor Millionen Jahren jedes Stäubchen i m Weltall strengen Gesetzen gehorchte, und daß es nach Millionen Jahren immer noch diesen Gesetzen gehorchen wird? Es kann keine Rede davon sein, daß die Wissenschaft die absolute Gesetzmäßigkeit alles Wirklichen bewiesen habe oder beweisen könne; man darf nur sagen, daß sie die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung n a h e l e g t . Nie kann die Wissenschaft z. B. unregelmäßige, minimale, quantitative Abweichungen von Realgesetzmäßigkeiten ausschließen, da auch die besten Messungen nie absolute Genauigkeit erreichen. Ist strenge Sicherung der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung unmöglich, so käme Rechtfertigung durch Unentbehrlichkeit in Frage. Jedoch erscheint die Gesetzmäßigkeits Voraussetzung f u r Wissenschaft und Leben eher e n t b e h r l i c h als d i e vagere R e g e l m ä ß i g k e i t s voraussetzung.

Für

das außerwissenschaftliche

Erkennen

des

praktischen Lebens genügt die Voraussetzung, daß das Wirkliche sich i m Großen und Ganzen regelmäßig verhält, so daß man mit hinreichender

Wahrscheinlichkeit

Zukünftiges

vorhersehen kann.

Aber auch die Realwissenschaften könnten sich allenfalls m i t der Voraussetzung weitgehender, wenn auch nicht restloser Regelmäßigkeit begnügen. Die Physiker z. B. könnten praktisch forschen, schließen, verallgemeinern wie bisher, wenn sie nicht m i t absoluter Naturgesetzmäßigkeit,

sondern nur

mit

einer gelegentliche Aus-

nahmen und kleine Abweichungen zulassenden Regelmäßigkeit der Natur rechnen würden. Indessen wäre der Verzicht auf die Voraussetzung völliger Gesetzmäßigkeit alles Wirklichen doch durchaus nicht bedeutungslos. M i t Hilfe

der Regelmäßigkeitsvoraussetzung

kommen w i r

über

die

Schranken der Gegenwart und Vergangenheit des eigenen Bewußtseins hinweg; aber das auf die Regelmäßigkeitsvoraussetzung sich stützende Erkennen, die auf sie sich gründenden Schlüsse reichen selbstverständlich nur so weit, wie die vorausgesetzte Regelmäßigkeit reicht. Darum bedeuten Schranken der Regelmäßigkeit zugleich Schranken f ü r

unsere Erkenntnis des Wirklichen. Nur wenn die

Regelmäßigkeit eine schrankenlose ist, wenn alles Wirkliche a b soluter

Regelmäßigkeit

oder G e s e t z m ä ß i g k e i t

untersteht, 8*

Erkenntisheorie.

kommen diese Schranken unserer Realerkenntnis in Fortfall. e n t b e h r l i c h m u ß also d i e

Un-

Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung

d e m j e n i g e n e r s c h e i n e n , der n i c h t v o n v o r n h e r e i n a u f die restlose E r k e n n b a r k e i t des W i r k l i c h e n v e r z i c h t e n

will.

W i r erklären Wirkliches, indem w i r es auf Regeln oder Gesetze zurückführen. So erklären w i r die Leistung des Fernrohres durch Zurückführung

auf

Gesetze der Lichtbrechung. Ausnahmen von

einer Regel werden nur dadurch erklärlich, daß sie sich einer anderen Regel unterordnen. S o l l also alles W i r k l i c h e i m P r i n z i p e r k l ä r b a r s e i n , so m u ß es a u s n a h m s l o s e r R e g e l m ä ß i g k e i t o d e r Gesetzmäßigkeit

unterstehen.

Wenn also die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung f ü r die Realwissenschaften nicht schlechthin unentbehrlich erscheint, so m u ß sie d o c h als u n e n t b e h r l i c h g e l t e n , w e n n alles W i r k l i c h e i m P r i n z i p e r k e n n b a r u n d e r k l ä r b a r sein s o l l . Da diese i m Prinzip schrankenlose Erkennbarkeit und Erklärbarkeit aber etwas sehr Problematisches ist, muß diese Rechtfertigung ganz besonders unbefriedigend erscheinen. Auch die B e w ä h r u n g der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung

reicht zu einer befriedigenden

Rechtfertigung derselben nicht aus. W i r müssen uns notgedrungen damit beruhigen, daß mehr f ü r sie als gegen sie spricht.

«Apriorität* der Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens und der Regelmäßigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit des Wirklichen. W i r haben oben die analytischen Urteile als apriorisch bezeichnet, weil ihre Wahrheit unabhängig von der schlichten Wahrnehmung, der reinen Erfahrung, gesichert ist. Wenn wir nun dem Ausdruck „apriorisch" einen etwas weiteren Sinn geben und m i t i h m nicht nur Urteile

bezeichnen, die unabhängig von der Erfahrung gesichert

sind, sondern auch solche, die weder durch Erfahrung, durch gegenwärtige oder frühere schlichte Wahrnehmung, noch sonst irgendwie gesichert, aber wegen ihrer Bedeutung f ü r unser Erkennen doch einigermaßen gerechtfertigt sind, so sind auch die Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens

und der Regelmäßigkeit bzw. Gesetz-

mäßigkeit „apriorisch" zu nennen. Doch handelt es sich hier selbst-

Die letzten Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung oder Rechtfertigung. \

verständlich um eine ganz andere Art des Apriorischen als bei den analytischen Urteilen. Wenn man auch die synthetischen Idealurteile unserer dritten Erkenntnisgrundlagen-Klasse

apriorisch

nennen will, weil sie nicht

durch schlichte Wahrnehmung (sondern an Hand der Soseinswahrnehmung) gesichert sind, so ist zu bedenken, daß es sich hier wiederum um eine wesentlich andere Art des Apriorischen handelt 1 . Faßt man die analytischen Urteile, die synthetischen Ideal urteile unserer dritten Erkenntnisgrundlagen-Klasse und die synthetischen Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens und der Regelmäßigkeit bzw. Gesetzmäßigkeit des Wirklichen unter dem Begriff des Apriorischen zusammen, so ist i m Auge zu behalten, daß diese verschiedenen Urteilsklassen zwar das eine gemeinsam haben, daß sie nicht durch schlichte Wahrnehmung gesichert sind, daß es i m übrigen aber m i t ihrer Sicherung recht verschieden steht, und daß sie auch in anderer Hinsicht sehr einschneidende Unterschiede aufweisen. »Vgl. S. 94.

Die zurückführbaren Erkenntnisgrundlagen und ihre Sicherung. Der Begriff der Kausalität und das Kausalprinzip. Die Realgesetze, d. h. die Gesetzmäßigkeiten, welche im W i r k lichen herrschen, können w i r zunächst in K o e x i s t e n z g e s e t z e und Sukzessionsgesetze einteilen. U m K o e x i s t e n z g e s e t z e handelt es sich, wenn Realobjekte gesetzmäßig gleichzeitig auftreten. So koexistiert mit dem sprechenden, lachenden, arbeitenden Menschenleibe gesetzmäßig eine Seele; so weist ein silberglänzender, bei Zimmertemperatur flüssiger, elementarer Stoff gesetzmäßig gleichzeitig das spezifische Gewicht i 3 , 6 und ein gutes Leitungsvermögen f ü r Elektrizität auf ; so finden wir m i t der Blütenform der Schwertlilie gesetzmäßig eine bestimmte Blattform verbunden. Bei den S u k z e s s i o n s g e s e t z e n können wir wieder Gesetze des B e h a r r e n s o d e r der E r h a l t u n g und Gesetze der V e r ä n d e r u n g , des W e c h s e l s , des E n t s t e h e n s u n d V e r g e h e n s unterscheiden; w i r fassen dabei Beharren und Erhaltung als eine Art von Sukzession, als Aufeinanderfolge von Gleichem auf. Ein hochbedeutsames Erhaltungsgesetz ist der Satz von der Erhaltung der Energie (der Energiemenge); nach Veränderungsgesetzen folgt auf den Tag die Nacht, auf den Herbst der Winter, entwickelt sich unter normalen Verhältnissen aus dem Schmetterlings-Ei die Raupe, aus der Raupe die Puppe, aus der Puppe der Schmetterling. Eine überaus wichtige spezielle Form der Gesetzmäßigkeit der Veränderung oder des Entstehens ist die k a u s a l e oder U r s a c h e W i r k u n g s - G e s e t z m ä ß i g k e i t . Ihre Bedeutung ist eine so große, daß man o f t in den I r r t u m verfallen konnte, die ganze Gesetzmäßigkeit des Wirklichen m i t der Kausalgesetzmäßigkeit zu identifizieren. W o r i n liegt nun das Besondere der kausalen Gesetzmäßigkeit? Was ist unter K a u s a l i t ä t oder Ursache-Wirkungszusamrnenhang zu verstehen?

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

Es gibt mehrere verschiedene Auffassungen und Ausdeutungen der Kausalität. W i r wollen uns an jene wesentlichen Züge halten, die an beliebigen Ursache-Wirkungszusammenhängen

einwandfrei aufge-

wiesen werden können. Wenn z. B. ein Hammerschlag eine Glasscherbe trifft und sie zertrümmert, so betrachtet man den Hammerschlag als Ursache und die Zertrümmerung als Wirkung. Dabei handelt es sich um zwei Vorgänge, die u n m i t t e l b a r , ohne Zeitlücke, a u f e i n a n d e r f o l g e n . Doch stellt nicht jede unmittelbare Aufeinanderfolge einen Kausalzusammenhang dar. Wenn z. B. auf einen Glockenschlag unmittelbar ein Blitz folgt, so handelt es sich nicht um Kausalität, sondern um eine zufällige unmittelbare Aufeinanderfolge. Nicht zufällige, sondern nur g e s e t z m ä ß i g e u n m i t t e l b a r e A u f e i n a n d e r f o l g e i s t K a u s a l i t ä t : Der gleiche Hammerschlag zertrümmert die gleiche Glasscherbe immer, also gesetzmäßig. Wenn eine „ W i r k u n g " einer „Ursache" nicht unmittelbar, sondern erst nach einer Zeitlücke folgt (wie z. B. der Tod als „ W i r k u n g " der „verursachenden" Verwundung etwa erst nach Wochen folgt), so handelt es sich eigentlich nicht um eine W i r k u n g dieser Ursache, sondern um eine „ m i t t e l b a r e W i r k u n g " derselben. Die Ursache hat eine W i r k u n g nach sich gezogen, diese eine zweite, die zweite eine dritte usw., bis endlich nach einer gewissen Zeit jene mittelbare Wirkung eintrat. Die eigentliche, die unmittelbare W i r k u n g jedoch folgt ihrer Ursache ohne Zeitabstand. Wenn aber zwischen Ursache und W i r k u n g keine Zeitlücke liegt, müssen sie dann nicht g l e i c h z e i t i g sein? Ist damit nicht die A u f e i n a n d e r f o l g e von Ursache und W i r k u n g ausgeschlossen? Diese Schwierigkeit entfällt, wenn man berücksichtigt, daß Ursache und W i r k u n g entstehende Realitäten sind, und daß ihre Entstehung stets eine gewisse Zeit erfordert. Das Entstehen der Ursache (z. B. des Hammerschlages gegen die Glasscherbe) beginnt vor der W i r k u n g ; insofern geht der Ursachevorgan g voran. Wenn dieser aber das Stadium erreicht hat, mit dem die Ursache sozusagen fertig ist, so beginnt sofort auch die Wirkung. Es kann also die W i r k u n g der Ursache folgen, ohne daß eine Zeitlücke zwischen ihnen läge: Das Entstehungsstadium der Ursache geht der W i r k u n g voran, aber

Erkenntisheorie.

120

m i t dem Fertigsein der Ursache beginnt gleichzeitig auch die W i r kung.

Bleibt die Ursache dann weiter bestehen, so können vom

Momente des Fertigseins der Ursache ab diese und ihre Wirkung längere Zeit gleichzeitig bestehen, wie z. B. der elektrische Strom als Ursache und das Leuchten einer Glühlampe als Wirkung. K a u s a l i t ä t i s t also e i n Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n z w e i e n t standenen

Realobjekten

(Vorgängen,

Zuständen, Situationen

usw.), b e i d e m e i n E n t s t e h u n g s s t a d i u m des e i n e n Realen (der

„Ursache")

„Wirkung")

d e m A u f t r e t e n des a n d e r e n Realen (der

vorangeht,

j e d o c h das i m E n t s t e h e n v o r a n -

gehende Reale als F e r t i g e s s o f o r t das andere g e s e t z m ä ß i g m i t s i c h b r i n g t . U r s a c h e i s t e i n e n t s t a n d e n e s Reales, das als F e r t i g e s e i n anderes Reales (die W i r k u n g ) s o f o r t

gesetz-

m ä ß i g m i t sich b r i n g t , diesem j e d o c h i m Entstehen vorangeht. W i r k u n g i s t e i n e n t s t a n d e n e s Reales, daß m i t dem F e r t i g s e i n eines a n d e r e n R e a l e n (der U r s a c h e ) s o f o r t ges e t z m ä ß i g a u f t r i t t , j e d o c h d e m E n t s t e h e n dieses anderen nachfolgt. Die soeben formulierte Definition der Kausalität schließt keineswegs aus, daß Ursache und W i r k u n g nicht nur in dem angegebenen gesetzmäßigen z e i t l i c h e n , sondern noch in einem i n n i g e r e n Zusammenhange stehen. Der Gedanke liegt nahe, daß die Ursache die W i r k u n g d e s h a l b gesetzmäßig sofort nach sich ziéht, weil diese auf irgendeine Weise unlösbar innig m i t jener zusammenhängt. Die Versuche jedoch, das Wesen dieses innigeren Zusammenhanges zu bestimmen, sind unseres Erachtens nicht zum Ziele gelangt. Möglicherweise ist der Kausalzusammenhang dem unlösbar innigen Zusammenhang von Beziehungsträgern und Beziehungen (z. B. von Schwarz-Weiß und Verschiedenheit) verwandt. Doch lassen wir diese Frage, die aus dem Gebiet der Erkenntnistheorie in das der Metaphysik führt, hier unerörtert. Die hervorragende Bedeutung der Kausalität oder kausalen Gesetzmäßigkeit, die, wie dargelegt, eine Spezialform der Realgesetzmäßigkeit darstellt, tritt zutage, wenn wir das sogenannte K a u s a l p r i n z i p ins Auge fassen, das von den Realwissenschaften, Geisteswie Naturwissenschaften, und vom außerwissenschaftlichen Real-

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

J

erkennen bei zahllosen Schlüssen vorausgesetzt wird. Das Kausalprinzip besagt: Jedes e n t s t a n d e n e W i r k l i c h e i s t e i n e W i r k u n g , oder: h a t eine Ursache. O f t setzt man hinzu: und diese Ursache zieht diese Wirkung immer oder gesetzmäßig nach sich. Doch ist dieser Zusatz entbehrlich, weil er ein analytisches Urteil darstellt, weil es i m Begriff der Ursache liegt, daß sie ihre W i r k u n g gesetzm ä ß i g nach sich zieht. Da jede reale Veränderung das Auftreten eines neuen, entstandenen Wirklichen darstellt, h a t j e d e V e r ä n d e r u n g e i n e V e r ä n d e r u n g s ursache. Da die fertige Veränderungsursache durch den dem Fertigsein unmittelbar vorhergehenden Entstehungsprozeß derselben bestimmt wird, und da die fertige Veränderungsursache die bewirkte Veränderung bestimmt, wird auch diese durch jenen unmittelbar vorhergehenden Ursache-Entstehungsprozeß

bestimmt. A l s o w i r d

j e d e V e r ä n d e r u n g i n der W e l t d u r c h u n m i t t e l b a r V o r h e r gehendes b e s t i m m t . W o nicht ein unmittelbar Vorhergehendes, das eine Veränderung bestimmt, vorlag, da ändert sich eben nichts. Wenn sich also irgendwo nichts ändert, so liegt dies auch am unmittelbar Vorhergehenden, nämlich daran, daß in i h m nichts vorlag, was eine Veränderung bestimmt. M i t h i n i s t j e d e V e r ä n d e r u n g u n d jedes Fehlen einer Veränderung, j e d e s B e h a r r e n , k u r z j e d e s Verhalten

eines W i r k l i c h e n

durch

unmittelbar

Vorher-

gehendes b e s t i m m t . Das ganze V e r h a l t e n der W e l t i n i r g e n d einem Z e i t p u n k t ist b e s t i m m t d u r c h i h r u n m i t t e l b a r

vor-

hergehendes V e r h a l t e n . Diese Folgerung aus dem Kausalprinzip zeigt eindrucksvoll dessen universelle Bedeutung. — Wie steht es nun m i t der S i c h e r u n g o d e r

Rechtfertigung

des K a u s a l p r i n z i p s ? E i n e R e c h t f e r t i g u n g d u r c h u n m i t t e l bare E v i d e n z o d e r W a h r n e h m u n g i s t u n m ö g l i c h . Durch Wahrnehmung kann ich nicht sicherstellen, daß jedes in der

Ver-

gangenheit entstandene Wirkliche eine Ursache hatte, und daß jedes in Zukunft einmal entstehende Wirkliche eine Ursache haben wird. Selbst an einem m i r gegenwärtigen Wirklichen, an der gegenwärtig von m i r wahrgenommenen Geräuschempfindung, kann ich nicht unmittelbar wahrnehmen, daß sie eine Ursache hat. Dazu müßte ich ja wahrnehmen, daß dieser Empfindung ein Reales in seiner Ent-

122

Erkenntisheorie.

stehung unmittelbar voranging, welches als Fertiges sie sofort gesetzmäßig mit sich bringt. Von alledem aber nehme ich nichts an meiner gegenwärtigen Geräuschempfindung

wahr, und es ist mir

daher durchaus nicht unmittelbar evident, daß sie eine Ursache hat. Ich kann auch nicht etwa wahrnehmend feststellen, daß die Geräuschempfindung oder gar ganz allgemein das entstandene W i r k liche notwendig eine Ursache h a t Ferner ist das Urteil, daß jedes entstandene Reale eine Ursache hat, n i c h t d e n k n o t w e n d i g , d. h. nicht durch seinen eigenen gedanklichen Gehalt sichergestellt, Dies Urteil ist keineswegs analytisch; es liegt nicht schon i m Begriff des entstandenen Realen, daß es eine Ursache hat. Ich kann m i r ein entstandenes Reales, z> B. eine Tonempfindung oder eine Bewegung, die keine Ursache hat, ohne alle Schwierigkeit denken. Wenn das Kausalprinzip weder unmittelbar evident noch unmittelbar denknotwendig ist, so bleibt zu fragen, ob es durch beweisendes Schließen sichergestellt werden kann. Das Kausalprinzip behauptet, daß jedes entstandene Wirkliche eine Ursache hat, daß es also gesetzmäßig bestimmt ist. Die Behauptung - aber, daß etwas gesetzmäßig bestimmt sei, kann man nur schließend beweisen aus Erkenntnisgrundlagen, die selbst schon eine Gesetzmäßigkeit aussagen. Und zwar müßte in den Grundlagen des schließenden Beweises f ü r das Kausalprinzip eine zum Mindesten alles entstandene Wirkliche beherrschende Gesetzmäßigkeit anerkannt sein; denn aus einer Gesetzmäßigkeit, die nur f ü r einen Teil des entstandenen Wirklichen anerkannt ist, kann man durch keinen streng beweisenden Schluß eine f ü r alles entstandene Wirkliche geltende Gesetzmäßigkeit sicherstellen. Unter den von uns aufgewiesenen Erkenntnisgrundlagen käme demnach als eine Basis f ü r ein schließendes Beweisen des Kausalprinzips die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung i n Betracht. Aus der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung, der Annahme, daß alles Wirkliche gesetzmäßig ist, allein kann man das Kausalprinzip, also den Satz, daß alles entstandene Wirkliche der speziellen kausalen Gesetzmäßigkeit

untersteht,

selbstverständlich nicht

erschließen.

Kommen w i r aber vielleicht zum Ziele, wenn wir noch die Real-

Die zurückführbaren

kentnigrundlagen und ihre Sicherung.

erkenntnis hinzunehmen, die uns aus Wahrnehmung und Erinnerung, kurz aus der Erfahrung erwächst? Auf Erfahrung und Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung stützt sich das empirisch-induktive Schließen und Beweisen. Dieses käme demnach hier in Frage, und in der Tat e r s c h e i n t e i n e m p i r i s c h - i n d u k t i v e r Beweis des K a u s a l p r i n z i p s m ö g l i c h . Gegenwärtige und frühere Wahrnehmungen zeigen i n vielen Fällen, daß ein Wirkliches U (z. B. das Fallen eines Steines auf eine glatte Wasserfläche) in seinem Entstehungsstadium einem anderen Wirklichen

W

(der

Wellenbewegung des Wassers) vorausgeht, daß das U das W aber sofort mit sich bringt, sobald U ein gewisses Stadium des Fertigseins erreicht hat (sobald z. B. der Stein in das Wasser eingedrungen ist). Dieses zeitliche Verhältnis unseres U und W (des Fallens eines Steines auf eine Wasserfläche und der Wellenbewegung) zeigt die Erfahrung (frühere und gegenwärtige Wahrnehmung) uns oftmals. Auf Grund der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung erschließen w i r nun zunächst induktiv, daß das U das W (der Steinfall die Wellenbewegung) immer i n diesem zeitlichen Zusammenhang nach sich ziehen wird, daß dieser Zusammenhang ein gesetzmäßiger ist. Damit ist nun induktiv

erschlossen, daß U (der Fall

des Steines auf die

Wasserfläche) die Ursache von W (der Wellenbewegung) ist. Allerdings ist dieser Schluß (wie überhaupt das echte induktive Schließen) nicht streng zwingend. Es könnte j a bloßer Zufall sein, daß in unserer Erfahrung m i t dem Fertigwerden des U immer auch das W auftrat; in Zukunft könnte also das U fertig .werden, ohne daß es das W mit sich brächte. Die Gesetzmäßigkeit des W i r k lichen könnte trotzdem fortbestehen; sie fordert j a nicht, daß gerade zwischen unserem U und W ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht. Wenn i n

unserer

Erfahrung

das Fertigwerden des U

immer das W unmittelbar mit sich brachte, so wird es zwar, sofern das Wirkliche sich überhaupt gesetzmäßig verhält, wahrscheinlich, nicht aber absolut sicher, daß das Fertigwerden des U das W ü b e r h a u p t ausnahmslos oder gesetzmäßig unmittelbar mit sich bringt, mit anderen Worten: daß U die Ursache von W ist. Alle derartigen erkenntniserweiternden, induktiven Schlüsse geben nur mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit, niemals aber Sicherheit, ganz ab-

Erkenntisheorie.

gesehen davon, daß die dabei zugrunde gelegte Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung selbst schon nicht sicherbar ist. Durch entsprechende induktive Schlüsse ergibt sich nun aber, daß nicht nur unser W , sondern überaus zahlreiche und ganz verschiedenartige entstandene Realobjekte W ' , W", W ' " . . . eine Ursache haben, während wir kein einziges entstandenes Realobjekt finden, bei dem w i r m i t Sicherheit das Fehlen einer Ursache feststellen könnten; vielmehr findet man oft bei genauerem Nachforschen noch eine Ursache, wenn sie zimächst verborgen blieb. So können wir, wiederum auf der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung fußend, einen zweiten Induktionsschluß vollziehen und (mit Wahrscheinlichkeit) erschließen, daß a l l e entstandenen Realobjekte eine Ursache haben. Wenn w i r das Kausalprinzip

als einen empirisch-induktiv zu

rechtfertigenden Satz betrachten, so teilen wir doch nicht die Auffassung, daß es durch b l o ß e Erfahrung sicherzustellen sei. Eine solche Sicherung ist nicht möglich, weil unser Prinzip ja weit über die Erfahrung hinausreicht. Das induktive Erschließen des Kausalprinzips stützt sich außer auf empirische Feststellungen auf die nicht empirisch beweisbare GesetzmäßigkeitsVoraussetzung.

Damit über-

nimmt unsere empirisch-induktive Rechtfertigung des Kausalprinzips auch die Mängel, die der Rechtfertigung der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung anhaften. Zahlreiche Versuche, das Kausalprinzip streng zu beweisen, haben nicht zum Ziele geführt. Man könnte auch das Kausalprinzip wie die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung durch Hinweis darauf rechtfertigen, daß es f ü r unser Realerkennen schwer entbehrlich ist und sich i n i h m bewährt. Doch wird man nicht zugunsten dieser unbefriedigenden Rechtfertigung auf die empirisch-induktive Begründung verzichten. Wenn eine Erkenntnisgrundlage überhaupt auf andere zurückgeführt, aus diesen erschlossen werden kann, so wird man solche Zurückführung nicht unterlassen dürfen. Nunmehr erscheint allerdings das Kausalprinzip nicht mehr als eine l e t z t e Erkenntnisgrundlage, obgleich es in unserem Erkennen vielfach die Rolle eines letzten Fundamentes spielt. W i r k ö n n e n es als eine zurückführbare

Erkenntnisgrundlage

b e z e i c h n e n , da es

Die zurückführbaren

k e n n i g r u n d l a g e n und ihre Sicherung.

d u r c h Schließen auf letzte E r k e n n t n i s g r u n d l a g e n

zurück-

g e f ü h r t werden kann.

Die Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit einer Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins· Naiver und physikalischer Realismus. Mit der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip hängt nun eine weitere zurückführbare Erkenntnisgrundlage eng zusammen: die Voraussetzung einer erkennbaren realen Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins. Dem außerwissenschaftlichen Erkennen gilt es als selbstverständlich, daß unabhängig von unserem Bewußtsein die reale Außenwelt der Körper mit ihren Eigenschaften, Vorgängen usw. existiert, und daß dieselbe i m Prinzip durchaus erkennbar ist. Wenn alle beseelten Wesen in bewußtlosem Schlafe lägen, würden die Steine, Bäume, Wolken usw. mit ihren Farben, Gestalten und Bewegungen weiterexistieren. Alle diese „Außenweltsobjekte" haben ein Dasein, das unabhängig von unserem Bewußtsein und vielfach außerhalb desselben besteht. I m Wachzustande freilich ergreift unser Bewußtsein, unsere Wahrnehmung, einen Teil der Außenweltsobjekte unmittelbar, gleichsam leibhaftig, und so können wir in der Wahrnehmung die Körper mit ihren Eigenschaften, Vorgängen und Beziehungen selbstverständlich erkennen. Da w i r sie in der Wahrnehmung unmittelbar gegenwärtig haben, sind sie so grün und warm und süß und hart, so rund und groß, so nahe und nebeneinander, so ruhend oder bewegt, wie wir sie eben wahrnehmen. Die

A n s i c h t , daß

a u ß e r h a l b unseres B e w u ß t s e i n s , u n -

a b h ä n g i g v o n i h m , eine r e a l e A u ß e n w e l t D a s e i n h a t , u n d daß diese m e h r o d e r w e n i g e r e r k e n n b a r i s t , b e z e i c h n e n w i r als ( e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n ) außerwissenschaftliche

Außenwelts-Realismus.

Erkennen

Das

huldigt also dem Außen-

welts-Realismus, und zwar einer bestimmten Form desselben, die man als „ n a i v e n R e a l i s m u s " bezeichnet; es nimmt nicht nur an, daß Außenweltsobjekte erkennbar durch Sinneswahrnehmung

sind, sondern speziell, daß sie

unmittelbar

erkennbar

sind, daß sie

Erkenntisheorie.

126

eben so s i n d , w i e w i r sie w a h r n e h m e n , w e i l w i r sie i n der W a h r n e h m u n g u n m i t t e l b a r erfassen. Indessen beginnt schon i m außerwisserischaftlichen Erkennen, i m naiven Realismus selbst, eine k r i t i s c h e Z e r s e t z u n g dieses Standpunktes. Schon i m täglichen Leben werden wir zu der Überzeugung gedrängt, daß die Sinnes Wahrnehmung uns die Außenweltsobjekte anders zeigt, als sie sind. Der grüne Wald sieht oft in der Ferne blaugrau, der hohe Kirchturm winzig klein aus; der in Wasser eingetauchte, nach dem Zeugnis der tastenden Hand gerade Stab erscheint dem Auge gebrochen; laues Wasser erscheint einer Hand, die vorher in kaltes Wasser tauchte, warm, einer Hand, die vorher in heißem Wasser war, kalt. So kommt bereits das 'vorwissenschaftliche Erkennen zu der Überzeugung, daß wir in der Sinneswahrnehmung manchmal die Außenweltsobjekte nicht so erfassen, wie sie „ a n s i c h " , d. h. unabhängig von unserer Wahrnehmung, sind, daß w i r vielmehr von den „ D i n g e n an s i c h " , den Außenweltsobjekten außerhalb unseres Bewußtseins, die Art und Weise unterscheiden müssen, i n der diese uns unter gewissen Bedingungen in der Sinneswahrnehmung e r s c h e i n e n . Dabei hält der naive Realismus des außerwissenschaftlichen

Erkennens daran fest, daß die

Außenweltsobjekte so sind, wie sie uns unter günstigen Wahrnehmungsbedingungen erscheinen. Die wissenschaftliche Betrachtung aber drängt über diesen Standpunkt hinaus. Der Träumende sieht mancherlei Körper leibhaftig vor sich, die f ü r den Wachenden in der Außenwelt nicht da sind, die also wohl nur „Bilder i m Bewußtsein des Träumenden"

dar-

stellen. Wenn nun derselbe Außenweltsgegenstand unter verschiedenen Bedingungen, z. B. aus verschiedener Entfernung oder Richtung oder bei verschiedener Beleuchtung gesehen, uns verschieden erscheint, dann haben w i r in der Sinneswahrnehmung, in den verschiedenen Erscheinungen des Gegenstandes, wohl auch nur B i l d e r desselben, nicht aber unmittelbar das Außenweltsobjekt selbst, das „Ding-an-sich".

Und

dann

erhebt sich

die Frage,

unter

w e l c h e n B e d i n g u n g e n diese s i n n l i c h e n E r s c h e i n u n g e n o d e r W a h r n e h m u n g s b i l d e r d i e A u ß e n w e l t s o b j e k t e o d e r Gegens t ä n d e - a n - s i c h r i c h t i g w i e d e r g e b e n , u n d ob sie d a z u ü b e r -

Die zurückführbaren

k e n n i g r u n d a g e n und ihre Sicherung.

J

h a u p t i m s t a n d e s i n d . Die sinnlichen Erscheinungen des Traumlebens sind ganz trügerisch, viele Wahrnehmungsbilder des Wachzustandes mehr oder weniger täuschend; wann können wir denn der Sinneswahrnehmung trauen? Die Antwort, daß diese „unter günstigen Bedingungen" Vertrauen verdiene, unter ihnen die Außenweltobjekte so zeige, wie sie an sich sind, befriedigt nicht recht; welches sind denn diese günstigen Bedingungen? Jedenfalls ergibt sich, daß bei jeder Sinneswahrnehmung zwischen der Erscheinung oder dem Wahrnehmungsbild und dem Außenweltsobjekt oder Gegenstand-an-sich zu unterscheiden ist. Die Erscheinung, das Wahrnehmungsbild, ist uns in unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben, ist also direkt schlichter Wahrnehmung zugänglich und so unmittelbar erkennbar. Aber das Außenweltsobjekt, den Gegenstand-an-sich, habe ich nie selbst, so oft ich ihn auch sehen, hören oder tasten mag; sondern ich habe dann immer nur Wahrnehmungsbilder,

Gesichts-, Gehörs- oder Tast-Erschei-

nungen von ihm. D i e S i n n e s w a h r n e h m u n g e r f a ß t n i c h t mittelbar nehmen bleibt

Außenweltsgegenstände-an-sich; wir

nur

Erscheinungen

zu f r a g e n ,

un-

unmittelbar

d e r s e l b e n w a h r , u n d es

ob u n d i n w i e w e i t diese E r s c h e i n u n g e n

m i t den G e g e n s t ä n d e n - a n - s i c h ü b e r e i n s t i m m e n . Zunächst spricht nun manches dagegen, daß w i r die s i n n l i c h e n E m p f i n d u n g s q u a l i t ä t e n (die „sekundären Qualitäten" Boyle's und Locke's), z. B. weiß, rot, bitter, warm, die i n den Wahrnehmungsbildern enthalten sind, als treue Abbilder von Qualitäten der Gegenstände-an-sich betrachten dürfen. Kann uns doch, wie schon angeführt, dasselbe laue Wasser warm und kalt erscheinen; können wir doch weiß, gelb und blau wahrnehmen als Folge eines auf das Auge ausgeübten Fingerdruckes; sind es doch Luftschwingungen, die in uns Tonempfindungen hervorrufen. So sind frühzeitig manche Philosophen und seit der Renaissance die Naturforscher dazu gekommen, diese E m p f i n d u n g s den D i n g e n - a n - s i c h

oder sekundären

abzusprechen.

Qualitäten

Diese Qualitäten fänden

sich demnach nur in den sinnlichen Bildern in unserem Bewußtsein; sie wären s u b j e k t i v .

128

Erkenntisheorie.

Außer den Empfindungsqualitäten finden wir in den sinnlichen Wahrnehmungsbildern noch andere Züge: räumliche (Lage-, Gestaltund Größen-)Eigenschaften, zeitliche Eigenschaften, Bewegungen, Zahleigenschaften. W r enn man auch sie als rein subjektiv betrachtet, so kommt man zu der Auffassung, daß die Erscheinung in keiner Hinsicht dem Außenweltsgegenstand-an-sich entspricht, und daß die Sinneswahrnehmung

keine Erkenntnis der Außenwelt

außerhalb

unseres Bewußtseins bieten kann. Da nun die Naturwissenschaft Außenweltserkenntnis auf Grund der Sinnes Wahrnehmung erarbeiten will, scheint die Annahme, daß auch diese räumlichen, zeitlichen, Bewegungs- und Zahleigenschaften der Erscheinungen rein subjektiv seien, auf eine Bankerotterklärung der Naturwissenschaft hinauszulaufen. Es ist also verständlich, daß die Naturwissenschaft diese räumlichen, zeitlichen, Bewegungs- und Zahleigenschaften

nicht

auch einfach f ü r subjektiv erklärt hat, sondern sich bemüht hat, nach Möglichkeit ihre „Objektivität", ihre Übereinstimmung mit Eigenschaften

der

Außenweltsgegenstände-an-sich,

festzuhalten.

Nun ist zwar leicht ersichtlich, daß unsere Gestalt-, Größen- und Bewegungswahrnehmung auch von mancherlei Wahrnehmungsbedingungen, z. B. von unserer Stellung zum Gegenstande und unserer Entfernung von ihm, abhängt; aber die Naturwissenschaft hat versucht,

durch

sinnreiche

Ausgestaltung

der Sinneswahrnehmung

(durch Beobachtung und Messung) sowie durch gedankliche Verarbeitung ihrer Ergebniss'e die Gestalt-, Größen- und Bewegungsbestimmung unabhängig von den Wahrnehmungsbedingungen zu machen. Und indem die Naturwissenschaft nun die derart erarbeiteten Gestalt-, Größen- und Bewegungseigenschaften

der von unserer

Wahrnehmung unabhängigen Außenwelt zuschrieb, gelang es ihr, ein Bild derselben zu zeichnen, das sich in der Erklärung und Voraussage des sinnlich Wahrnehmbaren hervorragend bewährte. So i s t in der Naturwissenschaft, insbesondere i n der P h y s i k , die A u f f a s s u n g d u r c h a u s v o r h e r r s c h e n d g e w o r d e n , daß z w a r die Empfindungsqualitäten

(grün, warm, sauer usw.) s u b j e k t i v

seien, d a ß aber i n g e e i g n e t e r W e i s e (durch gedankliche Verarbeitung der Sinneswahrnehmungsergebnisse, durch Messung usw.) b e s t i m m t e r ä u m l i c h e (Lage-, Gestalt- und Größen-), z e i t l i c h e ,

Die zurückfürbaren

Bewegungs-

und

Zahl-Eigenschaften

objekten zukommen. Qualitäten,

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

den

Außenwelts-

Nennen wir diese Eigenschaften primäre

die Empfindungsqualitäten

sekundäre Qualitäten,

so

können wir auch sagen, daß nach der in der Physik, überhaupt der Naturwissenschaft

vorherrschenden

Auffassung

die

sekundären

Qualitäten subjektiv, die primären aber objektiv (d. h. den Außenweltsobjekten-an-sich angehörig) sind. Die dargelegte Auffassung aber wollen wir i m Gegensatz zum naiven als den p h y s i k a l i s c h e n R e a l i s m u s bezeichnen; sie stellt eine Form des Realismus dar, weil sie nicht nur die Realität einer Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins, sondern auch eine Erkennbarkeit von Außenweltsobjektenan-sich annimmt. Gelten ja doch die der Außenwe!t-an-sich zugesprochenen räumlichen, zeitlichen, Bewegungs- und Zahlbestimmungen als erkennbare Eigenschaften derselben!

Kritik des physikalischen Realismus. Phänomenalismus, Konszientialismus, Solipsismus und Gegenwartssolipsismus. Die glänzende Bewährung des physikalischen Realismus drängt die Vermutung auf, daß er zum mindesten der Wahrheit recht nahe kommen wird. Immerhin hat auch er seine prinzipiellen Schwierigkeiten. W i r wollen hier nur andeutend darauf hinweisen, daß nach der R e l a t i v i t ä t s t h e o r i e E i n s t e i n s räumliche Größen- und Gestalt-Bestimmungen sowie zeitliche Bestimmungen vom Standpunkte des Beobachters abhängig sind und bleiben. Welche Größe und Gestalt soll man da Außenweltsdingen-an-sich zuschreiben? Aber

auch

abgesehen

von

dieser

(nicht

unüberwindlichen)

Schwierigkeit hat der physikalische Realismus f ü r die erkenntnistheoretische Betrachtung etwas Unbefriedigendes.

Bei den sekun-

dären, den Empfindungsqualitäten sieht man in ihrer starken Abhängigkeit von mancherlei Wahrnehmungsbedingungen einen Grund für ihre Subjektivität; die primären Qualitäten aber, z. B. die räumlichen Züge des Wahrnehmungsbildes, sind ebenfalls stark von Wahrnehmungsbedingungen abhängig; sollten sie also nicht auch als

subjektiv

gelten müssen? Die naturwissenschaftliche

Auf-

fassung vom Zustandekommen unserer Sinneswahrnehmungsbilder B e c h e r , Einführung in die Philosophie.

9

130

Erkenntisheorie.

legt gleichfalls Bedenken nahe. Nach dieser Auffassung steht das Wahrnehmungsbild am Ende einer langen Reihe von Ursache-Wirkungszusammenhängen, die z. T. den Charakter γοη Auslösungsvorgängen tragen. Das Außenweltsobjekt wirkt ζ. B. reflektierend auf gewisse Lichtstrahlen und sendet diese so dem Auge zu; dort wirken sie i n der Netzhaut, wo Nervenerregungsprozesse ausgelöst werden; und nun geht die Ursache-Wirkungskette in komplizierter Weise weiter durch den Sehnerven, durch verschiedene Gehirnteile bis zu einer bestimmten Partie der Großhirnrinde, wo sich endlich das Wahrnehmungsbild anschließt. Nun kann aber die Wirkung von ihrer Ursache sehr verschieden sein, und diese Verschiedenheit zeigt sich insbesondere dort oft in krasser Weise, wo es sich um Auslösungswirkungen handelt. So ist etwa das Musikstück, das als Auslösungswirkung beim Einwerfen einer Münze in einen Musikautomaten ertönt, von der Auslösungsursache, dem Münzen-Einwurf, himmelweit verschieden. Mag da nicht auch das Wahrnehmungsbild, das von einem Außenweltsobjekt durch Vermittlung komplizierter Auslösungsvorgänge hervorgerufen wird, von diesem Objekt himmelweit verschieden sein? Erscheint da nicht die Subjektivität auch der primären Qualitäten wahrscheinlich oder zum mindesten möglich? Wenn das Wahrnehmungsbild von dem dasselbe hervorrufenden Außenweltsobjekt-an-sich völlig verschieden sein mag, dann kann es uns, so scheint es, keine Erkenntnis dieses Objekts vermitteln. Da nun kein Weg zur Erkenntnis der Außenweltsobjekte-an-sich zu linden ist, der nicht über die Sinneswahrnehmung führte, scheint die Konsequenz unvermeidlich, daß die A u ß e n w e l t - a n - s i c h (die Welt der sogenannten Dinge-an-sich) u n e r k e n n b a r ist. E r k e n n b a r i s t n u r , w i e d i e A u ß e n w e l t uns e r s c h e i n t , w i e sie

in

u n s e r e n W a h r n e h m u n g s b i l d e r n s i c h d a r s t e l l t . Diese A u f fassung, daß A u ß e n w e l t s o b j e k t e - a n - s i c h zwar

existieren,

aber u n e r k e n n b a r s i n d , daß n u r E r s c h e i n u n g e n e r k e n n b a r sind, nennt man Phänomenalismus. Vom Phänomenalismus aus w i r d man aber wiederum leicht weiter gedrängt. Wenn w i r die Außenweltsgegenstände-an-sich gar nicht erkennen können, wissen wir dann überhaupt, daß sie existieren? W i r erfassen in schlichter Wahrnehmung ja nur die Bewußtseinsgegen-

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

stände und unter ihnen die sinnlichen Wahrnehmungsbilder, niemals aber Außenweltsobjekte-an-sich. W i r können niemals aus unserem Bewußtsein sozusagen hinaustreten und zusehen, ob hinter unseren Wahrnohmungsbildern Gegenstände-an-sich stehen. Also können wir wohl gar nicht wissen, ob es solche Gegenstände-an-sich gibt. I m Traume erleben wir

ja auch Erscheinungen vom Charakter der

Wahrnehmungsbilder, und hinter diesen Traumbildern stehen doch wohl kerne Dinge-an-sich ; so werden vielleicht auch hinter unseren Wahrnehmungsbildern keine Gegenstände-an-sich stehen. Ja, man meint wohl gar, die Annahme von Außenweltsobjektenan-sich sei nicht nur unbegründet und überflüssig, sondern sogar widersinnig. Ein solches Objekt-an-sich solle seinem Begriffe nach außerhalb des Bewußtseins, also auch des Denkens sein. Wer nun ein derartiges Objekt annehmen, also denken wolle, der versuche, ein seinem Begriffe nach a u ß e r h a l b des Denkens befindliches Objekt i n das Denken aufzunehmen, und setze sich dadurch in Widerspruch mit jenem

Begriff.

Von Außenweltsgegenständen-an-sich

könne also, so meint man, ohne inneren Widerspruch gar nicht die Rede sein. D e m n a c h gäbe es W i r k l i c h e s n u r i n u n s e r e m B e w u ß t s e i n , u n d n u r m i t B e w u ß t s e i n s g e g e n s t ä n d e n h ä t t e es das R e a l e r k e n n e n zu tun. Diese Auffassung kann man als K o n s z i e n t i a l i s m u s , als I m m a n e n z p h i l o s o p h i e oder (mit einem allerdings nicht eindeutigen Ausdruck) als e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n

Idealismus

bezeichnen. — Auf unserem Gedankenwege sind noch weitere Schritte möglich. Wir

sagten, wir

können nicht aus unserem Bewußtsein hinaus-

treten und zusehen, ob hinter unseren Wahrnehmungsbildern Außenweltsobjekte-an-sich stehen. Weil ich nicht aus meinem Bewußtsein hinaustreten kann, kann ich aber auch nicht zusehen, ob außerhalb desselben noch andere Bewußtseine, noch diejenigen, die wir in unseren Mitmenschen und Tieren anzunehmen gewohnt sind, existieren. Nur

m e i n Bewußtsein kann ich wahrnehmen; in diesen

Kreis bin und bleibe ich gebannt. Wie soll ich also sicherstellen können, daß es außerhalb meines Bewußtseins noch Bewußtseine von Mitgeschöpfen gibt? Ja, ist nicht auch das Denken von Bewußt9*

Erkenntisheorie.

132

seinen außerhalb meines Bewußtseins, also auch außerhalb meines Denkens, ein in sich widerspruchsvoller Versuch, etwas seinem Begriffe nach außerhalb meines Denkens Befindliches in mein Denken aufzunehmen? Also auch von fremdem Bewußtsein kann, so scheint es, nicht die Rede sein; n u r m e i n B e w u ß t s e i n e x i s t i e r t u n d i s t e r k e n n b a r . Das ist der zwar von niemandem mit Überzeugung vertretene,

aber als letzte Station einer erkenntnistheoretischen Ge-

dankenbahn doch recht interessante Standpunkt des S o l i p s i s m u s oder t h e o r e t i s c h e n E g o i s m u s . Wenn man will, kann man freilich noch eine allerletzte Station anfügen. Auch die Vergangenheit und Zukunft meines Bewußtseins kann ich nicht wahrnehmen, und die Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens und der Regelmäßigkeit, die über die Gegenwart meines Bewußtseins hinausführen, sind nicht gesichert. A l s o wäre w o h l n u r m e i n g e g e n w ä r t i g e s B e w u ß t s e i n als w i r k l i c h u n d erkennbar

anzuerkennen!

Diesen Standpunkt

nenne ich den

Gegenwarts-Solipsismus.

Kritik des Gegenwarts-Solipsismus, des Solipsismus und des Konszientialismus. Rechtfertigung der Annahme transzendenter Realobjekte. Dem Gegenwarts-Solipsismus liegt die Erkenntnis zugrunde, daß mein Realerkennen auf mein eigenes gegenwärtiges Bewußtsein eingeschränkt bleiben muß, wenn ich mich nicht auf Voraussetzungen stützen will, die nicht gesichert werden können. Da jene Einschränkung aber f ü r unser Erkennen und Leben unmöglich ist, entschlossen w i r uns, die bewährte Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens sowie weiterhin die der Gesetzmäßigkeit alles Wirklichen und mit diesen auch das Kausalprinzip anzuerkennen. D a m i t i s t aber der Gegenw a r t s - S o l i p s i s m u s a b g e l e h n t ; denn die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens

erschließt

m i r die Vergangenheit, die Regel-

mäßigkeits- oder die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung zunächst die Zukunft meines eigenen Bewußtseins. Erkenntnistheoretisch wußtsein

das

erste

betrachtet

Gebiet

meines

ist

m e i n eigenes Be-

Realerkennens.

Alles

W i r k l i c h e , was j e n s e i t s der G r e n z e n dieses Gebietes l i e g t ,

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

J

k a n n als transzendent i m e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n S i n n e bez e i c h n e t werden. Transzendent sind also bereits die Vergangenheit und die Zukunft meines eigenen Bewußtseins, die m i r durch die Voraussetzung des Erinnerungsvertrauens

und die Gesetzmäßigkeits-

voraussetzung erschlossen werden. W i r haben aber oben bereits angedeutet, daß durch diese Voraussetzungen uns noch weitere Gebiete des Transzendenten eröffnet werden, und dadurch werden dann auch der Solipsismus und weiterhin der Konszientialismus hinfällig. Mein Bewußtsein m i t seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bietet, f ü r sich allein betrachtet, zwar mancherlei Regel- und Gesetzmäßigkeiten dar (wie z. B. die gesetzmäßige Verbindung von starker Bitterkeit und Unlust), aber auch eine Fülle von nicht-gesetzmäßigen Tatsachen. Insbesondere treten in regellosem Durcheinander sinnliche Wahrnehmungserlebnisse, z. B. gegenwärtig solche von Straßenbahn- und Kraftwagensignalen, Menschenstimmen, Vogelgezwitscher, Wagen gerassei, Hammerschlaggeräuschen usw., zwischendurch einmal von stark gesteigerter Helligkeit, in mein Bewußtsein ein. Wäre mein Bewußtsein die Gesamtwirklichkeit, so wären die Voraussetzung der Gesetzmäßigkeit alles Wirklichen und speziell auch das Kausalprinzip also offenbar falsch; denn innerhalb meines Bewußtseins ordnet sich das angedeutete Durcheinander von Schallerlebnissen und das überraschende Hellwerden nicht in strenge Gesetzmäßigkeit ein, finde ich auch nicht Ursachen für alles dies, z. B. nicht f ü r das Hellwerden, das (wie ich zwar nicht durch Wahrnehmung, aber durch Schließen weiß) durch Entstehung einer Wolkenlücke vor der Sonne bewirkt wurde. Die Sache steht demnach so: W e n n n u r m e i n B e w u ß t s e i n m i t seiner dann

Vergangenheit, sind

die

Gegenwart

und Z u k u n f t

Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung

existiert, und

das

K a u s a l p r i n z i p f a l s c h ; w e n n diese aber r i c h t i g s i n d , d a n n existiert n i c h t nur mein Bewußtsein, sondern auch „ t r a n szendentes" W i r k l i c h e s a u ß e r h a l b m e i n e s B e w u ß t s e i n s . Da ich nun zu dem Ergebnis gelangt bin, daß die bewährte Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und das Kausalprinzip anzuerkennen sind, muß ich auch anerkennen, daß es Transzendentes außerhalb meines Be-

Erkenntuisfcheorie.

134

wußtseins gibt. D a m i t i s t a u c h d e r S o l i p s i s m u s , d i e L e h r e , daß n u r m e i n B e w u ß t s e i n e x i s t i e r t , abgelehnt. Kann

ich

aber

vielleicht Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung

und

Kansalprinzip festhalten, wenn ich neben meinem Bewußtsein noch diejenigen meiner Mitgeschöpfe anerkenne, eine Außen welt-an-sich außerhalb dieser Bewußtseine jedoch leugne, mit anderen Worten : wenn ich den K o n s z i e n t i a l i s m u s vertrete? Vielleicht fügen sich diese Bewußtseine, von denen jedes, f ü r sich betrachtet, viel NichtGesetzmäßiges enthält, zu einem Kosmos von Bewußtseinen zusammen, der der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip durchaus entspricht! Jenes plötzliche Hellwerden z. B., das ich erlebte, während ich i n meinem Zimmer sitzend auf mein Manuskript blickte, schien freilich ohne Gesetzmäßigkeit und Ursache einzusetzen, solange ich nur m e i n Bewußtsein anerkannte. Jetzt aber, wo ich auch das Bewußtsein eines Spaziergängers hinzunehme, der in seinem Wahrnehmungsbild erlebte, wie die Wolkenlücke vor der Sonne sich auf tat, steht die Sache vielleicht anders. Jetzt ordnet sich mein Erlebnis des Hellerwerdens zusammen mit dem Wahrnehmungserlebnis jenes Spaziergängers und entsprechenden Erlebnissen in Bewußtseinen zahlreicher Menschen und Tiere, die das Hellerwerden bzw. auch die Öffnung der Wolkenlücke vor der Sonne sahen, in einen großen, allerdings recht komplizierten, aber doch wohl Gesetzmäßigkeit aufweisenden Zusammenhang ein. Freilich, die Auffindung einer Ursache zu meinem Erlebnis des Hellerwerdens macht immer noch Schwierigkeiten; denn man kann doch nicht wohl jenes Wahrnehmungsbild der sich vor der Sonne öffnenden Wolkenlücke, das i m Bewußtsein eines oder mehrerer Mitgeschöpfe auftrat, als Ursache meines Erlebnisses des Hellerwerdens betrachten; dagegen würden naheliegende Gründe sprechen. Doch w i r brauchen auf diese nicht einzugehen, da auf andere Weise gezeigt werden kann, daß der erkenntnistheoretische

Kon-

szientialismus, die Annahme, daß nur mein Bewußtsein und die Bewußtseine der Mitgeschöpfe existieren, mit der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip nicht zusammenpaßt. Angenommen, ich begebe mich allein in einen tiefen Schacht eines stilliegenden Bergwerkes, und da höre ich nun ganz unregelmäßig

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

auftretendes Knistern i m Gestein (wie es in Bergwerken zuweilen vorkommt); zwischendurch erlebe ich auch einmal ein Flackern meiner Lampe. Kein Mensch oder Tier sei in der Nähe. Hier habe ich sinnliche Wahrnehmungserlebnisse, die ungesetzmäßig und ursachlos auftreten, wenn es nichts gibt als mein Bewußtsein, aber ebenso ungesetzmäßig und ursachlos bleiben, wenn es außerdem noch die Bewußtseine meiner Mitmenschen und der Tiere gibt; denn was sich in diesen Bewußtseinen der fernen Mitmenschen und Tiere abspielt, steht m i t meinen Wahrnehmungen des Knisterns und Flackerns in keinem gesetzmäßigen oder kausalen Zusammenhang. W e n n also n u r m e i n B e w u ß t s e i n u n d d i e B e w u ß t s e i n e der M i t m e n s c i e n und Tiere existierten, dann wären Gesetzmäßigkeitsvorauss e t z u n g u n d K a u s a l p r i n z i p n i c h t a n z u e r k e n n e n . Da w i r diese aber als w o h l b e w ä h r t a n e r k e n n e n , m ü s s e n w i r a n n e h m e n , daß n o c h etwas a u ß e r h a l b der B e w u ß t s e i n e der M e n s c h e n und Tiere existiert. Ist damit der K o n s z i e n t i a l i s m u s oder e r k e n n t n i s t h e o r e t i sche I d e a l i s m u s widerlegt? Streng widerlegt ist er selbstverständlich nicht, da ja die GesetzmäßigkeitenVoraussetzung und das Kausalprinzip, auf deren Anerkennung wir uns soeben stützten, nicht gesichert sind. Ist denn wenigstens die Unvereinbarkeit des Konszientialismus mit der GesetzmäßigkeitsYoraussetzung und dem Kausalprinzip dargetan und damit der Konszientialismus f ü r denjenigen unhaltbar geworden, der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und Kausalprinzip anerkennt? Darauf ist zu antworten: W e n n d e r K o n s z i e n tialismus oder erkenntnistheoretische Idealismus behaupt e t , es e x i s t i e r t e n n u r d i e B e w u ß t s e i n e d e r M e n s c h e n u n d T i e r e , so i s t er f ü r uns u n h a l t b a r , weil diese Behauptung, wie wir sahen, mit der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip unvereinbar ist. Letztere fordern vielmehr, daß noch etwas außerhalb der Bewußtseine von Menschen und Tieren existiert. Man kann freilich dies außerhalb der Bewußtseine von Menschen und Tieren Existierende anerkennen und doch einen „ m e t a p h y s i schen K o n s z i e n t i a l i s m u s " oder „ o b j e k t i v e n I d e a l i s m u s " beibehalten, indem man dieses außerhalb der Bewußtseine von Menschen und Tieren Existierende in ein göttliches Bewußtsein oder in das

Erkenntisheorie.

136 Bewußtsein einer

Weltseele oder anderer metaphysischer Wesen

hineinverlegt. Dazu muß man aber zunächst einmal beweisen oder wenigstens wahrscheinlich machen, daß es ein Bewußtsein Gottes oder einer Weltseele oder anderer metaphysischer Wesen gibt. Dabei handelt es sich jedoch um Probleme, die nicht mehr in die Erkenntnistheorie, die Lehre von den Erkenntnisgrundlagen, sondern in die Metaphysik gehören, um Fragen, deren Beantwortung den Abschluß unserer Erkenntnis bilden mag. Ein metaphysischer Konszientialismus („objektiver Idealismus") mag berechtigt sein oder nicht, in die Erkenntnistheorie gehört er nicht herein. Hier müssen wir einfach anerkennen, daß außerhalb der Bewußtseine von Menschen und Tieren noch Transzendentes existiert Nennen wir das Transzendente außerhalb der Bewußtseine von Menschen und Tieren (mag es nun i m Bewußtsein Gottes oder der Weltseele oder auf irgendeine andere Weise existieren) die „transzendente Außenwelt" oder die „Außenwelt-an-sich", so haben wir anzuerkennen, daß es eine s o l c h e A u ß e n w e l t - a n - s i c h g i b t . Und zwar muß (wie wir gegenüber einer neukantisch-idealistischen Auffassung noch besonders betonen) diese t r a n s z e n d e n t e A u ß e n w e l t etwas Reales, n i c h t ein b l o ß e s , v o m D e n k e n g e s c h a f f e nes I d e a l o b j e k t (oder eine Vielheit von Idealobjekten) sein. Alles, was auf Grund der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und des Kausalprinzips erschlossen wird, was zu meinem vergangenen und gegenwärtigen Bewußtsein hinzugefügt wird, damit das Gesamtwirkliche durchgängige

Gesetzmäßigkeit zeige und jedes Entstandene seine

Ursache habe, das muß w i r k l i c h , muß Realobjekt, nicht bloßes Idealobjekt sein. Denn das G e s a m t w i r k l i c h e , nicht aber ein Konglomerat aus meinen realen (vergangenen und gegenwärtigen) Bewußtseinsinhalten und Idealobjekten soll durchgängige Gesetzmäßigkeit aufweisen und überall dem Kausalprinzip entsprechen. Mein zukünftiges Bewußtsein und die Bewußtseine der Mitmenschen, die auf Grund der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung erschlossen werden, betrachtet jeder Erkenntnistheoretiker als w i r k l i c h e , nicht als IdealObjekte; konsequenterweise muß man auch die ebenfalls auf Grund der

Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung

(und des Kausalprinzips) er-

schlossene transzendente Außenwelt als real betrachten.

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

Gegen die Annahme einer realen transzendenten Außenwelt wird allerdings, wie oben schon dargelegt wurde, eingewandt, sie enthalte einen Widerspruch und sei darum unbedingt abzulehnen. Diese Außenwelt solle j a außerhalb meines Bewußtseins, also auch außerhalb meines Denkens sein; sie solle aber auch von m i r angenommen, also gedacht und damit in mein Denken, mein Bewußtsein aufgenommen werden. Sie solle also zugleich a u ß e r h a l b meines Denkens und i n meinem Denken, n i c h t i n meinem Denken und i n meinem Denken sein. Damit sei der W i d e r s p r u c h i n der A n n a h m e e i n e r realen t r a n s z e n d e n t e n A u ß e n w e l t ans Licht gebracht. Doch handelt es sich nur um einen s c h e i n b a r e n Widerspruch, der lediglich durch eine Ungenauigkeit des sprachlichen Ausdrucks zustande kommt. Wenn ich die transzendente Außenwelt denke, so kann ich zwar allenfalls sagen, daß ich sie damit in mein Denken aufnehme; doch ist das nur eine ungenaue sprachliche Ausdrucksweise. Selbstverständlich wird die transzendente Außenwelt dadurch, daß ich sie denke, nicht sozusagen leibhaftig in mein Denken aufgenommen, sondern sie bleibt außerhalb meines Denkens und Bewußtseins — ebenso wie der Mond oder der Reichstag nicht eigentlich und in wörtlichem Sirine in mein Denken aufgenommen wird, wenn ich ihn denke. Nur der G e d a n k e „transzendente Außenwelt", nicht aber diese selbst wird in mein Denken aufgenommen, wenn ich die transzendente Außenwelt annehme und denke. Der Umstand, daß der Gedanke

(der Begriff)

„transzendente Außenwelt"

in

meinem Denken existiert, widerspricht aber keineswegs der Annahme, daß diese Außenwelt

selbst a u ß e r h a l b

des Bewußtseins (und

Denkens) existiert. Der auf den vermeintlichen Widerspruch sich stützende Einwand gegen die Annahme einer transzendenten Außenwelt ist also nicht berechtigt.

Kritik des Phänomenalismus. Möglichkeit einer Erkenntnis der Außenwelt-an-sich. W i r fragen nun weiter: Ist die transzendente Außenwelt, d. h. das außerhalb der Bewußtseine von Menschen und Tieren liegende W i r k liche, das ich auf Grund der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und des Kausalprinzips anerkennen muß, erkennbar oder unerkennbar? Der

138

Erkenntisheorie.

Phänomenalismus, der eine Außenwelt-an-sich annimmt, behauptet, diese sei unerkennbar ; ist er i m Recht oder nicht? Wenn einmal die Voraussetzung der Gesetzmäßigkeit alles W i r k lichen und das Kausalprinzip anerkannt sind, dann kann von v ö l l i g e r Unerkennbarkeit der Außenwelt-an-sich nicht mehr die Rede sein. W i r können dann ja sofort aussagen, daß auch alles W i r k liche, das der Außenwelt-an-sich angehört, strenger G e s e t z m ä ß i g k e i t untersteht. Da die Ursachen von Empfindungen und Wahrnehmungsbilderu nach unseren Erwägungen jedenfalls nicht immer in Bewußtseinen von Menschen und Tieren sich finden, müssen sie zum mindesten in manchen Fällen (wie z. B. bei dem Knistern i m Gestein, von dem oben die Rede war) i n der Außenwelt gesucht werden. Daraus ergibt sich sofort, daß es z e i t l i c h e E i g e n s c h a f t e n , ein Früher und ein Später, in der Außenwelt gibt, und daß dieselben vielfach auch erk e n n b a r sind. Denn da Wahrnehmungsbilder (z. B. das eines früheren schwächeren und das eines späteren stärkeren Knisterns i m Gestein) zu verschiedenen Zeiten auftreten, müssen auch ihre Ursachen, die der Außenwelt-an-sich angehören, zu verschiedenen Zeiten, die eine früher, die andere später, auftreten, da ja jede Ursache ihrer Wirkung unmittelbar vorhergeht. Kants Lehre von der Unzeitlichkeit der Dinge-an-sich ist also abzulehnen. Ferner muß es V e r ä n d e r u n g in der transzendenten Außenwelt geben. Wenn ich i n dem erwähnten einsamen Bergwerk ein Knistern i m Gestein höre, so muß die Ursache meiner Schallwahrnehmung i n der Außenwelt-an-sich

gesucht werden, da sie ja in keinem

(menschlichen oder tierischen) Bewußtsein gefunden werden kann. Die Ursache w i r d aber fertig in dem Augenblick, i n dem die W i r kung einsetzt. Also gab es unmittelbar vorher den V o r g a n g oder die V e r ä n d e r u n g des Fertigwerdens der Ursache in der Außenweltan-sich. Damit ist zugleich schon gesagt, daß es V e r s c h i e d e n h e i t

in

der transzendenten Außenwelt gibt, und daß wir U n t e r s c h i e d e in ihr feststellen können. Denn wo Veränderung vorliegt, da liegt auch ein Unterschied zwischen Früherem und Späterem vor.

Die zurückführbaren

kenniegrundlagen und ihre Sicherung.

W i r erkennen also, daß die Außenwelt keine unterschiedslose, unveränderliche

Einheit darstellt (wie das Sein, welches die Philo-

sophen von Elea annahmen), sondern Veränderung, Unterschied und damit V i e l h e i t einschließt. Auch Z a h l eigen s c h a f ten sind in der Außenwelt-an-sich erkennbar. Da das Wahrnehmungserlebnis des Knisterns seine Ursache in der Außenwelt-an-sich hat, werde ich, wenn das Knistern dreimal nacheinander auftritt, auch drei nacheinander auftretende Ursachen desselben i n der Außenwelt-an-sich annehmen. Es zeigt sich also, d a ß m a n c h e r l e i E r k e n n t n i s s e b e z ü g l i c h der A u ß e n w e l t - a n - s i c h m ö g l i c h s i n d , wenn die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und das Kausalprinzip zu Recht bestehen. W i r müssen m i t h i n den P h ä n o m e n a l i s m u s

ablehnen.

Leistungen des naiven und des physikalischen Realismus. Wenn aber Erkenntnisse bezüglich der transzendenten Außenwelt grundsätzlich möglich erscheinen, dann verdient der Umstand großes Interesse, daß sich das naiv-realistische Außenweltsbild des praktischen Lebens und erst recht das Außenweltsbild der Naturwissenschaft i m Erklären und Voraussagen dessen, was wir sinnlich wahrnehmen, in sehr weitem Umfange vortrefflich bewähren. Sollte diese Bewährung nicht darauf beruhen, daß das vorwiesen schaftliche und das naturwissenschaftliche Außenweltsbild, der naive und der physikalische Realismus, der Wahrheit nahe kommen, daß sie in wesentlichen Punkten richtig sind? Wie w i l l man denn anders diese erstaunliche Bewährung erklären? Wenn unsere Sinneswahrnehmungen immerfort sich so verhalten, als ob insbesondere der physikalische Realismus zu Recht bestände, so liegt darin doch ein sehr gewichtiger Grund zu der Vermutung, daß er t a t s ä c h l i c h i m wesentlichen zu Recht besteht. W i r wollen die Sachlage an einem ganz schlichten Beispiele verdeutlichen. Wenn ich i m Wachzustande in meinem Zimmer einen Schreibtisch sehe, so nehme ich mit dem naiven und dem physikalischen Realismus an, daß diese meine Sinneswahrnehmung die Existenz eines bestimmten. Außenweltsobjektes dartut, welches unabhängig von meinem Bewußtsein, von meiner Gesichtswahrnehmung,

Erkenn tnistheori e.

140

f ü r eine gewisse Dauer existiert und in meinem Zimmer an Ort und Stelle bleibt (falls es nicht fortgeschafft wird). Diese realistische Annahme erlaubt mir nun, vieles zu prophezeien und zu erklären, so z. B. den Umstand, daß, wenn ich die Augen schließe und dann nach 1/2, 2, i 5 , 5oo Sekunden wieder öffne, oder wenn ich erst den K o p f fort- und ihn dann wieder zurückwende, ja vrenn ich mein Zimmer verlasse und nach 5 oder 5ooo Minuten zurückkehre, ich immer wieder den Schreibtisch an Ort und Stelle sehe. Ich kann auch voraussagen, daß ich eine Tastwahrnehmung von einer harten, rauben Fläche haben werde, wenn ich meine Hand dahin bringen werde, wo ich den Bezug der Schreibtischplatte sehe, ferner, daß auch ein Freund, der m i t gesunden Augen i m hellen Zimmer mich aufsucht, den Schreibtisch sieht, wenn er seinem Blick die geeignete Richtung gibt. Alle diese Voraussagen, die sich immer wieder trefflich bewähren, erscheinen vom Standpunkt der naiv-realistischen und physikalischrealistischen Außenweltsauffassung aus fast selbstverständlich. Sie erscheinen aber keineswegs selbstverständlich, sondern sehr seltsam, wenn wir uns auf den Standpunkt des e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Idealismus

oder

Konszientialismus

stellen. Dann steht ja

hinter meinem Gesichtswahrnehmungsbild des Schreibtisches kein von meinem Bewußtsein

unabhängiger Außenweltsgegenstand-an-

sich. Wie aber kommt es dann, daß immer, wenn ich die Augen öffne, hinsehe, ins Zimmer zurückkehre, das Gesichtswahrnehmungsbild des Schreibtisches wieder auftaucht, daß ich ferner bei geeigneter Lage der Hand die oben erwähnte Tastwahrnehmung habe, ja daß auch andere Menschen unter entsprechenden Bedingungen diese Wahrnehmungen haben? Das alles muß dem Konszientialisten sehr seltsam erscheinen; denn f ü r ihn ist ja das dauernde Außenweltsobjektan-sich, das alle diese Wahrnehmungen verursacht, nicht da. Wie kommt es nun, daß trotzdem alle diese Wahrnehmungen prompt so auftreten, als ob das vom Realisten angenommene dauernde Außenweltsobjekt-an-sich da wäre und sie verursachte? Der erkenntnistheoretische Idealist oder Konszientialist kann schließlich nur antworten, das sei nun einmal so; es sei eine Gesetzmäßigkeit der Sinneswahrnehmungen, daß sie so auftreten, als ob es jene Außen-

Die zurückfhrbaren

weltsgegenstände-an-sich

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

gäbe, welche die Sinnes Wahrnehmungen

verursachen. Der Realist wird hinzufügen, wenn unsere Sinneswahrnehmungen immerfort

so auftreten, als ob es jene Außenwelts-

objekte-an-sich gebe, so sei dies doch eine glänzende Bestätigung der realistischen Hypothese, daß es sie t a t s ä c h l i c h gebe; diese Hypothese erkläre aufs einfachste und natürlichste, w a r u m die Sinneswahrnehmungen so auftreten, als ob es jene Außen weltsgegenständean-sich gebe. Auch

dem

Pliänomenalismus

gegenüber erweist sich der

Realismus in bezug auf Erklärung und Voraussage des Auftretens unserer Sinneswahrnehmung als überlegen. Zwar nimmt auch der Phänomenalist an, daß hinter meiner Gesichtswahrnehmung des Schreibtisches ein Gegenstand-an-sich steht. Da er diesen aber für gänzlich unerkennbar hält, muß er ganz dahingestellt sein lassen, ob derselbe eine gewisse Dauer besitzt, ob er etwa noch eine Sekunde lang fortexistieren wird. Darum kann der Phänomenalist den Umstand, daß meine Mitmenschen und ich den Schreibtisch nach zwei Sekunden wiederum sehen können, nicht auf Grund seiner Annahme von Gegenständen-an-sich erklären; dazu müßte er ja von dem Gegenstande-an-sich hinter meiner Gesichtswahrnehmung etwas wissen, müßte er nämlich von i h m wissen, daß er eine Zeitlang, mindestens ein paar Sekunden, fortexistiert. Der Realist nimmt diese Fortexistenz unseres Gegenstandes-an-sich an und e r k l ä r t so a u f s Einfachste,

warum

wir den Schreibtisch

immer wieder sehen

können. Der Phänomenalist aber darf die Annahme der Fortexistenz jenes Gegenstandes-an-sich nicht heranziehen, da er ja die Gegenstände-an-sich f ü r gänzlich unerkennbar hält; er muß also auf jene Erklärung verzichten.

Läuterung des naiven Realismus. Wenn nun grundsätzlich ein Erkennen von Außenweltsgegenständen-an-sich möglich erscheint, und wenn ferner die außerwissenschaftliche, naiv-realistische und erst recht die naturwissenschaftliche, physikalisch-realistische

Außenweltsauffassung

in der

Er-

klärung und Voraussage des Auftretens unserer Wahrnehmungsbilder so Hervorragendes leisten, werden wir dann nicht einfach an-

Erkenntisheorie

142 nehmen dürfen,

daß der naive und der physikalische Realismus

durchaus i m Recht sind? Das ist schon darum nicht möglich, weil der naive und der physikalische Realismus sich in einem Punkte direkt widersprechen: jener schreibt die Empfindungsqualitäten (weiß, rot, sauer, kalt usw.) den Außenweltsgegenständen zu, während der physikalische Realismus sie ihnen nicht zuschreibt, sie vielmehr f ü r subjektiv hält. Nun ist aber zunächst leicht einzusehen, daß die Leistung der n a i v - r e a l i s t i s c h e n , außerwissenschaftlichen Außenweltsauffassung i m Erklären und Voraussagen des Auftretens der Wahrnehmungsbilder gar nicht an die „Objektivität" der Empfindungsqualitäten gebunden ist. Wenn ich z. B. jetzt die W r ahrnehmungsbilder von weißen Schneeglöckchen und rechts davon von gelben Primeln habe, so nehme ich, wenn ich mich auf den Standpunkt des naiven Realismus stelle, an, daß die Schneeglöckchen nebst der Qualität „ W e i ß " so, wie ich sie gesehen, auch fortexistieren, wenn ich die Augen schließe oder das Zimmer verlasse; und ebenso die Primeln nebst der Qualität „Gelb" an ihnen. Der naive Realismus kann nun sehr gut die Tatsache erklären und voraussagen, daß ich, wenn ich die Augen wieder öffne bzw. ins Zimmer und auf meinen alten Platz zurückkehre, an der alten Stelle wieder links die Schneeglöckchen m i t ihrem Weiß und rechts die Primeln mit ihrem Gelb sehe; jene wie diese haben ja nach naiv-realistischer Auffassung an ihrer Stelle i m Räume m i t ihrem Weiß bzw. ihrem Gelb inzwischen als Außenweltsdinge fortexistiert und werden jetzt von m i r wiederum so gesehen, wie sie an sich sind, also weiß bzw. gelb. Doch kann ich dieses Wiederauftreten der alten Empfindungsqualitäten Weiß und Gelb gerade so gut erklären, wenn ich auf die, wie wir sahen, bedenkliche Annahme verzichte, daß die Empfindungsqualitäten

Weiß und Gelb usw. den Außenweltsobjekten-

an-sich zukommen, und zu der folgenden, geläuterten realistischen Auffassung übergehe: Dem Wahrnehmungsbild des Schneeglöckchens wird ein bestimmter Außenweltsgegenstand, das „Schneeglöckchen-an-sich", entsprechen, und dem Weiß i m Wahrnehmungsbild des Schneeglöckchens

wird

eine bestimmte

Beschaffenheit

des

Die zurückführbaren

keuntnigrundlage

und ihre Sicherung.

