Eine Römische Fürstenfamilie. Buch 2 Sant’ Ilario: In zwei Theilen [Reprint 2020 ed.] 9783112384084, 9783112384077

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Eine Römische Fürstenfamilie. Buch 2 Sant’ Ilario: In zwei Theilen [Reprint 2020 ed.]
 9783112384084, 9783112384077

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Eine

Römische Fürstensamilie. Roman

in drei Büchern von

£. Marion Crawford.

Zweites Buch Laut' Ilario in zwei Theilen.

Berlin. Dmck und Verlag von Georg Reimer.

1893.

S a n t' Ilario von

£. Marion Crawford.

Erster Theil. Autorisirte Uebersetzung von

LH. Höpftter.

Berlin. Dmck und Verlag von Georg Reimer.

1893.

Erstes Kapitel.

Zwei Jahre Dienst bei den Zouaven hatten in dem Maler Gouache eine Veränderung hervorgebracht. Er war noch immer ein schlanker, fein gebauter Mann, mit kleinen Händen und Füßen und zarten Zügen; aber sein Gesicht hatte sich gebräunt, weil es beständig der Witterung aus­ gesetzt war, und ein Leben anhaltender Thätigkeit hatte seine Nerven gestählt und seinen kräftigen Körper abgehär­ tet. Die krausen schwarzen Haare waren kurz verschnitten, während der feine Schnurrbart etwas dicker geworden war. Er war ein ächter junger Krieger geworden, gerade und gewandt, schnellen Blickes, rasch mit der Hand, daran ge­ wöhnt, in jedem Augenblick bereit zu sein, was im Krieg wie im Frieden der Hauptvorzug eines guten Soldaten ist. Der träumerische Ausdruck, welcher so oft auf seinem Ge­ sichte lag, in jenen Tagen, als er auf dem hohen Stuhl saß und Donna Tullia Mayer malte, hatte dem Ausdruck lebhaften Antheils an dem Thun und Treiben der Welt Platz gemacht.

Anastasius war von Natur ein Künstler, und kein noch so angestrengter Soldatendienst konnte in ihm die Hauptneigungen seiner Seele unterdrücken. Er hatte, nachdem er bei den Zouaven eingetreten war, seine Beschäftigung nicht aufgegeben, sondern seine dienstfreien Stunden in

6 seinem Atelier zugebracht. Aber mit der Veränderung in seinem Aeußem ging eine ähnliche Entwicklung seines Cha­ rakters Hand in Hand. Manchmal wunderte er sich selbst darüber, wie er so an dem mattherzigen politischen Spiel, welches Donna Tullia, Hugo Del Ferice und ihre Genoffen mit dem Namen Verschwörung zu beehren pflegten, hatte theilnehmen können. Es schien ihm, als müsse er sich da­ mals in einem beklagenswerth verworrenen und unklaren Geisteszustand befunden haben. Manchmal nahm er eine Skizze zu Madame Mayers Bild hervor, stellte sie auf die Staffelei und versuchte, sich in die Zeit zurückzuver­ setzen, als sie ihm zu sitzen Pflegte. Er konnte sich Del Ferices heroische Tiraden, Donna Tullias schlecht ausge­ drückte Ausfälle und seine eigene halb sarkastische Theil­ nahme an der liberalen Bewegung zurückrufen; aber der junge Mensch im alten kurzen Sammetrock, der so geläufig von der Guillotine zu schwatzen und davon zu reden pflegte, daß man die Clericalen an den Laternenpfostcn aufhängen und die Kirchen in Volkstheater verwandeln müsse, war ficherlich nicht der thatkräftige sonnengebräunte Zouave, welcher im vorigen Sommer im Samnitergebirge Jagd auf Räuber gemacht hatte, der drei Viertel seiner Zeit unter Soldaten seinesgleichen zubrachte und bei seiner Ehre ge­ schworen hatte, dem tapfern Charette zu folgen und den Papst zu vertheidigen, so lange er noch ein Gewehr halten konnte. Es giebt eine scharfe Scheidelinie zwischen Jugend und Mannesalter. Wir überschreiten sie früher oder später, allein wir wissen nicht, daß wir von einem Leben zu einem andern übergehen, indem wir diese Grenze überschreiten. Die Welt erscheint uns eine Weile noch eben so, wie wir sie gestern gekannt haben und morgen wieder kennen wer-

7 den. Plötzlich blicken wir rückwärts und staunen, wenn wir die so nahe geträumte Vergangenheit schon in der Ferne undeutlich verschwommen und unserm gegenwärtigen Selbst entftemdet verschwinden sehen. Dann fühlen wir, daß wir Männer sind, und gestehen, nicht ohne einen Seuf­ zer, daß wir abgethan haben, was kindisch war. Als Gouache die graue Jacke, die rothe Schärpe und die gelben Gamaschen anlegte, wurde er ein Mann und vergaß bald Donna Tullia und ihre Verirrungen, ja er mochte sie sich einige Zeit darnach nicht mehr zurückrufen. Versuchte er indeffen, sich an die Auftritte im Atelier in der Via San Bafilio zu erinnern, so schienen sie ihm weit entrückt. Nur einerlei mahnte ihn immer in unangenehmer Weise an die Vergangenheit, und das war das unglückselige Mißlingen seiner Bemühungen, Del Ferice einzufangen, als dieser in der Verkleidung eines Bettelmönches ans Rom entflohen war. Anastasius hatte nie begreifen können, wie ihm der Flüchtling entgangen war. Es war bald bekannt geworden, daß Del Ferice durch eben den Paß entwischt war, welchen Gouache bewachte, und der junge Zouave hatte es als eine bittre Kränkung empfunden, daß ihm eine so werthvolle und so leichte Beute entgangen war. Er dachte oft daran, und nahm sich vor, dereinst noch seinen Aerger an Del Ferice auszulassen, falls sich ihm je die Gelegen­ heit dazu böte; aber Del Ferice war außerhalb des Be­ reiches seiner Rache, und Donna Tullia Mayer war seit dem verflossenen Jahr nicht nach Rom zunickgekehrt. Es ging die Rede, daß sie endlich ein längst gegebenes Ver­ sprechen erfüllt und eingewilligt habe, sich Gräfin Del Ferice zu nennen; diese Nachricht bedurfte indeffen noch der Bestätigung. Gouache hatte das Gerede gehört und sofort auf der Rückseite eines halb vollendeten Gemäldes eine

8 drollige Skizze entworfen, sie stellte Donna Tullia in ihrem Brautstaat dar, auf Del Ferices Arm gelehnt, dieser trug eine Kapuzinerkutte, und darunter pinselte er die Inschrift „Finis coronat opus“. Es war gegen sechs Uhr am Nachmittag des 23. Sep­ tembers. Der Tag war regnerisch gewesen, allein eine Stunde vor Sonnenuntergang hatte sich der Himmel auf­ geklärt; in der Luft war eine angenehme feuchte Kühle, die nach den langen heißen Sommerwochen sehr wohl that. Anastasius Gouache hatte in der Serristorikaserne im Borgo Santo Spirito Dienst gehabt und schritt eben rasch der Engelsbrücke zu. Es war nicht viel Bewegung auf den Straßen, nur wenige Wagen fuhren einher. Ein Paar Offiziere standen müßig am Thor der Engelsburg und er­ widerten den Gruß von Gouache, als er vorbeiging. Mitten auf der Brücke blieb er stehen und sah gen Westen die kurze Strecke des Flusses hinab, der auf seiner gelben welligen Oberfläche einen grellen Widerschein des Sonnen­ untergangs auffing. Er sann einen Augenblick nach und war mit seinen Gedanken eigentlich mehr bei seinem Ka­ sernendienst als bei dem Naturschauspiel vor ihm. Dann dachte er, wie er zum ersten Male die Brücke in seiner Zouavenuniform überschritten, und ein Lächeln spielte auf seinem braunen Gesicht. Er blieb fast jeden Tag an der­ selben Stelle stehen, und da sich an besondere Orte oft besondere Ideen knüpfen, die dazu zu gehören scheinen, stieg fast immer derselbe Gedanke in seiner Seele auf, wenn er hier still stand. Darauf folgte täglich dieselbe zweifelnde Frage, wie das alles enden sollte, ob er noch jahrelang die rothe Schärpe und die gelben Gamaschen als Corporal bei den Zouaven tragen sollte, und ob er sich noch jahrelang täglich dieselbe Frage vorlegen würde. All-

9 möälig schwand der Abendschein von den Häusern im Borgo, miit leichtem Achselzucken wendete er sich um und setzte

seiinen Weg auf dem schmalen Pflaster an der einen Seite derr Brücke fort.

Als er am andern Ende die Steinstusen

nalch dem Platze zu hinabstieg, fiel ihm ein kleiner blanker Geegenstand in einer Spalte im Stein in die Augen.

Er

büickte fich und hob ihn auf. Es war eine kleine goldne Nadel, etwa zwei Zoll lang,

derr Kopf daran war zu einem C ausgeschlagen.

daß sie

Gouache besah sie aufmerksam und bemerkte,

lamge im Gebrauch gewesen sein müsse, denn sie war an methreren Stellen etwas verbogen, als ob sie ost durch einen

dickken Stoff gesteckt worden wäre.

Sonst gab die Nadel

abeer keine Auskunft über ihren Besitzer; der junge Mann steäkte sie in die Tasche und ging seines Weges,

mit der

Frcage beschäftigt, wem sie wohl gehören möge.

Er sagte

sich), wenn er eine wichtige Sache vorgehabt, würde er den Fmnd eines Stückchen Goldes wahrscheinlich als ein gutes Onnen angesehen haben, aber er ging ja nur wie gewöhn­ lich; nach seiner Wohnung zurück und hatte am Abend nichts

weiiter vor.

Ja, er erwartete zu dieser Zeit kein besonderes

Erceigniß in seinem Leben, und indem er seinen Gedanken-

gamg verfolgte, fiel ihm ein, daß er nicht ein Mal verliebt

sei,, und dabei lächelte er.

Denn für einen Franzosen von

In

beiinahe dreißig Jahren war das ein seltener Fall.

Goruaches Lage war er besonders merkwürdig.

Er

gefiel

dem Frauen und die Frauen gefielen ihm, und er war in

besständigem Verkehr mit einigen

Wedlt.

Dennoch ging

der schönsten von

der

er von einer zur andern und fand

in ider Unterhaltung mit allen dasselbe Vergnügen.

Was

ihn« bei der einen bezauberte, war nicht gerade dasselbe wass ihn bei der andern am meisten entzückte,

aber die

10 Summe des Wohlgefallens blieb im Gleichgewicht zwischen der Schwarzen und der Blonden, der schweigsamen Schön­ heit und der hübschen geistreichen Frau. Eine freilich hielt er für edleren Herzens und vollkommener an Gestalt und Antlitz, so wie stärkeren Geistes als die übrigen; aber sie war durch die hingebende Liebe zu ihrem Gatten dem Be­ reiche seiner etwaigen Huldigung unermeßlich weit entrückt, und er bewunderte sie nur aus der Ferne, selbst wenn er

mit ihr sprach. Als er am Apollotheater vorüber und die Via di Tordinona hinaufging, fingen die Lichter in den niedrigen Thorwegen zu flimmern an, und die Gaslampen, damals etwas ganz Neues in Rom, leuchteten in der Entfernung. Die Straße ist schmal, und der Verkehr darin war selbst am Abend lebhaft. Fußgänger bahnten sich im Halb­ dunkel den Weg und drückten sich von Zeit zu Zeit platt an die alten Mauern, um eine Droschke oder eine Equipage vorübersahren zu lasten, und zwar nicht ohne wirklich dro­ hende Gefahr. Vor dem tiefen gewölbten Thorweg zum „Bären", einem der ältesten Gasthäuser der Welt, wurden die leeren Weinkarren zur nächtlichen Rückfahrt durch die Campagna bereit gemacht; die großen Bündel kleiner Schellen klingelten lustig im Dunkeln, während die Fuhr­ leute ihren Pferden das Geschirre anlegten. Gerade als Gouache diese Stelle erreichte, die dunkelste und Überfüllteste, welche er passiren mußte, trieb ein fürch­ terliches Geklapper und Geraffel die vorübereilenden Leute dazu, aus den Thürschwellen und unter den Thorbogen Schutz zu suchen. Es war klar, daß ein durchgehendes Pferd nahte. Einer der Fuhrleute, besten Wagen zur Hälfte quer über den Eingang der Straße stand, machte verzwei­ felte Anstrengungen, sein Pferd anzutreiben und den Weg

11 frei zu machen; allein das erschreckte Thier ging nur um so weiter zurück. Einen Augenblick darauf raste der Durch­ gänger hinter dem schwerfälligen Karren vorbei. Das Pferd kam noch eben an dem hervorstehenden Balken des Karrens vorbei, aber die Droschke, welche es in rasender Eile mit sich sortriß, blieb daran hängen und zersplitterte in tausend Stücke, so daß das Pferd in schwerem. Falle auf die Steine stürzte und mit den Bruchstücken der Deichsel und dem zerrissenen Geschirre noch ein Stück weiter rutschte. Der Erste, welcher aus der Menge heraussprang und das Pferd am Kopfe ergriff, war Anastasius. Er sah nicht, daß im selben Augenblick ein großer Privatwagen, von zwei mäch­ tigen Rossen gezogen, rasch aus dem Vicolo bei Soldati, der dritten der Straßen, welche beim Bären mit der Via Tordinona Zusammentreffen., herausgesahren kam. Der Kutscher hatte in der Dunkelheit den eben stattgefundenen Unfall nicht wahrgenommen, that aber jetzt sein Bestes, um noch zur Zeit anzuhalten; doch ehe der schwere Wagen

zum Stehen gebracht werden konnte, wurde Anastasius zwischen den Hufen des strampelnden Droschkengauls und den Füßen der scheuenden Füchse zu Boden geworfen. Die Menge drängte sich so dicht wie möglich herzu, während die Verwirrung und das Geschrei des Volkes und der Fuhrleute mit jeder Minute zunahm. Der Kutscher des Privatwagens warf dem Diener die Zügel zu und sprang ab um nach den Pferden zu sehen. „Sie haben einen Zouaven überfahren!" rief ihm Einer aus der Menge zu. „Meno male! Gott sei Dank, keinen von uns!" rief eine andere Stimme. „Wo ist er? So hebt ihn doch auf!" schrie der Kut­ scher, indem er die Zügel hart am Gebiß ergriff.

12 Unterdessen waren ein Paar kräftige Gendarmen und zwei oder drei Soldaten von der Antiken Legion bis nach vorn durchgedrungen und schleppten das gestürzte Drosch­ kenpferd fort. Ein großer hagerer ältlicher Herr mit et­ was sauerm Gesicht stieg aus dem Wagen und beugte sich über den verletzten Soldaten. „Es ist nur ein Zouave, Excellenz," sagte der Kuscher wie erleichtert aufathmend. Der große Herr hob Gouaches Kopf ein wenig empor, so daß das Licht von der Wagenlaterne ihm ins Gesicht fiel. Er war bewußtlos und auf seiner bleichen Stirn und seinen blaffen Wangen war Blut. Einer der Gen­ darmen trat herzu. „Wir werden für ihn sorgen, Herr," sagte er, indem er die Finger an seinen Dreimaster legte. „Aber ich muß um Ihren hochgeehrten Namen bitten," setzte er in der üb­ lichen italienischen Form hinzu, „Capirä — Sie verstehen, — es thut mir sehr leid, aber es heißt, Ihre Pferde------- ". „Tragt ihn in meinen Wagen," versetzte der alte Herr kurz. „Ich bin der Fürst Montevarchi." „Aber, Excellenz — das gnädige Fräulein —" wandte der Kutscher ein. Der Fürst beachtete diesen Einwand nicht, sondern half dem Gendarmen, Anastasius in den Wagen heben. Dann gab er dem Manne ein Fünffrankstück. „Schicken Sie Jemanden nach der Serristorikaserne und lassen Sie sagen, daß ein Zouave verwundet worden ist und sich bei mir befindet," setzte er hinzu. Damit stieg er in den Wagen und befahl dem Kutscher nach Hause zu fahren. „Um's Himmels willen, was ist geschehen, Papa?" fragte in der Dunkelheit eine jugendliche Stimme vor Auf­ regung zitternd.

13 „Mein liebes Kind, es hat sich ans der Straße ein Unfall ereignet, und dieser junge Mensch ist verwundet oder gelobtet —" „Getödtet! Ein Todter im Wagen!" schrie das junge Mädchen entsetzt und drückte sich in die Ecke. „Du solltest Dich wirklich beherrschen, Faustina," ver­ setzte ihr Vater in strengem Tone. „Wenn der junge Mann todt ist, so ist's Gottes Wille. Lebt er noch, so werden wir das bald herausfinden. Unterdeffen muß ich Dich bitten ruhig zu sein — recht ruhig, verstehst Du mich?" Donna Faustina Montevarchi gab keine Antwort aus diese väterliche Ermahnung, zog sich aber so viel als mög­ lich in die Ecke des Rücksitzes zurück, während ihr Vater den leblosen Körper des Zouaven hielt, als der Wagen über das unebene Pflaster rollte. Nach einigen Minuten fuhren sie unter einem tiefen Thorweg ein und hielten am Fuß einer Marmortreppe. „Tragt ihn behutsam nach oben und holt einen Arzt!" sagte der Fürst zu den herbeieilenden Dienern. Dann reichte er seiner Tochter den Arm und führte sie die Treppe empor, als ob nichts vorgefallen wäre, ohne auch nur noch einen Blick auf den verwundeten Soldaten zu werfen. Donna Faustina war genau achtzehn Jahre alt und hatte erst vor einem Monat das Kloster zum Sacro Cuore verlassen. Man hätte sagen können, sie war noch zu jung, um schön zu sein, denn sie gehörte augenscheinlich zu der Klasse von Frauen, welche erst später zu ihrer vollen Ent­ wickelung gelangen. Ihre Gestalt war fast zu schlank, ihr Gesicht beinahe zu zart und ätherisch. Es war etwas Kindliches in ihrer Erscheinung, eine Atmosphäre heiliger Jungfräulichkeit umschwebte sie, und das war weniger der Ausdruck ihres eigentlichen Wesens

14 als die Wirkung davon, daß sie zugleich sehr mager und von sehr frischer Farbe war. Denn es war eigentlich nichts besonders Engelgleiches in ihren heißen braunen, von un­ gewöhnlich langen schwarzen Wimpern beschatteten Augen; schelmische kastanienbraune Löckchen quollen unter einem kleinen niederen runden Hut gerade an den feinen rosenrothen Ohren hervor und milderten wie mit einem Anflug von Weltlichkeit die reinen Umriffe ihres ernsten Gesichtes. Ein scharfsichtiger Frauenkenner hatte sehen können, daß der sanfte Heiligenschein des Klosterlebens, welcher das junge Mädchen noch umschwebte, bald schwinden und dem Glanz der Weltdame weichen würde. Sie war nicht mehr als mittelgroß, und obwohl die Kleidung zur damaligen Zeit wenig geeignet war, Gestalt und Bewegungen Vor­ theilhast hervortreten zu lassen, sah man doch, als sie be­ hende aus dem Wagen stieg, daß sie ihr reichlich Theil von Anmuth und Anstand hatte. Sie besaß jene unbe­ wußte Sicherheit in ihren Bewegungen, welche aus dem vollkommenen Ebenmaß aller Körpertheile hervorgeht und auf Männer einen viel größeren Einfluß ausübt, als ein tadelloses Profil oder blendend weiße Haut. Anstatt ihres Vaters Arm zu nehmen, wendete sich Donna Faustina um und sah den schwerverwundeten Zouaven an, welchen drei Diener behutsam aus dem Wagen gehoben hatten, um ihn nach oben zu tragen. In dem armen Gouache ließ sich kaum mehr der schmucke Soldat erkennen, der vor einer halben Stunde über die Engels­ brücke gegangen war. Seine Uniform war mit Schmutz befleckt, auf seinem Gesicht war Blut und seine Glieder hingen schlaff und kraftlos herab. Aber als das junge Mädchen ihn ansah, kehrte sein Bewußtsein zurück und damit das Gefühl heftiger Schmerzen. Er öffnete plötzlich

15 die Augen, wie man es beim Erwachen aus tiefer Be­ täubung zu thun pflegt, und ein dumpfes Stöhnen entrang sich seinen Lippen. Als er bemerkte, daß er sich in Ge­ genwart einer Dame befinde, machte er eine Bewegung, als ob er sich aus den Händen der Träger befreien und aufstehen wollte. „Verzeihen Sie, meine Gnädige," fing er an, aber Faustina unterbrach ihn durch einen Wink. Unterdessen hatte der alte Montevarchi das Gesicht des jungen Mannes genau betrachtet und ihn erkannt, denn sie waren oft in Gesellschaft zusammengetroffen. „Herr Gouache!" rief er überrascht, und winkte den Dienern mit ihrer Bürde weiter zu gehen. „Kennst Du ihn, Papa?" flüsterte Faustina, während sie hinter ihm hergingen. „Er ist ein Herr? Nicht wahr, ich habe recht?" „Natürlich, natürlich," antwortete ihr Vater. „Aber hattest Du denn wirklich nichts Besseres zu thun, Faustina, als ihm ins Gesicht zu sehen! Denke nur, wenn er Dich gekannt hätte! Ja, wenn Du so ansängst, kaum daß Du

aus dem Kloster bist —". Montevarchi überließ es der Phantasie seiner Tochter, den Satz zu vollenden und schlug nur die Augen empor, als ob er die gerechte Strafe des Himmels für das Be­ nehmen seiner Tochter abwenden wollte. „Wirklich, Papa," — entgegnete Faustina. „Ja, wirklich, meine Tochter. Ich bin sichtlich er­ staunt", versetzte ihr Vater leise, damit der Verwundete es nicht hörte. Sie gelangten aus den Treppenabsatz, und die Diener trugen Gouache schnell fort, indessen doch nicht so schnell,

daß Faustina nicht noch einen Blick auf sein Gesicht werfen

16 konnte. Seine Augen waren offen und begegneten den ihren mit einem gemischten Ausdruck von Interesse und Dankbarkeit, den sie nicht vergaß. Dann wurde er fort­ getragen und sie sah ihn nicht wieder. Der Haushalt der Montevarchi wurde nach dem ehe­ mals in Rom allgemein üblichen und noch heute, zwanzig Jahre nach Gouaches Unfall nicht ganz aufgegebenen charak­ teristischen Princip geführt. Der Palast war ein unge­ heures viereckiges Gebäude, welches mit der Front und der Rückseite auf zwei verschiedene Straßen hinausging, und sich nach innen zu auf zwei Höfe öffnete. Im Erdgeschoß befanden sich Ställe, Remisen, Küchen und zahllose Wirth­ schaftsräume. Darüber erhob sich ein Zwischengeschoß, mczzanino, auf französisch entresol genannt, welches die Gemächer für die unverheiratheten Söhne des Hauses, den Hauskaplan und einige Hauslehrer enthielt, welchen die Er­ ziehung der Enkel des Fürsten oblag. Darüber kam der piano nobile, oder die Staatsgemächer; sie bestanden aus den Zimmern des Fürsten und der Fürstin, dem Speise­ saal und einer langen Reihe von Empfangszimmern, die alle in einandergingen, so daß nur das letzte kein Durch­ gang war. In der großen Halle war der Thronsesscl und der Baldachin, mit dem einst in grellen Farben gestickten Familienwappen, die jetzt zu sanfteren Tönen verblaßt waren. Ueber diesem Stockwerk kam ein zweites, welches von den verheirateten Söhnen mit ihren Frauen und Kin­ dern bewohnt wurde, und hoch über allen, über dem Ge­ sims des Palastes waren die endlosen Dienstbotenstuben und geräumigen Bodenkammern. Der Haushalt bestand ungefähr aus hundert Personen, alle lebten unter der ab­ soluten und despotischen Herrschaft des Hauptes der Fa­ milie, Don Lotario Monteverde, Fürst von Montevarchi,

17 und Inhaber von vierzig bis fünfzig andern Titeln. Von seinem Willen und Belieben hing jede Handlung jeglichen Familienmitgliedes ab, von seinem ältesten Sohn und Er­ ben, dem Herzog von Bellegra bis zu. Peter Paul, dem Küchenjungen des Gehilfen des Unterkochs. Der Fürst hatte drei Söhne und vier Töchter. Zwei der Söhne waren verheirathet, nämlich Don Ascanio, dem der Vater seinen zweiten Titel verliehen hatte, und Don Onorato, der sich Fürst von Cantalupo nennen durste, nach dem Tode seines Vaters aber keinen Rechtsanspruch auf diesen Titel haben würde. Der letzte von den Dreien war Don Carlo, ein Jüngling von zwanzig Jahren, aber noch nicht der Obhut seines Hofmeisters enthoben. Von den Töchtern waren die ältesten beiden, Bianca und Laura, verheirathet und wohnten nicht mehr in Rom; die eine war an einen Nea­ politaner, die andere an einen Florentiner vermählt. Zu Hause also waren nur noch die dritte, Donna Flavia, und die jüngste von allen, Donna Faustina. Obgleich Donna Flavia noch nicht zwei und zwanzig Jahr alt war, fingen ihre Eltern schon an ihrer Verheiratung zu verzweifeln an und machten häufig Anspielungen darauf, daß es rathsam sein würde, sie für ein religiöses Leben zu bestimmen, wie sie sich ausdrückten; das heißt, sie meinten, sie sollte den Schleier nehmen und sich von der Welt zurückziehen. Die alte Fürstin Montevarchi war von Geburt und Erziehung eine Engländerin, aber drei und dreißig Jahre römischen Lebens hatten in ihr fast jede Spur ihrer Natio­ nalität verwischt. Dieser alles durchdringende Einfluß, welcher Ausländerinnen, die in römische Familien heirathen, so bald zu Römerinnen macht, hatte sein Werk nachdrück­ lich gethan. Durch seine Verbindungen mit den vornehm­ sten Familien des übrigen Europas hat der römische Adel Crawford, Sant' Jlaric. I. 2

18 viele specifisch italienische Eigenthümlichkeiten verloren, aber seine Mitglieder find mehr durch und durch.Römer als die Vollblutitaliener der andern Stände, die neben dem Adel in Rom leben. Als Lady Gwendoline Fontenoy im Jahre 1834 Don Lotario Montevarchi heirathete, glaubte sie ohne Zweifel, daß ihre Kinder zu gerade so guten Engländern wie sie selbst heranwachsen würden, und daß das Haus ihres Gatten nicht wesentlich von einem Haushalt ähnlicher Art in Eng­ land abweichen werde. Sie lachte fröhlich über die Bedin­ gungen in ihrem Ehecontract, welche sogar so weit gingen, festzustellen, daß sie wenigstens zwei Fleischspeisen zu Mit­ tag, an Fasttagen einen Ersah dafür, täglich eine Ausfahrt — die übliche trottata, jedes Jahr zwei neue Kleider und eine Kammerfrau zu ihrer Bedienung haben sollte. Nach­ dem diese und ähnliche Bestimmungen abgemacht waren, wurde ihre für die damalige Zeit große Mitgift ihrem

Schwiegervater zur Aufbewahrung übergeben und sie mit Don Lotario verheirathet, der sofort den Titel Herzog von Bellegra annahm. Die Hochzeitsreise bestand aus einem vierzehntägigen Aufenthalt in der Villa Montevarchi zu Frascati und nach Ablauf dieser Zeit bekam das junge Paar seine Wohnung unter dem väterlichen Dache in Rom. Noch ehe sie einen Monat in ihrer neuen Wohnung verlebt hatte, machte sich die junge Herzogin die gänzliche Hoff­ nungslosigkeit eines Versuches klar, die bestehenden Verhältniffe der väterlichen Negierung, unter der sie lebte, abzu­ ändern. Sie entdeckte zunächst, daß sie niemals fünf Scudi eigenes Geld in der Tasche haben konnte, und daß sie, wenn sie ein Taschentuch oder ein Paar Strümpfe brauchte, vom Haupt der Familie nicht nur die Erlaubniß zum Ein­ kauf solcher nothwendigen Dinge, sondern auch das Geld

19 dazu erlangen mußte. Sie entdeckte ferner, daß, wenn sie außer der Zeit eine Taffe Kaffee oder ein Butterbrod haben wollte, ihr diese Sachen auf ihre Tagesrechnung im Bureau des Hausmeisters angeschrieben wurden, als ob sie sich in einem Gasthose befände, und am Ende des Jahres von den Zinsen ihrer Mitgift bezahlt wurden. Ihres Mannes jüngerer Bruder, der kein eigenes Vermögen besaß, konnte in seinem Elternhause nicht einmal ein Glas Limonade ohne die Genehmigung seines Vaters erhalten. Ferner war das Familienleben derart, daß es beinahe alles Fürsichsein ausschloß. Die junge Herzogin und ihr Gemahl hatten ihr Schlafzimmer im oberen Stockwerk, allein Don Lotarios Gesuch, daß seine Frau ein eigenes

Wohnzimmer haben dürfte, wurde als ein Versuch häus­ licher Meuterei angesehen, und dieses Vorrecht wurde schließ­ lich nur durch die mächtige Vermittelung des eigenen Vaters der Herzogin, des Herzogs von Agincourt, erreicht. Alle Mahlzeiten wurden von der ganzen Familie zusammen in dem feierlichen alten mit gewirkten Tapeten behängten und vom Staub der Fahre abgenutzten Speisesaal einge­ nommen. Das Recht des Vortritts wurde immer streng beobachtet, und mochten auch die Speisen sonderbarer Att sein, so wurden doch nur Teller und Schüssel von massivem Silber gebraucht, freilich verbeult und zerkratzt und nur nach italienischen Begriffen geputzt, aber schwer und gedie­ gen. Die Herzogin erfuhr bald, daß die alten römischen Familien aus ökonomischen Rücksichten Silbergeschirr ge­ brauchten, aus dem einfachen Grunde, daß Metall nicht zerbreche. Allein die verständige Engländerin sah auch ein, daß neben der strengsten Sparsamkeit in vielen Dingen, in andern Theilen des Haushaltes große Verschwendung stattfand. In den Ställen standen prachtvolle Pferde, in

2*

20 den Remisen Prunkhaft vergoldete Wagen, an allen Thüren Diener in glänzender Livree. Der Lohn der Dienstboten überstieg freilich nicht das Durchschnittseinkommen eines Schuhputzers in London, aber dafür trugen sie mit goldncn Treffen reich besetzte Röcke. Es war von Anfang an klar, daß von Don Lotarios Frau nichts anderes erwartet wurde, als friedlich unter der väterlichen Herrschaft zu leben und weder Bemerkungen noch Vorschläge zu machen. Ihr Mann sagte ihr, daß es nicht in seiner Macht stände, Veränderungen einzuführen, und setzte hinzu, da sein Vater und all seine Vorfahren auf dieselbe Weise gelebt hätten, wäre sie auch für ihn gut genug. Ja eigentlich freute er sich auf die Zeit, wo er Herr des Hauses sein und Kinder haben würde, die er ebenso absolut und despotisch regieren könnte, wie er jetzt selbst regiert wurde. Im Laufe der Zeit nahm die Herzogin die Ueberliefe­ rungen der neuen Heimath in sich auf, so daß sie ein Theil ihres Wesens wurden, und da alles von Jahr zu Jahr unverändert fortging, nahm auch sie unabänderliche Ge­ wohnheiten an, die zu ihrer Umgebung paßten. Als dann endlich der alte Fürst und die Fürstin nebeneinander in der Gruft der Familienkapelle beigesetzt wurden, traf sie keine Veränderungen, sondern ließ alles im alten Geleise fortgehen, sie erzog und behandelte ihre Kinder, wie ihr Gatte erzogen und wie sie selbst von dem alten Paar be­ handelt worden war. Ihr Mann wurde seinem Vater immer ähnlicher, streng und peinlich; ein strenger Beob­ achter religiöser Formen, ein Pedant in Kleinigkeiten, voll Vorurtheil gegen jede Neuerung; zu selbstzufrieden um Verbefferungen zu wünschen, zu peinlich gewiffenhaft, um eine Abweichung von der festgestellten Regel zu gestatten,

21 ein Muster der Unwandelbarkeit einer alten Aristokratie, ein lebendiges Paradigma von dem, was von jeher ge­ wesen, und eine hartnäckige Schranke gegen alles, was sein

könnte. So war das Haus, in das Donna Faustina Montevarchi dauernd zurückkehrte, nachdem sie acht Jahre im Kloster zum Sacro Cuore verlebt hatte. Während dieser Zeit hatte sie die französische Sprache erlernt, eine ober­ flächliche Fertigkeit in der Musik, eine sehr beschränkte Kenntniß der Geschichte ihres Vaterlandes, ein geübtes Gedächtniß für Gebete und Litaneien und ihre guten Ma­ nieren erworben. Manieren heißen bei den Italienern educazione. Was wir unter Bildung verstehen, nämlich die Summe der erworbenen Kenntnisse, wird genauer istruzione genannt. Ein gebildeter Mensch ist ein solcher, wel­ cher sich die feinen UmgangSsormen angeeignet hat. Ein unterrichteter bedeutet einen, der mehr als die DurchschnittSsumme der für seine Klasse üblichen Kenntnisse er­ worben hat. Donna Faustina war nach römischen Begriffen sehr wohl erzogen oder gebildet, aber der Unterricht, den sie genossen, war nicht besser und sollte auch nicht besser sein, als derjenige, welcher jungen Mädchen ihres Umgangs­ kreises ertheilt wurde. Was ihren Charakter anbetraf, so wußte sie selbst sehr wenig davon und wäre wahrscheinlich sehr in Verlegenheit gerathen, wenn sie den Begriff Charakter hätte erklären sollen. Sie war jung, und die Welt war sehr alt. Die Nonnen hatten ihr gesagt, daß sie sich nichts aus der Welt machen müsse, es wäre ein sündhafter Aufenthalt, voll Dornen, Gruben, Fallen und Sünden, noch außer dem Teufel und seinen Engeln. Ihre Schwester Flavia ver­ sicherte ihr dagegen, die Welt wäre höchst angenehm, wenn

22 die Mama auf einem Ball zufällig in einer Ecke einschliese-; alle Männer wären falsch, aber wenn einer gut tanzte, käme es gar nicht darauf an, ob derselbe falsch wäre oder nicht, da er mit seinen Füßen und nicht mit seinem Gewiffen tanzte; es ginge nichts über einen hübschen Cotillon und jedes Jahr gäbe es deren eine gute Anzahl, und endlich, wenn man sich nur nicht den Teint verdürbe, könnte man thun was man wollte, wenn Mama nicht hinsähe. Donna Faustina schienen diese Ansichten, welche auf der einen Seite von den Nonnen, auf der andern von Flavia vertreten wurden, durchaus wiedersprechend. Sie würde freilich bei der Wahl nicht geschwankt haben, selbst wenn ihr eine Wahl frei gestanden hätte. Denn da sie im Kloster die eine Seite der Frage kennen gelernt hatte, mußte es sehr intereffant sein, nun auch die andre anzu­ sehen. Da ihr aber so viel von Sündern vorgeredet worden war, schaute sie nach welchen aus und erwartete mit ver­ zeihlicher Aufregung die Bekanntschaft eines Sünders zu machen. Ohne Zweifel würde sie einen Sünder hassen, wenn sie einen sähe, wie die Nonnen es ihr gelehrt hatten, obschon der Sünder, welcher ihrer Phantasie vorschwebte, keine besonders abstoßende Persönlichkeit war. Flavia kannte wahrscheinlich viele und doch sagte Flavia, die Gesellschaft wäre sehr unterhaltend. Faustina wünschte, die Herbst­ monate möchten etwas schneller vergehen, damit die Carnevalszeit bald begönne. Der Fürst Montevarchi dagegen wollte, seine jüngste Tochter sollte ein Muster spröder Sittsamkeit sein. Er sah in Flavias leichtfertigem Benehmen den Grund für die Schwierigkeit, einen Mann für sie zu finden, und gedachte nicht, fich in Faustinas Falle zum zweiten Mal einem

23 Mißerfolge auszusetzen. Sie sollte in ihrem ersten Winter heirathen, und wenn sie später Lust hätte, sich zu amüfiren, so sollte die Verantwortlichkeit dafür ihrem. Gatten oder ihrem Schwiegervater zufallen, oder dem, welchen es sonst zunächst anging; er selbst würde seine Pflicht erfüllt haben, sobald der Ehebund eingesegnet wäre. Er kannte das Ver­ mögen und den Ruf jedes heirathsfähigen jungen Mannes in der Gesellschaft und war deshalb für die von ihm über­ nommene Aufgabe hervorragend befähigt. Aufrichtig ge­ sagt, Faustina selbst erwartete vor Ostern zu heirathen, denn es war für ein junges Mädchen durchaus paffend, bei solchen Sachen keine Zeit zu verlieren. Aber sie wollte sich einen Mann nach ihrem Herzen wählen, wenn sie näm­ lich einen solchen fände; jedenfalls wollte sie sich nicht zu schnell in die väterliche Wahl fügen, noch mit dem ersten erträglichen Freier, der ihr vorgestellt würde, zufrieden fein. Unter diesen Umständen schien es wahrscheinlich, daß Donna Faustinas erste Saison, welche mit dem unvermutheten Abenteuer an der Ecke des alten „Bären" be­ gonnen hatte, nicht ohne einen Kampf zwischen ihr und ihrem Vater abschließen werde, wenn auch der endgültige Schluß sie an die Stufen des Altars führen sollte. Die Leute trugen den verwundeten Zouaven in ein entlegenes Zimmer, und Faustina betrat die fürstlichen Ge­ mächer an der Seite des alten Fürsten. Sie seufzte leise, als sie so einherging. „Ich hoffe, der arme Mensch wird durchkommen!" rief sie aus. „Beunruhige Dich nicht um den jungen Menschen", antwortete der Vater. „Er wird die geeignete Pflege haben, der Doctor wird ihm zur Ader laffen, und des Himmels Wille wird geschehen. Es ist nicht die Pflicht eines wohl-

24 erzogenen jungen Mädchens, an dergleichen zu denken, und Du kannst Dir die Sache sofort aus dem Sinn schlagen." „Jawohl, Papa," sagte Faustina unterwürfig. Aber trotz des gehorsamen Tones, mit dem sie sprach, zeigte das matte Licht der Lampen in den Vorzimmern einen eigen­ thümlichen, aus Belustigung und Widerspruch gemischten Ausdruck auf dem ätherischen Gesicht des jungen Mädchens.

Zweites Kapitel.

„Ihr kennt Gouache?" fragte der alte Fürst Saracinesca in einem Tone, welcher andeutete, daß er etwas Neues zu erzählen hätte. Er sah bei der Frage erst seine Schwiegertochter, dann seinen Sohn an und fuhr fort zu frühstücken. „Sehr gut", antwortete Giovanni. „Was ist mit ihm?" „Er ist gestern Abend überfahren worden. Der Wa­ gen gehört Montevarchi und Gouache liegt in Lebensgefahr bei ihm im Hause." „Der arme Mensch!" rief Corona voll Theilnahme. „Das thut mir so leid! Ich habe Gouache sehr gern." Giovanni Saracinesca, seit seiner Verheirathung als Fürst von Sant' Ilario bekannt, warf schnell einen Blick auf seine Frau, so schnell, daß weder sie noch der alte Herr es bemerkten. Die drei Personen saßen um die Mittagstunde beim Frühstück im Speisesaal des Palastes Saracinesca. Nach vielen Ueberlegungen und Besprechungen hatte sich das junge Paar entschieden, bei Giovannis Vater zu wohnen. Verschiedene Gründe hatten sie zu diesem Entschlusie ge­ bracht, aber die beiden Hauptgründe waren, daß sie erstens

24 erzogenen jungen Mädchens, an dergleichen zu denken, und Du kannst Dir die Sache sofort aus dem Sinn schlagen." „Jawohl, Papa," sagte Faustina unterwürfig. Aber trotz des gehorsamen Tones, mit dem sie sprach, zeigte das matte Licht der Lampen in den Vorzimmern einen eigen­ thümlichen, aus Belustigung und Widerspruch gemischten Ausdruck auf dem ätherischen Gesicht des jungen Mädchens.

Zweites Kapitel.

„Ihr kennt Gouache?" fragte der alte Fürst Saracinesca in einem Tone, welcher andeutete, daß er etwas Neues zu erzählen hätte. Er sah bei der Frage erst seine Schwiegertochter, dann seinen Sohn an und fuhr fort zu frühstücken. „Sehr gut", antwortete Giovanni. „Was ist mit ihm?" „Er ist gestern Abend überfahren worden. Der Wa­ gen gehört Montevarchi und Gouache liegt in Lebensgefahr bei ihm im Hause." „Der arme Mensch!" rief Corona voll Theilnahme. „Das thut mir so leid! Ich habe Gouache sehr gern." Giovanni Saracinesca, seit seiner Verheirathung als Fürst von Sant' Ilario bekannt, warf schnell einen Blick auf seine Frau, so schnell, daß weder sie noch der alte Herr es bemerkten. Die drei Personen saßen um die Mittagstunde beim Frühstück im Speisesaal des Palastes Saracinesca. Nach vielen Ueberlegungen und Besprechungen hatte sich das junge Paar entschieden, bei Giovannis Vater zu wohnen. Verschiedene Gründe hatten sie zu diesem Entschlusie ge­ bracht, aber die beiden Hauptgründe waren, daß sie erstens

25 beide mit inniger Liebe an dem alten Herrn hingen, und zweitens, daß diese Einrichtung mit der römischen Sitte in vollem Einklang stand. Allerdings war Corona, so lange ihr erster Mann, der alte Herzog von Astrardente, lebte, daran gewöhnt gewesen, ihren eigenen Haushalt zu haben, und die beiden Saracinesca hatten zuerst gefürchtet, sie würde nicht gern bei ihrem Schwiegervater wohnen wollen. Ueberdies konnte doch der Palast Astrardente nicht abgeschlossen und dem Verfall überlassen werden, aber diese Schwierigkeit wurde dadurch glücklich beseitigt, daß Corona ihn an einen amerikanischen Millionär vermiethete, der den Winter in Rom zubringen wollte. Die von ihm gezahlte Miethe war hoch und Corona konnte für ihre Ver­ besserungen in Astrardente nie zu viel Geld haben. Der alte Saracinesca wünschte, der Miether wäre wenigstens ein Diplomat und fluchte dem Amerikaner bei seinen Göttern; Giovanni aber sagte, seine Frau hätte sehr klug gethan, für den Palast so viel zu nehmen, wie sie irgend bekom­ men konnte. „Wir werden ihn nicht eher brauchen, als bis Orsino erwachsen ist — falls Du dich nicht wieder verheirathest," sagte Sant' Ilario lachend zu seinem Vater. Orsino nämlich war Giovannis Sohn und Erbe, zur Zeit dieser Geschichte sechs Monate und einige Tage alt. Trotz seiner großen Jugend spielt Orsino indessen eine große Rolle im Hause Saracinesca. Erstens war er der Erbe, und der alte Fürst saß manchmal an seiner Wiege mit einem Ausdruck, den man seit Giovannis Kindheit nicht auf seinem Gesicht gesehen hatte. Zweitens war Or­ sino ein sehr schönes Kind mit dunkelm Teint, kräftig wie ein Tigerkätzchen, dazu aber hatte er die großen kohl­ schwarzen, strahlenden und doch so sanften Augen seiner

26 Mutter. Drittens hatte,Orsino seinen eigenen Willen, der durch kräftige Lungen vorzüglich unterstützt wurde. Nicht als ob er weinte, wenn er etwas haben wollte. Seine Kinderaugen hatten noch keine Thränen vergaffen. Er brüllte nur laut und lang und stampfte mit den kleinen geballten Fäusten auf die Seiten der Wiege oder fchlug auf Jeden los, der ihm eben nahe war. Corona hatte ihre Freude an dem Kinde und sagte, er sähe seinem Großvater, seinem Vater und seiner Mutter, allen zusammen, ähnlich. Der alte Fürst meinte, wenn dem so wäre, könnte etwas Tüchtiges aus dem Jungen werden, Corona war die schönste Brünette ihrer Zeit, er selbst ein kräftiger zäher alter Mann, wenn auch mit schneeweißem Haar und Bart, und Giovanni war für seinen Vater das Ideal von dem, was ein Mann seines Geschlechtes sein sollte. Das Erscheinen des kleinen Orsino hatte einen Grund mehr für das Zusammenleben abgegeben; denn der Großvater hätte sich auch nicht die lausend Schritte von dem Kinde trennen mögen, welche zwischen den beiden Palästen lagen. Und so geschah es, daß sie alle unter demselben Dache wohnten und auf Mittag am 24. September zusammen beim Frühstück saßen, als der alte Fürst von dem Gouache

zugestoßenen Unfall erzählte. „Wie hast Du es erfahren?" fragte Giovanni. „Montevarchi erzählte es mir heute Morgen. Der Gedanke beunruhigte ihn sehr, einen interessanten jungen Mann im Hause zu haben, während Flavia und Faustina da sind." Der alte Saracinesca lachte ingrimmig. „Weshalb sollte ihn das beunruhigen?" fragte Corona. „Er hat veraltete Ansichten", versetzte ihr Schwieger­ vater. „Freilich — Flavia —".

27 „Ja, Flavia — freilich--------„Ich bin neugierig, wie die Andre sich herausmachen wird," bemerkte Giovannni. „In Bezug auf Flavia scheint eine gewisse Uebereinstimmung in unsern Ansichten zu herr­ schen. Jndeffen mag eS ja bloße Klatscherei sein, und der Palast Montevarchi ist kein lustiger Aufenthalt für ein Mädchen ihres Alters." „Nicht lustig? Wie weißt Du das?" fragte der alte Fürst. „Wünscht sie denn, daß der Carneval bis zum Allerseelentage dauere? Bist Du jemals dort zu Tisch ge­ wesen, Giovanni?" „Nein — und auch kein anderer, der nicht zu dem erlauchten Hause Montevarchi gehört." „Wie kannst Du dann wissen, ob es bei ihnen ver­ gnügt zugeht oder nicht?" „Du solltest Dir von Ascanio Bellegra ihr Leben be­ schreiben lassen", entgegnete Giovanni. „So und Du beschreibst ihm dafür wohl Dein Leben?" Der Fürst Saracinesca fing an heftig zu werden, was unsehlbar immer dann geschah, wenn er seinen Sohn nicht .dazu bringen konnte, eine Frage mit ihm durchzusprechen. „Ich vermuthe, ihr klagt einander eure elende Lage. Ich will Dir etwas sagen, Giovanni. Du solltest lieber mit Corona in ihr Hans ziehen, wenn es Dir hier nicht gefällt." „Es ist vermiethet", sagte Giovanni mit unerschütter­ licher Ruhe, aber seine Frau konnte sich kaum das Lachen verbeißen. „Du könntest auf Reisen gehen", brummte der alte Herr. „Aber ich fühle mich hier sehr glücklich." „Was soll das denn heißen, daß Du so über das Haus Montevarchi sprichst?"

28 „Ich kann die Jdeenverbindung zwischen den beiden Fällen nicht einsehen", bemerkte Giovanni. „Du lebst unter genau denselben Verhältnissen wie Ascanio Bellegra. Ich denke, die Jdeenverbindung ist deut­ lich genug. Wenn sein Leben traurig ist, so ist's Deines auch.« „Wer treffliche Logik braucht, der wende sich an meinen geliebten Vater!" rief Giovanni und brach endlich in Lachen aus. „Ein Spott für meine Kinder! So weit bin ich ge­ kommen!« rief sein Vater grimmig, aber seine Züge erhei­ terten sich zu einem fröhsichen Lächeln, welches seinem ern­ sten gebräunten Gesicht gut stand. „Aber es thut mir wirklich leid, dieses Mißgeschick des armen Gouache,« sagte Corona, endlich auf den Aus­ gangspunkt ihres Gespräches zurückkommend. „Ich hoffe, es ist nichts wirklich Gefährliches.« „Ueberfahren werden ist immer gefährlich«, antwortete Giovanni. „Ich will hingehen und ihn besuchen, wenn sie mich hereinlassen." In diesem Augenblick wurde Orsino von seiner Amme hereingebracht, einem prachtvollen Geschöpf aus Saracinesca mit hellblauen Augen und blonden Haaren wie eine Gothin, ein rechter Gegensatz zu dem brünetten Kinde, in ihren Armen. Sofort begann die tägliche Huldigung und jeder von den Dreien fing an, das Kind auf seine Weise zu be­ wundern. Von Unterhaltung war fürs erste keine Rede mehr. Der jüngste Saracinesca nahm die Aufmerksamkeit der ganzen Familie in Anspruch. Ob er seine Fäustchen ballte oder seine fetten Fingerchen ausspreizte, ob er lachte oder bei den Versuchen seines Großvaters, ihn zu amusiren, „krahlte", oder ob er nach den rosigen Wangen

29 der Amme mit seinen dicken Händchen patschte, der Erfolg war immer Beifall und Jubel seitens der Zu­ schauer. Die Scene erinnerte an Josephs Traum, in welchem die Garben seiner Brüder sich vor seiner Garbe

verneigten. Nach einer Weile aber wurde Orsino schläfrig und mußte fortgebracht werden. Darauf trennte sich der kleine Kreis. Der alte Fürst ging in sein Zimmer, um ein Stündchen zu lesen und zu ruhen. Corona mußte mit einer der un­ zähligen Schneiderinnen verhandeln, deren Schatten den Anfang einer Saison in der Stadt verdunkeln, und Gio­ vanni nahm seinen Hut und ging aus. In jenen Tagen hatten die vornehmen jungen Leute äußerst wenig zu thun. Noch neulich äußerte ein deutscher Diplomat, es scheine, italienische Herren thäten nichts als rauchen, spucken und kritifiren. Vor zwanzig Fahren hätte man ihre Manieren minder roh beschreiben können, in dem eigentlichen Sinn des Ausspruchs war aber dazumal noch mehr Wahrheit. Nicht nur thaten sie nichts, sondern es gab auch nichts für sie zu thun. Sie schwammen auf einem stillen Mühlenteich herum, dessen glatte Oberfläche nur ihr wichtiges Selbst wiederspiegelte, und ahnten nicht, daß der Damm, welcher ihr nachgeahmteS Meer umschloß, bald mit Donnergetöse bersten und sie alle in den Strom des wirklichen Lebens, der unten floß, hinabschleudern würde. Für die wenigen, welche dem Müßiggänge abhold waren, gab es nur literarische Beschäftigung; nach römi­ schen Begriffen im Jahre 1867 bedeutete aber Literatur Gelehrsamkeit. Den Eintritt in eine literarische Laufbahn konnte man nach damaliger Ansicht nur durch ernstes Stu­ dium der Klassiker erreichen, mit der Absicht, dann in Sprache und Gedanken alles Klassische zu verleugnen, aus-

30 genommen Cicero, den Apostel der alten römischen Philister, und die Neigung, abgedroschene Wahrheiten und matte Gefühle in hochtrabende Sprache zu kleiden findet fich noch heute in der Prosa und läßt fich indirect auf dieselbe Quelle zurückführen. Was die Literatur des Landes nach den Lateinern betrifft, so bestand und besteht sie noch aus beit Werken der vier Dichter: Dante, Taffo, Ariost und Petrarca. — Leopardi wird jetzt mehr gelesen als damals, ist aber zu ungesund schwermüthig, als daß man ihn lange lesen könnte. Es hat römische Fürsten gegeben, welche Jahre damit zubrachten, die Verse jener vier Dichter aus­ wendig zu lernen, gerade wie heute die jungen Brahmanen den Rig Veda hersagcn lernen. Das nannte man Lite­ ratur treiben. Die Saracinescas galten für höchst originell und an­ ders wie andere Leute, weil sie sich um ihre Güter be­ kümmerten. Es schien sehr geschäftsmäßig, die ererbten oder durch Heirath überkommenen Güter zu bewirthschaften und verbessern zu suchen, jedes Geschäft aber war eine Er­ niedrigung. Die Saracinescas aber waren selbständig ge­ nug, um über das Bedenken Anderer zu lachen, und thaten, was ihnen das Beste düntte, ohne nach der Meinung der Welt zu fragen. Allein die Sorge um solche Angelegen­ heiten genügte nicht, um Giovanni den ganzen Tag zu be­ schäftigen. Ihm blieb noch viel Zeit übrig, denn er war ein thätiger Mann und bedurfte nicht viel Schlaf und selten Ruhe. Früher pflegte er von Zeit zu Zeit aus Rom zu verschwindet und lange Reisen zu machen, die gewöhnlich mit Jagden in noch halb unerforschten Ländern endigten. Das war vor seiner Verheiratung, und seine Streifzüge hatten ihm sicherlich nicht geschadet. Er hatte viel von der Welt gesehen, was Leute seines Standes mit deffen Vorur-

31 theilen gewöhnlich nicht sehen, und die so. erworbene Kennt­ niß von Land und Leuten war für ihn eine Quelle großer Befriedigung. Nun aber war die Zeit gekommen, dies Treiben aufzugeben. Er war jetzt nicht nur verheirathet und hatte seinen Hausstand, sondern er liebte seine Frau von ganzem Herzen, und diese Thatsachen waren ernste Hindernisse gegen Streifereien in Norwegen, Canada oder Siebenbürgen. Mit Corona und dem kleinen Orsino zu reisen, war etwas Anderes als mit Corona allein reisen. Dazu kam die wachsende Zuneigung seines Paters für das Kind, worauf bei allen Dingen Rücksicht genommen wer­ den mußte. Diese vier, der alte Saracinesca, Giovanni, Corona und das Kindchen, wurden unzertrennlich. Giovanni klagte nicht um seine alte Freiheit. Er fühlte sich jetzt viel glücklicher als je zuvor im Leben. Aber es kamen Tage, wo ihm die Zeit lang wurde und sein rastloses Wesen sich nach einer Thätigkeit sehnte, die eine wohlthnende Aufregung mit sich brächte. Das gerade konnte er während der Monate seines Aufenthalts in Rom nicht finden, und so kam es, daß er ziemlich dasselbe that, worin die meisten andern jungen Leute seines Standes eine hinreichende Beschäftigung fanden; er verbrachte viel Zeit damit herumzuschlendern, wo Andere herumschlenderten, im Club zu verweilen, und Besuche zu machen, welche die Stunden zwischen Sonnenuntergang und dem Diner aus­ füllten. Ihm war diese Art von Leben neu und nicht durchweg zusagend; aber seine Bekannten unterließen nicht zu sagen, daß Giovanni sich seit seiner Perheirathung mit der Astrardente civilisirt hätte und viel weniger verschloffen wäre als früher. Als Corona zur Schneiderin ging, nahm Giovanni natürlich seinen Hut und ging aus. Der Septembertag

32 war warm und schön und bei solchem Wetter ist es schon ein Vergnügen, in der Herbstsonne durch die alten römi­ schen Straßen zu gehen. Um Jemanden von seinen Be­ kannten zu begegnen, war es noch zu früh am Tage, und zu früh in der Saison um regelrechte Besuche zu machen. Er wußte nicht recht, was er thun sollte, gönnte sich aber den Genuß des Sonnenscheins und der frischen Luft. Ein paar Zouaven, die an der Ecke zusammenstanden und sprachen, erinnerten ihn an den Gouache zugestoßenen Un­ fall. Es würde eine Freundlichkeit sein, den armen Burschen zu besuchen oder sich wenigstens nach ihm zu erkundigen. Er kannte ihn seit einiger Zeit und hatte mehr und mehr Wohlgefallen an ihm gefunden, wie die meisten Leute, welche den hochbegabten jungen Künstler Tag für Tag im Winter in Gesellschaft trafen. Im Palast Montevarchi erfuhr er, daß die Fürstin soeben vom Frühstück aufgestanden sei. Er konnte nicht gut nach Gouache fragen, ohne einen kurzen Besuch im Salon zu machen, und ergab sich folglich darein, indem er schon bedauerte, überhaupt hingegangen zu sein. Die alte Fürstin war ihm langweilig, Faustina, die erst eben aus dem Kloster gekommen, kannte er nicht, und Flavia, die vielen sehr amüsant war, amusirte ihn gar nicht. Inner­ lich freute sich, daß er bereits verheirathet war, und daß fein Besuch nicht als ein erster Schritt zur Werbung um Flavia angesehen werden konnte. Die Fürstin sah mit einem fragenden Blick in ihren hervorstehenden blauen Augen auf, als Sant' Ilario ein­ trat. Sie war dick, von blühender Farbe und nicht gut gekleidet. Ihr gelbliches, zur Hälfte ergrautes Haar, denn sie war über fünfzig Jahr alt, gehörte zu der widerspensti­ gen Sorte und hatte selbst in ihren besten Tagen nie

33

ordentlich ausgesehen. Ihre Helle klare Gesichtsfarbe rettete sie indessen, wie hundert andere ältliche Engländerinnen, vor dem eigenthümlich unordentlichen Aussehen, welches brünetten Personen eigen ist, die sich um ihre Erscheinung oder Zierlichkeit im Anzug keine Mühe geben. Trotz eines Aufenthalts von dreiunddreißig Jahren in Rom sprach sie das Italienische mit fremdem Accent, im Uebrigen aber corrcct. Bei alledem war sie eine vornehme Dame, und es würde Keinem eingefallen sein, diese Thatsache zu be­ zweifeln. Dick, ungeschickt angezogen, keine imposante Ge­ stalt, mit struppigem Haar und hervorstehenden Zähnen war sie doch keine lächerliche Erscheinung. Sie hatte, was mancher schönen Frau fehlt, natürliche Würde des Charak­ ters und Auftretens, verbunden mit einer Sicherheit, die man nicht immer bei vornehmen Leuten findet. Die ruhige Sicherheit, welche für die Mitgift hoher Geburt gilt, findet sich eben so oft beim niedrig geborenen Abenteurer, der sie für einen Theil seiner Ausrüstung ansieht; cs giebt dage­ gen viele Frauen und manchmal auch Männer, deren Stellung sie weit über sogenannte Schüchternheit erheben sollte und die doch täglich durch ihre Verlegenheit in der Gesellschaft Qualen durchmachen und lieber einem Cavallerieangriff allein entgegentreten als eine neue Bekanntschaft machen möchten. Die Fürstin Montevarchi indessen war von stärkerem Stoff, und wenn ihre Töchter nicht ganz ihre natürliche Würde geerbt, so hatten sie wenigstens ein gut Theil Sicherheit mitbekommen. Als Sant' Ilario eintrat, saßen diese beiden jungen Damen, Donna Flavia und .Donna Faustina, neben ihrer Mutter. Die Fürstin streckte ihm die Hand entgegen, die beiden Töchter hatten die Hände sittsam auf dem Schooß über einander gelegt. Faustina sah den Teppich an, wie man es ihr im Kloster (Sraivforb, Laut' Ilario. I. 3

34 gelehrt hatte. Flavia sah Giovanni dreist an, denn sie wußte aus Erfahrung, daß ihre Mutter sie nicht sehen konnte, während sie den Besuch begrüßte. Sant' Ilario murmelte eine höfliche Nachfrage, verneigte sich gegen die jungen Damen und setzte sich. „Wie geht es Herrn Gouache?" fragte er dann ohne Umschweife. Er hatte den Ausdruck von Ueberraschung auf dem Gesicht der Fürstin bei seinem Eintritt ins Zimmer bemerkt und hielt es für besser, die Veranlassung zu seinem Besuche sofort zu erklären. „Ach, haben sie schon davon gehört? Der Arme! Ich fürchte, er ist schwer verletzt. Möchten Sic ihn sehen?" „Später, wenn es erlaubt ist," antwortete Giovanni. Wir haben alle Gouache sehr gern. Wie geschah der Unfall?" „Faustina hat ihn überfahren", sagte Flavia, indem sie ihre dunklen Augen fest auf Giovanni heftete und ihrem hübschen Gesicht einen Ausdruck inniger Theilnahme für — den Leidenden gab. „Faustina und Papa", setzte sic hinzu. „Flavia! wie kannst Du so etwas sagen?" rief die Fürstin, welche einen großen Theil ihres Lebens damit zu­ brachte, ihre Tochter zu berufen. „Nun, Mama, — es war natürlich der Wagen, aber Papa und Faustina waren darin. Es ist doch ganz dasselbe." Giovanni sah Faustina an, aber ihr feines, frisches Gesicht sagte nichts; sie bezeigte auch keine Absicht, über die Auslassung ihrer Schwester eine Bemerkung zu machen. Zum ersten Male sah er sie in der Nähe und seine Auf­ merksamkeit wurde durch ein gewiffes Etwas an ihr ge­ fesselt, was ihn überraschte und interessirte. Es war etwas,

35 was sich kaum in Worte fassen läßt und doch so deutlich vorhanden ist, daß es Sant' Ilario sofort auffiel und im Gedächtniß verblieb. Bei dem Aberglauben im hohen Nor­ den, so wie in dem materialistischen Spiritualismus in Polynesien hat ein solches Aussehen eine Bedeutung und eine Auslegung. Uns ist die Deutung verloren gegangen, aber die instinctive Ueberzeugung, daß die Sache selbst nicht ganz bedeutungslos ist, bleibt unauslöschlich. Wir sagen, über unsre eigne Leichtgläubigkeit lächelnd: „Der Mann sieht aus, als hätte er eine Geschichte," oder: „Jene Frau sieht aus, als müßte ihr etwas Seltsames begegnen". Es ist ein gewisser Ausdruck in den Augen, ein leichter Schatten aus den Zügen, der manches sagt, was wir nicht verstehen, Dinge, die wenn sie überhaupt existiren, nach unserem Gefühl unvermeidlich, verhängnißvoll und keiner menschlichen Macht unterworfen sein müssen. Giovanni sah sie an und verwunderte sich, aber Faustina sagte kein Wort. „Es war sehr gütig vom Fürsten, ihn bei sich aufzu­ nehmen", bemerkte Sant' Ilario. „Es war gar nicht nach Papa," rief Flavia, ehe nochihre Mutter etwas erwidern konnte, „aber natürlich sehr gütig, wie Sie sagen," setzte sie mit feinem Lächeln hinzu. Flavia hatte die Gewohnheit, erstaunliche Aeußerungen zu machen und dann eine Erklärung oder Bemerkung hinzuzufügen, ehe ihre Zuhörer zu Athem gekommen waren. Der Zusatz verbesserte die Sache nicht immer. „Unterbrich mich nicht, Flavia," sagte ihre Mutter strenge. „Ich bitte um Verzeihung, sprachst Du denn, Mama?" fragte das junge Mädchen ganz harmlos. Giovanni fand kein Gefallen an Flavias Manieren und wartete ruhig ab, daß die Fürstin spräche. 3*

36 • „Za", sagte sie, „es war doch nichts anderes dabei zu machen, da wir den armen Menschen überfahren hatten — „Der Wagen" — verbesserte Flavia, aber ihre Mutter

nahm keine Nütiz von ihr. „So war doch das Geringste, was wir thun konnten, ihn herzunehmen. Mein Mann hätte nie zugetassen, daß er ins Hospital gebracht worden wäre." Flavia sah Giovanni wieder mit theilnehmendem Blick an; es lag indessen darin kein Glaube an ihres Vaters wohlwollende Absichten. „Ich verstehe", sagte Giovanni. „Und wie geht es ihm, seit er hier ist? Ist er in Gefahr?" „Sie sollen ihn gleich sehen", antwortete die Fürstin; sie stand auf und zog die Klingel, als daraus draußen der Schritt des Dieners hörbar wurde, ging sie durchs Zimmer, nm draußen mit ihm zu sprechen. „Mama läuft gern herum", bemerkte Flavia freund­ lich als Erklärung. Giovanni war aufgestanden, als ob er sich gern nützlich machen wollte. Der Vorgang war charakteristisch für die Fürstin Montevarchi. Eine Italienerin würde weder selbst geschellt, noch so unvorsichtig gewesen sein, ihren Töchtern den Rücken zuzuwenden, während ein Herr im Zimmer war. Aber sie war eine Engländerin, und selbst ein Menschenalter in Italien verlebt, konnte ihre Thatkraft nicht ertödten; also ging sie selbst an die Thür. Faustinas dunkle Augen folgten ihrer Mutter, als ob es sie interessire, etwas über Gouache zu hören. „Ich hoffe, es geht ihm besser," sagte sie ruhig. „Natürlich," meinte Flavia, „ich auch. Aber Mama amusirt mich so! Sie ist immer in Unruhe." Faustina sagte nichts weiter, aber sie sah Sant' Ilario

37 an, als ob sie gern wissen möchte, was er von ihrer Schwester dächte. Er erwiderte den Blick und versuchte sich das eigenthümlich Anziehende im Ausdruck ihres Ge­ sichts zu erklären, indem er sie kritisch betrachtete, wie eine fremde Person oder eine Merkwürdigkeit. Sie erröthete weder noch wich sie seinen kühnen Blicken aus, wie er es wohl erwartet haben würde, wäre er sich bewußt gewesen, daß er sie anstarrte. Einige Minuten darauf befand sich Giovanni in einem schmalen hohen, nur durch ein Fenster erleuchteten Zimmer, dessen tiefe Nischen die ungeheure Dicke der Mauer zeigte. An der gewölbten Decke war ein Frescogemälde, Apollo den Bogen spannend, faktisch nur mit dem Köcher bekleidet, während seine übrigen gelb und blauen Gewänder überall herumflatterten, nur nicht über seinen Körper. Der Boden des Zimmers war von rothen Ziegeln, die einst gewachst gewesen, das Mobiliar war spärlich, schwerfällig und sehr alt. Anastasius Gouache lag in einer Ecke in einem sonder­ baren Bett unter einer gelben Damaststeppdecke die ein oder zwei Jahrhunderte alt sein mochte, das Wappen der Montevarchi von einem CardinalShut überragt war darauf gestickt. Auf einem Stuhl neben dem Patienten lagen die kleinen Habseligkeiten, welche er zur Zeit des Unfalls in der Tasche getragen hatte, seine Uhr, seine Börse, Cigaretten, ein Taschentuch und einige andere Kleinigkeiten, darunter halb versteckt auch die goldne Nadel, welche er am Abend vorher auf der Engelsbrücke gefunden hatte. In dem un­ behaglichen Zimmer war ein aus Feuchtigkeit und altem Tabak gemischter Geruch, denn die Fenster waren fest ge­ schlossen, trotz des Hellen Sonnenscheins, welcher die andere Seite der Straße überfluthetc. Gouache lag auf dem Rücken, sein Kopf war verbun-

38 den und durch ein weißes Kissen gestützt, welches ungefähr den Eindruck machte, wie eines jener Marmorkiffen auf alten Grabdenkmälern, auf welches sich der Todte in ewi­ gem Gebet, wenn auch nicht in ewigem Behagen stützt. Gouache machte eine ungeduldige Bewegung, als die Thür aufging, als er aber Giovanni erkannte, begrüßte er ihn mit viel lebhafterer und lauterer Stimme, als zu erwarten schien. „Sie, Fürst!" rief er in unverkennbarer Freude. „Wel­ cher Heilige führt sie her?" „Ich hörte von ihrem Unfall, und so bin ich herge­ kommen, um zu sehen, was ich für Sie thun kann. Wie befinden Sie sich?" „Wie Sie sehen," antwortete Gouache „in einem gast­ lichen Grabe, mit verbundenem Kopf wie ein unvollkommen auferwecktcr Lazarus. Im Uebrigen fehlt mir gar nichts, nur daß sie mir die Kleider weggenommen haben, was ein gewisses Hinderniß für einen schleunigen Abzug aus dem Hause ist. Mir ist zu Muthe, als hätte ich einen Aufstand mitgemacht und auf der falschen Seite der Barri­ kade gestanden — schlimmer ist es nicht." „Jedenfalls sind Sie bei guter Laune. Aber sind Sie wirklich nicht ernstlich verletzt?" „O gar nicht! Ich glaube, das Schlüsselbein ist irgendwo gebrochen und ein Stück von meinem Kopf ist weg, ich weiß nicht recht welches, dann habe ich gräßliches Kopsweh, nichts zu essen und so im allgemeinen das Ge­ fühl, als ob Jemand den erfolglosen Versuch gemacht hätte, aus mir eine Wurst zu machen." „Was sagt denn der Arzt?" „Gar nichts. Er ist ein Mann der That. Er ließ mir zur Ader, weil ich nicht die Kraft hatte, ihn abzu­ würgen, und goß mir ein Gebräu von abgekochtem Grase

39 in den Hals, weil ich nicht sprechen konnte.

Er hat phan­

tastische Begriffe vom menschlichen Körper." „Sie werden aber noch einige Tage hier bleiben muffen", sagte Giovanni, sehr belustigt durch Gouaches Auffassung seines Mißgeschicks. „Einige Tage! auch nicht mehr einige Stunden, wenn ich es verhindern kann." „In Rom geht's nicht so schnell! Sie müssen gedul­

dig sein." „Um zu verhungern, wenn ich ganz in der Nähe, am Corso, etwas zu essen bekommen könnte?" fragte der Künstler. „Um von einem römischen Aderlasser abgeschlachtet und von der Fürstin Montevarchi mit Aufgüssen von Heu über­ schwemmt zu werden, während ich auf Mittel sinne, ihrer Tochter vorgestellt zu werden? Wofür halten Sie mich? Ich vermuthe nämlich, die junge Dame mit den göttlichen Augen ist ihre Tochter, nicht wahr?" „Ich glaube, Sie meinen Donna Faustina. Za, sie ist die jüngste, eben aus dem Kloster gekommen. Sie war eben im Salon, als ich meinen Besuch machte. Wo haben

Sie sie gesehen?" „Gestern Abend, als ich nach oben getragen wurde, war ich so glücklich, gerade aufznwachen als sie mich ansah.

Was für Augen! Ich kann an gar nichts anderes denken. Aber nun im Ernst: können Sie mir nicht helfen, von hier fort zu kommen?" „Wohl damit Sie sich so schnell wie möglich in Donna Faustina verlieben können?" sagte Giovanni lachend. „Es scheint mir, da giebts nur ein Mittel, wenn Sie nämlich wirklich stark genug dazu sind. Lassen Sie sich Ihre Klei­ der bringen, stehen Sie auf, gehen Sie in den Salon und danken Sie der Fürstin für ihre gütige Aufnahme."

40 „Das ist leicht gesagt. Hier im Hause geschieht nichts ohne die schriftliche Erlaubniß des alten Fürsten, wenn ich nicht sehr irre. Ueberdies ist keine Klingel vorhanden. Ich könnte eben so gut auf der Wache in der Kaserne unter Arrest sein. Nächstens wird der Arzt kommen und mir wieder zur Ader lassen und die Fürstin wird mir noch mehr abgekochtes Gras schicken. Ich bin so wie so nicht sehr dick, aber nach noch einem Tag solcher Diät werde ich durchsichtig sein und keinen Schatten mehr werfen! Eine nette Geschichte, bei der Parade ohne Schatten betroffen zu werden!" „Ich will sehen, was ich thun kann," sagte Giovanni und stand auf. „Wahrscheinlich wäre es das Beste, einen Militärarzt zu Ihnen zu schicken. Er wird nicht so zart sein wie der andre Doctor, aber Sie sogleich von hier fort bringen. Meine Frau hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß sie voll Theilnahme für Sie ist, und hofft, Sie werden bald hergestellt sein." „Meine Empfehlung und besten Dank an die Fürstin", versetzte Gouache in etwas verändertem Ton, wahrschein­ lich um sein Gefühl der Ehrerbietung selbst in Abwesenheit der Dame, von der er sprach, auszudrücken. Also ging Giovanni fort und versprach sofort den Wundarzt hinzuschicken. Dieser kam bald und ließ sich leicht überreden, seine unverzügliche Rückkehr nach Hause auzuordnen. Der junge Krieger und Künstler wollte nicht das Haus verlaffen, ohne der Herrin desselben zu danken. Seine Uniform war von den Flecken gereinigt worden, den linken Arm trug er in der Binde. Die Verletzung an der Stirn war mehr eine Beule als eine Wunde und wurde von seinem dichten schwarzen Haar verdeckt. In Anbetracht der Verhältniffe sah er recht gut aus. Die Fürstin em­ pfing ihn im Salon; Flavia und Faustina waren bei ihr,

41 aber alle drei waren zum Ausgehen angekleidet, so daß der Besuch nothwendig kurz sein mußte. Gouache hielt eine kleine Dankrede und versuchte den Malwenausguß, welchen er hatte schlucken müssen, zu ver­ gessen, denn er fürchtete, die'Erinnerung daran könnte den Versicherungen seiner Dankbarkeit einen unaufrichtigen Bei­ geschmack geben. Es gelang ihm gut, und diesen Erfolg schrieb er später Donna Faustinas Augen zu, welche nicht' niedergeschlagen waren wie bei Sant' Ilarios Besuch, son­ dern den neuen Gast mit entschiedenem Interesse zu be­ trachten schienen. „Ich bin überzeugt, mein Mann wird es nicht billigen, daß Sie so bald fortgehen," sagte die Fürstin in etwas besorgtem Tone. Es war fast der erste ihr bekannte Fall, daß in ihrem Hause ein wichtiger Schritt ohne ihres Gatten ausdrückliche Genehmigung gethan wurde. „Meine Gnädige," sagte Gouache, indem er erst Donna Faustina, dann die Fürstin ansah, „ich bin trostlos dar­ über, so ganz wider Willen ihre Gastfreundschaft in An­ spruch genommen zu haben, obschon ich nicht erst sagen darf, wie gern ich diesen Vorzug noch länger genießen würde, wenn ich nicht zur Einsamkeit in einem entlege­ nen Zimmer verurtheilt wäre. Da indessen unser Regi­ mentsarzt mich für wohl genug erklärt um nach Hause zu gehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als dem Befehl zu gehorchen. Glauben Sie mir, gnädigste Fürstin, ich bin Ihnen sowohl wie dem Fürsten für Ihre vielfache Güte aufs tiefste verbunden und werde die dankbare Erinnerung daran bewahren, solange ich lebe." Bei diesen Worten verneigte sich Gouache, als wollte er gehen und wartete nur noch auf das letzte Wort der Fürstin. Aber noch ehe sie sprechen konnte, ertönte Faustinas Stimme.

42 „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schrecklich es uns ist, Papa und mir, daß wir die Ursache eines solchen Un­ glücks gewesen sind. Können wir nichts thun, damit Sie es vergessen?" Die Fürstin starrte ihre Tochter in höchster Verwun­ derung über ihre Dreistigkeit an. Es hätte sie nicht über­ rascht, wenn Flavia sich einer solchen Unvorsichtigkeit schul­ dig gemacht hätte, aber daß Faustina so kühn einen jungen Mann anreden sollte, der nicht zu ihr gesprochen hatte, gab ihrem Glauben an die guten Manieren des jungen Mädchens einen solchen Stoß, daß sie sich einige Sekunden lang nicht davon erholen konnte. Anastasius durchschaute die Lage, denn bei seiner Antwort sah er die Mutter fest an, obschon seine Worte entschieden an die braunäugige Schönheit gerichtet waren. „Das gnädige Fräulein ist zu gütig, es ist eine Ueber­ treibung. Weil das Fräulein aber die Frage gestellt hat, erlaube ich mir zu sagen, daß ich meine Verletzungen bald vergessen würde, wenn es mir erlaubt würde, das Bild des gnädigen Fräuleins zu malen. Ich bin ein Maler", setzte er bescheiden zur Erklärung hinzu. „Ja, das weiß ich", sagte die Fürstin. „Indessen — die Sache bedarf der Ueberlegung und der Zustimmung meines Gatten, und fürs Erste —" Sic hielt bedeutungsvoll inne, mit der Absicht eine höfliche Ablehnung auszudrücken, allein Gouache vollendete den Sah. „Fürs Erste, bis meine Knochen geheilt sind, wollen wir nicht davon sprechen. Wenn ich wieder ganz gesund bin, werde ich mir die Ehre geben, den Fürsten selbst um seine Einwilligung zu ersuchen." Flavia neigte sich zu ihrer Mutter und flüsterte ihr

43 etwas ins Ohr. Die Worte waren ganz gut hörbar und die dunklen Augen des Mädchens sahen Gouache dabei schelmisch an. „O Mama, wenn Du dem Papa sagst, daß es um­ sonst ist, wird er entzückt sein." Gouaches Lippen zuckten, während er ein Lächeln unter­ drückte, und die vollen Wangen der Fürstin wurden roth

vor Aerger. „Fürs Erste", sagte sie, ihm ziemlich kalt die Hand reichend, „wollen wir nicht davon sprechen. Bitte, lasten Sie uns bald von Ihrer völligen Genesung hören, Herr

Gouache." Als der Künstler sich verabschiedete, sah er Donna Fanstina noch einmal an. Zhr Gesicht war blaß und ihre Augen blitzten zornig. Auch sie hatte Flavias Bühnen­ geflüster gehört und war noch ärgerlicher darüber als ihre Mutter. Gouache ging mit dem Wundarzt in seine Wohnung und sann über die unersorschlichen Geheimnisse des römi­ schen Familienlebens nach, in welches ihm ein Einblick vergönnt worden war. Er hatte Schmerzen, vom Kopf herab bis zur Schulter, bestand aber darauf, daß der Gang ihm wohlthun würde, und lehnte die Droschke ab, mit der der Arzt gekommen war. Ein zerbrochenes Schlüssel­ bein ist nichts Gefährliches, allein es kann eine Weile recht unangenehm sein, und der Künstler war froh, in seine Wohnung zurückzukehren und sich auf einem bequemen Lehn­ stuhl niederzulassen, mit etwas kräftigerer Nahrung vor sich als der Fürstin Montevarchi Aufguß von Kamillen und Malwen.

44 Drittes Kapitel. Während Giovanni im Palast Montevarchi und Co­ rona mit ihrer Schneiderin beschäftigt war, schlummerte der Fürst Saracinesca über dem Osservatore Romano in seinem Studirzimmer. Eigentlich war die Zeitung minder langweilig als gewöhnlich, denn in ihren Spalten war Krieg und Kriegsgeschrei. Garibaldi hatte eine Schaar von Freiwilligen zusammengebracht und befand sich in der Umgegend von Arezzo; er fing Scharmützel mit den Vor­ posten der päpstlichen Armee an der Grenze an. Der alte Herr wußte natürlich nicht, daß die italienische Regierung gerade an jenem Tage ihre Proclamation gegen den großen Agitator erließ, und hätte er es auch gewußt, so würde es vielleicht keinen großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Garibaldi war eine Thatsache, und Saracinesca glaubte nicht, daß irgend eine Proclamation seinen Marsch auf­ halten würde, wenn nicht eine wirksamere Macht dahinter stände. Selbst wenn er gewußt hätte, daß der Guerilla­ führer in Sinalunga festgenommen und cingesperrt worden, sobald die Proclamation bekannt gemacht worden war, würde der Fürst vorausgesehcn haben, daß sein Entkommen nur eine Frage von wenigen Tagen sein konnte, denn cs waren mannigfache Beweise dafür vorhanden, daß zwischen Ratazzi und Garibaldi ein ähnliches Einverständniß be­ stände, wie 1860 zwischen Garibaldi und Cavour "während seines Vorgehens auf Neapel. Die italienische Regierung hielt Truppen bereit, um aus den etwaigen Erfolgen von Garibaldis Freiwilligen Vortheil zu ziehen und zu gleicher Zeit die republikanischen Bestrebungen der letzteren zu unterdrücken, welche bei jedem neuen Vorrücken frisch hervortraten und wie durch Zauber unter dem niederschla-

45 genden Einfluß eines nothgedrungenen Rückzuges wieder verschwanden. Der Fürst kannte all diese Geschichten und hatte so oft darüber nachgedacht, daß sie ihm jetzt nicht mehr inter­ essant genug waren um ihn wach zu erhalten. Die warme Septembersonne strömte ins Gemach und fiel auf die Zei­ tung, welche leise vom Schooße des alten Herrn hinabglitt, während ihm der Kopf immer tiefer auf die Brust sank. Die alte Emailuhr auf dem Kamin tickte immer lauter, wie Uhren zu thun scheinen, wenn die Lente einschlafen und fie sich selbst überlaffen bleiben, und ein paar verspä­ tete Fliegen spielten im Sonnenschein. Die Stille wurde durch das Eintreten eines Dieners unterbrochen, der sich gleich wieder zurückgezogen haben würde als er sah, daß sein Herr schlummerte, hätte dieser sich nicht gerührt und den Kopf erhoben, ehe der Diener Zeit gehabt hatte, fortzugehen. Darauf trat er mit einer Entschuldigung vor und überreichte eine Visitenkarte. Der Fürst starrte sie an, rieb sich die Augen und starrte sie wieder an und legte sie dann neben sich auf den Tisch; sein Blick ruhte dabei noch immer auf dem Namen, der ihn so sehr zu überraschen schien. Dann hieß er den Diener den Herrn hereinführen und gleich darauf trat ein un­ gewöhnlich großer Mann mit dem Hut in der Hand ins Zimmer und ging langsam auf ihn zu mit der Miene eines Gastes, der das volle Recht hat zu erschei­ nen und nur dem Hausherrn Zeit lassen will ihn zu er­

kennen. Der Fürst erinnerte sich des Ankömmlings sehr gut. Der fest zugeknöpfte Ueberrock zeigte die imposante Gestalt des Mannes vorheilhafter als der Anzug, in welchem Saracinesca ihn zuletzt gesehen hatte, aber über die Persönlich-

46 Es war dasselbe magere

feit konnte kein Zweifel sein.

aber massive Gesicht mit den hohen Backenknochen und den

vorstehenden Kinnbacken, dieselben durchdringenden schwar­ zen nahe bei einanderstehenden Augen unter dunkeln Augen­

brauen, die mitten auf der Stirn zusammenliefen, biefelben schmalen

harten Lippen und die stark markirte Nase, die

an den Naslöchern breit ansetzte, obwohl sie scharf und spitz war.

Wäre der Fürst noch im mindesten über die Zden-

tität seines Besuches im Zweifel gewesen, so wäre dieser

durch

die ungewöhnliche Größe des Mannes

und

durch

seine ungeheuer breiten Schultern gehoben, welche es ihm

wirklich schwer machen mußten sich zu verkleiden, falls er

es

jemals wünschte.

Allein Saraeinesca hatte nicht den

geringsten Zweifel, wie groß auch seine Ueberraschung war.

Das einzig Neue an der Erscheinung vor ihm war das Auftreten, der Anstand und der Anzug eines seinen Herrn.

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Fürst."

Die Worte

wurden mit tiefer klangvoller Stimme und mit unverkenn­ bar südlichem Accent gesprochen. „Keineswegs.

in Rom zu sehen.

Ich

gestehe, es überrascht mich, Sie

Kann ich etwas für Sie thun?

Ich

werde Ihnen stets dankbar dafür sein, daß Sie am Leben

waren und die Falschheit der Anklage gegen meinen Sohn

bezeugen konnten.

Bitte, setzen Sie sich!

Wie geht es Ihrer

Gemahlin und den Kindern? Hoffentlich gut?" „Meine Frau ist gestorben", versetzte der andere und der ernste Ton seiner Baßstimme gab den einfachen Worten etwas Feierliches.

„Das thut mir aufrichtig leid —" fing der Fürst an, aber sein Gast fiel ihm ins Wort. „Die Kinder sind wohl.

in Aquila.

Ich bin

Fürs Erste

hergekommen,

sind sie noch

um mich in Rom

47 niederzulassen, und mein erster Besuch ist natürlich bei Ihnen, da ich den Vorzug habe, Ihr Vetter zu sein. „Natürlich," rief der Fürst, obschon er sehr erstaunt aussah. „Glauben Sie nicht, daß ich mich Zhnen als armer Verwandter anheften will," fuhr der Andre mit mattem Lächeln fort. „Seit wir uns zuletzt sahen, ist das Glück mir günstig gewesen, als Entschädigung für den Verlust, welchen ich durch den Tod meiner armen Frau erlitten habe. Ich habe ein hinlängliches Auskommen und stehe ganz unabhängig da." „Ich dachte niemals —" „Sie hätten natürlich denken können, ich käme um Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, das ist aber nicht der Fall. AIs wir von einander Abschied nahmen, war ich Gastwirth in Aquila. Ich habe keinen Grund, mich meines frühern Berufes zu schämen. Ich will Sie nur wissen lassen, daß es damit vorbei ist, und daß ich wünsche, die Stellung wieder einzunehmen, welche mein Großvater so thörichter Weise aufgab. Da Sie zur Zeit das Haupt der Familie sind, hielt ich es für meine Pflicht, Sie sofort davon zu unterrichten." „Ja, gewiß. Ich dachte mir das schon nach Ihrer Karte. Sie sind im vollen Recht und ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, allen diese Thatsache mitzutheilen. Sie sind der Marchese di San Giacinto, und das Gasthaus in Aquila eristirt nicht mehr." „Da diese Sachen ein für alle Mal abgethan werden müffen, habe ich meine Papiere mit nach Rom gebracht", antwortete der Marchese. „Sie stehen Ihnen zur Ver­ fügung, denn Sie haben sicherlich das Recht, sie anzu­ sehen, wenn Sie es wünschen. Ich will Sie an die That-



48



fachen unserer Geschichte erinnern, falls Sie dieselben ver­ gessen haben." „Ich erinnere mich der Geschichte ganz genau", sagte Saracinesca. „Unsere Großväter waren Brüder. Der Ihrige ging nach Neapel. Dort wuchs sein Sohn auf und kämpfte mit den Franzosen gegen den König. Ihr Vater starb jung und Sie sind sein einziger Sohn. Sie heiratheten die Signora Felice." „Baldi", ergänzte der Marchese, zu allem Uebrigen beistimmend nickend. „Die Signora Felice Baldi, von der Sie zwei Kinder

haben." „Söhne." „Zwei Söhne, und die Frau Marchese ist, wie ich zu meinem Leidwesen höre, gestorben. Ist das alles richtig?" „Vollkommen. Nur einen Umstand unsre Urgroßväter betreffend haben Sie nicht erwähnt, obschon Sie sich des­ selben sicherlich erinnern." „Was denn?" fragte der Fürst und heftete seine schar­ fen Augen auf das Gesicht des Sprechers. „Nur dies", erwiederte San Giacinto ruhig. „Mein Urgroßvater war zwei Jahre älter als der Ihrige. Sie wissen, er beabsichtigte, sich niemals zu verheirathen und trat den Titel seinem jüngeren Bruder ab, der bereits Kinder hatte. In späteren Alter nahm er eine Frau, und der ihm geborene Sohn war mein Großvater. — Daher kommt es, daß Sie so viel älter sind als ich, obwohl wir der Abstammung nach zu derselben Generation gehören." „Jawohl", sagte der Fürst zustimmend. „Das erklärt die Sache. Wollen Sie eine Cigarre nehmen?" Giovanni Saracinesca, Marchese di San Giacinto, sah seinen Vetter eigenthümlich an, während er die dargebotene

49 Cigarre annahm. In dieser Erwiderung lag etwas Abrup­ tes, was seine Aufmerksamkeit erregte und seinen Argwohn erweckte. Er fragte sich, ob jener einstmalige Austausch der Titel und die daraus folgende Veränderung der Stellung für den Fürsten ein unliebsamer Gegenstand des Gespräches wäre. Allein als ob Letzterer so einen Zweifel in der Seele des Andern geahnt hätte, kam er sofort mit der ihm eignen Kühnheit auf die Frage zurück. „Es war eine freundschaftliche Vereinbarung", sagte er, indem er ein Zündholz anstrich und es dem Marchese reichte. „Ich besitze alle betreffenden Dokumente und habe sie mit Interesse studirt. Vielleicht interessirt es Sie, sie sich auch einmal anzusehen." „Ich möchte Sie sehr gern sehen", antwortete San Giacinto. „Sie müssen höchst merkwürdig sein. Wie ge­ sagt, ich will mich in Rom niederlassen. Es kommt mir sonderbar vor, den Herrn zu spielen. — Ihnen muß es mehr wie seltsam vorkommen." „Es wäre richtiger zu sagen, daß Sie den Gastwirth gespielt haben," bemerkte der Fürst verbindlich. „Niemand würde es vermuthen", sagte er mit einem Blick auf den tadellosen Anzug seines Gastes. „Ich kann mich leicht den Verhältnissen anpassen", sagte der Marchese ruhig. „Ueberdies habe ich immer danach getrachtet, meine Stellung in der Welt wieder einzunehmen. Ich habe mir etwas Bildung erworben, — nicht viel, werden Sie sagen, aber wie die Zeiten sind, ausreichend; und was die Manieren betrifft, so sind sie für Jeden die­ selben, ob Gastwirth oder Fürst. Man nimmt den Hut ab, man spricht ruhig, man sagt, was gern gehört wird, — ist das nicht genug?" „Ganz genug", versetzte der Fürst. Er fühlte sich (Lrawfcrd, Lanr' Ilario.

I.

4

50 versucht, über seines Vetters Definition von guten Manieren zu lächeln, obschon er einsah, daß der Mann durchaus im Stande war, seine Stellung zu behaupten. „Ganz genug, und was die Kenntnisse anbetrifft, so fürchte ich, die meisten von uns haben ihr Latein vergessen. Darüber brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Aber sagen Sie mir, wie kommt es, daß Sie, im Süden ausgewachsen, sich lieber in Rom als in Neapel niederlaffen wollen? Es heißt doch, daß die Neapolitaner uns nicht leiden können." „Ich bin der Abstammung nach ein Römer und wünsche auch thatsächlich Römer zu werden", versetzte der Marchese. „Ueberdies", setzte er in besonders ernstem Tone hinzu, „gefällt mir die neue Ordnung der Dinge nicht. Ich habe in der That mir eine Gunst von Ihnen zu erbitten und zwar eine große." „Alles, was in meiner Macht steht —" „Mich dem heiligen Vater vorzustellen als Einen, der sein treuer Unterthan zu werden wünscht. Könnten Sie das wohl ohne zu große Mühe thun?" „O ich will's mit Freuden! Magari!" antwortete der Fürst herzlich. „Die Wahrheit zu gestehen: ich fürchtete, Sie wollten Ihre italienischen Ansichten beibehalten, und das würde in Rom, namentlich in diesen stürmischen Zeiten, gegen Sie sprechen. Aber wenn Sie sich uns mit Herz und Seele anschließen wollen, werden Sie mit offenen Ar­ men empfangen werden. Es wird mir ein großes Ver­ gnügen sein, Sie mit meinem Sohn und seiner Frau be­ kannt zu machen. Kommen Sie heute Abend zu Tisch zu uns." „Ich danke Ihnen," sagte der Marchese, „ich werde nicht ermangeln." Nachdem Sie noch ein Weilchen mit einander ge-

51 sprachen hatten, empfahl sich der Marchese und der Fürst konnte nicht umhin, das Benehmen dieses Mannes zu be­ wundern, der unter Bauern und höchstens kleinen Pächtern in einer entlegnen Provinz ausgewachsen war, und sofort den Ton völliger Gleichberechtigung annahm, obschon er in sein Auftreten gerade soviel Ehrerbietung legte, wie ein jüngeres Mitglied der Familie sie dem Haupte eines großen Hauses schuldig war. Als er fort war, klingelte Sara-

cinesca. „Pasquale," sagte er zu dem alten Butler, der darauf hereingekommen war, „der Herr, welcher eben fortging, ist mein Vetter, Don Giovanni Saracinesca, genannt Mar­ chese di San Giacinto. Er wird heute Abend bei uns speisen. Du wirst ihn Excellenz nennen und wie ein Mit­ glied der Familie behandeln. Jetzt gehe zur Fürstin und frage, ob sie mich empfangen will." Pasquale sperrte seine geistigen Augen weit auf, wäh­ rend er sich verneigte und dann das Zimmer verließ. Er hatte nie etwas von diesem jünger» Saracinesca gehört, und die Erscheinung eines neuen Familienmitgliedes auf der Bildfläche, welches seinem Aussehen nach schon dreißig bis vierzig Jahre auf der Welt sein mußte, kam ihm höchst wunderbar vor. Denn der alte Mann war von Kindheit auf im fürstlichen Hause aufgewachsen und glaubte, alle Geheimnisse der Familie Saracinesca zu kennen. Er war allerdings kaum minder erstaunt als sein Herr; denn wenn dieser auch schon seit einiger Zeit wußte, daß Giovanni Saracinesca existirte und sein Better war, so hatte er doch nie erwartet, daß er nach Rom kommen und noch weniger, daß der Gastwirth je den Titel anneh­ men würde, auf welchen er ein Recht hatte, und den Hcrm spielen, wie er sich selbst ausdrückte. Es war eine eigen* 4*

52 thümliche Mischung von Kühnheit und Umsicht in der Art wie der alte Fürst seinen neuen Verwandten ausgenommen hatte. Er wußte, wie fest seine Stellung in der Gesell­ schaft war, und daß die Einführung eines solchen Vetters ihm unmöglich schaden konnte. Im schlimmsten Falle mochten die Andern unter sich lachen und sagen, der Mar­ chese müsse für die Saracinescas eine Last sein. Anderer­ seits war der Fürst von Anfang an von dem sichern Auf­ treten des San Giacinto betroffen und sah voraus, daß der Mensch wahrscheinlich im römischen Leben eine Rolle spielen werde. Er war ein Mann, der vielleicht mißfallen, den aber Keiner verachten konnte, und da seine Ansprüche auf Beachtung zweifellos ächt waren, schien es klüger, ihn von Anfang an als ein Mitglied der Familie aufzunehmen und ihn unbedenklich wie ein solches zu behandeln. Er verlangte ja eigentlich nichts als das, worauf er von dem Augenblicke an ein unbestreitbares Recht hatte, als er seine Absicht kundgegeben hatte, die ihm gebührende Stellung in der Welt einnehmen zu wollen, und es war entschieden klüger, ihn gleich zuerst herzlich zu empfangen, als die Verwandtschaft nicht gern anzuerkennen, weil er in einer andern Sphäre aufgewachsen war. Das war der Hauptsache nach, was der Fürst Saracinesca einige Minuten später seiner Schwiegertochter mittheilte. Sie hörte ihn ruhig an und that nur dann und wann eine Frage, um das Vorgefallne bester zu verstehen. Sie war begierig, den Mann zu sehen, dessen Namen durch die Ränke von Del Ferice und Donna Tullia Mayer mit dem ihres Gatten verwechselt worden war, und gestand offen ihre Neugierde und ihre Freude bei der Aussicht, San Giacinto am Abend kennen zu lernen. Während sie noch mit dem Fürsten sprach, kam Giovanni uner-

53 wartet von seinem Spaziergang zurück. Er war nach Hause gegangen, sobald er den Militärarzt zu Gouache ge­ schickt hatte. „Nun, Giovanni!" rief der alte Herr. „Der verlorne Sohn, in Gestalt eines Gastwirths, ist in den Schooß seiner Familie zurückgekehrt."

„Was für ein Gastwirth?" „Dein werther Namensvetter, Giovanni Saracinesca, früher in Aquila." „Will Madame Mayer vielleicht beweisen, daß er Co­ rona geheirathet hat?" fragte Sant'Ilario lachend. „Nein, obschon ich glaube, daß er ein Heirathscandidat ist. In meinem Leben ist mir solche Ueberraschung noch nicht vorgekommen. Seine Frau ist gestorben. Er ist reich, oder behauptet wenigstens es zu sein. Auf seiner Karte steht sein voller Name: .Giovanni Saracinesca, Marchese di San Giacinto', ganz correct. Er trägt einen vortrefflichen Rock und giebt die Absicht kund, dem Papste vorgestellt und in die römische Gesellschaft eingeführt zu werden." Sant' Ilario starrte seinen Vater ungläubig an; dann blickte er forschend auf seine Frau, als wollte er fragen, ob nicht alles Scherz sei. Als sie ihm versicherten, die Thatsachen wären wahr, wurde er ernst und streichelte langsam seinen schwarzen Spitzbart, eine bei ihm sehr un­ gewöhnliche Bewegung, die immer auf tiefes Nachdenken deutete. „Dabei ist nichts zu machen, als ihn in die Familie aufzunehmen," sagte er endlich. „Nur glaube ich nicht recht an seine guten Absichten. Wir werden sehen. Ich freue mich auf seine Bekanntschaft." „Er kommt zu Tisch."

54 Die Unterhaltung wurde noch eine Weile fortgesetzt und die Ankunft von San Giacinto von allen Seiten be­ sprochen. Corona faßte die Frage ganz praktisch auf und sagte, es wäre entschieden am besten, ihn gut zu behandeln, wodurch sie ihrem Schwiegervater einen Stein vom Herzen nahm. Er hatte nämlich gefürchtet, sie würde die Aufnahme eines Mannes übelnehmen, von dem man billigerweise er­ warten konnte, daß ihm aus seinen früheren Verhältnissen eine gewisse Rohheit der Manieren verblieben sei, und er wußte, daß ihre Zustimmung in solchem Falle vor allem wichtig wäre, denn sie war ja thatsächlich die Herrin des Hauses. Allein Corona sah die Sache ziemlich in dem­ selben Lichte an, wie der alte Herr; sie war durchdrungen davon, daß nichts dergleichen die hohe Stellung der Fa­ milie ihres Mannes schädigen könnte, und überzeugt, daß Niemand, der gutes Blut in seinen Adern hat, sich jemals empörend benehmen könne. Von den dreien war Sant' Ilario am schweigsamsten und nachdenklichsten, denn er fürchtete von der Ankunft des neuen Verwandten gewisse Folgen, die den Andern gar nicht in den Sinn kamen, und beschloß deshalb vorsichtig zu sein, wenn er auch an­ scheinend San Giacinto mit gebührender Herzlichkeit empfing. Später am Tage war er einige Minuten mit seinem Vater allein. „Gefüllt Dir dieser Mensch?" fragte er plötzlich. „Nein", versetzte der Fürst. „Mir auch nicht, obschon ich ihn noch nicht gesehen habe." „Wir werden sehen", war die Antwort des alten Herrn. Der Abend kam, und zur bestimmten Stunde erschien San Giacinto. Corona sowohl als ihr Mann waren von seiner imposanten Erscheinung eben so sehr überrascht wie durch seine Würde und ruhige Sicherheit. Der südliche

55 Accent war bei ihm nicht auffallender als bei vielen Herren

aus Neapel und seine Unterhaltung war, wenn auch nicht sehr glänzend noch besonders gewandt, doch nicht uninter­

Er sprach über die wirthschastlichen Zustände des

essant.

jungen Italien, und der alte Saracinesca und sein Sohn

nahmen Interesse an diesem Gegenstände.

Auch bemerkten

sie, daß ihm bei Tisch kein Wort entschlüpfte, was auf seine frühere Stellung und Beschäftigung hindeuten konnte, ob­

wohl er später, als die Diener fort waren, mehr als ein

Mal mit freimüthigem Lächeln ans seine Erfahrungen als Gastwirth anspielte. zurückhaltend,

Im Ganzen erschien er bescheiden und sicher und seines Rechtes

doch vollkommen

bewußt, an dieser Stelle zu sein. Solch

ein Benehmen bei einem solchen Mann kam

der Familie Saracinesca nicht so auffallend vor, wie es

Ausländern erscheinen würde. daß

San Giacinto hatte gesagt,

er eine sich leicht anpaffende Natur habe, und diese

Fähigkeit,

sich den Verhältnissen anzupassen, ist einer der

bemerkenswcrthesten Züge bei den Italienern.

nöthig,

Es ist nicht

die Ursachen dieser Eigenthümlichkeit zu erörtern.

Sie würden den meisten Ausländern, welche durchaus kein

richtiges Verständniß für die Italiener haben, unbegreiflich sein.

Ich stehe nicht an, zu behaupten,

länder

ohne Ausnahme,

daß jeder Aus­

sei er Dichter oder Prosaschrift­

steller, der über dieses Volk geschrieben, es mehr oder min­ der mißverstanden hat.

Das ist eine kühne Beharrptung,

wenn man bedenkt, daß wenige der größten Geister unsers

Jahrhunderts nicht gelegentlich ihre verschiedenen Ansichten über das italienische Volk zu Papier gebracht haben.

Das

Haupterforderniß aber um ein Volk richtig zu beschreiben, ist nicht Genie, sondern Kenntniß des betreffenden Gegen­

standes.

Der Dichter sieht gewöhnlich sich selbst in andern,



56



und der moderne Schriftsteller, der über Italien schreibt, wähnt leicht, daß er andere in sich sehen kann. Das Spie­ gelbild eines Italieners auf der geistigen Netzhaut eines Ausländers ist eben so täuschend, wie sein eigenes Bild auf der polirten Oberfläche eines concaven Spiegels; und wenn der Gegenstand nicht aus ihrer eignen Race genom­ men ist, sehen die Charakterstudien mancher großen Männer ganz verzweifelt dem ähnlich, was man erblickt, wenn man sich im Innern eines silbernen Löffels besieht. Um die Italiener recht zu verstehen, muß man unter ihnen geboren und erzogen sein; und selbst dann kann noch das härtere, kräftigere Gefühl, welches dem nordischen Blute eigen ist, den Forscher irre leiten. Der Italiener ist ein höchst ein­ faches Geschöpf und sehr geneigt, wie der Bogel Strauß zu glauben, daß sein Körper verborgen ist, wenn er nur den Kopf versteckt. Ausländer sind empört über das ita­ lienische Lügen; das beweist aber eben nur, wie durchsichtig die Täuschung ist. Es ist freilich eine seltsame, doch oft zu beobachtende Thatsache, daß zwei Italiener, welche syste­

matisch lügen, häufig zu ihrem Schaden einander mit einer kindlichen Arglosigkeit Glauben schenken, wie sie kaum jen­ seit der Alpen anzutreffen sein dürfte. Dies scheint mir zu beweisen, daß ihre Unredlichkeit ihre träge Intelligenz überholt hat; und in der That täuschen sie sich fast eben so oft, als es ihnen gelingt, ihren Nächsten zu hintergehen. In einem Lande, wo eine Lüge leicht Glauben findet, wird das Lügen nicht zu einer großen Kunst ausgebildet. Ich habe mich oft darüber gewundert, wie es Leuten wie Cesare Borgia gelingen konnte, ihre Feinde in einer Schlinge zu fangen, welche ein moderner Nordländer von Anfang an durchschaut und als bloßes Kinderspiel verlacht haben würde. Die Italiener haben ein außerordentliches Geschick

57 dazu, sich und ihre Lebensweise den obwaltenden Umstän­ den anzupassen, wenn sie sich dadurch eine Mühe ersparen können. Ihre Constitution paßt zu diesem Zweck, denn sie sind in den meisten Dingen mäßig und nehmen nicht leicht Gewohnheiten an, die sie nicht nach Belieben ändern können. Der Wunsch, sich Unruhe zu ersparen, macht sie zum höf­ lichsten aller Völker; und sie sind höchst zuvorkommepd gegen Fremde, wenn sie, indem sie einen Gefallen erwei­ sen, eine Bekanntschaft machen und ein Stündchen in an­ genehmer Unterhaltung verbringen können. Sie sind eben so erstaunt, wenn ein Fremder sie beargwöhnt, daß sie ihm durch ihre Zuvorkommenheit Geld ablocken wollen, als wenn er darüber entrüstet ist, daß ihm Geld abgeschwin­ delt worden. Der Bettler auf der Straße heult wie ein Beseffener, wenn man ihm ein Almosen verweigert, wenn man ihm aber fünf Centimes giebt, sagt er zum nächsten Bettler, man sei ein Dummkopf. Der Dienstbote sagt in seinem Herzen, sein ausländischer Herr sei ein Narr, und vergießt doch Thränen der Wuth und Kränkung, wenn seine seichten Anschläge zu kleinen Betrügereien entdeckt werden. Und dennoch sind sie alle, der Diener, der Bettler, der Verkäufer manchmal in wahrhaft menschenfreundlicher Weise gefällig und immer bereit, sich angenehm zu machen. Der Marchese di San Giacinto unterschied sich von seinen Verwandten, den Fürsten von Saracinesca, dadurch, daß er ein Vollblutitaliener und nicht das Ergebniß einer kosmopolitischen Nacevermischung war, wie so viele römische Adelige. Er hatte nicht die römischen Traditionen, dafür ccher andererseits seinen vollen Antheil nationaler Eigen­ thümlichkeiten, verbunden mit einigen individuellen, welche ihn in Bezug auf Verstand und Kraft über die allgemeine Menge erhoben. Er war ein bemerkenswerther Mann und

58 das um so mehr, als seine Landsleute neben vielen ange­ nehmen Eigenschaften selten die körperliche und geistige Verbindung von Größe, Thatkraft und Selbstbeherrschung besitzen, welche imponirt und Achtung gebietet. Es ist leicht gesagt, was in seiner Seele und in der Seele seiner Wirthe vorging, während er an jenem Abend gleich nach seiner ersten Vorstellung bei der Fa­ milie Saracinesca nach Tische mit ihnen im Gespräch zu­ sammen saß. Sant' Ilario, der in den meisten Dingen klarer sah als sein Vater oder seine Frau, sagte sich, daß ihm der Mensch nicht gefiele; daß er ihm mißtraute und glaubte, er wäre mit irgend einer versteckten Absicht nach Rom ge­ kommen; es würde klug sein, ein Auge auf ihn zu haben und alle seine Schritte zu beobachten; er wäre aber unleug­ bar ein Verwandter, der das volle Recht hätte, berücksich­ tigt und mit einer gewißen Vertraulichkeit behandelt zu werden; schließlich wäre er, alles in allem genommen, eine Unbequemlichkeit, die mit guter Miene und einem gewissen Grade scheinbarer Herzlichkeit ertragen werden müßte. San Giacinto war seinerseits eifrig bestrebt, ganz ge­ nau das Benehmen zu beobachten, welches er für die Ge­ legenheit angemessen hielt, und mit seinen Ansichten über seine Verwandten noch nicht recht im Klaren. Es war seine Absicht, in ihrem Kreise eine Stelle einzunehmen, und er that sein Bestes, um diesen Zweck so schnell und ruhig wie möglich zu erreichen. Er hatte nicht geglaubt, daß Fürsten und Fürstinnen von andern Menschen irgend­ wie verschieden wären außer durch die Zufälligkeit der Ge­ burt und der gesellschaftlichen Stellung. Wenn er diese beiden Erfordernisse besäße, so war kein Grund vorhanden, weshalb er sich bei den Saracinescas nicht eben so gut zu

59 sollte wie in der Gesellschaft des Bürger­

Hause fühlen

meisters und der Stadträthe von Aquila, welche diese Eigen­

schaft ebenfalls, wenn auch in geringerem Grade, besaßen. Die Saracinescas dachten über die meisten Fragen wahr­

scheinlich eben so wie er oder wenn in ihrer Denkungsart ein Unterschied wäre, so läge das eher an römischen Vor­ urtheilen und Traditionen als an irgend einer dem Orga­

nismus der römischen Aristokratie angebornen Eigenthüm­

lichkeit.

Wenn er sich in Folge seiner Unkenntniß gesell­

schaftlicher Formen je in Verlegenheit befinden sollte, so

würde er nicht anstehen, den Fürsten um Auskunft zu bitten; denn es war ja keineswegs seine Schuld, daß er als Gast­

wirth erzogen, jetzt aber ein Edelmann war. Sein näch­ stes Ziel war, unter seines Gleichen Fuß zu fassen und demnächst

sich in seinem neuen Range wieder zu verhei-

rathen und zwar mit einer vornehmen und reichen Dame. Hierüber wollte er zu sprechen,

wenn

gelegener Zeit mit dem Fürsten

er als erstes Erforderniß zu dieser neuen

Verbindung sich erst seine Stellung in der Gesellschaft ge­

sichert hätte.

Er wollte sich absichtlich an den Fürsten als

an das Haupt der Familie wenden und dadurch eine Ehr­

furcht vor dieser Würde bezeigen,

welche nach seiner An­

sicht dem alten Herrn wohlgefällig sein mußte;

hatte bei

seiner Berechnung nicht

den Stolz

aber

er

des alten

Saracinesca auf sein Geschlecht vergessen, der ihn wahr­

scheinlich bewegen würde,

sich große Mühe zu geben, um

für San Giacinto eine geeignete Gattin zu finden

und

ja nicht zuzulassen, daß dieser eine unpassende Verbindung

einginge.

San Giacinto

verließ

unter dem Vorwande,

er wollte

daß

den Palast

um

halb

zehn

er noch etwas vorhätte, denn

seinen Verwandten nicht gleich das erste Mal

60

seine Gesellschaft allzu lange zumuthen. Als er fort war, sahen die drei sich eine Weile schweigend an. „Er hat merkwürdig gute Manieren für einen Gast­ wirth", sagte Corona endlich. „Kein Mensch wird jemals seine früheren Verhältnisse vermuthen. Aber er gefällt mir nicht." „Mir auch nicht", sagte der Fürst. „Er will etwas haben", sagte Sant' Ilario. „Und er wird es wahrscheinlich bekommen", setzte er nach kurzer Pause hinzu. „Auf seinem'Gesicht liegt Entschlossenheit."

Viertes Kapitel. Anastasius Gouache erholte sich zwar rasch von seinen Verletzungen, doch nicht so schnell, wie er wünschte. Es lag etwas in der Luft, und viele seiner Kameraden waren schon nach der Grenze gegangen, wo die Plänkeleien mit Garibaldis Guerillaschaaren nun alles Ernstes begonnen hatten. Zu solch einer Zeit an die Stadt gefesselt zu sein, war für den tapfern jungen Franzosen unbeschreiblich quä­ lend; denn in ihm steckte ächte Kampfeslust, und er sehnte sich nach dem Gefühl der Gefahr und nach dem ersten pfeifenden Kugelregen. Aber seine Unthätigkeit war un­ vermeidlich, und er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen und konnte nur hoffen, daß noch nicht alles vor­ über sein würde, ehe er wohl genug wäre, um auszumarschiren und mit seinen Kameraden am Kampfe theilzunehmen. Die Lage war allerdings bedenklich. Der erste Artikel des berühmten, zwischen Frankreich und Italien im Septem­ ber 1864 abgeschlossenen Vertrages lautete folgendermaßen:

60

seine Gesellschaft allzu lange zumuthen. Als er fort war, sahen die drei sich eine Weile schweigend an. „Er hat merkwürdig gute Manieren für einen Gast­ wirth", sagte Corona endlich. „Kein Mensch wird jemals seine früheren Verhältnisse vermuthen. Aber er gefällt mir nicht." „Mir auch nicht", sagte der Fürst. „Er will etwas haben", sagte Sant' Ilario. „Und er wird es wahrscheinlich bekommen", setzte er nach kurzer Pause hinzu. „Auf seinem'Gesicht liegt Entschlossenheit."

Viertes Kapitel. Anastasius Gouache erholte sich zwar rasch von seinen Verletzungen, doch nicht so schnell, wie er wünschte. Es lag etwas in der Luft, und viele seiner Kameraden waren schon nach der Grenze gegangen, wo die Plänkeleien mit Garibaldis Guerillaschaaren nun alles Ernstes begonnen hatten. Zu solch einer Zeit an die Stadt gefesselt zu sein, war für den tapfern jungen Franzosen unbeschreiblich quä­ lend; denn in ihm steckte ächte Kampfeslust, und er sehnte sich nach dem Gefühl der Gefahr und nach dem ersten pfeifenden Kugelregen. Aber seine Unthätigkeit war un­ vermeidlich, und er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen und konnte nur hoffen, daß noch nicht alles vor­ über sein würde, ehe er wohl genug wäre, um auszumarschiren und mit seinen Kameraden am Kampfe theilzunehmen. Die Lage war allerdings bedenklich. Der erste Artikel des berühmten, zwischen Frankreich und Italien im Septem­ ber 1864 abgeschlossenen Vertrages lautete folgendermaßen:

61 „Italien verpflichtet sich, den Kirchenstaat nicht anzu­ greifen und selbst mit Waffengewalt alle von außen gegen das Gebiet des H. Vaters gerichteten Angriffe zurückzu­ schlagen." Da Frankreich sich auf die Beobachtung dieser Haupt­ bedingung verließ, hatte es gewiffenhaft die im zweiten Artikel enthaltene Bedingung erfüllt, welche verlangte, daß alle französischen Truppen aus dem Kirchenstaat zurückberusen werden sollten. Italiens Versprechen, einen bewaff­ neten Einfall zu verhindern, bezog sich auf Garibaldi und seine Freischaaren. Demgemäß erließ die italienische Re­ gierung am 24. September 1867 eine Proclamation gegen die Bande und ihr Vordringen und nahm Garibaldi zu Sinalunga unweit Arezzo gefangen. Dieses war das ein­ zige Einschreiten seitens der Regierung, und man darf glauben, daß die italienische Regierung bestimmt erwar­ tete, die Freischaaren würden sich auflösen, sobald sie ohne Führer daständen; und wenn geeignete Maßregeln getroffen worden wären, um den General in seinem Gewahrsam zu halten, so wäre das aller Wahrscheinlichkeit nach auch sehr bald geschehen, da seine Söhne, die man auf freiem Fuße gelassen hatte, durchaus nicht die Befähigung ihres Vaters zur Führerschaft besaßen. Allein achtzehn Tage später entkam Garibaldi und stellte sich wieder an die Spitze seiner Schaar, welche unter­ dessen von den päpstlichen Truppen in mehreren kleineren Gefechten geschlagen worden war und über diese ein oder zwei ebenso unbedeutende Siege erfochten hatte. Sobald es bekannt wurde, daß Garibaldi wieder auf freiem Fuße wäre, begann eine gleichzeitige Bewegung: die zahlreichen Garibaldinischen Sendboten in Rom suchten einen Auf­ stand in der Stadt zu erregen, während Garibaldi selbst

62 einen kühnen Angriff wagte und Monte Rotondo einnahm, und eine andere Schaar zu gleicher Zeit Subiaco angriff, welches Garibaldi aus befremdlicher Unkenntniß der topo­ graphischen Verhältniffe des Gebirges für den südlichen Schlüssel der Campagna gehalten zu haben scheint. In Folge der Gegenvorstellungen des französischen Gesandten am italienischen Hofe und vielleicht auch in Folge des Herannahens eines großen französischen Truppenkörpers von der Seeseite her, erließ die italienische Regierung noch­ mals eine Proclamation gegen Garibaldi, der indessen in seiner festen Stellung zu Monte Rotondo verharrte. End­ lich am 30. October, dem Tage, an welchem die franzö­ sischen Truppen nach Rom zurückkehrten, verwendeten sich die Italiener anscheinend zu Gunsten des Papstes, indem der General Menabrea die italienischen Truppen ermäch­ tigte, den Kirchenstaat zu betreten, um die Ordnung auf­ recht zu erhalten. Sie machten indessen nur einen kurzen Einmarsch, und es wurden keine thätigen Maßregeln er­ griffen; allein am 3. und 4. November wurde Garibaldi von den päpstlichen Truppen geschlagen, und da seine Schaar zerstreut wurde, hatte die Sache damit ein Ende. Ohne die bewaffnete Dazwischenkunft Frankreichs wäre das Resultat dasjenige gewesen, welches im Jahre 1870 thatsächlich eintrat, als derselbe Vertrag noch gütig war, die Franzosen aber durch ihre eignen Niederlagen verhin­ dert waren, dem Papst Hilfstruppen zu schicken. Die Zeit ist noch nicht gekommen, um die Frage der Annexion des Kirchenstaates an das Königreich Italien zu erörtern. Es genügt, nachgewiesen zu haben, daß die Bewegung von 1867 ohne Verletzung des Buchstabens jenes Vertrages stattfand. Ueber den Geist, in welchem die italienische Regierung handelte, ließe sich viel sagen.

63 Es genügt indessen zu bemerken, daß die italienische Regierung damals eine parlamentarische war, wie sie es noch heute ist, und hinzuzufügen, daß eine parlamentarische Regierung sich zu Kriegszeiten von ihrer schwächsten Seite zeigt, während ihre besten Seiten in Friedenszeiten am meisten zur Geltung kommen. In dem damaligen ita­ lienischen Parlamente, wie in dem gegenwärtigen, herrschte ein Uebergewicht von Abgeordneten vor, welche Rom als die natürliche Hauptstadt Italiens ansahen, und welche eben so bereit waren, zur Erreichung dessen, was sie für einen gerechten Zweck hielten, Verträge mit Füßen zu treten, wie die meisten Parlamente es unter ähnlichen Verhält­ nissen überall gewesen sind. Diese Majorität wich in ihren Ansichten freilich weit von Garibaldi und Mazzini ab, glaubte aber ein Recht zu haben, aus den von diesen er­ regten Aufständen Vortheil zu ziehen, und hielt es für Pflicht gegen ihr Vaterland, den Strom des Aufruhrs in einen Kanal zu leiten, welcher zur Vergrößerung Italiens führen sollte, indem sie das stehende Heer Italiens dabei mitwirken ließ. Die Vertheidiger des Kirchenstaates standen nicht einer organisirten und disciplinirten Streitmacht gegenüber, son­ dern einer Herde brutaler Kerle und halbwüchsiger Jungen, welche in der Wonne zügelloser Freiheit schwelgten, die für den Pöbel aller Länder so viel Reiz hat; und alle ohne Ausnahme, die Zouaven, die einheimischen Soldaten und die Franzosen, waren durch das Benehmen ihrer Feinde auf das Aeußerste erbittert. Es wäre abgeschmackt, die

italienische Regierung für die scheußliche Entweihung von Kirchen, die Plünderungen und die entsetzlichen Ver­ brechen aller Art verantwortlich zu machen, welche das Vorrücken oder den Rückzug der Garibaldiner bezeichneten;

64 aber es ist eben so abgeschmackt, zu leugnen, daß eine Mehrzahl unter den Italienern diese Dinge als Mittel zu einem wünschenswerthen Zweck ansah, und ohne das Da­ zwischentreten der Franzosen ein paar Armeecorps in treff­ lichster Ordnung durch die Gaffe, welche ein Haufen gesetz­ loser Aufständischer erschlossen hatte, vor die Thore von Rom geführt haben würde. Anastasius Gouache war empört über seinen Zustand erzwungener Ruhe, während er nach seiner Genesung drei Wochen lang jeden Nachmittag den überfüllten Corso auf und ab ging; endlose Cigarretten rauchte und dem Schicksal fluchte, das ihn als Invaliden zu Hause festhielt, während seine Kameraden sich am Pulvergeruch und an den Aben­ teuern von Grenzscharmützeln ergötzten. Es war in der That ein Mißgeschick, dachte er, die Uniform beinahe zwei Jahre lang in guter Gesundheit getragen zu haben, und dann in dem Augenblicke invalide zu werden, wo das Fechten losging. Inmitten all seiner Widerwärtigkeiten hatte er indessen einen Trost, und den nützte er voll aus. Er war von Donna Faustinas braunen Augen bezaubert worden und aus Mangel an einem andern Interesse, auf das er seine Energie verwenden konnte, hatte er seine Zeit so gut angewendet, daß er jetzt in die junge Dame ernst­ lich verliebt war. Unter ihren vielen Reizen war einer, der einen wichtigen Einfluß auf den jungen Künstler aus­ übte, nämlich die Thatsache, daß sie nach menschlicher Be­ rechnung ganz außer seinem Bereich stand. Nichts hatte größern Reiz für Gouache, wie für viele begabte und ener­ gische junge Leute, als das, was nur mit äußerster An­ strengung errungen werden kann, wenn es überhaupt zu erringen ist. Franzosen sowohl wie Italiener sehen die Ehe so sehr in dem Lichte eines bloßen Vertrages an, der

65 von Notaren aufgesetzt und durch die Zustimmung der Eltern bestätigt werden muß, daß Liebe zu einem jungen Mädchen ihnen wie ein Stück aus einem Feenmärchen, bezaubernd und ganz entzückend, vorkommt. Für uns, die wir Liebe als eine nützliche, wenn nicht gar durchaus nothwendige Vorbedingung zur Ehe ansehen, ist dieser Ge­ sichtspunkt kaum verständlich; aber es genügt, einem Fran­ zosen zu erzählen, daß man seine Frau geheirathet hat, weil man sie liebt und nicht weil die Eltern und die Ver­ hältnisse die Partie zu Stande gebracht haben, um ihm die lautesten Ausrufe wahrer Ueberraschung und Bewunde­ rung zu entlocken, und ihn erklären zu hören, daß sein für ihn natürlich ganz unerreichbares Ideal von Glück fein würde, die Frau seiner Liebe zu heirathen. Die unmittelbare Folge eines Zustandes, in welchem diese Art von Glück in der Regel für unerreichbar gehalten wird, zeigt sich in den moralischen Eigenthümlichkeiten des französischen Romanes, des französischen Schauspiels und der französi­ schen Häuslichkeit, wie sie gewöhnlich in Büchern und auf der Bühne dargestellt wird. Der Zonavenkünstler war von entschloffcner Natur. Nicht umsonst hatte er den Preis gewonnen, der ihn nach Rom auf die Akademie brachte, auch nicht aus rein roman­ tischer Muße hatte er die mattherzigen Verschwörungen von Madame Mayer und Genossen aufgegeben, nm die Uniform anzuzichen. Er hatte feste Ueberzeugungen, ob­ schon nicht in belästigender Menge. Jede neue, welche ihn ergriff, bezeichnete einen Abschnitt in seinem jungen Leben und erwies sich gewöhnlich in eben dem Maße hartnäckig, als er sie früher für abgeschmackt gehalten hatte, und es war ein Beweis für sein gesundes geistiges Gleichgewicht, daß die drei oder vier wirklichen Ueberzeugungen, welche (> i awfcrd, S.int Jlaric. I. 5

66 er während seines kurzen Lebens in sich ausgenommen hatte, nicht im Widerspruch zu einander standen. Im Ge­ gentheil, jede einzige schien mit den übrigen fest verbunden und gab neuen Antrieb zu der directen Bethätigung, welche bei Anastasius die einzig mögliche Form irgend welchen Glaubens war. Es war also ein gut Theil Logik in seiner Tollheit, und obgleich er wie Childe Harold vor vielen geseufzt und bis jetzt nur eine geliebt hatte, war er doch entschlossen, daß diese Eine, wenn irgend möglich, die Seine werden sollte, denn nach etwas seufzen und nicht nehmen, wenn es zu erreichen möglich war, geziemte einem Knaben, aber nicht einem kräftigen Manne. Ueberdies, wenn auch die sozialen Schwierigkeiten, welche ihm im Wege standen, für viele ein unübersteigliches Hinderniß bildeten, so waren doch zwei Umstände vorhanden, welche ihm Hoffnung auf endlichen Erfolg gaben. Erstens war Donna Faustina nicht gleichgültig gegen ihn, und zweitens war Anastasius nicht länger der bescheidene Kunstjünger, der vor wenigen Jahren mit nichts als seiner Pension in der Tasche und seinem Talent in den Fingern nach Rom gekommen war. Er war freilich nicht aus alter Familie, aber da er sich eine Stellung gemacht hatte, in welcher er als Gleichbe­ rechtigter in der vornehmen Welt ausgenommen wurde und durch sein Geschick ein gut Theil von dem schnöden Mammon angesammelt hatte, welcher die Platform bildet, auf welcher sich die Gesellschaft bewegt und ihr Wesen ausschließlich treibt, so hatte er den Vorzug mit Donna Faustina sprechen zu können, so oft er mit ihr zusammentraf, trotz ihres Va­ ters langer Ahnenreihe. Auch fanden solche Zusammen­ treffen nicht nur unter den Auspizien von so und so viel Heraldik und Wappen statt, wie sich bald zeigen wird.

67 Um jene Jahreszeit und besonders zu so unruhigst Zeit war in Rom kein muntrer geselliger Verkehr möglich. Man kam in kleinen Kreisen in befreundeten Häusem ruhig zusammen, sprach über die Verhältniffe des Landes, oder ging und fuhr wie gewöhnlich in den Villen oder auf dem Pincio spazieren. Wenn die Gesellschaft nicht im größerm Maßstabe vergnügt sein kann, so wird sie leicht vertraulich, zieht ein langes Gesicht und sagt Dinge, welche lauter als im Flüsterton geäußert, für anstößig gelten würden, die aber einmal mitgetheilt, vergrößert, beleuchtet und ohne viel Aufhebens rasch in die Runde gebracht, für sehr unter­ haltend gehalten werden. Wenn bei Jedem vorausgesetzt wird, daß er von Politik spricht, ist es für Jeden sehr leicht, zu klatschen, und die Biographie einer imaginären Per­ sönlichkeit zu erfinden, welche demnächst eine Rolle in der zeitgenössischen Geschichte spielen soll. Alles in allem thut dies die Gesellschaft fast eben so gern als tanzen. In den Tagen, von welchen ich rede, gab es deshalb viele Orte, wo zwei oder drei, und manchmal auch zehn, versammelt waren, angeblich zu dem Zweck um auf Mittel zu sinnen, durch die der heilige Vater seine Feinde niederwerfen könnte, obschon sie sich sehr oft damit beschäftigten, die unziemliche Hast zu kritisiren, mit der ihre besten Freunde den Listen Satans erlägen. Es gab verschiedene solche Versammlungsorte, unter denen wir besonders den Palast Valdarno, den Palast Saracinesca und den Palast Montevarchi hervorheben wollen. Im ersten von diesen dreien herrschte, beiläufig bemerkt, eine Theilung der Parteien, die alten waren streng conscrvativ, während die Jungen, so laut sie es nur wagen durften, erklärten, daß sie für Victor Emanuel und ein einiges Italien schwärmten. Die Saracinescas andrerseits 5*

68 waren ganz einig und entschlossen für die bestehenden Zu­ stände einzutrcten. Die Montevarchi endlich empfingen all ihre Anfichten vom Oberhaupt des Hauses und wußten recht gut, daß fie fich wie Schafe fügen und den Weg führen lassen würden, welcher dem alten Fürsten genehm war. Die Freunde, welche diese verschiedenen Versammlungen besuchten, bemühten sich natürlich immer das zu sagen, was ihren Wirthen gefiel, und nach den üblichen Redens­ arten verfielen die meisten in die liebe Gewohnheit, über den Nächsten zu sprechen. Gouache war ein alter Bekannter der Saracinescas und kam, wann er wollte; seit seinem Unfall war er auch mit den Montevarchi näher bekannt geworden und war stets ein willkommener Gast, da er gewöhnlich die neuesten Nachrichten über die Gefechte, wie auch die letzten Berichte aus Frankreich brachte, welche er durch seine Freundschaft mit den jungen Attaches bei der Gesandtschaft leicht-erlangte. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß er so häufig Gelegen­ heit fand, mit Donna Faustina zusammenzutreffen, beson­ ders da Corona von Sant' Ilario eine große Zuneigung zu dem jungen Mädchen gefaßt hatte und es häufig zu sich einlud. Als Gouache seinen ersten Besuch bei der Fürstin Montevarchi machte, um ihr nochmals seinen Dank für die ihm erwiesene Güte anszusprechen, fand er die Zimmerhalb voll Besuch. Faustina saß allein und blätterte in einem Buche und Niemand schien sie besonders zu beachten. Nach den gewöhnlichen Gesprächen mit der Wirthin, setzte Gouache sich neben sie. Sie schlug ihre braunen Augen auf, erkannte ihn und lächelte ein wenig. „Welch eine wunderbare Abwechselung Sie genießen, Donna Faustina", sagte der Zouave.

69 „Wie das? Es kommt mir ziemlich eintönig vor." „Ich meine, es ist für Sie eine große Veränderung, aus dem Ehor des Sacro Cuore, aus dem Frieden des Klosters, in diese kriegerische Atmosphäre zu kommen." „Ja, ich sehne mich zurück." „Ihnen gefällt nicht, was Sie bis jetzt von der Welk gesehen haben? Das ist natürlich, wäre die Welt immer so wie jetzt, so würden ihre Reize nicht gefährlich sein. Ihre Pracht und Eitelkeit ist aber berückend." „Dann wünsche ich, sie möchte beginnen!" antwortete Donna Faustina mit mehr natürlicher Unbefangenheit als man gewöhnlich bei Mädchen von ihrer Erziehung findet. „Aber haben die guten Schwestern Sie nicht gelehrt, daß jene Dinge vom Teufel sind?" fragte Gouache lächelnd. „Natürlich; aber Flavia sagt, sie sind sehr nett." Gouache meinte, Flavia würde das wohl wissen, fand es aber paffend, diese Ansicht für sich zu behalten. „Sie meinen Ihre Schwester, Donna Flavia, Made­ moiselle?" „Jawohl." „Ich vermuthe, Sie haben sie sehr lieb, nicht wahr? Es muß sehr angenehm sein, eine beinahe gleichaltrige Schwester zu haben." „Sie ist viel älter als ich, aber ich glaube, wir wer­ den uns sehr gut vertragen." »Ihre Familie muß Ihnen beinahe eben so fremd sein, wie die übrige Welt", bemerkte Gouache. „Natürlich haben Sie sie lange Zeit nur bei besondern Gelegenheiten gesehen. Ich sehe, Sie lesen gern." Er machte diese Bemerkung, um dem Gespräch eine andre Wendung zu geben und blickte auf das Buch, welches das junge Mädchen noch in der Hand hielt.

70 „Es ist ein neues Buch", sagte sie und schlug das Titelblatt auf. „Es ist Manon Lescaut. Flavia hat cs gelesen, cs ist von dem AbbePrävost. Kennen Sie ihn vielleicht?" Gouache wußtet nicht, ob er lachen oder ernst aus­ sehen sollte. „Hat Ihre Frau Mutter cs Ihnen gegeben?" fragte er. „Nein, aber sie sagt, da cs von einem Abbö ist, wird es gewiß sehr moralisch sein. Es hat freilich nicht das Imprimatur, da eS aber von einem Priester ist, kann es nicht auf dem Index stehen." „Ich weiß es nicht", sagte Gouache. „Prevost hatte jedenfalls die Weihen; aber ich kenne ihn nicht, da er schon über hundert Jahr todt ist. Sie sehen also, es ist kein neues Buch." „O!" rief Donna Faustina. „Ich dachte, es wäre ganz neu. Worüber lachen Sie? Bin ich sehr unwisiend, weil ich nichts davon weiß?" „Nein, durchaus nicht. Allein Sie werden mir ver­ zeihen, gnädiges Fräulein, wenn ich mir einen Rath zu geben erlaube. Sie sehen, ich bin ein Franzose und ver­ stehe etwas von diesen Sachen. Erlauben Sie?" Faustina machte ihre braunen Augen weit auf und nickte. „Ich würde an Ihrer Stelle das Buch noch nicht lesen. Sie sind noch zu jung." „Sie scheinen zu vergessen, daß ich achtzehn Jahr alt bin, Herr Gouache." „Nein, durchaus nicht; aber fünfundzwanzig ist ein beffres Alter, um solche Bücher zu lesen. Glauben Sie mir," setzte er ernst hinzu, „diese Geschichte ist nicht für Sie geschrieben."

71 Faustina sah ihn einige Secunden an, dann legte sie das Buch auf den Tisch und schob es mit betroffener Miene von sich. Innerlich belustigte sich Gouache höchlich über den Gedanken, den Sittenlehrer eines jungen ihm kaum bekannten Mädchens zu machen, ünd zwar im Hause ihrer Eltern, die für die sittenstrengsten ihrer Art galten. Unter dem ersten Eindruck der Ueberraschung fing aber ein Gefühl tiefen Grolls gegen Flavia in ihm aufzu­

steigen an. „Wozu sind Bücher?" — fragte Faustina mit einem leisen Seufzer. „Die guten find schrecklich langweilig, und es ist unrecht, die unterhaltenden zu lesen — ehe man ver­ heiratet ist. Ich möchte wissen, warum?" Gouache fand nicht gleich eine Antwort und hätte ernst­ lich in Verlegenheit gerathen können, wäre nicht Sant' Ilario eben herzugetreten, und als er am Tische vorbei­ ging, drehte er geschickt das Buch so herum, daß der Titel nicht zu sehen war. Es verletzte sein Gefühl zu denken, Giovanni könnte ein Exemplar von Manon Lescaut neben Donna Faustina Montevarchi liegen sehen. Sant' Ilario sah nicht, was Gouache that, und hätte, auch wenn er es gesehen, sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht. Anastasius dachte den ganzen Nachmittag und einen Theil des nächsten Morgens über dieses kurze Gespräch nach und kam zu dem Schluffe, Donna Faustina wäre das bezauberndste Mädchen, welches er je gesehen hätte. Wenn er dieses Resultat seines Nachdenkens mit der genauen Er­ innerung an das, was wirklich zwischen ihnen vorgesallen war, verglich, lachte er über seine Hast und nannte sich einen Narren, weil er sich so unsinnigen Gedanken hingäbe, Die Unterhaltung eines jungen Mädchens, sagte er sich, könnte nur für kurze Zeit amüsant sein. Er fragte sich,

72 was er wohl das nächste Mal zu ihr sagen würde, da nach seiner Ansicht all dergleichen Gespräche aus Gemein­ plätzen bestehen müßten. Und doch nachdem er eine Viertelstunde darüber nachgedacht, ertappte er sich dabei, daß er sich eine Unterhaltung ausmalte, die wenigstens nach seinen Erwartungen durchaus nicht langweilig sein

würde. Unlerdeffen vergingen die ersten zehn Tage des Octo­ ber in verhältnismäßiger Ruhe. Die Nachricht von der Gefangennahme Garibaldis beruhigte für eine Weile die Aufregung in Nom, obschon der eigentliche Kampf noch bevorstand. Die Leute bemerkten gegen einander, daß man fremde Gesichter auf den Straßen sähe, da indessen Nie­ mand ohne Paß in die Stadt konnte, so machte man sich im allgemeinen keine Sorge darüber. Gouache sah Fanstina in den nächsten Wochen nach seinem Unfall sehr häufig. Solch ein Glück wäre unter andern Umständen für ihn unmöglich gewesen, da aber, wie bereits erwähnt, zahlreiche kleine gesellige Zusammen­ künfte an der Tagesordnung waren, und die Leute durch eine Ahnung gemeinsamer Gefahr zu engerm Anschluß an einander getrieben wurden, gingen die häufigen Begegnun­ gen des schönen Zouaven mit der jüngsten Montevarchi in der allgemeinen Aufregung unbemerkt vorüber. Die alte Fürstin sah die Beiden oft zusammen, allein theils wegen ihrer englischen Erziehung, theils weil sie in Gouache weder einen wünschenswerthen noch möglichen Freier für ihre Tochter sah, legte sie der Bekanntschaft keine Wichtigkeit bei. Die Nachricht, daß Garibaldi wieder auf freiem Fuße wäre, verursachte große Aufregung, und jeder Tag brachte neue Kunde von kleinen Gefechten an der Grenze. Gouache war noch nicht völlig hergestellt, obschon er sich schon wieder

73 ganz kräftig fühlte und tagtäglich Erlaubniß nachsuchte, zu den Truppen stoßen zu dürfen. Endlich am 22. October erklärte ihn der Arzt für vollkommen genesen, und Ana­ stasius erhielt den Befehl, am nächsten Morgen bei Tages­ anbruch die Stadt zu verlaffen. Als er am Nachmittag vor seiner Abreise die düstre Treppe zum Palast SaracineSca emporstieg, war in seiner Brust das vorherrschende Gefühl Befriedigung und Freude darüber, daß er endlich activen Dienst thun sollte, so daß ihn das plötzliche Schmerzgefühl beim Gedanken an den Abschied von seinen Freunden beinahe überraschte. Er wußte, von wem er die Trennung fürchtete und wie bitter das Scheiden sein würde; während er noch vor drei Wochen eine zierliche kleine Abschiedsrede gehalten haben würde, in der er gerade genug Gefühl angebracht hätte, um den Antheil der Zuhörerin zu erregen, und wobei er gerade so viel Bedauern empfunden hätte, um seinem Ab­ marsch am nächsten Morgen einen romantischen Beige­ schmack zu geben. Jetzt stand es anders. Donna Faustina war im Zimmer, wie er erwarten durfte, aber es dauerte einige Minuten, ehe Anastasius sich entschließen konnte an sie heranzutreten. Sie stand am Flügel, der sich mitten im Zimmer befand, jedoch von einer halbrunden Pflanzengruppe umgeben, eine neue Idee von Corona, die der alten Mode, alle Möbel steif längs der Wände aufzustellen, überdrüssig war. Faustina also

stand da, als Gouache sich ihr näherte, nachdem er Corona und die übrigen anwesenden Damen begrüßt hatte. Einen Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit durch den Anblick von San Giacintos riesiger Gestalt gefesselt. Der Vetter des Hauses stand vor Flavia Montevarchi und neigte sich ein wenig zu ihr, während er leise mit ihr

74 sprach. Seine imposante Größe machte ihn zur bemerkenswerthesten Person im Zimmer, und es war kein Wunder, daß Gouache still stand und ihn ansah, dabei sagte er sich, die Beiden würden ein schönes Paar abgeben. Als er still stand, bemerkte er Corona dicht neben sich. Er sah sie fragend an und wollte eben sprechen, als sie ihm ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Sie setzten sich neben einander in eine stille Ecke am andern Ende des Saales. „Ich habe Ihnen etwas zu sagen, Herr Gouache," sagte sie leise und lehnte sich in die Kissen zurück. „Ich weiß nicht, ob ich ein Recht habe zu sprechen, es sei denn als gute Freundin und — als Frau." „Ich stehe zu Befehl, Fürstin." „Nein, ich habe Ihnen keine Befehle zu geben, höch­ stens einen Rath. Ich habe Sie während dieses ganzen Monats beobachtet. Mein Rath beginnt mit einer Frage. Lieben Sie sie?" Gouaches erstes Gefühl war, seinem Aerger über diese Frage Luft zu machen. Er machte eine rasche Bewegung und sah Corona scharf in die dunkeln Augen. Ehe ihm noch die Worte auf die Lippen traten, fiel ihm die stille Verehrung, die Hochachtung ein, welche er für diese Frau hegte, seit er sie kannte, und er gedachte, daß er sie immer wie eine Art Göttin, wie ein höheres Wesen, Weib und Engel zugleich, angesehen, und hoch über den Bereich von Sterblichen wie er gestellt hatte. Seine Empfindlich­ keit verschwand so schnell, wie sie gekommen; allein Corona hatte sie bemerkt. „Sind Sie böse?" „Wenn Sie wüßten, wie ich Sie anbete, würden Sie auch wissen, daß ich es nicht bin," antwortete Gouache mit merkwürdiger Aufrichtigkeit.

75 Einen Augenblick blitzten die dunklen Augen der Fürstin und tiefe Rothe stieg ihr in die Wangen. Sie richtete sich stolz auf. Ein feines sanftes Lächeln umspielte die Lippen des jungen Kriegers. „Vielleicht ist es jetzt an Ihnen böse zu werden, gnä­ dige Frau," sagte er ruhig, „allein Sie brauchen es nicht zu sein. Ich würde dasselbe zu Ihrem Gemahl und zu Ihnen in seiner Gegenwart sagen. Ich bete Sie an. Sie sind die schönste Frau von der Welt, die edelste und beste. Jeder weiß es, weshalb sollte ich es nicht sagen? Ich wünsche, ich wäre ein kleines Kind und Sie wären meine Mutter. Sind Sie noch böse?" Corona schwieg, ihr Blick wurde wieder sanft, als sie den jungen Mann neben sich freundlich ansah. Sie ver­ stand ihn nicht, aber sie wußte, daß er etwas ausdrücken wollte, was nicht unrecht war. Gouache wartete ab, bis sie wieder sprach. „Nicht darum bat ich Sie mit mir zu kommen", sagte sie endlich. „Es ist mir lieb, daß ich es gesagt habe," versetzte Gouache. „Ich gehe morgen fort, und es wäre vielleicht ungesprochen geblieben. Sie fragten mich, ob ich sie liebe. Ich vertraue Ihnen. Ich sage: ja, ich liebe sie. Ich will heute von ihr Abschied nehmen." „Es thut mir leid, daß Sie sie lieben. Ist es Ernst?" „Von meiner Seite vollkommener Ernst. Weshalb thut es Ihnen leid? Ist es etwas Unnatürliches?" „Nein, im Gegentheil, es ist nur zu natürlich. Unser Leben ist unnatürlich. Sie können sie nicht heirathen. Es scheint grausam, Ihnen das zu sagen, allein Sie müssen es schon von selbst wiffen." „In Paris gab es einst einen armen Knaben, der

76 nicht jeden Tag genug zu essen hatte und keine warmen Kleider gegen den Nordwind; aber er hatte ein gutes Herz. Sein Name war Anastasius Gouache." „Mein lieber Freund", sagte Corona gütig, „die Atmosphäre des Hauses Montevarchi ist kälter als der Nordwind. Fast alles Andre ist leichter zu besiegen als die alten Vorurtheile eines römischen Fürsten." „Sie verbieten mir nicht, es zu versuchen?" „Würde mein Verbot irgend welchen Unterschied machen?" „Ich weiß nicht recht." Gouache schwieg und sah die Fürstin lange an. „Nein," sagte er endlich, „ich fürchte nicht". „In diesem Falle kann ich nur einerlei sagen. Sie sind ein Ehrenmann. Thun Sie Ihr Bestes, um sie nicht nutzlos unglücklich zu machen. Erringen Sie sie, wenn Sie es auf rechtmäßige Weise können. Aber sie hat ein Herz, und ich habe das Kind sehr lieb. Wenn ihr Leides geschieht, werde ich Sie dafür verantwortlich machen. Wenn Sie sie lieben, so bedenken Sie, was geschehen würde, wenn sie Sie liebte und einen andern heirathen müßte." Ein Schatten von Traurigkeit verdüsterte Coronas Stirn, als sie an jene furchtbaren Monate ihres eigenen Lebens dachte. Gouache wußte, was sie meinte, und schwieg einige Augenblicke. „Ich vertraue Ihnen", sagte sie endlich. „Und weil Sie morgen abreisen, sage ich: Gott segne Sie! Sie streiten für eine gute Sache." Sie reichte ihm die Hand, als sie aufstand um fort­ zugehen, und er neigte sich darüber und berührte sie mit den Lippen, wie wenn er seiner Mutter die Hand küßte. Dann ging Gouache um die übrigen Anwesenden herum

77 wieder nach dem Flügel, um Donna Faustina aufzusuchen. Er fand sie allein, in römischen Salons sitzen junge Mäd­ chen gewöhnlich allein, wenn nicht zwei vorhanden sind, die neben einander sitzen. „Worüber sprachen Sie mit der Fürstin?" fragte Donna Fanstina, als Gouache neben ihr Platz genom­ men hatte. „Konnten Sie uns von hier aus sehen?" fragte Gouache anstatt zu antworten. „Ich dachte, die Pflanzen wären im Wege." „Ich sah, daß Sie ihr die Hand küßten als Sie auf­ standen, und da dachte ich, es müßte ein ernstes Gespräch gewesen sein." „Minder ernst als das unsre sein muß", versetzte Anastasius traurig. „Ich nahm Abschied von ihr und nun-------- " „Abschied? Warum denn? —" Faustina hielt ein und wandte sich ab, nm ihre Blässe zu verbergen. Ihr war kalt und ein leichter Schauer durchlief ihre zarte Gestalt. „Ich ziehe morgen früh ins Feld." Es entstand ein langes Schweigen, während dessen die Beiden sich von Zeit zu Zeit ansahen, ohne daß sie den Mut fanden zu sprechen. Es war allmälig dunkel geworden und erst eine Lampe ins Zimmer gebracht wor­ den. Die Blicke des jungen Mannes suchten im Dämmer­ lichte die geliebten Augen, und als er die Hand ausstreckte, begegnete ihr eine andre, eine zarte feine vor Aufregung zitternde Hand. Sie achteten nicht auf das, was um sie her vorging. Als ob ihr Schweigen ansteckend wäre, hörte die Unterhaltung allmälig auf, und es trat eine allgemeine Stille ein, wie sie manchmal in einer Versammlung von

78 Leuten eintritt, die eine Weile mit einander gesprochen haben. Dann drang durH die Fenster ein Lärm wie von fernem Aufruhr, unterbrochen durch fcharfes Knallen, nicht häufiges, doch deshalb um so deutlicher. Plötzlich sprang die Thür des Saales auf, man hörte einen Diener mit lauter Stimme sprechen, die rauhen Worte und der ent­ setzte Ton standen in seltsamem Gegensatz zu den Lauten, die man sonst an solchen Orten zu hören pflegt. „Ercellenz! Excellenz! Revolution! Garibaldi steht vor den Thoren! Die Italiener kommen! Madonna! Ma­ donna! Revolution — Eccellenza mia!" Der Mann war außer sich vor Furcht. Alle sprachen auf ein Mal. Einige lachten, weil sie den Menschen für verrückt hielten. Andre, welche das ferne Getöse von der Straße her gehört hatten, traten zurück und sahen ängst­ lich nach der Thür. Da erschallte Sant' Ilarios starke Stimme wie eine Posaune durch das Zimmer. „Verriegelt die Thore. Schließt überall im Hause die Läden. Wozu sollen sollen sie gute Fenster einschlagen. Stehe nicht da und zittre wie ein Narr. Es ist nur ein Pöbelhaufe!" Ehe er ausgesprochen, verriegelte schon San Giacinto ganz ruhig die Läden vor den Salonfenstern und machte sie alle so fest und sicher wie weiland die Läden an seinem Gasthof in Aquila. In der allgemeinen Verwirrung blieben Faustina und Gouache in der dunkeln Ecke am Flügel unbemerkt. Es war keine Zeit zum Ueberlegen, denn bei den ersten Worten des Dieners sagte sich Anastasius, daß er sich augenblick­ lich auf seinen Posten begeben muffe. Faustinas kleine Hand hielt noch die seine, als sie beide aufsprangen. Da, in plötzlicher Erregung, schloß er sie in die Arme und küßte sie.

79 „Lebewohl — meine Geliebte!" Die Arme des jungen Mädchens hielten ihn fest um­ schlungen und mit stürmischem Flehen blickten ihre Augen in die seinen. „Sie sind hier in Sicherheit, mein Liebling! Leben Sie wohl!" „Wohin gehen Sie?" „Nach der Kaserne Serristori. Gott behüte Sie, bis ich zurückkomme. — Leben Sie wohl!" „Ich will mit Ihnen gehen", sagte Faustina mit selt­ samer Entschloffenheit in ihrem Engelsantlitz. Gouache lächelte, selbst in diesem Augenblick, über den wunderlichen Einfall des jungen Mädchens. Er küßte sie noch einmal und dann — sie wußte nicht wie, war er verschwunden. Andre Personen hatten sich ihnen genähert, man hatte die Fenster rasch, eins nach dem andern, ge­ schlossen, in Erwartung der Gefahr von draußen her. In angeborner Schüchternheit zog Faustina die Arme vom Halse des jungen Mannes fort und trat zurück. In dem Augenblick verschwand er hinter den andern. Faustina starrte einige Augenblicke wild umher, sie war verwirrt und betäubt durch das, was so plötzlich ge­ schehen, vor allen Dingen durch den Gedanken, daß der Mann, den sie liebte, von ihr fort, dem Tode entgegen ge­ gangen sei. Dann verließ sie ohne weiteres Besinnen das Zimmer. Niemand hielt sie auf; denn die Diener der Familie Saracinesca trafen Vorkehrungen für die Sicher­ heit des Hauses, und Corona war bereits an der Wiege ihres Kindes. Niemand bemerkte die schlanke Gestalt, als sie durch die Thür schlüpfte und in der Dunkelheit der un­ beleuchteten Vorhallen verschwand. Alles war Verwirrung und Lärm und Aufblitzen von vorübergetragenen Lichtern,

80 während die Diener umhereilten und trotz ihrer Angst sich bestrebten, den Befehlen zu gehorchen. Faustina glitt wie ein Schatten die breite Treppe hinab und schlüpfte durchs Thor, als einer der bestürzten Pförtner es eben schließen wollte; in einem Augenblick war sie draußen inmitten der Menschenmenge, die sich durch die Halbdunkeln Straßen drängte — ein bloßes Kind und ganz allein im Dunkeln einer Revolution gegenüber.

Fünftes Kapitel. Gouache bahnte sich so schnell als möglich den Weg bis zur Engelsbrücke, aber sein Weiterkommen wurde be­ ständig durch die wogende Menschenmenge verhindert. — Massen von Männern, Weibern und Kindern drängten sich an den Straßenecken in wilder Angst zusammen und wog­ ten dann in der durch ihren gemeinsamen Zusammenstoß gegebenen Richtung weiter. Man hörte lautes unzusammen­ hängendes Geschrei von Weibern und Rufen von Männern, wovon gelegentlich einzelne Worte zu unterscheiden waren, am häufigsten: „Viva Pio Nono!“ oder: „Viva la Repubblica!“ Die Verwirrung spottete jeder Beschreibung. Eine Abtheilung Infanterie zog aus der Engelsburg nach der Brücke, wo sie auf die dichte Menschenmasse in ent­ gegengesetzter Richtung einherkommend stieß. Eine Schwa­ dron berittener Gendarmen kam im selben Augenblicke vom Borgo Nuovo*) daher, und ein halb Dutzend Drosch*) Borgo Nuovo, Borgo Vecchio und sind die drei Strafen, welche von der Piazza Engelsburg, nach dem Petersplah fuhren. liegt am Borgo Santo Spirito.

Borgo Santo Spirito Pia, dem Platz an der Die Kaserne Serristori Anmerk. d. Uebers.

80 während die Diener umhereilten und trotz ihrer Angst sich bestrebten, den Befehlen zu gehorchen. Faustina glitt wie ein Schatten die breite Treppe hinab und schlüpfte durchs Thor, als einer der bestürzten Pförtner es eben schließen wollte; in einem Augenblick war sie draußen inmitten der Menschenmenge, die sich durch die Halbdunkeln Straßen drängte — ein bloßes Kind und ganz allein im Dunkeln einer Revolution gegenüber.

Fünftes Kapitel. Gouache bahnte sich so schnell als möglich den Weg bis zur Engelsbrücke, aber sein Weiterkommen wurde be­ ständig durch die wogende Menschenmenge verhindert. — Massen von Männern, Weibern und Kindern drängten sich an den Straßenecken in wilder Angst zusammen und wog­ ten dann in der durch ihren gemeinsamen Zusammenstoß gegebenen Richtung weiter. Man hörte lautes unzusammen­ hängendes Geschrei von Weibern und Rufen von Männern, wovon gelegentlich einzelne Worte zu unterscheiden waren, am häufigsten: „Viva Pio Nono!“ oder: „Viva la Repubblica!“ Die Verwirrung spottete jeder Beschreibung. Eine Abtheilung Infanterie zog aus der Engelsburg nach der Brücke, wo sie auf die dichte Menschenmasse in ent­ gegengesetzter Richtung einherkommend stieß. Eine Schwa­ dron berittener Gendarmen kam im selben Augenblicke vom Borgo Nuovo*) daher, und ein halb Dutzend Drosch*) Borgo Nuovo, Borgo Vecchio und sind die drei Strafen, welche von der Piazza Engelsburg, nach dem Petersplah fuhren. liegt am Borgo Santo Spirito.

Borgo Santo Spirito Pia, dem Platz an der Die Kaserne Serristori Anmerk. d. Uebers.

81 ken waren zwischen den sich entgegenkommenden Massen des Militärs und des Volkes eingeklemmt. Der Offizier an der Spitze der Infanterie rief der Menge laut zu Platz zu machen; und diese, welche hauptsächlich aus friedlichen aber tödtlich erschreckten Bürgern bestand, versuchte zurückznweichen, während die Wucht der Nachdrängenden sie vor­ wärts trieb. Gouache, der sich ganz vorn im Gedränge befand, erhielt kraft seiner Uniform Erlaubniß, in die Reihen der Infanterie einzutreten und versuchte durchzu­ kommen und sich einen Weg an das andre Ufer zu bahnen. Aber selbst bei äußerster Anstrengung war es ihm bald unmöglich, sich zu rühren, denn die Soldaten waren eben so fest eingekeilt wie das Volk. Endlich schien die Menge auf dem Platze zurückzuweichcn, und die Compagnie fing wieder an zu marschircn, wobei sie Gouache in" der Richtung hin mit fortriß, von der er gekommen war. Es gelang ihm indessen, an das Geländer der Brücke zu kommen, indem er sich seitwärts durch die geschlossenen Reihen schob. „Deine Schulter, Kamerad!" rief er seinem Neben­ manne zu. Der Soldat hielt sich stramm, und in einem Augenblicke sprang der behende Zouave auf die schmale Brustwehr und lief flink wie eine Katze einher, wobei er sich immer nach ein halb Dutzend Schritten um die riesi­ gen Statuen herumwinden mußte. Am andern Ende der Brücke sprang er hinunter und lief in höchster Eile nach Borgo Santo Spirito. Der breite Platz war beinahe leer und in drei Minuten stand er vor den Thoren der Kaserne, welche an der rechten Seite der Straße gleich hinter dem Collegio bei Penitenziari und der Kirche Santo Spirito in Sassia gegenüber lag. Unterdessen befand sich Donna Faustina Montcvarchi allein auf der Straße. In verzweifelten Fällen folgew l' r a n? f c r 1?, Lant’ Ilario. I. 6

82 junge und reizbare Leute gewöhnlich den Eingebungen der sie beherrschenden Leidenschaft. In der Regel ist dieses Gefühl Angst; ist es das nicht, so ist es fast unmöglich die etwaigen Folgen zu berechnen. Wenn das ganze Wesen von Liebe und der furchtbarsten Angst um das geliebteste Leben beherrscht wird,, kann dqH schwächste Weib Thaten vollbringen, die einen tapfern Mann beschämen dürsten. Das war genau Faustinas Fall. Wenn ein Mann sagt, daß er die Frauen versteht, so wird er durch seine eignen Worte seiner Thorheit über­ führt, da sie unbegreiflich sind. Von Männern kann man im Allgemeinen mit David sagen, daß sie alle Lügner sind, selbst wenn man zugiebt, daß sie alle von dem Laster der Falschheit heilbar sind. Von Frauen aber giebt es keine allgemein stichhaltge Behauptung. Die eine ist tapfer bis zum Heldenmuth, die andere feige bis zur Lächerlichkeit. Die eine ist treu, die andre treulos; die eine verächtlich in ihrer Engherzigkeit, die andre hochherzig, voll edler Wahrheit wie die Engel im Himmel; die eine voll Ver­ trauen, die andre argwöhnisch; die eine ist sanft wie eine Taube, die andre gierig und giftig wie eine Schlange. Die Herzen der Weiber sind wie die Straßen einer großen Stadt — einige breit und gerade und rein; andere dunkel und eng und gewunden; oder wie die Häuser und Gebäude derselben Stadt, in welcher heilige Tempel sind, in denen die Leute in Ruhe und Frieden anbeten, und Höhlen, wo Männer ihre von Gott gegebnen Seelen für den lebendigen Tod, Vergnügen genannt, das ihnen der Teufel zumißt, verspielen; in welcher Stadt ruhige Wohnhäuser und lär­ mende öffentliche Versammlungsorte, schöne Paläste und ekel­ hafte Beinhäuser sind, wo Leichen aufgehäust liegen, gerade wie unsre todten Sünden gespenstisch und unbegraben in

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der dunkeln Kammer der Seele liegen, deren Thore von selbst aufspriugen und nicht versiegelt werden, so lange in uns noch Leben ist um zu leiden. Rühmest Du dich, das Frauenherz zu kennen? Geh hin, du dreifacher Thor! Das Frauenherz enthält alles, Gutes und Böses, und kennst du denn alles, was es giebt? — Donna Faustina war kein Engel. Sie hatte nicht die erhabne Ruhe, welche wir engelgleichen Wesen zuschrei­ ben. Sie war jung, gänzlich unerfahren und ohne Welt­ kenntniß. Das Gefühl, welches alle anderen Gedanken besiegt, hatte sich ihrer bemächtigt und unter seinem Ein­ fluß war sie wie die Blume im Winde. Sie war auch keine heroische Natur wie Corona von Astrardente gewesen und vielleicht noch war, fähig für das Ideal der Pflicht Opfer zu bringen und lieber Qnalen zu erdulden als sich durch Nachgeben zu erniedrigen, — dem Strom einer mächtigen Leidenschaft zu trotzen, bis sie ein Recht hatte, sich seiner gewaltigen Fluth hinzugeben. Faustina war jünger und sanfter, von dem Augenblicke an, daß das Herz ihr ihre Handlungen eingab, wußte sie nicht mehr, was sie that, willig nahm sie die Eingebung ihrer Seele als Be­ fehl an, und weil sie ohne Arg war, freute sie sich einer Hingabe, welche eine andre, die die Welt kannte, erschreckt

haben würde. Sie hatte Anastasius schon glühend geliebt. Nun kam sein Abschied, die erschreckende Wirkung der Kunde von einer Revolution, die Nothwendigkeit für ihn, als Soldat, sie augenblicklich zu verlaßen, um wirklicher Gefahr entgegen zu treten, während sein erster Kuß noch auf ihren Lippen brannte, und dazu der furchtbare Gedanke, daß es der letzte sein könnte, wenn er sie jetzt verließe; unter dem Eindruck all dieser Gemüthsbewegungen, halb von Sinnen 6'

84 vor Liebe und Angst, war es nicht unbegreiflich, daß sie so handelte. Sie hätte es nicht erklären können, denn der Antrieb dazu war so ganz instinctiv, daß sie ihn nicht ver­ stand, und die That folgte so rasch auf den Gedanken, daß ihr keine Zeit zur Ueberlegung blieb. Sie floh aus dem Zimmer und dem Palast auf die Straße hinaus, unbewußt der Gefahr, wie im Traum. Das Gedränge, welches Gouache am Weiterkommen gehindert hatte, lichtete sich schon, als sie die Straße er­ reichte. Sie war in Rom geboren und aufgewachsen und vor ihrer Klosterzeit als Kind häufig im Stadtthcil bei der Peterskirche spazieren geführt worden. Also wußte sie ganz gut, wo die Kaserne Serristori lag und wendete sich sofort nach der Engelsburg. Es waren noch viele Leute auf der Straße, die meisten eilten entweder dahin, wo der abnehmende Aufruhr noch tobte, oder nach Hause um der Gefahr zu entgehen. Wenige bemerkten sie und eine Zeit lang hielt sie Niemand auf, obschon es ein seltsamer An­ blick war, ein schönes junges Mädchen in moderner Klei­ dung, welche sie sofort von den Römerinnen der niedern Klassen unterschied, athemlos durch die dunkeln Straßen laufen zu sehen. Mit einem Male verirrte sie sich. Als sie die Bia dei Coronari hinabging, bog sie zu früh rechts ein und gerieth in das Gewirr von Gäßchen, welches ein kleines Labyrinth um die Kirche San Salvatore in Sauro bildet. Sie war zur Linken in eine Sackgasse gerathen und stieß plötzlich auf zwei Männer, die aus einer jener unterir­ dischen Weinschenken herauskamen, wie sie in jenem Stadt­ theil so häufig sind. Sie sprachen leise und eindring­ lich mit einander, und einer von ihnen prallte zurück, als das junge Mädchen im Dunkeln an ihn anrannte.

85 Instinktiv ergriff sie der Mann und hielt sie bei den Armen fest. „Wohin so eilig, meine Schöne?"

fragte er, als sie

sich losmachen wollte. „Ach, lassen Sie mich los! lasten Sie mich los!" rief sie voll Todesangst und suchte ihre zarten Handgelenke seinem Griffe zu entwinden. Der andre Mann stand dabei

und sah zu. „Laß sie lieber los, Peppino", sagte er. „Siehst Du denn nicht, daß sie eine Dame ist?" „Eine Dame, so?" wiederholte der andre. „Wo gehen Sie denn hin mit dem Engelsgesicht?" „Nach der Kaserne Serristori", antwortete Faustina,

noch immer mit aller Kraft ringend. Bei diesen Worten lachten beide laut und wechselten einen raschen Blick. Sie schienen die Antwort für einen guten Scherz zu halten. „Wenn das Alles ist, so können Sie gehen, und der Teufel sei mit Ihnen. Was meinst Du, Gaetano?" Dar­ auf lachten sie wieder. „Nimm die Kette und die Brache als ein ricordo — nur so zum Andenken", sagte Gaetano und riß ihr dann selbst den Schmuck ab, während der andre ihr die Hände festhielt. „Sie sind wirklich ein hübsches Mädchen!" rief er, indem er ihr beim Lichte des trüben rothen Lämpchens über der niedrigen Thür der Schenke ins Gesicht sah. „Ich habe noch nie in meinem Leben eine Dame geküßt." Damit faßte er ihr zartes Kinn in seine schmierige Hand und beugte sein unsaubres Gesichte dicht zu ihrem herab. Aber dies war zu viel. Obschon Faustina bisher mit all ihrer natürlichen Kraft gegen die Schurken gerungen

86 hatte, war in ihrem zarten Körper doch noch ein Rest von beinahe übernatürlicher Kraft verborgen, die bei dem an­ gedrohten Schimpf plötzlich hervorbrach. Mit einem gellen­ den Schrei sprang sie zurück und riß sich los, die beiden Bösewichter taumelnd ins Dunkel zurückstoßend. Dann war sie wie der Blitz auf und davon. Zufällig bog sie in die richtige Straße und kam auf die Via Tordinona ge­ rade dem Eingang zum Apollotheater gegenüber hinaus. Die zerrissenen weißen Zettel an der Mauer und das Schutz­ dach über den Eingangsthüren zeigte ihr, wo sie sich befand. Unterdessen waren sowohl die Soldaten, welche Gouaches Uebergang auf der Brücke behindert hatten, als auch die bichte Volksmenge verschwunden, und Faustina rannte wie der Wind über die Brücke, über welche der junge Krieger so mühsam gekommen war. Wie ein flüchtiger Vogel eilte sie über den breiten Platz dahinter und den Borgo Nuovo entlang, an dem langen niedrigen Hospital vorüber, wo die Kranken und Sterbenden unter der Pflege barmherziger Schwestern in ihrer Ruhe lagen, während draußen alles in Aufregung war. Das junge Mädchen lief um die Ecke. Ein Zouave rannte vor ihr her auf das Thor der Kaserne zu, vor dem eine Schildwache unbeweglich unter der Laterne stand, die graue Kapuze über den Kops gezogen und das Gewehr auf der Schulter. In diesem Augenblick erschütterte eine furchtbare Ex­ plosion die Luft, auf welche im nächsten Augenblick der dumpfe Krach herabstürzender Mauerstücke folgte, und dann ein langes donnerndes rollendes Getöse, schrecklich anzu­ hören , welches mehrere Minuten währte, während die Trümmer haufenweise nachstürzten und ungeheure dicke Staubwolken in die Abendlust emporwirbelteu. Dann wurde alles still.

87 Der kleine Platz vor Santo Spirito in Sassia war halbangefüllt von Massen von Steinen, Ziegeln und zer­ bröckeltem Mörtel. Ein junges Mädchen lag regungslos mit dem Gesicht auf der Erde an der Ecke des Hospitals, ihre weißen Hände nach dem Manne ausgestreckt, der nur wenig Schritte vor ihr todt, unter einem großen Haufen von Steinen und Geröll dalag. Unter dem mittelsten Haufen, wo die Kaserne gestanden hatte, lagen die armen Zouaven, tief vergraben unter den Trümmern des Haupt­ gebäudes, dessen größter Theil quer über die Seitenstraße zwischen den Penitenziari und der Kaserne Serristori zu­ sammengestürzt war. Einige Minuten lang blieb alles still, während das sanfte Licht aus den hohen Hospital­ fenstern auf die Straße strömte und einen Theil des gräß­ lichen Schauspiels matt beleuchtete. Ganz langsam kamen einzelne Personen in Sicht, dann mehrere und allmählich versammelte sich endlich eine Menge entsetzter Leute; sie standen von fern und fürchteten sich näher zu treten, falls etwa noch mehr Trümmer nach­ stürzen sollten. Nach einem Weilchen öffnete sich die Thür des Hospitals und eine Anzahl Männer in grauen Kitteln,

an ihrer Spitze drei oder vier schwarz gekleidete Herren — einer sogar in Hemdärmeln —, traten auf die stille Straße und gingen auf die Stätte des Unheils los. Sie trugen Laternen und einige Bahren, wie sie zum Tragen von Ver­ wundeten gebraucht werden. Der gerade Weg von der Thür aus führte sie nicht dahin, wo das Mädchen lag, und erst nach langem, beinahe fruchtlosem Suchen kehrten sie zurück. Nur zwei Soldaten, beide todt, hatten sie fin­ den können, um sie mitzunehmen. Die übrigen lagen tief vergraben und selbst mit zahlreichen Kräften mußte es eine Arbeit von mehreren Stunden sein sie herauszuholen.

88 Als der kleine Zug trübselig zurückkehrte, war die Menge unterdessen behutsam herangekommen und füllte jetzt die Straße. Ganz vorn umstand ein kleiner Kreis neu­ gierig einen dunkeln am Boden liegenden Gegenstand, wagte aber nicht ihn zu berühren. „Herr Professor", sagte ein Mann leise, „da liegt eine todte Frau". Die Aerzte traten herzu und beugten sich über den leblosen Körper. Der eine schüttelte den Kopf, als das helle Licht der Laterne ihr ins Gesicht fiel, wäh­ rend er das Mädchen vom Boden aushob. „Es ist eine Dame", sagten die andern leise. Die Männer brachten die Bahre und hoben das todte Mädchen behutsam auf, als ob sie sie kaum zu berühren wagten, und schauten besorgt und verwundert auf das weiße Gesicht. Als sie auf der groben Leinwand lag, ent­ stand eine Pause. Die Menge drängte sich um die Kran­ kenträger, und das gelbe Licht der Laterne warf seinen Schein auf manche seltsame Gesichter, die sich alle eifrig vorbeugten, um das todte Mädchen noch einmal anzusehen. „Andiamo — wir wollen gehen", sagte einer der Aerzte ruhig in traurigem Ton. Die Träger nahmen die todten Zouaven wieder auf, der Zug des Todes ging ins Hospital und die schweren Thüren schloffen sich dahinter wie die Pforten des Grabes. Die Menge strömte wieder zusammen und drängte sich vorwärts nach der Trümmerstätte. Einige Gendarmen waren herzugekommen, und bald machten sich Arbeiter ans Werk, beim grellen Schein von Pechfackeln, welche sie in die Risse und Spalten der geborstenen Mauern steckten, das leichtere Geröll sortzuräumen. Die teuflische That war geschehen, aber durch einen glücklichen Zufall waren ihre Folgen minder furchtbar gewesen, als sich voraussehen ließ.

89 Nur der dritte Theil der Mine war wirklich losgegangen, und nur dreißig Zouaven waren zur Zeit in der Kaserne. „Hast Du ihr Gesicht gesehen, Gaetano?" fragte ein roher Bursch seinen Geführten. Sie standen beisammen in einem dunkeln Winkel, etwas abseits von der Menge. „Nein, aber sie muß es gewesen sein. Ich bin froh, daß ich diese Sünde nicht auf dem Gewissen habe." „Du bist ein Narr, Gaetano. Was ist ein Mädchen gegen ein paar hundert Soldaten? Ueberdies, wenn Du sie festgehalten hättest, wäre sie nicht zeitig genug hierher gelangt, um gelobtet zu werden." „Ja — aber ein Mädchen! Die andern Vagabunden haben wir wenigstens um einer guten Sache willen aus der Welt geschafft. Viva la liberta!" „St! Da kommen die Gendarmen. Hierher!" So verschwanden sie im Dunkel, aus dem sie ge­ kommen. Nicht nur im Borgo Nuovo herrschte Verwirrung und Bestürzung. Das erste Zeichen zum Aufruhr war auf der Piazza Colonna gegeben worden, wo mehrere Bomben er» plodirten. Auf die Gefängnisse wurden Angriffe von Ban­ den jener unheimlich aussehenden Unbekannten gemacht, die man schon seit mehreren Tagen in verschiedenen Theilen der Stadt bemerkt hatte. Eine dichtgeschlosfene Volksmenge bestürmte das Capitol und zwar mit bessern Waffen aus­

gerüstet, als sie der Pöbel sonst zur Hand findet. An der Porta San Paolo, dem Thore, das mit Recht für einen der schwächsten Punkte der Stadt galt, wurde von außen her ein wüthender Angriff von Garibaldinern gemacht, die sich während der letzten beiden Tage in verschiedenen Ver­ kleidungen an die Mauern herangeschlichen hatten. Mehrere Kasernen innerhalb der Stadt wurden gleichzeitig ange-

90 griffen, und eine Zeit lang durchzogen Männer truppweise die Straßen und riefen: „Viva Garibaldi! Viva la liberta!^ Einige schrieen: „«Viva Vittorio!“ und „Viva P Italia!^ Allein ein ruhiger Beobachter -r- und es gab deren viele an jenem Abend in Rom —, konnte leicht sehen, daß diese Bewegungen eher zu Gunsten einer anarchischen Re­ publik als der italienischen Monarchie gemacht waren. Im Ganzen bezeugte das Volk keine Sympathie für den Auf­ stand. Es genügt zu sagen, daß diese kleine Revolution bei Sonnenuntergang ausbrach und vor nenn Uhr am selbigen Abend gänzlich unterdrückt war. Die gemachten Versuche waren zum Theil kühn und verzweifelt, aber nur durch HeineScharen unterstützt; das Volk nahm keinen Antheil daran. Wenn zwischen den niedern Volksklaffen und den Garibaldinern ein wirkliches Einvernehmen bestanden hätte, so wäre der Erfolg nicht zweifelhaft gewesen, denn die That­ kraft und Beherztheit seitens der Aufwiegler hätte unfehl­ bar eine gleichgestimmte Volksmasse mit in den Kampf ge­ rissen, bei dem das Gewicht von einigen hundert mehr der Wagschale in jedem Augenblick eine andere Wendung geben konnte. Es waren zu der Zeit keine französischen Sol­ daten in der Stadt, und von den Zonavcn und den ein­ heimischen Truppen stand ein großer Theil an der Grenze. Rom wurde durch eine Hand voll Soldaten gerettet und erhalten, welche gleichzeitig an vielen Punkten eingreifen mußten, und aus dieser Thatsache läßt sich das Unbedeu­ tende der ursprünglichen Bewegung abnehmen. Von den zwei höllischen Anschlägen, die darauf be­ rechnet waren, einen ganzen Truppenkörper zu zerstören und zugleich den Einwohnern Schrecken einzujagen, schlug der eine Theil theilweise, der andre gänzlich fehl. Wenn all das Pulver, welches Giuseppe Monti und Gaetano Tognetti

91 in der Mine unter der Kaserne Serristori angelegt hatten, statt nur ein Drittel davon, losgegangen wäre, so würde ein beträchtlicher Theil des Borgo Nuovo zerstört worden sein, und selbst das Unheil, welches in der That stattfand, würde viele hundert Zouaven getödtet haben, wenn sie um die Zeit in der Kaserne gewesen wären. Aber es ist un­ möglich, den Schaden und Verlust an Menschenleben zu berechnen, der zu beklagen gewesen wäre, wenn die Engels­ burg und die daran stoßenden Festungswerke in die Luft gesprengt worden wären. Eine ungeheure Mine war ge­ legt worden, durch welche das Gewölbe einer der Bastionen gesprengt werden sollte, aber im letzten Augenblick wurde der Anschlag von einem der Verschwornen verrathen. Ich will hinzufügen, daß diese Leute, welche vor Gericht ge­ stellt und nur zur Zwangsarbeit verurtheilt wurden, drei Jahre später, 1870, von der italienischen Regierung freigelafsen wurden, und zwar aus dem Grunde, daß sie bloß poli­ tische Gefangene wären. Indessen würde der Versuch, besten sie schuldig waren, selbst während eines erklärten Krieges für ein Verbrechen gegen das Völkerrecht gegolten haben'). In Rom wurde sofort der Belagerungszustand erklärt und Patrouillen durchzogen die Straßen, welche alle Her­ umtreiber, die sie antrafen, nach Hause schickten, und zwar nach dem vortrefflichen Grundsatz, daß es die Pflicht eines Jeden ist, der unter eine aufrührerische Masse geräth, sie sofort zu verlassen, wenn er nichts zur Herstellung der Ord­ nung beitragen kann. Leute aber, die sich gerade in An*) Es scheint nicht überflüssig zn erwähnen, daß die Hauptschul­ digen, Monti und Tognetti, von der päpstlichen Regierung zum Tode

verurtheilt und getopft wurde».

Dies ist eine bekannte Thatsache,

ebenso aber auch, dah diese beiden Verbrecher leider bei manche» Italienern für politische Märtyrer gelten.

Anmerk. d. Hebers.

92 derer Häuser befanden, hatten Schwierigkeiten in ihre eigne Wohnung zurückzukehren, und da der Aufstand gerade um die Zeit begann, welche die Gesellschaft für ihre Zusam­ menkünfte erkoren hatte, befanden sich viele in dieser pein­ lichen Lage. Als der Lärm auf der Straße nachließ, schwand eben­ falls die Aufregung im Salon der Saracinesca. Mehrere der Anwesenden gaben die Absicht kund, sofort nach Hause zu gehen, dagegen aber machte der Fürst ernstliche Ein­ wendungen. Er sagte, es sei noch nicht sicher auf den Straßen. Die Wagen könnten jeden Augenblick angehalten werden, und selbst wenn das nicht geschähe, könnten alle möglichen Unfälle vorkommen, die Pferde könnten bei dem Lärm scheuen, oder es könnten Menschen im Gedränge überfahren werden. Er hatte seine eignen Ansichten und da er in seinem eignen Hause war, ließen sie sich nicht

leicht bestreiten. „Die Thore sind verschlossen", sagte er mit heiterm Lächeln, „und fürs Erste kann keiner von Ihnen heraus. Da es beinahe Esienszeit ist, müssen sie alle bei mir spei­ sen. Es wird kein Bankett werden, aber etwas zu essen kann ich Ihnen geben. Ich hoffe, es ist noch Niemand fort." Bei diesen Worten sahen sich alle unter einander an, als wollten sie Nachsehen, ob Jemand fehlte. „Ich habe Herrn Gouache hinausgehen sehen", sagte Flavia Montevarchi. „Der arme Mensch!" rief ihre Mutter, die Fürstin. „Ich hoffe, es wird ihm nichts zustoßen!" Sie hielt inne, sah sich einen Augenblick ängstlich im Zimmer um und rief plötzlich: „Mein Himmel! Wo ist Faustina?" „Sie muß mit meiner Frau aus dem Zimmer gegangen sein", sagte Sant' Ilario ruhig. „Ich will gleich nachsehen."

93 Die Fürstin fand diese Erklärung ganz natürlich und wartete seine Rückkehr ab. Er kam indessen nicht so schnell zurück, als sich erwarten ließ. Er traf seine Frau, wie sie eben aus der Kinderstube kam. Ihr erster Impuls war gewesen, zu ihrem Kinde zu gehen, und da sie sich darüber beruhigt hatte, daß es nicht von den Garibaldinern fortgeschleppt war, sondern frisch und gesund in seiner Wiege schlief, wollte sie eben zu ihren Gästen znrückkehren. „Wo ist Faustina Montevarchi?" fragte Giovanni, als ob das die natürlichste Frage von der Welt wäre. „Faustina?" wiederholte Corona. „Natürlich im Salon. Ich habe sie nicht gesehen." „Sie ist nicht da", sagte Sant' Ilario in besorgterem Ton. „Ich dachte, sie wäre mit Dir hierher gekommen." „Sie muß bei den Andern sein. Du hast sie nur übersehen. Komm mit mir zurück und besieh Dir Deinen Sohn. Er scheint sich aus der Revolution nicht das Min­ deste zu machen." Giovanni, der nicht daran zweifelte, daß Faustina im Hause sein müsse, ging mit seiner Frau in die Kinderstube, und sic standen mit einander an der Wiege ihres Kindeö. „Zst er nicht schön?" rief Corona und legte zärtlich ihren Arm in den ihres Gatten, während sie ihre Wange an seine Schulter lehnte. „Er ist ein kräftiges Kind", versetzte Giovanni; der Ton seiner Stimme drückte mehr Befriedigung aus als seine Worte. „Wenn er erwachsen ist, wird er aussehen wie mein Vater." „Zch möchte lieber, daß er so anssähe wie Du", sagte Corona. „Wenn er so aussehen könnte wie Du, Geliebte, dann lohnte es noch zu wünschen."

94 Darauf betrachteten Beide ein Weilchen den kleinen braunen Knaben, der mit den Armen über, den Kopf ge­ worfen und die Fäustchm geballt auf den Kiffen lag. Das gesunde Blut färbte die bräunlichen Wangen des Kindes, und die schwarzen Wimpern, welche schon so lang waren wie die seiner Mutter, gaben dem Gesichtchen ein merkwür­ dig ausdruckvolles Gepräge.

Giovanni küßte seine Frau zärtlich, und dann gingen sie sacht aus dem Zimmer. Kaum waren sie draußen, so dachte Sant' Ilario wieder an Faustina. „Sie ist jedenfalls nicht im Salon," sagte er; „ich bin dessen gewiß. Ihre Mutter fragte nach ihr, und alle hörten die Frage. Ich getraue mich nicht, ohne sie zurückzu­ kommen." Sie blieben im Corridor stehen und sahen sich mit ernster Miene an. „Das ist eine ernste Sache", sagte Corona. „Wir müssen das Haus durchsuchen. Sag' Du es den Dienern, ich will es den Mädchen sagen. Oben an der Treppe wollen wir uns wieder treffen." Fünf Minuten darauf kam Giovanni seiner Frau nach. „Sie hat das Haus verlassen", sagte er athemlos. „Der Pförtner hat sie hinausgehen sehen." „Mein Himmel! Warum hat er sie nicht zurückge­ halten?" rief Corona. „Weil er ein Narr ist!" versetzte Sant' Ilario bleich vor Besorgniß. „Sie muß den Kopf verloren haben und nach Hause gegangen sein. Ich will es ihrer Mutter

sagen." Als es im Salon bekannt wurde, daß Donna Faustina den Palast allein und zu Fuß verlassen hatte, waren alle entsetzt. Die Fürstin wurde bleich wie der Tod, obschon

95 sie sonst viel Farbe hatte. Sie war indessen eine beherzte Frau und verlor keine Worte. „Ich muß sofort nach Hause", sagte sie. „Bitte, be­ stellen Sie meinen Wagen und lassen Sie den Thorweg öffnen." Giovanni gehorchte schweigend, und einige Minuten darauf ging die Fürstin die Treppe hinunter in Beglei­ tung von Flavia, welche still war, ein Phänomen, das man bei dieser lebhaften jungen Dame selten wahrnehmen konnte. Giovanni ging mit, ebenfalls sein Vetter, Don

Giacinto. „Wenn Sie es erlauben, Fürstin," sagte der Letztere, als sie an den Wagen kamen, „möchte ich mitfahren. Ich könnte Ihnen vielleicht etwas nützen." Gerade als sie aus dem Thorweg hinausrollten, er­ dröhnte die Lust von der Erplosion der Kaserne: der furcht­ bare Krach hallte mit Donnergetöse durch die ganze Stadt wieder. Die Scheiben der Wagenfenster klirrten, als müß­ ten sie zerbrechen und eine Minute lang war ganz Rom stumm vor Schreck. Dann zerrten die Pferde wild an den Strängen, und der Wagen flog gegen einen der steinernen Pfeiler am Eingang des Palastes. Die vier im Wagen sitzenden Personen hörten den Kutscher schreien. „Fahr' zu!" rief San Giacinto und steckte den Kopf aus dem Fenster. „Excellenz —" fing der Mann an zu protestiren. »Fahr' zu!" schrie San Giacinto mit einer Stimme, die den Menschen trotz seiner Angst zum Gehorsam brachte. Er hatte noch nie eine so tiefe, starke, gewaltige Stimme gehört. Sie erreichten den Palast Montevarchi ohne auf ein ernstliches Hinderniß zu stoßen. In wenigen Minuten ge-

96 wannen sie die Ueberzeugung, daß Donna Faustina nicht dort wäre, und auf der Treppe wurde Rath gehalten. Wäh­ rend sie noch beriethen, was nun zu thun wäre, kam der Fürst Montcvarchi heraus und mit ihm sein ältester Sohn Bellegra, ein schöner Mann von etwa dreißig Jahren, mit blauen Augen und glattem blondem Bart. Er war ruhiger als sein Vater, der heftig und mit lebhaften Gesten sprach. „Ihr habt Faustina verloren!" schrie der alte Herr in verzweifeltem Tone. „Ihr habt Faustina verloren! Und in solcher Zeit! Was steht Ihr da? Ach, meine Tochter! meine Tochter! Ich habe Dir so oft gesagt, Du möchtest vorsichtig sein, Guendalina, — so rühre Dich doch in Gottes Namen — ich sage Dir, das Kind ist verloren, verloren! Hast Du kein Herz, kein Gefühl? Bist Du eine Mutter? Signori mici, ich bin in Verzweiflung!" Und das schien er in der That zu sein, wie er mit gerungenen Händen dastand, mit den Füßen stampfte und unrnsammenhängende Ausrufe ausstieß, während ihm die Thränen über die Wangen rollten. „Wir werden Ihre Tochter suchen gehen," sagte Sant' Ilario, „bitte, beruhigen Sic sich. Wir werden sie schon finden." „Vielleicht sollte ich lieber gehen", meinte Ascanio Bellegra schüchtern. Aber sein Vater umschlang ihn mit beiden Armen und hielt ihn fest. „Soll ich noch ein Kind verlieren?" rief er. „Nein, nein, nein — slglio inio — Du darfst nicht hinaus, Du sollst Dich nicht mitten unter die Revolution begeben." Sant' Ilario stand mit ernster Miene dabei, obgleich er innerlich den armen alten Mann wegen seiner Schwäche verachtete. San Giacinto stand an die Mauer gelehnt und

97 wartete, ein höhnisches Schmunzeln auf den Lippen. Er maß Ascanio Bellegra mit den Augen und dachte, er würde sich aus seinem Beistand nicht viel machen. Die Fürstin sah ihren Gatten und ihren Sohn verächtlich an. „Wir verlieren Zeit", sagte Sant' Ilario endlich zu seinem Vetter. „Zch verspreche, Ihnen Ihre Tochter wieder­ zubringen", setzte er gegen die Fürstin gewendet ernst hinzu. Darauf gingen die beiden fort, und überließen den jam­ mernden Fürsten Montevarchi seiner Frau nnd seinem Sohn. Flavia hatte an der Unterredung nicht theilgenommen, sie war sofort durch die Halle nach ihrem Zimmer gegangen. Die beiden Vettern verließen zusammen den Palast und gingen ein Stück die Straße entlang ohne zu sprechen. Plötzlich blieb Sant' Ilario stehen. „Scheint es Dir nicht, daß wir eine recht schwierige

Ausgabe unternommen haben?" fragte er. „Eine sehr schwierige", antwortete San Giacinto. — „Rom ist zwar nicht die größte Stadt der Welt, aber ich habe keine Ahnung, wo wir nach dem Kinde suchen sollen. Jedenfalls hat sie unser Haus verlaffen, und eben so sicher ist es, daß sie nicht in das Haus ihrer Eltern zurückgekehrt ist. Zwischen den beiden liegt, so zu sagen, ganz Rom. Ich denke, das beste wird sein, uns an die Polizei zu wenden, wenn wir nämlich einen Polizisten fin­ den können." „Oder an die Zouaven", sagte San Giacinto. „Warum an die Zouaven? Ich verstehe Dich nicht?'

„Ihr seid alle so daran gewöhnt, Fürsten zu sein, daß ihr nicht auf einander aufpaßt. Ich habe die ganze Zeit über nichts anderes gethan, als Euch alle beobachtet. Die junge Dame ist in Herrn Gouache verliebt." Crawford, Sant'Ilario.

I.

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„Wirklich!" rief Sant'Ilario, dem dieser Gedanke so neu und unglaublich vorkam, wie er dem alten Fürsten Montevarchi selbst gewesen sein würde; „wirklich, Du mußt Dich irren. Das ist rein unmöglich." „Durchaus nicht. Der junge Mann ergriff Donna Faustinas Hand und hielt sie eine Weile fest, da am Kla­ vier, als ich in Euerm Salon die Fenster schloß." San Giacinto sagte nicht alles, was er gesehen hatte. „Was?" rief Sant' Ilario. „Du bist von Sinnen — es ist unmöglich!" „Im Gegentheil! Ich hab's gesehen. Einen Augen­ blick darauf verließ Gouache das Zimmer. Donna Faustina muß gleich nach ihm hinausgegangen sein. Meine Ansicht ist, sie ist ihm nachgegangcn." Ehe Sant' Ilario noch antworten konnte, kam eine kleine Patrouille Gendarmen zu Fuß vorüber und befahl den beiden Herren nach Hause zu gehen. Sant' Ilario redete den Corpora! an; er nannte seinen Namen und den seines Vetters. Dann sagte er: „Eine Dame ist verloren gegangen. Es ist Donna Faustina Montevarchi, eine sehr schöne junge Dame. Sie hat vor einer Stunde allein und zu Fuß den Palast Saracinesca verlassen, und seitdem ist nichts mehr von ihr zu hören. Seien Sie so gut, die Polizei davon zu unterrichten, und zu sagen, daß derjenige, welcher sie in ihr elterliches Haus zurückbringt, eine hohe Belohnung erhalten wird — hier in diesem Palast, meine ich." Nachdem noch einige Worte gewechselt waren, zog di« Patrouille weiter und überließ die beiden Vettern ihrem Schicksal. Sant' Ilario war über die eben gegen ihn gv äußerte Ansicht gründlich verstimmt und konnte nicht darar! glauben, obschon er keine andere Erklärung geben sonnte]

99 „Es nützt nichts, hier müßig zu stehen", sagte San Giacinto ungeduldig. „Es kommt schon wieder eine Men­ schenmenge daher, und wir werden wieder aufgehalten werden. Mir scheint es am besten, wir trennen uns. Ich will nach einer Seite zu gehen, gehe Du nach der andern." „Wohin willst Du gehen?" fragte Sant' Ilario. „Du kannst Dich ja nicht zurecht finden —" „Da sie überall sein kann, so kann ich sie auch irgend­ wo finden, und es kommt garnicht darauf an, ob ich die Namen der Straßen kenne oder nicht. Du thust am besten, Dich auf all die Häuser zu besinnen, wohin sie etwa zu Bekannten gegangen sein kann. Du kennst sie beffer als ich. Ich will alle Straßen von hier bis nach Eurer Woh­ nung absuchen. Wenn ich müde bin, werde ich nach Euerm Palast zurückkommen." „Ich fürchte, Du wirst sie nicht finden", versetzte Sant' Ilario, „aber um ihrer armen Mutter willen müssen wir es

versuchen." „Es ist Sache des Zufalls", sagte der andre und sie trennten sich. San Giacinto ging der Menge entgegen, welche etwas weiter hin in die Straße hercinströmte. Als er sich ihr näherte, hörte er im Stimmengewirre häufig den Namen „Serristori" nennen. „Was ist mit der Serristori los?" fragte er den ersten besten. „Haben Sie es noch nicht gehört?" rief der Mann. „Sie ist mit Pulver in die Luft gesprengt! Wenigstens tausend Menschen sind todt. Der halbe Borgo Nuovo ist zerstört und es heißt, jetzt kommt der Batican heran —" Der Mensch hätte ins Unendliche fortgeplappert, aber San Giacinto hatte genug gehört und schwenkte ab in die 7*

100 erste sich ihm darbietende Seitenstraße, mit der Absicht aus dem Gedränge zu kommen und nach der Kaserne zu gehen. Er mußte mehrmals nach dem Wege fragen, und es verging eine Viertelstunde, ehe er die Engelsbrücke er­ reichte. Von da aus fand er leicht die Stätte des Un­ heils und gelangte gerade an das Hospital Santo Spirito, als die Thüren sich hinter den Todtenträgern geschloffen hatten. Er mischte sich unter die Menge und that allerlei Fragen; so erfuhr er bald, daß die Leute aus dem Hospi­ tal bei ihrer ersten Nachsuchung nur die Leichen zweier Zouaven und eines Mädchens gefunden hätten. „Ich habe sie nicht gesehen", sagte der Sprecher, „aber es soll eine feine Dame gewesen sein und schön wie ein Engel." „Unsinn!" rief ein andrer. „Es war eine kleine Nähtherin aus dem Borgo Vecchio, und ich weiß, daß dies wahr ist, denn ihr Schatz war einer von den todten Zoua­ ven, die sie ausgenommen haben." „Ich glaube, es war gar kein Weib dabei", sagte ein Dritter. „Was sollte sie auch in der Kaserne zu suchen haben?" „Sie ist außerhalb der Kaserne getödtet worden", be­ merkte der erste Sprecher, ein schüchterner alter Mann. „Wenigstens so hab ichs gehört, gesehen hab' ich sie nicht." „Es war eine Frau, die ein Kindchen in die Rota*) legen wollte", schrie ein Waschweib mit schriller Stimme. „Sie hatte das Kind eben hineingelegt und lief davon, als *) Die Rota war eine drehbare Lade, in welche zu frühern Zei­ ten die Findlinge gelegt wurden. Die Lade drehte sich nach innen herum und das Kind wurde herausgenommen und versorgt. Sie befindet sich am Eingang deS Hospitals zu Santo Spirito und ist hort ttnrfi iit Miptt aTim* ntrfd rtipfir tnt ßtofcrAttA

101 die Kaserne in die Lust sprang, und der Teufel hat sie geholt. Und da geschah ihr schon recht, weil sie ihr armes Würmchen verstoßen hat." Nach Anhörung dieser verschiedenen Berichte, bei denen die meisten behaupteten, es wäre eine Frau ins Hospital gebracht worden, beschloß San Giacinto, der Wahrheit auf den Grund zu kommen und zog ohne Weiteres die Klingel. Eine Klappe in der Thür ward geöffnet, und der Pförtner schaute hinaus aus die wogende Menge. „Was wollen Sie?" fragte er barsch, als er sah, daß für keinen Kranken oder Verwundeten Einlaß begehrt wurde. „Ich möchte mit dem Arzt du jour sprechen", antwor­ tete San Giacinto. „Er ist beschäftigt", sagte der Mann etwas bedenklich. „Wer sind Sie?" „Ein Freund von einer der umgekommnen Personen." „Die sind todt. Sie sollten lieber bis morgen warten und dann wiederkommen", meinte der Pförtner. „Aber ich möchte bestimmt wissen, ob mein Freund wirklich getödtet ist." „Warum nennen Sie denn nicht Ihren Namen? Sie sind vielleicht ein Garibaldiner. Wozu soll ich aufmachen?" „Ich werde dem Arzt meinen Namen nennen, wenn Sie ihn rufen wollen. Hier ist etwas für Sie. Sagen Sie ihm, ich bin ein römischer Fürst und muß ihn einen Augenblick sprechen." „Ich werde sehen, ob er kommt", sagte der Mann und machte San Giacinto die Klappe vor der Nase zu. Seine Schritte erdröhnten drinnen auf den Fliesen der großen Halle. Es währte lange, ehe er, zurückkam und San Giacinto hatte Zeit, sich die Sache zu überlegen. Er zweifelte kaum daran, daß die Todte keine andere

102 als Donna Faustina Montevarchi wäre. Durch einen merk­ würdigen Zufall, oder vielmehr einem unwiderstehlichen Antrieb folgend, hatte er binnen einer halben Stunde ge­ sunden, was er suchte, während sein Vetter in entgegen­ gesetzter Richtung der Vermißten vergeblich nachfragte. Durch das, was er bei Saracinescas im Salon gesehen hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß sie Gouache nachgegangen wäre; seine Schlußfolgerungen waren zu ein­ fach, um einem gewöhnlichen Mitglied der römischen Ge­ sellschaft in den Sinn zu kommen. Was ihn am meisten beunruhigte, war der Gedanke an die Folgen seiner Ent­ deckung, und er beschloß, den Namen des jungen Mädchens und wo möglich auch seinen eignen geheim zu halten. War sie wirklich todt, so wäre es beffer, sie ganz in der Sülle in ihrer Eltern Haus zu bringen; war sie aber noch am Leben, so war Verschwiegenheit doppelt nothwendig. In beiden Fällen würde es ganz unmöglich sein, der Welt die Thatsache zu erklären, daß Donna Faustina Montevarchi sich allein zu solcher Stunde im Borgo befunden hätte, und San Giacinto hatte ein lebhaftes Jntereffe daran, den guten Ruf von Casa Montevarchi zu bewahren, da er schort seit einiger Zeit an eine Verbindung mit Donna Flavia dachte. Endlich wurde die Klappe wieder geöffnet und als der Pförtner sich überzeugt hatte, daß der Herr noch draußen wartete, öffnete er vorsichtig ein Thürchen in dem großen Thor, und San Giacinto mußte sich sehr bücken, um durch das niedrige Pförtchen einzutreten. In dem großen Flur trat ihm sofort der dienstthuende Arzt entgegen, er war in Hemdärmeln, hatte sich aber den Rock übergeworsen und hielt ihn oben am Halse zu, um sich gegen die Nachtlust zu schützen. San Giacinto bat ihn, sich aus

103 der Hörweite des Pförtners zu entfernen, und so gingen beide zusammen fort. „Bei der Explosion ist eine Dame getödtet worden, nicht wahr?" fragte San Giacinto. „Sie ist nicht todt", erwiderte der Arzt. „Kennen

Sie sie?" „Ich glaube ja.

Hatte sie etwas bei sich, woraus sich

ihre Identität erkennen ließe?" „Der Buchstabe M. ist in ihr Taschentuch eingestickt. Das ist alles, was ich weiß. Sie ist erst seit einer Viertel­ stunde hier. Zuerst hielt ich selbst sie für todt, als ich sie

aufhob." „Lag sie nicht unter den Trümmern?" „Nein; wahrscheinlich war sie von einem kleinen Stein getroffen worden. Die beiden Zouaven waren halb ver­ schüttet und sind todt." „Darf ich sie sehen? Ich kenne viele aus dem Regi­ ment. Vielleicht sind es Bekannte von mir." „Gewiß; sie liegen hier dicht dabei in der Leichen­ kammer, wenn sie noch nicht in die Kapelle geschafft wor­ den sind." Die beiden Männer betraten den schauerlichen Raum, welcher durch eine Hängelampe matt erleuchtet war. Es ist überflüssig bei den grausigen Einzelheiten zu ver­ weilen. San Giacinto beugte sich neugierig über die Todten und sah ihnen ins Gesicht. Er kannte keinen von beiden und sagte es dem Arzt. „Wollen Sie mir erlauben, die Dame zu sehen?" „Entschuldigen Sie eine Frage", sagte der Arzt, ein Mann in mittlern Jahren, mit rothem Bart und durch­ dringenden grauen Augen, „mit wem habe ich die Ehre zn sprechen?"

104 „Herr Professor", versetzte San Giacinto, „ich muß Ihnen sagen, daß wenn Ihre Patientin die Dame ist, welche ich meine, die Ehre einer der vornehmsten römischen Familien auf dem Spiele steht, und daß strengste Verschwie­ genheit unerläßlich ist." „Der Pförtner sagte mir, Sie wären ein römischer Fürst", erwiderte der Arzt, „Sie sprechen aber wie ein Südländer," „Ich bin in Neapel ausgewachsen. Wie gesagt, Ver­ schwiegenheit ist von höchster Wichtigkeit, und ich kann Ihnen versichern, daß sie sich viele zu Dank verpflichten werden, wenn Sie mir beistehen." „Wünschen Sie die Dame sofort mitzunehmen?" „Behüte der Himmel! Ihre Mutter und Schwester werden sie in einer halben Stunde abholen." Der Arzt steckte die Hände in die Taschen und starrte einen Augenblick die Leichen der beiden Zouaven an. „Ich kann es nicht thun", sagte er, plötzlich San Giacinto ansehend. „Ich bin hier der Herr und trage die Verantwortung. Natürlich ist es Amtsgeheimniß; wenn ich Sie auch nur von Ansehen kennte, würde ich kein Bedenken haben. So aber muß ich nach Ihrem Namen fragen." San Giacinto zögerte nicht lange, da der Arzt augen­ scheinlich die Situation beherrschte. Er nahm aus seinem Taschenbuch eine Karte und reichte sie schweigend dem Doctor. Dieser nahm sie und las den Namen: „Don Gio­ vanni Saracinesca, Marchese di San Giacinto." Sein Gesicht verriet keine Erregung, allein ihm fuhr der Ge­ danke durch den Kopf, daß eine solche Persönlichkeit gar nicht existirte. Er war einer der ersten Aerzte in Rom und kannte den Fürsten Saracinesca und Sant'Ilario,

105 hatte aber nie etwas von diesem andern Giovanni gehört. Er wußte auch, daß die Stadt in Aufmhr sei, und daß viele verdächtige Personen unter falschem Vorwand Zutritt in öffentliche Gebäude zu erlangen suchten. „Sehr wohl", sagte er ruhig. „Wie ich sehe, haben

Sie keine Furcht vor Todten. Haben Sie die Güte, hier einen Augenblick zu warten. Niemand wird Sie sehen, und Sie werden nicht erkannt werden. Ich will hingehen und dafür sorgen, daß uns Niemand in den Weg kommt, und dann sollen Sie die junge Dame sehen." San Giacinto nickte zustimmend, und der Arzt ging durch die schmale Thür hinaus. San Giacinto war er­ staunt zu hören, wie der große Schlüffe! umgedreht und abgezogen wurde, erklärte sich diesen Umstand aber durch die Voraussetzung, der Arzt wolle verhindern, daß ihn Je­ mand hier fände, damit das Geheimniß nicht verrathen würde. Er war keine ängstliche Natur und hatte keine besondre Furcht davor, einige Minuten allein in der Todtenkammer zu bleiben. Er schaute sich um und sah, daß das Gemach hoch und gewölbt war. — Nur durch ein Fenster hatte die Luft Zutritt, und dieses war zehn Fuß über dem Bo­ den und fest vergittert. Er lächelte bei dem Gedanken, daß er unmöglich hinauskönnte, wenn es dem Arzte be­ liebte, ihn da drinnen zu lassen. Weder seine Größe noch seine außerordentliche Stärke konnte ihm das Geringste helfen. Es waren keine Möbeln in dem Raum. Ein halb Dutzend Steinplatten, um die Leichen daraufzulegen, waren an der Mauer angebracht; sie waren fest und unbeweglich, und die Thür war von massivem Eichenholz mit großen Eisennägeln dicht beschlagen. Wenn die Todten lebendige Gefangene gewesen wären, so hätte man sie nicht fester einsperren können.

106 San Giacinto wartete eine Viertelstunde, und als der Arzt noch immer nicht zurückkam, setzte er sich auf eine der Steinplatten, und da er sehr hungrig war, tröstete er sich, indem er eine Cigarre anzündete, während er dar­ über nachdachte, auf welche Weise man Donna Faustina am sichersten nach dem Hause ihres Vaters schaffen könnte. Endlich verwunderte er sich doch, daß er so lange warten mußte. „Es sollte mich eigentlich gar nicht wundern", sagte er zu sich, „wenn der langohrige Professor mich für einen Revolutionär gehalten hätte." Er irrte sich nicht allzu sehr. Der Arzt hatte einen Boten nach ein paar Gendarmen ausgeschickt und war ruhig wieder an seine Beschäftigung im Hospital gegangen, denn er wußte recht gut, daß es einige Zeit erfordern würde, während des Aufstandes an die Polizei zu gelan­ gen, und er gratulirte sich, daß er einen Gefangenen ab­ gefaßt hatte, der wenn kein Aufwiegler, doch jedenfalls ein Betrüger war, da er Karlen mit falschem Namen führte.

Sechstes Kapitel. Das improvisirte Bankett im Palast Saracinesca war kein fröhliches, allein die drohende Gefahr für die Stadt und das Verschwinden von Faustina Montevarchi lieferte wenigstens reichlichen Stoff zur Unterhaltung. Die Meisten waren der Ansicht, das junge Mädchen hätte den Kopf ver­ loren und wäre nach Hause gelaufen, da aber weder Sant' Ilario noch dessen Vetter zurückkam, wurden alle möglichen Vermuthungen ausgestellt. Der Fürst meinte, sie würden Faustina zu Hause gefunden haben und dort zu Tische ge-

106 San Giacinto wartete eine Viertelstunde, und als der Arzt noch immer nicht zurückkam, setzte er sich auf eine der Steinplatten, und da er sehr hungrig war, tröstete er sich, indem er eine Cigarre anzündete, während er dar­ über nachdachte, auf welche Weise man Donna Faustina am sichersten nach dem Hause ihres Vaters schaffen könnte. Endlich verwunderte er sich doch, daß er so lange warten mußte. „Es sollte mich eigentlich gar nicht wundern", sagte er zu sich, „wenn der langohrige Professor mich für einen Revolutionär gehalten hätte." Er irrte sich nicht allzu sehr. Der Arzt hatte einen Boten nach ein paar Gendarmen ausgeschickt und war ruhig wieder an seine Beschäftigung im Hospital gegangen, denn er wußte recht gut, daß es einige Zeit erfordern würde, während des Aufstandes an die Polizei zu gelan­ gen, und er gratulirte sich, daß er einen Gefangenen ab­ gefaßt hatte, der wenn kein Aufwiegler, doch jedenfalls ein Betrüger war, da er Karlen mit falschem Namen führte.

Sechstes Kapitel. Das improvisirte Bankett im Palast Saracinesca war kein fröhliches, allein die drohende Gefahr für die Stadt und das Verschwinden von Faustina Montevarchi lieferte wenigstens reichlichen Stoff zur Unterhaltung. Die Meisten waren der Ansicht, das junge Mädchen hätte den Kopf ver­ loren und wäre nach Hause gelaufen, da aber weder Sant' Ilario noch dessen Vetter zurückkam, wurden alle möglichen Vermuthungen ausgestellt. Der Fürst meinte, sie würden Faustina zu Hause gefunden haben und dort zu Tische ge-

107 Weben sein, worauf ein andrer boshaft bemerkte, es müsse allerdings erst eine Revolution ausbrechen, um gewisse Leute zux Gastftcundschast zu bewegen. Die Tafel war beinahe aufgehoben, als Pasquale, der Butler, dem Fürsten zuflüsterte, ein Gendarm wünsche ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. „Bringe ihn herein", antwortete der alte Saracinesca laut. „Draußen ist ein Gendarm", sagte er zu seinen Gästen, „der kann uns alle Neuigkeiten erzählen. Sollen wir ihn hereinkommen lassen?" Der Vorschlag wurde von allen Seiten mit Begeiste­ rung angenommen, denn die meisten Anwesenden waren in Sorge um ihre Häuser, da sie ja nicht wußten, was während der letzten zwei Stunden vorgefallen war. Der Mann wurde hereingeführt und blieb mit seinem dreieckigen Hute in der Hand in einiger Entfernung stehen, er sah verlegen und etwas dämlich ans. „Nun?" fragte der Fürst. „Was giebt's? Wir möch­ ten die neuesten Nachrichten hören." „Excellenz", fing der Soldat an, „ich muß sehr um Verzeihung bitten, daß ich hier so erscheine". — Allerdings war seine Uniform nicht ganz in Ordnung, und er sah blaß und müde aus. „Thut nichts, thut nichts; sprechen Sie frei heraus!" sagte der alte Saracinesca ermuthigend. „Excellenz", sagte der Gendarm, „ich muß um Ent­ schuldigung bitten, aber da ist ein Herr, der sich Don Gio­ vanni nennt, mit ihrem verehrten Namen —" „Das weiß ich. Er ist mein Sohn. Was ist's mit ihm?" „Es ist nicht der Herr Fürst von Sant' Ilario; Excellenz, er hat einen andern Namen. Marchese von — von — hier ist seine Karte, Ercellenz."

108 „Also mein Vetter, San Giacinto. Was ists mit ihm? frage ich." „Ew. Excellenz haben einen Vetter?" — stammelte der Gendarm. „Nun? ist es denn wider das Gesetz, Vettern zu haben?" rief der Fürst. „Was ist denn mit meinem Vetter los?" „Dio mio!“ rief der Soldat in höchster Aufregung. „Che combinazione! Was für eine Zufall! Der Vetter von Ew. Excellenz ist in der Todtenkammer von Santo Spirito!" „Ist er todt?" fragte der Fürst mit leiserer Stimme und sprang vom Stuhle auf. „Nein!" rief der Mann, „questo e il male! Das ist eben das Unglück! Er ist lebend und gesund!" „Was zum Teufel macht er denn in der Todten­ kammer?" brüllte der Fürst. „Excellenz, ich flehe Sie um Vergebung an! Ich habe mit dem Einschließen des Herrn Marchese nichts zu thun gehabt! Es war der Arzt, Excellenz, der ihn für einen Garibaldiner hielt. Er soll sogleich auf freien Fuß gesetzt werden —" „Das sollt' ich meinen!" versetzte Saracinesca heftig. „Und was haben eure Esel von Wundärzten mit solchen Herren zu thun? Meinen Hut, Pasquale! Und wie in aller Welt kam mein Vetter nach Santo Spirito?" „Excellenz, das weiß ich nicht. Ich mußte meine Pflicht thun." „Und wenn Ihr von nichts wißt, wie zum Teufel wollt Ihr dann Eure Pflicht thun? Ich will Euch und alle Aerzte und das ganze Hospital mit allen Kranken noch vor morgen in die Carceri Nuove sperren lassen, meinen Hut, Pasquale, hörst Du!"

109 Es entstand eine kleine Verwirrung, während welcher der Gendarm, der gern aller Verantwortlichkeit für das Einsperren von San Giacinto entgehen wollte, das Zimmer verließ und über drei Stufen auf ein Mal die große Treppe hinabsprang. Dann bestieg er sein Pferd und jagte durch die nunmehr verödeten Straßen nach dem Hospital zurück. Zwei Minuten nach seiner Ankunft hörte San Gia­ cinto das schwere Thürschloß aufschließen, und der Arzt trat in die Todtenkammer. San Giacinto war mit seiner Cigarre beinahe fertig und fing an ungeduldig zu werden, allein der Arzt brachte viele Entschuldigungen wegen seiner langen Abwesenheit vor. „Ein unerwarteter Rückfall bei einem gefährlichen Kran­ ken, Herr Marchese", sagte er zur Erklärung. „Was wollen Sie? Wir Aerzte hängen von der Gnade der Natur ab! Bitte, verzeihen Sie meine Saumseligkeit; aber ich konnte Niemanden schicken, da Sie nicht gesehen werden wollten. Ich hatte die Thür verschlossen, damit keiner Sie hier fände. Bitte, kommen Sie mit, sie sollen das Fräulein sogleich sehen." „Auf jeden Fall!" versetzte San Giacinto. „Todte sind keine angenehme Gesellschaft, und ich bin in Eile." Der Arzt führte ihn nach der Unfallstation in ein kleines sauberes Krankenzimmer, in welchem eine verhängte Lampe brannte. Eine barmherzige Schwester stand neben dem weißen Bett, auf welchem ein junges Mädchen lang ausgestreckt lag. „Sie kommen zu spät", sagte die Nonne ruhig. „Das arme Kind ist todt." San Giacinto stieß einen Schreckensruf aus und war noch vor dem Arzt am Bette. Er hob das holde junge

110 Geschöpf in seinen Armen auf und starrte ihm ins Gesicht, indem er eS dem Lichte zuwandte. Dann legte er sie mit einem Ruf des Staunens wieder hin. „Sie ist es nicht, Herr Profeffor", sagte er. „Ich muß mich entschuldigen für die Mühe, welche ich Ihnen gemacht habe. Bitte, haben Sie meinen besten Dank. Es ist eine große Aehnlichkeit, aber sie ist es nicht." Der Doctor war froh, die Verantwortlichkeit für einen Fall los zu sein, bei dem, wie San Giacinto ihm gesagt hatte, die Ehre einer der vornehmsten römischen Familien betheiligt war. Ehe er etwas Weitres sagte, überzeugte er sich, daß der Tod wirklich eingetreten war. „Der Tod ruft oft Aehnlichkeiten hervor, die im Leben nicht vorhanden waren", bemerkte er, indem er sich ab­ wandte. Dann verließen Beide das Zimmer, die barckherzlge Schwester folgte ihnen in einiger Entfernung, um die Träger herbeizurufen, welche ihren bisherigen Pfleg­ ling wegtragen sollten. Als die beiden Herren die Treppe hinuntergingen, schlugen laute streitende Stimmen an ihr Ohr, und als sie auf den Flur kamen, sahen sie den alten Fürsten Saracinesca seinen Stock in gefährlicher Nähe vom Kopfe des Pförtners schwingen. Letzterer war zurückgewichen, bis er mit dem Rücken an der Mauer stand. „Ich will mir nichts vorlügen lassen!" schrie der er­ zürnte Fürst. „Der Marchese ist hier — der Gendarm sagte mir, er wäre in der Todtenkammer —, wenn er nicht sofort hervorkommt, breche ich Ihnen den Hals —" Der Mann protestirte eben so laut und schnell, wie sein Gegner ihn bedrohte. „Aber mein lieber Vetter!" ries San Giacinto, besten unverkennbare Stimme den Fürsten sofort von seinem An-

— • 111 griff abbrachte, „bringe den Menschen doch nicht um. Du siehst ja, ich bin gesund und munter." Darauf folgte eine kurze Erklärung, bei welcher der Arzt eingestehen mußte, daß er, weil San Giacinto seine Identität nicht nachweisen konnte, es für gerathen gehalten hätte, in Anbetracht der Unruhen in der Stadt nach der Polizei zu schicken. „Aber was hat dich hergeführt?" fragte der alte Saracinesca, der sich die Anwesenheit seines Vetters im Hospital gar nicht erklären konnte. San Giacinto hatte seine Neugier befriedigt und machte sich aus den kleinen ihm zugestoßenen Unannehmlichkeiten nicht das Geringste. Ihm lag daran wieder fortzukommen, nnd da er den Verdacht des Arztes gegen ihn halb und halb errathen hatte, wunderte er sich gar nicht darüber, als der Gendarm an den Tag kam. „Erlauben Sie mir, Ihnen nochmals zu danken", sägte er verbindlich zum Arzt gewendet. „Ich bezweifle keinen Augenblick, daß Sie durchaus richtig verfuhren. Komm!" setzte er dann zum Fürsten gewendet hinzu. Der Pförtner erhielt ein Trinkgeld zum Trost für die Schelte und die beiden Vettern traten auf die Straße. Saracinesca verlangte nochmals eine Erklärung. „Sehr einfach", sagte San Giacinto. „Donna Fau­ stina war nicht zu Hause, also trennte ich mich von Deinem Sohn und wir gingen in verschiedenen Richtungen suchen. Zufällig kam ich hierher; denn ich kann mich in der Stadt noch nicht gut zurechtfinden, hörte von der Explosion und daß zwei Zouaven todt gefunden und ins Hospital ge­ tragen worden wären. Ich fürchtete, einer von ihnen könnte Gouache sein, und es gelang mir, hineinzukom­ men; darauf wurde ich bei den Leichen eingeschloffen,

— m — wie Du gehört hast. Uebrigens war Gouache nicht dar­ unter." „Es ist empörend —" hub Saracinesca wieder an, aber sein Vetter ließ ihn nicht ausreden. „Es thut gar nichts", sagte er schnell. „Die Hauptsache ist, Donna Faustina aufzufinden. Du hast wohl nichts von ihr gehört?" „Gar nichts. Giovanni war noch nicht nach Hause gekommen, als der Gendarm erschien." „Dann müssen wir weiter suchen, so gut es geht", sagte San Giacinto. Damit stiegen sie Beide in die Droschke des Fürsten und fuhren fort. — Es war fast Mitternacht, als eine kleine Abtheilung Zouaven über die Engelsbrücke ging. An der Porta San Paolo am andern Ende der Stadt hatte ein scharfes Ge­ fecht stattgefunden, und die Leute waren müde. Aber auf Ruhe war in dieser Nacht nicht zu rechnen, und die müden Soldaten wurden nur zurückgeführt, um in der Nähe ihres Quartiers Wache zu stehen. Der Offizier ließ den kleinen Trupp auf dem breiten Platz an der andern Seite, der Piazza Pia, halten. „Herr Gouache", sagte der Lieutenant, „Sie überneh­ men die Corporalwache und halten Ordnung in der Nähe der Kaserne, — wenn nämlich noch etwas davon übrig geblieben ist", setzte er mit schmerzlichem Lächeln hinzu. Gouache trat vor und ein halb Dutzend Leute stellten sich hinter ihm auf. „Ich vermuthe, Sie haben eben so wenig zu Abend gegessen wie ich, Herr Gouache." „Nein, Herr Lieutenant. Es thut nichts." „Sehen Sie zu, ob Sie um diese Stunde noch etwas zu essen bekommen können. Ich will dafür sorgen, daß

113 Sie vor Tagesanbruch abgelöst werden. Gewehr auf! Marsch!" Somit ging Gouache den Borgo Nuovo entlang und hinter ihm seine Soldaten. Unter ihnen war der Sohn eines französischen Herzogs, ein englischer Herr, dessen Vor­ fahren mit dem Eroberer marschirt waren, wie ihr Nach­ komme jetzt hinter dem pariser Maler marschirfe, ein jun­ ger Schweizer, Doktor der Rechte, ein paar rothhaarige irische Bauern, und noch zwei oder drei andre. AIs sie an der Stätte des Unfalls ankamen, war der Platz ver­ ödet. Die Leute, welche angestellt worden, das Geröll fortzuschaffen, hatten bald die Hoffnungslosigkeit des Unter­ nehmens eingesehen, und da sich bald die Nachricht ver­ breitete, daß zur Zeit nur die Regimentsmufiker in der Kaserne gewesen und zwar wahrscheinlich im untersten Stock­ werk, wo das Zimmer für das Musikcorps lag, wurden alle Versuche, die Leichen aufznfinden, bis zum nächsten Tage verschoben. Gouache nebst vielen Andern war wie durch ein Wun­ der dem Tode entgangen, denn es waren noch keine fünf Minuten vergangen, seit sie im Laufschritt nach der Porta San Paolo ausgerückt waren, als das Gebäude in die Luft sprang. Die Nachricht war natürlich an sie gelangt, während sie den Angriff auf das Thor zurückschlugen, aber erst nach mehreren Stunden konnte eine kleine Abtheilung entbehrt werden, um in das zerstörte Quartier zurückzu­ kehren. Gouache selbst war gerade zur Zeit gekommen, um sich seinen Kameraden anzuschließen und am Gefechte theilzunehmen. Nun stellte er seine Leute in angemessenen Entfernungen längs der Straße, auf und sand Muße, über das Vorgefallne nachzudenken. Er war hungrig und durstig und vom Pulver geschwärzt, hatte aber augenscheinlich keine Krairfcrt, Sant' Ilario. I. 8

114 Aussicht, sich eine Erfrischung verschaffen zu können. Auch wurde die Nachtluft kalt, und er mußte rasch auf und ab­ gehen, um sich warm zu halten. Zuerst ging er immer fünfzig Schritt auf und ab, da er aber dieser einförmigen Bewegung überdrüssig wurde, fing er an auf dem Trümmer­ haufen herumzuklettern. Seine lebhafte Phantasie beschwor die Scene herauf, wie sie im Augenblick der Explosion ge­ wesen sein mußte, und wandte sich dann mit bitterm Schmerz dem Gedanken an seine armen Kameraden zu, die tödtlich zerschmettert viele Fuß tief unter den Steinen lagen, über welche er Hinschritt. Als er sich an einen großen Steinblock lehnte, drang plötzlich das leise Jammern einer weiblichen Stimme an sein Ohr. Der Ton schien aus keiner großen Entfernung zu kommen, aber die Stimme klang leise und sanft. Als er horchte, glaubte er allmälig Worte zu unterscheiden, allein solche Worte, wie er nicht zu hören erwartet hatte, obschon sie seine eignen Gefühle nur allzu gut ausdrückten. „Requiem aeternam dona eis!“ Es war ganz deutlich vernehmbar, und die Stimme klang ihm wundersam bekannt. Er hielt den Athem an und lauschte aufs Aeußerste gespannt. „Requiem sempiternam — sempiternam — sempiternam!“ — Die Tone verzweifelten Jammers zitterten bei der letzten Wiederholung, und die Stimme brach in leidenschaftlichem Schluchzen. Anastasius wartete nicht länger. Zuerst hatte er ge­ glaubt, er bilde sich nur ein, etwas zu hören, aber das plötzliche Weinen ließ ihm keinen Zweifel mehr. Er brach sich vorsichtig Bahn durch die Trümmer, bis er vor Schreck und Staunen mit einem Male still stand. In einer Ecke, wo noch ein Theil der Mauer stand,

115 lag ein Mädchen auf den Knieen, die Hände in heftiger Bewegung ausgestreckt, während das Mondlicht ihre dunkel gekleidete Gestalt matt beleuchtete. Die Hülle war ihr vom Kopf auf die Schultern herabgesunken, und die zittern­ den Strahlen fielen auf ihr schönes Gesicht und markirten ihre engelgleichcn Züge mit mildem Licht. Noch immer

stand Anastasius regungslos, kaum seinen Augen trauend, und doch kannte er dieses holdselige Gesicht zu gut, um nicht daran zu glauben. Es war Donna Faustina Montevarchi, die dort um Mitternacht allein kniete und die feier­ lichen Worte aus der Todtenmeffe sprach; um ihm weinte sie, und er wußte es. Als er so auf dem Grabe seiner Kameraden dastand, ergriff eine wilde Freude das Herz des jungen Mannes, eine Freude, die man fühlen muß, um sie zu kennen, dmn es übersteigt die Macht des Menschenwortes, sie zu schil­ dern. Es war als ob an diesem dunkeln grausigen Orte plötzlich die Sonne schiene wie auf Mittag über einer lachenden Landschaft; das zerbröckelte Mauerwerk und die geborstenen Steinblöcke schienen schöner als die reizendsten Blumen, und von der dunkeln Gestalt strahlte für den Mann, der sie* liebte, ein Glanz aus, der ihm Herz und

Auge hell machte. In der Heftigkeit seiner Gemüthsbe­ wegung krampfte sich die Hand, welche auf dem umgestürz­ ten Steine lag, plötzlich zusammen und brach ein Stück von dem losen Mörtel ab. Bei dem leichten Geräusch wandte Faustina den Kopf um. Ihre Augen waren weit geöffnet und verstört, und als sie aufsprang, stieß sie einen kurzen gellen Schrei aus und taumelte zurück gegen die Mauer. Im Augen­ blick war Anastasius neben ihr, stützte sie und sah ihr ins Antlitz.

116 „Faustina!" Einige Secunden sah sie ihn stumm und entsetzt an, dann richtete sie sich auf und wandte das Gesicht von ihm ab. Es war ihr, als wäre sein Geist aus der Erde em­ porgestiegen, um sie zu umarmen. Dann schwand der ver­ störte Ausdruck aus ihrem Gesicht, die Züge wurden ruhig und die Farbe trat ihr einen Augenblick iq die Wangen. Ganz langsam zog sie ihn zu sich und hielt ihre Augen auf die seinen geheftet; ihre Lippen begegneten sich in in einem langen süßen Kuß, — dann verließ sie die Kraft, uyd sie lag ohnmächtig in seinen Armen. Gouache hob sie zärtlich empor und setzte sie so, daß sie sich an die Mauer lehnen konnte, dann kniete er neben ihr nieder. Er wußte nicht, was er in solchem Falle thun sollte, und hätte er es gewußt, so würde es ihm wenig geholfen haben. Sein Gefühl sagte ihm, daß sie bald wieder zum Bewußtsein kommen würde, und er war von seinen Empfindungen so völlig überwältigt, daß er nur ihr holdes Gesicht anschauen konnte, während ihr Kopf an seiner Schulter ruhte. Aber während des Wartens ergriff Angst sein Herz. Er fragte sich, wie Faustina hierher ge­ kommen wäre, und wie sich ihr Kommen erklären ließe. Mitternacht war jetzt längst vorüber, und er konnte sich die Angst und Besorgniß in ihres Vaters Hause vorstellen, bis sie aufgefnnden wäre. Er malte sich in rascher Folge die Auftritte aus, welche im Palast Montevarchi auf sein Erscheinen mit der jüngsten Tochter des Hauses in seinen Armen — oder in einer Droschke — folgen würden, und er mußte sich gestehen, daß noch niemals ein Liebhaber in solcher Klemme gewesen wäre. Faustina schlug die Augen auf und seufzte, schmiegte ihr Köpfchen sanft an seine Brust und seufzte wieder in

117 dem glücklichen Bewußtsein, daß er gerettet wäre, endlich richtete sie sich auf und sah ihn an. „Ich war so überzeugt, Sie wären getödtet!" sagte sie mit ihrer sanften Stimme. „Mein Liebling!" rief er und drückte sie an sich. „Freuen Sie sich nicht, daß Sie leben?" fragte sie; „wenigstens um meinetwillen! Sie wissen nicht, was ich gelitten habe." Wiederum drückte er sie fest an sich, ohne ein Wort zu sprechen, und vergaß all die unerhörten Schwierigkeiten seiner Lage über der Seligkeit, sie in seinen Armen zu halten. Sein Schweigen war beredter als Worte es sein konnten. „Meine Geliebte!" sagte er endlich, „wie konnten Sie sich um meinetwillen solchen Gefahren aussetzen? Glauben Sie, daß ich solcher Liebe werth bin? Und doch, wenn die

Liebe zu Ihnen mich Ihrer würdig machen kann, so bin ich der würdigste Mann, der je gelebt hat, und ich lebe nur für Sie. Ohne Sie könnte ich eben so gut hier unten mit meinen armen Kameraden begraben liegen. Aber sagen Sie mir, Faustina, fürchteten Sie sich nicht, herzu­ kommen? Seit wann sind Sie hier? Es ist sehr spät. Der Morgen wird bald anbrechen." „So? Nun was thut es, wenn Sie in Sicherheit sind? Sie fragen, wie ich hcrgekommen bin? Sagte ich nicht, daß ich Ihnen folgen wollte? Warum eilten Sie ohne mich fort? Ich lief sehr schnell hierher, und gerade als ich die Thore der Kaserne erblickte, geschah ein furcht­ barer Krach und ich wurde, ich weiß nicht wie, zu Boden geworfen. Bald stand ich auf und verkroch mich unter einem Thorweg. Zch glaube, ich muß ohnmächtig gewor­ den sein, denn ich dachte, Sie wären getödtet. Gerade als

118 cs geschah, sah ich vor mir einen Zouaven, und der muß erschlagen worden sein. Ich hatte ihn für Sie gehalten. Als ich zum Bewußtsein kam, waren so viele Leute auf der Straße, daß ich mich nicht rühren konnte. Dann gin­ gen sie fort, und ich kam hierher, während die Arbeiter versuchten, die Steine fortzuschaffen, und ich sah zu und bat sie, sortzuarbeiten, aber sie wollten nicht, und ich hatte nichts ihnen zu geben, so gingen sie denn auch fort, und ich wußte, ich würde bis zum Morgen warten muffen, um Sie zu finden, denn gewartet hätte ich — keiner hätte mich von hier fortreißen sollen — ach! mein Einziger, mein Geliebter! Was ist alles Andre, da Sie gerettet sind!" So saßen sie eine halbe Stunde und sprachen mit einander, obwohl sie Beide wußten, daß es so nicht bleiben könnte; aber keiner hatte Lust, das Wort zu sprechen, welches dieser Seligkeit ein Ende machen mußte. Gouache befand sich in doppelter Verlegenheit. Erstens wußte er nicht, wie er Donna Faustina zu solcher Stunde unbe­ merkt in ihres Vaters Haus bringen sollte, zweitens war er Befehlshaber der Wache, und seinen Posten aus irgend welchem Grunde zu verlaffen, würde eine schwere Pflicht­ verletzung sein. Er konnte Faustina weder allein nach Hause gehen lassen, noch konnte er sie begleiten. Er konnte keinen seiner Leute ausschicken, um einen Freund zu seiner Hilfe herbeizuholen, denn Jemanden ins Vertrauen ziehen, hieß das Mädchen in den Augen von ganz Rom um ihren Ruf bringen. Um diese Zeit der Nacht eine Droschke zu finden war beinahe undenkbar. Die Lage schien ver­ zweifelt. Ucberdies war Faustina ein bloßes Kind, und es war rein unmöglich ihr zu erklären, was die Folgen sein würden, wenn man sie mit ihm zusammen fände.

119 „Ich denke", sagte sie nach einem wonnigen Schwei­ gen, mit schüchterner Stimme, „ich denke, es wäre vielleicht am Besten, wenn Sie mich setzt nach Hause brächten. Sie werden sich um mich ängstigen", setzte sie hinzu, damit er nicht dächte, sie wünschte ihn zu verlaffen. „Ja, ich muß Sie nach Hause bringen", antwortete Gouache wie abwesend. Ihr klang der Ton kalt. „Sind Sie böse, weil ich fort will?" fragte das junge Mädchen und sah ihn liebevoll an. „Böse? Nein, mein Liebling! Ich hätte Sie gleich nach Hause bringen sollen, — aber ich war zu selig, um daran zu denken. Natürlich muffen die Ihrigen in furcht­ barer Angst sein, und die Frage ist nur, wie Sie hinein­ kommen sollen. Können Sie ungesehen ins Haus gelan­ gen? Ist irgend eine Möglichkeit dafür vorhanden? Ist

irgend eine kleine Thür offen?“ „Wir können ja den Pförtner wecken", sagte Faustina

unbefangen. „Der wird uns einlaffen." „Das geht nicht. Wie kann ich vor Ihren Vater treten und ihm sagen, daß ich Sie hier gefunden habe? Ueberdies kennt mich der Pförtner." „Nun, was schadet das?" „Er würde mit den andern Dienstboten darüber reden, und dann wüßte es morgen ganz Rom. Sie müssen in Begleitung einer Dame nach Hause gehen, und dazu müssen wir eine Ihnen bekannte finden. Es würde Ihnen furchtbar schaden, wenn solch eine Geschichte weiter erzählt würde." „Warum?" Auf diese unschuldige Frage hatte Gouache keine Ant­ wort bereit. Er lächelte nur und drückte sie fester an fich. „Die Welt ist sehr böse, meine Geliebte. Ich bin ein

120 Mann und weiß das. Sie müssen sich aus mich verlassen. Wollen Sie das?" „Wie können Sie nur fragen? Ich will Ihnen immer vertrauen." „Dann werde ich Ihnen sagen, was wir thun wollen. Sie müssen mit der Fürstin Sant' Ilario nach Hause gehen." „Mit Corona? aber —" „Sie weiß, daß ich Sie liebe, und sie ist die einzige Frau in Rom, der ich trauen kann. Staunen Sie nicht! Sie fragte mich, ob es wahr wäre, und ich sagte ja. Ich bin hier auf Wache, und Sie muffen auf mich warten, bis ich bei meinen Schildwachen die Runde gemacht habe. Es wird kaum fünf Minuten dauern. Dann werde ich Sie nach dem Palast Saracinesca führen. Während einer Stunde wird man mich hier nicht vermissen." „Ich will alles thun, was sie wollen", sagte Faustina. „Vielleicht ist dies das Beste. Aber ich fürchte, es werden schon alle schlafen. Ist es nicht sehr spät?" „Ich werde die Leute wecken, falls sie schon schlafen." Er verließ sie um seine Runde zu machen und sich zu versichern, daß seine Soldaten nicht eingeschlafen waren. Dann stand er an einer Straßenecke still, ehe er zurück­ kehrte, und kritzelte beim Mondlicht einige Worte auf ein Blatt aus seinem Taschenbuch. „Gnädige Frau", schrieb er, „ich habe Donna Fau­ stina Montevarchi gefunden; sie hatte sich verirrt. Es ist unumgänglich nothwendig, daß Sie sie nach Hause begleiten. Sie sind die Einzige, der ich trauen kann. Zch warte an Ihrer Thür. Bringen Sie einen Mantel oder sonst etwas mit um sie zu verhüllen." Er unterschrieb mit seinen Anfangsbuchstaben und sal-

121 tete das Papier zusammen; dann steckte er cs in eine Tasche, wo er es hernach leicht herausnehmen konnte. Dar­ auf ging er an die Stelle zurück, wo Faustina auf ihn wartete. Er half ihr aus den Trümmern heraus und ging mit ihr durch eine Seitenstraße, um den Schildwachen auszuweichen, und so eilten sie nach der Brücke. Die

Schildwache dort rief Gouache an, er gab sofort das Lo­ sungswort und durfte mit seiner Begleiterin ungehindert weitergehen. In kaum einer Viertelstunde waren sie im Palast Saracinesca. Gouache ließ Faustina im Schatten eines Thorwegs auf der andern Seite der Straße stehen und ging auf das Thor zu. Ein Lichtstrahl, der durch eine Spalte eines Ladens hinter dem schweren Eisengitter auf der einen Seite des Thorbogens hindurchdrang, zeigte, daß der Pförtner noch auf war. Anastasius nahm sein Bajonnett und köpfte mit der Spitze ans Fenster. „Wer ist da?" fragte der Pförtner und steckte den Kopf heraus. „Ist der Fürst Sant' Ilario noch auf?" fragte Gouache. „Er ist nicht zu Haus. Der Himmel weiß, wo er sein mag. Was wünschen Sie? Die Fürstin ist noch auf und wartet auf den Fürsten." „Das ist eben so gut", versetzte Gouache. „Ich bin mit diesem Billet aus dem Vatikan hergeschickt. Es be­ darf sofortiger Antwort. Seien sie so gut zu sagen, daß mir befohlen worden, darauf zu warten." Diese Erklärung befriedigte den Pförtner, welchem in diesem Augenblick der Anblick eines Zouaven angenehmer als gewöhnlich war. Er steckte den Arm durchs Gitter und nahm das Papier. „Das sieht aber nicht aus, als ob es aus dem Vati-

122 kan käme", bemerkte er zweifelhaft, indem er das Zettel­ chen an die Lampe hielt. „Der Cardinal wartet, beeilen Sie sich!" sagte Gouache. Ihm fiel ein, daß wenn selbst der Mann etwas lesen konnte, was übrigens nicht unwahrscheinlich war, die Anfangsbuch­ staben A. G., welche die des Cardinais in umgekehrter Ord­ nung waren, genügen dürften, um ihm einen Schreck ein­ zujagen und ihn auf die Beine zu bringen! Und so ge­ schah es in der That. Fünf Minuten später wurde das Pförtchen im großen Thorflügel geöffnet und Gouache sah Coronas hohe Ge­ stalt auf die Straße treten. Sie zauderte einen Augen­ blick, als sie den Zouaven allein sah, und ließ dann die Thür hinter sich ins Schloß fallen. Gouache verbeugte sich rasch und bot ihr den Arm. „Wir müssen schnell gehen", sagte er, „sonst sieht uns der Pförtner. Donna Faustina steht dort unter dem Thor­ weg. Sie wiffen, wie dankbar ich Ihnen bin, — jetzt ist nicht Zeit es auszusprechen." Corona sagte nichts sondern eilte zu Faustina. Diese umarmte die Freundin und küßte sie. Dann gingen sie rasch in tiefem Schweigen weiter und Keiner sprach, bis sie den Palast Montevarchi erreichten. Auseinandersetzun­ gen waren unmöglich und jeder war zu sehr vom Bewußt­ sein der Gefahr durchdrungen, um von etwas Andern: zu sprechen. Als sie noch einige Schritte vom Portal entfernt waren, blieb Corona stehen. „Sie können uns hier verlaffen", sagte sie kalt zu Gouache. „Aber Fürstin, ich werde Sie nach Hause begleiten", entgegnete er etwas betroffen durch ihren Ton. „Nein — ich werde einen Diener mitnehmen. Wollen

123 Sie die Güte haben uns zu verlassen?" fragte sie beinahe hochfahrend, als Gouache noch zögerte. Ihm blieb keine Wahl, als ihrem Befehl zu gehor­ chen, obschon er sich das Benehmen der Fürstin nicht er­

klären konnte. „Gute Nacht, gnädige Frau. Gute Nacht, gnädiges Fräulein", sagte er ruhig. Dann wendete er sich mit einer tiefen Verbeugung ab und verschwand in der Dunkelheit. In fünf Minuten hatte er die Brücke erreicht und in flie­ gender Hast dahineilend kam er wieder auf seinen Posten, ohne daß seine Abwesenheit bemerkt worden war. Als die beiden Damen allein waren, legte Corona ihre Hand auf Faustinas Schulter und sah ihr ins Gesicht. „Faustina, mein Kind", sagte sie, „wie konntest Du Dich zu so einem abenteuerlichen Schritt hinreißen lassen?" „Warum hast Du ihn so unfreundlich behandelt?" fragte das junge Mädchen mit blitzenden Augen. „Es

war grausam und ungerecht —" „Weil er es verdiente", sagte Corona mit wachsendem Acrger. „Wie konnte er sich unterstehen — aus meinem Hause — ein reines Kind wie Du —" „Ich weiß nicht, was Du Dir einbildest", sagte Fau­ stina im Tone tiefer Entrüstung. „Ich folgte ihm nach der Kaserne Serristori, und wurde ohnmächtig, als sie in die Luft sprang. Er fand mich und brachte mich zu Dir, weil er sagte, ich könnte nicht mit ihm in meines Vaters Haus zurückkehren. Wenn ich ihn liebe, was geht es Dich an?" „Es geht mich sehr viel an, daß er Dich in diese schlimme Lage gebracht hat." „Das hat er nicht. Wenn es eine schlimme Lage ist,

124 so habe ich mich selbst hineingebracht. Liebst Du ihn viel­ leicht selbst, daß Du so böse bist?" „Ich!" rief Corona in höchstem Staunen über die Dreistigkeit des jungen Mädchens. „Der arme Gouache!" setzte sie mit halb mitleidigem, halb verächtlichem Lächeln hinzu. „Komm, mein Kind, wir wollen hineingehen. Wir können hier nicht die ganze Nacht stehen und reden. Ich werde Deiner Mutter sagen, daß Du Dich in in unserm Hause verirrt hattest und in einem entlegenen Zimmer ge­ funden wurdest. Das Thürschloß war zugesprungen und Du konntest nicht heraus." „Ich denke, ich werde ganz einfach die Wahrheit sagen", antwortete Faustina. „Du wirst nichts dergleichen thun", sagte Corona streng. „Weißt Du, was geschehen würde? Du würdest von deinem Vater auf mehrere Jahre in ein Kloster ge­ sperrt werden, und die Welt würde sagen, ich hätte Deine Zusammenkünfte mit Herrn Gouache begünstigt. Dies ist keine Kleinigkeit. Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich werde alles selbst erklären und die Verantwortung für die Nothlüge auf meine Schulter nehmen." „Ich versprach ihm zu thun, was er mir sagte", ver­ setzte Faustina. „Ich vermuthe, er würde wünschen, daß ich Deinen Rath befolge, und darum will ich es thun. Bist Du noch böse, Corona?" „Ich werde versuchen, es nicht zu sein, wenn Du ver­ nünftig sein willst." Sie klopften an das Thor und wurden alsbald eingelafsen. Das ganze Haus war noch auf den Füßen, ob­ wohl es über ein Uhr war. Es ist überflüssig, die Ge­ fühle von Faustinas Angehörigen, noch ihre Dankbarkeit gegen Corona zu beschreiben, deren Erklärung ohne Wei-

125 leres angenommen wurde und zwar mit einem Entzücken, das man sich nicht leicht vorstellen kann. „Aber Ihr Pförtner sagte doch, er hätte sie aus dem Hause gehen sehen", sagte die Fürstin Montevarchi, welche

sich auf diesen Umstand besann und eine Erklärung dafür wünschte. „Er hatte sich in seiner Angst geirrt", versetzte Co­ rona ruhig. „Es war nur mein Mädchen, welches hin­ auslief um zu sehen, was vorginge, und dann bald wieder zurückkam." Er war also nichts weiter zu sagen. Der alte Fürst und Ascanio Bellegra brachten Corona nach Hause, welche nicht warten wollte, bis der Wagen angespannt würde, weil, wie sie sagte, ihr Mann unterdessen nach Hause

kommen und sich über ihre Abwesenheit beunruhigen könnte. Sie verließ ihre Begleiter an der Thür und ging allein die Treppe hinauf. Der Pförtner kam ihr nachgelaufen. „Excellenz", sagte er leise, „der Herr Fürst kam zurück, während Sie fort waren, und ich sagte ihm, Sie hätten einen Brief aus dem Vatikan erhalten und wären mit dem Zouaven, der ihn brachte, fortgegangen. Ich hoffe, ich habe recht gethan —" „Natürlich", sagte Corona, sie war eine ruhige Natur und gerieth nicht leicht außer Fassung; aber als sie die Antwort gab, war sie sich eines unbehaglichen, ihr ganz neuen Gefühls bewußt. Sie hatte noch nie etwas gethan, wobei sie Grund hatte, sich zu fragen, was Giovanni wohl davon denken würde. Zum ersten Male seit ihrer Verheirathung wußte sie, daß sie etwas zu verbergen hatte. Wie war es denn möglich, ihm die Geschichte von Faustinas unbesonnenem Davonlaufen zu erzählen? Giovanni war ein Mann, der die Welt kannte und keinen besonderen

126 Glauben an deren Tugend hatte. Ihm das Vorgefallene mittheilen, hieß Faustina in seinen Augen nicht gut zu machenden Schaden thun. Er würde seiner Frau ohne Zweifel glauben, ihr aber sagen, daß Faustina sie hinter­ gangen habe. Es kam ihr nicht darauf an, was er von Gouache dachte, denn sie war selbst gegen ihn aufgebracht, weil sie glaubte, es hätte doch einiger Ueberredung bedür­ fen müsien, um Faustina zu bewegen, ihm zu folgen, wie toll der Gedanke auch sein mochte. Corona hatte indeffen wenig Zeit zur Ueberlegung. Sie konnte doch nicht auf der Treppe stehen bleiben, und sobald sie »ihre Wohnung betrat, mußte sie natürlich ihrem Mann begegnen. Sie faßte den Entschluß etwas zu thun, was in den meisten Fällen sehr gefährlich ist. Giovanni war in ihrem Boudoir, bleich, und ver­ ängstigt. Er hatte ganz vergessen, daß er an diesem Abend nicht gespeist hatte und rauchte eine Cigarrette mit kurzen scharfen Zügen. „Gott sei Dank!" rief er/ als seine Frau ins Zimmer trat. „Wo bist Du gewesen, mein Liebling?" „Giovanni", sagte Corona ernst, indem sie ihm beide Hände auf die Schultern legte. „Du weißt, Du kannst mir vertrauen, nicht wahr?" „Wie ich dem Himmel vertraue", antwortete er zärtlich. „Dann mußt Du mir jeht vertrauen", sagte sie. „Ich werde es Dir einst sagen, darauf gebe ich Dir mein feier­ liches Versprechen. Faustina Montevarchi ist bei ihrer Mutter. Ich habe sie nach Hause gebracht und gesagt, sie hätte sich bei uns im Palast verirrt und aus Versehen eine Thür verschloffen, die sie nachher nicht aufbekommen konnte. Du mußt der Geschichte beipflichten. Du brauchst ja nur zu sagen, ich hätte es Dir so erzählt, da Du ja

127 zur Zeit aus warst. Dir will ich nichts vorlügen, darum sage ich Dir, daß ich die Geschichte erfunden habe." Sant' Ilario schwieg einige Minuten und sah seiner Frau dabei fest in die Augen; sie begegneten den seinen

ohne zu zucken. „Du sollst es halten, wie Du willst, Corona", sagte er endlich und steckte die Cigarrette wieder in den Mund, sah sie aber noch immer dabei an.

„Willst Du mir eine Frage beantworten?" „Wenn ich es kann, ohne weitere Erklärungen zu geben." „War der Zouave, der die Botschaft aus dem Vatikan

brachte, — Gouache?" Corona wendete die Augen ab, verstimmt durch die Frage. Eine Antwort verweigern hieß so viel wie die Wahrheit zugeben, und sie wollte ihrem Gatten keine Un­ wahrheit sagen. „Es war Gouache", sagte sie nach kurzem Zögern. „Das dachte ich mir", versetzte Sant' Ilario mit leiser Stimme. Er trat ans Kamin und warf die Cigarrette hinein. „Nun gut", fuhr er fort, „ich will daran denken, die Geschichte so zu erzählen, wie Du sie mir erzählt hast, und ich bin gewiß, Du wirst mir dereinst die Wahrheit sagen." „Natürlich" sagte Corona. „Und ich danke Dir von ganzem Herzen, Giovanni! Es giebt keinen Mann, wie Du bist, Geliebter." Sie setzte sich auf den Stuhl, der neben ihm stand, faßte seine Hand und drückte sie an die Lippen. Sie wußte recht gut, was für eine sonderbare Bitte sie gethan hatte, und war ihm in der That dankbar. küßte sie auf die Stirn.

Er bückte sich und

128 „Ich will Dir immer trauen", sagte er sanft. „Sage mir, mein Lieb, hat Dir diese Sache Kummer gemacht? Ist es ein Geheimniß, daß Dich beunruhigen wird?" „Jetzt nicht", antwortete sie freimüthig. Giovanni meinte es ernst, als er versprach, seiner Frau zu trauen. Er wußte beffer als jeder Andre, wie sehr sie des höchsten Vertrauens würdig war, und er meinte wirklich, was er sagte. Es muß zugegeben werden, daß die Lage für einen Mann von seiner Gemütsart peinlich war, und die Größe seiner Liebe zu Corona läßt sich aus der Bereitwilligkeit ermessen, mit welcher er es zugab, daß sie ihm etwas verschweige. Alle Umstände, welche mit dem, was sich an jenen Abend zugetragen hatte, in Ver­ bindung standen, waren höchst seltsam, und der Schluß, statt das Geheimniß aufzuklären, machte es nur noch un­ durchdringlicher. Seines Vetters unumwundene Behaup­ tung, daß Faustina und Gouache sich liebten, war für all seine Begriffe und Vorurtheile empörend. Er hatte ge­ sehen, wie Gouache in einer Ecke des Salons seiner Frau die Hand küßte, — ein Verfahren, das er nicht ganz billigte, obschon cs häufig genug war. Darauf waren Gouache und Faustina verschwunden. Dann war Faustina gefunden worden, und um ihre Auffindung zu erleichtern, war es nöthig gewesen, daß Corona und Gouache zusammen um ein Uhr Nachts den Palast verließen. Endlich hatte Co­ rona sein Vertrauen zu ihr angerufen und sich darauf ge­ stützt, um ihm fürs Erste jedwede Erklärung ihrer Hand­ lungsweise zu verweigern. Corona war eine edle und treue Frau, nnd er hatte versprochen ihr zu trauen. Wie

weit er sein Wort hielt, wird sich später zeigen.

129 Siebentes Kapitel.

Als San Giacinto Coronas Erklärungen über Fau­ stinas Verschwinden hörte, sagte er nichts. Er glaubte nicht im mindesten an die Geschichte; wenn aber alle an­ dern sich damit zufrieden gaben, war kein Grund vorhan­ den, weshalb er es nicht auch thun sollte. Obwohl er deutlich sah, daß die Geschichte eine bloße Erfindung war, hinter der etwas steckte, was nicht herauskommen sollte, war das Ergebniß im Ganzen ihm eben erwünscht. Er nahm den Dank der Familie Montevarchi für seine Be­ mühungen mit befriedigtem Lächeln entgegen und gratulirte der Fürstin zu dem glücklichen Ausgang des Abenteuers. Zunächst machte er auch keine Versuche, die Wahrheit durch Fragen herauszubringen, deren Beantwortung schwierig gewesen wäre, denn ihm war es sehr lieb, daß der Vor­ fall erklärt war und in Vergessenheit gerieth. Donna Faustinas Verschwinden wurde natürlich vielfach besprochen und beleuchtet, das allgemeine Urtheil der Welt fiel aber anders aus als San Giacinto's Privatansicht von der Sache. Die Leute sagten, der von der Familie gegebene Bericht müsse wahr sein, denn es wäre verkehrt, anzuneh­ men, daß ein Kind, frisch aus dem Kloster, so thöricht oder so verwegen sein sollte, in einem solchen Augenblicke ganz allein auszugehen. Keine andre Voraussetzung er­ schien auch nur im mindesten haltbar, und die gegebene Erklärung müsse als einzig mögliche Lösung des Räthsels angenommen werden. San Giacinto sagte Niemandem, daß er anderer Meinung wäre. Seine Absicht war vor allen Dingen, seine Stellung in der römischen Gesellschaft fest zu begründen, und sein natürlicher Tact sagte ihm, daß der beste Weg dazu wäre, tirawflrd, eanf Slatic. I. 9

130 Keinen zu beleidigen und ohne Weiteres der Meinung der Mehrheit beizustimmen. Da überdies der Haupttheil seines Planes zur Sicherung seiner Stellung in einer Verbin­ dung mit Faustinas Schwester bestand, so lag es augen­ scheinlich in seinem eigenen Interesse, den guten Namen der Familie nach besten Kräften zu wahren. Er wußte, daß der alte Montevarchi einer der Unbeugsamsten unter der steifen Gesellschaft der Aufgezäumten war, und daß der Fürst das Betragen seiner Kinder eben so ängstlich überwachte, wie sein eigner Vater ihn früher selbst über­ wacht hatte. Ascanio Bellegra war das Resultat dieser väterlichen Erziehung und versprach schon jetzt, den Fuß­ tapfen seines Vaters nachzufolgen. Christliche Tugenden sind sicherlich nicht unvereinbar mit Männlichkeit, die Art aber, auf welche sie vom Fürsten Montevarchi geübt wurden, hatte aus seinem Sohn Ascanio ein farbloses Geschöpf gemacht, eher nicht schlecht als gut, in ein Gewand der Gerechtigkeit gekleidet, welches ihm nur paßte, weil seine harmlose Seele keine hervorragenden Aus­ wüchse von Tugenden hatte, noch auch durch anstößige Vertiefungen entstellt war, in denen sich Laster verbergen konnten. Es giebt in gewissen Gesellschaftsklaffen Leute, die Männer, aber nicht männlich find. Das ist kein Para­ doxon, noch ein bloßes Wortspiel. Es giebt Männer in jedem Alter, — jung, in mittleren Jahren, und Greise, welche manche schätzbaren Tugenden besitzen, im Nothfalle Muth bezeigen, ehrenwerth, kräftig, fleißig und beharrlich find, denen aber unleugbar etwas fehlt, was zu einem idealen Mann gehört, und was wir, in Ermangelung eines bessern Wortes, das männliche Element nennen wollen. Wenn wir so große und mächtige Vergrößerungsgläser

131 haben werden, daß ein menschliches Wesen unter dem concentrirten Licht der Linsen so durchsichtig sein wird, wie das winzigste Jnsect unter einem unsrer modernen opti­ schen Instrumente, dann wird vielleicht der Forscher der Zukunst die Ursache eines solchen Unterschiedes entdecken können. Ich glaube indessen nicht, daß derselbe auf der Thatsache beruht, daß der Mensch ein paar Gramm Blut mehr in den Adern hat als ein andrer. Die Thatsache liegt tiefer verborgen und mag dem Psychologen eben so wie dem Anthropologen zu denken geben. Für uns aber ist sie vorhanden, wir können sie nicht erklären, sondern müssen uns damit begnügen, die Erscheinungen zu betrach­ ten, welche aus dieser Verschiedenartigkeit des Organismus hervorgehen. Heutzutage scheint die Gesellschaft der englisch sprechenden Racen das Gedeihen eines Geschöpfes zu be­ günstigen, welches zwar Mann aber nicht männlich ist, während außerhalb der Schranken jenes sonderbaren kleinen Kreises, der sich „die Gesellschaft" nennt, die Männlichkeit des Mannes stärker hervortritt als bei andern Racen. Vor einiger Zeit sagte ein englischer Journalist, viele Eigenthümlichkeiten der englisch sprechenden Völker gingen hervor aus der Allgegenwart des jungen Mädchens, welches alle neu erschienenen Romane liest, in alle Theater geht und den Ton der Unterhaltung und der Literatur durch ihre allgegenwärtige Unschuld regelt. Cyniker, wenn es noch Vertreter dieser lächerlich gewordenen Schule giebt, mögen das glauben, wenn sie wollen, Thatsache ist, daß gerade die männlichste Klasse von Männern die stärkste Vorliebe für den Umgang mit den feinsten Frauen, und im Ganzen genommen die größte Hochachtung vor den Frauen im Allgemeinen bezeigt. Vermöge natürlicher An­ ziehungskraft zieht der männliche Mann die Gesellschaft 9*

132 des andern Geschlechtes vor, und würde vielleicht lieber mit andern Männern kämpfen, oder sie wenigstens in dem Streben nach Ansehen, Macht und Ruhm zu übertreffen suchen, als seine Zeit in freundschaftlicher Unterhaltung mit ihnen zubringen, wie interessant auch das gewählte Thema wäre. Dieser Gesichtspunkt mag als uucivilisirt angesehen werden, aber es läßt sich darauf Hinweisen, daß nur in den allercivilisirtesten Ländern der Umgang mit Frauen allen Männern in der entsprechenden Lebensstellung zugänglich ist. Niemand, der den Orient genau kennt, wird behaupten, daß die Orientalen ihr.e Frauen ein­ sperren, weil sie an ihrer Gesellschaft so viel Gefallen finden, daß sie dieses Vorrecht nicht mit ihren Freunden theilen möchten. San Giacinto war hervorragend ein männlicher Mann, wie eigentlich alle Saracinescas in höherm oder geringerm Grade. Er verstand Frauen instinctiv und trotz seiner beschränkten Erfahrung in der Welt, kannte er sehr wohl die Macht ihres Einflusses. Es war bezeichnend für ihn, daß er beschlossen hatte, sich zu verheirathen, sobald er in der römischen Gesellschaft Fuß gefaßt haben würde. Es war ihm klar, daß er durch die Verbindung mit einer mächtigen Familie den Einfluß auf die Frauen erlangen könnte, welcher ihm schließlich alles gewähren würde, was er begehrte. Durch seine Vettern war er sehr bald mit der Familie Montevarchi bekannt geworden und da zwei heirathsfähige Töchter im Hause waren, machte er sich diese Bekanntschaft zu nutze. Ihm wäre vielleicht Faustina lieber gewesen, aber er sah voraus, daß er weniger Schwierigkeiten zu überwinden haben würde, um Flavia zur Frau zu bekommen. Der alte Fürst und die Fürstin waren in Verzweiflung dar-

133 über, daß sie noch unverheirathet war, und es war klar, daß sie schwerlich für sie eine bessere Partie finden würden als den Marchese di San Giacinto. Er seinerseits wußte, daß in den Augen -er Welt ihm sein früheres Gewerbe zum Nachtheil gereichte, obschon er der unangezweifelte und anerkannte Vetter der Saracinesca und außer dem alten Fürsten Leo und Sant' Ilario der einzige Mann in der Familie war. Auch seine beiden Kinder waren ein Anstoß, da die Kinder aus seiner zweiten Ehe nicht er­ warten konnten, das ganze Vermögen zu erben, welches er dereinst hinterlassen würde. Aber seine Stellung war gut, und Flavia hatte nicht viel Ausficht, fich zu verheirathen, so daß er hoffen konnte, sie für fich zu gewinnen. Es war ihm von Anfang an klar, daß irgend ein Grund vorhanden sein müffe, weshalb sie fich nicht verheirathet hatte, und die etwas abfälligen Aeußerungen über sie, welche er bisweilen hörte, reizten seine Neugierde. Da er immer beabsichtigt hatte, das Haupt der Familie bei diesem Schritte zu Rathe zu ziehen, beschloß er, das jetzt gleich zu thun. Er wollte die Sache nicht weiter gehen lassen, ehe er über Flavia die Wahrheit erfahren hatte, und er war überzeugt, der Fürst Saracinesca würde ihm alles sagen, sobald er nur die Absicht äußerte, sie zu heirathen. Der alte Herr hatte zu viel Familienstolz um zuzulaffen, daß sein Vetter eine unpassende Partie ein­ ginge. Also am Tage nach den vorhin erzählten Begeben­ heiten ging San Giacinto nach dem Frühstück hin und fand den alten Fürsten wie gewöhnlich allein in seinem Studirzimmer. Er schlummerte indeffen nicht, denn die Berichte über die Ereigniffe des vorigen Abend im Offervatore Romano waren höchst interessant. „Du hast wahrscheinlich schon alles über Montevarchi's

134 Tochter gehört?" fragte Saracinesca, indem er die Zeitung beiseite legte und San Giacinto die Hand reichte. „Ja und ich freue mich über das Ende des Abenteuers, um so mehr als ich Dich wegen eines andern Mitgliedes der Familie befragen wollte." „Ich hoffe, Flavia ist jetzt nicht verschwunden", be­ merkte der Fürst. „Ich hoffe nicht", antwortete San Giacinto lachend. „Ich wollte Dich fragen, ob Du es billigen würdest, wenn ich um sie anhielte." „Das kommt sehr plötzlich", sagte Saracinesca über­ rascht. „Ich muß es mir überlegen. Ich erkenne Deine freundliche Gesinnung, die Dich bewegt mich um Rath zu fragen, in hohem Grade an, mein lieber Vetter, und ich will die Sache gründlich in Ueberlegung ziehen." „Ich werde Dir dafür sehr dankbar sein", versetzte der jüngere Mann ent ft; „in meiner Lage fühle ich mich verpflichtet, Dich zu befragen. Ich würde es ja in jedem Falle thun» auch bloß um Deinen höchst schähenswerthen Rath zu haben, der für einen Neuling in römischen Verhältniffen wie ich es bin, ganz nothwendig ist." Saracinesca sah seinen Vetter scharf an, als ob er eine Spur von Ironie in seinem Ton oder in seinen Wor­ ten entdecken wollte. Er erinnerte sich seiner Streitigkeiten mit Giovanni, als er von diesem verlangt hatte, Tullia Mayer zu heirathen, und war erstaunt, San Giacinto, über welchen er eigentlich gar keine rechtmäßige Au­ torität hatte, so fügsam und um seinen Rath besorgt zu finden. „Wahrscheinlich möchtest Du etwas über ihr Vermögen wissen", sagte er endlich. „Montevarchi ist reich, aber gei­ zig. Er könnte ihr mitgeben, was er wollte."

135 „Natürlich ist es wichtig zu wissen, was er ihr mit­ geben würde", versetzte San Giacinto lächelnd. „Natürlich. Ganz recht. Zwei Töchter find bereits verheirathet. Jede von ihnen hat hunderttausend Scudi mitbekommen. Das ist im Grunde nicht so wenig, wenn man bedenkt, was er für eine zahlreiche Familie hat, aber er hätte mehr geben können. Was nun Flavia anbetrifft, so könnte er schon etwas großmüthig sein, um —" Der alte Herr war tut Begriff zu sagen: um fie los zu werden, und vielleicht dachte sein Vetter das anch. Er hielt inne und beendete den Satz ziemlich unbeholfen. „Um so einen schönen Mann für fie zu bekommen." „Warum ist sie noch nicht verheirathet?" fragte San Giacinto mit einer leichten Neigung des Kopfes, als An­ erkennung für die schmeichelhafte Bemerkung, mit der sich der Fürst ans der Verlegenheit geholfen hatte. „Wer weiß!" rief der letztere bedenklich aus. „Steckt da irgend eine Geschichte dahinter? War sie schon ein Mal verlobt? Es ist doch eigentlich sonderbar, wenn man es bedenkt, denn sie ist ein hübsches Mädchen. Bitte, sei ganz offen, ich habe noch keinen Schritt in der Sache gethan." „In der That, ich weiß es selbst nicht. Sie ist nicht wie andre Mädchen und macht ihren Eltern in der Ge­ sellschaft Noth, so daß, wie ich glaube, die Väter der jun­ gen Leute sich scheuen um sie anzuhalten. Nein. Ich kann Dir versichern, es hängt ihr keine Geschichte an. Sie hat eine gewisse Art, unangenehme Wahrheiten zu sagen, welche Montevarchi entsetzt. Als Kind war sie schwächlich und wurde zu Hause erzogen, und so hat sie natürlich keine Manieren." „Ich hätte gedacht, sie müsse deshalb um so bessere

136 Manieren haben", bemerkte San Giacinto. Der Fürst starrte ihn ganz erstaunt an. „Das ist hier nicht unsere Ansicht", sagte er nach einer Pause. „Alles in allem, möchte ich sagen, für hundertundzwanzigtausend könntest Du sie nehmen, wenn Du Lust hast — und wenn Du mit ihr fertig werden kannst. Aber das mußt Du selbst beurtheilen." „Die Montcvarchi sind, glaube ich, was ihr eine große Familie nennt?" „Sie sind nicht die Savelli, oder die Frangipani — auch nicht die Saracinesca. Aber es ist eine gute Familie, gutes Blut, gutes Vermögen, und was Montcvarchi gute Grundsätze nennt." „Du denkst also, ich könnte nichts Besseres thun als Donna Flavia heirathen?" „Es wäre entschieden eine gute Partie. Du hättest Donna Tullia Mayer heirathen sollen. Wenn sie sich nicht zum Narren und mich zu ihrem Feinde gemacht hätte, und wenn Du vor zwei Jahren aufgetaucht wärest — nun, es ließ sich auch gegen sie vielerlei sagen und manche Geschichten von ihr erzählen. Aber sie war steinreich — ja! Das war ein Vermögen zum Aufschnappeu für den Schuft Del Ferice!" „Del Ferice?" wiederholte San Giacinto. „Derselbe, welcher durch die Abschrift meines Trauscheins zu beweisen suchte, daß Dein Sohn verheirathet wäre?" „Derselbe. Ich will Dir die übrige Geschichte ein an­ der Mal erzählen. Dann war zu der Zeit auch noch Bianca Valdarno — aber sie hat voriges Jahr einen Neapolitaner geheirathet, und die kleine Rocca, aber Onorato Cantalupo hat sie und ihre Mitgift, — Montevarchis zweiter Sohn, und — ja, ich weiß jetzt wirklich keine andre

137 als Flavias Schwester Faustina. Warum willst Du die nicht heirathen? Ihr Vater will freilich den jungen Frangipani für sie einfangen, aber das Gluck wird ihm nicht blühen, das kann ich ihm jagen, wenn er sich nicht von einer halben Million trennen will." „Donna Faustina ist zu jung", sagte San Giacinto ruhig. „Ueberdies sind sie Schwestern, was ist da viel zu wählen! Ich ziehe eigentlich Flavia vor; sie ist lustiger und lebhafter." „Bedeutend — daran zweifle ich nicht, und Du wirst auf sie aufpaffen müssen, wenn Du sie nicht in Dich verliebt machen kannst." Saracinesca lachte bei dem Ge­

danken. „In mich!" rief San Giacinto und stimmte in die Fröhlichkeit seines Vetters ein. „In mich! Fürwahr! einen ehrbaren Wittwer zwischen dreißig und vierzig! Höchst wahrscheinlich! Zum Glück ist bei der Sache von Liebe keine Rede. Ich denke aber, für ihr Betragen kann ich einstehen." „Ich möchte nicht der Mann sein, der Deine Eifer­ sucht erregt!" bemerkte Saracinesca und lachte wiederum, indem er die Riesengestalt und das hagere ernste Gesicht seines Vetters betrachtete. „Du bist jedenfalls im Stande, Deine Frau zu behüten. Ueberdies bezweifle ich gar nicht, daß Flavia sich sehr verändern wird, wenn sie erst verheirathet ist. Sie ist kein übles Mädchen, — macht sich nur zu gern über ihre Eltern lustig, und was übrigens den Alten anbetrifft, so kann ich es ihr gar nicht verdenken. In einem Stücke wirst Du ihn aber zufriedenstellen müssen, — ich bin nicht neugierig und stelle keine Fragen, aber ich sage Dir im Voraus, wie gern er auch seine Tochter verheirathen wird, so wird er doch mit Dir einen guten



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Handel abschließen wollen und wird nach Deinem Vermö­ gen fragen." San Giacinto schwieg einen Augenblick; es sah so aus, als ob er im Kopf rechnete. „Würde ein Vermögen, das der Mitgift gleich käme, ihn zufriedenstellen?" fragte er endlich. „Ja, das glaube ich wohl", versetzte der Fürst, indem er seinen Vetter eigenthümlich ansah. „Sieh, da Du Kin­ der aus Deiner ersten Ehe hast, würde Montevarchi doch gern Flavias Sohn gut versorgt sehen, wenn sie einen haben sollte. Das ist Deine Sache. Ich will Dir nichts

vorschreiben." „Ich denke", sagte San Giacinto wieder nach einer kleinen Pause, „ich könnte mich dazu verpflichten, den zu erwartenden Kindern etwas Bestimmtes auszusetzen. Meinst Du, daß ein derartiges Abkommen den Fürsten Monte­ varchi zufrieden stellen würde?" „Ganz gewiß, wenn Ihr Euch über die Bedingun­ gen einigen könnt. So etwas geschieht oft in ähnlichen Fällen." „Ich bin Dir sehr dankbar für Deinen Rath. Darf ich hoffen, daß Du ein gutes Wort für mich einlegen wirst, falls der Fürst Dich um Deine Ansicht befragt?" „Natürlich", antwortete Saracinesca bereitwillig, wenn auch nicht besonders herzlich. Ihm hatte sein Vetter zuerst nicht gefallen, und ob­ gleich er seine unwillkürliche Abneigung gegen ihn über­ wunden hatte, trat das Gefühl im Augenblick stärker als je wieder hervor bei der Aussicht, daß er vielleicht aufge­ fordert werden könnte, für San Giacinto's Charakter, als eines für Flavia paffenden Gatten, gewissermaßen zu bür­ gen. Er war schon zu weit gegangen, denn da er den

139 Plan gebilligt hatte, würde es ihm nicht mehr geziemen, seine Mitwirkung zu versagen, falls sein Beistand erfor­ derlich sein sollte, um die Heirath zu Stande zu bringen. Die leichte Veränderung im Ton seiner letzten Worte war San Giacinto indessen nicht entgangen. Seine Auffassung war von Natur scharf und durch die Eigenthümlichkeit seiner jetzigen Lage noch verschärft worden, so daß er Saracinescas Abneigung, bei der Sache die Hand im Spiel zu haben, beinahe besser verstand als der Fürst selbst. „Ich hoffe, daß ich Deines Beistandes nicht bedürfen werde", bemerkte San Giacinto. „Es war mir wirklich mehr um Deine Zustimmung als um Deinen thätigen Beistand zu thun." „Die hast Du von ganzem Herzen", sagte Saracinesca warm, denn er schämte fich etwas seiner Kälte. San Giacinto verabschiedete fich und ging fort, ganz zufrieden mit dem, was er erreicht; wozu er auch wirklich alle Ursache hatte. Montevarchi's Einwilligung zu der Hei­ rath war jetzt nicht mehr zu bezweifeln, da San Giacinto sicher war, die Bedingungen, welche er stellen würde, er­ füllen zu können, und das Bewußtsein, daß er sogar mehr thun könnte, als von ihm verlangt werden würde, gab ihm um so mehr Zuversicht inbctreff des Ausganges. Um die Wahrheit zu sagen: er fühlte sich sehr von Flavia an­ gezogen, und obschon er seine Neigung bekämpft haben würde, wäre sie übel angebracht gewesen, so freute ihn doch die Aussicht, eine Dame zu hcirathen, welche nicht nur seine Stellung in der Gesellschaft befestigen, sondern die ihm auch aufrichtige Zuneigung einflößen konnte. Nach seiner Auffassung war die Ehe in erster Linie ein zu beiderseitigem Vortheil abgeschlosser Vertrag; allein,

140 er sah nicht ein, weshalb man sich die Erfüllung eines sol­ chen Vertrages nicht so angenehm wie möglich machen sollte. Noch aber war der Hauptpunkt zu gewinnen, und als San Giacinto die Stufen des Palastes Montevarchi empor­ stieg, blieb er noch mehr als einmal stehen und überlegte sich zum letzten Male, ob er verständig handelte oder nicht. Endlich entschloß er sich vorzugehen, gerade auf sein

Ziel los. Flavias Vater saß in seinem Privatzimmer, als San Giacinto zu ihm kam, und diesem fiel der Gegensatz zwi­ schen der Persönlichkeit und der Lebensweise seines Vetters, von dem er eben herkam, und des Mannes auf, dem er sich als Schwiegersohn antragen wollte. Die Saracinescas führten durchaus kein üppiges Leben, aber sie verstanden sich auf häusliche Behaglichkeit besser als die meisten Römer zu jener Zeit. Wenn auch massive altmodische Möbel an den Wänden und in den Ecken der ungeheuren Zimmer standen, so lagen doch unter den Füßen weiche Teppiche und bequeme Lehnstühle mit Kissen luden zum Sitzen ein. Wenn es kalt war, brannte Feuer im Kamin und an den langen Winterabenden wurden moderne Lampen angezündet. Neue Bücher, Kupferstiche und Photographien lagen auf den Tischen, ferner einzelne schöne und kostbare Gegen­ stände, die nicht ängstlich in Schränken verschlossen wurden, sondern so aussahen, als ob sie gebraucht würden, falls sie brauchbar waren, oder als ob man wenigstens an ihrem Anblick Freude hätte. Der Palast selbst war eine düstre alte Festung mitten im älteren Theil der Stadt, innen aber herrschte eine anmuthende Atmosphäre des Wohllebens und seit Sant' Ilario mit Corona verheirathet war, ein Ge­ präge von Verfeinerung und gutem Geschmack, wie nur eine Frau es ihrem Wohnhause zu geben versteht.

141 Die Wohnung der Montevarchi war ganz anders. Schmale Teppichstreifen liefen in geraden Linien von einer Thür zur andern über den kalten Marmorboden. Statt prasselnder Feuer in den riesigen Kaminen standen Kohlen­ becken in den matt beleuchteten leeren Zimmern. Ein halb Dutzend Säle waren ganz gleich möblirt. In jedem stan­ den drei Marmortische und zwölf geradlehnige Stühle an den Wänden, die einzige Abwechselung war, daß einige mit grünem, andre mit rothem Damast überzogen waren. Ungeheure altmodische Spiegel mit prachtvollen Rahmen in die Wände eingelassen, warfen lange Ausblicke auf öde Leere und kalte Vereinsamung zurück. Auch waren die Wohnzimmer der Familie nicht viel besser. Es standen mehr Tische nnd mehr geradlehnige Stühle darin als in den Vorsälen, das war aber auch alles. Der Salon hatte einen Teppich, welcher viele Jahre lang ein Gegenstand größter Sorge für den Fürsten gewesen war, der niemals Rom für die Monate August und September verließ, ehe er sich davon überzeugt hatte, daß dieser werthvolle Gegen­ stand geklopft, ausgestänbt, eingepfeffcrt und in einen lei­ nenen Sack genäht worden, der so alt war wie er selbst, das heißt ein Vierteljahrhundert. Dieser Teppich war ein Luxus, zu dem der Vater des Fürsten durch seine eng­ lische Schwiegertochter veranlaßt worden war, der einzige, dessen er sich jemals schuldig gemacht hatte, und das gegen­ wärtige Haupt der Familie meinte, daß der Teppich seine Lebenszeit vorhalten könnte, und auch noch länger, wenn man ihn sorgfältig behandelte. Die Fürstin selbst war fünfundzwanzig Jahre lang daran erinnert worden, daß sie keine anderen modernen Einrichtungen zu beanspruchen habe, da ihr der Teppich gewährt worden war. Er war das Denkmal einer erstaunlichen Energie, welche sie ganz

142 und gar in diesem einen Kampf verbraucht hatte, und der Anblick erinnerte sie an ihre Jugend. Schon seit langer Zeit hatte sie sich ein für alle Mal den alten römischen Sitten gefügt, und obwohl sie wußte, daß eine geringe Ersparung an der Ausgabe für den Unterhalt einiger zwanzig nutzloser Dienstboten und prächtiger Equipagen hinreichen würde, wenigstens ein Zimmer im Hause für sie behaglich einzurichten, seufzte sie nicht länger bei dem Gedanken, sondern tröstete sich damit, daß sie ihre Kinder an dieselben Unbequemlichkeiten gewöhnte, welche sie selbst so lange und so geduldig ertragen hatte. Das Privatzimmer des Fürsten Montevarchi war eben so unbehaglich wie das ganze übrige Haus. Eng, hoch, dunkel, ohne Teppich, im Winter durch ein Kohlen­ becken ungenügend erwärmt und zur Zeit gar nicht geheizt, obschon das Wetter kühl war, schäbig möblirt, mit stau­ bigen Bücherbrettern, einem Schreibtisch und einigen Leder­ stühlen, dumpfig durch einen muffigen Geruch, der von den Reihen alter Bücher und der wurmstichigen Tischdecke auszugehen schien — so sah das ganze Zimmer eher wie das Bureau eines heruntergekommen Notars aus denn wie das Studirzimmer eines reichen Edelmannes aus altem Geschlecht. Der alte Herr trat einige Augenblicke nachdem San Giacinto hereingeführt worden war ein; er war nämlich hinausgeschlüpft, um fich einen andern Rock anzuziehen, als ihm sein Besuch gemeldet wurde. Es war sein Grundsatz, sich eben so gut anzuziehen, wie die Andern, wenn sie ihn sehen konnten, aber fadenscheinige Röcke zu tragen, wenn er es unbemerkt thun konnte. Er begrüßte San Giacinto mit einer gemeflenen Würde, welche in seltsamem Gegensatz zu der am vorigen Abend bezeigten Schwäche und Aufregung stand.

143 „Ich wünsche mit Ihnen in einer diskreten Ange­ legenheit zu sprechen", begann der junge Mann, nachdem er auf einem hochlehnigen Stuhle Platz genommen hatte, der unter seinem Gewicht bedenklich knackte. „Ich stehe zu Diensten", versetzte der alte Herr, höf­ lich den Kopf neigend. »Ich glaube", fuhr San Giacinto fort, „obwohl meine persönliche Bekanntschaft mit Ihnen leider erst von kurzer Dauer ist, so werden doch die freundschaftlichen Beziehun­ gen, welche zwischen unsern beiderseitigen Familien be­ stehen, meinen Worten ein Recht auf Ihre Beachtung ge­ ben. Der Antrag, welchen ich stellen möchte, ist vielleicht schon vor mir von Andern gemacht und zurückgewiesen worden. Ich habe die Ehre, um die Hand ihrer Tochter zu bitten." „Faustina vermuthlich?" fragte der alte Fürst in gleichgültigem Tone, sah aber dabei den Sprecher mit seinen kleinen schlauen Augen scharf an. „Ich bitte um Verzeihung, ich meine Donna Flavia Montevarchi." „Flavia?" wiederholte der Fürst im Tone unverkenn­ barer Ueberraschung, den er indessen sofort wieder zur Gleichgültigkeit herabstimmte, indem er fortfuhr. „Sehen Sie, wir haben seit gestern Abend so viel an meine Toch­ ter Faustina gedacht, daß mir ihr Name ganz von selbst aus die Lippen trat." „Ganz natürlich", antwortete San Giacinto, der in« besten sofort begriff, daß seine Werbung Gehör finden würde. Darauf schwieg er. „Sie wünschen also Flavia zu heirathen?" bemerke der alte Fürst nach einer Pause. „Ich denke, Sie sind Wittwer, Marchese. Ich habe gehört, daß Sie Kinder haben."

144 „Zwei Söhne." „So, so, zwei Söhne? Ich gratulire. Wenn Söhne nach christlichen Grundsätzen erzogen perden, machen fie viel weniger Sorge als Töchter. Aber, mein lieber Mar­ chese, diese besagten Söhne sind dennoch ein Hinderniß — ein sehr ernstliches Hinderniß." „Vielleicht minder bedenklich als Sie glauben. Mein Vermögen unterliegt nicht dem Gesetz der Primogenitur. Es besteht kein Fideicommiß. Ich kann nach Belieben darüber verfügen." „So, so! Aber es muß doch ein Abkommen getroffen werden", sagte Montevarchi mit steigendem Interesse. „Das wird gegenseitig sein", versetzte San Giacinto ernst. „Ich vermuthe, Sie denken an die Mitgift meiner Tochter", entgegnete der Andre etwas gleichgültiger. „Sie ist nicht groß, wissen Sie — kaum der Rede werth. Ich halte mich in Ehren verpflichtet, Ihnen das zu sagen." „Wir müssen die Sache natürlich besprechen, wenn Sie geneigt sind, meinen Antrag in Erwägung zu ziehen." „Nun, Sie wissen ja, was die Mitgift junger Mäd­ chen heutzutage ist, mein lieber Marchese. Wir sind alle nicht sehr reich." „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen", sagte San Giacinto. „Sie geben Ihrer Tochter eine Mitgift. Wie hoch sie sich, innerhalb billiger Grenzen, beläuft, die Sie bestimmen sollen, so werde ich die gleiche Summe in der Weise hinterlegen, daß dieselbe nach meinem Tode ihr und ihren Kindern zufällt, wenn sie welche haben sollte." „Das heißt doch nur, ihr ihre eigne Mitgift sichern, die ich ihr gebe", sagte Montevarchi scharf. „Ich gebe

145 Ihnen einen Scudo zu ihrer Nutznießung, und fie ver­ machen einen Scudo Ihrer Frau; das ist alles." „Durchaus nicht", entgegnete San Giacinto. „Ich will ihre Mitgift nicht zu meiner Verfügung haben —" „O den Teufel — ich sehe! Wie dumm von mir! Ich bin wirklich schon so alt, daß ich nicht mehr rechnen kann! Wie konnte ich mich so irren! Natürlich, es würde ganz so sein, wie fie sagen, natürlich, genau so!" „In der Regel würde es nicht so sein", sagte San Giacinto ruhig, „weil die meisten Männer auf solch eine Abmachung nicht eingehen würden. Indessen schlage ich dies vor." „O! um Flavias willen würde ein Mann viel thun! Deß bin ich sicher", antwortete der Fürst, welcher anfing zu denken, der Bewerber wäre in Flavia verliebt, wie un­ glaublich es ihm auch vorkam. Der jüngere Mann ant­ wortete indessen nicht aus diese Bemerkung, sondern war­ tete ab, daß Montevarchi seine Bedingungen stellte. „Wie viel wollen wir sagen?" fragte Letzterer endlich. „Das überlasse ich Ihnen. Was Sie geben, das gebe ich auch, wenn ich es kann." „Nun! aber wie soll ich wissen, was Sie geben können, mein lieber Marchese?" Der Fürst vermuthete, daß San Giacinto's Gebot, wenn er nur dahin gebracht werden könnte, eines zu machen, nicht sehr hoch sein würde. „Soll ich das so verstehen", fragte San Giacinto, „daß wenn ich die Summe nenne, welche bei meinem Tode aus­ schließlich an meine zweite Frau und deren Kinder fallen soll, Sie sich dazu verstehen wollen, dieselbe Summe für Donna Flavia in ihrem eignen Recht festzustellen? Wenn dem so ist, so will ich einen Vorschlag machen, der mir

recht und billig scheint." (S r xi iv f e t fr, Sant' Ilario.

1.

10

146 Montevarchi sah seinen Besuch einige Augenblicke scharf an, dann blickte er zur Seite und besann sich. Es lag ihm sehr daran, Flavia so bald wie möglich ztr verheirathen, und er hatte verschiedene Gründe um anzunehmen, daß San Giacinto nicht besonders wohlhabend wäre. „Und wie wird es mit dem Titel?" fragte er plötzlich. „Mein Titel geht natürlich auf meinen ältesten Sohn erster Ehe über. Aber wenn Ihnen daran besonders gele­ gen ist, so glaube ich wohl, daß mein Vetter dem Sohne Ihrer Tochter einen seiner Titel abtreten würde. Ihm würde es nichts kosten, und es würde eine Art von Entschädigung für die Thorheit meines Urgroßvaters fein." „Wie das?" fragte Montevarchi, „ich verstehe nicht recht." „Ich setzte voraus, die Geschichte wäre Ihnen bekannt. Ich bin der directe Abkömmling des ältern Zweiges. Durch einen Vertrag zwischen zwei Brüdern in der Familie trat der ältere das Recht der Erstgeburt dem jungem ab, der verheirathet war. Der ältere, welcher den Titel San Gia­ cinto annahm, heirathete in vorgerücktem Alter und ich bin sein Urenkel. Wenn er nicht so thöricht gehandelt hätte, stände ich heute an seiner Stelle. Wie Sie sehen, wäre es für ihn nur natürlich, wenn er, in Anbetracht dieser Thatsache, nur einen seiner überflüssigen Titel für meinen Sohn abträte. Ich glaube, er hat gegen hundert. Sie könnten ihn darum bitten." San Giacinto's Emst überzeugte Montevarchi von der Wahrheit dieser Geschichte. Er zögerte noch einen Augen­ blick und faßte dann einen Entschluß. „Ich gehe auf Ihren Vorschlag ein, mein lieber Mar­ chese", sagte er mit ungewöhnlicher Verbindlichkeit.

147 „Ich will hundert und fünfzig tausend Scudi*) in der vorher erwähnten Weise aussehen", sagte San Giacinta einfach. Der Fürst fuhr von seinem Stuhl auf. „Ein — hundert — und — fünfzig — tausend!" wiederholte er langsam. „Das ist ja ein ganzes Vermö­ gen! Ich bitte Sie! Ich hatte keine Ahnung, daß Sie eine so große Summe nennen würden —" Sieben tausend fünfhundert Scudi jährlich, zu fünf Procent", bemerkte San Giacinto in geschäftsmäßigem Tone. „Sie geben eben so viel. Das wird unsern Kin­ dern ein Einkommen von fünfzehntausend Scudi sichern. Es ist nicht kolossal aber ausreichend. Ueberdies habe ich ja damit nicht gesagt, daß ich ihnen nicht mehr hinter­ lassen würde, wenn ich mehr zu hinterlassen haben sollte." Der Fürst sank auf seinem Sessel zurück und trommelte mit seinen langen dürren Fingern auf dem Tisch. Sein Gesicht hatte einen aus Ueberraschung und Bestürzung ge­ mischten Ausdruck. Die Wahrheit zu sagen, hatte er er­ wartet, San Giacinto werde ungefähr fünfzigtausend als die erforderliche Summe nennen. Er wußte nicht, ob er sich über die Aussicht freuen sollte, seine Tochter so glän­ zend zu verheirathen, oder sich darüber ärgern, daß er sich in die Lage gebracht hatte, mit so viel Geld herausrücken zu müssen. „Das ist viel mehr, als ich meinen andern Töchtern mitgegeben habe", sagte er endlich in zauderndem Ton. „Haben Sie das Geld ihnen oder ihren Männern ge­ geben?" fragte San Giacinto. „Natürlich ihren Männern." „Dann erlauben Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu *) 1 Lcudo — .') Vire — 4 Mark.

148 machen, daß das Geld in diesem Falle in Ihrer Familie bleiben soll, und daß die Sache also ganz anders liegt. Nicht nur das, sondern ich bestimme dieselbe Summe für Ihre Familie, anstatt Ihr Geld für mich zn benutzen. Sie sind augenscheinlich der gewinnende Theil bei dieser Abmachung." „Es würde also dasselbe sein, wenn ich Flavia das Geld vermachte, da es in der Familie bleibt?" meinte der Fürst, der von dem Handel loszukommen trachtete. „Doch nicht ganz", versetzte San Giacinto. „Erstens handelt es sich um die Zinsen bis zu Ihrem hoffentlich noch sehr fernem Tode. Und dann ist die Unsicherheit menschlicher Verhältnisse zu bedenken. Es wird erforder­ lich sein, daß Sie das Geld sicher niederlegen, wie ich es bei der Unterzeichnung des Ehecontractes thun werde. Sonst wäre das Abkommen kejn gerechtes." „Also Sie sagen, Sie stammen von der ältern Linie der Saracinesca ab. Wie wundersam sind die Wege der Vorsehung, mein lieber Marchese!" „Es war eine große Thorheit von meinem Urgroß­ vater", entgegnete der Andre achselzuckend. „Kein Mensch sollte sagen, daß er nicht heirathen wird, so lange er

lebt."

„Ach nein! Die Wege des Himmels sind unerforschlich! Es ziemt uns armen Sterblichen nicht, sie ändern zn wollen. Ich vermuthe, die Uebereinkunft, von der Sie sprechen, ist in gehöriger Form und gesetzmäßig abge­ schlossen worden?" „Das nehme ich an, da niemals ein Versuch gemacht wurde, die daraus hervorgegangenen Verhältnisse abzu­ ändern." „Ich nehme es auch an, — ich nehme es an, lieber

149 Marchese. Es würde sehr interessant sein, die Papiere anznsehen." „Mein Vetter hat sie", sagte San Giacinto. „Ich vermuthe, er wird nichts dagegen haben. Aber, entschul­ digen Sie, wenn ich auf den Gegenstand zurückkomme, der mir sehr am Herzen liegt. Darf ich annehmen, daß Sie auf meinen Vorschlag eingehen? Wenn dem so ist, so könnten wir eine Zusammenkunft unsrer beiderseitigen An­ wälte verabreden." „Einhundert und fünfzig tausend", sagte Montevarchi und rieb sich sein spitzes Kinn mit den knöchernen Fin­ gern. „Fünf Procent — siebentausend fünfhundert — eine Unsumme, Signor Marchese, eine Unsumme! Und in diesen schweren Zeiten! Was müssen Sie für ein reicher Mann sein, wenn Sie so leichthin über so ungeheure Summen sprechen! Nun, nun, Sie sind sehr beredt, ich muß wohl einwilligen, und bei strenger Sparsamkeit kann ich vielleicht den Verlust wieder einbringen." „Sie müssen doch einsehcn, daß es eigentlich kein Verlust ist", meinte San Giacinto, „da das Geld Ihrer Tochter und deren Kindern, folglich in Ihrer Familie bleibt." „Ja, ich weiß, aber Geld ist Geld, mein Freund", rief der Fürst und legte die rechte Hand auf die alte grüne Tischplatte und zog langsam seine krummen Nägel über das Tuch, als ob er Geld aus der staubigen Wolle herauskratzen wollte. Es lag beinahe etwas Wildes in seinem Ton, als er diese Worte aussprach, und seine kleinen Augen glitzerten unheimlich. Er wußte recht wohl, daß er ein gutes Geschäft machte, und daß San. Giacinto eine bessere Partie wäre, als er je hätte für Flavia hoffen können. Ja, er war so bestrebt, sich die Beute zu sichern, daß er

150 sich aller Fragen über San Giacintos Vorleben enthielt, woraus etwa ein Hinderniß für die beabsichtigte Verbin­ dung hätte entstehen können. Er nahm sich vor, die Hoch­ zeit sollte sofort stattfinden. „Es versteht sich", fuhr er nach einer Pause fort, „daß wir oder unsre Notare mit dem baaren Gelde er­ scheinen sollen, und daß das Kapital sofort nach gemein­ samem Uebereinkommen angelegt wird; der Heirathsvertrag wird gleichzeitig und auf der Stelle aufgesetzt". „Ganz recht", sagte San Giacinto, „ohne Geld kein Vertrag". „In diesem Falle will ich meine Tochter von meinem Beschluß in Kenntniß setzen." „Es wird mir sehr lieb sein, Donna Flavia bei näch­ ster Gelegenheit meine Verehrung zu bezeigen." „Die Hochzeit könnte am 30. November stattfinden, mein lieber Marchese. Am 1. Dezember ist der erste Ad­ ventssonntag, und während der Adventszeit sind keine Hoch­ zeiten ohne besondere kirchliche Genehmigung gestattet." „Wahrscheinlich eine kostspielige Sache!" bemerkte San Giacinto ernst, obwohl er Lust hatte zu lachen. „Ja, mindestens fünf Scudi", antwortete Montevarchi mit Nachdruck. „Wir wollen nur recht ökonomisch sein!" „Die Heilige Kirche ist in solchen Dingen sehr streng und Sie können eben so gut Ihr Geld für sich behalten." „Das will ich", sagte San Giacinto und stand auf um zu gehen. „Ich will Sie nicht länger aufhalten. Bitte, empfangen Sie meinen wärmsten Dank und gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich es mir zur hohen Ehre rechne, Ihr Schwiegersohn zu werden." „Ach, Sie sind wirklich sehr gütig, mein lieber Mar-

151 chese. Freilich, ich bedarf des Trostes. Bedenken Sie die Gefühle eines Vaters, wenn er seine geliebte Tochter — Flavia ist ein Engel auf Erden, mein Freund, — wenn, wie gesagt, ein Vater sein theures Kind, das er wie seinen Augapfel liebt, einem Manne anvertraut — selbst einem Manne von Ihrem Werth! Wenn Ihre Kinder erwach­ sen sein werden, dann werden Sie verstehen, was ich

leide!" „Ich verstehe vollkommen", sage San Giacinto in ernstem Tone. „Es soll das Streben meines Lebens sein, Sie Ihren Verlust vergesten zu machen. Darf ich die Ehre haben, morgen um diese Zeit wieder vorzusprechen?" „Ja, mein lieber Marchese, ja mein lieber Sohn! — Vergeben Sie die Zärtlichkeit eines Vaters! Morgen um diese Zeit und-------- " er hielt inne. „Und dann, einige Zeit vor der Feierlichkeit, werden Sie uns vielleicht das Vergnügen Ihrer Gesellschaft beim Frühstück schenken, nicht wahr? Wir sind sehr einfache Leute; aber wir sind gastfrei in unsrer stillen Weise. Gastfreundschaft ist eine Tugend", er seufzte leise. „Eine nothwendige Tugend", setzte er dann mit besonderer Betonung des Eigenschaftswortes hinzu. „Es wird mir ein großes Vergnügen sein", versetzte San Giacinto. Damit verließ er das Zimmer und ging dann lang­ sam nach Hause, indem er sich die möglichen Folgen seiner Verbindung mit der Familie Montcvarchi überlegte. AIs Montevarchi allein war, lächelte er vergnügt in sich hinein und nahm aus einem geheimen Schubfach ein großes Rechnungsbuch heraus, in dem er eine halbe Stunde mit sichtlicher Befriedigung studirte. Nachdem er es sorgsam zurückgelegt und den Schub wieder ver-

152 schloffen hatte, ließ er seine Frau zu sich bitten, die als­ bald kam. „Setze Dich, Guendalina", sagte er. „Ich will mir den andern Rock anziehen, und dann werde ich Dir eine wichtige Mittheilung machen." Ueber seiner Freude an der Unterredung mit San Giacinto hatte er das nothwendige Umkleiden ganz ver­ gessen, aber das Eintreten der Fürstin erinnerte ihn an die gebotene Sparsamkeit. Es war ein Theil seiner Lebensaufgabe gewesen, ihr darin mit gutem Beispiel vor­

an zu gehen. Als er zurück kam, setzte er sich ihr ge­ genüber. „Meine Liebe, ich habe einen Mann für Flavia ge­ sunden", war sein erstes Wort. „Endlich!" rief die Fürstin. „Ich hoffe, er ist präsentabel", setzte sie hinzu. Sie wußte, daß sie sich in Bezug auf das Vermögen auf ihren Mann verlassen konnte. „Der neue Saracinesca. Der Marchese di San Giacinto." Das gerathete Gesicht der Fürstin Montevarchi drückte das höchste Erstaunen aus und wurde immer länger, wäh­ rend sie den alten Mann anstarrte. „Ein ganz armer Mensch!" rief sie, als sie sich genü­ gend gefaßt hatte, um sprechen zu können. „Vielleicht, Guendalina mia, — aber er seht Flavia einhundertundfünfzig tausend Scudi aus, für sie und ihre Erben, und wird das Geld beim Abschließen des Ehever­ trages auszahlen. Das sieht nicht nach Armuth aus. Natürlich willigte ich unter diesen Umständen ein, ein gleiches zu thun. Es wird alles unsrer Flavia verschrie­ ben, verstehst Du wohl? Er will keinen Groschen davon

153 haben — keinen Groschen! Verlaß Dich auf Deinen Mann als guten Geschäftsmann, Guendalina!" „Hast Du schon mit Flavia gesprochen? Es scheint allerdings eine gute Partie. Natürlich ist kein Zweifel daran, daß er ein Saracinesca ist. Wie könnte es auch anders sein? Sie haben ihn in die Familie ausgenommen. Aber wie wird Flavia sich benehmen?" „Was für eine thörichte Frage, meine Liebe!" rief Montevarchi aus. „Wie leicht merkt man Dir die Eng­ länderin an! Ich vermuthe, sie wird sich sehr freuen. Und wenn auch nicht, was thut's?" „Ich hätte Dich nicht gegen meinen Willen geheirathet, Lotario", bemerkte die Fürstin. „Ich hatte meinerseits keine Wahl. Mein guter Vater sagte einfach: .Mein Sohn, Du wirst jener jungen Dame Deine Verehrung bezeigen, sie wird Deine Frau werden. Solltest Du eine andere zu heirathen wünschen, so werde ich Dich einsperren.' Also that ich es. Bin ich Dir nicht mehr als dreißig Jahre lang ein treuer Gatte gewesen, Guendalina?" Diese Beweisführung war nnwiderleglich, und Monte­ varchi hatte sie jedes Mal angewendet, wenn eines seiner Kinder sich verheirathete. Wenigstens was die Treue anbetraf, war er ein musterhafter Gatte gewesen. „Es genügt", sagte er, geneigt den ausländischen Ansichten seiner Frau Rechnung zu tragen, „daß auf der einen Seite Liebe, auf der andern christliche Grundsätze sind. Ich kann Dir versichern, daß San Giaeinto ganz verliebt ist, nnd was Flavia betrifft, meine Liebe, hast Du sie nicht selbst erzogen?" „Was Flavias christliche Grundsätze anbetrifft, mein lieber Lotario, so hoffe ich nur, daß sie für ihr eheliches

154 Leben ausreichen werden. Zu Hause ist sie immer ein schreckliches Kind gewesen. Aber San Giacinto sieht aus wie ein willenskräftiger Mann. Ich werde nie seine Güte vergessen, als er gestern Abend Faustina suchen ging. Er war die Hingebung selbst, und es hätte mich gar nicht gewundert, wenn er um sie, statt um Flavia, angehalten hätte." „Das entzückende Geschöpf ist für einen unsrer Freunde bestimmt, Guendalina. Thu mir den Gefallen, niemals von ihrer Verheirathung mit einem andern zu sprechen." Die Fürstin schwieg einen Augenblick, und stellte dann eine Reihe von Fragen über den erkorenen Bräutigam, die hier nicht wiederholt zu werden brauchen. „Und nun wollen wir Flavia rufen lassen", sagte Montevarchi endlich. „Wäre es nicht am besten, wenn ich es ihr sagte?" fragte seine Frau. „Meine Liebe", versetzte er ernst. „Wenn wichtige Dinge besprochen werden, ist es die Pflicht des Hauptes der Familie, den Beschluß der betreffenden Person mitzutheilen". Also wurde Flavia Herbeschieden und bald erschien sie; in ihrem hübschen Gesicht und ihren schalkhaften schwarzen Augen lagen Ueberraschung und Spannung. Sie war fast eben so brünett wie San Giacinto selbst, obschon von sehr verschiedenem Typus. Ihre kleine Nase hatte eine Wen­ dung nach oben, die ihrer Mutter störend erschien, und ihr dickes schwarzes Haar wellte sich von Natur über die Stirn. Ihre Gestalt war unmuthig, ihre Bewegungen rasch und unbewußt. Die Nöthe ihrer Lippen bezeugte starke Lebenskraft, wofür der merkwürdige Glanz ihrer Augen sprach. Sie war keine Schönheit, besonders nicht

155 in einem Lande, wo die dunkle Complexion vorherrscht, aber sie war hübsch und. hatte etwas von der geheimniß­ vollen Eigenschaft an sich, welche reizt ohne gerade Wohl­ gefallen zu erregen. „Flavia", redete ihr Vater sie in feierlichem Tone an, „Du sollst heirathen, mein liebes Kind. Ich habe Dich sofort kommen lassen, weil keine Zeit zu verlieren ist, da die Hochzeit noch vor Advent stattfinden muß. Die Nachricht wird Dir wahrscheinlich Freude machen, aber ich hoffe, Du wirst über den Ernst eines solchen Schrittes

nachdenken und —" „Möchtest Du mir nicht den Namen meines Verlobten nennen?" unterbrach Flavia die väterliche Ermahnung. „Der Mann, den ich zu meinem Schwiegersohn er­ koren habe, ist einer, um den alle Frauen Dich mit Recht beneiden könnten, wenn der Neid nicht eine abscheuliche Sünde wäre, von der ich hoffe, daß Du fortan versuchen wirst —" „Sie in der Beobachtung ächt christlicher Grundsätze zu ersticken, unterdrücken und besiegen", sagte Flavia lachend. „Ich weiß ganz genau, was Neid ist, eine von den sieben Todsünden. Ich kann sie Dir alle hersagen, wenn Du willst." „Flavia! ich bin erstaunt!" rief die Fürstin streng. „Ich hatte ein solches Betragen nicht von meiner Tochter erwartet", sagte Montevarchi, „und obschon ich es für den Augenblick übersehen mnß, kann ich es doch nicht verzeihlich finden. Du wirst jetzt mit geziemender Bescheiden­ heit und Ehrfurcht anhören, was ich Dir zu sagen habe." „Ich bin ganz und gar Bescheidenheit, Ehrfurcht und Aufmerksamkeit, — aber ich möchte gern seinen Namen

wißen, Papa, — bitte, finde das verzeihlich!"