„Schneeglöckchens-an-sich" entsprechen, die eben bewirkt, daß das Schneeglöckchen m i r weiß erscheint. Diese Beschaffenheit, die von der Empfindungsqualität Weiß g ä n z l i c h v e r s c h i e d e n sein kann, die aber dieser Empiindungsqualität i n der Außenwelt-an-sich

zu-

g r u n d e l i e g t , nenne ich „Weiß-an-sich". I c h m o d i f i z i e r e

nun

also den n a i v e n R e a l i s m u s , i n d e m i c h n i c h t m e h r den A u ß e n weltsobjekten

einfach

die

Empfindungsqualitäten

zu-

s c h r e i b e , s o n d e r n i h n e n an d e r e n S t e l l e e n t s p r e c h e n d e „ A n sich-Beschaffenheiten"

z u s p r e c h e , i h n e n also z. B. W e i ß -

a n - s i c h , G e l b - a n - s i c h , S ü ß - a n - s i c h usw. z u s p r e c h e ,

wenn

sie m i r u n t e r n o r m a l e n W a h r n e h m u n g s b e d i n g u n g e n

weiß,

g e l b , süß usw. e r s c h e i n e n . Weiß-an-sich bewirkt also unter normalen Wahrnehmungsbedingungen, daß ich die Empfindungsqualität Weiß erlebe; das von dem Weiß-an-sich verschiedene Gelb-ansich bewirkt ebenso, daß ich gelb sehe, usw. Da Schneeglöckchen m i r weiß und Primeln m i r gelb erscheinen, nehme ich an, daß die unabhängig von meiner

Wahrnehmung existierenden und fortexi-

stierenden Schneeglöckchen-an-sich weiß-an-sich und die Primelnan-sich gelb-an-sich sind. Und nun erklärt sich ebensogut wie bei naiv-realistischer Auffassung, warum ich die Schneeglöckchen nach Schließen und Wiederöffnen der Augen immer wieder weiß und die Primeln immer wieder gelb sehe: die Schneeglöckchen-an-sich m i t ihrem

Weiß-an-sich

bewirken

unter normalen

Wahrnehmungs-

bedingungen immer wieder Weißempfindungen, und das Gelb-ansich der Primeln bewirkt immer wieder Gelbempfindungen. Dem naiven Realismus, der die Empfindungsqualitäten mit Beschaffenheiten der Außenweltsobjekte-an-sich identifiziert oder doch gleichsetzt, bereitet der Umstand eine Schwierigkeit, daß dasselbe Außenweltsobjekt unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen mit verschiedenen Empfindungsqualitäten

behaftet erscheint: die

weißen Schneeglöckchen erscheinen bei roter Beleuchtung rot, bei blauer blau usw. Sie sind also entweder nicht dauernd weiß, oder sie s i n d manchmal n i c h t so, wie sie e r s c h e i n e n . Unsere neue A u f fassung, unser geläuterter Realismus, ist frei von dieser Schwierigkeit; er nimmt j a nicht an, daß die Außenweltsobjekte-an-sich so s i n d , wie sie uns e r s c h e i n e n , und er findet daher keine Schwierig-

Erkenntisheorie.

144

keit in dem Umstände, daß uns dasselbe A u ß e n w e l t s o b j e k t - a n s i c h unter verschiedenen Wahrnehmungsbedingungen v e r s c h i e d e n erscheinen

kann. D i e

die u n m i t t e l b a r e ,

Beschaffenheit-an-sich

sondern

eine

mittelbare

wird Ursache

nicht der

E m p f i n d u n g s q u a l i t ä t s e i n ; d a r u m k a n n sie u n t e r v e r s c h i e denen B e d i n g u n g e n , i m Z u s a m m e n s p i e l Faktoren,

verschiedene

m i t verschiedenen

Empfindungsqualitäten

hervor-

rufen.

Läuterung des physikalischen Realismus. Der kritische Realismus. Eine L ä u t e r u n g , die der soeben durchgeführten entspricht, durch die w i r den naiven Realismus von gewichtigen Einwänden befreit haben, ist aber auch beim p h y s i k a l i s c h e n R e a l i s m u s angebracht. Denn wie der naive Realismus ohne Not die Empfindungsqualitäten den Außenweltsobjekten-an-sich

zuschreibt, statt ihnen nur ent-

sprechende Beschaffenheiten-an-sich beizulegen, so schreibt der physikalische Realismus (wie übrigens auch der naive) den Außenweltsräumliche Eigenschaften

statt irgendwelcher

diesen entsprechenden Beschaffenheiten-an-sich

objekten ohne Not

zu. Und eben da-

durch setzt er sich jenen Einwänden aus, die uns oben vom physikalischen Realismus zum Phänomenalismus geführt haben. Diese Einwände und damit das Abgleiten in den mit Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und Kausalprinzip unvereinbaren

Phänomenalismus

aber kann man vermeiden, wenn man den physikalischen Realismus einer entsprechenden Läuterung unterzieht, wie wir sie soeben am naiven Realismus vorgenommen haben. W i r schreiten damit nur auf dem Wege der Läuterung fort, den der physikalische Realismus bei seiner Entwicklung aus dem naiven bereits eingeschlagen hat. Auch der physikalische Realismus schreibt ja z. B. dem Zuckeran-sich nicht die Empfindungsqualität Süß zu, sondern statt ihrer eine Beschaffenheit, die jene Empfindungsqualität in uns hervorzurufen vermag, und die w i r als „Süß-an-sich" bezeichnen können. Tun wir den entsprechenden Schritt, vollziehen wir die entsprechende Läuterung auch bezüglich der räumlichen Qualitäten, so gelangen wir vom physikalischen zum k r i t i s c h e n

Realismus.

Die zurückfhrbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

Zwar schreibt schon der physikalische Realismus den x\ußenweltsobjekten-an-sich nicht einfach die räumlichen Lagen, Gestalten und Größen zu, die i m sinnlichen Wahrnehmungsbilde sich darbieten; vielmehr werden die „wirklichen" Lagen, Gestalten und Größen aus Sinnes Wahrnehmungen erst erschlossen, errechnet. So wird z. B. erschlossen, daß die Erde die Gestalt eines Rotationsellipsoids hat, und daß die Sonne sehr viel größer ist, als sie erscheint. Schon der physikalische Realismus unterscheidet also zwischen der räumlichen Beziehung, Größe und Gestalt i m Wahrnehmungsbilde und der „ w i r k lichen" räumlichen Beziehung, Größe und Gestalt i n der Außenweltan-sich. Doch bleibt i m physikalischen Realismus die Auffassung bestehen, daß die räumlichen Beziehungen, Größen und Gestalten in der Außenwelt-an-sich von derselben Art sind, wie die i m Wahrnehmungsbilde sich darbietenden, die „phänomenalen" räumlichen Beziehungen, Größen und Gestalten, daß z. B. das Nebeneinander, die Länge, der Kreis in der Außenwelt-an-sich von derselben Art sind wie das Nebeneinander, die Länge, der Kreis i m Wahrnehmungsbilde. Das ist jedoch eine Annahme, die fast ebenso bedenklich erscheint wie die, daß das Weiß-an-sich der Empfindungsqualität Weiß gleich oder doch mit dieser gleichartig sei. Wie das Weiß-an-sich von der Empfindungsqualität Weiß, dem „phänomenalen" Weiß, sehr verschieden sein kann, so kann auch das, was dem Nebeneinander, der Länge, dem Kreise i n der Außenwelt-an-sich zugrunde liegt, von dem Nebeneinander, der Länge, dem Kreise i m

Wahrnehmungs-

bilde sehr verschieden sein. Kurz, „ R ä u m l i c h k e i t - a n - s i c h "

und

„ p h ä n o m e n a l e " (d. h. i m Wahrnehmungsbilde enthaltene) R ä u m l i c h k e i t b r a u c h e n n i c h t g l e i c h a r t i g zu sein, s o n d e r n k ö n n e n ganz w e s e n t l i c h v e r s c h i e d e n sein, weil ja überhaupt die Ursache von der Wirkung, das Wahrnehmungsbild vom Außen weltsgegenstande-an-sich ganz wesentlich verschieden sein kann. Wie aber den Empfindungsqualitäten gewisse Beschaffenheiten der Gegenstände-an-sich korrespondieren, so werden auch den phänomenalen

räumlichen

Eigenschaften

und Beziehungen gewisse Be-

schaffenheiten und Beziehungen in der Außenwelt-an-sich korrespondieren und zugrunde liegen. Diese wollen wir kurz als a u ß e r w e l t s räumliche

Beschaffenheiten

B e c h e r , Einführung in die Philosophie.

und

Beziehungen bezeichnen.

Wir 10

Erkenntisheorie.

146

können dann sagen: D e r p h ä n o m e n a l e n R ä u m l i c h k e i t eine

Außenweltsräumlichkeit

zugrunde,

die von

liegt jener

w e s e n t l i c h v e r s c h i e d e n sein k a n n . Die Leistungen des physikalischen Realismus i m Erklären und Voraussagen des Auftretens der Wahrnehmungsbilder bleiben nun unverändert bestehen, wenn wir annehmen, d a ß die i h r e m Wesen nach

unbekannte

Naturwissenschaft

Außenweltsräumlichkeit bestimmten

der

Räumlichkeit

von

der

eindeutig

e n t s p r i c h t , daß also z. B. jedem gemessenen oder errechneten Abstand (Ortsunterschied) ein bestimmter, seiner Art nach uns nicht bekannter „Außenweltsorts-Unterschied", jeder vom Naturforscher auf Grund von Sinneswahrnehmungen bestimmten räumlichen Gestalt eine „außenweltsräumliche" Gestalt eindeutig entspricht. Dabei bleibt völlig dahingestellt, was ein Außenweltsort, eine Außenweltsrichtung, eine außenweltsräumliche Gestalt-an-sich sind, da wir ja aus der Wirkung, dem Wahrnehmungsbild, nicht entnehmen können, was i n dem verursachenden Außenweltsobjekt-an-sich dem phänomenalen Ort, der phänomenalen Richtung, der phänomenalen Raumgestalt zugrunde liegt. Diese unsere U n k e n n t n i s des Wesens der A u ß e n w e l t s r ä u m l i c h k e i t oder Räumlichkeit-an-sich beeinträchtigt in keiner Weise die Erklärungs- und Voraussage-Leistungen eines geläuterten physikalischen Realismus, der nicht mehr eine der phänomenalen gleichartige, sondern eben eine ihrem Wesen nach unbekannte AußenweltsRäumlichkeit der Außenwelt-an-sich zuschreibt. Denn da der Raum der Naturwissenschaft dem Außenweltsraum eindeutig entspricht, gibt jener weder, was diesem zukommt, gibt er gleichsam ein eindeutiges Abbild des Außenweltsraumes, kann er ihn also aufs beste vertreten. Die Naturwissenschaft kann mithin mit allen ihren Raum·? bestimmungen, mit Abständen, Richtungen, Gestalten usw. unverändert weiter operieren wie bisher; nur darf man nicht annehmen, daß alles dies Außenweltsobjekten-an-sich in der Art zukomme, wie w i r es in unseren Wahrnehmungsbildern finden, sondern man muß bedenken, daß alles dies nur ihrem Wesen nach unbekannte außenweltsräumliche Beziehungen und Eigenschaften eindeutig vertritt. In der Erklärung und Voraussage der Wahrnehmungsbilder ändert sich

Die zurkführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

dadurch gar nichts; z. B. kann der Astronom die Stellung des Mondes unter den Fixsternen am Himmelsgewölbe f ü r den i . Januar des Jahres 1940 wie bisher voraussagen. Da ja die Stellungen der Dinge-an-sich i m Außenweltsraume durch die Stellungen i m Räume des Naturforschers eindeutig wiedergegeben werden, entspricht die Stellung des Mondes-an-sich i m Außenweltsraume eindeutig der i m Räume des Naturforschers; sofern also die Stellung des Mondesan-sich i m Außenweltsraume seiner Stellung i m Wahrnehmungsbilde des gestirnten Himmelsgewölbes bestimmend zugrunde liegt, bestimmt auch die Stellung des Mondes i m Räume des Naturforschers jene Stellung i m Wahrnehrnungsbilde. I m Bestimmen, Vorausbestimmen und Erklären des sinnlich Wahrgenommenen leistet also der geläuterte physikalische Realismus dasselbe wie der (gewöhnliche) physikalische Realismus. Jener hat aber den Vorzug, nicht von dem den (gewöhnlichen)

physikalischen

Realismus treffenden Einwände mitgetroffen zu werden, daß es w i l l kürlich und unbegründet sei, anzunehmen, mit der phänomenalen Räumlichkeit müsse die ihr zugrunde liegende „Außenweltsräumlichkeit-an-sich" gleichartig sein. Der Verzicht auf diese Annahme braucht also nicht den Übergang zum Phänomenalismus zu bedeuten. Statt zu diesem können wir zum geläuterten physikalischen Realismus übergehen, der zwischen dem gewöhnlichen physikalischen Realismus und dem Phänomenalismus steht und die Mängel beider Standpunkte vermeidet. Er unterscheidet sich vom Phänomenalismus dadurch, daß er eine gewisse Erkennbarkeit der Außenwelt-an-sich festhält und annimmt, daß

das

der

phänomenalen

Räumlichkeit

zugrunde

L i e g e n d e , die A u ß e n w e l t s r ä u m l i c h k e i t - a n - s i c h , der p h y s i kalischen

Räumlichkeit eindeutig

e n t s p r i c h t . Durch diese

weittragende Annahme sichert er sich die großartigen Erklärungsund Voraussageleistungen des physikalischen Realismus. Der geläuterte physikalische Realismus unterscheidet also drei Räumlichkeiten: die p h ä n o m e n a l e , in unseren Wahrnehmungsbildern liegende, die p h y s i k a l i s c h e , aus jener durch Schließen gewonnene, mit i h r aber gleichartige, wesensverwandte, und endlich die A u ß e n w e l t s r ä u m l i c h k e i t - a n - s i c h ,

die der physikalischen 10*

Erkenntisheorie.

148

eindeutig zugeordnet, in ihrem Wesen i m übrigen aber unbekannt ist und

der phänomenalen

und physikalischen

Räumlichkeit

nicht

wesensverwandt zu sein braucht. I n neuester Zeit ist übrigens d u r c h d i e Einsteins

und

andere

Hypothesen

Relativitätstheorie

i n der

theoretischen

P h y s i k d i e R ä u m l i c h k e i t so g r ü n d l i c h des a n s c h a u l i c h e n , p h ä n o m e n a l e n C h a r a k t e r s e n t k l e i d e t worden, daß w i r eine solche m o d e r n - t h e o r e t i s c h - p h y s i k a l i s c h e , sikaliche

Räumlichkeit

lichkcit-an-sich

wohl

identifizieren

m i t der

geläutert-phy-

Außenweltsräum-

dürfen, die unser geläuterter

physikalischer Realismus annimmt. Doch können wir darauf hier nicht weiter eingehen. — Der

physikalische

Realismus

schreibt den

Außenweltsgegen-

ständen-an-sich nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche, Bewegungs- und Zahleigenschaften zu.

Bedarf er also nicht noch

einer weiteren Läuterung, die sich auf die zeitlichen, Bewegungs- und Zahleigenschaften bezieht? Was zunächst die z e i t l i c h e n E i g e n s c h a f t e n angeht, so haben wir bereits dargelegt, daß solche den unseren Wahrnehmungsbildern zugrunde liegenden Außenweltsgegenständen-an-sich

zuzusprechen

sind. Hier ist also der physikalische Realismus i m Recht. Damit ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, daß der subjektive Eindruck von der Größe einer Zeitstrecke nicht ohne weiteres mit der „ w i r k lichen" Größe derselben identifiziert werden darf. Unser Bewußtsein und die Außenwelt sind zwar in der gleichen, e i n e n , „wirklichen" Zeit; aber damit ist noch keine Garantie dafür gegeben, daß jenes die Größe eines Ausschnittes aus dieser Zeit auch ohne weiteres richtig zu erfassen vermag. So bleibt trotz der „Objektivität" der Zeit doch zwischen subjektiver Zeitschätzung und objektiver Zeitmessung zu unterscheiden. W i r hatten ferner schon festgestellt, daß es Veränderungen in der Außenwelt-an-sich gibt. Da wir nun i m Sinne unseres geläuterten Realismus Außenweltsorte annehmen, die den Orten i m Sinne der Naturwissenschaft eindeutig zugeordnet sind, muß auch der Ortsveränderung, der Bewegung i m Sinne der Naturwissenschaft

eine

Außen weltsortsveränderung

ein-

oder

Außenweltsbewegung

Die zurückführbaren

k e n n i g r u n d l a g e n und ihre Sicherung.

deutig entsprechen. Die Zeit, in der sich diese abspielen kann, fehlt ja, wie wir sahen, i n der Außenwelt-an-sich nicht. W i r dürfen also mit dem physikalischen Realismus Außenweltsobjekten-an-sich „Bewegungen" zusprechen, müssen aber i m Sinne unserer Läuterung dieses Realismus betonen, daß diese

Außenweltsbewegungen

V e r ä n d e r u n g e n ganz a n d e r e r A r t sein m ö g e n als d i e p h ä n o m e n a l e n B e w e g u n g e n , da ja der Außenweltsraum von ganz anderer Art sein mag als der phänomenale Raum. Dieser Zusatz zum physikalischen Realismus bedeutet nach dem über den *\ußenweltsraum Gesagten nichts grundsätzlich Neues, und er schädigt wiederum die Erklärungs- und Voraussageleistungen des physikalischen Realismus nicht, da ja den Bewegungen, wie der Physiker sie behandelt, die Außenweltsbewegungen ebenso eindeutig zugeordnet sein werden, wie den

physikalischen

Raumbestimmungen

die

Außenweltsraum-

1

momente . Wenn schließlich der physikalische Realismus Zahlbestimmungen auf die Außenweltsobjekte-an-sich überträgt, so können wir i h m prinzipiell

nur

zustimmen, da j a

Außenwelt-an-sich erkennbar

Z a h l e i g e n s c h a f t e n i n der sind.

Wenn also der physikalische Realismus außer räumlichen auch Zeit-, Bewegungs- und Zahlbestimmungen auf die Außenwelt-ansich anwendet, so bietet uns dies keinen Anlaß zu weiterer Läuterung. Durch die erkenntnistheoretische Läuterung seiner Lehre von der „Objektivität"

räumlicher

Bestimmungen

w i r d der physikalische

Realismus gänzlich von dem Einwände befreit, daß er der Außenwelt-an-sich

unbegründeterweise

Eigenschaften

von der Art zu-

schreibe, wie sie in unseren Wahrnehmungsbildern sich finden. Nach dem Dargelegten erscheint der geläuterte

physi-

k a l i s c h e R e a l i s m u s als d i e e i n z i g e L ö s u n g des A u ß e n w e l t s p r o b l e m s , d i e der G e s e t z m ä ß i g k e i t s v o r a u s s e t z u n g u n d d e m K a u s a l p r i n z i p gerecht werden und sich auf glänzende E r k l ä r u n g s - und Voraussageleistungen stützen k a n n , ohne sich m i t u n b e g r ü n d e t e n A n n a h m e n zu belasten. N u r diese L ö s u n g 1 Auf das naheliegende Problem der Relativität der Kaum-, Zeit- und Bewegungsbeetimmungen können wir hier nicht eingehen, da dies Problem tief in die theoretische Physik hineinfuhrt.

Erkenntisheorie.

k a n n also v o r der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n K r i t i k bestehen. W i r b e z e i c h n e n d a r u m den g e l ä u t e r t e n p h y s i k a l i s c h e n Rea l i s m u s m i t e i n e m v e r b r e i t e t e n A u s d r u c k a u c h als kritischen Realismus.

Umfang und Grenzen der kritisch-realistischen Außenweltserkenntnis; formaler Charakter derselben. Das Wesentliche des geläuterten physikalischen oder kritischen Realismus können w i r in folgenden Sätzen festlegen: Den

Empfindungsqualitäten

entsprechen

Beschaffen-

h e i t e n der A u ß e n w e l t s g e g e n s t ä n d e - a n - s i c h , d i e von j e n e n ganz v e r s c h i e d e n sein mögen. B e i g l e i c h e n W a h r n e h m u n g s bedingungen werden verschiedenen E m p f i n d u n g s q u a l i t ä t e n verschiedene Beschaffenheiten-an-sich entsprechen, möglicherweise auch gleichen E m p f i n d u n g s q u a l i t ä t e n

gleiche

B e s c h a f f e n h e i t e n - a n - s i c h (da verschiedene Wirkungen verschiedene

Ursachen, gleiche Wirkungen

jedoch nur

möglicherweise

gleiche, möglicherweise aber auch verschiedene Ursachen haben). D e n r ä u m l i c h e n E i g e n s c h a f t e n u n d B e z i e h u n g e n i n den Wahrnehmungsbildern

liegen „außenweltsräumliche44

zu-

g r u n d e , die v o n j e n e n w e s e n t l i c h v e r s c h i e d e n sein m ö g e n , j e d o c h den a u f n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e W e i s e a u f

Grund

d e r S i n n e s w a h r n e h m u n g b e s t i m m t e n (gemessenen u n d e r schlossenen)

räumlichen

Eigenschaften und Beziehungen

eindeutig entsprechen. Die

unserer

Sinneswahrnehmung

zugrunde

liegende

A u ß e n w e l t - a n - s i c h i s t ebenso i n d e r Z e i t w i e unser B e w u ß t sein. Z e i t l i c h e E i g e n s c h a f t e n v o n A u ß e n w e l t s o b j e k t e n - a n sich sind erkennbar. Zahlenmäßige

Erkenntnis

von A u ß e n w e l t s o b j e k t e n - a n -

sich ist möglich. Mit diesen Sätzen ist der Ü m f a n g der k r i t i s c h - r e a l i s t i s c h e n Außenweltserkenntnis

angegeben, und damit sind auch ihre

G r e n z e n bestimmt. W i r können also von Außenweltsobjekten-an-sich Unterschiede, zeitliche und zahlenmäßige

Bestimmungen aussagen und dürfen

Die zurückführbaren

kennigrundlagen und ihre Sicherung.

ferner annehmen, daß den räumlichen Eigenschaften und Beziehungen, welche von der Naturwissenschaft bestimmt werden, ihrem Wesen nach unbekannte außenweltsräumliche Eigenschaften und Beziehungen eindeutig entsprechen; außerdem fordern die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und das Kausalprinzip die Annahmen, daß die Außenweltsobjekte-an-sich strenger Gesetzmäßigkeit unterstehen, und daß jedes entstandene Außenweltsobjekt-an-sich seine Ursache hat. Alle diese Aussagen betreffen, so können wir sagen, die F o r m der Außenwelt-an-sich. Welche Qualitäten i m engeren Sinne Außenweltsobjekten-an-sich zukommen oder nicht zukommen, ob ihnen etwa Empfindungsqualitäten, wie Gelb, Süß, Kalt, oder diesen verwandte Eigenschaften oder auch die Qualitäten der Lust und Unlust oder irgendwelche andere in unserem Bewußtsein vorkommende Qualitäten zukommen oder nicht, das läßt der kritische Realismus unentschieden. N u r d i e F o r m der A u ß e n w e l t - a n - s i c h , n i c h t i h r möglicherweise

sehr r e i c h e r

q u a l i t a t i v e r Gehalt ist nach

k r i t i s c h - r e a l i s t i s c h e r A u f f a s s u n g e r k e n n b a r . Die Erkenntnis der Außenwelt-an-sich trägt f o r m a l e n C h a r a k t e r . Damit ist die wichtigste Grenze der A u ß e n w e l t s e r k e n n t n i s

angegeben.

Diese Grenzbestimmung bedarf freilich noch eines Zusatzes oder, wenn man so will, einer kleinen Korrektur. Es liegt nämlich sehr nahe,

anzunehmen,

daß

die

Außenwelt-an-sich

in

ihrem

q u a l i t a t i v e n Gehalt oder Wesen dem Seelischen verwandt ist. Unser eigenes Bewußtsein, also ein seelisches Realobjekt, ist das einzige Stückchen der Gesamtwirklichkeit, welches w i r unmittelbar, durch direkte Wahrnehmung, erkennen können; und zwar können wir sowohl formale Züge (wie Vielheit und Mannigfaltigkeit) als auch qualitative Seiten (wie Empfindungs- und Gefühlsqualitäten) am Bewußt-Seelischen durch Wahrnehmung erfassen. Nun liegt die Vermutung nahe, daß das Gesamtwirkliche jenem Wirklichkeitsstückchen, welches uns in unserem Bewußtsein gegeben ist, τη seinem Wesen überall verwandt sein werde. Eine solche Verwandtschaft besteht j a in formaler Hinsicht insofern, als das Gesamtwirkliche, auch die Außenwelt-an-sich, ebenso wie das Bewußt-Seelische strenger Gesetzmäßigkeit

untersteht

und dem Kausalprinzip gehorcht. Sollte

152

Erkenntisheorie.

also nicht auch i n qualitativer Hinsicht die Außenwelt-an-sich dem Bewußt-Seelischen verwandt sein? W i r kommen in der Metaphysik bei der Frage nach dem Baumaterial des Gesamtwirklichen auf diese Vermutung zurück.

Es

wird aber auch da bei dieser etwas vagen Vermutung bleiben müssen ; eine spezielle Bestimmung des qualitativen Gehaltes der einzelnen Außenweltsgegenstände-an-sich bleibt unmöglich. Somit bleibt unsere obige These, daß nur die Form der Außenwelt-an-sich, nicht ihr vielleicht sehr reicher qualitativer Gehalt erkennbar sei, doch i m wesentlichen bestehen; es ist nur hinzuzufügen, daß man vielleicht eine dem Bewußt-Seelischen verwandte qualitative Beschaffenheit der Außenwelt-an-sich vermuten darf.

Kritisch-realistische und dynamistische Auffassung der Außenwelt. Die oben angegebene Erkenntnisgrenze tritt uns unter anderer Bezeichnung wiederum entgegen, wenn wir den Kraftbegriff auf die Außenwelt-an-sich anwenden. Unter einer K r a f t verstehen w i r die F ä h i g k e i t , bestimmte W i r k u n g e n a u s z u ü b e n ; die magnetische Kraft ist z. B. die Fähigkeit, magnetische Wirkungen auszuüben, d. h. Eisen anzuziehen, Magnetpole anzuziehen oder abzustoßen, i n bewegten Elektrizitätsleitern elektrische Induktionsströme hervorzurufen usw. W i r haben nun Außenweltsobjekte-an-sich angenommen, um Ursachen f ü r unsere Sinneswahrnehmungen zu haben; auf diese Weise bot sich die Aussicht, Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und Kausalprinzip

befriedigen

Wirkungen

zu können. W i r wissen also nur durch ihre

etwas von der Außenwelt-an-sich. Was sich aber in

Wirkungen verrät, ist Wirkungsfähigkeit, ist Kraft. D i e A u ß e n w e l t - a n - s i c h b e s t e h t also aus K r ä f t e n , i s t e i n u n g e h e u r e r K r ä f t e k o m p l e x . Jeder Gegenstand-an-sich, der sich in der Sinneswahrnehmung als ein Körper darstellt, j e d e r „ A u ß e n w e l t s k ö r p e r a n - s i c h " i s t s c h o n ein K o m p l e x v o n

Wirkungsfähigkeiten

oder Kräften. Mit diesen Sätzen ist die d y n a m i s t i s c h e A u f f a s s u n g der Außenwelt und der Körper-an-sich vertreten. Man sieht ohne weiteres,

Die zurückführbaren

k e n n i g r u n d a g e u n d ihre Sicherung.

Jg

daß sich diese Auffassung mit dem k r i t i s c h e n R e a l i s m u s aufs beste verbindet. Dieser lehrt, daß wir mancherlei Erkenntnisse formalen Charakters

über die Außenweltsursachen

unserer

Wahr-

nehmungsbilder, also die Kräfte und Kräftekomplexe der Außenweltan-sich, gewinnen können, daß w i r U n t e r s c h i e d e , a u ß e n w e l t s räumliche

Beziehungen,

zeitliche und Zahleigenschaften

dieser K r ä f t e u n d K r ä f t e k o m p l e x e e r k e n n e n k ö n n e n . Er lehrt aber ferner, daß w i r e i g e n t l i c h e Q u a l i t ä t e n d i e s e r

Kräfte

u n d K r ä f t e k o m p l e x e der A u ß e n w e l t n i c h t zu e r k e n n e n v e r mögen. Solche Qualitäten i m eigentlichen Sinne oder nicht-formale Beschaffenheiten aber mögen gerade dasjenige an den Außenweltskräften bilden, was wir meinen, wenn wir von ihrem

„inneren

W e s e n " sprechen. W i r kämen also, indem wir die dynamistische Auffassung der Außenwelt-an-sich mit der kritisch-realistischen vereinigen, zu dem Ergebnis, daß w i r z w a r m a n c h e r l e i f o r m a l e

Eigenschaften

u n d B e z i e h u n g e n der A u ß e n w e l t s k r ä f t e u n d - k r a f t k o m p l e x e e r k e n n e n k ö n n e n , n i c h t aber d e r e n i n n e r e s Wesen. Das ist ein Ergebnis, das sich den Forschern oftmals aufgedrängt hat: Trotz aller Fortschritte der Naturwissenschaft bleibt das innere Wesen der Außenwelts- oder Naturkräfte zuletzt unbekannt. Es mag gelingen, das Wesen der einen Naturkraft (etwa der chemischen Affinität) auf das einer anderen (etwa der Elektrizität) zurückzuführen; mit dem Wesen dieser anderen bleibt dann auch das Wesen jener Naturkraft schließlich doch unbekannt.

Die Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit von Fremdseelischem. Neben der Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt-an-sich liegt dem außerwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Realerkennen noch die Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit von Fremdseelischem, d. h. von Seelischem außerhalb der eigenen Seele, zugrunde. W r ie die Außenweltsvoraussetzung ganz besonders die Außenwelts- oder Naturwissenschaften angeht, so die Voraussetzung des Fremdseelischen die Geisteswissenschaften, die Psychologie, Philologie, Geschichte, Staatswissenschaft, Wirtschafts-

154

Erkenntisheorie.

Wissenschaft usw.; freilich benutzen faktisch beide große Gruppen der Realwissenschaften, die Geistes- und die Naturwissenschaften, beide Voraussetzungen, die sie als „Selbstverständlichkeiten" aus der außerwissenschaftlichen Weltauffassung aufnehmen. W i r haben gesehen, daß die Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt-an-sich nicht eine letzte, sondern eine reduzierbare Erkenntnisgrundlage darstellt; sie kann auf schlichte Wahrnehmungserkenntnisse,

Voraussetzung

des

Erinnerungsver-

trauens, Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und Kausalprinzip zurückgeführt werden. Es wird sich zeigen, daß es mit der Voraussetzung der Existenz und Erkennbarkeit von Fremdseelischem ganz ähnlich steht; auch hier handelt es sich um eine reduzierbare Erkenntnisgrundlage, die man aus von uns bereits betrachteten Erkenntnisgrundlagen ableiten kann. Freilich hat man manchmal den E i n d r u c k , daß f r c m d s e é l i s c h e O b j e k t e , etwa Gefühle, Wünsche und Gedanken von Mitmenschen, u n m i t t e l b a r w a h r n e h m b a r seien. Glaubt man nicht den Schmerz eines Weinenden, die Freude eines Jubelnden unmittelbar zu schauen? Wenn aber Fremdseelisches durch unmittelbare schlichte Wahrnehmung feststellbar und erkennbar wäre, dann würde die Überzeugung von der Existenz und Erkennbarkeit von Fremdseelischem keine bloße V o r a u s s e t z u n g und keine besondere reduzierbare Erkenntnisgrundlage darstellen,

die erst aus letzten

Er-

kenntnisgrundlagen durch Schlüsse abgeleitet werden müßte. Es wäre durchaus

denkbar, daß wir Fremdseelisches, fremde

Freuden, Leiden, Wunsche, Gedanken usw., unmittelbar wahrzunehmen vermöchten. Da alles unmittelbar von mir Wahrnehmbare zu meinem Bewußtsein gehört, würde dann mein Bewußtsein in das Bewußtsein der Mitmenschen, deren Freude usw. ich unmittelbar wahrnähme, hineinreichen; die Bewußtseine verschiedener Menschen würden nicht (oder doch nicht immer) gegeneinander isolierte Inseln darstellen. Indessen scheinbar

sprechen

gewichtige Gründe

Fremdseelisches

dafür, daß

unmittelbar

wir

wahrnehmen,

nur in

Wahrheit aber immer nur leibliche Zeichen des Fremdseelischen, wie Jubeln, Weinen, Sprechen, Tränen usw., wahrnehmen, die in uns

Die zurückführbaren Kikeuntniegr und lagen und ihre Sicherung.

Jgg

dann zwar sehr prompt, aber doch eben indirekt die Überzeugung vom Vorhandensein des Fremdseelischen, der Freude, Trauer usw., wachrufen.

Daß es diese leiblichen, p h y s i s c h e n Z e i c h e n ,

das

Jubeln, Weinen, Sprechen usw., sind, die uns die Kunde vom Fremdseelischen vermitteln, ergibt sich daraus, daß die scheinbar unmittelbare Erfassung desselben fortfällt, sobald meine Sinneswahrnehmung der physischen Zeichen des Fremdseelischen fortfällt. Wenn meine Augen es nicht sehen und meine Ohren es nicht hören, so mag ein m i r noch so nahestehender Mensch in heller Freude jubeln oder in tiefem Leid weinen — die scheinbar unmittelbare Wahrnehmung von Freude und Leid ist mit der Sinneswahrnehmung ihrer physischen Zeichen unmöglich geworden ; sobald ich aber das Jubeln oder Weinen sinnlich wahrnehme, wird mir mit ihnen auch das Vorhandensein der fremdseelischen Freude oder des Schmerzes offenbar. Dies läßt sich doch wohl am einfachsten durch die Annahme erklären, daß wir fremdseelische Freude usw. nicht unmittelbar wahrzunehmen vermögen, sondern sie nur indirekt, vermittels der Sinneswahrnehmung physischen Zeichen, erkennen, wenn wir auch den Eindruck haben, sie direkt zu sehen. Immerhin könnte man noch sagen, die Sinneswahrnehmung der physischen Zeichen stelle nur eine freilich unentbehrliche Bedingung der unmittelbaren Wahrnehmung von Fremdseelischem dar; diese bedürfe zu ihrem Zustandekommen der Unterstützung durch jene Sinneswahrnehmung. Wenn die sinnliche Wahrnehmung von physischen Zeichen nur eine unentbehrliche Unterstützung, die unmittelbare Wahrnehmung aber die Hauptsache

bei der scheinbar direkten Erfassung des

Fremdseelischen wäre, dann dürfte

die sinnliche Wahrnehmung

physischer Zeichen allein nicht genügen, um den Eindruck der direkten Erfassung des Fremdseelischen hervorzurufen. Tatsächlich raft die sinnliche Wahrnehmung der physischen Zeichen von Fremdseelischem diesen Eindruck aber auch dann hervor, wenn das Fremdseelische gar nicht existiert und darum auch nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Hören wir z. B. in einem Nebenzimmer das Schluchzen eines Kindes, so meinen w i r sein Leid unmittelbar zu erfassen, auch wenn es nur i m Scherz die Kummerlaute hervor-

Erkenntisheorie.

156

bringt, wenn also von unmittelbarer Wahrnehmung des Leides nicht die Rede sein kann. Der Umstand, daß geschicktes täuschendes Hervorbringen physischer Zeichen von Fremdseelischem in uns den Eindruck direkter Erfassung dieses gar nicht existierenden Fremdseelischen zu erwecken vermag, zeigt, daß die Sinneswahrnehmung physischer

Zeichen keine bloß

unterstützende

Bedingung

darstellt,

sondern f ü r sich genommen, ohne die vermutete unmittelbare Wahrnehmung des Fremdseelischen, den Eindruck einer solchen zu erwecken vermag. Dieser Eindruck der direkten Erfassung des Fremdseelischen bietet also keine Gewähr dafür, daß es eine unmittelbare Wahrnehmung desselben gibt. Es bleibt somit dabei, daß die Annahme der Existenz und Erkennbarkeit des Fremdseelischen nicht unmittelbar durch Wahrnehmung sichergestellt ist, sondern eine V o r a u s s e t z u n g darstellt; w i r müssen daher versuchen, sie zu s i c h e r n , indem wir sie d u r c h S c h l ü s s e auf letzte Erkenntnisgrundlagen z u r ü c k f ü h r e n . Nun kann man diese Annahme offenbar durch A n a l o g i e s c h l ü s s e stützen.

Wir

haben gesehen, wie man von (unmittelbar

wahr-

genommenen und i n der Erinnerung festgehaltenen) Sinneswahrnehmungsbildern aus mit Hilfe der GesetzmäßigkeitsVoraussetzung und des Kausalprinzips zu der Rechtfertigung der Annahme von erkennbaren

Außenweltsgegenständen-an-sich

im

Sinne

des

kritischen

Realismus kommt. Ich darf nach alledem annehmen, daß meinem Sinneswahrnehmungsbild

meines Leibes mein Leib-an-sich,

und

meinen Sinneswahrnehmungsbildern fremder Leiber fremde Leiberan-sich, die dem meinigen gleichen, in d i r Außenwelt zugrunde liegen. Wie nun mit dem natürlichen Lachen (genauer: dem diesem zugrunde liegenden Lachen-an-sich) meines Leibes-an--sich meine Heiterkeit

regelmäßig verbunden ist, so wird mit gleichartigem

Lachen (Lachen-an-sich) fremder Leiber-an-sich auch fremde Heiterkeit verbunden sein. So erschließe ich durch Analogieschluß auf Grund der Regelmäßigkeitsvoraussetzung fremde Heiterkeit und damit Fremdseelisches. Wenn nur mit m e i n e m lebendigen Menschenleibe-an-sich, seinem Lachen-an-sich, Sprechen-an-sich usw. Seelisches verbunden wäre, nicht aber mit. f r e m d e n lebendigen Menschenleibern-an-sich, ihrem

Die zurückführbaren Lachen-an-sich,

kenniegrundlagen und ihre Sicherung.

Sprechen-an-sich

usw.,

Existieren meines Seelischen offenbar

so

würde

eine g r o ß e

dieses

g

singulare

Ausnahme,

etwas

Nicht-Gesetzmäßiges i n der W e l t bedeuten. A l s o f o r d e r t

die

setzmäßigkeitsvoraussetzung

Fremd-

die

Annahme

von

Ge-

seelischem. Dieses ist auf sischen zu

Zeichen

erschließen.

Grund nach Als

von sinnlich Analogie

wahrnehmbaren,

meines

solche physische

eigenen

Zeichen

phy-

Seelischen

können

dabei

alle

sinnlich w a h r n e h m b a r e n Außenweltsrealitäten dienen, v o n denen i r g e n d w i e f e s t s t e l l e n k o n n t e n , d a ß sie d i r e k t o d e r i n d i r e k t m i t

wir See-

lischem regel- oder gesetzmäßig verbunden sind. Physische Zeichen von Fremdseelischem

s i n d also die lebendigen Menschenleiber,

die

Organe, d i e z u m Seelenleben i n enger B e z i e h u n g stehen ( w i e Sinnesorgane u n d G r o ß h i r n r i n d e ) ; d a n n E i n w i r k u n g e n , die den L e i b treffen und auf

d i e Seele ü b e r z u g r e i f e n

L e i b treffender,

verwundender

pflegen

(z.

B. ein einen

Schlag); ferner

fremden

die leiblichen

tionen, die r e g e l m ä ß i g m i t seelischen z u s a m m e n h ä n g e n , w i e

FunkLachen,

Schreien, Sprechen, Schreiben, Malen, Bauen usw.; endlich die dukte

solcher

Bauten; —

wrie

Funktionen,

alle historischen

Schriftstücke,

Pro-

Kunstgegenstände,

Quellen u n d Überreste,

wie

Urkunden,

Chroniken, Inschriften, Denkmäler gehören hierher. Überall, w o

uns

solche „ p h y s i s c h e n Z e i c h e n "

bei

Tieren eine G r o ß h i r n r i n d e

b e g e g n e n , a l s o a u c h z. B . w o w i r

finden,

k ö n n e n w i r a u f G r u n d der

bzw. Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung Die

Lehre,

daß

alle

Erkenntnis

auf von

Fremdseelisches Fremdseelischem

Regel-

schließen. sich

auf

Analogieschlüsse stütze, die v o n „ p h y s i s c h e n Z e i c h e n " ausgehen, in jüngster

Zeit vielfach

gewiesen, d a ß keit, Trauer,

wir Zorn

angegriffen

worden.

Man hat darauf

unseren eigenen Gesichtsausdruck usw. f ü r

gewöhnlich

(d. h.

bei

wenn

wir

ist

hin-

Fröhlichnicht

in

einen Spiegel b l i c k e n ) g a r n i c h t sehen, also eventuell g a r n i c h t wissen, w e l c h e r Gesichtsausdruck m i t e i n e m b e s t i m m t e n seelischen bei uns selbst v e r b u n d e n ist. W i e sollen w i r d a d u r c h z. B . f e s t s t e l l e n k ö n n e n , d a ß m i t d e m f r ö h l i c h e n m e n s c h e n dessen F r ö h l i c h k e i t Die

Schwierigkeit

ist

verbunden

folgendermaßen

Vorgang

Analogieschluß

G e s i c h t eines

Mit-

ist? zu

beseitigen.

Hörbares

L a c h e n m e i n e r M i t m e n s c h e n k a n n m i r als p h y s i s c h e s Z e i c h e n

ihrer

Ërkenntnistlieori e.

188

Fröhlichkeit dienen, ich k a n n durch Analogieschluß von jenem diese

schließen,

weil

bei

mir

selbst

mit

gleichartigem

auf

hörbarem

L a c h e n F r ö h l i c h k e i t r e g e l m ä ß i g v e r b u n d e n ist. I n d e m i c h n u n sehe, daß

mit

dem

hörbaren Lachen

der Mitmenschen

der

charakteri-

s t i s c h e A u s d r u c k des l a c h e n d e n G e s i c h t e s r e g e l m ä ß i g v e r b u n d e n w i r d m i r auch dieser z u m physischen Zeichen der F r ö h l i c h k e i t . fröhliche

Das

Gesicht aber geht i n das lachende ü b e r u . i d ist i h m

l i c h ; so k a n n i c h s c h l i e ß e n , d a ß d a s f r ö h l i c h e sches v e r r ä t , das i n k r ä f t i g e

i s t , k u r z , d a ß es a u c h s c h o n F r ö h l i c h k e i t kann uns der Gesichtsausdruck seelischem dienen,

auch

wenn

Anzuerkennen Analogieschluß

ist

wir

allerdings,

Schritt für

seelisches e r k e n n e n .

Wenn

verrät. A u f

ihn

nie

bei

solche

uns selbst i n

daß

wir

für

Schritt durchführen, i c h einen herzhaft

Ver-

gewöhnlich

keinen

wenn wir

Fremd-

lachenden

Menschen

schließender

z u m Bewußtsein käme, daß er f r ö h l i c h

hier, i n der Erkenntnistheorie,

Weise Fremd-

beobachten.

sehe u n d h ö r e , so w e i ß i c h s o f o r t , o h n e d a ß m i r e i n Gedankenaublauf

Seeli-

ähnlich

als p h y s i s c h e s Z e i c h e n v o n

b i n d u n g m i t eigenen Seeleninhalten

ähn-

Gesicht etwas

Fröhlichkeit übergeht u n d ihr

ist.

Aber

h a b e n w i r es j a n i c h t m i t d e m

s ä c h l i c h e n A b l a u f des E r k e n n e n s , s o n d e r n m i t d e r F r a g e d e r

tat-

Wahr-

heitssicherung oder Rechtfertigung der Erkenntnis zu tun. W e n n aber die E r k e n n t n i s muß

ich

jene

von

Fremdseelischem

Analogieschlüsse

ist,

rechtfertigen

durchführen,

die

von

ich

will,

dann

der

Ver-

b i n d u n g der „ p h y s i s c h e n Z e i c h e n " m i t meinen eigenen Seeleninhalten ausgehen. D a ß i m

tatsächlichen E r k e n n e n Schlüsse, die zur

fertigung von Erkenntnissen

unentbehrlich sind, vielfach

werden u n d ausfallen, ist auch an anderen sehen. W i e die F r ö h l i c h k e i t

Recht-

abgekürzt

Beispielen leicht zu er-

eines l a c h e n d e n K i n d e s so g l a u b e n

auch die Hitze einer d a m p f e n d e n

S u p p e u n m i t t e l b a r z u sehen.

d o c h k a n n m a n d i e H i t z e n i c h t sehen, s o n d e r n n u r aus d e m

Dampfen

erschließen, i n d e m m a n sich d a r a u f stützt, daß früher, etwa Kosten,

festgestellt

bunden

war.

Auch

die

wurde,

Voraussetzung

Fremdseelischen

stellt

also

daß

der

mit

dem

Existenz

Dampfen

und

eine reduzierbare

wir Und

durch

Hitze

ver-

Erkennbarkeit

des

Erkenntnisgrundlage

Die zurückführbaren

k e n n i g r u n d l a g e n und ihre Sicherung.

dar. A l l e E r k e n n t n i s v o n F r e m d s e e l i s c h e m s t ü t z t s i c h a u f d i e R e g e l -

bzw. Gesetzmäßigkeits Voraussetzung. Alles Realerkennen

in

Natur

u n d Geisteswelt, das ü b e r die

g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t des e i g e n e n B e w u ß t s e i n s

hinausschreitet,

w i r d v o n dieser V o r a u s s e t z u n g geleitet u n d getragen. Sie f ü h r t forschenden Geist i n i m m e r fernere W e i t e n , i n i m m e r Tiefen der Wirklichkeit. feststellen,

daß

diese

kenntnisgebäude

Und doch m u ß

Voraussetzung,

unserer

Natur-

auf

der

daß

Fundamenten

alle ruhen.

unsere

den

verborgenere

Erkenntnistheoretiker

die sich

die

stolzen

u n d Geisteswissenschaften

Realwissenschaften

auf

Er-

stützen,

a u f keine Weise sichergestellt werden kann. Bescheiden müssen bekennen,

Ver-

wir

ungesicherten

Metaphysik. Aufgabe u n d M e t h o d e der Metaphysik. Aufgabe der Metaphysik. Ihr Verhältnis zu den Einzelrealwissenschaften. T i e f w u r z e l t das B e d ü r f n i s n a c h W e l t a n s c h a u u n g i m menschlichen G e i s t e . I h m g e n ü g t es n i c h t , d i e s e s o d e r j e n e s T e i l g e b i e t d e r G e s a m t wirklichkeit, Pflanzenwelt schritt

der

etwa oder

die die

physikalischen

Erscheinungen

Menschheitsgeschichte,

Einzelforschung

immer

genauer

im

oder

die

mühsamen

kennen

zu

Fort-

lernen.

f a u s t i s c h e m D r a n g e u n d m i t s c h m e r z l i c h e r Sehnsucht strebt er alle Einzelwissenschaft

hinaus

zur Erkenntnis

der

In

über

Gesamtwirklich-

keit in ihrer ganzen Weite u n d Tiefe. Eine nis der

wissenschaftliche

des

Weltanschauung

Gesamtwirklichen

Metaphysik.

Hauptziel

zu

erarbeiten,

Weltanschauung

und oft

das

Hauptziel

ist

oder ist

aber

von

der Philosophie

Erkennt-

die

Aufgabe

alters

her

gewesen. So

d i e M e t a p h y s i k z u m e i s t das K e r n s t ü c k d e r P h i l o s o p h i e g e b i l d e t

ein hat und

v i e l f a c h als „ K ö n i g i n d e r W i s s e n s c h a f t e n " g e g o l t e n . N i c h t selten i s t sie f r e i l i c h

i n alter

u n d neuer

Zeit g r i m m i g

bekämpft,

als

After-

w i s s e n s c h a f t g e s c h o l t e n u n d als e n d g ü l t i g abgetan b e t r a c h t e t w o r d e n . I n der T a t k a n n die A u f g a b e , die w i r der M e t a p h y s i k haben, denn wie

zu schweren

die ü b r i g e n Physik,

Bedenken

gegen

diese A n l a ß

Realwissenschaften,

Chemie,

Astronomie,

u n d die Geisteswissenschaften, logie, Staatswissenschaft

die

bieten.

Lassen

Naturwissenschaften,

Mineralogie,

wie Psychologie,

usw., n o c h R a u m f ü r

zugewiesen

Botanik,

Zoologie,

Geschichte,

Philo-

eine M e t a p h y s i k

als

W i s s e n s c h a f t v o m G e s a m t w i r k l i c h e n ? A l l e die N a t u r - u n d die Geisteswissenschaften

bearbeiten

Teilgebiete

des G e s a m t w i r k l i c h e n .

Deckt

sich n u n n i c h t die W i s s e n s c h a f t vorn G e s a m t w i r k l i c h e n m i t der

Ge-

Aufgabe und Methode der Metaphysik. samtheit

der Geistes-

und Naturwissenschaften?

161

Dann

wäre

Meta-

p h y s i k w o h l n u r eine überflüssige u n d irreleitende B e z e i c h n u n g

für

diese G e s a m t h e i t , n i c h t a b e r e i n e w e i t e r e W i s s e n s c h a f t n e b e n G e i s t e s und

Naturwissenschaften.

Dieser naheliegende E i n w a n d

ist n i c h t stichhaltig.

w i e d i e A u f g a b e d e r M e t a p h y s i k es f o r d e r t , d e m die forschende in

allen

den

Aufmerksamkeit

Geistes-

und

zu, so t a u c h e n

Wendet

Probleme

Naturwissenschaften,

den

auf,

eben

weil

alle

diese

Wissenschaften

die

„Einzel-Real-

wissenschaften", n i c h t auftreten oder doch n i c h t bearbeitet können,

man,

Gesamtwirklichen

werden

n u r Teilgebiete

des

Gesamtwirklichen beackern. Beispiele solcher Probleme, die weit über den R a h m e n

der Einzel-Realwissenschaften

Metaphysik,

der W i s s e n s c h a f t

ihr eigentümliche Aufgaben Wesen, H e r k u n f t ,

vom

hinausgreifen

und

der

Gesamtwirklichen,

zufallen,

als

bieten die F r a g e n

Ziel u n d Sinn der Gesamtwirklichkeit,

nach

nach

R o l l e d e r M a t e r i e , des S e e l i s c h e n , d e s L e b e n s , d e s M e n s c h e n ,

der

seiner

Geschichte u n d K u l t u r i m Gesamtw Lrklichen. Es fehlt der M e t a p h y s i k also keineswegs a n i h r e i g e n t ü m l i c h e n samen Wie

Problemen,

an

hochbe*lout-

Aufgaben. unsere Beispiele zeigen, betreffen

das G e s a n i t w i r k l i c h e

diese P r o b l e m e

nicht

nur

als Ganzes, s o n d e r n a u c h das V e r h ä l t n i s

von

B e s t a n d t e i l e n des G e s a m t w i r k l i c h e n ( w i e d e r M a t e r i e , d e r N a t u r , Seelischen, der Geschichte usw.) z u diesem Ganzen, ü b e r h a u p t man

keine

Metaphysik,

keine

Erforschung

des

des kann

Gesamtwirkiichen

d u r c h f ü h r e n , o h n e Bestandteile desselben z u b e t r a c h t e n ; z u r E r k e n n t nis der G e s a m t w i r k l i c h k e i t g e h ö r t e i n E r k e n n e n seiner Bestandteile.

Aber

die

Metaphysik

erforscht

diese

wesentlichen

Wirklichkeits-

b e s t a n d t e i l e n i c h t , w i e d i e E i n z e l - R e a l w i s s e n s c h a f t e n es t u n , f ü r

sich,

abgesehen v o m G e s a m t w i r k l i c h e n , s o n d e r n gerade m i t R ü c k s i c h t das G e s a m t w i r k l i c h e . Sie f r a g t z. B . : W i e stellen s i c h d i e N a t u r , seelische W e l t , standteile

des

die Menschheit

dar

u n d was bedeuten sie a l s

für

des S e e l i s c h e n

die Be-

Gesamtwürklichen?

So ergeben sich A u f g a b e n f ü r m e t a p h y s i s c h e schaften,

auf

eine M e t a p h y s i k

der

usw. Die Metaphysik

Natur,

Sonderwissen-

eine

der Natur

Metaphysik

z. B .

untersucht

nicht irgendwelche Naturobjekte (wie elektrische Vorgänge, B e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

Gestirne 11

Metaphysik.

162

o d e r P f l a n z e n ) f ü r s i c h , s o n d e r n sie b e t r a c h t e t d i e N a t u r u n d

Natur-

o b j e k t e i n i h r e n B e z i e h u n g e n z u m G e s a m t w i r k l i c h e n , als T e i l e dess e l b e n . D a ß b e i s o l c h e r B e t r a c h t u n g s w e i s e ( d i e z. B . z u b e a c h t e n h a t , daß m i t der N a t u r i m G e s a m t w i r k l i c h e n eine seelisch-geistige

Welt

zusammenhängt)

auch

neue Probleme auftreten

neue Erkenntnisse ergeben können, Die liche

Metaphysik sowie

Nicht

selten

stände,

die

zu erfassen;

Gesamtwirkliche

gewiesen,

also

dürfte einleuchtend Aufgabe,

Wirklichkeitskomponenten

samtwirklichen das

hat

u n d sich vielleicht

wird

der

die j e n s e i t s

kurz:

eingestellte Metaphysik

der

das als

erscheinen.

GesamtwirkTeile

Metaphysik

des

ist

die

Realwissenschaft. die

Erfahrung

speziellere liegenden

Geauf —

Aufgabe

zu-

Realgegen-

z. B . G o t t u n d d a s z u k ü n f t i g e S c h i c k s a l d e r S e e l e , z u

kennen; die Einzel-Realwissenschaften

er-

h ä t t e n d e m g e g e n ü b e r die

der E r f a h r u n g sich darbietenden Realgegenstände zu erforschen. gegen

ist

zu

sagen,

daß

auch

Einzel-Realwissenschaften,

Da-

wie

die

Physik, Gegenstände erforschen, die sich n i c h t in der E r f a h r u n g b i e t e n , z. B . d i e A t o m e

und Elektronen. Auch

G o t t sich niemals i n der E r f a h r u n g die M e t a p h y s i k die j e n s e i t s in ihrem Zusammenhange erforschen letzteren,

haben. die

wird

z.

Sie w i r d

den i n

auch

der E r f a h r u n g

zu

untersuchen

Erfahrungsgegenstände,

bemühen,

B.

sich

sondern

nicht auch

nur

für

Gesamtwirklichen

Metaphysik

die

Aufgabe

von ihr

die

liegenden

haben,

was

eine Rolle i m

Erkenntnis

trachten,

in

der

zuzuweisen,

zu fordern.

Meta-

Bezie-

sein,

das G e s a m t w i r k l i c h e

der jenseits der E r f a h r u n g Auch an

die

Gottheit

welcher

demnach richtiger

zu

Gesamt-

zu G o t t stehen, welche Rolle

spielen. Es w i r d

k e n n e n , als n u r E r f o r s c h u n g Realobjekte

um

festzustellen

h u n g die Erfahrungsgegenstände im

ob

aber

der E r f a h r u n g liegenden W i r k l i c h k e i t e n mit

w i r k l i c h e n spielen. So w i r d der Vertreter einer theologischen physik

dar-

i s t es j a s t r i t t i g ,

darbietet. Jedenfalls

in

zu

sie der er-

liegenden

Erfahrungsgegenständen

d a r f die M e t a p h y s i k n i c h t v o r ü b e r g e h e n , s o f e r n eine metaphysische, d. h .

auf

das G e s a m t w i r k l i c h e

unsere E r k e n n t n i s z u bereichern

eingestellte

Betrachtung

derselben

verspricht.

D i e M e t a p h y s i k h a t a u c h n i c h t etwa ausschließlich die

„Dinge-

a n - s i c h " o d e r das „ i n n e r e W e s e n ' 4 d e r W i r k l i c h k e i t z u e r f o r s c h e n ,

163

Aufgabe und Methode der Metaphysik. s o n d e r n sie s o l l ü b e r d i e s

untersuchen,

welche Rolle die

Erschei-

n u n g e n i m G e s a m t w i r k l i c h e n spielen. Ü b r i g e n s v e r m a g j a a u c h die Naturwissenschaft nisse

über

nach

kritisch-realistischer

Außenweltsdinge-an-sich

zu

Auffassung

bieten.

Erkennt-

Allerdings

nur

Er-

kenntnisse f o r m a l e n C h a r a k t e r s ; das „ i n n e r e W e s e n " ' d e r A u ß e n w e l t s dinge-an-sich

bleibt der

Naturwissenschaft

verschlossen.

Wenn

M e t a p h y s i k das i n n e r e W e s e n d e r A u ß e n w e l t s d i n g e - a n - s i c h w ü r d e , so w ü r d e kenntnis

sie d a m i t o h n e Z w e i f e l

des G e s a m t w i r k l i c h e n

leisten.

Bedeutsames

Wir

bestreiten

daß E r k e n n t n i s von jenseits der E r f a h r u n g liegenden von „Dingen-an-sich"

und vom

„inneren

Wesen"

die

erkennen

für

die

Er-

keineswegs,

Gegenstanden,

der

Wirklichkeit

i n den R a h m e n der M e t a p h y s i k h i n e i n g e h ö r e n k a n n ; die jenseits der Erfahrung

liegenden

Gegenstände.,

die

„Dinge-an-sich"

4

„ i n n e r e W e s e n ' des W i r k l i c h e n g e h ö r e n j a z u m und je mehr Erkenntnis

wir

von jenen

wissen, u m

des G e s a m t w i r k l i c h e n

Unsere Überlegungen

machen

Einzel-Realwissenschaften

und

die

stehen. verständlich,

(Natur-

Naturmetaphysik,

das

Gesamtwirklichen,

so b e s s e r w i r d es u m

und

daß

Metaphysik

Geisteswissenschaften)

vielfach berühren. I n praxi sind die Grenzen zwischen schaft

und

Psychologie

und

und sich

Naturwissen-

Seelenmetaphysik,

Geschichtswissenschaft u n d Geschichtsmetaphysik m a n c h m a l

fließend.

M a n d e n k e z. B . d a r a n , d a ß d i e A t o m l e h r e e i n s t d e r M e t a p h y s i k

an-

gehörte u n d gegenwärtig ( f r e i l i c h i n veränderter Gestalt) einen sehr wichtigen Bestandteil der Naturwissenschaft wissenschaften

kommen

bei ihrer

bildet. D i e

Erforschung

von

Einzel-Real-

Wirklichkeits-

bestandteilen z u w e i l e n z u weitreichenden Ergebnissen (Gesetzen

und

Hypothesen), die große

das

Bedeutung f ü r

die metaphysische, a u f

G e s a m t w i r k l i c h e zielende Betrachtungsweise h a b e n ; w i r weisen etwa L e h r e n v o n der E r h a l t u n g

des

Stoffes u n d d e r E n e r g i e , v o n d e r A t o m s t r u k t u r d e r K ö r p e r w e l l

h i n a u f die naturwissenschaftlichen

und

v o m W ä r m e t o d e derselben, die sich a u f d i e gesamte materielle l i c h k e i t u n d d a m i t sozusagen a u f die H ä l f t e d e r

Wirk-

Gesamtwirklichkeit

beziehen.

11*

Metaphysik.

Zusammenhang der Metaphysik mit der Erkenntnistheorie. Fast n o c h enger als m i t m a n c h e n Einzel-Realwissenschaften Physik,

Biologie,

Psychologie)

hängt

die M e t a p h y s i k

kenntnistheorie

zusammen. Gerade die W i d e r s p r ü c h e

metaphysischen

Systemen, die M i ß e r f o l g e

zahlloser

B e m ü h u n g e n haben die erkenntnistheoretischen

mit

(wie

der

Er-

zwischen

den

metaphysischer

Fragen nach Grund-

l a g e n , M ö g l i c h k e i t u n d G r e n z e n des E r k e n n e n s i m m e r w i e d e r gedrängt. Die Möglichkeit Grundlagen

unseres

der Metaphysik hängt

Erkennens

ein

auf-

d a v o n ab, o b

ausreichendes

die

Fundament

dar-

stellen f ü r eine e r f o l g r e i c h e B e a r b e i t u n g j e n e r g r o ß e n Probleme, das G e s a m t w i r k l i c h e

uns bietet. D i e erkenntnistheoretischen

suchungen über Existenz u n d Erkennbarkeit von an-sich

haben

mühungen

der

selbstverständlich Metaphysik,

die

große

die

Unter-

Außenweif-dingen-

Bedeutung

für

Gesamtwirklichkeit

zu

die

Be-

erkennen.

M a n c h e E r k e n n t n i s g r u m d l a g e n repräsentieren zugleich sehr

wichtige

m e t a p h y s i s c h e F e s t s t e l l u n g e n ; so d e r G r u n d s a t z , d a ß alles W i r k l i c h e strenger welchem

Gesetzmäßigkeit alles

untersteht,

entstandene

Wirkliche

Folgesatz, d a ß das V e r h a l t e n punkt

gesetzmäßig

gehendes In

bestimmt

und eine

das

Kausalprinzip,

Ursache

des G e s a m t w i r k l i c h e n ist

durch

sein

hat,

nach

sowie

in jedem

unmittelbar

der Zeit-

vorher-

Verhalten.

neuester

Zeit

Erkenntnistheorie

hat

man

die

Metaphysik

identifiziert,

weil man

zuweilen

mit

eine M e t a p h y s i k

der im

a l t e n S i n n e des W o r t e s f ü r u n m ö g l i c h h i e l t . I n d e s s e n w e n n diese t a t s ä c h l i c h u n m ö g l i c h w ä r e , w ä r e es ü b e r f l ü s s i g u n d i r r e l e i t e n d , d e r E r k e n n t n i s t h e o r i e d i e B e z e i c h n u n g M e t a p h y s i k als z w e i t e n N a m e n

bei-

zulegen.

Verhältnis von Metaphysik und Religion. A u c h m i t d e r R e l i g i o n w e i s t d i e M e t a p h y s i k so e n g e B e z i e h u n g e n auf, daß beide m a n c h m a l ineinanderfließen u n d k a u m zu trennen sind. Religionen schließen Weltanschauungen, Auffassungen v o m w i r k l i c h e n ein. D o c h gehören zu einer echten R e l i g i o n noch

Gesamtweitere

wichtige Bestandteile, vor a l l e m Gefühle, wie F u r c h t , E h r f u r c h t ,

Ver-

e h r u n g , Liebe, Vertrauen, welche sich m i t d e m Glauben an machtvolle, höhere Realitäten verbinden, sowie eine d u r c h solchen Glauben

be

Aufgabe, und Methode der Metaphysik. dingte

Lebensauffassung

Willensrichtung

und

165 Lebensgestaltung.

Alles dies g e h ö r t j e d o c h n i c h t n o t w e n d i g z u e i n e r wohl

es o f t

mit

dann religiösen

metaphysischen Charakter

Anschauungen

tragen.

Andererseits

Metaphysik,

verknüpft gehört

es

während

die echte

Metaphysik

die

durchaus

n i c h t z u m W e s e n d e r R e l i g i o n , d a ß sie e i n e W i s s e n s c h a f t sein w i l l ,

ob-

ist,

ist oder

diesen A n s p r u c h

erhebt.

Die Metaphysik nähert sich der Religion vielfach insbesondere

da-

d u r c h , d a ß sie, w i e d i e s e , b e i i h r e r B e t r a c h t u n g d e s W i r k l i c h e n

den

Gesichtspunkt

des W e r t e s

zur

Geltung

bringt.

In

die

M e t a p h y s i k g e h ö r e n d i e a u c h das r e l i g i ö s e B e w u ß t s e i n

wertende bewegenden

P r o b l e m e , w i e neben d e m W e r t v o l l e n das S c h l i m m e : U n z w e c k m ä ß i g keit, I r r t u m ,

Q u a l u n d Sünde, in die W e l t

gekommen

ist, o b

die

Ursache oder der U r g r u n d der u n v o l l k o m m e n e n , vielleicht gar

vor-

wiegend schlechten W e l t v o l l k o m m e n o d e r d o c h g u t sein könne, es n e b e n d e m U r g r u n d d e s G u t e n s e i t E w i g k e i t e i n e n b e s o n d e r e n grund

des B ö s e n gebe« o b

das G u t e

in

der

Welt

schließlich

ob Ur-

zum

v ö l l i g e n S i e g e g e l a n g e n u n d a l l e s S c h l i m m e b e s e i t i g e n w e r d e , o b es eine

sittliche

gebe,

Weltoidnung,

eine

ausgleichende

Weltgerechtigkeit

usw.

Methode der Metaphysik. Es fehlt n i c h t an ernsten Problemen, an g r o ß e n A u f g a b e n f ü r

die

M e t a p h y s i k ; a b e r es f r a g t s i c h , o b d i e s e a u c h ü b e r M i t t e l u n d W e g e , über eine oder mehrere M e t h o d e n z u r L ö s u n g solcher P r o b l e m e

ver-

fügt. Das

Gesamtwirkliebe

erstreckt

sich

unermeßlich

weit

über

den

Bereich unserer E r f a h r u n g hinaus. D a r u m k o n n t e m a n leicht zu

der

Meinung

als

kommen,

„Methode",

in

daß

der

auf

die das

Erfahrung

als

Gesamtwirkliche

Erkenntnismittel, eingestellten

Wissen-

s c h a f t , i n d e r M e t a p h y s i k , u n b r a u c h b a r sei. I n d e r T a t h e r r s c h t e Ansicht i n der neueren Philosophie bis ins 19. J a h r h u n d e r t , versuchte

man,

empirischer

auf

oder

erfahrungsfreiem

„apriorischer"

Forschungswege,

Methode,

die

mit

diese

und

so

nicht-

metaphysischen

P r o b l e m e z u lösen. Die dem apriorischen

Verfahren

huldigenden

Philosophen

haben

eine Reihe g r o ß a r t i g e r m e t a p h y s i s c h e r Systeme geschaffen. D o c h h a t

Metaphysik.

166

k e i n e s v o n i h n e n s i c h als h a l t b a r erwiesen. S o s i n d d i e E r f o l g e

der

apriorischen Methode nicht ermutigend. Überdies erkennt m a n leicht, daß die angeblich a u f apriorische Weise gewonnenen metaphysischen Systeme i n W a h r h e i t

keineswegs o h n e B e n u t z u n g v o n

Erfahrungs-

erkenntnissen aufgebaut werden konnten, w e n n auch den dieser S y s t e m b a u t e n die V e r w e r t u n g

der E r f a h r u n g

Schöpfern

nicht zum

Be-

w u ß t s e i n g e k o m m e n ist. In

der

Tat

kommt

ohne

Erfahrung

unser

Erkennen

gar

n i c h t a n d i e W i r k l i c h k e i t h e r a n . W i e die Erkenntnistheorie zeigt, erfassen nur

wir

durch

wirkliche

schlichte

ist elementare, reine Allerdings sachen

ursprünglich

Wahrnehmung;

schlichte

und

unmittelbar

Wahrnehmung

wir

nur

eigene

wahrnehmen;

gegenwärtige

aber

über

Bewußtseinstat-

dies enge

Gebiet

schlichten W a h r n e h m u n g s - oder reinen Erfahrungserkenntnis uns einige grundlegende Voraussetzungen hinaus. Die des

aber

Erfahrung.

können

unmittelbar

Gegenstände

Erinnerungsvertrauens 1

eröffnet

unserem

der

helfen

Voraussetzung

Erkennen

die

Ver-

g a n g e n h e i t unseres eigenen B e w u ß t s e i n s ; die G e s e t z m ä ß i g k e i t s v o r a u s setzimg2

und

ermöglichen

das uns

eng

mit

ihr

zusammenhängende

ein Schließen,

das,

auf

Kausalprinzip3

unsere E r f a h r u n g

sich

s t ü t z e n d , u n s ü b e r d i e V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t des e i g e n e n B e wußtseins hinausführt

i n die Z u k u n f t ,

i n die A u ß e n w e l t

außerhalb

unseres B e w u ß t s e i n s , i n f r e m d e s Seelenleben, i n u n e r m e ß l i c h e W e i t e n u n d Tiefen der

Gesamtwirklichkeit.

W i r b e z e i c h n e n das v o n d e r s c h l i c h t e n W a h r n e h m u n g aber

mit

Hilfe

jener

Voraussetzungen

über

sie

ausgehende,

hinausschreitende,

N i c h t - E r f a h r e n e s u n d d e r E r f a h r u n g U n z u g ä n g l i c h e s ( w i e das I n n e r e der

Sonne,

die

Entstehung

Wasserstoffatoms, schungsverfahren

das

unseres

unbewußte

Planetensystems,

Seelenleben)

als e m p i r i s c h - i n d u k t i v e

den

Bau

erschließende

Methode.

des For-

Diese

f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e " Methode, die außer der E r f a h r u n g

aprio-

r i s c h e E r k e n n t n i s s e a l l e r A r t (z. B . a u c h m a t h e m a t i s c h e ) b e n u t z t , der N a t u r der Sache nach d a s g e g e b e n e 1 2 8

Siehe S. 4 04 ff. Siehe S. t15ff. : auch 409 ff. Siehe S. J20 ff.

„er-

ist

Forschungsverfahren

167

Aufgabe und Methode der Metaphysik. aller

Wissenschaften

von

„Realwissenschaften", Wissenschaft,

der

wirklichen

also auch

Metaphysik.

der Die

Gegenständen,

aller

GesamtwirklichkeitsEinzel-Realwissenschaften,

die N a t u r - u n d die Greisteswissenschaf ten ( P h y s i k , C h e m i e ,

Biologie

usw., Psychologie, Geschichte, P h i l o l o g i e , Staatswissenschaften

usw.)

bedienen sich dieser M e t h o d e m i t bestem E r f o l g e , verdanken i h r den sicheren Besitz u n d F o r t s c h r i t t ihres Wissens. Bei unseren erkenntnistheoretischen neben der schlichten W a h r n e h m u n g weitere

wichtige

sichert

freilich

Erkenntnisquelle ursprünglich

Untersuchungen

fanden

o d e r r e i n e n E r f a h r u n g als eine

die Soseinswahrnehmung.

nur

wir

Soseins- oder

Diese

Idealurteile;

d u r c h S o s e i n s w a h r n e h m u n g g e s i c h e r t e I d e a l u r t e i l e , w i e z. B .

aber maiie-

matische A x i o m e , sind a u f Realgegenstände anwendbar u n d

dadurch

auch f ü r die Realwissenschaften v o n erheblicher Bedeutung. D a ß Soseinswahrnehmung

beruhende

induktiv

Realwissenschaf ten

verfahrenden

Erkenntnis

für

sehr

die

empirisch-

wichtig

ist,

m a n aus d e r u n g e m e i n f ö r d e r l i c h e n

H i l f e , welche die a u f

wahrnehmung fußende Mathematik

der P h y s i k leistet. W i r

durch

Soseinswahrnehmung

gesicherte

Idealurteile

stände a n w e n d e n , w e i l das, w a s i r g e n d e i n e m kommt,

i h m auch zukommen

auf

ersieht Sösednskönnen

Realgegen-

Sosein n o t w e n d i g

m u ß , w e n n es i r g e n d w o

im

auch

ruhende

in

der

Metaphysik

Idealurteile

auf

auf

zu-

Gesamt-

w i r k l i c h e n als r e a l e s S o s e i n e x i s t i e r t . D e m n a c h k ö n n e n i m zip

auf

Prin-

Soseinswahrnehmung

Reales

Anwendung

be-

finden;

so

k a n n z. B . d i e d u r c h S ö s e i n s w a h r n e h m u n g g e s i c h e r t e I d e a l e r k e n n t n i s , d a ß das G a n z e g r ö ß e r i s t a l s s e i n T e i l , d u r c h A n w e n d u n g a u f

Reales

das m e t a p h y s i s c h e U r t e i l l i e f e r n , d a ß das G e s a m t w i r k l i c h e g r ö ß e r als i r g e n d e i n B e s t a n d t e i l d e r W i r k l i c h k e i t . F r e i l i c h s t e l l t d i e s e r

ist

Satz

eine Selbstverständlichkeit d a r ; aber Selbstverständlichkeiten

können,

wie

Axiome

z.

B.

selbstverständlich

zeigen, eine sehr w i c h t i g e

erscheinende

wissenschaftliche

mathematische

R o l l e spielen. So

auch die H i l f e , welche a u f S o s e i n s w a h r n e h m u n g f u ß e n d e der empirisch-induktiven Einzelrealwisseilschaften

Methode

i n der Metaphysik

leistet o d e r

leisten k a n n ,

mag

Erkenntnis wie

recht

s e i n , w e n n s i e a u c h , w i e es m i t d e m „ S e l b s t v e r s t ä n d l i c h e n "

in

den

bedeutsam zu gehen

pflegt, l e i c h t übersehen w i r d u n d i m einzelnen schwer festzustellen ist.

Metaphysik. D i e a u f S o s e i n s Wahrnehmung b e r u h e n d e E r k e n n I n i s w e i s e b e w ä h r t sich glänzend

in

der

reinen

i n d u k t i v e E r k e n n tnis verfahren

Mathematik, i m Prinzip

welche

das

enipirisch-

n i c h t braucht. So

m a n a u f den Gedanken k o m m e n , daß vielleicht auch die die e m p i r i s c h - i n d u k t i v e Soseinswahrnehmung wende. durch

Aus

Methode

beruhende

nicht

brauche,

unseren erkenntnistheoretischen

S o s e i n s Wahrnehmung s i c h e r b a r e n

Metaphysik

wenn

Erkenntnisweise

sie d i e

auf

zweckmäßig

Darlegungen

Urteile

könnte

ergibt

ver-

über

sich

die

jedoch

l e i c h t , d a ß diese V e r m u t u n g ganz v e r f e h l t w ä r e . S o s e i n s w a h r n e h m u n g sichert unmittelbar n u r

Soseins- oder Idealurteile, n i c h t aber

Real-

ivrleile, da sie j a n u r a u f Soscin, n i c h t a b e r a u f D a s e i n o d e r W i r k l i c h keit gerichtet

ist. D i e

Metaphysik

aber

will

Wirkliches,

G e s a r n t w i r k l i c h e , e r k e n n e n ; sie i s t eine R e a l w i s s e n s c h a f t . j e d o c h erfassen w i r

unmittelbar

nicht durch

sogar

das

Wirkliches

Soseinswalu n e h m u n g ,

sondern allein durch schlichte W a h r n e h m u n g oder reine

Erfahrung;

u n d das v o n dieser ausgehende e m p i r i s c h - i n d u k t i v e V e r f a h r e n

führt

u n s d a n n ü b e r das d e r s c h l i c h t e n W a h r n e h m u n g z u g ä n g l i c h e

Wirk-

liche hinaus bis i n ferne

Weiten

und Tiefen

der W i r k l i c h k e i t .

kann also n i c h t die Rede davon sein, daß eine auf wahrnehmung

beruhende

physik die E r f a h r u n g

Erkenntnisweise

in

Es

Soseins-

der

und die e m p i r i s c h - i n d u k t i v e

Meta-

Methode

ü b e r f l ü s s i g m a c h e n k ö n n t e . D e r von Spinoza u n d anderen

unter-

nommene

empi-

Versuch,

risch-induktives

mit

rein

Verfahren,

mathematischer

Methode, ohne

eine haltbare Metaphysik

zu

scheitert an d e m einschneidenden Unterschied zwischen und Metaphysik: Die

(reine) M a t h e m a t i k ist eine

erarbeiten, Mathematik

Idealwissenschaft

u n d braucht daher keine Erfassung von W i r k l i c h e m , keine schlichte Wahrnehmung

und keine empirisch-induktive

Methode;

die

Meta-

p h y s i k aber ist eine Realwissenschaft u n d m u ß daher W i r k l i c h e s fassen, s i c h a u f s c h l i c h t e W a h r n e h m u n g stützen u n d die induktive Methode anwenden.

er-

empirisch-



Als i m vorigen J a h r h u n d e r t die apriorische Metaphysik i n Deutschl a n d nach blendenden Erfolgen, zusammenbrach, f ü h r t e n G. T h . Fech11er u n d

andere hervorragende

Philosophen die

empirisch-induktive

M e t h o d e i n d i e M e t a p h y s i k ein. W ä h r e n d so g u t w i e a l l g e m e i n

an-

erkannt

die

ist, d a ß diese M e t h o d e das angemessene V e r f a h r e n

für

169

Aufgabe und Methode der Metaphysik. Einzel-Realwissenschaften

darstellt,

ist

bis

heute

noch

strittig,

sie s i c h a u c h f ü r d i e M e t a p h y s i k e i g n e t . N o c h i m m e r w i r d d e r wand

erhoben,

das

empirisch-induktive

Verfahren

nicht weit genug, u m die Probleme der Metaphysik zu

ob

Ein-

reiche

angreifen

können. Offenbar

lich

wird,

licher

k ö n n e n , wie a m Beispiel der Naturwissenschaft

dem

und

empirisch-induktiven

zeitlicher

Hinsicht

Verfahren

keine

in

Grenzen

deuträum-

gesteckt

w e r d e n , die p r i n z i p i e l l unüberschreitbar wären. Es wäre reine

Will-

k ü r , w e n n m a n d i e A n w e n d u n g d i e s e r M e t h o d e n u r b i s z u so u n d s o vielen Siriusweiten u n d M i l l i a r d e n Jahren, n i c h t aber d a r ü b e r

hinaus

erlauben wollte. W i e die Naturwissenschaft a n n i m m t , daß die groBén N a t u r g e s e t z e , z. B . d e r S a t z v o n d e r E r h a l t u n g d e r E n e r g i e , i n gesamten N a t u r gelten, u n d dabei voraussetzt, d a ß die zur j e n e r Gesetze f ü h r e n d e e m p i r i s c h - i n d u k t i v e

der

Erkenntnis

M e t h o d e so w e i t

reicht

wie die gesamte N a t u r Wirklichkeit, d a r f a u c h der M e t a p h y s i k e r n e h m e n , d a ß d i e s e M e t h o d e so w e i t r e i c h t w i e d i e g e s a m t e

an-

Wirk-

lichkeit. Manchmal Meinung

wird,

vertreten,

etwa die

in

Anlehnung

an

Voraussetzungen

Hume

der

oder

Kant,

die

empirisch-induktiven

Methode, insbesondere d i e G e s e t z m ä ß i g k e i t s v o r a u s s e t z u n g

und

das K a u s a l p r i n z i p , seien n u r i m G e b i e t e d e r E r f a h r u n g

oder

im

aber

Gebiete

„möglicher

Erfahrung"

berechtigt,

nicht

ü b e r d e r e n G r e n z e n h i n a u s . D o c h sind wir, wie die theorie

zeigt1,

geradezu

gezwungen,

mit

der

Erkenntnis-

Ge?etzmäßigkeits-

voraussetzimg die Grenzen der E r f a h r u n g zu überschreiten, u m

leben

zu

unser

können;

denn

unsere

Erfahrung

ist

eingeschränkt

auf

eigenes g e g e n w ä r t i g e s u n d v e r g a n g e n e s B e w u ß t s e i n . U n d d i e E i n z e l R e a l wissen schaf ten voraussetzimg

und

kenntnisgrundlagen

benutzen

fortwährend

das K a u s a l p r i n z i p

die

Gesetzmäßigkeits-

sowie die sich a u f

stützende e m p i r i s c h - i n d u k t i v e

diese

Methode,

folgreich forschend über die Grenzen der E r f a h r u n g

Er-

um

er-

und auch

der

„ m ö g l i c h e n E r f a h r u n g " hinaus v o r z u d r i n g e n . D i e B i l d u n g der festen E r d k r u s t e , das W a c h s t u m d e r W ä l d e r , v o n d e n e n u n s e r e 1

Vçl. S. loa ff

Steinkohle

Metaphysik.

170 herrührt,

d i e u n s stets a b g e w a n d t b l e i b e n d e R ü c k s e i t e des

Mondes,

d a s I n n e r e des S o n n e n k e r n e s , d e r B a u des W a s s e r s t o f f a t o m s , d a s B e w u ß t s e i n des H u n d e s u n d das U n b e w u ß t e i n u n s e r e r e i g e n e n liegen jenseits unserer E r f a h r u n g

u n d jenseits der f ü r

uns Menschen

m ö g l i c h e n E r f a h r u n g , u n d d o c h s i n d a u f alles dies die keitsvoraussetzung,

das

Methode erfolgreich jenseits lichen

Kausalprinzip

und

die

der E r f a h r u n g

und

Gesetzmäßig-

empirisch-induktive

anwendbar. D i e s e b e w ä h r e n

der Grenzen

Seele

sich also

der f ü r

auch

uns

mög-

Erfahrung.

D e m g e g e n ü b e r m e i n t m a n w o h l , die D i n g e - a n - s i c h lägen noch e i n e m anderen, radikaleren Sinne jenseits der Grenzeil m ö g l i c h e r

in Er-

f a h r u n g a l s d i e o b e n a n g e f ü h r t e n O b j e k t e ; d i e s e , z. B . d e r B a u d e s Wasserstoffatoms, Wahrnehmung

seien

zwar

unzugänglich,

faktisch weil

unserer

letztere

Erfahrung,

etwa

nicht

s e i ; a b e r p r i n z i p i e l l h a n d e l e es s i c h h i e r d o c h u m

unserer

genug

fein

Wahrnehmbares,

w ä h r e n d die D i n g e - a n - s i c h p r i n z i p i e l l u n w a h r n e h m b a r ,

unerfahrbar

seien. A u f

Dinge-an-

das P r i n z i p i e l l - U n e r f a h r b a r e ,

auf

die

sich, seien die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung, prinzip

und

die

empirisch-induktive

das

Methode

Kausal-

nicht

an-

wendbar. Dieser E i n w a n d erscheint uns keineswegs durchschlagend. weiß m a n denn, daß die Dinge-an-sich „ p r i n z i p i e l l "

Woher

unwahrnehmbar

s i n d ? W i e es W e s e n g e b e n k ö n n t e , d i e d e n B a u d e s W a s s e r s t o f f a t o m s w a h r z u n e h m e n v e r m ö c h t e n , s o k ö n n t e es a u c h W e s e n ( e t w a g ö t t l i c h e ) geben, welche die D i n g e - a n - s i c h

unmittelbar

wahrnähmen.

A b e r ganz abgesehen davon zeigt die E r k e n n t n i s t h e o r i e 1 , d a ß unkonsequent

und

willkürlich

mäßigkeitsvoraussetzung, diese

das

Erkenntnisgrundlagen

induktive

Methode auf

ist,

wenn

man

Kausalprinzip sich

stützende

Dinge-an-sich

nicht

M a n braucht die Gesetzinäßigkeitsvoraussetzung

die und

die

vorangegangene

und

k o m m e n , u m die Z u k u n f t , 1

Vgl. S. \ 53 ff., 158 ff.

gegenwärtige

anwenden

und die

Bewußtsein

die weiter zurückliegende

auf

empirischwill.

empirisch-

i n d u k t i v e M e t h o d e , u m i m E r k e n n e n ü b e r die eigene E r f a h r u n g , eigene

es

Gesetz-

das

hinauszu-

Vergangenheit

Aufgabe und Methode der Metaphysik.

171

und das Seelenleben der Mitgeschöpfe erkennen zu können; alles dies nehmen wir auf Grund der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung als w i r k lich und als dieser Voraussetzung unterstehend an. Dieselbe Voraussetzung (und das eng mit ihr zusammengehörige

Kausalprinzip)

fordert aber in prinzipiell gleicher Weise, daß w i r Dinge-an-sich als wirklich und als dieser Voraussetzung unterstehend annehmen. Es ist daher unkonsequent und willkürlich, den Forderungen der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung bezüglich der Zukunft, der weiter zurückliegenden

Vergangenheit

und

des

Seelenlebens

der

Mit-

geschöpfe zuzustimmen, die prinzipiell gleichartige Forderung jener Voraussetzung, daß es eine strenger

Gesetzmäßigkeit (und dem

Kausalprinzip) unterstehende Welt von Dingen-an-sich gebe, aber abzulehnen. Wenn man die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzimg anerkennt, um über die engen Schranken der eigenen Erfahrung, des eigenen vergangenen und gegenwärtigen Bewußtseins hinauszukommen, dann sollte man sie konsequenterweise auch voll und ganz anerkennen und ihr entsprechend Dinge-an-sich annehmen, welche, ihr gehorchend, die Welt unserer Bewußtseine zu einer streng gesetzmäßigen Gesamtwirklichkeit ergänzen. Dazu kommt nun, daß sich die Annahme einer der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip entsprechenden und damit dem empirisch-induktiven Forschungsverfahren zugänglichen Welt von Dingen-an-sich in der Erklärung und Voraussage unserer Sinneswahrnehmungsbilder glänzend bewährt. Letztere treten durchaus so auf, als ob sie durch Dinge-an-sich hervorgerufen würden, die der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip gehorchen. Lehnt, man solche Dinge-an-sich ab, dann erscheint jene Art und Weise des Auftretens der Sinneswahrnehmungsibilder völlig unerklärlich. Also dürfen und müssen wir annehmen, daß es t a t s ä c h l i c h eine W e l t v o n D i n g e n - a n - s i c h g i b t , die d e r G e s e t z m ä ß i g keitsvoraussetzung und dem K a u s a l p r i n z i p gehorchen und diesen

entsprechend

unsere

Sinneswahrnehmungsbildcr

hervorrufen 1. D a n n aber s i n d solche D i n g e - a n - s i c h a u c h , wie die Er1

Siehe S. 4 59 ff.

172

Metaphysik.

kenntnistheorie nehmungen setzung

genauer darzutun aus m i t

Hilfe

hat, von

der

u n d des K a u s a l p r i n z i p s ,

den

S i n η es Wahr-

Gesetzmäßigkeitsvorausalso m i t H i l f e d e r e m -

p i r i s c h - i n d u k t i v e n Methode, erkennbar. Allerding gelangt die von der Sinneswahrnehmung ausgehende empirisch-induktive Forschung nach unserer

kritisch-realistischen

Auffassung nur zu Erkenntnissen formalen Charakters über Gegenstände-an-sich, nicht aber zur Erfassung ihres inneren Wesens 1 . Die Metr.j hysik mag versuchen, neben der S i n n es Wahrnehmung auch die W a h r n e h m u n g unserer ü b r i g e n B e w u ß t s e i n s i n h a l t e z u r H i l f e h e r a n z u z i e h e n und von dieser breiteren Erfahrungsbasis aus induktiv tiefer in die Welt des An-sich-Seienden, i n i h r inneres Wesen einzudringen. Wenn der Metaphysiker etwa vermutet, daß das innere Wesen der Außenweltsobjekte-an-sich dem Wesen unseres bewußten Seelischen oder des Willens gleich oder ähnlich sei, so vollzieht er einen Analogieschluß von dem unserer unmittelbaren Erfahrung, unserer Selbstwahrnehmung zugänglichen bewußt-seelischen Wirklichen auf das Außenweltswirkliche-an-sich ; ein von der Erfahrung ausgehender Analogieschluß gehört aber durchaus in den Rahmen der empirisch-induktiven Methode. — überaus wertvoll wäre es selbstverständlich f ü r die Metaphysik, wenn es, wie oft

angenommen,

noch e i n e h ö h e r e

Art

der

W a h r n e h m u n g , eine „ I n t u i t i o n 4 ' gäbe, i n der wir das innere Wesen des An-sich-Seienden, den Kern oder den Urgrund der W i r k lichkeit unmittelbar erfassen könnten. Doch sahen wir uns in unseren erkenntnistheoretischen Betrachtungen genötigt, die Frage offen zu lassen, ob eine solche Intuition anzunehmen ist. — A u f eigenartige Weise hat K a n t versucht, die Metaphysik zu begründen, nachdem er die Begründungsversuche seiner Zeit einer eindringenden, i m wesentlichen ablshnenden K r i t i k unterzogen hatte. Er geht von der „ p r a k t i s c h e n V e r n u n f t " , von unserem sittlichen Bewußtsein aus und findet, daß dieses metaphysische Überzeugungen, wie die von der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes, fordere. Dadurch erscheinen ihm diese Überzeugungen gerechtfertigt. 1

Sietie S. 151 ff.

Aufgabe und Methode der Metaphysik

Ebenfalls auf

„praktischem",

wenn auch wesentlich

173 anderem

Wege versuchen Vertreter des modernen „ P r a g m a t i s m u s "

meta-

physische Lehren zu begründen. Nach seiner Auffassung erkennt man die Wahrheit einer Lehre daran, daß diese das Leben — i m besten, höchsten Sinne — fördert; nach extrem pragma tistisch er Lehre besteht geradezu das Wesen der Wahrheit in ihrer lebenfordernden Kraft. Die metaphysische Überzeugung z. B., daß Gott die Welt und die Schicksale der Menschen lenkt, wäre also durch den Nachweis zu begründen, daß diese Überzeugung unser Leben fördert. Die KanIsche und die pragrnatistische Methode zur Begründung der Metaphysik erscheinen zunächst wissenschaftlich wenig befriedigend. Was gibt uns denn die Gewähr, daß die Wirklichkeit den von Kant angeführten Forderungen, den „Postulaten der praktischen Vern u n f t 0 entspricht, oder daß die lebenf ordernden Überzeugungen nicht nützliche Irrtümer oder Halbwahrheiten, sondern volle, objektive Wahrheiten sind? Könnte nicht z. B. der Optimismus lebenfördernd wirken, auch wenn er objektiv falsch wäre? Allerdings ist zu bedenken, daß wir die nicht-sicherbaren Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens und der Regelmäßigkeit des Wirklichen hinnehmen, weil sie unentbehrlich f ü r uns, f ü r unser W T irklichkeiiserkennen und Leben sind. Dürfen w i r i m Hinblick darauf nicht auch andere Überzeugungen hinnehmen, die f ü r unser Leben, insbesondere etwa f ü r unser s i t t l i c h e s Leben, unentbehrlich sind? Freilich wird man nicht leicht objektiv feststellen können, welchen Überzeugungen diese Unentbehrlichkeit zukommt. — Nach allen unseren Betrachtungen erscheint doch das e m p i r i s c h induktive Forschungsverfahren

a m ehesten g e e i g n e t , der

M e t a p h y s i k als w i s s e n s c h a f t l i c h e M e t h o d e zu dienen. Dabei kann sich der Metaphysiker auf manche empirisch-induktiv gewonnenen Ergebnisse der Einzel-Realwissenschaften stützen, die für

die auf das Gesamt wirkliche eingestellte Forschung von Be-

deutung sind. Vielfach tragen nun die großen, weitgreifenden, f ü r die Erkenntnis des Gesarntwirklichen, f ü r die Metaphysik bedeutsamen Ergebnisse der Einzel-Realwissenschaften ausgesprochen hypothetischen Charakter, wie z. B. die Atom- und Elektronentheorie, die Ätherannahme, die Relativitätstheorie Einsteins, die biologische Entwick-

174

Metaphysik.

lungslehre, die psychologische Annahme eines unbewußten Seelischen. Mit der Benutzung solcher natur- und

geisteswissenschaftlichen

Hypothesen erhält die Metaphysik bereits einen hypothetischen Einschlag. Es liegt überhaupt im» Wesen der

empirisch-induktiven

Forschungsweise, daß sie i m Hinausschreiten über die reine Erfahrung zu Hypothesen f ü h r t ; schon die Einzel-Realwissenschaften sind voller Hypothesen. Erst recht wird dies von der GesamtReal Wissenschaft, der Metaphysik

gelten, in der die empirisch-

induktive Methode am weitesten über die Erfahrung hinausführt. Die apriorisch vorgehende Metaphysik glaubte, ganze Systeme streng gesicherter, hypothesenfreier Erkenntnisse bieten zu können. Die empirisch-induktiv verfahrende Metaphysik muß bescheiden anerkennen, daß sie h y p o t h e t i s c h e Ergebnisse liefert,

nicht aber

mit einem absolut gesicherten, endgültig fertigen System aufwarten kann; kann doch selbst die Physik, gewiß eine der erfolgreichsten unter den empirisch-induktiven

Wissenschaften,

kein

endgültig

fertiges System aufweisen! So wollen w i r auch i m folgenden nicht etwa ein abgeschlossenes metaphysisches System errichten, sondern einige untereinander eng zusammenhängende Hauptprobleme der Metaphysik nach empirischinduktiver Methode bearbeiten, um einzuführen

in dieses meta-

physische Forschungsverfahren und um einige Beiträge zur Lösung der großen Weltauffassungsfragen zu liefern. Das Gebiet der wertenden Metaphysik werden wir i m folgenden nur streifen. Sie setzt Wertmaßstäbe und in letzter Instanz g r u n d legende Werturteile voraus, die in der Werttheorie festzustellen und zu rechtfertigen sind.

Das Baumaterial der Welt. Der Materialismus. Die ältesten griechischen Metaphysiker haben bereits das Problem in den Vordergrund gestellt, von dem wir ausgehen wollen : die Frage nach dem B a u m a t e r i a l der W e l t . Die W e l t braucht m i t dem G e s a m t w i r k l i c h e n nicht ident i s c h zu s e i n ; wer eine Gottheit außerhalb der W7elt annimmt, sieht in letzterer nur einen Teil des Gesamtwirklichen. Doch wollen wir uns zunächst damit begnügen, die Welt zum Gegenstande unserer Untersuchung zu machen; wir kommen damit jedenfalls auf den Weg zur Erforschung des Gesarntwirklichen. Nach der Auffassung des täglichen Lebens und der Einzel-Realwissenschaften besteht die Welt aus körperlichen und seelischgeistigen Bestandteilen. Körperliches, wie Steine, Wasserfälle usw., und Seelisch-Geistiges, wie Gedanken und Gefühle, gelten als wesentlich verschieden. Die Welt bestände demnach aus z w e i verschiedenen Arten von Baumaterial. Diese Auffassung wird als Dualismus, genauer als D u a l i s m u s v o n K ö r p e r l i c h e m u n d S e e l i s c h e m bezeichnet. Viele Metaphysiker haben die „ m o n i s t i s c h e " Auffassung vertreten, nach der die Welt nicht aus zwei Arten, sondern nur aus einer Art von Baumaterial besteht. (Übrigens ist das Wort Monismus wie die Bezeichnung Dualismus vieldeutig.) Nimmt man insbesondere an, daß die ganze Welt, ja das Gesamtwirkliche nur aus M a t e r i e , aus k ö r p e r l i c h e m B a u s t o f f bestehe, so vertritt man einen metaphysischen M a t e r i a l i s m u s . Dieser stellt also eine spezielle Form des Monismus dar. Materialistische Anschauungen sind in der Geschichte der Philosophie frühzeitig und oft aufgetreten; gegenwärtig finden sie zwar nicht i n der wissenschaftlichen Philosophie, wohl aber in anderen Kreisen vielfach Anhänger. Es gibt offenbar naheliegende und starke Gedankenmotive, die zum Materialismus drängen. Zunächst kommt

176

Metaphysik.

in Betracht, daß die Aufmerksamkeit des praktischen Lebens vorwiegend körperlichen Dingen, wie Speise und Trank, Kleidung und Wohnung, Feld und Wald, Werkzeug und Werkstoff zugewandt ist. Auch die theoretische Aufmerksamkeit des Naturforschers richtet sich zumeist auf Körperliches. Die Gegenstände aber, denen man zumeist die Aufmerksamkeit schenkt, mit denen man sich beständig beschäftigt, erscheinen leicht als die wesentlichen, eigentlich wirklichen, während das, was dauernd unbeachtet bleibt, leicht den Charakter des Unwesentlichen, bloß Halbwirklichen oder gar Unwirklichen annimmt. Auch hat unser Geist die Neigung, das Vertraute i m Minderbekannten zu suchen, sogar jenes in dieses gewaltsam hineinzudeuten. So kommt es, daß vielen Menschen, insbesondere Naturforschern, die materialistische Lehre, die Körperwelt sei das einzige Wirkliche, das Seelische sei nur ein unwirklicher Schein, oder aber es sei i m Grunde etwas Körperliches, so plausibel klingt. Bei Naturforschern kommt die Hoffnung hinzu, i m Fortschritt ihrer Wissenschaft alle Welträtsel lösen zu können, wenn alles W i r k liche materiell ist und daher i n den Forschungs- und Erklärungsbereich der Naturwissenschaft gehört. Außerdem findet der Naturforscher

m i t seiner sinnlichen Beobachtungsweise niemals etwas

Seelisches vor; alles Sicht- und Tastbare ist materiell. Wenn der Physiologe auf seine Art die Vorgänge verfolgt, die sich i m Leibe abspielen, etwa wenn ein K i n d einen Apfel sieht, begehrt und unter Gewissensbissen gegen ein Verbot ergreift, so findet er bei seiner Forschungsweise nichts von diesen seelischen Regungen des Kindes; sondern er konstatiert Lichtstrahlen, die von dem Apfel ins Auge des Kindes eindringen, dort in der Netzhaut komplizierte chemische Vorgänge hervorrufen, die sich dann durch den Sehnerven ins Geh i r n fortpflanzen, das Gehirn durcheilen und aus i h m hinaus auf Nervenbahnen den Muskeln des Armes und der Hand zuströjnen, die dadurch zur Tätigkeit, zum Ergreifen des Apfels bestimmt werden. Bei dieser Handlung des Kindes und überall, wo wir i m täglichen Leben Seelisches: Gedanken, Gefühle, Willensvorgänge usw., i m Spiele glauben, stößt der Physiologe nur auf materielle Vorgänge i m Nervensystem, insbesondere i m Großhirn, und leicht entsteht so in i h m die Meinung, daß aus diesen materiellen, nervösen Prozessen i m

Das Baumaterial der Welt.

177

Großhirn alles erklärt werden müsse und könne, was w i r i m täglichen Leben als W i r k u n g von Seelischem, von Willensvorgängen usw. auffassen. So erscheint dann dem Physiologen das Seelische leicht als etwas Überflüssiges, etwas, das man zur Erklärung nicht braucht, das anzunehmen müßig wäre, das gar nicht wirklich existiert; nur das Körperliche erscheint als das wahrhaft Wirkliche, das Seelische aber als unwirklicher Schein, hinter dem sich die wirklichen materiellen Hirnprozesse verbergen. Man begreift, daß der Physiologe nicht recht weiß, wie er das Seelische i n dem materiellen, nervösen Geschehen, das er i m Großhirn findet, unterbringen soll; der Mensch neigt aber dazu, zu ν versehen oder zu negieren, was er in seinen Anschauungen nicht recht unterzubringen weiß. Auch i m Weltganzen erscheint das Seelische nach verbreiteter A u f fassung leicht gegenüber dem Materiellen als etwas höchst Unbedeutendes, sozusagen als ein Nichts. Die Materie besteht, in ungeheuren Massen durch den Weltraum zerstreut, von Anfang bis Ende der Welt oder von Ewigkeit zu Ewigkeit; das Seelische aber existiert, so glauben viele, nur f ü r eine i m Weltgeschehen minimale Zeitspanne auf unserem Planeten, auf diesem Stäubchen i m Weltall. Die ewigen Massen wandern durch den Weltraum, unberührt von diesem ephemeren Aufleuchten des Seelischen, das aus dem Nichts auftaucht, um alsbald wieder i m Nichts zu verschwinden. So erscheint das Materielle als das dauer- und kernhafte, echte Wirkliche, das Seelische als flüchtiger, wesenloser Schein. Die Art, wie das Seelische sich uns bei der direkten Beobachtung darstellt, kann in dieser Auffassung noch bestärken; es zeigt sich da als etwas Flüchtiges, Vergängliches, o f t schwer Faßbares. Gedanken enteilen uns, Gefühle verschwinden, wenn wir sie beobachten wollen. Wie ruhig und fest halten demgegenüber die Körper vielfach der Beobachtung stand! Kein Wunder, wenn der Eindruck entsteht, daß sie und nur sie die kernhafte und wahrhafte Wirklichkeit darstellen.

Kritik des Materialismus. Trotz alledem bleibt die Leugnung der Wirklichkeit des Seelischen durchaus verfehlt. Auch wenn dasselbe sinnlich nicht wahrnehmbar B e c h e r , E i n f ü h r u n g in die Philosophie.

12

178

Metaphysik.

ist, wenn es i n allen seinen Formen so flüchtig und vergänglich wäre, wie irgendein belangloser Gedanke, wenn es nur f ü r eine gewisse Zeitspanne und an unseren bescheidenen Planeten gebunden i m Weltall existierte, dann wäre es doch unzweifelhaft wirklich. Denn jeder von uns kann in sich selbst bewußtes Seelisches: Wahrnehmungsbilder, Gedanken, Freude oder Leid, oder was es sonst sein mag, mit absoluter Sicherheit i n schlichter, unmittelbarer Wahrnehmung als daseiend oder wirklich feststellen. Die Wirklichkeit eines solchen Bewußt-Seelischen, etwa eines starken Schmerzes oder Wunsches, den ich erlebe und wahrnehmend feststelle, kann m i r niemand bestreiten. Sie steht sicherer fest als die Wirklichkeit irgendeines Außenweltsdinges außerhalb meines Bewußtseins; denn dieses kann ich nie selbst erfassen, sondern von i h m habe ich immer nur Kunde durch sinnliche Bilder in meinem Bewußtsein, durch Gesichtswahrnehmungsbilder, Tastempfindungen usw., die mich möglicherweise wie Traumbilder täuschen könnten. Das uns g e g e n w ä r t i g k l a r

bewußte

Seelische i s t d a s j e n i g e W i r k l i c h e , dessen W i r k l i c h k e i t i m P r i n z i p a l l e i n a b s o l u t s i c h e r ist. W i l l der Materialismus seine These, daß nur Materielles existiere, angesichts dieser erkenntnistheoretischen Feststellung doch aufrechterhalten, so muß er zeigen, d a ß a l l das u n z w e i f e l h a f t

exi-

s t i e r e n d e B e w u ß t - S e e l i s c h e m a t e r i e l l ist. Unser Bewußtsein als Ganzes, wie auch die sogenannten Bewußtseinsinhalte,

die

Wahrnehmungserlebnisse,

Gedanken,

Gefühle,

Willensakte usw., tragen nicht den Charakter von dauernden Dingen oder konstanten Eigenschaften, sondern mehr oder weniger den Charakter von Vorgängen. Sollen diese bewußt-seelischen Vorgänge materiell sein, so werden sie also wohl materielle V o r g ä n g e darstellen. Die materiellen Vorgänge aber sind nach der von Physik und Chemie nahegelegten, allerdings keineswegs endgültig feststehenden, vom Materialismus aber meist vorausgesetzten „kinetischen Naturauffassung" durchweg Bewegungsvorgänge. A l s o m ü ß t e n d i e u n zweifelhaft

w i r k l i c h e n bewußt-seelischen Vorgänge wohl

Be v / e g u n g s v o r g ä n g e sein. I n der Tat pflegen die neueren Materialisten anzunehmen, daß die Gedanken, Gefühle usw. Bewegungs-

179

Das Baumaterial der Welt.

Vorgänge (Atomumlagerungen u. dgl.) sind, die sich an der Großhirnmaterie abspielen. Prüfen wir nun einen bewußt-seelischen Vorgang, z. B. ein Gefühl, daraufhin, ob er ein Bewegungsvorgang, und zwar nicht i m bildlichen Sinne, sondern i m Sinne der materiellen Bewegung istl Die unmittelbare, „innere" oder „Selbst-Wahrnehmung", die ein Gefühl, z. B. eine Freude, direkt, sozusagen leibhaftig, erfaßt, erfaßt dabei durchaus keine Bewegung, keine Ortsveränderung. Zum Wesen der Bewegung gehört, daß sie über eine gewisse Raumlinie, die Bewegungsbahn, hingeht, daß sie eine Strecke, eine Weglänge zurücklegt, in jedem Moment eine Richtung, z. B. nach links oder nach Süden, aufweist. Bei der unmittelbaren Wahrnehmung einer von uns erlebten Freude aber finden w i r keine Spur einer Bewegungsbahn, einer Raumlinie, über die dies Gefühl hineilte, keine Spur einer zurückgelegten Streckenlänge, keine Spur einer räumlichen Bewegungsrichtung. Zwar sprechen wir i m bildlichen Sinne vom Aufsteigen einer Freude; aber diese bewegt sich doch nicht i m wörtlichen Sinne um soundso viele Zentimeter oder Millimeter nach oben! Kurz, d e m , fühl,

was d i e u n m i t t e l b a r e W a h r n e h m u n g als G e -

z. B. als F r e u d e , e r f a ß t , f e h l e n w e s e n t l i c h e

male d e r

Merk-

B e w e g u n g , Merkmale, ohne die von materiellen Be-

wegungsvorgängen nicht die Rede sein kann. Von materialistischer Seite pflegt man auf einen solchen Einwand zu erwidern, die Bewegungen der Atome i m Großhirn, welche das Gefühl der Freude ausmachten, seien un wahrnehmbar; sie seien zu klein, um s i n n l i c h wahrgenommen werden zu können, und seien auch der i n n e r e n Wahrnehmung unzugänglich. So erkläre es sich sehr einfach, daß wir bei der Wahrnehmung der Freude weder Bewegung noch die angeführten wesentlichen Merkmale der Bewegimg finden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß, wenn Freude ein Bewegungsvorgang wäre, der unwahrnehmbar wäre, eben die Freude unwahrnehmbar sein müßte. Was wir aber als Freude erleben, ist n i c h t unwahrnehmbar. W a s w i r als F r e u d e w a h r n e h m e n , i s t also weder eine w a h r n e h m b a r e

n o c h eine

unwahrnehm-

h a r e B e w e g u n g ; es ist vielmehr ein Wirkliches von eigentümlicher 12*

Metaphysik.

180

Beschaffenheit, das von Bewegung sehr verschieden i s t Selbst wenn wir mit der Freude auch stets Bewegung wahrnähmen, so wäre doch Freude nicht Bewegung, sondern sie wäre trotzdem etwas von Bewegung Verschiedenes,

wenngleich

stets mit

Bewegung

Ver-

bundenes. Was wir über das Großhirn und seine Bedeutung wissen, läßt die Hypothese berechtigt erscheinen, daß sich in der Tat bei jeder Freude und überhaupt bei jedem Vorgang in unserem Bewußtsein ein mit i h m eng verbundener un wahrnehmbarer Atombewegungsvorgang in unserem Großhirn abspielt. Aber die Freude i s t nicht dieser Atombewegungsvorgang, sondern sie hängt nur auf irgendeine Weise mit i h m zusammen. Der Bewußtseinsvorgang der Freude, der nach dem Zeugnis der immittelbaren Wahrnehmung als etwas Wirkliches in der Welt vorkommt, ist also kein Bewegungsvorgang und somit wohl überhaupt kein materieller Vorgang. Also gibt es wirkliche Vorgänge, die nicht materiell sind; es g i b t n i c h t n u r m a t e r i e l l e , s o n d e r n a u c h i m m a t e r i e l l e R e a l i t ä t e n . D a m i t w ä r e der entschiedene M a t e r i a l i s m u s , d i e L e h r e , daß n u r M a t e r i e l l e s r e a l i s t , abgetan. Ganz streng ist diese Widerlegung des Materialismus noch nicht; denn eigentlich haben wir nur die plausibelste Form des strengen Materialismus widerlegt, nämlich die Lehre, daß alles Seelische materielle Bewegung sei. Es gibt aber noch andere Formen des Materialismus, und eine erhebliche

Rolle

spielen insbesondere

halb-materiali-

stische Lehren, die zwar nicht direkt leugnen, daß das Seelische etwas Wirkliches darstellt, welches von allem Materiellen verschieden ist, aber doch das Materielle sozusagen für die Grund- und Hauptrealität erklären und behaupten, das Seelische sei nur ein Nebenprodukt des Materiellen, etwas Unselbständliches und Wirkungsunfähiges, das unter bestimmten, seltenen Bedingungen an der Materie auftrete und von ihr als der eigentlichen und einzigen Substanz der Welt hervorgebracht und gleichsam getragen werde. W i r brauchen nicht alle möglichen Formen des strengen und des Halb-Materialismus besonders zu betrachten, da sich die prinzipielle Verkehrtheit a l l e r dieser Standpunkte durch einen nunmehr darzu-

Das Baumaterial der Welt

181

legenden Gedankengang zeigen läßt, der sich gegen einen ihnen allen gemeinsamen G r u n d f e h l e r richtet. Dieser liegt in der V e r n a c h l ä s s i g u n g

erkenntnistheoreti-

scher E r w ä g u n g e n u n d E r g e b n i s s e . Die Materialisten behaupten, die Wirklichkeit bestehe ganz oder doch in der Hauptsache aus Materie, aus körperlichen, d. h. räumlich ausgedehnten, raumerfüllenden Dingen. Dabei nehmen sie (meist als etwas Selbstverständliches) an, daß die sich uns in unseren Sinneswahrnehmungsbildern kundtuende Außenwelt-an-sich körperlich sei, aus räumlich-ausgedehnten Dingen bestehe. Die Erkenntnistheorie weist jedoch nach, daß wir dies nicht behaupten dürfen. Die Außenwelt e r s c h e i n t uns zwar m a t e r i e l l , in Gestalt von räumlich-ausgedehnten Dingen; aber wir dürfen durchaus nicht behaupten, daß sie an s i c h materiell ist, aus räumlichausgedehnten Dingen besteht. Zwar dürfen wir annehmen, daß den räumlichen Eigenschaften, welche die Außenweltsdinge in der Erscheinung, in den Sinneswahrnehmungsbildern, darbieten, gewisse Beschaffenheiten der Dinge-an-sich zugrunde liegen; wir können diese Beschaffenheiten auch als „außenweltsräumliche" bezeichnen und mit dem kritischen Realismus annehmen, daß von der Naturwissenschaft festgestellte räumliche Eigenschaften den außenweltsräumlichen Beschaffenheiten eindeutig entsprechen. I n ihrem Sosein, ihrem inneren Wesen, sind uns aber diese außenweltsräumlichen Beschaffenheiten, wie überhaupt die Anßenweltsobjekte-an-sich, unbekannt. W i r dürfen also nicht annehmen, daß die Außenwelt-an-sich räumlich-ausgedehnt und materiell sei in dem Sinne, in welchem wir räumliche Ausdehnung und Materielles aus den Erscheinungen, den sinnlichen Wahrnehmungsbildern, kennen. Von der Materie, von den Körpern, wie wir sie uns auf Grund der Sinneswahrnehmung vorstellen, und wie auch der Materialist sie sich vorstellt, kann die Außenwelt-an-sich, können die Dinge-an-sich himmelweit verschieden sein. Dies pflegen die Materialisten zu übersehen, wenn sie behaupten, daß die Gesamtwirklichkeit ganz oder in der Hauptsache aus körperlichen Dingen bestehe. N i c h t e i n m a l v o n d e r A u ß e n w e l t h i n t e r unseren

Sinneswahrnehmungsbildern

dürfen

wir

be-

haupten,

daß sie m a t e r i e l l sei, d a ß sie aus K ö r p e r n be-

Metaphysik.

182

stehe; w i r dürfen nur feststellen, daß sie uns in materieller Gestalt, in Gestalt von körperlichen Dingen, e r s c h e i n t . Wenn man will, kann man das An-sich-Seiende, das uns als Materie erscheint, als M a t e r i e - a n - s i c h

bezeichnen, und man kann die

Dinge-an-sich, die uns als Körper erscheinen, K ö r p e r - a n - s i c h nennen. Diese kurzen Bezeichnungen sind o f t nützlich. Nimmt man sie an, so kann man sagen, die Außenwelt-an-sich, die uns als materielle Welt, als Körperwelt, erscheint, bestehe aus Materie-an-sich, aus Körpern-an-sich;

man darf

nur nicht vergessen, daß diese

„Materie-an-sich" und diese „Körper-an-sich" von der Materie und den Körpern, wie wir sie uns vorstellen, himmelweit verschieden sein können. Daher ist es eine durchaus mögliche Auffassung, daß die Außenwelt-an-sich, die Materie-an-sich, die Körper-an-sich von s e e l i s c h e r Beschaffenheit sind. Indem w i r durch erkenntnistheoretische Erwägungen zu dem E r g e b n i s gekommen sind, daß n i c h t e i n m a l v o n der A u ß e n w e l t a n - s i c h , die unsere Sinneswahrnehmungen hervorruft, und die nach der Meinung der Materialisten die eigentliche Substanz oder doch das Hauptstück der Gesamtwirklichkeit darstellt, b e h a u p t e t w e r d e n d a r f , sie sei m a t e r i e l l , haben wir den m e t a p h y s i s c h e n M a t e r i a l i s m u s i n a l l e n F o r m e n ü b e r w u n d e n . Wenn wir nicht einmal behaupten dürfen, die Außenwelt-an-sich sei materiell, so dürfen wir gewiß nicht mit den Materialisten verschiedener Färbung behaupten, das Gesamtwirkliche sei restlos oder doch in der Hauptsache materiell.

Der Spiritualismus oder psychistische Monismus. Der Materialismus geht in seiner Ausdeutung des Gesamtwirklichen von der A u ß e n w e l t aus. So wie diese sich seiner naiv-realistischen oder

ungeläutert-physikalisch-realistischen 1

Auffassung

darstellt,

nämlich materiell, soll die Gesamt Wirklichkeit beschaffen sein. Dabei vernachlässigt der Materialismus das Ergebnis der Erkenntnistheorie, daß w i r die Beschaffenheit der Außenwelt außerhalb unseres Bewußtseins nicht kennen, daß w i r nur rein formale Erkenntnisse über sie 1

Siebe Erkenntnistheorie, S. 125 ff., \ 44 ff.

183

Das Baumaterial der Welt.

besitzen. Bedenkt man dies, so w i r d der Versuch, die Welt oder das Gesamtwirkliche von der Außenwelt aus zu deuten, von vornherein als ziemlich aussichtslos erscheinen : Wenn uns die Außenwelt selbst in ihrem eigentlichen Wesen unbekannt ist, werden wir von ihr aus schwerlich das Wesen der Welt oder des Gesamtwirklichen erkennen können. Aussichtsreicher würde der Versuch erscheinen, von irgendwelchen in ihrem Wesen b e k a n n t e n Weltbestandteilen aus das Wesen der Welt und zunächst ihres Baumaterials zu erkennen; vom Bekannten zum Unbekannten vorzudringen, von jenem aus dieses zu erschließen, ist der natürliche

Gang unseres Forschers und insbesondere des

empirisch-induktiven Verfahrens, das in letzter Instanz immer von dem durch reine Erfahrung, durch unmittelbare Wahrnehmung Bekannten ausgeht. Durch unmittelbare Wahrnehmung sind uns nun in der Tat e i n i g e Weltbestandteile nämlich

ihrem

„inneren

jene b e w u ß t - s e e l i s c h e n

oder Sosein wir

Weesen" n a c h Realitäten,

bekannt,

deren

Wesen

wahrnehmend unmittelbar erfassen können.

So

können wir z. B. das innere Wesen oder Sosein der Lust und des Begehrens unmittelbar wahrnehmen; darum kennen w i r Lust und Begehren ihrem Sosein nach, auch wenn wir dieses nicht recht zu analysieren und mit Worten wiederzugeben vermögen. S t a t t b e i m E r f o r s c h e n d e r W e l t u n d des

Gesamtwirk-

l i c h c n v o n d e r A u ß e n w e l t a u s z u g e h e n , w i e es d e r M a t e r i a l i s m u s t u t , w i r d es also r i c h t i g e r s e i n , v o m

Bewußt-See-

l i s c h e n auszugehen. Können w i r nun, wenn wir uns zunächst wieder der Frage nach dem B a u m a t e r i a l der W e l t zuwenden, vom Bewußt-Seelischen auf die Beschaffenheit des übrigen Baumaterials der Welt schließen? Einfach und naheliegend ist es, sich das Unbekannte nach Analogie des Bekannten vorzustellen, also anzunehmen, daß auch das übrige Baumaterial der Welt von gleicher oder verwandter Art sei wie das Bewußt-Seelische, d a ß also d i e ganze W e l t , e i n s c h l i e ß l i c h d e r A u ß e n w e l t - a n - s i c h , u n d w o h l a u c h das v o n s e e l i s c h e r B e s c h a f f e n h e i t sei.

Gesamtwirkliche

Metaphysik.

184

Die alte, o f t und i n verschiedener Ausprägung vertretene Hypothese, daß das Gesamtwirkliche von seelischer oder geistiger Beschaffenheit sei, bezeichnet man als S p i r i t u a l i s m u s oder (seltener und weniger treffend) als m e t a p h y s i s c h e n I d e a l i s m u s . Leider sind auch diese Bezeichnungen nicht eindeutig. Da der Spiritualismus nur eine Art von Welt-Baumateria) kennt, stellt er eine Form des Monismus,

einen

spiritualistischen

oder

psychistischen

M o n i s m u s dar. Die Bezeichnung „ p s y c h i s t i s c h e r

Monismus"

ist wohl am klarsten und eindeutigsten, jedenfalls aber treffender als der zuweilen i n gleichem Sinne gebrauchte Ausdruck

„idealisti-

scher M o n i s m u s " . Es fragt sich nun, ob die Hypothese berechtigt ist, daß das gesamte Baumaterial der Welt, ja, daß die Gesamtwirklichkeit von seelischer Art ist. Gewiß, das einzige Stückchen der Wirklichkeit, welches wir unmittelbar wahrnehmen und kennen, ist von seelischer A r t ; aber dürfen w i r darum von dem ganzen Baumaterial der Welt und Gesamtwirklichkeit das Gleiche behaupten? Es wäre doch denkbar, daß andere Weltbestandteile, daß die Außenweltsdinge-an-sich von ganz anderer Beschaffenheit sind als das Bewußt-Seelische 1 Der Spiritualist könnte zunächst zu seiner Verteidigung fragen, welche Beschaffenheit man denn sonst dem außerbewußten Baumaterial der Welt zusprechen wolle, wenn man es nicht als seelisch betrachten, nicht nach Analogie des Welt-Baumaterials deuten wolle, das in unserem Bewußtsein unmittelbar wahrnehmbar sei. Der Gegner des Spiritualismus kann erwidern, man brauche dem außerbewußten

Baumaterial der Welt überhaupt keine bestimmte

Beschaffenheit beizulegen; man könne und müsse vielmehr zugestehen, daß die Beschaffenheit oder das innere Wesen dieses Baumaterials unerkennbar sei. Der Umstand, daß das außerbewußte Baumaterial n i c h t b e w u ß t sei, spreche vielleicht dafür, daß es von wesentlich a n d e r e r Art sei als das b e w u ß t e Baumaterial, daß es also wohl von n i c h t - s e e l i s c h e r Art sei. Der Spiritualist wird Letzteres wohl nicht zugeben, sondern vielleicht darlegen, die „Außenwelt-an-sich" sei nur außerbewußt in bezug auf die Bewußtseine der Menschen und Tiere, könne dabei aber sehr wohl von seelischer und auch (ganz oder teilweise) von

Das Baumaterial der Welt.

185

bewußt-seelischer Beschaffenheit sein. Sei doch auch das tierische Bewußtsein außerbewußt i n bezug auf unser menschliches Bewußtsein und dabei eben doch etwas Bewußt-Seelisches! So sei es auch z. B. denkbar, daß jeder Ur-Baustein der Außenwelt, jedes Ur-Atom oder Elektron, eine kleine Seele oder ein kleines Bewußtsein darstelle, oder daß die ganze Außenwelt-an-sich ein ungeheuer komplizierter Bewußtseinsinhalt i m göttlichen Geiste sei. Übrigens sehe sich die Psychologie vielfach gedrängt, außerbewußtes Seelisches anzunehmen 1 ; da könne wohl auch die außerbewußte Außenwelt etwas Seelisches sein. Weiterhin wird sich der Spiritualist aber auch wohl bemühen, positive Gründe f ü r seine Hypothese anzuführen. Vielleicht wird er meinen, das Auftauchen der menschlichen und tierischen Bewußtseine i n der Welt, das Wachstum derselben, das Zusammensinken und Entschwinden der Bewußtseine beim Einschlafen

und das

Wiederauftauchen beim Erwachen seien eher zu verstehen, wenn die menschlichen und tierischen Bewußtseine einer ihnen gleichartigen, durchaus seelisch gearteten Welt angehörten, als wenn sie i n einer im übrigen nicht-seelischen Gesamtwirklichkeit als einsame Fremdlinge sich fänden. Allein dieses Argument hat wenig Gewicht. Gewiß spricht manches gegen die Ansicht, daß nur die menschlichen und tierischen Bewußtseine i n der i m übrigen nicht-seelischen Gesamtwirklichkeit existieren; aber wenn auch das Gesamtwirkliche von Ewigkeit zu Ewigkeit reich ist an Seelischem, aus welchem das tierische und menschliche Bewußtsein entspringen, und i n dem es wurzeln mag, so könnte doch die Welt außerdem noch viel nicht-seelisches Baumaterial enthalten. Das uns als Materie Erscheinende, die „Materiean-sich", könnte neben einem ewigen Seelischen als etwas NichtSeelisches existieren. Eine bessere Stütze f ü r den psychistischen Monismus stellt vielleicht die folgende Überlegung dar: Alles Wirkliche stimmt darin überein, daß es strenger Gesetzmäßigkeit untersteht, daß es dem Kausalprinzip entspricht, daß es in jedem Moment bestimmt ist 1

Wir Verden diese Annahme nnten (S. 235 ff.) begründen.

Metaphysik.

186 durch

den unmittelbar vorhergehendeil Zustand des Gesamtwirk-

lichen, daß es i n der Zeit ist. (Es wird allerdings manchmal geleugnet, daß dies auch von Gott gelte; doch wollen wir diese Streitfrage hier beiseite lassen.) Es ergibt sich also, d a ß a l l e s W i r k l i c h e (wenigstens so weit es der Welt angehört) eine h ö c h s t bemerkenswerte

Einheitlichkeit

oder

Übereinstimmung

f o r m a l e r H i n s i c h t a u f w e i s t ; sollte von dieser f o r m a l e n h e i t l i c h k e i t nicht auf eine gewisse m a t e r i a l e

in

Ein-

Einheitlichkeit

geschlossen werden dürfen, also geschlossen werden dürfen, daß alles W i r k l i c h e wie das von uns unmittelbar Wahrnehmbare bewußte Wirkliche aus s e e l i s c h e m B a u m a t e r i a l b e s t e h t ? A l l e s W i r k l i c h e (wenigstens alles der Welt angehörige Wirkliche) z e i g t in

s e i n e m V e r h a l t e n insofern eine bedeutsame Ü b e r e i n s t i m -

m u n g , als es sich'gesetzmäßig und dem Kausalprinzip entsprechend verhält; s o l l t e diese Ü b e r e i n s t i m m u n g i m V e r h a l t e n

nicht

a u f e i n e r Ü b e r e i n s t i m m u n g i m W e s e n alles W i r k l i c h e n ber u h e n ? Der Schluß von der Übereinstimmung i m Verhalten auf Übereinstimmung i m Wesen bewährt sich j a tausendfach, z. B. beim Erschließen

des individuellen

geistigen Wesens (des Charakters,

Temperaments usw.) eines Menschen aus seinem Verhalten. Wenn aber,

jener

bedeutsamen

Übereinstimmung i m

Verhalten

ent-

sprechend, alles Wirkliche i n bezug auf sein Wesen in bedeutsamer Weise übereinstimmt, dann wird dies Wesen wohl von seelischer Art

sein, da das Wirklichkeitsstückchen, dessen Wesen wir un-

mittelbar wahrnehmen und kennen, nämlich unser Bewußtsein, von seelischer Art ist. Selbstverständlich ist auch diese Begründung des psychistischen Monismus n i c h t z w i n g e n d ; doch scheint sie m i r immerhin diese Hypothese ü b e r d e n R a n g e i n e r b l o ß e n , b e d e u t u n g s l o s e n V e r m u t u n g hinauszuheben. Wenn man die psychistisch-monistische Hypothese als eine Erkenntnis einschätzt, so muß man, wie wir früher schon darlegten, an unserem erkenntnistheoretischen E r g e b n i s ,

d a ß das i n n e r e

W e s e n d e r A u ß e n w e l t - a n - s i c h u n e r k e n n b a r sei, eine k l e i n e K o r r e k t u r v o r n e h m e n 1 . Richtig bleibt die erkenntnistheoretische 1

Siehe S. 151 f.

Das Baumaterial der W e l .

187

Feststellung, daß man aus den sinnlichen Wahrnehrnungsbildern das innere

Wesen der sie verursachenden

Außenweltsobjekte-an-sich

nicht erschließen kann. Zu der allerdings sehr hypothetischen und vagen Erkenntnis des inneren Wesens der Außenwelt-an-sich sind wir gelangt, indem wir einen neuen Weg, ein neues S ch l u fiver f a h r en benutzten, das demjenigen entspricht, durch welches wir Fremdseelisches in Mitmenschen erkennen können. Fremdseelisches in Mitmenschen kann man erschließen, indem man aus der Übereinstimmung i m Verhalten auf Übereinstimmung i m inneren Wesen schließt. Auf entsprechendem Wege haben w i r nun versucht, das innere Wesen der Außenwelt zu erschließen ; kein Wunder, daß sich dann ergibt, daß auch dieses von seelischer x\rt sei.

Der Dualismus. Der psychistische Dualismus. Ist nun damit der Dualismus, die Lehre, daß es zwei Arten von Welt-Baumaterial gebe, abgetan? Um diese Frage nicht auf Grund einseitiger Prüfung zu beantworten, müssen wir nunmehr zusehen, wie es um die Begründung des Dualismus steht. Wenn man erkenntnistheoretische Erwägungen und Ergebnisse unbeachtet läßt, erscheint die Rechtfertigung des Dualismus zunächst leicht. W i r finden auf der einen Seite seelisches Baumaterial der Welt: unsere Gedanken, Gefühle Willensakte usw., und auf der anderen Seite körperliches Baumaterial: Eisen, Wasser, L u f t usw.; und wenn wir nun das seelische m i t dem körperlichen Material vergleichen, dann zeigen sie sich ganz wesentlich verschieden: körperliche relativ

Baumaterial zeigt räumliche Ausdehnung,

Das

erscheint

beständig, ist sinnlich wahrnehmbar; das seelische Bau-

material zeigt keine räumliche Ausdehnung, erscheint unbeständig, ist nicht sinnlich wahrnehmbar. Also gäbe es zwei verschiedene Arten von Welt-Baumaterial. Freilich erheben sich hier schon Bedenken. Zeigen nicht auch z. B. Gesichts- und Schmerzempfindungen, also seelische Realitäten, räumliche Ausdehnung? Ist nicht die Seele selbst beständiger als viele Körper?

Sind nicht auch Atome, also körperliche Objekte,

sinnlich nicht wahrnehmbar?

Metaphysik.

188

Die Schwierigkeiten der Begründung des Dualismus werden aber sofort sehr viel größer, wenn man die erkenntnistheoretischen Erwägungen berücksichtigt, die zeigen, daß die Körperwelt an sich ganz anders beschaffen sein kann, als sie uns erscheint, daß ihr inneres Wesen sehr wohl von seelischer Art sein könnte. Kann man nun die Verschiedenheit des Seelischen und der Materiean-sich doch dartun, auch wenn man das innere Wesen der letzteren als unerkennbar oder als seelisch ansieht? Man könnte es zunächst mit folgendem Schluß versuchen: Das Seelische ist unmittelbar wahrnehmbar; die Materie-an-sich ist nicht unmittelbar wahrnehmbar; also sind Seelisches und Materie-an-sich wesentlich verschieden. Indessen beide Vordersätze dieses Schlusses sind unsicher. Das unbewußte Seelische, das von vielen Psychologen und Philosophen als ein Bestandteil oder Inhalt unserer Seele angenommen wird, ist f ü r uns nicht unmittelbar wahrnehmbar und vielleicht überhaupt nicht unmittelbar wahrnehmbar. Und die Materie-an-sich ist zwar für

uns Menschen nicht unmittelbar wahrnehmbar; vielleicht ist

sie aber f ü r

Gott oder auch f ü r sich selbst unmittelbar

wahr-

nehmbar; möglicherweise nimmt jedes Ur-Teilchen der Materie-ansich sich selbst unmittelbar wahr, wie jedes menschliche Bewußtsein sich selbst unmittelbar wahrnimmt. W i r können also nicht zwischen dem Seelischen und der Materic-an-sich unterscheiden, indem wir schlechthin jenes als das Unmittelbar-Wahrnehmbare, diese als das Nicht-Unmittelbar-Wahrnehmbare und darum wesentlich anders Geartete charakterisieren. Nahe liegt es, einen Unterschied zwischen Seelischem und Materiean-sich darin zu erblicken, daß diese in uns durch Einwirkung auf unsere Sinnesorgane

(genauer: auf die ihnen zugrunde liegenden

Gegenstände-an-sich)

Sinnes Wahrnehmungen hervorruft,

während

das Seelische dies nicht tut. Liegt hier nicht eine Verschiedenheit i m Verhalten, in der Wirkungsfähigkeit vor, die auf eine Verschiedenheit i m Wesen von Seelischem und Materie-an-sich schließen läßt? Auch diese Begründung des Dualismus ist nicht einwandfrei, weil es auch Materielles-an-sich gibt, das keine Sinneswahrnehmungen hervorzurufen imstande ist; man denke an ein einzelnes Atom, ge-

189

Das Baumaterial der Welt.

nauer an das i h m entsprechende Ding-an-sich, das „ Atom-an-sich" ! Könnten nicht die unsichtbaren Uratome, genauer die Uratome-ansich, Seelen darstellen, ähnlich den unsichtbaren Menschenseelen? Und könnten nicht umgekehrt alle Seelen, auch die Menschenseelen, Uratome-an-sich darstellen? Man bezeichnet Atome, die Seelen darstellen, als M o n a d e n , und die Auffassung,

daß die ganze Welt aus seelischen Atomen, aus

Monaden bestehe, kann als M o n a d e n l e h r e oder m o n a d o l o g i s c h e r Spiritualismus

bezeichnet

werden.

Dieser repräsentiert

einen

M o n i s m u s , sofern er nur e i n e Art von Welt-Baumaterial kennt; doch kann man ihn auch als einen (psychistischen oder spiritualistischen) P l u r a l i s m u s bezeichnen, sofern er eine ungeheure V i e l h e i t von Welt-Bausteinen annimmt. Die Leibnizsche Lehre, daß jedes Uratom-an-sich eine Seele darstelle, klingt zwar phantastisch, erscheint jedoch durchaus möglich, ja naheliegend, wenn man sich überhaupt auf den spiritualistischen Standpunkt stellt. Die weitere Annahme aber, daß auch die Menschenseele ein Uratom-an-sich darstelle, gleich oder ähnlich den anderen Uratomen, stößt auf eine große Schwierigkeit. Jedes Atom hat stets einen bestimmten Platz, einen (fast) punktuellen „Sitz 4 4 i m Raum des Naturforschers; die Menschenseele aber hat keinen solchen (fast) punktuellen Sitz. Vergebens hat man einen punktuellen Seelensitz i m Gehirn gesucht. Unsere Seele steht offenbar nicht nur mit einem Punkte, sondern vielmehr mit weit ausgedehnten Partien der Großhirnrinde in engstem Zusammenhang. In

bezug a u f i h r V e r h ä l t n i s z u m R ä u m e

unterscheidet

s i c h also d i e Menschenseele o f f e n b a r v o n den U r a t o m e n a n - s i c h , aus denen die Materie-an-sich besteht. Aus diesem verschiedenen Verhältnis zum Räume (und dementsprechend auch zum Raume-an-sich) läßt sich doch wohl eine gewisse Verschiedenheit irn Wesen erschließen. Unsere Seele ist also etwas wesentlich anderes als ein Uratom-an-sich von der Art, wie sie die Materie-an-sich zusammensetzen. Dies geht auch daraus hervor, d a ß e i n K ö r p e r , d e r e i n e M e n schenseele b e h e r b e r g t , e i n v ö l l i g anderes V e r h a l t e n z e i g t als e i n K ö r p e r , d e r n u r U r a t o m e - a n - s i c h e i n s c h l i e ß t , die

Metaphysik.

190

seine Materie-an-sich aufbauen. Der beseelte Menschenleib spricht, lacht, f ü h r t Handlungen aus usw., und diese Betätigungen hängen i n ihrer Eigenart aufs engste m i t unserem Seelenleben zusammen; beim toten Leib, j a schon beim tief schlafenden, beim Fehlen des Bewußt-Seelischen, fallen jene Verhaltungsweisen fort. Jene eigenartigen Verhaltungsweisen, welche die Anwesenheit einer (bewußten) Menschenseele anzeigen und fehlen, wo jene fehlt und nur Materiean-sich, nur deren Uratome-an-sich i m Spiele sind, sprechen doch eindringlich dafür, d a ß e i n e Menschenseele etwas w e s e n t l i c h anderes i s t als e i n solches U r a t o m - a n - s i c h . Übrigens

hat auch z. B. Leibniz, der klassische Vertreter des

monadologischen

Spiritualismus,

angenommen, daß die Monaden

oder seelischen Atome-an-sich, welche die Materie-an-sich bilden, viel primitivere Seelen sind als die Menschen- und auch die Tierseelen. Es gäbe demnach z w e i A r t e n v o n Seelen, d i e j e n i g e n , w e l c h e i d e n t i s c h s i n d m i t den U r a t o m e n - a n - s i c h , den B a u s t e i n e n d e r M a t e r i e - a n - s i c h , u n d d i e M e n s c h e n - u n d Tierseelen. W i r hätten damit auch z w e i A r t e n v o n W e l t b a u s t e i n e n ,

könnteu

demnach von einem Dualismus sprechen, und zwar von einem p s y c h is t i s c h e n

Dualismus,

weil ja

beide Arten

von Welt-

bausteinen darin übereinstimmen würden, daß sie seelischen Wesens sind.

Dieser p s y c h i s t i s c h e

Dualismus

stände offenbar

zum

p s y c h i s t i s c h e n M o n i s m u s nicht in Gegensatz, sondern wäre eine besondere Form oder Ausgestaltung desselben. Leibniz nimmt übrigens mehr als zwei Arten von Seelen an ; doch brauchen wir darauf hier nicht einzugehen.

Der psychistische Monismus im strengeren Sinne oder die psychistische Identitätshypothese. Hingegen müssen w i r noch eine a n d e r e F o r m des p s y c h i s t i schen M o n i s m u s ins Auge fassen, die anerkennt, daß eine Menschenseele etwas ganz anderes ist als ein Uratom der Materie-an-sich, und damit doch k e i n e n d u a l i s t i s c h e n C h a r a k t e r annimmt. Gewiß ist, so mögen die Vertreter dieser i m s t r e n g e r e n S i n n e m o n i s t i s c h e n Auffassung etwa sagen, unsere Seele nicht mit einem Uratom der Materie-an-sich identisch, da sie keinen fast punktuellen

Das Baumaterial der Welt.

191

Sitz i m Großhirn hat, wie ein Atom; sie Scheint vielmehr gleichzeitig an den verschiedensten Stellen i m Großhirn: i m Hinterhauptteil, i m Schlaf enteil usw., gegenwärtig zu sein. Daraus folgt aber keineswegs, daß unsere Seele der Materie-an-sich nicht angehört, sondern einen anders als diese gearteten Weltbaustein darstellt. Wenn dasjenige Ding-an-sich, das uns als Großhirn erscheint, und das w i r kurz Großhirn-an-sich nennen wollen, etwas Seelisches ist, und wenn ferner unsere Seele in dem Raumteil zu sein scheint, welchen unser Großhirn einnimmt, dann liegt doch die Annahme ganz nahe, daß unsere Seele identisch ist mit dem Seelischen, welches das Ding-ansich unseres Großhirns ist. Kurz, unsere Seele w i r d das G r o ß h i r n - a n - s i c h d a r s t e l l e n . D i e ganze W e l t b e s t e h t aus M a t e r i e an-sich;

diese

aber

Materie-an-sich,

ist seelischen

nämlich

die

Wesens.

Teile

Großhirne-an-sich,

dieser sind

unsere Seelen. Nun erklärt sich leicht der geheimnisvolle gesetzmäßige Z u s a m m e n h a n g v o n Seele u n d G r o ß h i r n . Die Erfahrung scheint zu zeigen, daß m i t jedem Vorgang in unserer Seele ein Vorgang in unserem Großhirn gesetzmäßig verknüpft ist. Das ist sehr erklärlich, wenn unsere Seele das Ding-an-sich ist, welches uns als Großhirn erscheint. Ein Vorgang in unserer Seele, dem Großhirn-an-sich, w i r d dann auch am Großhirn, wie es sich i n der Erscheinung darstellt (oder darstellen würde, wenn wir die in i h m sich abspielenden Prozesse nicht nur erschließen, sondern sehen könnten), sich kundtun. D e r enge Z u s a m m e n h a n g , das g e s e t z m ä ß i g e E i n a n d e r - E n t sprechen von Seelenvorgängen u n d G r o ß h i r n v o r g ä n g e n ist e i n f a c h das E i n a n d e r - E n t s p r e c h e n v o n V o r g ä n g e n a m D i n g a n - s i c h u n d V o r g ä n g e n an d e r E r s c h e i n u n g , i n der s i c h uns dieses D i n g - a n - s i c h o f f e n b a r t . So scheint das viel umstrittene Problem des Zusammenhanges von Leib und Seele auf eine höchst einfache und einleuchtende Weise gelöst. W i r bezeichnen die soeben dargelegte Hypothese als p s y c h is t i schen M o n i s m u s i m s t r e n g e r e n S i n n e oder als p s y c h i s t i s c h e Identitätshypothese;

letztere Bezeichnung deutet an, daß die

Materie-an-sich m i t Seelischem und das Großhirn-an-sich speziell mit unserer Seele i d e n t i s c h sein soll. Diese Leib-Seele-Hypothese

Metaphysik.

192

ist von vielen bedeutenden Philosophen und Psychologen,

von

Fechner, F. A. Lange, Paulsen, Höffding, Ebbinghaus, Heymans, Strong, Eisler u. sl vertreten worden. Der Anklang, den die psychistische Identitätshypothese gefunden hat, ist durchaus verständlich. Scheint sie doch den Forderungen der Naturforscher und dem Bedürfnis nach religiöser Weltauffassung zugleich gerecht werden zu können. Dem Naturforscher, der da meint, daß i n das Geschehen i m Großhirn nirgendwo Seelisches eingeschaltet sei oder hineinwirke, daß dort vielmehr wie überall in der Natur

„geschlossene

Naturkausalität"

herrsche, d. h.

nur

körperliche Ursachen i m Spiele seien und nur körperliche Wirkungen hervorgebracht würden, sagt die psychistische Identitätshypothese, daß er von seinem Standpunkte aus ganz recht habe. Der Naturforscher betrachtet nämlich die Welt vom Standpunkte der Sinneswahrnehmung, der sinnlichen Beobachtung aus ; und in der Sinneswahrnehmung stellen sich alle Objekte-an-sich, die als solche seelischen Wesens sind, als körperliche Erscheinungen dar. Kein Wunder, daß der Naturforscher nichts als Körperliches i n der Welt und auch i n unserem Großhirn-Geschehen

findet,

und daß er leicht zum

Materialisten wird ! Dem Naturforscher muß sich alles materiell darstellen, weil er alles sinnlich wahrnehmend und in der Weise der Sinneswahrnehmung erfaßt; es ist eben nun einmal die Weise der Sinneswahrnehmung, alles materiell darzustellen. Als naturwissenschaftliche Betrachtungsweise ist also der Materialismus nach der psychistischen Identitätshypothese berechtigt, als Metaphysik hingegen grundfalsch, da alles Wirkliche an sich nicht materiellen, sondern seelischen Wesens ist. Die Welt ist also ein großer, einheitlicher seelischer Zusammenhang, in den unsere Seelen eingefügt sind. Nahe liegt es nun, diese Lehre i n r e l i g i ö s e m S i n n e auszugestalten, wie es vor allen Fechner phantasie- und gemütvoll getan hat. Man könnte das Weltganze m i t der Gottheit identifizieren, i n der w i r leben, weben und sind, könnte aber auch, um den P a n t h e i s m u s zu vermeiden, annehmen, daß nur der wertvollste Bestandteil der seelischen Gesamtwirklichkeit den göttlichen Geist darstelle, wie andere, weniger wertvolle und doch schon hervorragende Bestandteile menschliche Seelen darstellen.

Das Baumaterial der Welt.