156 „Ich sehe nicht ein, warum ich Dir das nicht sagen soll, und ich werde Dir sicherlich alle Auskunft über ihn geben, die für Dich paffend ist. Die Thatsache, daß er ein Wittwer ist, darf Dich nicht überraschen, denn nach dem unerforschlichem Rathschluß der Vorsehung werden manchen Männern ihre Frauen früher entrissen als andern. Auch dürfte sein Alter Dir nicht als hinderlich erscheinen, — in der That, es sind keine Hindernisse vorhanden —" „Ein Wittwer — alt — wahrscheinlich kahlköpfig — ich sehe ihn schon vor mir! Ist er dick, Papa?" „Er ist beinahe ein Riese; aber ich habe Dir schon oft gesagt, Flavia, die Eigenschaften, auf welche ein weiser Vater bei der Wahl eines Gatten für sein Kind sehen mnß, hängen nicht von äußern —" „Um des Himmels willen, Mama!" rief Flavia, „sage mir, wie der Mensch heißt!" „Der Marchese di San Giacinto — laß Deinen Vater sprechen und unterbrich ihn nicht." „Wenn ihr mich Beide immerfort unterbrecht", sagte Montevarchi, „ist es mir unmöglich, mich auszusprechen!" „Ich wünsche, es wäre!" bemerkte Flavia leise. „Sprichst Du von dem Vetter der SaracineSca, San Gia­ cinto? Im Grunde nicht so übel." „Es ist sehr unschicklich für ein junges Mädchen von Herren beim Nachnamen zu sprechen —" „Also Giovanni! Soll ich ihn Giovanni nennen?" „Flavia!" rief die Fürstin, „wie kannst Du so nnehrerbietig sein! Du solltest von ihm als Marchese di San Giacinto sprechen". „Ruhig!" schrie der Fürst. „Ich will mich nicht immerfort unterbrechen lassen! Der Marchese di San Gia­ cinto wird morgen nach dem Frühstück Herkommen und

157 Dir seine Hochachtung bezeigen. Du wirst ihn in ange­ messener Weise empfangen." „Ja, Papa", sagte Flavia, plötzlich sanft werdend, indem sie mit Ergebung die Hände faltete. „Er hat sich mit beispielloser Freigebigkeit benommen", fuhr Montevarchi fort, „und ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich ihm nicht nachgestanden habe, da es sich um die Ehre unsrer Familie handelte. Weil Du Dich weigerst, die Worte väterlicher Ermahnung anzuhören, welche ich natürlich bei einer solchen Veranlassung sprechen wollte, so magst Du Dir wenigstens merken, daß Dein künftiger Gatte solch ein Mann ist, wie ich ihn haben wollte, ein Saracinesca sowohl wie ein reicher Mann, der bei den Frauen in seiner Familie an feinere Manieren ge­ wöhnt ist, als Du sie gewöhnlich für gut befindest in Ge­ genwart Deines Vaters zu zeigen." „Ja, Papa. Darf ich jetzt gehen?" „Wenn Dein Gewissen Dir gestattet, Dich ohne ein Wort der Dankbarkeit gegen Deine Eltern zu entfernen, welche trotz Deines höchst wunderlichen Betragens endlich einen passenden Mann für Dich gefunden haben; wenn Du, sage ich, einer solchen Undankbarkeit fähig bist, Flavia, dann darfst Du allerdings gehen." „Ich wollte eben sagen, Papa, daß ich Dir sehr für meinen Mann danke und auch der Mama." Darauf küßte sie ihrem Vater und ihrer Mutter mit größter Ehrfurcht die Hand und drehte sich um, um aus dem Zimmer zu gehen. Allein ihre Ernsthaftigkeit verließ sic, noch ehe sie die Thür erreichte. „Ewiva! Hurrah!" rief sie und sprang lustig der Thür zu, indem sie mit ihren Fingerchen wie mit Castagnetten schnalzte. „Ewiva! Endlich heirathe ich

158 doch!

Hurrah!"

Und

mit

diesem

Scheidegruß

ver­

schwand sie. Als sie fort war, sahen sich ihre Eltern an, wie sie einander im Verlauf von Flavias Leben schon oft ange­ sehen hatten. Es war ihnen nicht schwer geworden, ihre übrigen Kinder zu erziehen, aber Flavia war ihnen ein Räthsel. Die Fürstin würde ein richtiges englisches Mäd­ chen voll Kraft und Leben, wenn auch scheu und ver­ schlossen vor der Welt, ganz gut verstanden haben, denn so war sie selbst in ihrer Jugend gewesen. Aber Flavias Charakter war ihrer nordischen Seele unverständlich. Montevarchi verstand die Tochter besser, liebte sie aber eigent­ lich noch weniger. Was seiner Frau an ihr wunderlich vorkam, sand er ordinär und ungezogen, denn er hätte es gern gesehen, wenn sie wie die übrigen in seiner Gegen­ wart still und ehrerbietig gewesen wäre und vor ihm, als dem Haupte der Familie eine gewisse Scheu, wenn nicht thatsächlich, doch wenigstens in ihrem Benehmen gehabt hätte. Allein Flavias Betragen gab in den Augen der Römer sehr ernsten Anstoß, so daß sie sie nicht als Frau

für einen ihrer Söhne zu haben wünschten, denn nach ihrer Ansicht war sittlicher Werth unzertrennlich von äußerm Ernst und Anstand, und eine leichtfertige Manier konnte nur das sichtbare Zeichen eines leichtsinnigen Cha­ rakters sein. „Wenn er nur nicht herausbekommt, wie sie ist!" rief die Fürstin endlich aus. „Ich hoffe gläubig, daß der Himmel in seiner Gnade solch ein Unheil von unserm Hause abwenden wird", ver­ setzte Montevarchi, der indessen damit beschäftigt schien gewisse Summen an seinen Fingern zusammen zu zählen. San Giacinto verstand Flavia besser als ihre beiden

159 Eltern, und obgleich seine Verheiratung mit ihr vor allen Dingen einen Theil des Planes zur Förderung seiner ge­ sellschaftlichen Interessen bildete, muß doch zugegeben wer­ den, daß er stärkere Zuneigung zu dem Mädchen hatte, als deren Vater bei solchen Angelegenheiten für unumgänglich nothwendig gehalten haben würde. Die Sache wurde sofort abgemacht und in wenig Tagen waren die vorläufigen Bedingungen von den beiden Anwälten festgestellt worden, während Flavia auf die väterliche Börse behufs ihrer Aus­ stattung den denkbar stärksten Druck ausübte. Es mag seltsam scheinen, daß zu einer Zeit, wo ganz Rom durch eine innere Revolution erschüttert wurde, und wo die weltliche Herrschaft des Papstthums in höchster Gefahr schwebte, Montevarchi und San Giacinto die Ehepacten so ruhig besprechen und sogar den Hochzeitstag fest­ setzen konnten. Die einzig mögliche Erklärung dieser That­ sache ist, daß keiner von Beiden überhaupt an die Revo­ lution glaubte. Es ist eine bemerkenswerthe Eigenthüm­ lichkeit von Leuten, die ihr Geld lieben, daß sie nicht leicht an große Umwälzungen glauben mögen. Sie sind in der That die allerconservativsten und berechnen ihren Gewinn in Augenblicken drohender Gefahr mit einer Kaltblütig­ keit, die Veteranen Ehre machen würde. Diejenigen, welche viel Geld besitzen, setzen ihr Vertrauen ins Geld und glauben nicht an Gerüchte von Revolutionen, die nicht durch baares Geld unterstützt werden. Bisweilen haben sie sich im Verlauf der Geschichte geirrt, allein es muß

zugegeben werden, daß sie im Allgemeinen Recht gehabt haben. Was nun San Giacinto anbetraf, so nahmen seine eigenen Angelegenheiten seine Aufmerksamkeit viel mehr in Anspruch als die Ereignisse in der großen Welt, und

160 da er ein Mann mit ungewöhnlich starken Nerven war, so würde er wahrscheinlich mitten in viel großem Unruhen als den damaligen in Rom ruhig seinen Weg gegangen sein.

Achtes Kapitel. Als Anastasius Gouache endlich abgelöst und im Mor­ gengrauen des 23. Octobers nach Hause gegangen war, legte er sich hin, um auszuruhen und über die Ereignisse der verflossenen Nacht nachzndenken. Die letzten zwölf Stunden waren die ereignißreichsten seines Lebens gewesen; ja es war eigentlich kaum so lange her, daß er Faustina im Salon der Saracinesca Lebewohl gesagt hatte, und doch hatten die Ereignisse, welche in dieser kurzen Spanne Zeit vorgegangen waren, viel dazu gethan, einen andern Menschen aus ihm zu machen. Die Veränderung hatte vor zwei Jahren begonnen und war langsam fortgeschritten, bis sie plötzlich durch eine Kette unvorhergesehener Um­ stände vollendet wurde. Er war sich dieser Thatsache be­ wußt, und da die Veränderung ihm nicht unangenehm war, fing er an, darüber nachzudenken. Allein statt sich des Vorgefallnen zu vergegenwärtigen, that er, was in seinem Falle viel natürlicher war, er legte den Kopf aufs Kiffen und schlief ein. Er war jünger als seine Jahre, obwohl er kaum dreißig zählte, und seine gesunde Natur hatte noch nicht die schreckliche Gewohnheit der Schlaflosig­ keit angenommen, welche selbst körperlicher Ermüdung nicht weicht. Er legte sich nieder und schlief wie ein Knabe, durch keine Träume gestört, noch durch Schatten­ bilder vergangener Gefahren und Aufregungen beunruhigt. Zwischen sich und sein früheres Leben hatte er eine

160 da er ein Mann mit ungewöhnlich starken Nerven war, so würde er wahrscheinlich mitten in viel großem Unruhen als den damaligen in Rom ruhig seinen Weg gegangen sein.

Achtes Kapitel. Als Anastasius Gouache endlich abgelöst und im Mor­ gengrauen des 23. Octobers nach Hause gegangen war, legte er sich hin, um auszuruhen und über die Ereignisse der verflossenen Nacht nachzndenken. Die letzten zwölf Stunden waren die ereignißreichsten seines Lebens gewesen; ja es war eigentlich kaum so lange her, daß er Faustina im Salon der Saracinesca Lebewohl gesagt hatte, und doch hatten die Ereignisse, welche in dieser kurzen Spanne Zeit vorgegangen waren, viel dazu gethan, einen andern Menschen aus ihm zu machen. Die Veränderung hatte vor zwei Jahren begonnen und war langsam fortgeschritten, bis sie plötzlich durch eine Kette unvorhergesehener Um­ stände vollendet wurde. Er war sich dieser Thatsache be­ wußt, und da die Veränderung ihm nicht unangenehm war, fing er an, darüber nachzudenken. Allein statt sich des Vorgefallnen zu vergegenwärtigen, that er, was in seinem Falle viel natürlicher war, er legte den Kopf aufs Kiffen und schlief ein. Er war jünger als seine Jahre, obwohl er kaum dreißig zählte, und seine gesunde Natur hatte noch nicht die schreckliche Gewohnheit der Schlaflosig­ keit angenommen, welche selbst körperlicher Ermüdung nicht weicht. Er legte sich nieder und schlief wie ein Knabe, durch keine Träume gestört, noch durch Schatten­ bilder vergangener Gefahren und Aufregungen beunruhigt. Zwischen sich und sein früheres Leben hatte er eine

161 Kluft gelegt. Was zwischen ihm und Faustina vorgegan­ gen war,, hätte unter andern Umständen eine bloße roman­ tische Episode werden können, an die er mit einer ge­ wissen halb gemachten, halb ächten Sehnsucht zurückgedacht hätte, wenn der Mondschein. gerade die rechten Schatten warf und der Künstler in nachdenklicher Stimmung war. Der eigenthümliche Geruch zerbröckelten Mauerwerks bei feuchter Luft hätte vielleicht den Eindruck wieder hervor­ gerufen; ein altes Gemäuer, das die Bauleute cingerissen, hätte ihm vermittelst seines Geruchssinnes jene mitternäch­ tige Begegnung auf den Trümmern der Kaserne lebhaft zurückgerufen, gerade so wie der Geschmack gewisser Trüffeln an ein Souper bei Voisin erinnerte, oder wie nach zwan­ zig Jahren die harte Körnigkeit groben Maisbrodes ihn an seine Jagd auf Räuber in den Samniterbergen erinnern würde. Aber das sollte diesmal nicht der Fall sein. Hier war mehr Stoff zu Erinnerungen als ein Mondstrahl auf einem schönen Gesicht oder der Geruch zerbröckelten Mörtels. Auf beiden Seiten bestand eine innige und wahre Zuneigung bei zwei hervorragend aufrichtigen Personen, und beide erkannten im voraus, daß Gleichgültigkeit nie­ mals das Ende dieser Liebe sein könnte. Das Ende konnte

nur höchstes Glück oder tödlicher Schmerz sein. Anastasius und Faustina waren nicht nur beide ihrer selbst sicher, sondern auch überzeugt, daß der Andere treu bleiben würde, und das kommt in gewöhnlichen Fällen äußerst selten vor. Beide erkannten, daß ihnen ungeheure Hindernisse im Wege standen, aber keiner von Beiden zweifelte auch nur einen Augenblick, daß sich zu ihrer Ueberwindung Mittel

finden würden. In manchen Ländern wäre eine Heirath zwischen den Beiden eine ganz einfache Sache gewesen. Ein gebildeter titarofci6, Lanl Ilario. I. 11

162 feiner, ehrenwerther Mann, der schon Erfolge gehabt hat und anfängt berühmt zu werden, dazu etwas Vermögen besitzt, kann in Ländern, wo es keine Schande ist, seinen Lebensunterhalt durch eigenen Fleiß und Talent zu er­ werben, nach der Hand jeder beliebigen Dame streben. Künstler und Dichter haben mitunter sogenannte glänzende Partien gemacht. Aber in Nom standen die Dinge vor zwanzig Jahren wesentlich anders. Es genügt, zu beden­ ken, wie der alte Montevarchi über seine Tochter Flavia verfügte, um zu verstehen, in welchem Lichte er Faustinas Verbindung mit Anastasius Gouache angesehen haben würde. Schon der bloße Name Gouache würde im Hause Monte­ varchi Gelächter erregt haben, falls irgend Jemand auf den Gedanken gekommen wäre, daß eine Dame dieses traditionell tadellosen Geschlechtes ihn je zu dem ihren machen könnte. Es gab freilich Leute in Rom, welche die Sache mit mehr Nachsicht angesehen haben würden. Zu diesen gehörte Corona Sant' Ilario; aber ihr Mann und

ihr Schwiegervater würden die Augen eben so weit auf­ gerissen haben wie der alte Lotario Montevarchi, wenn die Partie in ihrer Gegenwart besprochen worden wäre. Ihre patriarchalisch - exclusiven Seelen wären darüber empört gewesen und der kostbare Bau ihrer angeborenen Vorurtheile bis in seine Grundfesten erschüttert worden. Es war von dem Gesichtspunkt einer möglichen Heirath aus angesehen schon schlimm genug, Geld zu verdienen, selbst wenn der Betreffende das Recht hatte, seinem Namen „Don" vorzusehen, aber kein Don zu sein und für seine Arbeit Geld zu bekommen, war ein bei weitem unübersteiglicheres Hinderniß gegen die Verbindung mit Patriziern als erblicher Wahnsinn, zahnloses Greisenalter, Aussatz oder Geldmangel.

163

Gouache hatte römische Zustände hinlänglich kennen gelernt, um das zu verstehen, und nur die äußerste kör­ perliche Erschöpfung konnte ihn daran verhindern, seine Mußestunden mit Nachsinnen über die Mittel zu verbrin­ gen, durch welche sich solche ungeheuern Schwierigkeiten überwinden ließen. Als er erwachte, stand die Lage der Dinge ihm klar genug vor Augen und gab ihm den ganzen Rest des Tages zu denken. Des Aufstandes wegen war sein Abmarsch um vierundzwanzig Stunden hinausgescho­ ben, und seine Dienstpflicht würde ihn wahrscheinlich wäh­ rend dieser kurzen Frist ganz und gar in Anspruch nehmen. Die Stadt war im Belagerungszustände, und es fand be­ ständiger Patrouillen- und Wachtdienst zur Aufrechterhal­ tung der Ordnung auf den Straßen statt. Dieser fast rein mechanische Dienst ließ ihm reichlich Zeit zum Nach­ denken, obschon er kaum einen freien Augenblick finden konnte, um Bekannte aufzusuche». Es lag ihm sehr daran, die Fürstin Sant' Ilario zu sprechen, deren Benehmen in vergangener Nacht ihn ernst­ lich erschreckt hatte. Von ihr hoffte er Beistand in seiner Bedrängniß, und das Bewußtsein, ihren Zorn erregt zu haben, war eine Hauptquelle seines Kummers. In den wenigen Worten, die er mit ihr gewechselt, hatte sie es ihm hinreichend klar gemacht, daß sie zwar aus Grundsatz seine Neigung für Faustina mißbillige, doch aber nichts thun wolle um seine Heirath zu verhindern, falls es ihm gelänge, den Widerstand ihrer Eltern zu überwinden. Er konnte sich ihre Strenge zuerst gar nicht erklären, als sie mit ihm Faustlna nach Hause geleitete. Da er an der unsinnigen Flucht des jungen Mädchens ganz unschuldig war, fiel es ihm zuerst gar nicht ein, daß Corona ihm aus der Sache einen Vorwurf machen könnte. Im Gegen11*

164 theil, er wußte, wenn des jungen Mädchens Gang nach der zertrümmerten Kaserne ein Geheimniß bliebe, so würde das eben so sehr seiner Geistesgegenwart und Verschwie­ genheit, wie der Fürstin Bereitwilligkeit ihm beizustehen, zu verdanken sein. Nicht wenig war auch dem glücklichen Zufall zu danken, denn wäre es nur im Geringsten an­ ders gegangen, so wäre sofortige Entdeckung unvermeidlich gewesen. Durch einige Ueberlegung kam er zu einem Schluß, der seinen Stolz verletzte, aber Coronas Benehmen erklärte. Sie glaubte augenscheinlich an eine heimliche, von den Liebenden auf Gouaches Anstiften verabredete Zusammen­ kunft, und vermuthete wohl gar, diese Zusammenkunft sei nur das Vorspiel zu einer Entführung. Wie hätte Fau­ stina hoffen können, unbemerkt zu bleiben, wenn nicht an jenem Abend in Nom der Aufstand ausgebrochen wäre? Corona dachte entschieden, sie hätte gar nicht zurückkommen wollen, Gouache hätte auf Mittel zur Flucht gesonnen und Faustina hätte eine Entführung angesichts des Aufstandes für möglich gehalten. Als aber Anastasius am Morgen nicht mehr gewußt, was er mit Faustina ansangen sollte und eingesehen hatte, daß nach Tagesanbruch alles heraus­ kommen mußte, hätte er sie ganz dreist nach dem Palast Saracinesca gebracht und Coronas Beistand erbeten. Als der Künstler sich die Sache so überlegte, über­ zeugte er sich immer mehr, daß er das Benehmen der Fürstin jetzt richtig verstände, und bei dem Gedanken wurde er roth vor Scham und Aerger. — Er beschloß, die erste sich darbietende Gelegenheit zu einer Erklärung mit der Dame zu benutzen, die ihm so schweres Unrecht gethan. Unvermuthet war er um fünf Uhr Nachmittags frei und eilte sofort nach dem Palast Saracinesca. Da er wußte,

165 daß nach Einbruch der Dunkelheit Niemand mehr auf der Straße sein durfte, war er sicher, keinen Besuch bei Co­ rona zu treffen, und hoffte auf eine günstige Gelegenheit, die Angelegenheit, welche ihn quälte, mit ihr zu besprechen. Nachdem er eine Weile in einem der Vorsäle gewartet hatte, wurde er hineingeführt und befand sich zu seinem Verdruß mitten im Familienkreise. Er hatte nicht auf die Anwesenheit der Herren des Hauses gerechnet, und daß das Kindchen auch dabei war, machte die Sache nicht leichter. Der alte Saracinesca begrüßte ihn herzlich. Sant' Ilario sah ernst aus. Corona blickte von ihrem Spiel mit dem kleinen Orsino auf, nickte ihm zu, sprach ein Wort der Begrüßung und fuhr dann in ihrer Beschäf­ tigung fort. Ein Gespräch war unter diesen Umständen unmög­ lich, und Gouache wünschte, er wäre nicht auf den un­ glücklichen Einfall gekommen, hinzugehen. Jetzt war aber dabei nichts anderes zu thun, als ein unbefangenes Ge­ sicht zu machen und sich möglichst gut herauszuziehen. „Nun, Herr Gouache", sagte der alte Fürst, „wie haben Sie denn die Nacht verlebt?" Er hätte kaum eine Frage thun können, die bester berechnet gewesen wäre, alle Anwesenden, das Kindchen ausgenommen, außer Faffung zu bringen. Anastasius konnte nicht umhin, Corona anzusehen, die unwillkürlich ihren Mann ansah, während letzterer Gouache anstarrte und sich wunderte, was er wohl sagen würde. Alle drei wurden etwas blässer und es entstand eine peinliche Pause. „Ich habe die Nacht sehr unbehaglich zugebracht", antwortete Anastasius nach kurzem Bedenken. „Wir wur­ den von einer Stelle zur andern gehetzt, mußten Attacken zurückschlagen, Schildwache stehen, die Straßen frei hal-

166 ten, hin und Hermarschiren. Es war bereits Tag, als ich abgelöst wurde." „Wirklich!" rief Sant' Ilario. „Ich dachte, Sie wären die ganze Nacht vor der Porta San Paolo geblieben; aber die Berichte widersprechen sich. Ich war in Sorge um Sie, bis ich mit Sicherheit erfuhr, daß Sie nicht durch das höllische Complott mit in die Luft gesprengt wären." Gouache war im Begriff, zu fragen, wer ihm denn gesagt hätte, daß er heil davon gekommen, hielt aber zum Glück noch inne und versuchte das Gespräch auf die Zer­ störung der Kaserne zu bringen. Darauf ließ der alte Saracinesca, dessen Blut durch das scheußliche Verbrechen in Wallung gebracht war, fürchterliche Verwünschungen gegen die schändlichen Mörder los, welche das Gebäude zerstört hatten, und sprach sich dafür aus, sie lebendig zu verbrennen, ein Schicksal, das eigentlich noch viel zu gut für sie wäre. Anastasius benutzte den Ausbruch von Be­ redsamkeit seitens des alten Herrn, um sich dem Kindchen zu nähern. Der kleine Orsino aber gab ihm mit seiner winzigen Faust einen tüchtigen Schlag ins Gesicht und schrie nach Herzenslust. „Er hat Fremde nicht gern", bemerkte Corona kalt. Sie stand mit dem Kinde in den Armen auf und ging nach der Thür, Gouache folgte ihr, um dieselbe für sie zu öffnen. Der Fürst donnerte noch immer Flüche gegen die Verschwörer, und Anastasius versuchte unbemerkt ein Wort zu sagen, als Corona an ihm vorüberging. „Wollen Sie mich nicht anhören?" fragte er leise und begleitete seine Worte mit flehentlichem Blick. Corona zog, wie überrascht, die Augenbrauen etwas in die Höhe, aber der Ausdruck wahrer Zerknirschung er-

167 weichte ihr Herz ein wenig und machte ihre Antwort etwas minder unfreundlich, als sie beabsichtigt hatte. „Sie sollten damit zufrieden sein, daß ich Ihr Ge­ heimniß bewahre", sagte sie und ging rasch hinaus. Als Gouache die Thür geschloffen hatte und sich um­ wandte, bemerkte er, daß Sant' Ilario ihn beobachtet hatte, und zwar an der Art, wie er jetzt nach einer andern Rich­ tung hinstarrte. Der Zouave wünschte immer dringender, daß er das Haus nicht betreten hätte, beschloß aber, seinen Besuch zu verlängern, in der Hoffnung Corona könne zu­ rückkehren. Sant' Ilario war unerklärlich schweigsam, aber sein Vater hielt das Gespräch lebhaft im Gange, so daß es nur hin und wieder einer Bemerkung seitens Gouaches als Nahrung für seine Beredsamkeit bedurfte. So ging es beinahe eine halbe Stunde fort, worauf Anastasius die Hoffnung aufgab, Corona wiederzusehen. Die beiden Herren erwarteten augenscheinlich nicht, daß sie wiederkommen würde, denn sie hatten es sich bequem ge­ macht und ihre Cigaretten angezündet. „Leben Sie wohl, Herr Gouache", sagte der alte Fürst, ihm herzlich die Hand schüttelnd. „Ich hoffe, wir werden Sie in einigen Tagen gesund und munter Wieder­ sehen." Während er dies sagte, hatte Giovanni nach dem Diener geklingelt, der den Gast hinauslaffen sollte, eine unbedeutende Handlung, die seltsame Folgen hatte. Sant' Ilario, dem einfiel, daß er am Ende Gouache in diesem Leben nicht Wiedersehen könnte, bereute seine Kälte ein wenig, und während letzterer im Begriff war fortzu­ gehen, hielt er ihn mit einer Frage über seinen Be­ stimmungsort ans, wenn er die Stadt verließe. Dar­ aus entstand eine lebhafte Besprechung über die muth-

168 »läßlichen Bewegungen Garibaldi's, welche mehrere Mi­ nuten dauerte. Corona hatte unterdessen Orsino zu seiner Amme zu­ rückgebracht und ihrer Jungfer aufgetragen, ihr zu sagen, wenn der Besuch aus dem Wohnzimmer fort sein werde. Das Mädchen ging ins Vorzimmer, und als Giovanni klingelte, benachrichtigte sie ihre Dame davon in der Vor­ aussetzung, daß Gouache nun gleich weggehen werde. Co­ rona wartete einige Minuten und ging dann wieder nach dem am Ende einer langeu Zimmerflucht belegenen Salon. Die Folge davon war, daß ihr Anastasius in einem dieser Zimmer begegnete, ihm voran der Diener, welcher nach dem Vorsaal ging, nachdem seine Herrin an ihm vorüber war. Corona und Gouache standen einander ganz allein in dem großen, matt erleuchteten Gesellschaftssaal gegen­ über. Gouache hatte die gesuchte Gelegenheit gefunden und zauderte nicht länger. „Gnädige Frau", sagte er, „ich bitte um Verzeihung, wenn ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, aber ich habe Ihnen ein ernstes Wort zu sagen. Ich gehe an die Grenze und kann eben so gut erschossen werden wie jeder Andre. Bei dem Worte eines Mannes, der morgen sterben kann, ich bin an dem, was vergangene Nacht vorgefallen, völlig unschuldig. Wenn ich zurückkehre, werde ich es Ihnen dereinst beweisen. Wenn nicht, wollen Sie mir glauben und nicht unfreundlich von mir denken?" Corona zögerte und lehnte sich einen Augenblick an den schweren Fenstervorhang. Obgleich das Zimmer ziem­ lich dunkel war, konnte sie doch den ehrlichen Ausdruck in den Augen des jungen Mannes erkennen, und sie zögerte, ehe sie ihm Antwort gab. Sie hatte eben gehört, daß zwei ihrer Bekannten im Kampf gegen die Garibaldiner

169 gefallen waren, und sie wußte, daß Anastasius von etwas Wahrscheinlichem sprach, wenn er von seinem Tode redete. Es war ja sehr möglich, daß er die Wahrheit sprach, und sie fühlte, wie bitter sie ihren Unglauben bereuen würde, falls sein Geschick ihn ereilte, ehe sie ihn wiedersähe. „Sie sagen mir etwas sehr Sonderbares", sagte sie endlich. „Sie verlangen von mir zu glauben, daß das arme Mädchen aus freien Stücken und aus Liebe zu Ihnen gestern Abend während des Aufstandes Ihnen aus diesem Zimmer nachgegangen ist. Es ist schwer zu glauben." „Und doch flehe ich Sie an es zu glauben, Fürstin. Ein Mann, der sie weniger liebte als ich, wäre der elen­ deste unter den Menschen, wenn er so von ihrer Liebe spräche. Gott weiß, wenn es anders gekommen wäre, hätte ich Sie es nicht wißen lasten. Aber gab es eine andere Möglichkeit, sie nach Hause zu bringen? That ich nicht das einzig Mögliche, um die Vorgänge der letzten Nacht geheim zu halten? Ich liebe sie so sehr, daß ich auf ihre Liebe zu mir stolz bin. Wenn ich sie vorige Nacht hätte schützen können, indem ich mein Leben für sic ließ, so hätte ich es im Augenblick für sie hingegeben. Aber das hätte nichts geholfen. Ich mußte mich Jeman­ dem anvertrauen, und Sie, die mein Geheimniß zur Hälfte kannten, da ich Ihnen ja gesagt hatte, daß ich sie liebte, waren die Einzige, welche das Uebrige errathen durfte. Falls es ihr Nutzen brächte, daß Sie mich für einen Schurken halten, so können Sie es thun — ja selbst Sie, die ich vor allen andern Frauen, außer ihr, verehre. Aber Sie bei diesem Gedanken lasten, heißt sie erniedrigen — und das sollen Sie nicht! Sie sollen nicht denken, daß sie so thöricht gewesen ist, ihr Vertrauen einem Mann zu schenken, der sie zu Grunde richten könnte — ach!

170 wenn ich sie weniger liebte, könnte ich Ihnen besser sagen, was ich meine!" Corona war von seiner Aufrichtigkeit, wenn auch nicht von seinen Beweisgründen gerührt. Sie erkannte das Absonderliche der Lage; wie er gezwungen worden, sich Jemandem anzuvertrauen, und wie es nach seiner An­ sicht besser wäre, daß sie wisse, wie sich Faustina wirklich benommen hatte, als daß sie dächte, das junge Mädchen hätte sich auf eine vorher verabredete Zusammenkunft ein­ gelassen. Sie war gerührt und ihr Herz erweicht. „Ich glaube Ihnen", sagte sie. „Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Unrecht gethan habe." „Dank, tausend Dank, theure Fürstin!" rief Gouache, indem er ihre Hand ergriff und mit den Lippen berührte. „Ich vermag nicht, Ihnen jemals so zu danken, wie ich es wünsche. Und nun — leben Sie wohl, — ich gehe. Wollen Sie mir Ihren Segen geben, wie es meine Mutter thun würde?" Er lächelte, indem er an das Gespräch vom vorigen Abend dachte. „Leben Sie wohl!" antwortete Corona. „Gottes Se­ gen sei mit Ihnen." Er wendete sich ab, und sie blieb einen Augenblick stehen und sah ihm nach, während er im Dunkel verschwand. Er that ihr von Herzen leid, und sie bedauerte, ihn so streng behandelt zu haben. Und doch, als er fort war, fing sie wieder an zu zweifeln und sich zu fragen, ob sie nicht hintergangen wäre. Es war ein besonderer Zauber in dem jungen Künstler, der sie für ihn einnahm, so lange er da war, und dessen sie sich erst bewußt wurde, wenn er ihr aus den Augen war. Nun, da sie allein war, über­ legte sie sich, wie dieser eigenthümliche Zauber wohl auf ein junges Mädchen wie Faustina wirken müsse, und mußte

171 zugeben, daß er wohl deren thörichtes Thun erklären könne. Sie konnte Gouache nicht in die Augen sehen und an seinen Worten zweifeln, allein hinterher fand sie es sehr schwer, sich ihren Glauben an ihn zu erklären. Aus ihrem kurzen Nachsinnen wurde sie dutch ihren Gatten aufgeschreckt, der unvermerkt neben sie getreten war. Als er sah, daß sie nicht ins Wohnzimmer zurückkehrte, nachdem Gouache fort war, ging er sie suchen und hatte rein zufällig noch die letzten Worte gehört, welche zwischen ihr und Anastasius gewechselt wurden und gesehen, wie dieser ihr inbrünstig die Hand küßte. Die Worte, mit denen sie ihm Segen wünschte, klangen ihm unangenehm in den Ohren und erregten die tiefsten Empfindungen seiner Seele. Er dachte daran, wie sie ihn einst in ihrer stillen sanften Weise vor fast drei Jahren, an jenem Abend aus dem Ball bei Frangipani gesegnet hatte, und cs war eine gewisse Aehnlichkeit zwischen den Worten, welche sie damals gebraucht, und den einfachen Worten, die ihr jetzt von den Lippen gefallen waren. Jetzt stand Giovanni neben ihr und legte ihr die Hand auf den Arm. Es lag nicht in seiner Natur, auf­ zubrausen wie sein Vater, wenn etwas seine Gemüthsruhe störte. Das von seiner Mutter ererbte spanische Blut hatte seinem Charakter eine große Zurückhaltung mitgethcilt, die ihm eher Tiefe als Kälte verlieh. Es fiel ihm schwer, sich heftig auszusprechen, wenn er tief erregt war, aber eben diese Schwierigkeit Worte zu finden und seine Abneigung, sie zu gebrauchen, machten ihn aufrichtiger, langmüthiger, aber auch minder versöhnlich als Andere. Er konnte lange warten, ehe er .seinen Gefühlen Luft machte, aber durch das Abwarten kühlten oder stumpften sie sich nicht ab. Er haßte Verbergen und Verschweigen mehr als die meisten

172 Menschen, dennoch hatte seine Abneigung über etwas zu sprechen, ehe er seiner Sache ganz gewiß war, ihn in den Ruf der Verschlossenheit und Berechnung gebracht. Gio­ vanni verhehlte sich nicht mehr die Thatsache, daß das Vorgefallene ihn ärgerte, aber er leugnete, sogar in seinem eignen Herzen, daß er eifersüchtig wäre. An Corona zwei­ feln, das hieße das ganze Gebäude seines Lebens umstür­ zen, welches er auf ihre Liebe gegründet und während der letzten drei Jahre zu solcher Höhe aufgeführt hatte. Sein erstes Gefühl war, um eine Erklärung zu bitten, und es trieb ihn gerade so weit, seiner Frau die Hand auf den Arm zu legen, dann aber wurde es von einer Menge un­ bestimmter Bedenken und Erwägungen zurückgehalten, welche seinen Entschluß umänderten. „Ich dachte, er wäre schon fort", sagte er recht ruhig. „Ich auch", erwiderte Corona mit kühlerem Tone, als sie sonst zu ihrem Mann zu sprechen pflegte. Auch sie war verstimmt, denn sie argwöhnte, daß Gio­ vanni auf sie aufgepaßt hätte, und da er ihr am vorigen Abend versprochen hatte, ihr in dieser Sache volles Ver­ trauen zu schenken, sah sie sein Kommen fast wie eine Verletzung des gegebenen Wortes an, und nahm es folg­ lich übel. Sie bedachte nicht, wie unwahrscheinlich es wäre, daß Giovanni von ihr voraussetzen sollte, sie würde versuchen, Gouache beim Hinausgehen zu treffen, und daß er folglich nicht auf der Lauer gestanden hatte. Sein zufälliges Kommen erschien ihr absichtlich. Er seinerseits hatte ihre absichtliche Kälte gegen Anastasius im Salon bemerkt und dachte, sie bildete einen starken Gegensatz zu dem mehr als freundlichen Abschiede, deffen Zeuge er soeben gewesen war. Corona wußte auch recht gut, daß ihre letzten Worte miß-

173 deutet werden konnten, und da sie vorläufig nicht die Ab­ sicht hatte, ihrem Mann Faustinas Geschichte anzuvertrauen, wußte sie kein Mittel um die Situation zu erklären und suchte sie deshalb ganz zu ignoriren. Sie wendeten sich um und gingen zusammen langsam nach dem Wohnzimmer zurück, bis sie beinahe die Thür erreicht hatten. Dann drehte Giovanni sich um und sah

seine Frau an. „Gehörte dies zu dem gestrigen Geheimniß?" fragte er anscheinend gleichgültig. „Ja", antwortete Corona. „Was denkst Du denn sonst? Ich begegnete ihm zufällig, und wir wechselten einige Worte." „Ich weiß. Ich hörte Dich Lebewohl sagen. Ich ge­ stehe, es überraschte mich. Als wir alle beisammen waren, schien es mir, als wolltest Du ihn abstoßend behandeln, aber ich habe mich geirrt. Ich hoffe, Dein Segen wird ihm zu gute kommen, meine Liebe!" Er sprach ganz na­ türlich und ungezwungen. „Das hoffe ich auch", sagte Corona, „Du hättest den Deinigen hinzufügen können, da Du dabei warft." „Um Dir die Wahrheit zu sagen", sagte Giovanni mit trockenem Lachen, „mich dünkt, der wäre vielleicht nicht so willkommen gewesen." „Du sprichst sehr sonderbar, Giovanni." „So? Mir kommt es sehr natürlich vor. Wollen wir ins Wohnzimmer gehen?" „Giovanni, gestern versprachst Du mir, mir zu ver­ trauen, und ich versprach, Dir einst alles zu erklären. Du mußt Dein Versprechen ganz oder gar nicht halten." „Sicherlich", erwiderte Sant'Ilario und machte seiner Frau die Thür auf; aus diese Weise machte er dem Ge-

174 sprach plötzlich ein Ende, denn der alte Saracinesca konnte jetzt alles hören, was sie sprachen. Giovanni wollte die peinliche Situation nicht verlän­ gern, aus Furcht etwas zu sagen, was ihm hinterher leid thäte, denn trotz seiner Reden wollte er doch nicht arg­ wöhnisch scheinen. Unglücklicherweise trug Coronas sicht­ licher Aerger darüber belauscht zu sein mehr dazu bei, den in ihm aufsteigendem Groll zu bestärken, als das, was er soeben gesehen und gehört hatte. Die Art und Weise, mit der sie ihm vorgeworfen hatte, daß er seinen Segen nicht dem ihrigen hinzugefügt, sprach nach seiner Ansicht deut­ lich genug dafür, daß sie sich über das Vorgefallene är­ gerte. Sie traten zusammen ins Zimmer, aber bald dar­ auf ließ Giovanni seine Frau mit seinem Vater allein und zog sich auf sein Zimmer zurück unter dem Vorwand, daß er bis zum Essen Briefe schreiben wollte. Als er allein war, erschien ihm die Sache in sehr un­ angenehmem Licht. Coronas Versicherung, daß das Ge­ heimniß harmlos wäre, schien ganz unzulänglich, um ihre Begegnung mit Gouache und ihre Freundlichkeit gegen ihn zu erklären, besonders nachdem sie sich in Gegenwart An­ derer so sichtlich kalt gegen ihn benommen hatte. Entweder war Giovanni ein sehr alberner Mensch oder er wurde hintergangen, wie noch nie ein Mann hintergangcn worden war. Jede von diesen Schlußfolgerungen brachte ihn zur Verzweiflung. Er fragte sich, ob er solch ein Narr wäre, sich für Dinge eine falsche Deutung auszudenken, die jedem Andern gänzlich unwichtig vorkommen würden; und sein Herz antwortete ihm, wenn er wirklich so unvernünftig wäre, müßte er erst vor ganz kurzer Zeit den Verstand verloren haben. Andrerseits war die Annahme, Corona könne wirklich eine geheime Leidenschaft für Gouache hegen,

175 zu ungeheuerlich, um in Betrachtung gezogen zu werden. Er setzte sich hin, um darüber nachzudenken, und entsetzte sich plötzlich über die Menge kleiner Umstände, welche mit einem Male aus dem Nebel der Vergangenheit hervor und verdammend gegen seine Frau auftraten. Gouache hatte, wie er selbst zugab, die Fürstin lange voll Ehrfurcht, bei­ nahe mit Andacht angebetet. Er hatte jede Gelegenheit wahrgenommen, um mit ihr zu sprechen, und in seinem ganzen Benehmen gegen sie einen Grad von Verehrung bewiesen, wie er sie nie gegen andere Frauen zeigte. Gio­ vanni wurde sich jetzt bewußt, daß er seit längerer Zeit, ja schon seit dem vergangenen Winter, halb unbewußt Corona und Anastasius beobachtet hatte, wenn sie beisammen waren. In ihrem Benehmen hatte nichts auch nur den geringsten Argwohn erregt, allerdings aber hatte er vermuthet, daß Gouache etwas dazu neigte, sie zu vergöttern, und hatte für sich bisweilen über die hoffnungslose Leidenschaft des französischen Künstlers mit der stillen Befriedigung ge­ lacht, welche ein Mann empfindet, der einen minder vom Glück begünstigten Sterblichen in gefährlicher Nähe einer Flamme sieht, die nur für ihn brennt. Es war ein etwas verächtliches Vergnügen, und Giovanni hatte es sich nie lange gegönnt. Er mochte Gouache gern und bedauerte ihn eigentlich wegen seiner hoffnungslosen Leidenschaft. Co­ rona behandelte den Zouaven in ihrer ruhigen großartigen Weise, in der etwas von Protection lag, und Giovanni würde über den Gedanken, daß sie sich etwas aus dem Menschen mache, gespottet haben. Jetzt aber, da die Sachen eine so eigenthümliche Wendung genommen hatten, besann er sich mit Erstaunen darauf, daß von all ihren Bekannten Gouache ohne Frage derjenige wäre, welcher Corona überall, wo sie zusammentrafen, am beständigsten aufsuchte. Der

176 junge Mann war ein Liebling in der Gesellschaft. Sein großes Talent, seine Bescheidenheit und besonders das, was die Leute seine Harmlosigkeit zu nennen heliebten, machten ihn überall beliebt. Er ging nllerall hin und fand zahl­ lose Gelegenheiten, die Fürstin zu treffen. Giovanni hatte ihn zwar häufig beobachtet, war sich aber kaum bewußt ge­ wesen, daß er dem französischen Soldaten und Künstler so viel Aufmerksamkeit schenkte, daß er nie verfehlte, seine Frau anzusehen, wenn Anastasius genannt wurde. Jetzt mit einem Male stürmten Hunderte von Erinne­ rungen auf ihn ein, und er war überwältigt durch die Menge kleiner Umstände, die ihm vor die Seele traten. Besonders während der letzten vierundzwanzig Stunden hatten die Beweise riesige Größe angenommen. Erstens hatte sich der Auftritt im Salon freilich ganz ruhig und in einer Ecke in Gegenwart einiger zwanzig Personen ab­ gespielt, aber mit der ruhigen Haltung zweier Leute von Welt, welche recht gut wissen, was für wunderbare Dinge in einem vollen Salon vorgehen können. Wenn Anastasius in etwas andrer Weise und mit der augenscheinlichen Ab­ sicht gesehen zu werden Corona die Hand geküßt hätte, so wäre die Handlung ganz natürlich gewesen. Aber in Gouaches Gesicht war ein Ausdruck, dessen sich Giovanni deutlich erinnerte, in Coronas Augen ein gütiger Blick ge­ wesen, den er nicht vergessen hatte, vor allem hatten Beide so ausgcsehen, als ob sie sich für unbeobachtet hielten. Ja Sant' Ilario fragte sich jetzt, wie es zugegangen wäre, daß er gerade in dem Augenblick hingesehen hätte, und die ein­ zige Antwort darauf war, daß er sie gewöhnlich beobach­ tete, wenn sie beisammen waren. Dies war ihm selbst eine Offenbarung und ließ tief blicken. Dann, war der mitternächtige Ausgang mit Gouache eine viel bedenklichere

177 Sache!

Er hatte ja im Grunde bloß Coronas Versicherung

dafür, daß Faustina Montevarchi an dieser unerhörten Toll­

Er mußte allerdings Vertrauen

kühnheit betheiligt gewesen.

zu seiner Frau haben, um über solch ein Betragen ohne ein Wort der Erklärung hinwegzugehen. Dann kamen die Vorfälle dieses Nachmittags.

Corona

war gegen Gouache unhöflich gewesen, hatte dann plötzlich

das Zimmer verlaffen und beim Hinausgehen leise einige

Worte mit ihm

gewechselt.

Sie war ihm durch Zufall

wieder begegnet, — wenn es nämlich ein Zufall gewesen, —

und hatte, da sie sich unbeobachtet glaubte, sich ganz anders

gegen ihn benommen. Dann war der Abschied gekommen, der leider etwas liebevoll geschienen und jedenfalls mehr als bloß freundlich gewesen war.

Endlich hatte Corona

sich augenscheinlich über Giovannis Dazwischenkommen ge­

ärgert, eine Thatsache, welche die ganze Schlußfolgerung

mit schrecklicher Gewißheit abzuschließen schien. Angesichts dieses Schlusses, der sein ganzes Glück zu

zerstören drohte,

sprang Giovanni

aus und fing an im

Zimmer auf und ab zu gehen; bei jeder Wendung blieb er stehen, als wollte er neue Kraft schöpfen oder einen bösen Gedanken abschütteln.

So wie

er jetzt die Sache

ansah, schien eine Erklärung unvermeidlich, aber wenn er daran dachte, sah er deutlich, daß jede Erklärung mit einer

Anklage gegen seine Frau anheben müsse, und er wußte, wenn er sie mit Recht anklagte, würde es nur mit Ab­ leugnen ihrerseits enden.

Welch noch so schuldiges Weib

würde ihre Schuld der Anklage gegenüber nicht ableugnen? Welcher Mann nicht ebenfalls, wenn Liebe im Spiel wäre? Giovanni lachte bitter,

erblaßte und setzte

Corona der Liebe zu Gouache anklagen!

pörend, um daran zu glauben. Lr.iwford, Lant' Ilario. I.

sich wieder. Es war zu em­

Und doch — was bedeu-

12

178 teten all diese Dinge? Sie mußten doch einen Grund haben. Wenn er sie zu sich riefe und ihr sagte; was er fühlte, und wenn sie unschuldig wäre, so würde sie ihm alles sagen, alles würde sich aufllären, und er würde ohne Zweifel einsehen, daß all diese verdammenden Be­ weise nichts weiter wären, als die ganz natürlichen äußern Folgen vollkommen harmloser Umstände, von denen er nichts wußte. Ja, wenn sie aber harmlos waren, wes­ halb bat sie ihn denn sie nicht zu befragen? Natürlich weil die Ehre einer Andern dabei im Spiele war. Aber konnte denn die Ehre einer andern Person ihm, Giovanni Saracinesca, nicht ebensogut anvertraut werden wie Co­ rona selbst? Hatten sie denn jemals Geheimnisse vor ein­ ander gehabt? Wäre es für sie nicht einfacher gewesen, ihm die Geschichte anzuvertrauen, wenn sie unschuldig war, als zu schweigen und ihn zu bitten, ihre Beweggründe auf Treu und Glauben hinzunehmen? Natürlich, viel einfacher! Und dann, wenn es sich nur um die Gefühle einer dritten Person handelte, wozu war denn so ein sentimentaler Ab­ schied nöthig? Sic hatte Gouache mit einem Segenswunsch entlassen, der dem sehr ähnlich klang, welchen sie einstmals Giovanni mitgegeben hatte. Und was das Schlimmste war, lagen nicht die Verhältniffe gerade so, eben so? Giovanni dachte an den Ball bei Frangipani. Da­ mals war Corona mit Astrardente verheirathet, der einige Tage darauf starb. Giovanni hatte an jenem Abend in leidenschaftlichen Worten Corona seine Liebe gestanden. Sie hatte ihn zum Schweigen gebracht, und er hatte sich wie ein Ehrenmann betragen, denn er hatte sie wegen des Vorgefallenen nm Verzeihung gebeten. Sie hatte ihm ver­ geben und zum Zeichen daß sie ihm nicht grolle, eine Art von Segenswunsch ausgesprochen, — ein Gebet, daß es

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ihm immerdar wohl gehen möge. Jetzt wußte er, daß sie ihn schon damals geliebt hatte, als sie ihn zurückstieß. Und nun, da sie mit Giovanni verheirathet war, nun war ein anderer gekommen, und hatte mit ihr gesprochen und geflüstert, wie er in alten Tagen, und sie hatte ihn in Gegenwart ihres Gatten abstoßend behandelt, und sich gleich darauf von ihm die Hand küssen lassen, und ihm gesagt, daß sie ihm vergäbe, gerade wie sie damals Giovanni vergeben hatte, — und betete, daß Gottes Segen mit ihm sein möge. Warum war es denn nicht möglich, daß sie auch diesen Mann liebte? Weil sie von so erha­ bener Schönheit, so stolz und ruhig war, und solche edle Furchtlosigkeit in den Augen hatte? Andre Frauen waren auch schön gewesen und hatten klügere Männer als Gio­ vanni hintergangen, und waren gefallen. Schönheit, auf­ richtige Augen, erhabene Würde in Haltung und Rede, — ja auch Worte, waren in solchem Falle keine Gegengründe, die der Vertheidigung zu gute kommen konnten. Ungewißheit war Todesqual und doch schien zwiefacher Schrecken der einzige Ausweg, der eine unvermeidlich, der andre möglich. Erst sollte er die Frau anklagen, die er so innig geliebt hatte, um sie dann vielleicht die Anklage kühn abweisen und doch jede Erklärung verweigern zu hören. Nochmals erhob sich Giovanni aus seinem tiefen Lehnstuhl und ging mit ebenmäßigen Schritten durchs Zimmer, obschon er kaum den Teppich unter seinen Füßen sah, noch recht wußte, wo er war. Endlich stand er still und lachte. Das Lachen klang falsch und sonderbar, wie wenn ein Mann lustig sein will, der gar nicht fröhlich ge­ sinnt ist. Er machte eine verzweifelte Anstrengung, diesen Alp­ druck abzuschütteln, sich zu sagen, daß er ein Narr wäre, 12'

180 und daß gar kein Grund für all die Qualen vorhanden wäre, welche er seinem Herzen zufügte, und auch nicht für all die Fragen, welche er seinem Verstände vorlegte. Es war gewiß nicht wahr! Er wollte seht lachen, und würde in der nächsten Halden Stunde mit Corona herzlich über den bloßen Gedanken lachen, daß sie Gouache, Gouache einen Maler lieben könnte! Gouache, ein Zouave, Gouache ein lächerlich gutmüthiger, harmloser kleiner Ausländer! — und Corona del Carmine, Herzogin von Astrardente, Fürstin von Sant' Ilario und Mutter aller zukünftigen Saracinesca! Lachen war wirklich beffer als so eine abgeschmackte Zusammenstellung von hohen und niedern Begriffen und Persönlichkeiten. Und Giovanni lachte, aber der Ton klang hart und erstarb, ohne einen rechten Widerhall in dem ge­ wölbten Zimmer wach zu rufen. Hätte Corona in diesem Augenblick sein Gesicht ge­ sehen oder errathen was in seiner Seele vorging, so würde sie lieber zehn Mal Faustinas Geheimniß preisgegeben haben, als Giovanni noch einen Augenblick länger so furcht­ bar leiden lasten. Aber Corona hatte keine Ahnung da­ von, daß er ihre Handlungen so deuten könnte. Er hatte ihr nichts von dem gezeigt, was er fühlte, als höchstens einen kleinen Aerger darüber, daß er nicht mit ins Ge­ heimniß gezogen werden sollte. Sie fand es natürlich, daß er darüber etwas verstimmt war, aber da sie dagegen kein anderes Mittel wußte, als das unschuldige Mädchen bloß­ zustellen, das sie zu beschützen unternommen hatte, schwieg sie und hoffte, die Verstimmung ihres Mannes werde bald vorübergehen. Wäre in vergangener Nacht, in der Zwischen­ zeit, als sie vom Pförtner erfuhr, daß Giovanni um ihre Abwesenheit wiste, und dem Augenblick, da sie Giovanni selbst entgegentrat, mehr Muße zum Ueberlegen gewesen,

181 so hätte sie sich vielleicht entschlossen, anders zu handeln, da sie nun aber ein Mal bei sich beschlossen hatte, er solle fürs Erste die Wahrheit nicht erfahren, so bestärkte sie seder Widerstand nur in ihrem Beschluß. Es war kein Unrecht bei ihrer Handlungsweise, sonst hätte ihr Gewissen ihr ge­ boten sich auszusprechen. Ihre Natur war der Giovannis zu ähnlich, stolz zurückhaltend und äußerlich kalt, als daß sie leicht nachgegeben hätte. Ihr sowohl wie ihm war es natürlich lieber zu schweigen als zu sprechen, und alle Gründe recht gehörig zu erwägen, ehe sie darauf hin han­ delte. Eben diese Gleichmäßigkeit des Temperaments bei den beiden bewirkte, daß, wenn sie je gegen einander stünden, der Kampf ein harter sein müßte. Sie waren beide zu starke Naturen um ein Leben voll kleinlichen Ha­ ders führen zu können; hörten sie erst auf in vollkommener Harmonie zu leben, so mußte es sicher zu offner Feind­ schaft zwischen ihnen kommen. Nichts verwundet den Stolz so sehr und erregt den Zorn so unvermeidlich, als auf un­ erwarteten, aber entschlossenen Widerstand bei denen zu stoßen, welche uns selbst sehr ähnlich sehen. In solch einem Falle kann der Betreffende nicht zu der bequemen Alternative Zuflucht nehmen, seinen Feind zu verachten, denn das hieße so viel als sich selbst verachten, und wenn er zu offenem Kampf getrieben wird, so wird er bei seinem Feinde dieselben Waffen finden, welche er selbst führt. Giovanni und Corona standen sich ganz gleich, da sie einander so ähnlich waren, wie Mann und Weib eö über­ haupt sein können. Corona war äußerlich etwas kälter, Giovanni etwas mehr nachtragend als sie. Corona hatte während der Jahre ihrer Ehe mit Astrardente gelernt, eine Maske ruhiger Gleichgültigkeit zu tragen, und die ange­ nommene Gewohnheit war ihr fast zur zweiten Natur ge-

182 worden. Giovanni, dessen Impulse ursprünglich rascher gewesen waren als jetzt, hatte die Kunst des Abwartens durch den beständigen Verkehr mit seinem Vater gelernt, dessen feuriges Temperament Kleinigkeiten aufgriff, schein­ bar aus bloßem Vergnügen sie in Stücke zu reißen, und das dem edlen Herzen Unrecht that, welches sich unter der rauhen Außenseite verbarg. Unter solchen Umständen war es nicht wahrscheinlich, daß Sant' Ilario seine Eifersucht bald kundgeben werde. Während er in seinem Zimmer auf und abging, sank die Bitterkeit langsam von der Oberfläche in die Tiefe hinab, und sein Gesicht ward ruhig, fast heiter. Er zwang sich dazu, die Thatsachen immer wieder ins Auge zu fassen; er versuchte unparteiisch zu sein und sie so zu betrachten, als ob er der Richter und nicht der Kläger wäre. Endlich gab er zu, daß zweifellos reichlich Stoff zur Eifersucht vorhanden wäre, noch aber stand Corona gleichsam geschützt durch seine Liebe da, eine Liebe, welche selbst ihre Schuld nicht zerstören können würde. Er dachte an jenen lateinischen Dichter, der beim Schreiben an seine Geliebte in der Bitterkeit seines Her­ zens sagte, wenn sie auch die beste Frau von der Welt werden sollte, so könnte er sie doch nie mehr achten, allein er könnte auch nicht aufhören sie zu lieben, selbst wenn sie aller denkbaren Verbrechen schuldig wäre. Er wußte, das würde sein Fall sein, wenn das Schlimmste sich als wahr erwiese, und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben ver­ stand er das rein Menschliche im Catullus und sah ein, daß ein Mann noch lieben konnte, was er verachtete. Zum Glück war es noch nicht so weit gekommen. Er wußte, daß er sich täuschen und daß man sich auf indirecte Beweise nicht immer verlassen könnte. Selbst während sein

183 Herz unter der heftigsten und tödtlichstcn Leidenschaft er­ kaltete, deren ein Mann fähig ist, unter der Gfersucht, welche unerbittlich ist wie das Grab, erhob sich sein ange­ borener Edelmuth und machte ihm klar, daß es seine Pflicht wäre, Corona für unschuldig zu halten, bis ihre Untreue bewiesen wäre. Die Anstrengung, die Flamme zu ersticken, war groß, wenn auch fruchtlos, aber der Entschluß, sie zu verstecken und vor Jedermann, selbst vor Corona, zu ver­ hehlen, entsprach all den edlen und männlichen Eigenschaften seines starken Charakters. Als er sich endlich wieder setzte, verrieth sein Gesicht keine Auftegung mehr, sein Blick war ruhig, seine Hände bebten nicht. Er nahm ein Buch zur Hand und zwang sich dazu, beinahe eine Stunde aufmerk­ sam und ohne Unterbrechung zu lesen. Dann kleidete er sich um und setzte sich mit seinem Vater und seiner Frau zu Tisch, als ob nichts vorgefallen wäre seinen Gleichmuth zu stören. Corona glaubte, er habe seinen Aeger darüber über­ wunden, daß er nicht mit in ein Geheimniß gezogen wurde, für welches sie ahnungslos so große Opfer brachte. Sie hatte dieses Ergebniß erwartet und war vergnügter als ge­ wöhnlich. Ein Mal erwähnte der alte Saracinesca Gou­ ache, aber sowohl Corona wie Giovanni gaben dem Ge­ spräch schnell eine andere Wendung. Dieses Mal aber sah Giovanni seine Frau nicht an, als der Name genannt wurde. Diese Zeiten waren jetzt vorüber.

Neuntes Kapitel. Die Aufregung, welche während der letzten Wochen in Rom geherrscht hatte, sollte fast eben so plötzlich enden,

183 Herz unter der heftigsten und tödtlichstcn Leidenschaft er­ kaltete, deren ein Mann fähig ist, unter der Gfersucht, welche unerbittlich ist wie das Grab, erhob sich sein ange­ borener Edelmuth und machte ihm klar, daß es seine Pflicht wäre, Corona für unschuldig zu halten, bis ihre Untreue bewiesen wäre. Die Anstrengung, die Flamme zu ersticken, war groß, wenn auch fruchtlos, aber der Entschluß, sie zu verstecken und vor Jedermann, selbst vor Corona, zu ver­ hehlen, entsprach all den edlen und männlichen Eigenschaften seines starken Charakters. Als er sich endlich wieder setzte, verrieth sein Gesicht keine Auftegung mehr, sein Blick war ruhig, seine Hände bebten nicht. Er nahm ein Buch zur Hand und zwang sich dazu, beinahe eine Stunde aufmerk­ sam und ohne Unterbrechung zu lesen. Dann kleidete er sich um und setzte sich mit seinem Vater und seiner Frau zu Tisch, als ob nichts vorgefallen wäre seinen Gleichmuth zu stören. Corona glaubte, er habe seinen Aeger darüber über­ wunden, daß er nicht mit in ein Geheimniß gezogen wurde, für welches sie ahnungslos so große Opfer brachte. Sie hatte dieses Ergebniß erwartet und war vergnügter als ge­ wöhnlich. Ein Mal erwähnte der alte Saracinesca Gou­ ache, aber sowohl Corona wie Giovanni gaben dem Ge­ spräch schnell eine andere Wendung. Dieses Mal aber sah Giovanni seine Frau nicht an, als der Name genannt wurde. Diese Zeiten waren jetzt vorüber.

Neuntes Kapitel. Die Aufregung, welche während der letzten Wochen in Rom geherrscht hatte, sollte fast eben so plötzlich enden,

184 wie sie begonnen hatte. Die auf den 22. October folgen­ den Ereignisse sind oft und genau geschildert worden; wenn man die kleine, dabei betheiligte Truppenzahl be­ denkt und die Schnelligkeit, mit der es einer so geringen Mannschaft gelang, einen Aufstand zu unterdrücken, der anfangs eine furchtbare Revolution zu sein schien, so über­ rascht die große Beachtung, welche dieser kleine Feldzug gefunden hat. Thatsache ist, daß obwohl die Streitkräfte auf beiden Seiten unbedeutend, die Fragen, welche auf dem Spiele standen, ungeheuer waren: die Mächte, welche sich in Wirklichkeit bei Monte Rotondo und bei Mentana gegen­ überstanden, waren das Königreich Italien und das franzö­ sische Kaiserreich. Bis der französische Gesandte Italien am 19. Oktober das Ultimatum überreichte, hoffte Italien von Rom unter dem Vorwande Besitz zu ergreifen, Ordnung in der Stadt herzustellen, nachdem sie sie von Garibaldis Banden hatten umstürzen lasten. Der Mili­ tärcordon, welchen die italienische Armee gezogen hatte, um Garibaldi am Ueberschreiten der Grenze zu verhindern, war eine reine Spiegelfechterei. Die Gefangennahme des Anführers selbst, in welcher Absicht sie auch befohlen wurde, stellte sich thatsächlich als eine bloße Komödie heraus, so­ bald er erst wieder frei war und Niemand versuchte, ihn wieder einzufangen. Als Frankreich einschritt, wendete sich das Blatt. Dieses bestand auf seinem Beschluß, den Ver­ trag von 1864 mit Waffengewalt aufrecht zu erhalten, und Italien mußte cs zulaffen, daß Garibaldi geschlagen wurde, weil es nicht im Stande war, sich der Gefahr eines Krieges mit seinem mächtigen Nachbarn auszusehen. Wenn am 30. October nicht eine kleine Abtheilung französischer Truppen in Rom eingerückt wäre, so würden sich die Ereignisse des Jahres 1870 drei Jahre früher,

185 wenn auch wahrscheinlich mit andern Folgen zugetragen haben. Da es der Zweck des commandirenden Generals der päpstlichen Truppen war, einen Truppenkörper zusammen­ zuhalten, um Garibaldi entgegen zu treten, der jetzt kühn vorrückte, wurden die kleinen Abtheilungen, von denen viele schon nach der Front geschickt worden waren, in Rom zu­ rückbehalten, in der Hoffnung, eine Art von Heer zusammen­ zubringen. Gouaches Abmarsch verzögerte sich deshalb von Tag zu Tag, und erst am frühen Morgen des 3. Novem­ bers verließ er mit dem ganzen verfügbaren Zouavencorps wirklich Rom. Es vergingen also nach den zuletzt er­ zählten Begebenheiten zehn Tage, während welcher er stünd­ lich die Marschordre erwartete. Der Dienst in der Stadt war so anstrengend geworden, daß er kaum einen Augen­ blick sein nennen konnte. Es war keine Zeit an gesellige Verpflichtungen zu denken, und die wenige Muße, welche ihm blieb, verbrachte er mit Versuchen, Faustina Montevarchi zu sehen. Das war indessen nicht leicht. Zu seinem Aerger hielt ihn der Dienst am Nachmittag und Abend beschäftigt, und seine Freistunden fielen fast immer auf den Vormittag. Im Palast Montevarchi unter irgend welchem Vorwande vor ein Uhr Nachmittags vorzusprechen, war rein unmöglich. Er hatte nicht einmal die Befriedigung, Faustina mit ihrer Mutier und Flavia auf dem Corso an sich vorüberfahrep zu sehen, denn sie fuhren gerade zu der Zeit spazieren, wenn er Dienst hatte. Gouache sagte sich immer wieder, daß Erfindungskunst gewiffermaßen die natürliche Pflicht eines Verliebten wäre, allein das half ihm nicht viel. Er konnte auf kein Auskunftsmittel verfallen und litt schmerz­ lich darunter, keine Möglichkeit finden zu können, um Fau-

186 stina zu treffen, nachdem er sie bisher so oft gesehen und so vertraut mit ihr gesprochen hatte. Acht Tage früher hätte er es noch eher ertragen, jetzt aber war die Trennung unerträglich. In Friedenszeiten würde er, ohne Rücksicht auf die Folgen, einen Tag den Dienst quittirt haben, aber in diesem Augenblick, wo Jeder auf feinem Poften blieb, schien eine solche Handlungsweise feige und unehrenhaft. Er ergab sich schweigend in sein Schicksal, wurde aber täglich kummervoller und verlor viel von der unerschöpf­ lichen Munterkeit, die ihn zum Liebling seiner Kameraden machte. Es gab nur eine Möglichkeit, Faustina zu sehen, und selbst diese bot wenig Hoffnung, sie sprechen zu können. Er wußte, daß sie manchmal am Sonntag Morgen ganz früh, nur von ihrer Zofe begleitet, zur Messe ging. Ihre Mutter und Flavia standen lieber spät auf und gingen zu einer andern Messe. Nun fügte es sich, daß im Jahre 1867 der 22. October, der Tag des Aufstandes, auf einen Dienstag fiel. Fünf Tage mußten also vergehen, ehe er Faustina am Sonntag sehen konnte, und wenn es ihm dann nicht gelang, mußte er noch eine Woche warten. Leider waren Faustinas frühe Kirchgänge keineswegs sicher oder regelmäßig und es war nöthig, ihr vorher einen Wink zu geben. Das war keineswegs leicht. Eine Zeile mit der Post zu schicken, konnte gar nicht in Frage kommen, und Gouache wußte, wie schwer es sein würde, ihr durch einen Diener ein Briefchen zustecken zu lassen. Stunden­ lang zermarterte er sein Gehirn, um einen Ausweg zu er­ sinnen, bis der Gedanke ihn rastlos verfolgte und ganz nervös machte. Der Sonntag nahte heran und er hatte noch nichts erreicht. Die gewagtesten Pläne fielen ihm ein, um alsbald wieder verworfen zu werden. Er begeg-

187 nete Vormittags in seinen Freistunden verschiedenen seiner Bekannten, und der Gedanke machte ihn wild, daß sie Faustina sehen konnten, so oft es ihnen beliebte. Er that, was er konnte, um an einem Nachmittag oder Abend Ur­ laub zu bekommen, allein seine Bemühungen blieben frucht­ los. Er war ein Vertrauensmann, daS wußte er, und in diesen stürmischen Zeiten mußte Jeder genau das thun, was ihm zugetheilt war, um nicht unnütze Verwirrung in die Concentration und Organisation der Truppen zu brin­ gen, welche eben im Gange war. Endlich ging er wirk­ lich an einem Vormittag nach dem Palast Montevarchi und fragte, ob er die Fürstin sprechen könnte. Der Pförtner erwiderte, sie wäre nicht zu sprechen, und der Fürst wäre ausgegangen. Dabei war nichts zu thun, und er ging wieder fort. Plötzlich stand er unter dem tiefen Thorbogen still gegenüber der leeren Mauer auf der andern Seite der Straße. Diese Mauer war breit und glatt und von dunkler Farbe. Er sah sie nur einen Augenblick an, und nahm dann eine Cigarette heraus und steckte sie an, um in den Augen des Pförtners eine Ent­ schuldigung für sein Stillstehen zu haben. Als er zwei Minuten später über die Piazza Colonna ging, trat er in einen Laden und kaufte zwei große Kapseln Farbe und einen breiten Pinsel. Nachdem er am Abend abgelöst worden, kehrte er zum Palast Montevarchi zurück. Es war sehr spät; die Straßen waren verödet. Er stand vor dem großen verschloffenen Thorweg des Palastes still und ging dann quer über die Straße an die kahle Mauer, Pinsel und Farbe in der Hand. AIs am nächsten Morgen der Pförtner der Montevarchi die Thorflügel öffnete, ergötzten sich seine Augen an wun­ derbaren kalligraphischen Kunstleistungen, welche mit grell-

188 rother Farbe auf den dunklen Steinen ausgeführt waren. Die Buchstaben A. G., mindestens vier Fuß hoch, standen in der Mitte und in allen möglichen Größen in unregel­ mäßigen Zwischenräumen darüber, darunter und zu beiden Seiten. Die Worte Domenica (Sonntag) und Messa (Messe) waren überall in Hauptbuchstaben, in Curfivschrift, mit großen und kleinen Schriftzügen angebracht. Um dann dem Ganzen das Ansehen zu geben, als ob es ein Gassen­ junge angemalt hätte, standen noch andere Worte da, wie „Viva Pio Nono“, „Viva il Papa-Re“, und darüber in anderer Schrift und mit grüner Farbe „Viva Garibaldi“ „Morte a Antonelli“ und ähnliche aufständische Gefühls­ ausbrüche. Das Ganze war indessen so angeordnet, daß Gouaches Namensbuchstaben und die beiden wichtigen Wörter sich von dem Uebrigen abhoben und unfehlbar die Blicke auf sich ziehen mußten. Von den vielen Leuten, welche an jenem Tage durch daß große Thor des Palastes Montevarchi aus- und ein­ gingen, legten nur zwei aus die grellen Malereien der ge­ genüberliegenden Mauer Gewicht. Eine davon war Fau­ stina selbst, sic sah und verstand. Die andre war San Giacinto, welcher die Buchstaben einige Augenblicke an­ starrte und dann verstohlen lächelte, als er in den Palast ging. Auch er wußte, was die Zeichen bedeuteten und sagte sich, daß Gouache ein unternehmender Jüngling wäre, aber daß es im Interesse der ganzen Familie Mon­ tevarchi gut sein würde, seinem Liebeswerben so bald wie möglich ein Ende zu machen. Es war bereits Sonnabend Nachmittag, also keine Zeit mehr zu verlieren. San Giacinto machte einen kurzen Besuch und ging dann gleich nach dem Palaste Saracinesca. Er wußte, daß Corona um vier Uhr wahrscheinlich noch nicht zu

189 Hause sein würde. Das war wirklich der Fall, und da er sagte, er wolle auf sie warten, wurde er ins Wohnzimmer geführt. Sobald der Diener fort war, ging er an Coronas Schreibtisch und nahm zwei von ihren Briefbogen nebst Umschlägen, welche mit ihrer Krone und ihren Anfangs­ buchstaben gestempelt waren. Er legte die Bogen sorg­ fältig zusammen und steckte sie in sein Taschenbuch. Dann wartete er noch zehn Minuten, es kam aber Niemand. Darauf ging er fort und trug dem Diener auf zu sagen, daß er dagewesen wäre und bald wiederkommen würde. Einige Minuten später befand er sich in seiner Privat­ wohnung und schrieb folgendes Briefchen. Er hatte zwei Bogen mitgenommen, falls der erste Versuch nicht glücken sollte. „Ich habe verstanden, aber ach! ich kann nicht kommen. O mein Geliebter! wann werden wir uns Wiedersehen? Es dünkt mich Jahre seit Dienstag Abend — und doch werde ich dermaßen bewacht, daß ich nichts thun kann. Jemand hat Verdacht geschöpft; deß bin ich gewiß. Eine zuverlässige Person wird dieses überbringen. Nur kein Zweifel an meiner Liebe — wenn auch morgen kein Zu­ sammentreffen möglich ist." San Giacinto, der ziemlich guten Unterricht genoffen und eifrig benutzt hatte, war stolz auf seine Handschrift. Sie war klein, zart und fein wie meistens bei starken, ruhigen Leuten, denen die Nerven nicht mit den Fingern davonlaufen. Bei gegenwärtiger Veranlassung gab er sich Mühe, sie noch schöner als sonst zu machen, und die Folge davon war, daß sie aussah „wie gestochen", genau wie die Art von Handschrift, welche junge Mädchen sich im Kloster aneignen, obwohl ein Sachverständiger sie als verstellt er­ kannt haben würde. Um Gouache zu täuschen, war es

190 nöthig gewesen, das Briefchen auf solchem Papier zu schreiben, wie es vornehme Damen gewöhnlich brauchen. Da er nicht Briefpapier von Faustina bekommen konnte, schien ihm das Beste, Coronas zu nehmen, da Corona ihre vertrauteste Freundin war. Gouache hatte San Giacinto gesagt, daß er jeden Nachmittag beschäftigt wäre, und zwar in der Hoffnung, daß dieser es Faustina mittheilen würde. Er war deshalb ziemlich sicher, daß Anastasius zwischen vier und fünf Uhr nicht zu Hause sein würde. San Giacinto fuhr also nach seiner Wohnung und fragte nach ihm; wenn er zufällig zu Hause wäre, so konnte er ja den Brief der alten Wir­ thin abgeben. Er war indeffen aus und San Giacinto bat um Erlaubniß, in sein Zimmer zu gehen, um ein Wort für seinen Freund aufzuschreiben. Die Wirthin war eine dumme alte Person, welche sich an ihrem Kohlenbecken ge­ wärmt hatte, als San Giacinto klingelte. Als Antwort auf seine Frage kauerte sie sich wieder hin und wies auf die Thür zu des Zouaven Wohnung. San Giacinto trat ein und sah sich nach einem Platze um, wo er den Brief recht augenfällig hinlegen könnte. Er wollte sich nicht auf das Gedächtniß der Alten »erlassen, welche vergessen konnte, den Brief vor dem folgenden Tage abzugeben, besonders wenn Gouache, wie wahrscheinlich, spät nach Hause käme. Der Tisch im kleinen Wohnzimmer war mit Briefen und Papieren bestreut, so daß ein Gegen­ stand inmitten all der Unordnung schwerlich Gouaches Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Die Thür zum Nebenzimmer stand offen, so daß in diesem, dem Schlaf­ zimmer, ein Toilettentisch zu sehen war. San Giacinto ging hinein, nahm den Brief aus der Tasche und legte ihn auf ein altmodisches Nadelkiffen vor dem Spiegel; das

191 Briefchen glitt aber davon ab, und um es festzumachen, steckte er es mit einer goldenen Nadel, die auf dem Tische lag, an das Kiffen fest, so daß es gleich in die Augen fallen mußte. Bei seinem Thun hatte er nicht die Absicht, Gouache oder Faustina zu schaden. Ihm war eS ganz klar, daß ihre Liebesgeschichte kein gutes Ende nehmen könnte, und da seine Jntereffen jetzt mit denen der Montevarchi eng verknüpft waren, schien es das Klügste, die Sache durch alle ihm zu Gebote stehenden Mittel abzubrechen, ohne sie zu verwickeln, indem er darüber mit Gouache oder mit Faustinas Eltern spräche. Er war genug Menschenkenner, um zu wiffen, daß Gouache sich ärgern würde, die Aus­ sicht auf ein Wiedersehen zu verlieren, und er nahm sich vor, die beiden scharf zu beobachten, um während der nächsten Tage andre heimliche Zusammenkünfte zu verhin­ dern. Wenn er nur erst den Samen der Zwietracht zwischeu die Beiden säen konnte, so hoffte er würden die Be­ ziehungen leicht abzubrechen sein. Nichts empört eine Frau so sehr, als auf einen Mann warten zu muffen, der ver­ sprochen hat zu kommen, und wenn er ganz ausbleibt, so wird ihr Zorn wahrscheinlich recht heftig sein. In diesem Falle nahm er an, daß Faustina in die Kirche gehen würde, aber daß Gouache, gewarnt nicht zu kommen, sich nicht einstellen würde. Wenn der Plan auch nicht besonders schlau war, so konnte er doch recht große Mißverständniffe zwischen den Liebenden hervorbringen. San Giacinto kehrte nach dem Palast Saracinesca zurück, fand aber nur den alten Fürsten zu Hause, obschon .er seinen Besuch ausdehnte, in der Hoffnung, Corona oder Sant' Ilario zu sehen. „Uebrigens fällt mir ein", sagte er, als er mit dem

192 Fürsten in besten Studirzimmer saß, „daß Du so gütig warst zu sagen, Du wolltest mir ein Mal jene alten Familienacten zeigen. Sie müssen sehr interessant sein, und ich möchte gern von Deinem Anerbieten Gebrauch machen." „Gewiß", erwiderte Saracinesca. „Sie sind int Archiv in der Bibliothek. Heute ist es schon etwas spät; möchtest Du bis morgen warten?" „So lange wie Du willst. Eigentlich möchte ich sie gern meinem Schwiegervater zeigen, der sich für dergleichen interessirt. Ich sprach gestern mit ihm darüber. Indessen sind die Duplicate wahrscheinlich auf der Cancelleria und wir könnten sie dort einsehen." „Ich weiß es nicht", sagte der Fürst obenhin. „Ich habe mich nie bemüht danach zu fragen. Wahrscheinlich ist ein Register davon da oder irgend ein Beweis dafür, daß sie vorhanden sind." „Natürlich muß etwas derartiges da sein. So wich­ tige Dokumente würde man nicht unterlassen einzutragen, wenn man nicht zu jener Zeit höchst sorglos war." „Es ist möglich, daß keine Duplicate vorhanden find; vielleicht hat man sich mit einem amtlichen Vermerk des Dokuments begnügt, in welchem die Hauptpunkte des Ver­ trags angegeben sind. Sieh, es war ein freundschaftliches Uebereinkommen und damals durchaus keine Wahrschein­ lichkeit vorhanden, daß Dein Urgroßvater sich je verheirathen würde. Die Papiere in meinem Besitz find alle in Ordnung und rechtskräftig, aber beim Registriren kann ein Versehen vorgekommen sein. Das weiß ich nicht bestimmt. Es ist dreißig Jahre her, daß ich die Originale zuletzt angesehen habe." „Wenn Du sie vor meiner Verheirathung herausneh-

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men lassen könntest, so möchte ich sie sehr gern sehen, aber es hat keine Eile. — So hat denn dieser Aufstand und all diese Unruhe schließlich doch etwas zu bedeuten gehabt", sagte San Giacinto, um von etwas anderem zu sprechen, „tote ich höre, hat Garibaldi heute Monte Rotondo ge­ nommen." „Ja, und wenn die Franzosen nicht flink find, werden wir das Vergnügen einer Belagerung haben", versehte Saracinesca etwas spöttisch. „Eben diese Einnahme von Monte Rotondo ist eine von den Heldenthaten, für welche Garibaldi so berühmt ist. Er hatte sechstausend Mann, und in dem Orte waren nur dreihundert und fünfzig Sol­ daten. Ungefähr zwanzig gegen einen." Es ist unnöthig, den übrigen Theil der Unterhaltung zu berichten. Saracinesca erging fich in lauten Schmä­ hungen gegen Garibaldi, verwünschte die ganze italienische Regierung mit ihm und weihte fie alle dem gemeinsamen Untergange, während sich San Giacinto sein Urtheil vor­ behielt, weil er meinte, daß wahrscheinlich ein bedeutender Unterschied zwischen dem Guerilla-General und seinem recht­ mäßigen Landesherrn Victor Emanuel II., König von Italien, bestände. Endlich wurden die beiden Herren be­ nachrichtigt, daß Corona nach Hanse gekommen wäre. Sie verließen das Studirzimmer und fanden sie im Wohn­ zimmer. „Wo ist Giovanni?" fragte sie, als sie eintraten. Sie stand am Kamin, noch im Straßenanzug. „Ich habe keine Ahnung, wo er ist," antwortete Sa­ racinesca; „vermuthlich im Club, oder er macht Besuche. Er ist ein sehr ordentlicher junger Mensch geworden, seit er mit Dir verheirathet ist." Der alte Herr lachte ein wenig. Crawford, Sant'Ilario. I. 13

194 „Ich habe ihn verfehlt", sagte Corona, ohne von der Bemerkung ihres Schwiegervaters Notiz zu nehmen. „Ich sollte ihn vom Pincio abholen, und als ich hinkam, war er fort. Ich fürchte, er wird denken, ich hätte es ganz vergessen, denn ich muß spät hingekommen sein. Seht, ich wurde durch ein Gedränge im Tritone aufgehalten — dort ist immer Gedränge*)." Corona schien weniger ruhig als gewöhnlich. Seit dem kleinen Vorfall, der ihrem Mann so viel Aerger be­ reitet, wie sie zum Theil wenigstens bemerkt hatte, war sie bemüht gewesen, mehr noch als sonst um ihn zu sein und ihm alles zu Gefallen zu thun, um ihn für die Enttäu­ schung zu entschädigen, daß er nicht ins Geheimniß ge­ zogen wurde. Gewöhnlich waren sie Nachmittags nicht bei­ sammen, denn er pflegte zu Fuß auszugehen und sie fuhr, heute aber hatten sie verabredet, sich auf dem Pincio zu treffen, eine kleine Spazierfahrt zu machen und dann zu­ sammen nach Hause zu fahren. Sie hatte das in der Ab­ sicht vorgeschlagen, mehr als je rücksichtsvoll zu sein, und der Gedanke, daß sie ihn hatte warten lassen und daß er fortgegangen war, betrübte sie mehr, als es unter gewöhn­ lichen Verhältniffen natürlich gewesen wäre. Um zu erklären, was jetzt geschah, müssen wir zu Gio­ vanni selbst zurückkehren, der, wie Corona gesagt, ans dem Pincio bei der Musik eine Weile aus seine Frau gewartet hatte, bis er es müde geworden und fortgegangen war. *) Der Tritone ist, nanientlich in seinem obern Theile, eine sehr enge, stark bevölkerte Straße, welche die Hauptdurchfahrt vom Corso hinauf nach den höher gelegenen Stadttheilen bildet. Der Tritone mündet auf die Piazza Barberini und von dort führt die Via Sistina nach dem Pincio, der für Wagen sonst nur von der Piazza del Po­ polo aus zugänglich ist. Anin. d. Nebers.

195 Obschon er seine Gefühle männlich in sich verschloß, war doch die in seinem Herzen aufkeimende Leidenschaft rasch emporgewachsen und hatte in wenigen Tagen die Herrschaft über ihn gewonnen. Er beargwöhnte alles und jedes, während er sich bemühte gleichgültig zu erscheinen. Selbst Coronas Bemühungen, ihm gefällig zu sein, die in letzter Zeit so deutlich geworden waren, erregten sein Miß­ trauen. Er fragte sich, weshalb sich ihr Benehmen so ver­ ändert hätte, wie das in den letzten Tagen zweifellos ge­ schehen war. Sie war ihm stets eine gute liebevolle Frau gewesen und ihr Ernst und ihre würdevolle Art, ihre Liebe gu ihm zu bezeugen, hatten ihm Wohlgefallen. Warum befand sie es plötzlich für nöthig, in jedem Augenblick so besorgt um sein Wohl und sein Behagen zu sein? Es war nicht nach ihr, ftüh Morgens in sein Studirzimmer zu kommen und zu fragen, was er für den Tag vorhätte. Es war etwas Neues, daß sie ihm beständig anbot, mit ihm spazieren zu gehen, mit ihm auszufahren, ihm vor­ zulesen, nicht nur einen Theil seines Herzens, sondern auch einen Theil seiner Beschäftigungen auszumachen. Wäre die Veränderung allmälig gekommen, so hätte er ihre Motive nicht angezweifelt. Er liebte die Gesellschaft seiner Frau und ihre Unterhaltung, da sie aber beide allerlei zu thun hatten, was sie nicht gut gemeinsam thun konnten, so hatte er sich zu der Lebensweise bequemt, die seine Standesgenossen für gut befanden. Andern Män­ nern fällt es nicht ein, den Nachmittag im Wagen ihrer Frau zuzubringen, Karten abzugeben, Visiten zu machen oder in der Villa Borghese und auf dem Pincio herum­ zufahren. Dergleichen zu thun, wäre höchst lächerlich, und überdies so gerne er mit Corona zusammen war, so un­ gern machte er Besuche, und konnte es vor allen Dingen 13'

196 nicht leiben, während der Ausfahrt ein Dutzend Mal an­ zuhalten und den Diener mit Karten hinanfzuschicken. Er mochte lieber spazieren gehen oder im Club herumtrödeln oder zu Hause bleiben und seine Pläne zur Verbefferung von Saracinesca studiren. Coronas Benehmen verstimmte ihn deshalb und brachte seine Gedanken immer mehr auf den Gegenstand, von dem er sie lieber von Anfang an hätte abwenden sollen. Dessenungeachtet wollte er nicht zeigen, daß das Be­ nehmen seiner Frau ihn reizte, noch weniger, daß er glaubte, es ginge aus dem Wunsche hervor, ihn zu täuschen. Er war gleichmäßig sanft und aufmerksam, ging auf ihre Vorschläge ein, wenn er es konnte, oder drückte angemesse­ nes Bedauern aus, wenn eine frühere Verabredung ihn daran verhinderte. Aber das Bild des französischen Zouaven schwebte ihm immer vor. Er konnte Gouaches dunkles seines Gesicht selbst in seinen Träumen nicht los werden, der Ton seiner angenehmen Stimme und seiner fließenden Rede klang ihm immer in den Ohren, und er konnte Corona nicht ansehen, ohne sich zu denken, wie sie wohl aussehen würde, wenn Anastasius neben ihr wäre und ihr zärtliche Worte zuflüsterte. Zu gleicher Zeit ging er immer freundlich darauf ein das zu thun, was sie vorschlug, und an diesem Nachmittag stand er da und wartete auf sie vor dem Musikplatz. Zu­ erst betrachtete er die vorüberrollenden Wagen ziemlich gleichgültig und dachte, daß bald seine eigene Livree in der langen Reihe der Lakaien und der Kutscher aus ihrem hohen Sitz erscheinen würde, ohne daß er besonders wünschte sie zu erblicken. Seine Lage wurde in Coronas Gesellschaft von Tage zu Tage peinlicher, und während er an dem Steinpfeiler in der Ecke stand, dachte er, es würde ihm im Grunde

197 eben so lieb sein, wenn sie nicht käme. Indessen täuschte er sich über sich selbst. AIs die Minuten vergingen, wurde er unruhig und achtete auf die herannahenden Wagen mit fieberischer Spannung, indem er sich sagte, jeder könnte Corona bringen; er wurde förmlich bleich vor Aufregung, während ein Wagen nach dem andern um die Ecke bog und in Sicht kam. Nachdem er sich erst dieser Aufregung hingegeben hatte, dünkte ihm die Zeit unendlich lang, und ehe noch eine Viertelstunde vergangen war, drehte er sich um und ging vom Pincio die Treppe hinab, welche nahe am Musikplatz nach der gewundenen Fahrstraße zur Piazza del Popolo herunterführt. Für einen ruhigen Menschen ist es nicht leicht, sich in die Seele eines andern zu versetzen, dessen Gehirn durch die Macht einer heftigen Leidenschaft überreizt ist. Für einen Mann, der, weil er glaubt schnöde hintergangen zu sein, seine ruhige Besinnung vollständig verloren hat, wird der geringfügigste Zufall zu einem Gliede an der Kette von Beweisen. Vor einer Woche würde Giovanni sich für vern'lckt erklärt haben, wenn es ihm auch nur in den Sinn gekommen wäre, daß Corona Gouache lieben könnte. Heute glaubte er, daß sie ihn absichtlich auf den Pincio geschickt hätte, damit sie Gouache sicher und ohne Furcht vor einer Störung sehen könnte. Diese Ueberzeugung bemächtigte sich seiner mit unwiderstehlicher Gewalt. Er wähnte sich das Opfer eines gemeinen Betruges, er sah seine vertrau­ ende Liebe zum Spott niederträchtiger Ränke gemacht. Das Blut stieg in sein dunkles Gesicht, und als er die Stufen hinabging, schwamm es wie röthlicher Nebel vor seinen Augen. Obgleich er mechanisch mit festen Schritten einherging und seine Bekannten im Vorbeigehen grüßte, war er sich seiner Bewegungen nicht bewußt und ging

198 dahin wie von einer höhern Macht getrieben. Eifersucht ist die Leidenschaft, welche am sichersten in Gewaltthaten aus­ bricht, wenn sie lange unterdrückt worden ist. Giovanni wußte kaum, wie er den Corso erreichte, noch wie er auf die dunkle Treppe zu Gouaches Wohnung gekommen war. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, seit San Giacinto dort gewesen, und die alte Frau hielt noch den Kohlentopf in der Hand, als sie ihm aufmachte. Gerade so wie sie nach der Thür gezeigt hatte, als San Giacinto kam, that sie es auch jetzt, aber als Giovanni hörte, daß Anastasius aus wäre, fing er an sie auszuftagen. „Ist Jemand hier gewesen?" war die erste Frage. „Ja, vor einer Viertelstunde war ein Herr hier"; ant­ wortete die Frau. „Ist eine Dame hier gewesen?" „Eine Dame? Macche!" Das alte Geschöpf lachte. „Was hätten Damen hier zu suchen?" Giovanni klang die Antwort nicht unbefangen. Er war in der Stimmung an Täuschung von allen Seiten zu glauben. „Lieben Sie Geld?" fragte er brutal. „O ja, ich bin ein altes Weib! Was denken Sie? Bin ich so dämlich, daß ich Geld nicht gern haben sollte? Aber der Herr Gouache ist ein sehr guter Herr. Er zahlt gut, Dank sei dem Himmel." „Wofür bezahlt er Sie?" „Wofür? Für seine Wohnung — für seinen Kaffee! Per Bacco! Wofür denn sonst! Das sind komische Fra­ gen. Habe ich denn einen Laden? Zimmer vermiethe ich. Aber vielleicht gefällt Ihnen die Wohnung? Es ist eine schöne Lage — am Corso und nur eine Treppe hoch, eine herrliche Lage für den Carneval. Natürlich, wenn



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Sie mehr zahlen wollen als der Herr Gouache, so will ich

ja nicht sagen — „Ich brauche Ihre Wohnung nicht, meine gute Frau", fuhr Giovanni in milderem Tone fort „Ich will wissen, wer Ihren Einwohner besuchen kommt." „Na, wer soll denn kommen? Seine Bekannten na­ türlich. Wer denn sonst?" „Vielleicht eine Dame", fragte Giovanni mit erstickter Stimme. Es that ihm weh, es auszusprechen, und die Worte blieben ihm beinahe im Halse stecken. „Vielleicht kommt eine Dame bisweilen her", wiederholte er und zog etwas loses Papiergeld aus der Tasche. Die trüben Augen des alten Weibes funkelten plötz­ lich in der Dämmerung. Das Rascheln des Papiergeldes entzückte ihr Ohr. „Nun", sagte sie nach einigem Zögern, „wenn eine schöne Dame manchmal herkommt, so ist das des Herrn eigne Angelegenheit. Mich geht das nichts an." Giovanni steckte ihr das Papier in die bereits weit geöffnete Hand. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. „Also ist sie schön?" „O! so schön wie Sie wollen!" kicherte die alte Hexe. „Ist sie dunkel — brünett?" „Natürlich", erwiderte das Weib. Der Ton, in wel­ chem er diese Frage stellte, war unverkennbar, denn Gio­ vanni konnte jetzt seine Gefühle nicht mehr bemeistern. „Und wahrscheinlich groß? Ja. Und Sie sagen, sie ist vor einer Viertelstunde hier gewesen? Heraus mit der Sprache!" schrie er und trat einen Schritt weiter auf die alte Hexe zu. „Wenn Sie mich belügen, bringe ich Sie um! Sie ist hier gewesen — leugnen Sie es nicht!" „3a — ja!" antwortete das Weib und wich erschrocken

200 zurück. „Per caritä! Bringen Sie mich nicht um — ich will Ihnen die Wahrheit sagen." Plötzlich drehte sich Giovanni rasch um und trat in Gouaches Wohnzimmer. Im Hause war es jetzt fast dunkel, er strich ein Zündholz an und steckte ein Licht an, das auf dem Tische stand. Der grelle Schein fiel auf fein dunkles Gesicht und seine brennenden Augen und an Stirn und Schläfen traten ihm die Adern wie dicke Schnüre her­ aus. Er sah sich überall um, durchsuchte den mit Büchern und Papieren bestreuten Tisch, den Fußboden, die Möbel, als erwarte er jeden Augenblick einen Beweis dafür zu finden, daß Corona hier gewesen wäre. Als er nichts fand, ging er ins Schlafzimmer. Das Briefchen von San Giacinto steckte noch an der goldenen Nadel auf dem Kisten, genau wie er eS befestigt hatte. Giovanni starrte das Ding einige Augenblicke mit wildem Blick an, und sein Gesicht wurde todtenbleich. Jetzt fehlte kein Beweis mehr, denn die Nadel gehörte Corona. Es war eine ganz einfache Nadel aus glattem Golde, den Kopf bildete der Buchstabe C, aber es war unmöglich, sie zu verkennen, denn Giovanni hatte das Muster dazu selbst gezeichnet, Corona pflegte ihren Schleier damit festzustecken. Als ihm das Blut vom Kopf zum Herzen zurück­ wallte, wurde Giovanni sehr ruhig. Er stellte das Licht auf den Toilettentisch und nahm das Briefchen, die Nadel steckte er in die Tasche. Die Handschrift schien verstellt, und seine Lippe zuckte spöttisch, als er sie ansah, und dann beim Umwenden des Briefes sah, daß es ein Umschlag von Corona war. Es schien ihm eine erbärmliche Thor­ heit von ihr, die Handschrift zu verstellen, wenn im Uebri-

gen so überwältigende Beweise gegen sie zeugten. Ohne das geringste Besinnen öffnete er den Brief und las ihn,

201 indem er sich vorbeugte und ihn dicht ans Licht hielt. Einmaliges Durchlesen genügte. Er lächelte eigenthümlich als er die Worte las: „Ich werde dermaßen bewacht, daß ich nichts thun kann. Jemand hat Verdacht geschöpft." Seine Aufmerksamkeit würde durch die Worte gefesselt, daß eine zuverlässige Person (die Worte waren unter­ strichen) den Brief bringen würde. Die Bedeutung dieser besonders hervorgehobnen Worte wurde durch die Nadel erklärt. Die zuverlässige Person war sie selbst, die viel­ leicht das goldne Dingelchen als ein Abschiedsgeschenk zurückgelaffen hatte, falls Gouache ausmarschiren sollte, ehe sie sich wiedersähen. Giovanni sah sich nochmals im Zimmer um, als erwarte er noch roeitere belastende Beweise zu finden. Dann stand er zaudernd still, mit dem Lichte in einer und dem Briefe in der andern Hand. Er dachte daran, hier zu bleiben und Gouache abzuwarten, aber das schien nicht thunlich. Kein Abwarten konnte ihn in diesem Augenblick beftiedigen, und nach einigen Augenblicken steckte er den Brief in die Tasche und ging aus. Er hatte schon die Hand an der Hausthür, als ihm die Alte einfiel, welche über dem Kohlenbecken hockte, kaum fähig an ihr Glück zu glauben und nur auf sein Fortgehen lauernd, damit sie das knisternde Papiergeld nochmals durchzählen könnte. Sie wagte es nicht, sich dieses Vergnügen zu gönnen, so lange er noch da war, damit ihm seine Frei­ gebigkeit nicht leid thäte und er nicht einen Theil davon zurücknähme; denn sie hatte gesehen, wie er die Noten aus der Tasche gezogen und wußte, daß er keine Ahnung da­ von hatte, wie viel er ihr gegeben. „Sie werden nichts von meinem Kommen sagen", sagte Giovanni zu ihr und sah sie scharf dabei an.

202 „Ich? gnädiger Herri

Fürchten Sie nichts, Geld ist

bester als Worte." „Sehr gut", versetzte er, „vielleicht werden Sie näch­ stens noch ein Mal so viel bekommen, wenn ich die Wahr­ heit wiffen will." „Gott segne Sie!" schmunzelte das runzlige Geschöpf. Er ging hinaus und das Glöckchen an der Hausthür klin­ gelte, als das Schloß zurücksprang. Dann zählte das Weib das Blutgeld, welches ihr so unerwartet zugefallen war. Die Noten waren zahlreich neu und glatt, denn Giovanni hatte es nicht darauf angesehen. Schon lange hatte die alte Caterina Ranucci nicht so viel Geld gesehen und sicherlich noch nie so viel besessen. „Qualche innamorato!“ murmelte sie für sich, wäh­ rend sie die Banknoten eine nach der andern glättete und beim Licht ihres Oellämpchens Luftschlösser baute. „Irgend

ein Verliebter! Der Himmel verzeihe mir, wenn ich un­ recht gethan habe! Er schien so sehr gern wissen zu wollen, daß die Dame hier gewesen, — warum sollte ich ihm nicht den Gefallen thun? Er muß sehr reich sein. Ich will ihm immer sagen, was er zu wiffen wünscht. Der Himmel führe ihn oft her und segne ihn!" Dann wiegte sie sich hin und her, schlang die Arme um ihren Kohlentopf und summte ein altes römisches Liedchen: Io vorrei ehe nella luna Ci s’andasse in carrettella, Per vedere la piü bella Delle donne di lassu! Was bedeutete das alte Lied? Wer weiß, ob es über­ haupt jemals etwas bedeutete? Könnte man in kleinem Karren Doch hinauf zum Monde fahren,

203

Nm die schönste aller Frauen, Die da droben sind zu schauen! Caterina Ranucci war so zu Muthe, als ob sie ihre Gefühle nicht besser ansdrücken könnte, als wenn sie sich das seltsame alte Lied mit ihrer zitternden altersschwachen Stimme vorsänge. Vielleicht dachte sie, ihre Nachbarn würden nichts von dem ihr zugefallenen Glück merken, wenn sie ihr Lieblingsliedchen hörten.

Zehntes Kapitel. Sant' Ilario ging von Gouaches Wohnung aus nach Hause. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn und half ihm, über das, was ihm bevorstand, nachzudenken. Seine Lage war allerdings schrecklich genug, besonders für einen Mann von seinem Temperament. Alles andere hätte er eher er­ tragen können als dies, denn in keinem Punkte war er so verwundbar wie in seiner Liebe zu Corona. Während er so dahinging, stieg ihr Bild vor ihm auf, und er ward beinahe geblendet bei dem Gedanken an ihre Schönheit. Aber er konnte nicht mehr an sie denken, ohne auch das andere Wesen heraufzubeschwören, auf welches sich seine Rachegedanken concentrirten, bis eS ihm schiene, als müsse schon die bloße Absicht dem Gegenstand ein Leid anthun. Der Fall war au sich in seinen Folgen entsetzlich. Nur eine rasende Leidenschaft konnte einen solchen Mann dahin bringen, sich so tief zu erniedrigen, um eine unter­ geordnete Person zum Zeugniß gegen seine Frau zu be­ stechen. Er selbst war so ganz außer Stande, die ihn be­ herrschende Macht zu ermessen, daß er sich cinbildete, er habe einer Mitschuldigen das Geheimniß gewaltsam abge-

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Nm die schönste aller Frauen, Die da droben sind zu schauen! Caterina Ranucci war so zu Muthe, als ob sie ihre Gefühle nicht besser ansdrücken könnte, als wenn sie sich das seltsame alte Lied mit ihrer zitternden altersschwachen Stimme vorsänge. Vielleicht dachte sie, ihre Nachbarn würden nichts von dem ihr zugefallenen Glück merken, wenn sie ihr Lieblingsliedchen hörten.

Zehntes Kapitel. Sant' Ilario ging von Gouaches Wohnung aus nach Hause. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn und half ihm, über das, was ihm bevorstand, nachzudenken. Seine Lage war allerdings schrecklich genug, besonders für einen Mann von seinem Temperament. Alles andere hätte er eher er­ tragen können als dies, denn in keinem Punkte war er so verwundbar wie in seiner Liebe zu Corona. Während er so dahinging, stieg ihr Bild vor ihm auf, und er ward beinahe geblendet bei dem Gedanken an ihre Schönheit. Aber er konnte nicht mehr an sie denken, ohne auch das andere Wesen heraufzubeschwören, auf welches sich seine Rachegedanken concentrirten, bis eS ihm schiene, als müsse schon die bloße Absicht dem Gegenstand ein Leid anthun. Der Fall war au sich in seinen Folgen entsetzlich. Nur eine rasende Leidenschaft konnte einen solchen Mann dahin bringen, sich so tief zu erniedrigen, um eine unter­ geordnete Person zum Zeugniß gegen seine Frau zu be­ stechen. Er selbst war so ganz außer Stande, die ihn be­ herrschende Macht zu ermessen, daß er sich cinbildete, er habe einer Mitschuldigen das Geheimniß gewaltsam abge-

204 preßt. Niemals hätte er zugegeben, daß der Anblick des Geldes und die durch seine eigenen Worte gegebenen Winke die alte Frau dazu gebracht haben könnten, die aus der Luft gegriffene Geschichte zu erfinden, die er durchaus hatte hören wollen. Er sah nicht ein, daß Caterina Ranucci nur jede seiner eignen Behauptungen bestätigt und das Geld genommen hatte, während sie ihn wegen seiner Thorheit aus­ lachte. Ihn hatte etwas blind gemacht, was das geistige Ge­ sicht sicherer zerstört als Zorn oder Haß, Stolz oder selbst Liebe. Bis zu einem gewiffen Grade war ihm zu verzeihen. Die Kette indirecter Beweise war vollständig und so über­ zeugend, daß mancher gerecht denkende Mensch Coronas Schuld als die einzig mögliche Erklärung des Vorgefalle­ nen angesehen haben würde. Die eben gemachten Ent­ deckungen würden an sich allein zu einer Anklage gegen sie hingereicht haben, und manch makelloser Ruf ist durch minder schlagende Beweise zerstört worden. Hatte er denn nicht einen mit verstellter Hand auf dem Briefpapier seiner Frau geschriebnen Brief gefunden, der mit ihrer eignen Nadel auf Gouaches Kissen festgesteckt war? Hatte nicht das alte Weib und zwar noch ehe er den Brief gefunden hatte, eingestanden, daß vor kurzem eine Dame dagewesen wäre? Stimmten diese Thatsachen nicht merkwürdig dazu, daß Corona ihn unterdessen auf dem Pincio hatte warten lassen? Vor allen Dingen, erklärte dieser Schluß nicht mit einem Mal all das in ihrem Benehmen, was ihn während der letzten Woche so beunruhigt hatte? Was war das für eine Geschichte von Faustina Montevarchis Verschwinden? Das Mädchen war vermuthlich Coronas unschuldige Mitschuldige. Corona hatte um ein Uhr in der Nacht mit Gouache den Palast verlassen. Der Pförtner hatte keine andre Dame gesehen. Die Thatsache,

205 daß sie den Palast Montevarchi mit Faustina und ohne Gouache betreten hatte, bewies gar nichts, als vielleicht, daß ste das junge Mädchen irgendwo getroffen hatte, wo — darauf kam es wenig an. Die Geschichte, daß Faustina

sich aus Versehen in einem Zimmer des Palastes einge­ schlossen hatte, war eine Erfindung, wie Corona selbst zugab. Daß indeffen Faustinas Flucht und die anderen Vorfälle in der Nacht des zweiundzwanzigsten Octobers nur arrangirt worden wären, damit Corona und Gouache ein Viertelstündchen im Mondschein spazieren gehen könnten, das glaubte Giovanni nicht. Dahinter steckte ein noch un­ gelöstes Räthsel. Fürs erste waren die von ihm ermittelten Thatsachen genug — genug um sein Glück mit einem Schlage zu zerstören. Und dennoch liebte er Corona auch jetzt noch und obgleich sein Entschluß in Bezug auf Gouache feststand, so wußte er doch, daß er sich von der angebeteten Frau nicht trennen konnte. Er dachte an die alte Trutz­ burg Saracinesca mit ihren festen Thürmen und undurch­ dringlichen Mauern, und als er sich überlegte, daß es ans der ganzen ungeheuren Maffe von Gebäuden nur einen einzig möglichen Ausgang gab, sagte er sich, daß Corona dort für immer sicher sein würde. Er hatte die Triebe eines wilden und unversöhnlichen Geschlechtes, das Jahrhunderte hindurch das Gesetz in eigener Hand gehalten hatte und gewohnt gewesen war, es nach eignem Gutdünken zu handhaben. Es war noch nicht lange her, daß die Herren von Saracinesca das Recht über Leben und Tod ihrer Vasallen besessen hatten'), und

nach

*) Noch bis zum Jahre 1870 hatten die Herzöge von Bracciano dem Gesetz das Recht über Leben und Tod; dasselbe war mit

dem Titel verbunden, der verkauft und nachher wieder von dem ur« sprünglichen Inhaber zurückgekauft worden war.

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die erblichen Charaktereigenschaften, welche durch jahrhun­ dertlange Macht genährt worden, waren mit dem Verfall des Feudalismus nicht verschwunden. Unter den obwalten­ den Umständen hätte es nicht für unnatürlich gegolten, wenn Giovanni seine Frau für den Rest ihres Lebens in sein Bergschloß eingesperrt hätte. Der Gedanke mag civilisirte Europäer in Erstaunen setzen, wenn in Betracht ge­ zogen wird, daß ich Ereignisse erzähle, die sich erst vor kurzem, im Jahre 1867 zugetragen haben, allein im Be­ kanntenkreise der betreffenden Personen würde es nur wenig Erstaunen erregt haben. Giovanni selbst erschien dies als der einzig mögliche Abschluß dessen, was geschehen war und noch komme» sollte, und der Gedanke, Gouache zu todten und Corona lebenslang cinzusperren, war in seinen Augen weder barbarisch noch unausführbar. Er beschleunigte seine Schritte nicht beim Nachhause­ gehen. Es war etwas Verhängnisvolles in diesem regel­ mäßigen Schritt und versteinertem Antlitz, während er standhaft der Ausführung seiner Absicht entgegenging. Die Wuth, welche ihn zuerst ergriffen hatte, und die, falls er Gouache getroffen, jedenfalls einen stürmischen Ausbruch verursacht hätte, war verschwunden und in der Gewißheit seiner Schmach und der Furchtbarkeit seines Schmerzes untergegangen. Nun blieb ihm nichts übrig, als Corona zu sagen, daß er alles wiffe, und unvorzüglich die Folgen ihres Verbrechens über sie ergehen zu lassen. Es war durchaus keine Hoffnung vorhanden, daß sie ihre Unschuld beweisen könnte, und auch in Giovannis eigner Brust wat keine Hoffnung, je sein verlornes Glück wiederzufinden, oder je wieder Stein auf Stein zu dem herrlichen Bau seines Lebens zusammenzufügen, welchen er so vertrauens­ voll ans die Treue des geliebten Weibes gegründet hatte.

207 Als er das Thor seines Palastes erreichte, wurde er wo möglich noch blässer, bis sein Gesicht förmlich gespen­ stisch aussah, und seine Augen schienen noch tiefer einzu­ sinken, während ihr conccntrirter Glanz wilder erglühte. Niemand sah ihn eintreten, denn der Pförtner saß in seiner Loge, und oben auf dem Treppenabsatz schloß sich Gio­ vanni mit dem Schnepper selbst die Thür zu seiner Woh­

nung auf. Corona war in ihrem Ankleidezimmer, einem hohen gewölbten Gemach, etwas düster ausgcstattet, aber durch ein Feuer erhellt, welches lustig in dem großen alten Kamin flackerte. Auf dem Toilettentisch waren die Kerzen angezündet, und eine Lampe mit einem Schirm brannte auf einem niedrigen Ständer neben einem Ruhesopha am Kamin. Die Fürstin war in ein loses Gewand von wei­ chem cremefarbigen Stoff gekleidet, dessen Falten graziös zu Boden fielen, während sie auf dem Sopha lag. Sie ruhte, ehe sie sich zu Tische ankleidete, und die Fülle ihres blauschwarzen Haares war lose auf ihrem Haupt zusammen­ geschlungen und von einem großen spanischen Kamm ge­ halten, der mit nachlässiger Anmuth durch die Flechten ge­ steckt war. Sie hielt ein Buch in ihrer feinen olivenfar­ benen Hand, allein sie las nicht, ihr Kopf ruhte auf den Kissen und der Feuerschein hob ihre Züge deutlich hervor, während ihre tiefdunkeln Augen das Aufblitzen der flackern­ den Flamme widerspiegelten, in welche sie hineinschaute. Der Ausdruck ihres Antlitzes war ruhig und heiter. Sie hatte für den Augenblick die kleinen Aergernisse der letzten Tage vergessen und dachte an ihr Glück; sie verglich den Frieden ihres jetzigen Lebens mit dem, was sie während ihrer fünssährigen Ehe mit dem armen alten Astrardente gelitten hatte. Wenn Giovanni sie so hätte sehen können,

208 wäre sein Herz vielleicht erweicht worden. Er hätte sich gefragt, wie es möglich wäre, daß eine so ungeheurer Missethaten schuldige Frau so daliegen und mit dem Aus­ druck so ruhiger Unschuld das Feuer beobachten könnte. Aber Giovanni sah sie nicht, wie sie eben war. Selbst im Uebermaß seines Zornes und Leidens verließ ihn seine Höflichkeit nicht, und er klopfte an die Thür seiner Frau, ehe er eintrat. Corona rührte sich und wendete den Kopf, um zu sehen, wer hereinkommen würde. „Herein!" rief sie. Sie erschrack, als sie Giovannis Gesicht sah. Vom Feuerschein geblendet sah er ihr wie ein Todter aus. Sie legte eine Hand aus die Lehne des Sophas, als ob sie ausstehen und ihm entgegen gehen wollte. Er schloß die Thür hinter sich und ging auf sie zu, bis nur noch wenige Schritte sie trennten. Sie war über sein Aussehen der­ maßen erschrocken, daß sie ganz still saß, während er die Augen auf sie heftete und zu sprechen begann. „Du hast mein Leben zerstört", sagte er mit selt­ samer leiser Stimme, „ich komme, Dir meinen Beschluß mitzutheilen". Sie dachte, er wäre wahnsinnig geworden, und wie tapfer sie auch war, zuckte sie doch ein wenig zurück und erblaßte. „Du brauchst Dich nicht vor mir zu fürchten", sagte er, als er diese Bewegung bemerkte. „Ich werde Dich nicht umbringen. Leider bin ich thöricht genug, Dich noch immer zu lieben." „Giovanni!" rief Corona in herzzerreißendem Tone. Sie konnte keine Worte finden, sondern sprang auf, um­ schlang ihn mit den Armen und blickte ihm flehend ins Gesicht. Sein starrer Ausdruck wurde nicht milder, denn

209 er war auf jegliche Verstellung bei ihr gefaßt. Ohne ihr wehe zu thun, aber mit einer Kraft, der wenig Männer hätten widerstehen können, zwang er sie zurück auf ihren Sih; dann trat er einen Schritt zurück, ehe er weiter sprach. Sie unterwarf sich blind, denn sie fühlte, daß jeder Versuch, ihm entgegenzutreten, fruchtlos sein muffe. „Ich weiß, was Dn gethan hast", sagte er. „Du kannst nichts zu sagen haben. Sei still und höre mich an. Dn hast das größte Glück zerstört, das die Welt je gekannt hat. Du hast mich und die Meinen entehrt. Dn hast meinen Glauben an Dich — Gott weiß, wie groß er war! — in den Schmutz Deines nichtswürdigen Lebens hcrabgezogk». Und schlimmer als das, — das hätte ich Dir beinahe noch vergeben können, so elend bin ich! — Du hast Dich selbst zn Grunde gerichtet —" Corona stieß einen wilden Schrei aus und sank auf die Kissen zurück; sic hielt sich die Ohren zu, damit sie die fürchterlichen Worte nicht hörte. „Ich will's nicht anhören!" keuchte sie. „Du bist wahnsinnig — rasend!" Dann sprang sie wieder ans und drückte ihn so schnell an ihre Brust, daß er ihr nicht entgehen konnte. „Ach, mein armer Giovanni!" stöhnte sie. „Was ist Dir zugestoßen? Bist Dn verwundet? Mußt Dn sterben? Ums Himmels willen, sprich wie Du sonst sprachst!" Er ergriff ihre Handgelenke und hielt sie vor sich fest, so daß sie hören mußte, was er sagte. Selbst jetzt that sein Griff ihr nicht weh. Seine Hände waren wie Eisen­ sesseln, in welchen die ihrigen sich herumdrehen konnten, wenn sie sie auch nicht heranszuziehen vermochte. „Ich bin zum Tode verwundet", sagte er zwischen den Zähnen. „Ich bin in Gouaches Zimmer gewesen und l'rawford. ä.uif ol.nic. l. 14

210 habe Deinen Brief und Deine Nadel mitgebracht, — die Nadel, welche ich Dir geschenkt hatte. Begreifst Du jetzt oder muß ich noch mehr sagen?" „Meine Nadel?" rief Corona in äußerster Bestürzung. „Ja", antwortete er und ließ sie los, um sofort das Briefchen und die goldne Nadel hervorzuziehen. „Ist das Dein Briefpapier? Ist das Deine Nadel? — Antworte mir, — oder nein! Die Dinge sprechen für sich. Du brauchst nichts zu sagen, denn Du kannst nichts zu sagen haben. Wenn das noch nicht genügt, so ist noch die Frau da, die Dich hereingelasicn, die gesehen hat, wie Du dies hingebracht hast. Was willst Du noch mehr?" So lange Giovannis Anklagen allgemein und unbe­ stimmt geblieben, war Corona entsetzt und glaubte, irgend ein furchtbares unbegreifliches Unheil wäre ihrem Gatten zugestoßen und hätte ihn um den Verstand gebracht. So­ bald er für seine Reden Beweise beibrachte, kehrte ihre Geistesgegenwart zurück, und sie überschaute mit einem Blick die ganze Furchtbarkeit der Lage. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie das Opfer eines abscheu­ lichen Anschlages wäre; da sie aber nun etwas Bestimmtem entgegenzutreten hatte, machte sich ihr angeborner Muth geltend. Sie war nicht die Frau danach, hilflos zu stöh­ nen und zu weinen, wenn sie einer offenbaren Gefahr ge­ genüberstand. Sie nahm den Brief und die Nadel und besah sie genau bei Licht mit einer Ruhe, die merkwürdig gegen ihre frühere Aufregung abstach. Giovanni beobachtete sie. Er wähnte, sie habe die Ueberraschte gespielt, bis er etwas mehr Ueberführendes als Worte hervorgebracht hatte, und strenge jetzt ihren Scharfsinn an, um eine Erklärung für die Sache zu finden. Seine Lippe zuckte verächtlich, wäh-

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rend er nach seiner Ansicht ihre Handlungsweise durch­ schaute. Nach wenigen Augenblicken blickte sie auf und hielt ihm die beiden Gegenstände hin. „Das Papier ist von mit", sagte sie, „aber ich habe den Brief nicht geschrieben. Die Nadel gehört mir auch. Ich habe sie vor mehr als einem Monat verloren." „Natürlich", versetzte Giovanni kalt. „Ich erwartete, daß Du das sagen würdest. Es ist ganz natürlich. Aber ich verlange keine Erklärungen von Dir. Ich habe sie bereits. Ich werde Dich morgen früh nach Saracinesca bringen; dort wirst Du Zeit haben, alles zu erklären. Du wirst Dein ganzes Leben, bis Du stirbst, zu keinem an­ dern Zweck verwenden können. Ich habe Dir ja gesagt, daß ich Dich nicht tobten werde." „Ist es möglich, daß Du im Ernste sprichst?" fragte Corona, und ihre Stimme bebte ein wenig. „Ich spreche im Ernst. Meinst Du, ich sei ein Mann, der über solche Dinge scherzt?" „Und glaubst Du, ich sei eine Frau, die solche Dinge thun kann?" „Da Du sie gethan hast — was soll ich Dir darauf antworten? Nicht nur, daß Du sie thun kannst — Du bist die Frau, die sie gethan hat. Lügen leblose Dinge wie diese?" „Nein; aber Menschen lügen. Ich glaube Dir, Gio­ vanni. Du hast diese Sachen in Herrn Gouaches Zimmer gefunden. Dir ist gesagt worden, ich hätte sie dahingebracht. Wer Dir das gesagt, hat die nichtswürdigste Lüge geredet, die je auf Erden ausgesprochen worden ist. Die Person, welche sie dorthin gelegt hat, that es in der Hoff­ nung, mich zu Grunde zu richten. Kannst Du auf die Vergangenheit zurückblicken und mir sagen, daß Du 14*

212 noch andre Gründe hast, an diesen schnöden Betrug zu glauben?" „Gründe?" rief Giovanni wild. „Du willst noch weitere Gründe hören? Gut, wir haben Zeit. Ich will Dir genug sagen, um Dir zu beweisen, daß ich alles weiß. War dieser Mensch nicht während des letzten Jahres be­ ständig um Dich, wo ihr nur zusammentrafet? Sprach er nicht leise mit Dir? Zeigte er Dir nicht durch jede Bewe­ gung, jede Miene, daß er Dich durch seine gemeine Liebe auszeichnete? Saßet ihr nicht am vorigen Dienstag in einer Ecke zusammen, gerade als der Aufstand ausbrach? Ließest Du Dir nicht von ihm die Hand küssen, als ihr beide dachtet, daß Niemand hinsähe?" „Er küßte meine Hand in Gegenwart aller", erwiderte Corona, deren Zorn allmälig wuchs, als sie ihren Gatten entschlossen sah, ihre Schuld zu beweisen. „Es waren freilich Leute im Zimmer", fuhr Gio­ vanni mit unterdrückter Wuth fort, „aber Du glaubtest Dich unbeobachtet: ich konnte das an Deinem Wesen und an Deinen Augen sehen. Dieselbe Nacht kam ich um ein Uhr nach Hanse und Du warst aus. Du warst allein mit jenem Mann ausgegangen, in der Erwartung, daß ich nicht so bald zurückkommen würde — obschon es spät genug war. Du mußtest zugeben, daß Du mit ihm gegangen wärest, denn der Pförtner hatte euch gesehen und mir ge­ sagt, daß es der Zouave gewesen wäre." „Ich werde Dir die ganze Geschichte erzählen, da Du mir nicht mehr traust", sagte Corona stolz. „Ich zweifle gär nicht, daß Du eine sehr geistreiche Geschichte erfinden wirst, um zu erklären, wie es zuging, daß Du mein Hans allein mit Gouache verliehest und doch im Palast Montevarchi allein mit Faustina ankamst.

213 Aber ich bin noch nicht zu Ende. Am nächsten Tage kam er her. Du behandeltest ihn in meiner Gegenwart mit beispielloser Unhöflichkeit. Eine halbe Stunde später fand ich euch zusammen im Saal. Er küßte wieder Deine Hand. Du sagtest, Du vergäbest ihm, und gabst ihm Deinen beliebten Segen, den Du mir einst unter sehr ähn­ lichen Verhältnissen ertheiltest. Astrardente lebte damals noch und war auf dem Ball bei Frangipani. Jetzt hast Du mich zum Mann und hast einen andern gefunden, beffen Herz schlägt, wenn Du ihn segnest. Es wäre am Ende doch besser, Dich zu tobten!" „Bist Du zu Ende?" fragte Corona bleich vor Zorn. „Ja. Jener Brief und die Nadel — dort abgegeben, während ich armer Narr heute Nachmittag auf Dich auf dem Pincio wartete, — das sind meine letzten Worte. Sie schließen die Geschichte ganz passend. Ich wünsche, ich liebte Dich nicht so. Dann würde ich keine Antwort ab­ warten." „Wagst Du zu sagen, daß Du mich liebst?" »Ja, — obschon kein andrer Mann wagen würde, das zu sagen, kein andrer wagen würde, eine Frau wie Dich zu lieben — aus reiner Scham." „Und ich sage Dir", antwortete Corona mit tönender Stimme, „obwohl ich Dir beweisen kann, daß jedes Wort, das Du gegen mich sprichst, eine schändliche Verleumdung ist, so daß Du einsehen wirst, wie schmählich Du eine unschuldige Frau beleidigt hast, so werde ich Dich doch nie mehr lieben — niemals, niemals wieder. Ein Mann, der solche Dinge glauben, der solche Dinge aussprechen kann, ist der Liebe keiner Frau werth, und soll die meine nicht haben. Und dennoch sollst Du die Wahrheit von mir hören, damit Du weißt, was Du gethan hast. Du

214 sagst, ich habe Dein Leben zu Grunde gerichtet und Dein Glück zerstört. Du selbst hast es gethan. So wahr ein Gott im Himmel lebt--------- " „Lästre nicht", sagte Giovanni verächtlich. „Ich will Deine Geschichte anhören." „Bei Gott! es ist eine Lüge!" rief Corona und rich­ tete sich zu ihrer vollen Höhe auf; ihre Augen blitzten in gerechtem Zorn. Dann fuhr sie mit leiserer Stimme rasch und deutlich fort. „Gouache liebt Faustina und sie liebt ihn. Als er an jenem Abend unser Haus verließ, ging sie ihm nach auf die Straße. Sie erreichte die SerristoriKaserne und wurde von der Explosion betäubt. Gouache fand sie erst viele Stunden später. Als Du uns vorher mit einander sprechen sähest, gestand er mir, daß er sie liebte. Er ist ein Mann von Ehre. Er sah ein, das einzige Mittel, ihren Ruf zu retten, wäre sie hierher zu­ führen, damit ich sie nach Hause brächte. Er schickte mir eine Zeile durch den Pförtner, während sie im Schatten stehend wartete. Ich lief herunter und fand sie dort. Absichtlich verhüteten wir, daß der Pförtner sie sähe. Ich geleitete sie nach Hause und schickte Gouache fort, denn ich war böse auf ihn. Ich glaubte, er hätte ein unschuldiges Mädchen verleitet ihm zu folgen, es wäre eine zuvor ver­ abredete Zusammenkunft gewesen und sie wäre ausge­ gangen, ohne an den Aufstand zu denken. Ich erfand die Geschichte, daß sie sich hier im Hause verirrt hätte, um sie zu schützen. Am folgenden Tage kam Gouache. Ich wollte nicht mit ihm sprechen und ging auf mein Zimmer. Die Dienstboten sagten mir, er wäre fort; als ich aber zurückkam, traf ich ihn noch. Er hielt mich an und überzeugte mich von der Wahrheit, denn Faustina hat mir seitdem alles gestanden. Sie war ihm aus eignem

215 Antrieb nachgegangen, und er ahnte gar nicht, daß sie nicht sicher zu Hause wäre. Ich vergab ihm. Er sagte, er ginge an die Grenze, und bat mich um meinen Segen. Es war vielleicht ein thörichter Einfall, aber ich that, was er wünschte. Wenn Du, wie es einem Mann ziemte, ruhig herzugetreten wärest, anstatt zu horchen, hätten wir Dir alles gesagt. Aber schon damals hegtest Du Argwohn gegen mich. Ich weiß nicht, wer Dir gesagt hat, daß ich heute in seiner Wohnung gewesen bin. Der Wagen wurde im Tritone durch ein Gedränge aufgehalten, und ich er­ reichte den Pincio erst, nachdem Du schon fort wärest. Was nun die Nadel anbetrisft, so hatte ich die vor einem Monat verloren. Gouache mag sie gefunden haben, oder ein Andrer hat sie aufgehoben und verkauft, und er hat sie zufällig gekauft. Den Brief habe ich nicht geschrieben. Das Papier hat entweder Jemand hier aus dem Hause genommen oder sich von dem Buchbinder verschafft, der es für uns stempelt. Faustina mag es genommen haben, sie ist vielleicht hier gewesen, während ich aus war — es ist freilich nicht ihre Handschrift. Ich glaube, es ist eine ab­ scheuliche Intrigue; aber sie ist durchsichtig wie Wasser. Nimm die Nadel und trage sie. Wenn Gouache sie sieht, wird er Dich fragen, wo Du sie her hast, denn er hat keine Ahnung, daß sie mir gehört. Bist Du nun zufrie­ den? Ich habe Dir alles gesagt. Siehst Du, was Du angerichtet hast mit Deinem Verdacht gegen mich, mit Deiner Anklage gegen mich, damit, daß Du mich wie die schlechteste aller Frauen behandelt hast? Ich bin fertig. Was hast Du noch zu sagen?" „Daß Du eine höchst unwahrscheinliche Geschichte er­ zählt hast", versetzte Giovanni. „Du bist dadurch nur noch tiefer gesunken, denn Du hast einem unschuldigen

216 Mädchen einen Makel angeheftet, um Dich zu schützen. Ich hätte Dich dessen nicht für fähig gehalten. Du kannst eben so wenig Deine Unschuld beweisen, wie Du beweisen kannst, daß das arme Kind rasend genug war, Gouache am vorigen Dienstag ans die Straße nachzulaufen. Ich habe Dich geduldig angehört. Jetzt bleibt mir nur noch Eins zu thun übrig, und dann bleibt mir nichts mehr als geduldig zu sein. Du wirst Deine Dienstboten rufen und anordnen, daß Deine Sachen zu einer Reise nach Saracinesca gepackt werden. Wenn es Dir paßt, werden wir morgen um elf Uhr abfahren, denn bis dahin werde ich zu thun haben. Ich rathe Dir, nicht mit meinem Vater zu sprechen." Corona stand regungslos, während er sprach. Sie konnte nicht begreifen, daß er ihrer Auseinandersetzung keine andre Aufmerksamkeit schenkte, als daß er sie noch mehr verachtete, weil sie Faustina hineingezogen hatte. Es war ihr unbegreiflich, daß ihm nicht alle Umstände eben so klar waren wie ihr. In ihrem Zustande voll­ kommener Schuldlosigkeit war es ihr unmöglich, sich in einem Augenblick in seine Lage zu versetzen und zu be­ greifen, was er alles gelitten, gedacht und durchgemacht hatte, ehe er sie anklagte. Selbst wenn ihr das möglich gewesen wäre, hielt sie doch ihre Erzählung für eine voll­ kommen genügende Erklärung alles dessen, was seinen Arg­ wohn erregt hatte. Sie war freilich so tief gekränkt, daß sie wohl wußte, sie würde sich nie wieder ganz davon er­ holen können, aber sie hielt cs gar nicht für möglich, daß alles Gesagte gar keinen Eindruck machen sollte. Und doch kannte sie sein Aussehen und sein Wesen, und erkannte am Ton seiner Stimme den Ausdruck eines Entschlusses, der schwer zu ändern sein würde. Er hielt sie noch für

217 schuldig und wollte sie auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, in die trostlose Einsamkeit im Gebirge schleppen. Sie hatte auf der weiten Welt keinen Verwandten, an den sie sich wenden konnte. Ihre Mutter hatte sie schon in ihrer Kindheit verloren, ihr Vater, für den sie sich aufge­ opfert, indem sie den reichen alten Herzog von Astrardente heirathete, war schon lange todt. Sie konnte sich an Nie­ manden wenden als an den alten Fürsten Saracinesca selbst — und Giovanni hatte sie davor gewarnt zu seinem Vater zu gehen. Sie stand einige Augenblicke da und starrte ihn an, als wolle sie seine Gedanken lesen, und er gab ihr den Blick mit unbeugsamer Strenge zurück. Sie war in einer verzweifelten Lage. In wenigen Stunden würde sie an einem Orte sein, wo jede Vertheidigung, jede Erklärung unmöglich war, und sie kanntes den Cha­ rakter ihres Mannes genügend, um zu wissen, daß wo Be­ weise keine Kraft hatten, Bitten schlimmer als nutzlos sein würden. Endlich trat sie auf ihn zu und legte ihm sanft die Hand auf den Arm. „Giovanni", sagte sie ruhig, „ich habe Dich sehr innig und sehr treu geliebt. Ich schwöre Dir bei unserm Kinde, daß ich ganz unschuldig bin. Willst Du mir nicht glauben?" „Nein", ant'.rortete er, und das kleine Wort fiel von seinen Lippen wie der Schlag eines Stahlhammers. Er zuckte mit keiner Wimper, der Ausdruck seines Gesichtes blieb unverändert. „Willst Du nicht Jemanden fragen, der darum weiß, ob ich die Wahrheit gesprochen habe? Willst Du mich nicht schreiben lassen — oder vielleicht Du nicht selbst an die Beiden schreiben und sie bitten, herzukommen und Dir ihre Geschichte zu erzählen? Es wäre viel von ihnen ver-

218 langt, aber für mich handelt es sich um Tod und Leben, und sie würden es nicht abschlagen. Willst Du es nicht thun?« „Nein, ich will nicht.« „Dann thu', was Du willst mit mir, und möge Gott Dir vergeben, denn ich kann es nicht.« Corona wendete sich von ihm ab und ging quer durchs Zimmer. Dort stand ein Betstuhl und darüber hing ein schönes Kruzifix. Corona kniete nieder, als beachte sie nicht die Anwesenheit ihres Mannes und begrub ihr Ge­ sicht in den Händen. Giovanni stand regungslos in der Mitte des Zimmers. Seine Blicke waren den Bewegungen seiner Frau gefolgt, und er beobachtete sie eine Weile schweigend. Von ihrer Schuld überzeugt, wie er es war, glaubte er, sie spiele eine Rolle und ihr Niederknien wäre nur darauf berechnet, einen Bühneneffect hervorzubringen. Der Ton der Wahr­ heit in ihren Worten machte keinen Eindruck auf ihn, und ihre Bewegungen schienen ihm zu graziös um natürlich zu sein, zu gehalten für eine Frau, die nicht die ganze Zeit über darauf bedacht war, den möglichst besten Ein­ druck zu machen. Die von ihr erzählte Geschichte stimmte zu genau zu den Dingen, deren er sie angeklagt hatte, während sie nach seiner Ansicht nicht die Beweggründe ihrer Handlungen erklärte. Er sagte sich, daß er an ihrer Stelle gleich zuerst, als sie nach Hause kam und ihn war­ tend sand, alles gesagt haben würde. Er vergaß oder machte sich nicht klar, daß sie keine Zeit zur Ueberlegung gehabt hatte und zu einem raschen Entschluß gezwungen worden war. Fast jede andere Frau würde das ganze Abenteuer sofort erzählt haben; jede minder unschuldige und arglose Frau hätte die Gefahr vorausgesehen, in

219 welche sie sich stürzte, indem sie ihren Mann um Nachsicht für ihr Schweigen bat. Er war überzeugt, daß sie sein Vertrauen zu ihm mißbraucht und auf seinen Glauben an ihre Aufrichtigkeit gebaut hatte, um kühn mit der hal­ ben Wahrheit durchzukommen. Argwohn und Eifersucht hatten ihn so verblendet, daß er ihr vielverschlungene Ränke zuschrieb, deren sie gänzlich unfähig war. Corona blieb nicht lange auf den Knien. Sie hatte nicht die Absicht, durch ihre betende Stellung Giovanni in feinem Entschluß wankend zu machen, noch ihn zu bewegen, sie allein zu lassen. Er würde allerdings das Zimmer verlassen haben, wenn sie noch etwas länger auf ihren Knien verblieben wäre, aber als sie sich erhob und ihn wieder ansah, stand er noch immer in derselben Stellung da, die Augen auf sie geheftet und die Hände über die Brust gekreuzt. Er dachte, sie würde ihre Vertheidigung wieder aufnehmen, allein, er irrte sich. Sie trat auf ihn zu und blieb in einiger Entfernung vor ihm stehen, dann sprach sie ruhig in ihrer melodischen Stimme: „Du hast also Deinen Beschluß gefaßt. Ist das Dein letztes Wort?" „3a." „Dann will ich Dir sagen, was ich zu sagen habe. Es wird nicht viel sein, aber wir werden in Zukunft nicht oft mit einander reden. Eines Tages wirft Du an das denken, was ich Dir jetzt sage. Ich bin eine unschuldige und schutzlose Frau. Ich habe keine Verwandten, an die ich mich halten kann. Du hast mir verboten an diejenigen zu schreiben, welche meine Schuldlosigkeit beweisen könnten. Um unseres Kindes willen — um der Liebe willen, welche ich für Dich gehegt habe — will ich keinen Widerstand versuchen. Die Welt soll nicht erfahren, daß Du an mir,

220 der Mutter Deines Sohnes, der Frau, die Dich geliebt hat, auch nur gezweifelt hast. Die Zeit wird kommen, da Du mich um Vergebung bitten wirst. Ich sage Dir freimüthig, daß ich nie im Stande sein werde, Dir zu verzeihen, noch je wieder ein freundliches Wort zu Dir zu sprechen. Dieses ist weder eine Drohung noch eine War­ nung. Von Deiner Rücksicht erbitte ich nur zweierlei — daß Du mir mittheilst, was Du über unser Kind be­ schlossen hast und daß Du mich dann eine Weile allein lastest." Ein schlimmer Gedanke fuhr Giovanni durch den Kopf. Er wußte, wie Corona leiden würde, wenn ihr weder ge­ stattet würde, den kleinen Orsino zu sehen, noch etwas über sein Ergehen zu hören, während sie ihre einsamen Tage als Gefangene in Saracinesca hinlebte. Die teuf­ lische Grausamkeit dieses Gedankens reizte ihn einen Augen­ blick, und er sah ihr mit kaltem Blick in die Augen, als ob er ihr nicht antworten wollte. Allein trotz dieser neuen Regung von Eifersucht, war er nicht im Stande, ihr den Todesstoß zu geben. Als er in ihr schönes bleiches Gesicht und ihre traurigen Augen blickte, wurde er schwankend. Er liebte sic noch und würde sie geliebt haben, auch wenn die Beweise gegen sie zehn Mal stärker gewesen wären. In ihm war die Liebe eine Leidenschaft für sich. Sie war durch die Hingebung und Zärtlichkeit und Treue, welche mit ihr aufgewachsen, gestärkt und verschönert und wie von einer Mauer umgeben worden. Aber wenn auch alles Andre hinweg gerissen wurde, so blieb doch die Lei­ denschaft an sich wild, unbezähmbar, seine Seele mit ihrer Macht erregend. Sie stand allein da, wie der uneinnehm­ bare Wachtthurm einer vom Kriege zerstörten Festung, unter besten Schatten die Außenwerke und Wälle dem

221 Boden gleich gemacht und deffen hohe Mauern durch Kriegsgeschütze getroffen und zerrissen worden, aller Schön­ heit und seiner stattlichen Umgebung beraubt, aber dennoch fest und unerschüttert in einsamer Größe. Einen Augenblick schwankte Giovanni, unfähig gegen die geheimnißvolle Gewalt anzukämpfen, welche ihn noch beherrschte und ihren Einfluß geltend machte. Die An­ strengung, der Versuchung zu widerstehen, furchtbar grau­ sam zu sein, lockte ihn von seinem Hauptvorsatz ab und brachte in ihm einen ihm selbst unbegreiflichen Umschwung der Gefühle hervor. „Corona!" rief er mit gebrochner Stimme. Er brei­ tete wild die Arme aus und stürzte auf sie zu. Sie aber stieß ihn mit einer Kraft zurück, deren er sie nicht für fähig gehalten hatte. Bittere Worte traten ihr auf die Lippen, aber sie hielt sie zurück und schwieg, obschon ihre Augen von einem Zorn flammten, wie sie ihn nie zuvor empfunden hatte. Eine Weile schwiegen Beide. Corona stand aufrecht und gespannt da, die Hand auf die Lehne eines Stuhles gestemmt. Giovanni ging ein Mal im Zimmer auf und ab, dann sah er sie wieder fest an. Es vergingen einige Secunde», ehe er sprechen konnte, sein Ge­ sicht war todtenbleich. „Du kannst das Kind behalten", sagte er endlich mit unsicherer Stimme. Daun verließ er das Zimmer, ohne ein weiteres Wort und machte die Thür leise hinter sich zu. Als Corona allein war, blieb sie stehen, wie er sie verlassen hatte, den Blick auf die schweren Vorhänge ge­ heftet, hinter denen er verschwunden war. Allmälig wurde ihr Antlitz ganz starr, aus ihren Augen schwand aller Aus­ druck, bis sie stumpf und glasig aussahen. Sie schwankte, ließ den Stuhl los und fiel mit unartikulirtem Stöhnen

222 zu Boden. Da lag sie, weiß, schön und regungslos wie eine Marmorstatue, für eine Weile wenigstens all ihres Leidens unbewußt. Giovanni ging von seiner Frau zu seinem Vater. Der Fürst saß an seinem Schreibtisch; ein Haufen stau­ biger Pergamente und Papiere lag vor ihm. Er band die mürben Bindfäden auf, mit denen sie zusammenge­ schnürt waren, und las durch seine Brille die Ueberschriften der verschiedenen Documente. Er faltete sie nicht ausein­ ander, sondern legte sie sorgfältig der Reihe nach auf den Tisch. Als San Giacinto fortgegangen war, hatte der alte Herr während der paar Stunden bis zur Essenszeit nichts weiter zu thun gehabt. Er hatte also einen festen alten Behälter in der Bibliothek geöffnet, welcher als Aufbe­ wahrungsort für das Familienarchiv diente, nnd hatte einen gewissen Kasten herausgenommen, in welchem, wie er wußte, die auf die Abtretung des Titels bezüglichen Documente lagen. Er wollte sie an diesem Abend nicht mehr durchsetzen, sondern sie nur für die Durchsicht am nächsten Tage zurecht legen. Er blickte auf, als Giovanni eintrat, und sprang vom Stuhle auf, als er seinem Sohne ins Gesicht sah. „Barmherziger Himmel! Giovanni! Was ist vorge­ fallen?" rief er in großer Angst. „Ich komme nur, um Dir zu sagen, daß Corona und ich morgen nach Saracinesca fahren werden", antwortete Sant' Ilario mit leiser Stimme. „Was? Zu dieser Jahreszeit? Ueberdies könnt ihr gar nicht hin! Die Wege sind von Garibaldinern und Truppen beseht. Es ist unsicher, die Stadt zu verlassen. Bist Du krank? Was ist Dir?"

223 „O nichts Besonderes", versetzte Giovanni, indem er sich bemühte in gleichgültigem Tone zu sprechen. „Wir denken, die Bergluft wird für meine Frau gut sein, weiter nichts. Ich glaube nicht, daß es so schwer halten wird hinaus zu kommen. Dieser Krieg ist zur Hälfte bloßes

Gerede." „Und die andere Hälfte besteht aus versprengten Ku­ geln", bemerkte der Fürst, indem er unter seinen buschigen Augenbrauen seinen Sohn mißtrauisch ansah. „Du wirst mir erlauben zu sagen, Giovanni, daß Du an gedanken­ losem Leichtsinn schwerlich Deinesgleichen auf der Welt

hast." »Ich glaube, Du hast recht", versetzte der junge Mann bitter, „dennoch gedenke ich diese Reise zu unter­ nehmen." „Und willigt Corona ein? Weshalb bist Du so blaß? Ich glaube, Du bist krank." „Ja — sie willigt ein. Wir werden das Kind mit­ nehmen." „Orsino? Du bist von Sinnen. Es ist schlimm ge­ nug für eine zarte Frau" — „Corona ist durchaus nicht schwächlich. Sie ist sehr kräftig und kann alles aushalten." „Unterbrich mich nicht. Ich sage Dir, sie ist eine Frau und folglich muß sie schwächlich sein. Kannst Du denn nicht Vernunft annehmen? Was den Jungen anbe­ trifft, so ist's mein Großsohn, und wenn Du noch nicht alt genug bist, um ihn in Acht zu nehmen, so bin ich's. Er wird nicht reisen. Ich erlaube es nicht. Du redest Un­ sinn. Geh und zieh Dich zu Tisch an, oder schicke nach dem Arzt — kurz, benimm Dich wie ein vernünftiger Mensch! Ich will selbst zu Corona gehen."

224 Der alte Herr war schon aufgebracht, als er der Thür zu ging. Giovanni legte die Hand schwer auf seines Va­ ters Arm. „Entschuldige", sagte er. „Corona kann Dich jetzt nicht sprechen, Sie ist beim Ankleiden." „Ich werde durch die Thur mit ihr sprechen. Ich werde in ihrem Boudoir warten, bis sie mich sprechen kann." „Ich glaube nicht, daß Du sie heute Abend sehen kannst. Sie ist mit Vorbereitungen für die Reise be­ schäftigt." „Sie wird doch wohl mit uns essen?" „Ich weiß nicht recht, ich glaube kaum." Der alte Saracinesca fuhr plötzlich auf seinen Sohn los. Sein graues Haar sträubte sich und seine schwarzen Augen blitzten. Rasch ergriff er Giovanni beim Arm und hielt ihn vor sich fest wie in einem Schraubstock. „Hör' mal!" rief er wild. „Ich will mich nicht von einem Jungen zum Narren machen lassen. Es ist etwas vorgefallen, was Du Dich fürchtest, mir zu sagen. Antworte mir! Ich will es wissen." „Von mir wirst Du es nicht erfahren", versetzte Sant' Ilario, seine Fassung bewahrend, wie er es in einem Streite mit seinem Vater gewöhnlich that. „Du wirst nichts erfahren, denn da ist nichts zu hören." Sa­ racinesca lachte. „Dann ist also kein Grund vorhanden, weshalb ich nicht Corona sprechen soll", sagte er und ließ ihn los und ging wieder auf die Thür zu. „Du kannst sie jetzt nicht sprechen", wiederholte Gio­ vanni in sehr entschiedenem Ton. „Dann sage mir, was ist der Grund von all dieser Unruhe?" entgegnete der Vater.

225 Aber Giovanni sprach kein Wort. Wäre er ruhiger gewesen, so hätte er fürs Erste eine Begegnung mit seinem Vater vermieden; aber er hatte nicht daran gedacht, daß der alte Fürst natürlich den Grund der plötzlichen Reise werde wissen wollen. „Willst Dn es mir sagen oder nicht?" „Die Sache ist", sagte Giovanni wie verzweifelt, „wir haben den Arzt befragt. Corona ist nicht ganz wohl — er ricth uns, ins Gebirge zu gehen" — „Giovanni", unterbrach ihn der Alte schroff, „Du hast mir noch nie etwas vorgelogen, jetzt aber lügst Du. Ihr habt euch entzweit; obgleich ich mir nicht denken kann worüber." „Dann, bitte, frage mich nicht. Zch werde thun, was ich fürs Beste halte, und was Du fürs Beste halten wür­ dest, wenn Du alles wüßtest. Ich kam her, um Dir zu sagen, daß wir fort müsse», und ich dachte nicht, daß Du etwas dagegen haben würdest. Da Dir die Sache nicht gefällt, nun so thut's mir leid, doch ich bitte Dich, frage nicht weiter. Laß uns in Frieden ziehen." Saracinesca sah einige Minuten lang seinen Sohn starr an. Dann schwand der Zorn aus seinem Gesicht und der Ausdruck desselben wurde sehr ernst. Er liebte Giovanni über alles und liebte Corona mehr um feinet« als um ihretwillen, obwohl er sie sehr bewunderte und großes Vergnügen an ihrem Umgang fand. So viel aber stand fest: wenn zwischen Mann und Frau ein Streit ent­ stünde und Giovanni nur den geringsten Schein von Recht auf seiner Seite hatte, würde der alte Herr mit dem Herzen zu ihm stehen. Auf der andern Seite verbot Giovanni sein Ehrgefühl, seinem Vater z» erzählen, was vorgefallen war. Auch .r.iwfcrd. Sant' Marie. I 15

226 nicht sein nächster Angehöriger sollte von Corona so den­ ken, wie er von ihr dachte, und er wollte alles ausbieten, um ihre Schuld zu verheimlichen. Leider war er dazu ein zu wahrheitsliebender Mann und verstand sich nicht aufs Lügen, so daß sein Vater ihn sofort durchschaute. Ueberdies sprach sein bleiches Gesicht und sein verstörtes Wesen deutlich genug dafür, daß etwas sehr Ernstes vorgefallen wäre, und sobald der alte Fürst davon überzeugt war, wendete seine Theilnahme sich seinem Sohne zu. „Giovanni", sagte er schließlich ganz sanft, „ich will nicht in Deine Geheimnisse eindringen und auch keine Fragen an Dich stellen, die Du nicht gern beantworten möchtest. Ich glaube nicht, daß Du Dir irgend etwas Ernstliches hast zu Schulden kommen lassen, was Deine Frau Dir nicht verzeihen könnte. Wenn Du ihr untreu wärest, würde ich Dich verleugnen. Wenn aber sie Dich hintergangen hat, will ich alles thun, was in meinen Kräften steht, um Dir zu helfen." Vielleicht verrieth Giovannis Gefühl, daß an diesen Worten etwas Wahres wäre. Er wendete sich ab und lehnte sich ans Kamin. „Ich kann es Dir nicht sagen — ich kann es Dir nicht sagen", wiederholte er. „Ich denke, was ich thun will, wird das Beste sein. Das ist alles, was ich sagen kann. Vielleicht wirst Du es einst erfahren, aber ich hoffe nicht. Laß uns ohne Erklärung fortgehen." „Mein lieber Junge", verfehle der alte Mann, auf ihn zutretend und ihm die Hand auf die Schulter legend, „Du mußt thun, was Du für das Beste hältst. Gehe nach Saracinesca, wenn Du willst und wenn Du kannst. Wenn nicht, so gehe wo anders hin. Faffe Muth. Die Dinge sind nicht immer so schlimm wie sie aussehen."

227 Giovanni richtete sich mit Anstrengung empor und er­ griff die breite braune Hand seines Vaters. „Ich danke Dir", sagte er. „Lebewohl! In einigen Tagen werde ich wieder bei Dir sein. Lebewohl!"

Seine Stimme zitterte und er eilte aus dem Zimmer. Der Fürst stand einige Augenblicke still und warf sich dann in einen tiefen Lehnstuhl; er starrte die Lampe an nnd biß wild in seinen grauen Schnurrbart, als wollte er eine beinahe unbezwingbare Rührung verbergen. Seine Augen wurden feucht, während er die helle Lampe an­ stierte. Die Papiere und Pergamente lagen unbeachtet auf dem Tisch, und er berührte sie an jenem Abend nicht mehr. Er dachte nicht an sein einsames Alter, noch an die Schande, die über sein Haus gekommen war, sondern an den Sohn, den er dreißig Jahr lang wie seine Seele ge­ liebt hatte, und an ein braunes kleines Kindchen, das in seinem Bettchen schlief, die olivenfarbnen Wangen vom warmen Blut gcröthet und die geballten Fäustchen über den Kopf zurückgeworfen. Für Corona hatte er nur Gedanken des Haffes. Er hatte Giovannis Geheimniß nur zu gut errathen, und sein Herz verhärtete sich gegen die Frau, welche Schmach und Schmerz über seinen Sohn gebracht hatte.

Elftes Kapitel. Der Versuch San Giacinto's, ein Zusammentreffen zwischen Gouache und Faustina zu verhindern, war völlig mißglückt und hatte unabsichtlich zwischen Andern unselige Mißverständnisse ernsterer Art hervorgerufen. Der Zouave 15*

227 Giovanni richtete sich mit Anstrengung empor und er­ griff die breite braune Hand seines Vaters. „Ich danke Dir", sagte er. „Lebewohl! In einigen Tagen werde ich wieder bei Dir sein. Lebewohl!"

Seine Stimme zitterte und er eilte aus dem Zimmer. Der Fürst stand einige Augenblicke still und warf sich dann in einen tiefen Lehnstuhl; er starrte die Lampe an nnd biß wild in seinen grauen Schnurrbart, als wollte er eine beinahe unbezwingbare Rührung verbergen. Seine Augen wurden feucht, während er die helle Lampe an­ stierte. Die Papiere und Pergamente lagen unbeachtet auf dem Tisch, und er berührte sie an jenem Abend nicht mehr. Er dachte nicht an sein einsames Alter, noch an die Schande, die über sein Haus gekommen war, sondern an den Sohn, den er dreißig Jahr lang wie seine Seele ge­ liebt hatte, und an ein braunes kleines Kindchen, das in seinem Bettchen schlief, die olivenfarbnen Wangen vom warmen Blut gcröthet und die geballten Fäustchen über den Kopf zurückgeworfen. Für Corona hatte er nur Gedanken des Haffes. Er hatte Giovannis Geheimniß nur zu gut errathen, und sein Herz verhärtete sich gegen die Frau, welche Schmach und Schmerz über seinen Sohn gebracht hatte.

Elftes Kapitel. Der Versuch San Giacinto's, ein Zusammentreffen zwischen Gouache und Faustina zu verhindern, war völlig mißglückt und hatte unabsichtlich zwischen Andern unselige Mißverständnisse ernsterer Art hervorgerufen. Der Zouave 15*

228 kam spät Abends heim und sand selbstverständlich kein Brieschen auf seinem Toilettentisch. Er vermißte die Nadel nicht, denn er trug fie natürlich nie und legte dem kleinen Dinge, das er aus der Straße gefunden und das für ihn keine weitere Bedeutung hatte, nicht besondern Werth bei. Ihm fehlte es etwas an Ordnungssinn, und die Nadel hatte unter allerlei nutzlosen Kleinigkeiten, wie verblaßten Cotillonschleifen von» vorigen Jahr, losen Kupfermünzen, zer­ brochenen Bleistiften, Uniformknöpfen und ähnlichem Kram, der sich in vielen Monaten angehäuft hatte, unbeachtet dagelegcn. Hätte er die Nadel bei einem Andern gesehen, so würde er sie erkannt haben, allein jetzt vermißte er fie nicht. Das alte Weib, Catarina Ranucci, drückte ihr Geld ans Herz, sagte aber nichts von den beiden Herren, die im Laufe des Nachmittags dagewesen waren. Die Folge davon war, daß Gouache am nächsten Morgen früh leichten Herzens aufftand und nach der Kirche ging. Er wußte nicht bestimmt, ob Faustina hinkommen würde, ja es sprachen allerlei Wahrscheinlichkeiten dagegen, aber mit der Hoffnungsfreudigkeit eines Verliebten erwartete Gouache ein Wiedersehen mit ihr mit solcher Sicherheit, als ob die Sache zwischen ihnen fest verabredet worden wäre. Die Pfarrkirche Sant' Agostina ist ein sehr großes Gebäude. Die Messen darin folgen sich schnell von sieben Uhr Morgens bis Mittag, und eine große Menge von Kirchgängern geht fast ununterbrochen ein und aus. Es war deshalb Gouaches Absicht, so früh hinzugehen, daß Faustina sicher noch nicht da sein konnte, und er verließ sich dabei auf sein gutes Glück, denn er mußte die zeit­ weilige Kaserne seines Corps besuchen, ehe er nach der Kirche gehen konnte, und mußte später einer Messe mit seinem Bataillon beiwohnen. Bei seiner Meldung im

229 Quartier erfuhr er zu seiner Ueberraschung, daß Monte Rotondo sich noch nicht ergeben hätte, obschon die Nach­ richt von der Einnahme jeden Augenblick erwartet würde. Die Zouaven hatten Befehl erhalten, für den Nothfall den ganzen Tag unter Waffen zu bleiben, und nur durch die freundliche Verwendung eines Officiers erhielt Gouache ein paar Stunden Urlaub. Er nahm eine Droschke und fuhr so schnell wie möglich nach der Kirche. Kaum zwanzig Minuten nachdem er sich an der Thür aufgestellt hatte, stieg Faustina in Begleitung einer Die­ nerin die Treppenstufen empor. Letztere war eine Frau in den mittleren Jahren, mit harten Zügen, schwarz ge­ kleidet, ein Tuch lose über den Kopf geworfen, wie es die Dienstboten zu jener Zeit zu tragen pflegten. Sie hatte augenscheinlich keine Ahnung, denn sie sah gerade vor sich hin und guckte in die Kirche um zu sehen, an welchem Altare wohl zunächst eine Messe gelesen werden würde. Faustina war eine reizende Erscheinung inmitten der Menge gewöhnlicher Leute, welche sich an der Thür drängten und deren grobe Gesichter einen starken Gegensatz zu ihrem ätherischen Antlitz bildeten, während sie vorwärts ging. Gouache fühlte sein Herz heftig klopfen, denn er hatte sie fünf Tage lang nicht gesehen, seit sie an jenem denkwür­ digen Dienstag Abend vor der Thüre ihres elterlichen Hauses Abschied nahmen. Ihre Augen begegneten den seinen mit einem langen liebevollen Blick und die Farbe stieg ihr leicht in die Wangen. Sie wußte es so einzu­ richten, daß sie im Gedränge dicht an ihm vorüberging, und es gelang ihm einen Augenblick ihr Händchen zu er­ sassen, da die Dienerin auf der andern Seite ging. Er wollte sie eben etwas fragen, als sie ihm einige Worte zu­ flüsterte und weiterging.

230 »Folgen Sie mir durchs Gedränge, ich werde es schon machen", sagte sie. Gouache gehorchte und folgte ihr auf dem Fuße. Die Kirche war sehr voll und es hielt schwer, Plätze zu be­ kommen. „Ich werde hier warten", sagte das junge Mädchen zur Dienerin. „Hole uns Stühle und sieh, wo eine Meffe ist. Für mich ist's nicht nöthig, mich durchzu­ drängen, da ich ja doch nach hier vielleicht wieder zurück muß." Das Weib mit den harten Zügen nickte und ging. Bis »sie zurückkehrte, mußten mehrere Minuten vergehen, und Faustina, hinter ihr Gouache, schob sich durch den Strom der Leute, welche zur Thür im andern Seitenschiff hinaus­ gingen. In einem Augenblick befanden sie sich in einem verhältnißmaßig stillen Winkel, durch den Menschenstrom vom Hauptschiff der Kirche getrennt. Faustina sah fest nach der Richtung hin, von der die Dienerin vermuthlich zurückkehren würde, und war bereit, sich im Nothfall sofort unter die Menge zu mischen. Selbst wo sie sich jetzt be­ fanden, knieten und standen so viele umher, daß die An­ wesenheit des Zouaven neben Faustina kein Aufsehen er­ regen konnte. „Es ist sehr unrecht von mir, Sie in der Kirche zu treffen", sagte sie zuerst etwas verlegen, mit der Schüch­ ternheit, welche ein Mädchen stets einem Manne gegenüber fühlt, den sie zuletzt in unerwartet vertrauter Weise ge­ sehen hat. „Ich konnte nicht fortziehen, ohne Sie wiederzusehm", sagte Gouache und sah sie innig an. „Ich wußte, Sie würden meine Zeichen verstehen, wenn auch kein Andrer es konnte. Sie haben mich sehr glücklich gemacht, Faustina.

231 Mir wäre es Todesqual gewesen, auszumarschiren ohne Sie noch ein Mal zu sehen. Sie wissen nicht, was diese Tage ohne Sie für mich gewesen sind! Bedenken Sie, daß wir uns sonst fast an jedem Nachmittag sahen. Hat Ihnen Niemand gesagt, weshalb ich nicht kommen konnte? Ich habe es Jedem erzählt, den ich traf, in der Hoffnung, Sie würden es erfahren. Haben Sie es gehört? Haben Sie es verstanden?" Faustina nickte mit ihrem reizenden Köpfchen und sah ihn rasch an. Dann schlug sie die Augen nieder und klopfte leise mit ihrem Sonnenschirm auf den Boden, wäh­

rend sie rasch die Farbe wechselte. „Lieben Sie mich wirklich?" fragte sie leise. „Ich glaube, meine Geliebte, noch nie hat ein Mann so geliebt wie ich. Ich wünsche, mir wäre Zeit vergönnt, Ihnen zu sagen, was meine Liebe ist, und Sie hätten Geduld mich anzuhören. Was sind Worte, wenn man nicht alles sagen kann, was man will? Was hilft es, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie von ganzem Herzen und ganzer Seele und mit all meinen Gedanken liebe? Sagen das nicht auch Andre und vergessen es nachher? Ich wünsche, ich könnte Worte finden, nm es Ihnen so zu sagen, daß Sie mir selbst wider Willen glauben müßten" — „Wider meinen Willen?" unterbrach ihn Faustina mit sonnigem Lächeln, während ihre braunen Augen einen Moment liebevoll auf ihm ruhten. „Das dürfen Sie nicht sagen", setzte sie einfach hinzu, „denn ich liebe Sie auch." Nur die Heiligkeit des Ortes hielt Anastasius davon zurück, sie auf der Stelle in die Arme zu schließen. Es war etwas so Entzückendes in ihrer Einfalt und ihrem

232 Ernst, daß er einen Augenblick sprachlos vor ihr stand. Es war etwas, daß seine Seele mehr berauschte als seine Sinne, denn es war ihm etwas ganz Neues und sprach zu seinem rechtschaffenen und unschuldigen Gemüth so wie es einen minder reinen Mann nicht berührt haben könnte. „Ach, Faustina", sagte er endlich, „Gott hat Sie geschaffen, als er die Veilchen schuf, an einem Frühlings­ morgen im Paradiese." Faustina crröthete wieder, ganz leise, wie das Meer im Morgenroth. „Müssen Sic fort?" fragte sie. „Sie wollen doch nicht, daß ich in einem solchen Augenblicke desertire?" „Wäre das wirklich Desertircn? Wäre das ehrlos?" „Es wäre feig. Ich würde nie mehr wagen, Ihnen ins Gesicht zu sehen." „Ich sehe ein, es würde wohl nicht recht sein", sagte sie mit einem leisen bittern Seufzer. „Ich werde bald wicdcrkommen, Geliebte. Die Zeit wird kur; sein" — „Ach so lang — so lang! Wie können Sie sagen, daß sie kurz sein wird? Wenn Sie nicht bald zurückkommen, werden Sie mich todt finden. Ich kann es nicht mehr viele Tage ertragen." — „Ich werde an Sie schreiben?" „Wie können Sie schreiben? Ihre Briefe würden ge­ sehen werden. Ach nein! Es ist unmöglich." „Ich werde an Ihre Freundin, die Fürstin Sant' Ilario schreiben. Sie wird Ihnen die Briefe geben. Auf sie können wir uns verlassen, nicht wahr?" „O wie glücklich werde ich sein! Es wird fast so sein, als ob ich Sie sähe — nein, das doch nicht! Aber soviel

233 besser als gar nichts.

Allein Sie rücken doch nicht sofort aus?" „Es kann heute oder morgen, kurz jeden Augenblick sein. Aber Sie sollen es erfahren. Ach, Faustina, meine Einzige"--------„St! Da kommt meine Dienerin. Rasch hinter den Pfeiler. Ich will ihr entgegen gehen. Lebewohl — Lebe­ wohl — ach nein! nicht Lebewohl — ein andres Wort" — „Gott behüte Dich, meine Geliebte, und lasse es kein Lebewohl auf immer sein!" Mit einer verstohlenen Berührung der Hand, mit einem letzten langen Blick trennten sie sich, Faustina um sich unter die Menge zu mischen, Gouache, um ihr in einiger Ent­ fernung zu folgen, bis er sie an ihrem Stuhle vor einem der Seitenaltäre in der Kirche knieen sah. Dann stellte er sich so auf, daß er sie sehen konnte, und beobachtete sie während der halben Stunde, welche die stille Messe dauerte. Er wußte nicht, wann er sie Wiedersehen würde, und es war allerdings eben so wahrscheinlich, daß sie sich in diesem Leben nicht Wiedersehen würden. Manch tapfrer junger Bursch marschirte in jenen Tagen aus und wurde von der Kugel eines rothbehemdeten Freischärlers getroffen. Gouache freilich glaubte nicht, daß sein Leben ein so jähes Ende nehmen würde, sondern baute Luftschlösser für die Zu­ kunft mit der sorglosen Vertrauensseligkeit, wie sie einem völlig furchtlosen Menschen eigen ist. Aber solche Fälle kommen oft vor, und obschon er glücklicher sein konnte als mancher Andre, konnte auch eben so gut ein Loth Blei seinem Soldatenleben, seinem Malen und seinem Liebes­ werben in der nächsten Woche ein Ende machen. Der bloße Gedanke daran war so schrecklich, daß seine Froh­ natur sich dagegen sträubte; er sah Faustina an, während

234 sie im Gebet kniete, und fragte sich, welch seltsame Schickun­ gen die Vorsehung ihnen Beiden wohl bestimmt haben möge, aber er zweifelte keinen Augenblick, daß sie dereinst die Seine werden würde. Dann wartete er, bis sie in der Menge an ihm vorüberging und ihm noch einen Abschieds­ blick zuwarf. Als er sie dann um die Straßenecke hatte verschwinden sehen, sprang er in seine Droschke und fuhr nach der Kaserne zurück, wo er den ganzen Tag über Dienst that. Als er ausstieg, war er erstaunt, Sant' Ilario sehr blaß und augenscheinlich übler-Laune auf dem Trottoir stehen zu sehen; er hatte seinen Rock bis oben zugeknöpft und die Hände in die Taschen gesteckt. Außer der Schild­ wache war Niemand auf der Straße, und Giovanni schritt rasch auf Gouache zu, während dieser nach kleiner Münze suchte, um den Kutscher zu bezahlen. Anastasius lächelte und bot ihm einen kurzen militärischen Gruß. Sant' Ila­ rio verneigte sich steif und reichte ihm nicht die Hand. „Ich wollte Sie gestern Abend aussuchen", sagte er kalt. „Sie waren aus. Wollen Sie mir fünf Minuten zu einer Unterredung schenken?" „Gern", sagte der andere und sah unwillkürlich nach der Uhr, um zu wissen, ob er noch Zeit hätte. Sant' Ilario ging einige Schritte die Straße hinauf,

ehe er anfing zu sprechen, Gouache dicht neben ihm. Dann blieben Beide stehen. Giovanni drehte sich scharf um und stand seinem Feinde gegenüber. „Es ist überflüssig, sich ans Erklärungen einzulassen, Herr Gouache", sagte er. „Dies ist eine Angelegenheit, für die es nur einen Ausweg giebt. Ich hoffe, Sie werden einen Vorwand ersinnen, der unsre Begegnung vor der Welt erklären kann."

235 Gouache starrte Sant' Ilario in höchstem Erstaunen an. Als sie sich zuletzt gesehen, waren sie als die besten Freunde geschieden. Er begriff nicht ein Wort von dem, was der Andere sagte. „Entschuldigen Sie, Fürst", sagte er endlich. „Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Was mich betrifft, so ist diese Begegnung eine rein zufällige. Ich kam im Dienst hierher." Sant' Ilario war etwas betroffen durch das Erstaunen und die Höflichkeit des Zouaven. Er schien eigentlich noch mehr ärgerlich als erstaunt, denn er runzelte finster die schwarzen Augenbrauen. „Lassen Sie uns nicht Worte verschwenden", sagte er herrisch. „Hätte ich Sie gestern zu Hause gefunden, so könnte die Sache schon abgemacht sein." „Was für eine Sache?" fragte Gouache, dem diese Reden immer unverständlicher wurden. „Sie sind äußerst schwer von Begriff, Herr Gouache", bemerkte Giovanni. „Mit klaren Worten: ich suche eine Gelegenheit, Sie umzubringen. Verstehen Sie mich jetzt?" „Vollkommen", sagte der andere, zog die Brauen in die Höhe und brach dann in ein aufrichtig lustiges Lachen aus. „Sie können so viel Gelegenheiten haben, wie Sie wollen, aber ich gestehe, ich möchte gern den Grund für Ihre freundschaftlichen Absichten gegen mich wissen." Wenn Gouache sich so benommen hätte, wie Giovanni es erwartete, so würde dieser die Bitte wiederholt haben, daß er einen Vorwand suchen möchte, um das Duell vor der Welt zu erklären. Aber es lag eine so außerordentlichte Sicherheit im Benehmen des Zonaven, daß Sant' Ilario darüber empört und plötzlich heftig wurde, ein Un­ glück, das ihm nur selten begegnete.

236 „Herr Gouache", sagte er ärgerlich, „ich nahm mir die Freiheit, gestern Nachmittag in ihre Wohnung zu gehen, und sand diesen Brief mit einer Nadel sestgesteckt auf Ihrem Zimmer. Ich sehe voraus, Sie werden keine fernere Erklärung für nöthig befinden." Gouache starrte die Gegenstände an, die Sant' Ilario ihm vorhielt, und trat steif zurück. Jetzt war es an ihm, über die Beleidigung empört zu sein. „Mein Herr", sagte er, „ich verstehe, daß Sie höchst unpassend gehandelt haben, indem Sie in mein Zimmer gingen und etwas nahmen, was Ihnen nicht gehört. Weiter versiehe ich nichts. Diese Nadel fand ich vor einem Monat auf der Engelsbrücke, und sie lag, glaube ich, gestern auf meinem Tisch. Von dem Briefe weiß ich nichts. — Ja, wenn Sie darauf bestehen, will ich ihn lesen." Es entstand eine Pause, während welcher Gouache die wenigen Zeilen überflog, und Giovanni bleich vor Wuth ihn beobachtete. „Die Nadel gehört meiner Frau, und der Brief ist auf ihrem Papier geschrieben, wenn auch mit verstellter Hand, und an Sie adressirt. Leugnen Sie, daß Beides von ihr kommt und von ihr in Person an Sie gebracht worden?" „Ich leugne cs durchaus und entschieden", antwortete Gouache, „obwohl ich sicherlich von Ihnen Genugthuung dafür fordern werde, daß Sie ohne meine Erlaubniß in meine Wohnung eingedrnngen sind. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich unmöglich einen derartigen Brief von der Fürstin, Ihrer Gemahlin, erholten konnte. Die Sache ist eine Schändlichkeit, und Sie sind durch grobe Täuschung dazu gebracht worden, den guten Namen einer Frau zu

237

beschimpfen, die so unschuldig ist wie ein Engel. Da die Nadel das Eigenthum der Fürstin ist, so, bitte, geben Sie sie ihr mit meiner Empfehlung ab und sagen Sie ihr, ich hätte sie aus der Engelsbrücke gefunden. Ich kann mich sogar des Tages erinnern, denn es war eine Viertelstunde bevor ich von dem Wagen des Fürsten Montevarchi über­ fahren wurde. Es war also am 23. September. Im Ucbrigen thun sie mir den Gefallen, mir zu sagen, wo meine Freunde sie binnen einer Stunde finden können." „Bei mir zu Hause. Aber erlauben Sie mir noch hinzuzusehen, daß ich von allem, was Sie sagen, kein Wort glaube." „Ist es römische Sitte, einen Mann zu beleidigen, der Willens ist, sich mit Ihnen zu schlagen?" sagte Gouache. „Wir sind in Frankreich höflicher. Wir grüßen unsre Gegner vor Beginn des Kampfes." Damit grüßte der Zouave Giovanni höflich, drehte sich auf dem Absatz um und ließ letztem in noch schlechterer Laune zurück, als er ihn gefunden hatte. Gouache war durch diese Begegnung zu sehr überascht, um im Zusammen­ hang über die Ursachen nachzudenken, welche dazu geführt hatten, und nahm das Duell mit Sant' Ilario blind an, weil er es nicht vermeiden konnte, und weil er, — wo­ durch er auch unbewußt Anstoß gegeben haben mochte, — seinerseits von Giovanni in einer Weise beleidigt worden war, die ihm keinen andern Ausweg übrig ließ. Sein Gegner hatte zugestanden, ja vielmehr sich gerühmt, in Gouachcs Zimmer gegangen zu sein und von dort den Brief und die Nadel mitgenommen zn haben. Schon dies allein war eine Beleidigung, welche Genugthuung erfor­ derte, aber damit noch nicht zufrieden, hatte Sant' Ilario ihn direct Lügen gestraft. Die Sachen lagen so verwickelt,

238 daß es schwer zu entscheiden war, wer der beleidigte Theil wäre; da aber der Fürst zweifellos mehr als genügenden Grund gegeben, so hatte der Zouave die Gelegenheit er­ griffen vorzuschlagen, daß seine Freunde von ihm Genug­ thuung fordern sollten. Es war indessen klar, daß das Duell nicht sofort stattfinden konnte, da Gouache bei den Waffen stand und eine besondere Erlaubniß nachsuchen mußte, um zu einer solchen Zeit sein Leben in einem Zweikampf aufs Spiel zu setzen. Es war eben so gewiß, daß seine Vorgesetzten ihm fürs Erste nichts dergleichen gestatten würden, und Gouache für sein Theil wär froh darüber. Er wollte lieber vor dem Feinde fallen als in einem Duell, für welches kein hinreichender Grund vorlag als der, daß es einem Mann, der von einem oder meh­ reren Unbekannten schnöde betrogen worden, einfiel, ihn für etwas zur Rechenschaft zu ziehen, was er nie gethan hatte. Er hatte nicht im mindesten die Absicht, dem Zwei­ kampf auszuweichen, aber er wollte lieber für eine Sache kämpfen, der er sich geweiht hatte, als sich von einem Andern durchbohren lassen, der nur aus Versehen sein Feind geworden war. Giovannis Ruf als Fechter machte einen ungünstigen Ausgang für Gouache wahrscheinlich, und mit der seinem Charakter eignen Unerschrockenheit wünschte dieser, wenigstens die Möglichkeit zu haben, sich auszuzeichnen, bevor er getödtet wurde. Eine halbe Stunde später ließen sich zwei Zouavenoffiziere bei Sant' Ilario melden und wurden von seinen Sekundanten empfangen. Giovanni hatte das Glück ge­ habt, den Grafen Spicca zu Hause zu finden. Dieser schwermüthige Herr war vor etwa drei Jahren sein Sekun­ dant in einem Duell mit Hugo del Ferice gewesen und hatte darauf einen Sekundanten des letzteren in Folge

239 seines ehrlosen Betragens auf dem Kampfplatz getödtet. Er war deswegen bis vor wenig Wochen außer Landes ge­ wesen; erst vor kurzem war die Sache in Ordnung gebracht, und er hatte nach Rom zurückkehren dürfen. Im Club hatte es geheißen, er würde nicht lange in der Stadt sein, ehe wieder etwas los wäre. Er war ein sehr großer hagerer Mann, außerordentlich geneigt, etwas übel zu nehmen und außerordentlich geschickt darin, genau so viel Blut zu for­ dern, wie er als Ausgleich für die Beleidigung nöthig er­ achtete. Nie hatte er einen Gegner zufällig getödtet, aber auch selten verfehlt, einem das Leben zu nehmen, wenn er beschlossen hatte es zu thun. Spicca hatte einen Freund mitgebracht, über den nichts weiter zu sagen nöthig ist. Die Unterredung war kurz und entscheidend. Die beiden Officiere hatten den Auftrag, ein ernstes Duell zu verlangen; und Spicca und der andere Sekun­ dant sollten die Bedingungen wo möglich noch verschärfen. Andrerseits erklärten die Officiere, weil sich Rom im Be­ lagerungszustände befände und Garibaldi beinahe vor den Thoren stände, könnte das Duell nicht eher stattfinden, als bis die Krisis vorüber wäre. Sie übernahmen es für Gouache einzutreten, falls er in einem Gefecht erschaffen werden sollte. Spicca kannte nicht die Veranlassung zum Duell und wunderte sich sehr, daß Giovanni mit einem Zouaven in Streit gerathen war; er machte keinen Versuch einen sofortigen Zweikampf durchzusetzen, sondern bat um Erlaubniß sich zurückziehen und nochmals mit seinem Freunde berathen zu dürfen, eine Unregelmäßigkeit, die natürlich von den Gegnern zugestanden wurde. In fünf Minuten kam er zurück und sagte, die Vorschläge wären angenommen und er erwartete, vierundzwanzig Stunden vorher davon benachrichtigt zu werden, wenn Gouache be-

240 reit sein würde. Die vier Herren setzten das erforderliche Protokoll auf und schieden freundlich von einander, nach­ dem sie in einer kurzen Unterredung verschiedene Vorschläge den Kampfplatz betreffend besprochen hatten. Spicca blieb allein zurück und ging dann gleich zu Giovanni mit einer Abschrift des Protokolls, worauf die Tinte noch naß war. „Hier ist es", sagte er wehmüthig beim Eintreten und hielt ihm das Papier hin. „Diese Aufständischen sind wirklich greulich! Sie bereiten nichts als Unannehmlich­ keiten." „Wahrscheinlich ging es nicht anders", sagte Giovanni finster. „Nein, ich glaube, ich stehe nicht in dem Rufe, bei solchen Dingen Zeit zu verlieren. Du mußt versuchen, Dich so gut Du kannst zu zerstreuen, bis der Tag heran­ kommt. Es ist schade, daß Du unterdessen nicht einen an­ dern Ehrenhandel hast, um die Zeit angenehm hinzubringen. Dn würdest dadurch auch in Uebung bleiben. So aber hast Du die Vorfreude." Giovanni lachte finster. Spicca nahm einen Stoß­ degen von der Wand und spielte damit, er besah die lange dünne Klinge, stemmte dann die Spitze auf den Teppich und bog die Klinge, um zu sehen, ob sie ordentlich zurück­ spränge. Giovanni verfolgte seine Bewegungen mit den Blicken; er sah den geschmeidigen Stahl und dann Spicca's lange Arme, seine sehnigen und eigenthümlichen Griffe an. „Wie machst Du es, daß Du Deinen Mann immer tobtest, wenn Du es willst?" fragte er halb müßig, halb aus Neugierde. „Es ist ganz einfach, wenigstens mit dem Stoßdegen", versetzte Spicca und fuchtelte in der Luft herum. „Wenn

241 Du meinen Degen nehmen willst, verspreche ich Dir, Dich binnen drei Minuten an jeder beliebigen Stelle Deines Körpers zu durchbohren. Du kannst die bestimmte Stelle mit Kreide bezeichnen. Wenn ich sie um ein Haar breit verfehle, will ich Dich auf mich losgehen lassen, ohne zu pariren." „Danke", sagte Giovanni, „es liegt mir nichts daran, heute Vormittag durchbohrt zu werden, aber ich gestehe, ich möchte gern wissen, wie Du es machst. Könntest Du nicht die Stelle berühren ohne zuzustoßen?" „Gewiß, wenn Du Dir aus einer Schramme auf der Schulter oder am Arm nichts machst. Ich will versuchen, kein Blut zu vergießen. Also komme — en garde — warte einen Augenblick! Wo soll ich Dich treffen? Das ist

wichtig!" Giovanni war in verzweifelter Stimmung und wußte kaum, was er that: der Gedanke an eine Fechtübung, die etwas nach wirklichem Kampfe schmeckte, war ihm ver­ lockend. Im Nebenzimmer stand ein Billard, und er holte sofort ein Stück Kreide. „Hier", sagte er und machte einen weißen Punkt außen an seinen Nock auf der rechten Schulter. „Gut", bemerkte Spicca, „nun renn nicht drauf los, sonst könnte ich Dich verletzen." „Soll ich auch stoßen?" fragte Giovanni. „Wenn Du willst — treffen kannst Du mich doch nicht." „Das werden wir sehen!" versetzte Sant' Zlario, ge­ reizt durch Spiccas geringe Meinung von seiner Geschick­

lichkeit. „En garde!“ Sie legten sich aus und fingen an zu fechten.. Gio­ vanni probirte sofort seine gewöhnliche Methode, den Gegl^rawfcrd, eanf 3larie. I. 16

242 ner zu entwaffnen, die ihm fast noch immer gelungen war. Er Haie indessen vergessen, daß Spicca ihn diesen Kunst­ griff mit Erfolg gegen Del Ferice hatte anwenden sehen. Der schwermüthige Fechter hatte Wochen damit zugebracht, den Kunstgriff zu lernen, und hatte ihn vollkommen he» meistert. Zu Giovannis Ueberraschung drehte sich die Hand des Grafen wie von selbst im Gelenk und wich dem Druck aus, während sie kaum von der geraden Linie ab­ ging. Aergerlich über das Mißlingen machte Giovanni rasch eine Finte und führte dann einen Stoß, wobei er in ganzer Länge ausholte. Spicca parkte so leicht und sorg­ los, als wäre der Fürst ein bloßer Anfänger, und ließ dem letzteren Zeit sich zu erholen, ehe er angriff. Volle zwei Sekunden nachdem Sant' Ilario wieder en garde stand, glitt Spicca's Degen über den seinigen mit einer Schnelligkeit fort, die Pariren unmöglich machte, und er fühlte einen kleinen scharfen Stich in der rechten Schulter. Spicca sprang zurück und senkte die Waffe. „Ich denke, das ist die Stelle", sagte er kaltblütig und besah Giovannis Rock. Die Degenspitze hatte den Kreidefleck in der Mitte durchbohrt und eine drei Linien tiefe Wunde ins Fleisch gemacht. „Merke", fuhr er fort, „das war eine einfache Terz, ohne Finte oder sonstige Kunstgriffe." Als Giovanni einsah, wie völlig er solch einem Meister in der Kunst nachstand, brach er in ein herzliches Gelächter über seine eigne Niederlage aus. So lange er noch glaubte, daß sie sich ungefähr gleichstünden, hatte es ihn geärgert übertroffen zu werden, als er aber sah, wie leicht Spicca seinen Zweck erreicht hatte, vergaß er seinen Aerger über die Bewunderung dieser großen Ge­ schicklichkeit.

243 „Wie in aller Welt hast Du das gemacht?" fragte er. „Ich dachte doch, ich könnte eine einfache Terz pariren, wenn ich Dir auch nicht gewachsen bin!" „Das haben viele gedacht, mein Freund. Es sind zwei oder drei Eigenthümlichkeiten bei meinem Verfahren. Die eine ist, daß ich so sehr weit reichen kann, die andre eine gewisse Schneidigkeit beim schnellen Zustoßen, die nur zum Theil natürlich, zum Theil das Ergebniß langer Uebung ist. Mein Kunstgriff besteht in der Art, wie ich die Waffe halte. Sieh her! Ich fasse den Griff nicht mit sämmtlichen Fingern wie Du. Die ganze Kunst des Fech­ tens liegt im Gebrauch des Daumens und Zeigefingers. Ich lege meinen Zeigefinger gerade in der Richtung der Klinge an. Natürlich kann ich das bei einem Korbgriff nicht thun, aber niemals hat Jemand gegen gewöhnliche Stoßdegen etwas einzuwenden gehabt. Es ist gefährlich — ja — ich könnte mir den Finger verletzen, aber dazu bin ich zu flink. Du fragst, was der Vortheil dabei ist? Sehr einfach. Du und ich und alle Menschen sind von Kindheit an daran gewöhnt, mit dem Zeigefinger auf die Dinge, welche wir sehen, hinzuweisen. Die Genauigkeit, mit der wir zeigen, ist weit überraschender, als Du denkst. Wir zeigen mit haarscharfer Genauigkeit auf den betreffen­ den Gegenstand. Ich lasse die Degenspitze nur meinem Zeigefinger folgen. Das Wichtige bei der Sache ist, dann den Griff sehr fest zu fassen und doch das Handgelenk locker zu lassen. Ich schieße auf diese Art mit dem Rovolver und drücke mit dem Mittelfinger ab. Ich fehle fast nie. Du könntest Dich mit dergleichen Uebungen unter­ halten, während Du auf Gouache wartest. Dabei wird Dir die Zeit angenehm vergehen." Spicca, für den Waffenübungen der höchste Genuß 16*

.244 des Lebens waren, konnte sich keine erfreulichere Beschäfti­ gung denken. „Ich will es versuchen", sagte Giovanni und rieb sich die Schulter, denn der Stich brannte. „ES ist sehr interessant. Ich hoffe, der Kerl wird sich nicht von den Garibaldinern umbringen lassen, ehe ich Gelegenheit habe, es mit ihm zu versuchen." „Du bist also fest entschlossen, ihn umzubringen?" Spiccas Stimme war bei der Auseinandersetzung seiner Methode lebhaft geworden, sank aber jetzt wieder zu ihrem gewöhnlichen traurigen Ton herab. Bei dieser Frage zuckte Giovanni nur die Achseln, als ob eine Antwort überflüssig wäre. Er hing den Degen auf seinen Platz an der Wand und fing an zu rauchen. „Du willst nicht noch einen Gang machen?" fragte der Graf, legte ebenfalls die Waffe fort und nahm seinen Hut, um zu gehen. „Nein, danke — heute nicht. Wir werden uns hoffent­ lich bald treffen. Ich bin Dir für Deine guten Dienste sehr verbunden, Spicca. Ich würde Dich bitten, zum Frühstück zu bleiben, aber ich möchte nicht, daß mein Vater etwas von dieser Angelegenheit erführe. Wenn er Dich hier sähe, würde er gleich Verdacht schöpfen." „Za", erwiderte der Andre ruhig. „Das geschieht ge­ wöhnlich. In der Hinsicht bin ich wie der Scharfrichter. Meine Besuche kommen gewöhnlich kurz vor einer Ka­ tastrophe. Was kann ich dafür? Ich bin ein alleinstehen­ der Mensch." „Du, der so viel Freunde hat?" rief Giovanni. „Bah! es ist Zeit zu gehen", sagte Spicca, schüttelte seinem Freunde die Hand und verließ schnell das Zimmer. Nachdem er fort war, stand Giovanni ein Weilchen

245 sinnend da: voll unbestimmter Neugier fragte er sich, was wohl die Geschichte dieses Mannes sein möchte, wie sich das schon viele gefragt hatten. Es schwebte ein verhängnißvoller Hauch des Todes um Spicca; das fühlte Jeder, der ihm nahte. Er wurde als einer der reizbarsten Menschen und einer der berühmtesten Fechter in Europa gefürchtet. In Ehrensachen wurde er stets zu Rathe gezogen; seine genaue Kenntniß der Ehrengesetze, seine strenge Rechtlich­ keit und seine umfaffende Erfahrung machten ihn in solchen Dingen unschätzbar. Allein er hatte unter Männern und Frauen Niemanden, der ihm in vertrauter Freundschaft nahe stand. Er spielte weder, noch machte er den Frauen Anderer den Hof und that auch sonst nichts, was leicht zu Ehrenhändeln führen konnte; und doch gerieth er bei seiner kalten, schwermüthigen Weise immerfort in Streit und duellirte sich und tödtete seine Gegner, so daß es ein Wunder war, daß die Polizei ihn noch in irgend einer europäischen Hauptstadt duldete. Es ging das Gerücht, er habe eine seltsame Vergangenheit und sein Leben wäre ihm in früher Jugend durch ein tragisches Ereigniß ver­ bittert worden; was das aber war und wo es stattgefun­ den, konnte Niemand sagen. Er empfand eine merkwür­ dige Theilnahme für Giovanni und seine Abschiedsworte waren innige in ihrer Art, so daß sein Freund noch lange verwundert über ihn nachdachte. Giovannis Gemüth war jetzt so ruhig, wie es unter den Umständen, welche ihn nöthigten, seine Reise auf un­ bestimmte Zeit hinauszuschieben, nur sein konnte. Er hatte nach seinen vergeblichen Bemühungen, Gouache zu finden, eine schlaflose Nacht zugebracht und war früh aufgestan­ den, um ihn sicher abzufangen. Seinen Vater hatte er seit der Unterredung am vorigen Abend nicht wiedergesehen

246 und gehofft, ihn auch bis zu seiner Abreise nach Saracinesca nicht wiederzusehen. Der alte Mann hatte ihn ver­ standen, und weiter war vor der Hand nichts nöthig. Er vermuthete, sein Vater würde eben so wenig wie er eine Aussprache wünschen. Allein seiner Abreise hatte fich ein unerwartetes Hinderniß in den Weg gestellt, und das är­ gerte ihn über die Maßen. Corona war krank. Er wußte nicht, ob ihr Leiden ernst wäre oder nicht, aber keinenfalls konnte er sie zwingen, vom Bette aufzustehen und mit ihm aufs Land zu gehen, so lange der Arzt erklärte, daß sie nicht sortgebracht werden könnte. Als Spicca weg war, wußte er nicht, was er anfangen sollte. Zu seiner Frau wollte er nicht gehen, denn ein Wiedersehen mit ihr mußte höchst peinlich sein. Er hatte sich darauf gefaßt gemacht, sie ins Gebirge zu führen, und geglaubt, die Fahrt würde in drückendem Schweigen hingehen. So lange Corona kräftig und gesund war, vermochte er es, sie so zu behan­ deln, wie sie es nach seiner Ansicht verdiente; jetzt aber, da sie krank war, fühlte er, daß es ihm ganz unmöglich sein würde, sie zu pflegen, ohne daß es aussähe, als ob sein Herz fich erweiche, selbst wenn es in der That nicht der Fall wäre. Andrerseits ließ es sein wirklich edles Ge­ müth nicht zu, daß er sie hart behandelte, so lange sie lei­ dend war. So lange bis er sich davon überzeugt hatte, daß ein Duell mit Gouache fürs Erste unmöglich war, hatte sein Zorn ihn aufrecht gehalten und ihm die Zeit während der schlaflosen Nacht und der Begebenheiten dieses Vormittags rasch vergehen lassen. Jetzt da er mit seinen Gedanken allein war, verließ ihn die Wuth; die Größe seines Un­ glücks drückte ihn nieder und trieb ihn fast zum Wahn­ sinn. Er ging immer wieder die ganze Kette von Be-

247 weisen durch und so oft er überlegte, was vorgefallen war, wurde er in seiner Ueberzeugung bestärkt, und er gestand, daß er hintergangen wäre, wie noch niemals ein Mann hintergangen worden war. Er dachte an das unbegrenzte Vertrauen, welches er dieser Frau geschenkt, die ihn nun betrogen hatte; er besann sich auf die vielen Beweise ihrer Liebe; er schwelgte in der Erinnerung an sein frühres Glück und quälte sich mit Vorstellungen von dem, was nie wieder sein könnte. Er stellte sich Coronas Antlitz vor, wie er sie zum Altar führte, und fühlte förmlich wieder den Blick ihrer Augen; er gedachte des Tages vor mehr als zwei Jahren, als er sie auf dem höchsten Thurm von Saracinesca gebeten hatte, sein Weib zu werden, und wußte nicht, ob er wünschen sollte, das Andenken an jene erste Umarmung aus seinem Herzen zu tilgen oder bei der süßen Erinnerung an jenen Augenblick zu verweilen und die Wunde von heute durch den Vergleich mit der Seligkeit von damals zu verschärfen. Wenn er an das dachte, was sie gewesen, schien es ihm unmöglich, daß sie gefallen sei; wenn er sah, was aus ihr geworden, konnte er nicht glau­ ben, daß sie je unschuldig gewesen wäre. Ein gemeinerer Mann als Giovanni hätte mehr in seiner persönlichen Eitelkeit gelitten bei dem Gedanken, daß sein Ideal sich um eines bloßen Glücksritters — oder genialen Künstlers willen — ob man nun Gouache so oder so nennen wollte — entwürdigt hätte, und ein solcher Mann hätte ihr leichter vergeben, wenn sie ihn um einen Andern von gleichem Rang mit ihm verlaffen hätte. Aber Giovanni war weit erhaben über den Gedanken, seinen Feind mit sich selbst zu ver­ gleichen. Er war in seinem Heiligsten verwundet, in sei­ nem Herzen, in dem, was die Triebkraft seines Lebens ge­ worden war, seinem Vertrauen zu der geliebten Frau.

248 Diejenigen, welche leicht glauben, sind nicht besonders be­ kümmert, wenn ihr geringes Vertrauen in einem Falle er­ schüttert wird; wer aber nur an wenig und mit der ganzen Kraft des Herzens glaubt, der wird zum Tode getroffen, wenn das, worauf er seinen Glauben gebaut, zerschmettert und gestürzt wird. Giovanni war ein gerechter Mann und ließ sich selten durch den äußern Schein hinreißen, am wenigsten hätte er einer solchen Schwäche nachgeben können, wenn damit der Untergang alles dessen, was ihm im Leben lieb war, zusammenhing. Aber die Beweise waren überwältigend, und keinem Mann war es zu verdenken, wenn er daran glaubte. Kein Glied fehlte in der Kette, und das Leugnen von Corona und Anastasius konnte auf keinen verständi­ gen Mann Eindruck machen. Was konnte eine Frau denn anders thun als alles ableugnen? Was konnte Gouache thun als schwören, die Anklage sei falsch? Hätte nicht jeder andre Mann und jede andre Frau dasselbe gethan? Das ließ sich nicht ablcugnen. Die einzige, welche unbe­ fragt geblieben, war Faustina Montevarchi. Entweder war sie das unschuldige Mädchen, welches sie zu sein schien, oder sie war es nicht. Wenn sie es war, wie konnte Gio­ vanni ihr erklären, daß sie zum Besten gehalten und ein Werkzeug in den Händen von Gouache und Corona ge­ wesen sei? Sie würde cs gar nicht begreifen. Selbst wenn sie zugab, daß sie Gouache liebe, war darum doch nicht erwiesen, daß er sie nicht auch getäuscht hatte, um eine Mitschuldige aus derjenigen zu machen, die be­ ständig um Corona war. Ihre Liebe zu dem Zouaven konnte nicht erklären, was zwischen Anastasius und Gio­ vannis Frau vorgegangen war, was Giovanni mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie konnte nicht das Geflüster, die

249 verstohlenen Zusammenkünfte und die zärtlichen Worte er­ klären, deren Zenge er in seinem eigenen Hause gewesen. Sie konnte nicht den Brief und die Nadel fortschaffen. Aber wenn Faustina nicht unschuldig war, indem fie den Beiden half, so würde sie alles eben so ableugnen wie jene es gethan hatten. Als er das alles überlegte und der grausamen Logik nachging, die ihm die Thatsachen aufgezwungen, senkte sich tiefes Dunkel aus sein Herz, und er wußte, daß sein Glück auf immer dahin war. Von jetzt ab blieb ihm nichts mehr übrig, als seine Frau eifersüchtig zu bewachen und sein Leiden zu tragen, so gut er konnte. Eben die That­ sache, daß er sie noch immer mit einer Leidenschaft liebte, die allem Stand hielt, fügte eine furchtbare Bitterkeit zu dem, was er zu tragen hatte, denn es machte ihn vor sich selbst verächtlich, — er verachtete sich so tief, wie kein An­ drer gewagt haben würde ihn zu verachten.

Zwölftes Kapitel. Da Giovanni einsam in seinem Zimmer saß, wußte er nicht, daß sein Vater einen Besuch von keiner geringern Persönlichkeit als dem Fürsten Montevarchi empfangen hatte. Letzterer fand Saracinesca sehr zerstreut und nicht zur Unterhaltung aufgelegt und blieb folglich nicht lange. Als er fortging, trug er indeffen unter dem Arm ein Bün­ del Papiere und Documente, welche er längst zu sehen ge­ wünscht hatte und von deren Durchsicht er sich einen inter­ essanten Tag versprach. Er war in der eingestandnen Absicht gekommen, sie zu erhalten, und hatte keine Schwierig­ keiten dabei erwartet noch gefunden. Er sprach von der

249 verstohlenen Zusammenkünfte und die zärtlichen Worte er­ klären, deren Zenge er in seinem eigenen Hause gewesen. Sie konnte nicht den Brief und die Nadel fortschaffen. Aber wenn Faustina nicht unschuldig war, indem fie den Beiden half, so würde sie alles eben so ableugnen wie jene es gethan hatten. Als er das alles überlegte und der grausamen Logik nachging, die ihm die Thatsachen aufgezwungen, senkte sich tiefes Dunkel aus sein Herz, und er wußte, daß sein Glück auf immer dahin war. Von jetzt ab blieb ihm nichts mehr übrig, als seine Frau eifersüchtig zu bewachen und sein Leiden zu tragen, so gut er konnte. Eben die That­ sache, daß er sie noch immer mit einer Leidenschaft liebte, die allem Stand hielt, fügte eine furchtbare Bitterkeit zu dem, was er zu tragen hatte, denn es machte ihn vor sich selbst verächtlich, — er verachtete sich so tief, wie kein An­ drer gewagt haben würde ihn zu verachten.

Zwölftes Kapitel. Da Giovanni einsam in seinem Zimmer saß, wußte er nicht, daß sein Vater einen Besuch von keiner geringern Persönlichkeit als dem Fürsten Montevarchi empfangen hatte. Letzterer fand Saracinesca sehr zerstreut und nicht zur Unterhaltung aufgelegt und blieb folglich nicht lange. Als er fortging, trug er indeffen unter dem Arm ein Bün­ del Papiere und Documente, welche er längst zu sehen ge­ wünscht hatte und von deren Durchsicht er sich einen inter­ essanten Tag versprach. Er war in der eingestandnen Absicht gekommen, sie zu erhalten, und hatte keine Schwierig­ keiten dabei erwartet noch gefunden. Er sprach von der

250 bevorstehenden Heirath seiner Tochter mit San Giacinto, nnd nachdem er seine Befriedigung über die Verschwäge­ rung mit den Saracinescas ausgedrückt hatte, bemerke er, sein Schwiegersohn habe ihm von dem alten Document erzählt, und bat um Erlaubniß, es ansehen zu dürfen. Die Bitte war natürlich und Saracinesca war überhaupt nicht mißtrauisch; jetzt aber war er viel zu sehr mit seinen eigenen peinlichen Gedanken beschäftigt, um auf den Um­ stand Gewicht zu legen. Montevarchi schien es, als ob bei seinem Freunde nicht alles in Ordnung wäre; da er aber die Papiere hatte, fragte er nicht weiter, sondern ging bald damit weg und eilte nach Hause, um keine Zeit zu verlieren seine Neugier befriedigen zu können. Zwei Stunden später saß er noch immer in seinem ungemüthlichen Studirzimmer mit den Manuskripten vor sich. Er hatte sich von dem überzeugt, was er wiffen wollte, nämlich daß die Papiere in der That vorhanden und in gesetzlicher Form ausgefertigt waren. Er hatte gehofft, ein unbestimmtes Ucbereinkommen zu finden, in der Hauptsache von den beteiligten Personen selbst aufgesetzt und mit einigen Verbesserungen von dem damaligen Notar der Familie abgeschrieben, denn er hatte bei sich beschloffen, wenn irgend ein Fehler in dem Actenstück zu entdecken wäre, so sollte San Giacinto Fürst Saracinesca werden und in Besitz des ungeheuren Vermögens der Familie kommen. San Giacinto war der Erbe in direkter Linie, und obgleich sein Urgroßvater in der festen Erwartung, keine Kinder zu haben, seinem Erstgeburtsrecht entsagt hatte, so konnte doch das Vorhandensein seiner Nach­ kommen die Bedingungen des Vertrages vielleicht wesent­ lich modificiren. Montevarchi sah niedergeschlagen aus, als er das

251 Hauptdocument bis zu Ende entziffert hatte. Die Ab­ machungen und Bedingungen waren kurz und klar und standen auf einem großen Bogen Pergament, mit den Unterschriften der Betheiligten und der Zeugen, mit dem amtlichen Siegel und der amtlichen Unterschrift, wodurch bewiesen war, daß der Vertrag gesetzlich abgeschloffen wor­ den war. Es wurde darin erklärt, daß Don Leo Saracinesca, der älteste Sohn des verstorbenen Don Giovanni Sara­ cinesca, Fürst von Saracinesca, von Sant' Ilario und von Torleone, Herzog von Barda und Besitzer vieler anderer Titel, Grande von Spanien erster Klaffe und Graf des Heiligen Römischen Reiches, aus freien Stücken, aus eigenem Antrieb und freiem Willen dem Don Orfino Saracinesca, seinem jüngeren Bruder, die Herrschaften Saracinesca und — hier folgte ein vollständiges Verzeichniß der verschie­ den Titel und Güter, — nebst den Titeln, Einkünften, Herrenrechten, Apanagen, Ansprüchen, Vorrechten und herr­ schaftlicher Gewalt, die zu jedem einzelnen gehörten, ihm, dem oben genannten Don Orsino und seinen männlichen Leibeserben in directer Linie für ewige Zeiten zuspreche, abtrete und übertrage. Hier war ein Absatz und das Manuskript begann erst wieder oben auf der andern Seite des Blattes. Die nächste Clausel enthielt die einzige Abmachung, daß Don Leone sich die Güter und den Titel San Giacinto im Königreich Neapel vorbehielte, welche nach seinem Tode, da er keine Kinder hatte, an den oben genannten Don Orsino und deffen Erben für immer heimfallen sollten. Es war ferner vermerkt, daß das Abkommen ein durchaus freundschaftliches wäre und daß Don Leone sich verpflichtete, niemals Schritte zu thun, um wieder in den Besitz der Titel

252 und Güter zu gelangen, welchen er hiermit aus freien Stücken entsagte, weil besagter Vertrag nach der Ansicht beider Parteien zum Nutzen der ganzen Familie Saracinesca wäre. „Er verpflichtete sich, nicht seine Nachkommen", be­ merkte Montevarchi endlich, indem er den Kopf wieder über das Document neigte und die letzte Clausel pruste. „Und er sagt ,da er keine Kinder hat' — im Lateinischen könnten die Worte bedeuten, falls er keine hätte, denn sie stehen im absoluten Ablativ. .Falls er keine Kinder habe' — an Orfino und seine Erben für immer, aber da er einen Sohn hatte, ändert sich die Sache. Ja, aber die Clausel im ersten Theile besagt: Don Orsino und seinen Erben für ewige Zeiten, und sagt nichts darüber, daß oder weil Leo keine Kinder hat. Sie ist absoluter als der Ablativ. Das ist schlimm." Lange Zeit betrachtete er nachdenklich die Schrift. Die übrigen Documente waren nur Uebertragungen der einzelnen Güter; bei jedem war kurz vermerkt, daß das betreffende Gut im Einklang mit den Bedingungen des Hauptvertrags in die Hand des neuen Besitzers überginge. Hier waren keine Schwierigkeiten. Das Erbe der Saracinesca hing einzig an der Existenz dieses einen Perga­ mentblattes und der Abschrift oder Eintragung in den Acten der Regierung. Montevarchi sah das Licht an, welches vor ihm in einem alten zerbeulten Mesfingleuchter stand, und sein altes Herz schlug schneller als gewöhnlich. Das Pergamentblatt verbrennen und dann beschwören, daß er es nie gesehen habe, das war sehr einfach. Saracinesca sollte es schwer werden, die Existenz einer solchen Urkunde zu beweisen. Montevarchi besann sich und lachte dann über seine eigne Thorheit. Erst mußte man heraus-

253 bringen, was auf dem Kanzleramt vorhanden wäre, sonst würde er sich um Nichts zu Grunde richten. Das war zweifellos zunächst der wichtigste Schritt. Er dachte eine Weile über die Sache nach; dann stand er auf. Als er vor dem Tische stand, sah er das Blatt noch ein Mal an. Wie wenn die größere Entfernung es seinen alten Augen klarer machte, bemerkte er, daß unten ein leerer Raum war, der drei Zeilen Schrift wie oben ent­ halten könnte, und daß dann doch noch eine anständiger Rand unten an der Seite bleiben würde. Da die zweite Clausel kürzer war, hatte der Schreiber es gewiß für besser befunden, auf der andern Seite neu zu beginnen. Montevarchi setzte sich wieder und nahm einen großen Bogen Papier und eine Feder vor. Er schrieb rasch die erste Clausel bis zu Ende ab, aber nach den Worten „seinen männlichen Leibeserben in directer Linie für ewige Zeiten" schrieb seine Feder noch weiter fort. Das Document lautete nun folgendermaßen. „. . . seinen Leibeserben in directer Linie, für ewige Zeiten, vorausgesetzt, daß der besagte Don Leo Saracinesca keinen ehelichen Sohn hat, in welchem Falle, nämlich wenn ihm ein rechtmäßiger Sohn geboren würde, dieser gegenwärtige Vertrag null und nichtig und ungültig sein soll." Montevarchi blieb hierbei nicht stehen. Er. schrieb auch noch das Uebrige bis zum letzten Worte ab. Dann legte er das Original fort und las das Geschriebene lang­ sam und bedächtig. Durch diesen Zusatz war es ganz klar, daß San Giacinto als der gesetzlich berechtigte und einzige Fürst von Saracinesca anzusehen sei. „Wie schön machen sich diese Worte am Ende der Seite!" rief der Alte halblaut. Er saß still und ergötzte

254



sich in Gedanken an dem ungeheuren Reichthum, der aus diese Weise in seine Familie kommen würde. „Es soll so lauten, — es muß so lauten'." murmelte er endlich. „Millionen! Millionen! Im Grunde wäre es doch nur gerecht. Der alte Sünder würde seinen Sohu nie enterbt haben, wenn er erwartet hätte einen zu be­ kommen." Seine langen dürren Fingern krümmten sich und kratzten auf dem grünen Tuch des Tisches, als scharrten sie Häuflein Gold zusammen und versteckten sie dann unter seiner hohlen Hand. „Selbst wenn eine Abschrift vorhanden ist", sagte er wieder leise, „so wird die kleine Arbeit darauf eben so hübsch aussehen wie hier — wenn nur die Blätter von derselben Größe sind und derselbe Platz frei ist", setzte er hinzu, und sein Gesicht wurde lang bei dem Gedanken, daß das Duplicat dem Original vielleicht nicht ganz gleich sein könnte. Der Plan war scheinbar sehr einfach, und wenn nur die Handschrift mit Erfolg gefälscht werden konnte, so war kein Grund vorhanden, weshalb er nicht gelingen sollte. Der Mensch, welcher es thun konnte, wenn er wollte, war zur Zeit im Hause, und Montevarchi wußte das. Arnoldo Meschini, der verschrumpfte kleine Secretär und Bibliothekar, der genaue Kenntniß der Gesetze hatte und seine Tage, so wie einen Theil seiner Nächte damit zubrachte, alte Manuscripte zu entziffern, war die geeignete Persönlichkeit für eine solche Arbeit. Er verstand sich auf die feinsten Un­ terschiede bei Handschriften, welche verschiedenen Zeiten an­ gehörten, und die kleinsten Eigenthümlichkeiten altmodischer Schreibkunst waren ihm so geläufig wie das gewöhnliche Alphabet. Aber würde er es thun? Würde er die Ver-

255 antwortlichkeit für eine Fälschung auf sich nehmen, deren Erfolg eine so furchtbare Verantwortung nach sich ziehen, deren Mißlingen so entsetzliche Schande mit sich bringen würde? Montevarchi hatte seine besondern Gründe, um zu glauben, daß Meschini alles thun würde, was man von ihm verlangte, und überdies auch das Geheimniß treulich bewahren würde. Ja, was die Verschwiegenheit anbetraf, so würde er ja, im Fall der Entdeckung, die Strafe zu tragen haben. Montevarchi würde im Nothfall dafür sorgen. Wenn der Betrug entdeckt würde, so könnte er ja leicht behaupten, er habe das Manuscript seinem Secretär gegeben, weil er selbst es nicht recht habe lesen können, und dieser letztere hätte, in der Hoffnung auf Belohnung, aus' freien Stücken den Fürsten und den Gerichtshof, vor dem die Sache zur Verhandlung kommen würde, betrogen. Einerlei war nothwendig. San Giacinto durste die Documente nicht eher zu Gesicht bekommen, als dis sie als Beweisstücke vorgelegt wurden. Erstens war es wichtig, daß er, als der Nächstbetheiligte, in der That ganz un­ schuldig wäre und genau so betrogen würde wie die An­ dern. Nichts macht einen solchen Eindruck auf die Richter wie wirkliche, unverstellte Unschuld. Zweitens, wenn er zu Rathe gezogen würde, ließ sich nicht voraussagen, wie er die Sache ansehen würde. Montevarchi vermuthete in ihm etwas von der angestammten Geradheit der Saracinesca. Er könnte sich weigern, sich an der Täuschung zu betheili­ gen, selbst wenn sie ihm zu Gute kommen sollte: beim Ge­ danken an eine solche Möglichkeit erstarrte dem alten Mann das Blut in den Adern und er beschloß sofort, das Ge­ heimniß keinem andern als Arnoldo Meschini anzuvertrauen, den er ganz in feiner Gewalt hatte. Die Vorgeschichte dieser merkwürdigen Persönlichkeit

256 war ungewiß. Er hatte eine vorzügliche Ausbildung ge­ noffen und konnte ohne Uebertreibung gelehrt genannt werden, denn er besaß eine erstaunliche Kenntniß alter Handschriften und eine große Erfahrung in allem, was mit diesem Zweige der Alterthumswiffenschast zusammen­ hängt. Man glaubte allgemein, daß er zum geistlichen Stande erzogen worden, er selbst aber gab nur zu, daß er Schüler in einem Seminar gewesen war. Darauf hatte er die Rechte studirt und eine Zeit lang als Anwalt gear­ beitet, dann hatte er plötzlich seinen Beruf aufgegeben, um die schlecht besoldete Stelle eines Secretärs und Bibliothe­ kars bei dem Vater des jetzigen Fürsten Montevarchi an­ zunehmen. Wahrscheinlich war seine Vorliebe für mittel­ alterliche Forschungen stärker gewesen als seine Liebe zum Gelde, und während der fünfundzwanzig Jahre, die er im Palast verlebt, hatte man ihn niemals über seine Verhältniffe klagen hören. Er wohnte in einem kleinen Zimmer im obersten Stockwerk und brachte seine Tage, Winter und Sommer, in der Biblothek zu, über Manuscripte gebeugt, aus denen er endlose Auszüge in seiner eigenthümlichen altmodischen Handschrift machte. Das Ergebniß seiner Arbeiten kam nie zum Vorschein, und auf den ersten Blick fiel es schwer, seinen ungeheuern Fleiß und seine augen­ scheinliche Freude an der Arbeit zu verstehen. Jndeffen war das ganze Wesen des Menschen eigenthümlich, und seine Beschäftigung stimmte zweifellos dazu und war viel einträglicher als es den Anschein hatte. Arnoldo MeSchini war ein Fälscher. Er gehörte zu jenen berüchtigten Fabrikanten von Alterthümern, die während des letzten Jahrhunderts eine so große Rolle bei den Unterhandlungen mit ausländischen Sammlern gespielt haben und deren freilich langwierige und mühselige Be-

257 schäftigung gelegentlich ganz bedeutenden Gewinn bringt. Er hatte seinen Beruf nicht in der entschiedenen Absicht aufgegeben, zu diesem Erwerbsmittel Zuflucht zu nehmen, sondern war allmälig in dieses schlimme Treiben hineinge­ rathen. Zunächst hatte er die Advocatur ausgegeben, weil er an einem skandalösen Fall von Erpreffung betheiligt gewesen war, bei dem er im Verdacht stand, zu Gunsten seines Clienten eine Urkunde gefälscht zu haben, obwohl ihm das Verbrechen nicht bewiesen werden konnte. Sein Ruf war aber dahin, und er mußte sich anderweitig sein Brod suchen. Zufällig starb der damalige Bibliothekar der Montevarchi gerade zu der Zeit, und der Fürst suchte nach einem Gelehrten, welcher bereit war, das Amt gegen ein Gehalt ungefähr in der Höhe eines Lakaienlohnes zu über­ nehmen. Meschini meldete sich und erhielt die Stelle. Der alte Fürst war entzückt von ihm und gewillt, in Rücksicht auf seine außerordentliche Befähigung den besagten Makel zu übersehen. Meschini machte sich an ein systematisches Studium der Bibliothek, in der Absicht, den Inhalt der kostbarsten Manuscripte zu veröffentlichen, und zwei bis drei Jahre lang verfolgte er diesen lobenswerthen Zweck mit der vollen Zustimmung seines Brodherrn. Eines Tages fiel ihm eine ausländische Zeitung mit einem Bericht über eine Auction in die Hand, bei der einige alte Manuscripte sehr hohe Preise erzielt hatten. Da kam ihm ein neuer Gedanke, und die Aussicht auf un­ erwarteten Gewinn entfaltete sich vor seiner Einbildungs­ kraft. Einige Monate lang arbeitete er noch eifriger als zuvor, bis er sich endlich dazu entschloß, die Nachahmung einer kostbaren Handschrift aus dem vierzehnten Jahrhun­ dert zu versuchen. Er arbeitete Abends auf seinem Zimmer und ließ Niemanden etwas von seinem Thun und Treiben O'r.nrfer?. si»f M.uic. I. 1i

258 sehen, denn wenn auch der alte Fürst die Bibliothek nur selten durch einen Besuch beehrte, so wollte doch Meschini keine Gefahr laufen und betrieb sein Werk in tiefster Ver­ borgenheit. Unübertrefflich war seine Sorgfalt bei der Vorbereitung und dem Gebrauch seines Materials. Einer seiner wenigen Bekannten war ein halbverhungerter, aber sehr geschickter Chemiker, welcher in der Nachbarschaft von der Brücke Quattro Capi einen armseligen Laden hatte. An diesen armen Mann wendete er sich, um Aufschluß über die bei alten Manuscripten gebrauchte Tinte zu er­ halten. Er that als wünsche er alle möglichen Einzel­ heiten über diesen Gegenstand eines Werkes wegen zu erfahren, welches er über mittelalterliche Kaligraphie schrei­ ben wollte, und sein Freund gab ihm die Beruhigung, daß er leicht entdecken könnte, ob und welche metallische Theile die Tinte enthielte; bestände sie dagegen aus animalischen oder vegetabilischen Stoffen, so würde cs nahezu unmöglich sein, eine zufriedenstellende Analyse zu machen. Nach we­ nigen Tagen war Meschini im Besitz eines Rezeptes, um zu brauen, was er wünschte, und nach zahlreichen Ver­ suchen, durch welche er genaue praktische Kenntniß über den betreffenden Gegenstand erwarb, gelang es ihm eine Tinte herzustellen, welche anscheinend derjenigen vollkommen ähnlich sah, die der Schreiber bei dem von ihm zu copirenden Werke gebraucht hatte. Unterdeffen hatte er sich auch damit beschäftigt, das Pergament zu präpariren, und das ist durchaus keine leichte Sache, wenn es darauf an­ kommt, demselben die Farbe und Haltbarkeit sehr alter Haut zu geben. Er lernte, daß die im Holzrauch enthal­ tenen Holzsäuren leicht zu entdecken wären, und nur durch Mithilfe des Chemikers verfiel er endlich auf die Methode, die Pergamentblätter mittelst eines dünnen Aufgusses von

259 ungegerbtem Leder zu färben, wobei die Analyse ein dem Pergamente möglichst ähnliches Resultat ergeben mußte. Ferner machte er alle möglichrn Versuche mit Gänsefedern, bis er eine Art, sie zu schneiden entdeckt hatte, welche ge­ nau die erforderliche Dicke des Striches hervorbrachte, und zu gleicher Zeit übte er sich beständig im Abschreiben vieler Seiten des Manuskriptes auf gewöhnlichem Papier, um sich mit der Form der Buchstaben vertraut zu machen. Fast zwei Jahre vergingen, ehe er sich im Stande fühlte, seine erste Nachbildung zu unternehmen, aber die darauf verwendete Zeit und Mühe war nicht verloren, und das Resultat übertraf seine eignen Erwartungen. Das Facsimile war so vollkommen, daß als es fertig war, Meschini selbst kaum im Stande gewesen wäre, die Iden­ tität des Originals zu beschwören, wenn er nicht 'beide

Schriftstücke genau hätte mit einander vergleichen können. Die geringsten Fleckchen waren mit gewissenhafter Treue nachgebildet. Die kleinste Radirung war peinlich nachge­ macht. Er untersuchte jedes Blatt, um genau zu prüfen, wie es an den Ecken von den Fingern abgerieben worden, und brachte Tage damit zu, eine Seite tausend Mal um­ zuschlagen, bis die oft wiederholte Berührung seines Dau­ mens genau den erforderlichen Farbenton hervorgebracht hatte. Als die Arbeit fertig war, zauderte er. Ihm schien sie vollkommen, allein er fürchtete sich selbst zu täuschen, weil er sie seit Monaten tagtäglich gesehen hatte. Er brachte seine Abschrift eines Tages zu einem berühmten Sammler und übergab sie ihm zur Prüfung, wobei er zu­ gleich fragte, was wohl die Handschrift werth wäre. Der Spezialist verwendete mehrere Stunden aus die Prüfung der Handschrift, erklärte sie für sehr kostbar und nannte 17*



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eine hohe Summe, wobei er zugab, daß er selbst sie nicht kaufen könne. Arnoldo Meschini nahm sein Werk wieder mit nach Hause und überlegte noch einen Tag, was er thun sollte. Dann stellte er ruhig das Facsimile in die Bibliothek des Fürsten und verkaufte das Original an einen Gelehrten, der für eine große öffentliche Anstalt im Auslande An­ käufe machte. Seine Logik dabei war sehr einfach, denn er sagte sich, daß der Betrug auf den Bücherbrettern des Palastes Montevarchi nicht so leicht entdeckt werden würde, als in den Händen eines berühmten Gelehrten, der natür­ lich alles ihm Angebotene mit Mißtrauen betrachtete. Sammler fragen nicht, wo eine kostbare Sache hcrgenommen ist; sie prüfen nur, ob sie ächt und ihren Preis werth ist. Durch seinen Erfolg ermuthigt, fuhr der Fälscher bei­ nahe zwanzig Jahre hindurch fort, Nachbildungen zu fabriziren und Originale zu verkaufen, und während dieser zwanzig Jahre brachte er fast eben so viele Copien zu Stande und nahm eine nach seinen Begriffen enorme Summe ein, die indessen auch kein Andrer verachtet haben würde. Einige der von ihm verkauften Werke wurden veröffentlicht und von großen Gelehrten erläutert, andre in Bibliotheken von reichen Privatsammlern eifersüchtig gehütet, welche sie wie Schätze mit der eigennützigen Wach­ samkeit der Bibliomanen bewahrten. Unterdessen nahm Meschinis Gelehrsamkeit und Geschicklichkeit immer mehr zu, bis er ein beinahe dämonisches Geschick in der Kunst, alte Handschriften nachzuahmen, und eine Vertrautheit mit dem Fache besaß, welche die Gelehrten in Erstaunen setzte, die mitunter Erlaubniß erhielten, die Bibliothek zu be­ treten und darin zu arbeiten. Auch bei diesen machte

261 Meschini bisweilen Versuche mit seinen Fälschungen und keine derselben wurde je entdeckt. Der Fürst Montevarchi sah in seinem Bibliothekar nur einen armen Schlucker, dessen herrschende Leidenschaft Liebe zu alten Büchern und Handschriften war, und dessen unermüdlicher Fleiß ihn zum Herrn der in diesem Falle erforderlichen geheimen Kunst gemacht hatte. Er wußte, daß solche Dinge, wie er zu thun beabsichtigte, schon vor­ gekommen waren, und nahm an, daß sie just von Leuten wie Arnoldo Meschini gemacht worden wären. Er kannte die Geschichte von der einstigen Schande des Mannes und berechnete schlau, daß einerseits die Furcht, seine Stelle zu verlieren, andrerseits die Hoffnung auf eine hohe Beloh­ nung ihn bewegen würde, die Arbeit zu unternehmen. Allem Anschein nach war er noch eben so arm wie damals, als er vor fünfundzwanzig Jahren in den Dienst des alten Fürsten getreten war. Das Versprechen von ein paar hundert Scudi, dachte Montevarchi, würde bei solch einem Menschen sehr ins Gewicht fallen, der in seiner Jugend beinahe einer Fälschung überführt worden war und an dessen Armuth kein Zweifel sein konnte. Montevarchi ging unverzüglich nach der Bibliothek. Wenn er etwas überlegte, so waren es mehr die Worte» welche er gebrauchen wollte, als die Angemeffenheit, sie überhaupt auszusprechen. Die Bibliothek war ein unge­ heurer alter Saal, auf allen Seiten und bis beinahe zur Decke hinauf mit Bücherschränken von geschnitztem, alters­ gebräuntem Nußbaumholz umgeben, das fast die Farbe von altem Mahagoni angenommen hatte. In dem Saal stand eine Anzahl massiver Tische, auf welche durch die hohen Fenster an beiden Enden des Gemaches ein ange­ nehmes Licht fiel. Meschini schlurfte in alten Lederpan-

262 tüfteln mit einem dicken Band unter dem Arm herum; er trug fadenscheinige schwarze Kleidung und auf dem Kopf ein schäbiges Käppchen. Er war ein Mann von mittlerer Größe, schlecht gebaut, obwohl von bedeutender Körperkraft.

Seine Gesichtsfarbe war häßlich, lehmig gelb, aber seine Züge machten ihn interessant, wenn auch nicht angenehm. Die Stirnknochen über den Augen waren massiv, die grauen Augenbrauen unregelmäßig und buschig, aber die grauen Augen merkwürdig klar und hell, sie verriethen eine verborgene Lebenskraft, welche man nach dem allge­ meinen Eindruck der Persönlichkeit nicht erwartet hatte. Dazu kam eine hohe, im obern und mittlern Theil vor­ springende, nach unten zu schmaler werdende Stirn, so daß sie an den Schläfen geringe Breite, aber höher hin­ auf beträchtliche Ausdehnung hatte; die Augen standen nahe an einander nnd wurden durch den messerscharfen Nasenrücken getrennt; die Nase war schön gebogen, sehr zart im Umriß. Das Kinn war spitz, und der festge­ schlossene Mund zeigte wenig oder gar nichts von den Lippen. Die plumpen abstehenden Ohren bildeten einen häßlichen Gegensatz zu dem feinen, scharf geschnittenen Ge­ sicht. Er ging etwas gebückt, und seine abfallenden Schul­ tern sahen schmaler aus, als sie eigentlich waren. Als der Fürst die Thür hinter sich zumachte und auf ihn zukam, lüftete Meschini sein Käppchen und legte das Buch ans der Hand; im Stillen fragte er sich verwundert, was wohl den Herrn zu dieser Morgenstunde herführte. „Sehen Sie sich", sagte Montevarchi mit mehr als gewöhnlicher Leutseligkeit und ging mit gutem Beispiel voran, indem er sich selbst auf einen der hochlehnigen Stühle setzte, die um die Tische standen. „Setzen Sie sich, Meschini, wir wollen eine kleine Unterredung halten."

263 „Sehr gern, Herr Fürst", erwiderte der Bibliothekar; er gehorchte dem Befehl und setzte sich dem Fürsten gegenüber. „Ich habe heute Morgen an Sie gedacht", fuhr der Letztere fort. „Sie sind schon sehr lange bei uns. Wie lange doch? Achtzehn Jahre? Zwanzig?" „Fünfundzwanzig Jahre, Excellenz. Es ist allerdings eine lange Zeit." „Fünfundzwanzig Jahre! Ja, ja! Wie muß ich doch dabei an meinen seligen Vater denken! Gott segne ihn, er war ein guter Mann. Aber, wie gesagt, Meschini, Sie sind schon viele Jahre bei uns, und wir haben nicht viel für Sie gethan. Nein, nein, protestiren Sie nicht. Ich kenne Ihre Bescheidenheit, aber vor allen Dingen muß man gerecht sein. Mich dünkt, Sie beziehen fünfzehn Scudi (75 Frank) den Monat? Ja; Sie sehen ich habe ein gutes Gedächtniß. Ich bekümmere mich selbst um meinen Haushalt. Aber Sie sind nicht mehr so jung wie ehedem, mein Freund, und Ihre treuen Dienste verdienen eine Belohnung. Wollen wir sagen, künftig dreißig Scudi? Ihr Leben lang, selbst wenn — was der Himmel verhüte — Sie jemals nicht mehr im Stande sein sollten, die Bibliothek zu beaufsichtigen; ja, ja, lebenslang." Meschini verneigte sich in Anerkennung so hoher Großmuth und gab seinem Gesicht einen für die Gelegenheit passenden dankbaren Ausdruck. In Wirklichkeit war ihm sein Gehalt von geringer Bedeutung im Vergleich zu seinen Einnahmen aus dem unrechtmäßigen Handel mit Manuscripten. Aber gleich seinem Herrn war er geizig, und die Aussicht auf dreihundertundsechzig Scudi im Jahr war ihm angenehm. Er verneigte sich und lächelte. „Ich verdiene nicht so viel Freigebigkeit, Signor Prin* cipe", sagte er, „meine ganzen Dienste —"

264 „Keineswegs gering, mein lieber Freund, keineswegs gering", fiel Montevarchi ihm ins Wort. „Ueberdies, wenn Sie Vertrauen zu mir haben, können Sie mir einen großen Dienst erweisen. Aber es ist eine durchaus pri­ vate Angelegenheit. Indessen Sie sind ein verschwiegener Mann und haben nicht viel Bekannte. Sie sind nicht ge­ neigt, müßig über Dinge zu schwatzen, die keinen Andern angehen." „Nein, Excellenz", versetzte Meschini und schmunzelte im Stillen, wenn er an die Täuschungen dachte, welche er seit drei Jahren so erfolgreich im Stillen betrieb. „Nun gut, die Sache bleibt also ganz unter uns und trägt, wie Sie sehen werden, ihren Lohn in sich. Denn obwohl sic vor einem Gerichtshof nicht bestehen würde — die Gerichte, wie Sie missen, Meschini, sind sehr empfind­ lich gegen Kleinigkeiten" — dabei sah er seinen Gefährten scharf an; dieser saß mit niedergeschlagenen Augen da. „Ganz albern empfindlich", stimmte der.Bibliothekar bei. »Ja. Ich darf wohl sagen, daß wenn auch im vor­ liegenden Falle das Urtheil des Gesetzes anders ausfallen möchte, wir eine gute That thun, ein großes Unrecht wieder gut machen, dem Vaterlosen zu seinem Gebnrtsrecht verhelfen, mit einem Worte, den Willen des Himmels er­ füllen würden, wenn wir auch vielleicht menschliche Gesetze weniger beachteten. Der Mensch, mein Freund, wird oft

in seiner Weisheit sehr ungerecht." „Ja sehr! Ich kann den Ansichten Ew. Excellenz nur beipflichten; sie machen einem Mann von Herzen Ehre." „Nein, nein, ich will kein Lob", erwiderte der Fürst in ablehnendem Ton. „Was ich zur Erfüllung dieser guten Absicht brauche, ist Ihr Beistand, Ihre freundschaft­ liche Hülfe. An wen sollte ich mich wenden als an den

265 alten vertranten Freund unsrer Familie? An einen Mann, beffen Sachkenntniß in der betreffenden Angelegenheit nur noch die Treue gegen diejenigen gleichkommt, deren Beamter er so lange gewesen ist?" „Sie sind sehr gütig, Signor Principe. Ich will mein Bestes thun, um Ihnen zu dienen, wie ich Ihnen und Seiner verstorbenen Excellenz, dem Fürsten Ihrem Herrn Vater, bisher gedient habe." „Sehr gut, Meschini. Nun brauche ich nur noch zu wiederholen, daß der Lohn für Zhre Dienste groß sein wird, wie ich hoffe, daß die zukünftige Vergeltung Ihrem Antheil an dieser guten That entsprechen wird. Aber um es kurz zu machen, die beste Art Sie in die Angelegenheit einznweihen, ist Ihnen dieses Document zu zeigen, welches ich zu dem Zwecke mitgebracht habe." Montevarchi holte das wichtige Actenstück hervor und entfaltete es behutsam auf vem Tische. Daun warf er noch einen Blick darauf und reichte es dem Bibliothekar. Letz­ terer heftete seine scharfen Augen auf das Blatt und ent­ zifferte rasch den Znhalt. Dann las er es noch ein Mal durch, legte es endlich auf den Tisch und sah den Fürsten fragend an. „Sie sehen, mein lieber Meschini", sagte Montevarchi in einschmeichelndem To», „dieses Uebereinkommen wurde von Don Leo Saracinesca getroffen, weil er erwartete kinderlos zu bleiben. Hatte er voransschen können, was geschehen sollte — denn er hat rechtmäßige Nachkommen, die am Leben sind, so würde er hier unten auf der ersten Seite eine kleine Klausel hinzugefügt haben, sehen Sie wohl? Diese Clansel würde ganz kurz gewesen sein, etwa so: „Vorausgesetzt, daß der besagte Don Leo Saracinesca keinen ehelichen Sohn habe, in welchem Falle, nämlich

266 wenn ihm ein rechtmäßiger Sohn geboren würde, dieser gegenwärtige Vertrag null und nichtig und gänzlich un­ gültig sein soll." Folgen Sie mir?" „Vollkommen", sagte Meschini mit einem eigenthüm­ lichen Ausdruck in den Augen. Er nahm wieder das Pergament zur Hand, besah es und setzte in Gedanken die vom Fürsten vorgeschlagenen Worte hinzu. „Wenn diese Worte eingeschaltet würden, so wäre es keine Frage, wie das Urtheil vor Gericht lauten würde. Es muß aber ein Duplicat der Urkunde auf der Cancelleria vorhanden sein." „Vielleicht; das herauszubekommen überlasse ich Ihrem Eifer. Fürs Erste bin ich gewiß, Sie werden mir darin beistimmen, daß durch diese Urkunde eine ganz empörende Ungerechtigkeit veranlaßt worden ist; eine Ungerechtigkeit, sage ich, welcher abznhelfen unsre heilige Pflicht ist." „Sie verlangen von mir, wenn ich recht verstehe, diese Klausel in dieser Urkunde und in dem Original einzuschal­ ten", sagte der Bibliothekar, als ob er über den Plan ins Klare kommen wollte. Montevarchi sah zur Seite und kratzte mit seinen langen Nägeln langsam auf dem Tisch herum. „Ich wollte sagen", antwortete er mit leiserer Stimme, „wenn es gesetzlich bewiesen werden könnte, daß es die Absicht des Betheiligten, des Don Leone gewesen wäre" — „Lassen Sie uns deutlich sprechen", fiel Meschini ein. „Wir sind allein. Es lohnt nicht Umschweife zu machen. Der einzige Weg, um zu erreichen, was Sie wünschen, ist die Worte in beiden Urkunden zu fälschen. Die Sache kann gemacht werden, und ich kann sie machen. Ohne den Schatten eines Zweifels wird sie Erfolg haben. Aber ich muß meinen Lohn dafür bekommen. Dabei muß kein Miß-

267 Verständniß sein. Ich halte nicht viel von Ihren Ansichten über Gerechtigkeit, aber für Geld will ich thun, was Sie verlangen." „Wie viel?" fragte Montevarchi mit erstickter Stimme. Ihm sank der Muth, denn er hatte sich in die Gewalt dieses Mannes gegeben, und Meschinis entschiedener Ton bewies, daß dieser es wußte und seinen Vortheil wahrzu­ nehmen gewillt war. „Ich will keine hohen Ansprüche machen, denn ich bin ein armer Mann. Sie sollen mir zwanzigtausend Scudi baar auszahlen und zwar an dem Tage, wo das Urtheil zu Gunsten des Don Giovanni Saracinesca, Marchese di San Giacinto, gesprochen wird. So heißt ja wohl Ihr Freund?" Montevarchi fuhr zusammen, als der Bibliothekar die Summe nannte; er wurde ganz blaß und strich mit seiner knochigen Hand über den Rand des Tisches. „Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet!" rief

er aus. „Sie haben die Wahl", versetzte der Andre, indem er sein gelbes Gesicht dem Fürsten näherte und sehr deutlich sprach. „Sie misten, was das sagen will. Saracinesca, Sant' Ilario und Barda für Ihren Schwiegersohn, dazu noch all das Uebrige, im Ganzen vielleicht mehrere Millio­ nen. Für mich, der Ihnen all das verschafft, lumpige zwanzigtausend. Oder sonst" — — er hielt inne und seine scharfen Augen schienen in Montevarchis Seele zu dringen. Das Gesicht des Letztem verrieth eine plötzliche Angst, was Meschini recht gut verstand. „Oder sonst?" fragte der Fürst. „Sonst? Sie wollen wohl versuchen mich einzuschüchtern, indem Sie mir drohen, anzugeben, was ich gesagt habe?"

268 „Keineswegs", erwiderte der alte Gelehrte plötzlich ganz demüthig. „Wenn Sie von dem Handel nichts wissen wollen, so lassen wir's. Ich bin nur Ihr treuer Diener, Signor Principe. Trauen Sie mir keine Undank­ barkeit zu! Ich sage nur, wenn wir es unternehmen, wird's gelingen. Sie müssen entscheiden. Millionen oder keine Millionen — mir ist es ganz gleich. Ich bin nur ein armer Gelehrter. Aber wenn ich Ihnen oder Ihrem Schwiegersohn dazu verhelfe, was im Grunde dasselbe ist, muß ich haben, was ich fordere. Es ist noch nicht ein Procent, kaum eine Mäklercourtage! Und Sie bekommen so viel! Nicht als ob Eure Excellenz es nicht alles ver­ dienten und alles am besten beurtheilen könnten." „Ein Procent?" murmelte Montevarchi. „Vielleicht kaum ein halb Proccnt. Aber ist es gefahrlos?" fragte er plötzlich, da all seine Furcht sich mit einem Male mit überwältigender Kraft in ihm regte. „Das überlassen Sie mir", antwortete Meschini zu­ versichtlich. „Die Einschaltung wird unvermerkt und ohne daß es Jemand weiß, auf diesem Pergament und auf dem in der Cancelleria gemacht werden. Die Documente wer­ den ohne Weiteres wieder an ihre Stelle gelegt werden, und ein bis zwei Monate später kann der Marchese die San Giacinto die nöthigen Schritte zur Wiedererlangung seines Geburtsrechtes thun. Ich möchte Ihnen nur rathen, ihm nichts von der Sache zu sagen. Es ist nothwendig, daß er ganz unschuldig ist, damit der Gerichtshof keinen Verdacht schöpft. Wir beide, Herr Fürst, können zu Hause bleiben, während der Prozeß geführt wird. Wir werden nicht ein Mal den Anwalt des Herrn Marchese sehen, denn was haben wir dabei zu thun? Aber der Herr Marchese selbst muß wirklich ganz schuldlos sein,

269 sonst könnte er sich eine Blöße geben. Wenn alles fertig ist, muß er auf die Cancelleria gehen und dort selbst die Urkunden prüfen. Er wird keinen Argwohn haben und angenehm überrascht sein." „Und wie lange wird Ihnen die--------- die Arbeit dauern?" fragte Montevarchi stockend. „Wir wollen sehen", Meschini begann leise einen Ueberschlag zu machen. „Tinte, zwei Tage — Pergament zubereiten, eine Woche — zwei Mal abschreiben, zwei Tage — altes Aussehen geben, trocknen laffen, reiben, drei Tage wenigstens. Zwei, neun, elf, vierzehn. — Vierzehn Tage", sagte er laut, „in kürzerer Zeit kann ich es nicht machen. Wenn die Abschrift auf der Kanzlei von einer andern Hand ist, wird es länger dauern." „Aber wie können Sie auf der Kanzlei arbeiten?" fragte der Fürst, als ob sich ihm eine neue Schwierigkeit entgegenstellte. „Fürchten Sie nichts, Excellenz. Ich werde es so einrichten, daß Niemand etwas merkt. Zwei Mal hingehen wird genügen. Soll ich gleich anfangen? Sind wir einig?" Montevarchi schwieg eine Weile und seine Hände zuckten unruhig. „Fangen Sie gleich an", sagte er endlich, als ob er sich zu einem Entschlüsse zwänge. Er stand bei diesen Worten auf um zu gehen. „Zwanzigtausend Scudi an dem Tage, wo der Spruch zu Gunsten des Herr Marchese gefällt wird. Ist es so?" „Ja, ja. So ist es. Ich überlasse Ihnen alles." „Ich werde Excellenz redlich bedienen. Fürchten Sie nichts." „Ja, thun Sie das, Meschini. Seien Sie so treu,

270 wie Sie immer gewesen sind. Bedenken Sie, ich bin nicht habsüchtig. Um einer großen Sache willen lasse ich mich zu einer scheinbaren Unredlichkeit herab. Kann man noch mehr thun? Kann man weiter gehen, als seine Selbst­ achtung verlieren, indem man scheinbar die Gesetze der Ehre übertritt, um einen guten Zweck zu erreichen, um dem Verwaisten zu seinem Geburtsrecht und der Wittwe zu ihrem Erbtheil wieder zu verhelfen, oder in diesem Falle, dem Wittwer? Nein, mein guter Freund. Die Mittel sind durch unsern gerechten Zweck mehr als gehei­ ligt. Glauben Sie mir, mein guter Meschini, — ja, Sie sind gut, im besten Sinne des Wortes, — glauben Sie mir, die Gerechtigkeit dieser Welt ist nicht immer die Ge­ rechtigkeit des Himmels. Die Rathschlüsse der Vorsehung sind unergründlich, geheimnißvoll." „Und müssen es in diesem Falle auch so bleiben", be­ merkte der Bibliothekar mit boshaftem Lächeln. „Ja, leider werden wir in diesem Falle nicht das Lob der Welt ernten, welches eine so gute That zweifellos ver­ diente. Aber wir müßen bei solcher Prüfung Geduld haben. Leben Sie wohl, Meschini, leben Sie wohl, mein Freund. Ich muß mich um die Angelegenheiten des Hauses bekümmern. Jeder muß auf dieser Welt seine Pflicht thun, wie Sie wissen." Der Gelehrte verbeugte sich und geleitete den Fürsten an die Thür; dann kehrte er zu dem Pergament zurück und studirte über eine Stunde aufmerksam daran. Vor ihm aufgeschlagen lag ein großer Folioband, in welchen er das kostbare Document hineinstecken konnte, falls er bei seiner Beschäftigung gestört würde.

271 Dreizehntes Kapitel. Sant' Ilario konnte es nicht fassen, daß im Lauf der Ereignisse ein Stillstand gerade in dem Augenblicke ein­ trat, als seine Leidenschaft sich bis zur Wuth gesteigert hatte. Er konnte fürs Erste sich nicht mit Gouache duelliren, und Corona war so krank, daß er sie nicht sehen konnte. Hätte er gewünscht, zu ihr zu gehen, so würde der alte Hausarzt es ihm wahrscheinlich verboten haben; eigentlich aber war er froh, der Aufregung eines Wiedersehens aus­ zuweichen, das doch zu nichts führen konnte. Seine erste Eingebung war gewesen, sie von Rom zu entfernen und sie zu zwingen, mit ihm allein im Gebirge zu leben. Er fühlte, daß ihm kein andrer Ausweg offen stände, denn er wußte, daß er trotz allem, was vorgegangen, nicht ohne sie leben konnte, und dennoch hätte er es nicht ertragen können, sie wieder in der Gesellschaft aus- und eingehen zu sehen, wo sie unvermeidlich öfters dem Manne begegnen mußte, dem sie ihre Liebe geschenkt hatte. Eben so wenig konnte er sie in Rom behalten und zu gleicher Zeit so isoliren, wie er es wollte. Wenn die Welt schwatzen mußte, wollte er wenigstens außer Hörweite sein. Der Gedanke einer plötzlichen Reise mit der düstern Burg Saracinesca als Ziel gefiel ihm in seinem gegenwärtigen Gemüthszu­ stande. Das alte Schloß war im Winter zehn Mal düsterer und unheimlicher als im Sommer, und in seinem Ingrimm malte er es sich aus, wie er mit seiner Fran allein sein würde in den stillen Hallen und sie das Unge­ heuerliche ihrer Lage fühlen laffen, während Eifersucht sie als Gefangene auf Gnade oder Ungnade bewachte. Aber ihre Krankheit hatte seinem Plan für ihre Sicher­ heit Einhalt gethan, während der Aufstand seine Rache an

272 Gouache fürs Erste vereitelt hatte. Er konnte keine Be­ schäftigung finden, die ihn von den quälenden Gedanken abgezogen hätte, und nichts, um seinem ruhelosen Gemüth Lust zu machen, das sich nach einer Thätigkeit sehnte, nach irgend einer äußern Kundgebung seines tiefen Leidens. Er und sein Vater kamen bei den Mahlzeiten schweigend zu­ sammen, und obwohl Giovanni empfand, daß der alte Herr ihm seine volle Theilnahme zuwendete, konnte er sich doch nicht dazu bringen, von dem zu sprechen, was ihm am meisten am Herzen lag. Er dachte daran, daß er selbst seine Heirath erstrebt hatte, und sein Stolz hielt ihn von jeder Erwähnung der Katastrophe zurück, welche sein Glück zerstört hatte. Der alte Saracinesca litt auf seine Weise fast eben so sehr wie sein Sohn, und es war ein Glück, daß er in dieser Zeit Corona nicht sehen konnte, denn schwerlich hätte er sich beherrscht, wenn er mit ihr allein hätte sprechen können. Wenn der kleine Orsino zu ihnen gebracht wurde, sahen die beiden Männer einander an, und während der jüngere sich auf die Lippen biß und alle äußern Zeichen seiner Seelcnqual unterdrückte, traten dem alten Fürsten mehr als ein Mal die Thränen in die Augen, so daß er sich abwandte und das Zimmer verließ. Dann nahm Giovanni das Kind ans den Schooß und sah es ernsten Blickes an, bis das kleine Ding anfing sich zu ängstigen und die Arme nach der Amme ausstreckte und schrie, weil es fort wollte. Dann wurde Sant' Ilarios Stimmung noch bittrer, denn er war thöricht genug, sich einznbilden, das Kind hätte eine angeborne Abneigung gegen ihn und würde seinen Vater hassen, wenn es größer würde. Das waren elende, unvergeßliche Tage, und jeder Morgen und jeder Abend brachte schlimmere Kunde über Coronas Zustand, bis es sogar Giovanni klar wurde, daß

273 sie gefährlich krank wäre. Selten hörte man noch den Ton von Stimmen in dem Palast Saracinesca, die Dienstboten verrichteten schweigend ihre Arbeit, bedrückt durch das Gefühl drohenden Unheils, und sprachen kaum mit einander. San Giacinto kam täglich um sich zu erkundigen und brachte immer einige Zeit bei den beiden unglücklichen Männern zu, ohne recht zu verstehen, was vorging. Er war ein schlauer Mann, besaß aber nicht die Feinheit des Gefühls, mittelst welcher wahre Theilnahme manchmal die Wahrheit intuitiv erräth. Ueberdies war er sich gänzlich der wichtigen Rolle unbewußt, welche er bei dem Unglück, das über das Haus Saracinesca gekommen, gespielt hatte. Er allein wußte, daß er das Briefchen geschrieben, welches so viel Unheil angerichtet hatte, und es fiel ihm nicht ein, diesen Streich einem seiner Bekannten anzuvertrauen. Er hatte natürlich nicht herausbekommen können, ob der er­ wünschte Zweck erreicht worden, denn er wußte nicht, in welcher Kirche das Zusammentreffen zwischen Faustina und Gouache stattfinden sollte, und er war zu schlau, um ihr wie ein Spion zu folgen, nachdem er einen so kühnen Streich auf ihre Liebe zu dem jungen Krieger geführt hatte. Sein Verstand war scharf, aber seine Erfahrung beschränkt auf untergeordnete Kreise, und er dachte natür­ lich, sie würde dieselben Schlüsse ziehen wie er, wenn sie ihn zufällig bemerkte, während sie auf ihren Geliebten wartete. Sie wußte, daß er ihre Schwester heirathen wollte und folglich Beziehungen mißbilligen würde, die für sie nur zu einer untergeordneten Verbindung führen wür­ den; deshalb hatte er es klüglich unterlassen, ihr an jenem Sonntag Morgen zu folgen, als sie mit Anastasius zu­ sammentraf. rawford, L.int' Ilario. I.

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274 Dessenungeachtet bemerkte er, daß im Hause seines Vetters etwas vorgefallen war, was er nicht begreifen konnte; denn Corona's Krankheit allein genügte nicht zur Erklärung für das Benehmen der beiden Saracinesca. In Italien ist es ein allgemeiner Grundsatz, daß vom Un­ glück Heimgesnchte unterhalten werden müssen, und San Giacinto bot all seine Talente in dieser Richtung auf und that was er konnte, um Giovanni die Zeit zu vertreiben. Er befliß sich, alle Nachrichten über den kleinen Krieg ein­ zusammeln, um sie seinen Vettern ganz ausführlich wieder­ zuerzählen. Er bewog Giovanni sogar dazu, manchmal über Mittag mit ihm auszugehen, und Sant' Ilario schien ein gewisses Interesse an den vor den Thoren errichteten Barrikaden nnd an den Anordnungen zur Erhaltung der Ruhe innerhalb der Stadt zu nehmen. Rom bot in jenen Tagen ein merkwürdiges Bild. Alle, die nicht Römer waren, ließen ihre Nationalflagge beständig aus dem Fenster hängen, als eine Art von Schutzwehr für den Fall eines Pöbelaufstandcs oder für den Fall, daß die Garibaldiner sich plötzlich der Hauptstadt bemächtigen sollten. Patrouillen durchzogen die Straßen und berittene Gen­ darmen hielten an den Ecken der Hauptplätze und hie und da in den Hauptstraßen. So seltsam es klingen mag: die zahlreichen Fahnen und Uniformen gaben der Stadt ein festliches Ansehen, welches zu dem wahren Stand der Dinge in schroffem Widersprüche stand und die angstvollen Gesichter der Einwohner Lügen strafte. Der Anblick all dieser Dinge intereffirte San Giacinto, dessen Lebhaftig­ keit ihn für alles, was um ihn her vorging, sehr empfäng­ lich machte, und selbst Giovanni dachte weniger an seinen großen Schmerz, wenn er sich von seinem Vetter aus dem -Hause locken ließ.

275 Als es endlich bekannt wurde, daß die französischen Truppen von Civita Vecchia aufgebrochcn waren, schien die Stadt freier aufzuathmen. General Kanzler, der Ober­ befehlshaber der päpstlichen Truppen, hatte alles mensch­ lich Mögliche gethan, um sein kleines Heer zu concentriren, und die Ankunft eines, wenn auch nur kleinen französi­ schen Truppenkörpers machte es sicher, daß man Garibaldi mit Aussicht auf Erfolg entgegen gehen konnte. Unter allen, welche sich auf ein entscheidendes Treffen freuten, war keiner, der es sehnlicher herbeiwünschte als Gouache. So lange der Belagerungszustand dauerte und der Dienst ihn Tag für Tag in einförmiger, beinahe mechani­ scher Weise in Anspruch nahm, konnte er keinen Schritt in der Richtung thun, nach welcher all seine Hoffnungen hinstrebten, und so lebte er in einem Zustande beständiger Spannung. Es war ihm ein geringer Trost, daß er Zeit hatte, über die Schwierigkeiten seiner Lage nachzudenken und zu überlegen, in was für Worten er um die Hand von Montevarchi's Tochter anhalten sollte. Er war fest entschloßen, diesen kühnen Schritt zu thun, und obwohl er sich die vielen Einwendungen klar machte, welche der alte Fürst gegen die Verbindung erheben würde, hatte er doch nicht den geringsten Zweifel daran, daß er sie alle über­ winden würde. Ein Fehlschlagen seiner Wünsche konnte er sich nicht denken, und so nährte und hegte er die eigentlich schwache Hoffnung, bis sie ihm zur Gewiß­ heit wurde. Der unerwartete Ehrenhandel, welcher ihm von Sant' Ilario aufgezwungen worden war, störte ihn wenig, denn er war zu hoffnungsvoller Natur, um an eine ernstliche Katastrophe zu denken, und mehr als. ein Mal lachte er bei dem Gedanken, daß Giovanni wirklich eifer­ süchtig auf ihn wäre. Das Gefühl der Verehrung und 18*

276 achtungsvoller Bewunderung, welches er schon lange für Corona hegte, war von Liebe so weit entfernt, daß Giovanni's Zorn ihm lächerlich vorkam. Er würde eher eine Herausforderung von Faustina's Brüdern als von Corona's Gatten erwartet haben: weil aber Sant' Ilario Streit an­ fangen wollte, war nichts dabei zu machen, und er mußte ihm so bald als möglich Genugthuung geben. Daß Gio­ vanni ihn beleidigt hatte, indem er in seine Wohnung eindrang und gewisse Gegenstände mitnahm, die eigentlich ihm, dem Künstler, gehörten, war von geringerer Bedeu­ tung, da es klar war, daß Giovanni von Anfang an in einem beispiellosen Mißverständniß befangen gewesen und demgemäß gehandelt hatte. Nur einerlei war Gouache unerklärlich, und das war der Brief. Derselbe schien sich auf seine Zusammenkunft mit Faustina zu beziehen: allein als er sie gesehen, hatte sie nichts davon erwähnt. Gouache traute es Giovanni nicht zu, daß er selbst zu irgend einem besondern Zweck das Briefchen verfaßt hätte, sondern glaubte, daß er es wirklich so gefunden hatte, wie er be­ hauptete. Je mehr aber der Künstler sich abmühte, das Vorhandensein des Briefes zu erklären, desto weiter kam er von einer ihn zufriedenstellenden Lösung der Frage ab. Er befragte die Wirthin, aber sie wollte nichts sagen: Giovanni's Geld verschloß ihr die Lippen. Die Woche verging für alle an dieser Geschichte betheiligten Personen unerquicklich genug. Endlich aber kam der Sonnabend und mit ihm eine Reihe von Begeben­ heiten, welche die obwaltenden Verhältnisse veränderten. Gouache war aus Wache in der Kaserne, als der Befehl eintraf, daß sämmtliche in Rom verfügbaren Truppen bald nach Mitternacht ausrückcn sollten. Sein Gesicht hellte sich auf, als er die Nachricht hörte, obschon er sich sagte, daß

277 er binnen wenigen Stunden alles verlassen mußte, woran sein Herz hing, um dem Tode in einer ihm neuen und den meisten höchst peinlichen Weise entgegenzutreten. Zwischen zwei und drei Uhr am Sonntag Morgen stand Gouache inmitten eines Corps von fünfzehnhundert Zouaven in fast völliger Dunkelheit im kalten November­ regen. Ihm klapperten die Zähne und seine nassen Hände schienen an den blanken Beschlägen des Gewehrs festzu­ frieren; dabei hatte er nicht den leisesten Zweifel, daß alle feine Kameraden dieselben unangenehmen Empfindungen verspürten. Von Zeit zu Zeit ertönte die klare Stimme eines Befehle ertheilenden Offiziers, und dann schlofien sich die Reihen enger zusammen oder machten eine Schwenkung, um den andern Truppen mehr Platz zu lassen, welche nach der Porta Pia marschirten. Ueber eine Stunde, so lange die Vorbereitungen zum Ausmarsch dauerten, wurde wenig gesprochen, obschon die Soldaten von Zeit zu Zeit einige Worte im Flüsterton wechselten. Das klatschende Auftreten der Füße auf dem nassen Boden wurde rasch herannahend von Zeit zu Zeit hörbar, darauf folgte Todtenstille, wenn die Offiziere Halt geboten. Dann folgte ein raschelndes Geräusch, wenn die Soldaten an der zunächst bezeichneten Stelle wieder in Reih und Glied traten. Hier und da sprühte und zischte eine große Fackel im feinen Regen und ließ im Gegensatz zu ihrem grellen Schein die Dunkelheit nur noch dichter erscheinen, beleuchtete aber alte Mauerrestc und spiegelte sich in kleinen Wasserlachen auf den offnen Stellen zwischen den Reihen der Soldaten. Es war eine trübselige Nacht; nur ein Glück, daß die Leute, welche aus­ rücken sollten, guten Muthes waren und durch das Ein­ treffen der Franzosen ermuthigt wurden, welche die Runde um die Stadt machten und aus der Landstraße wieder mit

278 ihnen zusammentreffen sollten, um den entscheidenden Stoß

gegen Garibaldi und seine Freischärler zu führen. Die Zouaven waren fünfzehnhundert an der Zahl, dazu kamen etwa eben so viel einheimische Truppen, also im Ganzen dreitausend Mann. Die Franzosen waren zweitausend Mann. Die Garibaldiner hatten allen Be­ richten nach nicht weniger als zwölftausend Mann und waren bei Monte Rotondo sicher verschanzt, zudem durch die starken Vorposten bei Mentana geschützt, welches beinahe auf dem direkten Wege von Rom nach Monte Rotondo liegt. Wenn man die Stellung der beiden Heere in Be­ tracht zieht, so war Garibaldi sehr im Vortheil und wäre sein Feldherrntalent nur einigermaßen seiner unbezweifel­ baren persönlichen Tapferkeit gleichgekommen, so hätte er die päpstlichen Truppen bis an die Thore von Rom zu­ rücktreiben müssen. Allein er litt unter zwiefachem Nach­ theil, wodurch das numerische Uebergewicht seiner Truppen aufgehoben wurde. Er besaß wenig oder gar keine Kennt­ niß von der Kriegswissenschaft, und seine Leute waren weder zuversichtlich noch entschlossen. Sein Plan war ge­ wesen, in Rom einen Aufstand zu erregen und zu gleicher Zeit die päpstliche Armee herauszulocken, so daß sie sich zwischen zwei Feuern befände. Seine Leute hatten erwartet, daß das Land sich erheben und sie als Befreier begrüßen werde; statt dessen wurden sie wie Räuber empfangen und stießen überall auf den verzweifelten Widerstand der Bau­ ern, — eine Wendung der Dinge, auf welche sie nicht im Geringsten vorbereitet waren. Das nur von dreihundert und fünfzig Soldaten vertheidigte Monte Rotondo wider­ stand Garibaldis Angriffsmacht von sechstausend Mann sicbenundzwanzig Stunden lang, ein Widerstand, der ganz unmöglich gewesen wäre, wenn die Bauern sich nicht selbst

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an der Vertheidigung betheiligt hätten. Der Aufstand in Rom schlug gänzlich fehl: die Masse des Volkes sah mit Befriedigung zu, wie die Truppen die Aufrührer nieder­ schossen, und verlangte wohl gar Waffen, um sich bei der Unterdrückung des Aufstandes betheiligen zu können. Das Rom von 1867 war nicht das Rom von 1890, wie man vielleicht später begreifen wird. Mit Ausnahme einiger Schwarmgeister enthielt die Stadt kein revolutio­ näres Element und nur wenige, welche Sinn für italie­ nische Einheitsbestrebungen hatten. Ohne hier indessen weiter aus politische Betrachtungen einzugehen, wollen wir Anastasius Gouache und seinen fünfzehnhundert Kameraden folgen, welche beim Morgen­ grauen des 3. November zur Porta Pia hinausmarschirten. Die daraus folgende Schlacht verdient Beachtung, denn sie wurde der Wendepunkt in einer aufgeregten Zeit und hatte auch wichtige Folgen für den jungen französischen Künstler, die wiederum in gewissem Grade ans die Schick­ sale der Familie Saracinesca zurückwirkten. Monte Rotondo selbst liegt sechzehn (römische) Meilen von Rom, Mentana aber, wo an jenem Tage die Vorhut der Garibaldiner stand und das der Schauplatz ihrer Nie­ derlage wurde, liegt der Stadt zwei Meilen näher. Wer viel in der Campagna herumgeritten ist, kennt den Weg, welcher sich links etwa fünf Meilen hinter Ponte Nomentano abzweigt. Vielleicht giebt es kaum eine ödere trost­ losere Strecke in der wellenförmigen Einöde, welche die Stadt auf allen Seiten umgiebt. Die Landstraße ist gut bis zur Biegung, dann aber kaum besser als ein Landweg und in regnerischem Wetter ausgeweicht und kaum passirbar. Wenn der Reiter sich Mentana nähert, senkt sich der Weg zwischen niedrigen Hügeln und bewaldeten Anhöhen,

280 die dem Feinde treffliche Stellungen bieten, um eine her­ anrückende Truppe anzugreifen, ja zu vernichten. Allmälig wird das Terrain immer unebener, bis Mentana selbst in Sicht kommt, wie eine furchtbare Schranke auf dem geraden Wege nach Monte Rotondo emporsteigend. Auf allen Seiten sind unregelmäßige Anhöhen, Baum­ gruppen auf kleinen Erdhügeln, feste Steinmauern um zerfallene Bauerhäuser und Viehhöfe; aus jedem konnte man einen starken Vertheidigungsposten machen. Mentana besitzt auch ein altes ziemlich festes Schloß und hat, gleich den meisten alten Städten in der Campagna, Ringmauern, welche im Vergleich zu modernen Befestigungen unbedeu­ tend sein mögen, wohl aber dem Feuer leichter Feldge­ schütze Stunden lang Stand zu halten vermögen. Es war über zwölf Uhr Mittags, als Gouache's Colonne zuerst des Feindes ansichtig wurde und die hochrothen Hemden der Garibaldiner erkannte, welche zwischen den Bäumen hinter den Mauern Hervorschauen und an manchen Stellen in beträchtlicher Anzahl vereinigt zu sehen waren. Die Absicht der befehlshabenden Offiziere, welche mit er­ staunlicher Leichtigkeit ausgeführt wurde, war die Zouaven und einheimischen Truppen dem Feinde entgegen zu wer­ fen, während die französischen Jäger zu Fuß und zu Pferde eine Flankenbewegung machten und Garibaldi von Monte Rotondo abschnitten, wobei sie zugleich Mentana von der andern Seite angriffen. Gouache hatte ein sonderbares Gefühl, als der erste Befehl zum Feuern gegeben wurde. Seine Erfahrung hatte sich bis jetzt auf kleine Scharmützel mit den Ban­ diten in den Samniter Bergen beschränkt, und der Ge­ danke, still zu stehen und ruhig auf Leute zu zielen, die still standen, um auf sich schießen zu lassen, war ihm nicht

281 eben angenehm. Er gestand sich, daß er, obwohl vollkom­ men überzeugt von der Gerechtigkeit der Sache, für welche er sein Gewehr abfeuern sollte, doch nicht den mindesten Haß gegen die Garibaldiner im Einzelnen oder im Allgemeinen verspürte. Mit ihren rothen Hemden und theatralischen Hüten nahmen sie sich in der Landschaft höchst malerisch aus. Sie sahen eigentlich so aus, als kämen sie eben von der Bühne aus einer komischen Oper, und es schien jam­ merschade eine so hübsche Staffage in der trüben grauen Novemberlandschaft zu zerstören. Wie er so dastand, fühlte er sich mehr als Künstler denn als Soldat, und er empfand einen lächerlich lebhaften Wunsch, aus den Reihen heraus­ zutreten und sich auf eine Mauer zu setzen, um das Schau­ spiel besser übersehen zu können. Als er aber so aus eine rothe Gruppe in einer Ent­ fernung von etwa dreihundert Metern hinschaute, wurde die grelle Farbe plötzlich von einer Reihe kleiner Rauch­ wölkchen verdunkelt. Ein knatterndes Getöse folgte, das ihn an das Knallen jener kleinen Mörser erinnerte, welche die italienischen Landleute so gern bei ihren Dorffesten ab­ schießen. Dann hörte er fast gleichzeitig das seltsam zischende Pfeifen von einem Dutzend Kugeln, die ihm über den Kopf flogen. Dieser letzte Ton brachte ihn zum Ver­ ständniß der Situation, denn cs wurde ihm klar, daß jede dieser kleinen Kugeln ihr Lied mit einer Berührung seines Körpers hätte beenden können. Als er das nächste Mal den Befehl: Feuer! hörte, zielte er so gut er konnte und drückte mit der besten Absicht los, einen Feind niederzu­ schießen. Meistentheils zogen sich die Garibaldiner nach jeder Salve zurück und kamen wieder hervor, um unter dem Schutz von Mauern und Bäumen von neuem zu feuern,

282 während die Zouaven langsam aus dem Wege vorrückten und sich nach rechts und links ausbreiteten, wo der Bo­ den es irgend zuließ. Das Feuern dauerte beinahe eine halbe Stunde ununterbrochen fort, aber obgleich die Kugeln der päpstlichen Truppen unter dem Feinde Verheerungen anrichteten, thaten die Kugeln des letzteren nur selten Wirkung. Plötzlich wurde der Befehl gegeben, die Bajonette aufzustecken, und gleich darauf kam der Befehl zum An­ griff. Gouache wurde sich mit einem Male bewußt, daß er in höchster Eile einen Hügel emporstürmte einem Heinen Wäldchen zu, das die Anhöhe krönte. Die hochrothen Hemden des Feindes waren vor ihm in dem dürren Un­ terholz sichtbar, und ehe er wußte, was er that, sah er daß er einem Garibaldiner durchs Bein gestochen habe. Der Mann fiel zu Boden und Gouache stand neben ihm und sah ihn verwundert an. Während er so seinem feindlichen Kameraden anstarrte, zog dieser eine Pistole heraus, um nach ihm zu schießen, aber das Geschoß versagte. „Da das Ding nicht losgchen will", sagte der Mann ganz unverfroren, „sind Sie vielleicht so gut, Ihr Bajonnett aus meinem Bein zu ziehen." Er sprach Italienisch, mit ausländischem Accent, aber mit einem Ton der Stimme und einer Art und Weise, welche den gebildeten Mann erkennen ließ. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck komischer Niedergeschlagenheit, der Gouache beruhigte; er zog den Stahl aus der Wunde und wollte dem Gefangenen aufhelsen. Dieser aber konnte nicht recht stehen. „Die Umstände gebieten eine sitzende Stellung", sagte er, wieder uiedersinkend. „Ich bin vermuthlich ihr Gefan­ gener. Wenn Sie etwas zu thun haben, bitte, lassen Sie

283 sich nicht aufhalten. Ich kann nicht fort, und Sie werden mich wahrscheinlich noch hier finden, wenn Sie zu Mittag zurückkommen. Ich werde mich damit beschäftigen, Sie zu verfluchen, während Sie fort find." „Sie find sehr freundlich", sagte Gouache lachend, „darf ich Ihnen eine Cigarette und etwas Cognac an­ bieten?" Der Fremde blickte erstaunt auf, als er Gouache's Stimme hörte und nahm schweigend die dargebotene Flasche und ein paar Cigaretten an. „Danke", sagte er nach einer Pause. „Ich werde Sie nicht so kräftig verfluchen, als ich zuerst wollte. Sie sind sehr höflich." „Keine Ursache!" erwiderte Gouache. „Ich wünsche Ihnen Guten Morgen und hoffe auf das Vergnügen Ihrer Gesellschaft bei Tische heute Abend." Darauf schulterte der Zouave sein Gewehr und trabte davon, den Hügel hinab. Der ganze Zwischenfall hatte kaum drei Minuten gedauert, und seine Kameraden waren nicht weit fort, sie verfolgten die Garibaldiner in der Rich­ tung eines großen Bauernhauses, welches Schutz und Ver­ theidigungsmittel verhieß. Ein halb Dutzend Todte und Verwundete blieben neben Gouache's Gefangenen auf dem Hügel liegen. Die Vigna Santucci, so hieß der Bauerhof, war ein festes Gebäude, von Mauern und Zäunen umgeben. Eine große Anzahl von Feinden hatte sich auf diesen Punkt zu­ rückgezogen, und es wurde jetzt klar, daß sie einen ver­ zweifelten Widerstand beabsichtigten. Als die Zouaveu herankamen, von Chasette in Person angeführt, eröffneten die Rothen ein heftiges Feuer auf die heranrückenden Reihen. Die Kugeln rasselten von den Mauern und aus

284 den Fenstern rasch hinter einander und thaten auf so ge­ ringe Entfernung tödtliche Wirkung. Die Zouaven schaffen mit ihren Chaffepots drauf los, aber die tiefen Fenster­ nischen und hohen Brustwehren gewährten den Schützen trefflichen Schutz, und es war nicht leicht, auf sie zu zielen. Die prächtige Gestalt des Obersten und sein großer blonder Bart war deutlich zu sehen, während er durch die Reihen ging, die Leute ermuthigte und nach einem Mittel suchte die hohen Mauern zu erklimmen. Obschon um die Sicherheit seiner Truppen besorgt, schien er sich so zu Hause zu fühlen wie im Salon, und achtete auf die pfei­ fenden Kugeln nicht mehr als ob es Confect wäre, das ihm im Carneval zugeworfen würde. Das Schießen wurde immer hitziger und es war klar, daß die Zouaven entsetz­ liche Verluste erleiden mußten, wenn der Platz nicht sofort mit Sturm genommen werden konnte. Die Schwierigkeit war, einen Punkt ausfindig zu machen, von wo aus der Versuch mit Aussicht auf Erfolg gewagt werden konnte. „Es scheint mir", sagte Gouache zu einem großen Mann, der neben ihm stand, „wenn wir in Paris wären und eine Barrikade statt eines italienischen Bauerhauses vor uns hätten, so würden mir schon hinüberkommen." „Das meine ich auch!" versetzte sei» Kamerad lachend. „Wir wollen cs versuchen", sagte der Künstler ruhig. „Wir können eben so gut den Versuch machen als hier still stehen und uns in diesem gräßlichen Schmutz er­ kälten. Drauf los!" setzte er rasch hinzu, „sonst kommen wir zu spät, der Oberst will eben den Befehl zum Sturm geben, — siehst Du wohl?" So war es. Eine laute Stimme ertheilte den Be­ fehl, der von verschiedenen Offizieren wiederholt wurde. Die Leute drängten sich dicht zusammen und stürmten auf

285 bett Bauerhof los; sie stiegen einander auf die Schultern und versuchten den Rand der Mauer und die Fenster des niedrigen ersten Stockwerks zu erreichen. Der Versuch dauerte wenige Minuten; unterdeß unterhielt der Feind ein mörderisches Feuer gegen die Angreifer. Diese wichen endlich zurück, und nur ein Mann hielt sich noch ganz allein oben an der Mauer fest. „Es ist Gouache!" riefen hundert Stimmen zugleich. Er war ein Liebling der Officiere und Soldaten und wurde sofort erkannt. Er befand sich in drohender Lebensgefahr. Auf den Schultern des kräftigen Kameraden stehend, mit dem er noch soeben gesprochen, hatte er einen Sprung gemacht und es war ihm gelungen, die obersten Steine zu ersoffen. Nun suchte er Halt für die Füße in den Spalten des Mauerwerks und zog sich mit katzenartiger Behendigkeit empor, bis er oben auf dem schmalen Rande knieen konnte. Zu diesem Versuche hatte er eine Stelle erwählt, wo er vorher keinen Feind bemerkt hatte: mit Recht schloß er daraus auf irgend eine Ursache für diesen besondern Um­ stand, die er sich vielleicht zu Nutze machen könnte. Wirk­ lich war das der Fall, denn er befand sich unmittelbar über einem kleinen Teich zwischen zwei Erdwällen, die innen längs der Mauer am Wasser hinliefen, und auf diesen standen die Schützen, durch die Mauer gedeckt. Sie hatten während des Ansturms ihre Gewehre abgeschossen und waren eifrig dabei, sie wieder zu laden, als sie Plötzlich den Zouaven oben auf der Mauer bemerkten. Ein paar Leute, die Pistolen hatten, feuerten auf ihn, doch ohne zu treffen; andre warfen aus dem Weinberg her mit Steinen nach ihm. Gouache warf sich platt mit dem Gesicht auf die

286 Mauer und machte sich schnell daran, die obersten Steine herunterznwerfen. Der Mörtel war bröckelig wie getrock­ nete Erde, und in wenig Sekunden hatte er eine Lücke im Mauerwerk gemacht. Untcrdeffen aber hatten die Schützen frisch geladen, einer von ihnen zielte sicher und schoß auf den Zouaven. Die Kugel traf ihn in die flei­ schigen Theile der Schulter und verursachte ihm einen stechenden Schmerz und, was schlimmer war, eine solche Erschütterung, daß er beinahe über den Mauerrand hinab­ rollte. Dennoch klammerte er sich verzweifelt fest und riß die Steine mit einer Kraft los, welche man seiner feinen Gestalt kaum zugetraut hätte. Noch eine Minute — ein halb Dutzend Kugeln pfiffen ihm um den Kopf oder drück­ ten sich an den Steinen platt. Dann stürmten seine Kameraden von neuem heran und concentrirten ihre Kraft dieses Mal auf die Stelle, wo es ihm gelungen war, die Mauer etwas niedriger zu machen. Sein linker Arm war durch die Fleischwunde in der Schulter fast ganz kraftlos, aber mit dem rechten half er dem ersten Anstürmenden herauf. In einem Augenblick stürmten die Zouaven die Mauer hinan und sprangen zu Dutzenden auf der andern Seite in den seichten Teich hinunter. Der Kampf war kurz, aber verzweifelt. In den'Winkeln des Hofes und innerhalb des Hauses in die Enge ge­ trieben, vertheidigten sich die Feinde heldenmüthig; viele wurden getödtet und noch viel mehr verwundet. Aber der Platz wurde genommen, und die meisten entkamen in wil­ der Flucht durch die 'Ausgänge an der Hinterseite des Hofes und eilten nach Mentana. Eine Stunde darauf hielt sich Gouache noch aufrecht, allein er war erschöpft durch die Anstrengung beim Er­ klimmen der Mauer und durch den Blutverlust, und fühlte,

287 daß er sich nicht mehr lange halten, konnte. Um diese Zeit war die Lage bedenklich. Es war beinahe vier Uhr, und die Tage waren kurz. Die Artillerie beschoß das Städtchen, aber die Kanonen waren nur leichte Feldge­ schütze von kleinem Kaliber, und obschon ihre Stellung oft verändert wurde, machten sie doch wenig Eindruck auf die vom Feinde aufgeworfenen Erdwälle. Die Garibaldiner schloffen sich in großen Scharen zusammen, während sie sich von verschiedenen Punkten aus auf Mentana zurückzogen, und obwohl ihre Bewaffnung derjenigen ihrer Gegner nachstand, machte ihre Anzahl sie dennoch furchtbar. Die Zvuaven, Gendarmen und Legionäre rückten indeffen lang­ sam, aber standhaft vor. Es war nun die Frage, ob das Tageslicht ansreichen würde. Gewann der Feind den Vortheil der langen Nacht, während welcher er Verstär­ kungen von Monte Rotondo herbeiziehen und die Breschen in den Verschanzungen ausbeffern konnte, so mußte der Angriff vielleicht noch den ganzen folgenden Tag über fort­ gesetzt werden. Das Schicksal der kleinen Schlacht wurde durch die französischen Jäger entschieden, die unter dem Schutz der Bäume und des unregelmäßigen Bodens allmälig eine Flankenbewegung vollzogen hatten. Gerade als Gouache fühlte, daß er nicht mehr stehen konnte, verkündete lauter Ruf auf der Rechten den Angriff der Verbündeten, und wenig Minuten später war der Sieg errungen. Die Zouaven stürmten vorwärts, ermuthigt durch die Aussicht auf raschen Erfolg; Gouache aber schwankte aus der Reihe her­ aus und brach unter einem Baume zusammen, unfähig weiter zu gehen. Er hatte sich kaum in eine bequemere Lage gebracht, als ihm das Bewußtsein schwand und er in Ohnmacht sank.

288 Mentana wurde nicht eingenommen, ergab sich aber am andern Morgen, und da Monte Rotondo über Nacht geräumt und die meisten Garibaldiner über die Grenze entkommen waren, so war damit der Kampf zu Ende, und der Feldzug von vierundzwanzig Stunden endete mit einem vollständigen Siege für die römischen Truppen. Als Gouache wieder zu sich kam, war sein erstes Ge­ fühl, daß ihm eine brennende Flüssigkeit in den Mund gegossen wurde und die Kehle herunter lief. Er verschluckte den Trunk halb unbewußt und als er einen Moment dar­ auf die Augen aufschlug, sah er zwei Männer neben sich stehen, deren einer eine Laterne in der Hand hielt. Der Schein davon blendete den Verwundeten und ließ ihn die Personen nicht erkennen. „Wo ist er verwundet?" fragte eine Stimme, die ihm merkwürdig bekannt klang. „Noch weiß ich es nicht", sagte der andre und kniete wieder neben ihm nieder und untersuchte ihn aufmerksam. „Nur in der Schulter", stöhnte Gouache. „Aber ich bin sehr schwach. Bitte, lassen Sic mich schlafen." Dar­ auf wurde er wieder ohnmächtig und blieb längere Zeit bewußtlos. Die beiden Männer hoben ihn auf und trugen ihn an einen Platz in der Nähe, wo andere auf ihn warteten. Die Nacht war stockfinster und Niemand sprach ein Wort, während die kleine Schaar über das Schlachtfeld ging und von Zeit zu Zeit stehen blieb, um nicht auf die zahlreichen am Boden liegenden Leichen zu treten. Der Mann, wel­ cher Gouache untersucht hatte, bückte sich und ließ das Licht seiner Laterne den Todten ins Antlitz fallen, in der Erwartung, daß einer oder der andere noch ein Lebens­ zeichen von sich geben könnte. Allein es war sehr spät

289 und die Verwundeten waren schon fortgeschasst. Gouache allein schien unbemerkt geblieben zu sein, wahrscheinlich deshalb, weil er sich noch nach einem geschützten Ort hatte schleppen können, ehe er bewußtlos wurde. Fast eine Stunde gingen die Männer mit ihrer Bürde auf der Landstraße einher, bis sie endlich in der Entfernung die Hellen Laternen eines Wagens durch das Dunkel schimmern sahen. Der verwundete Soldat wurde sorgsam auf die Kissen gelegt, und die beiden Herren, welche ihn gesunden hatten, stiegen ein und schlossen den Schlag. Gouache erwachte in Folge des Schmerzes, den ihm das Stoßen des Wagens verursachte. Die Laterne stand auf einem der leeren Sitze und beleuchtete die Gesichter seiner Gefährten, deren einer hinter ihm saß und ihn mit dem Arm stützte. Anastasius starrte ihm eine Weile schweigend und sichtlich erstaunt ins Gesicht. Er glaubte zu träumen und sprach mehr um sich zu überzeugen, daß er wach wäre, als aus einem andern Grunde. „Sie fürchteten wohl, ich könnte Ihnen doch noch entgehen?" sagte er. „Sie brauchen nichts zu befürchten. Ich werde im Stande sein, meiner Verpflichtung nachzu­ kommen." „Ich hoffe, Sie werden nichts dergleichen thun, mein lieber Gouache", antwortete Giovanni Saracinesca.

Vierzehntes Kapitel. An dem Sonnabend Nachmittag, welcher der Schlacht von Mcntana vorausging, war Sant' Ilario allein in seinem Zimmer und versuchte, sich die Zeit mit der Be(» rairfert, Sans 3lario. I. 19

289 und die Verwundeten waren schon fortgeschasst. Gouache allein schien unbemerkt geblieben zu sein, wahrscheinlich deshalb, weil er sich noch nach einem geschützten Ort hatte schleppen können, ehe er bewußtlos wurde. Fast eine Stunde gingen die Männer mit ihrer Bürde auf der Landstraße einher, bis sie endlich in der Entfernung die Hellen Laternen eines Wagens durch das Dunkel schimmern sahen. Der verwundete Soldat wurde sorgsam auf die Kissen gelegt, und die beiden Herren, welche ihn gesunden hatten, stiegen ein und schlossen den Schlag. Gouache erwachte in Folge des Schmerzes, den ihm das Stoßen des Wagens verursachte. Die Laterne stand auf einem der leeren Sitze und beleuchtete die Gesichter seiner Gefährten, deren einer hinter ihm saß und ihn mit dem Arm stützte. Anastasius starrte ihm eine Weile schweigend und sichtlich erstaunt ins Gesicht. Er glaubte zu träumen und sprach mehr um sich zu überzeugen, daß er wach wäre, als aus einem andern Grunde. „Sie fürchteten wohl, ich könnte Ihnen doch noch entgehen?" sagte er. „Sie brauchen nichts zu befürchten. Ich werde im Stande sein, meiner Verpflichtung nachzu­ kommen." „Ich hoffe, Sie werden nichts dergleichen thun, mein lieber Gouache", antwortete Giovanni Saracinesca.

Vierzehntes Kapitel. An dem Sonnabend Nachmittag, welcher der Schlacht von Mcntana vorausging, war Sant' Ilario allein in seinem Zimmer und versuchte, sich die Zeit mit der Be(» rairfert, Sans 3lario. I. 19

290 rechnung gewisser Einrichtungen zu vertreiben, die er in Saracinesca treffen wollte. Er war im Verlauf dieser Woche hager und abgezehrt geworden, und es fiel ihm schwer, seinen Geist auch nur zeitweilig von den Gedanken an sein Unglück abzuziehen. Nichts als eine starke geistige Anstrengung in andrer Richtung vermochte noch seine Auf­ merksamkeit zu feffeln, und obgleich ihm gegenwärtig eigentlich jede Arbeit zuwider war, so gewährte fie ihm doch zeitweilig Erleichterung von dem Druck der beständi­ gen Betrachtung seines Elends. Er konnte es nicht über sich gewinnen, zu Corona zu gehen, obschon sie von Tag zu Tag kränker wurde und beide Aerzte und die Krankenpflegerinnen bedenkliche Ge­ sichter machten. Sein Verhalten in dieser Beziehung ging nicht aus Herzlosigkeit hervor, noch weniger aus dem Wunsche, ihr Leiden zu vermehren, im Gegentheil, er wußte sehr gut, da er kein Wort der Vergebung zu ihr sprechen konnte, würde sein Anblick wahrscheinlich ihren Zustand noch verschlimmern. Er hatte keinen Grund ihr zu ver­ geben, denn es war nichts geschehen, wodurch ihre Schuld verzeihlicher erschien als zuvor. Wäre sie gesund und stark wie sonst gewesen, so würde er fie oft gesehen und ihr wahrscheinlich immer wieder die bittersten Vorwürfe ge­ macht haben. Aber sie war krank und gänzlich außer Stande sich zu vertheidigen; ihr zu solcher Zeit neuen Schmerz zu bereiten, würde feig und niedrig gewesen sein. Er blieb ihr fern und that sein Bestes, um nicht den Ver­ stand zu verlieren, obschon er fühlte, daß er diese Anspan­ nung nicht mehr lange aushalten konnte. Als das Nachmtttagslicht aus seinem Zimmer schwand, schob er Papier und Bleistift fort und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Sein Gesicht war verzerrt und verstört,

291

schlaflose Nächte hatten tiefe Ränder um seine eingesunke­ nen Augen gezogen, während sein schon von Natur mage­ res Gesicht plötzlich hohl und abgezehrt geworden war. An jenem Tage war er freilich einer der unglücklichsten Menschen in Rom, und so viel er sehen konnte, war das Unglück ohne sein Verschulden über ihn gekommen. Es wäre ihm ein Trost gewesen, hätte er sich einer Ungerech­ tigkeit oder eines Vergehens anklagen können, wodurch die Verantwortung und die Last von dem, was Corona gethan, auf seine Seele zurückfiel. Er liebte sie noch so sehr, daß er sich nichts Süßeres denken konnte als sich ihr zu Füßen zu werfen und aufzuschreien, daß er gesündigt habe und nicht sie. Er quälte sich ab, um einen Beweis dafür zu finden, daß sie unschuldig wäre, allein vergebens. Die Kette der indirekten Beweise war vollständig, kein Glied fehlte, kein Punkt war ungewiß. Er hätte ihr zu Gunsten jeden nur denkbaren Zweifel zugestanden: aber je mehr er darüber nachdachte, desto mehr überzeugte er sich, daß von Zweifeln keine Rede sein konnte. Er saß ganz still bis es beinahe finster war, dann sprang er mit einer hastigen ärgerlichen Bewegung, die ihm ganz unähnlich sah, plötzlich auf und verließ das Zimmer. Das Alleinsein war ihm unerträglich, und ob­ schon er sich wenig daraus machte, einen seiner Bekannten zu sehen, dachte er doch, die Gegenwart andrer lebender Wesen würde besser sein als gar nichts. Er wollte eben ausgehen, als ihm der Arzt begegnete, der aus Corona's Zimmer kam. „Ich möchte Sie nicht unnütz betrüben", sagte der Arzt, „aber ich denke, Sie thäten besser, die Fürstin zu sehen.« „Hat sie nach mir verlangt?" fragte Giovanni düster. 19'

292 „Nein, aber ich denke, Sie sollten zu ihr gehen." „Liegt sie im Sterben?" Sant' Ilario sprach ganz leise und legte dem Arzt die Hand auf den Arm. „Bitte, beruhigen Sie sich, Fürst. Das habe ich nicht gesagt. Ich wiederhole nur —" „Seien Sie so gütig zu sagen, was Sie meinen, ohne sich zu wiederholen", versetzte Giovanni fast heftig. Der Arzt wurde roth vor Aerger, da aber Giovanni eine so hochmächtige Persönlichkeit war, nahm er sich zu­ sammen und antwortete so ruhig er vermochte. „Der Fürstin liegt nicht im Sterben, aber sie ist sehr krank. Es kann in der Nacht schlimmer werden. Sie sollten lieber jetzt zu ihr gehen, denn jetzt wird sie Sie noch erkennen, später vielleicht nicht." Ohne Weiteres abzuwarten, drehte Giovanni sich um und ging rasch nach dem Zimmer seiner Frau. Als er durch das Vorzimmer ging, sah er eines von ihren Mäd­ chen in der Ecke sitzen und heiße Thränen vergießen. Sie sah auf und wies wie hilflos auf die Thür. In einem Augenblick war Giovanni an Corona's Bett. Er würde sie nicht erkannt haben. Ihr Gesicht war bleich und abgezehrt und sah gespenstisch aus im Gegen­ satz zu den Massen schwarzen Haares, die sich auf dem Kiffen ausbreiteten. Ihre farblosen Lippen waren halb­ geöffnet, und ihr Athem ging schwach. Nur in ihren Augen war noch Ausdruck von Leben, sie sahen größer und glän­ zender aus, als er sie je gesehen hatte. Giovanni schaute sie einige Minuten entsetzt an. Er hatte sich gedacht, sie würde so aussehen, wie er sie zuletzt gesehen hatte, und der Schreck über die furchtbare Ver­ änderung lähmte ihm die Nerven. Für einen Augenblick vergaß er alles, was vorgefallen war, über der gewalti-

293 gen Leidenschaft, welche ihn, ihm selbst zum Trotz, be­ herrschte. Seine Arme umschlangen sie, und unter strö­ menden Thränen bedeckte er ihr todtenblaffes Gesicht mit Küssen. Mit übermenschlicher Anstrengung, denn sie war so schwach, daß sie sich kaum rühren konnte, schlang sie die Hände um seinen Hals und drückte ihn an sich, oder er drückte sie. Die Umarmung dauerte nur einen Augen­ blick, dann sanken ihre Arme schwer wie Blei zurück. „Du weißt endlich die Wahrheit, Giovanni?" sagte sie matt. „Du weißt, daß ich unschuldig bin, sonst würdest Du nicht-------- " Er wußte nicht, ob ihre Stimme aus Schwäche ver­ sagte, oder ob sie zauderte. Ihm war es, als hätte sie ihm einen Dolch ins Herz gestoßen, indem sie ihn daran erinnerte, was sie trennte. Er zog sich ein wenig zurück und sein Antlitz war düster. Was konnte er thun? Sie war im Sterben und es wäre teuflische Grausamkeit, sie zu enttäuschen. In jenem Augenblicke hätte er seine Seele darum gegeben, hätte er lügen und wieder den Ausdruck annehmen können, der einen Augenblick zuvor auf seinem Gesichte war, als er sie küßte. Aber das Leiden, woran sie ihn erinnerte, war zu groß, die Sünde zu ungeheuer, und wie er sich auch abmühte, es gelang ihm nicht. Allein er machte den Versuch. Er bemühte sich zu lächeln, und der Versuch fiel schrecklich aus. Er sprach, aber in seinen Worten war kein Leben. „Iq, Geliebte", sagte er, obgleich er. an den Worten würgte, wie an heißem Staube. „Ich weiß, es war ein Mißverständniß. Wie kann ich Dich je um Verzeihung bitten?" Corona sah, daß es nicht die Wahrheit war, und mit einem Schrei der Verzweiflung wendete sie sich ab und

294 barg ihr Gesicht im Kiffen. Giovanni durchlief ein eisiger Schauer bis ins Herz hinein. Ein schrecklicherer Augen­ blick war kaum denkbar. Da stand er neben seiner ster­ benden Frau, mit der Ueberzeugung von ihrer Schuld im Herzen, und doch voll leidenschaftlicher Liebe zu ihr bereit, sie in dieser furchtbaren Krisis glauben zu lassen, er habe ihr vergeben, bemüht, die barmherzige Lüge auszusprechen, die doch nicht heraus wollte, unfähig, sie zu täuschen, die ihn so entsetzlich hintergangen hatte. Noch ein Mal beugte er sich über sie und legte seine Hand auf die ihre. Die Berührung ihrer abgezehrten Finger brachte wieder Thränen in seine Augen, aber der Augenblick der Leidenschaft war vorüber. Er beugte sich über sie und wollte sie trösten: hätte er nur gewußt wie! Aber ihm trat kein Wort auf die Lippen. Ihr Gesicht blieb abgewendet, und er konnte sehen, daß sie ihn nicht ansehen wollte. Nur dann und wann erschütterte sie leiden­ schaftliches Schluchzen, und sie zitterte dabei wie ein Blatt im Winde. Giovanni konnte es nicht länger ertragen. Noch ein Mal küßte er ihr schönes Haar, und dann ging er schnell hinaus, ohne zu wiffen wohin. Als er wieder zu sich kam, stand er auf der Straße, an eine feuchte Mauer gelehnt. Er nahm sich zusammen und ging schnellen Schrittes davon; in der raschen Bewegung suchte er Erleichterung zu finden. Er wußte nicht, wie weit er an jenem Abend ging, von Corona's blaffem Gesicht und von dem Ton jenes verzweifelten Aufschreis verfolgt, den er nicht beschwichtigen konnte. Immer weiter wanderte er dahin; von Zeit zu Zeit riefen ihn die Schildwachen an, denen er mechanisch seinen Paß vorzeigte, bergauf und bergab, durch die Haupt­ straßen und einsamen Gaffen der Stadt: ihm war alles

295 gleich in seinem Elend, und ihm ward nichts bewußt von dem, was er hörte und sah. Um acht Uhr Abend befand er sich vor der Peterskirche; um Mitternacht stand er allein auf dem öden Kreuzweg von Santa Grote in Gerusalemme, hinter dem Lateran, hart an der Stadtmauer. Von Ort zu Ort wanderte er, ohne Ermüdung zu fühlen, aber mit Fieberhitze im Kopf und Eiseskälte im Herzen. Manchmal ging er einen großen Platz zwanzig bis dreißig Mal auf und ab, dann wieder durchschritt er eine Haupt­ straße ihrer ganzen Länge nach, kehrte um und ging zu­ rück, ohne zu bemerken, daß er zwei Mal durch dieselbe Straße ging. Endlich befand er sich in einer großen Menschenmenge. Hätte er bedacht, daß es beinah drei Uhr Morgens war, so wäre er über einen solchen Zusammenlauf von Leuten erstaunt gewesen. Wenn er aber auch nicht wirklich krank oder von Sinnen war, so befand er sich doch in einem so verwirrten Zustande, daß er sich nicht ein Mal fragte, was der Zusammenlaus bedeute. Die Tritte marschirender Truppen erinnerten ihn an Gouache, und plötzlich begriff er, was vorging. Die Sol­ daten verließen Rom, um die Garibaldiner anzugreifen, und er war nahe an einem der Thore. Beim Schein der flackernden Fackeln erkannte er in einiger Entfernung den häßlichen Bau von Porta Pia. Er erspähte die Zouavenuniform im grellen Licht und drängte sich unwillkürlich vor, um den Soldaten ins Gesicht zu sehen. Plötzlich be­ merkte er einen sehr großen Mann, der neben ihm her­ ging, der Mann war so groß, daß er zu ihm aufsah, überzeugt, der Riese könne kein andrer sein, als sein Vetter San Giacinto. „Bist Du auch hier?" fragte der Letztere in freund-

296 lichem Ton, als er Giovanni beim Licht einer Laterne er­ kannte, unter der sie vorübergingen. „Ich bin gekommen, sie ausrücken zu sehen", erwiderte Sant' Ilario kalt. Ihm war es, als ob sein Vetter ihm nachgegangen wäre. „Ich auch", sagte San Wacinto. „Ich erfuhr die Nachricht gestern Abend und legte mich nur ein paar Stunden hin." „Wie viel Uhr ist es?" fragte Giovanni in dem Glauben, es wäre etwa Mitternacht. „Fünf Uhr. In einer Stunde wird es Tag sein oder wenigstens Morgendämmerung." Giovanni schwieg und konnte sich nicht besinnen, wo er denn die ganze Nacht über gewesen wäre. Eine Weile gingen sie schweigend weiter. „Du solltest lieber mitkommen und bei mir Kaffee trinken", sagte San Giacinto, als sie über die Piazza Barberini gingen. „Ich habe meinen Diener geweckt, da­ mit ich bei meiner Rückkehr den Kaffee fertig fände." Giovanni willigte ein. Die Gegenwart eines An­ dern, mit dem er sprechen konnte, brachte es ihm erst zum Bewußtsein, daß er aus Mangel an. Nahrung erschöpft war. Es war Morgen, und er hatte seit Mittag des vorigen Tages nichts genossen, und selbst da sehr wenig. In wenigen Minuten erreichten sie San Giacinto's Woh­ nung. Eine Lampe brannte auf dem Tische im Wohn­ zimmer, und ein kleines Feuer glimmte im Kamin. Gio­ vanni sank auf einen Stuhl, erschöpft von Hunger und Müdigkeit, während der Diener den Kaffee brachte und ihn aus den Tisch stellte. „Du siehst müde ans", bemerkte San Giacinto. „Ein Stück Zucker oder zwei?"

297 Giovanni trank den Kaffee, ohne ihn zu schmecken, aber er belebte ihn und die Wärme des Zimmers that seinen müden erstarrten Gliedern wohl. Er bemerkte nicht, daß San Giacinto ihn scharf ansah und sich verwundert fragte, was wohl eine so merkwürdige Veränderung in seinem Wesen und in seinem Aeußern hervorgebracht haben könnte. „Wie geht es der Fürstin?" fragte er voll Theilnahme indem er langsam den Zucker in seiner Taffe umrührte. „Danke, es geht ihr sehr gut", antwortete Giovanni mechanisch. In seiner Seele hing das Geheimniß, welches er zu verbergen hatte, so eng mit Corona's Krankheit zu­ sammen, daß er halb unbewußt ihren Zustand mit unter die Dinge einbegriff, über welche er nicht sprechen wollte. Allein San Giacinto sah ihn scharf an und wußte nicht, was das bedeutete. „So? Ich dachte, sie wäre krank." „Das ist sie auch", erwiederte Sant' Ilario kurz. „Ich vergaß — ich weiß nicht recht, woran ich dachte. Ich fürchte, ihr Zustand ist sehr gefährlich." Er schwieg wieder und saß auf den Tisch gelehnt da, zerstreut auf die vor ihm liegenden Gegenstände blickend,

eine offene Briefmappe und Schreibmaterial, ein Stückchen Siegellack und ein kleines Wörterbuch, alles zierlich auf dem rothen Tuch geordnet. Er wußte nicht, weshalb er sich hatte hierher führen lassen, aber es überkam ihn ein Gefühl der Ruhe, als er so ganz still dasaß. San Giacinto merkte, daß etwas nicht in Ordnung wäre, aber er sagte nichts, sondern zündete sich eine Cigarre an und rauchte nachdenklich. „Du siehst aus, als ob Du die ganze Nacht auf ge­ wesen wärest", sagte er endlich.