193

Kritik der psychistischen Identitätshypothese. Rückkehr zum Dualismus. So anziehend nun auch die psychistische Identitätshypothese, etwa in der Fechnerschen Ausgestaltung, erscheinen mag, wir dürfen nicht darauf verzichten, sie kritisch zu prüfen. F r a g e n w i r a l s o , o b das K e r n s t ü c k

der H y p o t h e s e , d i e A n n a h m e , daß unsere

Seele das G r o ß h i r n - a n - s i c h sei, h a l t b a r ist. Leider gehen die Ansichten der Psychologen darüber, was unsere Seele ist, auseinander. Manche meinen, unser B e w u ß t s e i n

mit

allen seinen Inhalten: Wahrnehmungsbildern, Gedanken, Gefühlen, Wünschen usw., sei unsere Seele; wir werden hingegen unten darzulegen haben, d a ß u n s e r B e w u ß t s e i n n u r e i n T e i l u n s e r e r Seele i s t . Wäre unser (Gesamt-) Bewußtsein unsere Seele, unsere Seele aber unser Großhirn-an-sich, dann müßte mit unserem Bewußtsein auch unser Großhirn-an-sich und m i t diesem selbstverständlich auch die Erscheinung des Großhirns fortfallen. Davon kann aber nicht die Rede sein. Wenn z. B. bei einer Hirnoperation der narkotisierte Kranke ohne Bewußtsein ist, dann iindet der Chirurg doch das Großhirn i m eröffneten Schädel. Also ist unser Bewußtsein nicht unser Großhirn-an-sich, und wenn unsere Seele nichts anderes wäre als unser Bewußtsein, dann wäre also auch unsere Seele nicht unser Großhirn-an-sich. Damit ist die Annahme, daß unsere Seele das Großhirn-an-sich sei, freilich noch nicht widerlegt, da unseres Erachtens unser Bewußtsein nur ein Teil unserer Seele ist. Wenn nun unser Bewußtsein und damit ein Teil unserer Seele verschwindet, dann müßte wohl auch ein Teil unseres Großhirns verschwinden, falls unsere Seele unser Großhirn-an-sich wäre. Davon ist jedoch bei eröffnetem Schädel nie etwas zu sehen. W i r werden auch schwerlich beim Schwinden des Bewußtseins, also etwa beim Einschlafen, leichter, wie es doch wohl der Fall sein müßte, wenn mit unserem Bewußtsein ein Teil unseres Großhirns dahinschwände. Demnach wäre unser Bewußtsein nicht ein Teil unseres Großhirns-an-sich und unsere Seele nicht unser Großhirn-an-sich. B e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

13

194

Metaphysik.

Gegen diese Argumentation ließe sich einwenden, das Verschwinden unseres Bewußtseins sei kein Aus-der-Welt-Verschwinden eines Seelenteiles, sondern nur eine Veränderung, nämlich ein Unbewußtwerden, des vorher bewußten Teiles der Seele. So verschwinde ja auch der einzelne Bestandteil unseres Bewußtseins (z. B. die Wahrnehmung eines Brandes) nicht aus der Welt, wenn er aus dem Bewußtsein verschwinde; er existiere vielmehr i m Unbewußten als Gedächtnisbesitz fort. Wenn aber Verschwinden des Bewußtseins nicht Vernichtung, sondern nur Veränderung eines Teiles der Seele oder des Großhirns-an-sich bedeute, so dürften wir auch nicht erwarten, daß beim Verschwinden des Bewußtseins ein Teil des Großhirns fortfalle; vielmehr werde die Veränderung eines Teiles der Seele sich dem Naturforscher als eine Veränderung eines Teiles des Großhirns darstellen. Nun ist i n der Tat kein Zweifel, daß beim Fortfallen des Bewußtseins eine Veränderung am Großhirn stattfindet; und zwar dürften dabei gewisse Großhirn Vorgänge, die das Bewußtseinsgeschehen gesetzmäßig zu begleiten scheinen, fortfallen oder wenigstens schwächer werden. Der Anhänger der psychistischen Identitätstheorie wird also erklären, seine Auffassung bewähre sich hier durchaus. U m nun die Annahme, unser Bewußsein sei ein Teil des Großhirnsan-sich, genauer zu prüfen, betrachten w i r einen einfachen Bestandteil des Bewußtseins, z. B. eine einfache (reine, obertonfreie) Tonempfindung. I h r ist ein in der Schläfengegend liegender Teil des Großhirns derart zugeordnet, daß die Tonempfindung beginnt bzw. endet, wenn i n diesem Großhirn teil ein gewisser „nervöser Prozeß", d. h. ein hochkomplizierter Bewegungsvorgang an Millionen von Atomen und Elektronen, beginnt bzw. endet. Unsere einfache Tonempfindung bildet als Bestandteil des Bewußtseins einen Teil unserer Seele, und wenn diese unser Großhirn-an-sich ist, einen Teil desselben. Es scheint geboten, die Tonempfindung mit jenem Teile des Großhirns-an-sich zu identifizieren, an dem sich der unserer Tonempfinduing unmittelbar zugeordnete „nervöse" Vorgang, genauer der diesem zugrunde liegende an-sich-seiende Vorgang abspielt; denn dies ist. der Teil des Großhirns-an-sich, der eine Änderung erleidet, nämlich den bezeichneten an-sich-seienden Vorgang verliert, wenn

195

Das Baumaterial der Welt.

unsere Tonempfindung eine Änderung erleidet, nämlich sich aus einem Bewußtseinsinhalt in einen unbewußten Gedächtnisinhalt verwandelt. Der Teil des Großhirns nun, der unmittelbar der Tonempfindung zugeordnet ist, und dessen An-sich also mit der Tonempfindung identisch sein soll, besteht nach wohlbegründeter naturwissenschaftlicher Auffassung aus Millionen von Atomen und Elektronen. Jedes Atom und jedes Elektron aber ist ein besonderes, selbständiges Ding, das seinen eigenen Platz i n der Welt einnimmt, seine besonderen Bewegungen ausführt usw. Daran kann man schwerlich zweifeln, da man die Bewegungsbahnen von einzelnen Helium-)

(elektrisch

geladenen

Atomen und Elektronen sichtbar machen und photo-

graphieren kann. Jedem Atom und Elektron muß also ein besonderes Ding-an-sich entsprechen, so gut wie jeder Sonne des Weltalls oder jedem Sandkorn eines Sandhaufens.

Also muß auch jener Teil

unseres Großhirns-an-sich, der mit unserer Tonempfindung identisch sein soll, aus Millionen von selbständigen Dingen-an-sich (Atomenan-sich, Elektronen-an-sich) bestehen. Diese müssen sehr dauerhaft sein, viel dauerhafter als unsere Empfindungen, da die Großhirnatome und -elektronen sehr dauerhaft sind. Unsere Tonempfindung wäre demnach nicht einfach, sondern in höchst komplizierter Weise aus sehr dauerhaften Atomen-an-sich und Elektronen-an-sich aufgebaut, von denen jedes wiederum ein seelisches Etwas wäre. Da die Atome zuletzt aus sehr dauerhaften negativen Elektronen und positiven Elektrizitätsteilchen aufgebaut zu sein scheinen, wäre unsere „einfache 44

Tonempfindung

und wohl ebenso jeder Bewußtseins-

bestandteil und damit unser ganzes Bewußtsein aus zwei Sorten von sehr dauerhaften Dingen-an-sich, den negativen und positiven Elektrizitäts-Ur-Teilchen-an-sich,

in höchst komplizierter Weise auf-

gebaut. W i r kommen so zu einer Ansicht von der Struktur des Bewußtseins und der Bewußtseinsinhalte, z. B. der einfachen Empfindungen, die keinerlei Stütze i n der Selbstwahrnehmung findet. I n der Selbstwahrnehmung, also bei unmittelbarer Erfassung, stellt sich unsere Tonempfindung als ein ganz einfacher, sehr vergänglicher Inhalt dar, nicht aber als ein Schwärm von Millionen von sehr dauerhaften 13*

Metaphysik.

196

Dingen-an-sich, die (wie positive und negative Elektrizitäts-Ur-Teilchen) zwei zueinander gegensätzlichen Sorten angehören. Und auch unser Gesamtbewußtsein stellt keinen Schwärm von zahllosen, zwei Sorten angehörigen, gegeneinander selbständigen, sehr dauerhaften Ur-Teilchen oder psychischen Ur-Atomen dar. Sollen w i r

nun der psychistischen

Identitätshypothese zuliebe

jene abenteuerliche Ansicht von unserem Bewußtsein, jene Bewußtseins-Atomistik

annehmen und die Selbstwahrnehmung, die doch

unser Bewußtsein unmittelbar erfaßt, dabei jedoch nichts von jener Atomistik findet, f ü r unzulänglich und irreführend erklären? W i r meinen demgegenüber: was von der Selbstwahrnehmung nicht in unserem Bewußtsein zu finden ist, dessen sind wir uns nicht bewußt, das gehört nicht zu unserem Bewußtsein. Also gehören auch jene Millionen-Schwärme von dauerhaften Dingen-an-sich nicht zu unserem Bewußtsein.

Mithin

ist

unser

Bewußtsein

nicht

mit

i r g e n d e i n e m T e i l e unseres G r o ß h i r n s - a n - s i c h i d e n t i s c h , der aus M i l l i o n e n o d e r

Milliarden

von D i n g e n - a n - s i c h

(Ur-

a t o m e n - a n - s i c h ) besteht. Vielleicht wird sich nun der Anhänger der psychistischen Identic tätshypothese mit dem Gegeneinwand verteidigen, unser B e w u ß t sein sei n i c h t e i g e n t l i c h e i n S t ü c k u n s e r e r Seele und somit auch nach der psychistischen Identitätshypothese n i c h t m i t e i n e m S t ü c k unseres G r o ß h i r n s - a n - s i c h

zu i d e n t i f i z i e r e n ;

unser

Bewußtsein sei v i e l m e h r e i n Geschehen an der Seele u n d s o m i t an u n s e r e m G r o ß h i r n - a n - s i c h .

Wenn aber unser Bewußtsein

kein Stück des aus Uratomen-an-sich bestehenden Großhirns-an-sich sei, sondern ein Geschehen an diesem, dann brauche die psychistische Identitätshypothese die bemängelte Bewußtseins-Atomistik nicht anzunehmen; auch verstehe sich dann von selbst, daß mit dem Fortfallen des Bewußtseins nicht ein Stück des Großhirns, sondern nur ein Geschehen an i h m fortfalle. W i r wollen hier nicht untersuchen, ob unser Bewußtsein nicht doch ein „Stück" der Seele darstellt, sondern nur prüfen, ob es als ein Geschehen am Großhirn-an-sich aufgefaßt werden kann. Speziell wollen wir die Prüfung wieder an einem einfachen Bewußtseinsbestandteil, an unserer Tonempfindung, vornehmen. Diese wäre als

Das Baumaterial der Welt.

197

identisch zu betrachten mit dem Großhirnvorgang-an-sich, welcher dem nervösen Großhirnvorgang i m Schläfenhirn zugrunde liegt, der jener Tonempfindung unmittelbar gesetzmäßig zugeordnet erscheint. Dieser unmittelbar zugeordnete Großhirnvorgang, das „ p h y s i o l o gische

Korrelat"

begründeter

unserer Empfindung, spielt sich nach wohl-

naturwissenschaftlicher

Auffassung

an

einer

oder

mehreren Großhirnzellen, jedenfalls an Millionen von Atomen und Elektronen des Großhirns

als ein hochkompliziertes Bewegungs-

geschehen ab. Dasselbe besteht aus Millionen von Teilvorgängen, von Bewegungen einzelner Atome und Elektronen. Jedem dieser Teilvorgänge muß, wrie jedem Atom und Elektron, ein Teilvorgang-ansich

zugrunde

liegen. Der

Großhirnvorgang-an-sich,

der

dem

„physiologischen Korrelat" der Tonempfindung zugrunde liegt und mit dieser identisch sein soll, wird also aus Millionen von besonderen Teilvorgängen bestehen. W i r müßten demnach die fatale Annahme machen, daß eine Tonempfindung, die w i r in unmittelbarer Wahrnehmung als etwas Einfaches, Elementares erfassen, aus Millionen von Teilvorgängen besteht. W i r müßten in diesem Bewußtseinsbestandteil, also innerhalb des Bewußtseins, wieder Millionen von Teilvorgängen annehmen, die durch Selbstwahrnehmung schlechterdings nicht zu finden sind. Zum Bewußtsein gehören aber nur die Vorgänge, die bewußt, d. h. durch Selbstwahrnehmung erfaßbar sind. Mithin ist die Annahme, unsere Empfindung und unser ganzes Bewußtsein sei ein Geschehen an Millionen von Uratomen-an-sich des Großhirns-an-sich, abzulehnen. Eine andere Überlegung führt zu demselben Ergebnis. Der einer Tonempfindung

unmittelbar zugeordnete Großhirnvorgang besteht

darin, daß Millionen von sehr dauerhaften Atomen und Elektronen sich relativ zueinander bewegen, also ihre Beziehungen zueinander ändern. DaiS An-sich-Seiende zu diesem Großhirnvorgang (das m i t unserer Tonempfindung identisch sein soll)

w i r d also doch wohl

darin bestehen, daß Millionen von sehr dauerhaften Dingen-an-sich irgendwelche Beziehungen ändern, i n denen sie zueinander stehen. Die Tonempfindung jedoch, die wir in der Selbstwahrnehmung unmittelbar erfassen, ist ein einfaches, vergängliches, qualitatives Etwas, nicht aber eine Änderung irgendwelcher Beziehungen zwischen un-

Metaphysik.

198

gezählten, sehr dauerhaften Dingen-an-sich. Also ist unsere bewußte Tonempfindung m i t jenem Großhirnvorgang-an-sich nicht identisch. Wenn aber einzelne Bewußtseinsvorgänge, z. B. die einfachen Empfindungen, nicht mit Großhirnvorgängen-an-sich identisch sind, dann kann auch nicht das gesamte Bewußtsein mit Großhirngeschehenan-sich identisch sein. U n s e r B e w u ß t s e i n i s t also w o h l weder m i t e i n e m S t ü c k des G r o ß h i r n s - a n - s i c h n o c h m i t e i n e m Geschehen a m G r o ß h i r n - a n - s i c h i d e n t i s c h . Da unser Bewußtsein zu unserer Seele gehört, i s t also a u c h n i c h t unsere ganze Seele m i t d e m G r o ß hirn-an-sich

oder

e i n e m T e i l e desselben o d e r einem Ge-

schehen an i h m i d e n t i s c h . Damit wäre d i e p s y c h i s t i s c h e I d e n t i t ä t s h y p o t h e s e oder der psychistische M o n i s m u s i m engeren Sinne abgelehnt. Oben ergab sich uns, daß unser Bewußtsein nicht das Ding-ansich eines Großhirnatoms ist. Es ist auch nicht das Ding-an-sich des ganzen Großhirns oder eines Teiles desselben, der aus Millionen von Atomen besteht. Es ist ferner nicht das An-sich der Großhirnvorgänge, die das „physiologische Korrelat" des Bewußtseins bilden. Damit sind aber die in Betracht kommenden Möglichkeiten, das Bewußtsein als das An-sich-Seiende zu etwas Materiellem aufzufassen, erschöpft. W i r h a b e n also a n z u n e h m e n , d a ß unser B e w u ß t s e i n , u n s e r B e w u ß t - S e e l i s c h e s , n i c h t das A n - s i c h zu etwas Materiellem,

s o n d e r n ein besonderes, e i g e n a r t i g e s W e l t -

B a u m a t e r i a l ist. U m so mehr ist diese Annahme berechtigt, als dort, wo Bewußtsein mit materiellen Gebilden verbunden erscheint, ganz eigenartige Verhaltungsweisen derselben, wie z. B. das Sprechen, auftreten. W i r hätten also zweierlei Welt-Baumaterial anzuerkennen:

Be-

wußt-Seelisches, wie es in uns und auch in Tieren existiert, und Materie-an-sich; wir hätten einstweilen einen D u a l i s m u s v o n Bewußt-Seelischem

und Materie-an-sich

anzunehmen. Unsere

Vermutung, daß auch die Materie-an-sich seelischen Wesens sei, hebt diesen Dualismus nicht auf; unser Bewußt-Seelisches und die Materie-an-sich können beide seelischen Wesens und doch sehr verschieden sein. Es liegt nahe, anzunehmen, daß das menschliche und

Das Baumaterial der Welt.

199

auch das tierische Bewußtsein eine viel höhere und reicher differenzierte Form des Seelischen darstellen als die Materie-an-sich. Ob zu unserer Seele außer unserem B e w u ß t - S e e l i s c h e n noch ein U n b e w u ß t - S e e l i s c h e s gehört, das nicht ein An-sich-Seiendes von Materiellem, Leiblichem ist, bleibt später zu untersuchen. W i r wollen Bewußt-Seelisches und Unbewußt-Seelisches, das nicht ein An-sich-Seiendes von Materiellem ist, als Seelisches i m e n g e r e n S i n n e bezeichnen. W i r werden zu dem Ergebnis kommen, daß das Bewußt-Seelische i n Menschen und Tieren nur einen sehr kleinen Teil des Seelischen i m engeren Sinne (das wir o f t kurzweg als das Seelische bezeichnen) ausmacht, welches neben oder über der Materiean-sich i n der Welt existiert.

D e r Zusammenhang v o n Seele u n d Materie-an-sich. Wechselwirkungshypothese und partieller Parallelismus. Die von uns abgelehnte psychistische Identitätshypothese besitzt zweifellos den Vorzug, eine einfache Deutung des gesetzmäßigen Zusammenhanges von Bewußtseins-

und Großhirnvorgängen

zu

bieten, der von der physiologischen Psychologie, der Psychiatrie und anderen Einzelrealwissenschaften auf Grund der Erfahrung induktiv erschlossen w i r d ; dieser Zusammenhang wird aus der Identität von Seele und Großhirn-an-sich erklärt. Die Ablehnung der psychistischen Identitätshypothese hat uns zum Dualismus zurückgeführt. Es bleibt nun zu fragen, ob die dualistische Hypothese eine befriedigende Deutung des Zusammenhanges von Bewußtseins- und Großhirnvorgängen zu bieten vermag. Erst damit würde sie ihre Überlegenheit über die psychistische Identitätshypothese endgültig dartun. W i r kommen damit wieder zu dem alten, viel umstrittenen P r o b l e m des Z u s a m m e n h a n g s v o n Seele u n d L e i b , von Psychischem und Materiellem, das wir bereits bei unserer Betrachtimg der psychistischen Identitätshypothese angeschnitten haben. W i r rücken dies Problem nunmehr in den Mittelpunkt unserer Untersuchung. Daß es zentrale Bedeutung f ü r die Metaphysik hat, liegt auf der Hand; durch den Zusammenhang des Seelischen und der Materie-an-sich werden diese beiden Welt-Bestandteile zum W7eltganzen vereinigt. Zahlreiche

Erfahrungstatsachen

recht wahrscheinlich,

machen die

Annahme

d a ß a l l e B e w u ß t s e i n s v o r g ä n g e ge-

setzmäßig mit Großhirnvorgängen unmittelbar verknüpft sind. So sind z. B. Empfindungen mit Großhirnvorgängen verknüpft, die von aus den Sinnesorganen dem Großhirn zufließenden nervösen Erregungen ausgelöst werden ; Willensakte sind mit Großhirnvorgängen verknüpft, die aus dem Großhirn heraus nervöse Er-

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

201

regungen unseren Muskeln zusenden, welche daraufhin die Willetisbefehle ausführen. Die am nächsten liegende Deutung dieser Verknüpfungen von Bewußtseins- und Großhirnvorgängen

besagt nun, daß es sich um

kausale, um Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen

handele: der vom

Sinnesorgan herstammende Großhirnvorgang sei die Ursache der Empfindung, bewirke diesen Bewußtseinsvorgang; umgekehrt bewirke der Willensakt den Großhirnvorgang, der sich bis zum Muskel fortpflanzt und ihn in Tätigkeit setzt. So b e w i r k e n k ö r p e r l i c h e Vorgänge bewußt-seelische und umgekehrt sche V o r g ä n g e k ö r p e r l i c h e .

bewußt-seeli-

Zwischen Großhirn und Bewußt-

sein, Großhirn und Seele, bestehe Beeinflussung hin und her, bestehe „Wechselwirkung". Diese „ W e c h s e l w i r k u n g s h y p o t h e s e "

ist die Auffassung vom

Leib-Seele-Zusammenhang, die i m täglichen Leben und vielfach auch i m wissenschaftlichen Denken herrscht und dabei meist als etwas Selbstverständliches hingenommen wird. Weil leibliche Prozesse, z. B. Erwärmung oder Abkühlung der Haut, seelische Prozesse, i n unserem Beispiel Temperatur-Empfindungen, gesetzmäßig nach sich ziehen, nimmt man ein Wirken der leiblichen Vorgänge auf die Seele an, und weil unser Wille z. B. gewollte Handbewegungen gesetzmäßig nach sich zieht, nimmt man an, daß jener, also ein seelischer Vorgang, auf den Leib wirke. Gegen diese naheliegende Auffassung werden nun aber manche E i n w ä n d e erhoben. Man meint, Seele u n d K ö r p e r seien so v ö l l i g verschieden,

d a ß sie n i c h t

aufeinander w i r k e n könnten.

Ferner beruft man sich auf das sogenannte P r i n z i p d e r g e schlossenen N a t u r k a u s a l i t ä t , welches besagt, daß nicht-materielle Ursachen niemals in das materielle Geschehen hineinwirken, nicht-materielle Wirkungen niemals aus i h m entspringen; demnach könnten also auch seelische Vorgänge nicht ins leibliche, ins Großhirngeschehen hineinwirken, seelische Wirkungen nicht von Großhirnvorgängen hervorgebracht werden. Auch das P r i n z i p v o n der E r h a l t u n g der E n e r g i e soll ein Hineinwirken körperlicher Prozesse in das Seelische ausschließen, weil dabei vermeintlich Energie (im naturwissenschaftlichen

Sinne)

verloren gehen müßte,

und

Metaphysik.

202

ebenso soll dies Prinzip ein Hervorrufen körperlicher

Wirkungen

durch Seelisches ausschließen, weil dadurch vermeintlich Energie neu geschaffen werden müßte. Dazu kommt ferner der Umstand, daß die nervösen Prozesse, die durch Sinnesreize in Sinnesorganen hervorgerufen werden und von dort aus ins Großhirn eindringen, i n diesem offenbar nicht aufhören, wenn i m Bewußtsein die entsprechenden Sinneswahrnehmtingen auftreten, sondern sich innerhalb des Großhirns weiter fortpflanzen, während i m Bewußtsein i m Anschluß an die Sinneswahrnehmung der seelische Prozeß weiterläuft, indem etwa Gedächtnisbilder, Gedanken, Wünsche usw. wachgerufen werden. Und wenn z. B. der seelische Prozeß i n den Willensakt ausmündet, mit der Hand etwas zu ergreifen, dann strömt der nervöse Erregungsprozeß, nachdem er auf irgendwelchen nervösen Leitungsbahnen das Großhirn i n kontinuierlichem Zuge durcheilt hat, schließlich aus diesem Organ hinaus abwärts den Muskeln des Armes und der Hand zu, um in ihnen die erforderliche Tätigkeit auszulösen. Der nervöse Prozeß hört also nicht irgendwo i m Großhirn auf, um dann, in einen seelischen Prozeß umgewandelt, eine Zeitlang i m Bewußtsein weiterzulaufen, und um weiterhin von einem Willensakte von neuem hervorgebracht und den Muskeln zugesandt zu werden, sondern vom Sinnesorgane kommend zieht er i n kontinuierlichem Laufe durch das Großhirn dahin, während gleichzeitig und gesetzmäßig mit i h m zusammenhängend i m Bewußtsein ein seelisches Geschehen abläuft. Wenn man diesen freilich nur hypothetisch, aber doch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erschließenden k o n t i n u i e r l i c h e n der

von

den

Sinnesorganen

kommenden

Verlauf

nervösen

Er-

r e g u n g e n d u r c h das G r o ß h i r n h i n d u r c h betrachtet, dann liegt allerdings der Gedanke nahe, daß f ü r diese Erregungsvorgänge auch i m Großhirn das Gesetz von der geschlossenen Naturkausalität gelte, mit anderen Worten, daß sie weder in die Seele hineinwirken, noch von i h r Wirkungen erfahren. Ein kontinuierliches materielles, leibliches Geschehen, das mit der Reizung e?nes Sinnesorgans anfängt, würde als Nervenerregung dem Großhirn zueilen, durch dieses hindurch und aus i h m heraus den Muskeln zuströmen und diese in Tätigkeit setzen, ohne die Seele zu beeinflussen und ohne von ihr

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

203

beeinflußt zu werden, und doch würde dem Verlauf der Nervenerregung durch das Großhirn hindurch ein Bewußtseinsgeschehen gesetzmäßig zugeordnet sein oder, wie man bildlich zu sagen pflegt, „parallel" laufen. Das materielle Geschehen verliefe auch i m Großhirn überall so, als ob es nichts Seelisches gäbe, als ob der Materialismus recht hätte. Da aber das Seelische, zum mindesten unser Bewußtseinsgeschehen, nicht fortgeleugnet werden kann, sondern ohne Zweifel existiert und (wie wir aus vielen psychophysiologischen Erfahrungen

erschließen

können)

stets

mit

nervösem

Großhirn-

geschehen gesetzmäßig verknüpft ist, da ferner das Seelische nicht als Ursache und W i r k u n g i n die Kette der materiellen Großhirnvörgänge eingefügt sein soll, müssen wir es wohl neben dieser Kette suchen; wir müssen annehmen, daß materiellen, nervösen Vorgängen i m Großhirn seelische Vorgänge gesetzmäßig „parallel" laufen, ohne daß dabei das Materielle auf das Seelische wirkt oder umgekehrt. A l l e seelischen V o r g ä n g e h ä t t e n i h r e m a t e r i e l l e n P a r a l l e l v o r g ä n g e i m G r o ß h i r n , neben w e l c h e n sie g e s e t z m ä ß i g e i n herlaufen,

ohne m i t

ihnen

in

Kausalzusammenhang

zu

stehen. Seelische Vorgänge y-

^

B\ Π ^

^ ^ HC > . ^ >I Großhirnvorgänge ^

>-

>-|

>-

-

Leibliche Vorgänge Fig. 4. Unsere Fig. ι mag diese Auffassung veranschaulichen, die man als eine „ p a r a l l e l i s t i s c h e " ,

genauer als „ p a r t i e l l e n p s y c h o -

physischen Parallelismus"

zu bezeichnen pflegt; das Attribut

„partiell" soll besagen, daß nur einem Teile der materiellen Vorgänge, nämlich den Großhirnvorgängen, seelische Vorgänge parallel laufen. Die unteren, dicken Pfeile bedeuten materielle, die oberen, dünnen seelische Prozesse. Bei A treffe ein materieller Prozeß, ein Sinnesreiz, etwa ein Lichtstrahl, unser Auge. I n i h m bewirkt er einen weiteren materiellen Prozeß, die nervöse Erregung i n der Netzhaut, die durch den zweiten dicken Pfeil symbolisiert wird. Dieser Netz-

204

Metaphysik.

hautprozeß bewirkt wieder einen Prozeß in der Sehbahn (eigentlich handelt es sich um eine ganze Reihe von Prozessen), der bis zum Hinterhauptteil des Großhirns

(genauer der Großhirnrinde) vor-

dringt. Hier, in unserer Figur bei ß, bewirkt er einen Großhirnvorgang (dargestellt durch den vierten dicken Pfeil), und dieser Vorgang bewirkt einen weiteren Großhirnvorgang,

dieser wiederum

einen weiteren, bis bei C die Kette der materiellen Vorgänge das Großhirn wieder verläßt, um auf einer „zentrifugalen" Nervenbahn zu einem Muskel hin zu führen, in dem dann eine Bewegung (dargestellt durch den achten dicken Pfeil) ausgelöst wird. Dieser Bewegungsvorgang am Muskel (genauer die entsprechende Bewegung eines Gliedes, z. B. des Armes) wirkt dann wieder in die Körperwelt außerhalb unseres Leibes hinein und r u f t so einen weiteren materiellen Vorgang, etwa das Heben eines in der Hand gehaltenen Gewichtes, hervor; diesen körperlichen Vorgang soll der letzte unserer dicken Pfeile symbolisieren. Die Kette dieser materiellen Vorgänge, beginnend mit dem Sinnesreiz und endend mit einem durch unser Handeln bewirkten Vorgang in der äußeren Natur, läuft von Λ bis D durch unseren Leib, von Β bis C durch unser Großhirn als ein rein materielles Geschehen hindurch, ohne auf die Seele zu wirken und ohne von ihr Wirkungen zu erfahren. Doch laufen neben den Großhirnvorgängen von Β bis C gesetzmäßig seelische Vorgänge einher; dem Vorgang i m Hinterhauptteil des Großhirns (dargestellt durch den vierten dicken Pfeil) läuft eine Gesichts Wahrnehmung als Bewußtseinsvorgang (dargestellt durch den ersten dünnen Pfeil) parallel, o h n e v o n j e n e m G r o ß h i r n v o r g a n g b e w i r k t w o r d e n zu sein. Dieser bewirkt vielmehr weitere Großhirnvorgänge, denen weitere seelische Vorgänge, etwa Gedanken und Willensvorgänge

(dargestellt

durch

die weiteren

dünnen Pfeile) parallel laufen, ebenfalls ohne von den zugehörigen Großhirnvorgängen bewirkt worden zu sein. Sobald die Kette der materiellen Vorgänge bei C das Großhirn verläßt, endet die parallel laufende Kette der den materiellen Großhirnvorgängen zugeordneten seelischen Vorgänge, also in unserer Figur der dünnen Pfeile, bei C\ Die seelischen Vorgänge, einschließlich des letzten, der etwa ein

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

Willensakt sein mag, wirken so wenig auf die Kette der materiellen, wie umgekehrt diese Kette auf jene w i r k t Es ist also nicht der Willensakt, der nervöse Erregungen aus dem Großhirn aussendet und durch diese unsere Muskeln in Tätigkeit versetzt und so unsere äußeren Handlungen hervorruft; sondern das dem Willensakt, überhaupt dem seelischen Geschehen parallel laufende materielle Großhirngeschehen spielt die Rolle bei unserem Handeln, die wir

dem seelischen Geschehen, dem Wollen zuzu-

schreiben pflegen. Auch unsere kompliziertesten körperlichen Handlungen, z. B. das Klavierspielen oder das Schreiben eines Buches, wird nicht von seelischen Faktoren i n uns, sondern von unserem Großhirn, diesem ungeheuer

feinen

und komplizierten Apparat,

dirigiert. Die Behauptung, daß nicht unsere Seele, unser Wahrnehmen, Denken, Wollen usw., sondern unser Großhirn unser körperliches Handeln hervorrufe

und leite, daß dieses von unserer Seele gar

nicht beeinflußt werde, klingt äußerst paradox. Man bedenke, daß z. B. die Niederschrift von Kants Werken ganz ohne Mitwirkung von Kants Denken zustande gekommen sein soll, daß nicht Kants Geist, sondern sein Großhirn die Hand geleitet haben soll, welche die „ K r i t i k der reinen Vernunft" schrieb; mutet da nicht der partielle Parallelismus dem Großhirn etwas viel zu? Darauf wird der Parallelist erwidern, es sei zu bedenken, daß zu jedem Seelenvorgang ein i h m entsprechender, parallel laufender Großhirnvorgang gehöre; so spiegele das Geschehen in Kants Geist genau ein materielles Geschehen in Kants Großhirn wieder; darum dürfe man auch diesem Großhirngeschehen zutrauen, was man dem parallel laufenden Geschehen i n Kants Geist zutraue. — Wenn man sich unter Vernachlässigung erkenntnistheoretischer Erwägungen die Materie-an-sich räumlich ausgedehnt i m gewöhnlichen Wortsinne vorstellt, dann kommt der partielle Parallelismus dem Materialismus ziemlich nahe. I n der ganzen Welt und auch in unserem Großhirn geht es so zu, wie der Materialismus behauptet; das materielle Geschehen w i r d nirgends von Seelischem unterbrochen oder auch nur beeinflußt. Doch sieht der partielle Parallelismus ein, daß man die Existenz des Bewußt-Seelischen nicht leugnen kann.

Metaphysik.

206

Da dieses nun in das materielle Geschehen nicht eingreifen soll, wird es materiellem Großhirngeschehen als Parallelgeschehen zugeordnet. I m Weltganzen spielt so das Seelische eine höchst bescheidene Rolle; es begleitet nur einen minimalen Bruchteil des materiellen Weltprozesses, nämlich gewisse Großhirnvorgänge, beeinflußt diese jedoch nicht und w i r d nicht von ihnen beeinflußt. Eine erkenntnistheoretische Korrektur des partiellen Parallelismus ergibt sich, wenn man bedenkt, daß die Materie-an-sich von der Materie, wie man sie sich gewöhnlich vorstellt, ganz wesentlich verschieden sein kann, daß sie vermutlich seelischen Wesens ist. Das ganze Weltgeschehen wäre demnach ein uns seinem Wesen nach unbekannter, vermutlich aber ein seelischer Prozeß. Einem Teile dieses Weltgeschehens, würde

unser

nämlich

gewissen

bewußt-seelisches

Großhirnvorgängen-an-sich,

Geschehen, unser Wahrnehmen,

Denken, Fühlen, Wollen usw., parallel laufen.

Kritik des partiellen und Begründung des universellen Parallelismus. Der partielle Parallelismus nimmt, wie das Attribut „partiell" andeutet, nur f ü r einen Teil der materiellen Vorgänge i n der Welt, nur f ü r Großhirnvorgänge, seelische Parallel Vorgänge an. Nun sind aber die Großhirnvorgänge schließlich von anderen materiellen Vorgängen nicht prinzipiell verschieden; sie stellen zuletzt Bewegungen von Atomen und Elektronen dar, von Körperteilchen, die überall in der Welt vorkommen. Wenn aber die Großhirnvorgänge von den anderen Vorgängen der materiellen Welt, die vielleicht allesamt Bewegüngsvorgänge darstellen, vermutlich nicht grundsätzlich verschieden sind, so werden sie sich auch wohl nicht dadurch grundsätzlich von allen anderen materiellen Vorgängen unterscheiden, daß sie allein seelische Parallel Vorgänge aufweisen. Also werden wohl auch alle anderen materiellen

Vorgänge seelische Parallelvorgänge be-

sitzen. Man mag diese Erwägung wenig überzeugend finden; i h r Ergebnis wird jedoch durch andere Überlegungen gestützt. Wenn w i r fragen, woher die seelischen Parallelvorgänge stammen, die mit Großhirnvorgängen verbunden sind, und wenn wir bedenken, daß sich unser

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

207

Großhirn wie unser ganzer Leib aus einer befruchteten Eizelle entwickelt hat, dann drängt sich uns die Annahme auf, daß auch schon Vorgänge in der Eizelle von seelischen Parallelvorgängen begleitet sein mögen. Sonst müßten sich j a die seelischen Parallel Vorgänge in irgendeinem Entwicklungsstadium unseres Leibes als etwas ganz Neues einfinden. Wenn aber die Eizelle schon beseelt ist, werden dann nicht alle Teile unseres Leibes, die ebenso wie das Großhirn aus dieser Eizelle sich entwickelt haben, ebenfalls beseelt sein? Die Eizelle (und ebenso die befruchtende

männliche Geschlechtszelle) stammt von

Zellen in den Geschlechtsorganen ab; das spricht f ü r die Ansicht, daß auch diese und weiterhin wohl alle Zellen unseres Organismus beseelt sind. Wenn wir nun m i t der Abstammungslehre annehmen, daß der Mensch und die zweifellos beseelten höheren Säugetiere von einfacheren, zuletzt von ganz einfachen Ur-Lebewesen abstammen, und wenn wir nicht die seltsame Annahme machen wollen, daß irgendwann und -wo in der Entwicklung des Tierreiches die Beseelung als etwas ganz Neues i n irgendwelchen Organismen auftrat, so müssen wir zu der Ansicht kommen, daß schon jene Ur-Lebewesen beseelt waren. Nehmen wir ferner an, daß aus gleichen oder ähnlichen U r Lebewesen sich alle höheren Organismen, auch die pflanzlichen, entwickelt haben, so drängt sich uns die Vermutung auf, daß alle Organismen beseelt sind, daß die Beseelung so weit reicht wie das Leben. Alle Organismen weisen ja auch übereinstimmend die Grundeigenschaften des Lebens auf; sollten sie nicht auch darin übereinstimmen, daß sie alle beseelt sind? Nun fragt sich weiter, wie die Ur-Lebewesen zu ihrer Beseelung kommen.

Nimmt

man

mit der allerdings sehr gewagten

Ur-

zeugungshypothese an, daß die Ur-Lebewesen aus der toten Natur entstanden sind, und daß dabei nur die Faktoren i m Spiele waren, die schon in der toten Natur existieren, so wird man zu der Ansicht gedrängt, daß schon die „ t o t e " Natur, daß also die ganze materielle Welt beseelt ist. Man w i r d sich dann diese Beseelung aller Materie, diese „Allbeseelung", nach Analogie der Beseelung des Großhirns denken; man w i r d also annehmen, d a ß a l l e m a t e r i e l l e n gänge

wie

Großhirnvorgänge

von

seelischen

Vor-

Parallel-

208

Metaphysik.

Vorgängen g e s e t z m ä ß i g b e g l e i t e t sind. Dann wird alle Materie b e s t ä n d i g beseelt sein, da in jedem Stück Materie sich beständig Bewegungsvorgänge an Molekülen, Aiomen und Elektronen abspielen. Wir

bezeiclmen die Hypothese, daß alle materiellen Vorgänge

gesetzmäßig von seelischen Parallelvorgängen „universellen

begleitet sind, als

Parallelismus".

Ein weiteres Argument f ü r diese Lehre ergibt sich uns leicht, wenn w i r noch einmal unsere figürliche

Darstellung des partiellen Par-

Seelische Vorgänge >J( ^ _

>

Ζ ί ' Γ ^ — ) ^

HC' ^

Großhirnvorgänge

> ^

... ^

Leibliche Vorgänge Fig.

allelismus ins Auge fassen. Die Reihe von dicken Pfeilen bedeutet eine Reihe von materiellen Vorgängen, die aus der Welt außerhalb unseres Leibes kommt, bei A, an einem Sinnesorgan, in unseren Leib eindringt, dann sich bis zum Großhirn fortsetzt, dieses von Β bis C durchzieht, weiterhin bis zu einem Muskel führt und durch dessen Tätigkeit bei D wieder in die Welt außerhalb unstires Leibes einmündet. Die dünnen Pfeile bedeuten die seelischen Parallelvorgänge, welche die Großhirnvorgänge begleiten. Nach parallelistischer Lehre haben die körperlichen Vorgänge niemals seelische Wirkungen und die seelischen Vorgänge niemals körperliche Wirkungen. Wenn man dies bedenkt, so sieht man sofort aus unserer Figur, daß die Reihe der seelischen \'orgänge bei B' ohne Ursache beginnt und bei C' ohne W i r k u n g endet. Innerhalb der Reihe mag der erste seelische Vorgang den zweiten, der zweite den dritten bewirken ; der ganzen Reihe fehlt aber die Ursache bei B' und die W i r k u n g bei C'. Fängt diese Reihe seelischer Vorgänge bei Β ' mit einer Sinneswahrnehmung an, die als Parallelvorgang einem von einem Sinnesorgan herstammenden Erregungsprozeß i m Großhirn entspricht, so ist dieser materielle Prozeß n i c h t die Ursache der Sinneswahrnehmung, da ja materielle Vorgänge nach parallelistischer

Lehre niemals scelische Wirkungen

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

209

haben. Die Sinneswahrnehmung ist also ohne Ursache. Endet die Reihe der seelischen Vorgänge bei C/ mit einem Willensakt, so fehlt diesem jede Wirkung, da die von C aus weiterlaufenden materiellen Prozesse in Nervenbahnen und Muskeln nach parallelistischer Lehre nicht Wirkungen eines seelischen Vorganges, eines Willensaktes, sein können. D e r p a r t i e l l e P a r a l l e l i s m u s muiß also die d e m K a u s a l p r i n z i p w i d e r s p r e c h e n d e A n n a h m e m a c h e n , daß es seelische V o r g ä n g e g i b t , die k e i n e U r s a c h e h a b e n ;

und er muß die

weitere fatale Annahme machen, daß es seelische Vorgänge gibt, die keine Wirkung haben, während doch unsere Erfahrung zu der Α ι sieht hindrängt, daß jeder wirkliche Vorgang nicht nur eine Ursache, sondern auch eine Wirkung hat. Eine Hypothese, die dem Kausalprinzip widerspricht, können w i r schwerlich anerkennen. D a r u m l e h n e n w i r den p a r t i e l l e n P a r a l l e l i s m u s ab. Der universelle

Parallelismus

vermeidet

den

Konflikt

m i t dem K a u s a l p r i i i z i p und mit dem Satz, daß jeder wirkliche Vorgang eine W i r k u n g hat. Er nimmt an, daß jeder materielle Vorgang einen seelischen Parallelvorgang aufweist. Wollen wir dies in unserer bildlichen Veranschaulichung zur Darstellung bringen, so müssen wir jedem dicken, einen materiellen Vorgang symbolisierenden Pfeil einen dünnen Pfeil zur Seite setzen, der den zugehörigen seelischen Parallelvorgang darstellt. I n Fig. 2 sehen wir nun sofort, Seelische Vorgänge A\

^

>

>- I ^

>

>•

Großhirnvorgänge

C

^

>

H

Df

>-···

^

Leibliche Vorgänge Materielle Vorgänge Fig. 2.

daß dem bei ß' beginnenden seelischen Vorgang die Ursache nicht mehr fehlen wird; sie wird in dem seelischen Parallelvorgang des materiellen Vorgangs bestehen, der bei ß den ersten Großhirnvorgang B e c h e r , Einführuiig in die Philosophie.

14

Metaphysik.

210

hervorruft. Und diesem seelischen Vorgang vor B' geht ein weiterer seelischer Vorgang als Ursache voran, und letzterem wiederum ein weiterer usf. ; und alle die seelischen Vorgänge sind Parallelvorgänge der materiellen Prozesse, die aus der außerleiblichen Natur durch unser Sinnesorgan bis zum Großhirn führen. Diese Reihe der materiellen Prozesse zeigt keinen Anfang; wenn wir sie zurück verfolgen, dann kommen wir bei A in die materielle Welt außerhalb unseres Leibes. Wie unsere Figur sogleich zeigt, müssen wir auch hier den materiellen Vorgängen seelische Parallelvorgänge

zuordnen,

weil

sonst ein ursachloser Anfang der Reihe der seelischen Prozesse angenommen werden müßte. Ebenso müssen w i r uns über C' hinaus die Reihe der seelischen Prozesse fortgesetzt denken, weil sonst ein letzter seelischer Vorgang ohne Wirkung angenommen werden müßte. Auch hier kommen wir also dazu, den materiellen Vorgängen außerhalb des Großhirns und selbst außerhalb unseres Leibes, i n der toten Natur, seelische Parallelprozesse zuzusprechen. Wie die Reihe der materiellen Prozesse keinen Anfang und kein Ende aufweist, sondern rückwärts und vorwärts immer weiter führt durch die Welt hindurch, so offenbar auch die Reihe der seelischen Prozesse. W i r müssen auch materiellen Prozessen außerhalb des Großhirns und unseres Leibes, auch Prozessen der toten Natur und somit wohl allen materiellen Prozessen seelische Parallel Vorgänge zuschreiben. Damit sind wir wiederum zum universellen Parallelismus gelangt. Das K a u s a l p r i n z i p f o r d e r t

also,

daß w i r b e i m p a r t i e l l e n P a r a l l e l i s m u s n i c h t stehen b l e i b e n , sondern zum universellen übergehen. Übrigens ist damit auch die Annahme von U n b e w u ß t - S e e l i schem gefordert. A l s u n b e w u ß t - s e e l i s c h b e z e i c h n e n w i r Seel i s c h e s , das n i c h t i n u n s e r e m B e w u ß t s e i n zu f i n d e n i s t , das unserer unmittelbaren oder Selbst»Wahrnehmung nicht zugänglich ist; w i r lassen dabei dahingestellt, ob das „Unbewußt-Seelische" nicht doch in irgendeinem Bewußtsein, nur eben in einem anderen als dem uns bekannten, existiert. Da nun i n unserem Bewußtsein nur Seelisches sich

findet,

das unmittelbar

gesetzmäßig mit

vorgängen verbunden ist, m u ß der u n i v e r s e l l e Unbewußt-Seelisches

Großhirn-

Parallelismus

i n F ü l l e a n n e h m e n ; all die seelischen

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

211

Parallelvorgänge zu den leiblichen Vorgängen außerhalb unseres Großhirns und zu den materiellen Vorgängen in der toten Natur (in Fig. 2 dargestellt durch die dünnen Pfeile vor ß ' und hinter C') sind unbewußt-seelisch i m eben angegebenen Sinne, d. h. nicht in unserem gewöhnlichen, mit dem Großhirn verbundenen Bewußtsein zu finden. Ob sie sich in anderen, an andere Organe, andere Körper gebundenen Bewußtseinen oder in einem allumfassenden Weltbewußtsein finden, bleibe dahingestellt.

Kritik des universellen dualistischen Parallelismus. Der partielle und der universelle Parallelismus tragen in der Form, in der wir sie bisher dargestellt haben, d u a l i s t i s c h e n Charakter, d. h. sie nehmen zwei Arten von Welt-Baumaterial an: die Materie oder (richtiger) die Materie-an-sich und das Seelische, welches das Geschehen an der Materie in parallelem Ablauf begleitet. Auch wenn man dabei annimmt, daß die Materie-an-sich etwas Seelisches ist, bleibt der Dualismus des Welt-Baumaterials bestehen, sofern man sich dieses seelische An-sich der Materie von den seelischen Parallelvorgängen verschieden denkt. Wie der partielle, so ist auch der universelle dualistische Parallelismus starken Einwänden ausgesetzt. Zunächst lassen beide u n e r k l ä r t , w a r u m die beiden R e i h e n , die seelische und die materielle (bzw. das An-sich der letzteren), stets g e s e t z m ä ß i g p a r a l l e l

laufen,

wenn sie doch nicht aufeinander wirken, einander gar nicht beeinflussen. Man kann allerdings dies geheimnisvolle ParallelJaufen auf das Wirken Gottes zurückführen, der die beiden Reihen entweder in parallelen Bahnen leiten oder von Anbeginn an so geschaffen haben mag, daß sie, wie zwei wohl regulierte Uhren, in ihrem voneinander unabhängigen Ablauf stets parallel gehen; jene Auffassung käme der okkasiona listischen

Hypothese

nahe,

diese

entspräche

Leibnizschen Lehre von der p r ä s t a b i l i e r t e n H a r m o n i e .

der Man

könnte sich auch auf den Standpunkt sitellen, das gesetzmäßige Parallellaufen der beiden Reihen repräsentiere eine jener obersten Realgesetzmäßigkeiten, die, wie z. B. das Kausalgesetz, nicht mehr erklärt werden können. Man könne speziellere Gesetzmäßigkeiten erklären, indem man sie auf allgemeinere, höhere zurückführe (so er14*

212

Metaphysik.

kläre man z. B. die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung durch Zuriickführung auf Newtons Gravitationsgesetz) ; aber die allgemeinsten, obersten Gesetze, und unter ihnen das Gesetz des Parallelgehens von Seelischem und Materiellem, seien nicht mehr zu erklären, weil es keine höheren Gesetze gebe, auf die jene zurückgeführt werden könnten. Doch können weder jene Erklärungsversuche noch diese Rechtfertigung des Verzichtes auf Erklärung den dualistischen Parallelismus retten. Die Unhaltbarkeit des partiellen dualistischen Parallelismus haben w i r bereits dargetan. Der universelle dualistische Parallelismus aber muß abgelehnt werden, weil er sozusagen seinen eigenen Standpunkt untergräbt. Indem er behauptet, daß die Materie, genauer die Materie-an-sich, niemals auf das Seelische wirkt, macht er die Annahme der Materie-an-sich gänzlich überflüssig. Wie sollen w i r denn überhaupt erkennen, daß die Materie-an-sich existiert, wenn sie in keiner Weise das seelische Geschehen beeinflußt? Das Seelische und auch speziell unser Bewußtseinsgeschehen läuft, wenn es gar keine Einwirkungen von der Materie-an-sich aus erfährt, so ab, als ob es gar keine Materie-an-sich gäbe; wenn aber in unserem Bewußtsein, dem Ausgangsgebiet alles Realerkennens, alles so abläuft, als ob es keine Materie-an-sich gäbe, dann können wir gar nicht erschließen, daß es eine Materie-an-sich gibt, und nicht wissen, ob es sie g i b t Die Annahme einer Materie-an-sich erscheint also überflüssig und willkürlich und somit unhaltbar. Warum nehmen wir denn überhaupt eine Materie-an-sich an? Doch nur, weil wir sonst keine Ursachen für die Sinnes Wahrnehmungen hätten, weil die Sinneswahrnehmungsbilder sich der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung und dem Kausalprinzip nicht fügen würden, wenn hinter diesen Wahrnehmungsbildern, den „Erscheinungen" der Materie, nicht eine Materie-an-sich als Ursache stände. Wenn die Materiean-sich nun nach der Lehre des universellen dualistischen Parallelismus die Sinnes W a h r n e h m u n g e n , die ja der seelischen Reihe angehören, nicht verursacht, wozu sollen wir dann noch die Materie-ansich annehmen! Wie alle seelischen Vorgänge, so werden auch die Sinneswahrnehmungen nach universell-dualistisch-parallelistischer Lehre nicht von

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

213

der Materie-an-sich aus, sondern von vorhergehenden Vorgängen der seelischen Reihe verursacht; es bedarf daher nicht mehr der zweiten Reihe, der Materie-an-sich, um Ursachen f ü r die Sinneswahrnehmungen zu bekommen. Die Ursachen f ü r alle seelischen Vorgänge, auch für unsere Bewußtseinsvorgänge, liegen in der seelischen Reihe. Diese bildet also in sich eine kausaler Gesetzmäßigkeit entsprechende Welt; warum wir über diese hinausgehen und noch eine zweite, parallele Reihe von Vorgängen und eine Materie-an-sich, an der diese Vorgänge sich abspielen, annehmen sollen, ist nicht einzusehen. S o m i t müssen w r ir a u c h den u n i v e r s e l l e n

dualistischen

P a r a l l e l i s m u s ablehnen.

Der parallelistische Zwei-Seiten-Monismus. Doch bieten sich uns noch andere Ausgestaltungen des universellen Parallelismus an. Um das gesetzmäßige Parallellaufen von Seelischem und Körperlichem zu erklären, nimmt man an, daß sie n i c h t z w e i voneinander

unabhängige

Eigenschaften selben

oder

Wirklichen,

Reihen,

sondern

Erscheinungsweisen derselben

zwei

eines

Weltsubstanz

Seiten,

und

des-

darstellen.

Damit gewinnt der Parallelismus monistischen Charakter. W i r bezeichnen diese Auffassung als „ p a r a l l e l i s t i s c h e n Monismus";

man spricht auch von der

Identitätshypothese",

Zwei-Seiten-

„(parallelistischen)

um anzudeuten, daß dieselbe Substanz

hinter den seelischen und den körperlichen Vorgängen stehe. Der parallelistische Zwei-Seiten-Monismus entspricht der spinozistischen Lehre vom Leib-Seele-Zusammenhang; nur nimmt Spinoza nicht nur zwei, sondern unendlich viele Seiten oder „Attribute" der einen Weltsubstanz, die er mit Gott identifiziert, an, um dieser Substanz unendlichen, göttlichen Reichtum zu verleihen. Seither, insbesondere auch in jüngster Zeit, ist der Zwei-Seiten-Monismus oft von Philosophen und Naturforschern vertreten worden. Die Zwei-Seiten-Hypothese

nimmt

an, daß das gesetzmäßige

Parallellaufen von Seelischem und Materiellem begreiflich sei, wenn sie zwei Seiten oder Erscheinungsweisen derselben Substanz darstellen. Es erscheint allerdings von vornherein keineswegs selbstverständlich, daß zwei Seiten, Eigenschaften oder Erscheinungsweisen derselben

Metaphysik.

214

Substanz in ihrem Verhalten stets gesetzmäßig parallel gehen müßten; tatsächlich können z. B. Farbe und Größe eines Dinges sich unabhängig voneinander verändern, also sich verändern, ohne dabei parallel zu gehen. Fechner hat die Zwei-Seiten-Hypothese durch einen bestechenden Vergleich veranschaulicht, der das soeben vorgebrachte Bedenken zu entkräften scheint. Seelisches u n d K ö r p e r l i c h e s etwa

verhalten

wie

Innenseite

sollen

und Außenseite

sich

desselben

Kreises, oder sagen w i r lieber: derselben E l l i p s e . Hier muß überall der Konkavität, der Einwärtswölbung der Innenseite die Konvexität, die Auswärtswölbung der Außenseite entsprechen; hier müssen in der Tat Innenseite und Außenseite überall parallel gehen. Wenn man allerdings den Vergleich kritisch prüft, dann verliert er seine suggestive Wirkung. Seele und Leib sind doch etwas ganz anderes als Innenseite und Außenseite einer Ellipse, und wenn für diese Seiten etwas gilt und gelten muß, so besagt dies nichts f ü r Seele und Leib. Wenn w i r übrigens, wie billig, Innenseite und Außenseite eines Realobjektes, z. B. eines elliptisch gebogenen Drahtes, betrachten, so ergibt sich, daß sie aufeinander wirken, während Seele und Leib nach parallelistischer Lehre nicht aufeinander wirken sollen. Der Zwei-Seiten-Monismus bietet uns also auch keine befriedigende Erklärung

des Parallellaufens

von Seelischem und

Materiellem.

Schlimmer ist aber, daß auch er jenem Haupteinwand ausgesetzt ist, der uns zur Ablehnung des universellen dualistischen Parallelismus zwang. Die zweite, die „materielle" Seite erscheint auf dem Standpunkte des Zwei-Seiten-Monismus genau so überflüssig wie die zweite Reihe auf dem Standpunkte des universellen dualistischen Parallelismus. Auch nach der Lehre des Zwei-Seiten-Monismus wirkt ja die zweite, die „materielle" Reihe oder Seite niemals auf die seelische Seite; sie kann also unser Bewußtsein gar nicht beeinflussen, sich in keiner Weise in ihm geltend machen. Es ist somit durchaus nicht einzusehen, wie w i r überhaupt erkennen sollen, ob sie existiert oder nicht existiert. Die Annahme der einen, der seelischen Seite (der unser Bewußtsein angehört) genügt durchaus, da diese Seite eine in sich gleichsam geschlossene, das Kausalprinzip befriedigende Welt repräsentiert. Mag man nun die Reihe der seelischen Vorgänge an

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

215

einer Weltsubstanz (die dann wohl als eine seelische Substanz zu gelten hätte) sich abspielen lassen oder nicht, die Annahme einer zweiten, „materiellen" Vorgangsreihe oder Seite erscheint überflüssig und willkürlich. W i r müssen sie also verwerfen und somit auch den parallelistischen Zwei-Seiten-Monismus

ablehnen.

Der psychistisch-parallelistische Monismus oder die psychistische Identitätshypothese. Doch

hat

Fechner

den

Zwei - Seiten - Monismus

„psychistisch-parallelistischen

Monismus"

zu

einein

umgestaltet, der

dem soeben zum zweitenmal angeführten Einwände nicht ausgesetzt ist und überhaupt die vollkommenste Form des Parallelismus darstellt. I h r wenden wir uns nunmehr zu. Fechner hat, wie oben erwähnt, das Seelische der Innenseite, das Materielle der Außenseite eines Kreises verglichen. Der psychistischparallelistische Monismus gibt nun der These, daß das Seelische das Innere, das Materielle aber die Außenseite des Wirklichen sei, einen tieferen

Sinn.

Er

nimmt

an, daß

alles W i r k l i c h e

seinem

„ i n n e r e n W e s e n " n a c h , als A n - s i c h - S e i e n d e s , seelisch i s t , daß es aber, w e n n es g l e i c h s a m v o n a u ß e n w a h r g e n o m m e n w i r d , d. h. w e n n es s i n n l i c h w a h r g e n o m m e n w i r d , m a t e r i e l l e r s c h e i n t . So i s t das, was uns ä u ß e r l i c h , d. h. s i n n l i c h w a h r g e n o m m e n als G r o ß h i r n bzw. G r o ß h i r n g e s c h e h e n e r s c h e i n t * als A n - s i c h - S e i e n d e s unsere Seele bzw. unser B e w u ß t s e i n s geschehen; und so ist alles, was unserer Sinnes Wahrnehmung als ein Körper oder ein körperlicher Vorgang e r s c h e i n t , an s i c h ein seelisches Etwas bzw. ein seelischer Vorgang. Diese Weltauffassimg ist aber schon früher von uns betrachtet und als „ p s y c h i s t i s c h e I d e n t i t ä t s h y p o t h e s e " bezeichnet worden. Sie erklärt das gesetzmäßige Parallelgehen von Bewußtseinsgeschehen und Großhirngeschehen, indem sie darauf hinweist, daß dieses als Erscheinung dem zugehörigen An-sich-Seienden, eben dem Bewußtseinsgeschehen, gesetzmäßig entsprechen oder, bildlich ausgedrückt, parallel gehen müsse. Und so entspricht nach der psychistischen Identitätshypothese überhaupt dem seelischen An-sich der Dinge als

Metaphysik.

216

materielle Parallele oder Außenseite ihre körperliche, sinnliche Erscheinung. Dagegen kann man nun allerdings einwenden, der Zusammenhang von An-sich-Seiendem und zugehöriger sinnlicher Erscheinung, d. h. zugehörigem Wahrnehmungsbild, sei kein parallelistischer; denn das An-sich-Seiende b e w i r k e das Wahrnehmungsbild, der parallelistische Zusammenhang aber solle kein

Ursache-Wirkungszusammenhang

sein, sondern eine nicht-kausale Verknüpfung. Übrigens besteht tatsächlich gar kein Parallelgehen von Bewußtseinsvorgängen und sinnlich wahrgenommenen Großhirnprozeß-Erscheinungen, weil ja die in

Frage kommenden

Großhirnprozesse

faktisch gar nicht „er-

scheinen", nicht sinnlich wahrgenommen werden können. Der Parallelist entgeht diesem Einwand, sofern er annimmt, daß nicht wahrgenommene Großhirnprozeß-Erscheinungen, sondern die Großhirnprozesse-an-sioh m i t den Bewußtseinsvorgängen parallellaufen, und der Anhänger der psychistischen Identitäts theorie wird dies „Parallellaufen" einfach durch seine Annahme erklären, daß die G r o ß h i r n p r o z e s s e - a n - s i c h

mit

den

Bewußtseinsvor-

g ä n g e n i d e n t i s c h sind. Wie jede Linie mit sich selber parallel läuft, so läuft auch das Großhirngeschehen-an-sich mit unserem Bewußtseinsgeschohen parallel, weil es sich um ein und dasselbe Geschehen handelt. Und so läuft das An-sich eines jeden materiellen Vorgangs parallel mit einem seelischen Vorgang und umgekehrt jeder seelische Vorgang parallel mit dem An-sich eines materiellen Vorgangs, weil nämlich das An-sich eines materiellen Vorgangs immer identisch ist mit einem seelischen Vorgang und ein seelischer Vorgang immer identisch ist mit dem An-sich eines materiellen Vorgangs. So gibt uns die psychistische Identitätshypothese eine großartig einfache Erklärung oder Ausdeutung des Parallelismus von seelischem Geschehen und Geschehen an der Materie-an-sich: dieser

Par-

a l l e l i s m u s i s t i n W i r k l i c h k e i t I d e n t i t ä t . W i r können also die psychistische Identitätstheorie als eine F o r m und eine A u s d e u t u n g des Parallelismus auffassen. Die „materiellen Erscheinungen", die sinnlichen Wahrnehmungsbilder, gehören natürlich unserem Bewußtsein und damit dem Seelischen an. Es gibt eben nur Seelisches; das Weltgeschehen ist eine

Der Zusammenhang von Seele und Materie-a-sich.

217

„seelische Reihe". Indem die K r i t i k des universellen dualistischen Parallelismus und des parallelistischen Zwei-Seiten-Monismus .die zweite, nicht-seelische Reihe fortstreicht und allein die seelische Reihe übrig läßt, drängt sie zur psychistischen Identitätshypothese hin. Diese bedeutet nach allederri*die vollkommenste Form des Parallelismus: sie verzichtet auf die fatale „zweite Reihe" und gibt eine einfache Erklärung f ü r das Parallelgehen. Da sie nur seelisches WeltBaumaterial annimmt, können wir die psychistische Identitätshypothese auch als „ p s y c h i s t i s c h - p a r a l l e l i s t i s c h e n M o n i s m u s " bezeichnen. Man kann freilich einwenden, daß diese Hypothese eigentlich nicht mehr parallelistisch sei, da sie den „Parallelismus" von Seelischem und Materiellem-an-sich als Identität deutet. Mag nun auch die psychistische Identitätstheorie als vollkommenste Form des Parallelismus erscheinen und überdies jene Vorzüge aufweisen, auf die w i r früher bereits hingewiesen haben, es bleibt doch auch das Ergebnis unserer früheren K r i t i k bestehen: W i r f a n d e n , daß das G r o ß h i r n - a n - s i c h

nicht

Großhirngeschehen-an-sich

nicht

mit mit

unserer

Seele, das

unserem

Bewußt-

seinsgeschehen i d e n t i s c h sein k a n n , d a ß also d i e p s y c h i stische I d e n t i t ä t s h y p o t h e s e n i c h t d u r c h f ü h r b a r D a m i t s i n k t aber ü b e r h a u p t

die H o f f n u n g

ist.

dahin,

dem

P a r a l l e l i s m u s eine h a l t b a r e G e s t a l t zu geben.

Rückkehr zur Wechselwirkungshypothese ; Forträumung von Einwänden. Wenn

der

Parallelismus

mit

seiner

Leugnung von Kausal-

beziehungen zwischen Seelischem und Materiellem (bzw. Materie-ansich) in jeder Form versagt, dann müssen wir doch wohl solche Beziehungen zwischen ihnen annehmen. W i r wollen also auf die Wechselwirkungshypothese zurückgreifen, auf die Annahme, daß der Leib auf die Seele und die Seele auf den Leib wirkt. Zunächst wollen wir prüfen, ob die E i n w ä n d e , die oben gegen diese eigentlich am nächsten liegende Deutung des Zusammenhangs von Seele und Leib angeführt wurden, aus dem Wege geräumt werden können. Gegen die Wechselwirkungslehre ist eingewandt worden, der Leib könne nicht auf die Seele und die Seele nicht auf den Leib einwirken,

Metaphysik.

218

w e i l Seele u n d K ö r p e r ganz v e r s c h i e d e n e n Wesens seien. Doch wissen w i r gar nicht, ob völlige Wesens Verschiedenheit zwischen Realobjekten Ursache-Wirkungsbeziehungen

zwischen ihnen aus-

schließt. Und überdies wissen w i r nicht, ob das Wesen der Körperan-sich vom Wesen des Seelischen ganz verschieden ist; wir vermuteten i m Gegenteil, daß die Körper-an-sich auch seelischen Wesens sind. Somit müssen w i r jenen ersten Einwand gegen die Wechselwirkungslehre ablehnen. Dann

wurde

das

sogenannte

Prinzip

der

geschlossenen

N a t u r k a u s a l i t ä t gegen die Wechsel wirkungsieh re ins Feld geführt. Dies Prinzip besagt, daß überall in der Natur, auch im lebenden Leib und Großhirn, die Kette der materiellen Ursachen und W i r kungen eine geschlossene ist, d. h. daß nicht-materielle, insbesondere etv/a seelische Ursachen nirgendwo in die Körperweit eingreifen, nicht-materielle, insbesondere etwa seelische Wirkungen nie von ihr hervorgebracht werden können. Wäre dies „ P r i n z i p " wahr, so wäre Wechselwirkung zwischen Seele und Leib in der Tat ausgeschlossen. Aber dies sogenannte Prinzip ist eine ungesicherte Behauptung, die f ü r die tote Natur gelten mag, deren Geltung f ü r die lebende Natur aber durchaus strittig ist. Um das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität zu rechtfertigen und die Annahme einer Wechselwirkung zwischen Seele und Leib zu widerlegen, beruft man sich auf das P r i n z i p der E r h a l t u n g der

Energie.

Man meint, wenn nicht-materielle, etwa seelische

Faktoren auf die Körperwelt, etwa auf unseren Leib, unser Großhirn wirkten, dann müßten sie Arbeit leisten und so den Energievorrat der Körperweit, insbesondere etwa unseres Leibes, verändern. Dies würde aber dem Energieerhaltungsprinzip widersprechen, das nicht nur für die tote Natur gelte, sondern durch die Experimente von Rubner, Laulanie und Atwater auch f ü r den lebenden Tier- und Menschenleib als gültig erwiesen sei. Also sei die Annahme der Wechselwirkungshypothese, daß Seelisches auf unseren Leib, unser Großhirn wirke, zu verwerfen. Der Anhänger der Wechselwirkungslehre kann zunächst erwidern, daß die Energiegewinne und -Verluste, die unserem Leib aus dem Erleiden von seelischen Einwirkungen und aus der Ausübung von

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

Wirkungen auf die Seele erwachsen.mögen,, vielleicht so klein sind, daß sie sich der experimentellen Feststellung entzogen haben. Unsere Großhirnrinde, die in unmittelbarer Beziehung zum Seelischen steht, ist nur ein kleiner Teil unseres Leibes; wenn also bei der Wechselwirkung zwischen Seele und Großhirnrinde kleine Abweichungen vom Energieerhaltungsgesetz aufträten, so wäre es verständlich, wenn diese in den Versuchen von Atwater u. a., die es mit dem Energiehaushalt des ganzen Leibes zu tun hatten, nicht festzustellen waren. Man muß bedenken,

daß

diese

Energiemessungen

bei solchen Versuchen

schwierig und nur von begrenzter Genauigkeit sind, so daß die in Frage stehenden vielleicht sehr kleinen Abweichungen leicht verborgen bleiben konnten. Möglicherweise gleichen sich auch die Energiegewinne und -Verluste, die unser Leib beim Erleiden von seelischen Einwirkungen und beim Ausüben von Wirkungen auf die Seele erfahrein mag, ganz oder teilweise aus und entziehen sich dadurch der experimentellen Feststellung. Aber auch wenn man von der Möglichkeit solcher Abweichungen vom Energieerhaltungsprinzip absieht, wenn man strenge Gültigkeit dieses Prinzips auch f ü r die lebenden und beseelten Körper anerkennt, kann man die Annahme festhalten, daß die Seele auf den Leib (und der Leib auf die Seele) wirkt. Jenes Prinzip besagt, daß bei allem Geschehen die Energiemenge i m ganzen erhalten bleibt; wie aber dabei die einzelnen Energiearten

(Bewegungs-,

Lage-,

Wärme-,

elektrische, chemische Energie usw.) sich umwandeln, darüber entscheidet unser Prinzip nicht. Es läßt also f ü r das körperliche Geschehen, z. B. f ü r das Geschehen i m Großhirn, verschiedene Möglichkeiten zu, gleichsam verschiedene Wege offen. Und darum läßt es Raum f ü r die Einwirkung des Seelischen, welches das körperliche Geschehen im Großhirn demnach einen der vom Energieerhaltungsprinzip erlaubten Wege führen könnte. Daß speziell ein f ü h r e n d e r , l e i t e n d e r Einfluß des Seelischen auf materielles Geschehen möglich wäre, kann man an einem extrem einfachen Beispiel durch eine elementare mathematisch-physikalische Überlegung leicht dartun. Stellen wir uns einen isolierten, gleichförmig und geradlinig bewegten Massenpunkt vor, so könnte ein

Metaphysik.

220

seelischer Faktor, der von einem gewissen Zeitpunkt ab eine etets senkrecht zur Bewegungsbahn gerichtete Kraft auf jenes Massenteilchen ausübte, dasselbe in einer Kreisbahn mit unveränderter Geschwindigkeit weiterführen. Würde nach einer Weile diese Einwirkung

des seelischen Faktors

auf

unser Massenteilchen

auf-

hören, so würde dieses seine Bahn wieder geradlinig und mit unveränderter Geschwindigkeit fortsetzen; nur die Richtung der Bewegung wäre eine andere geworden. Da aber die Energie eines solchen isolierten Massenteilchens nicht von der Bewegungsrichtung, sondern nur von der Masse und der Geschwindigkeit abhängt, wäre sie im vorliegenden Falle trotz der seelischen Einwirkung unverändert erhalten geblieben. Unser seelischer Faktor hätte also den Massenpunkt i n eine andere Richtung g e l e i t e t , ohne das Energieerhaltungsgesetz zu verletzen. Isolierte Massenpunkte gibt es freilich in Wirklichkeit nicht; doch gilt, wie sich unschwer zeigen läßt, auch für kompliziertere materielle Vorgänge, daß sie ohne Verletzung des Energieerhaltungsprinzips von seelischen Faktoren f ü h r e n d beeinflußt werden könnten. Der Energieerhaltungssatz

s c h l i e ß t also seelische

Ein-

w i r k u n g e n a u f den L e i b n i c h t aus; er ist m i t der W e c h s e l wirkungshypothese

vereinbar.

Für spätere Betrachtungen ist

wichtig, daß er s p e z i e l l f ü h r e n d e , l e i t e n d e E i n w i r k u n g e n dee S e e l i s c h e n a u f das l e i b l i c h e Geschehen z u l ä ß t .

Vulgäre Form der Wechselwirkungshypothese. Um die Wechselwirkungshypothese weiter zu prüfen, betrachten wir wieder unser Beispiel von dem Kind, das einen Apfel sieht, begehrt und trotz Gewissensbedenken ergreift. Wie ist dies Geschehen auf Grund der Wechselwirkungshypothese zu deuten? Zunächst dringen Lichtstrahlen, die von dem Apfel kommen, in das Auge des Kindes ein, und sie rufen dort in der Netzhaut, auf der sie ein Lichtbild des Apfels entstehen lassen, diesem Bilde entsprechende nervöse Prozesse hervor. Diese Prozesse pflanzen sich durch den Sehnerven und durch gewisse Hirnteile fort bis zur sogenannten „Sehsphäre" in der Hinterhauptgegend der Großhirnrinde.

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

221

Dort schließt sich nun etwas Bewußt-Seelisches, nämlich die Wahrnehmung des Apfels, an die einströmenden nervösen Prozesse an. Die Wechselwirkungshypothese nimmt an, daß diese Prozesse jenes Seelische, also die Wahrnehmung, b e w i r k e n ; das ist in der Tat die am nächsten liegende Annahme. Nun geht der Vorgang i m Bewußtsein, in der Seele weiter. An das Wahrnehmungsbild des Apfels hängen sich Gefühle des W o h l gefallens,

ein starkes

Begehren,

unlustvolle

Gewissensbedenken

an, bis endlich der innerseelische Verlauf zu dem Willensentschluß führt, die Frucht zu nehmen. Dieser seelische Akt bringt nun wieder nervöse Prozesse m i t sich, die aus der Großhirnrinde hinaus durch Nervenleitungsbahnen Armund Handmuskeln des Kindes zuströmen, dieselben in Tätigkeit versetzen und so die Ausführung der gewollten Ergreifung der Frucht veranlassen. Bei Betrachtung dieses ganzen körperlich-seelischen Geschehens hat man zunächst folgenden Eindruck: Der Prozeß verläuft zuerst als Lichtstrahlimg, Netzhauterregung und nervöser, von der Netzhaut zur Großhirnrinde sich fortpflanzender Vorgang in der Körperweit; dann geht er in der Sehsphäre der Großhirnrinde auf die Seele über, indem er i n dieser die Wahrnehmung hervorruft, und nun verläuft er eine Zeitlang als Wahrnehrnungs-, Gefühls-, Begehrungs-, Gedanken- und Willensprozeß rein innerseelisch ; der seelische Willensentschluß bewirkt aber wieder einen körperlichen, nervösen Prozeß an einer anderen Stelle der Großhirnrinde, und dieser materielle, nervöse Prozeß pflanzt sich zu den Muskeln fort und löst deren angemessene Betätigung aus. Kurz, m a t e r i e l l e V o r g ä n g e i m L e i b e w ü r d e n seelische V o r g ä n g e , i n s b e s o n d e r e S i n n e s wahrnehmungen bewirken und d a m i t Vorgangsreihen von Wahrnehmungen,

Gedanken,

Gefühlen

usw.

in

Fluß

b r i n g e n ; diese w ü r d e n u n b e r ü h r t v o n w e i t e r e n l e i b l i c h e n V o r g ä n g e n i n d e r Seele v e r l a u f e n , b i s sie e t w a zu e i n e m W i l l e n s a k t f ü h r e n w ü r d e n , der d a n n w i e d e r a u f den L e i b w i r k e n , n ä m l i c h nervöse Prozesse u n d d u r c h d e r e n

Ver-

m i t t l u n g Muskelbewegungen und äußere Handlungen herv o r r u f e n würde.