298 Giovanni antwortete nicht. Er wendete die Augen nicht ab von dem rothen Löschpapier in der offenen Mappe vor ihm. Wie er so mit niedergeschlagenen Augen dasaß, glaubte SaU Giacinto beinahe, er schliefe, und schüttelte den Tisch ein wenig, um zu sehen, ob sein Vetter es bemerken würde. Sofort legte Giovanni die Hand auf die Mappe, um sie festzuhalten. Allein er sah nicht auf. „Es scheint Dich etwas zu interessiern" sagte San Giacinto lächelnd und blies eine Rauchwolke in die Lust. Giovanni war in der That ganz in seine Betrachtun­ gen versunken und nickte nur zustimmend. Nach einigen Minuten stand er auf und ging mit der Mappe an den Spiegel über dem Kamin, er hielt das rothe Löschpapier davor, und als ob er damit noch nicht zufrieden wäre, holte er die Lampe und stellte sie auf den Sims; dann hielt er wieder das Papier vor den Spiegel. „Du bist ein höllischer Schurke", sagte er mit leiser, vor Wuth bebender Stimme, während er sich um drehte und San Giacinto ansah. „Was meinst Du damit?" fragte letzterer mit einer Ruhe, die einen minder zornigen Menschen betroffen ge­ macht hätte. Giovanni zog aus seinem Taschenbuch das Briefchen, welches er in Gouache's Zimmer gefunden hatte. Seit einer Woche trug er es bei sich. Ohne San Giacinto weiter zu beachten, hielt er es in der einen Hand und das Löschblatt mit der andern nochmals vor den Spiegel. Der Abdruck der Schrift stimmte vollständig mit dem Original überein. Da es nur aus wenigen Worten bestand und rasch geschrieben worden war, hatte sich fast jeder Strich wie ein umgekehrtes Facsimile aus dem rothen Papier ab­ gedrückt. Giovanni hielt beides San Giacinto vor die

239 Augen. Dieser sah erstaunt aus, verrieth aber nicht die mindeste Furcht. „Willst Du mir etwa weiß machen, daß Du diesen Brief nicht geschrieben hast?" fragte Giovanni wild. „Natürlich habe ich ihn geschrieben", erwiderte der Andere ruhig. Giovanni's Zähne klapperten vor Wuth. Er ließ Brief und Mappe fallen und packte seinen Vetter bei der Gurgel, wobei er mit der Wildheit eines reißenden Thiers die Finger in das zähe Fleisch eingrub. Er war sehr stark und kräftig und hatte feinen Gegner unvermuthet überfallen, so daß ein Vortheil mehr auf seiner Seite war. Aber trotz alledem war er der Riesenkraft seines Vetters nicht gewachsen. San Giacinto sprang auf, seine mächti­ gen Hände faßten Giovanni's Arme über dem Elbogen, er hob ihn vom Boden auf und schüttelte ihn in der Luft, wie eine Katze mit der Maus spielt. Dann warf er ihn wieder auf den Stuhl und hielt ihn fest, so daß er sich nicht rühren konnte. „Ich möchte Dir nicht wehe thun", sagte er; „aber ich mag nicht auf solche Weise angegriffen werden. Wenn Du es noch ein Mal versuchst, werde ich Dir ein paar Knochen zerbrechen." Giovanni war dermaßen erstaunt, sich so leicht über­ wältigt zu sehen, daß er einen Augenblick keine Worte finden konnte. Der ehemalige Gastwirth ließ ihn los und hob seine Cigarre auf, die ihm beim Ringen entfallen war. „Ich beabsichtigte nicht einen Ringkampf mit Dir", sagte Giovanni endlich. „Du bist stärker als ich; aber es giebt noch andre Waffen als rohe Kraft. Ich wieder­ hole, daß Du ein höllischer Schurke bist." „Du kannst es wiederholen, so ost Du willst", er-

300 widerte San Giacinto, der wunderbar schnell seine Fassung wiedergewonnen hatte, „es kränkt mich durchaus nichd." „Dann bist Du ein verächtlicher Feigling!" rief Gio­ vanni heftig. „Das ist nicht wahr", sagte der Andre. „Ich bin in meinem Leben nicht davongelaufen. Vielleicht hab ich nicht eben Grund, einem Kampf auszuweichen", setzte er hinzu, indem er lächelnd auf seine riesigen Glieder blickte. Giovanni wußte nicht, was er thun sollte. Er hatte noch nie Streit mit einem Manne gehabt, der ihm das Genick brechen konnte, aber nicht wie ein Edelmann fechten wollte. Er wurde ruhiger und hätte über die Situation lachen können, wenn sie durch eine andre Ursache herbei­ geführt worden wäre. „Höre, mein lieber Vetter", sagte San Giacinto plötz­ lich in vertraulichem Ton. „Ich bin eben so gut ein Edelmann wie Du, wenn ich auch ein Gasthaus geführt habe. Wenn es hier Sitte ist, mit Degen und dergleichen Spielzeug zu fechten, so will ich ein paar Fechtstunden nehmen, und dann wollen wir es ausmachen. Ich gestehe aber, erst möchte ich doch missen, weshalb Du so furchtbar böse bist? Wie bist Du zu dem Briefe gekommen? Er war nie für Dich bestimmt, noch für irgend einen von Deiner Familie. Ich hatte ihn auf Gouache's Toiletten­ tisch mit einer Nadel, die ich dort fand, festgesteckt. Das Papier nahm ich gestern vor acht Tagen vom Schreibtisch Deiner Frau. Wenn Du die ganze Geschichte misten willst, werde ich sie Dir erzählen." „Und wen wolltest Du als Schreiberin des Briefes gelten lassen? Wen anders als meine Fran?" „Deine Frau!" rief San Giacinto in höchstem Er­ staunen aus. „Du bist von Sinnen. Gouache wollte am

301 Sonntag Morgen mit Faustina Montevarchi in der Kirche Zusammentreffen; und ich dachte mir das Briefchen aus, um das Stelldichein zu verhindern, und legte es am Sonnabend Nachmittag bei ihm auf den Tisch. Ich werde Donna Flavia heirathen, und da will ich doch nicht zulaffen, daß ein lumpiger Zouave meiner künftigen Schwä­ gerin den Hof macht. Da Du den Brief fortgenommen hast, werden sie sich am Ende doch getroffen haben. Ich wünsche, Du hättest ihn ruhig liegen lassen." Giovanni sank auf einen Stuhl am Tisch und ver­ grub das Gesicht in den Händen. San Giacinto stand stumm daneben nnd fing an zu begreifen, was vorgegan­ gen war; es bekümmerte ihn sehr, daß verhältnißmäßig harmlose List so viel Herzeleid verursacht hatte. Er sah die Dinge von einem niedrigern Standpunkt an als Gio­ vanni, war aber doch im Grunde ein guter Mensch. Es wurde ihm schwer zu glauben, daß sein Vetter Corona im Verdacht gehabt hatte Gouache zu lieben; aber Giovanni's Benehmen ließ keine andre Erklärung zu. Andrer­ seits sagte er sich, was man auch von seinem Antheil bei der Sache denken mochte, so war cs doch Giovanni's eigne Schuld, daß sie diese Wendung genommen, weil er sich einer argen Jndiscretion schuldig gemacht hatte, indem er unaufgefordert in Gouache's Zimmer ging und einen Brief las, der für den Zouaven bestimmt war. Giovanni stand auf; sein Gesicht war wieder bleich, allein der Ausdruck hatte sich in wenigeu Secunden völlig verändert. Er litt furchtbar, und doch war dieser Schmerz leichter zu ertragen als die Qualen der letzten Woche. Corona war unschuldig, jetzt wußte er es. Jedes Wort, welches sie vor acht Tagen gesprochen hatte, als er sie an­ klagte, klang ihm wieder in den Ohren, und wie durch

302 Zauber ward ihm nun die Wahrheit ihrer Aussagen klar wie der Tag. Er konnte es sich nimmer vergeben, daß er

an ihr gezweifelt hatte. Er wußte nicht, ob er je die Todesqualen wieder gut machen könnte, die sie gelitten haben mußte. Aber es war tausend Mal beffer, daß er lange Jahre bittrer Selbstvorwürfe zu durchleben hatte, als daß die Frau seiner Liebe gefallen wäre.- Er vergaß San Giacinto und sein kleinliches Plänchen, das so grau­ same Folgen gehabt hatte. Er vergaß seinen kaum ver­ rauchten Zorn über der grenzenlosen Freude zu wiffen, daß Corona schuldlos sei, und in der bittern Zerknirschnng über sein furchtbares Unrecht gegen sie. Wenn er für San Giacinto etwas fühlte, so war cs Dankbarkeit, allein er blieb in seiner tiefen Bewegung sprachlos und dachte nicht einmal daran, was er sagen sollte. „Wenn Du an der Wahrheit meiner Erklärung zwei­ felst", sagte San Giacinto, „so gehe nach dem Palast Montevarchi. Dem Thorweg gegenüber wirst Du wunder­ liches Zeug auf die Mauer gemalt sehen. Da stehen Gouache's Anfangsbuchstaben wohl hundert Mal angekritzelt und dazwischen höchst auffällig die Worte „Sonntag" und „Meffe". Ein einfaches Mittel wäre auch ihn zu fragen, ob er nicht in der That am vorigen Sonntag mit Fau­ stina zusammengetrosfen. Wenn ein Mensch sein Stelldich­ ein mit seiner Geliebten an den Straßenmauern ankündigt, so ist Keiner zu tadeln, der die Anzeige liest." Er lachte über den Einfall und über seine eigene Schlauheit, aber Giovanni gab kaum Acht auf ihn und seine Worte. „Adieu!" sagte er und reichte San Giacinto die Hand. „Du willst Dich also nicht mit mir schlagen?" fragte dieser.

303 „Nur wenn Du es willst. Adieu!" Damit verließ er das Zimmer und ging auf die Straße. Die kalte graue Morgendämmerung hüllte alles ein und die Lust war rauh und kühl. Es giebt nichts Trostloseres als einen Tagesanbruch bei träg fallendem Regen, wenn man die ganze Nacht auf gewesen ist; aber Giovanni war sich keines Unbehagens bewußt und eilte mit beflügeltem Schritt über das schlüpfrige Pflaster nach Hause. Die Bläste seiner Wangen war einer leichten Rothe gewichen, die seinem Antlitz Farbe und Leben gab, und obschon seine Augen leuchteten, war doch ihr Ausdruck natürlicher als seit vielen Tagen. Er war in einer der merk­ würdigsten Stimmungen, welche jenes unbewußt humo­ ristische Geschöpf, den Menschen, überkommen können. Mitten in der tiefsten Zerknirschung floß sein Herz von Freude über. Die Verbindung von Schmerz und Freude ist eine seltene, keineswegs alltägliche, aber dennoch ist es möglich, beide Gefühle zu gleicher Zeit und im höchsten Maße zu empfinden. Giovanni konnte nicht anders als so fühlen. Wenn er Corona aus gänzlich frivolen und unhaltbaren Gründen beargwöhnt und in einem sinnlosen Anfall von thörichter Eifersucht angeklagt hätte, so wäre er nicht dermaßen von ihrer Schuld durchdrungen gewesen, um über itwe Ent­ deckung ihrer Unschuld die lebhafteste Freude zu empfin­ den. In diesem Falle hätte die Reue die Befriedigung überwogen. Hätte er andrerseits sie im Verdacht gehabt, ohne sie anzuklagen, so würde er sich zwar über die Ent­ deckung seines Irrthums gefreut, aber wenig oder gar

keine Reue empfunden haben. So aber hatte er sie auf Beweise hin angeklagt, welche die meisten Gerichtshöfe zu einer Verurtheilung hinreichend befunden haben würden,

304 und als nun alle Zweifel gehoben waren, trat ihm plötz­ lich mit furchtbarer Klarheit "bie Größe des Schmerzes, den er ihr zugefügt hatte, vor die Seele. Selbst als er sie für eine Gefallene hielt, liebte er sie so, daß er wünschte, er könnte die Last ihrer Sünde auf seine Schultern nehmen. Jetzt, da ihre Unschuld über allen Zweifel erhaben klar er­ wiesen dastand, hatte er keinen andern Gedanken, als' ihre Vergebung zu erbitten. Er schloß die Hausthür mit dem Schnapper auf und lief die halbdunkeln Treppen hinauf. Oben öffnete ein zweiter Schlüffe! die polirte Thür in die dunkle Vorhalle, und im nächsten Augenblick war er im Vorzimmer zu Corona's Gemächern. Einige vom Nachtwachen blaffe Dienerinnen standen um einen Tisch, auf dem etwas über einer Spirituslampe gewärmt wurde. Giovanni redete sie an. „Wie geht es ihr?" fragte er und seine Stimme bebte vor Angst. Die Dienstboten schüttelten den Kopf und Eine fing an zu weinen. Sie liebten ihre Herrin sehr und hatten wenig Hoffnung auf ihre Genesung. Sie hatten sich über­ dies im höchsten Grade über Giovanni's scheinbare Gleich­ gültigkeit verwundert und schienen erstaunt, daß er auf die Thür zuging. Eine gab ihm einen Wink, keinen Lärm zu machen. Er öffnete leise das Thürschloß und trat in das verdunkelte Zimmer. Corona lag so da, wie er sie am Abend vorher ge­ sehen hatte; es schien wenig oder gar keine Veränderung in ihrem Zustande vorgegangen zu sein. Ihre Augen waren geschloffen, ihr Athem kaum bemerkbar. Eine Kran­ kenpflegerin war auf ihrem Stuhl neben der Lampe einge­ nickt und blickte aus, als Giovanni eintrat. Er zeigte auf die Thür, und sie verließ das Zimmer. Alles war ganz

305 genau so wie vor zwölf Stunden, so daß er kaum die un­ geheure Veränderung fassen konnte, welche seitdem in seinem Herzen vorgegangen war. Er stand und sah seine Frau an, kaum wagte er zu athmen, aus Furcht, sie zu stören, und doch wünschte er, sie möchte erwachen, um zu hören, was er ihr sagen wollte. Aber sie regte sich nicht und gab kein Zeichen von Bewußtsein. Ihre zarte, feine Hand lag auf der Decke. Er neigte sich langsam und vor­ sichtig herab und küßte ihre abgezehrten Finger. Dann zog er sich schnell und geräuschlos zurück, als hätte er ein Unrecht begangen. Er dachte, sie schliefe, und setzte sich auf den von der Wärterin verlasienen Stuhl. Es herrschte tiefe Stille. Die kleine Nachtlampe brannte ruhig, ohne zu flackern, und warf seltsame Schatten von unten herauf auf die hohen, mit gewirkten Tapeten bekleideten Wände. Die seltsamen Gestalten von Helden und Heiligen, welche in diesem alten gewölbten Gemach so manchen Saracinesca hatten geboren werden und sterben sehen, sahen aus wie alte Freunde, welche die leidende Frau bewachten. Ein schwacher Aethergeruch durchwehte das Zimmer, ein Ge­ ruch, den Giovanni sein Leben lang nicht wieder vergaß. Alles war so vollkommen still, daß er glaubte, er könne seine Taschenuhr ticken hören. Endlich regte sich Corona; sie schlug langsam die Augen auf und sah ihren Mann an. Bei ihrer ersten Bewegung war er aufgestanden und dicht an sie heran­

getreten. „Hast Du mir die Hand geküßt oder habe ich es ge­ träumt?" fragte sie leise. „Ja, mein Liebling." Er konnte nicht sogleich Worte finden, um zu sagen, was er wollte. „Warum thatest Du das?" Crawford, Sant'ZI ane.

I.

306 Giovanni fiel neben ihrem Bette auf die Kniee und faßte ihre Hand mit beiden Händen. „Corona — Corona! vergieb mir!" Der Schrei kam ihm aus dem Herzen und wurde in einem Tone der Ver­ zweiflung ausgestoßen, der unverkennbar war. Schwach und halb bewußtlos wie fie war, erkannte sie doch, daß er sie dieses Mal nicht zu täuschen versuchte. Mehr aber konnte er nicht sagen. Manch starker Mann würde in dem Augenblicke laut aufgeschluchzt und Thräuen vergoffen haben, aber Giovanni war nicht wie andre Männer. Bei großen Gemüthsbewegungen wurde ihm jede Aeußerung schwer, und in Thränen ausbrechen ging ihm wider die Natur. Corona wunderte sich und fragte sich, was geschehen wäre; sie lag ganz still und sah sein gesenktes Haupt an und fühlte die Berührung seiner bebenden Hände. Einige Sekunden lang war die Stille fast eben so tief wie zuvor. Dann sprach Giovanni langsam und deutlich. „Meine geliebte Frau", sagte er und sah sie an. „Ich weiß jetzt die volle Wahrheit. Ich weiß, was ich gethan habe. Ich weiß, was Du gelitten hast. Vergieb mir, wenn Du kannst. Ich will mein ganzes Leben hingeben, um Deine Verzeihung zu verdienen." Für einen Augenblick strahlte Coronas Antlitz wie­ der in seiner ganzen Schönheit. Ihre Augen hatten einen sanften Glanz, die Farbe kehrte in ihre bleichen Wangen zurück und sie seufzte auf erleichtert und voll Freude. Ihre Finger umschloffen mit sanftem Druck die feinen. „Es ist wahr", sagte sie kaum hörbar. „Du ver­ suchst nicht mich zu täuschen, um mich am Leben zu er­ hallen?"

307 „Es ist wahr, mein Liebling", antwortete er. „San Giacinto hat den Brief geschrieben. Es sollte nicht ein Mal so aussehen, als ob er von Dir käme. O Corona — kannst Du mir jemals vergeben?" Sie wendete sich etwas zur Seite, um ihn bester an­ sehen zu können, und schaute ihm lange in die Augen. Die Farbe schwand wieder aus ihrem Gesicht, besten Aus­ druck sich veränderte und plötzlich sehr traurig wurde. „Ich will Dir verzeihen. Ich will versuchen, alles zu vergessen, Giovanni. Du hättest mir glauben sollen, denn ich habe Dir nie die Unwahrheit gesagt. Es wird lange dauern, ehe ich zu Kräften komme; ich werde viel Zeit haben darüber nachzudenken." Giovanni stand auf, noch immer ihre Hand haltend. Eine innere Stimme sagte ihm, daß sie nicht die Frau wäre, eine solche Kränkung leicht zu verzeihen oder zu vergeffen, und ihr Ton war kälter, als er erwartet hatte. Die Buße hatte für ihn begonnen, nnd schon litt er unter der Strafe seines Unglaubens. Er ertrug den Schmerz tapfer. Was für ein Recht hatte er zu erwarten, daß sie sofort wieder so sein würde wie vordem? Sie war noch immer gefährlich krank, und ihre Krankheit war die Folge seiner Behandlung. Es würde lange dauern, ehe ihr Verhältniß wieder werden konnte, was es einst gewesen, und ihm ziemte es nicht zu klagen. Sie hätte ihn im Zorn fort­ schicken können, er hätte es nicht ungerecht gefunden. Aber als er an ihre Liebe dachte, zitterte er bei dem Gedanken, ohne sie leben zu müssen. Als er ihr nach einer kleinen

Pause antwortete, klang seine Stimme sehr sanft. „Du wirst leben und alles vergessen, Corona. Ich will Dir helfen alles vergeflen. Ich will ungeschehen

machen, was ich gethan habe."

308 „Kannst Du das, Giovanni? Ist kein Blut an Deinen Händen?" Sie kannte ihren Gatten genau und konnte kaum glauben, daß er sich enthalten hätte, an Gouache Rache zu nehmen. „Gott sei Dank — nein!" versetzte Giovanni. „Allein ohne einen glücklichen Zufall würde ich ihn vor acht Tagen getödtet haben. Es war alles verabredet." „Du mußt ihm sagen, daß Du Dich geirrt hast", sagte Corona einfach. „Das will ich." „Ich danke Dir, das ist recht." „Es ist das Geringste, was ich thun kann." Giovanni fühlte, daß Worte wenig nützen könnten, und selbst wenn er noch mehr hätte sagen wollen, so hätte er nicht gewußt wie. Zwischen ihnen war etwas zu tief für Worte, und er wußte, daß er fortan nur hoffen konnte, Coronas Liebe durch sein Thun wieder zu gewinnen. Ueberdies sah er ein, daß es in ihrem gegenwärtigen Zu­ stande beffcr wäre, sie zu verlaffen, als das Beisammen­ sein zu verlängern. „Ich will jetzt gehen", sagte er. „Du mußt ruhen, mein Liebling, um morgen wieder ganz wohl zu sein." »3a, jetzt kann ich ruhen." Sie sagte nichts von Wiederkommen. Mit einer De­ muth, die bei solch einem Manne wirklich etwas Rüh­ rendes hatte, beugte er sich nieder und berührte ihre Hand mit den Lippen. Dann wollte er gehen, aber sie hielt seine Hand noch fest und sah ihm lange in die Augen. „Du thust mir so leid, lieber Mann", sagte sie und hielt inne, ohne die Augen von ihm abzuwenden. „Küsse mich", setzte sie endlich mit mattem Lächeln hinzu.

309 Einen Augenblick darauf war er fort. Sie blickte noch lange nach der Thür, durch welche er das Zimmer verlassen hatte, und der Ausdruck ihres Gesichtes wechselte mehr als ein Mal, bald wurde er hart, dann wieder weich, je nachdem die Gedanken durch ihr müdes Gehirn jagten. Endlich schloß sie die Augen und versank bald in fried­ lichen Schlummer. Giovanni wartete in seinem Zimmer, bis sein Vater aufgestanden war; dann ging er ihm mittheilen, was vor­ gefallen war. Der alte Herr sah müde und traurig aus, aber sein scharfer Blick bemerkte die Veränderung im Wesen

seines Sohnes. „Du sichst besser aus", sagte er. „Ich bin von meiner Täuschung befreit", antwortete Giovanni. „Ich hatte mich geirrt, — durch die seltsamste Verkettung von Umständen, von der ich je gehört, war ich irre geleitet." Saracinescas Augen blitzten zornig auf und sein weißer Bart sträubte sich um sein Gesicht. „Du hast Dich zum Narren gemacht", brummte er. „Du hast Deine Frau krank gemacht und Dich elend durch einen Anfall gemeiner Eifersucht. Und nun bist Du bei ihr gewesen und hast es ihr gestanden." „Ganz richtig. Ich habe cs ihr gesagt." „Du bist ein Idiot, Giovanni. Das wußte ich längst." „Ich habe es erst eben entdeckt", versetzte der junge Mann. „Dann bist Du bei Deinen Entdeckungen sehr lang­ sam. Was stehst Du da und starrst mich an? Erwartest Du Theilnahme? Bei mir wirst Du keine mehr finden. Geh und bete eine Litanei vor der Thür Deiner Frau.

310 Du hast mir die gräßlichste Woche meines Lebens bereitet, so lange ich denken kann, bloß weil Du für sie nicht gut genug bist. Wie konntest Du Dich unterstehen, gegen eine solche Frau jemals Argwohn zu hegen? Geh weg! Ich würge Dich ab, wenn Du hier bleibst!" „Die Aussicht darauf würde nicht besonders ins Ge­ wicht fallen", versetzte Giovanni. „Wie wahnwitzig ich ge­ wesen bin, das weiß ich selbst viel bester als Du. Und dennoch bezweifle ich, daß sich jemals Jemand so wunder­ bar getäuscht hat." „Bei Deinem Verstände ist es nur ein Wunder, daß Du Dich nicht immer irrst. Bei meiner Seele, jemehr ich darüber nachdenke, desto erstaunter bin ich über Deine Thorheit. Du hast Dich benommen wie ein Geschöpf auf dem Theater. Mit Deinem langen Gesicht und Deinem Geheimhalten und Deiner theatralischen Verzweiflung hast Du mich auch zum Narren gemacht. Jedenfalls weiß ich jetzt, was ich davon zu halten habe, wenn es wieder so kommt. Ich hoffe, Corona wird ein Einsehen haben und es Dich büßen lassen." Aufrichtig gesagt, hatte Giovanni von seinem Vater keine bestere Behandlung erwartet als die, welche er ihm in der That zu Theil werden ließ; er war aber nicht in der Stimmung, Vorwürfe übel zu nehmen, die er für wohlverdiente hielt. Er hatte dem Fürsten nur das Er­ gebniß des Vorgefallenen mittheilen wollen, und ging auch nicht von seinem Entschlüsse ab, obschon er den alten Herm davon hätte überzeugen können, daß die vielfachen Beweise seine Zweifel gerechtfertigt hätten. Mit einem kurzen Gruß verließ er das Zimmer und ging aus, in der Hoffnung, daß Gouache nicht mit nach Mentana ausgerückt sei, was freilich sehr unwahrscheinlich war.

311 Natürlich wurde er enttäuscht, denn während er nach Gouache fragte, war dieser mit seinem Corps auf dem Marsch zum Angriff, wie wir schon gesehen haben. Gio­ vanni brachte den gröhlen Theil des Tages zu Hause zu, fragte beständig nach Corona und suchte sich mit Lesen die Gedanken zu vertreiben, jedoch mit geringem Erfolg. Der Gedanke, daß Gouache fallen könnte, ohne die Wahrheit zu erfahren, bemächtigte sich seiner und verursachte ihm eine unerklärliche Unruhe. Er machte sich keine heftigen Vorwürfe darüber, daß er dem Mann Unrecht gethan hatte; so empfindlich war sein Gewiffen nicht. Eher viel­ leicht, weil er eine Verständigung mit Anastasius für einen Theil dessen ansah, was er Corona schuldete, war er so besorgt, ihn lebendig wiederzusehen. Zum Theil entsprang seine Besorgniß auch aus seiner Ruhelosigkeit und aus der Sehnsucht nach irgend einer That oder Be­ schäftigung, bei der er alles, was er gelitten hatte, und noch litt, vergessen konnte. Gegen Abend ging er aus und erfuhr, daß eine Schlacht stattgefunden hätte. Es war schon bekannt, daß der Feind sich auf Mentana zurückgezogen hatte. Niemand zweifelte an dem Ausgang des Kampfes. Man fing schon an davon zu reden, daß man hinausfahren und den Verwundeten Hilfe bringen wollte. Giovanni griff diesen Gedanken auf und beschloß ihn sofort auszu­ führen. Er nahm einen Wundarzt und einige Leute mit und fuhr über die Campagna nach dem Schlachtfelde hinaus. Wie schon erzählt, sand er Gouache endlich nach langem, mühevollem Suchen. Der Boden war so uneben, von Gräben und Mauern durchschnitten oder mit Bäu­ men bestanden, daß manche der Verwundeten erst am



312



folgenden Tage auf Mittag gesunden wurden. Wenn Giovanni keine Nachforschungen angestellt hätte, so dürfte Anastasius lange unbemerkt geblieben sein, und es war kein Wunder, daß er Erstaunen kund gab, als er sich beim Erwachen bequem in Saracinescas Wagen gebettet und von dem Manne gepflegt fand, der ihm noch vor wenig Tagen hatte das Leben nehmen wollen.

Eine

Römische Fiirjienfamilie. Roman

in drei Büchern von

£. Marion Crawford.

Zweites Buch Sant' Ilario in zwei Theilen.

Berlin. Dmck und Verlag von Georg Reimer.

1893.

S a n t' Ilario von

S. Marion Crawford.

Zweiter Theil. Autorisirre Uebersetzung von

Th. Hopfner.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1893.

Erstes Kapitel. Die Wunde des jungen Gouache war keineswegs ge­ fährlich, und als er sich von der Erschöpfung durch den Blutverlust und von der übermäßigen Anstrengung einiger­ maßen erholt hatte, machte ihm die Kugel in der Schulter nicht viel aus. Giovanni und der Arzt flößten ihm im Wagen etwas Wein und ein wenig Nahrung ein, und lange ehe fie das Stadtthor erreichten, war der Zouave wohl genug, um Sant' Ilarios Erklärungen anzuhören. Die Gegenwart des Wundarztes erschwerte indeffen vertrauliche Mittheilungen. „Ich kam, um Sie aufzusuchen," sagte Giovanni leise, „weil sich während Ihrer Abwesenheit alles aufgeklärt hat, und weil ich fürchtete, Sie könnten bei Mentana fallen, ohne meine Abbitte gehört zu haben." Gouache sah ihn verwundert an. Er wußte wohl, daß Sant' Ilario nicht der Mann war, Abbitte zu thun, ohne ganz gewichtige Gründe für einen solchen Schritt zu haben. Es ist indessen das erste Gesetz bei Ehrensachen, daß eine in richtiger Form vorgebrachte Entschuldigung als Beilegung des Streites ausgenommen werden muß, und Anastasius sah sofort, daß Giovanni jeden Gedanken an einen Zweikampf aufgegeben hatte. „Es freut mich sehr, daß sich alles aufgeklärt hat,"

6 versetzte er. „Ich gestehe, daß mich die ganze Geschichte in das höchste Erstaunen versetzt hatte." „Ich bebaute, Ihre Wohnung ohne Ihre Erlaubniß betreten zu haben," sagte Giovanni, der entschlossen war, was er begonnen hatte durchzuführen. „Die Nadel gehörte meiner Frau, den Brief aber hatte Jemand anders in der Absicht geschrieben, Ihre Handlungsweise zu beeinfluffen. Mehr kann ich Ihnen hier nicht sagen, aber wenn wir allein sind, sollen Sie alles Nöthige erfahren. Wenn Sie dennoch Genugthuung verlangen, stehe ich Ihnen natürlich zu Diensten." „Bitte, denken Sie nicht daran! Ich hege keinen Groll mehr." Gouache bestand darauf, in seine Wohnung ge­ bracht zu werden, obwohl Sant' Ilario ihm die Gastfreund­ schaft des Hauses Saracinesca anbot. Um vier Uhr Mor­ gens wurde die Kugel herausgezogen und der Wundarzt verabschiedete sich, indem er dem Patienten Schlaf und Ruhe anempfahl. Gouache aber wollte Giovanni nicht sortlassen, ohne das Ende von der Geschichte zu hören. „Thatsachen sind nur wenige zu berichten", sagte letzterer nach einigem Zögern. „Wie es scheint, hatten Sie für den Sonntag Morgen eine Zusammenkunft mit einer Dame verabredet. Eine gewifle Person, die ich uicht nennen will, entdeckte Ihre Absicht und versuchte dieselbe durch Ab­ sendung eines Briefes zu verhindern, der angeblich von einer Dame herrührte. Der Betreffende steckte das Brief­ chen mit der Nadel, welche Sie zufällig gefunden hatten, an Ihren Tisch. Ich war thöricht genug, in Ihr Zimmer zu gehen, und erkannte die Nadel und das Briefpapier. Das Uebrige können Sie sich denken." Gouache lachte hell auf. „Ich sehe ein, daß Sie mir einen großen Dienst ge-

7 leistet haben. Ich traf allerdings mit der Dame zusammen; hätte ich aber den Brief erhalten, so wäre ich nicht hin­ gegangen, und sie hätte vergeblich auf mich gewartet. Können Sie mir nicht den Namen desjenigen nennen, wel­ cher mir den Streich spielen wollte?" „Ich möchte cs lieber nicht, wenn Sie meine Ver­ schwiegenheit entschuldigen wollen. Er weiß, daß sein An­ schlag mißglückte. Ich halte mich aus besonderen Grün­ den nicht für berechtigt, Ihnen seinen Namen zu nennen." „Wie es Ihnen beliebt," sagte Gouache, „vermuthlich werde ich ihn herausbekommen." Damit hatte die Unterredung ein Ende und Giovanni ging nach Hause um auszuruhen, denn er war fast ebenso erschöpft wie Gouache. Er wunderte sich, daß alles so glatt abgegangcn, war aber mit dem Ergebniß zuftieden und fühlte, daß ihm ein Stein vom Herzen genommen war. Er schlief lange und fest und hörte am nächsten Morgen, daß es Corona viel besser ginge. Die Ereignisse des Sonnabends und Sonntags hatten allem Anschein nach viele Schwierigkeiten aus dem Leben derjenigen Personen, welche an unserer Geschichte betheiligt sind, hinweggeräumt. Corona und Giovanni waren wieder vereinigt, obschon die Umstände, welche einen so schrecklichen Bruch zwischen ihnen hervorgebracht, einen Schatten auf ihr Glück geworfen hatten. Gouache hatte seinen Kampf gekämpft und war mit einer leichten Wunde davongekom­ men, so daß er nach seiner Herstellung seine Besuche im Palast Montevarchi wieder aufnehmen und Faustina sehen konnte, ohne seine Zuflucht zu einer neuen und feineren Kriegslist zu nehmen. San Giacinto war es zwar nicht gelungen, das von ihm beabsichtigte Mißverständniß her­ beizuführen, indessen waren seine eigenen Aussichten glän-

8 zend genug. Seine Hochzeit mit Flavia sollte am letzten des Monats stattfinden, und die Vorbereitungen dazu wur­ den so schnell wie möglich getroffen. Flavia selbst war ent­ zückt über die wichtige Rolle, welche fie jetzt in der Familie spielte, und wenn sie auch nicht gerade verliebt in San Giacinto war, fühlte fie sich doch genügend von ihm an­

gezogen, um gerne an die Aussicht zu denken, seine Frau zu werden. Nur der alte Montevarchi war zerstreut und schweigsam, allein seine trübe Stimmung wurde gelegent­ lich durch ein Hochgefühl nahen Triumpfes unterbrochen; er besuchte häufig die Bibliothek und schien in der Unter­ haltung mit dem Bibliothekar Arnoldo Meschini Erheiterung zu finden. In der Zukunft all' dieser Personen lag etwas Ungewiffes, was die meisten von ihnen garnicht beachteten. Als Corona genas, hoffte Giovanni, sie werde alle Kränkungen, die er ihr zugefügt, eben sowohl vergeffen wie vergeben. Gouache hegte die sanguinische Hoffnung, Faustina heirathen zu können. Montevarchi sah mit Sicherheit dem Erfolge seines gegen die Saracinesca geschmiedeten Planes entgegen. San Giacinto und Flavia waren freilich verlobt, aber noch nicht verheirathet. Und dennoch war der Aus­ gang all dieser Dinge keineswegs völlig sicher. Nehmen wir zuerst die Fälschung der Clauseln in den

Dokumenten, welche Meschini unternommen und wirklich in weniger als drei Wochen ausgeführt hatte. Für einen im Fabriziren alter Handschriften so geübten Menschen war es freilich eine leichte Aufgabe; indessen stieß er gleich zu An­ fang auf ein unerwartetes Hinderniß und sein Scharfsinn bei der Ueberwindung der Schwierigkeiten verdient verewigt zu werden. Erstens mußte er herausbekommen, ob auf der Can-

9 celleria eine Abschrift der Orginalurkunde vorhanden wäre. Es wurde ihm nicht schwer, zu entdecken, daß eine solche

Abschrift existirte, und er war in der That auf diesen Fall gefaßt. Allein als das Pergament zum Vorschein kam, machte er ein langes Gesicht. Es war ein kleineres For­ mat als das Original und die Schrift war etwas weitläuftiger, so daß der leere Raum am Ende der ersten Seite beträchtlich kleiner war als im Original. Er sah sofort ein, daß es unmöglich sein würde, die Einschaltung zu machen, selbst wenn er das Dokument lange genug in Hän­ den haben könnte, um die Fälschung auszuführen. Ueberdies sah er ein, daß, wenn er auch beim Lesen nicht geradezu überrascht wurde, es doch unmöglich sein mußte, im Bureau der Cancelleria etwas zu schreiben, ohne daß es bemerkt wurde. Er koimte indessen das Original, welches er bei sich trug, hervornehmen und es mit der Abschrift vergleichen. Beide Schriften waren von derselben Hand; die Abschrift unterschied sich nur durch das Amtssiegel der Regierung. Wie alle dergleichen Dokumente wurde sie in einem be­ stäubten Kasten anfbewahrt, auf dem die Zahl und der Buchstabe des Alphabets, unter welchem derselbe verzeichnet war, geschrieben stand. Meschini besann sich nur einen Augenblick und entschloß sich dann, das Original an die Stelle der Copie zn legen. Sollte der Archivar zufällig das Pergament besehen und das Siegel daran vermissen, so konnte Meschini sich leicht damit entschuldigen, daß er aus Versehen die beiden Doku­ mente vertauscht hätte, da sie sich im Nebrigen sehr ähnlich sahen. Der Archivar bemerkte indessen nichts und Arnoldo hatte die Genugthuung, ihn den Behälter an seinen alten Platz auf dem Brett hinstellen zu sehen. Er kehrte in sein Zimmer zurück und machte sich an die Arbeit.

10 Je länger er das Blatt betrachtete, desto deutlicher sah er, daß es ihm unmöglich sein würde, die Einschaltung zu machen. Es blieb also nichts anderes übrig als ein neues Dokument mit dem Zusatz zu fälschen. Der Gedanke gefiel ihm nicht, obschon er fich fähig fühlte, ihn auszuführen. Es war dabei ein Risico, auf das er nicht gerechnet hatte; andererseits war der Lohn groß. Er verstand die Verfer­ tigung von Siegeln eben so gut wie alles Uebrige zu seiner Kunst Gehörige und machte ohne Schwierigkeit einen Stem­ pel, der dem Abdruck genau entsprach. Zuerst machte er mit geknetetem Brode einen genauen Abdruck. Mit Gyps bil­ dete er danach das Siegel nach und arbeitete es dann mit einem feinen stählernen Instrument sorgfältig aus, bis es ganz vollkommen war. Darauf goß er geschmolzenes Blei und machte auf diese Weise ein hartes Siegel, das er dem Lack aufdrücken konnte, ohne Furcht es zu zerbrechen. Dann überarbeitete er das Blei nochmals mit dem Grabstichel, wobei er sich einer Lupe bediente, und brachte so endlich eine vollkommene Nachbildung des in der Kanzlei gebrauch­ ten Siegels zu Stande. Er stellte allerlei Versuche an, und erst nachdem diese zu seiner Zufriedenheit ausgefallen waren, ging er an die eigentliche Fälschung, welche noch mehr Zeit, Mühe und Geduld erforderte. Nichts wurde verabsäumt, was die Täuschung vollkommen machen konnte. Unter seiner meisterhaften Behandlung nahm das Perga­ ment genau die erforderliche Farbe an. Die geringste Un­ ebenheit wurde mit tadelloser Genauigkeit nachgebildet und durch stundenlanges Betasten und durch die Zuthat von etwas in der Bibliothek aufgesammelten Staubes gab er dem Ganzen das unverdächtige alterthümliche Aussehen. Als er fertig war, zeigte er dem alten Montevarchi sein Werk, aber aus angeborenem Mangel an Wahrheitsliebe

11 sagte er ihm nicht, daß das ganze Dokument gefälscht war, sondern wies uur auf die Einschaltung als ein Meisterstück der Nachbildung hin. Zuerst behauptete er sogar, die ein­ geschalteten Worte hätten wirklich in der Abschrift gestan­ den, und es fiel dem Fürsten schwer zu glauben, daß dies nicht der Fall gewesen. Kurz, MeSchini triumphirte. Noch ein Mal ging er auf die Kanzlei und legte seine Abschrift an die Stelle des Originals, auf welchem er nun­ mehr die Einschaltung machen mußte. Das machte ihm eigentlich keine Schwierigkeit und doch besann er fich, ehe er begann. Es schien ihm im Grunde gerathener, auch im zweiten Falle die ganze Urkunde zu fälschen. Ein Ver­ schreiben, ein unseliger Tropfen Tinte konnte die ganze Arbeit verderben und Argwohn erregen, während er, falls er auf einem neuen Stück Pergament einen Fehler machte, immer von Frischem anfangen konnte. Dabei war nur ein Bedenken. Die Saracinesca hatten fich vielleicht auf dem Originaldocument ein geheimes Zeichen gemacht, wel­ ches selbst seiner mikroskopischen Untersuchung entgehen konnte. Er brachte beinahe einen Tag damit zu, das Per­ gamentblatt mit der Lupe zu untersuchen, konnte aber nichts entdecken. Als er sich so weit sicher fühlte, führte er die zweite Fälschung eben so sorgfältig ans wie die erste und zeigte sie seinem Herrn. Dieser konnte kaum seinen Augen trauen und ahnte nicht, daß die beiden Originale unver­ sehrt und wohlverschlossen in Meschini's Zimmer aufbewahrt lägen. Der Fürst nahm das Dokument und studirte den Inhalt stundenlang durch, ehe er sich endlich entschloß, es dem alten Saracinesca zurückzustellen. Es war ein Augenblick höchster Auftegung. Er erwog, ob er die Manuskripte selbst zurückbringen oder sie durch einen Boten schicken sollte. Wäre er sicher gewesen, sich

12 beherrschen zu können, so wäre er selbst hingegangen, allein er wußte, wenn Saracinesca etwa in seinem Beisein die Schrift ansehen sollte, so würde es ihm kaum möglich sein, seine Aufregung zu verbergen. Dann überkam ihn plötzlich wieder das Bewußtsein, daß er im Begriffe stand, ein großes Verbrechen zu begehen, und seine Finger zucktm ängstlich. Er hatte sich aber einmal auf die Sache einge­ lassen und glaubte, er könnte jetzt nicht mehr zurück, selbst wenn er wollte. Die Einschaltungen waren gemacht und konnten nicht mehr getilgt werden. Wenn Montevarchi den wahren Thatbestand gewußt hätte, so würde er vielleicht noch jetzt zurückgetreten sein; aber ebenso gewiß ist es, daß er es in diesem Falle früher oder später bereut und alles, was in seiner Macht stand, aufgeboten haben würde, um schließlich doch den Betrug durchzuführen. Wenn leiden­ schaftliche Geldgier ihrer Befriedigung nahe ist, so wird sie eine der stärksten Triebfedern zum Verbrechen, und im vor­ liegenden Falle stand ein ungeheurer Preis auf dem Spiel; den wollte er sich nicht entgehen lassen. Er freute sich, daß die Sache geschehen war, und daß die Millionen der Saracinesca ihm bereits verfallen waren. Es ist zweifelhaft, ob er sich eine deutliche Vorstellung von dem machte, was geschehen würde, wenn der Prozeß beendet und das Vermögen seinem Schwiegersohn zuerkannt sein würde. Vielleicht genügte es seinem Ehrgeize, daß seine Tochter die Fürstin Saracinesca werden würde, und er zweifelte nicht, daß es ihm gelingen müßte, einen Theil des Vermögens in seine Gewalt zu bekommen. San Giacinto, der an der ganzen Sache unschuldig war, würde, so dachte er, ihm ewig dankbar dafür sein, daß er ihm seine Rechte kundgethan, und würde seine Dankbarkeit auf an­ gemessene Weise bethätigen. Ueberdies war Montevarchi

13 in großem Maßstabe habsüchtig; es war ihm weniger um den Besitz des Geldes um seinetwillen zu thun, als um die Bereicherung seiner Kinder und Enkel. Patriarchische Ver­ hältnisse führen oft zu einem solchen Resultat. Er würde kaum gewußt haben, was er mit einem noch größeren Ver­

mögen als dem ihm schon gehörigen hätte anfangen sollen, aber er freute sich unsinnig darauf, seine Nachkommen als Besitzer so großer Reichthümer zu sehen. Die Thatsache, daß er nicht hoffen konnte, diese Freude noch lange zu ge­ nießen, that ihrer Größe keinen Abbruch. Ein Geizhals hat gewöhnlich ein zähes Leben und denkt nicht eher an den Tod, als bis die Katastrophe nahe bevorsteht. Selbst dann gewährt ihm das Bewußtsein Trost, daß seine Leibes­ erben durch die von ihm aufgehäuften Schätze reich und mächtig sein werden, und seine einzige Befürchtung ist, daß sie vergeuden könnten, was er mit Mühe gesammelt hat. Er erzieht seine Kinder zur Sparsamkeit und freut sich, wenn sie kein Geld ausgeben; gern redet er sich ein, daß sie eben so sparsam sein werden wie er, und selten bedenkt er, daß ihre wahren Neigungen sich als ganz anders er­ weisen dürsten, wenn er ihnen genügende Mittel in die Hand gäbe. Der Gedanke daran, daß seine Reichthümer vergeudet werden könnten, ist ihm so peinlich, daß er lieber den Glauben an die Sparsamkeit seiner Erben nährt. Wenn er nicht nur ein großes Vermögen sondern auch eine hohe Stellung ererbt hat, so erstreckt sich seine Lust am Ansammeln auch auf das Vermögen seiner Verwandten und Nachkommen, er sorgt dafür, daß sie alles bekommen, was er ihnen verschaffen kann, vorausgesetzt nämlich, daß er es nicht für sich selbst erlangen kann. Die Größen die­ ser Welt sind zum großen Theil nach diesem Prinzip er­ baut worden, und in mancher vornehmen Familie ist es

14 Grundsatz: Die beste Oeconomie sei, Kind und Kindeskiad bis ins dritte und vierte Glied zn bereichern. Montevarchis Seelenkampf war so unbedeutend und so kurz, daß er kaum erwähnt zu werden brauchte, wenn es nicht fast durchgängig wahr wäre, daß des Menschen Geist in dem Augenblick vor dem Begehen eines Verbrechens zaudert. Dieser Augenblick des Zauderns hat Millionen furchtbare Thaten verhütet und hat den Verrath tausender wohlgeplanter Verschwörungen herbeigeführt, deren Erfolg gesichert schien; und nur mit Staunen kann man daran denken, welch einen Einfluß auf die Geschicke der Menschen die instinctive Furcht vor dem Ueberschreiten der schmalen Grenze zwischen Recht und Unrecht ausgeübt hat. Die Zeit solchen Besinnens ist oft unendlich kurz. Man hat sie den psychologischen Moment genannt, und wenn diese Definition sagen will: es ist der Augenblick, in dem die Seele spricht, so ist sie richtig. In diesem Augenblick macht sich unser natürlicher Abscheu vor dem Bösen geltend, die Folgen der beabsichtigten That steigen klar wie in einem Spiegel vor uns. auf; in diesem Augenblick wird, unser Muth plötzlich dazu gestählt, das Rechte zu thun oder er verläßt uns, und wir werden bloße Werkzeuge, die das Unrecht ausführen. Wäre kein gutes Element in der mensch­ lichen Natur, so würde sie eben so wenig vor dem Begehen eines Verbrechens zaudern wie ein wildes Thier davor zaudert, ein schwächeres Geschöpf zu vernichten. Vielleicht giebt es keinen klareren Beweis für das Vorhandensein einer göttlichen Seele im Menschen, als diesen angeborenen Widerwillen, das zu thun, was bei Geschöpfen niedrigerer Gattung nur natürlich sein würde. Verhältnisse, Erziehung, die Zufälligkeiten des Lebens, alles das trägt dazu bei, den psychologischen Moment entweder zu verkürzen oder zu ver-

15 langem.

Die Gewissensunruhe, während welcher der Ver­

stand in seinem Entschlüsse schwankt, kann eine Woche oder eine Sekunde, ein Jahr oder eine Viertelstunde daüem;

immerhin aber ist es eine Phase, welche alle durchmachen müssen, der gewohnheitsmäßige Verbrecher, wie der Gerechte, welcher sich vielleicht nur ein Mal in seinem Leben versucht

fühlt, ein Verbrechen zu begehen. Der alte Montevarchi hatte sich bis jetzt noch nie eines

im Strafgesetze vorgesehenen Vergehens schuldig gemacht, aber er hatte aus Liebe zum Mammon fast alles gethan,

was mir deshalb nicht strafbar war, weil das Gesetz nicht

die eigenthümliche Verschmitztheit seiner Denkart vorgesehen hatte.

Selbst jetzt redete er sich ein, daß der Zweck ein

guter wäre, und daß sich seine Handlungsweise moralisch rechtfertigen ließe.

Er besaß die Fähigkeit, sich selbst zu

täuschen, wie sie dem vollendeten Heuchler eigen ist, und er redete sich für San Giacinto eine Theilnahme ein, die nach

seiner Ansicht aufrichtig und verdienstlich war.

Mit Be­

friedigung stellte er sich die muthmaßlichen Empfindungen des alten Saracinesca vor, als dieser, nach Aufgabe seines

Erstgeburtsrechtes, Gatte und Vater eines Sohnes gewor­

den war.

Wie mochte der Arme seine Thorheit bereut und

ein Mittel ersehnt haben,

das Geschehene ungeschehen zu

machen! Es war ja nur recht und billig — nur recht und billig, und daß Leo's Urenkel, der jetzt in alle Herrlichkeit seiner fürstlichen Besitzungen wieder eingesetzt werden sollte, gerade Flavia Montevarchi heirathen wollte, war ein reiner

Zufall.

Die Aussicht war zu verlockend, das Schwanken dauerte nur einen Augenblick, obschon er sich einbildete, die Sach­

lage lange erwogen zu haben.

Die Gedanken, welche ihn

eigentlich beschäftigten, waren nicht der Art, daß sie ihn

16 an der Ausführung seines Planes gehindert hätten, und im Grunde wunderte er sich nicht über sich, als er endlich das Packet zusammenband und nach einem Dienstboten klingelte. Entdeckung war unmöglich, denn in Folge von Meschini's Geschicklichkeit stimmte das Original mit der amtlichen Abschrift genau überein; die Fälschung war so vollkommen, daß sie jeder Entlarvung Trotz bot. Wenn man bedenkt, dvß die größten Gelehrten und Spezialisten Europas neuerdings verschiedener Ansicht über Dokumente gewesen, die unzweifelhaft modernes Machwerk waren, und von genau solchen Leuten wie Arnoldo Meschini vorge­ bracht wurden, so darf es nicht Wunder nehmen, daß es diesem gelang, einen Gerichtshof zu täuschen. Die Ver­ hältnisse der Familie Saracinesca verliehen den angeführ­ ten Thatsachen eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Die Armuth und zeitweilige Verborgenheit von Leo's Nachkommen er­ klärte, weshalb sie keinen Versuch gemacht hatten, wieder zu ihrem Recht zu kommen. Ja noch mehr, da Leo ge­ storben, als sein Sohn noch ein kleines Kind war, und da sich unter seinen Papieren keine Abschrift des besagten Do­ kuments vorgefunden hatte, so war es mehr als wahrschein­ lich, daß auch bei erwachsenen Jahren dieser Sohn nie recht etwas von diesem Dokument gewußt hatte und vermuthlich nichts von dem geahnt haben würde, was jetzt als die Wahrheit ausgegeben werden sollte, wenn seine Aufmerkkamkeit nicht von Jemanden, der Kunde davon hatte, darauf gelenkt worden wäre. Die Papiere wurden dem Fürsten Saracinesca am Nachmittag mit einem verbindlichen Dankschreiben zurück­ gestellt. Man wird sich erinnern, daß der Fürst die Doku­

mente nicht, wie es seine Absicht gewesen, durchgelesen hatte, weil es ihm über dem Zerwürsniß zwischen Giovanni und

17 Corona ganz aus dem Sinn gekommen war. Er hatte sie seit seiner Jugend nicht mehr angesehen und besann sich nicht genau auf den Inhalt. Da er die Seitenlinie seiner Familie für ausgestorben hielt, war es nur natürlich, daß er wenig an die alten Dokumente dachte, welche er in ge­ setzmäßiger Form abgefaßt glaubte und für völlig rechts­ gültig hielt. Als er gegen Abend nach Hause kam, fand er das versiegelte Packet auf seinem Zimmer, und nachdem er es geöffnet, wollte er die Papiere wieder an ihre Stelle ins Archiv legen. Zufälligerweise aber hatte er einen Brief zu schreiben, und so schob er die Dokumente beiseite, statt sie sofort in die Bibliothek zu tragen. Während er noch schrieb, trat Giovanni ins Zimmer. Wie bereits erwähnt, war der Fürst auf seinen Sohn sehr böse gewesen, weil dieser an Corona gezweifelt hatte, und obschon mehrere Tage seit der Erklärung vergangen waren, war der Zorn des alten Herrn noch nicht ganz ver­ raucht. Er empfand noch bitteren Groll gegen Giovanni und sein Benehmen gegen ihn hatte noch nicht wieder die frühere Herzlichkeit angenommen. Als Sant' Ilario in's Zimmer trat, sah Saracinesca ihn mit einem Blicke an, welcher deutlich zeigte, daß ihm die Unterbrechung unwill­ kommen wäre. „Störe ich Dich'?" fragte Giovanni, den Blick be­ merkend. „Willst Du etwas?" „Nein, nichts Besonderes." Saracinesca's Auge fiel auf den Stapel Papiere, der auf dem Tische lag. Es fiel ihm ein, daß Giovanni sich mit der Durchsicht derselben beschäftigen könnte, während er seinen Brief beendete. V* raivf crt-, Sant' Jlaric.

II.

18 „Da sind die Dokumente, welche San Giacinto be­ treffen," sagte er. „Du könntest sie durchsehen, ehe sie wieder verwahrt werden. Montevarchi erbat sie sich auf ein Paar Tage und hat sie eben zurückgeschickt." Giovanni nahm das Bündel und setzte sich auf einen bequemen Stuhl neben einem niedrigen Tisch, so daß das Licht der Lampe gerade auf die Stelle fiel. Er machte keine weitere Bemerkung, sondern fing an die Dokumente, eins nach dem andern, zu besehen; sein Auge glitt rasch über die Zeilen, während er mechanisch las und den Sinn der Worte nur halb verstand. Er war hingenommen von dem Gedanken an Corona und an die jüngsten Ereignisse, so daß es ihm schwer wurde, seine Aufmerksamkeit zu concentriren. Die Feder des Fürsten fuhr kratzend über das Papier und reizte Giovanni die Nerven, denn der alte Fürst schrieb eine schwerfällige Hand und verlor in fünf Minuten zwanzig Mal die Geduld, verfluchte in seinem Innern Tinte, Feder und Papier und wünschte, er könnte schreiben wie ein Buchhalter oder ein Schreiber. Giovanni's Aufmerksamkeit wurde durch das Perga­ ment gefesselt, auf welchem die Haupturkunde abgefaßt war, und er fing an, den Vertrag genauer durchzulesen als die andern Dokumente. Lateinisch verstand er ganz gut, aber die seltsamen Buchstaben wurden ihm stellenweise schwer zu entziffern. Er las die letzten Worte auf der ersten Seite, ohne viel über ihre Bedeutung nachzudenken. „ . . . . Eo tarnen pacto, quod si praedicto Domino Leoni ex legitime matrimonio heres nasceretur, instrumentum hoc nullum, vanum atque plane invalidum fiat“ Giovanni lächelte über das seltsame Gerichtslatein und überlas dann den Satz noch ein Mal. Sein Gesicht vard ernst, als ihm die inhaltschwere Bedeutung dieser werigen

19 Worte klar wurde. Immer wieder übersetzte er den Satz und versuchte eine andere als die so unangenehm klare Bedeutung herauszubringen. Das Geschriebene ließ sich aber nicht anders auslegen, und Giovanni saß einige Mi­ nuten da und starrte ins Feuer, wie versteinert und entsetzt über seine Entdeckung. „Hast Du diese Dokumente je gelesen?" fragte er end­ lich in einem Tone, bei dem sein Vater die Feder fallen ließ und ihn ansah. „Seit dreißig Jahren nicht". „Dann lies sie lieber gleich. San Giacinto ist Fürst Saracinesca, und wir Beide sind nichts". „Was heißt das?" fragte er und packte Giovanni's Arm heftig mit der einen Hand, während er mit der andern das Pergament ergriff. „Lies selbst. Hier — unten auf dieser Seite, von „eo tarnen pacto“ an. Es ist deutlich genug. Es 'heißt: „Unter der Bedingung, vaß wenn dem besagten Leo Saracincsca in rechtmäßiger Ehe ein Sohn geboren werden sollte, dieses Dokument ganz nichtig, werthlos und ungiltig sein soll." Es wurde ein Erbe geboren, und der Enkel jenes Erben ist San Giacinto. Du kannst das Dokument zerreißen. Es ist nicht so viel werth als das Perga­ ment, auf dem es geschrieben steht, — und wir ebenfalls nicht." „Du bist von Sinnen, Giovanni!" rief der Fürst heiser. „Das bedeuten diese Worte nicht. Du hast Dein Latein

vergeffen." „Ich will Dir ein Wörterbuch holen — oder einen Rechtsgelehrten, was Dir lieber ist." „Du sprichst nicht im Ernst, mein Junge. Sieh her — eo tarnen pacto — das heißt „durch dieses Ueberein2*

20 kommen" nicht wahr? Ich bin noch nicht so eingerostet, wie Du denkst." „Es heißt indessen „mit der Abmachung". Lies weiter. Quod si — daß wenn, praedicto Domino Leoni dem be­ sagten Don Leo — ex legitime matrimonio in rechtmäßiger Ehe, heres nasceretur, ein Erbe geboren werden sollte, hoc instrumentum, dieses Dokument — soll nichtig, werthlos und ungültig sein. Dn kannst keinen andern Sinn heraus­ bekommen. Ich habe es eine Viertelstunde lang versucht. Wir Beide sind Bettler. Saracinesca, Torleone, Barda und alles Uebrige gehört San Giacinto, dem directen Nach­ kommen von Deines Urgroßvaters älterem Bruder. Du bist einfach Don Leo, und ich bin Don Giovanni. Das bedeutet es." „Großer Gott!" schrie der alte Herr in höchster Be­ stürzung. „Wenn Du recht hättest"--------„Ich habe recht," versetzte Giovanni erblassend. Mit verstörten Blicken und zitternden Händen spreitete der Fürst das Dokument auf dem Tische aus und las es noch ein Mal. Er schlug das Blatt um und las es bis zu Ende; seine Aufregung gab ihm für den Augenblick so viel Sprachkenntniß wieder, wie er einst besessen, und machte ihm jeden Satz klar wie das Tageslicht. „Nicht einmal San Giacinto — nicht einmal ein Titel!" rief er verzweifelt. Er sank in seinen Stuhl zurück, nieder­ geschmettert durch den furchtbaren Schlag, welcher ihn in seinem Alter so unerwartet getroffen hatte. „Nicht einmal San Giacinto!" wiederholte Giovanni dumpf. Seine Fassung verließ ihn, er brach zusammen und barg sein Gesicht in den Händen. Wie in einem Traum sah er seinen Vetter auf demselben Stuhle sitzen, wo jetzt sein Vater saß, als Herrn des Hauses, in dem er,

21 Giovanni, geboren worden, wie vor ihm sein Vater, als Herrn der Burgen und Schlösser, der schönen Landhäuser und großen Güter, der Paläste und Millionen, für deren Erbe Giovanni sich gehalten hatte, den Herrn alles Reich­ thums und des ganzen Erbes seines Geschlechtes, geehrt durch zahllose Titel und durch das hohe Ansehen, welches den Großen in dieser Welt zufällt. Lange Zeit sprach keiner von beiden, denn beide waren gleich überwältigt durch die Größe des Unglücks, das über ihren Häuptern hing. Verstohlen blickten sie einander an und sahen, daß sie Beide bis in die Lippen erbleicht waren. Dann brach der alte Fürst das Schweigen. „Jedenfalls weiß San Giacinto nicht, wie die Sachen stehen," sagte er. „Deshalb wird es um so schwerer sein, es ihm zu sagen," versetzte Giovanni. „Es ihm zu sagen? Du wirst nicht so wahnwitzig sein." „Würdest Du es für ehrenhaft halten," fragte der Sohn, „wenn wir im Besitze dessen bleiben, was uns ent­ schieden nicht gehört? Ich werde es nicht thun." „Wir sind seit mehr als einem Jahrhundert im Besitz." — „Das ist kein Grund, weshalb wir noch länger einem Andern sein Vermögen vorenthalten sollten," sagte Giovanni. „Wir sind Männer. Laß uns wie Männer handeln. Es ist bitter. Es ist schrecklich. Aber uns bleibt kein anderer Ausweg. Corona hat ja Astrardente. Sie wird Dir ein Heim bieten. Sie ist reich." „Wie? Warum sagst Du mir? Uns Beiden." „Ich werde für meinen Unterhalt arbeiten", sagte Giovanni ruhig. „Ich bin jung. Ich will nicht von mei­ ner Frau leben."

22 „Es ist abgeschmackt!" rief der Fürst. „Es ist eine Don Ouixoterei! San Giacinto hat Geld genug, ohne daß er uns zu ruiniren braucht. Selbst wenn er die Sache hcrausbekommt, will ich den Streit bis zu Ende auskämpfen. Hier bin ich der Herr, wie mein Vater und mein Groß­ vater es vor mir gewesen, und was mein ist, will ich nicht ohne Kampf aufgeben. Wer bürgt uns denn dafür, daß er wirklich ist, was er zu sein vorgiebt? Was beweist denn, daß er wirklich ein Nachkomme jenes Leo ist?" „Was das anbetrifft," antwortete Giovanni, „so wird er positive und rechtsgültige Beweise dafür vorbringen müssen, daß er wirklich der Betreffende ist. Dem gesetzlich berechtigten Erben gegenüber will ich allem entsagen, aber einem bloßen Abenteurer zu Gefallen will ich nicht zum Bettler werden. Dir aber sage ich: wenn San Giacinto den älteren Zweig unseres Geschlechtes vertritt, so haben wir hier weiter kein Recht. Wenn ich dessen gewiß wäre, möchte ich nicht mehr eine Nacht unter diesem Dache schlafen." Der alte Fürst konnte ihm seine Bewunderung nicht versagen. In Giovanni's Bereitwilligkeit, alles um der Gerechtigkeit willen anfzuopfern, lag etwas so Edles und Großmüthiges, daß sein altes Herz voll Stolz schlug. Wenn er abgeneigt war, seinen Rechten zu entsagen, war das eigentlich mehr um Giovanni's willen, und auch wegen Corona's und des kleinen Orsino. Er selbst war ein alter Mann und hatte den größten Theil seines Lebens hinter sich. „Du hast das Herz Deiner Mutter, Giovannino," sagte er einfach, aber in seinen Augen war ein feuchter Glanz, den nur seltene Erregungen hervorbringen konnten. „Es ist keine Herzenssache", erwiederte Giovanni. „Wir können nicht behalten, was uns nicht gehört."

23 „Das Gesetz muß entscheiden, was wir behalten können. Machst Du Dir klar, wie es sein würde, welche Stellung wir einnehmen würden, wenn wir plötzlich bettelarm da­ ständen? Wir würden absolut Pauper sein. Wir besitzen keinen Fußbreit Land, keine Handvoll Geld, die nicht durch jene verfluchte Clausel betroffen wird." „Warte einen Augenblick," rief Giovanni, der sich plötz­ lich darauf besann, daß er doch etwas eigenes Vermögen besäße, eine Thatsache, welche er in der Aufregung über seine Entdeckung ganz vergeffen hatte. „Wir werden nicht ganz mittellos sein. Aus der Urkunde folgt nicht, daß wir San Giacinto auch das Vermögen überlasten müssen, wel­ ches seit der Zeit unseres Urgroßvaters bis auf den heu­ tigen Tag unserem Zweige der Familie durch Heirathen zugefallen ist, und das muß ganz beträchtlich sein. Um bei mir anzufangen, mein Vermögen stammt von meiner Mutter. Dann war das Vermögen von Deiner Mutter und von Deines Vaters Mutter und so weiter. San Giacinto hat keinen Anspruch auf irgend etwas, das nicht ursprünglich zum Vermögen des alten Don Leo gehörte, der diese Be­ stimmungen traf." „Das ist wahr", versetzte der Fürst etwas hoffnungs­ voller. „Es ist nicht ganz so schlimm, wie es aussah. In diesem Punkte wirst Du recht haben." „Wenn nicht das Gericht entscheidet, daß San Giacinto ein Anrecht auf Entschädigung und Zinsen hat, weil vier Generationen der Besitz vorenthalten worden." Beide Männer sahen ernst aus. Der Gedanke war peinlich. Aehnliche Urtheile waren schon gefällt worden und konnten wieder gefällt werden. „Wir wollen lieber unsern Rechtsanwalt kommen lassen", sagte endlich der Fürst. „Je eher wir den wahren Werth

24 dieses Pergamentes kennen, desto besser für uns. Ich somit die Spannung auch nicht einen Tag ertragen, ich muß idie Wahrheit misten. Zu denken, daß sogar der Stuhl, muf dem ich sitze, dem San Giacinto gehört! Mir hat derKierl nie gefallen von dem Tage an, da ich ihn zuerst in seinem Gasthofe zu Aquila sah." „Das ist nicht seine Schuld", sagte Giovanni ruhiig. „Die Sache ist ganz einfach. Wir wußten nicht, was diese Papiere enthielten, und selbst wenn wir es gewußt, so hätten wir darüber gelacht, bis wir entdeckten, daß wir einen Vetter hatten. Wir werden am Ende nicht verhungern. Und was ist ein Titel? Der Papst wird Dir einen an­ deren verleihen, wenn er erfährt, was vorgefallen ist. Ich bin eben so gern schlechtweg Giovanni als Fürst von Sant' Ilario." „Was das betrifft, so könntest Du Dich Astrardente

nennen." „Das möchte ich lieber nicht", sagte Giovanni leise auflachend. „Aber ich muß Corona diese Neuigkeit er­ zählen." „Warte bis sie wieder ganz gesund ist. Es könnte sie zu sehr aufregen." „Du kennst sie nicht!" und dies Mal lachte Giovanni herzlich. „Wenn Du glaubst, daß sie an solchen Dingen hängt, irrst Du Dich sehr in ihrem Charakter. Sie wird das Unglück bester tragen als wir. Muth! padre mio. Die Dinge sind nie so schlimm, wie sie im ersten Augen­ blick aussehen." „Ich will's hoffen, mein Junge, wiü's hoffen! Gehe zu Deiner Frau und sage es ihr, wenn Du das für's Beste hältst. Ich möchte lieber allein sein." Giovanni verließ das Zimmer, und Saracinesca blieb

25 allein. Er sank wieder auf seinen Stuhl zurück und faltete seine kräftigen braunen Hände vor sich auf dem Tische. Trotz allem, was Giovanni sagen mochte, empfand der alte Herr bitter das Schreckliche seiner Lage. Nur diejenigen, welche in ungeheurem Reichthum ausgewachsen und von Kindheit auf an den Glanz und das Ansehen einer sehr hohen Stellung gewöhnt gewesen sind und dann plötzlich alles verlieren, können seine Gefühle verstehen. Er war weder geizig noch eitel. Er hatte sein Vermögen auch nicht verschwendet, obschon er ein fürstliches Einkommen in glän­ zender Weise verausgabte. Auch hatte er nicht den Größen­ wahn, den man seltsamerweise oft bei sehr hochstehenden Leuten antrifft. Allein seine Stellung war ein Theil seiner selbst, so daß er sich selbst eben so wenig als einfacher Don Leo Saracinesca denken konnte, wie sich vorstellen, daß er sich seiner alten Titel rühmen sollte. Und doch war es ihm klar, daß er entweder ganz aufhören müßte, ein Fürst zu sein, oder von der Gnade seines Herrschers einen neuen Titel annehmen müßte. Was sein Vermögen anbetraf, so war es nur zu klar, daß ihm das meiste davon nie gehört batte. Für einen Mann von seiner Gesinnung war das Ge­ fühl, plötzlich als Betrüger dazustehen, unerträglich. Sein erstes Gefühl war gewesen, die Sache auszufechten, und wäre der Angriff auf seine Stellung von San Giacinto ausgegangen, so hätte er das wahrscheinlich auch gethan. Allein sein eigener Sohn hatte den wahren Thatbestand entdeckt und ihm die Sache so klar und in einem solchen Lichte dargestellt, daß er damit an seine Ehre appellirte. Zhm blieb keine Wahl als sich zu fügen. Er konnte sich nicht von seinem geliebten Sohn an Ehrenhaftigkeit über­ treffen lassen, eben so wenig konnte er sich bewußt eines

26 Unrechts schuldig machen, nachdem er sich überzeugt, daß er kein Recht auf seinen Besitz hatte. Er gehörte zu einem Geschlecht von Männern, die mehrfach große Verbrechen begangen und furchtbare, in der Geschichte berüchtigte Thaten gethan hatten, sei es aus Liebe zu einer Frau oder aus Haß gegen einen Mann, die aber nie im Rufe der Geld­ gier gestanden, noch sich nur nm des Geldes willen zu einer ehrenrührigen Handlung erniedrigt hatten. Sobald er davon überzeugt war, daß alles San Giacinto gehörte, fühlte er auch, daß er zu dessen Gunsten allem entsagen müsse. Nur ein Zweifel blieb noch zu lösen. Es stand nicht absolut fest, daß San Giacinto wirklich dersenige wäre, für welchen er sich ausgab. Es war möglich, daß er auf eine nur ihm bekannte Weise in den Besitz der Familienpapiere gekommen wäre. Dergleichen Dinge werden oft als Merk­ würdigkeiten aufgekauft, und da der letzte Sproß der älteren Linie, von dem in Rom ein Nachweis aufbewahrt worden, in der Verborgenheit gestorben war, so war es immer mög­ lich, daß der einstige Gastwirth die von jenem hinterlassenen Papiere gefunden oder gekauft haben mochte, um sich Mar­ chese di San Giacinto zu nennen. Saracinesca ging nicht so weit anzunehmen, daß letzterer irgend welche Kenntniß von dem Hauptdokument hatte, welches so viel Unheil an­ richten sollte, wenn er es nicht etwa in Montevarchi's Hän­ den gesehen hätte, in welchem Falle ihm kein Vorwurf daraus zu machen wäre, wenn er einen Prozeß zur Wiedererlan­ gung so großen Reichthums anstrengte.

27

Zweites Kapitel. Giovanni hatte Corona ganz richtig beurtheilt. Er fand sie in ihrem Ankleidezimmer auf dem Sopha am Camin liegend, genau so wie er sie an jenem verhängnißvollen Abend vor drei Wochen angetroffen hatte. Er setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. Sie war noch nicht ganz wieder zu Kräften gekommen, aber ihre Schönheit war zurückgekehrt und schien durch das überstandene Leiden ver­ klärt zu sein. In wenig Worten erzählte er ihr die ganze Geschichte; sie hörte sie an, ohne besonderes Erstaunen zu bezeugen. Während er sprach, suchten ihre dunklen Augen ein Paar Mal die seinen mit einem Ausdruck, den er nicht recht verstand, der aber wenigstens freundlich und voll Theil­ nahme war. „Bist Du all' dieser Thatsachen ganz gewiß?" fragte sie, als er zu Ende war. „Bist Du sicher, daß San Giacinto der Betreffende ist? Ich weiß nicht warum, aber ich habe ihm vom ersten Augenblicke an, da er zu uns kam, mißtraut." „Nur dieser eine Punkt bedarf der Aufklärung", ver­ setzte Giovanni. „Wenn er nicht der Rechte ist, wird er es nicht wagen, in dieser Sache Schritte zu thun, aus Furcht sich bloßzustellen und das, was er hat, zu verlieren." „Was wirst Du thun?" „Ich weiß nicht recht. Wenn er wirklich unser Vetter ist, müssen wir ohne Widerstand alles aufgeben. Wir sind Betrüger oder wenig besser als das. Ich denke, ich müßte ihm offen sagen, wie das Dokument abgefaßt ist, damit er beurtheilen kann, ob er in der Lage ist, seine Identität zu beweisen." -

28 „Glaubst Du,

daß er nicht alles eben so

gut weiß

wie wir?" „Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er schon gesprochen." „Die Papiere sind heute von Montevarchi zurückge­ kommen", sagte Corona. -„Es ist müßig anzunehmen, daß der alte Fürst seinem künftigen Schwiegersohn nichts vom Inhalt derselben gesagt haben sollte. Nicht wahr? Das siehst Du selbst ein. San Giacinto weiß es also. Wenn er nun derjenige ist, der zu sein er behauptet, so wird er Dir bald genug seine Absichten kund thun. Mir scheint, Du hast das in Deiner Aufregung vergessen. Wenn er nichts sagt, so liegt das daran, daß er seine Rechte nicht beweisen kann." „Das ist wahr", sagte Giovanni. „Daran hatte ich nicht gedacht. Dennoch möchte ich ihm gern zuvorkommen. Ich möchte ihn wissen lassen, daß wir keinen Widerstand leisten wollen. Es ist eine Ehrensache." „Die eine Frau natürlich nicht verstehen kann", sagte Corona ruhig. „Das habe ich nicht gesagt. Das meinte ich nicht." „Nun — verlangst Du meinen Rath?" „Immer!" Dieses einzige Wort wurde in einem Tone gesprochen, der mehr ausdrückte als bloßes Vertrauen, und von einem innigen Blick begleitet. Aber Coronas Ausdruck veränderte sich nicht. Ihre Augen gaben den Blick ruhig zurück, weder liebevoll noch lieblos, doch gleichgültig. Es gab Giovanni einen Stich ins Herz, als ihm die in seiner Frau vorgegangene Veränderung klar mürbe. „Mein Rath ist, die Sache auf sich beruhen zu lassen. San Giacinto kann ein Betrüger sein; ja das ist sogar durchaus nicht unwahrscheinlich. In diesem Falle würde

29 er aus Deinem Wunsche, großmüthig zu handeln, Vortheil ziehen. Er wäre dann gewarnt und hätte Zeit, sich alle erforderlichen Beweisstücke zu verschaffen. Was könntest Du zu ihm sagen? „Wenn du deine rechtmäßige Geburt nachweisen kannst, gebe ich dir alles, was ich besitze." Dann sieht er sofort, daß weiter nichts nöthig ist, und wenn er ein Schurke ist, wird es ihm gelingen. Uebrigens, wie gesagt, er weiß eben so gut wie Du, was in dem Doku­ mente steht, und wenn er der Rechte ist, wird er binnen einer Woche einen Prozeß gegen Deinen Vater einleiten. Thut er es nicht, so hast Du den Vortheil, entdeckt zu haben, daß er ein Betrüger ist, ohne Dich dem Verlust Deines Vermögens auszusetzen." „Es geht mir wider die Natur," sagte Giovanni, „aber ich glaube, Du hast recht." „Du wirst thun, was Du für das Beste hältst. Ich habe keine Macht, Dich zur Befolgung meines Rathes zu bewegen." „Keine Macht? Ach, Corona, sage das nicht!" Es entstand eine kurze Pause; Corona schaute ruhig in's Feuer, während Giovanni ihr Antlitz betrachtete und die Gedanken zu errathen versuchte, welche ihr durch die Seele gingen. Sie sprach indessen nicht, und mit seinem Rathen kam er zu keinem Schluffe. Am meisten verletzte ihn ihre Gleichgültigkeit, und er wünschte aus irgend einem Anzeichen schließen zu können, daß dieselbe nur angenom­ men wäre. „Ich möchte lieber thun, was Du für das Beste hältst," sagte er endlich. Sie sah ihn an und schaute dann wieder

auf die brennenden Holzscheite. „Ich habe Dir gesagt, was ich denke," versetzte sie. „Dir steht es zu, zu urtheilen und zu beschließen. Die Sache geht Dich mehr an als mich."

30 „Ist das nicht dasselbe?" „Nein. Wenn Du auch die Titel und Güter der Saracinesca verlierst, werden wir noch immer reich genug sein. Du hast eigenes Vermögen und ich ebenfalls. Der Name ist im Grunde eine Sache, die Dich persönlich angeht. Ich würde Dich eben so gern geheirathet haben, auch wenn Du einen anderen Namen getragen hättest." Die Anspielung auf die Vergangenheit brachte Giovanni's Herz zu rascherem Schlage, und die Farbe stieg ihm plötzlich in's Gesicht. Es war beinahe, als ob sie ge­ sagt hätte, daß sie ihn eben so geliebt haben würde, auch wenn er mit einem anderen Namen geboren wäre, das konnte heißen, daß sie ihn noch immer liebte. Allein ihre Ruhe widersprach dem vorschnellen Schluß, den er aus ihren Worten zog. Sie erschien ihm wie eine Statue, als sie so in ihrer erhabenen Ruhe dalag, die Hände über den Knieen gefaltet, die Augen so gewendet, daß er nur ihre gesenkten Lider sehen konnte. „Eine persönliche Angelegenheit!" rief er plötzlich mit Bitterkeit. „Einst war es anders, Corona." Zum ersten Male während dieses Gespräches verrieth ihr Gesicht eine innere Bewegung. Ihre Lippen bebten ein wenig, als sie ihm antwortete: „Deine Titel waren immer nur eine rein persönliche Angelegenheit." „Was mich angeht, geht Dich auch an, Geliebte," sagte Giovanni zärtlich. „Insofern als es mir leid thut, — aufrichtig leid thut, wenn Dich etwas bekümmert." Ihre Stimme war sanft und freundlich, aber es lag nichts von Liebe in ihren Wor­

ten. „Glaube mir, Giovanni, alles was ich besitze, möchte ich hingeben, um Dir dies zu ersparen!"

31 „Alles, was Du besitzest — ist in Deinem „Alles" kein Fünkchen Liebe übrig geblieben?" Der Aufschrei kam ihm aus dem Herzen. Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden und neigte sich über sie. Ihre Finger lagen ruhig in seiner Hand, und die Farbe stieg ihr nicht in die dunkeln Wangen. Vor einem Augen­ blick hatte sich in ihrem Herzen eine leidenschaftliche Sehn­ sucht nach der Vergangenheit geregt, welche sich beinahe verrathen hatte, aber als er von gegenwärtiger Liebe sprach, hatten seine Worte nicht die Macht, einen Wiederhall in ihr wach zu rufen. Und doch konnte sie ihm nicht schroff antworten, denn ihm war es augenscheinlich Ernst. Sie sagte deshalb nichts, sondern ließ ihre Hand in der seinen. Seine Liebe, welche immer gleich stark und leidenschaftlich gewesen, selbst als er an ihrer Treue zweifelte, wuchs zu einer Gewalt, die er sich nie hatte träumen lassen. Ihm war zu Muthe wie einem Menschen, der mit dem Tode in sichtbarer oder fühlbarer Gestalt ringt. „Ist denn alles vorbei? Wirst Du mich nie mehr lieben?" fragte er heiser. Ihr abgewandtes Gesicht verrieth nichts, ihre Hand lag noch immer regungslos in seinen kräftigen Händen. Sie wußte, wie sehr er litt, und doch wollte sie ihn nicht mit der trügerischen Hoffnung trösten, nach der er sich so brennend sehnte. „Um Gotteswillen, Corona, sprich zu mir! Kann denn nie wieder Liebe zwischen uns sein? Kannst Du mir nie­ mals vergeben?" „Ach, mein Theurer, ich habe Dir völlig vergeben — in meinem Herzen ist kein unfreundlicher Gedanke mehr gegen Dich!" Sie wandte sich ihm zu und legte die andere Hand auf seine Schulter und sah ihn mit flehenden Blicken

32 an. „Denke das nicht, ach, denke nur das nicht! Ich würde Dir wieder vergeben, tausend Mal"--------„Und mich lieben?" rief er und schlang seine Arme um ihren Hals und küßte sie leidenschaftlich wieder und wieder. Aber plötzlich zog er sich zurück; denn sie erwiederte seine Zärtlichkeiten nicht. Er erbleichte, als er den Aus­ druck ihrer Augen sah. Es standen Thränen darin, um die vergangene Liebe, vielleicht um seinen gegenwärtigen Schmerz, aber kein Fünkchen des Feuers, das dort in ver­ gangenen Tagen gelodert. „Ich kann es nicht sagen!" erwiederte sie endlich. „Ach zwinge mich nicht, es zu sagen — bei alledem, was einst war!" In seiner tiefen Bewegung glitt Giovanni von dem niedrigen Sessel herab und kniete neben seiner Frau, die er noch mit einem Arm umschlungen hielt. Der Schmerz der Enttäuschung, in eben dem Augenblick, da er glaubte, sie wäre erweicht, war fast mehr als er ertragen konnte. Wäre ihr Herz nicht ganz erkaltet gewesen, so hätte der Anblick seines verzweifelten Antlitzes sie rühren müssen. Sie war tief bewegt und bedauerte ihn sehr, mehr aber konnte sie nicht. — „Giovanni! sieh mich nicht so an! Wenn ich könnte — ach, wenn ich nur könnte."--------„Bist Du von Stein?" fragte er mit von Schmerz

erstickter Stimme. „Was kann ich thun?" rief sie in Verzweiflung, sank zurück und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie nar fast ebenso schmerzlich bewegt wie er. „Liebe mich, Corona. Liebe mich nur ein wenig! Seite daran, daß Du mich einst geliebt hast."--------„Gott weiß, wie innig! Könnte ich es vergessen, so könnte ich Dich vielleicht jetzt lieben." —

33 „O, dann vergiß es, Geliebte! Laß die Vergangenheit versunken sein. Sage, Du habest mich noch nie geliebt, und laß das neue Leben von heute an beginnen. Kannst Du es nicht? Willst Du nicht? Ich verlange so wenig, nur den Anfang! Ich will die Liebe wachsen lassen, bis sie dein Herz erfüllt. Mein süßes Lieb, mein theures Herz! liebe mich nur genug, um das zu sagen."--------„Denkst Du, ich würde es nicht, wenn ich könnte? Ach, ich möchte mein Leben hingeben, um das zurückzu­ rufen, was einst war, allein ich kann es nicht. Es ist todt. Du, — wenn nicht Du — etwas Böses hat es getödtet. Es sagen? Ja, mein Theurer, ich möchte es sagen — ich will es sagen, wenn Du es von mir verlangst. Giovanni, ich liebe Dich! — ja so lauten die Worte. Bedeuten sie etwas? Kann ich machen, daß sie wahr klingen? Kann ich das Todte wieder lebendig machen? Ist es etwas An­ deres als der Hauch meiner Lippen? O, Giovanni, mein verlornes Lieb, warum bist Du nicht mehr Giovanni?" Wiederum umschlangen sie seine Arme und er drückte sie leidenschaftlich an's Herz. Sie erbleichte und obwohl sie es zu verbergen suchte, bebte sie vor seiner Umarmung zurück, während ihre Lippen zitterten nnd Thränen des Schmerzes ihr in die Augen traten. Sie litt furchtbar und zwar in einer Weise, die sie nie für möglich gehalten hatte. Er sah, was sie fühlte, und ließ sie auf die Kissen zurück­ sinken, während er neben ihr kniete. Er sah, daß seine bloße Berührung ihr unangenehm war und doch konnte er sie nicht verlassen. Er sah, wie sie mit sich kämpfte, um seine Küsse zu ertragen, und wie widerwärtig sie ihr waren, und dennoch hielt der Zauber ihrer Schönheit seine leiden­ schaftliche Natur im Bann, während die erhabene Würde ihres Geistes seine Seele bezwang. Sie konnte vergeben, (x r a iv f o rb, Laut Jlane. II. 3

34 obgleich er sie so tief gekränkt hatte, sie war willens, ihn' zu lieben, wenn sie es konnte, obschon er sie so grausam verletzt hatte, es war qualvoll zu denken, daß sie nicht mehr konnte, daß er nie wieder den Klang der Leidenschaft in ihrer Stimme hören, noch die ganze Kraft ihrer Seele in ihren Augen sehen sollte, wenn seine Lippen auf den ihren ruhten. Es war etwas Großartiges und Tragisches in ihrem Leiden, in ihrem Kummer um all' das, was sein Mißtrauen ihr genommen hatte. Sie sank auf ihr Lager zurück und preßte die Hände so fest zusammen, daß die Adern unter der Haut deutlich hervortraten. Während sie ihre Bewegung zu überwinden suchte, wurden ihre herrlichen Züge durch den Schmerz verklärt, die Lider senkten sich über ihre dun­ keln Augen, und die schönen Lippen waren fest geschlossen, als solle über sie kein Wort gehen, daß ihn kränken könnte, wenn sie auch nicht die Worte aussprechen konnte, die er für seine Seele gern gehört hätte. Giovanni kniete neben ihr und sah ihr in's Gesicht. Er wußte daß sie nicht ohnmächtig war, und er freute sich fast, daß er einen Augenblick ihre Augen nicht sehen konnte. Zärtlich, scheu streckte er die Hand aus und legte sie auf ihre gefalteten Hände, dann zog er sie schnell zurück, als ob ihm plötzlich einfiele, daß die Berührung ihr peinlich sein könnte. Ihr üppiges Haar war in einen dicken schwar­ zen Zopf geflochten, der auf die Lehne des Sophas fiel. Er beugte sich noch tiefer und drückte die Lippen auf die seidenweiche Flechte, ganz leise als fürchte er, sic zu stören, als fürchte er, sie könne es bemerken. Er hatte all' seinen Stolz, seine Kraft und sein Selbstbewußtsein ver­ loren, und fühlte sich unwürdig, sie zu berühren. Allein er war ein zu kräftiger Mann, um lange in

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solch' einem Zustande zu verharren. Ehe Corona die Augen wieder aufschlug, war er aufgesprungen und stand einige Schritte von ihr entfernt, den Arm auf den Kaminsims gestützt, sie noch immer beobachtend, doch mit einem Aus­ druck, welcher bewies, daß in ihm eine Veränderung vor­ gegangen war, und daß sein fester Wille wieder die Ober­ hand gewonnen hatte. „Corona!" sagte er endlich mit ziemlich ruhiger Stimme. Ohne ihre Stellung zu verändern sah sie ihn an. Sie war sich bewußt, daß er nicht mehr an ihrer Seite war, und empfand eine Art physischer Erleichterung. „Corona!" sagte er nochmals, als er bemerkte, daß sie ihn anhörte. „Ich klage nicht. Es ist alles durch meine Schuld so gekommen. Nur hasse mich nicht, Geliebte. Ich will Dich nicht berühren, will Dich nicht belästigen. Ich will beten, daß Du mich wieder liebst! Ich will ver­ suchen, alles zu thun, damit Du mich wieder liebst wie Du mich einst geliebt hast. Vergieb mir, wenn meine Küsse Dich verletzen. Ich wußte nicht, daß es der Fall sein könnte, aber ich habe es wohl gesehen. Ich bin nicht roh, und wenn ich es wäre, würdest Du mein Herz veredeln. Ach will es nie wieder vergessen. Wir müssen ein neues Leben anfangen. Der alte Giovanni war Dein Gatte und der ist todt. Es ist an mir, Dir eine neue Liebe abzu­ gewinnen. Soll es so sein, Geliebte? Wird denn nicht alles anders, — sogar mein Name?" „Alles, alles anders!" wiederholte Corona mit leiser Stimme. „O wie konnte ich so unfreundlich sein? Wie konnte ich Dir zeigen, was ich fühlte?" Plötzlich und ganz unvorbereitet sprang sie auf und ging zwei Schritt auf ihn zu. Der Wille war vorhanden, doch nicht das wahre Gefühl. Sie streckte die Arme aus 3*

36 und aus ihren Augen blickte tödtliche Angst. Sie stand still, wandte sich ab und sank wieder auf das Lager; ihr Gesicht vergrub sie in die Kiffen, die lang zurückgehaltenen Thränen brachen sich Bahn, und sie schluchzte, als sollte ihr das Herz brechen. Giovanni wünschte, er könnte seinen Schmerz durch einen solchen Ausbruch erleichtern, aber seiner männlichen Natur war das unmöglich. Er konnte den Anblick ihres Kummers nicht ertragen und wußte doch, daß er sie nicht trösten könne, daß es nur ein neuer Stachel für ihre bren­ nende Wunde sein würde, wenn er seine Hand aus ihre Stirn legte. Mit abgewendetem Antlitz lehnte er sich an's Gamin; er wünschte, er könne sein Ohr gegen ihr Schluchzen ver­ schließen, und erduldete Qualen, die ein größeres Vergehen als das seine gesühnt haben müßten. Die Zeit war vor­ bei, da er glaubte, eine ununterbrochene Kette von Beweisen hätte seine Zweifel an Corona und seine Anklage gegen sie gerechtfertigt. Er kannte die von ihm gekränkte Frau jetzt besser als damals, denn er verstand die ganze Größe und Tiefe der Liebe, welche er so grausam vernichtet hatte. Es war ihm jetzt unbegreiflich, wie er einem so edlen Wesen, das so viel größer war als er selbst, je hatte mißtrauen können. Jede ihrer Thränen fiel wie ein feuriger Tropfen auf sein Herz, jedes Schluchzen, welches in dem stillen Ge­ mach wiederhallte, war ihm ein folternder Vorwurf, der in das Innerste seiner Seele drang. Er konnte weder das Geschehene ungeschehen machen, noch den von ihm ver­ ursachten Kummer lindern. Er konnte nur still dastehen und den Schmerz der Buße geduldig über sich ergehen laffen. Der leidenschaftliche Ausbruch des Schmerzes ging end­ lich vorüber. Corona lag blaß und schweigend auf ihren

37 Kissen. Sie wußte, was er empfand, und bedauerte ihn mehr als sich selbst. „Es ist thöricht von mir zu weinen", sagte sie endlich. „Es kann Dir nichts helfen." „Mir helfen?" ries Giovanni und wandte sich um. „Es handelt sich nicht um mich, sondern um Dich. Ich hätte sterben mögen, um Dir diese Thränen zu ersparen." „Ich weiß es — möchte ich nicht auch mein Leben hingeben, um Dir dies zu ersparen? Und ich will es. Komm und sehe Dich neben mich. Nimm meine Hand. Küsse mich, sei wieder ganz Du selbst. Es ist nicht wahr, daß Deine Küsse mir wehe thun — es darf nicht wahr sein."--------„Du meinst es nicht, Geliebte," versetzte er traurig. „Ich weiß, wie wahr es ist." „Es soll nicht wahr sein. Bin ich denn ein Teufel, daß ich Dich so kränken kann? War es Deine Schuld? Hatte ich nicht auch unrecht? Ja gewiß"-------„Nein, meine Geliebte. Es ist kein Unrecht an Dir. Wenn Du mich nicht liebst" — „Ich liebe Dich. Ich will's, mir selbst zum Trotz." — „Ich weiß, daß Du es willst, Liebling, ich weiß es. .Deine Güte geht so weit; aber Du kannst es nicht. Ich muß jetzt alles thun"--------„Ich muß!" rief Corona leidenschaftlich. „Wenn ich Dich nicht liebe, muß ich sterben. Auch ich habe unrecht gehabt, laß es mich sagen. War ich nicht wahnsinnig, so zu handeln? Welcher Mann hätte dabei keinen Argwohn geschöpft! Wäre er ein rechter Mann, wenn er die geliebte Frau nicht überwachte? Wäre es eine rechte Liebe ohne Eifersucht, wenn Grund dazu vorhanden scheint? Würde ich Dich wohl geheirathet haben, wenn ich gedacht hätte,

38 Du würdest so unvorsichtig sein, mich solche Dinge thun zu lassen, ohne Dich einzumischen? War es nicht meine Schuld, daß ich Dir in jener Nacht, als ich nach Hause kam, nicht sagen wollte, was vorgefallen war? War cs nicht Wahn­ sinn, Dich zu bitten, mir zu vertrauen, statt Dir alles zu sagen? Und doch," sie wendete ihr Antlitz ab, „und doch kränkte es mich so sehr!" „Du sollst Dich nicht anklagen, Corona. Es war alles meine Schuld." „Komm her und sehe Dich neben mich. So, nimm meine Hand. Zittert sie? Ziehe ich sie fort? Freue ich mich nicht, daß sie in der Deinen ruht? Sieh mich an — bin ich nicht froh? Giovanni, geliebter Mann, mein treues Lieb! Schau mir in die Augen! Siehst Du nicht, daß ich Dich liebe? Weshalb schüttelst Du den Kopf und zit­ terst? Es ist wahr, ich sage es Dir!" Plötzlich schwand das erzwungene Lächeln von ihrem Antlitz; der erkünstelte Ausdruck, dem sie so gerne den Stempel der Wahrheit gegeben, wich einem Blick voll Furcht und Schrecken. Sie zog ihre Hand zurück und wendete sich voll Verzweiflung ab. „Ich lüge, ich lüge — ich belüge Dich!" stöhnte sie. „O Gott! habe Erbarmen, denn ich bin die elendeste Frau von der Welt!" Giovanni saß still, das Kinn auf die Hand gestützt, und starrte ins Feuer. Seine Hoffnung hatte sich einen Augenblick gehoben und war dann tiefer gesunken als zu­

vor. Jeder Zug seines scharf geschnittenen Gesichts verrieth seine Verzweiflung. Und doch war er nicht mehr so schwach wie vorher. Er staunte über die verborgenen Tiefen in Coronas Seele, die ihm so plötzlich offenbar wurden. Er begriff die Größe einer Leidenschaft, welche noch nach ihrem

39 Erlöschen solche Aufregung zurücklassen konnte, und mit furchtbarer Klarheit erkannte er die Schönheit dessen, was er verloren, und die Tiefe des Abgrundes, welche ihn davon trennte. Nur eine Frau, welche bis zum Wahnsinn geliebt hatte, konnte so verzweifelte Anstrengungen machen, um eine erstorbene Liebe wieder zu beleben; nur eine Frau, welche der erhabensten Hingebung fähig war, konnte ihren Stolz und ihre Qual in dem Bestreben unterdrücken, den einst geliebten Mann dazu zu bringen, sich selbst zu vergeben. Er hätte Vorwürfe leichter erduldet als den Anblick ihrer Seelenpein, aber sie wollte ihm nichts vorwerfen. Ja selbst ihren Haß hätte er beinahe eher ertragen als diese selbst­ lose Verzeihung, und doch hatte sie ihm verziehen. Zum ersten Male in seinem Leben wünschte er zu sterben, er, der das Leben so liebte. Vielleicht würde es für sie leichter sein, ihn todt zu ihren Füßen zu sehen, als zu fühlen, daß er ihr immer nahe sein müsse, und daß sie ihn nicht lie­ ben könne. „Es hilft nichts, Geliebte," sagte er endlich. „Ich hatte recht. Der alte Giovanni ist todt. Wir müssen ein neues Leben anfangen. Darf ich es versuchen? Willst Du cs zulassen, daß ich mein Bestes thue, um für Dich zu leben und eine neue Liebe in Deinem Herzen zu erwecken?" „Kannst Du das? Können wir die alte Zeit zurück­ rufen, als wir uns zuerst kennen lernten? Kannst Du das? Kann ich es?" „Wenn Du nur wolltest!" — „Wenn ich wollte? AIs ob ich nicht alles thun möchte, um das zu erreichen?" „Unser Leben kann so ganz anders werden, daß es dadurch leichter werden mag," sagte Giovanni. „Ist es Dir klar, wie anders alles sein wird, wenn wir dieses

40 Haus verlassen müssen? Vielleicht ist es bester, daß cs so kommt." „Ja — viel bester! Ach, Du thust mir so leid!" „Wer Mitleid hat, kann auch noch lieben," sagte er leise. Corona antwortete nicht, sondern lag einige Minuten still und sah in's Feuer. Giovanni fühlte, daß es besser wäre, nicht mehr an der Vergangenheit zu rühren, und als er wieder das Wort ergriff, fragte er nur nochmals um ihre Meinung sein Verhalten in der Erbschaftsangelegen­ heit betreffend. „Ich bin noch immer der Ansicht," sagte Corona, „daß es für's Erste am besten ist, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Du wirst bald genug erfahren, was San Giacinto zu thun gedenkt. Sei überzeugt, wenn er ein An­ recht hat, wird er nicht verfehlen, es geltend zu machen. Wenn es zum Aeußersten kommt und Du wirklich davon überzeugt bist, daß er der Betreffende ist, so kannst Du — oder vielleicht Dein Vater — ihm alles ohne einen Prozeß abtreten. Es ist ganz überflüssig, die Folgen eines Unglückes auf sich zu ziehen, welches vielleicht nie eintritt. Es wäre leichtsinnig, Dein Erbe ohne Widerstand aufzu­ geben, wenn San Giacinto, falls er ein ehrlicher Mann ist, darauf bestünde, die Sache gerichtlich untersuchen zu lassen." „Das ist richtig. Ich will Deinen Rath befolgen. Andere Dinge machen mir so viel Sorge, daß ich geneigt bin, in allem gleich zum Aeußersten zu schreiten. Wirst Du heute mit uns essen?" „Ich denke nicht. Gönne mir noch einen Taz. Mor­ gen werde ich mehr Kraft haben." „Ich habe Dich angegriffen", rief Giovanni traurig,

41 als mache er sich Vorwürfe. Corona erwiederte nichts auf diese Bemerkung, sondern reichte ihm sanft lächelnd die Hand. „Gute Nacht, lieber Mann," sagte sie. Ein kaum bemerkbarer Ausdruck des Schmerzes glitt über Giovanni's Gesicht, als er ihre Hand mit den Lippen berührte. Dann verließ er schweigend das Zimmer. In mancher Hinsicht war eS ihm lieb, daß er Corona dazu gebracht hatte, sich auszusprechen. Ihm blieben nun keine Illusionen mehr, denn er wußte das Schlimmste und sagte sich, wenn seine Frau ihn je wieder lieben sollte, mußte er auf's neue um ihre Liebe werben. Es ist nicht nöthig, mehr über seine Gefühle zu sagen, denn im Laufe des Gespräches hatte er sie nicht verbergen können. Die Enttäuschung war sehr plötzlich über ihn gekommen und hätte schrecklicheFolgen haben können, wenn er nicht wie im Traume die Möglichkeit, Corona's Liebe wieder zu gewinnen, vor­ ausgesehen hätte. Einem Anderen wäre es schwer gefallen, die ganze Schuld auf sich zu nehmen; eine minder edle Frau würde entweder so gethan haben, als ob sie ihren Mann noch immer liebte, oder hätte doch nicht cingestanden, das; sie unter dem Bewußtsein ihrer erstorbenen Liebe so schmerzlich litte. Bei minder großer Offenheit wäre das Aufleben der alten Leidenschaft vielleicht nicht so schwer gewesen, denn die Liebe weiß sich oft seltsam zu verstecken und zeigt sich oft auf ganz unerwartete Weise. Ein erfahrener Menschenkenner konnte voraussehcn, daß das einfache Wiederaufnehmen freundlichen Verkehrs nicht genügte, um zwischen zwei solchen Wesen das zerrissene Band von neuem festzuschmieden. Es bedurfte mehr dazu. Es war unerläßlich, daß eine neue Kraft in's Spiel käme, um Corona's starken Geist zu besänftigen und Giovanni in

42 seinem wahren Lichte zu zeigen. Leider ließ sich eine so glückliche Lösung kaum erwarten. Selbst wenn die Frage wegen des Besitzes von Saracinesca gegen sie entschieden wurde, was zunächst noch höchst ungewiß war, würden sie noch immer reich bleiben. Armuth hätte sie vielleicht wie­ der zusammengeführt; allein ein finanzieller Ruin stand nicht in Aussicht. Corona würde ja ihr eigenes Vermögen haben, während Giovanni durch das Erbtheil seiner Mutter mehr als genügend versorgt war. Der Schlag würde Giovanni'ö Stolz empfindlicher treffen als sein Vermögen, wie groß anch der Verlust in dieser Richtung sein mochte. Es läßt sich nicht sagen, ob Corona nicht eben so sehr darunter gelitten haben würde wie er, wenn eine solche Katastrophe einige Wochen früher eingetreten wäre. Jetzt fühlte sie sich wenig davon berührt. Sie mochte selbst den Namen Sararinesca nicht hören, und das Haus, in dem sie wohnte, hatte allen Reiz für sie verloren. Sie hätte lieber Rom verlaffen und wäre ein Paar Jahre auf Reisen gegangen, statt noch länger an einem Orte zu leben, der für sie so viel schmerzliche Erinnerungen bot, sie hätte gern auf den Karten, die sie bei ihren Bekannten abgab, einen andern Namen gelesen — selbst den einst verhaßten Namen Astrardente. Als sie Giovanni heirathete, hatte sie nicht daran gedacht, daß sie reicher wurde als zuvor. Wenn man alles hat, was man braucht und wünscht, was können dann einige Millionen mehr ausmachen? Es war beinahe schade, daß sie nicht arm wurden und mit einander den Kampf und die Entbehrungen der Armuth durchmachen konnten.

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Drittes Kapitel. San Giacinto und Flavia wurden am Sonnabend dem 30. November getraut und entgingen so der Nothwendigkeit, eine besondere Abgabe für eine Trauung während der Ad­ ventszeit zu entrichten, was dem Fürsten Montevarchi zu besonderer Befriedigung gereichte. Die Hochzeit war glän­ zend, und wenn etwa die Gastlichkeit des alten Fürsten etwas zu wünschen übrig ließ, so war der dabei entfaltete Glanz an Livreen, Wagen und Familiensilber durchaus eines so festlichen Ereignisses würdig. Alle Welt wurde eingeladen und fast alle Welt erschien, von den Saracinescas bis zu Anastasius Gouache, von Valdarno bis zu Arnoldo Meschini. Selbst Spicca war da, schwermüthig wie immer, aber augenscheinlich voll Theilnahme. Zufällig stand er im Gedränge neben Gouache. „Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu treffen," be­ merkte er. „Ich bin mannigfachen Gefahren entgangen, um der heutigen Feierlichkeit beiwohnen zu können," antwortete der Zouave lachend. „Eigentlich kam cs mir wahrschein­ licher vor, daß ich die Hauptperson bei einem Begräbniß abgcben würde." „Mir auch. Es ging aber nicht anders." Spicca lächelte nicht. „Es scheint Ihnen leid zu thun", bemerkte Gouache, der Spicca's Excentricität kannte. „Nur im Allgemeinen. Im Besonderen freut es mich sehr, Sie zu sehen. Kommen Sie nach der Trauung zu mir zum Frühstück. Wir wollen auf das Wohl zweier Leute trinken, die sicherlich bald recht unglücklich sein

werden."

44 „Meinen Sie uns Beide?" „Nein, das Brautpaar. „Die ihr hier eingehet, lasset alle Hoffnung schwinden." Wie können Menschen so thöricht sein, einen Bund zu schließen, von dem sie nicht mehr los­ können. Die Narren werden nie alle!" „Ich gehöre auch dazu", sagte Gouache. „Ihr Wunsch wird vermuthlich erfüllt werden. Die Vorsehung hat Sie augenscheinlich vor einem plötzlichen Tode bewahrt, um Sic durch langsame Qual umkommen zu lassen. Ist der Hochzeitstag schon bestimmt?" „Ich wünsche, es wäre so weit!" „Und die Braut?" „Wie kann ich es sagen!" „Wollen Sie also nur im Allgemeinen die Ansicht aus­ sprechen, daß Sie lieber verheirathet als unverheirathet sein möchten? Die einzige Entschuldigung für die Thorheit zu heirathen, ist die noch größere Thorheit, eine Frau so sehr zu lieben, daß man sie heirathen möchte. Natürlich ein Mann, der das kann, ist zu allem fähig. Da kommt die Braut mit ihrem Vater. Denken Sie sich, an sie gekettet zu sein, bis der erlösende Tod Sie scheidet. Denken Sie sich, der Schwiegersohn dieses Alten zu sein, bis es dem Himmel gefällt, ihn abzurufen. Stellen Sie sich vor, Sie müßten diese dicke Engländerin Schwiegermutter nennen, bis sie endlich der Schlag rührt. Stellen Sie sich vor, all' diese Verwandten wären Ihre Schwäger und Schwäge­ rinnen, Ascanio, Onorato, Andrea, Isabella, Bianca, Faustina! Es nimmt einen Tag, all' ihre Namen und Titel auswendig zu lernen. Die Braut trägt einen Schleier, — um ihren Triumph zu verbergen, einen Kranz von künst­ lichen Orangeblüthen, ans Papier und Draht und Kleister gemacht, natürlich Symbole der Unschuld, biegsam und

45 leicht zusammenzukleben. Sie blickt zu Boden, damit der Priester nicht ihre lachenden Augen sieht. Ihr Vater flüstert ihr tröstliche und ermuthigende Worte zu. „Gieb Acht auf den Ausdruck Deines Gesichts", sagt er ohne Zweifel zu ihr, — „Du mußt nicht aussehen wie ein Opfer, aber auch nicht als ob Du allzu froh wärest ju heirathen, denn alle sehen Dich an. Sprich dein Ja weder zu laut, noch zu leise, denke daran, daß du meine Tochter bist." Der Rath ist gut. Nun kniet sie nieder, und er tritt auf die andere Seite. Sie senkt den Kopf sehr tief. Unter ihrem Ell­ bogen guckt sie nach den Falten ihrer Schleppe. Sehen Sie, mit der Ferse schiebt sie das Kleid zurecht — ich sagte es ja. Eine hübsche Erscheinung, ganz in Weiß, vor dem Hochaltar mit den vielen Kerzen, der Priester in seinen prächtigen Gewändern, das schöne Orgelspiel, und dazu den Herkules im schwarzen Frack zum Mann! Jetzt blickt sie auf. Die Ringe liegen auf dem goldenen Teller auf dem Altar. Sie hat ihren noch nicht gesehen, und fragt sich, ob es ein glatter Goldreif ist oder ein Brillantring wie der von der Fürstin Valdarno. Nun denn — ego conjungo vos — beim Teufel, mein Freund, es ist ein schreck­ liches Schauspiel!" „Cyniker!" flüsterte Gouache, das Lachen unterdrückend. „So, nun ist es vorüber, und sie denkt schon daran, wie cs sein wird, heute Abend mit ihm allein bei Tische zu sitzen und so noch viele tausend Abende in Zukunft. Cyniker, sagten Sie? Es giebt keine Cyniker mehr. Sie sind alle verheirathet und müssen Stoiker werden, wenn sie es können. Wir wollen gehen. Ach nein, nun kommt die Messe. Knieen Sie nieder und beten für ihre Seelen, denn es steht schlimm um sie. Die Ehe ist Satans Treibhaus für Giftpflanzen. Wenn irgend etwas aus einem unschul-

46 digen Mädchen einen bösen Dämon machen kann, so ist es die Ehe. Wenn etwas einen rechtschaffenen Mann zum Teufel machen kann, so ist es der Ehestand. Beten Sie für die armen Wesen, wenn Sie noch Kraft zur Fürbitte in sich fühlen, nachdem Sie an Ihre eigene Seele gedacht haben, und das scheint mir, in Anbetracht Ihrer Heirathspläne, höchst unwahrscheinlich." Gouache sah seinen Gefährten verwundert an, denn Spicca's Bissigkeit setzte ihn in Erstaunen. Er war durch­ aus nicht intim mit ihm und hatte ihn nie seine Ansichten in irgend einer Richtung so deutlich aussprechen hören. Indessen fürchtete er sich nicht im geringsten, wie sonst die meisten Leute, vor dem schwermüthigen Italiener. „Nach Ihrer Art zu reden," versetzte Gouache, „könnte man fast glauben, Sic wären selbst verheirathet gewesen." Spicca sah ihn mit einem eigenthümlichen Ausdruck an; es lag darin sowohl Verwunderung wie Aerger; an­ statt eine Antwort zu geben, bekreuzte er sich und kniete auf dem Marmorboden nieder. Gouache folgte unwillkür­ lich seinem Beispiel. Eine halbe Stunde später ging die Menge langsam aus der Kirche; wer einen Wagen hatte, wartete in der großen Vorhalle, während die lange Reihe von Equipagen am Portal vorfuhr. Gouache schlüpfte von Spicca fort, in der Hoffnung, Faustina einen Augenblick zu sehen, ehe sie mit ihrer Mutter in einer der vielen Familienkutschen fortführe. Sant' Ilario und Corona standen an einem Pfeiler und sprachen leise mit einander. „Montevarchi sieht so aus, als ob er es wüßte," sagte Giovanni. „Was?" fragte Corona ruhig. „Daß seine Tochter die künftigeFürstin Saracinesca ist."

47 „Es wird sich zeigen, ob er recht hatte." Gouache war im Gedränge in eine Ecke des Pfeilers geschoben worden, während die beiden Sprecher vor einer der vier Halbsäulen standen, die den Pfeiler bildeten^ Die Worte setzten ihn dermaßen in Erstaunen, daß er sich Bahn brach, bis er das schöne Profil der Fürstin von Sant'Ilario deutlich im hellen Licht der Straße erkennen konnte. Sie sprach noch immer, aber er konnte nicht mehr ihre Stimme vernehmen; wahrscheinlich hatte ihm die eigenthümliche Akustik des Pfeilers das Bruchstück des Gespräches zugetragen, welches er soeben gehört hatte. Er glitt durch die Menge und erreichte eben das Portal, als der erste Wagen der Montevarchi vorfuhr. Die zahlreichen Mitglieder der Familie standen vorne an, und es gelang Gouache, einige Worte mit Faustina zu sprechen. Das zarte Antlitz des jungen Mädchens leuchete auf, als sie seine Anwesenheit bemerkte, und sie sah ihn liebevoll an. Sie trafen sich jetzt häufig in der Gesellschaft, obschon San Giacinto sein Möglichstes that, um sie von einander fern zu halten. „Hier ist ein Geheimniß im Spiel," flüsterte ihr Gouache rasch zu. „Ich habe eben gehört, daß Sant' Ilario zu seiner Frau sagte, Ihre Schwester sei die künftige Fürstin Saracinesca. Was hat das zu bedeuten?" Faustina sah ihn mit äußerster Verwunderung an. Es war klar, daß sie noch nichts von der Sache wußte. „Sie müssen falsch gehört haben", antwortete sie. „Werden Sie morgen zur Frühmesse kommen?" fragte er hastig, denn es war keine Zeit zu verlieren. „Ich will's versuchen, — wenn es möglich ist. Es wird jetzt eher gehen, da San Giacinto fort ist. Ich bin überzeugt, er weiß alles."

48 „San Giacinto?" Nun war es an Gouache, sich zu verwundern. Aber mitten in der Menge waren Ausein­ andersetzungen unmöglich, und Faustina war schon im Gehen. „Sprechen Sie nicht über das, was ich eben gesagt habe," flüsterte er ihr noch zu. Sie neigte schweigend ihr liebliches Haupt und ging weiter. Und so nahm der Marchese San Giacinto Flavia Montevarchi zur Frau, und ganz Rom sah es lächelnd mit an und erzählte sich allerlei unverbürgte Geschichten über sein Vorleben, gab aber dennoch zu, daß Flavia eine gute Par­ tie gemacht habe — die übliche Redensart —, weil der gigantische Bräutigam zweifellos ein Vetter der Saracinescas und noch dazu sehr reich märe. Allein unter all' den Schwätzern und Klätschern war keiner, der genug pro­ phetischen Blick hatte, um vorauszusagen, was in Wirklich­ keit nahe bevorstand, nämlich, daß der Marchese am Ende der Fürst wäre. Der letzte, welcher an eine solche Ueberraschung dachte, war San Giacinto selbst. Einst hatte er allerdings die Hoffnung gehegt, Ansprüche geltend zu machen, welche sicher­ lich auf Gerechtigkeit, wenn auch nicht auf gesetzlichen Be­ stimmungen begründet waren, da aber Montevarchi die darauf bezüglichen Dokumente so lange behielt und sie dann zurückschickte, ohne mit seinem künftigen Schwiegersohn darüber zu sprechen, hielt dieser es für klüger, die Sache für's Erste auf sich beruhen zu lassen, denn er war schlau genug sich zu sagen, daß ein Mann wie Montevarchi sich eine solche Gelegenheit, seine Tochter zu bereichern, nicht würde entgehen lassen. Wir wissen schon, daß Montevarchi absichtlich San Giacinto die Dokumente vorenthielt, damit er in der That kein Mitschuldiger an der Sache wäre,

49 wenn sie zum gerichtlichen Austrag käme — für den Erfolg des Prozeffes ein hochwichtiger Umstand. Eine halbe Stunde später befand sich San Giacinto allein mit dem alten Fürsten in deffen Privatzimmer, wel­ ches im Vergleich zu der glänzenden Gesellschaft in den Prunkgemächern doppelt armselig aussah. „Jetzt da wir allein sind, mein lieber Sohn," fing Montevarchi an, der sich ausnahmsweise nach der Trauung keinen anderen Rock angezogen hatte, „jetzt da Du wirk­ lich mein Sohn bist, muß ich Dir eine wichtige Mittheilung machen." San Giacinto setzte sich und an dem Ausdruck seines energischen Kinnes und seines festgeschloffenen Mundes konnte man sehen, daß er kampfbereit war. Er traute seinem Schwiegervater nicht im Geringsten und hätte sich nicht gewundert, wenn dieser einen Versuch gemacht hätte, das als Flavia's Mitgift an den Sachwalter eingezahlte Geld zurückzubekommen. Aber San Giacinto hatte alle nöthigen Vorsichtsmaßregeln getroffen und wußte recht gut, daß er nicht übervortheilt werden konnte. Montevarchi fuhr in sanftem Tone fort. „Ich habe dies als Ueberraschung für Dich aufgespart", sagte er. „Du bist natürlich in den letzten Wochen durch die Vorbereitung auf die erhebende Feier, der wir eben beigcwohnt haben, sehr in Anspruch genommen worden. Es war deshalb für Dich unmöglich, auf all' die Einzel­ heiten einzugehen, welche zu untersuchen und zu prüfen meine Sorge und mein Vorrecht gewesen ist. Denn es ist ein Vorrecht, welches wir hoch anschlagen sollten, für unsere Nächsten und Liebsten thätig zu sein. Ich bin jetzt im Begriff, Dir eine Sache von höchster Wichtigkeit mitzutheilen, welche, wenn sie zu glücklichem Ausgang geführt Crawford, Sant' Ilario. II. 4

50 wird, von unberechenbarem Einfluß auf Dein ganzes Leben sein wird. Laß mich Dir indessen im voraus sagen, damit Du mir keine unwürdigen Motive zutraust, daß ich keinen Dank erwarte, auch keinen Antheil an dem Dir bevorstehen­ den glänzenden Triumph. Wundere Dich nicht, wenn ich bei einer solchen Veranlassung starke Ausdrücke gebrauche. Ich habe alles geprüft, alles erwogen, die besten gesetzlichen Autoritäten zu Rathe gezogen und auch diejenigen befragt, ohne deren geistlichen Rath ich nichts Wichtiges unternehme. Mein geliebter Sohn, Du und kein anderer bist der wahre und rechtmäßige Fürst Saracinesca." Der Schluß dieser langen Rede war so unerwartet, daß SanGiacinto einen lauten Ausruf derUeberraschung ausstieß. „Erstaune nicht über das, was ich Dir mitgetheilt habe," sagte Montevarchi. „Die Documente, auf welche» die Ansprüche der Saracinescas beruhen, sind von einem weisen Mann abgefaßt worden. Obschon er damals nicht die Absicht hatte, sich zu verheirathen, wußte er wohl, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist, und fügte eine Clausel des Inhaltes hinzu, daß, falls er sich verheirathen und Leibeserben hinterlassen sollte, der ganze Vertrag null und nichtig wäre. Ich kenne die Geschichte Deiner Familie nicht genügend, um zu verstehen, weshalb weder er, noch sein Sohn oder sein Enkel jemals den Versuch machte, sein Geburtsrecht wieder zu erlangen, aber ich kenne die Gesetze genügend, um zu wissen, daß die Clausel noch gültig ist. Sie ist gleichlautend" — dabei lächelte der Fürst wohl­ gefällig, „sie ist gleichlautend im Original und in der im Archiv der Cancelleria aufbewahrten Abschrift. Nach mei­ ner Ansicht brauchst Du nur die beiden Documente einem zuständigen Tribunal vorzulegen, um einen unbedingten Entscheid zu Deinen Gunsten zu erlangen."

51 San Giacinto starrte unter seinen buschigen Augen­ brauen dem alten Fürsten in das schlaue Gesicht. Dann schlug er sich plötzlich mit der Faust in die flache linke Hand und sprang vom Stuhl auf mit einem wilden Blick des Triumphes in den Augen. Ein Weilchen ging er schweigend im Zimmer auf und ab. „Ich wünsche weder Giovanni noch seinem Vater etwas Böses", sagte er endlich. „Das verhüte der Himmel!" rief Montevarchi und bekreuzigte sich. „Und überdies, da Dir das ganze Ver­ mögen gehört, würde das garnichts helfen." San Giacinto starrte eine Minute vor sich hin, dann erschallte seine kräftige Stimme in herzlichem Lachen. Er hatte im Stillen die Ueberzeugung, daß sein frommer Schwiegervater nicht nur im Stande wäre, Andern Böses zu wünschen, sondern auch seine Wünsche auszusühren, wenn es seine eigenen Interessen fördern konnte. „Nun," sagte er, als seine Lustigkeit sich gelegt hatte, „ich wünsche ihnen nichts Böses. Aber im Grunde müssen sie doch wissen, was jene Documente enthalten, sie müssen wissen, daß ich der Fürst bin, und daß sie mir mein Erbe vorenthalten haben. Ich will hingehen und es ihnen sagen. Da kein Zweifel an der Sache ist, sehe ich nicht ein, wes­ halb ich zögern soll." „Ich auch nicht", sagte Montevarchi mit der Miene eines Mannes, der seine Schuldigkeit gethan hat und nun von einem Andern erwartet, daß er das Begonnene vollendet. „Es ist ein wahres Glück, daß wir uns entschlossen haben nach Frascati zu gehen, anstatt eine Reise bis an's andere Ende von Europa zu machen. Nicht als ob ich nicht Paris gerne sehen möchte, da ich cs noch nicht kenne." 4*

52 „Du wirst das Leben in Paris angenehmer finden, wenn Du erst Fürst Saracinesca bist." „Das ist wahr", sagte San Giacinto nachdenklich. Seine Augen leuchteten im Glanz des bevorstehenden Triumphes. „Willst Du dafür sorgen, daß die ersten Schritte in der Angelegenheit geschehen?" fragte er dann. „Ich werde die Advocaten für Dich besorgen. Das Uebrige aber mußt Du selbst thun. Die Advocaten könnten ja nach Frascati hinauskommen und alles mit Dir be­ sprechen. Du bist ja ein vernünftiger junger Mann und wirst nicht so sentimental sein, beständig mit Deiner Fran allein sein zu wollen." „Was das betrifft, so verspreche ich mir von dem Bei­ sammensein mit meiner Frau viel Vergnügen; aber, „wo so viel Fleisch gekocht wird, muß Einer auf den Topf auf­ passen," wie wir in Neapel zu sagen pflegen. Du weißt ja, ich bin ein praktischer Mensch." „Ach das ist eine vortreffliche Eigenschaft, eine der allerbesten! Wenn ich mein Leben in beständigen Flitter­ wochen mit der Fürstin verbracht hätte, so würde das Haus Montevarchi nicht sein, was es ist, mein Sohn. Ich habe stets meine größte Sorge auf die Angelegenheiten des Hauses und der Familie verwendet, und ich hoffe, Du wirst in diesen Traditionen fortfahren." „Fürchte nichts! Wenn Du mit der Fortsetzung der Traditionen meinst, daß ich mir nehmen werde, was mein ist, so werde ich Dich nicht enttäuschen. Kannst Du mir sagen, wann die Sache eingeleitet werden kann und vor welchem Gerichtshof sie verhandelt werden wird?" „Bei meinem Einfluß", versetzte Montevarchi, „kann der Fall sofort verhandelt werden. Ein Monat genügt für die Vorbereitungen, ein Tag für die Verhandlung. Durch

53 die Vorlegung der Dokumente wird alles sofort entschieden, denn sie sprechen in den deutlichsten Worten für Dich. Du kannst ja nach der Stadt kommen und sie selbst durchsehen. Aber ich halte das für ganz überflüssig. Die Advokaten werden alles in Ordnung bringen." „Entschuldige meine Neugierde, allein ich möchte gern wissen, weshalb Du es für gut befunden, mir nicht früher etwas von der Sache zu sagen." „Mein lieber Sohn, Du warst mit den Vorbereitungen zur Hochzeit so sehr beschäftigt, und die in Betracht kom­ menden Fragen schienen zuerst so schwierig, daß ich es sür's Beste hielt, Dich nicht damit zu belästigen. Als ich end­ lich der Wahrheit auf den Grund gekommen war, stand eure Hochzeit so nahe bevor, daß ich die Nachricht als eine Art Hochzeitsgeschenk für Dich aufsparte." „Allerdings ein großartiges Geschenk! Ich kann nicht Worte finden, um Dir meinen Dank dafür auszusprechen." „Nein, nein! sprich nicht von Dankbarkeit. Ich bin mir bewußt, eine heilige Pflicht zu erfüllen, indem ich dem Vaterlosen zu seinem Geburtsrecht verhelfe. Es ist eine That göttlicher Gerechtigkeit, zu deren Vollbringung ich als demüthiges Werkzeug ausersehen worden. Thue Deine Pflicht gegen meine Tochter und bringe dem Himmel Dei­ nen Dankbar — quae sunt Caesaris, Caesari, ot quae sunt Dei, Deo! Möchten wir nur alle diesem Gebote nachleben!" „Dem Saracinesca was sein ist und dem San Giacinto, was ihm gehört — meinst Du das?" „Ja, mein guter Sohn. Ich freue mich, daß Du Latein verstehst. Es macht Dir Ehre, daß Du trotz Deiner unglücklichen Jugend so viel gelernt hast, um die für Dei­ nen zukünftigen hohen Rang erforderliche Bildung zu be­ sitzen. Ich sage Dir offen, wenn ich in Dir nicht die seine

54 Bildung und die Kenntnisse gefunden hätte, ohne welche kein vornehmer Mann seines Namens werth ist, so hätte ich Dir trotz Deiner trefflichen persönlichen Eigenschaften, trotz des hohen Titels und des großen Besitzes, der bald Dein sein wird, doch nicht die Hand des holden Wesens gegeben, welches ich wie eine Blume in meinem Hause ge­ hegt habe, als den Schmuck meines Greisenalters." San Giacinto hatte den alten Montevarchi während des letzten Monats gründlich studirt und ließ sich durch seine abgerundeten Phrasen und hochtrabenden Gefühle nicht im mindesten täuschen. Er verbeugte sich lächelnd und er­ götzte sich eben so sehr an der ihm gespendeten Schmeichelei, als er sich ihrer unwürdig fühlte. Er hatte sich freilich redlich bemüht, sich einen gewissen Grad von Bildung an­ zueignen, wie sein Schwiegervater sich ausdrückte, und Ge­ schmack und Neigungen waren bei ihm keineswegs so roh, wie man es hätte erwarten können, allein er war ein zu verständiger Mann, um sich so leicht über sich selbst täuschen zu lassen, und er wußte recht gut, daß er seinen Erfolg seinem Vermögen verdankte. Er merkte auch, daß Monte­ varchi, als er ihm Flavia gab, schon die Möglichkeit, An­ sprüche auf die Rechte seines Vetters zu erheben, voraus­ gesehen hatte, und wäre er nicht mit seiner Wahl vollkommen zufrieden gewesen, so hätte er jetzt gefühlt, daß er getäuscht worden. Indessen empfand er kein Bedauern, denn er sagte sich, selbst wenn er schon im Besitz des ihm zustehenden Titels und Vermögens gewesen wäre, so hätte er doch Flavia zu seiner Gattin erwählt. Von allen jungen Mäd­ chen, die er in Nom gesehen, war sie die Einzige, die ihn wirklich anzog; vielleicht lag das daran, daß sie natürlicher war als die übrigen oder mehr so, wie nach seiner Ansicht eine Frau von Natur sein sollte. Sein rauhes Wesen hätte

55 nicht zu Faustina's Charakter gestimmt; noch viel weniger hätte er eine Frau wie Corona verstehen und schätzen kön­ nen, die ja fast für das Verständniß ihres eigenen Gatten zu hoch stand. San Giacinto war im Vergleich zu den jungen Leuten des Standes, dem er jetzt angehörte, beinahe ein Wilder, und in Flavia Montevarchi war auch etwas Wildes, und kaum Gezähmtes, was ihn von Anfang an bezaubert und an der Seite seines Wesens gepackt hatte, durch welche Wilde allein beherrscht werden. Wäre die Einleitung des Prozeffes etwas schneller be­ trieben worden, so hätten San Giacinto und seine junge Frau möglicherweise an jenem Sonnabend Nachmittag nach dem alten Schlöffe Saracinesca hinausfahren können, wie es Giovanni und Corona vor zwei und einem halben Jahre gethan hatten. So aber fuhren stc nach Frascati, um eine Woche in der Villa Montevarchi zuzubringen, wie es der Fürst und die Fürstin und all' ihre verheiratheten Kinder gethan hatten. „O wie bin ich froh!" rief Flavia und seufzte erleich­ tert auf, als der Wagen durch das dunkele Portal des Palastes hinausrollte. Dann lachte sie ein wenig und sah ihren Mann verstohlen mit ihren blanken schwarzen Augen an, darauf holte sie ein sehr hübsches silbernes Riechfläsch­ chen hervor, das ihre Mutter ihr als Abschiedsgeschenk in die Hand gedrückt hatte. Sie besah es, drehte es hin und her, machte es auf und roch daran. „Pfui!" rief sie, machte es schnell wieder zu und schnitt ein Gesicht. „Es ist Salz darin — gräßlich! Ich dachte, es wäre etwas Wohlriechendes! Dachte die Mama vielleicht, ich würde unterwegs ohnmächtig werden?" „Du siehst nicht danach aus", meinte San Giacinto, der in seinem weiten Pelz wie ein Riese aussah. Er legte

56 seine große Hand mit einer gewissen Zärtlichkeit auf ihre kleine und verdeckte diese sowohl wie das Riechfläschchen ganz und gar. „Also bist Du froh, wirklich? fragte er mit einem Schimmer der Freude in seinen tiefliegenden Augen. „Wenn Du unter der Aufsicht der eccellentissima casa. Montevarchi erzogen worden wärest, würdest Du begreifen^ was für eine segensreiche Einrichtung die Ehe ist. Du — wie soll ich Dich nennen — Du heißest Giovanni, nicht wahr?" „Ja, Giovanni, gefällt Dir der Name?" „Nein — ich muß dabei immer an das Haupt Johannes des Täufers denken. Ich will Dich Nino nennen. Ja^ das klingt so klein, und Du bist so ungeheuer groß. Bon jetzt ab bist Du Nino. Es freut mich so, daß Du groß bist. Ich kann Keine Männer nicht leiden." Sie schmiegte sich an den Riesen mit einem Lächeln, das ihm wohlgestel. San Giacinto entdeckte plötzlich, daß er viel verliebter wäre, als er es geglaubt hatte. Sein Leben war reich an Gegensätzen gewesen, dies aber war der größte, den er je erlebt hatte. Er dachte an einen Hellen Sommertag vor wenigen Jahren, als er mit Felice Baldi aus der Kirche in Aquila heimgegangen war. Die arme Felice! Sie hatte ein hübsches schwarzseidenes Kleid getragen, eine schöne goldene Kette um den Hals und einen Schleier auf dem Kopf, denn sie gehörte nicht zu der Klaffe, „die Hüte trägt", wie es in Rom heißt. Aber sie hatte ihre dicken Hände in Handschuhe gezwängt und der Gastwirth Giovanni war stolz auf ihr feines Aussehen. Ihr Gesicht war sehr roth gewesen und Thränen der Freude und Verschämtheit hatten in ihren Augen gestanden; er besann sich sehr gut darauf. Es war seltsam, daß auch sie so stolz auf die Größe und

57 Stärke ihres Mannes gewesen. Vielleicht sind alle Frauen ziemlich gleich. Wie genau erinnerte er sich des Hochzeits­ schmauses, der kleinen gelben Kuchen mit einem harten rosa Zuckerstern in der Mitte, der Flaschen süßen Liqueurs mit verschiedenen Würzen wie Zimmet, Nelken, Anis und der­ gleichen, des roch lackirten Theebrettes und der billigen buntbemalten Teller mit allerlei unmöglichen Blumen darauf. Felice war todt, sie ruhte auf dem Friedhofe von Aquila mit seinen entsetzlichen Monumenten und Emblemen hinter der weiß getünchten Mauer. Die arme Felice! Sie war ihm ein treues Weib gewesen und er ihr ein guter Gatte. Sie war ein so einfaches gutmüthiges Geschöpf gewesen, daß er sich beinahe vorstellen konnte, wie sie im Geiste Thränen befriedigten Stolzes darüber vergöffe, daß ihr Giovanni eine Fürstentochter geheirathet habe, reich sei und sich bald selbst in einen Fürsten verwandeln würde. Sie hatte gewußt, daß er ein Marchese aus alter Familie wäre, und ihn oft gebeten, sie Frau Marchesa nennen zu lassen. Aber er hatte ihr immer gesagt, für Leute in ihrer Stellung wäre das eine Albernheit. Für ihren Stand waren sie nicht arm, ja sie gehörten zu den wohlhabendsten ihrer Klasse in Aquila. Er hatte ihr versprochen, seinen Titel anzunehmen, wenn sie reich genug dazu sein würden, allein die arme Felice war zu früh gestorben. Dann war der große Tag gekommen, da Giovanni in der Lotterie gewonnen — Giovanni, der nie zuvor gespielt und sein Lebenlang das Spiel eine Geldverschwendung und priviligirte Räuberei genannt hatte! Als er aber ein Mal spielte, da setzte er hoch und am folgenden Sonnabend kamen all' seine Nummern heraus! Zweimalhunderttausend Francs an einem Tage! Solch' ein Glück fällt nur Menschen zu, die

58 unter einem günstigen Stern geboren sind. Giovanni hatte längst gewußt, was er thun wollte, wenn er Kapital hätte. Der Gewinn wurde ihm baar ausbezahlt, und vierzehn Tage darauf hatte er in der Provinz Aquila einen Contract mit der Regierung abgeschlossen. Bald darauf folg­ ten andere Unternehmungen. Alles verwandelte sich ihm unter den Händen zu Gold und binnen zwei Jahren war er ein reicher Mann. Als er mit seinen beiden kleinen Söhnen allein in der Welt dastand, überkam ihn das Verlangen, die Stellung einzunehmen, auf welche er ein gesetzliches Recht hatte, eine Stellung, welche ihn nach seiner Ansicht nicht daran hin­ dern konnte, sein Vermögen zu vermehren, falls er es wünschte. Er hatte die Kinder in der Obhut des alten Pfarrers, Don Paolo, zurückgelassen und war nach Rom gekommen, wo er in einem untergeordneten Hotel wohnte, bis er sich so ausgestattet hatte, daß er vor seinen Ver­ wandten als Gentleman erscheinen konnte. Sein ernster Character, seine unbezwingbare Energie und sein natür­ licher Scharfsinn hatten das Uebrige gethan, und das Glück hatte all' seine Bemühungen gekrönt. Das alte Blut der Saracinesca hatte sich durch die Beimischung einer keines­ wegs blauen Ader etwas vergröbert; aber was es in einer Hinsicht verloren, das hatte es in der anderen gewonnen, und der Typus war durchaus kein gemeiner. Der breit­ schultrige, braune Riese war nicht ganz des alten Stammes unwerth, und dessen war er sich bewußt, als seine junge Frau sich an ihn schmiegte. Er liebte das wilde Tempe­ rament an ihr, aber am meisten liebt er das vornehme Gepräge ihres Gesichtes, die Zartheit ihrer kleinen Hände, den aristokratischen Klang ihres Lachens, denn all' dies bekundete ihm, daß nach drei Generationen gesunkener Größe

59 er sich wieder zu der Höhe ausgeschwungen hatte, von der seine Vorfahren herabgesunken waren. Diese Umwälzung in seinem Leben erschien ihm höchst erfreulich, während all' diese Dinge rasch an seiner Seele vorübergingen; und mit dem Bewußtsein des starken Gegen­ satzes kam ihm auch die Gewißheit, daß er Flavia viel mehr liebte, als er es für möglich gehalten hatte. „Und wie soll ich Dich nennen?" fragte er. Er wußte nicht recht, ob es passend wäre, einen liebevollen Ausdruck zu brauchen oder nicht. Hier lag in seiner Erfahrung der schwache Punkt, allein er ersetzte diesen Mangel durch eine natürliche Zärtlichkeit, welche Flavia durchaus nicht unan­ genehm war. „Wie Du willst, lieber Mann," antwortete sie. San Giacinto fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg vor Vergnügen über diesen liebevollen Ausdruck. „Wie ich will?" fragte er mit ungewohntem Zittern der Stimme. „Ja — wenn Du mich nur lieb hast", versetzte sie. Er dachte, er hätte noch nie so bezaubernde schelmische Augen gesehen. Er zog ihr Gesicht näher an das seine und sah tief hinein, dann leuchteten seine Augen plötzlich in einer ihm ganz neuen Leidenschaft auf. „Ich will Dich gar nicht nennen — anstatt Dich zu nennen, will ich Dich küssen, — so — ist das nicht besser als jeder Name?" Eine dunkle Nöthe verbreitete sich über Flavia's Ant­ litz und schwand dann plötzlich; sie wurde sehr blaß. Eine lange Weile schwiegen Beide. „Hat Dir Dein Vater die große Neuigkeit mitgetheilt, ehe wir abfuhren?" fragte San Giacinto endlich, als sie auf der Via Latina durch die Campagna dahinrollten.

60 „Nein — was denn?" „Es ist eine sehr merkwürdige Neuigkeit. Wenn Du Dich vor einer Ohnmacht fürchtest, nimm lieber Dein Fläschchen mit Riechsalz heraus", setzte er scherzend hinzu. Flavia sah ihn betroffen an, als fürchtete sie, daß irgend etwas mit San Giacinto nicht ganz richtig wäre. Sie wußte wohl, daß ihr Vater sehr froh gewesen war, sie los zu werden. „Ich bin eigentlich doch nicht San Giacinto", sagte er ruhig. Flavia erschrak und fuhr zurück. „Was bist Du denn?" fragte sie rasch. „Ich bin der Fürst Saracinesca und Du bist die Fürstin." Er sprach sehr ruhig und sah ihr in's Gesicht, um den Eindruck dieser Mittheilung zu beobachten. „Ich wünschte, Du wärst es!" rief sie ängstlich. Sie fürchtete, er wäre nahe daran, den Verstand zu verlieren. „Es scheint kein Zweifel daran zu sein", antwortete er. „Dein Vater machte mir diese Mittheilung zum Hoch­ zeitsgeschenk. Er hat alle betreffenden Documente geprüft und wird die Advocaten nach Frascati hinausschicken, um mit mir das einzuleitende Verfahren zu berathen." Er erzählte ihr nun die ganze Geschichte genau. Wäh­ rend er sprach, nahm Flavia's Gesicht einen eigenthümlichen Ausdruck an, und als er zu Ende war, brach sie in einen beredten Erguß von Freude aus. „Ich wußte es ja, daß ich zur Fürstin geboren war, ich will eine richtige Prinzessin sein! Wie könnte ich auch etwas anderes sein? O ich bin so glücklich, und es ist so reizend von Dir, daß Du ein Fürst bist! Und wenn man bedenkt, daß wenn Papa nicht jene Documente entdeckt hätte, diese abscheulichen Saracinescas alles behalten hätten! Für­ stin Saracinesca! aber wie das klingt! Fast eben so gut

61 wie Orsini, und viel netter mit Dir, Du großer, prächtiger Löwe! Warum haben sie Dich nicht Leo genannt? Es ist zu gut, als daß es wahr sein könnte! Und ich habe Corona nie leiden können, schon als ich noch ein kleines Mädchen war und sie die Astrardente, weil sie zu sagen pflegte, daß ich nicht artig wäre, und daß Faustina viel hübscher wäre. Ich hörte sie das sagen, während ich hinter der Gardine stand. Warum hast Du es nur nicht früher entdeckt? Denke, was wir für eine Hochzeit hätten haben können, ganz wie die Sant' Jlario's! Aber unsere war doch sehr schön und wir haben natürlich über nichts zu klagen. Evviva! Evviva! Bitte gieb mir eine von Deinen Ciga­ retten, ich habe noch nie in meinem Leben geraucht und jetzt bin ich so angeregt, daß ich überzeugt bin, es wird mir nicht schaden." San Giacinto hatte sein Etui in der Haud und hielt es ihr lachend hin. Trotz seiner äußeren Ruhe war er doch der Glücklichere von den Beiden, denn er war viel tieferer Gefühle fähig als das wilde Mädchen, das jetzt seine Frau geworden. Er freute sich auch über ihr Entzücken, denn er wußte recht gut, wenn er den Prozeß gewonnen hätte, würde er den Beistand einer ehrgeizigen Frau brauchen, um seine Stellung aufrecht zu erhalten. Er glaubte nicht, daß die Saracinescas sich ruhig in einen so gewaltigen Um­ sturz ihrer Verhältnisse ergeben und sah voraus, daß viele ihrer Freunde ihren Groll theilen würden. Flavia sah reizender als je aus, wie sie das Papier­ röllchen zwischen ihre rothen Lippen steckte und mit unverhältnißmäßiger Energie lospaffte. Er hätte nicht geglaubt, daß eine überraschend gute Nachricht ihr, die schon so hübsch und lebhaft war, einen noch so viel lebendigeren strahlen­ den Ausdruck geben könnte. Sie strahlte wirklich, während

62 sie erst in seine Augen und dann auf ihre Cigarette blickte, und ihn dann wieder lachend ansah und mit ihren kleinen Fingern schnalzte. „Weißt Du," sagte sie dann mit einem Blick, der San Giacinto's Herz vollends eroberte, „ich dachte, ich würde Dir gegenüber zuerst sehr schüchtern sein — und ich bin es gar nicht! Ich gestehe, in dem Augenblick als Du mir den Ring an den Finger stecktest, dachte ich, wovon wir nur während der Fahrt sprechen würden." „Du dachtest nicht, daß der Gegenstand unseres Ge­ spräches so angenehm sein würde, nicht wahr?" „Nein — und der Ring ist so hübsch! Ich wünschte mir immer einen Reif von Diamanten, glattes Gold ist so gewöhnlich. Fiel es Dir selbst ein oder machte Dir Jemand den Vorschlag?" „Castellani') sagte, ein Brillantring wäre altmodisch," antwortete San Giacinto, „aber mir gefiel er besser." „Hättest Du nicht auch gern einen gehabt?" „Nein, für einen Mann wäre das lächerlich." „Du hast einen sehr guten Geschmack", sagte Flavia und sah ihn mit kritischen Blicken an. „Wo hast Du ihn her? Du hattest doch ein Hotel in Aquila, nicht wahr?" San Giacinto war schon lange auf diese Frage gefaßt gewesen, er zuckte mit keiner Miene und zeigte nicht die geringste Verlegenheit. Ruhig lächelnd antwortete er: „Du würdest es kaum ein Hotel genannt haben. Es war ein ländliches Gasthaus. Ich denke, ich werde Saracincsca um so bester verwalten, weil ich ein Gasthaus geführt habe." „Natürlich. Ach, ich habe so einen köstlichen Einfall! Laß uns nach Aquila gehen und zusammen ein Gasthaus *) Castellani, ein berühmter römischer Jnwelier.

63 halten. Es würde solch ein Spaß sein! Du könntest ja sagen, Du hättest eine Krämerstochter aus Rom geheirathet. Nur für einen Monat, Nino — bitte, thu' es! Es würde solche nette Abwechselung nach dem Leben in der Gesellschaft sein, und zum Carneval könnten wir ja zurückkommen. — Ach, bitte, thu es doch!" „Aber Du vergissest den Prozeß." — „Ja, das ist wahr. Uebrigens Fürstin Saracinesca zu werden, wird eben so gut eine Abwechselung sein. Wir können es aber ein ander Mal thun. Ich möchte so gern mit einer Schürze und einem rothbaumwollenen Tuch auf dem Kopf herumgehen und all die komischen Leute sehen. Wann werden die Advocaten kommen?" „Ich denke im Lauf der Woche." „Es wird einen Kampf kosten," sagte Flavia mit ern­ sterer Miene. „Was wird Sant' Ilario und sein Vater thun und sagen? Ich kann nicht glauben, daß es so glatt abgehen wird, wie Du denkst. Sie sehen mir nicht danach aus, als ob sie leicht aufgeben würden, was sie so lange besessen haben. Ich vermuthe, sie werden gänzlich ruinirt. sein." „Ich weiß es nicht. Corona selbst ist sehr reich und Sant' Ilario hat das Vermögen seiner Mutter. Natürlich werden sie im Vergleich zu ihrem jetzigen Reichthum arm sein. Sie thun mir leid." — „Leid?" Flavia sah ihren Mann verwundert an. „Es ist ihre eigene Schuld. Weshalb sollten sie Dir leid thun?" „Es ist eigentlich nicht ihre Schuld. Ich konnte doch kaum erwarten, daß sie zu mir kämen und mir mittheilten, es wäre im vorigen Jahrhundert ein Versehen gemacht wor­ den, und ihr ganzer Besitz gehörte mir."

64 „Ihr ganzer Besitz!" wiederholte Flavia nachdenklich. „Was für ein wunderbarer Gedanke!" „Höchst wunderbar!" stimmte San Giacinto bei, der wieder an seine frühere Armuth dachte. Der Wagen rollte weiter und Beide schwiegen ein Weilchen, in den Traum von der Größe versunken, die in der nächsten Zukunst vor ihnen lag. San Giacinto zählte im Stillen all' die Titel und Güter auf, welche bald ihm gehören würden, und Flavia dachte sich an Corona's Stelle in Rom, plötzlich zu einer Hauptperson in der Gesellschaft geworden, die glänzenden Lustbarkeiten ihres Kreises organifirend und anordnend, vor allem aber freute sie sich auf den verschwenderischen Gebrauch des Ueberflnffes an Geld, der ihr immer als wünschenswerthester Genuß erschie­ nen war.

Viertes Kapitel. Faustina Montevarchi war von Herzen froh, als Flavia endlich verheirathet und aus dem Hause war. Die beiden Schwestern hatten sich zwar immer sehr gut gestanden; allein Faustina merkte, daß sie in San Giacinto einen Feind habe, und fühlte sich durch seine Abwesenheit erleich­ tert. Sie hatte keinen besonderen Grund für ihren Arg­ wohn, da er sie mit derselben ruhigen und freundlichen Höflichkeit behandelte wie alle Uebrigen im Hause; aber ihr Tact war fein und richtig, und sie hatte bemerkt, daß er sie, wenn Gouache im Zimmer war, immer in einer für sie höchst peinlichen Weise beobachtete. Ueberdies hatte er in letzter Zeit Flavia bewogen, sie Sonntags zur Frühmesse zu begleiten und zwar unter dem Vorwande, daß er Flavia ohne die sonst unvermeidliche Aufsicht der alten Fürstin zu

64 „Ihr ganzer Besitz!" wiederholte Flavia nachdenklich. „Was für ein wunderbarer Gedanke!" „Höchst wunderbar!" stimmte San Giacinto bei, der wieder an seine frühere Armuth dachte. Der Wagen rollte weiter und Beide schwiegen ein Weilchen, in den Traum von der Größe versunken, die in der nächsten Zukunst vor ihnen lag. San Giacinto zählte im Stillen all' die Titel und Güter auf, welche bald ihm gehören würden, und Flavia dachte sich an Corona's Stelle in Rom, plötzlich zu einer Hauptperson in der Gesellschaft geworden, die glänzenden Lustbarkeiten ihres Kreises organifirend und anordnend, vor allem aber freute sie sich auf den verschwenderischen Gebrauch des Ueberflnffes an Geld, der ihr immer als wünschenswerthester Genuß erschie­ nen war.

Viertes Kapitel. Faustina Montevarchi war von Herzen froh, als Flavia endlich verheirathet und aus dem Hause war. Die beiden Schwestern hatten sich zwar immer sehr gut gestanden; allein Faustina merkte, daß sie in San Giacinto einen Feind habe, und fühlte sich durch seine Abwesenheit erleich­ tert. Sie hatte keinen besonderen Grund für ihren Arg­ wohn, da er sie mit derselben ruhigen und freundlichen Höflichkeit behandelte wie alle Uebrigen im Hause; aber ihr Tact war fein und richtig, und sie hatte bemerkt, daß er sie, wenn Gouache im Zimmer war, immer in einer für sie höchst peinlichen Weise beobachtete. Ueberdies hatte er in letzter Zeit Flavia bewogen, sie Sonntags zur Frühmesse zu begleiten und zwar unter dem Vorwande, daß er Flavia ohne die sonst unvermeidliche Aufsicht der alten Fürstin zu

65 sehen wünschte. Der Plan war schlau; denn anstatt daß Faustina mit Gouache sprechen konnte, mußte sie die Ehren­ dame spielen, während ihre Schwester und San Giacinto sich nach Herzenslust unterhielten. Er war indesien ein discreter Mann' und Flavia erfuhr nicht, daß Faustina und Anastasius bisweilen in gleicher Weise zusammengetroffen waren und es noch öfter gethan haben würden, wären sie nicht daran verhindert worden. Das junge Mädchen war klug genug um einzusehen, weshalb San Giacinto so handeite, sie verstand sehr gut, daß er, der im Begriffe stand in ihre Familie einzutreten, ihre Neigung zu Gouache miß­

billigte. Als er nun fort war, fragte sie sich, ob er etwa Schritte gethan hätte, die nach seiner Abwesenheit wirksam sein könnten. Faustina war eben so verliebt wie Gouache selbst und sann beständig darüber nach, auf welche Weise sich ihre Wünsche zu einem glücklichen Ausgang führen ließen. Ohne Anastasius zu leben, war ihr unmöglich, aber die Aussicht, im gewöhnlichen Lauf der Dinge seine Frau zu werden, war sehr gering, und es überkamen sie oft Anfälle tiefster Niedergeschlagenheit, in denen sie an allem verzweifelte. Die Liebe eines ganz jungen Mädchens kann an sich stark und beständig sein, gewöhnlich aber macht sie sie zu einem Uebermaß von Hoffnung und Furcht geneigt, schwankend in ihrem Denken, und unsicher in allem, was sich auf die kleinen Ereigniffe des alltäglichen Lebens bezieht. Wenn man zwei gleiche Gewichte in die Schalen einer richtig ab­ gestimmten Wage legt, so schwingt der Wagebalken viel­ mals unsicher hin und her, ehe er wieder seine normale Stellung annimmt, obschon in der Maschine die Kraft des Gleichgewichtes vorhanden ist, die sich schließlich in voll­ kommener Ruhe erweisen wird. (Snirof orb, Sant' Ilario. II.