Metaphysik.

222

Das wäre die Ausdeutung des Zusammenhanges von körperlichen und seelischen Vorgängen

i m Sinne der v u l g ä r e n

Wechsel^-

wirkungshypothese.

Verbesserte Form der Wechselwirkungsliypothese. Die Doppeleffekt- und DoppelursachenLypothese. Die vulgäre Form der Wechselwirkungsliypothese nimmt an, daß es rein innerseelische Vorgänge gebe, also z. B. Gedanken und höhere Gefühle, die nicht unmittelbar mit materiellen Vorgängen zusammenhängen, sondern sozusagen unberührt vom materiellen Geschehen i m Innern der Seele sich abspielen. D i e p h y s i o l o g i s c h - p s y c h o l o g i s c h e E r f a h r u n g s p r i c h t j e d o c h gegen diese A n n a h m e rein

innerseelischer

Vorgänge;

sie spricht dafür, daß a l l e

seelischen, auch die sogenannten höheren, die geistigen Vorgänge unmittelbar gesetzmäßig mit materiellen Vorgängen i m Großhirn zusammenhängen. Wie wir bei der Betrachtung des Materialismus und des Parallelismus bereits darlegten, hört der materielle, nervöse Prozeß, der vom Sinnesreiz i m Sinnesorgan hervorgebracht wird und von dort bis zur Sinnessphäre der Großhirnrinde eilt, hier nicht etwa auf, indem er die Sinneswahrnehmung hervorruft; er dringt vielmehr weiter durch das Großhirn hindurch vor, während sich offenbar mit i h m unmittelbar zusammenhängende weitere seelische Vorgänge, Gedanken, Begehrungen usw., an die Wahrnehmung anschließen; und wenn der seelische Prozeß in das Wollen einer äußeren Handlung ausläuft, dann läuft der nervöse Prozeß in die sogenannten motorischen Großhirnzentren (deren Lage auf der Großhirnrinde wohlbekannt ist) ein und aus diesen weiterhin abwärts den unser Wollen durchführenden Muskeln zu. Dieses gesetzmäßige Nebeneinanderherlaufen und Verbundensein der nervösen Prozesse, die von der Sinnessphäre bis zur motorischen Sphäre in kontinuierlichem Lauf das Großhirn durchziehen, und

der

seelischen

Prozesse,

die derweilen von

der

Sinnes-

wahrnehmung über Gedanken, Begehrungen usw. bis zum Willensakt führen, wird vom Parallelismus mit Recht anerkannt. Doch fügt

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

223

der Parallelist nun noch die seltsame Annahme hinzu, daß die beiden in gesetzmäßigem Zusammenhang nebeneinanderherlaufenden Vorgangsreihen, die materielle und die seelische, nie und nirgends aufeinander wirken. Das ist in der Tat eine seltsame Annahme; denn die nächstliegende Erklärung für das gesetzmäßige Verbundensein und Nebeneinanderherlaufen der beiden Reihen bietet doch die entgegengesetzte Annahme, daß sie eng kausal verknüpft sind, daß sie beständig aufeinander wirken und sich eben deshalb nacheinander richten, etwa wie zwei Pferde, die nebeneinander gespannt und dadurch eng kausal verknüpft sind. Dies werden wir um so eher annehmen, als sich uns der Parallelismus ja als undurchführbar erwiesen hat. W i r werden also dem Parallelismus darin recht geben, daß alle seelischen Vorgänge mit materiellen unmittelbar gesetzmäßig verbunden sind, und daß diese materiellen nervösen Vorgänge in kontinuierlichem Laufe das Großhirn durchziehen, während die gesetzmäßig ihnen zugeordneten seelischen Prozesse unser Bewußtsein durchziehen. Entgegen dem Parallelismus, hingegen der Wechselwirkungshypothese entsprechend, werden wir aber annehmen, daß gerade deshalb der Lauf der materiellen und derjenige der seelischen Prozesse gesetzmäßig aneinander gebunden erscheinen, weil diese und jene Prozesse beständig hin und her aufeinander wirken. W i r haben nach alledem die Wechselwirkungslehre durch folgende Annahmen

an die physiologisch-psychologische Erfahrung anzu-

passen: E r s t e n s nehmen wir an, daß der vom Sinnesorgan herkommende, in die Sinnessphäre der Großhirnrinde eindringende

materielle,

nervöse Vorgang daselbst nicht aufhört, indem er die Sinneswahrnehmung hervorruft, sondern vielmehr neben dieser seelischen Wirkung auch noch in der Materie des Großhirns fortwirkt

und

sich so in materiellen, nervösen Vorgängen i m Großhirn fortsetzt. Diese Stumpf'sche Annahme, daß der in die Großhirnrinde einströmende Vorgang i m Seelischen u n d i m Materiellen fortwirkt, bezeichnen wir

i m Anschluß an Busse als

„Doppeleffekthypo-

these". Daß ein Vorgang gleichzeitig zwei Wirkungen haben, in doppelter Richtung fortwirken kann, zeigt oftmals die Erfahrung.

224 Z w e i t e n s nehmen wir an, daß die von einer Sinnessphäre der Großhirnrinde aus das Großhirn durchziehende materielle, nervöse Vorgangsreihe und die gleichzeitig von einer Sinneswahrnehmung aus das Bewußtsein durchziehende seelische Vorgangsreihe in engster kausaler Verknüpfung bleiben, indem beständig die materiellen, nervösen Vorgänge auf die seelischen und die seelischen Vorgänge aüf die materiellen mitbestimmend wirken. Jeder von diesen materiellen Vorgängen hat also einerseits einen vorhergehenden materiellen Vorgang als Teilursache, den er gleichsam fortsetzt; andererseits ist er auch von der seelischen Vorgangsreihe aus beeinflußt. Ebenso haben auch die seelischen Vorgänge, die auf die Sinneswahrnehmung folgen, seelische Teilursachen, während sie zugleich unter dem mitbestimmenden Einfluß materieller Teilursachen, nämlich nervöser Großhirnvorgänge stehen ( „ D o p p e l u r s a c h e n h y p o these"). Materielle Vorgänge i m Großhirn setzen sich wirkend in materiellen Vorgängen fort, wirken aber zugleich mitbestimmend aufs seelische Geschehen; umgekehrt setzen sich seelische Vorgänge wirkend i n seelischen Vorgängen fort, wirken aber zugleich aufs materielle Geschehen i m Großhirn

(„Doppeleffekthypothese").

D r i t t e n s nehmen wir an, daß die materiellen Vorgänge, die aus den

motorischen

Zentren

des Großhirns

heraus auf

nervösen

Leitungsbahnen den Muskeln zuströmen und diese zur Ausführung der Willensbewegungen veranlassen, einerseits Wirkungen und Fortsetzungen von materiellen Großhirnprozessen darstellen, daß sie aber andererseits

aufs

stärkste

mitbestimmt sind von seelischen Teil-

ursachen, nämlich von unseren Willensakten. Kurz, die materiellen, nervösen Befehlstelegramme, die unser Großhirn den i h m gehorsam dienenden Muskeln zusendet, haben eine seelische Teilursache i m Willensakt und eine körperliche i m Großhirn geschehen. Für diese Befehlstelegramme hatte schon Stumpf eine solche zweifache

Verursachung,

eine „ D o p p e l u r s a c h e n h y p o t h e s e "

genommen. W i r haben i m obigen die S t u m p f ' s e h e effekt-

und Doppelursachenhypothese

an-

Doppel-

n o c h w e i t e r aus-

g e b a u t , indem wir nicht nur den in die Sinnessphären der Großhirnrinde eindringenden nervösen Erregungen eine doppelte (seelische und körperliche) W i r k u n g zuschrieben und den aus dem Großhirn

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

225

den Muskeln zueilenden nervösen Befehlstelegrammen eine doppelte (seelische und körperliche) Verursachung zuschrieben; sondern auch anderen Großhirnvorgängen und seelischen Vorgängen schrieben wir zweifache (seelische und körperliche) Ursachen und Wirkungen zu. W i r n a h m e n an, d a ß das seelische Geschehen u n d das G r o ß h i r n g e s c h e h e n d a r u m so i n n i g v e r k n ü p f t e r s c h e i n e n , w e i l seelische

Vorgänge

und

Großhirnvorgänge

zusammen-

w i r k e n d w e i t e r e seelische V o r g ä n g e u n d G r o ß h i r n v o r g ä n g e verursachen und bestimmen. I n dieser e r w e i t e r t e n D o p p e l u r s a c h e n - u n d D o p p e l e f f e k t h y p o t h e s e haben wir eine Auffassung der Leib-Seele-Beziehungen gewonnen, die dem engen Zusammenhange des ganzen bewußtseelischen Geschehens mit materiellen Großhirnvorgängen ebenso gut gerecht wird wie der Parallelismus, und die dabei doch die uns von den Erfahrungstatsachen so nahegelegte Auffassung anerkennt, daß Körperliches und Seelisches aufeinander wirken.

Weitere Ausgestaltung der Wechselvvirkungshypothese. Die Führungshypothese (Führerrolle des Seelischen im Großhirn). é LTm unsere Auffassung vom Leib-Seele-Zusammenhang weiter auszugestalten, fragen wir nunmehr, welcher Art denn die mitbestimmende Einwirkung des Seelischen auf die materiellen Vorgänge i m Großhirn sein mag. Diese Vorgänge ziehen, zuletzt aus den Sinnesorganen kommend, in ununterbrochenem Lauf durch das Großhirn, um von i h m aus den Muskeln (und Drüsen) zuzuströmen. Die Erfahrung, daß alle seelischen Vorgänge zuletzt durch Sinneserregungen eingeleitet werden, scheint dafür zu sprechen, daß die Seele niemals von sich aus neue materielle Prozesse ins Leben ruft, sondern vielmehr immer nur schon vorhandene, zuletzt von Sinnesorganen herkommende, das Großhirn durchströmende Prozesse beeinflußt. W o r in mag diese Beeinflussung der dahinströmenden materiellen Prozesse, der nervösen Erregungsströme, bestehen? Nun, Ströme, die man nicht hervorbringen kann, kann man doch beeinflussen, indem man sie l e i t e t . Darum liegt die Annahme nahe, daß

die s e e l i s c h e n V o r g ä n g e e i n e n l e i t e n d e n ,

B e c h e r , Kinführung in die Philosophie.

führenden 15

Metaphysik.

m Einfluß

auf

die m a t e r i e l l e n Vorgänge, die nervösen E r -

regungsströme i m G r o ß h i r n ausüben werden. I n dieser Annahme werden wir bestärkt, wenn wir einen Blick auf die Großhirnstruktur werfen. Das Großhirn, überhaupt das ganze Nervensystem, ist i m wesentlichen aufgebaut aus N e r v e n z e l l e n und aus N e r v e n f a s e r n , die als dünne Fortsätze der Nervenzellen anzusehen sind. Nervenfasern verbinden

jedenfalls

die Großhirn-Nervenzellen untereinander in

mannigfacher Weise. Ferner treten von unten her zahllose Fasern in unser Großhirn ein, um von den Sinnesorganen aus nervöse Erregungsprozesse den Großhirnzellen zuzuleiten, sowie umgekehrt von anderen Großhirnzellen aus nervöse Erregungen den Muskeln (und Drüsen) zuzuführen. Innerhalb der einzelnen Nervenfasern verlaufen viele noch feinere Fasern, die Neuro- oder Primitiv-Fibrillen ; diese treten mit den Fasern i n die Nervenzellen ein, bilden i n diesen ein Flechtwerk und führen so von einem Faserfortsatz zum anderen. Es liegt nahe, anzunehmen, daß diese Neurofibrillen die eigentlichen erregungsleitenden Bahnen i m Nervensystem und auch speziell i m Großhirn sind. Jedenfalls stellt das Nervensystem und insbesondere das Großhirn mit seinen Milliarden von mannigfach durch Faserfortsätze verbundenen Zellen ein ungeheuer kompliziertes Netzwerk von Bahnen dar, durch welche nervöse Erregungsprozesse dahineilen können. I n die Sinnessphären der Großhirnrinde (z. B. in die i m Hinterhaupt liegende Sehsphäre) führen zahllose Nervenbahnen, die von den Sinnesorganen (z. B. den Augen) kommende nervöse Erregungen dem Bahnnetz des Großhirns zuleiten. Die in einer solchen Sinnessphäre ankommenden Erregungen können nun bei der Unzahl der Balmverbindungen i m Leitungsnetzwerk des Großhirns viele verschiedene Wege einschlagen. Dies tritt darin zutage, daß wir auf denselben Sinnesreiz mit sehr verschiedenen Handlungen antworten können. Angenommen z. B., ich sehe bei einer Wanderung einen Apfel vor m i r auf dem Wege. Bin ich hungrig, so werde ich mich bücken und ihn m i t der rechten Hand aufheben. Weiß ich, daß meine verletzte rechte Hand bei Betätigung schmerzt, so werde ich statt ihrer wohl die linke benutzen. Fühle ich mich reichlich gesättigt,

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

227

so schiebe ich vielleicht den Apfel mit dem Fuß beiseite. Bin ich in freundlicher Stimmung, so mache ich etwa durch Zuruf und zeigende Arm- und Handbewegungen ein K i n d auf die Frucht aufmerksam. Denke ich m i t

Ärger

an hohe Obstpreise in der Großstadt, so

murmele ich vielleicht ein unfreundliches Wort über den Obstbaumbesitzer. Daß so viele verschiedene Reaktionen auf den Anblick des Apfels möglich sind, beruht darauf, daß dieselbe vom Auge aus der Sehsphäre meines Großhirns zufließende nervöse Erregung i m komplizierten Bahnnetz des Großhirns viele verschiedene Wege einschlagen und so verschiedenen Muskelgruppen zufließen und verschiedene Handlungen auslösen kann. Bei der angedeuteten Struktur des Großhirns erhebt sich die Frage, wie es zu verstehen ist, daß sich die von einem Sinnesorgan her einströmende Erregung i m Leitungsnetz des Großhirns nicht gänzlich zerstreut und verliert. Warum fließt die Erregung nicht in alle die vielen Gehirnbahnen, die zur Verfügung stehen? Bei der Fülle der Verbindungswege sollte man meinen, eine an bestimmter Stelle ins Großhirn eintretende Erregung werde sich schließlich diffus über die ganze Großhirnrinde, insbesondere auch über deren ganze motorische Sphäre ausbreiten und dementsprechend auf allen aus dem Großhirn

hinausführenden

Nervenbahnen

der gesamten Körper-

muskulatur zuströmen. Demnach sollte unsere gesamte Muskulatur auf jeden Sinnesreiz hin in Tätigkeit treten; oder aber es sollte sich die nervöse Erregung beim Auseinanderströmen i m Netzwerk der Großhirnbahnen derart verteilen und abschwächen, daß sie wirkungslos oder so gut wie wirkungslos bliebe. I n Wirklichkeit aber zerstreut sich die vom Sinnesorgan kommende Erregung nicht ziellos i m Bahnnetz des Großhirns, sondern sie fließt ausschließlich oder doch ganz vorwiegend durch bestimmte Bahnen bestimmten Muskeln zu. Dies geht aus dem Umstände hervor, daß wir auf zahllose Sinnesreize mit wohl angemessenen Handlungen antworten, bei denen nur ein bestimmter Teil unserer Muskulatur in fein koordinierte Tätigkeit tritt, während alle die anderen Muskeln keinen oder nur ganz schwachen nervösen Erregungszufluß erhalten. 15*

Metaphysik.

228

Man mag versuchen, diesen bestimmten, nicht-diffusen Verlauf der nervösen Erregung durch die Annahme zu erklären, daß bestimmte Bahnen i m Großhirn gut gangbar, andere hingegen schwer gangbar oder gesperrt sind. W i r müssen aber bedenken, daß eine bestimmte vom Sinnesorgan einströmende Erregung i m Großhirn je nach den Umständen ganz verschiedene Wege einschlagen und so verschiedenen Muskelgruppen zufließen kann; wir ersahen dies ja daraus, daß der von einem am Boden liegenden Apfel ausgehende Sinnesreiz sehr verschiedene Muskelbetätigungen zur Folge haben kann. Wären stets dieselben Bahnen i m schwer

gangbar oder

Großhirn

gesperrt,

gut gangbar, andere stets

dann müßte die gleiche Sinnes-

erregung stets über dieselben Bahnen denselben Muskeln zuströmen; die gleiche Sinnesreizung müßte stets dieselbe Muskelbetätigung, dieselbe Handlung hervorrufen. Mit der Annahme, daß bestimmte Großhirnbahnen dauernd gutgangbar, andere dauernd schlecht- oder un-passierbar seien, kommen wir also nicht aus. Es müssen ja bald diese, bald jene Bahnen von der gleichen, auf derselben Bahn ins Großhirn einströmenden Erregung passiert werden, weil die gleiche Erregung verschiedenen Muskelgruppen zufließen kann. Die Sachlage ist ähnlich wie beim Straßennetz einer Stadt, in welchem auch ein Kraftwagen, der wiederholt auf derselben Straße hineinfährt, einmal diesen, ein andermal jenen Weg einschlägt, um dann die Stadt einmal auf dieser, ein andermal auf jener Straße zu verlassen und so verschiedenen Dörfern zuzueilen. Dies w i r d aber dadurch möglich, daß der K r a f t w a g e n f ü h r e r sein Fahrzeug i m Straßennetz der Stadt l e i t e n d beeinflußt. Sollten also nicht auch i m Bahnnetz des Großhirns f ü h r e n d e

Faktoren

wirksam sein, welche die nervösen Erregungsvorgänge l e i t e n d beeinflussen, so daß sie auf bestimmten Bahnen bald diesen, bald jenen Muskeln zueilen? Denken w i r nun daran, daß es von s e e l i s c h e n Faktoren, von unseren

Gedanken, Stimmungen, Willensakten usw. abhängt, mit

welchen Muskelgruppen und -tätigkeiten wir auf die nervöse Erregung reagieren, die etwa beim Anblick eines auf unserem Wege liegenden Apfels in unserem Auge ausgelöst wird, so drängt sich

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

uns die Annahme

auf,

229

daß eben die s e e l i s c h e n Faktoren die

F ü h r e r sind, deren die nervösen Erregungsvorgänge in dem ungeheuer komplizierten Bahnnetz des Großhirns bedürfen, um sich nicht ziellos zu zerstreuen, sondern auf bestimmten, richtigen Wegen den richtigen Muskeln zugeleitet zu werden. So sind wir wiederum zu der Annahme einer f ü h r e n d e n

Ein-

w i r k u n g des S e e l i s c h e n auf die nervösen Prozesse i m Großhirn gelangt. Die führenden seelischen Vorgänge werden dabei, wie unsere Doppelursachenhypothese es fordert, ihrerseits beständig von den geführten

materiellen,

nervösen

Erregungsprozessen

beeinflußt

werden, ähnlich wie der Kraftwagenführer beständig vom Lauf seines Wagens beeinflußt wird. Unsere Hypothese einer Führung der nervösen Erregungsvorgänge durch seelische Vorgänge wird aber noch besonders nahegelegt durch den Umstand, daß b e i d e r ä u ß e r e n

Willenshandlung

die

M u s k e l t ä t i g k e i t e n d e m W o l l e n angemessen zu sein p f l e g e n . W i l l ich z. B. einen Apfel aufheben, so erfolgen Muskelbewegungen, die geeignet sind, gerade dies Willensziel zu erreichen. Die aus dem Großhirn den Muskeln zufließenden nervösen Erregungen müssen demnach i m

Bahnennetz des Großhirns in einer Weise geführt

worden sein, die dem Wollen und den in i h m enthaltenen Zielund Mittel Vorstellungen (bzw. -gedanken) entspricht. Die Tatsache aber, daß der Lauf der nervösen Erregungen i m Hirnbahnennetz diesen seelischen Faktoren zu entsprechen pflegt, deutet wiederum darauf hin, daß eben diese seelischen Faktoren den Lauf der nervösen Erregungen f ü h r e n . Weiterhin spricht f ü r unsere „ F ü h r u n g s h y p o t h e s e " , daß der E n e r g i e e r h a l t u n g s s a t z , wie wir oben sahen, speziell mit der Annahme f ü h r e n d e r Einwirkungen des Seelischen auf das materielle, nervöse Geschehen i m Großhirn verträglich ist. Endlich aber erscheint diese Hypothese als die nächstliegende und ungezwungenste Ausdeutung der Beziehungen zwischen dem Seelischen und dem Großhirngeschehen, wenn man die F ü h r e r r o l l e betrachtet, die das Seelische tatsächlich in unserem Leben zu spielen scheint. Die Sinneswahrnehmung dient uns immerfort als Führerin; so etwa, wenn wir i m Dunkel der Nacht uns an einer Wand entlang

230

Metaphysik.

tasten oder, vom Wege verirrt, unsere Schritte nach einem fernen Lichte lenken. Daß Erfahrung und Verstand uns i m Leben führen, und zwar o f t i m Verein mit gegenwärtiger Sinneswahrnehmung, braucht nicht erst an Beispielen dargetan zu werden. Aber auch vom Gefühl läßt sich der Mensch oft führen; so leiten z. B. Gefühle der Mutterliebe das Leben einer Mutter in weitem Umfange. Eine sehr wichtige, den Lebenslauf oft bis in ferne Zukunft bestimmende Führerrolle kommt dem Willen zu, z. B. dem Entschluß eines Jünglings, sein Leben der Wissenschaft zu widmen. Sinneswahrnehmung,

Erfahrung,

Verstand, Gefühl und Wille,

kurz alle wesentlichen Fähigkeiten unserer Seele, scheinen also eine wichtige, ja unentbehrliche Führerrolle i m Menschenleben zu spielen. Auch i m Tierleben tritt uns diese Führerrolle seelischer Faktoren, der Sinneswahrnehmung, des Gedächtnisses, der Triebe entgegen. Wenn

wir

den aus Seele u n d L e i b bestehenden

Gesamt-

o r g a n i s m u s des M e n s c h e n oder eines T i e r e s b i o l o g i s c h u n befangen

betrachten,

dann

erscheint

das Seelische

als

f ü h r e n d e r F a k t o r i n dieser L e b e n s e i n h e i t . Die Hypothese, daß seelische Faktoren die nervösen Erregungsvorgänge i m mehreren

Bahnennetz des Großhirns führen, zu der wir auf

Wegen gelangten, erscheint nunmehr auch als die un-

gezwungenste feinere Interpretation der biologischen Führerrolle des Seelischen, die sich uns bei Betrachtung des Menschen- und Tierlebens aufdrängt. Wenn die makroskopische Betrachtung i m Seelischen den Führer unseres Tuns und Treibens erblickt, so deutet unsere Führungshypothese dies sozusagen ins Mikroskopische aus in der Annahme, daß die seelischen Faktoren i m Großhirn die nervösen Prozesse führen, die schließlich unsere Muskelbewegungen, unsere Handlungen auslösen. Immer wieder, und durch Erwägungen, die von verschiedenen Ausgangspunkten

aus verschiedene Wege gingen, wurden wir

zur

Führungshypothese gedrängt. Das spricht sehr zu ihren Gunsten. W i r erblicken i n dieser Ausgestaltung der W^echselwirkungshypothese die befriedigendste Deutung des Leib-Seele-Zusammenhanges. Fassen wir diese Auffassung nunmehr in wenigen Sätzen noch einmal zusammen: Materielle, nervöse Prozesse, die von Sinnesreizen in Sinnes-

Der Zusammenhang von Seele und Materie-an-sich.

231

Organen ausgelöst werden, gelangen von diesen aus durch nervöse Sinnesbahnen i n die Sinnessphären der Großhirnrinde. Dort rufen sie in der Seele S i n n e s w a h r n e h m u n g e n hervor. Sie durchziehen dann unser Großhirn, während an die Sinneswahrnehmungen sich anschließende psychische Prozesse unsere Seele durchziehen. D i e das G r o ß h i r n d u r c h z i e h e n d e n m a t e r i e l l e n , n e r v ö s e n Prozesse u n d d i e unsere Seele d u r c h z i e h e n d e n p s y c h i s c h e n Prozesse bleiben

stets i n i n n i g e r k a u s a l e r V e r b i n d u n g ; d i e m a t e -

r i e l l e n Prozesse b e e i n f l u s s e n d i e seelischen i n i h r e m ganzen V e r l a u f , u n d u m g e k e h r t ü b e n diese a u f d i e m a t e r i e l l e n E r r e g u n g s p r o z e s s e i m k o m p l i z i e r t e n B a h n e n n e t z des G r o ß h i r n s e i n e n f ü h r e n d e n E i n f l u ß aus, so daß dieselben sich .licht ziellos zerstreuen, sondern i n o f t erstaunlich z w e c k m ä ß i g e r und etwa u n s e r e n W i l l e n s z i e l e n angemessener W e i s e bestimmten Muskelgruppen zugeleitet werden. — Mit der Führungshypothese ist das Problem des Leib-Seele-Zusammenhanges keineswegs restlos gelöst. Es erhebt sich z. B. die Frage, worauf es beruht, daß eine bestimmte Seele (z. B. die meinige) gerade mit einem bestimmten Körper (mit dem meinigen) zusammenwirkt. W i r wollen diese Frage, die tief i n die metaphysischen Probleme der Kausalität und des Raumes hineinführt, hier nicht bearbeiten, sondern uns einer anderen, f ü r das Problem des LeibSeele-Zusammenhanges sehr wichtigen Frage zuwenden.

V o m unbewußten Seelischen. Begriff und Annahme eines unbewußten Seelischen. Unbewußte geistige Arbeit. Als Baumaterial der Gesamtwirklichkeit haben wir bisher das bewußt-seelische Wirkliche und die Materie-an-sich kennen gelernt. Auch diese mag seelischen Wesens sein, muß sich jedoch nach unseren

Erwägungen

vom

Bewußt-Seelischen wesentlich unter-

scheiden. Die Materie-an-sich existiert in ungeheurer Menge, solange die Welt besteht; das B e w u ß t - S e e l i s c h e h i n g e g e n s t e l l t s i c h uns j e d e n f a l l s z u n ä c h s t als e i n i m V e r h ä l t n i s zur M a t e r i e h ö c h s t s e l t e n e r W e l t b e s t a n d t e i l d a r , da wir es zunächst nur in Menschen und höheren Tieren feststellen können. Und zwar finden wir auch beim Menschen und höheren Wirbeltier nicht den ganzen Leib, sondern nur einen kleinen Teil desselben, das Großhirn, mit Bewußt-Seelischem unmittelbar verbunden. In den Großhirnen-ansich, diesen winzigen, vergänglichen Bestandteilen der Materie-ansich, übt allerdings das Seelische einen führenden Einfluß aus. S o l l t e es a u ß e r d i e s e m B e w u ß t - S e e l i s c h e n n i c h t s S e e l i sches

i n der

Welt

u n d G e s a m t w i r k l i c h k e i t geben?

Wir

sehen bei der Bearbeitung dieser Frage bis auf weiteres ab von der Vermutung, daß die Materie-an-sich seelischen Wesens sein könnte. Es wird uns nun in den Sinn kommen, daß in unseren früheren Überlegungen wiederholt von einem u n b e w u ß t e n Seelischen die Rede war. Philosophen und Psychologen haben vielfach außer dem bewußten Seelischen ein unbewußtes angenommen. W i r sahen, wie der universelle Parallelismus zur Annahme eines Unbewußt-Seelischen kam. Doch h i l f t uns das hier nicht weiter, da wir den Parallelismus ablehnen mußten. Um von vornherein f ü r unsere Prüfung der Annahme eines unbewußten Seelischen Klarheit über unseren B e g r i f f desselben zu

Vom unbewußten Seelischen.

233

schaffen, gehen wir vorn Begriff des bewußten Seelischen aus. Bew u ß t (nämlich uns bewußt) i s t das S e e l i s c h e , das f ü r uns u n m i t t e l b a r w a h r n e h m b a r (und so unmittelbar „wißbar") i s t 1 . So sind die Vorstellungsbilder, Gedanken, Gefühle und Willensvorgänge, die wir unmittelbar erleben und wahrnehmen, bewußt-seelische Objekte. I m Gegensatz dazu wäre als u n b e w u ß t (eigentlich als für uns unbewußt)

ein

unmittelbaren

oder

Seelisches

zu b e z e i c h n e n , das u n s e r e r

Selbstwahrnehmung

entzogen

wäre.

Ein Seelisches, das f ü r uns unbewußt ist, könnte für ein anderes seelisches Wesen, z. B. für Gott, bewußt, d. h. unmittelbar wahrnehmbar sein. Ob es Realobjekte gibt, die überhaupt f ü r kein wahrnehmendes Subjekt

unmittelbar

wahrnehmbar

und also i m a b -

s o l u t e n S i n n e u n b e w u ß t sind, muß hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls kann die Materie-an-sich als unbewußt für uns bezeichnet werden, da sie unserer unmittelbaren Wahrnehmung nicht zugänglich ist. Wenn man kurzweg vom Unbewußten spricht, so meint man jedoch gewöhnlich nicht die Materie-an-sich noch die ihr angehörigen Eigenschaften, Vorgänge und Beziehungen, sondern man meint ein von alledem verschiedenes, uns (bzw. a u c h T i e r e n ) a n gehöriges

und doch

f ü r uns (bzw. f ü r

tierischen Subjekte) nicht bewußtes Wir

wollen

nun prüfen,

die b e t r e f f e n d e n

Seelisches.

ob die Annahme eines solchen un-

bewußten Seelischen begründet ist. In Anwendung der empirischinduktiven Forschungsmethode suchen wir also nach Erfahrungstatsachen, aus denen ein solches unbewußtes Seelisches zu erschließen wäre. Wenn wir von pathologisch-psychologischen Tatsachen hier absehen, so drängen vielleicht am stärksten gewisse Erfahrungen beim geistigen Schaffen den Gedanken an unbewußtes Seelisches auf. Der geniale Künstler bringt in manchen Fällen sein Werk nicht durch bewußt gestaltende geistige Arbeit zustande, sondern die Schöpfung fällt oder fließt

i h m durch

„Inspiration" als fertiges oder fast

fertiges Produkt zu, als ob ein anderer, unwahrnehmbarer Geist sie geschaffen. Und doch muß wohl i m Künstler selbst die schaffende, gestaltende Arbeit sich abgespielt haben. So ergibt sich die Vermutung, 1

Vgl. Erkenntnistheorie S. 70.

Metaphysik.

234 daß sich außerhalb

des Bewußtseins, der unmittelbaren

Wahr-

nehmung entzogen, eine schaffende geistige Arbeit vollziehen könne. I n dieser „ u n b e w u ß t e n g e i s t i g e n A r b e i t " , die auch beim Forschen und Erfinden eine bedeutsame Rolle spielt, hätten wir also etwas vermutlich Unbewußt-Seelisches gefunden. Doch handelt es sich hier offenbar um recht komplizierte Tatsachen, die einer genaueren Untersuchung große Schwierigkeiten bereiten. Eine solche Untersuchung wäre jedoch erforderlich, um festzustellen oder wenigstens wahrscheinlich zu machen, daß es sich bei der „unbewußten geistigen Arbeit" wirklich um ein unbewußtseelisches Geschehen, nicht aber bloß um materielle, um Großhirnvorgänge handelt. Allerdings gibt es auch einfachere Formen der „unbewußten geistigen Arbeit", die nicht zu genialen Schöpfungen, immerhin jedoch oft zu überraschenden Leistungen führen. Wenn wir uns um die gedankliche Lösung eines Problems, z. B. einer geometrischen Konstruktionsaufgabe, eine Zeitlang vergeblich bemüht und dann unsere bewußte geistige Arbeit eingestellt und an ganz andere Sachen gedacht haben, dann machen w i r manchmal, wenn wir uns nach einer Weile jenem Problem wieder zuwenden, die überraschende Erfahrung, daß uns seine Lösung ganz leicht wird, uns sozusagen von selbst in den Schoß fällt, wie eine gereifte Frucht. Man hat dann den Eindruck, daß die geistige Arbeit an dem Problem nicht aufgehört hat, als sie i m Bewußtsein beendet wurde, daß sie seither außerhalb des Bewußtseins, als „unbewußte geistige Arbeit", ihren Fortgang genommen und die Problemlösung vorbereitet oder gar schon durchgeführt hat. Verwandt mit den Ergebnissen „unbewußten geistigen Schaffens" erscheinen auch manche U r t e i l e , d i e s i c h uns als u n z w e i f e l h a f t w a h r aufdrängen, o b w o h l ihnen i n unserem Bewußtsein j e d e R e c h t f e r t i g u n g durch Wahrnehmung oder schließende Begründung f e h l t .

Unpassenderweise werden solche Urteile

oft

als intuitive oder Gefühlsurteile bezeichnet. Sie scheinen i m Denken der Frau noch häufiger zu sein als in dem des Mannes. Man urteilt etwa: „Dieser Mensch ist sicherlich unehrlich; mein Gefühl sagt es mir, wenn ich auch keine Gründe f ü r meine Überzeugung an-

235

Vom unbewußten Seelischen.

führen kann." Daß solche Urteile auch i n der Wissenschaft eine große Rolle spielen, wo sie dann etwa dem „wissenschaftlichen Instinkt", der „ E i n f ü h l u n g " , dem „historischen T a k t " zugeschrieben werden, liegt auf der Hand; sie können überaus förderlich, aber auch sehr gefährlich wirken. I m soeben angeführten Beispiel mag die Überzeugung, daß der betreffende Mensch unehrlich sei, auf der Nachwirkung gewisser Erfahrungen beruhen, die aus unserem G e d ä c h t n i s heraus unser Urteil beeinflussen, ohne uns zum Bewußtsein zu kommen. W'ir haben vielleicht früher bei ähnlich redenden, blickenden und sich benehmenden Menschen die Erfahrung gemacht, daß sie unehrlich waren. Das wirkt nun aus dem Gedächtnis, aus dem „Unbewußten" heraus bestimmend auf Suchen

nach

unser Urteil. So werden w i r hier beim

Unbewußt-Seelischeim

auf das G e d ä c h t n i s

auf-

merksam. Und wir haben es wiederum m i t G e d ä c h t n i s l e i s t u n g e n

zu

tun, wenn wir das u n b e w u ß t e F o r t w i r k e n des S i c h - B e s i n n e n s ins Auge fassen, das w i r als eine besonders einfache Form der „unbewußten geistigen Arbeit" betrachten können. Wenn wir uns vergeblich angestrengt haben, uns z. B. auf einen bestimmten Namen zu besinnen, ihn aus dem Gedächtnis ins Bewußtsein zu ziehen, wenn wir dann das bewußte Suchen des Namens aufgegeben und gar nicht mehr an ihn gedacht haben, dann kommt er uns oft nach einer kürzeren oder längeren Zeitspanne spontan zum Bewußtsein. Hier hat man wieder den Eindruck, daß die Arbeit des Suchens, des SichBesinnens, i n einer unbewußt-seelischen Form nachgewirkt und zum Ziele geführt habe, nachdem wir unser vergebliches bewußtes Besinnen eingestellt hatten.

Die unbewußt-seelischen Gedächtnisspuren. Physiologische und psychistische Gedächtnishypothese. Nicht nur bei den angedeuteten, sondern bei allen, auch schon bei den einfachsten Leistungen unseres Gedächtnisses tritt uns das Problem des unbewußten Seelischen entgegen. Eine

der

einfachsten

Leistungen

„schlichte Reproduktion",

des

Gedächtnisses

ist die

die Wiedererzeugung früherer Be-

Metaphysik.

236

wußtseinsinhalte. Mein Gedächtnis kann z. B. das Wahrnehmungsbild meines fernen

Vaterhauses

„reproduzieren",

d. h. als Ge-

dächtnisbild oder -Vorstellung erneuern. Diese reproduzierte oder Gedächtnis-Vorstellung

meines Vaterhauses

gleicht dem

Wahrneh-

mungsbild desselben allerdings nur unvollkommen; sie stellt eine blasse, lückenhafte und flüchtige Abbildung desselben dar. Ebenso kann mein Gedächtnis z. B. Wahrnehmungsinhalte des Gehörssinnes, etwa den Sang einer Nachtigall, in meiner Seele reproduzieren. Übrigens sind nicht nur Sinneswahrnehmungsinhalte, sondern auch andere Bewußtseinsinhalte, z. B. Gedanken, reproduzierbar. Für gewöhnlich ist die Vorstellung meines Vaterhauses in meinem Bewußtsein nicht vorhanden. Doch muß von der Wahrnehmung des Vaterhauses etwas in mir, in meinem Gedächtnis, zurückgeblieben sein;denn wenn nicht ein verborgenes B i l d , e i n e „ G e d ä c h t n i s s p u r " , ein „ R e s i d u u m " , von der Wahrnehmung her in mir zurückgeblieben wäre, wie sollte mein Gedächtnis dann imstande sein, von sich aus eine Vorstellung des Vaterhauses in meinem Bewußtsein auftauchen zu lassen? Unser Gedächtnis muß zahllose „Spuren" oder „Residuen" in sich bergen, z. B. die „Spuren" all der mutter- und fremdsprachlichen Wörter, der Zahlen, Melodien, Gesichter, Tiere, Pflanzen, Möbel, Werkzeuge und Maschinen, die wir kennen. Diese ungeheuer zahlreichen Gedächtnisspuren sind in unserem Bewußtsein nicht zu finden; sie existieren in verborgener, „unbewußter" Form in uns. I n einem bestimmten Augenblick ist immer nur ein minimaler Bruchteil unseres Gedächtnisbesitzes in unserem Bewußtsein gegenwärtig. I m täglichen Leben betrachten wir das Gedächtnis als eine seel i s c h e Fähigkeit; in der Tat macht es sich ja aufs stärkste im bewußten Seelenleben geltend. Darum liegt es nahe, auch die in unserem Gedächtnis enthaltenen „Spuren" als etwas Seelisches aufzufassen.

I)a sich nun die zahllosen Gedächtnisspuren nicht in

unserem Bewußtsein finden, da sie sich unserer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, müßten sie u n b e w u ß t - s e e l i s c h e Realitäten darstellen. So begegnet uns das Problem des unbewußten Seelischen bereits bei der theoretischen Deutung ganz einfacher Gedächtnisleistungen. Und hier, wo es sich um verhältnismäßig einfache Tat-

Vom unbewußten Seelischen.

237

Sachen handelt, verspricht die Bearbeitung des Problems am ehesten Erfolg. Der „ p s y c h i s t i s c h e n G e d ä c h t n i s h y p o t h e s e " , d. h. der Auffassung, daß das Gedächtnis etwas in der Hauptsache Seelisches ist, und daß die Gedächtnisspuren oder Residuen unbewußt-seelische Objekte darstellen, steht nun aber die sehr verbreitete

„physiolo-

gische G e d ä c h t n i s h y p o t h e s e " gegenüber, welche i m Gedächtnis etwas Physiologisches, eine Fähigkeit der Großhirnmaterie, und in den Residuen materielle Nachwirkungen der nervösen Erregungsvorgänge i m Großhirn erblickt. Nehme ich z. B. mit dem Gesichtssinn ein Haus wahr, so strömen aus der Netzhaut des Auges nervöse Erregungsprozesse in die Sehspäre der Großhirnrinde ein, die in der Seele das Wahrnehmungsbild des Hauses hervorrufen ; i m Großhirn sollen nun diese nervösen Erregungsvorgänge nach der physiologischen Gedächtnishypothese dauernde materielle Nachwirkungen hinterlassen, und eben diese sollen die Gedächtnisspuren darstellen. Für diese Hypothese spricht erstens, daß m a t e r i e l l e V o r g ä n g e vielfach

materielle

Nachwirkungen

oder Spuren

hinter-

lassen, die sozusagen das Geschehen i m Abbilde festhalten.

So

gräbt strömendes Wasser Spuren in den Erdboden, die seinen Lauf i m Abbild festhalten; so hinterlassen die Füße von Menschen und Tieren i m Schnee abbildende Spuren ; so bewirkt in der photographischen Kamera das von der Linse entworfene Lichtbild ein dauerndes chemisches Abbild, das durch das „Entwickeln" sichtbar gemacht wird. Zweitens läßt sich zugunsten der physiologischen Gedächtnishypothese anführen, d a ß s o l c h e m a t e r i e l l e n S p u r e n mal die Erneuerung,

manch-

d i e „ R e p r o d u k t i o n " der V o r g ä n g e ,

v o n denen sie h i n t e r l a s s e n w u r d e n , u n t e r g e e i g n e t e n

Be-

d i n g u n g e n e r m ö g l i c h e n . Die bei einem Platzregen entstandene Spur eines Wasserlaufes ermöglicht sogleich die Erneuerung, die „Reproduktion" dieses Wasserlaufes, wenn es wieder regnet. So wird uns die Annahme nahe gelegt, daß auch die nervösen Erregungsströme in der Großhirnmaterie Spuren hinterlassen, die eine Erneuerung der spurbildenden nervösen Erregungen und damit eine Reproduktion der entsprechenden seelischen Vorgänge, eine Gedächtnisreproduktion, ermöglichen.

Metaphysik.

238 Drittens

kommt

-erschütterungen,

noch hinzu, d a ß -Vergiftungen

dächtnisschädigungen

und

Großhirnerkrankungen, und

-Verluste

-Verletzungen mit

sich,

Ge-

bringen

k ö n n e n , und zwar so, daß Beschädigungen an bestimmten Stellen des Großhirns (z. B. i n der Hinterhauptgegend) bestimmte Arten von Residuen (z. B. von Gesichtswahrnehmungen stammende) zu schädigen oder zu zerstören scheinen. Wenn aber Großhirnschädigungen die Gedächtnisspuren schädigen oder zerstören, dann liegt es doch sehr nahe, diese als materielle Veränderungen i m Großhirn zu betrachten. Andererseits stößt diese Hypothese auf S c h w i e r i g k e i t e n , aus denen w i r keinen gangbaren Ausweg finden. Fassen wir z. B. die Entstehung von Gedächtnisspuren bei Gesichtswahrnehmungen ins Auge! Wenn ich etwa eine Landschaft betrachte, so bildet sich diese auf der Netzhaut meines Auges ab; (daß wir z w e i Augen haben, ist f ü r die folgende Überlegung belanglos und bleibe darum außer Betracht). Auf der ganzen Fläche meiner Netzhaut entstehen dadurch nervöse Erregungen, welche durch die ungeheuer zahlreichen Fasern der Sehnervenbahn fortgeleitet werden bis zur Sehspäre der Großhirnrinde, wo sie die Gesichtswahrnehmung der Landschaft hervorrufen, und bis zu der Stelle i m Großhirn, wo sie die entsprechenden Gedächtnisspuren hervorbringen sollen. Ob diese Ablagerungsstelle der Gedächtnisspuren des Gesichtssinnes m i t der Sehsphäre ganz oder teilweise identisch ist oder nicht, ist strittig und f ü r unsere Betrachtung unwesentlich. Jedenfalls entstehen, wenn unser Auge nun ein anderes Bild aufnimmt,

auf der gleichen Netzhautfläche andere

nervöse Erregungen, die durch die gleichen Fasern der Sehnervenbahn dem Großhirn zugeleitet werden und also schließlich wieder zu genau derselben Stelle und in dieselben Großhirnelemente strömen müssen,

die bereits die Gedächtnisspur jener Landschaft

auf-

genommen haben sollen. W e i l immer wieder durch neue Lichtreize i n denselben Netzhautelementen neue nervöse Erregungen erzeugt werden, und weil diese durch dieselben Nerven leitungen immer wieder denselben Großhirnelementen zuströmen müssen, in denen sie ihre Gedächtnisspuren hinterlassen sollen, müßten sich diese hintereinander

entstehenden

Spuren

denselben Rindenteilen ein-

Vom unbewußten Seelischen.

239

prägen. Mithin müßten sich dort diese zahllosen „optischen", d. h. Gesichts Wahrnehmungen

entsprechenden

Gedächtnisspuren

über-

decken und gegenseitig stören, ähnlich wie sich photographische Bilder stören, die aus Versehen auf die gleiche Platte aufgenommen werden; die Gedächtnisspuren müßten sich schließlich gegenseitig vernichten, wie sich zahllose auf dieselbe Platte aufgenommene verschiedene Photographien oder zahllose auf dasselbe Papierblatt gedruckte verschiedene Bilder vernichten würden. Man versteht nicht, wie die optischen Gedächtnisspuren in der Hirnrinde auseinandergehalten werden könnten, wie verhindert werden könnte, daß sie sich gegenseitig stören und zerstören. Mit der dargelegten Schwierigkeit hängt eine andere zusammen, die wir am Beispiel des Gehörssinns verdeutlichen wollen. Nehmen wir einmal an, ein bestimmter, kurzer Ton wirke auf unser Ohr; nach einer halben Sekunde wirke er noch einmal und nach einer weiteren Sekunde zum dritten Male in genau gleicher Weise ein. Dreimal w i r d dann dieser Tonreiz an derselben Stelle i m inneren Ohr in eine nervöse Erregung umgesetzt, und diese wird dreimal durch dieselben Fasern genau derselben Großhirnstelle zugeleitet, welche die entsprechende Gedächtnisspur aufnehmen soll. Die nervöse Erregung müßte also dreimal nacheinander an dieser spur-aufnehmenden Stelle ihre Auswirkung ausüben. Man sollte meinen, die dreimalige Wiederholung dieser Einwirkung werde nur eine Verstärkung und Vervollkommnung der Gedächtnisspur zur Folge haben, so wie etwa die Spur einer Pflugschar vertieft wird, wenn diese dreimal auf genau gleicher Bahn die Ackererde aufreißt. I n der Tat wird eine Gedächtnisspur durch Wiederholung des Reizes gekräftigt; sie wird dauerhafter und führt leichter zu einer Reproduktion. Doch bewirkt unsere dreimalige Wiederholung des gleichen Tonreizes nicht nur eine Kräftigung der Gedächtnisspur eines Tones, sondern sie r u f t eine Gedächtnisspur d r e i e r gleicher, i n verschiedenem Zeitabstand aufeinander folgender Töne hervor; denn wenn w i r das Gehörte gedächtnismäßig reproduzieren, d. h. ins Bewußtsein zurückrufen, so erhalten wir nicht etwa nur das kräftige Gedächtnisbild eines Tones, sondern unser Gedächtnis gibt uns die d r e i gleichen Töne mitsamt ihren ungleichen Zeitabständen wieder. Das wäre aber nicht zu ver-

240

Metaphysik.

stehen, wenn die dreimalige Wiederholung des Reizes nur die Gedächtnisspur vertiefen würde, was man auf Grund der physiologischen Gedächtnishypothese annehmen sollte. I n der Gedächtnisspur muß vielmehr die Zahl der Wiederholungen und sogar deren Zeitabstand irgendwie festgehalten sein, da unser Gedächtnis alles dies festhält. Wie aber soll in einer Spur, einer Nachwirkung in der Großhirnmaterie zum Ausdruck kommen, ob sie einer e i n m a l i g e n kräftigen Einwirkung oder einer d r e i m a l genau wiederholten weniger kräftigen ihre Entstehung verdankt? Wie soll insbesondere der Zeitabstand und das Kräfteverhältnis der Einwirkungen, sich der Großhirnmaterie einprägen, wenn diese Einwirkungen an genau derselben Stelle erfolgen? Einem Wachssiegel z, B. kann man es nicht ansehen, ob es durch ein einmaliges oder dreimal in genau gleicher Stellung wiederholtes Eindrücken der Petschaft geprägt wurde; und gewiß kann man am Wachssiegel nicht erkennen, ob dreimaliges g l e i c h starkes Eindrücken erfolgt ist, und i n w e l c h e m Z e i t a b s t a n d die drei Einwirkungen vorgenommen wurden! D i e p h y s i o l o g i s c h e G e d ä c h t n i s h y p o t h e s e s t e l l t also v o r sehr g r o ß e n S c h w i e r i g k e i t e n , und nirgends zeigt sich ein gangbarer Ausweg aus ihnen. Bei genauerer Untersuchung stößt man sogar auf viele neue Unzulänglichkeiten. D a r u m e r s c h e i n t es a n g e b r a c h t ,

zu der

psychistischen

Gedächtnishypothese z u r ü c k z u k e h r e n , welche die Gedächtnisspuren

als

unbewußt-seelische

Nachwirkungen

be-

t r a c h t e t . Bei genauerer Prüfung erscheint diese Hypothese als die am nächsten liegende und natürlichste. Gedächtniserscheinungen

treten

uns

ja

zunächst

und

h a u p t s ä c h l i c h i m Seelenleben entgegen. Ferner zeigt unsere Erfahrung,

daß es seelische

Nachwir-

k u n g e n g i b t . So klingt ein eben verhalltes Lied noch in unserem Bewußtsein nach, und so bleiben überhaupt Erlebnisse (am deutlichsten die starken und gefühlsbetonten) noch eine Zeitlang in unserem Bewußtsein lebendig, nachdem die sie auslösenden Ursachen fortgefallen sind. Es g i b t also e i n u n m i t t e l b a r e s ,

bewußt-seeli-

sches B e h a l t e n , das a u c h eine G e d ä c h t n i s l e i s t u n g d a r s t e l l t . Und von dieser Erfahrung aus erklärt sich nun leicht das „mittelbare

Vom unbewußten Seelischen.

241

Behalten" der unbewußten Gedächtnisspuren, in welches das unmittelbare, bewußt-seelische Behalten übergeht. Bei diesem Übergang treten die Seeleninhalte mehr und mehr i m Bewußtsein zurück, wie man sich bildlich auszudrücken pflegt, d. h. sie werden immer schwerer unmittelbar wahrnehmbar, bis sie sich schließlich der unmittelbaren Wahrnehmung ganz entziehen. Dann sind die bewußten Seeleninhalte, die zuerst f ü r eine kurze Weile unmittelbar und bewußt behalten wurden, zu mittelbar behaltenen, unbewußten Seeleninhalten, zu unbewußt-seelischen G e d ä c h t n i s s p u r e n geworden. Diese w ä r e n d e m n a c h g a r n i c h t s anderes, als d i e e h e m a l s b e w u ß t e n , d a n n u n b e w u ß t , d. h. u n w a h r n e h m b a r g e w o r d e nen S e e l e n i n h a l t e selbst. Das dünkt uns die einfachste und natürlichste Auffassung zu sein. Man bedenke, daß die innere Erfahrung uns oft das allmähliche Zurücktreten und Un wahrnehmbar-Werden von Bewußtseinsinhalten zeigt, die eben damit zu Gedächtnisspuren werden. Darin, daß Seeleninhalte f ü r uns unbewußt, d. h. unwahrnehmbar werden sollen, darf man schwerlich ein Bedenken sehen. Warum sollten denn alle Inhalte unserer Seele f ü r uns wahrnehmbar sein? Es gibt ja doch viel Seelisches in der Welt, z. B. i m Bewußtsein meiner Mitmenschen, das ich nicht wahrnehmen kann. So k a n n es auch i n m e i n e r eigenen Seele Seelisches geben, das f ü r m i c h u n w a h r n e h m b a r , also u n b e w u ß t i s t , etwa weil es zu schwach geworden oder weil sein Zusammenhang mit den bewußten Seeleninhalten zu locker geworden ist. N u n e r k l ä r t s i c h a u f s e i n f a c h s t e auch die R e p r o d u k t i o n , die R ü c k v e r w a n d l u n g v o n G e d ä c h t n i s r e s i d u e n i n B e w u ß t s e i n s i n h a l t e . Die Gedächtnisresiduen können eben unter Umständen, etwa indem sie erstarken und enger in den Verband der Bewußtseinsinhalte hineingezogen werden, wieder unmittelbar f ü r uns wahrnehmbar und damit zu bewußten, reproduzierten Seeleninhalten werden. Man hätte sich demnach unter den unbewußt-seelischen Gedächtnisspuren nicht etwas total von den Bewußtseinsinhalten Verschiedenes, gänzlich Geheimnisvolles zu denken; sie werden den Bewußtseinsinhalten, aus denen sie entstehen, und in die sie unter Umständen wieder übergehen, eng verwandt bleiben. Übrigens scheinen Residuen B e c h e r . Einführung in die Philosophie.

16

242

Metaphysik.

unter Umständen i m Bewußtsein ähnliche Wirkungen (z. B. Gefühle) hervorzurufen, wie die den Residuen entsprechenden Bewußtseinsinhalte es tun; dies spricht auch dafür, daß jene diesen nahe verwandt sind. Doch bestehen zweifellos auch Unterschiede; so sind die Gedächtnisspuren viel dauerhafter als die Bewußtseinsinhalte. Haften doch i m Gedächtnis des Greises noch Residuen von Kindheitserlebnissen t (Als einen weiteren Vorzug der psychistischen Gedächtnishypothese erwähnen wir nur kurz ihre einfache Deutung der „Assoziationen" zwischen den Residuen, die als i m Unbewußten fortbestehende ehemalige Verbindungen von Bewußtseinsinhalten aufzufassen sind. Die physiologische Deutung der Assoziationen erweist sich bei genauerer Betrachtung als ganz unzulänglich.) Schließlich muß noch betont werden, daß d i e V e r b i n d u n g von Großhirnschädigungen m i t Gedächtnisschädigungen nichts gegen unsere H y p o t h e s e beweist. Sie zeigt nur, daß unser Gedächtnis ähnlich wie unser Verstand, Gefühl, Wille usw. eng an unser Großhirn gebunden und von i h m abhängig ist; sie beweist jedoch nicht, daß unser Gedächtnis etwas i m wesentlichen Materielles ist. Großhirnschädigungen bringen ja nicht nur Schädigungen des Gedächtnisses, sondern auch des Denkens, Fühlens, Wollens usw. mit sich; und doch sind Denken, Fühlen und Wollen etwas Seelisches; also kann auch unser Gedächtnis m i t seinem Residuenbesitz trotz seiner Abhängigkeit vom Großhirn i m wesentlichen etwas Seelisches sein. Auf Grund unserer Erwägungen ziehen w i r die psychistische Gedächtnishypothese der physiologischen vor; w i r h a l t e n es f ü r wahrscheinlich,

daß

die

Gedächtnisspuren

seelische R e a l i t ä t e n s i n d . I m

unbewußt-

Dargelegten erblicken

wir

also z w a r n i c h t e i n e n s t r e n g e n B e w e i s , aber d o c h eine r e c h t f e r t i g e n d e B e g r ü n d u n g f ü r d i e A n n a h m e , daß es u n b e w u ß t seelische R e a l i t ä t e n g i b t .

Das unbewußte Seelische als breite, beharrende Grundlage unseres Bewußtseins. Nun ergibt sich sogleich, daß u n s e r e Seele sehr v i e l r e i c h e r an u n b e w u ß t e n als an b e w u ß t e n I n h a l t e n ist. Zwar umfaßt

Vom unbewußten Seelischen.

243

unser Bewußtsein schon eine Vielheit von gleichzeitigen Inhalten, von Wahrnehmungsbildern, Gedanken usw., die ihrerseits wieder Teilinhalte, wie Empfindungen, Gestalt- und Beziehurigsbestandteile, einschließen. Aber den wenigen gegenwärtig bewußten Wahrnehmungsbildern, Gedariken usw. stehen die zahllosen unbewußten Gedächtnisresiduen gegenüber, i n die sich frühere Wahrnehmungsbilder, Gedanken usw. umgewandelt haben. Man denke an all die Gesichter, Gebäude, Landschaftsbilder, Werkzeuge, die mutter- und fremdsprachlichen Wörter, die Sprüche, Verse, Melodien, die Zahlen, Formeln usw., die unser Gedächtnis in Form von unbewußten Residuen einschließt. Stets ist höchstens ein winziger Bruchteil von diesem unserem Gedächtnisbesitz reproduziert, d. h. ins Bewußtsein zurückgeführt; stets sind z. B. nur wenige Wörter in unserem Bewußtsein, während Tausende unbewußt in unserem Gedächtnis schlummern. Dazu kommt, daß unser Gedächtnis sehr Vieles enthält, was wir nicht in i h m vermuten, weil w i r es nicht bzw. nicht mehr reproduzieren können. Die psychologische Forschung hat ergeben, daß scheinbar längst Vergessenes doch keineswegs dem Gedächtnis völlig entschwunden zu sein braucht, sondern sich oft noch irgendwie bemerkbar macht, ja unter ungewöhnlichen Bedingungen zuweilen noch reproduziert wird. Wrenn man dies berücksichtigt, so erscheint der Besitz unserer Seele an unbewußten Gedächtnisspuren erst recht ungeheuer reich. Unsere Gedächtnisspuren kann man als unbewußte Anlagen oder „Dispositionen" betrachten, aus denen (im Prozeß der Reproduktion) bestimmte Bewußtseinsinhalte hervorgehen. Nun besitzen wir aber außer den von uns erworbenen Gedächtnisspuren noch manche andere Anlagen zur Hervorbringung bestimmter Bewußtseinsinhalte, z. B. Gefühls- und Triebanlagen, die zu einem wesentlichen Teil angeboren sind; die sogenannten Temperamente und Charaktereigenschaften sind i m wesentlichen Gefühls- und Willensanlagen. Der Melancholiker besitzt eine starke Anlage zu Gefühlen der Trauer, der Weichherzige eine solche zu Gefühlen des Mitleids, der Choleriker eine solche zu Zomaffekten. Nun beruhen manche derartige Anlagen, wie z. B. die durch ein Eisenbahnunglück erworbene Disposition zur Furcht bei Bahnfahrten, zum Teil auf Gedächtnisspuren, also auf unbewußt16·

244

Metaphysik.

seelischen Realitäten. Dies legt die Vermutung nahe, daß überhaupt Gefühls-, Trieb-, Willensanlagen usw. unbewußt-seelischer Natur sind. Damit würde der unbewußte Teil unserer Seele wiederum reicher erscheinen. Allerdings beruht die Veranlagung zu manchen Gefühlen, Trieben usw. zweifellos z. T. auch auf körperlichen Umstanden; so kann z. B. eine Anlage zu Angstaffeken

auf einem Herzleiden

beruhen. Es ist unmöglich, die körperlichen und unbewußt-seelischen Komponenten der Anlagen zu Bewußtseinsinhalten reinlich zu sondern. Jedenfalls aber ergibt sich aus dem Dargelegten, daß das Unbewußt-Seelische den weitaus größten Teil unserer ganzen Seele ausmacht.

Das

Bewußt-Seelische

ist

gleichsam

der

Gipfel

u n s e r e r Seele, der s i c h a u f d e r b r e i t e n u n b e w u ß t - s e e l i s c h e n G r u n d l a g e e r h e b t . Aus der Fülle des Unbewußt-Seelischen steigen einzelne Inhalte empor ins Licht des Bewußtseins, um bald wieder in die dunkle Tiefe des Unbewußten zurückzusinken. I m traumlosen Schlaf sind alle vormals bewußten Seeleninhalte zu unbewußten geworden; nur der unbewußte Seelenteil ist geblieben. So erhält das Unbewußte die Kontinuität unserer seelischen Existenz auch über die Unterbrechungen des bewußten Seelenlebens im Tiefschlaf hinweg. G e g e n ü b e r dem w a n d e l b a r e n u n d v e r g ä n g l i c h e n

Be-

w u ß t s e i n e r s c h e i n t das U n b e w u ß t e als der b e h a r r e n d e u n d f u n d a m e n t a l e T e i l u n s e r e r Seele. Doch bedeutet dieses Beharren nicht unlebendige Starrheit; auch der unbewußte Seelen teil lebt und wächst. Aus dem Bewußtsein nimmt er immer wieder neue, sich in Gedächtnisspuren umwandelnde Wahrnehmungsbilder, Phantasievorstellungen, Gedanken, Gefühls- und Willenserlebnisse in sein Dunkel auf, wo sie nicht nur als dauernder, reicher Besitz unserer Seele aufbewahrt werden, sondern auch fortwirken und unbewußt geistige Arbeit leisten können, die schließlich wiederum dem Bewußtsein zugute kommt.

Das Seelische als G r u n d f a k t o r alles Lebens. Die Beseelung aller Lebewesen und aller ihrer Organe und Zellen. Die unbewußte Beseelung unseres Leibes. Ergaben schon unsere bisherigen Betrachtungen, daß das (uns) bewußte Seelische nur einen kleinen Teil unserer Seele ausmacht, ßo wollen wir nunmehr eine Hypothese begründen, nach welcher noch viel mehr Seelisches existiert. W i r wollen darlegen, daß w a h r s c h e i n l i c h a l l e Lebewesen u n d a l l e i h r e O r g a n e u n d Z e l l e n , beseelt s i n d , nicht aber nur die Großhirne der Menschen und der höheren Wirbeltiere und entsprechende Organe von höheren Wirbellosem. Für die Annahme, daß alle Lebewesen und deren sämtliche Organe und Zellen beseelt sind, haben wir bereits bei der Kritik des partiellen Parallelismus gewichtige Gründe angeführt. W i r überlegten, d a ß unser beseeltes G r o ß h i r n von e i n e r b e f r u c h t e t e n E i z e l l e a b s t a m m t , u n d daß diese also d o c h w o h l a u c h beseelt gewesen sein m u ß ; denn woher sollte sonst unser Großhirn seine Beseelung erhalten haben? Daß diese in irgendeinem Moment, etwa bei der Bildung oder Reifung des Großhirns i m sich entwickelnden menschlichen Embryo, als etwas völlig Neues entstanden sei, erscheint kaum glaublich. War aber die befruchtete Eizelle beseelt, so werden auch die mütterliche und die väterliche Geschlechtszelle und weiterhin auch deren Stammzellen in den Geschlechtsorganen der Eltern beseelt gewesen sein. Da aus der vermutlich beseelten Eizelle durch fortgesetzte Zellteilung nicht nur das beseelte Großhirn und die vermutlich beseelten Geschlechtszellen entstehen, sondern alle Zellen, Gewebe und Organe des Leibes, so w e r d e n a u c h w o h l a l l e diese Z e l l e n , Gewebe u n d O r g a n e beseelt sein. Wenn wir mit der herrschenden Form der A b s t a m m u n g s l e h r e annehmen, daß sich der Mensch und alle komplizierteren Organismen

246

Metaphysik.

i m Laufe ungezählter Jahrtausende aus äußerst einfachen Lebewesen heraus in fast stetiger Umwandlung entwickelt haben, dann drängt sich die weitere Folgerung auf, daß b e r e i t s diese e i n f a c h e n U r o r g a n i s m e n beseelt gewesen sein werden. Die Annahme, daß erst nach einem gewissen Fortschritt in der körperlichen Ausgestaltung unserer Vorfahren plötzlich das Seelische als etwas ganz Neues in ihnen aufgetaucht sei, erscheint wenig befriedigend. Wenn wir auf der leiblichen Seite des Lebens eine fast stetige Entwicklung von den primitivsten Lebewesen bis zum Menschen hin annehmen, dann liegt es am nächsten, auf der seelischen Seite eine entsprechende, ebenfalls bei dein primitivsten Lebewesen einsetzende Entwicklung zu vermuten. Macht man sich weiterhin die verbreitete, allerdings ziemlich unsichere Auffassung zu eigen, daß alle Lebewesen von gleichartigen oder doch sehr nahe verwandten Urlebewesen abstammen, so zieht die Annahme einer Beseelung der Urlebewesen die Vermutung nach sich, daß a l l e Lebewesen, a u c h d i e p f l a n z l i c h e n ,

beseelt sein

werden. Doch spricht

auch

abgesehen v o n

Abstammungshypo-

thesen m a n c h e s f ü r diese V e r m u t u n g . Zwischen den sicher beseelten höheren Tieren, den einfachsten uns bekannten Lebewesen und den höheren Pflanzen bestehen freilich gewaltige Unterschiede; aber diese werden durch z a h l l o s e Z w i s c h e n f o r m e n überbrückt. Und so erscheint es doch bedenklich, irgendwo durch das Gesamtreich der Organismen eine Schnittlinie zu ziehen, die da3 Reich des Beseelten von dem des Unbeseelten sondern soll. Tatsächlich läßt sich eine solche Schnittlinie nicht ohne große W i l l k ü r ziehen. Bedeutende Biologen haben gemeint, Beseelung dürfe nur den Lebewesen zugesprochen werden, die G e d ä c h t n i s besitzen. Demgegenüber ist zu sagen, daß ein einfaches Seelenleben mit Empfindungen, Gefühlen, Trieben usw. wohl auch ohne Gedächtnis möglich wäre. Andererseits besitzen vielleicht alle Lebewesen Gedächtnis; bei Tieren, denen Gedächtnis bis in die jüngste Zeit abgesprochen wurde, konnte dasselbe neuerdings durch Versuche festgestellt werden. Und manche Beobachtungen sprechen dafür, daß schon einzellige und auch pflanzliche Organismen Gedächtnis besitzen. Da wir im Gegensatz zu den Anhängern der physiologischen Hypothese des Gedächt-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

247

nisses i n diesem etwas Seelisches erblicken, sprechen jene Beobachtungen unseres Erachtens zugleich f ü r die Beseelung von einzelligen und pflanzlichen Lebewesen. Auch der Umstand, daß man i m P f l a n z e n r e i c h v i e l e R e i z a u f n a h m e - o d e r S i n n e s o r g a n e findet,

die in manchen Fällen be-

merkenswerte Analogien zu tierischen Sinnesorganen aufweisen, bietet der Annahme einer P f l a n z e n b e s e e l u n g eine Stütze. Betrachten w i r doch die Sinnesorgane bei Tieren als Hinweise auf entsprechende sinnliche Seeleninhalte, auf Empfindungen. Für unsere Frage ist ferner wichtig, daß B e w e g u n g e n von e i n z e l l i g e n T i e r e n u n d a u c h v o n P f l a n z e n sehr

wesentliche

Übereinstimmungen m i t Bewegungen aufweisen, die beim Menschen u n d b e i h ö h e r e n T i e r e n m i t seelischen V o r g ä n g e n z u s a m m e n h ä n g e n . Die f ü r die Entwicklung unserer Handlungen grundlegenden „ P r o b i e r b e w e g u n g e n " können w i r z. B. bei einzelligen Lebewesen wie beim menschlichen Kinde beobachten. Sie sind dadurch charakterisiert, daß sie „probierend" nach mehreren Richtungen hin erfolgen und so zufällig schließlich ihr Ziel erreichen. Wenn z. B. eine Fliege sich auf die Stirn eines kleinen Kindes isetzt und so unlustvolle Empfindungen in seiner Seele hervorruft, dann greift das Kind nicht gleich nach der Stirn, sondern es macht m i t Armen und Beinen allerlei „Probierbewegungen", fängt auch wohl an zu schreien, bis schließlich etwa eine von den Armbewegungen t die Hand zufällig an die Stirn führt und so die Fliege verscheucht; damit schlägt dann die Unlust in lustvolle Befriedigung um. I n entsprechender Weise reagieren aber auch schon einzellige Lebewesen auf sie treffende Reize vielfach mit Probierbewegungen, bis eine von diesen zufällig zu einem erfolgreichen Abschluß führt. Da liegt es doch sehr nahe, einen A n a l o g i e s c h l u ß zu ziehen und anzunehmen, daß wie bei den P r o b i e r b e w e g u n g e n des m e n s c h l i c h e n auch b e i d e n j e n i g e n der e i n z e l l i g e n Lebewesen

Kindes Empfin-

d u n g e n , L u s t u n d U n l u s t , k u r z seelische R e g u n g e n i m S p i e l e sind. Bei Menschen und einzelligen Organismen, bei Tieren und Pflanzen finden wir immer wieder den Gegensatz von zum Nützlichen hinführenden

Annäherungsbewegungen

und vom Schädlichen

fort-

Metaphysik.

m führenden

Fluchtbewegungen.

Beim Menschen hängen die An-

näherungsbewegungen eng mit Lust, Begehren u. dgl. zusammen, die Fluchtbewegungen m i t Unlust, Widerstreben, Angst u. dgl. Wiederum drängt uns hier a n a l o g i s c h e s S c h l i e ß e n zu der Annahme, d a ß a u c h i n e i n z e l l i g e n O r g a n i s m e n u n d P f l a n z e n b e i der A n n ä h e r u n g ans N ü t z l i c h e so etwas wie L u s t u n d B e g e h r e n , b e i der F l u c h t v o r d e m S c h ä d l i c h e n so etwas w i e U n l u s t , W i d e r streben oder A n g s t i m S p i e l e s e i n werden. D i e A n n a h m e der B e s e e l u n g der e i n z e l l i g e n O r g a n i s m e n legt ihrerseits wieder die Annahme nahe, daß auch Einzelzellen der vielzelligen Organismen,

alle

z. B. des M e n -

schen, beseelt sein w e r d e n . Die weißen Blutkörperchen z. B., die in unserem Blute schwimmen, haben mit selbständigen einzelligen Lebewesen (speziell mit Amöben) so viel Ähnlichkeit, daß man ihnen die Beseelung kaum absprechen kann, wenn man sie den selbständigen Einzelligen zuspricht. Sind aber die weißen Blutkörperchen beseelt, so müssen auch wohl die Zellen ihrer Bildungsstätten, der Milz, des Knochenmarkes und der lymphatischen Organe, beseelt sein. Sind aber Zellen der Milz, des Knochenmarkes usw. beseelt, so werden wohl alle Zellen unseres Leibes beseelt sein. Wenn die vielzelligen Organismen ursprünglich dadurch entstanden sind, daß die Tochterzellen von einzelligen Organismen verbunden blieben, so werden diese Tochterzellen jedenfalls bëseelt gewesen sein, wenn jene einzelligen Organismen beseelt waren. Diese Tochterzellen aber stellten die Einzelzellen der ersten vielzelligen Organismen dar. Somit wären die Einzelzellen der vielzelligen Organismen von vornherein beseelt gewesen. So schließt sich der Ring unserer Argumente, indem die Annahme der Beseelung der einzelligen Lebewesen wieder auf die Annahme der Beseelung aller Zellen und Organe der vielzelligen Lebewesen und des Menschen zurückführt. Man mag diesen und jenen von den angeführten

Wahrscheinlichkeitsgründen

angreifbar

finden;

sie

stützen sich jedoch gegenseitig und erlangen so in ihrer Gesamtheit eine beträchtliche Kraft. I m Resultat aber harmonieren sie mit dem allgemeinen Ergebnis der biologischen Forschung, daß das Gesamtreich alles Lebendigen gegenüber der toten Natur eine große Einheit

249

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

darstellt. S o l l t e n i c h t alles L e b e n d i g e auch d a r i n e i n h e i t l i c h sein u n d s i c h von d e r t o t e n Na.iur u n t e r s c h e i d e n , d a ß es beseelt i s t ? Es spricht vieles für und nichts gegen diese Annahme! Sie schließt keineswegs aus, daß schon das An-sich-Seiende der toten Natur etwas Seelisches ist. D i e B e s e e l u n g , die alles L e b e n dige g e g e n ü b e r der t o t e n M a t e r i e a u s z e i c h n e t , w i r d d a n n ein

weiteres,

stellen,

gleichsam

übergeordnetes

Seelisches

dar-

das zu dem s e c l i s c h e n A n - s i c h der M a t e r i e n o c h

hinzukommt. Das Seelische, welches nicht mit unserem Großhirn, sondern mit den übrigen Organen unseres Leibes verbunden sein mag, ist unserer Selbstwahrnehmung nicht zugänglich, ist also u n b e w u ß t i m oben festgelegten Sinne. W i r kommen so erst recht zu dem Ergebnis, d a ß der w e i t a u s g r ö ß t e T e i l des Seelischen i n uns

unbewußt,

wenigstens f ü r uns unbewußt ist.