5

66 Bei einem jungen Wesen ist die Liebe selten intereffant, wenn nicht daneben heroische oder tragische Verhältnisse obwalten. Das menschliche Leben ist einem Schachspiel sehr ähnlich, bei dem die Anfangszüge so beschränkt find, daß ein geübter Spieler sie alle auswendig weiß, während die darauf folgenden Züge unendlich mannigfaltig sind. Fast alle jungen Leute machen in den ersten Phasen ihres Lebens gewisse Schachzüge durch, die einen gewissen, selten aber einen durchaus entscheidenden Einfluß auf ihr späteres Leben haben. Die Partie wird von dem Menschlichen auf der einen, von dem Unvorhergesehenen auf der anderen Seite gespielt, aber das, was sich wirklich nicht voraussehen läßt, tritt selten ein, ehe die Liebe ihre erste Wirkung gethan hat, ein Zeitpunkt, welcher, um bei dem Gleichniß zu bleiben, mit dem Rochiren im Schachspiele verglichen werden kann. Dann kommt die Krisis, und selbst jeder Neuling weiß, wie viel davon abhängt, ob er auf der Seite des Königs oder der Königin rochirt. Faustina's erste Liebe war derart, daß sich ein unge­ wöhnliches Ende voraussehen ließ. Es lag etwas Verhängnißvolles in der Plötzlichkeit, mit der ihre Neigung gewachsen war und ihre Urtheilskraft aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Sicherlich würde kaum ein junges Mädchen unter einer Million so gehandelt haben wie sie an jenem Abend, als der Aufstand in Nom ausbrach; von hunderttausend würde nicht eine ihres Standes sich in Gouache verliebt haben. Die Stellung eines Künstlers oder Schriftstellers von Beruf ist in der modernen europäischen Gesellschaft nicht genau besinnt. Eben so wie Jemand, der in einem Palaste aufgewachsen, sich früher oder später durch seine Manieren

67 verrathen würde, wenn er Plötzlich unter eine Räuberbande versetzt würde, so wird auch ein Mann, der in der Atmo­ sphäre des Ateliers oder in dem eigenthümlichen Kreise gelebt hat, aus welchem die meisten Schriftsteller hervor­ gegangen sind, unvermeidlich bisweilen die Gefühle des Theiles der Menschheit verletzen, welcher sich „die Gesell­ schaft" nennt. Es kann unmöglich anders sein. In einem Kreise von Leuten, deren Beruf es ist, immer und in allen Stücken genau das zu thun, was die Andern auch thun, muß ein Mann, der davon lebt das zu thun, was die an­ dern Leute nicht thun können, immer eine auffallende Per­ sönlichkeit sein. Seht euch die moderne Gesellschaft an. Sie arbeitet nicht und spinnt nicht; sie kann kaum einen Satz von zehn Wörtern grammatisch richtig zu Stande bringen. Aber sie versteht sich anzuziehen. Der Schrift­ steller kann sowohl arbeiten als gutes Englisch schreiben, aber sein Geschmack in der Schneiderkunst läßt oft viel zu wünschen übrig. Wenn er sich Poole (oder sonst einem berühmten Schneider) in die Hände geben und den Mund halten wollte, so könnte er beinahe für ein Mitglied der „Gesellschaft" gelten. Aber er muß durchaus sprechen und seine Sprache verräth ihn als Galiläer. Es giebt in der Gesellschaft manche witzigen Leute, die fast über jeden be­ liebigen Gegenstand etwas Originelles fein und scharf ab­ gerundet sagen können und das so obenhin, mit einer Ueberlegenheit, bei der dem wissenschaftlich Gebildeten die Haare zu Berge stehen. Das besonders Charakteristische an einem Manne, der von seinem Verstände lebt, ist, daß er nicht nur über gewisse Dinge logisch und zusammen­ hängend sprechen kann, sondern daß er es wirklich thut, was in der Gesellschaft als ein entsetzlicher Verstoß gegen die feine Sitte gilt.

68 Er möge doch schreiben, was er zu sagen hat, und es drucken lasten, die Gesellschaft wird ihn entweder gar nicht verstehen oder geheim im Kämmerlein seine Werke mit einem Lexicon lesen. Wenn er aber den Mund halten will, so wird ihm die Gesellschaft eine Taffe Thee reichen und ihn beinahe wie einen Menschen behandeln, auf daß es heiße, daß sie Kunst und Wiffenschaft protegire. Wer den Thee der „Gesellschaft" gern hat, der mag sich satt daran trinken, unter der Bedingung, daß er einen guten Rock trägt und seine Weisheit für sich behält, aber es wird ihm ohne harten Kampf nicht gelingen, eine Schwester, Tochter oder Cousine aus der „Gesellschaft" zu heirathen. Anastasius Gouache begriff das nicht recht. Er be­ fand sich manchmal in einem Kreise, wo ihm unbekannte Personen rückhaltlos besprochen wurden. Bei solchen Ge­ legenheiten schwieg er und nahm einfach an, daß seine Unkenntniß nichts auf sich habe, und das in einem Kreise, wo die Unkenntniß jeder Einzelheit über jeden Andern bei­ nahe so schlimm ist, als ob man ein Ausgestoßener wäre! „Nun erzählen Sie mir alles über den Scheidungs­ prozeß von „Snooks und Montmorency," sagt Lady SmithTompkins mit süßem verbindlichen Lächeln, während sie euch die Hand reicht. „Ich weiß gar nichts von dem Prozeß — ich kenne die Leute gar nicht", lautet eure Antwort. „Ach! ich dachte natürlich, Sie wüßten es ganz genau", erwiederte Lady Smith-Tompkins und ihre Züge versteinern sich, als ihr klar wird, daß ihr nicht alle Welt kennt, und damit überläßt sie euch eueren eigenen Gedanken. 0 Thackeray! Snobissime maxime! wie gut kanntest du sie! Es giebt keine Snobs unter den lateinischen Völkern,

69 aber ein schlimmeres Geschöpf — den Sykophanten, der direct von den Gasttafeln des alten Rom abstammt. In allen modischen Häusern giebt es deren oft mehrere, so zu sagen das „giornale ambulante“, die wandelnde Zeitung, deren Geschäft es ist, im Laufe des Tages Neuigkeiten zu sammeln, um sie der Familie Abends zu erzählen. Da sitzt eine gewiffe alte Fürstin Abend für Abend mit ihrer Hand­ arbeit oben an einem langen Tische in dem öden Saale eines riesigen Palastes. Zu beiden Seiten sitzen die alten Parasiten, der Hausarzt, der Hauskaplan, der Anwalt und der Bibliothekar des Hauses, die wandelnde Zeitung und all die übrigen. „Ich bin heute aus gewesen", sagt ihre Excellenz. „Ach! So? Wirklich? Bei dem Wetter! Hören Sie, was die Fürstin sagt! Die Fürstin ist aus gewesen!" So geht der Chor um den Tisch herum und alle Antworten erreichen zugleich das Ohr der Fürstin. „Und im Vorüberfahren habe ich das neue Monument gesehen. Was ist das für ein abgeschmacktes Ding." „Hohoho! Hahaha! Nein wirklich! Was für ein Monument! Welch feinen Geschmack die Fürstin hat! Hören Sie nur, was die Fürstin über das Monument sagt!" Und so geht es ein paar Stunden fort in dem kalten, matt erleuchteten Zimmer, bis die Fürstin genug davon hat und aufsteht, um zu Bett zu gehen, dann ziehen sich all' die Parasiten zurück und zanken sich mit einander auf dem Heimwege. Abend für Abend; Jahr aus Jahr ein, erzählt die alte Dame ihre kleinen Erlebnisse des Tages den be­ wundernden Zuhörern, deren zustimmender Chor jeden Tag mit derselben Regelmäßigkeit vollführt wird. Die Zeiten haben sich verändert, es ist nicht mehr so leicht, einen Für-

70 ften zu unterhalten, und der Sykophant hat folglich die Kunst der Unterhaltung erlernt, indessen giebt es noch einige merkwürdige Exemplare aus der alten Schule. Anastasius Gouache war ein hochbegabter Künstler von immer steigendem Rufe, aber gleich anderen Leuten seiner Art nahm er lieber an, daß er um seiner selbst willen und nicht bloß seines Ruhmes wegen von Anderen auf freundschaftlichem Fuße ausgenommen werde. In seinen eigenen Augen war er als Mann eben so viel werth, wie die Leute, mit denen er umging, und hatte eben so gut das Recht, um Faustina Montevarchi zu werben, wie der junge Frangipani, für den ihr Vater sie bestimmt hatte. Faustina war noch zu jung, um die Macht der Vorurtheile zu er­ messen, von denen sie umgeben war. Sie konnte nicht be­ greifen, daß der junge Mann, den sie liebte, obwohl er talentvoll, von angenehmem Aeußern und erfolgreich in seinem Beruf war, ja die Aussicht hatte, sich ein Vermögen zu erwerben, doch als Gatte für sie ganz undenkbar sein sollte. Und wenn sie das auch noch so klar eingesehen hätte, würde es doch in ihren Gefühlen kaum einen Unterschied gemacht haben; aber sie sah es nicht, und die geringschätzi­ gen Bemerkungen über Anastasius, welche sie gelegentlich von ihren eigenen Angehörigen hörte, schienen ihr eben so ungerecht wie unbegründet. Die Folge davon war, daß die beiden jungen Leute sich eine jener furchtbaren Ent­ täuschungen bereiteten, deren Nachwirkungen oft noch nach einigen zwanzig Jahren fühlbar sind. Beide waren in­ dessen zu sehr von ihrer Liebe erfüllt, als daß sie die Span­ nung noch länger ertragen konnten, ohne etwas zu thun, wodurch der Gang der Eretgniffe beschleunigt werden sollte, und so oft sie Gelegenheit dazu hatten, besprachen sie ihre Pläne und bauten die herrlichsten Luftschlösser.

71 Etwa vierzehn Tage nach der Hochzeit von San Giacinto saßen sie am späten Nachmittag neben einander in einem gefüllten Salon. Sie hatten eine Weile über gleich­ gültige Dinge gesprochen. Wenn zwei Personen zusammen­ kommen, die sehr verliebt in einander sind, und ihre Zeit mit Unterhaltung über unwichtige Dinge vergeuden, so läßt sich mit Sicherheit voraussagen, daß bald etwas Ungewöhn­ liches geschehen wird. „Ich kann diese Spannung nicht länger ertragen", sagte Gouache endlich. „Ich auch nicht", antwortete Faustina. „Es lohnt nicht länger zu warten. Entweder wird Ihr Vater einwilligen oder nicht. Ich will ihn fragen und das Schlimmste hören." „Und wenn es das Schlimmste ist — was dann?" Das junge Mädchen sah Anastasiius mit verstörten Blicken an. „Dann müssen wir uns ohne seine Einwilligung be­ helfen." „Wie ist das möglich?" „Es muß möglich sein, und wenn Sie mich lieben, so wird es möglich sein," versetzte Gouache. „Es handelt sich nur um Muth und guten Willen. Aber am Ende wird Ihr Vater einwilligen. Warum nicht?" „Weil" — sie stockte. „Weil ich kein römischer Fürst bin, meinen Sie?" Gouache sah sie scharf an. „Nein. Er will, ich soll Frangipani heirathen." „Weshalb haben Sie mir das niemals gesagt?" „Als wir uns zuletzt sahen, wußte ich es selbst noch nicht. Meine Mutter sagte es mir erst gestern Abend."

72 „Ist die Sache abgemacht?" fragte Gouache.

Er war

sehr blaß geworden. »Ich glaube, sie ist besprochen worden," antwortete Faustina leise. Sie zitterte ein wenig und preßte die Hände zusammen. Es entstand eine kurze Pause; Gouache ver­ wandte kein Auge von ihr, während sie zu Boden sah und seinen Blicken auswich. „Dann ist keine Zeit zu verlieren", sagte Gouache endlich. „Ich werde morgen Vormittag zu Ihrem Vater gehen." „Ach nein! nein! thun Sie es nicht!" rief Faustina plötzlich mit dem Ausdruck höchster Angst. „Warum denn nicht?" fragte er sehr verwundert. „Sie kennen ihn nicht! Sie ahnen nicht, was er zu Ihnen sagen wird! Sie werden sich ärgern und heftig wer­ den; er wird grausam sein und Sie beleidigen und Sie werden es übel nehmen, und dann werde ich Sie nie mehr Wiedersehen."--------„Das ist etwas ganz Neues", sagte Gouache. „Wie wissen Sie denn so genau, daß er mich so schlecht empfan­ gen wird? Hat man über mich gesprochen? Ich bin doch am Ende ein Ehrenmann, und wenn ich auch von meiner Arbeit lebe, so bin ich doch nicht arm. Freilich bin ich keine so passende Partie für Sie wie Frangipani. Sagen Sie mir, spricht Ihre Familie schlecht von mir?" „Nein, was könnten sie denn sagen, als das Sie ein Künstler sind? Das ist doch keine Beleidigung oder Ver­ leumdung." „Es kommt daraus an, wie es gesagt wird. Ver­ muthlich sagt das San Giacinto." Gouache's Antlitz ver­ düsterte sich. „San Giacinto hat die Wahrheit errathen", antwortete

73 Faustina kopfschüttelnd. „Er weiß, daß wir uns lieben, und gerade gegenwärtig hat er großen Einfluß aus meinen Vater. Es wird noch schlimmer sein, wenn er den Prozeß gewinnt und Fürst Saracinesca wird." „Das ist ein Grund mehr, um sofort zu handeln. Faustina — einst folgten Sie mir — wollen Sie nicht mit mir gehen, fort aus dieser verfluchten Stadt? Ich will mich ehrenhaft benehmen. Aber wenn er nicht seine Einwilligung giebt, was bleibt uns dann zu thun übrig? Können wir ohne einander leben? Können Sie Frangipani heirathen? Haben nicht viele vor uns das gethan, woran wir jetzt denken? Ist es unrecht? Gott weiß, ich mache keinen Anspruch auf Heiligkeit; aber ich möchte nicht, daß Sie etwas thäten, das — wie soll ich es sagen — das gegen Ihr Gewißen wäre." In dem Lachen, welches diese letzten Worte begleitete, lag etwas Bitterkeit. „Sie wißen nicht, was er sagen wird!" wiederholte Faustina in verzweifeltem Tone. „Dies ist absurd", sagte Gouache. „Ich werde schon vertragen können, was er sagen wird. Er ist ein alter Mann und ich bin ein junger und habe nicht die Absicht, etwas übel zu nehmen. Er mag sagen, was er will; er mag mich einen Schurken nennen, einen Briganten — das ist ja der beliebte italienische Ausdruck — einen Dieb, einen Lügner, was er will. Ich werde nicht böse werden. Es soll kein heftiger Auftritt stattfinden. Aber ich kann diesen Zustand nicht länger ertragen. Ich muß mein Glück versuchen." „Warten Sie noch ein wenig", versetzte Faustina in flehendem Tone. „Warten Sie bis der Prozeß entschie­ den ist." „Damit San Giacinto noch mehr Einfluß gewinnt,

74 als er schon hat? Das wäre nicht richtig! Sie sagten ja vor einer Weile beinahe dasselbe. Ueberdies kann der Pro­ zeß Jahre dauern. „Er wird keine vierzehn Tage dauern." „Der arme Sant'Ilario!" rief Gouache. „Wissen schon alle darum?" „Ich glaube ja; aber Niemand spricht darüber. Es ist uns allen schrecklich, außer meinem Vater, San Giacinto und Flavia." „Wenn er in guter Laune ist, so ist es gerade der geeignete Zeitpunkt, zu ihm zu gehen." „Bitte, bitte, bestehen Sie nicht darauf!" Faustina nahm es jedenfalls sehr ernst. Sie hielt sich mit der gan­ zen Kraft der Jugend an dem halben Glück der Gegenwart, das so viel größer war als alles, was sie bisher erlebt hatte. Aber Gouache wollte sich nicht zufrieden geben. „Ich muß das Schlimmste wissen", sagte er nochmals als sie sich trennten. „Aber dies ist so viel besser als das Schlimmste", ant­ wortete Faustina traurig. „Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht", entgegnete der junge Mann mit frohem Lächeln. Allein trotz seiner Hoffnungsfreudigkeit hatte ihm die Nachricht von der beabsichtigten Verbindung mit dem jungen Frangipani doch einen argen Schreck eingejagt. Es war ihm nie eingefallen, daß er der Nebenbuhler eines solchen Bewerbers sein sollte, und ihm ward bange bei dem Ge­ danken. Plötzlich sah er seine Stellung in der römischen Gesellschaft in ihrem wahren Lichte, und als er sie sich voll­ kommen klar machte, entsank ihm beinahe der Muth. Als er an seine Kindheit, seine Jugend und an die Verhält­ nisse dachte, in denen er bis vor kurzem gelebt hatte, konnte

75 er kaum begreifen, daß er ein solches Mädchen heirathen wollte, trotz ihrer Familie und trotz solch eines Mannes, der jetzt als ihr Bewerber austrat. Es lag indessen nicht in seiner Natur, sich durch Schwierigkeiten entmuthigen zu lassen. Er glich einem tapferen Manne, der einen betäu­ benden Schlag erhalten hat, aber dennoch weiter kämpft, bis er seinen Platz wiedergewonnen hat. Gouache konnte Faustina eben so wenig entsagen, als er ein halb vollen­ detes Bild, das ihm gut schien, hätte aufgeben können, eben so wenig als er den Versuch aufgegeben hatte, die Steine an der Vigna Santucci loszubrechen, nachdem er den Schuß in die Schulter erhalten hatte. Er hatte sich seine Stellung durch unermüdliche Ausdauer und festes Selbstvertrauen erworben und diese Eigenschaften sollten ihn jetzt in einem der kritischsten Momente seines Lebens nicht verlassen. Trotz Faustina's Warnung und gewissermaßen gegen seine eigene bessere Ueberzeugung, beschloß er unver­ züglich vor den alten Fürsten hinzutreten und kühn um seine Tochter zu werben. Er hatte zu Faustina zuversichtlich von ihrer Verheirathung auch gegen den Willen ihres Vaters gesprochen, als er aber diese Möglichkeit von neuem in's Auge faßte, fiel ihm eine Thatsache ein, die er über seinen Heirathsplänen fast ganz vergessen hatte. Er war Soldat und hatte sich auf eine bestimmte Reihe von Jahren bei den Zouaven anwerben lassen. Allerdings durfte er hoffen durch den ihm zu Gebote stehenden Einfluß seine Entlassung zu erhalten, allein das widerstrebte ihm. Vor dem Gefecht bei Mentana wäre es ganz unmöglich gewesen, denn es hätte wie eine Feigheit ausgesehen. Jetzt da er sich ausgezeichnet und für die gute Sache eine Wunde davongetragen hatte, konnte es ohne Unehre geschehen, immerhin aber wäre es

76 eine Art von Demüthigung, der er sich nicht unterwerfen mochte. Wenn er aber das Ende seiner Dienstzeit abwar­ tete, so setzte er sich der Gefahr aus, Faustina ganz zu ver­ lieren. Er war überzeugt davon, daß sie ihn liebte, aber er hatte Erfahrung genug, um zu wissen, daß ein junges Mädchen nicht immer im Stande ist, dem auf sie ausge­ übten Drucke zu widerstehen, wenn es sich um ihre Verheirathung handelt. In Rom, und namentlich zu jener Zeit, stand es in der Macht der Eltern, die gewaltsamsten Mittel anzuwenden, um den Willen ihrer Kinder zu beugen. Es gab sogar ein Gesetz, kraft dessen ungehorsame Söhne oder Töchter auf lange Zeit eingesperrt werden konnten, wenn der Vater nachwies, daß sein Kind sich seinem ge­ rechten Willen widersetzt hatte. Obschon Gouache dies nicht wußte, schloß er doch aus der Thatsache, daß es in seinem Vaterlande ein solches Gesetz gab, darauf, daß in Rom dasielbe der Fall sein dürfte. Angenommen, daß Montevarchi ihn abweise, und daß Faustina sich weigerte, den jun­ gen Frangipani zu hcirathen, war cs nur zu wahrschein­ lich, daß sie eingesperrt werden würde — wenn auch in einem hübsch möblirten Gefängniß — um über ihre Ver­ irrungen nachzudenken. Es stand keineswegs fest, daß sie angesichts solcher Leiden und Demüthigungen auf ihrem Widerstande beharren würde, ja man konnte ihr kaum einen Vorwurf daraus machen, wenn sic endlich nachgäbe. Gouache glaubte au die Aufrichtigkeit ihrer Liebe, weil die Sache ihn anging, hätte er sie von einem anderen gehört, so würde er über den Gedanken gelacht haben, daß ein acht­ zehnjähriges Mädchen einer ernsten Leidenschaft fähig sein sollte. Es ist indessen nicht nöthig, die bei Faustina oder Gouache obwaltenden Gefühle und Motive weiter zu analy-

77 streit. Sie sind in die Geschichte der Saracinesca durch das, was sie thaten, verflochten und nicht durch die Ge­ danken, welche sie dabei leiteten. Es genügt zu berichten, daß Gouache den tollkühnen Gedanken faßte, Montevarchi um seine Zustimmung zu der Heirath zu bitten, und dann die unmittelbaren Folgen dieses Schrittes zu erklären. Es stand eine Krisis bevor. San Giacinto hatte in Frascati mit den Advocaten gesprochen und war bald darauf mit seiner Frau nach Rom zurückgekehrt, um an Ort und Stelle zu sein, während die Verhandlungen eingeleitet wur­ den. Die Sachverständigen erklärten, der Fall wäre sehr einfach, und kein Gerichtshof könnte die Entscheidung auch nur um einen Tag hinausschieben, nachdem er die Documente gesehen, auf welchen die Ansprüche beruhten. Der einzige in Frage stehende Punkt war San Giacinto's Iden­ tität, und ohne Schwierigkeit wurde durch vollgültige Be­ weise festgestellt, daß er wirklich Giovanni Saracinesca und kein Deiniger wäre. Sein Vater und sein Großvater hatten alle erforderlichen Familienpapiere sorgfältig aufbewahrt, von dem Trauschein des Don Leo mit dessen eigenhändiger Unterschrift; bis zum Geburtsschein des San Giacinto. Beglaubigte Abschriften aus den Kirchenbüchern und den wenigen gerichtlichen Documenten, welche vor 1860 tut Königreich Neapel amtlich aufbewahrt worden, wurden bei­ gebracht und die Rechtsgelehrten erklärten sich bereit, die Verhandlungen zu eröffnen. Bis dahin wurde auf San Giacinto's eigenes Ansuchen das Geheimniß streng bewahrt. Er sagte, er wünsche nicht, daß von einer so wichtigen Sache irgend etwas verlaute, bis er zum Handeln bereit sei; besonders da den Saracinescas der wahre Stand der Dinge nicht unbekannt sein konnte und sie kein Recht hatten, von der Klage etwas im voraus zu erfahren. Wie Corona

78 vorausgesehen, beabsichtigte San Giacinto die Entscheidung durch einen vollkommen gesetzlichen Richtspruch zu erlangen und war redlich willens, die von ihm zu erhebenden An­ sprüche prüfen und untersuchen zu laffen. Als der Augen­ blick gekommen und alles bereit war, begab er sich nach dem Palast Saracinesca und ließ sich beim Fürsten melden; dieser empfing ihn in demselben Zimmer wie vor drei Mo­ naten, als der Ex-Gastwirth sich ihm zum ersten Male in Rom vorgestcllt hatte. Als San Giacinto eintrat, war er sich bewußt, diese kurze Zwischenzeit gut ausgenutzt zu

haben. „Ich komme, um mit Dir über eine Geschäftssache zu sprechen, die für Dich unangenehm sein muß," hub er an. „Leider läßt es sich nicht vermeiden. Ich bitte Dich zu glauben, daß es mein Wunsch ist, recht und billig zu handeln." „Das hoffe ich", sagte Saracinesca und sah unter sei­ nen buschigen grauen Augenbrauen den Sprecher mit seinen scharfen alten Augen fest an. „Du brauchst nicht daran zu zweifeln," versetzte San Giacinto nicht ohne Stolz. „Zweifellos ist Dir der In­ halt des Vertrages bekannt, wodurch unsere Urgroßväter die Uebertragung der Titel und Besitzungen auf die jün­ gere Linie vereinbarten. Als wir zum ersten Male darüber sprachen, wußte ich nichts von der Clausei mit einem be­ stimmten Vorbehalt. Ich kann nicht annehmen, daß sie Dir unbekannt ist. Die Clausel bestimmt, daß wenn Leo Saracinesca sich verheiratete und rechtmäßige Erben hin­ terließe, der Vertrag null und nichtig sein sollte. Wie Du weißt, verheiratete er sich. Ich bin sein direkter Nach­ komme und habe selbst Kinder aus erster Ehe. Ich kann deshalb die betreffende Clausel nicht länger außer Kraft

79 lassen. Mit aller Dir gebührenden Hochachtung muß ich Dir offen sagen, daß ich, dem Gesetz nach, der Fürst Saracinesca bin." Nachdem er so den Stand der Dinge so klar als mög­ lich dargethan hatte, faltete San Giacinto seine großen Hände über dem Knie und lehnte sich in den Stuhl zurück. Saracinesca sah aus, als ob er eine heftige Antwort geben wollte, er bezwang sich indessen und stand auf. Nachdem er zwei Mal im Zimmer auf und ab gegangen war, stellte er sich gerade vor seinen Vetter hin. „Laß uns offen und deutlich reden", fing er an. „Ich gebe Dir mein Wort darauf, daß ich nicht wußte, was in jenen Papieren steht, bis Montevarchi fie mir neulich zurück­ schickte. Seit dreißig Jahren hatte ich sie nicht angesehen, und damals war mir die Clausel entgangen. Ich kann mich nicht erinnern, sie je bemerkt zu haben. Das mag daran gelegen haben, daß ich niemals erfuhr, Leo hätte noch lebende Nachkommen, und daß ich deshalb den Worten keinen Werth beigelegt haben würde, selbst wenn ich fie gelesen hätte." „Ich glaube Dir", sagte San Giacinto ruhig. Des alten Fürsten Augen funkelten. „Ich nehme es stets als selbstverständlich an, daß man mir glaubt," antwortete er. „Willst Du mir Dein Wort darauf geben, daß Du bist, was Du zu sein behauptest, Giovanni Saracinesca, Leo's Urenkel und rechtmäßiger Erbe?" „Gewiß. Ich versichere bei meiner Ehre, daß ich es bin, und auch ich erwarte, daß mir geglaubt wird." In dem Ton dieser Antwort lag etwas, das in Sara­ cinesca eine sympathische Saite berührte. San Giacinto war aufgestanden, seine hohe hagere Gestalt, der kühne

80 Ausdruck seiner Augen, der Klang seiner tiefen Stimme hatte etwas Achtunggebietendes. Er war rauh, nicht be­ sonders verfeinert oder zum Weltmann erzogen, ja vielleicht grausam und hochmüthig; aber jeder Zoll an ihm war ein Saracinesca, und das fühlte der alte Fürst. „Ich glaube Dir", antwortete er. „Du kannst den Besih antreten, sobald es Dir beliebt. Ich bin Don Leo, und Du bist das Haupt der Familie." Er machte eine würdevolle Bewegung, als ob er hier in diesem Augenblicke seinen Namen und das Haus, in dem er wohnte, demjenigen abträte, der ein gesetzliches Recht auf Beides hatte. Dieses Benehmen war großartig und des Mannes würdig. Eine vornehme Mißachtung der Folgen lag in seiner Bereitwilligkeit, lieber alles aufzu­ geben, als auch nur einen Augenblick zu behalten, was ihm nicht gehörte. San Giacinto war tief davon ergriffen. Um ihm gerecht zu werden, muß man sich daran erinnern, daß er nicht die leiseste Ahnung davon hatte, daß er das Werkzeug eines ungeheuren Betruges wäre, von dem er den Hauptvortheil haben sollte. Er verneigte sich unwillkürlich in Anerkennung des Edelmuthes seines Vetters. „Ich werde mir Deine Großmuth nicht eher zu nutze machen", sagte er, „bis das Gesetz mich dazu berechtigt hat." „Wie Du willst", versetzte der Andere. „Ich habe vor dem Gesetz nichts zu verhehlen, aber ich habe ein Vorurtheil gegen Advocaten. Thue was Dir gut dünkt. Ein Familien­ rath kann die Sache eben so gut zum Austrag bringen wie ein Gerichtshof." „Dein Vertrauen zu mir ist großmüthig und edel. Ich ziehe es indeffen vor, die Sache durch das Gericht ent­ scheiden zu lassen." „Wie Du willst", wiederholte Saracinesca. Es lag

81 kein Grund vor, die Unterredung, welche keinem von Beiden angenehm sein konnte, länger auszudehnen. Der alte Mann blieb stehen. „Der Antrag wird auf keinen Widerstand stoßen", sagte er. „Du brauchst bloß die Papiere in ge­ setzmäßiger Form beizubringen, und ich werde mich für zu­ friedengestellt erklären." Er reichte ihm die Hand. „Ich hoffe, Du wirst mir nicht grollen," sagte San

Giacinto befangen. „Weil Du nimmst, was Dir gehört und nicht mir? Nicht im mindesten. Guten Abend." San Giacinto verließ das Zimmer. Als er fort war, blieb Saracinesca noch einen Augenblick still stehen, dann sank er auf einen Stuhl. Seine starke Natur hatte ihn während der Unterredung aufrecht erhalten und sollte ihn bis zum Ende aufrecht halten, allein er war furchtbar er­ schüttert und empfand ein sonderbares dumpfes Gefühl im Hinterkopf, das ihm völlig neu war. Einige Minuten saß er still wie betäubt, sich seiner kaum bewußt. Dann stand er wieder auf, schüttelte sich, als wolle er einen bösen Traum loswerden, und schellte. Er ließ Giovanni rufen, der sofort erschien. „San Giacinto ist hier gewesen", sagte er rasch. „Er ist der Erbe. Sage es lieber Deiner Frau; sie wird doch ihre Sachen cinpacken wollen, ehe wir das Haus verlaffen." Giovanni war bestürzt durch seines Vaters Hast. Der Gefahr war er sich bewußt gewesen, doch war sie ihm immer in ungewisser Form erschienen. „Ich nehme an, daß doch erst ein gerichtliches Ver­ fahren stattfinden wird, ehe alles entschieden ist," sagte er mit größerer Ruhe, als er empfand. Crawford, Sant' Ilario.

II.

82 „Was geht uns das an? Früher oder später muffen wir fort." „Und wenn das Gericht nicht zu seinen Gunsten ent­ scheidet, was dann?" „Es ist nicht daran zu zweifeln", antwortete der Fürst. „Wir Beide sind gar nichts. Wir thäten besser, in einem Hotel zu leben. Der Mann ist ehrlich. Ich Haffe ihn, aber er ist ehrlich. Was stehst Du da und starrst mich an? Hast Du nicht zuerst gesagt, daß wir alles freiwillig abtreten müßten, wenn wir die unrechtmäßigen Besitzer sind? Und nun scheinst Du zu denken, daß ich einen Pro­ zeß führen soll! Das ist Deine Logik. Das ist die Con­ sequenz, welche Du auf Deinen Reisen gelernt hast! Geh und sag' Deiner Frau, daß ich nichts bin, daß Du nichts bist! Geh und bitte sie um einen Titel, um einen Namen, bei dem die Leute Dich nennen können! Geh auf den Markt und sieh ob Du einen Namen für Deinen Vater finden kannst. Geh und miethe ein Haus, worin wir wohnen können, wenn der neapolitanische Teufel Flavia Montevarchi hierhergebracht hat, um den Palast zu bewohnen, in dem Deine Mutter starb, in dem Du geboren wurdest, — Du armer Giovanni! Nicht als ob ich Dich mehr bedaure wie mich selbst! Warum sollte ich's? Du bist jung und hast diesem Hause die Ehre erwiesen, den größten Theil Deines Lebens außerhalb deffelben zuzubringen, aber ich sage doch — armer Giovanni!" Saracinesca ergriff die Hände seines Sohnes und sah ihm in die Augen. Das Gesicht des jungen Mannes war vollkommen ruhig, fast heiter in seiner Gleichgültigkeit gegen das Mißgeschick. Seine ganze Seele war von größeren und edleren Gefühlen erfüllt als solchen, welche Verlust irdischen Besitzes erregen kann. Er war wieder bei Corona

83 gewesen, hatte mit ihr gesprochen und in ihrem Gesichte den Ausdruck gesehen, welchen er mehr fürchtete als er je etwas in seinem Leben gefürchtet hatte. Was war ihm selbst das Leben ohne das, was ihre Augen versagten."

Fünftes Kapitel.

Der Fürst Montevarchi war höchlich überrascht, als Anastasius Gouache ihm gemeldet wurde, und da er sich eben ganz in die Einzelheiten des Prozeffes versenkt hatte, war er zuerst geneigt, den Besuch uicht anzunehmen. Ob­ schon er keine Ahnung davon hatte, wie weit es zwischen dem Zouaven und seiner Tochter bereits gekommen, war er doch nicht so blind wie Faustina annahm. Er war von Natur beobachtend, wie die meisten Leute, welche ihr Leben der Förderung ihrer eigenen Interessen widmen, und es war ihm nicht entgangen, daß in Gesellschaft Faustina und Gouache sehr häufig mit einander sprachen. Hätte er Sinn für Humor besessen, so wäre es ihm wahrscheinlich unbe­ schreiblich komisch vorgekommen, daß es Gouache einfallen könnte, sich in die junge Dame zu verlieben; aber die Italiener sind nicht humoristisch, und der Gedanke war dem alten Herrn nicht gekommen. Er ließ sich geneigt finden, Gouache zu empfangen, weil er dadurch eine gute Gelegen­ heit zu finden glaubte, dem jungen Mann eine Vorlesung über seine geringe Stellung zu halten und über die An­ maßung, sich so öffentlich einer Tochter des Hauses Monte­ varchi zu nähern. „Guten Tag, Monsieur Gouache," sagte er feierlich, „bitte, nehmen Sie Platz. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?"

83 gewesen, hatte mit ihr gesprochen und in ihrem Gesichte den Ausdruck gesehen, welchen er mehr fürchtete als er je etwas in seinem Leben gefürchtet hatte. Was war ihm selbst das Leben ohne das, was ihre Augen versagten."

Fünftes Kapitel.

Der Fürst Montevarchi war höchlich überrascht, als Anastasius Gouache ihm gemeldet wurde, und da er sich eben ganz in die Einzelheiten des Prozeffes versenkt hatte, war er zuerst geneigt, den Besuch uicht anzunehmen. Ob­ schon er keine Ahnung davon hatte, wie weit es zwischen dem Zouaven und seiner Tochter bereits gekommen, war er doch nicht so blind wie Faustina annahm. Er war von Natur beobachtend, wie die meisten Leute, welche ihr Leben der Förderung ihrer eigenen Interessen widmen, und es war ihm nicht entgangen, daß in Gesellschaft Faustina und Gouache sehr häufig mit einander sprachen. Hätte er Sinn für Humor besessen, so wäre es ihm wahrscheinlich unbe­ schreiblich komisch vorgekommen, daß es Gouache einfallen könnte, sich in die junge Dame zu verlieben; aber die Italiener sind nicht humoristisch, und der Gedanke war dem alten Herrn nicht gekommen. Er ließ sich geneigt finden, Gouache zu empfangen, weil er dadurch eine gute Gelegen­ heit zu finden glaubte, dem jungen Mann eine Vorlesung über seine geringe Stellung zu halten und über die An­ maßung, sich so öffentlich einer Tochter des Hauses Monte­ varchi zu nähern. „Guten Tag, Monsieur Gouache," sagte er feierlich, „bitte, nehmen Sie Platz. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches?"

84 Anastasius hatte sich zu der Unterredung eine ganz neue Uniform angezogen, seine Bewegungen waren mehr als gewöhnlich behende und sein Auftreten etwas förmlicher und feierlicher als bei sonstigen Gelegenheiten. Er fühlte und benahm sich wie junge Leute aus guter Familie thun, welche ihr Jahr abdienen und hoffen, daß sie in ihrem besten Waffenrock bei nicht allzu Heller Beleuchtung für Offiziere gehalten werden können. „Wollen Sie mir erlauben, Ihnen zuerst meine Ver­ hältnisse darzulegen?" fragte er, indem er sich setzte und seine Mütze langsam in den Händen herumdrehte. „Ihre Verhältnisse? Gewiß, wenn Sie es wünschen. Es ist eine vortreffliche Regel, bei allen Reden die Defi­ nition dem Argument vorauszuschicken. Wenn Sie mich indessen über die Art der Angelegenheit aufklären wollten, würde ich Sie vielleicht besser verstehen." „Es ist eine überaus zarte, allein ich will versuchen, mich kurz zu fassen. Was ich bin, denke ich, ist Ihnen schon bekannt. Ich bin ein Maler und glaube, ich habe Erfolg gehabt. Gegenwärtig bin ich Zouave, allein der Dienst behindert mich nicht wesentlich in meinem Beruf. Wir haben viel freie Zeit. Meine Bilder.bringen mir mehr ein, als ich ausgeben kann." „Ich gratulire Ihnen", bemerkte Montevarchi und riß seine kleinen Augen verwundert auf. „Die Ausübung der schönen Künste ist im allgemeinen nicht besonders einträg­ lich. Was mich betrifft, so gestehe ich, daß ich mich mit den Schätzen begnüge, welche mir mein Vater hinterlassen hat. Ich bin allerdings ein großer Liebhaber von Bildern; aber Sie verstehen, wenn eine Galerie gefüllt ist, so ist sie voll. Das begreifen Sie doch, nicht wahr? Wie gern ich auch einige Werke der neueren französischen Schule besitzen

85 möchte, so macht doch der Umstand, daß ich schon so viel Gemälde besitze, und die noch mehr in's Gewicht fallende Rücksicht aus mein beschränktes Vermögen, ja beschränkt — ich versichere Sie"--------„Verzeihen Sie", unterbrach ihn Gouache plötzlich roth werdend. „Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen den Ankauf eines meiner Bilder vorzuschlagen. Es ist nicht meine Ge­ wohnheit, mich selbst anzupreisen oder Bestellungen nach­ zusuchen." „Mein lieber Herr Gouache!" rief der Fürst, als er sah, daß er auf falscher Fährte war. „Habe ich das denn gesagt? Wenn meine Worte eine solche Deutung zuließen, bitte, so nehmen Sie meine Entschuldigung an. Da Sie über Kunst sprachen, wendeten sich meine Gedanken natür­ lich auf meine Gemäldegalerie. Ich freue mich sehr Ihres Erfolges, denn Sie wißen, wie viel Antheil wir alle an dem nehmen, der das Opfer eines zweifellos durch die Nach­

lässigkeit meiner Leute herbeigeführten Unfalls war." „Bitte, kommen Sie darauf nicht zurück! Ihre Gast­ freundschaft hat das, was ich zu leiden hatte, und viel war es ja nicht — mehr als ausgeglichen. Die Angelegenheit, in der ich Sie zu sprechen wünsche, ist eine sehr ernste, und ich hoffe, Sie glauben, daß ich sie wohl erwogen habe, ehe ich einen Schritt thue, der Sie zunächst überraschen wird. Um es deutlich auszusprechen, ich bitte Sie, mir die Hand von Donna Faustina Montcvarchi zu schenken." Montevarchi sank sprachlos vor Verwunderung auf seinen Stuhl zurück. Er schien nach Lust zu schnappen und seine Finger packten die grüne Tischdecke vor ihm. Gouache fürchtete, ihm würde unwohl. „Sie!" schrie der alte Mann mit gebrochener Stimme, als er sich hinlänglich erholt hatte, um sprechen zn können.

86 „Ja", versetzte Anastasius, dem sehr beklommen zu Muthe wurde, als er die ersten Folgen seines Antrags wahrnahm. Er hatte sich bis dahin nie recht klar gemacht, wie unerhört die Partie dem Fürsten erscheinen würde. „Ja", wiederholte er. „Ist der Gedanke so erstaunlich? Ist es Ihnen so undenkbar, daß ich Ihre Tochter liebe? Können Sie nicht begreifen"--------„Ich begreife, daß Sie ganz von Sinnen sind!" rief der Fürst und starrte seinen Besuch noch immer in höchstem

Erstaunen an. „Nein, ich bin nicht von Sinnen. Ich liebe Donna Faustina." „Sie! Sie wagen es, Faustina zu lieben! Sie, ein Maler, ein Mensch, der einen Beruf hat und nichts weiter, als was er verdient! Sie, ein Zouave, ein Mann ohne Namen, ohne" — — „Sie sind ein alter Mann, Fürst, aber die Thatsache, daß ich Ihnen einen ehrenhaften Antrag gemacht habe, giebt Ihnen nicht das Recht, mich zu beleidigen." Diese Worte wurden in scharfem bestimmten Ton gesprochen und brachten Montevarchi zur Besinnung. Er war ein entsetz­ licher Feigling und ließ es sich lieber viel kosten, als daß er einem zornigen Mann entgegengetreten wäre. „Sie beleidigen? Mein bester Herr Gouache, es fällt mir ja gar nicht ein!" versetzte er in einem ganz anderen Tone. „Aber, mein lieber Herr Gouache! ich fürchte, die Sache ist rein unmöglich. Erstens ist die Vermählung meiner Tochter bereits eine abgemachte Sache. Die Unter­ handlungen sind seit einiger Zeit im Gange, — sie wird Frangipani heirathen — Sie müssen es gehört haben. Und überdies bei aller Achtung vor der Stellung, welche Sie durch Ihr immenses Talent erreicht haben, — ja

87 immense, mein lieber Freund, ich bin der Erste, der das behauptet, — so nöthigt mich die Unbeständigkeit aller menschlichen Dinge doch, für sie ein Vermögen zu suchen, welches mehr auf dem gewöhnlichen materiellen Besitz be­ ruht als auf den göttlichen Gaben des Genies, die Ihnen in so reichem Maße verliehen sind." Der Uebergang vom Zorn zur Schmeichelei war so Plötzlich, daß Gouache verwirrt wurde und keine Worte zur Erwiderung finden konnte. Montevarchi's Augen hatten den Ausdruck des Erstaunens verloren und ein verbindliches Lächeln spielte um seinen verkniffenen Mund, während er sich langsam die knochigen Hände rieb und bei jedem Satze seiner schönen Rede mit dem Kopfe nickte. Anastasius sah indessen, daß für die Annahme seines Antrages auch nicht die leiseste Hoffnung vorhanden wäre, und sein Gefühl sagte ihm, daß er diesen Ausgang eigentlich immer erwartet hatte. Er fühlte sich nicht enttäuscht, und es schien ihm, als be­ finde er sich genau in derselben Lage wie vor dieser Aus­ sprache. Andererseits war er empört über die Worte, welche Montevarchi in den ersten Augenblicken der Wuth und Ueberraschung entschlüpft waren. Ein Maler, ein Mensch mit einem Beruf, ohne Namen! Gouache war zu ehrlich, um nicht den Stachel jeder dieser Wahrheiten zu empfin­ den, während sie ausgesprochen wurden. Er hätte sich ohne falschen Stolz vielleicht auf ganz ähnliche Weise bezeichnet, allein diese Abschätzung seiner selbst von einem Andern als die richtige zu vernehmen, — das war hart! Ein Maler, ja — er war stolz darauf. Ein Mann mit einem Beruf, ja, — ist es nicht ehrenwerther durch gute Arbeit Geld zu verdienen, als zu ererben, was Andere in früheren Zeiten zusammengestohlen haben? Ein Mann ohne Namen, — hatte der seine nicht schon einen guten Klang, und war es

88 nicht besser, den Namen Gouache durch eigene Leistungen berühmt zu machen, als Orfini zu heißen, weil die Vor­ fahren dieses Geschlechtes wild und ruchlos gewesen wie Bären, oder Sciarra, weil einer der Ahnen dem Papst in's Gesicht geschlagen hatte? Ohne Zweifel war es edler, aus eigener Kraft in der Ausübung einer schönen Kunst groß zu werden, als eine Größe zu ererben, welche ursprünglich durch größere Raubgier und größere Körperkraft begründet worden war, als die gewöhnlichen Zeitgenossen jener Ge­ schlechter besessen hatten. Dennoch empfand Gouache zu seiner Schande, daß er in jenem Augenblicke wünschte, er könnte seinen Namen in Frangipani verwandeln, und seine Selbständigkeit, auf welche er so stolz gewesen, wurde bis auf ihre Grundvesten erschüttert, als er einsah, daß trotz Ruhm, Ehre und Genie er nie werden könnte, was der feige, geizige, lügnerische Greis ihm gegenüber durch seine Geburt war — ein römischer Fürst. Dieser Schluß war zugleich unaussprechlich demüthigend und im höchsten Grade lächerlich. Er kam sich in seinen eigenen Augen lächerlich vor und war sich bewußt, daß auf seinem Gesicht ein Lächeln spielte, welches Montevarchi nicht verstehen konnte. Der alte Herr redete uoch weiter. „Ich kann Ihnen nicht sagen," fuhr er fort, „wie sehr ich cs bedauere, daß es ganz außer meiner Macht steht, eine Bitte zu erfüllen, welche augenscheinlich aus den besten Beweggründen, ja ich darf wohl sagen, aus dem Herzen selbst hervorgeht. Die Sorgen für ein Haus wie das meine, erfordern eine Umsicht, eine beständige Aufmerksamkeit und selbstlose Hingebung, welche wir nun hoffen können, durch unermüdliche"--------Er wollte sagen „durch unermüdliche Zuflucht zum Gebet zu erreichen," allein es fiel ihm ein, daß Gouache

89 vermuthlich nicht religiös gesinnt wäre, und so sagte er statt beffen: „durch unermüdliches Nachdenken über den Gegen­ stand zu erreichen. Als Römer umgeben von Römern, muß ich auf die Traditionen meines Landes bei allen wich­ tigen Veranlassungen im Leben Rücksicht nehmen. Glanben Sie mir, ich bitte Sie darum, ich würde mich herzlich freuen, Ihre Hand zu ergreifen und Sie Sohn zu nennen. Aber wie soll ich handeln? Was kann ich thun? Kehren Sie in Ihr Vaterland zurück, lieber Monsieur Gouache, denken Sie nicht mehr an uns, noch an unsere Töchter, heirathen Sie eine Frau aus Ihrem eigenen Volke, so wer­ den Sie nicht in Ihren Träumen von ehelichem Glück ge­ täuscht werden." „Mit andern Worten, Sie weigern sich entschieden, meinen Antrag anzuhören?" Gouache hatte nnterdeffen so weit die Fassung wiedergewonnen, um die Frage ruhig aussprechen zu können. „Leider ja!" erwiederte der Fürst mit einer Miene erheuchelten Bedauerns, welche den jungen Mann ganz außer sich brachte. „Ich kann nicht daran denken, obschon Sie wirklich ein höchst angenehmer junger Mann sind." „In dem Falle will ich Ihre Zeit nicht länger in An­ spruch nehmen", sagte Gouache, der zu fürchten anfing, er könne seine Fassung verlieren. Als er die breite Marmortreppe hinabging, überwäl­ tigte ihn sein Abscheu vor dem alten Heuchler, und seine Wuth brach los. „Das sollst Du mir dereinst büßen, Du alter Schurke!" sagte er laut und ganz wild. Montevarchi blieb noch in seinem Studirzimmer, nach­ dem Gouache fort war. Ein säuerliches Lächeln verzerrte seine dünnen Lippen mehr und mehr, bis der alte Mann

90 endlich in ein lautes Gelächter ausbrach, das schrill von der gewölbten Decke niederhallte. Es wurde an die Thüre geklopft und seine Lustigkeit verschwand augenblicklich. Arnoldo Meschini trat in's Zimmer. In seinem Auftreten lag etwas Ungewöhnliches, das dem Fürsten sofort auffiel. „Ist etwas vorgefallen?" „Etwas Großes. Die Sache ist gewonnen. Ew. Ex­ cellenz Schwiegersohn ist der Fürst Saracinesca." Die Augen des Bibliothekars funkelten frohlockend und auf seinen Wangen war eine leichte Rothe, die seltsam gegen seine gelbe Haut abstach. Ein widerliches Lächeln machte sein kluges Gesicht häßlicher als gewöhnlich. Er stand Halbenwegs zwischen der Thür und seinem Brodherrn, mit ungeschickt herabhängenden Armen, den Kopf etwas vorge­ streckt, die Kniee ein wenig eingeknickt: aus Gewohnheit nahm er eine unterwürfige Stellung ein, verrieth aber durch seinen Blick, daß er sich als den Herrn seines Herrn fühlte. Montevarchi fuhr auf, als er die Nachricht vernahm. Dann beugte er sich rasch über den Tisch, wie gewöhn­ lich kratzte er mit den Fingern langsam auf dem grünen Tuch. „Sind Sie dessen ganz sicher?" fragte er mit bebender Stimme. „Haben Sie den Richtspruch bei sich?" Meschini holte ein zerrissenes Taschenbuch hervor und zog ein gestempeltes Papier daraus hervor, welches er sorgsam entfaltete und dem Fürsten überreichte. „Hier ist die beglaubigte Abschrift. Sehen Sie selbst." Montevarchi überlas hastig das kleine Document, sein Gesicht röthete sich allmälig, bis es fast violett wurde und das Papier zitterte in seiner Hand. Es war klar, daß ihm alles nach Wunsch gelungen und daß seine kühnsten Er-

91 Wartungen erfüllt waren. Seine Gedanken richteten sich plötzlich wieder auf Gouache, und er lachte über die Dreistig­ keit des jungen Mannes. „War Saracinesca auf dem Gericht?" fragte er dann. „Nein. Keiner der Betheiligten war erschienen, nur die beiderseitigen Advocaten. Es kam gar nicht zu einem Prozeß. Auf Seiten des Herrn Marchese wurden die Pa­ piere vorgelegt, welche seine Identität beweisen, sowie das Original des Vertrages. Von Seiten des Fürsten wurde erklärt, daß Seine Excellenz von der Gerechtigkeit der For­ derung überzeugt wäre und keinen Widerspruch leisten würde. Darauf fällte der Gerichtshof die Entscheidung, daß der Herr Marchese der in der Clausel vorgesehene Erbe wäre und somit berechtigt zum Genuß all' der Vortheile, welche ihm kraft dieser Erbschaft zustünden; da aber von den Be­ klagten kein Widerstand beabsichtigt wurde, so sollten die nachfolgenden Verhandlungen der Familie überlasien blei­ ben, das Gericht behielt sich nur das Recht vor die Uebergabe durchzusetzen, falls späterhin Schwierigkeiten entstehen sollten. Natürlich wird die Auseinandersetzung einige Mo­ nate in Anspruch nehmen, da der Herr Marchese nur die directe Erbschaft seines Urgroßvaters erhalten wird, wäh­ rend die Saracinescas alles behalten, was ihnen während der letzten vier Generationen durch Ehebündnisse zuge­ fallen ist." „Natürlich. Wer wird bei der Auseinandersetzung be­ iheiligt sein?" „Ich vermuthe halb Nom. Es wird eine endlose Ar­ beit sein." „Aber San Giacinto ist Fürst. Am nächsten Epi­ phaniastage wird er für seine Titel die Huldigung dar­ bringen."

92 „Ja. Er muß zehn Pfund Wachs und eine silberne Schale darbringen, — billig genug!" bemerkte Meschini grinsend. Es muß hier erklärt werden, daß die Familien vom römischen Adel alle zu einem jährlichen Tribut von rein nominellem Werth verpflichtet waren, welchen sie dem Papst zum Epiphaniasfest darbrachten. Die Sitte war eine feu­ dale, denn bis zum Jahre 1870 war der Papst der Lehns­ herr des ganzen Adels. Der Tribut bestand gewöhnlich aus einem bestimmten Gewicht reinen Wachses, oder einem silbernen Geräth von bestimmtem Werth, manchmal aus beidem zugleich. AIs ein Beispiel für das Fortbestehen solcher Sitten in andern Ländern will ich eine alte irlän­ dische Familie anführen, die bis zum heutigen Tage von einer andern einen jährlichen Tribut erhält, der abwechselnd in Gestalt einer goldenen Rose oder eines goldenen Sporns entrichtet wird. „Also haben wir alles gewonnen!" rief Montevarchi nach einer Pause und sah den Bibliothekar scharf an, als ob er in seinen Gedanken lesen wollte. „Wir haben alles gewonnen, und Ihnen gebührt der Dank, mein guter Freund, Ihnen, dem treuen hingebenden Gehülfen, der mir dazu verholfen hat, diese That wahrer Gerechtigkeit zu vollbringen. Ach, wie kann ich Ihnen jemals meine Dankbarkeit aus­ drücken." „Das Mittel, sie auszudrücken, ist bei unserem Ver­ trage erwähnt worden", antwortete Meschini mit unter­ würfiger Verbeugung. „Ich übernahm die Arbeit für Ew. Excellenz zu einem bestimmten Preise, wie Sie sich erinnern werden. Mehr verlange ich nicht. Ich bin zu gering, als daß mir die Ehre persönlicher Dankbarkeit seitens des Fürsten Montevarchi zu theil werden sollte."

93 „Ja, natürlich, aber das ist bloßes Geld!" sagte der alte Herr heftig und verächtlich zugleich. „Die Dankbar­ keit kommt ans dem Herzen und nicht aus der Börse. Wenn ich an all' Ihre Arbeit denke und an die Selbstlosigkeit, mit der Sic sich dieser Sache gewidmet haben, sehe ich ein, daß Geld Sie nie genug belohnen kann. Geld ist eitler Mammon, Meschini, eitler Mammon! Wir wollen garnicht darüber reden. Sind wir nicht Freunde? Die zartesten Saiten meiner Seele erbeben vor Freude, wenn ich bedenke, was wir vereint vollbracht haben. Keinem anderen Mann in Rom würde ich trauen wie Ihnen, Sie treuester aller Menschen!" „Der Herr Fürst ist allzu gütig", versetzte Meschini. „Dessenungeachtet wiederhole ich, daß ich solcher Dankbar­ keit ganz unwerth bin, denn ich habe nur das Meinige bei einer Geschäftssache gethan, an der mein eigenes Interesse wesentlich betheiligt war." „Es thut mir nur leid, daß mein Schwiegersohn nie erfahren darf, welchen Antheil Sie an seinem Erfolge haben. Wie aber wäre es möglich, ihm das mitzutheilen? Und auch meine Tochter! Sie würde Ihrer in all' ihren un­ schuldigen Gebeten gedenken, wie ich es fortan thun will. Nein, Meschini, es ist beschlossen, daß ich, ich ganz allein Ihnen den tiefempfundenen Dank all' derer ausdrücken soll, denen Sie so große Dienste geleistet haben, die aber leider niemals den Namen ihres Wohlthäters erfahren können. Nun sagen Sie mir noch, prüften die Rechtsgelehrten die Dokumente lange? Zeigten sic Bedenken? Haben Sie Grund zu glauben, daß ihre besondere Aufmerksamkeit durch -------- durch die Schrift erregt wurde?" „Nein, wahrlich nicht! Ich wäre ein Pfuscher, wenn ein Paar Juristen meine Handschrift entdecken könnten."

94 „Es ist ein Wunder!" sagte Montevarchi scheinheilig. „Ich erachte, daß der Himmel unmittelbar eingewirkt hat, auf daß der gerechte Zweck erreicht werde! Ein Engel hat Ihnen die Hand geführt, mein theurer Freund, und Sie zu einem Werkzeug der guten Sache gemacht." „Ich bin gern bereit, es zu glauben. Die Angelegen­ heit ist für mich gerade so Vortheilhast wie für den Herrn Marchese." „Jawohl", versetzte der Fürst trocken. „Und nun, lieber Meschini, wollen Sie mich ein Weilchen allein lasten? Ich habe diese Stunde ausersehen, um mit meiner jüngsten Tochter über ihre bevorstehende Vermählung zu sprechen. Sie ist die letzte dieser holden Blumen. Ach! wie traurig ist es, sich von denen zu trennen, die wir so innig lieben! Allein wir wissen zu unserem Trost, daß es zu ihrem Besten geschieht; das ist ein Trost und eine Befriedigung, die nur aus dem Bewußtsein treuer Pflichterfüllung hervorgehen kann. Kehren Sie also jetzt in Ihre Bibliothek zurück, Meschini! Das Bewußtsein einer guten That ist heute auch in Ihnen, cs wird Ihre einsamen Stunden erheitern und Ihre künftige Arbeit versüßen. Die Gerechtigkeit fin­ det ihren Lohn in sich. Leben Sie wohl mein Freund! Tausend Dank." — „Würde es Ew. Excellenz genehm sein, mir jetzt gleich das Geld zu geben?" fragte der Bibliothekar. Die Ent­

schiedenheit des Tones erschreckte Montevarchi. „Welches Geld?" fragte er mit geheucheltem Erstaunen.

„Ich verstehe Sie nicht." „Zwanzigtausend Scudi'), der Preis der Arbeit", ver­ setzte Meschini mit erschreckender Deutlichkeit. ’) 20000 Scubi = 100000 Frcs.

95 „Zwanzigtausend Scudi!" rief der Fürst. „Ich er­ innere mich, daß von einer Summe die Rede war, ich denke, zweitausend sagte ich. Selbst das ist ungeheuer viel, allein ich ließ mich von der augenblicklichen Aufregung hinreißen. Wir sind alle solchen Schwächen unterworfen." — „Sie haben mir versprochen, mir zwanzigtausend Scudi baar auszuzahlen und zwar an dem Tage, wo das Urtheil zu Gunsten Ihres Schwiegersohnes gefällt wer­ den würde." „Ich habe nie ein derartiges Versprechen gegeben. Mein guter Freund, der glückliche Erfolg hat Ihnen ganz den Kopf verdreht! Ich habe überhaupt gar nicht so viel Geld zu meiner Verfügung." „Sie können es nicht wagen, mich zum Narren zu halten", rief Meschini und trat einen Schritt vor. Sein Gesicht war roth vor Aerger und mit den langen Armen machte er seltsame Bewegungen. „Wollen Sie mir das Geld auszahlen oder nicht?" „Wenn Sie mir gegenüber diesen Ton anschlagen, zahle ich Ihnen gar nichts. Ich werde sogar keine Dank­ barkeit mehr gegen Sie empfinden." — „Zur Hölle mit Ihrer Dankbarkeit!" schrie der Andere wild. „Entweder zahlen Sie mir das Geld auf der Stelle oder ich gehe sofort auf's Gericht und enthülle den ganzen Betrug." „Wenn Sie das thun, kommen Sie auf die Galeere." „Und Sie auch." „Keineswegs. Haben Sie irgend welche Beweise dafür, daß ich mit der Sache etwas zu thun gehabt habe? Ich sage Ihnen, Sie sind rein verrückt. Wenn Sie mir diesen Streich spielen wollten, hätten Sie sich eine von mir unter­ schriebene Abmachung geben lassen sollen. Selbst dann

96 hätte ich behauptet, da Sie die Documente gefälscht, hätten Sie natürlich auch den Contract gefälscht. Aber Sie haben nichts, nicht einmal ein Stück Papier gegen mich aufzu­ weisen. Seien Sie vernünftig, so will ich großmüthig sein; ich will Ihnen die zweitausend geben, von denen ich in der Aufregung der Vorfreude sprach." — „Sie werden mir die zwanzigtausend geben, welche Sie mir feierlich versprochen haben," sagte Meschini mit verhaltenem Zorn. Montevarchi stand langsam auf und klingelte. Er wußte, daß Meschini nicht so thöricht sein würde, sich bloßzustellen, sondern noch ferner hoffen, daß er doch endlich das Verlangte bekommen würde. „Mit einem Verrückten kann ich nicht reden", sagte er ruhig. Er fürchtete sich nicht im mindesten vor dem Biblio­ thekar. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß der ältliche Gelehrte mit den krummen Schultern gefährlich werden könnte. Vor einer Stunde hatte ein einziges Wort von Gouache, ein Blick des jungen Künstlers ihn eingeschüchtert; jetzt ließ Meschini's Wuth ihn kalt. Letzterer sah ein, daß für den Augenblick nichts zu machen war. Solch eine Scene in Gegenwart eines Dieners fortzusetzen, wäre die höchste Thorheit gewesen. „Wir wollen ein ander Mal über die Sache sprechen", sagte er mürrisch, als er das Studirzimmer durch eine kleine Thür verließ, die auf den zur Bibliothek führenden Corridor ging. Montevarchi schickte den auf das Schellen erscheinenden Diener zu Donna Faustina und ließ sie sofort zu sich be­ scheiden. Da dies einmal ein Tag für wichtige Unter­ redungen war, beschloß er, seiner Tochter die Sache klar

97 vorzulegen und ihr zu gebieten, sich seinem Willen zu fügen, falls die Partie mit Frangipani zu Stande käme. Der Zorn Meschini's hatte ihn augenscheinlich so wenig auf­ geregt, als ob ihn die ganze Geschichte gar nichts anginge. Allerdings hatte er längst vorausgesehen, wie es kommen würde, und selbst in dem Augenblicke, als er die Bestechung versprach, war er schon fest entschloffen, sie nie zu zahlen. Der Bibliothekar war gierig aus die Lockspeise losgegangen, und es war seine eigene Schuld, wenn ihm das Ergebniß nicht paßte. Er konnte sich kein Recht schaffen, wie ihm Montevarchi ganz richtig gesagt hatte. Es war ja nicht einmal ein Zettel als Beweis für die Abmachung vorhan­ den. Meschini hatte die Fälschung ausgeführt, und er hätte sich zu Grunde richten müssen, um einen Druck aus den Fürsten auszuüben. Montevarchi war sicher, daß er dies nicht thäte, selbst wenn er zum Aeußersten getrieben würde. Meschini war habsüchtig, und es lag kein Grund vor, ihn für lebensmüde zu halten, oder bereit, um einer persönlichen Rache willen auf die Galeere zu gehen, während er bei etwas Geduld hoffen konnte, aus dem begangenen Ver­ brechen doch einigen Vortheil zu ziehen. Montevarchi beab­ sichtigte, ihm einen nach seiner Ansicht angemeffenen Preis für seine Arbeit zu zahlen, und er sah nicht ein, daß Meschini Mittel und Wege hatte, ihm mehr abzuzwingen. Jetzt da die Sache geschehen war, bedauerte er, nicht mit San Giacinto irgend ein Abkommen getroffen zu haben, allein ein Augenblick des Nachdenkens genügte, diesen Ge­ danken als seiner großen Schlauheit unwerth zu verwerfen. Seine Habsucht war riesengroß und grenzte an Ehrgeiz. Es ließ sich voraussehen, daß sein Entschluß, Faustina mit Frangipani zu vermählen, um so unbeugsamer sein würde, nachdem es ihm gelungen war, seine andere Tochter mit Grams erb, Sant' Jlarie. II. 7

98 einem Manne zu verheirathen, der sich als Fürst Saracinesca herausstellte. Daher sein Wunsch, Faustina sofort zu sprechen und sie auf das Bevorstehende vorzubereiten. Mit einem Male schien es ihm, als könnte er nicht rasch genug handeln, um seinem Wunsche des Gelingens Genüge zu thun. Ihm war zu Muthe,, wie einem alten Manne, der am Ende eines thätigen Lebens noch zahllose Dinge vor sich sieht, die er gern vollbringen möchte, und zu sterben fürchtet, ehe sie alle gethan sind. Den alten Fürsten überkam eine fieberhafte Hast, diesen letzten Schritt zur Vergrößerung des Ansehens seiner Familie zu thun. Er begriff nicht, wozu er seine Zeit mit Gouache und Meschini vergeudet hatte, statt sich eifrig der Förderung seines Zweckes zu widmen. Es war kein Grund zum Aufschub vorhanden. Frangipani's Vater hatte schon halb in die Verbindung gewilligt, es blieben nur noch einige pecuniäre Bedingungen zu erledigen. Während er so dasaß und auf Faustina wartete, stieg das Schreckbild des Todes plötzlich deutlich vor ihm auf. Er war noch kein sehr alter Mann und hätte sich das Ge­ fühl kaum erklären können. Ueberdies war es eine bemerkenswerthe Thatsache, daß er den Tod mehr fürchtete, weil er ihn an der Ausführung seiner Pläne hindern könnte, als weil er sein Gewissen dnrch die Erinnerung an viele Miffethaten beschwert fühlte. Sein ganzes Leben war in einem so verwickelten Labyrinth von Falschheit gegen sich und Andere hingebracht worden, daß er kaum mehr Wahres und Unwahres von einander unterschied. Selbst bei diesem letzten großen Betrüge hatte er sich so beständig über die Wahrheit hinweggetäuscht, daß er sich wirklich beinahe für das Werkzeug der Gerechtigkeit hielt, wofür.er sich ausgab. Der Fall war schwierig, denn selbst der noch so Unpar-

99 teiische konnte kaum umhin, für San Giacinto, das Opfer der Unbedachtsamkeit seines Ahnen, Theilnahme zu empfin­ den. Montevarchi hatte sich leicht eingeredet, daß jedes Mittel zur Erreichung eines solchen Zweckes erlaubt wäre, und obschon er den Act der Fälschung selbst im Lichte eines, freilich verzeihlichen, wenn auch gegen die Gesetze verstoßen­ den Vergehens ansehen mochte, schien ihm sein eigener An­ theil an dem Vorgänge, als Anstifter zur That, durch mannigfaltige Gründe zu rechtfertigen. San Giacinto war nach allen dem Herzen des römischen Edelmanns theuren Traditionen des Erstgeburtsrechtes das Haupt der Familie Saracincsca. Ohne eine in Montevarchi's Erfahrung bei­ spiellose Thorheit wäre San Giacinto von dem Todestage seines Vaters an in den unbestrittenen und unbestreitbaren Besitz der Güter und Titel getreten. Die bloße Thatsache, daß die Saracinesca keinen Widerstand geleistet, bewies, daß sie die gerechten Ansprüche ihres Vetters anerkannten. Hätte der alte Leo Saracinesca die Möglichkeit seiner Verheirathung in vorgerücktem Alter vorausgesehen, so würde er entweder den Vertrag gar nicht unterzeichnet oder just so eine Bedingung hinzugefügt haben, wie sie Meschini gefälscht hatte. Wenn aus Unverstand oder Nachlässigkeit eine große Ungerechtigkeit begangen worden ist, wenn die­ jenigen, welche den größten Vortheil daraus gezogen haben, diese Ungerechtigkeit anerkennen, wenn sie wieder gutmachen nur im Geiste des Gesetzes handeln heißt, ist es dann ein Verbrechen, so viel Gutes durchzusetzen, indem man nur

einen Gewissensscrupel zum Schweigen bringt und einen Anderen dazu verwendet, durch einige geschickte Federzüge dem rechtmäßigen Eigenthümer zu seinem Erbtheil zu ver­ helfen? Die Antwort schien Montevarchi so klar, daß er sich kaum mehr die Frage vorlegte. Das wäre in der That

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100 überflüssig gewesen, denn er hatte in ähnlichen Fällen so oft alle Einwände gegen ein zweifelhaftes Verfahren durch derartige Sophistik beantwortet, daß er schon im voraus wußte, wie die Antwort auch jetzt bei einer Selbstprüfung ausfallen würde. Er empfand nicht einmal eine gewisse Erleichterung, als er sich von der Betrachtung dessen, was er soeben gethan, dem Heirathsplane für Faustina zuwandte, bei dem nichts war, was sein Gewissen beschweren konnte. Er war sich nicht einmal bewußt, daß zwischen den beiden Sachen ein bemerkcnswerther Unterschied obwaltete. Es lag ihm nur daran, die Vorverhandlungen schnell zum Ziel zu führen, — das war alles. Wenn er stürbe, so dachte er, würde die Fürstin in allem ihren Willen haben, und würde wahrscheinlich zulassen, daß Faustiua sich an einen Mann wie Gouache wegwürfe. Dieser Gedanke schreckte ihn aus seiner Träumerei auf und rief zugleich ein häßliches Lächeln auf seinem Gesichte hervor. Von allen anderen gerade dieser Gouache! Er blickte auf und sah Faustina vor sich stehen, als ob sie erwarte, daß er mit ihr rede. Ihr zartes engelgleiches Gesicht war sehr blaß, und sie hielt die kleinen Hände gefaltet vor sich. Sie hatte irgendwie erfahren, daß Gouache bei ihrem Vater gewesen war, und fürchtete, daß etwas Unangenehmes vorgefallen wäre, wofür sie zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Auch schwebte ihr Frangipani vor und sie befürchtete eine stürmische Unterredung. Allein sie war fest entschlossen; sie wollte Anastasius haben und sonst Keinen. Vater und Tochter wechselten einen raschen Blick, ehe das Gespräch begann.

101

Sechstes Kapitel.

Montevarchi hieß seine Tochter sich neben ihn setzen und ergriff zärtlich ihre Hand, während er zugleich die Miene feierlicher Ueberlegenheit annahm, die er immer hatte, wenn er von den Sorgen seines Hausstandes sprach oder irgend eine wichtige Familienangelegenheit erörtern wollte. Flavia pflegte zum Vergnügen ihrer Geschwister diese Miene vortrefflich nachzuahmen. Er lächelte bedeu­ tungsvoll, drückte die Hand des jungen Mädchens und lächelte wieder, vergeblich irgend eine Entgegnung erwar­ tend. Faustina blieb kalt und gleichgültig, sie kannte die Art und Weise ihres Vaters und mochte sie nicht leiden. „Du weißt gewiß, was ich sagen will," fing er an. „Es betrifft etwas, was Deinem Herzen sehr nahe gehen muß, mein liebes Kind." „Ich weiß nicht, was es sein kann," antwortete Fau­ stina ernst. Sie war zu wohlerzogen, um ihren Wider­ willen gegen die Art und Weise ihres Vaters zu zeigen, aber sie wollte es ihm so schwer wie möglich machen, sich auszusprechen. „Kannst Du nicht errathen, was es ist?" fragte der alte Fürst und machte einen albernen Versuch zu scherzen. „Was liegt denn jedem jungen Mädchen am meisten am Herzen? Ist nicht Dein Herzchen schon ein Tempel des jungen Gottes?" „Ich verstehe Dich nicht, Papa." „Nun, nun, meine Liebe, ich merke, daß die Mytho­ logie nicht zu den Gegenständen Deines Unterrichtes ge­ hört hat. Es ist vielleicht eben so gut; denn diese Heiden sind schlechte Gesellschaft für die Jugend. Ich rede vom

102 Heirathen, Faustina, von dem hochwichtigen Schritt, den Du nächstens thun sollst."

„Hast Du schon fest beschlossen, mich mit Frangipani zu verheirathen?" fragte das junge Mädchen mit einer Ruhe, die den Vater etwas aus der Fassung brachte. „Wie dreist Du davon sprichst!" rief er mit einem Seufzer der Mißbilligung. „Ich will Dir indesien nicht verhehlen, daß ich hoffe"--------„Bitte, sprich deutlich, Papa!" rief Faustina plötz­ lich aufblickend. „Ich kann diese Spannung nicht länger

ertragen." „Aha! Steht es so, Kleine?" Montevarchi drohte ihr schelmisch mit dem Finger. „Ich dachte mir wohl, daß ich Dich geneigt finden würde. So möchtest Du also so­ fort eine Fürstin werden? Ja, ja, alle Frauen sind ein­ ander gleich!" Faustina richtete sich empor und heftete ihre tiefen dunkeln Augen ruhig und ernst auf das Gesicht ihres Vaters. „Du mißverstehst mich", sagte sie. „Ich möchte nur Deinen Beschluß wissen, damit ich Dir eine Antwort geben kann." „Und was könnte die Antwort sein? Habe ich nicht gut für Dich gewählt? — einen Gatten, der in jeder Hin­ sicht für Dich paßt?" — „Von Deinem Standpunkt aus ohne Zweifel." „Ich hoffe, Du wirst nicht die unverzeihliche Thorheit begehen, anders zu denken als ich, meine Tochter," versetzte Montevarchi in einem plötzlich veränderten Ton, in dem wachsender Aerger durchklang. „Mir gebührt es zu ent­ scheiden, Dir Dich meiner Entscheidung zu fügen." „Bei anderen Dingen ja! Bei meiner Verheirathung, denke ich, habe ich auch mitzureden."

103 „Ist es möglich, daß Du etwas gegen die von mir beabsichtigte Verbindung einzuwenden hast? Ist es denkbar, daß Du Dir einbildest, bei Deiner Jugend etwas bester zu verstehen als ich? Faustina, ich hätte es nie geglaubt!" „Wie kannst Du verstehen, was ich fühle?" „Es ist nicht eine Frage des Gefühls, es handelt sich hierbei um Klugheit, Fürsorge, Umsicht, um Eigenschaften, die Du zu jung bist zu besitzen. Wenn die Ehe eine Sache des Gefühls, des ganz gewöhnlichen Gefühls wäre, was würde dann aus der Welt werden, frage ich? Was nützt es noch so viel Gefühl zu haben, wenn man nicht die Mittel zum Leben hat? Kannst Du Gefühle essen? Kannst Du Gefühle anspannen und mit ihnen eine trottata in der Villa Borghese machen? Kannst Du ein Loth Gefühle in klingende Silbermünzen umwechseln und damit eine Reise in der heißen Jahreszeit bestreiten? Nein, nein, mein Kind. Der Himmel weiß es, ich bin nicht habsüchtig. Wenige wissen so gut wie ich, daß Reichthum ein vergänglich Ding ist — das ist aber auch unser sterblicher Körper, und das Vergängliche muß sich durch's Vergängliche ernähren, auf daß der Staub nicht früher zum Staube zurückkehre, als es im gewöhnlichen Laufe der Natur geschehen würde. Geld allein macht freilich nicht glücklich, dennoch ist es höchst wichtig, ein gewisses Quantum davon zu besitzen." „Ich möchte mich lieber ohne dies behelfen, als darum für's ganze Leben elend sein." „Dein ganzes Leben elend sein? Weshalb denn elend? Keine Frau braucht unglücklich zu sein, die an einen braven Mann verheirathet ist. Frangipani ist jung, schön, von tadellosen Sitten, Erbe eines großen Vermögens und eines großen Namens. Du sehnst Dich nach Liebe. Gut. Die Liebe wird schon kommen als Belohnung Deiner vernünfti-

104 gen Wahl. Dann wird's Zeit genug sein, an Gefühle zu denken. O je! Wenn wir alle unser Leben mit Gedanken an unsere Gefühle begännen, was sollte dann wohl daraus werden?" „Willst Du so gütig sein, mir zu sagen, ob Du fest beschlossen hast, daß ich Frangipani heirathen soll?" Fau­ stina fand das Gerede ihres Vaters unerträglich und hatte überdies etwas zu sagen, was ihr schwer sein mußte aus­ zusprechen und noch schwerer durchzusehen. „Wenn Du auf eine Antwort bestehst, welche Du ohne­ hin schon erwarten konntest, so will ich Dir sagen, daß ich die Verbindung fest beschlossen habe." „Ich kann ihn nicht heirathen!" rief Faustina; sie preßte die Hände zusammen und sah ihren Vater flehend an. „Mein liebes Kind," sagte Montevarchi lächelnd, „es ist eine abgemachte Sache. Wir können nicht zurück. Du mußt ihn heirathen." „Muß, Papa? O bedenke, was Du sagst! Ich bin nicht ungehorsam, nein wirklich nicht. Ich bin Dir immer in allen Stücken folgsam gewesen. Aber nur dies nicht — dies nicht! Befiehl mir irgend etwas Anderes, was es auch sei." — „Aber, mein Kind, nichts Anderes würde dasselbe Re­ sultat haben! Sei vernünftig. Du sagst, ich möge Dir eine andere Pflicht auferlegen. Das will ich nicht. Ich muß Dich verheirathet sehen, ehe ich sterbe, und ich bin ein alter Mann. Jedes Jahr kann mein letztes, ja, jeder Tag mein letzter sein! Was würde es helfen, wenn Du mir zu Liebe ein anderes Opfer brächtest, während ich doch einzig und allein wünsche, Dich gut verheirathet zu sehen? Ich habe dazu gethan, was ich konnte. Ich habe Dir die beste Partie in ganz Rom verschafft, und nun bittest Du

105 mich, Dich zu verschonen, die Sache rückgängig zu machen, meinem alten Freunde Frangipani zu sagen, daß Du seinen Sohn nicht willst, und dann soll ich wohl auf die Suche nach einem anderen Manne für Dich gehen. Es ist un­ vernünftig. Ich hatte mehr kindliche Folgsamkeit von Dir

erwartet." „Ist es unfolgsam, wenn man einen Mann nicht lieben kann, den man kaum kennt, bloß weil es befohlen wird?" „Du wirst mich ungeduldig machen, Faustina!" rief Montevarchi ärgerlich. „Habe ich Dir nicht erklärt, was Liebe ist? Habe ich Dir nicht gesagt, daß Du Deinen Mann lieben kannst, so viel Du willst? Ist es nicht eines Vaters Pflicht, den Neigungen seiner Kinder die rechte Richtung zu geben, und ist es nicht eines Kindes erste Pflicht, sich dem Willen und der Leitung des Vaters zu fügen? Was willst Du noch mehr? Du bist wirklich sehr anspruchsvoll." „Ich bin sehr unglücklich!" Das junge Mädchen wen­ dete sich ab, stützte den Elbogen auf den Tisch und lehnte das Kinn darauf. Sie starrte zerstreut die alten Bücher­ schränke an, als ob sie die Titel aus den Einbänden lesen wollte. Montevarchi nahm ihre Worte als eine Art von Zustimmung auf und änderte wieder den Ton. „Nun, nun, meine liebe Tochter", sagte er. „Du wirst Deinen Gehorsam nie bereuen. Es ist natürlich immer schwer, mein gutes Kind, die Dinge so aufzufassen, wie es für uns am besten wäre. Ich sehe, daß Du endlich nachgiebst"-------„Ich gebe nicht im mindesten nach!" rief Faustina und sah ihn plötzlich mit einem Ausdruck an, den er nie zuvor an ihr gesehen hatte.

106 „Was meinst Du damit?" Erstaunen.

fragte Montevarchi voll

„Genau was ich sage. Ich will Frangipani nicht heirathen. Ich will nicht — verstehst Du?" „Nein; ich verstehe solche Sprache von meiner Tochter nicht, und was Deinen Entschluß anbetrifft, so sage ich Dir, daß Du schließlich doch thun wirst, was ich will." „Du kannst mich nicht zu der Heirath zwingen. Was kannst Du thun? Du kannst mich in ein Kloster sperren. Glaubst Du, das würde meinen Sinn ändern? Ich würde Gott für eine Zuflucht danken, wo ich vor solcher Tyrannei Schutz fände." „Meine Tochter," erwiederte der Fürst in süßlichem Tone, „ich nehme mir fest vor, nicht böse auf Dich zu wer­ den. Dein Ungehorsam entspringt aus Unwissenheit, und die ist kein Vergehen, sondern ein Unglück. Wenn Du etwas Geduld haben willst" — „Ich habe keine!" rief Faustina außer sich über ihres Vaters Art und Weise. „Mein Ungehorsam entspringt nicht aus Unwiffenheit — sondern aus Liebe, aus Liebe zu einem anderen Manne, den ich heirathen will, falls ich überhaupt heirathe." „Faustina," schrie Montevarchi und erhob die Hände vor Schreck und Verwunderung. „Wagst Du solche Sprache gegen Deinen Vater?" „Ich wage alles und jedes, — ich wage es sogar, Dir den Namen des Mannes zu nennen, den ich liebe — Ana­ stasius Gouache!" — „Mein Kind! mein Kind! Dies ist zu fürchterlich, ich muß wirklich Deine Mutter rufen lasten." „Thue was Du willst!" Faustina war aufgesprungen und stand vor einem der

107 alten Bücherschränke, mit gefalteten Händen, blitzenden Augen, den feinen Mund verächtlich verzogen. Montcvarchi war wirklich halb von Sinnen vor Schreck; er ging behut­ sam nach der Klingel und sah dabei seine Tochter fest an, als ob er einen neuen Ausbruch befürchtete. In seinem Benehmen war etwas Lächerliches, das bei einer anderen Gelegenheit dem jungen Mädchen nicht entgangen wäre. Augenblicklich aber war sie zu aufgeregt, um etwas Anderes zu sehen als das Gefährliche ihrer Lage und die Nothwen­ digkeit, auf jeden Fall fest zu bleiben. Sie begriff nicht, weshalb ihre Mutter herbeigerufen wurde, aber sie fühlte, daß sie im Nothfall der ganzen Familie entgegentreten könnte. Sie hielt die Augen auf ihren Vater geheftet und bemerkte kaum, daß ein Diener in's Zimmer trat. Montevarchi ließ die Fürstin bitten, sofort zu kommen. Dann wendete er sich wieder zu Faustina. „Du kannst kaum annehmen," sagte er, „daß ich ernst nehme, was Du eben gesagt hast, aber Du bist augen­ scheinlich sehr aufgeregt und die Gegenwart Deiner Mutter wird hoffentlich eine beruhigende Wirkung auf Dich haben. Du mußt Dir doch bewußt sein, daß solche ungeheuerliche Unwahrheiten auch nur im Scherze .auszu­ sprechen" — „Es ist mein Ernst. Ich will Herrn Gouache heirathen oder sonst überhaupt keinen." Montevarchi glaubte in der That an Geistesstörung bei seiner Tochter. Seine Unterredung mit Gouache hatte ihn davon überzeugt, daß Faustina wirklich meinte, was sie sagte, obschon er so that, als ob er darüber lachte; in­ dessen konnte er sich ihr Betragen nicht anders als durch die Annahme einer geistigen Störung erklären. Da er mit seiner Weisheit zu Ende war, schickte er nach seiner Frau,



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und während er auf sie wartete, wußte er nicht recht, was er sagen sollte. „Mein liebes Kind, was ist Monsieur Gouache? Ohne Zweifel ein höchst achtungswerther junger Mann, aber nicht einer, den wir für Dich zum Gemahl wählen würden." „Ich habe ihn gewählt," sagte Faustina, „das genügt." „Wie Du nur sprichst! Wie thöricht Du redest! Als ob einen Gatten wählen so viel hieße wie einen neuen Hut aussuchen! Und Du, die ich immer für mein gehorsamstes Kind gehalten hatte! Aber Deine Mutter und ich werden vernünftig mit Dir reden und versuchen, Dir bessere Ge­ danken in's Herz zu legen." Faustina sah ihren Vater verächtlich an und wen­ dete sich um; sie ging einige Schritte nach dem Fenster zu. „Es lohnt nicht, Deine Worte an mich zu verschwen­ den," sagte sie dann. „Ich will Gouache oder keinen heirathen." „Du — Gouache heirathen?" rief die Fürstin, welche in dem Augenblick hereintrat und die letzten Worte gehört hatte. Ihre Stimme drückte ein Staunen und Entsetzen aus, das dem ihres Mannes völlig gleichkam. „Kommst Du, nm Dich an dem Streit zu betheiligen, Mama?" frage Faustina auf Englisch. „Bitte, redet in einer Sprache, die ich verstehen kann," sagte Montevarchi, der in seinem ganzen Leben nie ein Wort von der Muttersprache seiner Frau gelernt hatte. „Ach, Lothar!" rief die Fürstin. „Was hat das Kind zu Dir gesagt?" „Dinge, bei denen Du erzittern würdest, meine Theure! Sie weigert sich Frangipani zu heirathen." — „Sie weigert sich! Aber Faustina, Du weißt nicht, was Du thust, Du bist von Sinnen."

109 „Und sie schwärmt davon, einen gewissen Franzosen zu heirathen, einen Monsieur Gouache, glaube ich, giebt es einen Menschen dieses Namens, meine Liebe?" „Natürlich, Lothar! Der kleine Mensch, den Du über­ fuhrst. Wie vergeßlich Du bist!" „Ja, ja, natürlich, ich weiß schon. Aber Du mußt ihr Vernunft beibringen, Guendolina!" „Ich denke, das solltest Du thun, Lothar!" „Meine Liebe, ich glaube, das Kind ist in dem Punkte verrückt. Wo kann sie solche Ideen herhaben? Ist es eine bloße Laune, eine reine Widerspenstigkeit, wodurch sie die Seelenruhe eines treuen Vaters stören will?" „Unsinn, Lothar. Dessen ist sie nicht fähig. Am Ende ist sie doch nicht wie Flavia, die immer mit etwas Entsetzlichem herausplatzte, wenn man es am wenigsten erwartete." „Ich wünsche fast, sie wäre Flavia!" rief Montevarchi aus. „Flavia hat eine sehr gute Partie gemacht." Unterdessen stand Faustina mit dem Rücken gegen das Fenster, die Hände vor sich gefaltet und sah bald den einen bald die andere der Sprechenden mit einem Ausdruck bitterer Verachtung an, der allmälig in unbezähmbaren Zorn über­ ging. Ein Restchen Vernunft hielt sie davon zurück, das Gespräch durch eine erneute Aeußerung ihres Willens zu unterbrechen, und sie wartete, bis sie angeredet wurde. Sie hatte den Kopf verloren, denn sonst wäre sie nie so weit gegangen, Gouache's Namen zu nennen, allein wie es bei allen höchst spontanen Naturen leicht vorkommt, ging sie gleich bis zum Aeußersten, wenn sie die Schranken einmal durchbrochen hatte. Ihre klaren braunen Augen glänzten hell, und es war etwas Leuchtendes in ihrem Engelsantlitz, als ob ihr ganzes Wesen unter dem Einfluß einer außer-

110 ordentlichen Bewegung, ja beinahe in Verzückung wäre. Es ließ sich nicht voraussehen, was sie sagen oder thun

würde. „Dein Vater wünscht fast, Du wärest Flavia!" stöhnte die Fürstin; sie schüttelte dabei den Kopf und sah sehr ernst aus. Darauf lachte Faustina verächtlich und ihr Zorn brach los. „Ich bin nicht Flavia", rief sie und trat ihren Eltern gegenüber. „Fch glaube gern, daß Ihr wünscht, ich wäre wie sie. Flavia hat solche ausgezeichnete Partie ge­ macht! Ja, von heute ab ist sie wohl gar die Fürstin Saracinesca. Allerdings hat sie eine gute Partie gemacht, denn sie hat den Mann geheirathet, den sie so weit liebt, als sie überhaupt im Stande ist zu lieben. Und das ist ein Grund mehr für mich, daffelbe zu thun. Bin ich übrigens so alt wie Flavia, daß ihr es so eilig haben solltet, mich zu verheirathen? Glaubt ihr, ich werde nach­ geben? Meint ihr, während ich den einen Mann liebe, werde ich so schlecht sein, einen andern zu heirathen?" „Ich habe Dir erklärt, daß Liebe" — „Deine Erklärungen werden mich wahnsinnig machen! Auf die Art kannst Du alles erklären und beweisen, daß Liebe überhaupt nicht existirt. Glaubst Du, Deine Worte machen das wahr? In dem kleinsten Theil meiner Liebe ist mehr Wahrheit als in Deinem ganzen Leben." „Aber Fauftina!" „Was denn? Darf ich Dir nicht antworten? Muß ich Dich für unfehlbar halten, wenn Du Gründe anführst, die kein Kind gelten lasten würde? Ist mein ganzes Wesen ein Schatten, weil Du seine Wirklichkeit nicht begreifst?" „Wenn Du eine philosophische Frage daraus machen willst" —

111 „Ich will es nicht, ich verstehe nichts von Philosophie; aber ich will in Gegenwart meiner Mutter wiederholen, was ich Dir schon gesagt habe. Ich will Frangipani nicht heirathen, und Du kannst mich nicht dazu zwingen. Wenn ich überhaupt heirathe, will ich den Mann haben, den ich liebe." „Aber, meine liebste Faustina," rief die Prinzessin in wahrer Angst, „das ist ein bloßer Einfall; eine Art Wahn­ sinn, der Dich ergriffen hat. Bedenke Deine Stellung, be­ denke was Du uns schuldig bist, bedenke" — „Bedenke, bedenke, bedenke! Glaubst Du, daß irgend welche Rücksicht mich umwandeln könnte?" „Glaubst Du, Dein kindischer Zorn wird uns umwan­ deln?" fragte Montevarchi ruhig. Er wollte nicht heftig werden, denn Faustina's Neigung war ihm im Grunde ganz gleichgültig, wenn sie nur einwilligte, Frangipani zu heirathen." „Kindisch?" rief Faustina und ihre Augen blitzten vor Zorn. „War ich kindisch, als ich ihm mitten im Aufstande im vorigen October nachging, als ich bei der SerristoriKaserne beinahe den Tod fand, als ich dachte, er wäre todt, und dort auf den Trümmern kniete, bis er mich sand und mich nach Hause brachte? War das die Liebe eines Kindes?" Die Fürstin erblaßte und faßte den Arm ihres Gatten, indem sie Faustina entsetzt anstarrte. Der alte Herr zitterte und konnte einige Augenblicke nicht Kraft zum Sprechen finden. Nichts hätte Faustina ersinnen können, was einen so plötzlichen und fürchterlichen Eindruck gemacht hätte, als das Geständniß deffen, was in jener Nacht während des Aufftandes vorgegangen war, und dieses Geständniß kam von den Lippen des jungen Mädchens im unverkennbaren

112 Ton der Wahrheit. Das Gefühl brach zuerst bei der Mutter durch. Sie umschlang das junge Mädchen mit ihrem Armen wie zum Schuh gegen drohende Gefahr. „Es ist nicht war, es ist nicht wahr!" schrie sie ververzweifelt. „Faustina, mein Kind, es ist nicht wahr!" „Es ist vollkommen wahr, Mutter," erwiederte Faustina, der es eine eigenthümliche Genugthuung war, die Wirkung ihrer Worte zu beobachten, was sich nur durch ihre reine Unschuld erklären ließ. „Warum bist Du so verwundert? Ich liebte ihn — ich dachte, er ginge in den Tod — ich wollte ihn nicht allein gehen lasten."--------„O Faustina! Wie konntest Du?" stöhnte die Fürstin. „Es ist zu gräßlich — es ist nicht zu glauben."-------„Ich liebte ihn, ich liebe ihn noch!" Die Fürstin Montevarchi sank auf einen Stuhl und brach in Thränen aus, sie bedeckte ihr Gesicht mit den Hän­ den und schluchzte laut. „Wenn Du weinen willst, Guendolina, so geh lieber", sagte ihr Gemahl, der jetzt so zornig war, als es seine niedrige Natur überhaupt zuließ. Sie war so gewöhnt zu gehorchen, daß sie noch in Thränen das Zimmer verließ und Faustina einen kummervollen Blick zuwarf. Montevarchi schloß die Thür, trat auf seine Tochter zu, ergriff sie beim Arm und schüttelte sie heftig. „Du Närrin!" rief er ärgerlich, da er in seiner Wuth keinen andern Ausdruck fand. Faustina sagte nichts, versuchte aber ihn fortzuschieben, ihre glänzenden Augen blitzten voll Verachtung. Ihr Schwei­ gen erbitterte den alten Mann noch mehr. Wie die meisten Feiglinge konnte er im Zorn gegen Frauen brutal sein. Es schien ihm, als ob das Mädchen durch ihre Thorheit den letzten großen Triumph seines Lebens vereitelte und

113 gerade in dem Augenblick, als er ihn erreichen konnte. Er hätte es ihr vergeben, wenn sie sich zu Grunde gerichtet hätte, allein er konnte es ihr nicht vergeben, daß sie seine ehrgeizigen Pläne kreuzte; er wußte, daß ein einziges Wort von der Geschichte, die sie eben erzählt hatte, die vornehme Verbindung unmöglich machen würde, und wußte auch, daß cs in ihrer Macht stand und daß sie Muth genug hatte, das Wort auszusprechen, wenn es ihr gut dünkte. „Närrin!" wiederholte er, und ehe sie ausweichen konnte,

schlug er ihr mit der flachen Hand auf den Mund. Einige helle Blutstropfen flößen von ihren zarten Lippen. Sie drückte rasch ihr Taschentuch darauf. Montevarchi riß es ihr aus der Hand und schleuderte es fort. Sie sah es seinen Augen an, daß er sie wieder schlagen würde, wenn sie noch länger bliebe. Mit einem Blick voll Haß riß sie sich mit Aufbietung aller ihrer Kraft los. „Feigling!? schrie sie, als er zurücktaumelte, und ehe er sich besinnen konnte, war sie fort und er allein. Er war furchtbar böse und zugleich so verwirrt in seinen Ideen, daß er kaum etwas mehr als die Hauptsache von ihrer Geschichte verstanden hatte, nämlich, daß sie in der Nacht, als Corona sie nach Hause gebracht, mit Gouache zusammen gewesen war. Nun fing er an, sich die Sache zu überlegen. Corona wußte natürlich die Wahrheit und folglich ihr Mann ebenfalls. Montevarchi entdeckte, daß er sich schon für ihre Mitschuld an ihnen gerächt hatte, ehe er noch wußte, daß sie sich gegen ihn vergangen hatten. Sein überreiztes Gehirn war kaum im Stande, einen an­ deren Eindruck aufzunehmen. Er lachte laut auf, es war eine Art krampfhaftes Lachen. „Alles!" rief er plötzlich frohlockend. „Alles — sogar ihren Namen — aber das andere —". Sein Gesicht nahm Crawford, Sant' Ilario.

II.

F

114 plötzlich einen andern Ausdruck an, er sank auf den Stuhl zurück und begrub das Gesicht in den Händen, als er be­ dachte, was er alles durch Faustina's Thorheit verloren hätte. Und doch, der Schaden ließ sich noch wieder gut machen, es wußte ja Niemand darum, außer — Er blickte auf und sah, daß Meschini zurückgekommen war und nun vor ihm stand, als ob er etwas erwartete. Das Plötzliche seines Erscheinens entlockte dem Fürsten einen Ausruf der Ueberraschung. „Ja, ich bin wiedergekommen", sagte Meschini. „Die vorhin besprochene Angelegenheit leidet keinen Aufschub, deshalb bin ich wiedergekommen und bitte Sie, die Güte zu haben, mir das Geld auszuzahlen." Montevarchi war aufgeregt und hatte den Ton ruhiger Ueberlegenheit verloren, den er vor seiner Unterredung mit Faustina bewahrt hatte. Der Gedanke, auch Frangipani zu verlieren, bestärkte ihn nur noch in seinem Geiz. „Ich sagte Ihnen schon, daß ich überhaupt nicht mit Ihnen reden wollte, wenn Sie diesen Ton anschlagen," sagte er. „Ich wiederhole es jetzt. Lasten Sie mich, und wenn Sie wieder manierlich geworden sind, werde ich Ihnen etwas geben. Sie bekommen nichts, so lange Sie es wie ein Recht fordern." „3d) - gehe nicht aus dem Zimmer ohne das Geld", versetzte Meschini entschlossen. Die Klingel war dicht neben der Thür. Der Bibliothekar stellte sich davor. „Verlassen Sie das Zimmer!" schrie Montevarchi vor Wuth zitternd. Er war so daran gewöhnt, Meschini zu

mißachten, daß seine Hartnäckigkeit ihn nicht verschüchterte. Der Bibliothekar stand vor der Klingel und dem Thür­ schloß, seine langen Arme hingen herab, sein Gesicht war gelb, seine Augen roth. Jeder hätte sehen können, daß er

115 anfing, gefährlich zu werden. Statt seine Weigerung zu gehen nochmals zu wiederholen, sah er den Fürsten starr an und ein garstiges Lächeln spielte aus seinem häßlichen Gesicht. Montevarchi sah es und seine Wuth brach los. Er stützte die Hände auf die Seitenlehnen des Armstuhls, als ob er aufstehen wollte, und in dem Augenblick wäre er im Stande gewesen, Meschini zu schlagen wie vorhin Fau­ stina. Meschini ging schlürfenden Schrittes auf ihn zu und erhob die Hand. „Werden Sie nicht heftig", sagte er leise. „Ich bin nicht Ihre Tochter, wie Sie wiffen!" Montevarchi erschrak und sank in den Stuhl zurück. „Sie haben gehorcht. Sie haben gesehen —" er schnappte nach Luft. „Ja, natürlich. Wollen Sie mich bezahlen? Ich bin verzweifelt, und ich will das Geld haben. Sie und Ihre elenden Geheimnisse sind in meiner Hand, und ich will den Preis dafür. Ich verlange nur die versprochene Summe. In wenigen Tagen werde ich reich sein, denn ich habe mich an einem Geschäfte betheiligt, bei dem ich Millionen gewinnen werde, vielleicht so viel wie Sie besitzen. Aber morgen früh muß ich das Geld auszahlen, sonst bin ich ruinirt, und Sie müssen es mir geben. Hören Sie? Ver­ stehen Sie, daß ich haben will, was mir zukommt?" Während dieser unzusammenhängenden Rede gewann Montevarchi einigermaßen seine frühere Fassung wieder. In Meschini's Worten lag etwas, worüber sich argumentiren ließ, und dadurch konnte er wenigstens einen Aufschub erlangen. Der Fürst begann wieder in einem anderen Ton: „Aber, mein lieber Meschini, wie konnten Sie so toll­ kühn sein, sich auf eine Spekulation einzulaffen, wenn Sie doch wußten, daß die Sache vielleicht erst in künftiger Woche 8'

116 zur Entscheidung kommen würde? Sie sind wirklich der unbesonnenste Mensch, der mir je vorgekommen ist. Ich kann doch nicht für Ihre Speculationen einstehen. Ich will gerecht sein. Ich habe Ihnen gesagt, zweitausend will ich Ihnen geben" — „Zwanzigtausend!" Meschini trat etwas näher. „Nicht einen Bajocco, wenn Sie unverschämt sind." „Zwanzigtausend harte Scudi baar, sage ich Ihnen, weder mehr noch weniger." Der Bibliothekar ballte die Fäuste und athmete tief, während seine rothen Augen in einer Weise stier blickten, die Montevarchi zu beängstigen anfing. „Nein, nein! seien Sie vernünftig! Mein guter Mes­ chini, ich bitte Sie, benehmen Sie sich doch nicht so. — Ich könnte beinahe glauben, Sie wollen mir drohen. Ich versichere Sie, ich will thun, was recht ist" — „Geben Sie mir sofort das Geld" — „Aber ich habe nicht so viel — Mord! ach — uh" — Arnoldo Meschini hatte seine langen Arme ausgestreckt und seine Hände hatten den Fürsten mit einem Griff an der Gurgel gepackt, von dem kein Loskommen möglich war. In den runden Schultern des Bibliothekars steckte eine erstaunliche Kraft und seine Energie ward durch einen Wuthanfall verdoppelt, der an Wahnsinn grenzte. Der alte Mann schwankte und zuckte auf seinem Stuhl und griff nach der grünen Tischdecke, aber Meschini stand hinter ihm und preßte seine Finger fester und fester. Sein Auge fiel auf Faustina's Taschentuch, das zu seinen Füßen auf dem Boden lag. Sein Opfer that schon fast den letzten Athem­ zug, aber mit dem Taschentuch mußte es noch besser gehen. Meschini hielt ihn mit der einen Hand fest und hob mit der anderen rasch das Tuch auf. Er schlug es dem Fürsten

117 fest um den Hals und zog den Knoten mit seinen gelben Zähnen zusammen. Auf ein krampfhaftes Ringen folgte eine lange Ruhepause — dann noch eine minder heftige Bewegung, noch einige Zuckungen, und dann fühlte Meschini, wie der Körper unter seinen Händen zusammensank. Es war vorüber. Montevarchi war todt. Meschini trat zurück an die Bücherschränke, an allen Gliedern zitternd. Er konnte kaum die Gegenstände im Zimmer unterscheiden, es schwamm ihm vor den Augen, ihm schwanden die Sinne vor Entsetzen und in Folge der furchtbaren körperlichen Anstrengung. Dann wurde ihm Plötzlich klar, was er ge­ than hatte, und die Folgen seiner That fielen ihm ein. Er hatte nicht beabsichtigt, den Fürsten umzubringen. So lange er nicht ganz außer sich war, hatte er ihm nicht ein Mal Gewalt anthun wollen. Aber in ihm steckte eine Berbrechernatur — abwechselnd listig und verschlagen, dann wieder unsinnig heftig. Eine unbezwingliche Macht hatte ihn fortgeriffen, sobald er den Arm erhob, und ehe er sich seiner Handlung recht bewußt wurde, war die That geschehen. Dann kam die Furcht vor den Folgen, darauf die teuflische Ueberlegung, welche intuitiv die unmittelbaren Folgen des Mordes Voraussicht und ihnen sofort zu entgehen sucht. „Niemand weiß, daß ich hier gewesen bin. Nichts fehlt. Niemand weiß um die Fälschung. Niemand wird Verdacht auf mich haben. Es ist Niemand in der Biblio­ thek noch im Corridor. Das Taschentuch gehört mir nicht. Es war entweder das seinige oder Donna Faustina's. Auf sie wird kein Verdacht fallen. Es wird ein Geheimniß bleiben." Meschini ging nach der Thür, durch welche er gekom­ men war, und machte sie auf. Er sah sich um und hielt den Athem an. Der Kopf des Fürsten war vornüber auf

118 seine Hände gefallen, die auf dem Tische lagen, seine Stellung war wie die eines Mannes, den Verzweiflung erfaßt hat, doch nicht die eines Todten. Der Bibliothekar sah sich im Zimmer um. Keine Spur eines Ringens ließ sich wahrnehmen. Kein Möbel war verrückt, nichts zu Boden gefallen. Meschini ging hinaus und machte leise die Thür hinter sich zu; er ließ den Todten allein. Die sanfte Nachmittagssonne fiel auf die gegenüber­ liegenden Häuser und warf einen matten Widerschein in das unheimliche Zimmer, wo Fürst Montevarchi so viele Stunden seines Lebens zugebracht und wo sein Leben ein so plötzliches Ende genommen hatte. Auf dem Tische neben seinen erkaltenden Händen lag die Abschrift des richterlichen Erkenntnisses, das Zeugniß seiner letzten Missethat, des Vergehens, für welches er die Buße gezahlt hatte an dem­ selben Tage, da sie verfallen war. Dort lag sie wie die Ueberschrist auf dem Galgen eines Verbrechers in alter Zeit, um den Grund seines Todes allen denen kund zu thun, welche etwa danach fragten. Kein Ton war zu hören, außer dem Geräusch, das von Zeit zu Zeit von unten aus der engen Straße gedämpft cmportönte, — der Ruf eines Verkäufers, der Gesang eines Gassenbuben, das Gebell eines Hundes. Morgen aber sollte der elende Leichnam auf einem prachtvollen Katafalk ruhen, umgeben von fürstlichem Trauer­ gepränge, von hunderten von Trauerfackeln beleuchtet, ein Gegenstand des Grauens, der Neugier, vielleicht sogar des Spottes für diejenigen, welche dem Fürsten grollten. Viele seiner Bekannten würden kommen und sein Todtenantlitz ansehen, manche würden sagen, er sähe verändert aus, andere nicht. Zn wenigen Stunden würden seine Frau und seine Kinder ganz schwarz gekleidet, schweigend und trauernd herumgehen und gelegentlich etwas Kummer be-

119 zeigen, doch nicht mehr als eben angemessen war. Dann würden Messen gesungen und Gebete gesprochen werden, und in seiner Geburtsstadt würden die Glocken läuten als für einen ihrer hochwichtigsten Angehörigen. All' dies und mehr würde geschehen, ehe der Fürst unter dem Marmor­ boden der Kapelle neben seinen Vorfahren zur letzten Ruhe bestattet würde. Heute aber saß er noch auf seinem schäbigen Stuhl, mit dem Kopf auf dem Tische, an dem er so viele Jahre lang Pläne und Ränke geschmiedet, seine weißen Finger berührten fast das Stück Papier, auf welchem der Sturz der SaracineSca geschrieben stand. Und oben ging der Mann, der ihn umgebracht hatte, schlotternd in der Bibliothek hin und her, mit angstvollem Ausdruck auf seinem gelben Gesicht und besah sich von Zeit zu Zeit die Hände, wenn er einen schweren Band nach dem andern herunternahm, um auch in seinem Alleinsein be­ schäftigt zu erscheinen, wenn einer der Diener hinaufgeschickt wurde, um dem unbedeutenden Bibliothekar mitzutheilen, was sich heute im Palast Montevarchi begeben hatte.

Siebentes Kapitel. Giovanni kam Nachmittags spät nach Hause und fand Corona in ihrem Boudoir am Feuer sitzen. Sie wußte, daß er bald heimkommen würde, hatte sich aber nicht darauf gefreut. Als er in's Zimmer trat, blickte sie ruhig auf ohne zu lächeln, nur um zu sehen, daß er es wäre und kein Anderer. Sie sagte nichts, und er setzte sich ihr gegen­ über an's Kamin. Ihr Beisammensein hatte immer etwas Befangenes, bis einer von Beiden eine Bemerkung machte,

119 zeigen, doch nicht mehr als eben angemessen war. Dann würden Messen gesungen und Gebete gesprochen werden, und in seiner Geburtsstadt würden die Glocken läuten als für einen ihrer hochwichtigsten Angehörigen. All' dies und mehr würde geschehen, ehe der Fürst unter dem Marmor­ boden der Kapelle neben seinen Vorfahren zur letzten Ruhe bestattet würde. Heute aber saß er noch auf seinem schäbigen Stuhl, mit dem Kopf auf dem Tische, an dem er so viele Jahre lang Pläne und Ränke geschmiedet, seine weißen Finger berührten fast das Stück Papier, auf welchem der Sturz der SaracineSca geschrieben stand. Und oben ging der Mann, der ihn umgebracht hatte, schlotternd in der Bibliothek hin und her, mit angstvollem Ausdruck auf seinem gelben Gesicht und besah sich von Zeit zu Zeit die Hände, wenn er einen schweren Band nach dem andern herunternahm, um auch in seinem Alleinsein be­ schäftigt zu erscheinen, wenn einer der Diener hinaufgeschickt wurde, um dem unbedeutenden Bibliothekar mitzutheilen, was sich heute im Palast Montevarchi begeben hatte.

Siebentes Kapitel. Giovanni kam Nachmittags spät nach Hause und fand Corona in ihrem Boudoir am Feuer sitzen. Sie wußte, daß er bald heimkommen würde, hatte sich aber nicht darauf gefreut. Als er in's Zimmer trat, blickte sie ruhig auf ohne zu lächeln, nur um zu sehen, daß er es wäre und kein Anderer. Sie sagte nichts, und er setzte sich ihr gegen­ über an's Kamin. Ihr Beisammensein hatte immer etwas Befangenes, bis einer von Beiden eine Bemerkung machte,

120 aus der sich dann ein alltägliches Gespräch entspann. Dies­ mal schien keiner geneigt, zuerst zu sprechen, und so saßen sie einige Minuten einander schweigend gegenüber. Giovanni sah seine Frau von Zeit zu Zeit an und ein Mal wendete sie den Kopf und begegnete seinen Blicken. Der Ausdruck ihres Gesichts war kalt und ernst, als ob sie ihm zu ver­ stehen geben wollte, daß sie ihm nichts zu sagen hätte. Noch nie war sie ihm so schön erschienen. Der Feuerschein fiel von unten her auf ihr Gesicht und beleuchtete hell das edle Ebenmaß ihrer Züge, die flachen Brauen, die zarten geschweiften Nasenflügel, die schön geschwungenen Lippen, die prächtige Breite ihrer glatten Stirn, beschattet von ihrem vollen schwarzen Haar. Sie schien zu frieren, denn sie saß dicht am Feuer und stützte den einen Fuß auf den Kaminvorsatz in einer Stellung, welche die vollkommenen Linien ihrer Gestalt zur Geltung brachte, während sie sich ein wenig vorbeugte und ihre Hände manchmal gegen das Feuer ausbreitete.

„Corona"-------- Giovanni hielt plötzlich inne, nachdem er ihren Namen ausgesprochen hatte, als hätte er sich unterdefien anders besonnen. „Was denn?" fragte sie gleichgültig. „Möchtest Du fort von hier? Ich habe schon manch­ mal daran gedacht, ob es nicht besser wäre, als hier zu bleiben." Sie sah ihn verwundert an. Sie hatte in letzter Zeit wohl öfter an reisen gedacht, aber es schien ihr, als ob eine gemeinsame Reise nur das Peinliche ihrer Lage steigern könnte. Es würde dadurch ein engeres Beisammensein, mehr täglicher Verkehr bedingt werden, als ihr das Leben in Rom auserlegte. Sie bebte vor dem Gedanken zurück aus demselben Grunde, der ihn ihrem Gatten anlockend machte.

121 „Nein", versetzte sie. „Weshalb sollten wir reisen? Ueberdies mit einem so kleinen Kinde"--------„Wir könnten Orsino zu Hause lassen", meinte Gio­ vanni. Er war nicht vorbereitet auf den Blick, mit welchem sie ihm antwortete. „Darin würde ich auf keinen Fall einwilligen." „Möchtest Du ihn mitnehmen und mich hier laffen? Du könntest ja leicht eine Freundin zur Begleitung finden — oder gar meinen Vater. Es würde ihm viel Vergnügen machen." Es entstand eine ganz kleine Pause, ehe sie ihm ant­ wortete. Das entging ihm nicht, denn er hatte es er­

wartet. „Nein. Das möchte ich auch nicht. Es liegt mir nichts daran, zu verreisen; warum auch und gerade jetzt?" „In dem Falle denke ich, werde ich allein reisen", sagte Giovanni ruhig, während er ihr Gesicht beobachtete. Sie erwiderte nichts, sah ihn aber forschend an, als arg­ wöhnte sie, er wolle ihr eine Falle legen. „Du sagst nichts. Heißt schweigen so viel als ein­ willigen?" „Ich denke, es wäre nicht angerathen." „Du antwortest mir nicht. Sei offen, Corona. Wür­ dest Du nicht gern einige Zeit allein sein?" „Weshalb dringst Du in mich?" sagte sie etwas un­ geduldig. „Willst Du mich dazu bringen etwas zu sagen, was mir nachher leid thut?" „Würde es Dir leid thun, wenn es ausgesprochen wäre? Warum nicht aufrichtig sein? Es würde für Dich eine große Erleichterung sein, wenn ich fortginge. Ich könnte einen sehr guten Vorwand dafür finden, und Niemand würde ahnen, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte."

122 „Was das anbetrifft — so ist das ja nicht der Fall. Natürlich könnte Niemand darüber reden." „Ich weiß, Du denkst, ich habe keinen Tact," bemerkte Giovanni treffend. Corona konnte bei dieser Bemerkung nicht ein Lächeln unterdrücken, weil sie so genau ausdrückte, was sie eben dachte. „Aufrichtig gesagt — es scheint mir bester, die Dinge auf sich beruhen zu lasten; meinst Du nicht auch?" „Wie ruhig Du das sagst!" rief Giovanni. „Für Dich ist es so leicht, für mich so schwer! Zch möchte alles thun, was Du verlangst, und Du verlangst nichts, weil Du lieber jedes Opfer bringen als von mir eins annehmen möchtest. Hast Du mich je wahrhaft geliebt, Corona? Ist es mög­ lich, daß Liebe an einem Tage, durch ein Wort vernichtet werden kann? Ich möchte wohl misten, ob es irgend eine Frau giebt, die so kalt ist wie Du! Macht es Dir irgend etwas aus, daß ich so leiden muß, wie ich Tag für Tag leide?" „Du kannst nicht verstehen" — „Nein, das ist wahr. Ich kann es nicht verstehen. Ich war niedrig, grausam, feige — ich vertheidige mich nicht. Aber selbst wenn ich das alles war und noch schlim­ mer, so geschah es, weil ich Dich liebte; weil der geringste Verdacht mich toll machte, weil ich nicht vernünftig über­ legen konnte, wegen meiner grenzenlosen Liebe zu Dir, eben so wenig, wie ich jetzt vernünftig sein kann. Ach ich liebe Dich zu sehr, zu hingebend, zu leidenschaftlich! Ich will's versuchen, mich zu ändern, ein anderer Mensch zu werden, damit ich Dich wenigstens ansehen kann, ohne den Verstand zu verlieren!" Er sprang auf und ging auf die Thür zu; aber Corona

123 rief ihn zurück. Die Bitterkeit seiner Worte, der Ton, mit dem er sie aussprach, that ihr wehe und machte ihr für den

Augenblick klar, was er litt. „Giovanni — Liebster — geh nicht so von mir — auch ich bin unglücklich." „Bist Du es?" Er stand wieder neben ihr und sah ihr in die Augen. „Tief unglücklich." Sie wendete wiederum ihr Antlitz ab. Sie konnte nicht anders. „Du bist unglücklich und doch kann ich nichts dabei thun. Weshalb rufst Du mich zurück?" „Wenn ich nur könnte, wenn ich nur könnte!" wieder­ holte sie mit leiser Stimme. Einige Sekunden herrschte Schweigen, unterdessen hörte Giovanni sein Herz laut und unregelmäßig klopfen. „Wenn ich Dich nur rühren könnte!" sagte er endlich beinahe unhörbar. „Wenn ich nur etwas für Dich thun, für Dich leiden könnte." Sie schüttelte wehmüthig das Haupt und dann, als fürchtete sie ihn verletzt zu haben, ergriff sie seine Hand und drückte sie freundlich — freundlich aber nicht liebevoll. Seine Hand war eiskalt. Er seufzte und wendete sich wie­ der ab. In dem Augenblick ging die Thür auf und der alte Pasquale erschien mit schreckensbleichem Gesicht. „Excellenz, hier ist ein Briefchen, und der Diener sagt, der Fürst Montevarchi ist soeben ermordet worden, — das Briefchen ist von Donna Faustina und die Polizei ist im Palast Montevarchi, und die arme Fürstin liegt im Ster­ ben und" — Corona war mit einem Schrei des Entsetzens rasch aufgesprungen. Giovanni hatte den Brief genommen und starrte den Diener an, als ob er ihn für verrückt hielte.

124 Dann blickte er auf die Adresse und sah, daß der Brief für seine Frau war. „Faustina wird des Mordes beschuldigt!" ries fie. „Ich muß sofort zu ihr. Anspannen, Pasquale! augen­ blicklich." „FaustinaMontevarchi soll ihrenVatcr ermordet haben", rief Giovanni in höchstem Erstaunen. Corona reichte ihm schnell das Briefchen, es enthielt nur wenige Worte mit zitternder Hand gekritzelt, als ob es in großer Aufregung geschrieben wäre. „Es ist natürlich irgend ein gräßliches Mißverständniß," sagte Corona, „aber ich muß sofort hin." „Zch will mitkommen, vielleicht kann ich etwas helfen." Nach fünf Minuten gingen sie die Treppe hinunter. Der Wagen war noch nicht vorgefahren, sie bestellten ihn nach, gingen auf die Straße und nahmen eine vorüberfahrende Droschke. In der Aufregung thaten sie instinctiv Beide dasselbe. Während der kurzen Fahrt wechselten sie nur wenige Worte und diese bezogen sich nur auf ihr Entsetzen über das schreckliche Ereigniß. Im Palast Montevarchi war bereits alles in größter Verwirrung, die Thüren standen. weit offen, die Dienstboten liefen mit verstörten Gesichtern planlos hin und her. Sie waren eben aus dem vorläufigen Verhör entlassen, welches der Polizeipräfect angestellt hatte. Eine Abtheilung Gensdarmen stand im Vorzimmer im Gespräch beisammen, während einer von ihnen an der Thür

mit gezogenem Säbel Wache hielt und keinen aus dem Hause ließ. Ein bestürzter Lakai führte Giovanni und Corona in das große Empfangszimmer. Das weite Gemach war nur durch eine einzige Lampe erleuchtet, die auf einem gelben Marmortisch stand und dunkle Schatten auf die Gobelins warf. Die altmodischen

125 Möbel standen wie gewöhnlich steif an den Wänden herum; die Lust war feucht und kalt, denn sie wurde nicht einmal durch das übliche kupferne Kohlenbecken erwärmt. Die Stimmen der Personen, welche im Bereich des Lichtscheins in einer Gruppe beisammen standen, klangen hohl und schallten un­ heimlich in der großen Leere wieder. Alle wurden von der harten Stimme des Polizeipräfecten übertönt. „Ich kann Sie versichern," sagte er, „daß es mir un­ endlich leid thut, auf meiner Entscheidung bestehen zu

mästen." Giovanni und Corona traten hinzu und die Uebrigen machten ihnen Platz. Der Präfect stand mit dem Rücken gegen das Licht und den Tisch, wie Jemand, der in die Enge getrieben ist. Er war mittelgroß, sehr brünett und ziemlich stark. Mit seiner Adlernase und seinen runden, halb von den Lidern bedeckten Augen hatte er etwas von einer alten Eule im Aussehen. Seine Stimme klang hart und eintönig, und er schien immer gerade über den Kopf der angeredcten Person fortzusehen. Er gesticulirte nicht und hielt sich sehr gerade. Ihm gegenüber stand Faustina Montevarchi mit durch­ sichtig bleichem Gesicht, die Augen starr und verstört. Sie hielt die Hände vor sich gefaltet, und ihre Finger zuckten nervös. Um sie herum standen ihre Brüder mit ihren Frauen, scheinbar sprachlos vor Entsetzen, sie drängten sich zusammen wie die Schafe vor dem Vertreter des Gesetzes. Weder ihre Mutter, noch Flavia, noch San Giacinto waren dabei. Man konnte sich keinen Kreis von Menschen denken, der vor Furcht sprachloser und hilfloser gewesen wäre. „O Corona! rette mich!" rief Faustina und warf sich in die Arme ihrer Freundin, sobald sie ihrer ansichtig wurde.

126 „Wollen Sie die Güte haben zu erklären, was vor­ gefallen ist?" fragte Giovanni und trat dem Präfecten ernst entgegen. „Wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie dieses unschuldige Kind anklagen, ihren Vater ermordet zu haben? Herr — Sie sind von Sinnen!" „Entschuldigen Sie, Signor Principe, ich bin nicht von Sinnen, und was hier geschehen ist, kann Niemand mehr beklagen als ich," versetzte der andere mit lauter, tönender Stimme. „Ich will Ihnen die Thatsachen in zwei Minuten auseinandersetzen. Vor einer Stunde wurde der Fürst Montevarchi todt gefunden. Er war mit diesem Taschentuch erwürgt worden---------beachten Sie die Blut­ flecken -------- welches ich als ein Beweisstück ansehe. Donna Faustina ist eingestandenermaßen die Letzte, welche den Fürsten am Leben gesehen hat. Sie giebt ferner zu, daß heute Nachmittag zwischen ihr und ihrem Vater ein heftiger Auftritt stattgefunden hat, in dessen Verlauf Seine Excellenz seine Tochter schlug, zweifellos mit dem Rechte väterlicher Züchtigung — bemerken Sie die Geschwulst an ihrer Lippe — es ist auch ein blauer Fleck aus ihrem Arm. Es ist also klar, daß die junge Dame, groß und kräftig, wie sie ist, der Gewalt Gewalt entgegensetzte. Sie ging hinter ihn, — denn der Fürst wurde todt auf seinem Stuhle sitzend gefunden, und es gelang ihr, das Taschentuch so fest zu knoten, daß sie Asphyxie mittelst Erdrosselung ohne Auf­ hängen bewirkte. All' dies ist ganz klar. Ich habe sämmt­ liche Mitglieder des Hausstandes verhört und bin wider­ willig zu dem für alle Wohlgesinnten natürlich ganz ent­ setzlichen Schluffe gekommen, daß diese junge Dame sich durch ihre leidenschaftliche Aufregung so weit fortreißen ließ, ihrem Vater das Leben zu nehmen. Aus diese An­ klage hin bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zu ver-

127 hasten und in Gewahrsam zu bringen, denn der Fall liegt ganz klar." Giovanni konnte während der langen Rede des Präfecten kaum seine Wuth bemeistern, allein er war ent­ schlossen, den Bericht ohne Unterbrechung bis zu Ende anzuhören. Als der Mann zu Ende war, brach aber sein Zorn los. „Und ziehen Sie denn nichts Anderes in Betracht", schrie er, als die Thatsache, daß der Fürst mit diesem Taschentuch erdrosselt worden und daß im Laufe des Tages ein Streit zwischen ihm und seiner Tochter stattgefunden hatte? Wollen Sie behaupten, daß Sie, der ein Mann von Einsicht sein sollte, es für möglich halten, daß dieses zarte Kind einen kräftigen alten Herrn bei der Gurgel nehmen und erdrosseln könnte? Ich sage Ihnen, es ist Tollheit! es ist Unsinn!" „Es ist kein Unsinn", antwortete der Präfect, der während der ganzen Unterredung in demselben einförmigen Ton fortsprach. „Die Thatsachen lassen sich nicht anders

erklären und die Thatsachen sind nicht abzuläugnen. Wollen Sie die Leiche sehen?" „Es giebt tausend Erklärungen, von denen jede zehn­ tausend Mal vernünftiger ist als die von Ihnen vorge­ brachte. Wahrscheinlich hat ihn ein Diener aus Haß er­ mordet, oder um ihn zu bestehlen. Sie find so in Ihrer Idee befangen, daß Sie wahrscheinlich gar nicht daran ge­ dacht haben, das Zimmer zu durchsuchen, um zu sehen, ob etwas entwendet worden oder nicht." „Sie sind im Irrthum. Alles ist durchsucht worden. Ueberdies ist es allbekannt, daß Seine verstorbene Excellenz nie Geld im Hause aufbewahrte. Folglich war nichts zum Stehlen da."

128 „Dann hat es ein Diener aus Rache gethan, falls nicht Jemand durch's Fenster eingestiegen ist." „Durch's Fenster konnte Niemand hereingelangen. Diese junge Dame hat es in ihrer Heftigkeit gethan." »Ich sage Ihnen, es ist nicht wahr!" schrie Giovanni, den die Hartnäckigkeit des Beamten wüthend machte. „Es ist aller Grund vorhanden, es für wahr zu halten," versetzte der Präfect gänzlich unerschüttert. Giovanni stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß auf den Boden und wendete sich ab. Faustina war ein wenig zurückgetreten und stützte sich auf Corona's Arm, während diese ihr Trostworte zuflüstertc, Worte wie sie ihr eben in diesem Augenblick einfielen. Ein schüchternes Beifalls­ gemurmel erhob sich unter den Andern, so oft Giovanni sprach, aber Keiner wagte es, ein deutliches Wort zu sprechen. Giovanni war über alle insgesammt empört und wendete sich an das junge Mädchen selbst. „Donna Faustina, wollen Sie mir alles sagen, was Sie wissen?" Sie schien erschöpft von dem durchgerungenen Kampf, aber bei Sant' Ilarios Frage richtete sie sich auf und trat wieder ein Paar Schritte vor. Giovanni kamen ihre Augen sehr sonderbar vor, allein sie sprach klar und gesammelt. „Ich kann nur noch ein Mal sagen, was ich schon vorhin gesagt habe," antwortete sie. „Mein Vater ließ mich heute Nachmittag zu sich rufen, ich denke ungefähr um drei Uhr. Er sprach von meiner Verheirathung, mit der er sich seit längerer Zeit beschäftigte. Ich sagte ihm, daß ich den Sohn des Fürsten Frangipani nicht heirathen wollte, weil" — sie zauderte. „Weil?" „Weil ich einen Andern liebe", fuhr sie fast trotzig



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fort. „Einen Mann, der kein Fürst ist, sondern ein Künstler." Ein Gemurmel des Entsetzens lief durch den kleinen Kreis ihrer Verwandten. Sie blickte sie verächtlich an. „Ich schäme mich dessen nicht", sagte sie. „Aber ich hätte es Ihnen nicht gesagt, wäre es nicht nothwendig ge­ wesen, damit Sie begriffen, wie empört ich war. Eins habe ich vergessen — er hatte meine Mutter rufen lassen und sie war dabei. Er schickte sie fort Dann kam er zurück und schlug mich! Ich drückte mein Taschentuch an den Mund, weil er blutete. Er riß es mir fort und warf es auf den Boden. Dann ergriff er mich beim Arm — er stand — ich riß mich los und lief fort, weil ich mich vor ihm fürchtete. Danach habe ich ihn nicht wiedergesehen. Mehr weiß ich nicht." Giovanni fiel die gedrängte Kürze auf, mit der Fau­ stina ihre Geschichte erzählte. Sie erzählte sie allerdings zum zweiten Mal, aber während er durchaus an ihre Un­ schuld glaubte, sah er doch ein, daß ihre Art und Weise auf den Präsecten leicht einen schlechten Eindruck gemacht haben konnte. Als sie zu Ende war, stand sie einen Augen­ blick still. Dann ließ sie die Hände zu beiden Seiten herab­ sinken und flüchtete sich wieder zu Corona, die den Arm um das junge Mädchen schlang und sie stützte. „Ich muß sagen, daß mir die Aussage meiner Schwester entschieden wahr scheint", sagte die schwache Stimme des Ascanio Bellegra. Sein dünner blonder Bart schien zu zittern, während er die Lippen bewegte. „Scheint!" rief Corona empört. „Sie ist wahr! Wie kann Jemand so unsinnig sein, daran zu zweifeln." „Ich leugne ja die Wahrheit nicht ab", sagte der Präfect, in die leere Luft sprechend, „ich sage nur, der (Sra wf orb, Sant' Ilario. II. 9

130 Anschein ist derart, daß er mich nöthigt, Schritte zu thun" -------„Wenn Sie Hand an sie legen" — hub Giovanni an. „Drohen Sie mir nicht", fiel der Beamte ruhig ein. „Draußen stehen meine Leute." Giovanni war mit drohender Geberde auf ihn zuge­ treten. Sofort fingen Faustina's Schwägerinnen an vor Schreck zu winseln und zu weinen, während ihre Brüder unentschloffene Bewegungen machten, als ob fie die beiden zornigen Männer trennen wollten, sich aber fürchteten, ihnen in die Nähe zu kommen. „Giovanni!" rief Corona. „Sei nicht heftig, es hilft nichts. Hören Sie mich an!" sagte sie zum Präfecten ge­ wendet und machte dabei eine Bewegung, als ob sie Fau­ stina schützen wollte. „Ich stehe zu Diensten, Frau Fürstin, aber meine Zeit ist kostbar." „Hören Sie mich am Ich will Sie nicht lange auf­ halten. Sie handeln vorschnell und unvorsichtig, indem Sie Donna Faustina verhaften. Sie werden es noch be­ reuen. Zweifellos handeln Sie nach Ihrer Ansicht recht, allein Ihr Herz müßte Ihnen sagen, daß Sie unrecht haben. Sehen Sie sic an! Sie ist ein zartes Kind; sicht sie aus wie eine Mörderin? Sie tritt Ihnen muthig entgegen, weil Sie eine entsetzliche Voraussetzung aufrecht halten, gegen welche sich ihr ganzes Wesen empört, aber können Sie ihr den Muth zutrauen, eine so furchtbare That zu begehen — das Herz um sie zu wollen, die Kraft sie aus­ zuführen? Bedenken Sie was vorfiel! Ihr Vater ließ sie plötzlich zu sich rufen. Er bestand hart auf einer Verbin­ dung, die ihr verhaßt ist. Welches Mädchen würde nicht ihre ganze Kraft aufbieten, um solcher Tyrannei zu wider-

131 stehen? Wer würde sich ruhig in die Verbindung mit einem verhaßten Manne finden? Sie sagte: „Zch will nicht." Sie sagte ihren Eltern sogar, daß sie einen andern Mann liebte. Ihre Mutter verließ das Zimmer, ihre Mutter, die Einzige von der sie Beistand erwarten konnte. Sie blieb mit ihrem Vater allein und der war sehr böse. War er aber ein gebrechlicher kranker Greis, gebeugt durch seine Jahre, an seinen Stuhl gebannt, keiner Anstrengung fähig? Fragen Sie seine Kinder! Wie alle haben ihn sehr gut gekannt. Er war noch nicht sehr alt, er hielt sich ge­ rade, war groß und sogar kräftig für seine Jahre. Er war böse, außer sich vor Enttäuschung. Er steht also vom Stuhl auf, ergreift sie beim Arm und schlägt sie mit der andern Hand. Sie sagen, er habe sie im Sitzen geschlagen. Das ist unmöglich. Hätte sie dann nicht zurücktreten und dem Schlage ausweichen können? Würde der Schlag selbst so­ viel Kraft gehabt haben? Nein, er stand: ein großer zor­ niger Mann und hielt sie bei einem Arm. Ist es denkbar, daß sie, ein schwaches Kind, genug Körperkraft hatte, um ihn mit Gewalt auf den Stnhl zurückzuzwingen, ihn fest« znhalten, während sie ihm das Taschentuch um den Hals band, ihm Widerstand zu leisten und ihn festzuhalten, bis der Todeskampf vorüber war? Meinen Sie, so ein Mann stirbt leicht? Glauben Sie, um ihn umzubringen, genügte es, ihm die Finger an die Gurgel zu drücken — solche kleinen zarten Finger?" Dabei hielt sie den Andern Fau­ stinas Hand vor die Augen, welche willenlos in der ihren lag. „Ein Mann stirbt nicht im Augenblick durch Erdrosielung. Er ringt, er schlägt verzweifelt um sich, er wendet sich rechts und links und windet sich mit aller Kraft. Hätte dieses Kind ihn dabei halten können? Ich frage Ihre gesunde Vernunft! Ich frage Ihr Herz, ob ein Ge9'

132 schöpf, das Gott so hold, so schön, so unschuldig geschaffen, eine so furchtbare That thun konnte? Ein Weib, das solch' Verbrechen begehen könnte, würde den Stempel ihrer Schlech­ tigkeit auf dem Gesicht tragen, und den Schrecken über ihre That in der Seele. Sie würde zittern, würde versucht haben zu entfliehen, sie würde in ihrem Bericht stocken, sich widersprechen, stecken bleiben, sich heuchlerische Thränen auspreffen, sich so verstellen wie ein Weib, welches zum ersten Mal ein großes Verbrechen begangen hat, sich zweifellos verstellt hätte. Und dieses Kind steht hier, diesem furcht­ baren Verhör preisgegeben, von Keinem vertheidigt, und vertheidigt sich selbst mit der ganzen Unschuld ihres Wesens, dem Glanz der Wahrheit in ihren Augen, dem muthigen Selbstbewußtsein eines makellosen Lebens im Herzen. Ist das ein angenommenes Wesen? Ist das Verstellung? Sie haben Mörder gesehen — Ihr Amt bringt das mit sich — haben Sie je eine Mörderin gesehen wie diese? Erkennen Sie nicht die äußeren Anzeichen der Schuld, wenn Sie sie vor Augen haben? Sie würden eine Handlung begehen, die in jeder Hinsicht ungeheuerlich wäre, ungeheuerlich in ihrer Ungereimtheit wie in ihrer Grausamkeit, empörend für die gesunde Vernunft und jede Regung der menschlichen Natur. Forschen Sie, untersuchen Sie, verhören und ver­ haften Sie, wen Sie wollen, aber laffen Sie dieses Kind in Ruhe; dieses junge Mädchen mit dem Engelsantlitz, den furchtlosen Augen, dem schuldlosen Herzen!" Durch Corona's entschlossenes Auftreten, so wie durch ihre verständige Beweisführung ermuthigt, drückte die schüchterne Schaar der Verwandten ihre Zustimmung hör­ bar aus. Giovanni blickte seine Frau staunend an; noch nie hatte er eine so lange Rede von ihr gehört und nicht die dabei entfaltete Gewandtheit in ihr geahnt. Er war

133 stolz auf sie und trat näher, als ob er jedes von ihr ge­ sprochene Wort bekräftigen wollte. Der Präfect allein blieb von ihrer Beredsamkeit ungerührt. Er war in seinem Beruf daran gewöhnt, viel leidenschaftlichere Angriffe auf sein Gefühl auszuhalten, und überdies, weil er meistens rasch handeln mußte, hatte er sich angewöhnt, der ersten Eingebung seines Verstandes zu folgen. Einen Augen­ blick schlug er die schweren Augenlider vor Erstaunen oder Bewunderung auf, sonst aber verrieth kein Zug in seinem Gesicht Rührung. „Frau Fürstin," sagte er in seinem gewöhnlichen Tone, „diese Erörterungen können paffend von denjenigen angestellt werden, denen die Vertheidigung der Angeklagten vor Ge­ richt obliegt" — Giovanni lachte ihm ins Gesicht. „Meinen Sie im Ernst, daß Donna Faustina jemals vor Gericht gestellt werden wird?" fragte er verächtlich. Der Präfect bewahrte seine Faffung in bewundernswerther Weise. „Es ist meines Amtes, das anzunehmen," versetzte er. „Ich bin weder das Gesetz, noch seine Eminenz, und es steht mir nicht zu, die Vertheidigung zu beurtheilen oder auf Gnadengesuche zu hören. Ich handle auf meine eigne Verantwortung, und mir steht es zu, zu beurtheilen, ob -ie Thatsachen geeignet sind mein Verfahren zu rechtferti­ gen. Mein Rus hängt von meinem Urtheil ab und von nichts weiter. Das Schicksal der Angeklagten hängt von einer Menge von Rücksichten ab, mit denen ich nichts zu thun habe. Ich muß Ihnen deutlich sagen, daß diese Unter­ redung ein Ende nehmen muß. Ich bin' sehr geduldig. Ich möchte nichts übersehen. Argumente nützen nichts. Wenn gegen irgend Jemand anders in diesem Hause schwerer

134 wiegende Beweise vorgebracht werden können, so bin ich bereit, sie anzuhören." Er sah sich ruhig im Kreise der Zuhörer um. Faustina's Angehörige bebten vor seinem Blick etwas zurück. „Da ich hier keine andere Person finden kann, die mir mit mehr Wahrscheinlichkeit schuldig vorkommt, und da ich Beweise genug vorgefunden habe, um mein Verfahren zu rechtfertigen, so gedenke ich, diese junge Dame sofort nach den Termini zu bringen." „Das werden Sie nicht!" sagte Giovanni und stellte sich mit drohender Miene vor ihn. „Wenn Sie den Ver­ such machen, lasse ich Sie vor dem nächsten Morgen selbst einsperren." „Sie wissen nicht, was Sie reden, Signor Principe. Sie können mich nicht hindern. Mir steht hier eine be­ waffnete Macht zu Befehl, und wenn Sie gewaltsamen Widerstand versuchen, muß ich Sie ebenfalls festnehmen lassen, wenn auch sehr gegen meinen Willen. Donna Fau­ stina Montevarchi, ich habe die Ehre Sie zu verhaften. Ich hoffe, Sie werden keinen Widerstand leisten." Die tragikomische Phrase glitt im Amtston über seine Lippen; indem er von der Verhaftung als einer Ehre für ihn sprach, versuchte er auf seine Weise verbindlich zu sein. Er trat einen Schritt auf das junge Mädchen zu, aber Giovanni ergriff ihn fest am Handgelenk. Er versuchte nicht, sich los zu machen, sondern stand ganz still. „Signor Principe, haben Sie die Güte, meine Hand loszulassen." „Sie sollen sie nicht anrühren", antwortete Giovanni, ohne ihn loszrrlasien. Er fing an, gefährlich zu werden. „Signor Principe, lassen Sie mich augenblicklich los!" sagte der Präfect in befehlendem Ton. „Nun gut, ich

135 werde meine Leute rufen", sagte er, nahm mit der freien Hand eine kleine silberne Pfeife heraus und fehle sie an die Lippen. „Wenn ich sie herbeirufe, muß ich Sie in's Gefängniß schicken, weil Sie mich in der Ausführung mei­ ner Pflicht behindert haben," sagte er, indem er Giovanni fest ansah und eben pfeifen wollte. Giovanni's Blut war in Wallung, er hätte den Mann nicht losgelasien. Allein in diesem Augenblick riß sich Fau­ stina aus Corona's Armen los und sprang hinzu. Mit einer Hand schob sie Sant' Ilario zurück, mit der andern ergriff sie die Pfeife. „Ich will mit Ihnen kommen", rief sie dem Präfecten zu. „Ich will mit ihm gehen!" wiederholte sie, sich an Giovanni wendend. „Es ist ein furchtbares Mißverständ-

niß, aber fernerer Widerstand ist ganz nuhlos. Ich will mitgehen!" Seitens ihrer Angehörigen wurde dieser Entschluß mit einem Chor hysterischen Schluchzens begrüßt. Giovanni machte noch einen letzten Versuch, um sie an der Ausführung ihres Entschluffes zu verhindern. Er war zu aufgeregt, um das Hoffnungslose der Sache einzusehen, und sein Gerechtigkeitsgefühl empörte sich beim Gedanken an die Schmach. „Donna Faustina! ich beschwöre Sie!" rief er. „Noch kann ich diesen Schimpf verhindern. Sie müssen nicht gehen. Ich will den Cardinal aufsuchen und das Miß­ verständniß aufklären; er wird sofort einen Befehl ab­ senden." „Sie irren", entgegnete der Präfect. „Er wird nichts dergleichen thun. Ueberdies können Sie dieses Haus nicht ohne meine Erlaubniß verlassen. Alle Thüren sind be­ setzt."

136 „Aber Sie können doch diese Bitte nicht abschlagen", wendete Corona ein, die während des Streites nicht mit­ gesprochen hatte. „Mein Mann wird kaum eine halbe Stunde brauchen, um Seine Eminenz zu sehen und den Befehl auszuwirken" — „Dennoch erlaube ich es nicht", versetzte der Beamte fest. „Donna Faustina muß unverzüglich mitkommen. Sie mischen sich nutzlos ein und machen ganz überflüssigen Lärm. Ich habe meinen Entschluß gefaßt." „Dann will ich mit ihr gehen", sagte Corona und drückte das junge Mädchen an sich, indem sie einen ver­ ächtlichen Blick auf die bebenden Gestalten der andern warf. Unterdessen waren die Schwägerinnen ihren Gatten in die Arme gefallen, und es ließ sich kaum sagen, wer hoff­ nungsloser hysterisch war, die Männer oder die Frauen. Giovanni gab den Kampf widerwillig auf, da der Präfect mit seinen Soldaten so entschieden in der Uebermacht war. „Ich will auch mitkommen", sagte er. „Sie können nichts dagegen haben, Donna Faustina in unserm Wagen sortzuführen." „Dagegen habe ich nichts. Aber männlicher Besuch ist nach Sonnenuntergang im Termini-Gefängniß nicht gestattet. Die Frau Fürstin kann die Nacht über dort bleiben, wenn es ihr beliebt. Ich werde einen Gensdarmen in den Wagen setzen, um der Form zu genügen." „Ich denke, Ihnen wird mein Versprechen genügen, daß ich Donna Faustina an ihren Bestimmungsort bringen werde," sagte Giovanni. Der Präfect zögerte. „Es ist wider die Form," sagte er endlich, „aber ich will es Ihnen zu Gefallen thun. Sie geben mir Ihr Ehrenwort?"

137 „Ja, weil Sie im Stande sind, Gewalt zu gebrauchen. Wir handeln unter Protest. Merken Sie sich das!" Faustina's Muth verließ sie nicht im letzten Augenblick. Sie küßte ihre Brüder und ihre Schwägerinnen so zärtlich, als ob sie sich erboten hätten, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie weinten und schluchzten und betheuerten ihre Liebe und Treue, doch keiner erbot sich mitzugehen. Die einzige, welche muthig genug dazu gewesen, war Flavia, aber selbst wenn sie dabei gewesen wäre, hätte sie nicht Herz genug zu einer so selbstlosen That gehabt. Faustina mit Corona, Giovanni mit dem Präsecten gingen zu­ sammen aus dem Zimmer. „Ich will Sie vor morgen in's Gefängniß bringen", sagte Sant' Ilario grimmig dem Beamten in's Ohr, sobald sie die Vorhalle erreicht hatten. Der Präfect erwiderte nichts, er zuckte nur unmerklich die Achseln und lächelte zum ersten Male, indem er auf die Gensdarmen wies. Diese traten in Reih und Glied und marschirten hinter den vier Personen hinunter. Wenige Minuten darauf war die ganze Gesellschaft auf dem Wege nach den Termini. Faustina mit ihren Freunden in Sant' Jlario's Wagen, der Präfect in seinem kleinen Brougham, die Soldaten zu Pferde, dicht neben einander daher trabend. Faustina lehnte den Kops an Corona's Schulter, wäh­ rend Giovanni durch's Fenster auf die dunklen Straßen starrte, in ihm kochte die Wuth um so heißer, als er durch­ aus nichts thun konnte, um den Gang der Dinge zu änbem. Von Zeit zu Zeit stieß er heftige Worte hervor, die noch immer den künftigen Frieden des Präfecten be­ drohten, sei es in dieser oder in jener Welt, aber das Rollen der Räder auf dem unebenen Pflaster übertönte seine Stimme.

138 „Liebes Kind", sagte Corona. „Sei nicht ängstlich. Du wirst noch heute Abend oder morgen frei sein, ich werde Dich nicht verlassen." Faustina schwieg, drückte aber immer wieder ihrer Freundin die Hand, als ob sie sie wohl verstände. Sie war so ganz von seltsamer Bestürzung überwältigt, daß sie kaum wußte, wie ihr geschah. Ihr war so zu Muthe wie schon ein Mal in ihrem Leben, nämlich am Abend des Aufstandes, als sie auf dem Pflaster vor der halb einge­ stürzten Kaserne dalag, betäubt durch die Explosion, eine Weile unfähig, zum Bewußtsein zu kommen, nur durch ihre physische Spannkraft aufrecht erhalten, die noch zu jugendlich war, um durch eine moralische Erschütterung zusammen zu brechen.

Achtes Kapitel. Am nächsten Morgen erschallte durch ganz Rom die Neuigkeit, daß die Saracinesca ihren Titel verloren hätten, und daß Faustina Montevarchi ihren Vater ermordet hätte. Niemand brachte die beiden Begebenheiten mit einander in Verbindung, allein der Schreck für die Gesellschaft war so groß, daß fast jegliche unwahrscheinliche Geschichte Glauben gefunden hätte. Gewöhnlich wurde die Sache so erzählt: Faustina wäre wahnsinnig geworden und hätte ihren Vater im Schlafe erwürgt. Einstimmig behaupteten alle, man hätte ihn todt gefunden mit ihrem Taschentuch um den Hals. Ferner wurde erzählt, das junge Mädchen wäre nicht mehr im Palast Montevarchi, sondern wäre nach dem Ge­ fängniß für Frauen an den Termini gebracht worden, bis der Fall genauer untersucht werden könnte. Der Palast Montevarchi war schwarz behängt und noch vor Abend

138 „Liebes Kind", sagte Corona. „Sei nicht ängstlich. Du wirst noch heute Abend oder morgen frei sein, ich werde Dich nicht verlassen." Faustina schwieg, drückte aber immer wieder ihrer Freundin die Hand, als ob sie sie wohl verstände. Sie war so ganz von seltsamer Bestürzung überwältigt, daß sie kaum wußte, wie ihr geschah. Ihr war so zu Muthe wie schon ein Mal in ihrem Leben, nämlich am Abend des Aufstandes, als sie auf dem Pflaster vor der halb einge­ stürzten Kaserne dalag, betäubt durch die Explosion, eine Weile unfähig, zum Bewußtsein zu kommen, nur durch ihre physische Spannkraft aufrecht erhalten, die noch zu jugendlich war, um durch eine moralische Erschütterung zusammen zu brechen.

Achtes Kapitel. Am nächsten Morgen erschallte durch ganz Rom die Neuigkeit, daß die Saracinesca ihren Titel verloren hätten, und daß Faustina Montevarchi ihren Vater ermordet hätte. Niemand brachte die beiden Begebenheiten mit einander in Verbindung, allein der Schreck für die Gesellschaft war so groß, daß fast jegliche unwahrscheinliche Geschichte Glauben gefunden hätte. Gewöhnlich wurde die Sache so erzählt: Faustina wäre wahnsinnig geworden und hätte ihren Vater im Schlafe erwürgt. Einstimmig behaupteten alle, man hätte ihn todt gefunden mit ihrem Taschentuch um den Hals. Ferner wurde erzählt, das junge Mädchen wäre nicht mehr im Palast Montevarchi, sondern wäre nach dem Ge­ fängniß für Frauen an den Termini gebracht worden, bis der Fall genauer untersucht werden könnte. Der Palast Montevarchi war schwarz behängt und noch vor Abend

139 wurden Trauertrophäen an der Front der Pfarrkirche an­ gebracht, welche das Wappen der Famile Montevarchi trug. Niemand wurde unter irgend welchem Vorwand in den Palast gelassen, obschon es hieß, San Giacinto und Flavia hätten die Nacht dort zugebracht. Niemand hatte ein Mitglied der Familie gesehen und Keiner schien recht zu wissen, von wo all' die Einzelheiten der Geschichte herkamen. Sonderbarerweise war an dem Gerede jedes Wort wahr, bis auf die Anklage gegen Faustina. Was in der Zwischen­ zeit geschehen war, ehe Giovanni und Corona hinkamen, läßt sich kurz berichten. Der Fürst Montevarchi wurde von dem Diener todt gefunden, der gegen Abend, als es dunkelte, eine Lampe in sein Zimmer brachte. Sobald die Schreckensnachricht sich verbreitete, entstand eine unbeschreibliche Verwirrung, und diese hielt an, bis der Präfect in Begleitung seiner Polizeisoldaten eintraf. Das Taschentuch wurde besichtigt und erkannt. In Uebereinstimmung mit der damals in Rom üblichen Sitte kündigte darauf der Präfect seinen Beschluß an, Faustina zu verhaften. Das Gesetz nahm es als selbstverständlich an, daß auf das erste Beweisstück hin mit größter Schnelligkeit zu verfahren wäre. Aus einigen Fragen hatte sich sofort ergeben, daß Faustina die letzte Person gewesen, die den Fürsten am Leben gesehen, hatte. Das junge Mädchen bezeigte eine Ruhe, die alle in Erstaunen setzte. Sie gab zu, daß ihr Vater böse auf sie gewesen und sie geschlagen hätte, aber sie leugnete alle Mitwissenschaft in betreff seines Todes ab. Es genügt zu sagen, daß sie furchtlos die Wahrheit sprach und zwar so furchtlos, daß sie selbst ihre eigene Familie gegen sich ein­ nahm. Sogar das Blut auf dem Taschentuch sprach gegen sie, obgleich sie erklärte, daß es ihr eigenes wäre und die

140 Wunde an ihrer Lippe ihre Aussage bestätigte. DerPräfect war unerbittlich. Er erklärte, Faustina könnte in aller Stille nach den Termini gebracht werden, und ihre Familie könnte am nächsten Tage all' ihren Einfluß für ihre Be­ freiung aufbieten, aber seine Pflicht nöthigte ihn, sie vor­ läufig in Gewahrsam zu bringen; er wäre verantwortlich, er thäte nur seine Schuldigkeit und so weiter und so weiter. Die Bestürzung der Familie läßt sich denken. Die Fürstin brach ganz zusammen und schien wie vom Schlage gerührt. San Giacinto und Flavia waren nicht in ihrer Wohnung zu finden, und da der Wagen nicht zurückgekom­ men war, wußte Niemand, wo sie waren. Faustina's Schwägerinnen schlossen sich auf ihren Zimmern ein und ergingen sich in hysterischem Weinen, während die Brüder selbst eben so hilflos und unfähig schienen, etwas für Fau­ stina zu thun. Als sie sich so ganz verlassen sah, schickte sie nach Corona Saracinesca, und das war das Klügste, was sie thun konnte. Eine Viertelstunde darauf trat Corona mit ihrem Mann in's Zimmer. Der darauf folgende heftige Auftritt ist bereits geschildert worden. Giovanni drohte dem Präfecten, ihn binnen zwölf Stunden in die Carceri nuove sperren zu lassen, falls er auf Faustina's Verhaftung bestünde, allein der Präfect blieb Herr der Situation, weil er eine bewaffnete Bedeckung mit sich hatte, gegen welche Giovanni nichts ausrichten konnte. Es konnte nichts weiter erreicht werden, als daß Giovanni und Corona Faustina in ihrem Wagen nach den Termini bringen durften, und daß Corona die Nacht über bei dem unglücklichen jungen Mädchen bleiben konnte, falls sie es wünschte. Giovanni wurde nicht hineingelassen. Das Gefängniß an den Termini wurde von Ordens-

141 schwestern versehen, die sich besonders der Pflege der Ge­

fangenen widmeten. Der Präfect traf in seinem kleinen Wagen gleichzeitig mit der Gefangenen und deren Freunden ein. Als das Thor aufging und eine der Nonnen erschien, flüsterte er ihr einige Worte in's Ohr. Sie sah zuerst sehr ernst aus, als sie aber Fanstina's holdes Gesicht erblickte, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Der Präfect hatte in­ dessen seine Schuldigkeit gethan. Die Thore des Gefäng­ nisses schlossen sich hinter den beiden Damen, und die Schildwache draußen ging wieder auf und ab, während die Wagen fortfuhren, der eine mit dem Vertreter des Gesetzes, der andere mit Giovanni, welcher sich trotz der späten Stunde sofort nach dem Vatican fahren ließ. Der große Cardinal empfing ihn, verweigerte aber zu seiner Verwun­ derung den Befehl zur Freilassung. Die Nonne, welche Corona und Faustina eingelassen, nahm die letztere freundlich bei der Hand und sah ihr beim Schein ihrer kleinen Laterne in's Gesicht. „Es ist irgend ein fnrchtbares Mißverständniß, mein Kind," sagte sie. „Aber mir bleibt nichts anderes übrig als zu gehorchen. Sie sind Donna Faustina Montevarchi?" „Ja und dies ist die Fürstin Sant' Ilario." Wollen Sie mitkommen? Ich will Ihnen das beste Zimmer geben, welches wir haben, es ist kaum wie ein Gefängniß." „Aber dies ist cs!" sagte Faustina und schauderte beim Anblick der festen Steinmauern, so wie beim Wehen der feuchten Nachtluft. „Muth, liebes Herz!" flüsterte Corona und drückte die zarte Gestalt des Mädchens fest an sich und zog ihr den Mantel über die Schultern. Allein Corona selbst war be­ sorgt um den Ausgang des unheimlichen Abenteuers, und

142 sie sah ängstlich vorwärts in das Dunkel jenseits der Laterne, welche die Nonne trug. Endlich befanden sie sich in einem kleinen geweißten Zimmer, so klein, daß zwei Flämmchen einer messingnen Oellampe auf dem Tische es hell erleuchteten. Die Nonne ließ sie auf Corona's Bitte allein und versprach, in einer Stunde wiederzukommen. Faustina setzte sich auf den Rand des schmalen Bettes und Corona setzte sich neben sie auf einen Stuhl. Bis dahin hatte die Aufregung über das in den letzten drei bis vier Stunden Vorgefallene das junge Mädchen aufrecht erhalten. Alles Geschehene war ihr wie ein Traum vorgekommen, bis sie sich plötzlich in einer Zelle des Termini-Gefängnisies befand, von allen außer Corona verlassen. Da verließ sie der Muth. Sie warf sich auf's Kissen und brach in Thränen aus. Corona wußte nicht, was sie thun sollte, versuchte aber sie zu trösten, so gut sie konnte, und fragte sich in ihrem Innern, was wohl aus dem armen Kinde geworden wäre, wenn sie allein hierher gebracht worden. „Was habe ich gethan, daß mir so etwas zustoßen muß?" rief Faustina endlich; sie richtete sich auf und sah ihre Freundin verstört an. Ihre weißen Händchen lagen hilflos auf ihrem Schooß und ihr volles braunes Haar löste sich und fiel ihr über die Schulter. Corona standen die Thränen in den Augen. Es kam ihr unbeschreiblich ergreifend vor, daß dieses unschuldige Geschöpf zum Sühnopfer für ein so furchtbares Verbrechen ausersehen sein sollte. „Es wird sich morgen alles aufklären", sagte sie und versuchte heiter, oder wenigstens hoffnungsvoll zu sprechen. „Es ist ein abscheulicher Mißgriff des Präfecten. Ich will Dich nicht verlassen, mein Lieb, faste Muth, wir wollen mit

143 einander sprechen, — die Nonne wird Dir etwas zu essen bringen; die Nacht wird bald vorübergehen." „Im Gefängniß!" rief Faustina entsetzt und voll Ver­ zweiflung, ohne auf Corona's Worte zu achten. „Versuche Dir zu denken, daß es nicht so ist" — „Und mein Vater todt!" Ihr schien plötzlich klar zu werden, daß er für immer hin sei. „Der arme Papa! der arme Papa!" stöhnte sie. „Ach, ich wollte ja nicht ungehorsam sein, wirklich nicht — und ich kann's ihm nie mehr sagen"--------„Du mußt Dir keine Vorwürfe machen, mein Lieb­ ling", sagte Corona und versuchte sie zu beruhigen und ihr jammervolles Antlitz an ihre Schulter zu ziehen, wäh­ rend sie den Arm zärtlich um das junge Mädchen schlang. „Bete für ihn, Faustina, aber mache Dir nicht zu viel Vorwürfe. Fm Grunde war er ja hart gegen Dich" — „Ach, sage das nicht! er ist todt!" Ihre Stimme sank zum Flüsterton herab, während sie sprach und ein Aus­ druck frommen Schauders trat auf ihr Gesicht. „Er ist todt, Corona! Ich werde ihn nie mehr Wiedersehen — ach, warum habe ich ihn nicht mehr geliebt? Ich zittere bei dem Gedanken, daß er todt ist — wer hat es gethan?" Die Frage kam ganz plötzlich, Faustina fuhr zusammen und schauderte. Corona drückte sie an sich und streichelte ihr sanft das Haar. Sie fühlte, sie mußte etwas sagen, glaubte aber kaum, daß Faustina Vernunft annehmen würde. Indessen nahm sie sich zusammen und versuchte ihr Bestes. „Höre mich an Faustina", sagte sie im Tone ruhiger Ueberlegenheit, „und versuche es alles so anzusehen, wie ich es ansehe. Es ist nicht recht, daß Du Dir Vorwürfe machst, denn Du hast keinen Theil am Tode Deines Vaters,

144 und wenn ihr im Zorn geschieden seid, so war es seine Schuld, nicht Deine. Er ist todt, und Dir bleibt nichts, als für die Ruhe seiner Seele zu beten. Du bist unge­ rechterweise einer That beschuldigt, die Du schon physisch gar nicht im Stande wärest zu vollbringen, wie Jeder ein­ sehen muß. Du wirst morgen früh, wenn nicht schon in dieser Nacht, aus diesem Gefängniß befreit werden. Einerlei ist ganz nothwendig, Du mußt ruhig und gefaßt sein, sonst bekommst Du in wenigen Stunden ein Nervenfieber. Halte mich nicht für herzlos, Geliebte! Es hätte Dir etwas Schlimmeres zustoßen können. Auf Dich hat ein unwissender Mann Verdacht, der seinen Irrthum schwer büßen wird; es hätten aber auch diejenigen, welche Du lieb hast, Ver­ dacht gegen Dich schöpfen können." Corona stutzte und ihre Stimme bebte bei den letzten Worten. Nach ihrer Ansicht litt Faustina viel mehr unter dem furchtbaren Schreck als durch wirklichen Kummer. Sie wußte, daß sie ihren Vater nicht geliebt hatte, aber der Schreck über seinen Tod und das Entsetzen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, waren beinahe genug, sie wahnsinnig zu machen. Und doch konnte sie nicht leiden, was Corona gelitten hatte, als Giovanni ihr mißtraute; sie hatte nicht das zu verlieren, was Corona verloren hatte, die herrschende Leidenschaft ihres Lebens war nicht plötzlich in der Todesqual einer Stunde in ihr ausgebrannt worden, sie war nur das Opfer eines Irrthums, der keine weiteren Folgen haben und keine Spuren zurücklassen konnte. Aber Faustina zitterte und wurde bei Corona's Worten noch bleicher. „Diejenigen, welche ich liebe? Ach nein, er nicht, — aber sie!" Das Blut strömte in ihr bleiches Gesicht und ihre Hand sank auf die Schulter ihrer Freundin.

145 Corona wußte, daß sie an Anastasius dachte. Sie fragte sich, ob der heißblütige Künstler wohl schon die Kunde gehört hätte, und was er thun würde, wenn er erführe, daß Faustina im Gefängniß säße. „Und doch — vielleicht — ach nein das ist unmöglich!" Ihre süße leise Stimme wurde wieder von heftigem Schluchzen erstickt. Lange Zeit konnte Corona nichts thun, um sie zu be­ ruhigen. Das Weinen mochte für das überreizte Gemüth des jungen Mädchens eine Erleichterung sein, allein es war herzzerreißend anzuhören und zu sehen. „Liebst Du ihn sehr, mein Herz?" fragte Corona, als das krampfhafte Schluchzen nachließ. „Ich würde für ihn sterben, und er würde für mich sterben", antwortete Faustina einfach, aber ein glückseliges Lächeln leuchtete hindurch durch ihren Kummer und be­ wies deutlich, wie viel theurer ihr der Ueberlebende war als der Todte. „Erzähle mir von ihm", sagte Corona leise. „Gehört er zu meinen Freunden?" — „Ja freilich! Du weißt nicht, wie er Dich verehrt. Ich denke, nächst mir in der ganzen Welt — aber natürlich, Dich könnte er doch nicht lieben — überdies bist Du ja verheirathet." Corona konnte nicht umhin zu lächeln, und doch war ein Stachel in den Worten, von dem Faustina sich nichts träumen ließ. Warum konnte Giovanni nicht die gerade einfache Ansicht dieses Kindes gehabt haben, das so etwas für unmöglich erklärte, — weil Corona verheirathet war. Weich' eine Fülle unschuldigen Glaubens an die Tugend lag in dem Gedanken! Die Fürstin fing an, eine merk­ würdige Lust zu verspüren, herauszufinden, was Faustina Erawford, Sant’ Jlaric. II. IQ

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für diesen Mann empfände, den sie, Corona, im Verdacht gestanden hatte zu lieben. Wie mochte es sein, einen sol­ chen Mann zu lieben? Er war hübsch, klug, tapfer, viel­ leicht sogar interessant, aber ihn zu lieben — Corona fühlte plötzlich das Interesse in der Analyse seines Characters, das in uns erweckt wird, wenn wir von Jemandem in's Ver­ trauen gezogen werden, der uns aus Erfahrung sagen kann, was wir in Bezug auf eine dritte Person gefühlt haben würden, die unserm Leben sehr nahe getreten, falls er oder sie wirklich ein Theil unsers Lebens geworden wäre. Faustina's gegenwärtiger Kummer und das Bewußtsein der

Gefahr verschwand momentan, als sie dazu gebracht wurde, über das zu sprechen, was ihr ganzes Sein anssüllte, und Corona bemerkte, daß sie durch ein Gespräch darüber die Gedanken des jungen Mädchens von der traurigen Gegen­ wart ablenken konnte. Faustina schien ihr Unglück zu vergessen, indem sie von Gouache sprach; Corona hörte zu und ermunterte sie sortzufahren. Die seelenstarke Frau, welche so viel gelitten hatte, sah vor ihren Augen eine Reihe von Bildern ent­ rollen, die als Ganzes etwas ihr durchaus Neues darstellten. Sie verstand zum ersten Mal in ihrem Leben die reine Liebe eines unschuldigen Mädchens, und in dem, was sie dabei lernte, war etwas, das sie weich und ihre Augen feucht machte. Sie sah das zarte Wesen neben sich auf dem rohen Bette sitzend an, ihre engelgleiche Schönheit hob sich von dem kalten Hintergründe der geweißten Wand ab. Die Umrisse dos Gesichtes erschienen förmlich ätherisch, als verschmölzen sie mit der durchsichtigen stillen Luft; die sanften braunen Augen waren voll Schmerz und voll Liebe, das weiche volle Haar fiel ihr aufgelöst über die Schulter, mit jener reizenden Unordnung, wie sie schönen Dingen in

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der Natur eigen ist, wenn sie freigelassen in die ihnen eigenthümliche Form zurücksinken, ihre feinen weißen Finger hielten Corona's dunklere Hand fest und drückten sie und bewegten sich ausdrucksvoll bei jedem ihrer Worte. Es war Corona, als wäre ein Genius aus einer andern Welt herabgestiegen, um ihr von der Liebe eines Engels zu er­ zählen. Sie, die ältere, dachte an ihr eignes Leben und ver­ glich es mit dem jungen Leben, das vor ihr lag. An einen hinfälligen alten Mann verkauft, der sie auf seine eigene seltsame und rührende Weise angebetet, hatte sie fünf Jahre lang eine Liebe ertragen müssen, die ihr widerwärtig war, hatte sie bis zu seinem Ende ertragen und in der Erfüllung ihrer Pflicht jede natürliche Neigung aufgeopfert. Endlich frei geworden, hatte sie sich ihrer Liebe zu Giovanni mit einer so starken Leidenschaftlichkeit hingegeben, wie sie der ersten Jugend fremd ist. Sie fragte sich, was aus dieser Leidenschaft geworden, und ob sie je wieder aufleben könnte. Jedenfalls war sie ganz etwas Anderes, als die Liebe, von der Faustina sprach. Sie hatte im Anfang mit aller Macht dagegen angekämpft; jetzt da diese Leidenschaft geschwunden, blieb sie kalt und gleichgültig gegen alles, was nah ihr war, sie war unfähig, auch mir noch den Schein von Liebe zu zeigen. Wie ein Wirbelwind durch den tiefen Wald, so war diese Liebe durch ihr Leben hindurchgcgangen und ihre Spur glich einer Narbe. Was Faustina an sich erfuhr, das hatte sie nie erfahren können, das plötzliche Empor­ wachsen von etwas Herrlichem in ihrem Herzen, gegen das sie nicht anzukämpfen brauchte, die völlige Hingebung vom ersten Augenblicke an, die Freude an einer Liebe, die ihr plötzlich aufgegangen war wie das Morgenroth eines schönen Tages, das unaussprechliche Glück, innig und in reinster 10'

148 Unschuld zu lieben, ihre ganze Seele mit einem Male und für immer hinzugeben, ahnungslos, daß noch etwas Anderes hinzugeben sein könnte. „Ich würde mein Leben für ihn lassen, und er würde sein Leben für mich lassen", sagte Faustina, und sie wußte, daß ihre Worte wahr wären. Auch Corona war bereit, für Giovanni zu sterben, aber nicht weil sie ihn noch liebte. Sie war bereit, sich für das, was einst gewesen, für die Erinnerung daran, zu opfern, in der Bitterkeit über den Verlust und dem Gefühl, daß es nie wiederkehren könnte. Das war ein ganz anderer Gemüthszustand als Faustina's; es war Schmerz, nicht Glück, Verzweiflung, nicht Wonne, — Leere, nicht Ueberfluß. Ihre Augen blickten traurig und sie seufzte bitter, als bedrückte sie eine Last, die sie nicht loswerden könnte. Faustina's Zukunft erschien ihr wie ein schönes Lichtgebild inmitten von Morgenwolken; ihre eigene wie das Spiegelbild eines traurigen Vorgangs in einem trüben Teich; das junge Mädchen sab es und hörte plötzlich auf zu sprechen. Ihr war es wie ein Vorwurf, denn ihre junge Seele fing schon an ihr Leid über der Seligkeit ihres Traumes zu vergessen. Corona verstand dies plötzliche Schweigen, und ihr Ausdruck veränderte sich, denn sie fühlte, wenn sie zu viel an das dachte, was ihrem Herzen am nächsten war, könnte sie nur schwachen Trost spenden. „Du bist betrübt", sagte Faustina, „nicht um mich — was ist es denn?" „Nein, nicht um Dich, mein liebes Kind." Corona sah das junge Mädchen einen Augenblick au und versuchte zu lächeln. Daun stand sie auf und drehte sich um, scheinbar um die messingne Oellampe mit der an einem Kettchen daranhängenden Scheere zu putzen. Thränen

149 verschleierten ihre Augen. Sie stützte die Hände auf den Tisch und senkte das Haupt. Faustina beobachtete sie staunend, dann glitt sie vom Bett herab, trat neben sie und blickte ihr zärtlich in die dunkeln traurigen Augen, aus denen die hellen Tropfen Überflossen und herabrinnend auf den rohen Holztisch fielen. „Was ist es, Geliebte?" fragte das junge Mädchen. „Willst Du es mir nicht sagen?" Corona wendete sich um, schlang ihre Arme um sie und drückte sie fast leidenschaftlich an die Brust. Faustina verstand nicht, was vorging. „Ich habe Dich noch nie weinen sehen!" rief sie mit kindlicher Verwunderung, während sie versuchte, die Thränen ihrer Freundin zu trocknen. „Ach, Faustina! Es giebt Schlimmeres in der Welt, als was Du leidest, mein Kind!" Dann nahm sie sich mit Gewalt zusammen und kämpfte die Bewegung nieder, welche sich ihrer bemächtigt hatte. Sie schämte sich, daß sie sich so hatte gehen lassen, während sie doch hergekommen war, um eine Andere zu trösten. „Es ist nichts," sagte sie nach einer kleinen Pause. „Ich glaube, ich bin aufgeregt. Jedenfalls ist es thöricht von mir zu weinen, statt mich um Dich zu bekümmern." Darauf folgte ein langes Schweigen, welches endlich durch die Nonne unterbrochen wurde; sie brachte armselige Speise, wie sie der Ort eben darbot. Sie wiederholte die Versicherung, daß Faustina's Verhaftung auf einem Irr­ thum beruhe, und daß sie sicherlich am Morgen freigelassen werden würde. Als sie sah, daß die beiden Freundinnen sehr mit sich beschäftigt waren, wünschte sie ihnen gute Nacht und ging. Für Corona war es die längste Nacht, deren sie sich

150 entsinnen konnte. Eine Weile sprachen sie ein wenig, dann schlief Faustina ein, erschöpft durch alles, was sie erlitten, während Corona neben ihr saß und auf ihre regelmäßigen Athemzüge lauschend, ihre Fähigkeit zu schlafen bewunderte. Sie konnte kein Auge schließen, obschon sie sich ihre Schlaf­ losigkeit nicht erklären konnte. Endlich legte sie sich auf das andere Bett und versuchte sich selbst zu vergessen. Nach vielen Stunden verlor sie endlich ein Weilchen das Bewußt­ sein und wachte dann plötzlich auf, halb erstickt durch den widerlichen Geruch der Lampe, welche ausgegangen war und das enge Zimmer mit Qualm füllte. Es war ganz dunkel und die tiefe Stille wurde nur durch Faustina's tiefe Athemzüge unterbrochen. Das arme Kind war zu müde, um von dem Qualm aufzuwachen, der Corona's Ruhe gestört hatte. Aber Corona stand auf und tastete sich nach dem Fenster, das sie so geräuschlos wie möglich öffnete. Schwere Eisenstangen waren von außen in die Wand gemauert, und sie erfaßte das kalte Eisen mit einem Gefühl der Erleichterung, als sie zu den stillen Sternen aufblickte und die Bäume zu unterscheiden suchte, welche, wie sie wußte, auf der andern Seite des öden grasüber­ wachsenen Platzes standen, längs der alten Mauer, welche damals wie eine Befestigung zwischen den Termini und der fernen Stadt dastand. Soeben ging die Schildwache auf ihrer Runde langsam hin und her, nichts als ihre Schritte unterbrachen die tiefe Stille der Winternacht. Corona wurde es klar, daß sie sich im Gefängniß befand. Und doch war in dem Unbehagen etwas, was ihr nicht zuwider war, als sie so dastand, die Hand auf dem kalten Eisengitter, und sich den Nachtwind ins Gesicht wehen liefe. Alles in allem dachte sie, würde ihr Leben an so einem Orte, vielleicht in einem Kloster, wo sie Tag und Nacht

151 für immer allein sein könnte, ziemlich daffelbe sein. Sie konnte hinter einem solchen Gitter nicht unglücklicher sein, als sie oft in den prächtigen Palästen gewesen, in welchen sie ihr Leben größtentheils zugebracht hatte. Nichts machte ihr Vergnügen, nichts interessirte sie, nichts hatte die Macht, ihr Gemüth von dem jammervollen Schmerz abzulenken, der sich ihrer bemächtigt hatte. Sie sagte sich hundert Mal am Tage, daß eine solche Apathie ihrer unwürdig wäre,

und tadelte sich, als sie merkte, daß selbst der Verlust des großen Prozesses um Saracinesca sie gleichgültig ließ. So viel sie einsehen konnte, that sie weder sich noch Andern Gutes, wenn es nicht etwa gut von ihr war, sich von Gio­ vanni lieben zu lassen, während sie doch kein Beben der Freude bei seinem Kommen oder bei dem Ton seiner Stimme mehr empfand. Wenigstens war sie aufrichtig gewesen. Das konnte sie sich sagen, denn sie hatte ihn nicht getäuscht. Sie hatte ihm vergeben, aber war es ihre Schuld, wenn er das vernichtet hatte, was er jetzt auf's sehnlichste zurück­ wünschte? War es ihre Schuld, daß Vergebung und Liebe nicht gleichbedeutend waren? Ihr Leidet» war nicht der egoistische Schmerz gekränkter Eitelkeit, denn eine solche Wunde tofirbe Giovanni's Verzweiflung geheilt haben, in­ dem sie ihr die Stärke seiner Leidenschaft bewies. Es war auch kein Groll in ihrem Herzen, denn sie wünschte ja, ihn zu lieben; aber selbst die Gewohnheit zu lieben war dahin, abgebrochen und vergesieu in der bitteren Todesqual einer Stunde. Sie hatte gethan, was sie konnte, um sie zurück­ zurufen, sie hatte versucht, Worte zu wiederholen, die ihr einst aus dem Herzen gekommen waren, so oft sie sie voll inniger Freude ausgesprochen hatte. Allein die Worte waren todt und bedeuteten nichts mehr, oder wenn sie noch eine Bedeutung hatten, so sprachen sie zu ihr von der mit

152 ihr vorgegangenen Veränderung. Sie war willens dagegen anzukämpfen, sich immer wieder zu sagen, sie habe kein Recht dazu, sich so zu verändern, es hätte genug vorgelegen, um jeden Mann argwöhnisch zu machen, sie würde ihn ver­ achtet haben, wenn er so überzeugende Beweise gänzlich übersehen hätte. Könnte ein Mann wahrhaft lieben, ohne eine Spur von Eifersucht in sich zu haben? Könnte ein Mann so überwältigende Beweise von der Schuld seiner angebeteten Frau vor sich haben und doch nichts zeigen, gerade als ob sie ihm eine Fremde wäre? Allein das Argument war unbefriedigend, es ergab keinen Schluß. Wären die Uebel des Menschengeschlechts durch Logik zu heilen, so gäbe es schon lange kein Leiden mehr auf der Welt. Giebt es etwas leichteres, als sich selbst zu täuschen, wenn man getäuscht sein will? Sicherlich nichts, voraus­ gesetzt, daß unser inneres Selbst, was wir unser Herz nennen, in die Täuschung willigt. Sonst hilft alle Logik nichts. Ihre zarten Finger klammerten sich fest an das eis­ kalte Gitter und in der Stille der Nacht flössen wiederum ihre Thränen, als sie durch das Kerkerfenster zu den Ster­ nen emporblickte. Der neue Zustand ihres Lebens mußte sich in einer Weise Luft machen, die sie bisher für schwach und verächtlich gehalten und wogegen sie angekämpft hatte. Das Weinen gewährte ihre keine Erleichterung, keine Ruhe, keine Unterbrechung des dumpfen Bewußtseins ihrer Lage, und doch konnte sie die Tropfen nicht zurückhalten, die so rasch auf ihre Häude fielen. Sie litt immerfort, ohne Ruhepause, wie Leute leiden, die nicht viel Phantasie und wenige aber starke Leidenschaften bei großer Bestimmtheit besitzen. Es giebt sowohl Männer als Frauen, deren thätige Phantasie dem Unglück eine romantische Gestalt

153 geben kann, an der sie selbst Freude haben, oder die, wenn sie dichterisch begabt sind, Trost darin finden, ihr Leid in erhabene oder zarte Worte zu kleiden. Andere giebt es, denen der Kummer etwas Wirkliches ist, an das kein Aus­ druck hinanreicht. Solch' eine Frau war Corona, zu stark um wenig, zu phantasielos um poetisch zu leiden. Manche werden sagen, daß sie den Ernst ihrer Lage übertrieb, daß kein Grund vorlag, weshalb sie Giovanni nicht mehr lieben könnte, da er seinen Irrthum eingestanden und so aufrich­ tig bereut hatte. Die Antwort ist sehr einfach. Die höchste Art der Liebe bedingt nicht nur das höchste Vertrauen in die geliebte Person, sondern verlangt auch das gleiche; die beiden Bedingungen sind für einander so nothwendig, wie Körper und Seele, so daß, wenn sie ge­ trennt werden, die Liebe sterben muß. Unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen sind in der That gegenseitig, — was auch die Moral in der Theorie verlangen mag, von dem gewöhnlichsten Verkehr zwischen bloßen Bekannten bis zu dem Bande zwischen Mann und Frau. Ein redlicher Mann wird immer anstehen, einem Andern zu glauben, wenn ihm nicht geglaubt wird. Im Ganzen genommen geben die Menschen wenig, ohne eine Gegengabe zu er­ warten; um so weniger werden sie fortfahren zu geben, wenn ihre Gaben unächt genannt worden sind, wenn auch nach Entdeckung des Irrthums ihnen noch so viele Ent­ schuldigungen gemacht werden. Corona war durch und durch menschlich, und bei äußerlicher Kälte innerlich em­ pfindlicher gegen Argwohn als sehr lebhafte Frauen es überhaupt sein können. Bei Frauen, die ihre Gefühle leicht aussprechcn, nimmt der Ausdruck derselben oft eine solche Wichtigkeit an, daß sie sich selbst täuschen und ihre Leiden-

154 schäften für stärker halten, als sie wirklich sind. Corona hatte alles gegeben — Liebe, Aufopferung, Treue und doch, weil der Schein gegen sie sprach, hatte Giovanni an ihr gezweifelt. Er hatte die Pflanze an der Wurzel abge­ schnitten; sie hatte nichts mehr zu geben. Faustina regte sich im Schlaf. Corona machte leise das Fenster zu und legte sich wieder zur Ruhe. Die Stun­ den schienen endlos, während sie auf die Glocken lauschte. Endlich graute es in dem kleinen Zimmer und sie konnte im Dämmerlicht die Möbel erkennen. Dann ging plötzlich die Thür auf, die Nonne trat herein mit ihrer kleinen Laterne in der Hand, um zu sehen, ob die Insassen des Zimmers wach wären. Im Schatten hinter ihr konnte Corona die Gestalt eines Mannes erkennen. „Der Fürst ist hier", sagte die Nonne leise, als sie sah, daß Corona's Augen offen standen. Diese blickte Fau­ stina an, deren kindlicher Schlaf nicht gestört worden war. Sie glitt vom Bett herab und ging in den Corridor. Die Nonne wollte die Beiden hinunter ins Sprech­ zimmer führen, aber Corona wollte sich nicht so weit von Faustina entfernen. Auf ihre Bitte öffnete sie eine leere Zelle ein Paar Schritt weiter und ließ Giovanni mit seiner Frau im Morgengrauen allein. Corona sah ihm ängstlich in die Augen, ob er eine Nachricht inbetreff des jungen Mädchens brächte. Er ergriff ihre Hand und küßte sie. „Mein Liebling — daß Du die Nacht an einem sol­ chen Orte zugebracht hast!" rief er. „Mir thut es nichts. Ist Faustina frei? Hast Du den Cardinal gesehen?" „Ich habe ihn gesehen." Giovanni schüttelte den Kopf. „Und willst Du damit sagen, daß er nicht sofort den Befehl geben wollte?"

155 „Nichts konnte ihn dazu bewegen. Der Präfect war vor mir dagewesen; ich mußte eine halbe Stunde warten, während sie über die Sache sprachen. Der Cardinal er­ klärte mir, er wüßte, daß zwischen Fanstina und ihrem Vater Feindschaft bestanden habe, wegen ihrer Liebe zu

Gouache." „Ihrer Liebe zu Gouache!" wiederholte Corona lang­ sam und sah ihm in die Augen. Sie konnte nicht an­ ders. Giovanni erbleichte und sah fort, während er weiter

sprach. „Ja und er sagte, die Beweise wären sehr belastend, da man nicht wüßte, daß irgend Jemand ins Haus ge­ kommen sei, und die Dienstboten wären entschieden unschul­ dig, keiner von ihnen hätte die geringste Verlegenheit ge­ zeigt." — „Mit andern Worten, er glaubt, daß Faustina es wirk­ lich gethan hat?" „Es sieht so aus", sagte Giovanni leise. „Giovanni!" Sie ergriff ihn beim Arm. „Glaubst Du es auch?" „Ich will alles glauben, was Du mir sagst." „Sie ist so unschuldig wie ich!" rief Corona, und ihre Augen blitzten vor Entrüstung. Giovanni entnahm aus den Worten mehr als sie sagen wollte. „Wirst Du niemals vergeben?" fragte er betrübt. „Das meinte ich nicht, ich meinte Faustina. Giovanni, Du mußt sie von hier fortschaffen. Du kannst es, wenn Du willst." „Ich will viel für Dich thun," antwortete er ruhig. „Es ist nicht für mich, es ist für ein unglückliches Kind, welches das Opfer eines fürchterlichen Irrthums ge­ worden ist. Ich habe sie getröstet, indem ich ihr versprach,

156 sie würde heute Morgen frei sein. Sie wird den Verstand verlieren, wenn sie hier bleiben muß." „Was ich auch thue, das thue ich für Dich, und für keinen Andern will ich sonst etwas thun. Für Dich und keine Andere, aber ich muß wissen, daß es wirklich für Dich geschieht." Corona verstand ihn und wendete sich ab. Es war jetzt Heller Tag, als sie durch das Gitter am Fenster blickte und die Leute vorübergehen sah, ohne sie recht wahrzu­

nehmen. „Was ist mir Faustina Montevarchi im Vergleich zu Deiner Liebe?" fragte Giovanni. Etwas im Ton seiner Stimme bewog sie, ihn anzu­ sehen. Sie sah die Stärke seines Gefühls in seinen Augen, und wunderte sich, wie er versuchen konnte, ihre Liebe durch eine so unbedeutende Bestechung zu gewinnen — durch die Hoffnung ein junges Mädchen zu befreien. Sie verstand nicht, daß er der Verzweiflung nahe war. Hätte sie ge­ wußt, was in seiner Seele vorging, so hätte sie sich viel­ leicht mit höchster Anstrengung in den Glauben hineinge­ täuscht, daß er ihr noch das war, was er ihr so lange ge­ wesen. Aber sie wußte es nicht. „Um ihrer Unschuld willen, Giovanni!" rief sie. „Kannst Du ein armes Kind so leiden lassen? Ich bin sicher, wenn Du nur ernstlich wolltest, könntest Du es bei Deinem Einfluß durchsetzen. Siehst Du nicht, daß auch ich um des armen Mädchens willen leide?" „Willst Du sagen, daß es um Deinetwillen sein soll?" „Um meinetwillen — wenn Du es willst!" rief sie fast ungeduldig. „Also um Deinetwillen", versetzte er. „Denke daran, es ist für Dich, Corona!"

157 Ehe sie antworten konnte, hatte er das Zimmer verlafsen, ohne weiter ein Wort zu sprechen, ohne auch nur ihre Hand zu berühren. Eine Stunde darauf trat die Nonne mit freundlichem Lächeln in die Zelle. „Ihr Wagen wartet auf Sie — auf Sie Beide", sagte sie zur Fürstin gewendet. „Es steht Donna Faustina frei, zu ihrer Mutter zurückzukehren."

Neuntes Kapitel. Als Giovanni Saracinesca den Cardinal Antonelli am vorhergehenden Abend besuchte, war er von Faustina's Un­ schuld eben so fest überzeugt wie Corona selbst und war zuerst höchlich erstaunt über die Art, wie der große Mann die Sache ansah. Als dieser aber ihm den Fall ausein­ andersetzte, schien die Schuld des Mädchens nicht länger unmöglich, ja sogar nicht unwahrscheinlich. Der völlige Mangel irgend einer anderen Veranlassung zu der Ermor­ dung gab dem Streit Faustina's mit ihrem Vater eine große Bedeutung, welche noch durch die Art der Beweise erhöht wurde. Es waren heftige Worte gewechselt worden, die Fürstin war darüber aus dem Zimmer gegangen und hatte ihre Tochter mit dem alten Herrn allein gelassen. Danach hatte ihn Niemand mehr am Leben gesehen, und dann war er todt gefunden worden, augenscheinlich mit ihrem Taschentuch erdrosselt. Die Thatsache, daß Faustina blaue Flecken am Arm und eine Verletzung an der Lippe hatte, wies darauf hin, daß ein verzweifelter Kampf stattgefunden haben mußte. Der Cardinal nahm an, daß wenn sie auch nicht die Kraft gehabt hätte, die That auszuführen, falls

157 Ehe sie antworten konnte, hatte er das Zimmer verlafsen, ohne weiter ein Wort zu sprechen, ohne auch nur ihre Hand zu berühren. Eine Stunde darauf trat die Nonne mit freundlichem Lächeln in die Zelle. „Ihr Wagen wartet auf Sie — auf Sie Beide", sagte sie zur Fürstin gewendet. „Es steht Donna Faustina frei, zu ihrer Mutter zurückzukehren."

Neuntes Kapitel. Als Giovanni Saracinesca den Cardinal Antonelli am vorhergehenden Abend besuchte, war er von Faustina's Un­ schuld eben so fest überzeugt wie Corona selbst und war zuerst höchlich erstaunt über die Art, wie der große Mann die Sache ansah. Als dieser aber ihm den Fall ausein­ andersetzte, schien die Schuld des Mädchens nicht länger unmöglich, ja sogar nicht unwahrscheinlich. Der völlige Mangel irgend einer anderen Veranlassung zu der Ermor­ dung gab dem Streit Faustina's mit ihrem Vater eine große Bedeutung, welche noch durch die Art der Beweise erhöht wurde. Es waren heftige Worte gewechselt worden, die Fürstin war darüber aus dem Zimmer gegangen und hatte ihre Tochter mit dem alten Herrn allein gelassen. Danach hatte ihn Niemand mehr am Leben gesehen, und dann war er todt gefunden worden, augenscheinlich mit ihrem Taschentuch erdrosselt. Die Thatsache, daß Faustina blaue Flecken am Arm und eine Verletzung an der Lippe hatte, wies darauf hin, daß ein verzweifelter Kampf stattgefunden haben mußte. Der Cardinal nahm an, daß wenn sie auch nicht die Kraft gehabt hätte, die That auszuführen, falls

158 der Streit begann, als Beide standen, es doch nicht un­ möglich wäre, daß ein so alter Mann von einem jungen Mädchen bezwungen werden konnte, wenn sie ihn angriff, als er auf seinem Stuhl saß und durch den vor ihm stehen­ den Tisch am Aufstehen verhindert war. Was das Ent­ setzliche der That anbetraf, so lächelte der Cardinal nur als Giovanni darauf hinwies. Waren nicht schon Väter von ihren Kindern ermordet worden und auch hier in Rom? Das Argument fiel um so mehr ins Gewicht, als Giovanni an Faustina's excentrisches Benehmen am Abend des Auf­ standes dachte. Ein Mädchen, welches im Stande war, einem Soldaten ins Gefecht nachzulaufen, und das ihn nach einem so entsetzlichen Unfall wie die Explosion der Serristori-Kaserne stundenlang gesucht hatte, konnte wohl verzweifelte Wuthanfälle haben, und es war durchaus nicht unwahrscheinlich, daß wenn ihr Vater sie von seinem Platz am Tische ins Gesicht geschlagen, sie sich an ihm vergriffen, ihn bei der Gurgel gepackt und mit ihrem Taschentuch er­ würgt hätte. Ihre Ruhe nach der That konnte ja ein Theil ihres seltsamen Wesens sein, denn sie war zweifellos ex­ centrisch. Sie mochte wahnsinnig sein, meinte der Cardinal, den Kopf schüttelnd, aber aller Wahrscheinlichkeit nach war sie schuldig. In jenen Tagen gab es keine Berufung von der Entscheidung des Staatsmannes in solchen Dingen. Faustina mußte gefangen bleiben, bis sie wegen ihres Ver­ brechens vor Gericht gestellt wurde. Seine Eminenz stand früh auf und war nicht weiter überrascht, als Giovanni zu so früher Stunde zu ihm kam, besonders da er wußte, daß die Fürstin die Nacht bei Fau­ stina im Gefängniß zugebracht hatte. Er war indessen über Giovanni's Benehmen und die Mittheilung, welche er ihm machte, förmlich bestürzt.

159 „Ich hatte die Ehre, Ew. Eminenz gestern Abend zu sagen, daß Donna Faustina Montevarchi unschuldig wäre," fing Giovanni an, indem er ablehnte, sich zu sehen. „Ich hoffte, daß sie sofort in Freiheit gesetzt werden würde, allein Sie haben es anders beschlossen. Ich will nicht, daß eine Unschuldige ungerecht leide. Deshalb komme ich mich in diesem Falle selbst dem Gerichte zu stellen." Der Cardinal starrte ihn an und ein Ausdruck unge­ mischten Erstaunens erschien auf seinem feinen olivenbraunen Gesicht, während seine Hände nach den Armlehnen des Stuhls griffen. „Sie!" rief er. „Ich, Ew. Eminenz. Ich will mich erklären. Gestern gab das Gericht seine Entscheidung ab, indem es erklärte, daß mein Vetter San Giacinto an Stelle meines Vaters der Fürst Saracinesca ist und daß ihm all' unser ererbtes Eigenthum gehört. Der Mann, welcher diese Sache heraus­ fand und sie vor Gericht brachte, war der Fürst Monte­ varchi. Sie begreifen vielleicht meinen Groll gegen ihn. Wenn Sie sich der Aussagen erinnern, die Ihnen gestern Abend gemacht wurden, so werden Sie einsehen, daß es für mich möglich war, unbemerkt zu ihm zu gelangen. Die Thür stand zufällig offen, und cs war Niemand in der Vorhalle. Ich kenne den Palast ganz genau. Mehrere Stunden vergingen zwischen der Zeit, da Donna Faustina ihren Vater verließ, und dem Augenblick, da er todt auf seinem Stuhl gefunden wurde. Sie verstehen, wie ich un­ gesehen in sein Zimmer gelangen konnte, wie natürlich ein heftiger Wortwechsel zwischen uns entstand, und wie ich, alle Fassung verlierend, Donna Faustina's Taschentuch auf­ heben konnte, das ihrer Aussage nach am Boden lag, und wie ich es dem alten Mann um den Hals schlingen konnte.

160 Was konnte er unter meinen Händen thun? Das Zimmer liegt weit ab von den Gemächern der übrigen Familie und ist nahe an der Vorhalle. Ruhig hinauszugelangen brauchte Keinem, der das Hans kennt, schwer zu fallen. Ew. Emi­ nenz kennen eben so gut wie ich das Trügliche des indirek­ ten Beweises." „Und erzählen Sie mir hier so ganz ruhig, daß Sie den alten Mann aus Rache ermordet haben?" fragte der Cardinal halb entrüstet, halb ungläubig. „Würde ich mich aus bloßer Laune als Mörder stellen?" fragte Giovanni todtenblaß. Der Cardinal sah ihn an und schwieg einige Augen­ blicke. Was er gehört hatte, verwirrte ihn und doch sagte ihm sein gesunder Verstand, daß ihm nichts anderes übrig bliebe, als Faustina in Freiheit zu setzen und Giovanni zu verhaften. Er sagte sich auch, daß er einen instinctiven Abscheu vor dem Mann empfinden müßte, der nach seiner eigenen Aussage eines so furchtbaren Verbrechens schuldig wäre, aber er war sich keiner solchen Empfindung bewußt. Er war ein Mann von außerordentlich feiner und schneller Intuition und beurtheilte die Personen, mit welchen er zu thun hatte, sehr richtig. Hier war ein Mangel an Ueber­ einstimmung zwischen seinem Verstände und seinem Gefühl, der ihn stutzig machte. „Sie haben mir eine höchst seltsame Geschichte erzählt", sagte er. „Minder seltsam als die, welche Ew. Eminenz seit gestern Abend glaubten", versetzte Giovanni ruhig. „Das weiß ich nicht. Es wird mir leichter zu glauben, daß das Mädchen momentan von Sinnen war, als daß Sie, den ich mein Leben lang gekannt habe, so etwas ge­ than haben sollten. Ueberdies haben Sie, während Sie

161 mir Ihre Geschichte erzählten, kein Mal bestimmt behauptet, daß Sie es gethan haben. Sie haben mir nur auseinandergesetzt, daß es für einen Menschen, der eine solche Absicht gehabt hätte, möglich gewesen wäre den Mord aus­ zuführen, ohne daß der Verdacht auf ihn fiele." „Ist man verpflichtet, sich selbst direct anzuklagen? Es scheint mir, indem ich mich selbst ausliefere, thue ich alles was das Gewiffen von einem Menschen fordern kann — natürlich außerhalb des Beichtstuhls. Ich werde vor Gericht gestellt werden, und mein Vertheidiger wird thun, was er kann, um meine Freisprechung zu erwirken." „Das ist schlechte Logik. Ob Sie gestehen oder nicht, Sie haben sich in einer Weise angeklagt, die stark gegen Sie sprechen muß. Sie lassen wir wirklich keine Wahl." „Ew. Eminenz dürfen nur thun, was ich erbitte: Donna Faustina freilaffen und mich ins Gefängniß schicken." „Sie sind ein sehr sonderbarer Mensch", sagte der Car­ dinal nachdenklich, während er sich in seinen Stuhl zurück­ lehnte und Giovanni's blasses undurchdringliches Antlitz forschend betrachtete. „Ich bin ein Verzweifelter, das ist alles."

„Wollen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Faustina Montevarchi unschuldig ist?" „Ja", antwortete Giovanni ohne das geringste Be­ denken, und hielt den durchbohrenden Blick des Cardinals aus ohne zu zucken. Der Letztere zögerte einen Augenblick, dann wendete er sich auf seinem Stuhl um, nahm ein Blatt Papier und schrieb darauf einige Worte. Darauf schellte er mit der kleinen Handklingel die neben ihm stand. Sein Diener trat ein, als er das Blatt zusammenfaltete und versiegelte. „Nach dem Termini-Gefängniß", sagte er. Crawford, Sant' Ilario. II.

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162 „Der Bote sollte lieber meinen Wagen nehmen", meinte Giovanni. „Ich werde ihn nicht mehr brauchen." „Nehmt den Wagen des Fürsten Sant' Ilario!" setzte der Cardinal hinzu und der Diener verließ das Zimmer. „Und jetzt", fuhr er fort, „wollen Sie so gut sein, mir zu sagen, was ich mit Ihnen machen soll?" „Schicken Sie mich in die Carceri Nuove oder an sonst einen geeigneten Ort." „Ich will nichts thun, das Ihnen für spätere Zeit von Nachtheil sein kann," antwortete der Staatsmann. „Etwas in mir sagt, daß Sie an diesem schrecklichen Morde ganz unbetheiligt sind. Aber merken Sie sich: wenn Sie mich auch täuschen können — denn allwissend bin ich nicht — so werde ich doch keine Verachtung des gerichtlichen Ver­ fahrens dulden. Sie haben sich mir als Verbrecher ausgeliefert, und ich beabsichtige, Sie beim Wort zu nehmen." „Ich verlange nichts Anderes. Schicken Sie mich hin, wo Sie wollen, thun Sie mit mir, was Ihnen beliebt. Es kommt wenig darauf an." „Sie benehmen sich wie ein Mann, der eine unglück­ liche Liebesgeschichte durchgemacht hat," bemerkte der Car­ dinal. „Sie haben allerdings eben Ihr Vermögen ver­ loren, und das mag die Sache erklären. Ich wiederhole indessen, was auch Ihre Beweggründe sein mögen, Sie sollen mit dem Gesetze nicht Ihr Spiel treiben. Sie wollen ins Gefängniß. Das Gesetz kommt Ihnen so weit ent­ gegen, Ihre Bitte zu erfüllen. Ich warne Sie aber, in­ dem ich Ihnen sage, daß Sie danach Ihre Freiheit nur durch ein ordentliches Gerichtsverfahren wieder erlangen können." „Bitte, lassen Sie es so geschehen. Meine Beweggründe

163 können von keiner Wichtigkeit sein. Das Gericht wird die Thatsachen beurtheilen und seinen Spruch fällen." „Das wird das Gericht sicherlich thun. Unterdessen werden Sie diesen Tag in einem Zimmer innerhalb meiner Wohnung zubringen, und heute Abend, wenn es dunkel ist, werden Sie in aller Stille an einen sicheren und geheimen Ort gebracht werden. Für den Fall, daß der wirkliche Mörder je entdeckt wird, möchte ich nicht, daß Ihr Leben durch eine solche Thorheit ruinirt würde, wie Sie nach meiner Ansicht begehen. Sie sagen, Sie find ein Ver­ zweifelter, und ich denke, Sie handeln so, als ob Sie es wirklich wären. Ihre Familienangelegenheiten mögen Sie in diesen Zustand versetzt haben, aber die gehen mich nichts an. Sie werden indessen so gut sein, hier feierlich zu schwören, indem Sie die Hand auf dieses Buch legen, daß Sie keinen Selbstmordversuch machen werden." „Ich schwöre es", sagte Giovanni und berührte das Buch, welches der Cardinal ihm hinreichte. „Gut; nun bitte folgen Sie mir in das Zimmer, wo Sie den Tag über bleiben müssen." Giovanni befand sich in einem kleinen Gemach, das nur einen großen Schreibtisch und ein Paar Stühle ent­ hielt; es schien eine Art Bureau zu sein. Der Cardinal machte die Thür zu, und Giovanni hörte, wie er den Schlüssel umdrehte und abzog. Da erst dachte er nach über das, was er gethan. Er hatte die Wahrheit gesprochen, als er sagte, er wäre ein Verzweifelter. Kein anderes Wort konnte seinen Zustand beschreiben. Eine Art von Wahnsinn hatte ihn ergriffen, während er mit Corona sprach,

und übte noch Einfluß auf ihn. In ihrem Benehmen war etwas gewesen, was ihm anzudeutcn schien, daß er nicht sein Bestes für Faustina's Befreiung thäte, und wenn er 11'

164 bedachte, daß ihm die Unschuld des jungen Mädchens keines­ wegs klar gewesen, so hätte Corona's Beschuldigung ihn nicht überraschen dürfen. Dennoch hatte er jetzt dem Car­ dinal sein Wort darauf gegeben, daß Faustina die That nicht begangen habe. Corona's Abgeneigtheit zuzugeben, daß sie seine Hilfe um ihretwillen erbäte, hatte ihn ganz außer sich gebracht, und als sie es zuletzt, eigentlich wider Willen, gesagt hatte, da beschloß er sofort, zu zeigen, was er auf ein Wort von ihr zu thun willens wäre, wenn sie es nur aussprechen wollte. Von dem Augenblick an hatte er nur den einen Gedanken: Faustina um jeden Preis zu befreien, und ihm fiel kein anderer Ausweg ein, als sich selbst an ihrer Stelle anzugeben. In der That hätte er seinen Zweck auf keine andere Weise so schnell und so sicher erreichen können, und vielleicht hätte er ihn anders gar nicht erreicht. Es war ihm von Anfang an klar gewesen, daß der Cardinal gegen Faustina eingenommen war, ohne Zweifel durch die Aussagen des Präfecten. Giovanni be­ sann sich genau auf die gegen sie vorgebrachten Beweise, und sobald er ein Auskunstsmittel zu finden suchte, sah er ein, daß es für ihn oder irgend einem Andern, der das Haus genau kannte, wohl möglich gewesen wäre, den Mord zu begehen. Was den Nebenumstand, nämlich die offen­ stehende Thür betraf, so lag darin nichts Unwahrschein­ liches, denn es waren so viele Dienstboten im Palast, daß jeder einen von den andern im Verdacht haben und der Nachlässigkeit beschuldigen konnte. Nichts war leichter, als die Geschichte zu ersinnen, und er hatte geglaubt, nichts würde leichter sein, als sie dem Cardinal glaublich zu machen. Es wunderte ihn, daß er sich in diesem Punkte geirrt hatte, aber er empfand ein Triumphgefühl, das ihn für alles, was er gethan, mehr als entschädigte, als er den

165 Boten mit dem Befehl, Faustina frei zu lassen, aus dem Zimmer gehen sah. Corona hatte gesprochen, hatte ihn ge­ beten, um ihretwillen etwas Schweres zu thun, und ihr Wunsch war erfüllt; was es gekostet — daraus kam es

nicht an.

Sie hatte ihm Gelegenheit gegeben, zu beweisen,

was er für sie thun könnte, und diese Gelegenheit war nicht verloren gegangen. AIs er aber allein in dem ihm von dem Cardinal an­ gewiesenen Zimmer saß,

fing er an zu ermeffen was er

gethan, und wie seine Handlungsweise von Anderen be­

urtheilt werden würde.

Er hatte sich als Mörder gestellt

und als solcher würde er behandelt werden.

Wenn der

Zeitpunkt für die Verhandlung gekommen wäre, könnte es ihm dann nicht ergehen, wie so manchem Unschuldigen, der sich in eine falsche Lage gebracht hatte?

verurtheilt werden?

Konnte er nicht

Nichts was er später sagen mochte,

konnte den Eindruck auslöschen, den er durch seine frei­ willige Auslieferung ans Gericht gemacht hatte. Späteres Leugnen würde der Furcht und nicht der Schuldlosigkeit

zugeschrieben werden.

Und wenn er verurtheilt würde, was

sollte dann aus Corona, aus seinem Vater, aus dem kleinen Orsino werden?

Wie sollte er sich vertheidigen?

Gestern Nachmittag

war er mehrere Stunden von Hause gewesen und allein umhergegangen, er wußte selbst kaum mehr wo.

Seit der

Krisis seines Lebens, welche ihn in der That, wenn auch

nicht dem Anschein nach, von Corona geschieden hatte, ging er ost allein aus und wanderte ziellos durch die Straßen.

Würde sich irgend einer seiner Bekannten finden, der be­ schwören konnte, ihn um die Zeit gesehen zu haben,

Montevarchi ermordet wurde?

Wahrscheinlich nicht.

als Und

wenn nicht, wie konnte es dann, angesichts seiner eigenen

166 Aussage gegen den Cardinal, bewiesen werden, daß er nicht nach dem Palast gegangen wäre, um eine Gelegenheit zu erspähen, seinen Zorn an dem alten Fürsten auszulaffen, daß er nicht in einem Wuthanfall die Selbstbeherrschung verloren und den alten Mann auf seinem Stuhl erwürgt habe? Wie er ja selbst gesagt hatte, war viel mehr Grund zu glauben, daß Saracinesca den Fürsten Montevarchi aus Rache umgebracht, als daß ein Mädchen wie Fanstina ihren eigenen Vater erdrosselt haben sollte, weil er sich in ihre Liebesangelegenheiten mischte. Wenn die Richter den Fall so ansahen, hatte Giovanni wohl geringe Aussicht, freigesprochcn zu werden. Die Sache sah so plausibel aus, daß selbst Corona daran glauben konnte, Corona, derentwillen er sich tollkühn in eine so schreckliche Gefahr gestürzt hatte. Und heute würde sie ihn nicht sehen, möglicherweise gar nicht wissen,'wo er sich befinde. Und morgen? und übermorgen? Und an allen folgenden Tagen? Er ver­ muthete, es würde ihm erlaubt sein, an sie zu schreiben, vielleicht sie zu sehen, aber es würde schwer halten, ihr seine Lage zu erklären. Sie liebte ihn nicht mehr und würde es nicht verstehen. Er fragte sich, wie sehr sie um ihn bekümmert sein würde, wenn sie überhaupt mehr als eine angemessene Besorgniß um seine Sicherheit empfände. Sie würde eine Liebe wie die seine sicherlich nicht begreifen, die lieber ein solches Opfer bringen, als ihren Wunsch un­ erfüllt lassen mochte. Wie konnte sie es auch, da sie ihn nicht mehr liebte? Und doch war es dringend nothwendig, sie von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Sonst könnte sie am Ende denken, ihm wäre ein Unfall zugestoßen, und in dem Falle würde sie sich an die Polizei, vielleicht an den Cardinal selbst wenden, um zu erfahren, wo er wäre.

167 Einer solchen Verwickelung mußte noch vor Einbruch der Nacht vorgebeugt werden. Bis dahin würde sie sich nicht über seine Abwesenheit beunruhigen. Vielleicht würde es an der Zeit sein, wenn er ins Gefängniß gebracht würde, — an den stillen und geheimen Ort, von dem der Cardinal gesprochen und womit er wahrscheinlich das Gefängniß der Inquisition gemeint hatte. Dort that man keine Fragen. Es waren Schreibmaterialien auf dem Tisch und Gio­ vanni begann einen Bries an seine Frau. Nach einigen Minuten hielt er inne, denn er sah aus dem Geschriebenen, daß er nicht in der Verfaffung für eine solche Aufgabe war. Die Worte strömten ihm rasch zu, aber sie sprachen aus, was er Corona nicht wieder sagen wollte. Seine Liebe zu ihr beherrschte noch immer seine ganze Seele, und anstatt ihr das Vorgefallene zu erklären, sah er, daß er immer von seiner wahnsinnigen Leidenschaft für sie geschrieben hatte. Der Gedanke an ihr kaltes Gesicht beim Lesen dieser Zeilen hemmte ihm die Hand, er warf ungeduldig die Feder hin und hing eine Weile wieder seinen Gedanken nach. Was er thun wollte, war, ihr in möglichst wenig Worten sagen, daß er am Leben und gesund sei. Was sollte er ihr sonst noch sagen? Diese Versicherung würde ihre etwaige Sorge beschwichtigen, und seine Abwesenheit würde zweifel­ los eine Erleichterung für sie sein. Der Gedanke war bitter, allein er wußte, daß nichts eine Frau so quält, als die beständige Gegenwart eines Mannes, den sie geliebt hat, der sie mehr als je liebt, und für den sie nichts mehr empfindet. Endlich nahm er einen andern Bogen und machte einen neuen Versuch: Liebe Corona.! Wenn Du diese Zeilen erhältst, wird Faustina, Deinem Wunsche gemäß, frei sein. Beunruhige Dich nicht, wenn

168 Du mich einige Tage nicht siehst, da mich wichtige Ge­ schäfte abrufen. Sage meinem Vater und unseren Be­ kannten, wenn Jemand nach mir fragen sollte, daß ich in

Saracinesca bin, um die Entfernung der Sachen zu be­ aufsichtigen, welche nicht an San Giacinto kommen. Ich werde Dich missen lassen, wann ich zurückkehre.

Dein Dich liebender Giovanni. Er las das Briefchen zwei Mal durch, legte es dann zusammen und adressirte es an seine Frau. Auf seinem Gesicht lag die tiefste Niedergeschlagenheit, als er seine Auf­ gabe vollendet hatte, und lange saß er da, in den Stuhl zurückgelehnt, und sah das Morgensonnenlicht, wie es sich langsam über den Boden verbreitete, während seine gefalte­ ten Hände müßig auf dem Tische lagen. Das Ende seiner Liebe erschien ihm sehr bitter, als er an die Worte dachte, welche er eben geschrieben hatte. Noch vor wenig Wochen würde es Corona Schmerz bereitet haben, wenn er sie so unerwartet verlaßen hätte. Jetzt fühlte er, daß es nicht nöthig war, mehr zu sagen als er gethan hatte, ja daß jedes Wort mehr ganz überflüssig sein würde. Ihr war es gleichgültig, ob er in Rom bliebe oder bis ans Ende der Welt ginge; ja er vermuthete, es würde ihr ganz lieb sein, allein zu bleiben, — außer wenn sie erführe, weshalb und wohin er gegangen wäre. Dieser letzte Gedanke erinnerte ihn wieder an seine Lage, und einen Augenblick war er entsetzt.übet seine Vermessenheit. Aber das ging rasch vorüber und bald fragte er sich apathisch, was es denn am Ende schadete. Die Stunden schlichen langsam dahin, und noch immer saß er regungslos am Tische, und der geschlossene Brief lag vor ihm.

169 Der Cardinal war kaum in sein Zimmer zurückgekehrt, als ihm schon wieder eine Karte gebracht wurde. Der Diener sagte, der Herr habe ihm versichert, seine Excellenz Würde ihn empfangen, da er über die Ermordung des Fürsten Montevarchi wichtige Auskunft zu geben hätte. Der Cardinal konnte nicht ein Lächeln unterdrücken, als er den Namen Anastasius Gouache las. Der junge Mann kam ins Zimmer und trat auf den fteundlichen Wink des Cardinals näher. Er war bleich wie der Tod und seine sanften dunkeln Augen hatten einen solchen Ausdruck von Verzweiflung, wie der Cardinal selten gesehen hatte. Im Uebrigen trug er seine Uniform und war eben so sorgfältig gekleidet wie sonst. „Ew. Eminenz haben ohne Zweifel von dem schreck­ lichen Morde gehört?" fing Gouache an, indem er in seiner furchtbaren Aufregung alle Förmlichkeit vergaß. „3a", sagte der Cardinal und setzte sich. „Sie haben mir etwas darauf Bezügliches mitzutheilen, wie ich höre." „Donna Faustina Montevarchi ist des Verbrechens angeklagt und befindet sich im Gefängniß an den Termini;" antwortete der Zouave hastig, „ich komme Ew. Eminenz zu bitten, unverzüglich ihre Freilassung anzuordnen." — „Aus welchem Grunde?" fragte der Staatsmann und zog die Augenbrauen etwas in die Höhe, als wundere er sich über die Art, in der die Bitte vorgebracht wurde. „Weil sie unschuldig ist, weil ihre Verhaftung auf einem Irrthum des Polizeipräfecten beruht, — der Schein war gegen sie, aber es war unvernünftig anzunehmen, daß sie es gethan haben konnte." — „Der Polizcipräfect hatte meine Zustimmung. Können Sie beweisen, daß sie unschuldig ist? „Beweisen?" wiederholte Gouache; er sah einen Augen-

170 blick bestürzt aus, faßte sich aber sofort und erbleichte bis in die Lippen. „Was kann leichter sein?" ries er. „Der Mörder steht vor Ihnen, — ich war beim Prinzen, ich bat ihn um die Hand seiner Tochter, er beleidigte mich. Ich verließ das Zimmer, kehrte aber bald daraus zurück. Ich fand ihn allein und brachte ihn um — ich weiß selbst nicht recht wie"--------„Mit Donna Faustina's Taschentuch", half ihm der Cardinal ein; „vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr, daß es am Boden lag und daß Sie es aufhoben und ihm um den Hals schlangen." — „Ja, ja, um den Hals!" rief Gouache bebend. „Ich besinne mich. Aber mir war schwarz vor Augen, alles drehte sich mit mir herum, ich besinne mich nicht mehr auf die Einzelheiten. Hier bin ich — Ew. Eminenz Gefangener. Ich bitte Sie, sofort den Befehl zu erlassen!" — Bis dahin hatte der Cardinal sein ernstes Aussehen bewahrt; plötzlich wich der strenge Ausdruck und er reichte Gouache die Hand. „Mein lieber Herr Gouache", sagte er. „Sie gefallen mir sehr. Sie sind ein Mann von Herz." „Ich verstehe nicht"-------- Anastasius war sehr ver­ wirrt, aber er sah, daß sein Plan, Faustina zu befreien,

wahrscheinlich mißglücken würde. „Ich schätze Ihre Beweggründe", fuhr der Staatsmann fort. „Sie lieben die junge Dame bis zum Wahnsinn; sie wird eines todeswürdigen Verbrechens wegen verhaftet; Ihnen kommt der Gedanke sich an ihrer Stelle für den Mörder auszugeben." — „Aber ich versichere Ew. Eminenz, ich schwöre" — „Nein!" sagte der Cardinal, die Hand erhebend. „Schwören Sie nicht! Sie sind eines solchen Verbrechens

171 unfähig. Ueberdies ist Donna Faufiina bereits frei und der Thäter hat seine Schuld schon eingestanden." Anastasius.taumelte gegen ein vorspringendes Brett des Bücherschrankes. Das Blut stieg ihm rasch ins Ge­ sicht und einen Augenblick wußte er kaum, wo er war. Die Stimme des Cardinais brachte ihn utteder zu sich. „Wenn Sie an meinen Worten zweifeln, brauchen Sie nur in den Palast Montevarchi zu gehen und nachzufragen. Donna Faustina kehrte mit der Fürstin Sant' Ilario zurück. Es thut mir leid, daß die Umstände mir nicht gestatten, Ihnen den Mann zu zeigen, der das Verbrechen einge­ standen hat. Er befindet sich gegenwärtig in meiner Woh­ nung, nur durch ein Paar Zimmer von uns getrennt. „Sein Name, Eminenz?" fragte Gouache, deffen gan­ zes Wesen in einem Augenblick verändert schien. „O, sein Name muß für's Erste mein Geheimniß bleiben, falls Sie nicht etwa Grund haben anzunehmen, daß Jemand anders den Mord verübt hat. Haben Sie keinen Verdacht? Sie kennen die Familie genau, wie es scheint. Sie hätten wahrscheinlich etwas davon gehört, wenn der verstorbene Fürst in einen Streit verwickelt ge­ wesen wäre, oder in irgend eine Angelegenheit, die ihm den Haß einer uns bekannten Persönlichkeit zuziehen konnte. Besinnen Sie sich auf etwas dergleichen? Sehen Sie sich, Herr Gouache. Wie Sie sehen, find Sie srcigesprochen. Statt eines Mörders sind Sie der gute Freund, der einst­ mals in diesem selben Zimmer mein Bild malte. Erinnern Sie sich unseres intereffanten Gespräches über das Christen­ thum und die Weltrepublik?" „Ich werde stets der Güte Ew. Eminenz eingedenk sein", antwortete Gouache und setzte sich, indem er versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. Seine nervöse Natur

172 war durch das Borgefallene im höchsten Grade erschüttert. Er war mit dem Entschlüsse hergekommen, Faustina um jeden Preis zu befreien; überwältigt von dem Entsetzlichen ihrer Lage war er in der Aufrichtigkeit seiner hingebenden Liebe bereit sein Leben für sie auszuopfern. Sein Verhalten war viel vernünstiget als Giovanni's. Er hatte nichts als sich selbst zu verlieren, keine Verwandten, die durch seine Verurtheilung entehrt werden konnten, keinen, der unter seinem Verlust litte. Er brauchte nur sich selbst aufzu­ opfern, um das geliebte Mädchen zu befreien, und bei der Ausführung seines Planes zögerte er keinen Augenblick. Aber der Umschwung der Gefühle, als er erfuhr, daßFaustina's Unschuld schon bekannt und daß sein Dazwischen­ treten nicht länger nöthig sei, war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Freudenthränen standen in seinen Augen, während er sich zu fassen suchte. „Haben Sie irgend einen Verdacht?" fragte der Car­ dinal wieder mit seiner sanften Stimme. „Keinen, Eminenz. Das Einzige, was allenfalls einem Streite ähnlich sieht und wovon ich gehört habe, ist der Prozeß um den Titel Saracinesca. Aber das kann natür­ lich mit der Sache nichts zu thun haben. Der Fall wurde gestern ohne Widerstand entschieden." „Sie denken also, das kann nichts mit dem Morde zu thun haben?" fragte der Staatsmann angelegentlich. „Nein, wie sollte es?" Gouache lachte bei dem Ge­ danken. „Die Saracinesca's können ihre Feinde nicht mehr erschlagen, wie sie es vor fünfhundert Jahren zu thun pflegten. Ueberdies ist ja der Mörder in den Händen Ew. Emineenz und Sie muffen bester misten als ich, was ihn zu dem Verbrechen trieb." „Das folgt noch nicht, mein Freund. Ein Mensch,

173 der ein Verbrechen eingesteht, ist nicht verpflichtet, Andere mitanzuklagen, und ein Mensch, dessen Gewissen zart genug ist, um ihn dazu zu treiben, sich zu stellen, nimmt natür­ lich alle Schuld auf sich. Er leidet an Gewissensbissen und versucht nichts anderes zu seiner Vertheidigung vorzubrin­ gen, als was Sie so eben anführten, indem Sie mir sagten, der Fürst habe Sie beleidigt; — gerade genug, um der Geschichte einen Schein von Wahrheit zu geben. Ist das übrigens wahr?" — „Gewissermaßen ja! und doch auch nicht;" antwortete Gouache leicht erröthend. „Der arme Mann dachte, als ich anfing, ihm meine Verhältnisse auseinanderzusetzen--------ja, wie soll ichs nur sagen? Er dachte, ich wollte ein Bild an ihn verkaufen. Es war nicht seine Schuld." „Der arme Mann!" seufzte der Cardinal. „Er hatte nicht viel Tact. Also, Herr Gouache, Sie sind der Ansicht, daß der große Saracinesca-Prozeß mit dem Morde nichts zu thun hatte?" „Es scheint mir unmöglich. Es sieht eher aus, als ob er von einem der Dienstboten aus Haß ermordet wor­ den wäre. Es ist kaum denkbar, daß Jemand, der nicht zum Hausstande gehörte, es hätte thun können." „Ich glaube, die öffentliche Meinung wird Ihnen bei­ stimmen. Ich werde mich selbst mit der Untersuchung be­ schäftigen. Vielleicht habe ich den Rechten in jenem Zimmer unter sicherem Verschluß, aber wer weiß? Wären Sie zu­ erst gekommen, so wären Sie vielleicht an seiner Stelle in die Carceri Nuove spaziert. Am Ende ist er auch ver­ liebt." Der Cardinal lächelte, aber Gouache fuhr bei dem Worte zusammen, als verletzte es ihn. „Das bezweifle ich", sagte er rasch.

174 „Ich auch. Es wäre ein seltsames Zusammentreffen, wenn zwei unschuldige Leute sich aus Liebe deffelben Ver­ brechens, vierundzwanzig Stunden nachdem es begangen, anklagen sollten. Da Sie aber jetzt ruhig sind — ja, ja, erst waren Sie außer sich vor Auftegung — muß ich Ihnen sagen, daß Sie eine große Unbesonnenheit begangen haben. Wenn ich nicht zufällig Ihr Freund wäre, was wäre dann wohl aus Ihnen geworden? Ich kann nicht anders — mir gefällt Ihr Muth und Ihre Aufopferung, Sie haben beides in ernsteren Fällen, angesichts des Feindes bewiesen — aber Sie hätten Ihr Leben verwirken können. Das wäre eine große Sünde gewesen." „Giebt es keinen Fall, in welchem man sich mit voller Ueberlegung ums Leben bringen darf?" „Sie sprechen vom Selbstmorde? Das war's beinahe, was Sie im Sinne hatten. Nein. Die Kirche lehrt uns, daß ein Mensch, der sich das Leben nimmt, geraden Weges zur Hölle fährt. Das lehrt übrigens auch Mohammed." „In jedem Falle?" „In jedem Fall. Es ist Todsünde." „Aber," wendete Gouache ein, „nehmen wir an, ich wäre ein ganz schlechter Mensch, der auf viele andere einen schädlichen Einfluß ausübte. Kurz nehmen wir an, mein Leben brächte Andere um ihre eigene Seele, und ich wüßte, wenn ich mich tödtete, würden sie alle wieder tugendhaft werden. Nehmen wir an, ich bereute plötzlich meine Sün­ den, und es gäbe kein anderes Mittel als meinen Tod, um jene Leute zu retten. Wäre es dann nicht ehrenhafter von mir zu sagen: „Gut, ich will lieber die Verdammniß auf mich nehmen, als all' die Andern den ewigen Flammen überliefern?" Hätte ich nicht ein Recht, mich zu er­ schießen?"

175 Der Cardinal wußte nicht, ob er lächeln oder ernst aussehen sollte. Er war weder Priester noch Theolog, son­ dern Staatsmann. „Mein lieber Freund", antwortete er endlich. „Die Spitzfindigkeit Ihrer Voraussetzungen übersteigt allen Glau­ ben. Ich kann nur sagen, wenn Sie sich in dem von Ihnen beschriebenen schlimmen Falle befinden, werde ich in Ihrem Namen die Sache dem Heiligen Vater selbst zur Entscheidung vorlegen. Aber ich möchte Ihnen ernstlich rathen, wenn Sie können, den besagten Fall zu vermeiden." Gouache verabschiedete sich leichten Herzens; er ahnte nicht, als er die große Marmortreppe hinabging, daß Gio­ vanni Saracinesca der Gefangene war, von dem der Car­ dinal so geheimnißvoll gesprochen hatte, noch weniger, daß auch er sich fälschlich der Ermordung des Fürsten Montevarchi angeklagt hatte. Als er im hellen Sonnenschein rasch die Straßen hinabschritt, zerbrach er sich den Kopf darüber, wer es wohl sein mochte, und weshalb er eine solche That gethan hatte; eigentlich aber waren seine Gedanken bei Faustina, er sehnte sich, sie wiederzusehen und von ihren eigenen Lippen den wahren Bericht über das Vorgefallene

zu hören.

Zehntes Kapitel. Arnoldo Meschini war sich vollkommen dessen bewußt, was er gethan hatte, als er die Thür des Studirzimmers leise hinter sich zumachte und in die Bibliothek zurückging; aber obwohl er ganz genau wußte, daß er seinen Herrn getödtet hatte, konnte er sich die That selbst doch nicht er­ klären. Seine Schläfe pochten heftig und auf seinen gelb­ lichen Wangen waren zwei rothe Flecken. Er ging schlür-

175 Der Cardinal wußte nicht, ob er lächeln oder ernst aussehen sollte. Er war weder Priester noch Theolog, son­ dern Staatsmann. „Mein lieber Freund", antwortete er endlich. „Die Spitzfindigkeit Ihrer Voraussetzungen übersteigt allen Glau­ ben. Ich kann nur sagen, wenn Sie sich in dem von Ihnen beschriebenen schlimmen Falle befinden, werde ich in Ihrem Namen die Sache dem Heiligen Vater selbst zur Entscheidung vorlegen. Aber ich möchte Ihnen ernstlich rathen, wenn Sie können, den besagten Fall zu vermeiden." Gouache verabschiedete sich leichten Herzens; er ahnte nicht, als er die große Marmortreppe hinabging, daß Gio­ vanni Saracinesca der Gefangene war, von dem der Car­ dinal so geheimnißvoll gesprochen hatte, noch weniger, daß auch er sich fälschlich der Ermordung des Fürsten Montevarchi angeklagt hatte. Als er im hellen Sonnenschein rasch die Straßen hinabschritt, zerbrach er sich den Kopf darüber, wer es wohl sein mochte, und weshalb er eine solche That gethan hatte; eigentlich aber waren seine Gedanken bei Faustina, er sehnte sich, sie wiederzusehen und von ihren eigenen Lippen den wahren Bericht über das Vorgefallene

zu hören.

Zehntes Kapitel. Arnoldo Meschini war sich vollkommen dessen bewußt, was er gethan hatte, als er die Thür des Studirzimmers leise hinter sich zumachte und in die Bibliothek zurückging; aber obwohl er ganz genau wußte, daß er seinen Herrn getödtet hatte, konnte er sich die That selbst doch nicht er­ klären. Seine Schläfe pochten heftig und auf seinen gelb­ lichen Wangen waren zwei rothe Flecken. Er ging schlür-

176 senden Schrittes von einem Bücherschrank zum andern, und seine Hände zitterten heftig als er die großen Bände be­ rührte. Dann und wann blickte er nach den Thüren, als erwarte er, daß Jemand kommen und ihm die Nachricht bringen werde, falls es in solchem Augenblicke Jemanden einfallen sollte, an den einfachen Bibliothekar zu denken. Sein Hirn brannte wie Feuer, es war als müßte es ihm die Augenhöhlen ausbrennen. Hub dennoch verging die Zeit und Niemand kam. Die Spannung wurde unerträg­ lich, und er fühlte, daß er alles thun möchte, um sie los zu werden. Er ging an die Thür und legte die Hand auf den Drücker. Auf einen Augenblick verschwand die Nöthe von seinen Wangen, da seine Furcht zunahm. Er wäre nicht im Stande gewesen, den Anblick der Leiche Montevarchi's zu ertragen, wie sie in dem stillen Zimmer auf dem Tische lag. Seine Hand sank herab, und er rannte förmlich an's andere Ende der Bibliothek; dann, als schäme er sich seiner Schwäche, kam er langsam zurück nnd horchte an der Thür. Es war kaum möglich, daß ein ferner Wiederhall sein Ohr erreichen konnte, falls die Hausbewohner schon aufgeschreckt sein sollten, denn der Gang war lang und gewunden und durch andere Thüren und eine Wendeltreppe unterbrochen. Aber in seinem gegenwärtigen Zustande meinte er, müßten seine Sinne besonders geschärft sein, und er horchte ge­ spannt. Alles war still. Er ging zu seinen Büchern zurück. Ihm blieb nichts übrig, als eine verzweifelte Anstren­ gung zu machen um sich zu beschäftigen und seine Nerven zu beruhigen. Wenn jetzt Jemand käme, dachte er, müßte sein Gesicht ihn verrathen. In seinen Augen müsse ein Glanz, in seinem Wesen eine Unsicherheit sein, die von seiner

177 Schuld deutlich Zeugniß gäbe. Er versuchte sich vorzu­ stellen, was geschehen würde, wenn der Todte gefunden wäre. Es würde Jemand ins Zimmer kommen und ihn sehen. Dann würde der Betreffende vielleicht denken, der Fürst läge in einer liefen Ohnmacht oder sei eingeschlafen, — wer weiß? Aber auf die rufende Stimme würde er keine Antwort geben. Dann würde der Andere herzutreten und ihn berühren — Meschini zwang sich, das auszudenken — er würde die Hand des Todten berühren und fühlen, daß sie kalt sei. Mit einem Schreckensschrei würde er aus dem Zimmer eilen. Diesen Schrei könnte er, Meschini hören» wenn er die Thür offen ließe. Wiederum legte er die Hand an das Schloß. Seine Finger waren wie gelähmt, und der kalte Schweiß stand auf seiner Stirn; aber es gelang ihm sich so weit zu bemeistem, daß er den Drücker um­ drehte und hinaussah. Der Schrei kam, aber von seinen eigenen Lippen. Er taumelte entsetzt von der Thür zurück, die Augen traten ihm aus dem Kopfe. Da stand der Todte im Gange und winkte ihm mit dem Taschentuch. Es war nur seine Einbildung. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, und ein matter Ausdruck der Er­ leichterung glitt über sein Gesicht. Er hatte sich über seinen eigenen Rock erschreckt, der lang und dünn und schlapp draußen aus einem Pflock hing und aus deffen weiter Tasche ein weißes Taschentuch heraushing. Es war nicht beson­ ders hell auf dem Gange. Er schlich vorsichtig hinaus und nahm mit hastig ängstlichem Griff den Rock von seinem Platze fort. Er zog ihn hinter sich her, ging schleunigst in die Bibliothek zurück und rollte den Rock in ein Bündel zusammen, welches ihn durch seine Form unmöglich er­ schrecken konnte. Dann legte er es auf den Tisch, an.die Crawford, Sant' Jlaric. II. 12

178 hellste Stelle, wo die Abendsonne hinschien.

Es war ihm

eine Art von Erleichterung sich zu versichern, daß das Ding

nicht mehr wie der Todte aussehen konnte. und sah mit erneutem Schrecken, gelaffen hatte.

Er schaute auf

daß er die Thür offen

Es war nur Luft zwischen ihm und der

Stelle, wo seine Phantasie das Schreckbild heraufbeschworen

hatte, aber die Thür mußte geschlossen werden. offen blieb, so wurde er verrückt.

Wenn sie

Er versuchte ruhig zu

denken, doch das stand außer seiner Macht.

Er versuchte

sich zu sagen, daß nichts da wäre, und daß die Thür eben

so gut offen wie geschlossen sein könnte.

Aber während er

sich noch anstrengtc, sich selbst zur Vernunft zu bringen»

schlich er schon vorsichtig längs der Wand zu.

dem Eingang

Indem er die Augen fest auf das Holzgetäfel heftete,

konnte er vorwärts gehen, ohne in den Corridor zu blicken. Nun stand er nur noch einen Fuß von der offenen Thür In krampfhafter Angst streckte er rasch die Hand

entfernt.

aus und versuchte, die schwere Eichenthür an dem vorsprin­ genden Beschlag in ihren Angeln zu bewegen, aber sie war zu schwer,

er mußte Hinsehen, um den Griff zu faffen.

Kalter Schweiß tröpfelte von seiner Stirn, und er athmete

gepreßt,

aber er konnte nicht zurückgehen und die Thür

offen lassen.

Mit wahrer Todesangst streckte er den Kopf

und den Arm heraus.

Zm Augenblick war es geschehen,

aber die seelische Anstrengung war furchtbar gewesen, und

seine Kraft verließ ihn, so

daß er gegen

das

Getäfel

taumelte und gefallen wäre, wenn es ihm nicht eine Stütze

geboten hätte. Es vergingen

einige Augenblicke,

ehe er zu

einem

Stuhl gelangte, und als er sich endlich an einer sonnen­

beschienenen Stelle hinsehte um zu ruhen,

blieben seine

Augen auf den sculptirten Messinggriff des Thürschlosses

179 geheftet. Er erwartete beinahe, daß derselbe sich von selbst umdrehen, und daß der todte Fürst ins Zimmer treten werde. Es wurde ihm klar, daß er in seiner jetzigen Ver­ fassung unmöglich demjenigen entgegentreten könnte, der ihm ohne Zweifel nächstens die Nachricht bringen werde. Er mußte etwas haben, um sich zu stärken und seine Ner­ ven zu beruhigen. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit er die That gethan, doch schien es ihm als müßten mindestens drei bis vier Stunden vergangen sein. In Wirklichkeit war es erst fünfundzwanzig Minuten her, daß er das Zimmer des Fürsten verlassen hatte. Plötz­ lich besann er sich, daß er in seinem Schlafzimmer im obersten Stock des Palastes etwas Cognac habe. Langsam und mühselig stand er auf und ging nach dem anderen Ausgang der Bibliothek, welcher, wie in so vielen alten Palästen, auf die Haupttreppe führte, um Besuchern freien Zutritt zu gestatten. Er mußte über den breiten mar­ mornen Treppenabsatz gehen, von wo aus eine verborgene Thür zu der engen Wendeltreppe führte, aus welcher er in das oberste Stockwerk gelangte. Er horchte, ob Jemand vorüberkäme, dann ging er hinaus. Als er erst im Gehen war, bewegte er sich schneller, als es für einen so krummen verwachsenen Menschen möglich zu sein schien. Die helle Nachmittagssonne strömte durch das Fenster seines kleinen Zimmers, eine wahre Erquickung nach der Düsterheit der hohen Bibliothek, wo die einzelnen Strahlen die große Halle durch den Gegensatz nur noch düsterer zu machen schienen. Aber Meschini sah sich nicht viel um. In einem Wandschrank bewahrte er seine Vorräthe auf, seine Chemikalien, seine sorgfältig bereiteten Tinten, seine Stücke präparirten Pergaments und neben allerlei andern zu seinem unrechtmäßigen Geschäft gehörigen Dingen hatte 12*

180 er dort auch eine Flasche alten Cognac verwahrt, welche ihm der Butler einst aus dem Keller des Fürsten gegeben hatte, als Lohn für einen juristischen Rath, der dem Diener das Honorar für einen Advocaten erspart hatte. Wie die meisten Italiener war Arnoldo Meschini immer ein mäßi­ ger Mann gewesen, und die Flasche hatte jahrelang unge­ öffnet im Schrank gestanden. Er hatte niemals daran ge­ dacht, aber einmal dort eingeschloffen, stand sie sicher. Nun war der Augenblick gekommen, wo das geistige Getränk ihm werthvoll war. Seine Finger zitterten, als er die Flasche an die Lippen brachte, aber als er sie niedersetzte, zitterten sie nicht mehr. Der Trunk wirkte wie ein Zauber, und der Mann mit dem fahlen Gesicht schmunzelte, als er allein an seinem Tischchen saß und das Getränk ansah, das ihm Kraft und Fassung wiedergegeben hatte. Die Flasche war voll gewesen, als er zu trinken anfing, jetzt stand die Flüssig­ keit eine Handbreit unter dem Halse. Die Menge, welche er verschluckt hatte, hätte einen mäßigen Menschen in nor­ malem Zustande schon halb betrunken gemacht. Er saß eine lange Weile still, um zu sehen, ob der Trunk nicht noch andere Wirkungen haben werde. Er fühlte eine wohlthuende Wärme in Gesicht und Händen, der Schweiß war von seiner Stirn verschwunden, und er war sich bewußt, daß er jetzt ohne Furcht die offene Thür der Bibliothek sehen könnte, selbst wenn sein Rock noch draußen hinge. Es war ihm unbegreiflich, daß er sich von einem bloßen Schatten so hatte einängstigen lassen. Frei­ lich hatte er den Fürsten Montevarchi umgebracht und die Leiche lag im Studirzimmer. Ja, er konnte ohne Schauder, beinahe ohne Mißbehagen daran denken. Nach den eigenen Worten des Todten war es eine That göttlicher Gerechtig­ keit und Vergeltung gewesen, und da Niemand den Mörder

181 entdecken konnte, lag eine Genugthuung in dem Gedanken, daß der boshafte alte Mann nicht mehr die Welt durch seine Gegenwart belästigte. Sonderbar, daß er vor einer halben Stunde solche Todesangst empfunden hatte! War es eine halbe Stunde her? Wie freundlich schien die Sonne in das Stübchen, wo er jahrelang so fleißig und so nutzen­ bringend gearbeitet hatte! Jetzt da der Fürst todt war, konnte er sich damit unterhalten, die Originaldocumente zu besehen, welche er in so geschickter Weise ersetzt hatte. Er wollte sich gern vergewiffern, daß er es gut gemacht habe. In dem alten Cognac war ein Zauber; noch einen Schluck, und er wollte ins Studirzimmer hinuntergehen, als ob

nichts vorgefallen wäre. Sollte ihm Jemand begegnen, so würde seine Unbefangenheit allen Argwohn entwaffnen. Ueberdies konnte er die Flasche in der Tasche seines langen Rockes mitnchmen — die mutheinflößende Flasche, sagte er sich lächelnd, als er sie wieder an die Lippen setzte. Dieses Mal trank er nur wenig und langsam. Er war zu vor­ sichtig, um seine Munition nutzlos zu vergeuden. Leichten Herzens ging er die Wendeltreppe hinab und quer über den Flur. Einer von Ascanio Bellegra's Dienem ging gerade vorüber. Meschini sah ihn ruhig an und lächelte ihm freundlich zu, um ferne eigene Kaltblütigkeit auf die Probe zu stellen, eine Höflichkeit, welche durch ein vertrauliches Kopfnicken erwiedert wurde. Dem Biblio­ thekar wuchs der Muth. Er nahm die Vertraulichkeit des Lakaien nicht übel, denn trotz all' seiner Gelehrsamkeit war er selbst nicht viel mehr als ein Diener und die Be­ gegnung kam ihm gelegen, als eine Probe für seine Fassung. Augenscheinlich hatte der Diener nichts Ungewöhnliches an ihm bemertt. Ueberdies schlug ihm beim Gehen die Cognacflasche ermuthigend an die Beine. Er öffnete die

182 Thür zur Bibliothek und befand sich am Schauplatz seiner Schrecken. Da lag der alte Rock zusammengerollt auf dem Tisch, wie er ihn hatte liegen lassen. Die Sonne war während seiner Abwesenheit etwas weiter gerückt und das Bündel sah äußerst harmlos aus. Meschini konnte nicht begreifen, weshalb er sich so davor gefürchtet hatte. Er empfand noch immer jene wohlthuende Wärme im Gesicht und in den Händen. Das war die Thür, vor der er so als Feigling dagestanden. Was war dahinter? Der leere Gang. Er wollte hinausgehen und den Rock an seinen alten Platz hängen, wo er ihn immer aufhängte, wenn er am Morgen herunterkam, außer wenn er ihn anbehielt um sich warm zu halten. Was konnte leichter und einfacher sein? Er nahm den Rock in eine Hand, drehte den Drücker um und sah hinaus. Er hatte keine Angst. Der lange stille Gang erstreckte sich weithin, hie und da durch schmale Fenster erhellt, die auf einen inneren Hof des Palastes hinaus­ gingen. Meschini hängte den Rock auf und sah vor sich hin, ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen, als ob er sich wegen seiner Furcht von vorhin selbst verachtete. Dann ging er auf dem wohlbekannten Wege entschlossen nach dem Studirzimmer.'erst eine Treppe hinab, dann rechts — er stand vor der Thür und dahinter lag der Todte. Er blieb stehen und horchte. Alles war still. Als er am Tische stand und die Leiche ansah, war ihm klar, daß noch Niemand dagewesen wäre. Meschini erinnerte sich, daß es eine Hausregel war, den Fürsten nie zu stören, außer wenn ein Besuch käme. Er hatte den Nachmittag immer gern allein über seinen Rechnungen und Plänen gesessen. Der Bibliothekar stellte sich seinem Opfer gegenüber und betrachtete das hingesunkene Haupt und die

183 krummen weißen Finger. Er streckte zaghast die Hand aus, um sie zu berühren, und und wunderte sich, daß sie noch nicht ganz erkaltet waren. Bei der Berührung lief ihm indessen ein unheimlicher Schauer durch den Körper und er zog sich rasch leise fröstelnd zurück. Allein er war nicht so in Angst wie zuvor. Nur die Berührung war ihm un­ angenehm. Er nahm ein Buch, das gerade da lag, und schob es gegen den Arm des Todten. Kein Lebenszeichen, keine Regung! Er wäre gern hinter den Stuhl gegangen und hätte das Taschentuch losgeknüpft. Dem aber war sein Muth nicht gewachsen. Ueberdies gehörte das Taschen­ tuch Faustina. Er hatte gesehen, wie ihr Vater es ihr fortriß und zu Boden warf, als er die Beiden durch das Schlüsselloch beobachtete. Wie ein seltsamer Zauberbann hielt es ihn im Studirzimmer fest, und er würde dem nach­ gegeben haben, hätte er sich nicht durch den Cognac gegen solche krankhafte Thorheit geschützt. Als er sich zum Fort­ gehen anschickte, fiel ihm ein, wie schade es wäre, daß der Fürst nie Geld im Hause gehabt habe, sonst hätte er sich doch jetzt etwas nehmen können. Aber eine kleine Summe zu stehlen, lohnte nicht in Anbetracht der Gefahr entdeckt zu werden. Er ging auf den Fußspitzen, als fürchte er, die Ruhe seines ehemaligen Herrn zu stören und sah sich ein Paar Mal um. Endlich machte er wieder die Thür zu und ging durch den Corridor zurück nach der Bibliothek. Er wun­ derte sich dabei über seine eigene Kühnheit und über die Gleichgültigkeit, mit der er an dem Rock verüberging, der wie immer schlapp am Pflock hing. Auch mit dem Ergeb­ nis seiner Untersuchungen war er zufrieden. Der Fürst war sicherlich todt. Als eine unmittelbare Folge seines Todes, war das Geheimniß des Falles Saracinesca jetzt

184 ganz sein eigen; Niemand hatte Theil daran, und es war viel Geld werth. Er nahm einige Bände von den Bücher­ brettern und that, als ob er am Katalog arbeitete. Aber obgleich er die Erfordernisse für seine Arbeit um sich aus­ breitete, beschäftigten sich seine Gedanken mit dem neuen Plane, der vor seiner Phantasie aufstieg. Er und er allein wußte, daß San Giacinto's Besitz­ ergreifung von dem Erbe der Saracinesca's auf einer Fäl­ schung beruhte. Die Thatsache, daß diese Fälschung ent­ hüllt werden mußte, um die rechtmäßigen Besitzer wieder in ihre Rechte einzusetzen, nahm dem Geheimniß nichts von seinem Werth. Zwei Wege standen ihm offen. Er konnte zu dem alten Leo Saracinesca gehen und ihm die Originaldocumente zum Kaufe anbieten, nachdem er für seine eigene Sicherheit eine Bürgschaft erlangt hatte. Oder er konnte sie dem San Giacinto anbieten, der durch ihr Vorhandensein bedroht war. Montevarchi hatte ihm zwan­ zigtausend Scudi für die Arbeit versprochen und ihm das Geld nicht ausbezahlt. Er hatte feine Schuld mit dem Leben bezahlt, aber das Geheimniß hinterlaffen. Entweder Saracinesca oder San Giacinto würden ihm fünf Mal zwanzigtausend, ja vielleicht zehn Mal so viel für die Ori­ ginaldocumente geben, der Eine um wieder zu seinem Eigen­ thum zu gelangen, der Andere um zu behalten, was ihm nicht gehörte. Die große Frage war, auf welche Weise er das Anerbieten machen sollte. Meschini starrte die Bücher­ reihe ihm gegenüber an, indem er die Frage zu lösen suchte. In dem Augenblick glitt eines der offen vor ihm liegenden Bücher auf ein anderes und das Blatt schlug langsam um. Der Bibliothekar fuhr auf und sah den alterthümlichen Druck an. Es war ein seltenes Werk, das er oft besehen hatte, und er kannte seinen hohen Werth. Ihm kam ein

185 neuer Gedanke. Warum sollte er nicht.dieses und noch so manches andere Buch aus der Sammlung verkaufen und dadurch ebensowohl als durch den Verkauf seines Geheimnisses Geld machen? Er konnte eben so gut reich werden, als nur sein Auskommen haben. Er sah sich um. Mit Fleiß und Mühe, indem er Nachts arbeitete und am Tage die Antiquare aufsuchte, konnte er wohl vier bis fünfhundert Werke herausfinden, die einen hohen Preis bringen würden, und sie durch eben so viel Ellen altes werthloses Zeug ersetzen, das aus den Brettern eben so gut aussehen würde. Bei seinem unge­ heuren Fleiß und Geschick würde es für ihn eine einfache Sache sein, im Katalog Fälschungen zu machen und einige neue Seiten einznschalten, die den von ihm beabsichtigten Veränderungen entsprächen. Der alte Fürst war fort, und wenn er schon wenig von der Bibliothek verstanden hatte, so verstanden seine Söhne doch noch weniger davon. Meschini konnte die entwendeten Bücher an einen sichern Ort bringen, und wenn er den Preis für sein Geheimniß ein­ geheimst hatte, wollte er nach Paris, nach Berlin, ja sogar nach London gehen und seine Schätze allmälig verkaufen. Er staunte über das Glück, welches ihm die Zukunft ver­ hieß, alles erschien in goldenem Schimmer, alles bereit sich in Gold zu verwandeln. Mit einer ihm ganz neuen Be­ geisterung schwelgte sein Geist in den Träumen, die er heraufbeschworen. Er fühlte sich zwanzig Jahre jünger, seine Furcht war verschwunden und damit auch seine De­ muth. Er sah sich nicht mehr als den armen Bibliothekar in Pantoffeln. und schäbigen Kleidern, vor seinem Herrn kriechend, den Tag über die Fälschungen ersinnend, welche er dann bei Nacht ausführte, seinen unrechtmäßigen Gewinn ängstlich und geheimnißvoll verbergen, aus Furcht seine

186 wenigen Bekannten wissen zu lassen, daß er sich ein kleines Vermögen erworben hatte, scheu aus langer Gewohnheit und durch die Erinnerung an die Schmach seines früherm Lebens. Er stellte sich vor, daß er in einer fernen Haupt­ stadt lebte, reich und angesehen, vielleicht verheirathet, eigne Diener hielte und die Gelehrten eines großen Mittelpunktes der Wissenschaft durch seine umfassenden Kenntnisse und tiefe Gelehrsamkeit in Erstaunen setzte. Die ganze Eitel­ keit seiner Natur wurde aus ihrem langen Schlummer durch eine Reihe ganz neuer Empfindungen geweckt, bis er sein unaussprechliches Glück kaum fassen konnte. Und wie war ihm all' dies inmitten seines dürftigen Lebens zugefallen? Einfach dadurch, daß er in der Kehle eines alten Mannes den Athem erstickt hatte. Wie leicht war das gewesen! Die ungewohnte Lebhaftigkeit, welche das geistige Ge­ tränk in ihm erweckt hatte, brachte eine angenehme Ruhe­ losigkeit mit sich. Es trieb ihn, wieder nach seinem Stüb­ chen hinauszugehen und die Documente vorzunehmen und durchzulesen. Ihr Anblick würde seinen Erwartungen noch mehr Lebendigkeit und Wesenhaftigkeit geben. Ueberdies war es ja möglich, daß sich noch ein Wort darin finde, welches er abändern könnte, um ihnen noch höheren Werth zu geben. Beim Katalog in der Bibliothek still zu sitzen, war rein unmöglich. Wiederum kletterte er zu seinem Dachstübchen empor, nur konnte er nicht begreifen, weshalb er immer Lust spürte, sich ängstlich umzusehen, als ob ihm Jemand mit unhörbaren Schritten folgte. Es war doch nicht möglich, daß die Wirkung des Trunkes schon vorüberginge. Solch ein Muth, wie er ihn in sich fühlte, konnte ihn nicht plötzlich verlassen. Er er­ reichte seine Stube, nahm die Documente aus dem ver­ borgenen Fach und breitete sie sorgsam vor sich aus. Als

187 er sich hinsetzte, schlug die Flasche in seinem langen Rock mit einem kurzen dumpfen Ton auf den Boden. Es war als ertönte ein Schritt in dem stillen Zimmer und er sprang auf, ehe ihm deutlich geworden, von wo das Geräusch her­ rührte, und sah sich mit entsetzten Blicken um. In einem Augenblick begriff er, was es war, zog die Flasche aus der Tasche und stellte sie neben sich auf den Tisch. Er sah sie einige Sekunden nachdenklich an, beschloß aber nicht sobald wieder Zuflucht zu ihrem Inhalt zu nehmen. Zweifellos hatte er sich wieder gefürchtet, aber der Ton, welcher ihn erschreckte, war wirklich und nicht eingebildet gewesen. Ueberdies hatte er nur diese eine Flasche und guter Cognac war theuer, das wußte er. Er schob sie fort und sein Geiz half ihm, der Versuchung zu widerstehen. Die alten Dokumente waren ihm lieb und vertraut, er las sie immer wieder mit steigender Genugthuung, ver­ glich sie sorgfältig mit einander und schmunzelte jedes Mal, wenn er an das Ende des Blattes der Copie kam, wo kein Platz gewesen war, um die wichtige Clausel einzuschalten. Ohne diese Zufälligkeit, dachte er, würde er zweifellos die Einschaltungen auf den Originalen vorgenommen haben, und dann würden sich diese nicht mehr in seinem Besitz befinden. Er begriff selbst nicht recht, weshalb es ihm so viel Vergnügen machte, die Schriften so oft durchzulesen oder warum die verschnörkelten Buchstaben sich von Zeit zu Zeit ganz von selbst zu bewegen und von rechts nach links durch einander zu laufen schienen, während doch die übrigen Gegenstände im Zimmer ihm ganz klar und deut­ lich vor Augen standen. Vielleicht hatten die Aufregungen des Tages seine Sehkraft angegriffen. Er blickte auf und sah die Flasche. Eine unwiderstehliche Begierde ergriff ihn, den Trank wieder zu kosten, wenn er auch nur einen Tropfen

188 tränke. Die Flüssigkeit benetzte seine Lippen, während er sich noch überlegte, ob es klug wäre zu trinken oder nicht. Als er den Pftopfen wieder auf die Flasche setzte, fühlte er plötzlich all' seine vorigen Empfindungen neu belebt. Sein Gesicht wurde warm, seine Finger prickelten. Er er­ griff mit fester Hand eines der Dokumente und setzte sich behaglich auf seinen Stuhl zurecht. Aber er konnte es nicht wieder zu Ende lesen. Er lachte über seine Thorheit. Kannte er nicht jedes Wort auswendig? Er mußte jetzt über seine Zukunft nachdenken, seine Pläne genau entwerfen. Wenn er damit fertig war, konnte er in dem Gedanken an Reichthum und Ruhe und befriedigter Eitelkeit schwelgen. Zu seiner Ueberraschung floffen ihm die Gedanken nicht

so im Zusammenhänge zu, wie er es erwartet hatte. Er konnte nicht umhin, an den Todten unten zu denken, nicht mit Grauen, auch nicht mit Furcht vor Entdeckung, aber mit einem ungewiffen Staunen, bei dem er eine geistige Leere empfand. Wie er es auch wenden mochte, er konnte nicht recht voraussehen, was wahrscheinlich geschehen würde, wenn der Mord bekannt wurde. Es war keine Folge­ richtigkeit in seinen Phantasien, und er sehnte sich nach dem Augenblicke, wo alles entschieden sein würde. Die Unruhe, welche ihn herauf in sein Zimmer getrieben hatte, erheischte irgend eine Bewegung, um sie wieder zu stillen. Er wäre gern ausgegangen, um seinen Freund, den kleinen Apotheker an der Brücke Quattro Capi zu besuchen. Es würde eine Erleichterung sein, mit Jemandem zu sprechen, eine mensch­ liche Stimme zu hören. Aber ein Rest von Ueberlegung hielt ihn zurück. Zwar war es nicht wahrscheinlich, daß auf ihn Verdacht fallen wüxde, ja, wenn er sich vorsichtig benähme, war sogar nichts unwahrscheinlicher als das. Allein das Haus in solch einem Augenblick zu verlaffen,

189 Wäre der Gipfel der Unvernunft, wenn nicht bewiesen wer­ den konnte, daß er eine Weile vor der Zeit ausgegangen war, zu der der Mord muthmaßlich verübt worden. Der Portier war wachsam, und Meschini wechselte fast immer einige Worte mit ihm, wenn er durch den Thorweg ging. Er würde sich sicherlich die Zeit seines Ausgehens mehr oder minder genau merken. Ueberdies war die Leiche viel­ leicht schon entdeckt, und schon jetzt konnten Polizisten unten sein. Dieser letzte Gedanke bewog ihn, wieder hinunter in die Bibliothek zu gehen. Ein leichter Schauer durchrieselte ihn, als er die Thür seines Stübchens hinter sich zu­ machte. Die große Halle erschien jetzt sehr düster und kalt, und die Einsamkeit war drückend. Er empfand ein Bedürfniß nach Bewegung und fing an die Bibliothek der Länge nach zwischen den breiten Tischen von einer Thür zur andern auf und abzugehen. Als er das erste Mal an die Thür kam, welche ihn von dem Gange trennte, verspürte et kein unheimliches Gefühl, sondern drehte ihr den Rücken zu, kehrte um und ging wieder zurück. Aümälig aber wurde ihm unbehaglich zu Muthe, so oft er jenes Ende des Ge­ maches erreichte und die Erscheinung des todten Fürsten stieg vor seinen Augen auf. Der Rock hing wieder dort hinter der Thür. Ohne Zweifel würde er wieder so erscheinen, wenn er ihn ansähe. Sein schwankender Muth war eben auf dem Wendepunkt, als er eS wagte hinauszuschauen, um sich zu versichern, daß der schlaff herabhängende Rock nicht die Gestalt eines Gespenstes angenommen hatte. Er fühlte wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinablief, als er den Drücker umdrehte, und die kühle Luft, welche ihm beim Oeffnen der Thür entgegenströmte, schien aus dem Grabe zu kommen.

190 Obgleich er sich durch den Augenschein überzeugt hatte, daß der Rock ruhig in der Ecke hing, zog er sich schnell zurück, und das unheimliche Schauern wiederholte sich merklicher, als er die Thür ins Schloß fallen hörte. Er ging wieder nach der andern Richtung, aber als er das nächste Mal zurückkam, drehte er in einiger Entfernung von der Schwelle um, und fühlte den Schauer zum dritten Male, fast wie einen elektrischen Schlag. Er konnte es nicht länger aus­ halten und setzte sich vor den Katalog nieder. Seine Augen versagten ihm, er konnte nicht lesen, und nach einem langen Kampf zwischen Furcht, Vernunft und Sparsamkeit zog er die Flasche wieder aus der Tasche und stärkte sich durch einen Schluck. Dieses Mal trank er mehr, und die Wir­ kung war eine andere. Das Licht schwand aus den Bogen­ fenstern der Bibliothek und in den Ecken und Winkeln dunkelte cs bereits. Aber Meschini sah nicht mehr Geister und Erscheinungen. Er saß ganz still, das Kinn auf die Hand gestützt, den Ellbogen auf dem Tisch, und dachte immer, wie lange es denn noch dauern würde, ehe man ihm sagen käme, daß der Fürst todt sei. Er schlief nicht, aber er versank in einen Zustand von Betäubung, der seinen Nerven wohlthuend war. Sich selbst überlassen wäre er wohl binnen einer halben Stunde eingeschlafen; sein Athem ging schwer und rings um ihn herrschte tiefe Stille. End­ lich kam der gefürchtete Augenblick und fand ihn stumpf und apathisch. Die Thür ging auf, und der Schein einer Kerze fiel in das nunmehr fast ganz dunkle Zimmer. Ein Lakai und ein Stubenmädchen steckten vorsichtig den Kopf hin­ ein und guckten in das Dunkel, das Licht hoch hal­ tend. Jeder von ihnen hätte sich gefürchtet, allein zu kommen.

191 „Sor Arnolds! Sor Arnoldo!" rief der Diener zag­ hast, als erschräke er beim Ton seiner eigenen Stimme. „Hier bin ich!" antwortete Meschini und nahm einen möglichst heiteren Ton an. Noch ein Mal nahm er rasch einen Schluck aus der Flasche, hinter dem Tische, wo sie ihn nicht sehen konnten. „Was giebt's?" fragte er. „Der Fürst ist ermordet!" riefen die beiden Dienst­ boten in einem Athem. Sie waren sehr blaß, als sie auf ihn zutraten. Wenn der von ihm ausgestoßene Schrei erzwungen war, so waren sie viel zu verstört, um es zu bemerken. Während sie ihre Geschichte mit allen möglichen Uebertrei­ bungen erzählten, von Ausrufen des Schreckens und Ent­ setzens unterbrochen, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen, stöhnte, schrie und vom Trinken in einen hyste­ rischen Zustand versetzt, vergoß er in ihrer Gegenwart wirk­ liche Thränen. Dann führten sie ihn fort und sagten, der Polizeipräfect wäre im Studirzimmer und der ganze Haus­ stand wäre zusammenberufen, um von ihm verhört zu wer­ den. Er war jetzt in seiner Rolle und konnte sie zu Ende spielen, ohne stecken zu bleiben. Nachher konnte er sich nicht recht auf das Vorgegangcne besinnen. Er erinnerte sich, daß die Stille im Zimmer und die bleichen Gesichter der Anwesenden ihm im Gegensatz zu dem lauten Jammer der beiden Dienstboten, die ihn gerufen hatten, ausgefallen waren. Er erinnerte sich, daß er geschworen und daß An­ dere seinen- Eid bekräftigt hatten, nämlich daß er den Nach­ mittag theils auf seinem Zimmer, theils in der Bibliothek zugebracht hätte. Ascanio Bellegra's Lakai erinnerte sich, ihm an der Treppe begegnet zu fein, und sagte, er habe ganz wie gewöhnlich freundlich und unbefangen gelächelt und sei dann weiter gegangen. Im Uebrigen schien Keiner

192 auch nur daran zu denken, daß er der Thäter sein könnte, denn Niemand hatte je etwas Anderes als freundliche Worte zwischen ihm und seinem Herrn gehört. Er erinnerte sich auch, die Leiche ausgestreckt auf dem großen Tisch liegen gesehen zu haben, und aus Donna Faustina's Stimme be­ sann er sich undeutlich, wie im Traum. Ehe noch der Präfect seine Entscheidung kund gab, wurde er nebst den andern Dienstboten entlaffen. Von dem Augenblick an konnte er sich auf nichts mehr besinnen. In der That kehrte er in sein Zimmer zurück und setzte sich an den Tisch, das brennende Licht stand vor ihm. Er wußte nicht, daß er nach dem Verhör den Butler noch um eine Flasche Cognac gebeten hatte, weil seine Ner­ ven durch das schreckliche Ereigniß sehr erschüttert wären. Etwa um Mitternacht war das Licht ausgebrannt. Bei dem letzten Schimmer trank er noch einen Schluck und taumelte angekleidet wie er war, ins Bett. Eine Flasche war leer und von der anderen war ein Drittel fort. Arnoldo Meschini war sinnlos betrunken.

Elftes Kapitel.

Corona war nicht besonders überrascht, als der Bote mit dem Wagen kam und den Befehl für Faustina's Be­ freiung überbrachte. Als Giovanni sie verließ, war sie überzeugt, er würde Mittel und Wege zur Befreiung des jungen Mädchens finden, und nur eins wunderte sie, näm­ lich daß Giovanni nicht selbst zurückkehrte. Der Bote sagte, er hätte ihn beim Cardinal gesehen, und Sant' Ilario habe den Befehl gegeben, den Wagen zu benutzen. Weiter wußte er nichts. Corona brachte Faustina sofort nach dem Palast

192 auch nur daran zu denken, daß er der Thäter sein könnte, denn Niemand hatte je etwas Anderes als freundliche Worte zwischen ihm und seinem Herrn gehört. Er erinnerte sich auch, die Leiche ausgestreckt auf dem großen Tisch liegen gesehen zu haben, und aus Donna Faustina's Stimme be­ sann er sich undeutlich, wie im Traum. Ehe noch der Präfect seine Entscheidung kund gab, wurde er nebst den andern Dienstboten entlaffen. Von dem Augenblick an konnte er sich auf nichts mehr besinnen. In der That kehrte er in sein Zimmer zurück und setzte sich an den Tisch, das brennende Licht stand vor ihm. Er wußte nicht, daß er nach dem Verhör den Butler noch um eine Flasche Cognac gebeten hatte, weil seine Ner­ ven durch das schreckliche Ereigniß sehr erschüttert wären. Etwa um Mitternacht war das Licht ausgebrannt. Bei dem letzten Schimmer trank er noch einen Schluck und taumelte angekleidet wie er war, ins Bett. Eine Flasche war leer und von der anderen war ein Drittel fort. Arnoldo Meschini war sinnlos betrunken.

Elftes Kapitel.

Corona war nicht besonders überrascht, als der Bote mit dem Wagen kam und den Befehl für Faustina's Be­ freiung überbrachte. Als Giovanni sie verließ, war sie überzeugt, er würde Mittel und Wege zur Befreiung des jungen Mädchens finden, und nur eins wunderte sie, näm­ lich daß Giovanni nicht selbst zurückkehrte. Der Bote sagte, er hätte ihn beim Cardinal gesehen, und Sant' Ilario habe den Befehl gegeben, den Wagen zu benutzen. Weiter wußte er nichts. Corona brachte Faustina sofort nach dem Palast

193 Montevarchi und mit dem Versprechen, im Laufe des Tages wiederzukommen, begab sie sich nach Hause um auSzuruhen. Sie bedurfte der Ruhe noch mehr als Faustina, die doch auf ihrem Bett im Gefängniß fest geschlafen hatte, im kindlichen Vertrauen auf das Versprechen ihrer Freun­ din, daß sie am Morgen frei sein würde. Corona dagegen hatte eine schlaflose Nacht zugebracht und war erschöpft vor Ermüdung. Sie blieb bis zwölf Uhr in ihrem Zimmer, bis zu der Stunde, wann die Familie sich zum Frühstück zusammenfand. Ihr Schwiegervater wartete bereits auf sie, und sie sah auf den ersten Blick, daß er in übler Laune war. Sein braunes Gesicht war blasier als gewöhnlich und seine Bewegungen hastig und nervös, während seine Augen zornig unter den buschigen Brauen hervorblitzten. Corona ihrerseits war still und zerstreut. Trotz der tragi­ schen Ereignifle der Nacht, welche sie im Grunde bis jetzt nur indirect angingen, und trotz des beständigen Seelen­ leidens, welches jetzt eine so bedeutende Rolle in ihrem Leben spielte, konnte sie nicht anders als durch den unge­ heuren Verlust, welchen ihr Gatte und ihr Schwiegervater erlitten, tief bewegt sein. Den letzteren traf er eigentlich härter, denn er war ein alter Mann und sein Gemüth war nicht durch andere wichtige Dinge hingenommen, aber auch für den andern war es ein furchtbarer Schlag. „Wo ist Giovanni?" fragte Saracinesca plötzlich, als sie sich zu Tische setzten. „Ich weiß es nicht", versetzte Corona. „Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, daß er beim Cardinal Anto­ nelli wäre. Wahrscheinlich blieb er dort, nachdem er den Befehl zur Befreiung Faustina's ausgewirkt hatte." „Also ließ sich Se. Eminenz wirklich überreden, daß Crawford, Sant' Ilario. II. 13



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das kleine Mädchen den alten Sünder nicht abgewürgt hat," bemerkte der Fürst. „Es scheint so." „Wenn man Flavia festgenommen hätte, so wäre das natürlicher gewesen. Sie hätte ihre Herrschaft als Fürstin Saracinesca mit einer Nacht in den Termini eingeweiht. Ein herrlicher Gegensah? — Du weißt wahrscheinlich, wer

cs gethan hat?" „Nein. Vermuthlich einer von den Dienstboten, ob­ wohl, wie man sagt, nichts gestohlen ist." „San Giacinto hat es gethan. Ich habe mir die ganze Sache überlegt und bin davon überzeugt. Sieh nur seine Hände an! Er könnte einen Elephanten erwürgen. Nicht als ob er besonderen Grund hätte, seinen Schwieger­ vater beerben zu wollen. Er ist reich genug ohne Flavia's Erbtheil, aber ich habe mir immer gedacht, daß er eines schönen Tages Jemanden umbringen würde, immer seit ich ihn zuerst in Aquila sah." „Ohne irgend welchen Grund?" „Mein liebes Kind, wenn man keinen Grund angeben kann, ist es sehr schwer zu sagen, warum etwas geschieht. Er sieht danach aus!" „Ist es denkbar, daß er nach Erreichung all' seiner Wünsche sein Glück in solcher Weise auf's Spiel setzen sollte?" „Vielleicht nicht. Ich glaube aber, er hat es gethan. Wie abscheulich schmeckt der Eierkuchen — ein Glas Wasser, Pasquale! Abscheulich, nicht wahr, Corona? Ganz un­ genießbar. Wahrscheinlich hat der Koch von unserm Un­ glück gehört und will abgehen." „Ich glaube, wir sind nicht sehr hungrig," meinte Corona, nur um doch etwas zu sagen.

195 „Ich möchte wohl wissen, ob der Mörder jetzt eben sein Frühstück einnimmt, unb ob er guten Appetit hat. Vorn psychologischen Standpunkt aus wäre es interessant. Uebrigens ist diese ganze Geschichte recht wie eine jettatura*)." „Was?" „Daß Montevarchi gerade an dem Tage sein Ende finden mnßte, da er den Prozeß gewonnen hatte. In der guten alten Zeit wäre es an Giovanni gewesen, ihm den Hals abzuschneiden, dann hätten wir nns alle nach Saracinesca zurückgezogen und auf eine Belagemng vorbereitet. Minder civilifirt, aber sehr viel menschlicher. Ohne Zweifel heißt es nächstens — vielleicht jetzt schon — wir hätten den Mörder gedungen." „Aber San Giacinto hat doch den Prozeß einge­ leitet" — „Nein, Montevarchi. Ich habe heute früh mit meinem Anwalt gesprochen. Er sagt, Montevarchi hätte die Advocaten nach Frascati hinausgeschickt, um mit San Giacinto zu sprechen und hätte ihnen die ganze Sache schon vorher erklärt. Er entdeckte zuerst die Clausel in den Documenten. San Giacinto hat sie gar nicht vorher gesehen, ehe die ganze Geschichte fertig war. Und am Abend desselben Tages, wo alles entschieden war, wurde Montevarchi ermordet. Es wundert mich, daß es noch Keinem eingefallen ist zu sagen, wir hätten es gethan." „Du erhobst ja keinen Einspruch. Hättest Du es ge­ than, so wäre es etwas Anderes." „Wie sollte ich Einspruch erheben? Es war ja von An*) Jettatura, ein Verhängnis, eigentlich Folge des bösen Blicks, woran in Italien allgemein geglaubt wird.

196 sang an klar, daß wir keine Aussicht hatten, den Prozeß zu gewinnen. Thatsache bleibt, daß wir aus unserm Hause geworfen werden. Je eher wir aber abziehm, desto bester. Es wird nur noch schwerer zu gehen, je länger wir hier

bleiben." „Ja," antwottete Corona traurig, „es wird immer schwerer!" „Ich glaube, es ist eine Strafe des Himmels für Giovanni wegen seines empörenden Betragens," brummte der Fürst, plötzlich von einem neuen Gedanken erfaßt. „Für Giovanni?" Corona war sofort erregt, als ihr Mann in solcher Weise erwähnt wurde. „Ja, für sein Benehmen gegen Dich, der junge Schurke! Ich hätte ihn sofort enterben sollen." „Bitte, sprich nicht so! Ich kann nicht dulden, daß"--------„Es ist mein eigner Sohn, und ich werde sagen, was ich will," unterbrach Saracinesca sie grimmig. „Ich sage, er hat Dich empörend behandelt. Es ist ganz nach einer Frau, es abzuleugnen und ihren Mann zu vertheidigen." „Da kein Anderer hier ist, um ihn zu vertheidigen, muß ich es thun. Er war getäuscht und urtheilte natür­ lich nach dem Schein. Ich wußte nicht, daß Du alles wüßtest." „Ich weiß weder alles, noch die Hälfte, aber ich weiß genug. Ein Mann, der Verdacht hegt gegen eine solche Frau wie Du bist, verdient gehenkt zu werden. Ueberdies," setzte er mit intuitivem Scharfsinn, der Corona erschreckte, hinzu, „überdies hast Du ihm nicht vergeben." „Wirklich, ich habe ihm vergeben" — „Im christlichen Sinne ohne Zweifel. Ich weiß, Du bist gut und fromm. Aber Du liebst ihn nicht mehr wie

197 früher. Es ist unnütz, das zu leugnen. Warum solltest Du auch? Ich mache Dir gewiß keinen Vorwurf daraus." Der Fürst heftete seine klaren Augen auf ihr Gesicht und wartete auf eine Antwort. Sie wurde etwas bleicher und schwieg einige Augenblicke. Dann sah er, während er sie beobachtete, wie ihr die Farbe langsam in die Wangen stieg. Sie hätte sich dieses ungewöhnliche Errathen kaum selbst erklären können, und auch ein Mann, der eines verwickelteren Gedankenganges fähig war als der Fürst, hätte es mißdeutet. Corona war zuerst darüber ärgerlich gewesen, daß er so von Giovanni sprechen und Dinge sagen konnte, die sie über ihn nicht gegen sich selbst aussprechen würde. Dann überkam sie ein eigenthümliches Schamgefühl, weil sie durchschaut worden war. Es war ja wahr, daß sie ihren Mann nicht liebte, oder wenigstens glaubte, daß sie ihn nicht lieben könnte; aber sie schämte sich, daß ein Anderer es wußte. „Warum bestehst Du darauf, von der Sache zu sprechen?" fragte sie endlich. „Sie geht nur uns Beide an." „Mir scheint, daß sie mich auch angeht," versetzte Saracinesca, der von Natur hartnäckig war. ,Zch bin nicht neugierig. Ich stelle keine Fragen. Giovanni hat mir sehr wenig darüber gesagt. Aber ich bin nicht blind. Er kam eines Abends zu mir und sagte, er wolle Dich sortbringen, ins Gebirge. Er schien sehr aufgeregt, und ich merkte, daß zwischen euch etwas vorgefallen war, und daß er einen Argwohn gegen Dich hätte. Er sagte es nicht, aber ich wußte, was er meinte. Wenn es sich als wahr bestätigt hätte, so glaube ich, würde ich — na, ich hätte nicht für mich einstehen können. Natürlich nahm ich seine Partei, aber Du wurdest krank und wußtest das nicht. Als er kam und mir sagte, er hätte sich geirrt, machte ich

198 ihn herunter wie einen Dieb. Ach habe ihn seitdem immer heruntergemacht, so oft ich Gelegenheit hatte. Es war niederträchtig, feig, abgeschmackt, lächerlich" — „Um Himmelswillen!" unterbrach ihn Corona. „Bitte, bitte, laß die Sache aus sich beruhen! Ich bin so un­ glücklich!« „Ich auch!" sagte Saracinesca kurz. „Es trägt nicht zu meinem Glück bei zu wissen, daß mein Sohn sich wie ein Esel benommen hat. Schlimmer als das. Du scheinst nicht zu bedenken, daß ich Dich sehr lieb habe. Wäre ich nicht schon solch ein alter Mann gewesen, so hätte ich mich eben so in Dich verliebt wie Giovanni. Erinnerst Du Dich, wie ich nach Astrardente ritt und für ihn um Dich warb? Ich hätte alles was ich bin und was ich habe, darum ge­ geben, an Giovanni's Stelle zu sein, als ich ihm Deine Antwort zurückbrachte. Bah! ich bin ein alter Mann und just kein Apollo! Aber Du bist mir eine gute Tochter ge­ wesen, Corona, und ich werde nicht zulasten, daß sich Jemand schlecht gegen Dich beträgt." „Und Du bist so gut zu mir gewesen — so gut! Aber Du mußt nicht böse auf Giovanni sein. Er hatte sich getäuscht. Er liebte mich selbst damals noch." „Ich wünsche, ich wäre so milde wie Du." „Nenne mich nicht milde! Das bin ich durchaus nicht. Wenn ich es wäre, so würde ich" — Sie hielt inne. „Ja, ich weiß, dann würdest Du ihn so lieben wie früher. Dann wärest Du aber nicht Corona, sondern eine Andere. Ich kenne das. Du kannst aber nicht zwei ver­ schiedene Personen zugleich sein. Die andere Frau, die Du im Sinne hast, und die Giovanni lieben würde, ist ein mattherziges Geschöpf, das alles und jedes erträgt, jede Entschuldigung nach einer Kränkung annimmt und sich auf

199 ihre Langmuth etwas zu gute thut, weil sie nicht das Herz hat, in gerechten Zorn zu gerathen. Gott sei Dank, so bist Du nicht. Wärst Du so, dann hätte Dich Giovanni nicht zur Frau und ich nicht zur Tochter." „Ich denke, es ist meine Schuld. Ich möchte alles nur Mögliche thun, damit es anders würde." „Du giebst also die Thatsache zu? Natürlich. Es ist ein Unglück und nicht Deine Schuld. Es ist ein Unglück mehr unter so vielen. Du magst ihm vergeben, wenn Du willst; ich nicht. Uebrigens wundert es mich, daß er nicht nach Hause kommt. Ich möchte doch hören, wie es steht." „Vielleicht hat ihn der Cardinal zum Frühstück da behalten." „Von sieben Uhr Morgens an? Das ist unmöglich. Wenn Seine Eminenz ihn nicht als des Mordes angeklagt verhaftet hat." Der alte Herr lachte ingrimmig und ahnte nicht, wie nahe sein Scherz der Wahrheit war. Aber Co­ rona blickte schnell aus. Der bloße Gedanke an einen so gräßlichen Fall war ihr schmerzlich, wie abenteuerlich und unwahrscheinlich er ihr auch vorkam. „Ich wollte ihn bitten, morgen nach Saracinesca hinauszusahren, und die nöthigen Anordnungen zu treffen," fuhr der Fürst fort. „Muß es so bald geschehen?" fragte Corona wehmüthig. „Ist es ganz fest entschieden? Habt ihr nicht zu leicht nachgegeben?" „Ich kann die ganze Sache nicht noch ein Mal durch­ sprechen", erwiederte ihr Schwiegervater etwas ungeduldig. „Es ist gar kein Zweifel dabei möglich. Ich habe all' meine Faffung und Verbindlichkeit San Giacinto gegenüber verbraucht, als er kam, um mir die Mittheilung zu machen. Klagen hilft nicht, und wir können nicht zurück. Ich glaube,

200 ich könnte mich vor den Papst Hinknieen und Seine Heilig­ keit um einen andern Titel bitten, Fürst von Cavolfiore (Blumenkohl), wenn's Dir gefällt. Aber ich will cs nicht. Ich will als Leo Saracinesca sterben. Du kannst Giovanni Deinen früheren Titel geben, wenn Du willst — es steht bei Dir, ihn ihm zu verleihen." „Cr soll ihn haben, wenn er will. Was thut es? Ich kann mich ja Donna Corona nennen." „Ach ja, was thut's, wenn wir nur Ruhe haben? Was kommt's überhaupt in dieser unaussprechlich lächerlichen Welt auf irgend etwas an — außer auf Dein Glück, mein armes Kind. Ja, es muß alles in Ordnung gebracht wer­ den. Ich bleibe keine Woche mehr in diesem Hause." „Aber in einer Woche kann unmöglich alles besorgt werden!" rief Corona, deren weiblicher Verstand unendliche Schwierigkeiten beim Umzug voraussah. „Möglich oder unmöglich, es muß geschehen. Ich habe die Uebergabe auf heute über acht Tage festgesetzt. Die Advocaten sagten wie Du, daß cs mehr Zeit erfordern würde. Ich sagte ihnen, es wäre keine Zeit zu verlieren, und wenn sie es nicht thun wollten, würde ich mir andere nehmen. Sie sprachen davon, daß sie die ganze Nacht auf­ sitzen müßten, als ob es mir etwas ausmache, ob sie ihren schönen Schlaf verlören oder nicht! Heute über acht Tage muß alles in Ordnung sein, so daß ich keinen Pfennig mehr im Besitz habe, der mir nicht gehört." „Und dann — was gedenkst Du dann zu thun?" fragte Corona, welche trotz seiner Heftigkeit sah, wie nahe es ihm ging. „Und dann? Was dann? Wo anders wohnen und um einen sanften Tod beten!" Niemand hatte Leo Saracinesca jemals sagen hören,

201 daß er zu sterben wünschte, und der Wunsch schien mit seinem Charakter so im Widerspruch zu stehen, daß Corona ihn besorgt ansah. Sein Antlitz war verstört und seine Stimme zitterte. Er war ein tapferer Mann und ein Ehrenmann, aber keineswegs ein Philosoph. Wie er selbst gesagt, er hatte all' seine Ruhe in der einen Unterredung mit San Giacinto verbraucht, als er von der Gerechtigkeit der Ansprüche desselben überzeugt worden war. Seitdem hatte er nur Bitterkeit empfunden, und die Aeußerung der­ selben war entweder unbillige Reizbarkeit bei Kleinigkeiten oder wie jetzt ein leidenschaftlicher Ausbruch gegen das Leben, gegen die Welt, in der er lebte, kurz gegen alles. Es ist kaum zu verwundern, daß er den Verlust so schmerz­ lich empfand, sogar noch schmerzlicher als Giovanni. Er war viele Jahre lang allein Herr und Haupt der Familie gewesen und hatte sämmtliche erbliche Würden inne gehabt, die zu seiner Stellung gehörten, von denen einige seiner Vorliebe für feudale Traditionen besonders zusagten. Das Schmerzlichste bei dem Verlust traf seinen Stolz und die vornehme Eitelkeit, welche einen Theil seines Wesens auömachte, kraft deren er sich an der Ehre freute, die seinem Namen, seinem Sohne, seiner Schwiegertochter, seinen Nach­ kommen zuerkannt ward, und eben so an einer gewissen selbstständigen Herrschaft, die Keinem etwas schadete und ihm ungeheuere Befriedigung gewährte. In seinem Alter konnte man ihn nicht wegen solcher Gefühle tadeln. Sie entstammten in Wahrheit weit mehr der Gewohnheit, als einem eitlen Charakter, und ihn dünkte, wenn er sein Un­ glück tapfer ertrüge, so hätte er ein Recht, in seiner Weise auf das Schicksal zu schimpfen. Aber er konnte es nicht immer vermeiden, mehr Rührung zu verrathen, als er zeigen wollte.

202 „Sprich nicht vom Tode!" sagte Corona. „Giovanni und ich wollen Dein Dasein glücklich und lebenswerth machen." Sie seufzte unwillkürlich bei diesen Worten. „Giovanni und Du!" wiederholte der Fürst düster. „Ja, ohne seine Verrücktheit — doch was Hilst das Reden? Ich habe viel zu thun. Wenn er heute Nachmittag zu Dir kommt, bitte sage ihm, daß ich ihn brauche." Corona war froh, als die Mahlzeit vorüber war, und ging wieder in ihr Zimmer. Sie hatte versprochen, Fau­ stina wieder zu besuchen, sonst wußte sie wirklich nicht, womit sie sich beschäftigen sollte. Eine unbestimmte Un­ ruhe ergriff sie, als die Zeit verging und ihr Mann nicht nach Hause kam. Es sah ihm nicht ähnlich, den ganzen Tag sortzubleibcn, ohne es ihr vorher zu sagen, obschon sie sich gestehen mußte, daß sie in letzter Zeit wenig Antheil an seinem Thun und Treiben bezeigt hatte, und daß es nicht zu verwundern sein würde, wenn er anfinge zu thun, was ihm beliebte, ohne ihr seine Absichten mitzutheilen. Dennoch wünschte sie, er möchte vor dem Abend kommen. Die Macht der Gewohnheit war stark, und sie vermißte ihn, ohne sich dessen recht bewußt zu sein. Endlich über­ wand sie ihre Apathie und ging aus, um den versprochenen Besuch zu machen. Der Palast Montevarchi prangte in all' dem äußeren Pomp großartiger Trauer. Portale und Treppen waren schwarz behangen. In der großen Vorhalle war der Bal­ dachin ganz verdeckt durch ein riesiges Trauerwappen, vor dem der Fürst die Nacht zuvor und einen Theil des Tages auf dem Prnnkbett gelegen hatte. Nach römischer Sitte war die Leiche bereits fortgeschafft, denn das Gesetz der Stadt erheischt, daß dies binnen vierundzwanzig Stunden geschehe. Die großen schwarzen Gestelle, auf denen die

203 Kerzen gesteckt hatten, standen noch da und gaben dem Ganzen einen gespensterhaften, grabesmäßigen Anstrich. Zahlreiche Dienstboten in Trauerlivree standen in der Ecke um ein ungeheures kupfernes Kohlenbecken und flüsterten mit einander, ihre Stimmen verstummten, als die Fürstin Sant' Ilario in die offene Thür der Halle trat. Der Mann, welcher ihr entgegentrat, schien der Aufseher beim Leichenbegängniß zu sein, denn Corona hatte ihn nie zuvor im Hause gesehen. „Donna Faustina erwartet mich", sagte sie und ging auf den Eingang zu den Wohngemächern zu. „Darf ich Excellenz um Ihren Namen bitten?" fragte der Mann. Corona wunderte sich, daß er fragte — ob vielleicht auch schon Leute seiner Klaffe von der Entscheidung des Prozeffes wußten? „Donna Corona Saracinesca", antwortete sie sehr deutlich. Der Name klang ihr seltsam und ungewohnt. „Donna Corona Saracinesca!" wiederholte der Mann mit lauter Stimme eine Sekunde daraus. Er rannte bei­ nahe San Giacinto an, der in dem Augenblick heraustrat. Corona stand ihrem Verwandten gegenüber. „Sie — Fürstin!" rief er und reichte ihr die Hand. Trotz der Verwandtschaft hatte er nicht den Vorzug, sie beim Namen nennen zu dürfen. „Sie — warum meldet der Mensch Sie so?" Corona reichte ihm die Hand und sah ihn ruhig an. Sie hatten sich seit der Entscheidung noch nicht gesehen. „Ich hatte es ihm selbst gesagt. Ich werde künftig den Namen führen. Ich komme Faustina besuchen." Sie wollte weiter gehen. „Erlauben Sie mir Ihnen zu sagen," sprach San Gia­ cinto mit seiner tiefen ruhigen Stimme, „daß so weit ich

204 dabei betheiligt bitt, Sie die Fürstin Sant' Ilario sind und imtker bleiben werden. Niemand kann mehr als ich die

Lage bedauern, in welche ich Ihnen und den Ihrigen gegen­ über gebracht worden bin, und ich werde sicherlich alles thun, was in meiner Macht steht, um solche überflüssige Veränderungen zu vermeiden." „Wir können die Sache hier nicht erörtern", sagte Corona in kälterem Tone, als sie selbst wollte. »Ich glaube, sie bedarf keiner Erörterung. Ich hoffe sogar, Sie werden keinen Groll gegen mich hegen." „Ich hege keinen. Sie haben offen und ehrlich ge­ handelt. Das Recht war auf Ihrer Seite. Aber weder ich noch mein Mann werden einen erborgten Namen führen." San Giacinto schien durch ihre Antwort verletzt. Er trat zurück, um sie vorbei zu lasten, und in seinem Be­ nehmen war etwas Würdevolles, das Corona gefiel. „Die Uebergabe ist noch nicht erfolgt", sagte er ernst. „Bis dahin gehört Ihnen der Name." AIs sie fort war, sah er ihr mit einem Ausdruck von Verstimmung nach. Er verstand ihre Gefühle sehr gut, aber er wünschte durchaus nicht, daß zwischen ihm und ihrer Familie eine Mißstimmung entstehen sollte. Selbst in der Stellung, die er jetzt erreicht hatte, war er nicht frei von einem Gefühl der Unsicherheit, und er konnte das Wohlwollen seiner Verwandten nicht entbehren, bloß weil er der Fürst Saracinesca und Herr eines großen Vermögens war. Sein früheres Leben hatte ihn vorsichtig gemacht und er unterschätzte nicht den Werth persönlichen Einfluffes. Ueberdies hatte er kein schlechtes Herz und stand sich gern mit allen Menschen gut. Nach seiner Ansicht hatte er nichts mehr gethan, als das beansprucht, was gesetzlich sein war,

205 allein er wollte sich nicht die Feindschaft derer zuziehen, die alles in seine Hände gegeben hatten. Corona ging weiter und fand Faustina und Flavia beisammen. Ihre Mutter war nicht im Stande, Jemanden zu sprechen. Die übrige Familie war auf's Land gegan­ gen, sobald die Leiche sortgeschafft worden, und gab dadurch ohne besonderes Widerstreben den Bitten ihrer besten Freunde nach, welche römischer Sitte gemäß es für nöthig hielten, die Leidtragenden zu zerstreuen. Das ist die stehende Redensart, und in anderen Ländern mag man staunend die Augen aufteißen über die häuslichen Verhältnisse, in welche diese Sitte einen Einblick giebt. Es ist nichts Un­ gewöhnliches, daß die meisten Mitglieder der Familie das Haus verlassen, ehe der Tod wirklich eingetreten ist. Wenn man von einem Sterbenden spricht, ist es nicht ungewöhn­ lich zu sagen: „Ihr könnt euch denken, wie krank er ist, denn die Familie hat ihn verlassen." Die Dienstboten wohnen der Todtenmeffe bei, die leeren Wagen folgen der Bahre bis zu den Thoren der Stadt, aber die Familie ist schon ans dem Lande und sucht sich zu zerstreuen. Flavia und Faustina indessen blieben zu Hause, theils weil die alte Fürstin wirklich zu tief bekümmert und er­ schüttert war, um sortzureisen, theils weil San Giacinto Rom nicht verlassen wollte. Faustina war überdies excen­ trisch genug, um solche Sucht nach Zerstreuung ganz un­ passend zu finden, und sie selbst hatte binnen vierundzwanzig Stunden eine solche Reihe von Gemüthsbewegungen durch­ gemacht, daß sie der Ruhe bedurfte. Was Flavia anbetrifft, so nahm sie die Sache sehr ruhig, wäre aber doch lieber mit ihren Brüdern und deren Frauen zusammen ge­ wesen. Das Unglück hatte fürs Erste ihre Lebendigkeit gemäßigt, obschon man leicht sehen konnte, daß es keinen

206 tieferen Eindruck auf ihre Natur gemacht hatte. Die Wahr­ heit zu gestehen, berührte das plötzliche Zusammentreffen mit Corona sie unangenehmer als der tragische Tod ihres Vaters. Sie hielt es für nöthig, mehr als gewöhnlich herzlich zu sein, nicht aus Berechnung, sondern eher um den un­ angenehmen Eindruck loszuwerden. Sie sprang ihr ent­ gegen und küßte Corona auf beide Wangen. „Ich sehnte mich so danach, Dich zu sehen!" rief sie enthusiastisch. „Du bist so gütig gegen Faustina gewesen. Wir können Dir wirklich nie genug danken. Denke nur, wenn sie die Nacht hätte allein im Gefängniß zubringen müssen! So ein gräßlicher Irrthum! Ich hoffe, der ab­ scheuliche Mensch wird auf die Galeeren geschickt werden! Die arme kleine Faustina! Wie konnte man nur denken, daß sie so etwas thun würde!" Corona war auf solchen Empfang seitens Flavia's nicht gefaßt, es berührte sie unangenehm. Aber sie sagte nichts, sondern erwiederte die Begrüßung nur mit ent­ sprechender Herzlichkeit, ehe sie sich zwischen die beiden Schwestern setzte. Faustina sah theilnamslos zu, entrüstet über solche Gleichgültigkeit. Ihr fiel ein, daß wenn Corona sie nicht nach den Termini begleitet hätte, einer von ihren Angehörigen schwer dazu zu bewegen gewesen sein dürste. „Und der arme Papa!" plapperte Flavia weiter. „Ist es nicht zu furchtbar, zu gräßlich! Zu denken, daß Einer so etwas gewagt hat! Ich werde nie den Eindruck über­ winden, den es auf mich gemacht hat — nein niemals! Ohne Priester, ohne irgend einen Menschen — ach der Arme!" „Der Himmel ist gnädig," sagte Corona, die es für nöthig hielt, irgend so eine Bemerkung zu machen.

207 „£) ja, ich weiß," versetzte Flavia plötzlich ganz ernst. „Ich weiß. Aber der arme Papa — ja weißt Du — ich fürchte"--------Sie hielt inne und schüttelte bedeutungsvoll den Kopf, augenscheinlich wollte sie andeuten, daß die Aussichten des Fürsten Montevarchi auf die ewige Seligkeit nur gering gewesen. „Flavia!" rief Faustina empört, „wie kannst Du so etwas sagen?" „Ach, ich sage ja gar nichts, und überdies, siehst Du, war er ja auch manchmal sehr gut. Nur noch gestern ver­ sprach er mir die Ohrringe — Du weißt, Faustina, die mit den herabhängenden Perlen von Civilotti — sie waren allerdings nicht so sehr groß. Er versprach wirklich, sie mir zum Andenken zu schenken, wenn — ach so, ich ver­ gaß" Sie hielt verlegen inne, denn sie hatte eben sagen wollen, die Ohrringe hatten ein Andenken an das Gewinnen des Prozeffes sein sollen, als sie sich besann, daß sie mit Corona sprach. „Nun — es wäre sehr gütig von ihm gewesen, wenn er sie mir geschenkt hätte," setzte sie hinzu. „Das ist am Ende immer etwas. Der arme Papa! Es wäre aber doch eine große Beruhigung, wenn er eine Art von Absolution empfangen hätte." „Ich glaube nicht, daß Du Dir etwas aus ihm ge­ macht hast!" rief Fauftina. Corona theilte augenscheinlich diese Ansicht, denn sie schwieg und sah sehr ernst aus. „O, Faustina, wie lieblos Du bist!" rief Flavia ganz erstaunt und etwas ärgerlich. „Ich habe den armen Papa gewiß eben so geliebt wie ihr alle, und vielleicht noch mehr. Wir standen uns immer so gut!"

208 Faustina zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe und sah Corona an, als ob sie sagen wollte, ihre Schwester wäre hoffnungslos, und einige Minuten lang sprach keine von ihnen. „Hast Du Dich jetzt ganz ausgeruht?" fragte endlich Corona, sich an das junge Mädchen wendend. „Armes Kind! was mußt Du gelitten haben!" „Es ist sonderbar, aber ich bin nicht müde. Ich habe geschlafen, wie Du weißt, denn ich war ganz er­ schöpft." „Faustina's Kummer hielt sie nicht wach!" bemerkte Flavin, geneigt etwas Unangenehmes zu sagen. „Ich kam nur her, um zu sehen, wie es Dir geht," sagte Corona, der nichts daran lag, das Beisammensein zu verlängern. „Ich hoffe morgen zu hören, daß es eurer Mutter bester geht. Ich traf Saracinesca, als ich kam, aber ich habe ihn nicht nach ihr gefragt." „Deinen Schwiegervater?" fragte Faustina harmlos. „Ich wußte nicht, daß er hier war." „Nein, Deinen Mann, meine Liebe," antwortete Co­ rona und sah Flavia dabei an. Sie war neugierig, wel­ chen Eindruck die Veränderung auf sie gemacht hätte. Flavia crröthete schnell, augenscheinlich vor Vergnügen» wenn auch etwas Verlegenheit dabei war. Aber Corona blieb ruhig und ungerührt wie gewöhnlich. „Ich wußte nicht, daß er schon so genannt würde," sagte Flavia. „Wie sonderbar es sein wird!" „Wir werden uns bald daran gewöhnen," sagte Corona lächelnd, indem sie aufstand um zu gehen. „Ich wünsche Dir viele Jahre des Glückes mit Deinem neuen Namen. Lebewohl!" Faustina begleitete sie bis in eines der äußeren Gemächer.

209 „Sage mir,“ fragte sie, als sie allein waren, „wie hat Dein Mann es so schnell erreicht? Ich hörte heute, der Cardinal hätte es zuerst abgeschlagen. Ich verstehe es nicht. Ich konnte Dich nicht in Flavia's Gegenwart fragen, sie ist so neugierig.“ „Ich weiß es nicht. Ich habe Giovanni heute noch nicht gesehen. Er blieb bei dem Cardinal, als er uns den Wagen schickte. Auf irgend eine Weise muß es schnell ge­ lungen sein. Heute Abend werde ich alles erfahren. Was ist Dir, liebste Faustina?“ Thränen standen in Faustina's Augen und bald folgte ihnen ein leises Schluchzen. „Ich vermiffe ihn schrecklich!“ rief sie und legte das Köpfchen auf die Schulter ihrer Freundin. „Und ich bin so unglücklich! Wir schieden im Zorn, und ich kann ihm nie mehr sagen, wie leid es mir thut. Du glaubst doch nicht, es hätte etwas damit zu thun, nicht wahr?“ „Euer kleiner Zwist? Nein, mein Kind. Was sollte der damit zu thun haben? Wir wissen nicht, was geschah.“ „Ach, ich werde nie sein Gesicht vergessen. Ich war schrecklich unkindlich — ach! Ich könnte beinahe jenen Mann heirathen, wenn es etwas hülfe!“ Corona lächelte wehmüthig. Der Schmerz des jungen Mädchens war ächt, ein starker Gegensatz zu Flavia's ge­ schwätziger Leichtfertigkeit. Sie legte ihre Hand zärtlich auf das dicke kastanienbraune Haar. „Vielleicht sieht er jetzt ein, daß Du nicht gegen Deine Neigung heirathen solltest.“ „Ach, glaubst Du das? Ich wünsche, es wäre mög­ lich. Ich würde mir nicht so schlecht vorkommen, wenn ich dächte, er sähe es jetzt ein. Ich könnte es besser ertragen. (Lrawford, Sant' Ilario. II. 14

210 Ich würde nicht das Gefühl haben, als ob es eigentlich meine Pflicht wäre, Frangipani zu heirathen." Corona wendete sich Plötzlich mit einem Ausdruck zu ihr, der fast wild war in seiner Heftigkeit. Sie ergriff beide Hände Faustina's und sagte: „Thue das niemals, Faustina! Was Dich auch treffen mag, thue das niemals! Du weißt nicht, was es heißt, mit einem Mann zu leben, den Du nicht liebst, selbst wenn Du ihn nicht haffest. ES ist schlimmer als -er Tod." Corona küßte sie und ließ sie an der Thür stehen. Wäre eS möglich, fragte sich Faustina, daß Corona ihren Mann nicht liebte? Oder meinte sie ihr früheres Leben mit dem alten Astrardente? Natürlich, das mußte es sein. Corona und Giovanni waren ja ein sprüchwörtlich glück­ liches Paar. Als Corona wieder in ihr Zimmer kam, lag ein Brief auf ihren Tisch derselbe, welchen ihr Mann am Vormittag in seinem Gewahrsam geschrieben hatte. Sie riß den Umschlag mit einer Aufregung auf, deren sie sich nicht für fähig gehalten hatte. Sie hatte bei ihrer Rückkehr nach ihm gefragt und man hatte noch nichts von ihm gehört. Ihre unbestimmte Unruhe über seine Ab­ wesenheit nahm plötzlich zu, bis sie fühlte, wenn er nicht bald käme, müsse sie ihn suchen gehen. Sie las den Brief mehrmals durch, ohne den Inhalt recht zu ver stehen. Augenscheinlich hatte er Rom plötzlich verlassen und ihr nicht sagen wollen, wohin er ginge, denn seine Weisung, was sie sagen sollte, war so gefaßt, daß sie augenscheinlich nur als eine Erklärung für seine Abwesenheit Andern gegen­ über dienen sollte. Der Brief war räthselhast und konnte alles Mögliche bedeuten. Endlich warf Corona das Stück

211 Papier ins Feuer und stampfte auf den dicken Teppich ungeduldig mit dem Fuß. „Wie kalt er schreibt!" rief sie laut. Die Thür ging auf und ihr Kammermädchen erschien. „Wollen Ew. Excellenz den Herrn Gouache empfangen?" fragte das Mädchen auf der Schwelle. „Nein! auf keinen Fall!" antwortete Corona in einem Ton, über den die Dienerin erschrak. „Ich bin nicht zu

Hause." „Sehr wohl, Excellenz."