Das Seelische als Grundfaktor des Lebens. Der Psychovitalismus. Nachdem wir oben den Parallelismus abgelehnt haben und zu dem Ergebnis gelangt sind, daß das uns aus der Selbstwahrnehmung bekannte Seelische mit dem Großhirngeschehen in Wechselwirkung steht und dabei einen führenden Einfluß ausübt, werden wTir nunmehr bezüglich des mit aller „lebendigen Substanz" verbundenen Seelischen etwas Entsprechendes vermuten. W i r werden also zu der Annahme geneigt sein, daß i n a l l e m L e b e n d i g e n , i n a l l e n O r g a n e n u n d Z e l l e n unseres L e i b e s u n d ebenso i n a l l e n a n d e r e n

Lebe-

wesen L e i b l i c h e s u n d Seelisches i n W e c h s e l w i r k u n g s t e h e n , u n d daß d a b e i das Seelische das l e i b l i c h e Geschehen f ü h r e n d beeinflußt. Für

diese A u s d e h n u n g

Führungshypothese

unserer

Wechselwirkungs-

und

a u f alles L e b e n d i g e ergeben sich nun

weitere Gründe. Alle Lebewesen stimmen in gewissen Grundzügen überein; sie alle zeigen Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung, Vererbung, Reizbarkeit usw. Zu einzelnen von diesen fundamentalen Lebensvorgängen und -eigenschaften gibt es zwar Analoga i n der toten Natur; vereint aber begegnen uns dieselben nur bei den Lebe-

250

Metaphysik.

wesen. Dadurch heben sich diese als eine besondere, einheitliche Gruppe scharf von allem Unbelebten ab. Es l i e g t n a h e ,

diese

S o n d e r s t e l l u n g d e r L e b e w e s e n d u r c h d i e A n n a h m e zu e r k l ä r e n , daß i n i h n e n e i n b e s o n d e r e r L e b e n s f a k t o r w i r k s a m ist. Der lebende Organismus erscheint r e i c h e r an F ä h i g k e i t e n u n d an A k t i v i t ä t als der abgestorbene; das drängt die Vermutung auf, daß in jenem ein Lebensfaktor wirkt, der diesem verlorengegangen ist. I m Menschen finden w i r aber einen wirksamen Faktor, der beim Sterben dem Leibe offenbar irgendwie verlorengeht:

das

Seelische. Wenn w i r nun noch die Gründe hinzunehmen, die f ü r die Beseelung alles Lebendigen sprechen, dann liegt die Annahme außerordentlich nahe, daß eben diese B e s e e l u n g der w i r k s a m e F a k t o r i s t , d e r alles L e b e n d i g e z u m L e b e n d i g e n m a c h t u n d v o m T o t e n u n t e r s c h e i d e t . Diese Auffassung bezeichnet man als „Psychovitalismus". Von alters her ringen die „vitalistische" und die „mechanistische" Auffassung vom Wesen des Lebens miteinander. Der „ M e c h a n i s m u s " als biologisch-philosophische Hypothese lehrt, daß im lebenden Leibe, kurz gesagt, alles rein physikalisch und chemisch zugeht, daß nur Realitäten i n i h m wirken, welche auch in der toten Natur vorkommen und von Physik und Chemie zu erforschen sind. Demgegenüber besagt der „ V i t a l i s m u s " , daß i m lebenden Leibe außer den auch in der toten Natur vorkommenden „physikochemischen" Realitäten noch andere, nur i m Lebendigen vorkommende und alles Lebendige zum Lebendigen machende, spezifisch „vitale" Realitäten wirken. Der „ P s y c h o v i t a l i s m u s " nimmt an, daß die besonderen Vi tal-Realitäten seelische Faktoren sind. Der biologische Mechanismus fordert, wenn er radikal durchgeführt und also auch auf das Großhirn angewandt wird, den Parallelismus oder den Materialismus; denn wenn wie i m ganzen Leibe so auch i m Großhirn nur physikochemische, nicht aber seelische Faktoren wirksam sind, so ist die Wechselwirkungshypothese hinfällig. Diese ist m i t dem Vitalismus und insbesondere mit dem Psychovitalismus eng verwandt, da sie annimmt, daß nicht-physikochemische, seelische Faktoren zum mindesten in einem Teile unseres Leibes, nämlich in unserem Großhirn, wirken. Wenn man die f ü r

Da Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

die Beseelung aller lebenden Substanz sprechenden Gründe ins Auge fsßt, dann erscheint der Psychovitalisrnus als eine sehr naheliegende Weiterführung der Wechsel wirkungshypo these. Daß die seelischen Faktoren, die überall i m Leibe als eigentliche Lebensfaktoren wirken, bei ihrem Wirken vom Leibe her beeinflußt werden, daß also Wechselwirkung zwischen dem Leibe und den seelischen Vitalfaktoren bestehen wird, ist auf psychovitalistischem Standpunkt fast selbstverständlich. Die Wechselwirkung zwischen Großhirn und Seele stellt sich auf diesem Standpunkt als ein Spezialfall der Wechselwirkung zwischen Leib und seelischen Vitalfaktoren dar. Für die Ausweitung der Wechselwirkungs- und speziell unserer Führungshypothese zum Psychovitalisrnus spricht weiterhin der Umstand, daß v i e l e V o r g ä n g e i m l e b e n d e n L e i b e g e r a d e z u d e n E i n d r u c k e r w e c k e n , v o n seelischen F a k t o r e n g e f ü h r t

zu

sein. Das gilt wohl schon von den E n t w i c k l u n g s v o r g ä n g e n , die bei d e r F o r t p f l a n z u n g aus den Keimzellen fertige, den Eltern gleichende Organismen entstehen lassen. Aus einem befruchteten Seeigelei z. B. geht in normaler Entwicklung ein seinen Eltern sehr ähnlicher Seeigel hervor. Schon wenn wir bei diesem Entwicklungsvorgang sehen, wie das komplizierte Geschehen mit seinen zahllosen Zellteilungen, -umlagerungen, -differenzierungen usw. in gesetzmäßigem Ablauf zum Aufbau des fertigen Organismus führt, kann sich uns der Eindruck aufdrängen, daß dieser „zielstrebige" Bauvorgang von einem Bauplan, also von etwas Seelischem, geleitet sein werde, ähnlich wie etwa der Bau einer Lokomotive. Doch kann der Mechanist dagegen einwenden, die materielle Beschaffenheit der befruchteten Eizelle sei es, die den Entwicklungsvorgang derart bestimme, daß er unter normalen Verhältnissen stets auf gleichem Wege, wie von einem Plan geleitet, zum Aufbau eines fertigen Seeigels führen müsse. Bei der Entwicklung eines befruchteten Seeigeleies teilt sich diese Eizelle zuerst in zwei Tochterzellen, aus denen durch weitere Zellteilungen vier, acht usw. Zellen werden, die i m normalen Seeigelkeim miteinander verbunden bleiben. A u f einem frühen Entwicklungsstadium griff nun Driesch experimentell in den Entwicklungsablauf ein, indem er die Zellen des Seeigelkeimes voneinander trennte, indem

Metaphysik.

er also den Keim in zwei oder mehr Teile zerlegte, ein andermal auch, indem er eine Umlagerung der Zellen innerhalb des Keimes vornahm. Es ergab sich, daß sich aus den verschiedenen Teilen des Keimes, aus den einzelnen, voneinander getrennten Zellen desselben, normale Seeigellarven entwickelten; nur waren diese aus Teilen des Keimes hervorgegangenen Larven kleiner als die aus ganzen Keimen gebildeten. Auch aus ganzen Keimen, in welchen die Zellen umgelagert worden waren, bildeten sich normale Seeigellarven. Wenn man annimmt, daß die materielle Beschaffenheit der Eizelle und weiterhin des aus ihr hervorgehenden Keimes die Entwicklung bestimme, wie etwa die materielle Struktur eines Uhrwerks dessen Ablauf bestimmt, dann sollte man erwarten, daß die von Driesch vorgenommenen starken Eingriffe i n die Materie des Keimes, die Zerteilung oder Umordnung derselben, diesen Entwicklungsablauf heillos stören würden. Da diese Erwartung sich nicht bestätigt, gewinnen w i r den Eindruck, daß der Entwicklungsablauf im wesentlichen nicht durch die materielle Beschaffenheit des Keimes bestimmt wird, und so drängt sich uns wieder der Gedanke auf, daß der den Organismus aufbauende Entwicklungsprozeß von einem „Bauplan", von etwas Seelischem geleitet sein werde. Die Zerteilung und Umordnung der Materie des Keimes braucht nicht das Seelische zu zerstören, welches die den Organismus aufbauende Entwicklung führt. Die Vervielfältigung dieses Seelischen bei der Zerteilung des Keimes hätte i h r Analogon z. B. in der Vermehrung der Seelen durch die Fortpflanzung der Menschen und in der Vervielfältigung von Vorstellungen, die w i r

in

unserem

Bewußtsein beobachten können;

wenn ich z. B. die Vorstellung eines Quadrates habe, so kann ich m i r leicht mehrere solcher Quadrate nebeneinander vorstellen. Mit den soeben kurz betrachteten Entwicklungsvorgängen sind die „ R e g e n e r a t i o n s v o r g ä n g e " eng verwandt, die zerstörte oder abgetrennte Teile eines Lebewesens neu bilden. So werden z. B. bei Wassermolchen abgetrennte Beine neu gebildet; Süßwasser-Plattwürmer kann man in zahlreiche größere und kleinere Stücke zerschneiden, die alle wieder zu ganzen, größeren oder kleineren Individuen auswachsen. Auch hier entsteht wiederum der Eindruck, daß ein „Bauplan" des Lebewesens in ihm und in seinen Stücken wirkt

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

253

und wie bei der Entwicklung aus der Etzelle so bei der Wiederherstellung aus einem Bruchstück die Wachstumsvorgänge derart leitet, daß ein dem ganzen Bauplan entsprechender,

vollständiger

Organismus zustande kommt. Die Regeneration der Lebewesen erinnert daran, daß auch bewußte Bruchstücke von Vorstellungen, Gedanken usw. die Tendenz haben, sich zu den vollständigen Vorstellungen bzw. Gedanken usw. auszuwachsen, von denen sie herrühren. Diese R e g e n e r a t i o n ganzen

Vorstellungen

usw. aus b e w u ß t e n

von

Bruchstücken

vollzieht sich dadurch, daß die fehlenden Stücke aus dem unbewußten Gedächtnisbesitz heraus, in welchem die ganzen Inhalte als Residuen fortexistieren, reproduziert werden. Diese Ähnlichkeit zwischen der Regeneration von Organismen und der „Komplexergänzung" von Bewußtseinsinhalten repräsentiert nur einen speziellen Fall der Ä h n l i c h k e i t , d i e z w i s c h e n d e r

Re-

p r o d u k t i o n v o n Lebewesen o d e r T e i l e n v o n s o l c h e n u n d d e r R e p r o d u k t i o n von B e w u ß t s e i n s i n h a l t e n besteht. Wie bei der Fortpflanzung Generation für Generation eine bestimmte Reihenfolge von Entwicklungsstadien vom E i bis zum fertigen Organismus hin reproduziert wird, so werden auch i n unserem Bewußtsein Reihen von Inhalten immer wieder in fester Folge reproduziert, wie etwa die Verse eines Gedichtes oder die Töne einer Melodie. Bei der Reproduktion von Organismen werden Teile derselben wiedergebildet, die für die Vorfahren einst Bedeutung hatten, diese aber längst .verloren haben, wie z. B. die blinden Augen des finstere Höhlen bewohnenden Olms, die Bewegungsmuskeln unserer Ohrmuscheln, der beim menschlichen Embryo i m Mutterleibe noch hervortretende, später sich unter der Körperoberfläche verbergende Schwanz. Diese „rudimentären

Organe"

sind fest i m

Gedächtnis

haftenden,

immer wieder in bestimmten Gedankenreihen zur Reproduktion gelangenden, zwecklosen Erinnerungen aus längst vergangener Zeit vergleichbar. Machen nicht die Kiemenspalten des menschlichen Embryos, der niemals durch Kiemen atmet, den Eindruck uralter Erinnerungen aus jener Zeit, in der die Vorfahren des Menschen noch i m Wasser lebende, durch Kiemen atmende Wirbeltiere waren? Wenn nach dem biogenetischen Grundgesetz von Fritz Müller und Haeckel

254

Metaphysik.

die Entwicklung des Einzelwesens eine abgekürzte,

lückenhafte

Wiederholung der jahrmillionenlangen Entwicklung der betreffenden Art darstellt, ist sie dann nicht verwandt mit der abgekürzten, lückenhaften Wiederholung von Erlebnisreihen in der Erinnerung? Entsprechen somit leibliche EntwicklungsVorgänge in manchen Punkten Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten, die uns i m Seelenleben begegnen, so erklärt sich das aus. der psychovitalis tisch en Annahme, daß seelische Vorgänge die leiblichen führend beeinflussen und ihnen dadurch etwas von ihrer Gesetzmäßigkeit aufprägen.

Die organische Zweckmäßigkeit und die Darwinsche Selektionshypothese. A m s t ä r k s t e n d r ä n g t uns d i e i n der lebenden N a t u r h e r r schende Z w e c k m ä ß i g k e i t den E i n d r u c k a u f , daß das l e i b l i c h e L e b e n s g e s c h e h e n v o n seelischen F a k t o r e n

geführt

wird. Zweckmäßig nennen w i r etwas, das „ m ä ß i g " , d. h. angemessen oder geeignet ist f ü r einen Zweck. So sind z. B. sehr kleine Werkzeuge zweckmäßig f ü r den Uhrmacher, d. h. geeignet f ü r einen Zweck, f ü r die Ausbesserung von Uhren. Unter einem Zweck verstehen wir etwas, das beabsichtigt ist. Daraus scheint zu folgen, daß von Zweck und Zweckmäßigkeit nur die Rede sein dürfe, wo Absichten i m Spiele sind. Manche Forscher haben nun gemeint, man dürfe keine Absichten, also auch keinen Zweck i n oder hinter der Natur suchen und demnach auch nicht von einer Zweckmäßigkeit in der Natur sprechen. Aber auch wenn man die Frage nach Absichten und Zwecken i n oder hinter der Natur offen läßt, k a n n m a n N a t u r o b j e k t e a l s zweckmäßig

in

einem

übertragenen

S i n n e des

Wortes

c h a r a k t e r i s i e r e n . Z u diesem übertragenen Wortsinn kommt man auf folgendem Wege. Der Mensch beabsichtigt täglich, zu essen, zu trinken, zu gehen, zu sehen usw. ; er w i l l normalerweise sein Leben erhalten und fördern, ebenso das Leben der Menschen, die er liebt. Darum sind f ü r ihn sein Essen, Trinken, Gehen, Sehen, die Erhaltung und Förderung seines Lebens und des Lebeiis seiner Lieben, seiner Kinder usw., selbst-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

verständliche Zwecke. W o uns nun sonst in der Welt

255

Lebens-

funktionen wie Essen, Trinken, Gehen, Sehen, überhaupt Leben und Lebensförderung begegnen, sind wir leicht geneigt, diese als Zwecke aufzufassen und zu bezeichnen, ohne uns erst zu fragen, ob sie von jemandem beabsichtigt sind. Und dementsprechend b e z e i c h n e n w i r dann als z w e c k m ä ß i g , was angemessen o d e r g e e i g n e t i s t f ü r das L e b e n u n d seine F u n k t i o n e n , f ü r seine E r h a l t u n g u n d Förderung. D i e ganze lebende N a t u r i s t v o l l e r V o r g ä n g e u n d E i n r i c h t u n g e n , die z w e c k m ä ß i g i n diesem ü b e r t r a g e n e n S i n n e sind. So sind z. B. die Fortpflanzung und die Regeneration zur Erhaltung und Förderung des Lebens geeignet. Zweckmäßig in diesem Sinne ist es ferner, daß Mäuse einen wärmeren Pelz bilden, wenn sie in kalten Räumen aufgezogen werden, daß das Blut des Menschen sich bei Übersiedelung ins Hochgebirge der dünneren L u f t durch Vermehrung der Sauerstoff aufnehmenden roten Blutkörperchen anpaßt. Unser Auge ist in hohem Maße geeignet f ü r die Lebensfunktion des Sehens, die Wurzel der Pflanze ist geeignet für die Lebensfunktion der Aufnahme lebensnotwendiger

Bodenbestandteile;

die Beine sind zum

Laufen, die Flügel zum Fliegen, die Zähne zum Beißen, Magen und Darm zum Verdauen, Lungen, Kiemen und Pflanzenblätter zum Gaswechsel, die Fortpflanzungsorgane zur Fortpflanzung geeignet, und ebenso sind fast alle anderen Organe und Organteile erstaunlich geeignet f ü r bestimmte Lebensfunktionen und damit f ü r die Erhaltung und Förderung des Lebens. Diese Beziehung des Geeignet- oder Angemessenseins f ü r Lebensfunktionen, diese „Zweckmäßigkeit", ist nicht, wie manchmal behauptet wurde, nur hineingedeutet i n die Vorgänge und Gebilde der lebenden Natur, sondern wir finden sie als eine o b j e k t i v e T a t s a c h e vor. Es sind doch ohne Zweifel objektive Tatsachen, daß unsere Augen zum Sehen, die Flügel der Schwalbe zum Fliegen, die Flossen der Forelle zum Schwimmen, die Krallen der Katze zum Mäusefangen geeignet sind. Demnach gilt es auch, die E n t s t e h u n g dieses tatsächlichen Geeignetseins der Menschenaugen, Schwalbenflügel usw. zu erklären; denn Menschenaugen und Schwalbenflügel mit ihrer Eignung zum

256

Metaphysik.

Sehen bzw. Fliegen existierten einst nicht, sind also entstanden und entwickeln sich mit jedem Menschen und jeder Schwalbe aufs neue. Wenn nur hier und dort in der lebenden Natur ein Gebilde sich fände, das „zweckmäßig", d. h. geeignet f ü r Lebenserhaltung und -förderung wäre, so könnte man ohne weiteres annehmen, diese Zweckmäßigkeit habe sich zufällig ergeben; indessen ist die ganze lebende Natur voller Zweckmäßigkeit,

und so erhebt sich als

Haupt-

p r o b l e m der b i o l o g i s c h e n „ T e l e o l o g i e " o d e r Z w e c k m ä ß i g - * k e i t s l e h r e die schwierige, vielumstrittene Frage: W i e i s t die e r staunliche H ä u f u n g von Zweckmäßigkeitserscheinungen in der lebenden N a t u r entstanden? D a r w i n s S e l e k t i o n s h y p o t h e s e beruft sich zunächst auf die zufällige Entstehung von Zweckmäßigem und erklärt dann die sehr erklärungsbedürftige Häufung des Zweckmäßigen durch den Hinweis darauf, daß das N i c h t - Z w e c k m ä ß i g e , n i c h t f ü r s L e b e n G e e i g n e t e , z u g r u n d e g e h t , w ä h r e n d das Z w e c k m ä ß i g e , f ü r s L e b e n G e e i g n e t e , e r h a l t e n b l e i b t u n d s i c h so i m m e r m e h r ansammelt und steigert. Dieser Grundgedanke, der übrigens schon in der vorsokra tischen Philosophie aufgetaucht ist, wurde von Gh. Darwin folgendermaßen durchgeführt: Alle Arten von Lebewesen produzieren so zahlreiche Nachkommen, daß sie sich ins Ungemessene vermehren würden, wenn nicht viele Individuen frühzeitig

i m Kampf

ums Dasein

sterben würden. Betrachten w i r die Nachkommen, die ein Paar von Lebewesen hervorgebracht hat, so erkennen wir, daß dieselben gegenüber den Eltern und auch untereinander kleine Abweichungen aufweisen. Diese Abweichungen, die nach verschiedenen Richtungen h i n liegen, wie es der Zufall mit sich bringt, sind teils zweckmäßig für die Organismen, d. h. geeignet, ihr Leben zu erhalten und zu fördern, teils nicht zweckmäßig. I m Kampfe ums Dasein sind nun die Nachkommen i m Vorteil, die gegenüber Eltern und Geschwistern zweckmäßige, d. h. fürs Leben geeignete Abweichungen aufweisen; diese besser Ausgestatteten haben auch bessere Aussichten, dem in der Natur so häufigen frühzeitigen Tode zu entgehen und so zur Erzeugung von Nachkommen zu gelangen. Die weniger gut ausgestatteten Geschwister werden häufiger frühzeitig und ohne Nachkommen-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

257

Produktion zugrunde gehen. Diese „Auslese" oder „Selektion" der zum Leben Geeigneten, am besten „Angepaßten" durch den mörderischen Daseinskampf, der die Mindergeeigneten vernichtet, bewirkt, daß die von den Nachkommen unseres Paares Übrigbleibenden i m Durchschnitt zweckmäßige Abweichungen gegenüber dem Elternpaar aufweisen werden. Sind nun diese Abweichungen erblich, so werden sie sich auf die von den Überlebenden der ersten Nachkommengeneration gezeugte zweite Nachkommengeneration übertragen; die zweite Nachkommengeneration wird also von vornherein i m Durchschnitt etwas besser ausgestattet sein als die erste; jene wird vor dieser ein Plus an Zweckmäßigkeit, an Eignung fürs Leben voraushaben. I n dieser zweiten Nachkommengeneration w i r d aber der Daseinskampf wiederum die minder zweckmäßig Ausgestatteten häufiger frühzeitig

vernichten, die zweckmäßiger Ausgestatteten hingegen

vorzugsweise zur Erzeugung einer dritten Nachkommengeneration gelangen lassen. Diese dritte Nachkommengeneration wird daher wieder durchschnittlich

einen Vorsprung

an zweckmäßiger

Ausstattung

gegenüber der zweiten aufweisen, wie die zweite einen solchen Vorsprung gegenüber der ersten aufwies. Und so häufen sich die Ζ weckmäßigkeitsfortschritte von Generation zu Generation; so ist i m Laufe von ungezählten Generationen eine erstaunliche Häufung und Steigerung der Zweckmäßigkeit in der lebenden Natur zustande gekommen. Unter den Jungen eines Hasenpaares ζ. B. werden vielleicht einige sein, die ihre Eltern und Geschwister an Schnelligkeit oder an Feinheit der Sinnesorgane oder an Unauffälligkeit der Färbung übertreffen. Sie haben infolge dieser zweckmäßigen Abweichungen bessere Aussichten, ihren Verfolgern zu entgehen und zur Fortpflanzung zu gelangen, als die weniger zweckmäßig ausgestatteten Geschwister. Vererben sie ihren Zweckmäßigkeitsvorsprung auf ihre Nachkommenschaft, so wird diese der vorigen Generation im Durchschnitt an Schnelligkeit oder Sinnesschärfe oder Unauffälligkeit der Färbung überlegen sein. Von der neuen Generation bleiben wahrscheinlich wieder die am zweckmäßigsten Ausgestatteten am Leben, und so werden diese wieder eine Generation zeugen, die der vorigen gegenüber einen Zweckmäßigkeitsvorsprung besitzt. So steigern sich die Schnelligkeit, Sinnesscharfe usw., kurz die zweckmäßigen EigenB e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

17

258

Metaphysik.

Schäften der Hasen immer mehr. Bei den die Hasen verfolgenden Raubtieren findet eine entsprechende „ n a t ü r l i c h e Auslese" statt. Die langsameren, ungeschickteren Verfolger verhungern, die schnelleren überleben und pflanzen sich fort, und so steigt auch bei den Raubtieren die Schnelligkeit usw., die Zweckmäßigkeit der Organisation. Die Selektionshypothese klingt zunächst sehr einleuchtend; doch stehen ihrer Durchführung manche S c h w i e r i g k e i t e n i m Wege. Wenn man an die Stelle der „natürlichen Auslese" durch den Kampf ums Dasein die „künstliche Auslese" durch den Menschen setzt, etwa um recht große Kaninchen zu züchten, wenn man also in einer Kaninchenzucht Generation f ü r Generation nur die besonders großen Individuen zur Fortpflanzung benutzt, dann ergibt sich, daß man über eine gewisse Größe nicht hinauskommt, daß also der Wirkung der künstlichen Auslese feste und zwar ziemlich enge Schranken gesetzt sind. Wären der W i r k u n g der natürlichen Auslese entsprechende Schranken gesetzt, so könnte diese zur Entstehung der Zweckmäßigkeit in der lebenden Natur nur wenig beigetragen haben. Man hat freilich Anlaß zu der Armahme, daß die Schranken, auf welche die künstliche Zuchtwahl stößt, auf die Dauer nicht festbleiben, weil schließlich doch einmal neue erbliche Veränderungen, sogenannte „ M u t a t i o n e n " , an den Lebewesen auftreten, welche über die eine Zeitlang festen Schranken hinausführen. Neuerdings fand man nicht selten Mutationen, die den Organismen nicht nur Verluste, sondern positiv Neues bringen, und die nicht krankhaft erscheinen; und so gewinnt man den Eindruck, daß jene Schranken doch die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl nicht so sehr einengen. Außer den soeben angedeuteten, durch die neuere Mutations- und Vererbungsforschung

zurückgedrängten

Schwierigkeiten

stehen

einige andere ernste Bedenken der Selektionshypothese i m Wege, von denen w i r noch eines hier kurz an einem Beispiel darlegen wollen. Das Grabschaufelbein des Maulwurfs, das f ü r die Funktion des Grabens sehr geeignet oder zweckmäßig ist, hat sich in der Vorfahrenreihe des Maulwurfs höchst wahrscheinlich aus einem gewöhnlichen, fürs Laufen geeigneten Bein entwickelt. Bei dieser Umwandlung mußten sich zahlreiche Knochen, Bänder, Muskeln, Nerven,

Da Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

259

Adern usw., sowie die Haut des Beines erheblich verändern. Und zwar mußte die Veränderung an vielen Teilen des Beines einigermaßen gleichzeitig in harmonischer Weise vor sich gehen, wenn sie nicht zu einer Benachteiligung und zum Unterliegen i m Daseinskampfe führen sollte; denn wenn zunächst nur ein oder einzelne Teile, z. B. Knochen, sich i m Sinne einer Entwicklung zum Grabschaufelbein umgestaltet hätten, während die übrigen Teile, die Bänder, Muskeln, Haut usw., keine entsprechende Veränderung erfahren hätten, so würde durch, diese partielle Umwandlung das Zusammenpassen der Teile des Beines gestört und damit dessen Brauchbarkeit vermindert worden sein. Der Träger eines solchen partiell umgewandelten Beines würde also wohl i m Daseinskampfe frühzeitig zu Grunde gegangen sein, und damit wäre diese Umwandlung wieder verschwunden. Wenn aber einigermaßen gleichzeitig viele Teile des Beines: Knochen, Bänder, Muskeln, Nerven, Adern, Haut usw., in harmonischer Weise sich in Richtung auf das Grabschaufelbein umgewandelt haben, so kann man dieses „planvolle" Zusammenspiel vieler Veränderungen nicht gut auf Rechnung des bloßen Zufalls setzen, wie die Selektionsh^pothese es fordert; das hieße denn doch dem Zufall etwas viel zumuten. Man gewinnt vielmehr auch hier wieder den Eindruck, daß der Entwicklungsvorgang von einem Plan, also von etwas Seelischem, geleitet worden ist. Die hier an einem Beispiel uns entgegentretende Frage, w i e das harmonische

Zusammenstimmen

der

Teile

komplexer

z w e c k m ä ß i g e r E i n r i c h t u n g e n zustande k o m m e n k o n n t e , das sogenannte „ K o a d a p t a t i o n s p r o b l e m " , ist offenbar von weittragender Bedeutung. Denn es gibt i n der organischen Natur eine Fülle komplexer Einrichtungen, deren Zweckmäßigkeit ein harmonisches Zusammenstimmen von Teilen voraussetzt. Was wir eben vom Grabschaufelbein des Maulwurfes darlegten, läßt sich z. B. von jedem Bein oder Flügel ausführen. Die Schwierigkeiten, die sich hier der auf den Zufall und den blinden Daseinskampf bauenden Darwinschen Selektionshypothese darbieten, sind also sehr weitgreifender Art. Angesichts der Schwierigkeiten und Schranken, auf welche die Hypothese von der natürlichen Zuchtwahl trotz ihrer Vorzüge stößt, erhebt sich die F r a g e n a c h a n d e r e n E r k l ä r u n g s p r i n z i p i e n f ü r 17*

260

Metaphysik.

die E n t s t e h u n g v o n Z w e c k m ä ß i g e m i n der lebenden N a t u r . Es ist sehr wohl möglich, daß mehrere Entstehungsweisen zur Bildung der überaus mannigfaltigen organischen Zweckmäßigkeit beigetragen haben.

Die organische Zweckmäßigkeit und das Lamarcksche Prinzip der Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch. Darwin selbst zog zur Erklärung der Entstehung des Zweckmäßigen i n der lebenden Natur neben seinem Selektionsprinzip das Lamarcksche häufigen

Prinzip

d e r K r ä f t i g u n g der O r g a n e

G e b r a u c h , der S c h w ä c h u n g u n d

durch

Verkleinerung

derselben d u r c h N i c h t g e b r a u c h heran. Die viel gebrauchten Armmuskeln eines Schmiedes z. B. werden groß und kräftig, die wenig gebrauchten eines Kopfarbeiters bleiben relativ klein und schwach. W e n n s i c h d i e k r ä f t i g e n d e W i r k u n g des G e b r a u c h s u n d d i e schwächende

des N i c h t g e b r a u c h s

auf

die

Nachkommen

ü b e r t r a g e n , so werden die Kinder des Schmiedes kräftige, die des Kopfarbeiters schwächere Armmuskeln ererben. Und wenn nun die Kinder des Schmiedes wieder Schmiede werden und ihre Arme viel anstrengen, so werden deren Muskeln weiterhin kräftiger;

wenn

die Kinder des Kopfarbeiters wieder Kopfarbeiter werden und ihre Arme wenig gebrauchen, so werden deren Muskeln noch mehr verkümmern. W i r d also bei einer Organismenart ein Körperteil von Generation zu Generation viel gebraucht, so wird er von Generation zu Generation kräftiger werden; ein Organ hingegen, daß nicht gebraucht wird, w i r d von Generation zu Generation mehr verkümmern und schließlich wohl ganz verschwinden. Es ist aber (im allgemeinen) z w e c k m ä ß i g , wenn vielgebrauchte Organe stark und leistungsfähig sind, und wenn nichtgebrauchte, überflüssige Organe verkümmern und verschwinden. So hätten w i r hier wieder ein Prinzip vor uns, daß die Entstehung von Zweckmäßigem erklärt. Tatsächlich zeigt sich, daß viel gebrauchte Organe kräftig ausgebildet, nicht-gebrauchte Organe oft verkümmert zu sein pflegen. Gerade die mehr oder weniger verkümmerten und geschwundenen Organe, die i m Laufe von zahllosen Generationen nicht mehr ge-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

braucht worden sind, sprechen eindringlich f ü r

261

das dargelegte

Lamarcksche Prinzip. Andererseits hat dieses Prinzip den Nachteil, sich auf die nicht gesicherte, strittige Annahme stützen zu müssen, daß sich die von einem Individuum erworbene Gebrauchskräftigung eines Organes und ebenso die Schwächung durch Nichtgebrauch auf die Nachkommen vererben. Aber auch wenn man von der Erblichkeit dieser individuell erworbenen Eigenschaften überzeugt ist, kann man dem Lamarckschen Prinzip der Organkräftigung durch häufigen Gebrauch, der Organverkümmerung durch Nichtgebrauch n u r eine e n g begrenzte Bed e u t u n g für die Entstehung des Zweckmäßigen zusprechen. Denn es handelt sich bei der Entstehung des Zweckmäßigen nicht bloß um die Kräftigung oder Verkümmerung vorhandener gebrauchter bzw. nicht-gebrauchter Gebilde; durch bloße Gebrauchskräftigung und Nichtgebrauchsverkümmerung kann z. B. unser Auge nicht zustandegekommen sein. Und ferner finden wir zahlreiche zweckmäßige Gebilde und Eigenschaften, bei denen von einer Kräftigung durch häufigen aktiven Gebrauch gar nicht die Rede sein kann; man denke nur an die zahlreichen, als Schutzmittel gegen Tierfraß zweckmäßigen Dornen,

Stacheln,

Borsten,

Brennhaare,

Kieseleinlagerungen

im

Pflanzenreich, an die mannigfachen Flugeinrichtungen der Samen, an die Schutzfärbungen i m Tierreich und an andere „passive A n passungen". Übrigens hat Lamarck selbst nicht etwa alle organische Zweckmäßigkeit auf Gebrauchskräftigung und Nichtgebrauchsverkümmerung zurückführen wollen. W i r können hier auf seine Lehre nicht genauer eingehen, bemerken aber, daß er seelischen Entwicklungsfaktoren eine große Bedeutung beigemessen hat. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß das dargelegte Lamarcksche Prinzip zwar manche spezielle Zweckmäßigkeitserscheinungen erklärt, dabei aber zunächst unerklärt läßt, wie die allgemeine zweckmäßige Eigenschaft der Lebewesen entstanden ist, auf häufigen aktiven Gebrauch eines Körperteiles hin diesen zu kräftigen, bei Nichtgebrauch ihn zu schwächen.

262

Metaphysik.

Die organische Zweckmäßigkeit und das Ausnutzungsprinzip. I m Rahmen der Abstammungslehre haben seit Ch. Darwin sein Selektionsprinzip

und

das von

ihm

neben

diesem

anerkannte

Lamarck'sche Prinzip der Gebrauchskräftigung und Nichtgebrauchsverkümmerung als Hypothesen zur Erklärung der gehäuften und oft hochgesteigerten organischen Zweckmäßigkeit vorzugsweise Beachtung gefunden. Die Schwierigkeiten und Schranken jedoch, auf welche diese Hypothesen stoßen, geben Anlaß, nach weiteren Erklärungsprinzipien Ausschau zu halten. Eine gewisse Häufung von Zweckmäßigkeitsbeziehungen ergibt sich wohl schon dadurch, daß d i e O r g a n i s m e n f ü r d i e E r h a l t u n g u n d F ö r d e r u n g i h r e s Lebens a u s z u n u t z e n p f l e g e n , was s i c h

i h n e n an i h n e n

selbst u n d i n i h r e r

Umgebung

b i e t e t . Wenn sich z. B. irgendwo am Organismus aus irgendwelchen Gründen eine harte, scharfe oder spitze Stelle bildet, so wird sie unter Umständen als Waffe oder Wehr Verwendung finden und infolge dieser Ausnutzung zweckmäßig, d. h. geeignet zur Erhaltung und Förderung des Lebens werden. Wenn eine Tierart, die in warmen Gebirgstälern lebt, aus irgendwelchen Ursachen (sagen w i r : durch „Mutation") einen dichteren Pelz bekommt, so ist dies zunächst vielleicht eher unzweckmäßig als zweckmäßig; wenn diese Tierart nun aber den dichten Pelz ausnutzt, indem sie in höhere, kältere Bergregionen einwandert, in welchen sie früher nicht leben konnte, dann w i r d durch diese Ausnutzung das neue Merkmal zweckmäßig; es gewinnt den Charakter der „ A n p a s s u n g " . Die Ausnutzung von Merkmalen durch Einwanderung in eine andere Umwelt kann auch bei Pflanzen erfolgen, indem ihre Samen durch Wind, Wasser, Vögel usw. verbreitet werden. Unter f ü r sie ungünstigen neuen Verhältnissen kommt die Pflanze nicht auf; in einer Umgebung aber, in welcher die Organisation, die Merkmale der Pflanze zweckmäßig sind> d. h. geeignet sind, ihr Leben zu erhalten und zu fördern, wird sie sich ansiedeln. So können Merkmale, die ursprünglich nicht zweckmäßig waren, es werden durch Eindringen in eine neue Umwelt. Die Lehre, daß der Zweckmäßigkeitscharakter von Merkmalen durch deren Ausnutzung zustande kommen kann, bezeichnen wir als

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

263

„ A u s n u t z u n g s p r i n z i p " . Sicherlich kann dieses Prinzip nicht das Zustandekommen aller organischen Zweckmäßigkeit erklären. Man kann nicht annehmen, daß z. B. die komplizierten Beine der Säugetiere, Vögel usw. aus irgendwelchen Ursachen, die mit der Lebensfunktion des Laufens nichts zu tun hatten, entstanden sind, dabei aber aus purem Zufall so geraten sind, daß sie sich ausgezeichnet für diese Lebensfunktion eignen und darum bei Ausnutzung f ü r diese Funktion wunderbar zweckmäßig erscheinen. Eine solche Annahme würde dem Zufall zu viel zumuten. Entsprechendes gilt offenbar von all den komplizierten Organen, die, wie unser Auge, Ohr usw., eine fein an eine bestimmte Lebensfunktion angepaßte Zweckmäßigkeit aufweisen. Anders liegt die Sache bei einfachen Merkmalen und Gebi den. Daß z. B. aus irgendwelchen Ursachen (durch „Mutation") eine erbliche Weißfärbung des Pelzes bei einem Tier auftreten kann, und daß die weiße Farbe dann unter Umständen in Schnee und Eis als Schutzfarbe ausgenutzt und damit zweckmäßig werden kann, erscheint wohl einleuchtend. Auch die ersten einfachen Ansätze zur Entwicklung zweckmäßiger Gebilde können ihren zunächst vielleicht noch ziemlich unvollkommenen Zweckmäßigkeitscharakter vielfach durch

Ausnutzung erhalten haben; andere Entwicklungsfaktoren

mögen dann weitergeführt und die Zweckmäßigkeit immer mehr vervollkommnet haben. Nach dem Dargelegten dürfte das Ausnutzungsprinzip einen bescheidenen, aber nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Lösung des philosophisch-biologischen Zweckmäßigkeitsproblems darstellen.

Die organische Zweckmäßigkeit und die transzendentpsychistische, theistische Teleologie. Die bisher betrachteten Erklärungen f ü r das Zustandekommen organischer

Zweckmäßigkeit: das Darwinsche

das Lamarcksche Prinzip

Selektionsprinzip,

der Gebrauchskräftigung

und

Nicht-

gebrauchsverkümmerung und das Ausnutzungsprinzip, stoßen allesamt auf

Schwierigkeiten und Schranken. Wie sich aus unseren

kurzen Erwägungen schon ergibt, sind diese Schranken bei den beiden letztgenannten Prinzipien ziemlich eng. Dem Darwinschen Selektions-

264

Metaphysik.

prinzip könnte man eher einen weiteren Geltungsbereich zutrauen; die sogenannten Neudarwinianer (Wallace, Galton, Weismann, Spengel u. a.) haben sogar gemeint, daß alle Zweckmäßigkeit in der lebenden Natur auf Selektion zurückzuführen sei. Doch scheint uns einiges dafür zu sprechen, daß die neudarwinistische Lehre von der „ A l l macht der natürlichen Zuchtwahl" .die Bedeutung des Darwinschen Prinzips stark überschätzt. W i r erinnern nur an die sehr bedenklichen Schwierigkeiten, die diesem Prinzip aus dem Koadaptationsproblem erwachsen. Bei dieser Sachlage können wir der natürlichen Zuchtwahl kaum die weitgehende Leistungsfähigkeit zutrauen, die Darwin ihr zuschrieb, und noch weniger können wir mit dem Neudarwinismus a l l e organische Zweckmäßigkeit auf Selektion zurückführen. Man kann zwar die Schranken der Leistungsfähigkeit der natürlichen Zuchtwahl nicht genau festlegen; doch tragen wir Bedenken, i h r die Produktion so komplizierter und erstaunlich zweckmäßiger Gebilde zuzutrauen, wie sie z. B. i n unserem Auge, unserem inneren Ohr oder unserer Hand vorliegen. Gerade bei solchen Organen macht sich die Schwierigkeit des Koadaptationsproblems stark geltend, weil sie aus vielen Teilen bestehen, die harmonisch zusammenpassen müssen, wenn das ganze Organ zweckmäßig funktionieren soll. Und gerade zur Hervorbringung eines solchen Organes wäre eine Menge von positiv Neues bringenden Mutationen erforderlich, von denen viele ungefähr gleichzeitig an verschiedenen Teilen in harmonisch zusammenstimmender Weise auftreten müßten, wenn die innere Harmonie und damit die Zweckmäßigkeit des Organes nicht gestört werden soll. Kräftigung

durch Gebrauch und Verkümmerung durch Nicht-

gebrauch, sowie zweckmäßige Ausnutzung mögen zwar auch bescheidene Beiträge zur Entstehung h o c h k o m p l i z i e r t e r

zweck-

m ä ß i g e r Einrichtungen liefern und so die natürliche Zuchtwahl unterstützen. Es bleibt aber sehr fraglich, ob das Zusammenwirken der genannten Faktoren genügt, um die von uns angedeuteten Schwierigkeiten zu beseitigen. Unter diesen Umständen haben wir allen Anlaß, nach weiteren Faktoren Ausschau zu halten, die f ü r die Hervorbringung von Zweck-

265

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

mäßigem in Betracht kommen könnten. Es g i b t n u n F a k t o r e n , die w i r a l l t ä g l i c h b e i der P r o d u k t i o n v o n Z w e c k m ä ß i g e m , auch v o n g e h ä u f t e m , h o c h k o m p l i z i e r t e m

Zweckmäßigem,

b e o b a c h t e n k ö n n e n ; das s i n d d i e s e e l i s c h e n F a k t o r e n der Sinneswahrnehmung, des Gedächtnisses, der erfinderischen Phantasie, des Verstandes, des Gefühles unci des Willens. Und gerade die hochkomplizierten, den bisher betrachteten Erklärungshypothesen starke Schwierigkeiten bereitenden organischen Einrichtungen und Vorgänge machen unmittelbar den Eindruck, von seelischen Faktoren hervorgebracht zu sein. Unser Auge gleicht z. B. i m Prinzip sehr der vom menschlichen Geiste geschaffenen Photographenkamera; das muß den Gedanken nahelegen, daß auch unser Auge seelischen Faktoren sein Dasein verdankt. W i r b e z e i c h n e n d i e A u f f a s s u n g , daß seelische F a k t o r e n das N a t u r z w e c k m ä ß i g e

oder

wenigstens

e i n e n T e i l des-

selben zustande g e b r a c h t h a b e n , als p s y c h i s t i s c h e N a t u r t e l e o l o g i e . Sie stellt eine sehr naheliegende Hypothese dar, die uns eigentlich durch die Erfahrung geradezu aufgedrängt w i r d ; d e n n d i e einzige Entstehungsweise von g e h ä u f t e r u n d gesteigerter Z w e c k m ä ß i g k e i t , d i e w i r i n der E r f a h r u n g t a t s ä c h l i c h v o r f i n d e n , i s t die d u r c h seelische F a k t o r e n , d u r c h E r f a h r u n g , I n t e l l i g e n z usw. b e d i n g t e . Man wird vielleicht einwenden, der Schluß von der Entstehung des künstlichen, vom Menschengeiste hervorgebrachten Zweckmäßigen auf die Entstehung des Naturzweckmäßigen sei unzulässig, weil dieses nicht i m eigentlichen Sinne zweckmäßig, sondern „ m ä ß i g " , d. h. angemessen oder geeignet sei f ü r unsere Lebensfunktionen, f ü r die Erhaltung und Förderung des Lebens. Durch diesen Einwand wird jedoch die große prinzipielle Ähnlichkeit zwischen künstlichem und Naturzweckmäßigem nicht beseitigt, die den A n a l o g i e s c h l u ß aufdrängt, daß dieses wie jenes seelischen Faktoren seine Entstehung verdankt. Denn auch das künstliche Zweckmäßige (z. B. unsere Brillen,

Werkzeuge, Häuser)

ist geeignet für Lebensfunktionen,

Lebenserhaltung und -förderung. Und gerade weil es dem i m eigentlichen Sinne Zweckmäßigen so ähnlich ist, weil es den Eindruck macht, als ob es von einem seelischen Wesen zum Erreichen eines «

266

Metaphysik.

Zweckes geschaffen worden sei, nennen wir ja das Naturzweckmäßige zweckmäßig. Am allernächsten scheint die Annahme zu liegen, daß, wie die Photographenkamera von einem mit Vernunft und Wille begabten Wesen geschaffen ist, welches außerhalb dieses zweckmäßigen Erzeugnisses existiert, so auch unser Auge und die ganze lebende Natur mit all ihrer Zweckmäßigkeit von einem mit Vernunft und Wille begabten, außerhalb

seiner Schöpfung existierenden

Wesen ge-

schaffen sei. Allerdings müßte dieser schaffende Geist unvergleichlich größer und reicher sein als der Geist eines Menschen, da die lebende Natur unvergleichlich größer und reicher ist als das Gesamtwerk eines Menschen. Es liegt ferner sehr nahe, den erschlossenen Schöpfer der lebenden Natur i m Sinne religiöser Überzeugungen als Gottheit aufzufassen. Man gelangt so zu der „ t r a n s z e n d e n t - p s y c h i s t i s c h e n , t h e i s t i schen T e l e o l o g i e " , d. h. zu der Auffassung, daß ein außerhalb oder „über" den Lebewesen stehendes seelisches, göttliches Wesen alles Zweckmäßige in der lebenden Natur (und damit wohl auch diese selbst) hervorgebracht habe. Die theistische Erklärung der Entstehung des Naturzweckmäßigen, die lange Zeit vorherrschend war, ist i m X I X . Jahrhundert zurückgedrängt worden, insbesondere durch den Darwinismus. Übrigens ist sie mit der Abstammungslehre an sich vereinbar; Gott könnte ja die organische Zweckmäßigkeit durch Bewirkung der allmählichen Entwicklung des Organismenreiches hervorgebracht haben. Indessen die i m Darwinismus mit der Abstammungslehre verbundenen Prinzipien der Selektion und der Gebrauchskräftigung versuchten ihrerseits die Entstehung des Naturzweckmäßigen zu erklären und so die theistische Teleologie überflüssig zu machen. Aber auch wenn man in diesen Prinzipien keine ausreichende Erklärung der Entstehung des Zweckmäßigen erblickt, b l e i b e n s t a r k e B e d e n k e n gegen d i e unmittelbare

Z u r ü c k f ü h r u n g der N a t u r -

z w e c k m ä ß i g k e i t auf Gott. D i e z w e c k m ä ß i g e n E i n r i c h t u n g e n i n d e r N a t u r w i r k e n v i e l f a c h g e g e n e i n a n d e r . Viel verfolgte Tiere z. B. haben oft schnelle Bewegungsorgane, Schutzfärbung, Schutzinstinkte usw.; andererseits aber besitzen auch die verfolgen-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

267

den Tiere große Schnelligkeit, scharfe Sinnesorgane, Fangwerkzeuge, Fanginstinkte usw. Die Zweckmäßigkeit der Schutzmittel der Verfolgten und diejenige der Fangmittel der Verfolger heben sich gleichsam gegenseitig einigermaßen auf. Wozu also diese einander widerstreitenden, sich aufhebenden und darum unnützen „Zweckmäßigkeiten"?

Sie scheinen nicht auf ein und denselben vernünftigen

Urheber, auf einheitliche vernünftige Zwecksetzung hinzuweisen. Vielleicht meint man demgegenüber, gerade dieses Sich-Aufheben, dieser Gleichgewichtszustand zwischen den zweckmäßigen Schutzmitteln der Verfolgten und den Fangmitteln der Verfolger, der die Ausrottung der Verfolgten und das Verhungern der Verfolger verhindere, zeige die innere Ausgeglichenheit und Harmonie der lebenden Natur und spreche darum eher f ü r als gegen die theistische Teleologie. Indessen ist diese innere Ausgeglichenheit nur eine mangelhafte, wie die Ausrottung mancher Arten von Lebewesen durch andere zeigt. A u c h d i e M a n g e l h a f t i g k e i t der o r g a n i s c h e n Z w e c k m ä ß i g k e i t s p r i c h t gegen d i e u n m i t t e l b a r e Z u r ü c k f ü h r u n g

der-

selben a u f G o t t . Selbst unser Auge, dieses Musterbeispiel eines zweckmäßigen Organs, hat erhebliche Unvollkommenheiten, die bei einem guten optischen Apparat nicht vorkommen; und beim Auge des Kurzsichtigen, des Weitsichtigen usw. liegen noch gröbere Mängel vor. Diese Mängel an zweckmäßigen Einrichtungen gehören schon zu dem Z w e c k w i d r i g e n , zu den „ d y s t e l e o l o g i s c h e n " T a t s a c h e n , die i n der lebenden Natur nicht sehr selten sind. W i r weisen z. B. hin auf die sogenannten „ e x z e s s i v e n " G e b i l d e , auf unzweckmäßig große Horner, Geweihe usw. Direkt zweckwidrig erscheint es, wenn gekrümmte Stoßzähne und Hörner infolge übermäßigen Wachstums ihre Spitze rückwärts wenden, so daß diese beim Stoßen kaum noch oder überhaupt nicht mehr auftrelfen kann. Die exzessiven Gebilde erinnern an die unzweckmäßigen Übertreibungen von an sich Nützlichem, welche menschliche Dummheit hervorzubringen pflegt. Das Unzweckmäßige in der organischen Natur macht überhaupt vielfach den Eindruck, daß es zwar unter dem Einfluß von Seelischem entstanden sei, daß dieses dabei aber eine Dummheit begangen habe;

268

Metaphysik.

dies gilt etwa von den sogenannten Heteromorphosen, d. h. von zu Mißbildungen führenden Fehl-Regenerationen, bei denen etwas an sich „Vernünftiges", z. B. ein Kopf, hervorgebracht wird, jedoch „dummerweise" an einer verkehrten Stelle. Solche

Zweckwidrigkeiten

und „Dummheiten",

die Z w e c k m ä ß i g k e i t - s c h a f f e n d e n

welche

Faktoren zuweilen pro-

d u z i e r e n , d r ä n g e n den G e d a n k e n a u f , daß diese F a k t o r e n u n v o l l k o m m e n e seelische R e a l i t ä t e n d a r s t e l l e n , nicht aber in einem göttlichen Geiste zu suchen sind. N a c h a l l e d e m e r s c h e i n t eine t h e i s t i s c h e T e l e o l o g i e , w e l c h e d i e E n t s t e h u n g alles N a t u r z w e c k m ä ß i g e n u n m i t t e l b a r a u f göttliches W i r k e n zurückführen w i l l ,

unbefriedigend.

Die unmittelbare Zurückführung der organischen Zweckmäßigkeit auf das Wirken Gottes bedeutet auch f ü r das religiöse Bewußtsein eine harte Zumutung. Soll die grausame Zweckmäßigkeit der Giftzähne, Raubtierkrallen

und Katzeninstinkte eine Schöpfung des

gütigen Gottes sein? Die theis tische Teleologie paßte eher in eine Zeit, der die Natur harmonisch, friedvoll und gütig erschien; wir aber haben gelernt, das Disharmonische und Furchtbare in ihr zu sehen. Diese Betrachtungen leiten uns zu einem schweren metaphysischreligiösen Problem hin, zu der von altersher das religiöse Bewußtsein bedrückenden Frage, ob u n d w i e die U n v o l l k o m m e n h e i t e n u n d Ü b e l i n der W e l t , I r r t u m , S c h m e r z u n d S ü n d e , m i t der A n n a h m e eines g ü t i g e n G o t t e s v e r e i n b a r seien. Dieses Problem der „ T h e o d i z e e " , der Rechtfertigung Gottes wegen der Übel in der Welt, gehört i n die nach gut und böse fragende w e r t e n d e M e t a p h y s i k und führt somit über die Aufgabe hinaus, die w i r uns eingangs gestellt hatten. W i r beschränken uns daher auf die Bemerkung, daß die Übel in der Welt begreiflich werden, wenn man auf die Annahme einer grenzenlosen Allmacht Gottes verzichtet, wie es nicht wenige Philosophen (z. B. St. M i l l und Fechner) ausdrücklich getan haben. D i e A n n a h m e e i n e r n i c h t - u n b e g r e n z t e n , aber d o c h u n g e h e u e r g r o ß e n u n d s c h l i e ß l i c h s i e g h a f t e n M a c h t Gottes entspricht

der

wissenschaftlichen

und religiösen

Auf-

f a s s u n g des W e l t l a u f e s u n d u n s e r e r A u f g a b e i n i h m besser

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

269

als d i e A n n a h m e e i n e r s c h r a n k e n l o s e n A l l m a c h t , die e i g e n t lich

den

Weltprozeß

und

unser

sittliches Kämpfen

im

Dienste g ö t t l i c h e r Ziele ü b e r f l ü s s i g erscheinen läßt.

Die organische Zweckmäßigkeit und die immanentpsychistische, psychovitalistische Teleologie. Wenn man die landläufige transzendent-psvchistische, theistische Naturteleologie unbefriedigend findet, so braucht man darum doch nicht auf jede psychistische Teleologie zu verzichten. Es bleibt ja dabei, daß uns die Erfahrung und das analogische Schließen zur Zurückführung des Naturzweckmäßigen auf das Wirken seelischer Faktoren geradezu drängen. W i r müssen uns nur diese Faktoren anders vorstellen und sie an anderer Stelle suchen als die landläufige theistische Naturteleologie es tut. Da das Naturzweckinäßige vielfach unvollkommen und mit Zweckwidrigkeiten verbunden ist, die wie Ergebnisse der Dummheit aussehen, werden wir es auch auf u n v o l l k o m m e n e , nicht auf göttliche seelische Faktoren zurückzuführen haben. Diese seelischen Faktoren, welche Naturzweckmäßiges produzieren, scheinen keine harmonische seelische Einheit m i t einheitlicher Zielsetzung zu bilden, da die zweckmäßigen Einrichtungen verschiedener Organismen oft gegeneinanderwirken, wie z. B. die Schutzfarbe eines verfolgten und die vorzüglichen Augen des verfolgenden Tieres. Das Zweckmäßige, das wir an einem Organismus finden, nutzt meist diesem selbst oder doch seiner Nachkommenschaft. So dienen das zweckmäßige Gebiß und die Krallen einer Katze dieser selbst; die Milchdrüsen der weiblichen Katze dienen ihrer Nachkommenschaft. W i r nennen Zweckmäßiges, das dem Organismus dient, dem es angehört, s e l b s t d i e n l i c h , Zweckmäßiges, das den Nachkommen des Organismus dient, n a c h k o m m e n d i e n l i c h . Gebiß und Krallen der Katze sind also selbstdienlich zweckmäßig; ihre Milchdrüsen sind nachkommendienlich zweckmäßig. I n den meisten Fällen scheint das Naturzweckmäßige selbstdienlich zu sein. Wenn aber das Zweckmäßige dem Organismus dient, an dem es sich findet, dann wird wohl auch das Seelische, das diese Zweckmäßigkeit geschaffen hat, mit diesem Organismus eng verknüpft sein, zu i h m gehören, „ i n " i h m

270

Metaphysik.

wirken und wohnen. Es ist doch wohl die am nächsten liegende Annahme, daß das Seelische, welches die zweckmäßigen Katzenkrallen schuf und so der Katze diente, zur Katze gehört und nicht etwa zur Maus, gegen die diese Krallen sich richten. So k o m m e n w i r z u d e r A u f f a s s u n g , daß die seelischen F a k t o r e n , welche Zweckm ä ß i g e s an d e n O r g a n i s m e n h e r v o r r u f e n , diesen O r g a n i s men

selbst

a n g e h ö r e n , n i c h t aber e i n e m a u ß e r h a l b

der-

selben o d e r ü b e r i h n e n s t e h e n d e n g e i s t i g e n Wesen. W i r bezeichnen die Hypothese, daß das Naturzweckmäßige durch seelische Faktoren zustandekomme, die den Organismen selbst angehören, ihnen bildlich gesprochen innewohnen oder „immanent" sind, als i m m a n e n t - p s y c h i s t i s c h e

oder psychovitalistische

Teleologie. Diese Hypothese harmoniert

aufs beste mit den Ergebnissen

unserer früheren Erwägungen. W i r waren ja schon längst zu der Annahme gelangt, daß alle Organismen und alle ihre Organe und Zellen beseelt sind; was liegt nun näher als die Auffassung, daß eben das Seelische i n den Lebewesen, Organen und Zellen das Zweckmäßige an ihnen bewirkeI W i r waren weiter zu der p s y c h o v i t a l i s t i s c h e n Ansicht gekommen, daß gerade die der Materie gleichsam übergeordnete Beseelung das Lebendige zum Lebendigen mache, daß das dem Organismus angehörige, i h m immanente Seelische das Geschehen in i h m führend beeinflusse und dadurch die Eigenart der Lebensvorgänge bedinge; w i r d also nicht auch die eigenartige Zweckmäßigkeit der Lebensvorgänge auf dem führenden Einfluß der immanenten seelischen Lebensfaktoren beruhen? W r ir sahen, wie die Entwicklungsvorgänge, die aus der befruchteten Eizelle den fertigen Organismus hervorgehen lassen, den Eindruck erwecken, von seelischen Faktoren geführt zu sein; diese Entwicklungsvorgänge produzieren auch alle zweckmäßigen Gebilde am Organismus, und so werden auch diese ihre Entstehung dem führenden Einfluß der seelischen Lebensfaktoren verdanken. Unsere früheren und die speziell dem Zweckmäßigkeitsproblem gewidmeten Betrachtungen drängen also gemeinsam zu der Hypothese hin, daß

in

den O r g a n i s m e n

selbst

w o h n e n d e seelische

F a k t o r e n d u r c h i h r e n f ü h r e n d e n E i n f l u ß auf die Lebens-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

271

Vorgänge, a u c h a u f d i e den O r g a n i s m u s a u f b a u e n d e n E n t w i c k l u n g s v o r g ä n g e , d i e Z w e c k m ä ß i g k e i t des o r g a n i s c h e n Geschehens u n d der o r g a n i s c h e n G e b i l d e z u s t a n d e b r i n g e n . Wie unsere bewußt-seelischen Faktoren durch ihren führenden Einfluß i m Großhirn die Zweckmäßigkeit unseres Handelns und seiner Produkte bewirken, so bewirken die den ganzen Organismus belebenden unbewußt-seelischen Faktoren durch ihren führenden Einfluß

die Zweckmäßigkeit

des Lebensgeschehens und seiner Pro-

dukte, der durch das Entwicklungsgeschehen produzierten organischen Gebilde. Auch die Instinkthandlungen und ihre Produkte, die Bienenwaben, Vogelnester usw., verdanken ihre Zweckmäßigkeit dem i m Nervensystem der Tiere ausgeübten f ü h r e n d e n E i n f l u ß

des

Seelischen.

Innerer Ausbau der immanent-psychistischen Zweckmäßigkeitserklärung. Die Probier-Lern-Hypothese und der Psycholamarckismus. Mit der Begründung der Annahme, daß den Organismen angehörige seelische Faktoren durch ihren führenden Einfluß Naturzweckmäßiges hervorbringen, ist die Aufgabe einer psychovitalistischen Zweckmäßigkeitserklärung noch nicht erschöpft. Es bleibt klarzustellen, w i e das Seelische es a n f ä n g t , Z w e c k m ä ß i g e s zu p r o d u z i e r e n . Dieses Problem kann an Hand psychologischer E r fahrung i n Angriff genommen werden; wir können ja psychologisch beobachten, wie unsere eigene, die Kindes- und die Tierseele zweckmäßige Handlungen zustande bringen, und w i r können dann versuchen, von dieser beobachtbaren Zweckmäßigkeitsproduktion auf die nicht-beobachtbare Hervorbringung von organischem Zweckmäßigen durch unbewußt-seelische Faktoren Schlüsse zu ziehen. Die Produktion von Zweckmäßigem durch Verstand, Phantasie, Willen usw., wie sie sich i m Handeln erwachsener Menschen abspielt, ist vielfach ein sehr kompliziertes Geschehen, das der psychologischen Analyse beträchtliche Schwierigkeiten darbietet. W i r wollen daher unser Augenmerk der p r i m i t i v e r e n

Zweckmäßigkeits-

p r o d u k t i o n b e i m H a n d e l n des k l e i n e n K i n d e s z u w e n d e n . Angenommen, solch ein kleiner Erdenbürger komme i n seinem Bett-

272

Metaphysik.

chen auf ein hartes, bald schmerzhaft drückendes Spielzeug, ein Blechdöschen o. dgl., zu liegen. I n seiner Unbeholfenheit wird er anfangen, zu schreien und mit Armen und Beinen allerhand ziellose Bewegungen ausführen. Da das den Schmerz nicht beseitigt, wird er noch unruhiger werden ; der ganze Körper gerät in Bewegung und wird so schließlich vielleicht zur Seite gewälzt oder geschoben. Dadurch kommt der Rücken fort von dem harten Ding und der Schmerz hört auf. Eine von den vielen und mannigfachen „Probierbewegungen" hat zum unlustbeseitigenden, lustbringenden Erfolg geführt. Wenn das K i n d mehrfach in die gleiche, peinliche Situation kommt, so w i r d sich bald zeigen, daß es aus der Erfahrung etwas gelernt hat; es w i r d schließlich nicht erst lange schreien und strampeln, sondern sogleich die befreiende Verschiebung des Körpers vornehmen, jene Bewegung, die sich als unlustbeseitigend, lustspendend dem Gedächtnis besonders tief eingeprägt hat. Damit ist eine z w e c k m ä ß i g e Handlungsweise entstanden. So

kommen

viele

zweckmäßige

stande, i n d e m i n einer schädlich

Situation,

Handlungsweisen die

unangenehm

i s t o d e r d o c h s c h ä d l i c h zu w e r d e n d r o h t ,

nächst allerhand ziellose „Probierbewegungen"

zuund zu-

erfolgen,

b i s eine d e r s e l b e n z u f ä l l i g d i e U n l u s t u n d das S c h ä d l i c h e b e s e i t i g t , i n d e m f e r n e r diese u n l u s t - u n d s c h a d e n a b w e n dende, l u s t v o l l e u n d n ü t z l i c h e Bewegung vom Gedächtnis festgehalten Situation

und bei

sogleich

Wiederholung

wiederholt

wird.

der Darin

unangenehmen liegt das V e r -

f a h r e n des P r o b i e r e n s u n d L e r n e n s , die „Methode von Versuch und I r r t u m " , die „Selektion aus überproduzierteij Bewegungen". Natürlich handelt es sich beim kleinen Kinde zunächst nicht um ein echtes Probieren, d. h. um ein absichtliches Durchprüfen der Bewegungen auf ihre Eignung hin, sondern die unlustvolle Situation löst unmittelbar die mannigfaltigen, ziellosen Bewegungen aus. A u c h i n d e r T i e r w e l t ist d i e s P r o b i e r - L e r n - V e r f a h r e n offenbar

außerordentlich

verbreitet.

Ein Hund z. B. lernt

das öffnen einer Tür, die i h m den Weg versperrt und so Unlust bereitet, indem er allerhand Bewegungen macht, bellt, winselt, sich an der T ü r aufrichtet usw., indem er schließlich bei einer dieser

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

273

„Probierbewegungen" zufällig die Klinke niederdrückt und so zum unlustbeseitigenden Erfolg gelangt; die erfolg- und lustbringende Bewegung wird auch beim Hunde i m Gedächtnis festgehalten, sodaß bei Wiederholung der peinlichen Situation diese Bewegung schon nach kürzerem Probieren, bei mehrfacher Wiederholung aber sofort, ohne Probieren, unter Fortlassung der „überproduzierten Bewegungen", ausgeführt wird. So ist dann eine zweckmäßige Verhaltungsweise entstanden. Schon bei einzelligen

Lebewesen

s c h e i n t das P r o b i e r -

L e r n - V e r f a h r e n seine R o l l e zu s p i e l e n . Wenn man ein Trompetentierchen (Stentor) durch herabfallende Pulverkörnchen da lernd reizt, so biegt es sich zunächst zur Seite; dann kehrt es die Bewegung seiner Wimpern u m ; darauf zieht es sich in seine Schleimröhre zurück; nach all diesen erfolglosen, nicht vor den fallenden Körnchen schützenden Probierbewegungen

trennt es sich von seinem

Standort und entkommt so dem schlimmen Bombardement. W i r d dieses kurz nachher erneuert, so wiederholt das Tierchen nicht etwa alle seine Probierbewegungen, sondern es führt sofort die erfolgreiche Bewegung aus. Das e i n z e l l i g e Lebewesen s c h e i n t also G e d ä c h t n i s zu h a b e n , aus seinen Erfahrungen bei den Probierbewegungen zu lernen, ähnlich wie ein K i n d oder ein Hund. Allerdings sind andere Deutungen nicht ausgeschlossen. Durch das Probier-Lern-Verfahren

kommen jedenfalls zahllose

zweckmäßige Bewegungen zustande, durch die auf irgendwelche Reize oder Situationen geantwortet oder „reagiert" wird. Dabei wird zunächst eine von den ziellosen Probierbewegungen durch das Gedächtnis festgehalten, die erfolgreich und e i n i g e r m a ß e n zweckmäßig ist. Bei Wiederholung der Situation wird diese Bewegung wiederholt, jedoch nicht stets genau in derselben Weise, sondern mit kleinen Änderungen in verschiedener Richtung. Führt eine so veränderte Bewegungsreaktion noch besser, etwa schneller und leichter, zum lustvollen Erfolg, so w i r d von nun ab diese verbesserte erfolgreiche Bewegung gedächtnismäßig besonders festgehalten und bei neuer Wiederkehr der Situation ausgeführt. Dabei treten dann wieder „probierende" kleine Änderungen auf, von denen wieder die geeignetste festgehalten wird. Kurz, wenn sich ein Lebewesen durch ProB e o h e r , Einführung i n die Philosophie.

18

274

Metaphysik.

bieren und gedächtnismäßiges Festhalten eine einigermaßen zweckmäßige Bewegungsreaktion angeeignet hat, so w i r d w e i t e r p r o b i e r t u n d d a d u r c h die Z w e c k m ä ß i g k e i t der R e a k t i o n ges t e i g e r t . Hat z. B. ein K i n d durch probierende Bewegungen der Sprachmuskulatur einigermaßen gelernt, wie ein schwieriges Wort auszusprechen ist, so probiert es weiterhin der leidlich erfolgreichen Bewegung ähnliche Sprachmuskelaktionen durch und gelangt so zu richtigerem Aussprechen; dieses wird auf gleichem Wege weiter vervollkommnet, bis eine genau angemessene, ganz zweckmäßige Sprachmuskelbewegung gefunden und damit ein genaues Aussprechen erlernt ist. Neben den durch Probieren und Lernen vom individuellen Lebewesen erworbenen gibt es z w e c k m ä ß i g e B e w e g u n g e n , die a n g e b o r e n u n d e r e r b t s i n d , wie das Schlagen unseres Herzens, das Saugen des Neugeborenen, das Fliegen der Vögel. A u c h b e i s o l c h e n a n g e b o r e n e n B e w e g u n g e n , insbesondere bei den sogenannten instinktiven, z. B. beim Fliegen der Vögel, w i r d o f t o f f e n b a r die ererbte Z w e c k m ä ß i g k e i t d u r c h Probieren und gedächtnism ä ß i g e s F e s t h a l t e n der g e e i g n e t s t e n B e w e g u n g s m o d i f i k a t i o n e n wesentlich gesteigert. Nun ist ferner zu bedenken, daß die Bewegungsreaktionen nur eine spezielle Gruppe organischer Reaktionen sind, daß ihnen manche andere

Reaktionsarten,

z. B. D r ü s e n r e a k t i o n e n ,

zur Seite

stehen. Wie ein Hund auf den Anblick einer Wurst mit teils angeborenen, teils erlernten Bewegungsformen reagiert, so reagiert er darauf auch m i t bestimmten Drüsentätigkeiten, mit der Absonderung von Speichel und anderen, f ü r die Verdauung der Wurst geeigneten Drüsensekreten. Auch diese Drüsenreaktionen sind i m allgemeinen wie die Bewegungsreaktionen recht zweckmäßig. Ja noch mehr, man gewinnt aus Versuchen Pawlows den Eindruck, daß die Bauchspeicheldrüse allmählich l e r n t , die Verdauungssäfte, die sie dem Darm zusendet, verschiedenen Ernährungsarten anzupassen. Sollte also nicht auch die Zweckmäßigkeit der Absonderungsreaktion der Bauchspeicheldrüse

durch das Probier-Lern-Verfahren

zustande-

gekommen oder doch vervollkommnet worden sein? Wenn einzellige Lebewesen verschiedene Bewegungen probieren

und die erfolg-

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

275

reichen, zweckmäßigen, gedächtnismäßig festhalten können, warum soll dann nicht auch eine Drüse, die überdies noch ihren nervösen Apparat besitzt, verschiedene Sekretionen probieren und die zweckmäßige gedächtnismäßig festhalten können? W i r haben ja ohnehin gute Gründe f ü r die Annahme, daß die Drüsen nicht nur seelenlose chemische Apparate, sondern wie alle lebenden Organe beseelte Gebilde sind. Und ferner sind die Drüsenreaktionen und ebenso alle anderen Reaktionen den Muskelreaktionen, bei denen das ProbierLern-Verfahren

zweifellos eine große Rolle spielt, insofern ver-

wandt, als alle diese Funktionen i m Grunde biochemische Vorgänge darstellen. A u c h b e i A b w e h r r e a k t i o n e n , d u r c h w e l c h e der O r g a n i s mus K r a n k h e i t e n ü b e r w i n d e t , f i n d e t v i e l l e i c h t e i n L e r n e n statt. Manche Krankheiten, z. B. die schwarzen Pocken,

hinter-

lassen einen gewissen Schutz gegen Wiederholung. Dieser beruht z. T. darauf, daß der erkrankte Organismus Abwehrstoffe bildet, die zur Überwindung des krankmachenden Agens dienen, und die noch lange i m Organismus zurückbleiben und so Neuerkrankung

ver-

hindern oder erschweren. Doch ist es fraglich, ob 111 der angedeuteten oder einer ähnlichen Weise eine befriedigende Erklärung der I m munisierung durch Überstehen von Krankheiten möglich ist; vielleicht kommt hinzu, daß die mit der Krankheitsabwehr betrauten Zellen usw. bei der Überwindung der Erkrankung ihre Aufgabe lernen und so einem neuen Angriff

der Krankheitserreger besser

widerstehen können. Auch die E n t w i c k l u n g s v o r g ä n g e , die aus den Keimzellen neue Organismen entstehen lassen, sind zweckmäßige ReaktionsVorgänge; genauer gesprochen bestehen sie aus zahllosen Reaktionsvorgängen, da immer wieder das erreichte Entwicklungsstadium die Reize darbietet, die weitere Entwicklungsprozesse oder -reaktionen auslösen. Eine erste Auslösung der ganzen individuellen Entwicklung, einen Ausgangsreiz für diese Kette von Reaktionen, gibt zumeist die Befruchtung der Eizelle ab. Gestaltbildende Entwicklungsreaktionen liegen auch i n den Regenerationsvorgängen vor, durch welche verstümmelte Organismen, z. B. Seesterne, abgetrennte Körperteile neu bilden; die Abtrennung setzt den Reiz, der den zweckmäßigen, die 18*

276

Metaphysik.

Gestalt wiederherstellenden regenerativen Reaktionsvorgang auslöst. Mehrfach wurde nun die f ü r uns bedeutsame Beobachtung gemacht, d a ß R e g e n e r a t i o n e n , d i e das g l e i c h e Lebewesen w i e d e r h o l t ausführen

mußte, schließlich

schneller und glatter ver-

l i e f e n , als ob sie e r l e r n t w ü r d e n . Auch sieht man bei Regenerationen zuweilen Prozesse, die vielleicht als tastende Versuche, als Probierreaktionen gedeutet werden können. So liegt die Annahme nahe, daß ä h n l i c h w i e b e i B e w e g u n g s reaktionen

bei allen

möglichen

g ä n g e n , bei Drüsenfunktionen, staltbildungsvorgängen

usw.,

anderen

Reaktionsvor-

Krankheitsabwehrreaktionen, Gedas

Probier-Lern-Verfahren

Z w e c k m ä ß i g e s z u s t a n d e b r i n g t o d e r d o c h d i e b e r e i t s bestehende Z w e c k m ä ß i g k e i t der F u n k t i o n e n s t e i g e r t . Allerdings kann man bei Drüsenfunktionen,

Krankheitsabwehr-

prozessen, Gestaltbildungsvorgängen usw. ein „Probieren" verschiedener Prozesse nicht oder doch nicht sicher beobachten, während man dazu bei Bewegungsvorgängen vielfach imstande ist. Es ist aber sehr wohl möglich, daß bei gar mancher Lebensfunktion, bei der wir

kein

„Probieren",

d. h. keine größeren oder kleineren, ver-

schieden gerichteten Modifikationen ihres Ablaufes beobachten, doch solche Probiermodifikationen stattfinden, von denen dann die förderlichen gedächtnismäßig festgehalten werden. Immerhin ist die Zweckmäßigkeit Krankheitsabwehrreaktionen,

unserer Drüsenf Miktionen,

Gestaltbildungsprozesse usw. ähnlich

wie die der Instinkt- und Reflexbewegungen offenbar in der Hauptsache ein von den Vorfahren ererbtes Gut, das nicht erst durch Probieren und gedächtnismäßiges Behalten erworben zu werden braucht. D o c h m a g das P r o b i e r - L e r n - V e r f a h r e n w i e b e i den I n s t i n k t b e w e g u n g e n , so b e i m a n c h e n a n d e r e n

Lebensfunktionen

die ererbte Z w e c k m ä ß i g k e i t mehr oder weniger

steigern.

Weit höher wird man die Bedeutung des Probier-Lern-Verfahrens einzuschätzen haben, wenn man sich die allerdings noch unbewiesene, aber doch durch manche Tatsachen nahegelegte l a m a r c k i s t i s c h e A n n a h m e zu eigen macht, d a ß z a h l r e i c h e i m

individuellen

Leben

Nachkommen

erworbene

Besonderheiten

auf

die

v e r e r b t werden. Dann mag auch der durch das Probier-Lern-Ver-

277

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

fahren von den Individuen erzielte Gewinn an Zweckmäßigkeit vielfach durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen werden. Und wenn diese durch neues Probieren und Lernen ihre Lebensfunktionen wiederum zweckmäßiger gestalten, so mag sich der neue Gewinn an Zweckmäßigkeit ebenfalls weiter vererben. So könnte von Generation zu Generation die Zweckmäßigkeit der Lebensfunktionen durch das Probier-Lern-Verfahren die

von

weiter gesteigert werden. Und

den g e g e n w ä r t i g l e b e n d e n O r g a n i s m e n

Zweckmäßigkeit Instinkte,

zahlreicher

Lebensfunktionen,

Drüsensekretionen,

ererbte wie

der

Krankheitsabwehrreak-

t i o n e n usw., k ö n n t e v o n den V o r f a h r e n i m L a u f e z a h l l o s e r Generationen durch fortgesetztes, i m m e r weiter

fördern-

des P r o b i e r e n u n d L e r n e n e r w o r b e n w o r d e n sein. I n der jahrmillionenlangen Entwicklung des Organismenreiches mögen durch das Probier-Lern-Verfahren zunächst primitive zweckmäßige Reaktionsweisen erworben worden sein, die dann durch Vererbung übertragen und durch von Generation zu Generation fortgesetztes Probieren immer mehr vervollkommnet worden sein mögen. Wenn man aber die Zweckmäßigkeit aller möglichen Lebens Vorgänge

oder

-„funktionen"

auf

das

Probier-Lern-Verfahren

zurückführt, dann liegt der Versuch nahe, auch die Zweckmäßigkeit von organischen G e b i l d e n , von Organkomplexen, Organen, Organteilen, Geweben, Zellen und Zellteilen, als Ergebnis jenes Verfahrens aufzufassen. Die organischen Gebilde sind ja das Produkt von Entwicklungs- oder Bildungsprozessen; die Zweckmäßigkeit der Gebilde führt auf Zweckmäßiges bildende und darum zweckmäßige Entwicklungsprozesse zurück. Wenn nun die Zweckmäßigkeit aller möglichen Vorgänge und so auch die der bildenden, gestaltenden Entwicklungsvorgänge als Resultat des Probier-Lern-Verfahrens betrachtet wird, ist dann nicht auch die Zweckmäßigkeit der durch diese Vorgänge produzierten Gebilde als Ergebnis dieses Verfahrens aufzufassen?

Könnten

probierende

Bildungsprozesse

nicht

allerlei

gleichsam

stattfinden

Reihe dann diejenigen vom Organismus

tastende,

u n d aus i h r e r

gedächtnismäßig

festgehalten und f o r t g e f ü h r t werden, welche zweckmäßige G e b i l d e l i e f e r n o d e r verbessern? Und wenn die so durch das

278

Metaphysik.

Pf obier-Lern-Verfahren

erworbenen Bildungsprozesse und Gebilde

sich auf die Nachkommen übertragen, dann mögen diese das Verfahren fortsetzen und so die Zweckmäßigkeit der Gebilde immer mehr erhöhen. Sind vielleicht i m Laufe der Generationen auf diese Weise viele sehr

zweckmäßige organische Gebilde zustande ge-

kommen? W i r können die skizzierte Ausgestaltung der psychovitalistischen Zweckmäßigkeilserklärung als eine „ p s y c h o l a m a r c k i s t i s c h e " bezeichnen; lamarckistisch ist sie, sofern sie sich auf die Lamarcksche Annahme

einer weitgehenden Vererbung individuell erworbener

Eigenschaften stützt; psycholamarckistisch kann sie heißen, sofern sie überdies seelische Faktoren, wie Unlust, Lust und Gedächtnis voraussetzt. Übrigens schrieb Lamarck selbst seelischen Faktoren eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung des Zweckmäßigen zu. Der von A. Pauly begründete neuere Psycholamarckisinus weicht in einigen Punkten von der von uns entwickelten Hypothese ab. W i r w o l l e n diese d a r u m m i t e i n e m besonderen N a m e n als i m m a n e n t - p s y c h i s t i s C h e P r o b i e r - L e r n - H y p o t h e s e bezeichnen.

Ergänzung der nur primitives Seelisches voraussetzenden Probier-Lern-Hypothese durch Annahme unbewußter Intelligenz. Die dargelegte Hypothese hat den großen V o r z u g , sich darauf berufen zu können, daß t a t s ä c h l i c h i n m a n c h e n F ä l l e n , nämlich bei vielen RewegungsVorgängen, bei menschlichen und tierischen Handlungen,

Zweckmäßiges

durch

das

Probier-Lern-Ver-

f a h r e n z u s t a n d e k o m m t . Was hier zu beobachten ist, das überträgt die Probier-Lern-Hypothese auf andere Lebensfunktioneri und organische

Gebilde; auch sie sollen, wenigstens in vielen Fällen,

durch Probieren und gedächtnismäßiges Festhalten des Förderlichen und Lustbringenden zweckmäßig gestaltet worden sein. Als einen weiteren Vorzug der dargelegten Probier-Lern-Hypothese w i r d man es vielleicht betrachten, daß sie m i t der A n n a h m e z i e m l i e h p r i m i t i v e r seelischer F a k t o r e n auszukommen scheint, wie sie schon beim sehr kleinen Kinde und bei vielen Tieren zweifellos vorhanden sind. Zum Probier-Lern-Verfahren, wie wir es etwa

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

279

beim kleinen Kinde beobachten, gehört ein unlustvolles Wahrnehmen des auslösenden Reizes, ein Wahrnehmen der durch ihn hervorgerufenen Probiervorgänge, ein Erleben der Unlustbeseitigung bzw. der Lust bei der Beseitigung des peinlichen, schädlichen Reizes durch die erfolgreiche Reaktion und ein gedächtnismäßiges Festhalten der letzteren i n Verbindung mit dem Reiz, das bei Wiederkehr des Reizes sofortige Wiederkehr der erfolgreichen Reaktion ermöglicht. Sinnliche Wahrnehmung, Lust, Unlust und Gedächtnis aber sind ziemlich primitive seelrsche Faktoren, die man eher allen Organismen, Organen und Zellen zuzuerkennen bereit sein wird als die höheren seelischen Vorgänge des Urteilens, Schließens usw. ; in der Tat sprechen manche Beobachtungen dafür, daß primitive Sinnes Wahrnehmung, Lust, Unlust und Gedächtnis schon bei einzelligen Organismen sich finden. Andererseits

stößt die dargelegte Probier-Lern-Hypothese doch

auch auf ernste S c h w i e r i g k e i t e n und S c h r a n k e n . W i r erwähnten bereits, daß nur bei Bewegungsvorgängen, nicht aber bei anderen Lebensfunktionen das Probier-Lern-Verfahren mit Sicherheit nachweisbar ist; ebenso betonten wir schon, daß die lamarckistische Annahme einer weitgehenden Vererbung individuell erworbener Eigenschaften, wenngleich durch manche Tatsachen nahegelegt, so doch nicht bewiesen ist. Jetzt müssen wir darauf hinweisen, daß das dargelegte

primitive

Probier-Lern-Verfahren

versagen

m u ß , w e n n d e r E r f o l g e i n e r z w e c k m ä ß i g e n R e a k t i o n dieser n i c h t u n m i t t e l b a r f o l g t . Wenn der Hund, dem eine T ü r den Weg versperrt, bei seinen vor i h r ausgeführten Probierbewegungen zufällig m i t einer Vorderpfote auf die Türklinke drückt, so öffnet sich die T ü r sofort; die erfolgreiche Reaktion bringt den lustvollen Erfolg sogleich m i t sich und prägt sich eben dadurch dem Gedächtnis ein, was ihre alsbaldige Wiederholung bei Wiederkehr der ReizSituation ermöglicht. Angenommen aber, das Niederdrücken der T ü r klinke würde zunächst nur ein Uhrwerk in Gang setzen und dieses würde dann erst nach Verlauf einer Stunde die T ü r öffnen, so würde der Zusammenhang zwischen Niederdrücken der Klinke und T ü r öffnung in der Seele des Hundes gar nicht zur Geltung kommen. Der Hund würde nach der die Klinke niederdrückenden Bewegung weitere Probierbewegungen vor der einstweilen geschlossen bleibenden Tür

280

Metaphysik.

ausführen. Die erfolgreiche Bewegung würde sich in der Seele des Hundes nicht von den anderen Probierbewegungen abheben und nicht vom Gedächtnis besonders festgehalten werden. Bei der Wiederholung der Situation würde der Hund also nicht sogleich die erfolgreiche

Bewegung ausführen,

sondern wiederum alle möglichen

Probierbewegungen machen; oder er würde vielleicht zunächst eine unnütze Bewegung wiederholen, die er zufällig gerade ausführte, als die T ü r durch das Uhrwerk geöffnet wurde, und die sich darum seinem Gedächtnis stark einprägte. Kurz, der Hund würde die zweckmäßige Bewegung nicht erlernen, sich vielleicht sogar eine verkehrte Reaktionsweise aneignen. Er könnte eben nicht erkennen, daß die nach einer Stunde erfolgende Öffnung der T ü r die Folge des Niederdrückens der Türklinke ist. Es würde schon viel Intelligenz dazu gehören, um diesen Zusammenhang herauszufinden. N u n g i b t es aber v i e l e z w e c k m ä ß i g e o r g a n i s c h e Prozesse, d e r e n E r f o l g erst n a c h l ä n g e r e r Z e i t a u f t r i t t . Man denke an die E n t w i c k l u n g s v o r g ä n g e , die z w e c k m ä ß i g e G e b i l d e , z. B. Stacheln, Dornen, Brennhaare usw., hervorbringen. Der Nutzen, den z. B. Stacheln einer Pflanze durch Abwehr von Tierfraß bringen, konnte sich nicht sogleich bemerkbar machen, als die ersten, an sich noch unnützen Ansätze zur Bildung wehrhafter Stacheln erfolgten. Wenn diese Ansätze Probierprozesse darstellten, so hatte die Pflanze also keinen Anlaß, sie vor anderen Probierprozessen zu· bevorzugen, festzuhalten und fortzuführen.

Darf man ferner

überhaupt an-

nehmen, daß eine Pflanze es lustvoll verspürt, wenn sie durch ihre Stacheln gegen Tierfraß verteidigt wird? Sie erfährt dadurch ja keine positive Lebensförderung, sondern es handelt sich nur um die Abwehr drohenden Schadens. Ü b r i g e n s g e r ä t a u c h das D a r w i n s c h e S e l e k t i o n s p r i n z i p i n S c h w i e r i g k e i t e n bei der E r k l ä r u n g zweckmäßiger Gebilde, d e r e n erste A n s ä t z e n o c h u n n ü t z waren. Die natürliche Zuchtwahl erhält und fördert ja nur, was nützlich ist i m Daseinskampfe; sie kann daher nicht unnütze Ansätze weiterentwickeln, die später durch Weiterbildung einmal nützlich werden könnten. Also auch wenn man annimmt, daß sowohl primitive Probier-Lern-Prozesse als auch natürliche Zuchtwahl zur Entstehung des Zweckmäßigen

281

Das Seelische als Grundfaktor alles Lebens.

in der lebenden Natur beigetragen haben, wird man der hier vorliegenden Schwierigkeiten nicht Herr. Die Schranken, auf welche die dargelegte Form der Probier-LernHypothese stößt, die nur mit primitiven seelischen Faktoren rechnet, bedeuten keineswegs Schranken jeder Probier-Lern-Hypothese und erst recht nicht etwa Schranken aller psychovitalistischen Zweckmäßigkeitserklärung.

Ist bei dem P r o b i e r - L e r n - P r o z e ß

gewisse I n t e l l i g e n z i m S p i e l e , so k a n n e r s t a u n l i c h

eine

Zweck-

m ä ß i g e s zustande k o m m e n , auch Zweckmäßiges, das nicht schon bei den ersten Ansätzen zu seiner Entstehung nützt, sondern erst nach völliger Fertigstellung oder noch später nützlich wird. Man braucht nur an Maschinen und andere Errungenschaften der Technik zu denken, um dies zu erkennen. Das Probieren spielt bei der technischen Schöpfung von Zweckmäßigem eine überaus große Rolle; doch handelt es sich dabei um ein vom Denken geleitetes Probieren, bei welchem auch vieles nur in Gedanken versucht und lediglich das Erfolg-Versprechende wirklich ausprobiert wird. Unser Verstand befähigt uns, beim Probieren das Erfolgreiche und Erfolgreichste herauszufinden, auch wenn dessen Erfolg erst nach einiger Zeit auftritt, wie etwa derjenige der Kunstdüngung auf Wiese und Feld. Und warum

s o l l t e b e i der E n t s t e h u n g des o r g a n i s c h e n

Z w e c k m ä ß i g e n n i c h t a u c h V e r s t a n d i m S p i e l e sein? Bei der Betrachtung höherer organischer Zweckmäßigkeit, wie etwa unser Auge oder Ohr sie zeigt, drängt sich dem Unbefangenen aufs stärkste der Gedanke auf, daß hier Verstand am Werke gewesen sein müsse. Da unser bewußter Verstand nur die Zweckmäßigkeit von Handlungen und ihren Produkten zustande bringt, wird man an u n bewußte,

wenigstens für

uns u n b e w u ß t e I n t e l l i g e n z denken

müssen. Diese wird sich durch die ganze organische Welt hindurch erstrecken,

in der sich überall erstaunlich

„Vernünftiges"

und

Zweckmäßiges findet. So versteht man auch, woher unsere bewußte Intelligenz stammt, die sonst als ein seltener und seltsamer Fremdling i n der Welt erscheint. Das

unvollkommen

Zweckmäßige,

Zweckwidrige

und

„ D u m m e " i n der l e b e n d e n N a t u r w i d e r s p r i c h t n i c h t der A n n a h m e , d a ß I n t e l l i g e n z b e i der H e r v o r b r i n g u n g v o n N a t u r -

282

Metaphysik.

z w e c k m ä ß i g e m i m S p i e l e ist. Auch das menschliche Handeln zeigt neben hoher o f t

unvollkommene Zweckmäßigkeit, Zweck-

widrigkeit und Dummheit. Wie beim menschlichen Handeln sowohl das einfachste Probier-Lern-Verfahren des kleinen Kindes, das nur von primitiven seelischen Faktoren geleitet wird, als auch das von genialer Intelligenz und Phantasie geleitete, hohe Zweckmäßigkeit produzierende Versuchen und Schaffen des großen Erfinders eine Rolle spielen, so m ö g e n a u c h b e i d e r P r o d u k t i o n des o r g a n i schen

Zweckmäßigen

(zu d e m

doch

auch m e n s c h l i c h e s

H a n d e l n g e h ö r t ) s o w o h l p r i m i t i v e seelische F a k t o r e n als auch I n t e l l i g e n z u n d P h a n t a s i e p r o b i e r e n d u n d f ü h r e n d i m S p i e l e sein. Unsere K r i t i k f ü h r t uns also n i c h t z u r V e r w e r f u n g des n u r p r i m i t i v e seelische F a k t o r e n voraussetzenden P r o b i e r L e r n - P r i n z i p s ; davon kann keine Rede sein, da das Probier-LernVerfahren, auch das γόη primitiven seelischen Faktoren geleitete, beim menschlichen

und tierischen Handeln tatsächlich eine sehr

große Rolle spielt und somit ohne Zweifel wesentlich beiträgt zur Hervorbringung von Zweckmäßigem in der lebenden Natur. Es zeigte sich jedoch, daß ganz primitive seelische Faktoren allein nicht ausreichen, um die gesamte Naturzweckmäßigkeit fordert

unsere

nur

zu erklären.

So

p r i m i t i v e s Seelisches voraussetzende

P r o b i e r - L e r n - H y p o t h e s e einen ergänzenden Ausbau durch A n n a h m e höherer seelischer Faktoren. M i t einem Ausbau unserer psychovitalistischen Hypothese werden wir

uns nunmehr

zu beschäftigen haben. Unsere bisherigen Be-

trachtungen über das unbewußte Seelische und das Leben haben uns zu der Auffassung gedrängt, daß das m e n s c h l i c h e u n d t i e r i s c h e B e w u ß t s e i n k e i n e s w e g s das S e e l i s c h e i n der W e l t e r s c h ö p f t , daß

vielmehr

a l l e l e b e n d e S u b s t a n z beseelt i s t , daß die

seelischen F a k t o r e n , die i n allem Lebendigen w i r k e n und w e b e n , dieses e r s t z u m L e b e n d i g e n m a c h e n , i n d e m sie ü b e r a l l das L e b e n s g e s c h e h e n f ü h r e n , u n d daß diese F ü h r u n g d u r c h b e w u ß t e u n d ( f ü r uns) u n b e w u ß t e seelische F a k t o r e n eine F ü l l e e r s t a u n l i c h e r Z w e c k m ä ß i g k e i t i n d e r l e b e n d e n Natur

hervorbringt.

Das überindividuelle Seelische. Die fremddienliche Zweckmäßigkeit. Wie oben bereits dargelegt wurde, ist die organische Zweckmäßigkeit meist s e l b s t d i e n l i c h oder n a c h k o m m e n d i e n l i c h , d. h. sie steht i m Dienste des Individuums s e l b s t , welches das betreffende zweckmäßige Gebilde oder Geschehen aufweist, oder aber i m Dienste seiner N a c h k o m m e n s c h a f t . Selbstdienlich zweckmäßig ist z. B. unser Auge oder die Wundheilung, nachkommendienlich sind die Milchdrüsen der Säugetiere und die Brutpflegeinstinkte. A r t d i e n l i c h nennen wir Zweckmäßiges, das der betreffenden A r t von Lebewesen, nicht aber dem Individuum zugute kommt. Nicht nur das Nachkommendienlich-Zweckmäßige dienliche Brutpflegeinstinkte Arbeiterbienen,

überhaupt

ist artdienlich;

es gibt z. B. art-

auch bei Individuen, die, wie keine eigenen Nachkommen

die

hervor-

bringen. Außer dem s e l b s t d i e n l i c h e n , dem n a c h k o m m e n d i e n l i c h e n und dem a r t d i e n l i c h e n Zweckmäßigen g i b t es aber a u c h Z w e c k m ä ß i g e s , das a l l e i n i r g e n d w e l c h e n f r e m d e n

Organismen

d i e n t u n d s p e z i e l l f ü r sie h e r v o r g e b r a c h t zu sein s c h e i n t ; wir wollen diese Art des Zweckmäßigen als „ f r e m d d i e n l i c h " bezeichnen, nach Analogie der von uns eingeführten „selbstdienlich",

„nachkommendienlich"

Bezeichnungen

und „artdienlich".

Die

fremddienliche Zweckmäßigkeit ist in den allgemeinen Bearbeitungen des biologischen Teleologieproblems seit Langem gänzlich vernachlässigt worden. Doch scheint ihr, wie wir bald sehen werden, große theoretische Bedeutung zuzukommen. Am

auffälligsten

t r i t t uns d i e f r e m d d i e n l i c h e

Zweck-

m ä ß i g k e i t b e i den P f l a n z e n g a l l e n o d e r G e c i d i e n entgegen. Diese sind an Pflanzen

auftretende

anormale Gebilde, die von

fremden, meist von tierischen, in manchen Fällen auch von pflanz-

284

Metaphysik.

liehen Organismen hervorgerufen werden und diesen fremden Organismen Nahrung bieten. Es gibt eine große Zahl und Mannigfaltigkeit solcher Pflanzengallen,

und höchst erstaunlich ist die Fülle

zweckmäßiger Einrichtungen, durch welche sie den sie hervorrufenden fremden Organismen, den schmarotzenden „Gallengästen", wertvolle Dienste leisten. d u r c h die G a l l b i l d u n g

die

f r e m d e n Gäste, w i e s c h o n a n g e d e u t e t , m i t N a h r u n g ,

So

versorgen die Pflanzen

und

z w a r i n o f t w u n d e r b a r z w e c k m ä ß i g e r Weise. Es werden etwa besondere Nährgewebe in den Gallen gebildet und reiche Nährstoffmengen gerade dort dargeboten, wo sie den Gallenbewohnern zugänglich sind. Die Nährstoffe werden in manchen Fällen von eigenen Assimilationsgeweben der Gallen erzeugt; oft ist durch ein kräftig entwickeltes Leitungssystem reichliche Nahrungszufuhr zum Schmarotzer hin ermöglicht. Damit er die bereitete Speise, Eiweißstoffe, Fette und Stärke, bequem erreichen kann, werden die Wände der „ L a r v e n k a m m e r ' i n welcher der Gallengast haust, inwendig mit einer aus dünnwandigen, sehr nährstoffreichen Zellen gebildeten Schicht, dem Gallenmark, ausgekleidet. Bei der Entstehung der markhaltigen Galle, die durch die Ablage eines Eies des Gallentieres eingeleitet wird, entwickelt sich die nahrhafte Markschicht so schnell, daß die aus dem E i ausschlüpfende Larve sogleich den nötigen Mundvorrat vorfindet. Die abgeweideten Nährzellen werden alsbald durch neue ersetzt, so daß der Gallengast in seinem Kämmerlein auch später nicht tu hungern braucht. Gewisse Gallen, die außen mit langen, festen, dickwandigen Haaren ausgestattet sind, bieten innen den Schmarotzern dünnwandige, zu nahrungsgefüllten Säcken umgewandelte Haare dar. Die großen, lufthaltigen Interzellularräume vieler Gallengewebe dienen wohl i n zweckmäßiger Weise der L u f t v e r s o r g u n g

der

Gallentiere. F e r n e r b i e t e n d i e P f l a n z e n i h r e n Gästen i n den G a l l e n O b d a c h ; diese stellen sozusagen von den Pflanzen eigens f ü r die Gallengäste geschaffene Wohnhäuser dar, die nach ganz verschiedenen Bauplänen errichtet sind. Ohne Zweifel ist es f ü r die Gallentiere o f t recht zweckmäßig, von den gallentragenden Pflanzen durch

Das überindividuelle Seelische.

285

Blattrollungen oder in falten-, beutel-, hörnchen-, köpfchen- oder nageiförmigen Blattausstülpungen oder durch umwallende Wucherung oder irgendwelche andere Auswüchse und Umbildungen mehr oder weniger eingehüllt oder gänzlich eingeschlossen und so vor mancherlei Unbill geschützt zu werden. Zweckmäßig erscheint es, daß das eine „Rollgalle" bildende Blatt auf den die Gallbildung hervorrufenden Reiz hin, der von dem auf dem Blatt sitzenden Gallentier ausgeht, sich stets so einrollt, daß das Tier i n das Innere des gerollten Blattes, der Rollgalle, kommt, mag es auf der Ober- oder Unterseite des Blattes sitzen. I n entsprechender Weise erfolgt bei den „Ausstülpungsgallen" unter dem Einfluß des Schmarotzers die Vorwölbung der Blattspreite, die schließlich einen etwa beutel- oder hörnchenf örmigen Hohlkörper bildet, immer so, daß der Schmarotzer in den Hohlraum zu liegen kommt ; durch Haarbildung oder Dickenwachstum der Beutelwand kann die Öffnung des Hohlraumes fast ganz oder ganz verschlossen werden. Bei den mannigfaltigen Umwallungsgallen bildet sich um den ursprünglich auf der Oberfläche eines Pflanzenorgans befindlichen Parasiten herum ein wuchernder Wall, der dann über dem Gallengast zusammenwächst und diesen so einschließt; manchmal, nicht immer, bleibt dabei eine feine Öffnung bestehen. „Markgallen" von mancherlei Gestalt entstehen dadurch, daß I n sekten das Pflanzengewebe anstechen und in die Wunde, manchmal tief in das Innere des Gewebes, ihr E i ablegen oder einschieben. Darauf erfolgt eine Anschwellung des betroffenen Pflanzenteiles um das E i herum, das sich i m Innern der Anschwellung zur Larve entwickelt; um diese herum hat die so entstandene Markgalle inzwischen die nahrhafte Markschicht gebildet. Selbst u n t e r a n o r m a l e n , e r s c h w e r e n d e n U m s t ä n d e n k a n n d i e P f l a n z e i h r e m Gaste n o c h e i n e n g e e i g n e t e n W o h n r a u m bauen. I n der Galle von Gynips Kollari wird die Larvenhöhle auch dann noch, wie unter normalen Verhältnissen, ellipsoidisch gestaltet, wenn ungünstige Raumverhältnisse der Galle anormale, scheibenähnliche Form aufnötigen. Mancherlei

weitere

V o r k e h r u n g e n der Pflanzen sorgen

b e i d e r G a l l b i l d u n g f ü r den S c h u t z der G a l l e n g ä s t e , f ü r d i e

286

Metaphysik.

A b w e h r i h r e r Feinde. So kommt der hohe Gerbstoffgehalt vieler Gallen (vor allem vieler Eichengallen), insbesondere ihrer äußeren Schicht, als Schutzmittel gegen Tierfraß in Betracht, gegen den auch die

Steinzelleneinlagerungen,

Hart-

oder Schutzschichten

vieler

3

Gallen manchmal schützen mögen. Die den Gallenga* *: umschließende Hartschicht wirkt ferner der Gefahr des Vertrocknens i m Hochsommer entgegen, und sie dürfte bei vielen überwinternden (Cynipiden-)Gallen einen ganz unentbehrlichen Schutz f ü r das Gallentier darstellen. Überdies kann sie verhindern, daß die zahlreichen Feinde der Gallengäste m i t ihrer Legeröhre bis in die Larvenkammer vordringen und dort Eier ablegen, aus denen sich gefährliche Hausgenossen entwickeln. Auch hinreichend dicke schwammige Gewebsschichten, leere Hohlräume sowie eine exzentrische Lage der Larvenkammer mögen einen Schutz gegen eine solche nachträgliche, f ü r den „rechtmäßigen" Gallengast fatale Eiablage in die Larvenkammer bieten. Als Schutz und Wehr dienen den Gallengästen ferner die spitzen Haare, Stacheln und Dornen, die wir an der Außenseite mancher Gallen finden. An der Öffnung von Beutel- und Umwallungsgallen starren zuweilen spitze Haare nach auswärts, die so fremden Insekten das Eindringen in den Gallenhohlraum verwehren, hingegen die rechtmäßigen Gallengäste nicht verhindern, ihr Heim zu verlassen, wenn der Lauf ihres Lebens dies notwendig macht. Das schützende Heim

könnte manchen Gallengästen zum töd-

lichen Kerker werden, f a l l s d i e b e t r e f f e n d e n G a l l e n n i c h t z u r rechten Zeit f ü r eine Ö f f n u n g sorgten, d u r c h welche ihre S c h ü t z l i n g e ins Freie gelangen können, wenn i h r Lebenslauf

dies f o r d e r t .

Gallen

bietet

Gerade diese s p o n t a n e Ö f f n u n g

uns besonders

bemerkenswerte

vieler

Beispiele

f r e m d d i e n l i c h e r Z w e c k m ä ß i g k e i t . Bei manchen Gallen, werden durch Welken, durch Wasserverlust und Schrumpfung, vorhandene enge Öffnungen und Spalte derart erweitert, daß sie f ü r die Gallengäste passierbar werden.

In

anderen Fällen entsteht durch Zer-

reißung der Gallenwand irgendwo ein Ausgang, oder es wird ein Teil der Galle ganz abgetrennt und dadurch eine Öffnung geschaffen. Bei gewissen Gallenarten bildet dieser abgetrennte Teil der Gallenwand gleichsam einen kreisrunden Deckel oder Stöpsel, der aus-

287

Das überindividuelle Seelische.

sieht, als wäre er mit scharfem Messer sorgfältigst herausgeschnitten. Es gibt „Deckelgallen", bei denen der mit einem Rande versehene Deckel wie bei einer Dose über den anderen Teil der Galle greift. M a n c h m a l l ö s e n s i c h auch g r ö ß e r e T e i l e d e r G a l l e ab, o h n e daß

dadurch

der

Wohnraum

des Gastes g e ö f f n e t

w i r d ; v i e l m e h r f ä l l t der a b g e t r e n n t e T e i l der G a l l e

mit-

samt d e m Gast z u B o d e n , d e r d a n n i n s e i n e r s i c h e r e n B e hausung

u n d etw T a

noch bedeckt

vom i m Herbst

herab-

g e f a l l e n e n L a u b i n z w e c k m ä ß i g e r W e i s e ü b e r w i n t e r t . So löst sich z. B. aus der an den Blättern der großblättrigen Linde sich findenden, das E i bzw. die Made der Gallmücke Hormomyia Réaumuriana beherbergenden Galle eine den Gast einschließende „Innengalle" ab, welche die Gestalt eines schönen, etwas konischen Stöpsels besitzt. Durch Quellung des umgebenden Gallenteiles, der Außengalle, wird dieser Stöpsel mitsamt der Mückenlarve schließlich ausgestoßen. Am Boden überwintert dann der Gallengast i n dieser stöpseiförmigen Innen galle, die i h m übrigens noch eine Zeitlang an ihrer Innenwand saftiges Nährgewebe bietet Z a h l r e i c h e a n d e r e G a l l e n a r t e n lösen s i c h ganz v o n d e r P f l a n z e l o s , fallen zu Boden und bleiben unterm Laub liegen, bis das fertige Insekt ausschlüpft. Daß manche Gallen das Pflanzenorgan, an dem sie entstanden sind, um mehrere Monate überleben und so ihren Gast bis zur fertigen Ausbildung beherbergen, erscheint wiederum als fremddienlich zweckmäßig. Nach alledem besteht kein Zweifel, daß die Gallen zweckmäßig und zwar oft erstaunlich zweckmäßig f ü r die Gallenerzeuger und -bewohner sind. Ist nun diese Zweckmäßigkeit rein und echt fremddienlich, oder dient die gallenbildende Pflanze ihren Gästen nur, um dadurch irgendeinen Nutzen f ü r sich, ihre Nachkommen oder ihre A r t zu erzielen? Wenn Pflanzen i n ihren Blüten Insekten Honig darbieten, so ist dies nicht echt fremddienlich, da die Insekten zu einem Gegendienst veranlaßt werden sollen, nämlich zur Besorgung der Bestäubung, zur Übertragung des Pollens der einen Blüte auf die Narbe der anderen. Die scheinbar fremddienliche Honigdarbietung dient also der eigenen Nachkommenproduktion, ist mithin ausgesprochen artdienlich.

288

Metaphysik.

Wenn w i r von einigen wenigen Gallenarten absehen, bei denen der Gallengast der Pflanze tatsächlich Nutzen bringt, so ist festzustellen, daß die Gallengäste Gegendienste

leisten,

den g a l l e n b i l d e n d e n P f l a n z e n sondern

im

Gegenteil

mehr

keine oder

w e n i g e r s c h ä d l i c h f ü r sie s i n d , indem sie den Wirtspflanzen wertvolle Stoffe rauben, Blätter f ü r ihre Assirnilationsaufgabe teilweise oder ganz untauglich machen, die Fortpflanzungsfähigkeit herabsetzen usw. Die gallenbildenden Pflanzen vergelten also Böses m i t Gutem; sie zeigen nicht nur „Altruismus",

sondern

sogar

„Feindesliebe". S o m i t w e i s e n die P f l a n z e n g a l l e n eine e c h t e , vielfach

hoch

entwickelte

fremddienliche

Zweckmäßig-

k e i t auf. Da es sehr zahlreiche Arten von Pflanzengallen gibt, von denen manche ungemein häufig sind, g i b t es j e d e n f a l l s v i e l F r e m d dienlich-Zweckmäßiges in

der o r g a n i s c h e n N a t u r . Ü b e r -

dies i s t d i e f r e m d d i e n l i c h e Z w e c k m ä ß i g k e i t n i c h t a u f d i e P f l a n z e n g a l l e n b e s c h r ä n k t . A u c h an T i e r e n k o m m e n , w e n n g l e i c h s e l t e n e r , d e n G a l l e n a n a l o g e B i l d u n g e n vor. So r u f t ein Hautflügler (Aphelopus malaleucus) am Hinterleib eines anderen Insekts (Typhlocyba) diesem bewirtenden

eine fremddienliche „Tiergalle" hervor, die Insekt schließlich das Leben kostet. F e r n e r

f i n d e n w i r bei manchen T i e r e r k r a n k u n g e n dem K r a n k h e i t s e r r e g e r n ü t z e n d e R e a k t i o n e n des k r a n k e n W i r t s t i e r e s . Bei der bekannten, auch f ü r den Menschen so gefährlichen Wutkrankheit (Lyssa) zeigt der erkrankte, die Erreger beherbergende Hund Beißwut, Speichelfluß und Wandertrieb. Da der Erreger durch den Hundebiß und den in die Wunde gelangenden Speichel des kranken Tieres übertragen wird, und da das unruhige Umherschweifen die Übertragungsmöglichkeit ptome f ü r

sehr begünstigt, sind alle diese Sym-

die Vermehrung des Hundswut-Erregers zweckmäßig,

während sie f ü r den Hund, f ü r Individuum und Art, schädlich sind. Kurz, diese Symptome der Wutkrankheit sind fremddienlich zweckmäßig, worauf Armin Müller hingewiesen hat. Der Ameisenforscher E. Wasmann betont die f r e m d d i e n l i c h e Z w e c k m ä ß i g k e i t v o n G a s t p f l e g e i n s t i n k t e n b e i A m e i s e n ; diese pflegen fremde, der

289

Das überindividuelle Seelische.

eigenen Brut verderbliche

Insekten und deren Larven mit einer

staunenswerten Aufopferung. Es g i b t

also n i c h t n u r s e l b s t - , n a c h k o m m e n - u n d a r t -

dienliche, sondern auch f r e m d d i e n l i c h e

Zweckmäßigkeit

i m R e i c h e des L e b e n s , u n d diese t r i t t uns i n e i n e r F ü l l e v e r s c h i e d e n e r , z. T. r e c h t k o m p l i z i e r t e r F o r m e n entgegen. Damit ist uns die schwierige Aufgabe gestellt, das Zustandekommen der fremddienlichen Zweckmäßigkeit zu erklären.

Das Zustandekommen der fremddienlichen Zweckmäßigkeit. Unzulänglichkeit mechanistischer Erklärungsversuche. Die Mechanisten verwenden zur Erklärung der Naturzweckmäßigkeit

das

Lamarcksche

Gebrauchs-Nichtgebrauchs prinzip

und das D a r w i n s c h e S e l e k t i o n s p r i n z i p ; ferner käme f ü r sie das A u s n u t z u n g s p r i n z i p in Betracht. W i r prüfen nun, ob man mit diesen Prinzipien die fremddienliche Zweckmäßigkeit erklären kann. Dabei fassen w i r speziell die Pilanzengallen ins Auge, die sozusagen die klassischen Beispiele fremddienlicher

Naturzweckmäßig-

keit abgeben. Da liegt es nun auf der Hand, daß d i e E n t s t e h u n g P f l a n z e n g a l l e n u n d des f r e m d d i e n l i c h - Z w e c k m ä ß i g e n ihnen nicht und

d u r c h das P r i n z i p der

Nichtgebrauchsverkümmerung

der an

Gebrauchskräftigung e r k l ä r t werden kann.

Die Gallen sind nicht, wie unsere Muskeln, Gebilde, die aktiv arbeiten und dadurch gekräftigt werden. Selbstverständlich kann z. B. bei den Deckel- und Stöpselgallen von einer Erklärung ihrer Zweckmäßigkeit durch das Gebrauchs- und Nichtgebrauchsprinzip gar nicht die Rede sein; wie sollten Gebrauchskräftigung

und Nich tgebrauchs-

verkümmerung zur Bildung eines Deckels oder Stöpsels an einer Galle führen? Versagt so das Gebrauchs-Nichtgebrauchsprinzip bei unserem Problem völlig, so k a n n h i n g e g e n das A u s n u t z u n g s p r i n z i p

zur

E r k l ä r u n g d e r G a l l e n z w e c k m ä ß i g k e i t b e i t r a g e n . Die Fähigkeit, auf manche Reize mit

Wucherungen zu reagieren, ist i m

Pflanzenreich weit verbreitet und wohl unabhängig von der Gallenbildung entstanden. Es liegt nun nahe, anzunehmen, daß bei einigen B e c h e r , Einführung i n die Philosophie.

19

290

Metaphysik.

Pflanzenarten unter dem Einfluß von Reizen, die von anderen Lebewesen, vorzugsweise von Tieren, von ihren Eiern und Larven, ausgingen, stärkere Wucherungen entstanden, welche jene Lebewesen, insbesondere die Eier und Larven, schützend umwuchsen oder ihnen gute Nahrung boten. Jene Lebewesen nutzten diese Wucherungsfähigkeiten aus; die betreifenden Tiere erwarben den Instinkt, ihre Eier nur auf denjenigen Pflanzen abzulegen, welche in ihren Wucherungen den Eiern und Larven Schutz und Nahrung boten. Durch diese Ausnutzung erhielten die Wucherungen den Charakter des Fremddienlich-Zweckmäßigen. Manche Gallen gleichen auffällig den Früchten der Wirtspflanze oder anderen Teilen derselben. Bei der Bildung dieser Gallen sind also offenbar die erblichen Fähigkeiten oder Anlagen der Pflanze zur Bildung der Früchte oder anderer Teile i m Spiele. Diese Fruchtbildungs- oder anderen Gestaltungsfähigkeiten, die unabhängig von der Gallbildung entstanden sind, werden nun bei derselben offenbar ausgenutzt, indem die Gallentiere durch irgendwelche Reize diese Gestaltungsfähigkeiten der Pflanzen zur Betätigung bringen. Daß dabei aber f ü r die Gallentiere Zweckmäßiges entsteht, kann wenigstens z. T. daraus erklärt werden, daß die Gallentiere allmählich unter Entwicklung eines auswählenden Instinkts dazu gelangt sind, nur solche pflanzlichen Gestaltungsfähigkeiten zur Betätigung anzuregen, die f ü r sie Nützliches produzieren. So erklärt sich wohl wenigstens teilweise, warum Gallen, die den Früchten der Wirtspflanzen gleichen, f ü r ihre Gäste zweckmäßig sind: die Parasiten haben den Instinkt erworben, nur solche Pflanzen und Pflanzenteile zur Betätigung ihrer schlummernden Fruchtbildungsfähigkeiten anzuregen, bei denen die entstehenden fruchtähnlichen Gebilde f ü r sie zweckmäßig gebaut sind. Natürlich wäre nun weiter zu fragen, wie denn jener Auswahlinstinkt und die Fähigkeit entstanden sind, die verwertbaren Fruchtbildungs-

oder anderen

Gestaltungsanlagen

der Pflanzen

geeignete Reize zur Betätigung zu bringen. Bei diesem

durch Instinkt

und dieser Fähigkeit der Gallentiere handelt es sich jedoch nicht mehr um fremddienliche,

sondern um nachkommen- und selbst-

dienliche Zweckmäßigkeit; der betreffende Auswahlinstinkt und die

Das überindividuelle Seelische.

291

Produktion von Reizen, welche die Gallbildung anregen und in Gang halten, nutzen ja den Nachkommen der Gallentiere bzw. den Eiern und Larven, von denen solche Reize ausgehen. Die selbst- und nachkommendienliche Zweckmäßigkeit, wie sie hier vorliegt, mag nun selektionistisch oder sonstwie zu erklären sein; es wäre jedenfalls schon viel f ü r die mechanistische Auffassimg erreicht, wenn die Erklärung der hier zur Diskussion stehenden f r e m d d i e n l i c h e n Zweckmäßigkeit so weit gefördert wäre, daß nur noch die selbstund nachkommendienliche, also sozusagen „gewöhnliche" Zweckmäßigkeit jenes Auswahlinstinkts und jener vom Gallentier ausgeübten Reize zu erklären bliebe. Doch

kann

die

fremddienliche

Zweckmäßigkeit

der

P f l a n z e n g a l l e n n u r z u m T e i l d u r c h das A u s n u t z u n g s p r i n z i p e r k l ä r t , bzw. a u f s e l b s t - u n d n a c h k o m m e n d i e n l i c h e Z w e c k m ä ß i g k e i t der G a l l e n t i e r e ( u n d p f l a n z l i c h e n

Gallengäste)

z u r ü c k g e f ü h r t werden. W i r finden an Gallen vielfach Formen, Gewebe und Zellen, die normalerweise an den betreffenden Wirtspflanzen nicht vorkommen. Die oben erwähnte, eine Innengalle bildende und ausstoßende Lindengalle z. B. ist weder der Frucht noch einem anderen normalen Teil der Linde ähnlich. Diese Galle kann also auch nicht dadurch Zustandekommen, daß die Gallmücke durch geeignete Reize eine Gestaltungsfähigkeit oder -anlage der Linde ausnutzt und zur Betätigung bringt, die normalerweise einen normalen Teil der Linde entstehen läßt. Unsere Lindengalle, sowie andere hochentwickelte Gallen, die Stöpsel und Deckel bilden, können aber auch nicht durch Ausnutzung der einfachen pflanzlichen Fähigkeit, auf gewisse Reize m i t Wucherungen

zu antworten, entstanden sein.

Die

Innengallen,

Stöpsel und Deckel, die sich von den Gallen ablösen, haben sehr exakt ausgebildete Formen; sie sehen bei manchen Gallen aus, als wären sie mit feinem, scharfem Messer aus der Galle herausgeschnitten. Die gewöhnlichen, durch Verwundung oder andere Reize hervorgerufenen Wucherungen der Pflanzen zeigen jedoch keineswegs solche exakten, oft scharfkantigen Formen wie manche Innengallen, Gallenstöpsel und -deckel. Diese können demnach wohl auch nicht auf 19*

292

Metaphysik.

einfache, durch die Reize der Gallengäste hervorgerufene Wucherungsprozesse zurückgeführt werden. Nun mag allerdings das Gallen tier gleichzeitig und nacheinander mehrere Reize auf die Wirtspflanze ausüben, etwa verschiedene Stoffe absondern, von denen der eine das Wachstum von Geweben der Wirtspflanze anregt, während der andere hemmend w i r k t ; diese Stoffe mögen die Gewebe der Wirtspflanze ferner qualitativ in verschiedenem Sinne verändern; sie mögen auch verschieden weit in diese Gewebe eindringen. Auf diese Weise könnten die durch die Gallentiere hervorgerufenen Wucherungen gewiß eine kompliziertere Struktur erhalten ; es könnten sich etwa verschiedene Schichten in ihnen bilden, wie wir sie tatsächlich bei vielen Gallen finden. Es bleibt jedoch immer noch unverständlich, wie durch vom Gallengast ausgehende Reize und Stoffe die exakt geformten Deckel und Stöpsel entstehen sollen, die sich von manchen Gallen ablösen. Die vom Gallengast ausgehenden wirksamen materiellen Faktoren — in erster Linie kämen chemische Substanzen in Betracht — könnten sehr wohl eine unregelmäßige, rundliche Innengalle i m Innern der Galle entstehen lassen; wie aber sollen sie, indem sie vom Gallengast aus durch das Gewebe der Galle sich ausbreiten, aus dieser einen exakt geformten, scharfkantigen Stöpsel oder Deckel ausschneiden? Man hat die Auffassung vertreten, daß vom Gallengast produzierte chemische Substanzen sich i n die materielle Substanz der Wirtspflanze gleichsam chemisch einbauen, und daß die so veränderte materielle Pflanzensubstanz dann ganz neuartige Gebilde, eben die Gallen, produzieren könne. Diesem Gedanken liegt die mechanistische Ansicht zugrunde, daß die materielle Substanz des Lebewesens (sagen w i r diejenige der Zellkerne) die Gestaltung der Gebilde bestimme, welche an diesem Lebewesen auftreten. Nach unseren früheren Erwägungen können w i r diese Auffassung nicht teilen; wir meinen vielmehr, daß seelische Faktoren, die mit der materiellen Substanz des Lebewesens (insbesondere der Zellkerne) gesetzmäßig zusammenhängen, durch ihren führenden Einfluß i m wesentlichen die Gestaltung der organischen Gebilde bestimmen. Mit anderen Worten : die Gestaltungsfähigkeiten oder -anlagen der Lebewesen sind unseres Erachtens seelische Faktoren, die allerdings an körperliche Dinge (Zellkerne, Chromo-

Das überindividuelle Seelische.

293

somen) geknüpft sind; ob diese seelischen Anlagen organische Gebilde entstehen lassen, hängt von körperlichen Reizen und anderen körperlichen Bedingungen (wie Vorhandensein des nötigen Baumaterials) ab; die G e s t a l t u n g der Gebilde aber hängt in der Hauptsache von den seelischen Anlagen ab und kann durch materielle Einflüsse zwar modifiziert, nicht aber gänzlich umgewandelt werden. Jedoch ganz abgesehen von solchen allgemeinen theoretischen Anschauungen scheint die Erfahrung zu zeigen, daß m a n k e i n e s wegs d u r c h m a t e r i e l l e , p h y s i k a l i s c h e u n d c h e m i s c h e

Ein-

w i r k u n g e n e x a k t g e f o r m t e , o r g a n a r t i g e G e b i l d e an L e b e wesen h e r v o r r u f e n k a n n , f ü r die i n den Lebewesen k e i n e e r e r b t e n A n l a g e n v o r h a n d e n sind. Da nun z. B. die Gallmücke Hormomyia Réaumuriana an Lindenblättern ein exakt geformtes, organartiges Gebilde hervorruft, das keinen normalen Teil der Linde nachahmt, muß entweder die Linde eine besondere Anlage eigens für die Bildung dieser organartigen Galle in sich bergen, oder aber die Einwirkung der Gallmücke auf das Lindenblatt ist keine bloß materielle, physikalische und chemische. I m ersteren Falle entsteht die schwierige Frage, wie denn die besondere Anlage eigens f ü r die Bildung der Galle in der Linde entstanden sei; diese Frage aber ist nicht durch das Ausnutzungsprinzip lösbar, da durch bloße Ausnutzung keine neuen Anlagen oder Gestaltungsfähigkeiten entstehen. I m anderen Falle aber, d. h. wenn die Gallmücke durch nichtmaterielle Einwirkungen auf die Linde die Galle hervorruft, kann erst ein Einblick in diese immateriellen, also vermutlich seelischen Einwirkungen die Entstehung der Galle und ihrer merkwürdigen fremddienlichen Zweckmäßigkeit erklären. D i e m e c h a n i s t i s c h e , i m materielle Faktoren ausschließende E r k l ä r u n g

mit

Hilfe

des A u s n u t z u n g s p r i n z i p s v e r s a g t also j e d e n f a l l s b e i u n s e r e r L i n d e n g a l l e u n d ebenso i n a n d e r e n , e n t s p r e c h e n d

liegen-

den F ä l l e n . Übrigens hat man versucht, durch materielle Einwirkungen, insbesondere durch Einspritzung von mancherlei chemischen

Sub-

stanzen, auch durch Injektion des Giftblaseninhalts lebender Gallwespen in zugehörige Wirtspflanzen, experimentell Gallbildung hervorzurufen; doch blieben die zahlreichen Bemühungen ohne Erfolg.

294

Metaphysik.

Dies spricht auch nicht gerade dafür, daß die Bildung der Gallen, insbesondere

der

komplizierteren,

einfach auf

materielle

Ein-

wirkungen von seiten der Schmarotzer zurückzuführen sei. Ist aber diese Zurückführung nicht angängig, dann versagt auch die mechanistische Erklärung durch das D a r w i n s c h e S e l e k t i o n s p r i n z i p . Z u n ä c h s t l i e g t a u f der H a n d , d a ß eine u n m i t t e l bare E r k l ä r u n g der f r e m d d i e n l i c h e n Z w e c k m ä ß i g k e i t d u r c h dieses P r i n z i p n i c h t m ö g l i c h ist. Wenn unter den Nachkommen einer Pflanze Exemplare sich finden, die eine f ü r

Schmarotzer

günstige erbliche Abweichimg, etwa eine Verbesserung der Gallbildungsfähigkeit, aufweisen, so haben diese Exemplare oder ihre Nachkommen davon ja keinen Vorteil i m Daseinskampfe; sie werden also nicht vorzugsweise überleben und zur Fortpflanzung gelangen; die f ü r Schmarotzer günstige, fremddienliche Abweichung wird somit

vom Daseinskampfe nicht begünstigt, nicht gezüchtet

und

weiterentwickelt werden. Man kann n u n versuchen, mäßigkeit

der

Gallen

doch

die

fremddienliche

noch

Zweck-

mechanistisch-selek-

t i o n i s t i s c h e r E r k l ä r u n g z u g ä n g l i c h zu m a c h e n , i n d e m m a n sie a u f s e l b s t - u n d n a c h k o m m e n d i e n l i c h e

Zweckmäßigkeit

der G a l l e n g ä s t e , i h r e r I n s t i n k t e u n d i h r e r a u f d i e W i r t s pflanzen

ausgeübten

materiellen

Einwirkungen

zurück-

f ü h r t ; diese Zweckmäßigkeit der Instinkte und Einwirkungen wäre dann eben selektionistisch zu erklären. W i r haben eine solche Zurückführung der fremddienlichen Zweckmäßigkeit auf selbst- und nachkommendienliche ja bereits ins Auge gefaßt. Sie setzt aber, wie wir sahen, voraus, daß durch irgendwelche materielle Einwirkungen exakt geformte, organartige Gebilde, wie z. B. die oft erwähnte Lindengalle, an Pflanzen hervorgerufen werden können, die keine ererbten Anlagen für diese Gebilde in sich bergen. Wenn die großblättrige Linde eine besondere ererbte Anlage zur Bildung der betrachteten Mückengalle in sich trüge, dann möchten materielle Einwirkungen sehr wohl imstande sein, diese Anlage zur Betätigung, zur Bildung der Galle anzuregen; das Geheimnis der Zweckmäßigkeit dieser Galle läge dann jedoch i m wesentlichen in der Linde und ihrer Anlage, nicht i n den Einwirkungen der Gallmücke. W i r ständen vor

Das überindividuelle Seelische.

295

der fremddienlichen, selektionistisch nicht erklärbaren Zweckmäßigkeit der Gallbildungsanlage der Linde, und wie diese fremddienliche Zweckmäßigkeit der Gallbildungsanlage auf nachkommen- oder

artdienliche

irgendeine

Zweckmäßigkeit

selbst-,

zurückgeführt

werden könnte, ist absolut nicht ersichtlich. Wenn aber eine besondere, ererbte Anlage f ü r die Gallbildung fehlt, dann ist es nicht wohl glaubhaft, daß die Gallmücke durch bloß materielle Einwirkungen die exakt geformte, organartige Galle am Lindenblatt hervorrufen könne; denn alle Erfahrungen weisen darauf hin, daß durch materielle Einwirkungen nur solche exakt geformten, organartigen Gebilde an einer Pflanze hervorgerufen werden können, f ü r welche in dieser Pflanze angemessene Anlagen schlummern. Es erschiene z. B. aussichtslos, wenn man versuchen wollte, durch materielle Einwirkungen an einer Pflanzenart exakt geformte Gebilde hervorzurufen, die den Früchten einer fremden Pflanzenart ausgesprochen ähnlich wären. Die Gallengäste aber bringen dies durch ihre Einwirkungen in der Tat fertig. Die Blattlaus Pemphigus cornicularius z. B. r u f t an Blattanlagen des Pistazienstrauches Gebilde hervor, die nicht den normalen pflaumenartigen Pistazienfrüchten, wohl aber Hülsenfrüchten, speziell Karobenfrüchten, ähnlich erscheinen. Und so erregen in nicht wenigen Fällen Gallentiere an bestimmten Pflanzenarten Gallen, welche Balgfrüchte, Kapseln, Nüsse, Pflaumen und Beeren anderer Pflanzen nachahmen. Nach alledem darf man schwerlich annehmen, daß die Gallengäste durch materielle Einwirkungen Gebilde wie die betrachtete Lindengalle hervorrufen könnten, auch wenn die Wirtspflanzen nicht über entsprechende spezielle Gallbildungsanlagen verfügten. Demnach kann die fremddienliche Zweckmäßigkeit unserer Lindengalle nicht auf selbst- und nachkommendienliche Zweckmäßigkeit des Gallentieres und seiner materiellen Einwirkungen zurückgeführt werden. D a m i t e n t f ä l l t a u c h die M ö g l i c h k e i t , m i t H i l f e d e r hypothese

zu e i n e r

mechanistischen

Selektions-

Erklärung

für

die

G a l l e n z w e c k m ä ß i g k e i t zu gelangen. D a dem M e c h a n i s m u s k e i n e w e i t e r e n

Erklärungsprin-

z i p i e n z u r V e r f ü g u n g stehen, s c h e i n t er n i c h t i m s t a n d e zu

296

Metaphysik.

sein, das P r o b l e m

der E n t s t e h u n g d e r

fremddienlichen

Z w e c k m ä ß i g k e i t zu lösen.

Psychistische Erklärung der Entstehung des FremddienlichZweckmäßigen. Die Hypothese eines überindividuellen Seelischen. Es bleibt nun zu prüfen, ob eine psychistische Erklärung möglich ist. Nachdem, unsere früheren Betrachtungen uns zu einer psychistischen Teleologie geführt haben, liegt f ü r uns der Versuch besonders nahe, diese auch am Problem der fremddienlichen Zweckmäßigkeit zu erproben. Es ist leicht ersichtlich, daß die oben entwickelte immanent-psychistische Zweckmäßigkeitserklärung bei der fremddienlichen Zweckmäßigkeit in Schwierigkeiten gerät. W i r nahmen an, daß das einem Organismus zugehörige Seelische das Zweckmäßige an ihm hervorruft. Dieses Seelische mag fühlen oder gar auf intellektuelle Weise erfassen, was dem Organismus und damit i h m selbst dienlich ist, und mag dies selbstdienlich Nützliche dann festhalten bzw. hervorbringen. Wie aber sollte das einem Individuum angehörige Seelische dazu kommen, etwas hervorzubringen, das, wie die Pflanzengalle, einem fremden Individuum nützlich, dem eigenen Organismus aber schädlich ist? Nun, unsere Erfahrung zeigt uns nicht selten, wie das einem menschlichen

Individuum angehörige b e w u ß t e Seelische dazu

kommt, etwas hervorzubringen, was einem anderen Individuum dienlich ist, f ü r das eigene Individuum aber ein Opfer bedeutet. Die T e i l n a h m e der Menschenseele an Freud und Leid des Mitgeschöpfes kann zu solchem altruistischem Tun antreiben. Doch kann auch das den Dienst erweisende Individuum unter einem Z w a n g e handeln, den das aus dem Dienst Nutzen ziehende andere Individuum ausübt. Schließlich kann ein D r i t t e r , vielleicht ein H ö h e r s t e h e n d e r , im Spiele sein und den Dienst des einen Individuums f ü r das andere veranlassen; so kann z. B. ein Vater ein älteres K i n d veranlassen, etwas zugunsten des jüngeren Brüderchens zu tun. Natürlich können auch Teilnahme, Zwang und Veranlassung durch einen Dritten zusammenwirken und andere Komplikationen hinzukommen.

Das überindividuelle Seelische.

297

Liegen vielleicht bei der fremddienlichen Zweckmäßigkeit, die ohne unser Bewußtsein zustandekommt, ähnliche Verhältnisse vor? Nun, d e n k b a r w ä r e es, daß b e i d e m e n g e n Z u s a m m e n l e b e n das Seelische d e r

Wirtspflanze

an

Lust

und

Leid

des

Gallengastes t e i l n ä h m e , und daß darum die Pflanze ihrem Gast so fürsorglich diente. Irgendwie könnte Lust und Weh sich vom Gast auf die Wirtspflanze übertragen, sei es direkt, ohne alle Vermittlung, sei es (was eher anzunehmen wäre) indirekt durch körperliche Vermittlung, sei es endlich indirekt durch Vermittlung eines überindividuellen seelischen Wesens. Ebenso wäre es d e n k b a r , daß d e r G a l l e n g a s t e i n T y r a n n w ä r e , dessen seelische F a k t o r e n d i e j e n i g e n d e r P f l a n z e a u f irgendeine

direkte

oder

indirekte

Weise

zwängen»,

ihm

N a h r u n g , W o h n u n g , S c h u t z usw. zu besorgen. Damit wäre dann die scheinbare Teilnahme oder Feindesliebe der Wirtspflanze auf den Egoismus des Schmarotzers zurückgeführt, ähnlich wie w i r oben versuchten, die fremddienliche

Zweckmäßigkeit der W i r t s -

pflanze auf selbst- und nachkommendieoiliche Zweckmäßigkeit des Schmarotzers zurückzuführen. D e n k b a r w ä r e es e n d l i c h a u c h , d a ß ü b e r der W i r t s p f l a n z e u n d i h r e m Gast e i n d r i t t e s W e s e n s t ä n d e , w e l c h e s j e n e zu i h r e r D i e n s t l e i s t u n g v e r a n l a ß te, vielleicht dabei auch Lust und Leid des Gastes auf die Wirtspflanze übertrüge. Diese dritte Annahme erscheint freilich zunächst als die gewagteste, während die zweite, die den Schmarotzer zum herrschenden Tyrannen, die Wirtspflanze zum dienenden Sklaven macht, vielleicht als die nächstliegende erscheint, da Egoismus und Zwang in der Welt leider sehr verbreitet sind und die Lebewesen rücksichtslos f ü r sich selbst und ihre Nachkommen zu sorgen pflegen. Es gibt jedoch Tatsachen, die unseres Erachtens so stark zugunsten unserer dritten Annahme sprechen, daß diese den Vorzug verdient. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß nicht wenige Wirtspflanzen f ü r ihre Gäste Gallen bilden, welche an Früchte anderer, mehr oder weniger entfernter Pflanzenarten erinnern. Wenn nun, wie w i r anzunehmen hatten, die organische Gestaltbildung unter dem führenden Einfluß seelischer Faktoren erfolgt, bei der Gallenbildung vielfach

298

Metaphysik.

aber Baupläne benutzt zu werden scheinen, die auch dem Bau der Früchte anderer Pflanzen zugrunde liegen, dann wird wohl bei der Gallenbildung und beim Bau der Früchte, denen die Gallen gleichen, dasselbe Seelische die Bauführung i n der Hand haben. Es s c h e i n t also etwas Seelisches ü b e r den I n d i v i d u e n u n d A r t e n s t e h e n , das i n d i e I n d i v i d u e n g e s t a l t b i l d e n d

zu

hineinwirkt,

das i n v e r s c h i e d e n e n A r t e n zu v e r s c h i e d e n e n Z w e c k e n , z u r F r u c h t b i l d u n g u n d G a l l e n b i l d u n g , gleiche Baupläne

be-

n u t z e n k a n n , u n d das d a r u m a u c h d i e W i r t s p f l a n z e n

ver-

anlassen m a g , f ü r i h r e G a l l e n g ä s t e zu sorgen. Nicht nur die Ähnlichkeit von Gallen mit Früchten

anderer

Pflanzen erweckt den Eindruck, daß dieselben Baupläne oder -ideen in der lebenden Natur an sehr verschiedenen Stellen Anwendung finden und also wohl auch derselbe Baumeister an den verschiedenen Stellen am Werke ist. W i r finden z. B. auch Augen von recht ähnlichem Bau bei sehr verschiedenen Lebewesen, bei Wirbeltieren imd Tintenfischen; auch Bergson und Driesch haben darin einen Hinweis auf etwas Überindividuelles erblickt. Organe zur Perzeption der Lage, die aus Hohlräumen bestehen, in denen sich kleine Körperchen unter dem Einfluß der Schwerkraft bewegen können, finden wir nicht nur bei ganz verschiedenen Tieren, sondern auch bei Pflanzen. Solche „ A n a l o g i e n " des B a u - u n d F u n k t i o n s p l a n e s k o m m e n v i e l f a c h b e i e i n a n d e r sehr f e r n s t e h e n d e n Lebewesen vor. Dies beweist f r e i l i c h n i c h t d i e E x i s t e n z eines ü b e r i n d i v i d u e l l e n L e b e n s f a k t o r s , s p r i c h t j e d o c h i m m e r h i n f ü r die A n n a h m e e i n e s solchen. Wie die fremddienliche, so kann auch schon die η ach k o m m e n u n d die a r t d i e n l i c h e Z w e c k m ä ß i g k e i t den Gedanken an etwas Überindividuelles nahelegen. Überall, wo die Fürsorge über das Individuum hinaus sich geltend macht, mag auch ein die Fürsorge leitendes Seelisches i m Spiele sein, das über das Individuum hinausund in andere Individuen hineinreicht. Wenn w i r etwa die I n s e k t e n s t a a t e n betrachten, diese merkwürdigen höheren Lebenseinheiten, in denen sich die zugehörigen Einzelwesen so opferbereit i n den Dienst des Ganzen stellen, so drängt sich uns der Gedanke auf, daß diese höheren Lebenseinheiten ebenso

Das überindividuelle Seelische.

299

ein ihnen zugeordnetes, f ü r die einzelnen Insekten überindividuelles Seelenleben besitzen mögen, wie die aus vielen Zellen bestehenden Einzelinsekten ein ihnen zugeordnetes, über die Zellseelen hinausgreifendes Seelenleben haben werden. Die besonderen zweckmäßigen Eigenschaften von nicht fortpflanzungsfähigen

Angehörigen

der

Insektenstaaten, die der selektionistischen und der lamarckistischen Teleologie Schwierigkeiten bereiten, werden ebenso wie das instinktive einheitliche Zusammenwirken der Individuen und „Stände" in diesen Staaten verständlich, wenn wir denselben ein einheitliches, i n alle Staatsangehörigen hineinreichendes und in ihnen führend wirkendes Seelisches zusprechen, ähnlich wie w i r unserem aus vielen und verschiedenen Zellindividuen bestehenden Großhirn ein i n diesen Individuen führend wirkendes einheitliches Seelisches, unsere Großhirnseele, zusprechen. Überhaupt liegt, wenn man den eigentlich belebenden Faktor mit dem Psychovitalisrnus i m Seelischen erblickt, die Annahme ganz nahe, daß zu jeder Lebenseinheit, jeder Zelle, jedem Organ, jedem gewöhnlichen Individuum, jedem Tierstock und -Staat auch ein einheitlicher Lebensfaktor, ein einheitliches Seelisches gehören werde. Den

Zellseelen

werden

Organseelen,

den

Organseelen

O r g a n i s m u s s e e l e n , diesen aber ü b e r i n d i v i d u e l l e T i e r s t o c k u n d T i e r s t a a t s e e l e n ü b e r g e o r d n e t sein. Und so mag es auch überindividuelles Seelisches geben, das noch viel weiter reicht als die Tierstaatseelen, das bei Tintenfischen und Wirbeltieren nach gleichem Bauplan Augen entwickelt, das den Bauplan von Früchten bei anderen Pflanzenarten zur Gallbildung verwendet, das in Gallentiere und Wirtspflanzen hineinreicht und in diesen dahin wirkt, daß sie jenen Nahrung, Wohnung und Schutz bieten. Wenn es aber überindividuelles Seelisches gibt, das über verschiedene Organismenarten hin sich erstreckt, ja zugleich in Tiere und Pflanzen hineinreicht, dann liegt, zumal bei der Einheitlichkeit alles Lebendigen, die Vermutung nahe, daß s c h l i e ß l i c h ü b e r a l l e Organismen ein großes ü b e r i n d i v i d u e l l e s

Seelisches

sich

erstreckt. Bedeutsame Erfahrungstatsachen scheinen dafür zu sprechen, daß dieses ü b e r i n d i v i d u e l l e Seelische a u c h i n das m e n s c h l i c h e

300

Metaphysik.

B e w u ß t s e i n h i n e i n r e i c h t u n d - w i r k t . Nachkommen- und artdienlich zweckmäßig sind ja auch die menschlichen I n s t i n k t e der F ü r s o r g e f ü r die K i n d e r , f ü r die F a m i l i e und f ü r andere soziale V e r b ä n d e ; art- bzw. auch fremddienlich sind die M e n s c h e n l i e b e , d i e M i t f r e u d e , das M i t l e i d , das s o z i a l e P f l i c h t g e f ü h l u n d G e w i s s e n ; fremddienlich ist d i e L i e b e zu T i e r e n u n d P f l a n z e n , die zu Schutz und Pflege unserer Mitgeschöpfe antreibt. Gewiß kann man versuchen, solche Instinkte und Gefühle ohne die Annahme eines überindividuellen Seelischen zu erklären. Aber sie drängen doch zu der Vermutung, daß unsere Seele von den Seelen der Mitgeschöpfe nicht isoliert ist, daß es einen überindividuellen Zusammenhang, eine ü b e r i n d i v i d u e l l e E i n h e i t des Seel i s c h e n gibt, der wir irgendwie angehören. I n s b e s o n d e r e e r w e c k e n P f l i c h t g e f ü h l u n d Gewissen den E i n d r u c k , daß ein h ö h e r e s , überindividuelles

s e e l i s c h - g e i s t i g e s W e s e n i n uns

wirkt.

A m s t ä r k s t e n aber w i r d dieser E i n d r u c k i m r e l i g i ö s e n B e w u ß t s e i n , i n s b e s o n d e r e i m m y s t i s c h e n E r l e b n i s des E i n s Seins der Seele m i t dem ü b e r i n d i v i d u e l l e n g e i s t i g e n L e b e n s quell.

Verbindung des immanent-psychistischen Vitalismus mit der Hypothese eines überindividuellen Seelischen. W i e aber v e r t r ä g t s i c h d i e A n n a h m e eines alles

Leben

u m s p a n n e n d e n u n d f ü h r e n d e n h ö h e r e n S e e l i s c h e n m i t den U n Vollkommenheiten,

Dummheiten,

Zweckwidrigkeiten,

m i t dem G e g e n e i n a n d e r w i r k e n z w e c k m ä ß i g e r

Eigenschaf-

ten, m i t d e m g r a u s a m e n K a m p f e i m R e i c h e des Lebens? Diese Unvollkommenheiten und Disharmonien hatten uns oben zur Ablehnung der landläufigen transzendent-psychistischen, theistischen Zweckmäßigkeitserklärung geführt. N u n aber s i n d w i r transzendent-psychistischen kommen,

indem w i r

Teleologie

die fremddienliche

wieder

dieser nahege-

Zweckmäßigkeit

und

manche anderen biologischen und psychologischen Tatsachen durch Annahme eines überindividuellen

Seelischen erklärten,

das alles

Leben umspannt. Sprechen nicht die gegen jene theistische Natur-

Das überindividuelle Seelische.

301

teleologie gerichteten Argumente auch gegen unsere Annahme eines überindividuellen Seelischen? Jene A r g u m e n t e s p r e c h e n gegen die A n n a h m e , daß e i n schlechthin

vollkommenes

überindividuelles

Wesen

im

R e i c h e des Lebens ü b e r a l l e i n e n a l l m ä c h t i g e n E i n f l u ß a u s ü b t . Bei dieser Annahme werden die Dummheiten und Grausamkeiten in der lebenden Natur, auch in der menschlichen Welt, unverständlich. D o c h f i n d e n w i r k e i n e n G r u n d , d e m v o n uns e r s c h l o s s e nen ü b e r i n d i v i d u e l l e n Seelischen ein a l l m ä c h t i g e s W i r k e n i n a l l e n L e b e n s v o r g ä n g e n z u z u s c h r e i b e n . Sehen wir davon aber ab, so entfallen die angedeuteten Schwierigkeiten. D i e A n n a h m e eines u m f a s s e n d e n ü b e r i n d i v i d u e l l e n

Seelischen ist

dann

m i t der i m m a n e n t - p s y c h i s t i s c h e n E r k l ä r u n g v i e l e r z w e c k mäßiger E i n r i c h t u n g e n und Funktionen durchaus

verein-

b a r ; jene Annahme ergänzt diese Erklärungshypothese dort, wo sie versagt. Sicherlich ist manches Zweckmäßige immanent-psychistisch zu erklären; z. B. beruhen viele zweckmäßige Handlungen auf psychischen Faktoren, die dem handelnden Individuum immanent sind. Wenn aber auch vieles Zweckmäßige durch den Individuen innewohnende Faktoren zustandekommt, so wird dadurch doch keineswegs ausgeschlossen, daß vieles Fremddienlich-Zweckmäßige sowie menschliche Handlungen aus selbstloser Liebe oder Pflichtgefühl unter einem führenden Einfluß Zustandekommen, den das überindividuelle Seelische auf das den Individuen immanente Seelische ausübt. Auch innerhalb des individuellen Organismus wird die Beseelung einer Zelle, z. B. einer Muskelzelle, zunächst f ü r diesen Teilorganismus sorgen; unter dem führenden Einfluß der übergeordneten Gesamtbeseelung des Organismus aber stellt sich die Beseelung der Einzelzelle und damit auch die Einzelzelle in den Dienst des größeren Ganzen. W i r behalten also die immanent-psychistische Teleologie bei und erklären durch die den Individuen innewohnenden seelischen Faktoren insbesondere Selbstdienlich-Zweckmäßiges. Die i n d i v i d u e l l e schränktheit

und r e l a t i v e

Selbständigkeit

Be-

dieser seelischen

Faktoren läßt die U n v o l l k o m m e n h e i t und das G e g e n e i n a n d e r w i r k e n zweckmäßiger Einrichtungen und Funktionen und den grau-

302

Metaphysik.

samen Kampf i n der lebenden Natur wie in der menschlichen Welt begreiflich erscheinen. Das i n d i v i d u e l l e Seelische w i r k t e g o i s t i s c h a u f d i e B e f r i e d i g u n g des I n d i v i d u u m s h i n u n d g e r ä t d a d u r c h m i t a n d e r e n I n d i v i d u e n i n K o n f l i k t . Das überindividuelle Seelische aber, das in das individuelle hineinreicht und m i t i h m zusammenhängt, kann leitend auf das Individuum einwirken und es so zu Leistungen bestimmen, die diesem oder fremden Individuen dienlich sind. Durch

die

Verbindung

der

immanent-psychistischen

T e l e o l o g i e m i t d e r H y p o t h e s e eines ü b e r i n d i v i d u e l l e n Seel i s c h e n , das i n d i e I n d i v i d u e n h i n e i n r e i c h t

und

-wirkt,

w e r d e n die Z w e c k m ä ß i g k e i t , i h r e U n v o l l k o m m e n h e i t , das Dumme

und

Zweckwidrige,

das

Gegeneinanderwirken

z w e c k m ä ß i g e r Gebilde u n d F u n k t i o n e n , der o f t grausame K a m p f , a b e r a u c h d i e f r e m d d i e n l i c h e n E i n r i c h t u n g e n , die a l t r u i s t i s c h e n u n d s o z i a l e n T e n d e n z e n i m R e i c h e des Lebens v e r s t ä n d l i c h . Darum erscheint uns diese kombinierte psychistische Zweckmäßigkeits- und Lebenshypothese als die am besten mit der Gesamtheit der biologischen und psychologischen Tatsachen vereinbare Auffassung. Verbinden w i r diese Hypothese m i t der biologischen Entwicklungslehre, so s t e l l t s i c h der ganze E n t w i c k l u n g s g a n g des L e b e n s v o n den p r i m i t i v s t e n A n f ä n g e n b i s zu den h ö c h s t e n Blüten, d e r K u l t u r als e i n e i n h e i t l i c h e r P r o z e ß d a r , der v o n e i n e m überindividuellen

seelischen W e s e n

führend

beeinflußt

w i r d , das h i n e i n r e i c h t i n d i e n i e d r i g s t e n u n d h ö c h s t e n O r g a n i s m e n u n d m i t deren B e s e e l u n g z u s a m m e n h ä n g t ,

die

i h r e r s e i t s i n den E i n z e l o r g a n i s m e n f ü h r e n d w i r k t . Der eine überindividuelle Lebensgeist würde so wohl an den Erfahrungen, Freuden und Leiden aller Lebewesen und an der aufsteigenden Entwicklung des Lebens teilnehmen.

Die Stufenordnung: der seelischen Faktoren. Psychistisch-vitalistischer Dynamismus. Unsere Selbstwahrnehmung zeigt uns, wie manche seelische Faktoren auf andere führend wirken. So lenkt etwa eine Wissenschaft-

Das überindividuelle Seelische.

303

liehe Frage, die unser Denken gestellt und unser Wille zu lösen beschlossen hat, den Lauf unserer Vorstellungen und Gedanken, bis das Ziel erreicht ist; auch Gefühle, wie Liebe, Sehnsucht, Haß, können in unserem Seelenleben führend wirken. I n ähnlicher Weise mag auch das überindividuelle Seelische eine führende Einwirkung auf die Beseelung der individuellen Organismen ausüben. Und die Beseelung eines Organismus mag wieder führend auf die Beseelung der einzelnen Organe und zuletzt der Zellen wirken, die eben darum nicht nur f ü r sich sorgen, sondern dem Gesamtorganismus sich einordnen und dienen. Das ganze Organismenreich erscheint so als ein höherer Organismus; das überindividuelle Seelische würde die einheitliche Beseelung desselben darstellen. Es liegt nun die Frage nahe, ob ü b e r d i e s e m ü b e r i n d i v i d u e l l e n Seelischen, das ü b e r a l l e m L e b e n d i g e n s t e h t , w e l c h e s w i r kennen, w i e d e r u m noch ein höheres

Seelisches

führend

w a l t e t ; w i r kennen ja nur das Lebendige auf unserer Erde, die nur ein Stäubchen i m Weltall ist, das auf zahllosen Gestirnen eine unermeßliche Fülle uns unbekannten Lebens bergen mag W i r wollen diese Frage, so sehr sie die Phantasie anreizt, hier nicht verfolgen, weil das Erfahrungsmaterial f ü r eine wissenschaftliche Bearbeitung mangelt. Doch wollen w i r unsere Aufmerksamkeit i n die entgegengesetzte Richtung lenken und die Frage betrachten, ob e t w a die B e seelung d e r E i n z e l z e l l e n o d e r der u n t e r s t e n L e b e n s e i n h e i ten, die i m O r g a n i s m u s als dessen B a u s t e i n e e x i s t i e r e n , d i e t i e f s t e S t u f e des S e e l i s c h e n d a r s t e l l t . Dabei erinnern w i r uns daran, daß w i r i m ersten Teile unserer metaphysischen Untersuchung, der vom Baumaterial der Welt handelte, zu der Vermutung gedrängt wurden, daß die Materie-an-sich, das innere Wesen der Körperweit, von seelischer Art sein möge. W e n n also das S e e l i s c h e i n uns f ü h r e n d a u f das l e i b l i c h e , m a t e r i e l l e Geschehen w i r k t , so h a n d e l t es s i c h d a b e i v i e l l e i c h t w i e d e r u m u m eine F ü h r u n g v o n n i e d e r e m S e e l i s c h e m d u r c h höheres. Und wenn alle die materiellen Teilchen, die Elektronen, Atome, Moleküle einer Zelle oder eines Organismus durch die Zell- bzw. die Organismusseele zu einer lebendigen Einheit verbunden werden, so verbindet hier übergeordnetes Seelisches wohl jene ein-

304

Metaphysik.

fächeren seelenartigen Realitäten, welche die Dinge-an-sich der Elektronen, Atome und Moleküle bilden. Zusammenfassung von niederem Seelischem durch höheres, übergeordnetes, ist uns aus psychologischer Erfahrung wohl bekannt; so faßt z. B. das Wahrnehmungsbild eines Gemäldes, das mehr ist als eine bloße Summe von Farbempfindungen, diese einheitlich und gleichsam organisch zusammen, und so verbindet und überbaut unser Bewußtsein eine Fülle von einfacheren seelischen Gebilden. Das ü b e r g e o r d n e t e Seelische h ä t t e also g e g e n ü b e r d e m u n t e r g e o r d n e t e n die F u n k t i o n d e r v e r e i n h e i t l i c h e n d e n Z u s a m m e n f a s s u n g u n d der F ü h r u n g . Die vereinheitlichende Zusammenfassung und Führung einer Vielheit von Teilen, die ihrerseits seelischen Wesens sein mögen, durch ein höheres, übergeordnetes Seelisches würde das W e s e n t l i c h e des o r g a n i s c h e n Lebens ausmachen. Im

R e i c h e des Lebens bestände d e m n a c h eine S t u f e n -

o r d n u n g der V e r e i n h e i t l i c h u n g

und F ü h r u n g durch

see-

lische F a k t o r e n , ä h n l i c h wie i n einem B e a m t e n k ö r p e r oder e i n e m Heer. Über den seelischen Einheiten, welche die Dinge-ansich der Atome usw. bilden, ständen vereinend und führend die Zellseelen, über den Zellseelen die Organseelen, über den Organseelen die Organismusseelen, über diesen gegebenenfalls die Tierstock- und Tierstaatseelen, vielleicht auch Artseelen, Familienseelen, Volksseelen usw., und über alledem endlich die Seele des ganzen Organismenreiches. Da alle diese seelischen Faktoren Wirkungen ausüben würden, könnte man sie auch als Wirkungsfähigkeiten

oder Kräfte

be-

trachten. D i e W e l t wäre d e m n a c h aus seelischen K r ä f t e n a u f g e b a u t . Über den untersten Kräften, die in unserer Sinneswahrnehmung die Erscheinung der Materie hervorrufen, ständen in der lebenden Welt höhere, organisierende, führende

Kräfte,

über

d. h.

vereinheitlichende

und

diesen wiederum höhere bis hinauf zur

höchsten Lebensstufe. Diese Betrachtungsweise können wir als einen „ p s y c h i s t i s c h - v i t a l i s t i s c h e n D y n a m i s m u s " bezeichnen. Doch gehen wir darauf hier nicht näher ein. Auch verzichten wir an dieser Stelle darauf, von den dargelegten Hypothesen über das

Das überindividuelle Seelische.

305

Wesen des Lebens aus das soziale und kulturelle Leben, die Probleme der Moral und Religion zu beleuchten und umgekehrt die Tatsachen dieser höheren, menschlichen Lebenssphären weiterhin zur Prüfung und zum Ausbau unserer Metaphysik heranzuziehen. W i r müßten sonst tief in die wertende Metaphysik, die metaphysische Ethik und Religionsphilosophie eindringen, deren Grenzen w i r bereits hier und dort gestreift haben, deren Gebiete aber in dieser einführenden Darstellung nicht bearbeitet werden sollen. — Blicken wir zum Schluß zurück auf den Ausgangspunkt unserer metaphysischen Gedankengänge, auf die materialistische Lehre, daß die Welt ausschließlich aus körperlichem Baumaterial bestehe, so erkennen wir, wie ungeheuer weit w i r uns von diesem Standpunkt entfernt haben. W i r neigen zu der entgegengesetzten, psychistischen Auffassung, daß die ganze Welt, auch die Materie-an-sich, aus seelischem Baumaterial bestehe. Wie dem aber auch sein mag, jedenfalls existieren seelische Faktoren in der Welt, und es ergab sich uns, daß sie eine Führerrolle i n ihr spielen, zunächst in unserem Großhirn, weiterhin wohl auch i m ganzen Reiche des Lebens. Und endlich sprach manches f ü r die Vermutung, daß über dem Seelischen, welches den einzelnen Lebewesen zugehört, ein überindividuelles Seelisches steht, das in die Individuen führend hineinreicht und -wirkt. Freilich ist das nur eine kühne Hypothese. Aber es ist das unvermeidliche Schicksal der empirisch-induktiven Metaphysik, auf die weit über unsere Erfahrung

hinausgreifenden

Weltanschauungs-

fragen nur mit Hypothesen antworten zu können. Selbstüberhebung der Metaphysik wäre es, wenn sie sich anmaßen würde, dem religiösen Glauben den Charakter wissenschaftlicher Gewißheit zu geben. Aber glücklich darf sich der Metaphysiker schätzen, wenn er, indem er nur dem Leitstern der Wahrheit folgt und nie vom mühsamen Pfade unbestechlicher wissenschaftlicher Forschung abbiegt, zum Wegbahner der religiösen Überzeugung wird, daß über den irrenden und hadernden Individuen ein überindividuelles geistiges Wesen führend und verbindend waltet, welches zu uns spricht i n der Stimme des Gewissens und in unser Herz den Keim selbstloser Liebe legt.

B e c h e r , Einführung in die Philosophie.

20

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Anhang

V o r w o r t z u m Anhang. Erich Bechers Buch trägt einen sehr bescheidenen Titel. Es ist freilich

eine ausgezeichnete „Einführung

i n die

Philosophie",

nicht nur sachlich i n bezug auf die Problemstellung,

sondern

audi durch seine vorbildlich klare, schlichte Sprache, die gerade heute von großer erzieherischer

Bedeutung wäre; aber es ist

darüber hinaus eine architektonisch einheitliche Darstellung seines eigenen

Systems, es führt

von

der

Rechenschaftsablage

über

Grundfragen und Grundlagen der theoretischen Philosophie bis zu

letztmöglichen

Antworten

und

schließt

deutende Lebensleistung des Verfassers

dadurch

die

Gedächtnistheorie, des Leib-Seele-Zusammenhanges, der dienlichen Zweckmäßigkeit

und

des

be-

auf den Gebieten der fremd-

Überindividuell-Seelischen

ein. Es ist Zeit, daß dieses wertvolle Werk wieder seinen Beitrag leisten kann zur Klärung und Lösung der großen Aufgaben, vor denen die Philosophie von heute steht. Der Anhang beschränkt sich darauf, die wesentlichen Probleme zu skizzieren, die seit Erscheinen des Buches aufgeworfen worden sind, vor allem das der menschlichen Existenz und der Kausalität, und zu ihnen kurz Stellung zu nehmen. Eine geschichtliche Übersichtstafel

möge die Einführung

er-

gänzen. Zunächst aber scheint es nicht nur Pietätspflicht, sondern audi im Sinne einer Einführung

i n die Philosophie unseres

Jahr-

hunderts wünschenswert, i n ganz kurzen Zügen auf das Leben und Lebenswerk Erich Bechers im Anschluß an seine Selbstdarstellung einen Überblidc zu werfen. Erich Becher ist geboren 1882 i n Reinshagen bei Remscheid. Schon i n der Jugend beschäftigen ihn religiös-ethische und soziale Fragen, und ein lebhaftes naturwissenschaftliches

Interesse ist

wach. 1901 beginnt er sein Studium an der Universität i n Bonn i n der Absicht, Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaften zu werden, von Benno Erdmann w i r d sein philosophisches Interesse gesteigert und das psychologische geweckt. 1903 schreibt er eine Preisarbeit über den Attributenbegriff Spinozas, 1904 promoviert er aus Philosophie, Physik und Mathematik. V o n den

314

Vorwort zum Anhang.

Philosophen, die i h n damals besonders beeinflußten, nennt er selbst John Stuart M i l l u n d Gustav Theodor Fechner; gründlich, aber nicht ohne K r i t i k setzt er sich m i t K a n t auseinander, i m inneren Gegensatz steht er zu der antisozialen Lehre und dem Übermenschenideal Nietzsches. Seine Habilitationsschrift ist den „Philosophischen

Voraussetzungen

der

exakten

Naturwissen-

schaften" gewidmet, i n denen er sich bereits auf den Boden des kritischen Realismus

stellt. Infolge

einer ernsten

Erkrankung

kann er die Habilitation i n Bonn erst 1907 zu Ende führen. I m gleichen Jahre entstand als K r i t i k von Kants E t h i k „ D i e Grundfrage der E t h i k " . 1909 wurde er als o. Professor nach Münster berufen. 1911 erschien sein Buch über „Gehirn und Seele"; das Gedächtnisproblem und das Leib-Seele-Problem finden hier eine grundsätzliche Auseinandersetzung. I n Münster schrieb er dann seine „Naturphilosophie" und „Weltgebäude, Weltgesetze, Weltentwicklung". Auch sein 1917 erschienenes Buch: „ D i e fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen und die Hypothese eines überindividuellen Seelischen" ist noch i n Münster entstanden. 1916 wurde er nach München als Nachfolger von Oswald Külpe berufen. Seine Lehrtätigkeit hier ist umfassend und von außergewöhnlichem Erfolg. V o n seinen größeren Werken sei neben der hiermit wieder erscheinenden „Einführung i n die Philosophie" sein wissenschaftstheoretisches

Buch über „Naturwissenschaften

und

Geisteswissenschaften" genannt. Nachdem er im Herbst 1926 von einer Gastreise nach Amerika zurückgekehrt war, mußte er in den nächsten Jahren seine Vorlesung wegen Erkrankung schon vielfach unterbrochen. A m 5. Januar 1929 erlag der 46jährige, als Mensch und Gelehrter von allen, die i h n kannten, verehrt und betrauert, seinem Gallen- und Herzleiden. Die Aufgabe, die er der Philosophie zurückließ, war die einer großen Synthese des von den Naturwissenschaften und der Psychologie angefallenen reichen

Stoffes

unter

philosophischen

Gesichtspunkten.

Dieses

Anliegen und der Ansatz zu seiner Lösung liegt auch seiner „ E i n führung" zugrunde.

Z u r Wissenschaftslehre. Psychologie u n d Philosophie. (Zu S. 17 ff.) Die Personalunion von Philosophen und Psychologen ist heute seltener geworden als vor einem Vierteljahrimndert. Die Psychologie als Einzelwissenschaft hat zum Gegenstand mehr und mehr nicht nur die Tatsachen des allgemeinen menschlich-seelischen Lebens, sondern vor allem auch die Struktur der Persönlichkeit, den Aufbau ihres Charakters und die Einteilung der Strukturen des Seelenlebens nach Typen. Der Methode nach unterscheiden w i r die induktive Psychologie, die letzten Endes auf seelische Gesetzmäßigkeiten gerichtet ist, und die verstehende

Methode,

die Wesen und Zusammenhang der seelischen Zustände, Abläufe und Strukturen gewiß audi auf Grund der Erfahrung, aber doch vor allem aus der Versenkung i n das Erleben derselben an sich und an anderen' zu klären und zu verstehen sucht. Gerade diese verstehende Psychologie aber steht bereits sehr nahe demjenigen philosophischen Problem, das K a n t i n die Frage: Was ist der Mensch? gefaßt hat, der (philosophischen)

Anthro-

pologie. Was unterscheidet den Menschen wesenhaft vom Tier? Bezeichnet man ihn als animal rationale, als vernunftbegabtes Lebewesen, so liegt darin bereits die Anerkennung seiner Mehrschiditigkeit als Naturwesen und Geistwesen. Zugleich erhebt sich das Problem der Unterscheidung und des Verhältnisses von Seele und Geist. Faßt man als geistiges Sein zusammen die Bewußtheit, Selbstbewußtheit und Freiheit, wie sie i n der Fähigkeit des Menschen, sich nach innen zu wenden, sein Erleben und sich selbst zur Frage u n d zur Rechenschaft zu stellen, i n seiner Niditgebundenheit an eine begrenzte Lebensumwelt, seiner Hingerichtetheit auf die Wahrheit, das Absolute u n d das Transzendente und in seiner Stellungnahme zum Sein und zum Seienden nach Maßstäben eines Söltens sich kundgibt, so w i r d entscheidend die Frage,

316

Zur Wissenschaftslehre.

ob diese Wesenseigenschaft des Menschen bejaht w i r d oder ob im Geist der „Widersacher der Seele" gesellen wird, der i h m die Unbefangenheit nimmt. So mündet die Anthropologie i n Fragen, die sowohl der nichtwertenden wie der wertenden Metaphysik angehören; wesentlich

ist

allerdings,

daß man dabei in

der

Anthropologie selbst dem Geiste gerecht w i r d und nicht seine Abwege an Stelle seiner Wege und seine Entartung an Stelle seiner A r t setzt. I n Zeiten der Erschütterung steht die anthropologische Frage, die sich freilich weder von einer philosophischen Rechenschaftsablage über die Gesamtwirklichkeit noch von einer Wertbetrachtung trennen läßt, naturgemäß i m Vordergründe. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage ist aber eine andere, ihr nahestehende Betrachtungsweise entwickelt worden, die heute so viel genannt wird, daß sie vielfach als Mode empfunden wird, die Existentialphilosophie. Über diese haben w i r uns kurz Rechenschaft zu geben. Existentialphilosophie. Die Existentialphilosophie hat zu Vorläufern vor allem den dänischen Religionsphilosophen Sören Kierkegaard (1813—1855), den leidenschaftlichen Gegner Hegels, den Christen, der die unmittelbare Bezogenheit des Menschen auf Gott fordert, und Friedrich Nietzsche (1844—1900). Die repräsentativen Vertreter sind M a r t i n Heidegger, K a r l Jaspers und Jean Paul Sartre geworden. Letzterer unterscheidet einen christlichen und einen atheistischen Existentialismus und rechnet zu den Vertretern des ersteren in Deutschland K a r l Jaspers, (in Frankreich

Gabriel Marcel, des

letzteren i n Deutschland Martin Heidegger und in Frankreich sich selbst. Das ist indes eine Vereinfachung. Ob Heideggers Existenzphilosophie atheistisch zu verstehen ist oder nicht, darüber sind die Meinungen ebenso geteilt wie darüber, ob diejenige von Jaspers noch christlich zu nennen ist oder nicht. Bezeichnend ist aber die bereits aus der Gegenüberstellung hervorgehende Uneinheitlichkeit einerseits, das Auftreten dieser Richtungen besonders i n Deutschland und Frankreich anderseits, natürlich auch

Existentialphilosophie.

317

im Zusammenhang mit der Zeitstimmung nach den beiden Weltkriegen. Die Existentialphilosophie

geht vom Menschen aus und ist

insofern von der Anthropologie nicht trennbar und mündet i n Metaphysik und Religionsphilosophie.

Im

Gegensatz aber zur

Anthropologie w i l l sie nicht in erster Linie eine Rechenschaftsablage über das Sosein, die Idee, das allgemeine Wesen des Menschen geben, sondern eine solche über das Sein, das Dasein des Menschen. Das Wesen des menschlichen Daseins sieht Heidegger in seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit, seinem Bewußtsein, dem Tode entgegenzugehen; das menschliche Sein ist ein Sein zum Tode, es offenbart sich dem Menschen i n der Grundbefindlichkeit der Angst, er weiß sich hineingeworfen, hineingehalten in das „Nichts" und Heidegger w i r d nun von der Fragestellung nach dem Sein zu derjenigen nach dem Nichts geführt; dieses Nichts ist nicht eine bloße Negation, „es nichtet unausgesetzt", es „west i m Sein". Eine mystisch-rationalistische Kunstsprache, die den Forderungen, die Erich Becher aufstellt (S. 6), liametral entgegengesetzt ist, begegnet uns. Eine A n t w o r t erhalten w i r nicht. Eine Auseinandersetzung würde den Rahmen einer „ E i n f ü h r u n g " sprengen. Auch Jaspers unterscheidet vom Dasein des Menschen, seinem In-der-Welt-Sein, die „menschliche Existenz". Zu seinem vollen Sein, zur ,,Existenz", kommt der Mensch erst, indem er „sich zu sich selbst und damit zu seiner Transzendenz verhält", w i r würden sagen können, als Geistwesen, das sich selbst zur Frage stellt. Insbesondere i n Grenzsituationen der Sorge und Angst, des Todes, der Scham, der Kommunikation offenbart sich i h m seine Existenz. Sie wurzelt i m Transzendenten, aber die Transzendenz als das Überschreiten ist unvollziehbar und die Transzendenz als das Sein ist unbegreiflich wie das Kantische „An-sich". Der Mensch muß ständig an die Grenzen der Transzendenz streben und scheitert ständig an ihnen. Ist bei Heidegger das letzte Anliegen ein ontologisch-metaphysisches, so geht es Jaspers mehr um eine „ E x i stenzerhellung". Sartre

geht von Heidegger aus, deckt sich aber

nicht mit ihm. Er unterscheidet die untermenschliche Natur, das Sein-in-sich, und den Menschen, das Sein-für-sich. Das Wesen des

318

Zur Wissenschaftslehre.

Menschen ist seine Freiheit; bei i h m „geht die Existenz der Essenz voraus", er macht sich zu dem, was er ist. Diesem ausgesprochen atheistischen Existentialismus ist entgegengesetzt der christliche, der ein „existentielles" religiöses Leben und Erleben fordert. Als Vertreter einer christlichen Existentialphilosophie darf in Deutschland Peter

Wust

(1884—1940)

angesprochen werden, der

in

seinem Buch „Ungewißheit und Wagnis" den Menschen als das Wesen kennzeichnet, das sich ungeborgen u n d ungesichert weiß, aber aus dieser Insecuritas nach neuer Geborgenheit strebt und sie finden kann i n dem Wagnis der religiösen Entscheidung. Berücksichtigen w i r die Bedeutung der Anthropologie und Existentialphilosophie i n der gegenwärtigen philosophischen Diskussion und fügen w i r

hinzu die Disziplinen der von Edmund

Husserl ausgehenden „Phänomenologie" (S. S. 75 ff.), der noch vor aller kritischen und deutenden Betrachtung anzustellenden Rechenschaftsablage über die von uns gemeinten und intendierten, uns gegebenen Gegenstände, die zu einer „Wesensschau" der Ideen führen soll, und endlich die „Ontologie" als Lehre vom Seinsbegriff und den Seinsbegriffen, so können w i r die Einteilung der Philosophie, die E. Becher (S. 15) gibt, ergänzen, indem w i r die Phänomenologie vor die Wahrheitstheorie unter die Wissenschaftslehre stellen, die Ontologie vor die Metaphysik, die Anthropologie und Existentialphilosophie vor die Metaphysik des Seelischen. Z u r Wahrheitstheorie. (Zu S. 46 ff.) Der alte Streit um den Wahrheitsbegriff ist ein doppelter: 1. Bezieht er sich auf das U r t e i l oder auf einen wirklichen und geltenden Sachverhalt selbst? Neuerdings w i r d gerne Wahrheit als das Offenbarsein, die Unverborgenheit der Dinge und Sachverhalte definiert. Aber dann erhebt sich sofort die Frage: Wem offenbar und unverborgen? E i n erkennendes Subjekt w i r d also bereits unterstellt, dessen Erkenntnis oder Gedanke sprachlich formuliert werden könnte. Dann aber liegt implizite schon ein

319

Zur Wahrheitetheorie.

Urteil vor, audi wenn es nicht sprachlich als solches formuliert ist. 2. Bedenklicher ist die Auseinandersetzung i n bezug auf eine Relativierbarkeit des Wahrheitsbegriffes. I m vorigen Jahr ist von K a r l Jaspers ein Buch von dem ungewöhnlichen Umfang

von

elfhundert

den

Seiten

Wahrheitsbegriff

erschienen

„Von

der

Wahrheit",

gerade i n bezug auf die wichtigsten

relativiert. Die Welt ist eine Chiffreschrift —

das

i n Kantischer Ausdrucksweise

Fragen

des Transzendenten

Erscheinung des An-sich



und die Menschen lesen diese Chiffreschrift i n verschiedenen Zeiten verschieden. Das wäre nach Jaspers anders, wenn Gott sich ein für allemal geoffenbart hätte. Da Jaspers eine solche Offenbarung geschichtlicher A r t nicht anerkennen w i l l , dennoch aber an einer Chiffreschrift

durch Mythos festhalten w i l l , kommt er

zu der Zwischenlösung einer je zeitbedingten Wahrheit. entwertet aber den Begriff als solchen.

Das

Wenn w i r ausdrücken

wollen, daß w i r nicht zu einer vollen oder einer sicheren Erkenntnis kommen, so nennen w i r unsere Aussagen eben begrenzt und hypothetisch. Aber unser Streben kann nur einer zeitlos gültigen Wahrheit gelten.

Z u r Erkenntnistheorie. Das Kausalprinzip. (Zu S. 118

ff.)

ν

Erich Becher behandelt das Kausalprinzip: ,,Jede entstandene Wirklichkeit ist Wirkung einer Ursache" als nicht evidente und nicht denknotwendige Voraussetzung. I m gleichen Jahre nun des Erscheinens seines Buches war eine Erschütterung des Kausalprinzips in^der Physik'durch die Formulierung der Heisenbergschen Unsicherheitsrelation festzustellen: Je genauer ich den Ort eines Teilchens zu fixieren in der Lage bin, um so mehr verschwimmt m i r die Bewegungsgröße, um so weniger kann ich voraussehen und voraussagen, wo es künftig wieder anzutreffen sein w i r d ; i n mathematischer Sprache

Δ ρ . Δ q >_ h, wo q die Ortskoordi-

320

Zur

Erkenntnistheorie.

naten, ρ die Bewegungskoordinaten, Δ den Spielraum, h das sogenannte

Planck'sche

Wirkungsquantum

bedeuten.

Der

Streit

geht nun darum, ob diese Unprognostizierbarkeit eine objektive Unbestimmtheit bedeutet. Die Physik kann eine Antwort

im

Sinne des Determinismus oder Indeterminismus nicht erzwingen, legt aber eine solche i m Sinne des letzteren n a h e 1 ) . Es ist nun sehr interessant, daß Becher wie übrigens auch H. Driesch ausdrücklich erklärt: der Schluß von der bisher erfahrenen Gesetzmäßigkeit auf eine durchgängige ist nicht zwingend. Allerdings ist Bechers Gedankengang auf der Voraussetzung der zeitlichen K o n t i n u i t ä t aufgebaut, die bereits durch die Quantensprünge der Planck'schen Theorie und i n der zugehörigen Atomlehre i n Frage gestellt wurde. A n Stelle der exakten Aussagen treten i n der Mikrophysik statistische. Eine andere Frage ist aber, ob wir, wenn das Kausalgesetz nicht durchgängig gilt, den Grund des Geschehens nicht i n den Träger des Geschehens selbst verlegen müssen, so daß das Seiende innerhalb einer Schwelle als causa sui und eben insofern als wahrhaft wirklich, auch aktiv wirklich angesehen werden muß. Damit aber freilich wären w i r bereits im metaphysischen Bereich. Realismus. (Zu S. 125 ff.) Es gibt praktisch zwei Gegenstandpunkte gegen den kritischen Realismus, den Idealismus und den Positivismus. Als symptomatische Wende vom Idealismus zum Realismus darf N. Hartmanns Hinweis auf die „emotionaltranszendenten A k t e " der Betroffenheit durch ein außersubjektiv bedingtes Erleben gelten. E. Becher erschließt die Realität der Außenwelt i n dem Schachtargument (S. 134/35) aus Wahrnehmungserlebnissen einerseits und der Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung anderseits. N. Hartmann verzichtet auf die Gesetzmäßigkeitsvoraussetzung, die ja auch nach Becher den erkenntnistheoretischen

Idealismus nicht streng, widerlegt,

*) Die Grenze für die Kausalität ist durch ein Naturgesetz und eine Naturkonstante

gegeben,

scheinlichkeit.

die

letzten

Gleichungen

sind

eolche

für

eine

Wahr-

321

Realismus.

und wählt als Fundamente der Überzeugung von der Realität der Außenwelt die gefühlsbetonten Erlebnisse einer solchen. Gewiß mag man einen Schlag den schlagendsten Beweis für die Außenwelt nennen, aber i m Grunde ist er doch nur gradmäßig stärker als die Wahrnehmungserlebnisse, die für

sich die

Bewährung

durch die Regelmäßigkeit der Erfahrung geltend machen können. Wichtiger ist vielleicht noch die Auseinandersetzung m i t

dem

Phänomenalismus, der praktisch m i t jenem Positivismus zusammenfällt, dessen Hauptvertreter unter den Naturwissenschaftlern heute Pascual Jordan ist, der freilich dem kritischen Realisten i n Wirklichkeit

als vor allem metaphysisch interessiert

erscheint.

Von besonderer Bedeutung ist die von ihm angenommene und für eine Kosmogonie verwertete Veränderlichkeit der Naturkonstanten und Entstehung von Elementarteilchen. I n „Verdrängung und Komplementarität"

seiner

Schrift

unterscheidet er indivi-

duelle Halluzination von Kollektivhalluzination, die vielen erscheint, und indem er diese als relative Realität anerkennt, w i r d die normale Realität für ihn nur ein Grenzbegriff. Man kann also sagen, er bekennt sich zum „Konszientialismus". Damit erheben sich alle Einwände, die E. Becher geltend macht. Die Frage der A r t des Seins der Außenwelt ist eine metaphysische. Dagegen ist erkenntnistheoretisch von Bedeutung die Frage, ob sogenannte paranormale

Erscheinungen

noch der

Gesetzmäßigkeitsvoraus-

setzung unterliegen oder ob diese nur für „ n o r m a l e " Erscheinungen gilt. Das Z e i t p r o b l e m . Die Zeit nimmt i m kritischen Realismus eine bevorzugte Stellung gegenüber dem Raum ein. M i t der Einführung der nichteuklidischen Geometrie kann sich der kritische Realismus einverstanden

durchaus

erklären, ja sie ist ein Schritt von dem klassischen

physikalischen Realismus zum kritischen Realismus hin. Anders ist es m i t dem Ersatz der Zeit durch eine bloße vierte Dimension. Wenn E. Becher schreibt, in bezug auf die zeitlichen Eigenschaften sei der physikalische Realismus i m Recht, so ist damit die Auffassung der klassischen Physik gemeint. Ist aber darnach i m

322

Zur Erkenntnistheorie.

Sinne des kritischen Realismus die Relativierung der Gleichzeitigkeit i n der speziellen und erst recht der allgemeinen Relativitätstheorie nur eine Fiktion? Steht dieser nicht auf dem Standpunkt» daß es objektive Veränderungen gibt, während w i r i m Sinne der Raum-Zeitlehre

der

Relativitätstheorie

annehmen

zu müssen

scheinen, daß Veränderungen nur als subjektive Erlebnisse obj e k t i v seien, nicht als Außenweltgesdiehnisse, und daß

unser

Bewußtsein nur die sogenannte Weltlinie unseres Leibes abwandert? Es wäre denkbar, eine solche Erweiterung des kritischen Realismus vorzunehmen, nach der die Zeit nur unser innerer Sinn und Zeitlichkeit nur für das Erleben objektiv wäre, dagegen an sich nur eine Ordnung, wenn nicht das Freiheitserlebnis wäre, das ein objektives Nacheinander audi für das Geschehen zu fordern scheint. Aber gerade auch die „naheliegende" Annahme, daß die Außenwelt ihrem Wesen nach dem Seelischen verwandt sei, läßt auf echt zeitliches Geschehen auch i n ihr schließen. Unter dieser Voraussetzung muß die Relativierung der Gleichzeitigkeit zurückgeführt werden auf die Konstanz der Geschwindigkeit des Lichtes, das sich als Welle nicht i n einem, sondern i n allen Systemen,

also

einem

vierdimensionalen

„raumartigen"

Bereich

gleich schnell nach allen Richtungen ausbreitet. Dann gibt es zwar keine den einzelnen Systembeobachtern feststellbare Gleichzeitigkeit, nichtsdestoweniger aber ein objektiv zeitliches Geschehen.

Z u r Metaphysik. Aufgabe

und

Methode.

(Zu S. 160 ff.). „Eine wissenschaftliche Weltanschauung oder Erkenntnis des Gesamtwirklichen zu erarbeiten, ist Aufgabe der Metaphysik." (S. 160.) Als „ a m ehesten geeignetes" philosophisches Verfahren empfiehlt Becher wie für die Realwissenschaften überhaupt so audi für die Metaphysik die empirisch induktive Methode. Dagegen wurde der Einwand erhoben, das empirisch induktive Ver-

323

Aufgabe und Methode.

fahren reiche nicht weit genug, um die Probleme der Metaphysik angreifen zu können. (S. 169-) Gewiß bedarf sie der Analogieschlüsse und Extrapolationen. Der Bearbeiter hat i n der „Philosophie als Weg von den Grenzen der Wissenschaft an die Grenzen der Religion" drei Wege zur Metaphysik unterschieden, die zusammengeführt werden müssen, den Weg von unten — das ist der des Zusammenhaltes aller Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen im Sinn der „ i n d u k t i v e n Metaphysik" — , den Weg von innen aus der Besinnung auf das Wesen unseres Seins selbst — das ist der anthropologisch-existentialphilosophische

Weg, auch eine

dann

freilich i n t u i t i v zu nennende Deutung des Ausdrucks wäre noch i n Betracht zu ziehen — und einen Weg von oben durch eine Entscheidung über letzte möglich scheinende Deutungen des Wesens, Grundes und Sinnes der Gesamtwirklichkeit; der letztere fällt mit dem religiösen Grundproblem zusammen und die Entscheidung wird, wenn sie die Grenze offen bekennt, auch religiöse Antworten einbeziehen können. Wie weit eine Metaphysik, die so den i m Grund auch von Erich Becher beschrittenen Weg differenziert, dabei kommt und bis zu welcher Wahrscheinlichkeit

sie

kommt, das ist i m vorhinein nicht zu entscheiden. Diesen dreifachen Weg suchte der Bearbeiter i n der „Philosophie der Freih e i t " weiterzuführen.

Die organische Z w e c k m ä ß i g k e i t und



Vitalismus

Darwinismus.

Der Vitalismus, die Lehre von der Sonderstellung des Lebens, ist durch die typische Formbildung, die Zweckmäßigkeit des Organismus und seiner Funktionen und durch die Verbundenheit des Lebens m i t dem Erleben gegenüber dem Mechanismus, für den auch der lebende Organismus ein physikochemisches System ist, dessen Abläufe auf Grund der Anordnung der Teile und der zwischen ihnen wirksamen Kräfte erfolgen, die sozusagen natürliche Betrachtung. Die teleologische Auffassung beherrschte die Philosophie des Altertums und des Mittelalters und lag erst in

324 der

Zur Metaphysik.

Neuzeit

mit

der kausalanalytischen des Medianismus

im

Streit. Dieser Streit schien für den Neuvitalismus durch die empirisch begründeten Argumente so namhafter Biologen wie Driesch, Woltereck, Spemann und von Ü x k ü l l entschieden. Eine metaphysische Deutung fand der Neuvitalismus in dem Psychovitalisrnus. N u n lebte durch die Mutationsforschung der Streit wieder auf. Die Gegner des Vitalismus behaupten: 1. eine Zweckmäßigkeitsbetrachtung sei wissenschaftlich unfruchtbar und allenfalls eine philosophische Angelegenheit; 2. die Drieschsche Argumentation, daß der Organismus keine Maschine sein könne, gelte nur für die klassische Physik, und wenn audi nach der jetzigen Quantenphysik das Geschehen noch nicht durch bekannte Gesetze erklärt werden könne, so sei doch zu erwarten, daß es nach noch unbekannten physikalischen Gesetzen verlaufe; 3. die bisherige Erforschung habe bereits ergeben, daß die sogenannten Gene, die Erbeinheiten im K e r n der Keimzelle, die Eigenschaften der Organismen bestimmen, die sich mit experimentell bedingten Mutationen ändern. Demgegenüber ist zu bedenken: 1. daß die Zweckmäßigkeitsbetrachtung für den Psychologen, audi den Tierpsychologen und wohl audi den Mediziner unentbehrlich und fruchtbar ist und daß gerade das Zweckmäßigkeitsproblem für die biologische Forschung seit langem das treibende Motiv

darstellt;

eine

philosophisch-metaphysische

Betrachtung

jedenfalls kann sich die Beachtung von Hinweisen auch auf finales Naturgeschehen nicht ersparen. 2. Etwaige noch unbekannte Gesetzmäßigkeiten könnte man nicht von vornherein physikalisch nennen; das würde nur dann der Fall sein, wenn auf Grund der Anordnung der Elemente und der zwischen ihnen bestehenden Wirkbeziehungen auch die Entwicklung, Fortpflanzung, Regeneration und Reaktion erklärbar würden. 3. Was durch die Genforschung tatsächlich erwiesen ist, ist, daß sekundäre Merkmale wie Augenfarbe, Haarbeschaffenheit, Flügellänge der berühmt gewordenen Taufliege durch Mutationen der Gene verändert werden, nicht aber, daß die Struktur, der Bauplan der Organe und des Organismus durch sie bestimmt werden.

Die organische Zweckmäßigkeit — Vitalismus und Darwinismus.

325

Die Taufliege bleibt Taufliege, das Auge Auge. Die Veränderungen sind überwiegend degenerativer A r t und beziehen sich i m übrigen nur auf die Rasse. Die Gene bewirken oft mehrere Eigenschaften (Pleiotropie) ; sie scheinen chemisch-katalytisdie

Bedeutung zu

haben, sie selbst sind nicht „äquipotentiell"; an der Äquipotentialität der Zellen und der Gewebe i m Sinne der Versuche von Driesch und Spemann ändert sich aber durch die Mutationsforschung nichts. Es ist kein Zweifel, daß mikrophysikalisches Geschehen auch für das organische Leben von großer Bedeutung werden kann. Damit ist das Problem der Indeterminiertheit auch i n die Biologie eingegangen. Eine Erklärung des Lebensgeschehens

durch

sie allein ist aber nicht zu erwarten, da sich das statistische Geschehen ebenso sinnfrei abspielen würde wie das streng kausale Geschehen. Es liegt i m Gegenteil vom, Standpunkt des Vitalismus nahe anzunehmen, daß sich die Entelechie des Spielraums von Unbestimmtheit zur Formung des Lebensgeschehens bedient. Nun beruft sich der biologische Kausalismus auf das Darwinsche Selektionsprinzip: Die Zweckmäßigkeit der Strukturen und der Funktionen für die Erhaltung des Lebewesens und der A r t und für das Verhalten gegenüber der Umwelt und für das Erleben sollen erklärt werden durch Häufung zufälliger, sinnfreier Mutationen und durch kausale Auslese i m K a m p f ums Dasein. Die Einwände gegen den Darwinismus sind: 1. daß er eigentlich Präformation schon voraussetzt, die vom Vitalismus bestritten w i r d ; 2. daß jede Auslese bereits die Gegebenheit einer wenigstens hinreichenden Zweckmäßigkeit voraussetzt; diese aber würde

eine

solche Vielheit von aufeinander abgestimmten Mutationen erfordern, daß ein zufälliges Zusammentreffen von an sich unabhängigen Mutationen unerhört unwahrscheinlich wird, auch wenn man lange Zeiten in Betracht zieht, die übrigens nicht beliebig lange gedacht werden dürfen, weil sich sonst unzulängliche Veränderungen wieder verloren hätten, und die anscheinend auch nicht zur Verfügung standen, wenn man an das verhältnismäßig rasche Auftreten neuer Formen in der Erdgeschichte denkt; 3. daß der Darwinismus grundsätzlich die Erscheinungen der Regeneration

326

Zur Metaphysik.

und Restitution nicht erklären kann. Die Bedeutung des Darwinismus w i r d daher von Woltereck u. a. auf die „Mikroevolution", die Bildung von Unterarten und Rassen eingeschränkt.

Wenn

trotzdem viele Biologen geneigt sind, an der Darwinschen Lehre festzuhalten, so geschieht das sozusagen mangels einer anderen Erklärungsmöglichkeit, falls man nämlich seelische, entelechiale und finale Ursachen nicht bereit ist zuzulassen. Ohne diese Beschränkung aber darf man sagen: Ohne teleologisches Moment kommt man audi i n der Phylogenese nicht aus. Die Frage, wie weit schon ein Psycholamarckismus ergänzend wirken würde,

sei offen gelassen. Eine vollbefriedigende Erklä-

rung gibt auch er nicht, audi wenn man von der Ablehnung der Vererbung erworbener Eigenschaften mangels anerkannter experimenteller Beweise absieht. Es ist aber festzustellen, daß das, was Becher zugunsten des Psycholamarckismus sagt, nicht überholt ist.

Materialismus

und

Spiritualismus.

„ V o n der Materie, von den Körpern, wie w i r sie uns auf Grund der Sinneswahrnehmung vorstellen und wie der Materialist sie sich vorstellt, kann die Außenwelt an sich, können die Dinge an sich himmelweit verschieden sein" (S. 181). Die Entwicklung der theoretischen Physik i n der Relativitätstheorie und der Lehre von der Doppelnatur von Licht und Materie als Welle und Korpuskel i n der Mikrophysik haben diesen Sag i n unvoraussehbarer Weise bestätigt. Nicht als ob w i r behaupten dürften, daß die mathematischen Formen, i n die die Wissenschaft heute das materiell erscheinende Geschehen faßt, schon diese Außenwelt an sich seien; aber man kann ruhig sagen, daß das alte materialistische Weltbild von der Naturwissenschaft selbst her ad absurdum geführt worden ist; es bleibt nur die Mathematisierbarkeit für das als Materie Erscheinende. Über das Wesen desselben sagt die Naturwissenschaft nichts aus. Wenn Erich Becher für den psychistischen Monismus anführt, daß alles Wirkliche darin übereinstimmt, daß es strenger Gesetjmäßigkeit untersteht, daß es dem Kausalitätsprinzip

entspricht

Materialismus und Spiritualismus.

327

(S. 185) und daß diese formale Einheitlichkeit auf eine gewisse materiale Einheitlichkeit deutet, daß nämlich alles Wirkliche aus seelischem Baumaterial bestehe, so würde dieses Argument heute, wo das Kausalitätsgeset} selbst für das physikalische Elementargeschehen mindestens i n Frage gestellt ist, von der Frage der menschlichen Willensfreiheit ganz abgesehen, nicht mehr geltend gemacht werden können. Ja, es würde die formale Einheitlichkeit gerade dann gegeben sein, wenn i m Materiellen wie i m Seelischen ein Zug von „ F r e i h e i t " i m Rahmen einer Gesetjlichkeit gälte. Dagegen w i r d Bechers Forderung, statt von der Außenwelt vom Bewußt-Seelischen auszugehen, dadurch nicht hinfällig, und das Argument, welche Beschaffenheit man denn sonst dem Baumaterial der Welt zuschreiben könne, wenn man es nicht nach Analogie als seelisch deute, hat jedenfalls das große Gewicht, daß die A n t w o r t dann nur die eines Verzichts, es überhaupt zu deuten, sein könnte. Anderseits aber ist ein gemeinsamer Wesenszug des Physischen mit dem Psychischen schon durch das Leib-Seele-Verhältnis gefordert, wenn man mit dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis mehr als. nur formale Bedeutung verbinden will.

'

,

328

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329

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Z e i t p r o b l e m ; Sein und Werden: H e r a k l i t (Beharrung ist Schein, nur Werden und Vergehen ist wirklich in ewigem Kreislauf, es waltet ein Logos), P a r m e n i d e s und die Eleaten (wahrhaftes Sein ist unveränderlich, Veränderung ist Schein).

Etwa 490—422 E m p e d o k l e s (Synthese der Urstoffmonismen und des Gegensatjes von Heraklit und den Eleaten: 4-Elementen-Lehre, Mischung und Trennung der Elemente durch die Urkräfte von Liebe und Haß). Etwa 499—428 A n a x a g o r a s

(Lehre

vom

Nous

als zielstrebiger

Macht).

5. Jhdt. v. Chr. S o p h i s t e n (Lehre von der Wahrheit, vom Menschen, von der Tugend; Skepsis; Relativierung; Rhetorik). P r o t a g o r a s (480—410). 460—371 Klassische

Demokrit, Atomistik —

Schüler des L e u k i ρ ρ , Urbausteinproblem.

Begründer

der

Periode.

469—399

Sokrates stellt als Gegner der Sophisten die Grundfragen der E t h i k nach der Wißbarkeit und Lehrbarkeit der Tugend und der Beziehung Tugend und Glück.

427—347

Plato (Grundprobleme: I d e e und Erscheinung, Wesen der Tugend, Seele und Unsterblichkeit, der ideale Staat). Aus seinem Werk seien genannt: die „Apologie" (Verteidigungsrede des Sokrates), die Dialoge „Protagoras", ,.Euthyphron", „Gorgias", „Menon", „Theaitetos", „ P h a i d o n " , „Symposion" (Gastmahl), „Phaidros" und die für die Philosophie der Politik grundlegenden Schriften „ Ρ ο 1 i t e i a " (Der Staat) und „Nomoi" (Die Gesetze). 388 gründete Plato seine Schule, die „Akademie".

384—322

A r i s t o t e l e s aus Stageira (der „Stagirit"), Schüler Piatons, Erzieher Alexanders d. Gr. Begründer der Peripatetischen Schule, der große Systematiker der L o g i k („Organon") und M e t a p h y s i k (Fundamentalbegriffe des Seins: Stoff als Ermöglichungsgrund, Form als Plan-, Ziel- und Wirkursache (Entelechie) ; teleologische Weltbetrachtung; Gott als der „erste Beweger"; die „erste Materie" als potentielles Sein). T u g e n d als rechte (vernünftige) Mitte zwischen den Extremen als Lastern.

330

Zeittafel

Nachklassische

Zeit.

St oa: U m 300

Ä l t e r e S t o a : Z e n o n aus Kition (Zypern) (etwa 336 bis 264), K l e a n t h e s (etwa 330—232), C h r y e i p p o g (etwa 280—208) ( E t h i k der unbeirrbaren, durch Leidenschaft unverwirrbaren Vernunft in Übereinstimmung mit der Weltvernunft) ;

150—50

Mittlere Stoa: Panaitios n i o s (135—50), beide in Rhodos;

(185—110),

Poseido-

1. u. 2. Jhdt. n. Chr. J ü n g e r e S t o a : S e n e c a (4—65), Erzieher Neros, von ihm später zum Tod verurteilt („de vita beata", „de brevitate vitae", „epistulae morales ad Lucilium"); Epiktet (etwa 50—138); Marc Aurel (121—180) („Selbstbetrachtungen"). Etwa 342—270 v. Chr. E p i k u r (Erneuerung des Demokritischen Atomismus und Materialismus; eudaimonistische Lebenslehre). N e u p l a t o n i s m u s , hellenistische Philosophie, bedeutendster Vertreter: 203—269

Ρ 1 o t i n aus Alexandria, in Rom lehrend (Gesamtwirklichkeit als stufenweise Emanation aus der Gottheit, dem Einen und Guten); die Lehre Plotins ist uns überliefert durch seinen Schüler Porphyrius in 6 „Enneaden" (neungliedrigen Werken).

2. C h r i s t l i c h e

Philosophie.,

des ausgehenden Altertums und Mittelalters. P a t r i β t i k. Auseinandersetzung mit der „Gnosis", den spekulativen religiös-philosophischen Sekten der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. I r e n a e u s (etwa 140—202), Bischof von Lyon; T e r t u l l i a n (etwa 160—222), dem das (mehrdeutige) Wort „credo quia absurdum" zugeschrieben wird und der der Philosophie ablehnend gegenübersteht. 189—215

C l e m e n s von Alexandria ehrer Piatons).

(Bejahung der Philosophie, Ver-

185—254

Origines,

354—430

A u g u s t i n u s , geboren in Tagaste (Nordafrika), nach einer Phase der Anhängerschaft an die gnostische Sekte der Manichäer (dualistisches Weltprinzip) zunächst Skeptiker, dann, hindurchgegangen durch das Studium Plotins, von Ambrosius für das Christentum gewonnen und 387 getauft, seit 395 Bischof von Hippo (bei Karthago). (Verbindung platonischen Denkens mit dem Glauben.) Hauptwerke: „Contra Academicos" (gegen die Skeptiker), „De libero arbitrio"; „Confeesiones"; „De civitate Dei" (Geschichte als Auseinandersetzung des Gottesreiches und Erdenreiches).

Zeitgenosse Plotins und Schüler seines Lehrers.

480—525

B o ë t h i u s , Kanzler des Theoderich und unter dem Verdacht des Hochverrats zum Tode verurteilt, Übersetzer und Kommen-

331

Zeittafel.

tator des Aristoteles, Neuplatoniker und Christ. I m Kerker schrieb er die „Consolatio philosophiae" (Trost der Philosophie). Scholastik. Auseinandersetzung zwischen dem platonischen Begriffsrealismus (universalia ante rem), dem Aristotelismus (universalia in re) und dem Nominalismus (universalia post rem). Ziel: Verbindung von Glauben und Denken in Dogmatik und Deutung der Dogmen. F r ii h s c h ο 1 a s t i k. 1033—1109

A n s e l m v o n C a n t e r b u r y , geb. in Piémont, Abt in der Normandie, dann Erzbischof von Canterbury. (Leitsatz: „credo ut intelligam"; Verfechter des „ontologischen" Gottesbeweises in der Schrift „Proslogium".)

1070—1121

Wilhelm von C h a m p e a u x , Vertreter des Begriffsrealismus in Auseinandersetzung mit Abälard (1079—1142).

1091—1153

Bernhard von C l a i r v a u x , plation).

1126—1198

A v e r r o ë s , arabischer Aristoteliker in Cordova. Sein Vorgänger war A v i c e n n a (980—1037).

1135—1204

Moses M a i m o n i d e s ,

Mystiker (Innenschau, Kontem-

jüdischer Aristoteliker in Cordova.

Hochscholastik. 1221—1274

B o n a v e n t u r a , geb. in Toscana, gest. in Lyon als General des Franziskanerordens, Vertreter der platonisch-augustinischen Tradition; Mystiker.

1193—1280

A l b e r t u s M a g n u s , Graf von Boilstädt, geb. in Lauingen, gest. in Köln, Dominikaner, „Doctor universalis", Vermittler der Aristotelischen Philosophie, Gelehrter von empirisch- naturwissenschaftlichem Interesse, Lehrer von

1225—1274

T h o m a s v o n A q u i n , geb. in Roccasecca bei Neapel, V o l l ender der aristotelisch-scholastischen Philosophie, der umfassende Systematiker. Hauptwerke: „Summa contra gentiles", „Summa theologica", „De ente et essentia", „De unitate intellectus contra Averroistas". 1323 als „Doctor angelicus" heiliggesprochen.

Spätscholastik. 1270—1308

D u n s S c o t u s , geb. in Schottland, gest. in Köln, Franziskaner, „Doctor subtilis", Vertreter des Voluntarismus, der Lehre vom Primat des Willens gegenüber dem Intellekt in der Ethik; nahestehend dem Empirismus.

1214—1294

Roger B a c o n , ebenfalls englischer Franziskaner, Naturforscher und Vertreter der induktiven Methode, „Doctor mirabilis".

1300—1347

Wilhelm von O c k h a m , wiederum englischer Franziskaner, nach seiner Verurteilung in Avignon (1328) unter dem Schutz Kaiser Ludwigs des Bayern, gest. in München, radikaler Nominalist und Voluntarist.

332

Zeittafel.

M y 81 i k.

,

(

1260—1327

M e i s t e r E c k h a r t , Dominikaner. (Der Kern der menschlichen Seele ist göttlichen Wesens; Verlangen nach Einewerden mit Gott.) I n dem erst nach seinem Tode zu Ende geführten Prozeß wurde ein T e i l seiner Lehre von der Kirche verurteilt. I h m stehen nahe

1300—1361 1300—1366

Johann T a u l e r , Heinrich S e u s e.

Renaissancephilosophie. 1401—1464

Nikolaus von C u e s (Cusanus), geb. in Kues an der Mosel, Kardinal, Bischof von Brixen. (Hauptwerke: „De docta ignorantia", „De visione Dei", „De pace fidei" (Über den Frieden im Glauben, die Toleranz).

1463—1494

Pico von M i r a n d o l a ,

1469—1527

Nicolo M a c c h i a v e l l i , Florenz; Vertreter der autonomen Machtpolitik in „ I I principe". Sein Gegenpol ist

1478—1535

Thomas M o r u s , Minister Heinrichs V I I I . und von ihm zum Tode verurteilt („De optimo statu rei puplicae deque nova insula Utopia").

1493—1541

Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim), Arzt-Philosoph (Der Mensch als Mikrokosmos in Bezogenheit auf die Natur).

italienischer Humanist

in Florenz.

3. A u s d e r P h i l o s o p h i e d e r N e u z e i t . 1533—1592

Michel d e M o n t a i g n e , Humanist, Moralist mit einem Einschlag von gemäßigtem Machiavellismus, „Essias", 1582.

1548—1600

Giordano B r u n o (pantheistisch-ästhetisches endlichkeit des Universums).

1561—1626

Francis B a c o n von Verulam, Politiker und Vertreter der empirisch-induktiven Methode in „Novum organon scientiarum", 1620.

1568—1639

C a m p a n e l l a , Dominikaner, Vertreter der Idee christlich-sozialistischen Weltstaates („Sonnenstaat").

1583—1645

Hugo G r o t i u s , Holländer (de Groot), säkularisiertes Naturund Völkerrecht: „De iure pacis et belli".

1575—1624

Jakob B ö h m e , Schuhmacher in Görlitz, protestantischer Mystiker. Vorgänger Sebastian Frank (1499—1543) und Valentin Weigel (1533—1588).

1588—1679

Thomas H o b b e s (empiristisch-mechanistische Weltanschauung, Lehre vom Staatsabsolutismus als M i t t e l gegen den Kampf aller gegen alle im „Leviathan" (Staatsungeheuer), 1651.

1596—1650

René D e s c a r t e s (Cartesius): Ausgang vom methodischen Zweifel; „cogito, ergo sum"; psychologisch-ontologischer Gottesbeweis; Rationalismus: Vertrauen in die angeborenen Ideen; Zweisubstanzenlehre (res cogitans, das Bewußtsein, und res

Weltbild,

Un-

eines

Zeittafel.

333

extensa, die Materie). Begründer der analytischen Geometrie. Hauptwerke: „Discours de la methode"; „Meditationes de prima philosophia"; „Principia philosophiae"; „Les passions de l'âme". Das von ihm aufgeworfene Leibseeleproblem wird weiterverfolgt von den „Okkasionalisten" G e u l i n e x (1625 bis 1669) und M a l e b r a n c h e (1638—1715). 1623—1662

Blaise P a s c a l , genialer Mathematiker und Religionsphilosoph (Auseinandersetzung mit den Jesuiten in den „Lettres provinciales"; nachgelassenes Hauptwerk: „Pensées sur la religion").

1632—1677

Baruch (Benedictus) de S p i n o z a : Pantheistischer Monismus an Stelle des Descartesschen Dualismus, Hauptwerk: „Ethica ordine geometrico demonstrata" (1677 nach seinem Tode erschienen).

1632—1704

John L o c k e : Ablehnung der angeborenen Ideen, systematischer Empirismus, Hauptwerk: „Essay concerning human understanding". Christlicher Geist, Vertreter der Toleranzidee, liberaler Staatsphilosoph.

1643—1727

Isaak N e w t o n , Entdecker des Gravitationsgesetzes und der Fluxions- (Infinitesimal-) rechnung. Systematiker der klassischen Mechanik (absoluter Raum, absolute Zeit, Masse, Kausalität); Hauptwerk: „Naturalis philosophiae principia mathematica" 1687; Farbenlehre. — Vereinigung deistischer und theistischer Gottesauffassung. Gottfried Wilhelm L e i b n i z , geb. in Leipzig, gest. in H a n nover, vereinigt in sich schöpferisches mathematisches und philosophisches Denken mit politischem und religiösem Interesse, systematische mit organisatorischer Begabung. Unabhängig von Newton Begründer der Infinitesimalrechnung. Auseinandersetzung mit der Substanzlehre Descartes', mit J. Lockes „Versuch über den menschlichen Verstand", mit P. Bayles (1647—1706) historisch-kritischem Wörterbuch. (Die Welt ist die b e s t e der möglichen Welten, die Gesamtheit einfacher, von einander verschiedener, ihrem Wesen nadi immaterieller, durch eine prästabilisierte Harmonie in verschiedenen Bewußtseinsgraden an ihren Vorstellungen und Strebungen teilnehmenden M o n a d e n . ) Hauptwerke: „Theodizee", 1710, „Monadologie", 1714, Nouveaux essais sur l'entendement humain" (Antwort auf Locke, nach seinem Tode 1765 erschienen), „Système nouveau de la nature", 1695; ausgedehnter Briefwechsel mit führenden Zeitgenossen.

1646—1716

1671—1713

Graf v. S h a f t e s b u r y Ethik).

(ästhetisch gesehene Metaphysik und

1679—1754

Christian W o l f f , Systematiker der deutschen gerichteten, auf Leibniz gegründeten Aufklärung.

1685—1753

George B e r k e l e y , Bischof von Cloyne, Vertreter eines erkenntnistheoretischen und metaphysischen Idealismus („esse est percipi", Gott als Ursache unserer Wahrnehmungen und ihres gesetzlichen Zusammenhanges). Hauptwerk: „Treatise concerning the Principles of Human Knowledge", 1710.

teleologisch

334

Zeittafel.

1694—1778

V o l t a i r e , Vertreter der französischen Aufklärung, Gegner aller Autorität der Vergangenheit und doch Befürworter eines „aufgeklärten" Absolutismus. Philosophische Hauptwerke: Dictionnaire philosophique, 1764; „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations; 1765; „Le philosophe ignorant" (Locke), 1767: „Réponse au Système de la nature 4 4 , 1777.

1711—1776

David H u m e : Steigerung des Empirismus zum Phänomenalismus und Positivismus; Kausalitätsüberzeugung als Folge assoziativer Verknüpfung regelmäßiger Abfolgen. Erkenntnistheoretische Hauptwerke: „Treatise on human nature" und „Enquiry concerning human understanding", — Psychologisch-historischpraktische Betrachtung der Moral und Religion im Geiste der Aufklärung: „Enquiry concerning the principles of moral 44 , „Natural history of relig ion", ,,Dialogues concerning natural religion".

1712—1778

Jean Jacques R o u s s e a u , geb. in Genf: Die Frage der Preisarbeit der Akademie von Dijon (1749), ob der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb oder zur Hebung der Sittlichkeit geführt haben, wird verneint, damit der Kulturoptimismus abgelehnt („Discours sur les arts et les sciences", 1750), die wesentliche Gleichheit der Menschen bejaht („Sur Forigine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes", 1755); Rechtfertigung des Staates aus einem Gesellschaftsvertrag („Contrat social", 1762), Erziehung im Geiste der Natur („Emil", 1762). Die französischen Materialisten: L a M e t t r i e („L'homme machine", 1747), H e l v e t i u s („De l'esprit", 1758), H o l b a c h („Système de la nature", 1770).

1724—1804

Immanuel K a n t , Königsberg. „Vorkritische" Periode: „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755), „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes", 1763, „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, 1766, „Kritische" Periode, Verbindung von Rationalismus und Empirismus der LeibnizWolffschen Überlieferung und der Einflüsse Humes und der Aufklärung in der „Transzendentalphilosophie", einem „kritischen Idealismus 44 : „ K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t 4 4 , 1781, „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik", 1783, (idealistisch-apriorische Erkenntnistheorie); „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", 1785, „ K r i t i k der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t", 1788 (autonome Ethik mit den Postulaten der Existenz Gottes, der Freiheit und U n eterblichkeit) ; „ K r i t i k der Urteilskraft", 1790 (ästhetische und teleologsiche Betrachtungsweise); „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", 1793. Nachkritische Periode: „Traktat zum ewigen Frieden", 1795; „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", 1798; nachgelassen, erst 1938 vollständig veröffentlicht, „Opus postumum".

1729—1781

Gotthold Ephraim geschlechtes", 1780.

1744—1803

Johann

Gottfried

Les sing, Herder,

„^Erziehung „Ideen

zur

des

Menschen-

Philosophie

der

Zeittafel.

1743—1819

1762—1814

1768—1834 1775—1854

1770—1831

1773—1843

1776—1841

335

Geschichte der Menschheit", 1784r—1791, „Verstand und Erfahrung, Vernunft und Sprache, eine Metakritik zu Kants K r i t i k " , 1799; „Kalligone" (1800, gegen Kants K r . d. U . ) . Friedrich Heinrich J a c o b i , von 1804 ab Präsident der A k a demie in München, Vertreter theistischen Glaubens der intellektuellen Anschauung; Auseinandersetzung mit Spinoza, Hume, Kant, Schelling. Johann Gottlieb F i c h t e , erster Vertreter des „deutschen Idealismus44« Hauptwerke: „Wissenschaf t^leh're" 1, 1794; „Grundlage des Naturrechts", 1796; „System der Sittenlehre", 1798; „Die Bestimmung des Menschen", 1800; „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters", 1804/05; „Reden an die deutsche Nation", 1807/08. S c h l e i e r m a c h e r , „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern", 1799; „Monologe", 1801. Friedrich Wilhelm S c h e l l i n g , der geniale Denker der Romantik, in allen Wandlungen doch zusammenhängend und in seinem Ringen sich treu bleibend, verbindet subjektiven Idealismus mit Naturphilosophie zu einem objektiven Idealismus und strebt nach innerer Auseinandersetzung mit dem spinozistischen Pantheismus, schließlich von einer „negativen" rationalen Philosophie (Metaphysik) zu einer „positiven" Philosophie des Mythus und der Offenbarung. Hauptwerke: „Ideen zu einer Philosophie der Natur", 1797; „System des transzendentalen Idealismus", 1800; „Über das Wesen der menschlichen Freiheit", 1809; „Philosophie der Mythologie und der Offenbarung" (1840—1850); „Die Weltalter" (Urfassungen von 1811 und 1813, hsgeg. 1946 von M . Schroeter). Wechselbeziehung zu der romantisch-spekulativen Metaphysik von Franz v. Baader (1765— 1841) und der Mystik von Görres (1776—1848). Wilhelm Friedrich H e g e l , geb. in Stuttgart, gest. in Berlin, der Systematiker des deutschen Idealismus von weitreichender Wirkung: Die Welt ist die Verwirklichung der Selbstentfaltung des Logos, der Idee, die wir in dem Dreischritt der D i a l e k t i k nachdenken: These, Antithese, Synthese, in der der Gegensat; jeweils aufgehoben (negiert, bewahrt, überhöht) ist. Hauptwerke: „Phänomenologie des Geistes", 1807; „Wissenschaft und Logik", 1812/14 (eigentlich eine Ontologie); „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", 1817; „Grundlinien der Philosophie des Rechts", 1821. Hegels Geschichtsphilosophie mündet in eine grundsätzliche Erfüllung der Entwicklung mit seiner Zeit. Nach seinem Tod spaltet sich seine Schule in eine Hegeische „Rechte" und „Linke". Jakob Friedrich F r i e s : Begründung der Philosophie Kants auf die innere Erfahrung. „Wissen, Glauben und Ahndung", 1805, „Neue K r i t i k der Vernunft", 1807. Johann Friedrich H e r b a r t , Vorläufer des kritischen Realismus — Soviel Schein, soviel Hindeutung auf Sein — ; Wiederaufnahme des Leibnizschen Monadengedankens in dem Begriff der „Realen"; Pädagoge. Philosophische Hauptwerke: „Lehr-

336

Zeittafel. buch zur Einleitung in die Philosophie", 1813; „Allgemeine Metaphysik", 1828/29.

1788—1860

Arthur S c h o p e n h a u e r , geb. in Danzig, gest. in Frankfurt, verbindet, ausgehend von Kant und beeinflußt von Plato und der indischen Philosophie, erkenntnistheoretischen Idealismus — die Welt ist unsere Vorstellung — mit pessimistischer Metaphysik — das An-sich ist Wille. Hauptwerke: „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde" (Dissertation, 1813); „Die Welt als Wille und Vorstellung", 1819; „Über den Willen in der Natur", 1836; „Die beiden Grundprobleme der Ethik", 1841; „Parerga und Paralipomena" 1851.

1796—1879

Immanuel Hermann F i c h t e , der „jüngere" F. (Sohn Johann Gottliebs), Vertreter des Theismus und eines christlichen Idealismus.

1797—1858

Auguste C o m t e , Positivist und Soziologe, Wissenschaftstheoretiker. Die Menschheit durchläuft ein religiöses und ein metaphysisches Stadium, um ins positivistisch-wissenschaftliche zu münden.

1801—1881

Gustav Theodor F e c h n e r , Physiker und Philosoph, vertritt einen christlichen Panentheismus, eine Allbeseelungslehre, die an Leibnizens Monadenlehre erinnert, und eine Zweiseitentheorie des psychophysischen Zusammenhanges, für den in bezug auf Empfindungen das „Weber-Fechnersche Gesetj" gilt, Hauptwerke: „Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen", 1848; „Zend-Avesta", 1851; „Vorschule der Ästhetik", 1876; „Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht", 1879. Ludwig F e u e r b a c h : Übergang von Hegel zum Sensualismus und Materialismus. Hauptwerke: „ K r i t i k der Hegeischen Philosophie", 1839; „Das Wesen des Christentums", 1841; „Theogonie", 1857.

1804—1872

1806—1873

John Stuart M i l l , Psychologe und Soziologe, Positivist nud Sozialeudaimonist. Hauptwerke: „System der deduktiven und induktiven Logik", 1843; „Utilitarism", 1863.

1813—1855

Sören K i e r k e g a a r d , dänischer Theologe und Religionsphilosoph, Gegner Hegels, Vorläufer der dialektischen Theologie und der Existenzphilosophie. Hauptwerke: „Furcht und Zittern", 1843; „Begriff der Angst", 1844; „Krankheit zum Tode", 1849; „Der Augenblick", 1855.

1817—1881

Hermann L o t ζ e , von der Medizin zur Philosophie kommend, kritischer Realist und induktiver Naturphilosoph; Begründer der Lehre von den „Geltungen", Vertreter der psychophysischen Wechselwirkung. Hauptwerke: „Mikrokosmos", 1856—1864; „System der Philosophie" (Logik, Metaphysik), 1874—1879. K a r l M a r x , geb. in Trier, gest. in London, von der Hegelsdien Linken und von Feuerbach beeinflußt, Begründer (mit F. Engels) des dialektischen Materialismus. „Das kommunistische Manifest", 1848; „Das Kapital", 3 Bde., ab 1867. Herbert S p e n c e r , Soziologe, Evolutionist. „System of synthetic philosophy", 1862—1896.

1818—1883

1820—1903

Zeittafel.

337

Das Jahrzehnt des M a t e r i a l i s m u s : Moleschott („Kreislauf des Lebens", 1852); V o g t („Köhlerglaube und Wissenschaft", 1854); B ü c h n e r („Kraft und Stoff", 1855). D a r w i n („Entstehung der Arten", 1859, im materialistischmonistischen Sinn popularisiert von E. H a e c k e l (1834—1919). 1828—1875

1838—1916

Friedrich Albert L a n g e , Neukantianer, Vertreter eines ethisch fundierten evolutionären Sozialismus „Geschichte des Materialismus und K r i t i k seiner Bedeutung in der Gegenwart", 1866. Ernst M a c h , Vertreter eines sensualistischen Positivismus und des Prinzips der „Ökonomie" des Denkens.

1842—1910

W i l l i a m J a m e s , Begründer des amerikanischen Pragmatismus.

1842—1906

Eduard von H a r t m a n n , von Schopenhauer und Schelling ausgehend, induktiver Metaphysiker, als Pessimist gemäßigter als Schopenhauer. Hauptwerke: „Philosophie des Unbewußten", 1869; „Kategorienlehre", 1896.

1844—1900

Friedrich N i e t z s c h e , geb. in Röcken bei Lütjen, gest. nach 10 jähriger Geisteskrankheit in Weimar, ausgehend von der klassischen Philologie, philosophisch von Schopenhauer, von dem ebenso wie von R. Wagner seine erste Schaffensperiode beeinflußt ist. N. wirkte vor allem durch seine Lehre vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und vom Antichristentum. Hauptwerke: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", 1872; „Unzeitgemäße Betrachtungen", 1873 u. ff., „Menschliches — Allzumenschliches", 1878; „ A l s o sprach Z a r a t h u s t r a " , 1883/84; „Jenseits von Gut und Böse", 1886; „Zur Genealogie der Moral", 1887; „Der W i l l e zur Macht" (1906 herausgegeben).

1859—1941

Henri B e r g s o n : intuitive Metaphysik und Lebensphilosophie — „Matière et mémoire", 1896; „L'évolution créatrice", 1907.