Zwölftes Kapitel.

Wie viel Arnoldo Meschini im Laufe des Tages arbei­ tete, hing eigentlich ganz von seinem Belieben ab. Die Bibliothek war immer ein Mal in der Woche dem Publi­ kum geöffnet gewesen, und dann mußte der Bibliothekar anwesend sein. Den übrigen Theil seiner Zeit sollte er der unaufhörlichen Arbeit widmen, welche eine so große Bücher­ sammlung erheischte, und im Ganzen genommen hatte er mehr gethan, als von ihm erwartet wurde. Der Fürst Montevarchi hatte nie den Vorschlag gemacht, ihm einen Gehülfen zu geben, und er würde ein solches Anerbieten abgelehnt haben, weil die Gegenwart eines Andern es ihm fast unmöglich gemacht hätte, die Fälschung alter Manu­ skripte zu betreiben. Natürlich arbeitete er nur in seinem Zimmer an der eigentlichen Verfertigung seiner unerlaubten Kunstwerke, allein ein zweiter Bibliothekar hätte unfehlbar bemerken muffen, daß nicht alles richtig wäre. Abend für Abend trug er die kostbaren Manuskripte auf sein Zimmer und brachte fie jeden Morgen zurück, um ste aus ihren 14'

211 Papier ins Feuer und stampfte auf den dicken Teppich ungeduldig mit dem Fuß. „Wie kalt er schreibt!" rief sie laut. Die Thür ging auf und ihr Kammermädchen erschien. „Wollen Ew. Excellenz den Herrn Gouache empfangen?" fragte das Mädchen auf der Schwelle. „Nein! auf keinen Fall!" antwortete Corona in einem Ton, über den die Dienerin erschrak. „Ich bin nicht zu

Hause." „Sehr wohl, Excellenz."

Zwölftes Kapitel.

Wie viel Arnoldo Meschini im Laufe des Tages arbei­ tete, hing eigentlich ganz von seinem Belieben ab. Die Bibliothek war immer ein Mal in der Woche dem Publi­ kum geöffnet gewesen, und dann mußte der Bibliothekar anwesend sein. Den übrigen Theil seiner Zeit sollte er der unaufhörlichen Arbeit widmen, welche eine so große Bücher­ sammlung erheischte, und im Ganzen genommen hatte er mehr gethan, als von ihm erwartet wurde. Der Fürst Montevarchi hatte nie den Vorschlag gemacht, ihm einen Gehülfen zu geben, und er würde ein solches Anerbieten abgelehnt haben, weil die Gegenwart eines Andern es ihm fast unmöglich gemacht hätte, die Fälschung alter Manu­ skripte zu betreiben. Natürlich arbeitete er nur in seinem Zimmer an der eigentlichen Verfertigung seiner unerlaubten Kunstwerke, allein ein zweiter Bibliothekar hätte unfehlbar bemerken muffen, daß nicht alles richtig wäre. Abend für Abend trug er die kostbaren Manuskripte auf sein Zimmer und brachte fie jeden Morgen zurück, um ste aus ihren 14'

212 Platz zu stellen. Während des Tages studirte er eifrig, was er dann allein in seinen stillen Stunden ausführte. Von der Familie kam Keiner außer dem Fürsten je in die Bibliothek; kein anderes Mitglied der Familie bekümmerte sich um die Bücher oder verstand etwas davon. Nach dem Tode seines Herrn war also Meschini thatsächlich Herr über alles, was die Schränke enthielten. Niemand störte ihn, Niemand fragte, was er thäte. Sein Gehalt wurde ihm regelmäßig von dem Haushofmeister ausbezahlt und man hätte ihn wahrscheinlich unbeachtet bis ans'Ende seiner Tage weiter vegetiren lasien. Nach seinem Tode hätte man einen Andern statt seiner angestellt. Im gewöhnlichen Laus der Dinge stand ihm keine andere Zukunft bevor. Er erwachte spät am Tage nach dem Morde und lag eine Weile da und wunderte sich, weshalb ihm so unbehag­ lich zu Muthe wäre, warum ihm der Kopf so weh thäte, warum er nicht deutlich sehen könnte, warum er sich auf nichts besänne, was er vor dem Schlafengehen gethan habe. Die ungeheure Masse Cognac, welche er zu sich genommen, hatte zeitweise seine körperlichen Fähigkeiten gelähmt, welche nicht durch gewohnheitsmäßigen Genuß von Alkohol abgestumpft waren. Er wendete den Kopf unruhig auf dem Kiffen hin und her, sah die Flaschen auf dem Tisch stehen, das Licht im Mcssingleuchter herabgebrannt und die allge­ meine Unordnung im Zimmer. Er sah sich selbst an und bemerkte, daß er angekleidet auf dem Bett lag. Da trat mit einem Male die ganze Wahrheit mit erschreckender Deutlichkeit vor seine Seele. Es durchfuhr ihn wie ein elek­ trischer Schlag, als ob ihn Jemand heftig auf den Hinter­ kopf geschlagen hätte, während das Licht in seinem Zimmer momentan in Blitze zertheilt schien und seinen Augen wehe that. Er erhob sich mühsam und hielt sich am Bettpfosten,

213 kaum fähig allein zu stehen. Er hatte seinen Herrn er­ mordet. Der erste Augenblick, in dem er fich das klar machte, war für ihn der furchtbarste, dessen er sich ent­ sinnen konnte. Er hatte den Fürsten getödtet und konnte sich auf nichts oder so gut wie gar nichts besinnen, was seit der That geschehen war. Beinahe ehe er recht wußte, was er that, hatte er den Schlüssel zwei Mal umgedreht und schob die Möbel — Tische, Stühle, alles was er rücken konnte, vor die Thür. Es schien ihm, als hörte er schon auf der Wendeltreppe das Säbelgerassel der Gensdarmen, welche ihn festnehmen kamen. Er schaute fich verstört im Zimmer um, ob etwas da wäre, das zu seiner Entdeckung führen konnte. Die ungewohnte Anstrengung hatte indessen die Circulation des Blutes wieder in Gang gebracht und damit kehrte eine unbestimmte Erinnerung an das Triumph­ gefühl zurück, mit dem er gestern Abend auf sein Zimmer gekommen war. Er fragte fich, wie er sich über die That hätte freuen können, wenn er nicht unbewußt Schritte für seine eigene Sicherheit gethan hätte. Der Leichnam mußte ja längst entdeckt worden sein. Ganz allmälig stieg der Vorgang im Studirzimmer wieder vor ihm auf, wie die beiden Dienstboten ihn dorthin geholt hatten, — der todte Fürst aus dem Tische ausge­ streckt, die bleichen Gesichter, der Präfect, Donna Faustina's Stimme, eine Menge Fragen, die ihm mit metallisch harter, unerbittlicher Stimme vorgelegt worden waren. Er war also nicht betrunken gewesen, als nach ihm geschickt wurde. Und doch wußte er, daß er auch nicht nüchtern gewesen. In was für einem Zustand hatte er sich denn befunden? Schau­ dernd erinnerte er sich an seine Angst in der Bibliothek, seinen Schreck über das Gespenst, welches fich als sein eigner Rock heräusgestellt hatte, den Gang nach seinem

214 Zimmer und den ersten Schluck. Von da ab wurden seine Erinnerungen immer undeutlicher. Er konnte sich gar nicht mehr besinnen, wie er zum letzten Mal die Treppe herauf­ gekommen war. Einerlei indesien blieb klar: er war nicht festgenommen worden, denn er befand sich frei auf seinem Zimmer. Wer war denn an seiner Stelle verhaftet worden? Er wunderte sich, daß er das nicht wußte. Sicherlich mußte bei der ersten Untersuchung irgend etwas ausgesagt worden sein, das zur Verhaftung irgend einer Person geführt hatte. Die Polizei ging nicht mit leeren Händen davon. Er quälte sein schmerzendes Gehirn ab, um sich auf den Umstand zu besinnen, allein vergeblich — aus dem guten Grunde, daß er wirklich nichts von der Sache wußte. Jedenfalls gereichte es ihm zur Erleichterung zu wiffen, daß er wirklich mit all' den Uebrigen zusammen verhört worden war, ohne daß man Verdacht gegen ihn geschöpft hatte. Dennoch hatte er zweifellos die That begangen, bei deren bloßer Erinnerung er an allen Gliedern zitterte. Oder war das alles nur ein Theil seiner trunkenen Träume? Nein, das Eine ließ sich nicht als bloße Täuschung erklären. Lange Zeit ging er unruhig von seiner Barrikade an der Thür nach dem Fen­ ster, durch welches er auf die Straße zu sehen versuchte. Aber sein Schlafzimmer war ein Dachstübchen und der breite Steinkarnies des Palastes schnitt ihm die Aussicht ab. Endlich fing er an die Möbel von der Thür sortzurücken, zuerst langsam, da er nur an die Nutzlosigkeit dachte, dann mit fieberhafter Hast, als ihm einfiel, daß dieser Versuch, sich in seinem Zimmer zu verschanzen, Verdacht erregen muffe. In wenigen Minuten hatte er alles wieder an seinen Platz gestellt. Die Cognacflaschen verschwanden in einem Wandschrank, ein Stümpfchen Licht füllte den leeren Leuchter.

215 Er riß sich die Kleider ab und sprang ins Bett nnd warf sich hin und her, damit es so aussähe, als ob er darin geschlafen hätte. Dann stand er wieder auf und fing an, sich anzuziehen. Alle seine Kleider waren schwarz und er hatte nur eine geringe Auswahl. Es dämmerte ihm aber dunkel, daß ein Leichenbegängniß oder irgend eine Feier­ lichkeit stattfinden würde, an welcher alle Mitglieder des Hauses theilzunehmen hätten, und er zog seine besten Klei­ der an, einen anständigen schwarzen Tuchanzug, ein reines Hemd, ein schwarzes Halstuch. Dann besah er fich in dem geborstenen Spiegel. Sein Gesicht war geisterbleich, die Augen blutunterlaufen, die Adern an den Schläfen dick an­ geschwollen. Er fürchtete, sein Aussehen könnte auffallen, obschon es in der That nicht so sehr verändert war. Als er daran dachte, fiel ihm ein, daß er einigen zwanzig Personen werde entgegentreten müssen, von denen einige ihn wahrscheinlich neugierig ansehen würden. Seine Nerven waren stark erschüttert, er brach beinahe zusammen bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand. Was

würde erst aus ihm werden, wenn er der Wirklichkeit gegen» über träte? Und doch war er gestern dem ganzen Hause tapfer genug an derselben Stelle begegnet, wo er am Abend vorher den Mord verübt hatte. Er setzte sich, überwältigt durch einen neuen Anfall von Furcht und Schrecken. Das ganze Zimmer drehte sich mit ihm herum, und er faßte nach der Tischkante um sich zu stützen. Aber er konnte doch nicht den ganzen Tag dort bleiben. Eine Verspätung bei solch einer Gelegenheit, wo er am Platz sein mußte, konnte für ihn verhängnißvoll werden. Es gab nur ein Mittel» den nöthigen Muth wiederzugewinnen, nämlich wieder zu trinken. Er bebte vor dem Gedanken zurück. Noch hatte er nicht die Gewißheit des gewohnheitsmäßigen Trinkers,

216 durch den Morgentrunk Muth und Kühnheit und eine ruhige Hand zu erlangen, und der Gedanke an den Ge­ schmack des Cognacs war ihm in seinem überreizten Zu­ stande widerwärtig. Er stand auf und versuchte sich so zu benehmen, als ob er sich mitten in einer großen Versamm­ lung befände. Wie ein Affe grinste er die Möbel an, ging im Zimmer umher, sprach laut, that, als ob er wirklichen Personen begegnete, und versuchte Redensarten auszusprechen, die tiefen Kummer ausdrücken sollten. Er öffnete die Thür und that, als ob er Jemanden begrüßte. Es war, als wäre ihm ein kalter Wasserstrahl ins Genick gegossen. Seine Kniee schlotterten und ihm wurde übel vor Furcht. Es war entschieden rein unmöglich, ohne irgend eine Stärkung nach unten zu gehen. Traurig machte er die Thür wieder zu und nahm die Flasche heraus. Er nahm mehrere kleine Dosen und erprobte geduldig die Wirkung, bis seine Hand ruhig und warm war. Zehn Minuten später kniete er nebst vielen Andern vor dem Katafalk unter dem großen schwarzen Baldachin. Er war geblendet durch das Licht der großen Armleuchter und betäubt durch das gedämpfte Geräusch flüsternder Stimmen und leiser Schritte; aber er wußte, daß seine äußere Haltung ruhig und gefaßt war, und daß er keine Spur von Aengstlichkeit verrieth. San Giacinto stand an einer der Thüren, denn er wechselte sich mit den Söhnen des Verstorbenen bei der Wache im Todtenzimmer ab. Er beobachtete den Bibliothekar und eine Art von Mitleid für ihn schlich sich in sein Herz. „Der arme Meschini!" dachte er. „Er hat einen Freund verloren. Vielleicht ist er betrübter als die ganze Familie zusammen genommen, der arme Kerl!" Arnoldo Meschini, der vor der Leiche des von ihm Er-

217 mordeten mit einer Cognacflasche in der Rocktasche kniete, würde ein schlimmes Ende genommen haben, wenn der Riese die Wahrheit geahnt hätte. Aber er sah nach seiner An­ sicht den bescheidenen, schlecht bezahlten, halb verhungerten Bibliothekar vor sich seinen Herrn betrauern, dem er dreißig Jahre treu gedient hatte. Er blieb lange auf den Knieen, seine Lippen bewegten sich mechanisch bei den Worten eines ost wiederholten Gebets. In der That fürchtete er sich, allein aufzustehen, und wartete, bis einer der Andern sich rührte. Aber die Schaar der Lakaien, sicherlich in dem Glauben, daß der Betrag ihres künftigen Lohnes gewissermaßen von der Tiefe ihrer jetzigen Trauer abhängen würde, schien nicht geneigt ihre Gebete einzustellen. Meschini dünkte die Zeit endlos, und sein Muth begann zu schwin­ den, während das Bewußtsein seiner Lage ihm zur fürchterlichen Qual ward. In einer Kirche, inmitten einer großen Versammlung hätte er es eher ausgchalten, auch hier hätte er sein Grauen einige Minuten lang überwinden können, allein eine solche Rolle eine Viertelstunde lang fort­ zuspielen, schien ihm unmöglich. Er hätte seine Seele darum geben mögen, die freilich eben jetzt von geringem Werth war, hätte er sich aus der Flasche Muth trinken können, und seine gefalteten Hände zuckten nervös, als sehnten sie sich in die Tasche zu greifen. Er blickte die Reihe hinab, erwog seine Stellung, um zu sehen, ob es möglich wäre unbemerkt trinken zu können, allein er erkannte, daß es Tollheit wäre auch nur daran zu denken, und fing an seine Gebete mit erneutem Eifer herzuplappern in der Hoffnung, seine Gedanken abzulenken. Daraus ergriff ihn eine entsetzliche Sinnestäuschung. Es schien ihm, als ob der Todte seinen Kopf langsam, beinahe unmerklich ihm zuwende. Die geschlossenen Augen öffneten

218 sich und sahen ihn an, eine übernatürliche Stimme nannte seinen Namen. Wie am gestrigen Nachmittag lief ihm der kalte Angstschweiß von der Stirn. Er war im Begriff, vor Angst laut aufzuschreien, als der Mann neben ihm sich erhob. In einem Augenblick stand er auf den Füßen. Beide verneigten sich noch ein Mal, bekreuzigten sich und gingen. Meschini strauchelte und griff nach dem Arm des Andern; aber es gelang ihm, die Thür zu erreichen. Als er hinausging, war sein Gesicht so verstört, daß San Giacinto ihn mit noch größerem Mitleid ansah; dann ging er ihm einige Schritte nach und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Bibliothekar fuhr heftig zusammen und stand still. „Er war Ihnen ein gütiger Freund, Herr Meschini," sagte San Giacinto freundlich. „Aber trösten Sie sich, wir werden Sie nicht vergeßen." Der gefürchtete Augenblick war gekommen und er war allerdings entsetzlich; aber San Giacinto's Ton war be­ ruhigend. Er konnte keinen Argwohn hegen, obschon die Dienstboten sagten, er wäre ein unberechenbarer Mensch, tief in seinen Gedanken und furchtbar in seinem Zorn. Von der ganzen Familie fürchtete Meschini ihn am meisten. „Gott sei ihm gnädig!" winselte der Bibliothekar an allen Gliedern zitternd. „Er war der beste Mensch von der Welt und ist jetzt ohne Zweifel in der Herrlichkeit!" „Ohne Zweifel", versetzte San Giacinto trocken. Er hatte seine eigene Ansicht über diesen Punkt, und ihm ge­ fiel Meschini's Ton nicht. „Ohne Zweifel", wiederholte er. „Wir werden uns bemühen, seine Wünsche inbetreff Ihrer zu erfüllen." „Danke, Excellenz!" sagte Meschini sehr demüthig und machte hinter seinem Rücken Hörner mit den Fingern,

219 um den bösen Blick abzuwenden; dann schlich er sich nach der großen Treppe fort. San Giacinto trat an die Thür zurück unh bekümmerte sich nicht weiter um ihn. Daraus rannte Meschini förm­ lich die Treppe hinunter und ließ in seiner Eile nicht nach, bis er auf der Straße war. Die kalte Lust des Winter­ tages belebte ihn und er ging rasch in der Richtung des Ponte Quattro Capi'). Diese Richtung schlug er gewöhn­ lich ein, wenn er ohne einen besonderen Zweck ausging, denn sein Freund Tiberio Colaifso, der arme Apotheker, hatte seinen Laden auf der kleinen Insel San Bartolomeo, welche durch eine doppelte Brücke mit dem Flußufer ver­ bunden ist, daher der Name Quattro Capi. Meschini stand still und sah über das Geländer in das gelbe wogende Wasser. Die Wirbel schienen seltsame Formen anzunehmen, und er beobachtete sie lange. Er hatte ein rasendes Kopfweh, von der Art, die durch den Anblick von Gegenständen in schneller Bewegung verschlim­

mert wird, welcher aber zugleich eine unwiderstehliche An­ ziehungskraft auf das Auge ausübt. Fast unbewußt ver­ glich er sein Leben mit dem Flusie, — trüb, gewunden, zerstörend. Das Gleichniß war undeutlich, wie fast alle seine Ideen an jenem Tage, aber es drückte wenigstens einen Gedanken aus, und er fing an, eine sonderbare Zu­ neigung zu dem schmutzigen Fluß zu verspüren, wie sie viel­ leicht noch nie Jemand zuvor empfunden. Aber als er länger hineinblickte, schwindelte ihn, und er trat von der Brustwehr zurück. Es muß etwas Seltsames in seinem Gesicht gewesen sein, denn ein vorübergehender Mann sah *) führt.

Die Brücke, welche von der Tiberinsel nach Trastevere

220 ihn neugierig an und fragte, ob er krank wäre. Er schüt­ telte den Kopf mit mattem Lächeln und ging weiter. Der Apotheker stand müßig in seiner Thür und war­ tete auf Kunden, die ihm selten zufielen. Er war ein klapperdürrer Mann, ungefähr fünfzig Jahr alt, mit tief­ liegenden Augen von unbestimmter Farbe. Ein verwahr­ loster grauer Bart hing ihm auf die Brust herab und gab seinem Aussehen etwas Wildes. Eine sehr schäbige grüne Mütze mit angelausenen Silbertressen besetzt, saß ihm weit nach hinten auf dem Kopf und ließ eine runzelige, durch Kahlheit bedeutend erhöhte Stirn frei, deren Verhältnisse auf ein großes und thätiges Gehirn deuteten. Daß er viel schnupfte, war augenscheinlich. Im Uebrigen war er weder besonders schmutzig, noch besonders rein, aber seine Daumen hatten die eigenthümliche Form, welche vom be­ ständigen Pillenrollen herzurühren scheint. Meschini blieb vor ihm stehen. „Guten Tag, Sor Arnolds!" sagte der Apotheker und sah seinem Freunde forschend ins Gesicht. „Guten Tag, SorTiberio," erwiderte der Bibliothekar. „Darf ich einen Augenblick eintreten?" Die Frage sollte scherzhaft klingen, denn der Apotheker lächelte. „Padrone!“ sagte er und trat durch die enge Thür zurück. „Ein Spielchen scopa heute?" „Haben Sie Zeit übrig?" fragte der Andere ernst. Sie hielten immer die Fabel aufrecht, daß Tiberio Colaiflo ein vielbeschäftigter Mann wäre. „Heute," antwortete dieser ohne zu lächeln, und das Wort betonend, als bedeute es eine Ausnahme, „heute habe ich nichts zu thun; überdies ist es noch früh." „Wir können ein Partiechen machen und dann bei Cicco essen."

221 „Da es Freitag im Advent ist, wollte ich fasten," er­ wiederte der Apotheker, der keinen Groschen in der Tasche hatte. „Aber weil Sie mich so freundlich einladen, will ich nicht Nein sagen." Meschini sagte nichts weiter, er wußte, wie die Sachen standen, und es war ihm durchaus nichts Neues. Sein Freund holte ein Spiel italienischer Karten hervor, sie waren altersbraun. Er gab Meschini seinen einzigen Stuhl und setzte sich auf einen dreibeinigen Schemel. Es war ein trübseliges Schauspiel. Der Laden lag wie viele seiner Art in einem armseligen Stadttheil von Rom. Es war darin Platz für den Ladentisch und für drei Personen davorzustehen, wenn die Thür geschloffen war. Der Fußboden bestand aus brüchigen Ziegelsteinen. Wäh­ rend die beiden Männer anfingen zu spielen, benetzte ein tröpfelnder Regen die stille Straße draußen, und die Ziegel­ steine drinnen bedeckten sich mit klebriger Feuchtigkeit. Der Himmel hatte sich nach dem klaren Morgen bewölkt, und im Laden war wenig Licht. Drei der Wände waren von Glasschränken bedeckt, welche eine Sammlung von Majolicakrügen enthielten, die einen modernen Sammler entzückt hätten; in dem armseligen Laden aber sahen sie dürftig und gewöhnlich aus. Dazwischen standen hie und da große und kleine Flaschen, einige geborsten und bestäubt, andere voll Flüssigkeiten, mit Papieretiketten, die vor Alter braun geworden, und auf denen die Inschrift kaum mehr von der schmutzigen Oberfläche zu unterscheiden war. Das Einzige im Laden, was ziemlich rein aussah, war die kleine messingne Wagschale und die weiße Marmorplatte, auf der trockne Arzneien bereitet wurden. Die beiden Leute sahen aus, als ob sie in das kleine Zimmer gehörten. Meschini's gelbe Gesichtsfarbe paßte

222 eben so sehr zu der Umgebung wie das graue farblose Ge­ sicht des Apothekers. Seine blutunterlaufenen Augen schweiften von den halbverwischten Karten zu den Gegen­ ständen im Laden, wenn er beim Spiel unsicher war. Sein Spielgenosse sah ihn an, als ob er mit der mühsamen Lösung eines schwierigen Problems beschäftigt wäre. Er selbst war ein Mann, der, wie der Bibliothekar, sein Leben

unter günstigen Verhältnissen begonnen hatte; er hatte Medizin studirt und als Arzt praktizirt. Allein es war ihm nicht geglückt, denn obschon begabt, besaß er doch nicht die für seinen Berus am meisten erforderlichen Eigenschaften. Er hatte sich mit Chemie abgegeben und ein Universal­ heilmittel erfunden, das keinen Erfolg gehabt und in das er fast sein ganzes kleines Kapital gesteckt hatte. Nieder­ geschlagen durch sein Unglück, war er . allmälig bis zu seiner jetzigen Lage herabgesunken. Da seine Kunden ihn nach­ lässig und unaufmerksam fanden, hatten sie sich allmälig verloren, bis er kaum noch genug einnahm, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Nur die ärmsten Leute, ermuthigt durch das elende Aussehen seines Ladens, kamen herein, um sich ein Pflaster, eine Salbe oder einen Trank zu mög­ lichst billigem Preise zu kaufen. Und doch war Tiberio Colaisso auf manchen Gebieten des Wissens ein Gelehrter. Jedenfalls war er im Stande gewesen zu leisten, was Meschini von ihm verlangte. Er war auch aus seine sachte Weise scharfsinnig, und ein einziger Blick hatte ihn davon überzeugt, daß dem Bibliothekar etwas ganz Besonderes zugestoßen wäre. Er beobachtete ihn geduldig und hoffte, die Wahrheit ohne Fragen herauszubekommen. Zugleich machte ihn die Hoffnung, einige Kupfermünzen zu gewinnen, aufmerksam aufs Spiel. Zu seiner Ueberraschung gewann er leicht, und noch mehr staunte er, als er sah, daß es dem

223 geizigen Meschini nicht einfiel, über seine Verluste zu kla­ gen, noch ihn der Betrügerei zu beschuldigen. „Sie sind heute nicht glücklich," bemerkte er endlich, als sein Gewinn sich auf ein Paar Pauls belief — einen Franc nach dem heutigen Gelde. Meschini sah ihn unruhig an und wischte sich die Stirn, indem er sich auf den wackeligen Stuhl zurüÄehnte. Seine Hände zitterten. „Nein", antwortete er. „Ich bin heute nicht wie sonst. Gestern Abend hat nämlich in unserm Hause ein furchtbar tragisches Ereigniß stattgefunden, und beim bloßen Gedan­ ken daran ergreift mich das Fieber. Ich muß sogar von Zeit zu Zeit ein belebendes Mittel zu mir nehmen." Bei diesen Worten zog er die Flasche aus der Tasche und setzte sie an die Lippen. Er hatte gehofft, es würde nicht nöthig sein, aber er konnte sich nicht lange ohne das behelfen, denn seine Nerven waren abgespannt durch die Masse, welche er am gestrigen Abend zu sich genommen hatte. Colaisso sah ihm schweigend zu, mehr als je be­ troffen. Der Bibliothekar schien durch den Schluck neu belebt und sprach darauf heiterer. „Eine furchtbare Tragödie", sagte er. „Der Fürst ist gestern Nachmittag ermordet worden. Ich konnte nicht gleich darüber sprechen." „Ermordet?" rief der Apotheker entsetzt, „und von wem?" „Das eben ist das Geheimnißvolle. Er wurde todt in seinem Studirzimmer gefunden. Ich will Ihnen alles erzählen, was ich weiß." Meschini trug seinem Freunde die Geschichte in unzu­ sammenhängender Weise vor und streute vielerlei Bemer­ kungen ein, um sich Muth zu machen darin sortzufahren.

224 Er erzählte die Geschichte mit sichtlichem Widerwillen, konnte sich aber der Nothwendigkeit nicht entziehen. Wenn Tiberio Colaiffo Abends den Bericht in der Zeitung läse, was ohne Zweifel geschehen würde, müßte er sich doch wundern, wes­ halb sein Freund nicht der Erste gewesen, ihm die Sache zu erzählen, und aus seiner Verwunderung könnte Argwohn entstehen. Es wäre besser gewesen, gar nicht zum Apotheker hinzugehen, nun er aber einmal da war, konnte er nicht umhin, ihm das Geschehene mitzutheilen. „Es ist höchst sonderbar", sagte der Chemiker, als er alles bis zu Ende gehört hatte. Meschini glaubte einen argwöhnischen Blick in seinen Augen zu entdecken. „Ja freilich!" versetzte er. „Es hat mich krank gemacht. Sehen Sie wie meine Hand zittert. Mir wird bald kalt, bald heiß." „Sie haben zu viel getrunken", sagte Colaiffo plötzlich und mit einer gewissen Schroffheit, die seinen Freund er­ schreckte. „Sie sind nicht nüchtern. Sie müffen gestern Abend sehr viel getrunken haben. Wohl beim Trankopfer für die Todten, nach Sitte der Alten." Meschini zuckte sichtlich zusammen und fing an, die Karten zu mischen, während er seine Verlegenheit durch ein Lächeln zu verbergen suchte. „Mir war gestern nicht wohl, wenigstens weiß ich nicht recht, was mir war, — vermuthlich Kopfschmerzen, nichts weiter. Und dann, dieses furchtbare Ereigniß — schauder­ haft! Meine Nerven sind erschüttert. Ich kann kaum sprechen." „Sie brauchen zunächst Schlaf, dann ein stärkendes Mittel," sagte der Apotheker in geschäftsmäßigem Tone. „Ich habe heute bis in den Morgen hinein geschlafen. Es hat mir nichts geholfen. Ich bin halb todt. Ja,

225 wenn ich wieder einschlafen könnte, das würde mir gut

thun." „Gehen Sie nach Hause und legen sich zu Bette! Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so würde ich. nicht mehr von vem Cognac trinken. Es wird Sie nur noch unwohler

machen." „Geben Sie mir ein Schlafmittel!

Ich will es ein­

nehmen." Der Apotheker sah ihn lange an und schien sich etwas zu überlegen. Ein böser Gedanke fuhr ihm durch den Kopf. Er war bitter arm. Troh Meschini's Betheuerungen wußte

er recht gut, daß er nicht so arm war, als er zu sein vor­ gab. Sonst hätte er ihn nicht so pünktlich für die Chemi­ kalien und die Experimente bezahlen können, welche zur Bereitung seiner Tinten nöthig waren. Mehr als ein Mal waren die Versuche sehr theuer ausgefallen, aber der Biblio­ thekar hatte sich nie beklagt, obschon er bei seinem Mittag­ essen in Cicco's Weinhandlung um einen Bajocco handelte und sich gewöhnlich ärgerte, wenn er einen Paul beim Kartenspiel verlor. Er hatte irgendwo Geld. Er war augenscheinlich in einem hochgradig nervösen Zustande. Wenn er dazu bewogen wurde, ein Paar Mal Opium zu nehmen, so konnte es ihm zur Gewohnheit werden. Opium verkaufen war einträglich, und Colaisso kannte recht gut die Macht der bösen Gewohnheit und den Umfang, den sie bald annehmen würde, besonders wenn Meschini die Arznei für unschädlich hielte. „Gut," sagte der Apotheker, „ich werde Ihnen einen Trank zurecht machen. Allein Sie müssen auch wirklich zum Schlafen bereit sein, wenn Sie ihn nehmen, denn er wirkt sehr rasch." Der Trank, welchen Meschini mit nach Hause nahm, Crawford, 3ant’ Starte. II. 15

226 war nur schwaches Laudanum und Wasser. Er sah in der kleinen Glasflasche mit der Aufschrift „Schlaftrunk" un­ schuldig genug aus. Aber die Wirkung war sehr rasch, wie Colaiffo vorausgesagt hatte. Erschöpft durch alles, was er durchgemacht hatte, schloß der Bibliothekar die Fen­ ster seines Zimmers und legte sich zur Ruhe. Eine Viertel­ stunde darauf versank er in tiefen Schlaf. In seinen Träu­ men fühlte er sich glücklicher als je zuvor. Die ganze Welt schien sein und ihm zu Gebote zu stehen. Er war in ein herrliches Geschöpf verwandelt, wovon er sich in seinen wachen Stunden nie etwas hatte träumen lassen. Er ging von einem glänzenden Schauspiel zum andern, von Herr­ lichkeit zu Herrlichkeit, von schönen Gebilden, vom Glanze goldener Lichter umgeben in unbeschreiblicher Seligkeit. Es war, als wäre er Plötzlich Herr des Weltalls geworden. Er schwebte durch wundervolle Gefilde voll sanfter Farben und göttliche Musik erklang in seinen Ohren. Sanfte Hände trugen ihn in leichtem Schwünge zu himmlischen Höhen, wo jeder Athemzug wie ein Trunk wonnigen Lebens war. Sein ganzes Wesen war vom höchsten Glück erfüllt, bis ihm zu Muthe war, als ob er das Uebermaß der Wonne nicht mehr ertragen könnte. In einem Augenblick schwebte er über den Wolken im Glanz des Sonnenunterganges; in einem andern ruhte er auf einem weichen, unsichtbaren Lager und schaute hinaus in die lichte Ferne — eine end­ lose Ferne, die nimmer aufhören konnte, deren Anblick aber Entzücken war — ein um so größeres, als es unerklärlich blieb. Ein wundervoller neuer Sinn war in ihm aufge­ gangen, der keinem körperlichen Triebe entsprach, eine wilde Lust an etwas Unbestimmbarem, Unbegreiflichem, Unermeß­ lichem, das eben nur Gefühl war. Endlich begann er herabzusinken, zuerst langsam, dann

227 immer schneller, bis er beim Fallen schwindelte und das Bewußtsein verlor. Er erwachte und stieß einen Angstschrei aus; es war Nacht und er war allein im Dunkeln. Er war überdies eiskalt bis in's Mark, und sein Kopf war schwer, allein die Dunkelheit war unerträglich und obgleich er gern wieder eingeschlafen wäre, wagte er es nicht, einen Augenblick länger ohne Licht zu bleiben. Er tastete nach seinen Schwefelhölzchen, sand sie und zündete ein Licht an. In der Nachbarschaft schlug eine Uhr die Mitternachtsstunde, und der Klang der Glocken erschreckte ihn über die Maßen. Frierend, elend, in Todesangst, die Nerven durch das Opium sowie durch den Mangel an Nahrung, dessen er sich nicht einmal bewußt war, doppelt erregt, hatte er nur ein Hülfsmittel in seinem Bereich. Der Schlaftrunk war nur für ein Mal bemessen gewesen und war verbraucht. Er versuchte, noch einige Tropfen

aus der Flasche zu pressen und ein widerlicher betäuben­ der Geruch stieg ihm in die Nase. Aber es war nichts mehr da, nichts als der Cognac, und davon wenig mehr als eine halbe Flasche. Für sein augenblickliches Bedürf­ niß indessen war es genug und mehr als genug. Er trank gierig, denn er war verschmachtet vor Durst, obschon sich auch dieser Thatsache kaum bewußt. Dann schlief er bis zum Morgen. Allein als er die Augen aufschlug, merkte er, daß er sich in einem übleren Zustande befände als am Tage vorher. Er war nicht nur nervös, sondern erschöpft, und mit matten Schritten ging er nach dem Laden seines Freundes, um sich eine doppelte Dosis von dem Schlaf­ trunk zu holen. Wenn er vierundzwanzig Stunden durch­ schlafen könnte, dachte er, ohne mitten in der Nacht auf­ zuwachen, würde ihm besser werden. Als er erschien, wußte Tiberio Colaisso schon, was er wollte, und obgleich er halb 15*

228 und halb bereute, was er gethan, war die Möglichkeit, das theure Medikament zu verkaufen, eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. So folgte ein Tag dem andern, und jeder Morgen sah Arnoldo Meschini über die Brücke Quattro Capi gehen auf seinem Wege zum Apotheker. Im gewöhnlichen Ver­ laufe der Natur wird ein Mensch nicht in einem Tage, vielleicht auch nicht in einer Woche ein Opiumeffer; aber dem Bibliothekar wurde das Betäubungsmittel fast vom ersten Augenblick an zum Bedürfniß. Seine Wirkung, ver­ bunden mit den beständigen Dosen Alkohol, war zerstörend, allein die Constitution des Mannes war stärker als man hätte glauben sollen. Er besaß überdies eine große Gewalt über seine Mienen, wenn er nicht von übernatürlicher Angst ergriffen wurde, und so geschah es, daß im Palast Montevarchi, wo er fast in völliger Abgeschiedenheit lebte, Nie­ mand seines Zustandes gewahr wurde. Dieser war schlimm genug, denn wenn er nicht durch Cognac berauscht war, schlief er in Folge der Wirkung des Opiums. Nach drei Tagen war er bereit, alles zu zahlen, was der Apotheker, forderte, und schien kaum zu wissen, wie viel er ausgab. Er that so, als ob er die gewohnte Partie Karten spielte, aber er war zerstreut und nicht einmal ärgerlich über seine täglichen Verluste. Der Apotheker hatte mehr Geld in der Tasche, als er seit lange beseffen. Während Arnoldo Mes­ chini immer tiefer sank, stieg die gute Laune des Apothekers, und er nahm allmälig das Aussehen ungewöhnlicher Be­ häbigkeit an. Eine der ersten Folgen der Herabgekommenheit des Bibliothekars war, daß Tiberio Colaisso sich eine neue grüne Mühe, reichlich mit blanken Silbertressen ver­ ziert, kaufte.

229 Dreizehntes Kapitel.

Sant' Ilario hatte richtig errathen; der sichere und geheime Ort, an den er geführt wurde, war nichts anderes als das Sant' Uffizio oder Gefängniß der Inquisition. Er kannte das Innere des Gebäudes und wußte, daß es nichts von den Schreckniffen enthielt, die man ihm gewöhnlich zu­ schreibt, so daß er im Ganzen genommen mit der Wahl des Cardinals wohl zufrieden war. Die Zelle, in welche er nach Einbruch der Dunkelheit gebracht wurde, war eine große Stube im zweiten Stock, behaglich eingerichtet, und trug kaum andere Zeichen ihrer Bestimmung als ein reich­ verziertes Eisengitter vor dem Fenster. Die Mauern waren nicht dicker als an den meisten römischen Palästen, das Zimmer war trocken und luftig und durch ein riesiges Kohlenbecken hinreichend erwärmt. Aus der Art, wie er behandelt wurde, ging klar hervor, daß der Cardinal sich mehr auf seine Ehre, als auf Gewaltmaßregeln verließ, um ihn im Gewahrsam zu halten. Ein schweigsamer, schwarzgekleideter Mann hatte ihn zu Wagen nach dem Haupteingang gebracht, von wo ein anderer ebenfalls ver­ schwiegener und ebenso gekleideter ihn in seine Zelle geführt hatte. Dieser Mann kam bald wieder und brachte ein aus­ reichendes Mahl von Fisch und Gemüse — es war Frei­ tag — gut zubereitet und beinahe üppig servirt. Eine Stunde später kam derselbe Mann wieder, um den Tisch abzuräumen. Er fragte, ob der Gefangene vor Nacht noch sonst etwas bedürfe. „Ich möchte gern wissen," sagte Giovanni, „ob Jemand von meinen Angehörigen Erlaubniß erhalten wird, mich zu sehen, wenn ich darum bitte." „Ich soll Ihnen sagen, daß jede Bitte oder Beschwerde

230 Ihrerseits Seiner Eminenz durch einen besonderen Boten übermittelt werden wird," antwortete der Mann, „nämlich alles," setzte er erklärend hinzu, „was sich nicht auf Ihr persönliches Behagen bezieht. In dieser Hinsicht habe ich Vollmacht, Ihnen alles zu gewähren, was Sie billigerweise verlangen können." „Danke," sagte Giovanni, „ich werde versuchen, mich in den Schranken der Billigkeit zu halten! Ich bin Ihnen sehr verbunden." Der Mann verließ das Zimmer und machte leise die Thür zu; so leise, daß der Gefangene nicht wußte, ob er den Schlüssel umgedreht hatte. Als er aber die Panele untersuchte, sah er, daß sie glatt, ohne Schloß oder Schlüssel­ loch waren. Die Feder schloß von außen, und es gab kein Mittel, die Thür von innen zu öffnen. Giovanni wunderte sich, daß ein besonderer Bote er­ forderlich wäre, um ein Anliegen von ihm direct an den Cardinal zu befördern. Die Anordnung konnte nicht um­ sonst getroffen sein, auch mußte ein besonderer Grund vor­ liegen, weshalb sie ihm sofort mitgetheilt wurde. Sicher­ lich erwartete Seine Eminenz doch nicht, daß Giovanni seinen Schritt bereuen und um Freilassung bitten werde. Das konnte nicht der Fall sein. Der große Mann konnte aber voraussetzen, daß Giovanni seiner Frau gern eine Nachricht zugehen lassen würde, denn sie mußte sich natür­ lich über sein Ausbleiben beunruhigen. Diesen Fall aber hatte Sant' Ilario vorgesehen, indem er ihr jenen Brief zugeschickt hatte. Mehrere Tage würden vergehen, ehe sie ihn zurückerwarten konnte, so hatte er also reichlich Zeit, über seine fernere Handlungsweise nachzudenken. Fürs Erste beschloß er nichts zu verlangen. Er bedurfte ja auch nichts. Geld hatte er in der Tasche und konnte sich von

231 dem Wärter Wäsche kaufen lassen, wenn er welche brauchte, anstatt sie sich von Hause holen zu lassen. Er war in einem Gemüthszustande, bei dem ihm nichts wohlthuender sein konnte als Einzelhaft. Er empfand gleichzeitig ein Gefühl der Ruhe und der Entlastung von aller Verantwortlichkeit, welches seine Nerven beruhigte und seine Gedanken beschwichtigte. Tagelang hatte er in einem Zustande gelebt, der an Wahnsinn grenzte. Jedes Bei­ sammensein mit Corona war eine Enttäuschung und brachte neue Qual. Wie sehr er auch den Gedanken fürchten mochte, von ihr auf längere Zeit getrennt zu sein, war doch die zeitweilige Unmöglichkeit, sie zu sehen, eine Erleich­ terung, deren Wichtigkeit ihm mit jeder Stunde klarer wurde. Es giebt Zeiten, wo nichts als eine plötzliche Unterbrechung unseres alltäglichen Lebens das Gemüth wieder ins Gleich­ gewicht bringen kann. So.schmerzlich eine solche Unter­ brechung zuerst sein mag, so bringt sie doch die so lang entbehrte Fähigkeit des Ausruhcns wieder. Anstatt die von uns erwartete Verzweiflung zu empfinden, staunen wir über unsere Gleichgültigkeit, auf welche dann die erneute Fähig­ keit folgt, Thatsachen in ihrem rechten Lichte anzusehen, und eine neue Energie, unsern Lebensgang zweckmäßiger zu ordnen. Giovanni dachte weder über seine Lage nach, noch grübelte er über die wahrscheinlichen Folgen seiner Hand­ lung. Im Gegentheil er ging zu Bett und schlief fest wie ein starker Mann nach körperlicher Anstrengung. Er schlief so lange, daß der Wärter ihn endlich weckte, indem er hereinkam und das Fenster öffnete. Der Morgen war schön und der Sonnenschein fluthete durch das Eisengitter. Giovanni sah sich um und begriff, wo er war. Er fühlte sich ruhig und stark und fast geneigt über den Gedanken

232 zu lachen, daß seine Verwegenheit gefährliche Folgen haben könnte. Corona war vermuthlich auch schon wach und glaubte, er wäre auf dem Lande auf der Eberjagd oder sonst bei einer angenehmen Beschäftigung. Statt dessen war er im Gefängniß. Das ließ sich nun einmal nicht läugnen, aber es war sonderbar, daß er sich nicht nach seiner Freiheit sehnte. Er hatte von den Seelenqualen Gefangener gehört. Wie sie auch behandelt werden mögen, sie werden nervös, elend, mager und verzehren sich in beständiger Sehnsucht nach Freiheit. Als Giovanni sich dagegen in dem Hellen luftigen Zimmer umsah, dachte er, er könnte ein Jahr darin zubringen, ohne hinaus in die Welt zu verlangen. Einige lesenswerthe Bücher, ein Schreibzeug — weiter brauchte er nichts. Alleinsein war Glücks genug. Er verzehrte langsam sein Frühstück und setzte sich auf einen altmodischen Stuhl, um eine Cigarette zu rauchen und sich zu sonnen, so lange die Sonne ins Zimmer schiene. Es war nicht recht wie ein Gefängniß und ihm war nicht zu Muthe wie Einem, der als Mörder verhaftet ist. Eine lange Weile war er sich nichts als eines unbestimmten ruhigen Wohlbehagens bewußt. Er hatte seinem Wärter ein Verzeichniß der Sachen, welche er ihm kaufen sollte, ausgeschrieben, darunter auch einige Romane, und in weni­ gen Stunden war alles besorgt. Der Tag verging ruhig, und als er zu Bette ging, lächelte er, während er das Licht auslöschte, theils über sich, theils über seine Lage. „Meine Bekannten werden nicht sagen, daß es mir ganz an Originalität fehlt," dachte er beim Einschlafen. Am nächsten Tage dachte er weniger und las mehr. Erstens fragte er sich, wie lange er wohl ohne Verbindung mit der Außenwelt bleiben würde, ob wohl Schritte gethan

233 wären, um ihn zum Verhör zu bringen, oder ob der Car­ dinal wirklich wüßte, daß er unschuldig wäre, und ihn nur die Komödie ausspielen ließ, welche er selbst erfunden und begonnen hatte. Er war nicht ungeduldig, aber er wollte gern wissen, woran er wäre. Es war jetzt der dritte Tag, seit er Corona zuletzt gesehen, und er hatte sie nicht auf eine lange Abwesenheit vorbereitet. Wenn er binnen vierundzwanzig Stunden nichts weiter 'hörte, würde es besser sein, Maßregeln zu treffen, um sie von ihrer Sorge um ihn zu befreien, falls sie nämlich welche fühlte. Dieser letzte Gedanke kam ihm plötzlich und beunruhigte ihn. Wäre es möglich, daß sie eine Woche hingehen lassen könnte, ohne Nachricht von ihm zu erwarten oder zu fragen, wo er wäre? Das war nicht denkbar. Die Unmöglichkeit einer solchen Gleichgültigkeit gab er unwillkürlich zu. Er war vielleicht eher willens, sie für ganz herzlos zu halten, als an eine Zuneigung zu glauben, die sich mit der Hoffnung begnügte, daß es ihm gut ginge; aber seine Eitelkeit, oder ein inneres Gefühl, — es kommt nicht darauf an, was es war, — sagte ihm, daß Corona mehr als nur dies empfände. Und doch liebte sie ihn nicht. Er saß mehrere Stunden regungslos auf seinem Stuhl und suchte sich die Zukunft der Vergangen­ heit entsprechend auszudenken, ein Versuch, der ihm glän­ zend mißlang. Seine friedliche Einsamkeit befriedigte ihn minder als zuerst, und er fing an zu vermuthen, daß er binnen kurzem sogar recht gern in die Welt zurückkehren würde. Vielleicht könnte Corona ihn besuchen. Der Car­ dinal würde es vielleicht für gut befinden, sie von dem Geschehenen zu unterrichten. Wie würde er es ihr mit­ theilen? Würde er ihr alles sagen? Es dunkelte, der Wärter brachte das Abendessen und stellte zwei Kerzen auf den Tisch.

234 Bis dahin konnte man nicht sagen, daß Giovanni ge­ litten hatte. Zm Gegentheil, nach wochenlanger Nieder­ geschlagenheit hatte er sein moralisches Gleichgewicht wieder­ gefunden. Wiederum war ein Tag zu Ende und er ging zur Ruhe, allein er schlief minder fest und am nächsten Morgen wachte er früh auf. Die Einförmigkeit seines Daseins fing an ihn zu drücken. Der vierte Tag würde eben so sein wie der dritte, und es könnten noch Hunderte wie der vierte folgen, wenn es Seiner Eminenz beliebte. Corona würde sicherlich nie ahnen, daß er im Gefängniß der Inquisition säße, und wenn sie es wüßte, dürste sie vielleicht nicht zu ihm kommen. Selbst wenn sie käme, was sollte er ihr sagen? Daß er eine unerhörte Thorheit begangen hätte, weil er sich über ihren Zweifel an ihm oder über ihre Kälte geärgert hätte? Er hatte sich wahr­ scheinlich zum ersten Male in seinem Leben lächerlich ge­ macht. Der Gedanke war das Gegentheil von tröstlich. Auch trug es nicht zu seinem Seelenfrieden bei zu wissen, daß wenn er sich zum Gelächter gemacht hätte, der Car­ dinal, welcher den Spott fürchtete, sich sicherlich nicht Her­ beilasien würde, eine Rolle in der Komödie zu spielen, son­ dern mit aller einer so ernsten Sache entsprechenden Strenge verfahren würde. Er würde vielleicht sogar den Gefangenen vor Gericht stellen. Giovanni würde sich dem lieber unter­ werfen, als sich auslachen lassen, allein die Alternative kam ihm nun erschrecklich vor. In seinem Lebensüberdruß an jenem denkwürdigen Morgen hatte er sich nichts daraus gemacht, was aus ihm würde, und sich in einem Zustande befunden, der jeden verständigen Gedanken an die Zukunft ausschloß. Seine erzwungene Einsamkeit hatte ihn wieder zu sich selbst gebracht. Er wünschte nichts weniger, als unter der Anklage des Mordes vor Gericht zu stehen, weil

235 er kurzen Prozeß gemacht hatte, um eine Laune seiner Frau zu befriedigen. Aber diese Laune bezweckte die Befreiung der armen Faustina Montevarchi. Wenn er sich lächerlich gemacht hatte, so war jedenfalls der Endzweck seiner Thor­ heit ein guter gewesen und auch erreicht worden. Den ganzen Nachmittag ging er in seinem Zimmer auf und ab, abwechselnd sehr unzufrieden mit sich, dann wieder voll Besorgniß über die bevorstehenden Ereignisse. Er berührte kaum seine Nahrung, und nahm keine Notiz von dem Wärter, der ein halb Dutzend Mal ins Zimmer kam, um seine verschiedenen Obliegenheiten zu verrichten. Wiederum ward es Nacht, und wiederum legte er sich nieder voll Furcht vor dem Morgen und hoffte sich im Reich der Träume zu verlieren. Der vierte Tag war allerdings dem dritten gleich in Bezug aus seine Umgebung, aber er hatte nicht vorausgesehen, daß er solch nagender Sorge zum Opfer fallen und vielleicht noch weniger, daß er eine so bange Sehnsucht nach Corona empfinden würde. Er war nicht ein Mann, der seinen Gefühlen Luft macht, selbst wenn er allein ist. Aber der Wärter bemerkte, wenn er herein­ kam, daß Giovanni nicht mehr las wie am Anfang. Er ging entweder eilig auf und ab, oder saß müßig im Arm­ stuhl am Fenster. Sein Antlitz war ruhig und bleich, manchmal sogar feierlich. Der Wärter war ohne Zweifel an plötzlichen Wechsel der Stimmung bei den Gefangenen gewöhnt, denn er schien von der Veränderung in Giovanni keine Notiz zu nehmen. Es kam ihm vor, als wollte der Tag kein Ende neh­ men. Für einen Mann von seiner Vollkraft ist Auf- und Abgehen im Zimmer keine Bewegung, und doch wurde es Giovanni immer schwerer still zu sitzen, während die Stun­ den dahinschlichen. Nach einer Frist verhältnißmäßiger

236 Ruhe brach seine Liebe zu Corona mit zehnfacher Stärke neu hervor. In einer Zelle eingesperrt zu sein, ohne die Möglichkeit sie zu sehen, war eine Qual für ihn, wie er sie sich nie hatte träumen lassen. Durch einen sonderbaren Umschwung der Gefühle kam es ihm vor, als hätte er ihr ein neues Unrecht gethan, indem er sie so plötzlich beim Worte nahm. Der Gedankengang, welcher ihn zu diesem Schlüsse brachte, war ihm selbst nicht recht klar und ließe sich wahrscheinlich keinem Andern verständlich machen. Er hatte sich entschieden ohne Bedenken zum Opfer gebracht, und zuerst hatte die That ihm Freude gemacht. Diese aber wurde zerstört durch den Gedanken an die möglichen Folgen. Er fragte sich, ob er ein Recht gehabt hätte, ihre dringende Forderung, Faustina zu befreien, durch eine That zu befriedigen, die ihr möglicherweise Aerger bereiten könnte, wenn auch Niemand ernstlich dadurch geschädigt würde. Die Zeit schlich langsam hin und gegen Abend war ihm eben so zu Muthe wie damals, ehe er den verhängnißvollcn Schritt gethan hatte, der ihn Corona's Bereich entrückte,

er war ruhelos, elend, verzweifelt. Endlich wurde es dun­ kel, er saß bei seinem einfachen Mahl, aß säst gar nichts und starrte halb unbewußt das geschlossene Fenster ihm gegenüber an. Die Thür ging leise auf, allein er sah sich nicht um, denn er glaubte, der Wärter käme herein. Plötzlich rauschte ein Frauenkleid im Zimmer und im selben Augenblick wurde die Thür geschlossen. Er sprang auf, stand einen Augen­ blick still und stieß dann einen Schrei der Ueberraschung aus. Corona, sehr bleich, stand neben ihm und sah ihm in die Augen. Sie trug einen dichten Schleier und hatte ihn beim Eintreten zurückgeworfen, — die damaligen Schleier waren lang und schwer und wallten um Kopf und Nacken herab.

237 „Corona!" rief Giovanni und streckte die Hände nach ihr aus. Etwas in ihrem Gesicht hielt ihn davon zurück, die Arme um sie zu schlingen, und doch war es nicht wie sonst Kälte und vorwurfsvolle Blicke, was ihn zurückhielt. „Giovanni, — war es freundlich, mich so zu verlassen?" fragte sie, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die Frage entsprach so sehr seinem eigenen Gefühl, daß er sie erwartet hatte, dennoch hatte er keine Antwort bereit. Sie wußte alles und war verletzt, durch das was er gethan. Was konnte er sagen? Die Beweggründe, welche ihn so vorschnell in die Gefahr getrieben, schienen ihm selbst für eine Entschuldigung nicht mehr stichhaltig. Die Freude, welche er vom Wiedersehen erwartet hatte, schwand, ehe er sie recht empfunden hatte. Sein erstes Ge­ fühl war bitterer Unwille gegen den Cardinal. Nur er konnte es ihr gesagt haben, denn kein Anderer wußte, was er gethan hatte, noch wo er war. Giovanni dachte, und das mit Recht, er hätte seiner Frau einen solchen Schlag ersparen können. „Ich glaubte mein Bestes zu thun, als ich es that," antwortete er und wußte kaum, was er sagte. „War es das Beste, mich ohne ein Wort zu verlassen, außer einem Bescheid, der Andern gegenüber als Erklärung gelten sollte?" „War es nicht für Dich — so besser? Für mich — was kommt es darauf an? Würde ich irgendwo anders glücklicher sein?" „Habe ich Dich aus Deinem Hause getrieben, Gio­ vanni?" fragte Corona mit einem eigenthümlichen Blick ihrer dunkeln Augen. Ihre Stimme zitterte. „Nein, Du nicht," versetzte er und wendete sich um; durch die Macht der Gewohnheit getrieben, welche er in

238 den letzten Tagen angenommen hatte, fing er an auf und abzugehen. „Nein, Du nicht", wiederholte er nochmals in bitterem Tone. Corona sank aus den Stuhl, von dem er eben aufge­ standen war, und barg ihr Gesicht in den Händen, als ob sie plötzlich von heftigem Kummer überwältigt würde. Giovanni blieb vor ihr stehen und sah sie an, ohne recht zu verstehen, was in ihrer Seele vorging. „Warum bist Du so betrübt?" fragte er. „Hat eine Trennung von wenigen Tagen Dich verändert? Bist Du betrübt um mich?" „Weshalb bist Du hierher gegangen?" rief sie, anstatt seine Frage zu beantworten, „weshalb gerade hierher?" „Mir blieb keine Wahl. Der Cardinal hat es so bestimmt." „Der Cardinal? Warum traust Du ihm? Du thatest es sonst doch nicht. Ich mag unrecht haben, aber ich traue ihm nicht, obwohl er immer sehr gütig gewesen ist. Wenn Du Rath brauchtest, konntest Du zu Padre Filippo gehen?"--------„Rath? Ich verstehe Dich nicht, Corona." „Bist Du nicht zum Cardinal gegangen und hast ihm gesagt, daß Du Dich sehr unglücklich fühltest und Dich eine Zeit lang an einen stillen Ort zurückziehen wolltest, wo Dich Niemand finden könnte? Und hat er Dir nicht gerathen, hierher zu kommen, und Dir versprochen, Dein Geheimniß zu bewahren, und Dir erlaubt, hier zu bleiben, so lange Du wolltest? Das hat er mir gesagt." „Das hat er Dir gesagt?" rief Giovanni in höchstem Staunen. „Ja — das und weiter nichts. Er besuchte mich heute Nachmittag. Er sagte, er fürchtete, ich könnte mich über

239 Deine lange Abwesenheit beunruhigen und hielt sich für berechtigt, mir zu sagen, wo Du wärest, und dann gab er mir einen Einlaßpaß, falls ich Dich besuchen wollte. Ueberdies, wenn es nicht alles so ist, wie er sagt, wie bist Du denn hier hereingekommen?" „Du weißt nicht die Wahrheit? Du weißt nicht, was ich gethan habe? Du kannst Dir nicht denken, weshalb ich im Jnquifitionsgefängniß bin?" „Ich weiß nur, was er mir gesagt hat," antwortete Corona, überrascht durch Giovanni's Fragen. Aber Giovanni gab ihr nicht gleich eine Erklärung. Er ging in einer Aufregung auf und ab, wie sie sie noch nie an ihm gesehen hatte, faltete seine Hände nervös und öffnete sie wieder, und stieß kurze unzusammenhängende Ausrufe aus. Während sie ihn beobachtete, beschlich sie ein Gefühl der Furcht; aber sie richtete keine Frage mehr an ihn. Plößlich stand er wieder still. „Du weißt nicht, daß ich im Gefängniß bin?" „Im Gefängniß?" Mit einem gellen Schrei sprang sie auf und erfaßte seine Hände. „Erschrick nicht, meine Liebe," sagte er in verändertem Tone. „Ich bin ganz unschuldig. • Uebrigens weißt Du doch, daß dies ein Gefängniß ist." „Ach, Giovanni!" rief sie vorwurfsvoll. „Wie konntest Du so etwas Fürchterliches auch nur im Scherze sagen?" Sie hatte seine Hände wieder losgelaffen und trat einen Schritt zurück. „Es ist kein Scherz. Es ist Ernst. Erschrick nicht! Ich will Dir erzählen, wie es gekommen ist. Im Grunde ist es so am besten. Als ich Dich in den Termini verließ, sah ich, daß Dein ganzes Herz an der Befreiung der armen Faustina hing. Ich konnte kein Mittel finden, Deinen

240 Wunsch zu erfüllen, und ich sah, Du dachtest, ich thäte nicht mein Möglichstes für sie. Also ging ich direkt zum Cardinal und lieferte mich an ihrer Stelle aus." „Als eine Geisel — als Bürge?" fragte Corona athemlos. „Nein. Das hätte er nicht angenommen, denn er war gegen sie eingenommen. Ich gab mich für den Mör­ der aus." Er sprach völlig ruhig, als ob er eine ganz gewöhn­ liche Geschichte erzählte. Einen Augenblick stand sie stumm und entsetzt vor ihm. Dann schlang sie mit einem lauten herzzerreißenden Schrei die Arme um ihn und drückte ihn leidenschaftlich an die Brust. „Mein Geliebter! mein Geliebter!" Einige Augenblicke hielt sie ihn so fest, daß er sich weder rühren, noch ihr ins Gesicht sehen konnte, aber das Klopfen seines Herzens sagte ihm, daß in diesem Augen­ blicke eine große Veränderung in seinem Leben vorgegangen sei. Der Schrei war unwillkürlich, unwiderstehlich aus den Tiefen ihrer Seele gekommen. In den beiden Worten, die sie wiederholte, lag ein Ton, den zu hören er nie wieder gehofft hatte. Er hatte erwartet, sie werde ihm über seine Unvernunft Vorwürfe machen. Statt dessen hatte seine Thorheit in ihr die Liebe erweckt, die nicht todt, wenn auch tödtlich verwundet war. Nach einer Weile trat sie ein wenig zurück und sah ihm in die Augen; in den ihren brannte ein wildes Feuer. „Ich liebe Dich", sagte sie ganz leise. Ein wundersames Lächeln glitt über sein Gesicht und verklärte die ernsten dunkeln Züge wie ein Strahl himm­ lischen Lichtes. Dann schlossen sich die müden Augenlider wie durch ihre eigene Schwere, sein Kopf sank zurück und

241 seine Lippen erbleichten. Sie fühlte die Last seines Körpers in ihren Armen, und wäre sie nicht so stark gewesen, so wäre er zu Boden gesunken. Sie taumelte, aber hielt ihn fest und sank auf die Kniee, sein Kopf ruhte auf ihrem Schoos. Ihr stand das Herz still, während sie auf seine schwachen Athemzüge lauschte. Hätte seine Bewußtlosigkeit noch länger gedauert, so wäre sie selber ohnmächtig ge­ worden. Aber einen Augenblick darauf öffneten sich seine Augen wieder mit einem Ausdruck, wie sie ihn schon ein oder zwei Mal, doch noch nie in solchem Grade, darin ge­ sehen hatte. „Corona — es ist zu viel!" sagte er leise, wie im Traum. Dann kehrte seine Kraft im Augenblick zurück, wie bei einem starken stählernen Bogen, der fast bis zum Zerbrechen gebeugt worden ist. Er wußte kaum, wie es kam, daß ihre Stellung nun verändert war, so daß er jetzt stand und sie in seinen Armen hielt, wie sie ihn gehalten hatte. Ihre Thränen strömten reichlich, aber es war mehr Freude als Schmerz darin. „Wie konntest Du es thun?" fragte sie ihn endlich und sah ihn an. „Ach, Giovanni! was wird daraus wer­ den? Wird nicht etwas Schreckliches geschehen?" „Was kommt es jetzt darauf an, Geliebte?" Endlich saßen sie wieder neben einander, Hand in Hand, wie in alten Zeiten. Es war, als ob die letzten beiden Monate ausgelöscht wären. Wie Giovanni gesagt hatte, jetzt kam es auf sonst nichts mehr an. Und doch war die Sachlage durchaus nicht klar. Giovanni begriff recht gut, daß der Cardinal es ihm sreigestellt hatte, seiner Frau das Vorgcfallene mitzutheilen, und wenn er das thun wollte, es mit seinen eigenen Worten zu erzählen. Er war dem Staatsmann dankbar für den von ihm bewiesenen Crawford, Sant' Jlaric. II. 16

242 Tact und ersah daraus zugleich, was für eine Ansicht der Cardinal von der Sache hatte. Er hatte ihm erklärt, daß er in Verzweiflung wäre. Daraus hatte der Cardinal ge­ schloffen, daß er sich unglücklich fühlte. Er hatte gesagt, es käme ihm nicht darauf an, was aus ihm würde. Der Cardinal hatte angenommen, daß er gern allein sein möchte, oder es ihm wenigstens gut thun könnte, einige Zeit in Einsamkeit zuznbringen. Wenn seine Lage eine gefährliche wäre, so hätte der Cardinal sicherlich nicht daran gedacht, Corona zu dem Gefangenen zu laffen. Er selbst würde sie auf etwas Erschreckliches vorbereitet haben. Bei alledem war er unleugbar im Gefängniß ohne unmittelbare Aussicht auf Befreiung. „Du kannst nicht länger hier bleiben", sagte Corona, als sie endlich im Stande waren, über die nächste Zukunft zu sprechen. „Ich weiß aber nicht, wie ich herauskommen soll," antwortete Giovanni lächelnd. „Ich will zum Cardinal gehen" — „Das hilft nichts. Vermuthlich hat er die Wahrheit errathen, aber er will sich weder von mir noch von irgend einem Andern lächerlich machen laffen. Er wird mich hier sesthalten, bis eine Gerichtsverhandlung stattfinden kann, oder bis er den wahren Verbrecher findet. Er ist eigen­ sinnig. Ich kenne ihn." „Es ist unmöglich, daß er so etwas im Sinne hat!" rief Corona empört. „Ich fürchte, es ist sehr möglich. Aber natürlich ist es nur eine Frage der Zeit — höchstens von einigen Tagen. Wenn es zum Schlimmsten kommt, glaube ich, kann ich auf einer Untersuchung bestehen, obschon ich nicht begreife, wie ich mich für unschuldig erklären

243 kann, ohne Faustina zu schaden. Sie wurde sreigelaffen, weil ich an ihre Stelle trat — es ist eine verwickelte Ge­ schichte!" „Sag' mir, Giovanni," fragte Corona, „was sagtest Du dem Cardinal? Sagtest Du wirklich, Du hättest Montevarchi ermordet?" „Nein. Ich sagte, ich stellte mich als den Mörder, und setzte ihm auseinander, wie ich wohl die That hätte thun können. Ich that noch mehr, ich gab mein Ehrenwort, daß Faustina unschuldig wäre." „Aber Du warst dessen doch selbst nicht sicher" — „Da Du mir sagtest, es wäre wahr, glaubte ich es", antwortete er einfach. „Ich danke Dir, Geliebter" — „Nein, danke mir nicht dafür; ich konnte nicht anders. Ich wußte, daß Du davon überzeugt wärest — bist Du noch von etwas Anderem überzeugt, Corona? Eben so sicher

wie davon?" „Wie kannst Du fragen? Aber Du hast recht, — Du hast recht an mir zu zweifeln. Allein Du willst es nicht? Du wirst es nicht mehr? Höre mich an, Geliebter, während ich Dir alles erzähle." Sie glitt vom Stuhl und kniete vor ihm, als ob sie beichten wollte. Dann ergriff sie seine Hände und sah ihn liebevoll an. Die Wahrheit lag in ihren Augen. „Vergieb mir, Giovanni! Ja, Du hast viel zu ver­ geben. Ich kannte mich selbst nicht. Als Du an mir zweifeltest, war mir zu Muthe, als ob im Leben für mich nichts mehr bliebe, als ob Du nie mehr an mich glauben würdest. Ich dachte, ich liebte Dich nicht. Ich hatte un­ recht. Nur meine elende Eitelkeit war verwundet, und das that mir so weh. Mir war zu Muthe, als ob meine Liebe 16"

244 todt wäre, als ob Du selbst todt wärest und ein anderer Mann an Deine Stelle getreten. Ach, ich hätte es ja än­ dern können! Hätte ich Dich besser gekannt, Geliebter, hätte ich mich nicht so in mir selbst geirrt, so wäre alles anders gekommen. Aber ich war thöricht, nein, ich war unglücklich. Alles um mich war dunkel und fürchterlich. O, mein Liebling! Ich glaubte, ich könnte Dir erklären, wir mir zu Muthe war, ich kann es nicht! Vergieb mir, o vergieb mir nur, und liebe mich, wie Du mich einst ge­ liebt hast! Ich will Dich niemals verlassen, auch nicht, wenn Du für immer hier bleiben mußt, nur laß Dich von mir lieben, wie ich es will!" „Nicht an mir ist es zu vergeben, mein Herz," sagte Giovanni und beugte sich herab, um ihr weiches dunkles Haar zu küssen. „Es ist an Dir"--------„Aber ich möchte viel lieber glauben, es war meine Schuld, Geliebter," entgegnete sie und zog sein Gesicht zu dem ihren herab. Es war ein ächt weiblicher Impuls, der sie die Schuld auf sich nehmen ließ. „Du mußt nicht etwas so Unbilliges denken, Corona. Von Anfang an habe ich alles Leid angerichtet." Eigensinnig, so recht wie ein Mann, würde er sich noch länger angeklagt haben und die ganze Geschichte aus­ führlich nochmals durchgegangen sein, aber sie ließ es nicht zu. Sie setzte sich wieder neben ihn und hielt seine Hand in der ihren. Sie sprachen zusammenhanglos, und es war kein Wunder, wenn sie nach einem langen Gespräch zu keinem besondereu Schluß gekommen waren. So saßen sie noch beisammen, als der Schließer hercinkam und Giovanni einen großen versiegelten Brief reichte, der das apostolische Siegel trug und nur mit der Nummer von Giovanni's Zelle adressirt war.

245 „Eine Antwort wird erwartet", sagte der Schließer und ging hinaus. „Wahrscheinlich die Ankündigung der gerichtlichen Ver­ handlung oder etwas Aehnliches", bemerkte Giovanni und wurde plötzlich sehr ernst, indem er das Siegel löste. Er wünschte, der Brief wäre zu einer anderen Zeit gekommen als gerade jetzt. Corona hielt den Athem an, sie beob­ achtete sein Gesicht, während er die Zeilen las, welche auf einem der beiden Papiere geschrieben standen, die er aus dem Umschlag nahm. Plötzlich trat die Farbe in seine Wangen und seine Augen erglänzten in freudiger Ueber-

raschung. „Ich bin frei!" ries er, nachdem er zu Ende gelesen hatte. „Frei, wenn ich dieses Papier unterschreiben will. Natürlich will ich es! Ich werde alles thun, was er will!" Der Umschlag enthielt ein Handschreiben des Cardi­ nals; er sagte, es sei auf eine andere Person Verdacht ge­ fallen, und Giovanni stünde es frei, nach Hause zurückzu­ kehren, wenn er das beifolgende Schriftstück unterzeichnen wolle. Letzteres war sehr kurz und besagte nur, daß Gio­ vanni Saracinesca sich durch sein Ehrenwort verpflichte, bei der Verhandlung über den Mord des Fürsten Montevarchi zu erscheinen, wenn er dazu berufen würde, und daß er Rom nicht eher verlaßen würde, als bis die Sache end­ gültig entschieden sei. Er nahm die Feder, welche auf dem Tische lag und unterzeichnete seinen Namen mit klarer fester Hand, was um so bemerkenswerther ist, als Corona ihm dabei über die Schulter sah und jeden Buchstaben mit den Augen ver­ folgte. Dann legte er das Papier zusammen und steckte es in den dazu mitgeschickten offenen Umschlag. Der Car­ dinal dachte auch an Kleinigkeiten. Er hielt es für mög-

246 lich, daß das Schriftstück offen zurückgeschickt werde, weil kein verschließbares Couvert zur Hand wäre. Es paßte ihm nicht, daß seine Geheimnisse den Beamten der Inqui­ sition bekannt würden. Dies war ein Beispiel für seinen Vorbedacht in kleinen Dingen, die auf große Einwirkung haben konnten. Als Giovanni fertig war, stand er auf und stellte sich vor Corona. Sie sahen einander in die Augen und einen Augenblick sahen Beide nicht recht klar. Allein sie sprachen wenig, bis der Schließer zurückkam. „Sie sind frei", sagte er kurz und fing ohne Weiteres an, die wenigen Sachen zusammenzupackcn, welche seinem bisherigen Gefangenen gehörten. Eine halbe Stunde darauf saß Giovanni an seines Vaters Tisch beim Diner. Der alte Herr begrüßte ihn mit einem grimmigen Brummen der Befriedigung. „Der verlorene Sohn ist zurückgekommen, um eine Mahlzeit einzunehmen, so lange es noch etwas zu essen giebt", bemerkte er. „Ich dachte, Du wärest nach Paris gereist und hättest die angenehme Abwickelung unserer Ge­ schäfte Corona und mir überlassen. Wo zum Teufel bist Du gewesen?" „Ich habe mir den Genuß gegönnt, mich einige Zeit in eine religiöse Anstalt zurückzuziehen," antwortete Gio­ vanni der Wahrheit entsprechend. Corona sah ihn an, und Beide lachten fröhlich, wie fie seit vielen Tagen und Wochen nicht gelacht hatten. Saraeinesea sah seinen Sohn über den Tisch hin ungläu­ big an. „Du suchst Dir eine sonderbare Zeit für Deine An­ dachtsübungen aus", sagte er. „Wo wird sich die Frömmig­ keit nächstens verbergen, das möchte ich wissen! Wenn

247 aber Corona zufrieden ist, bin ich es auch. Es ist ihre Sache." „Ich bin vollkommen zufrieden, das versichere ich," sagte Corona, und ihre dunkeln Augen strahlten. Giovanni erhob das Glas, sah sie an und lächelte liebevoll. Dann leerte er es bis auf den letzten Tropfen und setzte es ohne ein Wort nieder. „Vermuthlich ein Geheimniß", brummte der alte Herr.

Vierzehntes Kapitel.

Arnoldo Meschini war vielleicht nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes geisteskrank; das heißt, er würde wahr­ scheinlich das normale Gleichgewicht seiner geistigen Fähig­ keiten wiedererlangt haben, wenn er sich narkotischer und stimulirender Mittel enthalten hätte, und wenn er von der verzweifelten Furcht vor Entdeckung befreit worden wäre, die ihn quälte, sobald er sich nicht unter der Wirkung eines oder des andern der beiden. Mittel befand. Aber diese letzte Bedingung konnte unmöglich erfüllt werden, und seine entsetzliche Angst trieb ihn dazu, sein Gehirn in einem umnebelten Zustande zu erhalten. Manche Menschen sind vor Schreck wahnsinnig geworden oder haben allmälig den Verstand durch eine beständige Furcht verloren, von der sie nicht loskommen konnten. Ein Mensch, der sich durch den Genuß von Cognac und Opium beständig in einen un­ natürlichen Geisteszustand versetzt, mag der Theorie nach nicht geisteskrank sein; er kann aber thatsächlich ein ganz gefährlich Verrückter sein. Wie ein Tag dem andern folgte, sand es Meschini immer unmöglicher, sich ohne seine bei­ den Tröster zu behelfen. Sobald er sich einigermaßen klar

247 aber Corona zufrieden ist, bin ich es auch. Es ist ihre Sache." „Ich bin vollkommen zufrieden, das versichere ich," sagte Corona, und ihre dunkeln Augen strahlten. Giovanni erhob das Glas, sah sie an und lächelte liebevoll. Dann leerte er es bis auf den letzten Tropfen und setzte es ohne ein Wort nieder. „Vermuthlich ein Geheimniß", brummte der alte Herr.

Vierzehntes Kapitel.

Arnoldo Meschini war vielleicht nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes geisteskrank; das heißt, er würde wahr­ scheinlich das normale Gleichgewicht seiner geistigen Fähig­ keiten wiedererlangt haben, wenn er sich narkotischer und stimulirender Mittel enthalten hätte, und wenn er von der verzweifelten Furcht vor Entdeckung befreit worden wäre, die ihn quälte, sobald er sich nicht unter der Wirkung eines oder des andern der beiden. Mittel befand. Aber diese letzte Bedingung konnte unmöglich erfüllt werden, und seine entsetzliche Angst trieb ihn dazu, sein Gehirn in einem umnebelten Zustande zu erhalten. Manche Menschen sind vor Schreck wahnsinnig geworden oder haben allmälig den Verstand durch eine beständige Furcht verloren, von der sie nicht loskommen konnten. Ein Mensch, der sich durch den Genuß von Cognac und Opium beständig in einen un­ natürlichen Geisteszustand versetzt, mag der Theorie nach nicht geisteskrank sein; er kann aber thatsächlich ein ganz gefährlich Verrückter sein. Wie ein Tag dem andern folgte, sand es Meschini immer unmöglicher, sich ohne seine bei­ den Tröster zu behelfen. Sobald er sich einigermaßen klar

248 war, wurde er fast toll. Er hielt Jeden für einen Spion, jeder nichtssagende Blick schien ihm bedeutungsvoll. Als­ bald wurde er von der Einbildung befangen, daß er zum Opfer einer furchtbaren Privatrache ansersehen wäre. San Giacinto, dachte er, wäre nicht der Mann, der sich damit begnügen würde, ihn lebenslang auf die Galeere zu schicken. Zu jener Zeit wurden nur wenige Mörder hingerichtet, und den Montevarchi würde es nur zu geringer Befriedigung gereichen, wenn sie wüßten, Meschini wäre von seiner Ar­ beit an dem Katalog in der Bibliothek nur fortgebracht, um mit einer zusammengeketteten Bande in Civitavecchia Steine zu klopfen. Viel wahrscheinlicher war es, daß sie sich nachdrücklicher rächen würden. Seine gestörte Einbil­ dungskraft sah entsetzliche Visionen. San Giacinto konnte ihm eine Falle legen, er konnte auch ganz einfach in der Nacht zu ihm kommen und ihn aus seinem Zimmer in ein tiefes Gewölbe unter dem Palast schleppen. Was vermochte er gegen einen solchen Riesen? Er stellte sich vor, daß er vor einem heimlichen Gericht stünde, in dessen Mitte die Riesengestalt San Giacinto's emporragte. Er hörte die gefürchtete tiefe Stimme sein Verdammungsurtheil aus­ sprechen. Er sollte von jenen ungeheuren Händen in Stücke zerrissen, lebendig geschunden, an langsamem Feuer ver­ brannt werden. Es gab keine erdenkbare Qual, die ihm nicht zu solchen Zeiten einfiel. Allerdings wenn er Abends zu Bette ging, war er gewöhnlich so von Opium betäubt oder durch starke geistige Getränke so berauscht, daß er so­ gar vergaß, seine Thür abzuschließen. Aber am Tage war er selten so ganz unter der Einwirkung des einen oder des andern, als daß er nicht durch seine entsetzlichen Einbil­ dungen gelitten hätte. Als er sich eines Tages langsamen Schrittes durch eine enge Gaffe in der Nähe der Fontana

249 Trevi schleppte, fiel ihm das Schaufenster eines Waffen­ händlers in die Augen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er keine Vertheidigungswaffe habe für den Fall, daß San Giacinto oder seine Leute ihn unvermuthet überfielen. Und doch konnte eine geschickt gelenkte Kugel selbst einem solchen Herkules ein Ende machen. Er stand still und sah ängst­ lich die Straße auf und ab. Es war dunkel und ein feiner Regen rieselte herab. Niemand war in der Nähe, der ihn erkennen konnte, er konnte nicht leicht wieder eine solche Gelegenheit finden, sich unbemerkt das Gewünschte zu ver­ schaffen. Er ging in den Laden und kaufte sich einen Revolver. Der Mann zeigte ihm, wie er ihn laden müßte und verkaufte ihm auch eine Schachtel Patronen. Er steckte den Revolver in eine seiner Taschen und lächelte, als er fühlte, wie gut er der Flasche in der andern das Gegen­ gewicht hielt. Dann schlich er sich aus dem Laden und setzte seinen Weg fort. Der Gedanke, aus den Originaldokumenten der Familie Saracinesca Capital zu schlagen, den er gleich nach dem Morde gefaßt hatte, kam ihm häufig wieder in den Sinn; aber er fühlte, daß er nicht in geeigneter Verfaffung wäre, ihn auszuführen, und nahm sich vor, die Sache zu über­ legen, wenn es ihm wieder bester ginge. Denn er hielt sich für krank und meinte, sein Zustand werde sich bald bestem. Jetzt zu San Giacinto zu gehen, stand außer aller Frage. Es wäre ihm leichter gewesen, das Kreuz auf der Peterskuppel zu erklimmen, als mit seinen erschütterten Nerven und zitternden Gliedern dem Manne entgegenzu­ treten, der ihm solche unaussprechliche Furcht einflößte. Er konnte natürlich den anderen ihm offenstehenden Weg einschlagen nnd zum alten Saracinesca gehen. In der That gab es Augenblicke, wo er sich beinahe das Herz

250 gefaßt hatte, diesen Schritt zu thun, allein seine angeborene Vorsicht hielt ihn von einer Unterredung zurück, bei der er sich einer ungeheuren Gefahr aussetzte, wenn er nicht voll­ kommen Selbstbeherrschung bewahrte. Das zu schreiben, was er zu sagen hatte, hieße nur Andern eine Waffe gegen ihn in die Hand geben, denn er konnte die Sache nicht in einem Briefe erwähnen, ohne seinen Antheil an der Fäl­ schung einzugestehen. Das einzige Mittel, seinen Zweck zu erreichen, war von Saracinesca ein feierliches Versprechen der Verschwiegenheit nebst einer Bürgschaft für seine Sicher­ heit zu erwirken, und um diese Bedingungen zu erreichen, würde es seiner ganzen Schlauheit bedürfen. So schlecht er war, hatte er doch noch keine practische Erfahrung in Erpressungsversuchen, und er würde sich seine Reden im Voraus mit großer Sorgfalt und weisem Vorbedacht er­ sinnen müssen. Solche Anstrengung ging fürs Erste über

seine Kraft, aber wenn er halb betrunken war, besah er sich gern die alten Pergamente und baute Luftschlösser darauf. Wenn er erst wieder kräftig und ruhig sein würde, wollte er alle seine Träume verwirklichen, und die Zeit dazu konnte sicherlich nicht mehr fern sein. Dennoch vergingen die Tage mit erschrecklicher Ge­ schwindigkeit und nichts geschah. Ganz unvermerkt beschlich die Furcht vor San Giacinto aümälig auch seinen Geist, wenn er ganz durch den Trunk betäubt war. So lange eine Idee neu und dem Gehirn noch nicht zur Gewohnheit geworden ist, vertreibt sie der Branntwein, aber der Zeit­ punkt muß unvermeidlich eintreten, wenn das Reizmittel

die Macht verliert, den Gegenstand der Furcht aus dem Gedächtniß zu verbannen. Opium thut es besser, aber selbst das wirkt nicht unaufhörlich fort. Die Zeit kommt, wenn der herrschende Gedanke der wachen Stunden mit furcht-

251 barer Gewalt auch während des künstlichen Schlafes wieder­ kehrt, so daß der Geist zuleht keine Ruhe mehr finden kann. Das ist die gefährliche Periode, welche dem Verfall und gänzlichen Zusammenbruch der geistigen Kräfte unter dem, was man gewöhnlich die fixe Idee nennt, vorangeht. Bei manchen Seelenzuständen, namentlich bei Verbrechern, die fich vor Entdeckung fürchten, verändern sich die Wirkungen des Opiums sehr rasch; die Stufenleiter abwärts, welche gewöhnlich organisirte Personen erst in Monaten herabsin­ ken würden, wird mit entsetzlicher Geschwindigkeit über­ schritten, und das Ende ist ums tausendfache schrecklicher. Meschini konnte noch nicht die Dosen genommen haben, welche ein eingefleischter Opiumeffer gleichmüthig verschluckt, aber die Folgen waren unverhältnißmäßig schwer im Ver­ gleich zu. dem von ihm eingenommenen Narcoticum. Ehe noch eine Woche nach dem Verbrechen verflossen war, fing er an, in wachem Zustande Visionen zu sehen. Formlose, klebrige Dinge krochen auf dem Boden seines Zimmers, auf seinem Tische, ja sogar auf seinen Betttüchern herum. Dunkle Schatten traten ihm entgegen und veränderten plötz­ lich ihre Form. Erscheinungen stiegen vor seinen Füßen aus dem Boden empor und ragten plötzlich bis zur Decke auf; sie nahmen die Gestalt von San Giacinto an und verschwanden dann mit einem Male in der Luft. Diese Erscheinungen kamen wie Blitze aus einer anderen noch schrecklicheren Welt und verschwanden zuerst so rasch, daß er sie nur für die Wirkungen von Licht und Schatten hielt, wie das Gespenst, wofür er seinen Rock angesehen hatte. Anfangs hatten sie kaum etwas Beängstigendes, da er aber immer zusammenfuhr, wenn sie kamen, hielt er das gewöhn­ lich für ein Zeichen, daß er mehr Cognac brauchte, um sich aufrecht zu halten. Nach Verlauf von zwei Tagen nahmen

252 aber die Erscheinungen furchtbarere Verhältnisse an, und er fand es unmöglich, ihnen zu entfliehen außer in völliger Betäubung. Jeder hätte einsehen müßen, daß dieser Stand der Dinge nicht lange dauern konnte. Es gab kaum eine Stunde, in der er recht wußte, was er that, und wenn sein seltsames Gebühren unbemerkt blieb, so lag das an seiner einsamen Lebensweise. Er blieb nicht den ganzen Tag dem Palaste fern, aus Furcht, das könne Verdacht erregen. Er brachte eine gewisse Anzahl Stunden in der Bibliothek zu, that aber nichts, obwohl er sorgsam eine Menge Bücher vor sich hinlegte und von Zeit zu Zeit mechanisch die Feder eintauchte, als ob seine Finger nicht von der langen Ge­ wohnheit lasten könnten. Seine Augen, die früher unge­ wöhnlich klar gewesen, wurden trüb und beinahe stier, ob­ wohl sie von Zeit zu Zeit sehr rasch von einer Seite des Zimmers nach der andern blickten. Das geschah, wenn er in dem großen Saal seltsame Gestalten zwischen sich und den Bücherschränken herumhuschen sah. Wenn sie ver­ schwanden, wurden seine Augen wieder gläsern, so daß die Augäpfel nur das Licht wiederzuspicgeln schienen, wie leb­ lose Körper, ohne cs in sich aufzunehmen und auf das Organ des Gesichtes zu übertragen. Sein Gesicht wurde von Tag zu Tage magerer und verstörter. Nur durch die Macht der Gewohnheit blieb er so lange an demselben Platze, wo er einen so großen Theil seines Lebens zuge­ bracht hatte. Die lichten Augenblicke dünkten ihn sehr lang, obschon sie in Wirklichkeit kurz waren, und das Bestreben, seine Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu richten, ihm darüber forthalf. Er war nie wieder in die Gemächer der Familie hinuntergegangen, seit er am Tage nach dem Morde vor dem Katafalk gekniet hatte. Es war auch eigentlich kein Grund dafür vorhanden, und Niemand bemerkte seine Ab-

253 Wesenheit. Er war eine sehr unbedeutende -Person im Palast. Daß Jemand ihn bei seinen Büchern aufsuchen sollte, war erst recht unwahrscheinlich. Die Bibliothek wurde früh Morgens ausgefegt und während der nächsten vier­ undzwanzig Stunden von keinem Andern mehr betreten. Er ging jetzt nie mehr in den Corridor, sondern legte feinen Rock neben sich auf einen Stuhl, wenn er überhaupt daran dachte, ihn mitzubringen. Als eine gewisse Vorsichtsmaß­ regel gegen die Furcht schloß er die Thür nach dem Gange ab, wenn er Morgens herunterkam und schloß sie wieder auf, wenn er fortging, damit der Diener zum Ausfegen hereinkommen konnte. Die Fürstin Montevarchi war noch immer gefährlich krank, und Faustina hatte sie nicht verlassen wollen. San Giacinto und Flavia wohnten nicht im Palaste, brachten aber viel Zeit dort zu, denn San Giacinto hatte seine eigenen Begriffe von Pflicht, denen seine Frau sich fügen mußte, selbst wenn sie ihr nicht zusagtcn. Faustina war weder ängstlich, noch hatte sie Scheu vor Einsamkeit; sie hätte die Gesellschaft ihrer Schwester recht gut emtbehren können, und wenn die Beiden zusammen waren, so war das Gespräch nicht immer besonders liebevoll. In Folge dessen suchte das junge Mädchen möglichst viel allein zu sein, wenn sie nicht am Bette ihrer Mutter saß. Als sie eines Tages durchaus nicht wußte, was sie thun sollte, wurde sie ganz unruhig. Es war hart, nicht an Anastasius zu denken, wenn sie einsam in ihrem Zimmer war, ohne eine Beschäftigung, um ihre Gedanken abzulenken. Noch vor einer Woche war sie nur allzu froh gewesen, wenn sie Gelegenheit hatte, die kurzen Nachmittagsstunden zu ver­ träumen und ihre kindlichen Gedanken an der Seite des so innig geliebten Mannes, der ihr gar so fern gerückt war,

254 im Rosengarten der Zukunft herumschweifen zu lassen. Nun konnte sie nicht an ihn denken, ohne sich zu sagen, daß der Tod ihres Vaters ein großes Hinderniß für ihre Verbin­ dung aus dem Wege geräumt hatte. Sie war keineswegs sehr fromm oder gar bigott, andererseits aber hatte sie viel Herz und herzlos sein schien ihr beinahe schlimmer als schlecht sein. Als Entschuldigung für diese höchst untheo­ logischen Ansichten muß in Betracht gezogen werden, daß

ihre Begriffe von Schlechtigkeit sehr beschränkt, wenn nicht in ihrer großen Einfalt geradezu kindisch waren. So viel steht fest, sie würde es viel weniger unrecht gefunden haben, wider den Willen ihrer Familie mit Gouache durchzugehen, als einen Gedanken zu hegen, der den tragischen Tod ihres Vaters im Lichte eines persönlichen Vortheils für sie er­ scheinen ließ. Wenn sie nichts zu thun hatte, mußte sie immer an Anastasius denken, und wenn sie an ihn dachte, konnte sie nicht umhin zu dem Schluffe zu kommen, daß es jetzt, da der alte Fürst nicht mehr lebte, viel leichter für sie sein würde, ihn zu heirathen. Es war also durchaus nöthig, eine Beschäftigung zu finden. Zuerst wanderte sie planlos int Hause herum, bis ihr, vielleicht zum ersten Male, die altfränkische Steifheit der Einrichtung auffiel, und sie sich fragte, ob es wohl ehr­ erbietig gegen das Andenken ihres Vaters oder gegen ihre Mutter sein würde, wenn sie versuchte, einige Aenderungen zu treffen. In Corona's Hause sah es ganz anders aus. Das hätte sie sich gern zum Vorbild genommen. Allein ein paar Versuche machten ihr die Größe ihres Unter­ nehmens klar. Sie schämte sich, die Dienstboten zu rufen; eö hätte ja so ausgesehen, als sollte ein Empfang stattfin­ den. Ihre Ideen von dem, was im Palast Montevarchi überhaupt stattfinden könnte, gingen nicht über diese her-

255 gebrachte Form der Geselligkeit hinaus. Die Zeit wurde ihr entsetzlich lang. Sie versuchte ihr Kunstverständniß ein wenig zu bilden, indem sie die Bilder an den Wänden be­ trachtete und vor jedem gewissenhaft eine Viertelstunde zu­ brachte, aber das gelang ihr auch nicht. Die Männer auf den Bildern nahmen alle die Gestalt von Gouache an, und die Frauen hatten eine unangenehme Aehnlichkeit mit Flavia. Dann fiel ihr die Bibliothek ein, als der einzige wichtige Raum im Hause, den sie noch nicht besucht hatte. Sie zögerte nur einen Augenblick, weil sie überlegte, wie sie am besten hingelangen könnte, ohne durchs Studirzimmer oder die große Treppe zur äußeren Thür hinauf­ zugehen. Bald aber fiel ihr ein, daß sie durch einen Gang an ihrem Zimmer in den Corridor gelangen könnte. In wenigen Minuten war sie am Eingang zu dem großen Büchersaal und versuchte, den schweren Messinggriff des Thürschlosses umzudrehen. Zu ihrer Verwunderung ging die Thür nicht auf, augenscheinlich war sie von innen ver­ schlossen. Als sie daran rüttelte in der Hoffnung, daß Je­ mand sie hören würde, traf ein seltsamer Schrei ihr Ohr, wie von einem aufgeschreckten Thier, und zugleich hörte sie schlürfende Schritte. Sie erinnerte sich an Meschini's Gang­ art und begriff, daß er es wäre. „Bitte, lassen Sie mich ein!" rief sie mit ihrer hellen frischen Stimme, die von der gewölbten Decke wiederhallte. Wiederum hörte sie die schlürfenden Tritte dieses Mal in der Richtung nach ihr zu, einen Augenblick darauf ging die Thür auf, und dicht vor ihr erschien das verstörte Ge­ sicht des Bibliothekars. Sie fuhr zurück. Sie mußte ver­ gessen haben, wie häßlich er war, dachte sie, sonst hätte sie sich wohl nicht zu ihm begeben. Es wäre aber thöricht gewesen umzukehren, nun sie ein Mal so weit war.

256 „Ich möchte die Bibliothek sehen", sagte sie ruhig, nachdem sie ihren Entschluß gefaßt hatte. „Wollen Sie sie mir zeigen?" „Favorisca, Eccellenza!“ sagte Meschini mit gebrochener Stimme. Das Geräusch an der Thür hatte ihn erschreckt, und die Verzerrungen seines Gesichtes bei seinem Versuch zu lächeln waren gräßlich anzuschaucn. Er verbeugte sich tief und machte hinter ihr die Thür zu. Kaum wißend, was er that, schlürfte er neben ihr her, während sie die Bibliothek besah, die langen Reihen von Büchern, alle in gleichem Einbande, welche von einem Ende zum andern auf langen Brettern dastanden. Der Raum war ihr neu, denn sie war nur zwei oder drei Mal in ihrem Leben darin gewesen und sie empfand eine Art unerklärlicher Scheu beim Anblick so vieler tausend Bände, so viel gedruckter und geschriebener Weisheit, die sie nie hoffen konnte zu ver­ stehen. Sie war mit dem unbestimmten Gedanken herge­ kommen, daß sie hier irgend etwas Anderes zu lesen finden würde als Romane, die sie nicht anrühren durfte. Mit einem Male wurde ihr klar, daß sie nichts von dem wußte, was in all' jenen Jahrhunderten geschrieben worden, deren Literatur in der ungeheuren Sammlung vertreten war. Sie kannte kaum den Namen von zwanzig Büchern aus den Hunderten von Millionen, welche es auf der Welt giebt. Aber sie konnte ja Meschini fragen. Sie sah ihn wieder an, und sein Gesicht stieß sie ab. Indessen war sie zu gut­ herzig, um nicht ein Gespräch mit dem einsamen Mann anzuknüpfen, den sie so selten gesehen hatte, der aber eines der ältesten Mitglieder von ihres Vaters Haus­ stand war. „Sie haben Ihr Leben hier zugebracht, nicht wahr?" fragte sie, um doch etwas zu sagen.

257 „Beinahe dreißig Jahre meines Lebens", antwortete Meschini mit gedämpfter Stimme. Ihre Anwesenheit quälte ihn über die Maßen. „Das ist eine lange Zeit, und ich bin noch kein alter Mann." „Sind Sie hier immer ganz allein? Gehen Sie nie­ mals aus? Was machen Sie den ganzen Tag?" „Ich arbeite unter den Büchern, Excellenz. Hier sind zwanzigtausend Bände, genug um die Zeit eines Menschen auszufüllen." „Ja — aber wie? Müsien Sie sie alle durchlesen?" fragte Faustina naiv. „Ist das Ihre Arbeit?" „Ich habe zu meinem Vergnügen viel mehr gelesen, als man glauben sollte. Allein meine Arbeit ist, sie in Ordnung zu halten, zu sehen, daß alles mit dem Kataloge stimmt, so daß, wenn Gelehrte kommen um Forschungen anzustellen, sie gleich das Begehrte finden können. Ich habe auch auf die Bücher Acht zu geben, daß sie keinen Schaden leiden. Sie sind sehr werthvoll. Es steckt ein Vermögen darin." Ihm war weniger ängstlich zu Muthe, als er von der Bibliothek und ihrem Inhalt zu sprechen anfing, und die Worte kamen ihm leichter von den Lippen. Bei einiger Ermuthigung hätte er sogar beredt werden können. Trotz seiner Häßlichkeit fing Faustina an, Interesse für ihn zu empfinden. „Es muß eine sehr mühselige Arbeit sein", meinte fie. „Thun Sie sie gern? Möchten Sie nicht manchmal etwas Anderes thun? Ich denke, es muß Sie langweilen, immer allein zu sein." „Ich bin sehr geduldig", versetzte Meschini demüthig. „Und ich bin daran gewöhnt. Ich gewöhnte mich an dieses Leben, als ich noch jung war." drarofovb, Sant' Ilario. II.

258 „Sie sagen, die Sammlung sei werthvoll. Sind viele schöne Bücher darin? Ich möchte gern einige sehen." Das holde junge Wesen setzte sich auf einen der hohen geschnitzten Stühle am Ende des Tisches. Meschini ging an die andere Seite des Saales und schloß eines der Schub­ fächer auf, die den unteren Theil der Bücherschränke bis zur Höhe von drei bis vier Fuß einnahmen. Jedes trug das Wappen der Montcvarchi in schwerer Holzschnitzerei. In diesen Fächern wurden die kostbaren Handschriften in ihren Behältern aufbewahrt. Er brachte einen kleinen vier­ eckigen Band, der ein Manuskript enthielt, und legte ihn vor Faustina hin. „Dieses ist eine ungeheure Summe werth", sagte er. „Es ist das einzig vollständige auf der Welt. In der vaticanischen Bibliothek ist eine unvollständige Abschrift davon." „Was ist es?" „Es ist der Montevarchi-Dante, der älteste, den es giebt." Faustina wendete neugierig die Blätter um und be­ wunderte die ebenmäßige Schrift, obwohl sie nicht viele von den Wörtern lesen konnte, denn die alten Buchstaben waren ihr fremd. Das Paar in dem großen Saale gab ein merk­ würdiges Bild ab. Auf allen Seiten erhoben sich die un­ geheuren geschnitzten Bücherschränke aus Nußbaumholz, vom Alter geschwärzt, vom Fußboden bis zum Ansatz des Decken­ gewölbes; ihre dunkeln Flächen spiegelten sich in dem blank polirten farbigen Marmorboden wieder. Auf die alter« thümlichen Tische fiel von oben her ein Streifen Sonnen­ licht durch die hohen Bogenfenster. In der Mitte waren die beiden Gestalten mit dem alten Manuskripte zwischen sich; Faustina's Engelsköpfchen in Hellem Licht gegen den

259 dunkeln Hintergrund, während sie sich etwas vorbeugte und die gelben Blätter mit ihren zarten durchsichtigen Fingern umschlug, die schwarzen Falten ihres weiten Kleides bilde­ ten eine Gewandung von massigen Linien, anmuthig durch ihre Anmuth, und in ihrer Strenge gemildert durch eine Jugendlichkeit, die sie zu durchdringen schien, und die von ihr ausging. Neben ihr die gebeugte Gestalt des innerlich gebrochenen Mannes in unterwürfiger Haltung, die langen Arme zu beiden Seiten herabhängend, den Kopf vorbeugend um auf die Blätter zu sehen, während ihm der lange schwarze Rock fast bis auf die Fersen reichte. Seine Gefichtszüge schienen schärfer, gelber und spitzer geworden zu sein und eben jetzt war der obere Theil seiner Wangen stark geröthet. Ein vorübergehender Glanz schimmerte in seinen grauen Augen unter den buschigen Brauen, ein geistiger Glanz, der ihnen früher besonders eigenthümlich gewesen war, und den jetzt wohl die Bemühung, seine Aufmerksam­ keit auf das kostbare Buch zu richten, zurückrief. Seine großen plumpen Ohren schienen sich zu spitzen, wie bei einem Thier, als wollten sie seinen Blicken folgen. In seiner äußeren Erscheinung war eine sonderbare Mischung von Zerrüttung, Scharfsinn und Verrohung. Binnen einer Woche hatte er sich sehr verändert. Noch vor wenigen Tagen würde man ihn mit einer Art von Mitleid betrachtet haben; jetzt war etwas entschieden Abstoßendes an ihm. Neben Faustina's Zartheit und frischer Jugend sah er kaum wie ein menschliches Wesen aus. „Ich glaube, es ist etwas Wundervolles," sagte sie endlich, „allein ich verstehe nicht genug davon, um seinen Werth zu schätzen. Kommen meine Brüder je auf die Bibliothek?" Sie lehnte sich zurück und sah Meschini an und wun17'

260 derte sich, wie der Himmel etwas so Häßliches habe schaffen

können. „Nein. Sie kommen niemals her", versetzte der Biblio­ thekar und zog instinctiv das Buch an sich, wie er es ge­ than haben würde, wäre ein Fremder hergekommen, der vielleicht versucht haben könnte, ein Paar Blätter daraus zu stehlen, wenn nicht auf ihn aufgepaßt würde. „Aber mein armer Vater liebte die Bücher sehr, nicht wahr? Kam er nicht oft hierher Sie zu besuchen?" Sie dachte so wenig an Meschini, daß sie garnicht bemerkte, wie er plötzlich erbleichte und zitterte wie im Fieberfrost. Das war es, was er die ganze Zeit, seit sie ins Zimmer getreten, gefürchtet hatte. Sie hatte ihn im Verdacht und war gekommen, oder vielleicht von San Giacinto abgesandt worden, um ihn ins Gespräch zu ziehen und ihm eine Aeußerung zu entlocken, die als ein Geständniß des Verbrechens ausgelegt werden konnte. Wäre das ihre Absicht gewesen, so hätte sein Benehmen ihr kaum einen Zweifel über die Wahrheit der Beschuldigung laffen können. Sein Gesicht verrieth ihn, seine unbezwingliche Angst, seine entsetzten Blicke und zitternden Glieder. Aber sie hatte ihn kaum angesehen, und ihre Augen schweiften wieder über die Bücherschränke. Als sie ihn wieder ansah, ging er von ihr fort, den Tisch entlang. Sie wunderte sich über seinen unsicheren Gang, und daß er gegen den Tisch taumelte und sich daran festhielt. Sie fuhr zusammen, stand aber nicht auf. „Sind Sie krank?" fragte sie. „Soll ich Jemanden rufen?" Er antwortete nicht, schien sich aber beim Ton ihrer Stimme zu fasten, denn er ging weiter und verschwand hinter dem hohen geschnitzten Pult, auf welchem der offene

261 Katalog lag. Es war ihr, als sähe sie einen Lichtblitz von einer glatten Oberfläche zurückgeworsen, und bald darauf hörte sie einen gurgelnden Ton, den sie sich nicht erklären konnte. . Meschini stärkte sich durch einen Schluck. Dann kam er wieder zum Vorschein und trat etwas fester auf. Er hatte einen argen Schreck gehabt, aber wie gewöhnlich fehlte ihm der Muth fortzulaufen, weil er dachte, das würde unfehlbar als ein Beweis von Schuld angesehen werden. „Ich bin nicht ganz wohl", sagte er, als er wiederkam, zur Erklärung. „Ich muß beständig Arznei einnehmen. Ich bitte Ew. Excellenz um Bergebung." „Es thut mir leid, das zu hören", versetzte Faustina freundlich. „Können wir nichts für Sie thun? Haben Sie alles, was Sie brauchen?" „Alles, danke verbindlichst. Mir wird bald wieder wohl sein." „Das hoffe ich. Was sagte ich doch? Ach so, ich fragte, ob mein armer Vater oft in die Bibliothek kam. Liebte er seine Bücher?" „Seine Excellenz — Gott habe ihn selig! — war ein gelehrter Mann. Ja, er kam dann und wann." Meschini ergriff Plötzlich das Manuskript und trug es wieder an seinen Platz im Schubfach. Das Zuschließen dauerte ziem­ lich lange. Faustina beobachtete ihn neugierig. „Sie waren an jenem Tage hier, nicht wahr?" fragte sie, als er sich wieder zu ihr wandte. Die Frage war in Anbetracht der Umstände ganz natürlich. „Ich denke, Ew. Excellenz waren dabei, als ich vom Prüfecten verhört wurde," antwortete Meschini in merk­ würdig gereiztem Ton. „Freilich", sagte Faustina. „Sie sagten, Sie wären

262 wie gewöhnlich den ganzen Tag über hier gewesen. Zch hatte es vergessen. Wie schrecklich war es doch! Und Sie sahen nichts, hörten nichts? Aber freilich, Sie find hier zu weit entfernt vom Stndirzimmer." Der Bibliothekar gab keine Antwort, war aber augen­ scheinlich sehr bestürzt. Er bildete sich wirklich ein, daß seine schlimmsten Befürchtungen wahr würden, und daß Faustina ihm Aeußerungen abpressen wollte, die ihn über­ führen sollten. Ein solcher Gedanke lag ihr in der That gänzlich fern. Sie hätte es ganz ebenso ungereimt gefun­ den, den armen elenden Menschen vor ihr anzuklagen, als sie es empörend fand, daß man sie selbst beschuldigt hatte. Ihr Vater war ihr immer wie eine höchst imposante Per­ sönlichkeit vorgekommen, und es konnte ihr nicht einfallen, daß er seinen Tod von den Händen eines so erbärmlichen Geschöpfes wie Meschini gefunden habe, dem man sicher­ lich weder physische Kraft noch Verwegenheit zutrauen konnte. Er indessen nahm ihre Worte ganz anders auf und stand zwischen ihr und den Bücherschränken einen Augenblick still, um zu überlegen, ob es nicht das Beste wäre, sofort Schritte für seine Sicherheit zu thun. Er hatte die Hand auf dem Rücken und fühlte nach dem Re­ volver in seiner Tasche. Faustina war von Natur unerschrocken, hätte sie aber geahnt, in welcher Gefahr sie schwebte, so wäre sie wahr­ scheinlich eilends weggelaufen, anstatt das Gespräch fort­ zusetzen. „Es ist ein fürchterliches Geheimniß", sagte sie und stand auf, langsam ging sie über den blanken Marmor­ boden und blieb vor einer Reihe großer Bände stehen, deren Farbe ihre Blicke auf sich gezogen hatte. „Es ist unser aller Pflicht zu versuchen, es aufzuklären. Natürlich

263 wird eines Tages alles herauskommen, aber es ist schwer, geduldig abzuwarten. Wissen Sie," dabei wendete sie sich plötzlich zu Meschini und sprach mit ungewöhnlicher Heftig­ keit, „man hatte mich im Verdacht, als ob ich es gekonnt hätte, ich ein schwaches Mädchen! Und doch, wenn ich den Menschen vor mir hätte, — den Menschen, der ihn ermor­ det hat, — ich glaube, ich könnte ihn mit meinen Händen umbringen." Sie trat beim Sprechen einige Schritte vor und schlug mit ihrem kleinen Fuße auf den Boden, als ob sie ihren Worten Nachdruck geben wollte. Ihre sanften blauen Augen blitzten in gerechtem Zorn, und ihre Wange erbleichte beim Gedanken, ihren Vater zu rächen. In ihrem jungen Gesicht mußte etwas Wildes liegen, denn Meschini entsank der Muth und seine Fassung verließ ihn. Er versuchte, von ihr zurückzutreten, glitt aus und fiel mit einem lauten Angstschrei auf die Kniee. Selbst dann noch ahnte Faustina nicht die Ursache seiner Schwäche, sondern schrieb sie dem Unwohlsein zu, von dem er gesprochen hatte. Sie sprang auf ihn zu und wollte dem armen Menschen aufhelfen; aber statt den Versuch zu machen aufzustehen, wälzte er sich vor ihr und stieß unzusammenhängende Angstrufe aus. „Stützen Sie sich auf mich!" sagte Faustina und reichte ihm die Hand. „Was fehlt Ihnen? O weh! sind Sie im Sterben?" „Oh Oh! Thun Sie mir nichts zu Leide — ich bitte Sie — um Gotteswillen!" rief Meschini und sah sie flehend an. „Zu Leide? Nein! weshalb sollte ich Ihnen etwas zu Leide thun? Sie sind krank. Wir wollen nach dem Arzt schicken. Versuchen Sie nur aufzustehen, versuchen Sie bis zu einem Stuhl zu kommen."

264 Der Ton ihrer Worte beruhigte ihn ein wenig und auch ihre Berührung, als sie sich bemühte, ihm aufzuhelfen. Endlich kam er auf die Füße zu stehen; er lehnte sich an den Bücherschrank in athemloser Angst. „Es ist nichts!" versuchte er zu sagen, während ihm bei jeder Sylbe der Athem versagte. „Mir wird schon wohler — Ew. Excellenz — ach! was bin ich für eine Memme!" Dieser letztere voll Widerwillen über seine eigene Schwäche ausgestoßene Ausruf fiel Faustina als höchst sonderbar auf. „Habe ich Sie erschreckt?" fragte sie staunend. „Es thut mir sehr leid. Nun sehen Sie sich, ich will Jemand rufen, der bei Ihnen bleibt." „Nein, nein, bitte! Ich möchte lieber allein sein! Ich kann jetzt ganz gut gehen. Wenn — wenn Ew. Excellenz mich entschuldigen wollen, möchte ich auf mein Zimmer gehen. Dort habe ich noch mehr Arznei; ich will einnehmen, dann wird mir besser werden." „Können Sie auch wirklich allein gehen?" fragte Fau­ stina besorgt. Aber während sie noch sprach, ging er schon nach der Thür, zuerst langsam, als hielt ihn ein gewisses Anstandsgefühl davon zurück, geradezu sortzulausen. Das junge Mädchen ging ihm einige Schritte nach, als fürchtete sie, er könnte wieder fallen, aber er hielt sich auf den Füßen und erreichte die Thür. Auf der Schwelle machte er einen drolligen Versuch, sich zu verbeugen, und murmelte einige Worte, die sie nicht vernahm. Einen Augenblick darauf war er verschwunden und sie allein. Sie sah noch einige Minuten die geschloffene Thür an, zu welcher er hinausgegangen war; dann schüttelte sie traurig den Kopf »nd ging wieder auf ihr Zimmer, denselben Weg,

265 den fie gekommen war. Es war alles höchst sonderbar, dachte fie, ließ fich aber vielleicht durch seine Kränklichkeit erklären. Sie hätte gern San Giacinto zu Rathe gezogen, allein obwohl sie äußerlich mit ihm auf gutem Fuße stand und nicht umhin konnte, seinen männlichen Charakter zu achten, hatte doch die Rolle, welche er bei dem Versuche gespielt hatte, sie von Gouache zu trennen, ein vertrauliches Verhältniß zwischen ihr und ihrem Schwager nicht auf­ kommen lassen. Sie sagte Niemandem etwas von ihrer Unterredung mit Meschini in der Bibliothek, und Niemand ahnte, daß fie überhaupt dort gewesen war.

Fünfzehntes Kapitel. Trotz seiner Hast alles noch Uebrige in Bezug auf die Uebergabe des Vermögens an San Giacinto möglichst schnell zu ordnen, fand Saracinesca es doch rein unmöglich, die Angelegenheit binnen einer Woche abzuwickeln, wie es seine Absicht gewesen war. Es war eine äußerst schwierige Auf­ gabe, von seinem gegenwärtigen Vermögen den Theil abzu­ lösen, welchen sein Vetter von seinem Urgroßvater geerbt haben würde. Während der Zwischenzeit war durch Heirathen ein beträchtlicher Zuwachs an Reichthum in die Familie gekommen, und die Verwaltung des ursprünglichen Besitzes war nicht von der Verwaltung der Mitgiften ge­ trennt worden, sondern diese waren von Zeit zu Zeit darin aufgegangen. Die Saracinesca's waren aber ordentliche Leute, und seit Generationen waren die Bücher mit der erstaunlichen Genauigkeit geführt worden, wie man sie in den großen römischen Familien findet, und die wohl alles übertrifft, was man dem entsprechend in moderner Geschäfts-

265 den fie gekommen war. Es war alles höchst sonderbar, dachte fie, ließ fich aber vielleicht durch seine Kränklichkeit erklären. Sie hätte gern San Giacinto zu Rathe gezogen, allein obwohl sie äußerlich mit ihm auf gutem Fuße stand und nicht umhin konnte, seinen männlichen Charakter zu achten, hatte doch die Rolle, welche er bei dem Versuche gespielt hatte, sie von Gouache zu trennen, ein vertrauliches Verhältniß zwischen ihr und ihrem Schwager nicht auf­ kommen lassen. Sie sagte Niemandem etwas von ihrer Unterredung mit Meschini in der Bibliothek, und Niemand ahnte, daß fie überhaupt dort gewesen war.

Fünfzehntes Kapitel. Trotz seiner Hast alles noch Uebrige in Bezug auf die Uebergabe des Vermögens an San Giacinto möglichst schnell zu ordnen, fand Saracinesca es doch rein unmöglich, die Angelegenheit binnen einer Woche abzuwickeln, wie es seine Absicht gewesen war. Es war eine äußerst schwierige Auf­ gabe, von seinem gegenwärtigen Vermögen den Theil abzu­ lösen, welchen sein Vetter von seinem Urgroßvater geerbt haben würde. Während der Zwischenzeit war durch Heirathen ein beträchtlicher Zuwachs an Reichthum in die Familie gekommen, und die Verwaltung des ursprünglichen Besitzes war nicht von der Verwaltung der Mitgiften ge­ trennt worden, sondern diese waren von Zeit zu Zeit darin aufgegangen. Die Saracinesca's waren aber ordentliche Leute, und seit Generationen waren die Bücher mit der erstaunlichen Genauigkeit geführt worden, wie man sie in den großen römischen Familien findet, und die wohl alles übertrifft, was man dem entsprechend in moderner Geschäfts-

266 führung antrifft. Durch Ausdauer und durch Anstellung vieler Personen bei der Berechnung war es den Notaren gelungen, binnen vierzehn Tagen eine ziemlich befriedigende Abrechnung zu Stande zu bringen, welche beide Parteien als endgültig anerkannten. Der Tag, welcher für die Zu­ sammenkunft und den Abschluß der Rechnungslegung be­ stimmt wurde, war ein Sonnabend, sechzehn Tage nach der Ermordung des Fürsten Montevarchi. Es erhob sich eine Meinungsverschiedenheit über den Ort der Zusammenkunft. Saracinesca schlug vor, San Giacinto und die Notare sollten in den Palast Saracinesca kommen. Er wollte den Verhältnissen bis zuletzt die Stirne bieten, seinem Geschick entgegentreten, bis alles vorüber wäre, ja er wollte sogar das Inventar von all dem übergeben, was in dem Hause, darinnen er geboren war, ihm nicht mehr gehörte. Sein unerschütterlicher Muth und seine kühne Offenheit würden ihn zweifellos bis zuletzt auch in einer solchen Feuerprobe für sein Gefühl aufrecht erhalten haben, allein San Gia­ cinto ging nicht auf den Vorschlag ein. Er erklärte wie­ derholt, daß er wünschte, der alte Fürst möge den Palast bis an sein Lebensende bewohnen, und daß er alles auf­ bieten wolle um ihn dazu zu bewegen, auch den Titel beizubehalten. Diese beiden Anerbieten wurden höflich, doch enschieden zurückgewiesen. Allein in Bezug auf den Vor­ schlag, die entscheidende Verhandlung im Palast Saracinesca stattfinden zu laffen, war San Giacinto unbeugsam. Er wollte auf keinen Fall im Lichte eines Eroberers erscheinen, der von seiner Beute Besitz ergreifen kommt. Seine Frau hatte keinen Antheil an diesem großmüthigen Gefühl. Sie hätte gern den vollen Triumph genoffen, denn sie war sehr ehrgeizig und hatte überdies die Saracinesca's nicht beson­ ders gern. Wie sie sich ausdrückte, hatte sie in ihrer

267 Gegenwart das Gefühl, als ob alle, vom alten Fürsten bis zu Corona, sie für eine recht alberne junge Person hielten. San Giacinto's Handlungsweise war also durchaus spontan, und wenn sie einer Erklärung bedarf, so dürste sie einer angeborenen Hochherzigkeit, einer gewiffen Würde zuzu­ schreiben sein, welche ihn schon als Jüngling vor der nie­ deren Klaffe ausgezeichnet hatte, in deren Mitte er aus­ gewachsen war. Er war steilich keineswegs der Typus eines vollkommenen Edelmannes; das hatte sein Benehmen in der Sache zwischen Faustina und Gouache gezeigt. Er handelte seinen Anschauungen entsprechend und entblödete sich nicht, Dinge zu thun, welche sein Vetter Giovanni ge­ mein genannt haben würde. Allein trotzdem war er doch ein ganzer Mann, und wenn er etwas von seiner Würde seiner hohen Gestalt und seinem unbeugsamen Willen ver­ dankte, so war sie gewissermaßen doch auch das äußere Zeichen eines guten Herzens und eines angebornen Gerech­ tigkeitsgefühls. Nichts Unredliches war in seiner Hand­ lungsweise gewesen von seiner Ankunft in Rom an bis auf diesen Tag. Er hatte ein Vermögen erworben, welches ihn in den Stand setzte, die ihm von Rechtswegen gebührende Stellung einzunehmen. Ihm gefiel Flavia, und er hatte mit ihrem Vater um sie gehandelt, nachher aber gewiffenhaft die Bedingungen des Contractes erfüllt. Er hatte sich nicht für etwas ausgegeben, was er nicht war und keinen bei seinem eigenen Fortkommen übervortheilt. Bei dem Prozesse war er in Bezug auf die Documente vom alten Montevarchi getäuscht worden, aber er war sich vollkommen bewußt, wirklich der Vertreter des älteren Zweiges der Familie zu sein. Es ist schwer zu sagen, wie ein Mann in seiner Lage weniger thun konnte, als er gethan hatte, und da es nun zur endgültigen Lösung kam, lag ihm wirk-

268 lich viel daran, seine ihm unterlegenen Verwandten so wenig wie möglich zu kränken. In ihr Haus gehen, war gleich­ sam die Rolle des Gerichtsvollziehers spielen. Sie in sein Haus kommen zu lassen, erinnerte an die Reise nach Ca­ nossa. Der Palast Montevarchi war neutrales Gebiet, und er schlug vor, daß die Formalitäten dort erledigt werden sollten. Saracinesca ging bereitwilligst darauf ein, und der Tag wurde festgesetzt. Die Notare kamen um zehn Uhr Morgens nebst Schreibern, die mit Acten, Inventarien und Manuskript­ rollen beladen waren. Das Studirzimmer war für die Zusammenkunft ausersehen worden, sowohl weil es von den übrigen Gemächern entfernt lag, als weil ein ungeheurer Tisch darin stand, der für die umfangreichen Documente dienen konnte, welche alle geprüft und beglaubigt werden mußten. San Giacinto selbst erwartete die Ankunft der Saracinesca's im großen Empfangssaal. Er hatte seine Frau fortgeschickt, denn er war in Wirklichkeit keineswegs so ruhig, wie er zu sein schien, und ihr beständiges Gerede störte ihn. Erhobenen Hauptes, die Hände auf dem Rücken ging er mit regelmäßigen Schritten in dem langen Gemach auf und ab; von Zeit zu Zeit stand er still und lauschte auf die Schritte der Erwarteten. Es war ein großer Tag in seinem Leben. Vor dem Abend sollte er Fürst Sara­ cinesca sein. Die Augenblicke kurz vor einem großen Triumph find sehr peinlich, namentlich wenn sich Jemand lange auf das bevorstehende Ereigniß gefreut hat. Wie sicher er auch des Erfolges sein mag, etwas sagt ihm, daß er doch noch un­ sicher ist. Es kann eine Frage entstehen, wer weiß woher, — durch welche alles verändert wird. Er mag sich hundert Mal sagen, daß ein Mißerfolg unmöglich ist, — dennoch

269 ist er nicht ruhig. Die Unsicherheit aller Dinge, selbst feines eigenen Lebens, tritt ihm klar vor die Augen. Sein Herz schlägt bald rasch, bald langsam. In demselben Augenblick, da er von der Zukunft träumt, kommt ihm der Gedanke an die Möglichkeit einer Enttäuschung. Er kann eS sich nicht erklären, aber er wünscht, die entscheidende Stunde wäre vorüber. In San Giacinto's Leben waren die Schritte von Niedrigkeit zu Ansehen und Reichthum in letzter Zeit so rasch aufwärts gegangen, daß ihm bei seinem Erfolg beinahe schwindelte. Zum ersten Male seit er seine alte Heimath in Aquila verlassen hatte, war ihm zu Muthe, als wäre sein früheres Wesen in einen ganz anderen Men­ schen verwandelt worden. Endlich ging die Thür auf; Saracinesca, Giovanni und Corona traten ein. San Giacinto wunderte sich, Giovanni's Frau bei einer Veranlassung zu sehen, an der nur die Männer der Familie betheiligt waren, sie erklärte indessen, sie wäre gekommen, um den Vormittag bei Fau­ stina zuzubringen, und wollte abwarten, bis alles vorüber wäre. Die Begegnung war nicht herzlich, beide Parteien betrachteten sie aber als unvermeidlich. Wenn Saracinesca einen persönlichen Groll gegen San Giacinto hegte, so wußte er, daß dies unbillig wäre, und hütete sich, ihn zu zeigen. Er war schweigsam, aber durchaus verbindlich. Giovanni schien sonderbarerweise ganz gleichgültig gegen das, was bevorstand. „Ich hoffe," sagte San Giacinto, als alle vier sich gesetzt hatten, „Ihr werdet dieses als eine bloße Formalität ansehen. Ich habe euch das schon durch meinen Sach­ walter sagen lassen, aber ich möchte es noch in besseren Worten als die ihrigen wiederholen." „Verzeihe mir," entgegnete Saracinesca, „wenn ich

270 Vorschläge, die Sache nicht weiter zu erörtern. Wir er­ kennen Deine Großmuth bei Deinen Anerbietungen an, halten es aber nicht für möglich, sie anzunehmen." „Ich muß um Deine Nachsicht bitten, wenn ich nicht auf Deinen Vorschlag eingehe," versetzte San Giacinto. „Selbst ohne Erörterung kann ich nicht an das Geschäft­ liche gehen, ehe ich erklärt habe, was ich meine. Wenn auch der Fall vor Gericht rechtmäßig entschieden worden, so ist er doch in Bezug auf seine Folgen nicht mit völliger Gerechtigkeit entschieden. Ich leugne nicht, und ich nehme an, daß ihr keine andere Handlungsweise von mir erwartet, daß es meine Absicht war, mir und meinen Kindern das Vermögen und die persönliche Stellung zu sichern, welche mein Ahnherr aufgegeben hatte. Ich habe erreicht, was ich wollte, und was mir rechtmäßig gebührte, und ich habe euch für die Großmuth zu danken, welche ihr dadurch bewiesen, daß ihr nicht versucht habt, ein Recht zu be­ streiten, gegen welches ihr viele Gründe, wenn auch nicht viele Beweise anführen konntet. Da der Fall gesetzlich ent­ schieden ist, steht es uns zu von dieser Entscheidung den Gebrauch zu machen, welcher uns selbst der beste dünkt. Euch eures Namens und eures Hauses zu berauben, in dem ihr geboren und aufgewachsen seid, hieße euch eine Kränkung zufügen, an welche ich nie gedacht habe." „Man kann nicht sagen, daß Du uns dessen beraubst, was nach irgend einer mir bekannten Auslegung des Wort­ lautes uns nicht gehört," sagte Saracinesca in einem Ton, welcher deutlich zeigte, daß er entschlossen war, nichts an­ zunehmen. „Ich bin nicht stark in der Grammatik", antwortete San Giacinto ernst, ohne eine Spur von angenommener Bescheidenheit. „Ich wurde als Landmann erzogen und

271 war noch vor kurzem Gastwirth. Ich kann mit euch nicht über die feine Bedeutung von Worten streiten. Nach mei­ ner Ansicht nehme ich euch das, was ihr, wenn es auch nicht wirklich euer war, bis dahin das volle Recht hattet zu besitzen und zu genießen. Ich versuche nicht, meine Gedanken weiter zu erklären. Ich sage nur, ich will nicht Deinen Namen annehmen, noch in Deinem Palaste wohnen, so lange Du lebst. Ich schlage ein Uebereinkommen vor, welches Du hoffentlich annehmen wirst." „Ich fürchte, das wird unmöglich sein. Ich bin fest entschlossen." «Ich schlage vor," fuhr San Giacinto fort, „daß Du Fürst Saracinesca bleibst und Saracinesca selbst, so wie den Palast hier in Rom während Deines Lebens behältst, und ich hoffe, das wird lange sein. Nach deinem Tode fällt beides an uns zurück. Mein Vetter Giovanni und die Fürstin Sant' Ilario"--------„Bitte, Sie können mich Corona nennen!" sagte die Fürstin plötzlich. Ihre Augen waren auf sein Gesicht ge­ heftet und sie lächelte. Sowohl Saracinesca als Giovanni sahen sie überrascht an. Es kam ihnen sonderbar vor, daß sie gerade diesen Augenblick wählte, San Giacinto eine Vertraulichkeit zu gewähren, die er nie zuvor genossen hatte. Aber schon seit einiger Zeit war ihre Achtung für den Ex-Gastwirth im Steigen und seine gegenwärtige Großmuth gab den Aus­ schlag. San Giacinto's braunes Gesicht wurde noch um einen Schatten dunkler, als ihm das Blut in die Wangen stieg. Corona hatte ihm eine der ersten Empfindungen ungemischter Freude bereitet, die er je in feinem rauhen Leben erfahren hatte. „Ich danke Ihnen", sagte er einfach. „Sie Beide,

272 wollte ich sagen, haben eigene Paläste und können nicht so fest an den alten hängen, als Einer, der sie so viele Jahre besessen hat." Dann fuhr er zu dem alten Fürsten gewen­ det fort: „Du wirst hoffentlich eine Vereinbarung anneh­ men, die Deiner Würde nicht zu nahe treten kann und mir zur größten Befriedigung gereichen wird." „Ich bin Dir sehr verbunden", versetzte Saracinesca bestimmt. „Du bist sehr großmüthig, allein ich kann Dein Anerbieten nicht annehmen." „Wenn Du denkst, Du würdest von mir etwas an­ nehmen, so sieh es von einem anderen Gesichtspunkt an. Du würdest mir eine Gunst erweisen, statt sie anzunehmen. Bedenke meine Lage, wenn ich an Deine Stelle trete. Es wird keine angenehme sein. Die Welt wird mich schlecht machen und sagen, ich hätte mich abscheulich gegen Dich benommen. Glaubst Du, ich werde als ein Ersatz für den Fürsten Saracinesca anfgenommen werden, den Deine Freunde so lange gekannt haben? Meinst Du, daß meine bisherigen Verhältnisse unbekannt sind, und daß Niemand hinter meinem Rücken lachen und auf mich als den fürst­ lichen Emporkömmling zeigen wird? Wenige Leute in Rom kennen mich, und falls ich noch außer euch Freunde habe, so bin ich mir dieser Thatsache nicht bewußt geworden. Bitte bedenke, daß Du mich durch Erfüllung meines An­ liegens vor sehr unangenehmen sozialen Folgen bewahren würdest." „Ich könnte es nur auf Kosten meiner Selbstachtung thun", erwiederte der alte Mann mit Festigkeit. „Was auch die Folgen für Dich sein mögen, die Mittel sie zu ertragen, werden in Deiner Hand liegen. Von morgen ab wird es Dir nicht an Freunden fehlen, oder wenigstens nicht an liebenswürdigen Leuten, die sich gern so nennen

273 werden. Sie werden in dieser Nacht wie Pilze aus der Erde wachsen und morgen früh frisch rafirt und lächelnd

Dich umgeben." „Ich fürchte, Du verstehst mich nicht recht," sagte San Giacinto. „Ich kann Dir den Titel lassen und einen an­ deren annehmen, der mir dieselben Dienste leisten wird. Du bleibst der Fürst Saracinesca und ich nenne mich Saracinesca di San Giacinto. Was den Palast und das Schloß im Gebirge betrifft, so find sie im Vergleich zu den Uebrigen so unbedeutend, daß es Deine Selbstachtung nicht verletzen könnte darin zu wohnen. Kannst Du Deinen Vater nicht überreden?" sagte er zu Giovanni gewendet, der noch kein Wort gesprochen hatte. „Es ist sehr gütig von Dir, diesen Vorschlag zu machen," antwortete er. „Mehr als das kann ich nicht sagen. Denn ich stimme meinem Vater bei." Es entstand ein Schweigen von mehreren Minuten. Corona sah bald den einen bald den andern der drei Männer an und wunderte sich, was die Sache für ein Ende nehmen würde. Sie verstand beide Theile besser als diese sich gegenseitig verstanden. Sie stimmte der Ablehnung seitens ihres Mannes und seines Vaters zu. Die Annahme eines solchen Anerbietens würde ihnen San Giacinto gegen­ über eine Verpflichtung auferlegen, welche diese, das wußte sie — nicht ertragen könnten und die ihr selbst peinlich sein würde. Andererseits that ihr ihr Vetter leid, denn er war augenscheinlich bestrebt, das zu thun, was er für recht und edelmüthig hielt, und war enttäuscht, daß sein Entgegenkommen zurückgestoßen wurde. Ihm war es voller Ernst damit, sonst wäre er nicht so weit gegangen, zu versichern, sie würden ihm durch die Annahme seines An­ erbietens eine Gunst erweisen. Er war so einfach und doch Crawford, Sant' Ilario. II. Jg

274 bei alledem so würdevoll, daß sie nicht umhin konnte, ihn gern zu haben. Indessen war es ihr nicht klar, daß sie durch ihre Einmischung die Sache verbeffem könnte, noch auch dadurch, daß sie dem Einen Rath anböte und dem Andern ihr freundliches Verständniß bezeigte. Saracinesca brach zuerst das Schweigen. Es schien ihm, als ob alles Nöthige gesagt worden wäre und seht nichts mehr übrig bliebe, als die nöthigen Formalitäten zu erfüllen. „Wollen wir an die Geschäfte gehen?" fragte er, als ob er das ganze vorher stattgefundene Gespräch ignorirte. „Ich glaube, wir haben viel zu thun, und die Zeit ver­ geht." San Giacinto erwiederte nichts, sondern stand ernst

und ruhig aus und machte eine Bewegung, als ob er die Beiden nach dem Studirzimmer geleiten wollte. Sara­ cinesca that, als weigere er sich vorauszugehen, gab aber nach und ging. San Giacinto wartete an der Thür auf Corona und Giovanni. „Ich werde Euch im Augenblick nachkommen, ich kenne den Weg", sagte letzterer und blieb bei seiner Frau stehen. Als sie allein waren, führte er sie in eine der Fenster­ nischen, wie wenn er ganz sicher sein wollte, daß Niemand hören könnte, was er sagte. Dann stand er still und sah ihr in die Augen. „Möchtest Du, daß wir solch eine Gunst von ihm an­ nähmen?" fragte er. „Sage es mir auftichtigt" „Nein," versetzte Corona ohne das mindeste Bedenken; „aber mir thut San Giacinto leid. Ich denke, er ist redlich bestrebt, recht zu thun und großmüthig zu sein. Die Ant­ wort Deines Vaters hat ihn gekränkt."

275

„Wenn ich dächte, es machte Dir Freude, zu wissen, daß wir wie früher nach Saracinesca gehen könnten, so würde ich versuchen, meinen Vater umzustimmen." „Das würdest Du?" Sie wußte wohl, welch ein Opfer es für feinen Stolz sein würde. „Ja, Liebste! Für Dich würde ich es thun."

„Giovanni, wie gut Du bist!" „Nein, ich bin nicht gut. Ich liebe Dich, das ist alles. Soll ich es versuchen?" „Nein, auf keinen Fall. Mr thut San Giacinto leid, aber ich könnte eben so wenig in dem alten Hause oder in Saracinesca wohnen wie Du. Fühle ich nicht alles, was Du fühlst und mehr?" „Alles?"---------„Alles!" Sie standen Hand in Hand und schauten aus dem Fenster. Beide hatten Thränen in den Augen. Ihre Fin­ ger schloffen sich immer fester, als ob sie durch unwider­ stehliche Macht zusammengezogen würden. Langsam wen­ deten sich ihre Gesichter einander zu und dann begegneten sich ihre Lippen in einem unvergeßlichen Knß. Dann ver­ ließ Giovanni seine Frau. Sie hatten sich alles gesagt. Beide wußten, daß sie aus dieser Welt nichts weiter wünsch­ ten, und daß sie einander fortan alles in allem wären. Es war, als hätte ein guter Engel ein himmlisches Siegel auf den Bund ihrer Herzen gedrückt. Corona verließ nicht sofort das Zimmer, sondern blieb noch einige Minuten an den schweren Fensterrahmen ge­ lehnt stehen. Ihre königliche Gestalt war ein wenig ge­ beugt, und sie drückte die eine Hand aufs Herz. Ihr dunkles Antlitz war gesenkt, und Thränen, die früher so selten geflossen, zogen silberne Furchen über ihre Wangen. Es war kein Tropfen Bitterkeit in dieser 18*

276 überquellenden Seligkeit ihres Herzens, in dieser Wonne, die so groß, so vollkommen war, daß sie kaum zu ertragen schien. Und sie hatte Grund, glücklich zu sein. Inmitten eines Schicksalsschlages, der andere Männer völlig hingenommen haben würde, hatte Giovanni nur Gedanken für sie. Gio­ vanni, der einst an ihr gezweifelt, der ihr solche Dinge gesagt hatte, daß sie nicht mehr daran zu denken wagte, — Giovanni, der unter einer Verletzung seines Stolzes litt, die für ihn beinahe schlimmer war, als völliger Ruin, hatte nur den Wunsch, ihr noch ein Opfer zu bringen. Jene trügerische Vergangenheit, an die sie gar nicht denken mochte, war verschwunden wie ein böser Traum vor der Morgen­ sonne; die wahre Vergangenheit aber, die ihr ganzes Leben ausmachte, war wieder lebendig geworden. Die Liebe, einst so verwundet und zertreten, daß sie sie todt geglaubt hatte, war wieder aus ihren tiefen starken Wurzeln emporge­ wachsen, größer und edler denn je zuvor. Die Gewißheit, daß es wirklich so war, überwältigte sie und verklärte ihr ganzes Wesen mit hehrem Glanz. Faustina Montevarchi trat leise ins Zimmer; als sie Niemand sah, ging sie vorwärts, bis sie plötzlich auf Corona in der Fensternische stieß. Die Fürstin fuhr leicht zusam­ men, als sie bemerkte, daß sie nicht allein wäre. „Corona!" rief das junge Mädchen. „Du weinst? Was ist Dir?" „O Faustina! Ich bin so glücklich!" Es war ihr eine Erleichterung, es Jemandem sagen zu können. „Glücklich?" wiederholte Faustina erstaunt. „Und dabei hast Du Thränen in den Augen und auf den Wangen"--------„Du kannst es nicht verstehen — ich wundere mich

277 nicht darüber — wie solltest Du auch? Und ich kann Dir nicht einmal sagen, was es ist." „Ich wünsche, ich wäre an Deiner Stelle!" antwortete ihre Freundin betrübt, „ich wünsche, ich wäre glücklich!" „Was ist Dir, Kind?" fragte Corona freundlich. Dann führte sie Faustina aus ein steifes altes Sopha an einem Ende des weiten Saales und setzte sich neben sie. „Was ist Dir?" fragte sie noch ein Mal und zog das junge Mädchen zärtlich an sich. „Du weißt es ja, Liebste. Niemand kann mir helfen. O Corona! Wir lieben uns so sehr!" „Ich weiß — ich weiß, daß es so ist. Aber Du mußt Geduld haben, mein Liebling. Endlich wird die Liebe siegen. Aber eben jetzt" — Sie beendete ihren Satz nicht, allein sie hatte einen empfindlichen Punkt in Faustina's Gewissen berührt. „Das ist eben das Schlimmste dabei", war ihre Ant­ wort. „Ich bin so unglücklich, weil ich weiß, daß er es nie zugelassen hätte, und jetzt — ich schäme mich es zu sagen, es ist so herzlos." Sie verbarg ihr Gesicht an der Schulter ihrer Freundin. „Du wirst niemals herzlos sein, meine liebe Faustina," sagte Corona. „Du kannst nicht dafür, daß Du so denkst, mein Herz. Die Liebe ist der Herr der Welt und unser aller." „Aber meine Liebe ist nicht wie Deine, Corona. Vielleicht war sie einst wie meine. Aber Du bist verheirathet, Du bist glücklich. Du hast es eben selbst ge­ sagt." „Ja, mein Herz. Ich bin sehr, sehr glücklich, weil ich so sehr innig liebe. Einst wirst Du eben so glücklich sein wie ich."

278 „Ach, das kann sein — aber — ich bin sehr schlecht, Corona!" „Du, liebes Kind? Du weißt nicht, was ein böser Gedanke ist." „O doch! Ich schäme mich dessen so sehr, daß ich es Dir kaum sagen kann; aber ich sage Dir ja alles, weil Du meine Freundin bist. Corona, es ist schrecklich — es scheint jetzt leichter, eher möglich, nun da er nicht mehr ist — ach, ich bin so froh, daß ich es Dir gesagt habe!" Faustina fing an leidenschaftlich zu schluchzen, als bereute sie ein furchtbares Verbrechen. „Ist das alles, mein Liebling?" fragte Corona und lächelte über die Unschuld des jungen Mädchens; sie drückte ihr Köpfchen zärtlich an die Brust. „Macht Dich das so unglücklich?" „Ja, ist es nicht ganz — ganz fürchterlich?" Ein neuer Thränenstrom begleitete diese Frage. „Vielleicht bin ich auch sehr schlecht", sagte Corona. „Aber ich nenne das keine Sünde." „Ach nein! Du bist sehr gut. Ich wünsche ich wäre wie Du!" „Nein, wünsche das nicht! Aber ich gestehe, ich finde cs natürlich, daß Du so denkst, denn es ist wirklich wahr. Dein Vater, Faustina, kann sich inbezug auf Deine Zu­ kunft geirrt haben. Wenn — wenn er am Leben geblieben wäre, hättest Du ihn vielleicht eines Besseren überzeugt. Jedenfalls darfst Du hoffen, daß er jetzt klarer sieht, daß er begreift, wie furchtbar es für eine Frau ist, mit einem ungeliebten Mann verheirathet zu sein, — während sie weiß, daß sie einen andern liebt." „Ja — das hast Du mir schon gesagt. Besinnst Du Dich? Neulich nachdem Flavia solche gräßliche Dinge

279 — gesagt hatte. Aber ich weiß es schon. Jeder muß das wißen." Es entstand eine Pause, während welcher Corona sich fragte, ob sie dieselbe wäre wie vor zehn Tagen, als sie jene Wamung so leidenschaftlich ausgesprochen hatte. Fau­ stina saß ganz still und sah die Fürstin an. Sie war getröstet und beruhigt, und ihre Thränen waren gestillt. „Es ist noch etwas," sagte sie endlich, „denn ich möchte Dir alles sagen, weil ich doch mit Keinem sonst darüber sprechen kann. Ich kann es aber auch nicht für mich be­ halten. Er hat an mich geschrieben, Corona! War es sehr unrecht, seinen Brief zu lesen?" Dies Mal lächelte sie und erröthete. „Ich denke nicht, daß es sehr unrecht war," versetzte ihre Freundin mit leichtem Lachen. Sie war so glücklich, daß sie über alles gelacht hätte. „Soll ich Dir seinen Brief zeigen?" fragte das junge Mädchen schüchtern. Im selben Augenblick verschwand ihre Hand in der Tasche ihres schwarzen Kleides, und gleich daraus zog sie ein zusammengesaltetes Papier heraus, was so aussah, als ob es öfter gelesen worden wäre. Corona sand es nicht für nöthig, ihre Zustimmung in Worte zu kleiden. Faustina öffnete den Brief, der nach­ stehende Zeilen in Gouache's feiner französischer Schrift enthielt: Mademoiselle! Wenn Sie diese Zeilen gelesen haben, werden Sie den Zweck meines Schreibens verstehen, denn Sie verstehen mich und wissen, daß alles, was ich thue, nur einen Zweck hat. Vor wenigen Tagen war es für uns noch möglich, uns häufig zu sehen. Das schreckliche Unglück, welches über Sie gekommen ist, und bei welchem Niemand innigere oder

280 aufrichtigere Theilnahme empfinden kann als ich, hat es außer unsere Macht gestellt, uns die Hände zu reichen und über die Gegenwart zu weinen, uns in die Augen zu schauen und darin die selige Verheißung künftigen Glückes zu lesen. Uns wie früher allein in der vollen Kirche treffen — nein! Das können wir nicht! Es würde für Sie in dieser Zeit unchrerbietig gegen das Andenken Ihres Vaters erscheinen. Ich würde es meinerseits für nicht ehrenhaft halten. Ging ich nicht zu ihm und machte ihm meinen Antrag? Wurde ich nicht — ich will nicht sagen in beleidigender Weise, aber doch mit Staunen über meine Anmaßung abgewiesen? Soll es nun so aussehen, als machte ich mir seinen Tod — seinen plötzlichen, schrecklichen Tod zu nutze, um eine Bewerbung zu betreiben, der er sich nicht mehr widersetzen kann? Ich fühle, daß es unrecht sein würde. Obgleich ich mich darüber nicht so aussprechen kann, wie ich möchte, weiß ich doch, daß Sie mich verstehen, denn Sie denken wie ich. Wie könnte es anders sein? Sind wir Beide nicht eine untheilbare Seele? Ja, Sie werden mich verstehen. Ja, Sie werden einsehen, daß es recht ist. Deshalb gehe ich, ich werde Rom sofort verlaflen. Ich kann nicht dieselbe Stadt bewohnen, ohne Sie zu sehen. Aber ich kann den Dienst nicht zu einer solchen Zeit der Gefahr aufgeben. Ich gehe also mit den Zouaven nach Viterbo, wohin ich durch die freundliche Vermittelung eines unserer Offiziere commandirt worden bin. Dort werde ich bleiben, bis die Zeit Ihren Schmerz gelindert und Ihrer Mutter die Gesundheit wiedergegeben hat. An sie wollen wir uns wenden, wenn der rechte Augenblick gekommen sein wird. Sie wird gegen unsere Bitten und Thränen nicht unempfindlich sein. Bis dahin leben Sie wohl — ach! das Wort ist minder schrecklich, als es aussieht, denn unsere

281 Seelen werden immer vereint sein! Ich trenne mich von Ihnen nur auf kurze Zeit — nein! Ich trenne mich von Ihren holden Augen, Ihrem Engelsantlitz, Ihren lieben Händen, die ich anbete, aber von Ihnen selbst trenne ich mich nicht. Ich trage Sie in meinem Herzen, das Sie liebt, — Gott weiß es wie innig." Corona las den Bries aufmerksam zu Ende. Bei ihrer größeren Welterfahmng erschien ihr dieser Brief zuerst wie der Vorbote eines entschiedenen Bruches. Aber bei einiger Ueberlcgung dachte sie anders. Was er sagte, war durch­ aus wahr und stimmte genau zu Faustina's Auffassung der Verhältnisse. Das größte Hinderniß für die Verbin­ dung der beiden Liebenden war durch den Tod des Fürsten Montevarchi hinweggeräumt, und es war undenkbar, daß Gouache gerade in dem Augenblicke aufhören sollte, Fau­ stina zu lieben, da sich eine Aussicht auf seine Verheirathung mit ihr darbot. Ueberdies kannte Corona Gouache genau und schätzte seinen Character richtig. Cr war ehrenhaft bis zum Quixotismus und vollständig unfähig, sich eines unrechtmäßig erscheinenden Vortheils zu bedienen. Zn An­ betracht von Faustina's eigenthümlichem Wesen, ihrer er­ staunlichen Geneigtheit, immer dem ersten Impulse zu folgen, und ihrer rührenden Ahnungslosigkeit des Bösen, wäre es für den geliebten Mann ein Leichtes gewesen, sie zur Flucht und zu einer heimlichen Trauung zu überreden. Sie wäre ihm eben so bereitwillig bis ans Ende der Welt gefolgt, wie damals nach der Kaserne Serristori. Gouache war kein unerfahrener Jüngling und verstand ihre Eigenthüm­ lichkeiten besser wie jeder Andere. Indem er sich für den Augenblick entfernte, handelte er zweifellos mit dem größten Zartgefühl, denn sein Fortgehen zeigte sowohl seine Hoch­ achtung gegen Faustina, wie die Hingebung an das Ideal

282 der Ehre, welche der Gmndzug seines Wesens war. Ob­ schon seine Epistel nicht ein Muster des Briefstyls war, enthielt fie doch Worte, die aus dem Herzen kamen. Corona verstand, weshalb Faustina fich darüber freute und weshalb fie so bereit gewesen war, ihre Freundin Gouache's eigne Erklärung seiner Abreise lesen zu lassen, anstatt nutzlose Thränen über seine Abwesenheit zu vergießen. Sie legte den Brief wieder zusammen und reichte ihn dem jungen Mädchen. „Es freut mich, daß er Dir diesen Brief geschrieben hat," sagte sie nach einer kleinen Pause. „Ich habe immer an ihn geglaubt, und jetzt — nun, ich denke, er ist Deiner beinahe würdig, Faustina!" Faustina umarmte Corona und küßte fie immer wieder. „Ich freue mich so, daß Du weißt, wie gut er ist!" rief sie. „Ich könnte nicht glücklich sein, wenn Du ihn nicht gern hättest, und ich weiß, Du thust es!" Den ganzen Bormittag über saßen die Beiden zusam­ men in dem großen Saal und sprachen, wie solche Frauen sprechen können, mit holder Anmuth über Dinge, die nicht wichtig genug sind zum Wiedererzählen, oder wenn sie von wichtigen Dingen sprachen, so wiederholten sie im Wesent­ lichen, was sie bereits gesagt, hatten aber bei jeder Wieder­ holung eine neue Bemerkung zu machen, sich über einen neuen Punkt zu verständigen, wie es bei Freundinnen vor­ kommt, die fich sehr lieb haben. Die Stunden vergingen, und sie waren sich keiner Zeit bewußt. Von den nahen Kirchthürmen schlug es elf, zwölf, ein Uhr, und immer hatten sie sich noch mehr zu sagen und achteten nicht ein Mal auf das laute Glockengeläute. Der Tag war klar, und der Helle Sonnenschein strömte ins Zimmer und kün­ digte die Mittagsstunde mit noch unfehlbarerer Genauig-

283 feit an als die Uhren draußen.

In Ruhe und Frieden

und süßem Gefühlsaustausch saßen die Beiden ungestört den langen Vormittag beisammen.

Sie sprachen und lach­

ten und hielten sich bei der Hand, unbekümmert um die übrige Welt.

Kein Ton drang aus dem übrigen Theil des

Hauses in den stillen sonnenhellen Saal, der nach Faustina's

Ansicht, so lange sie denken konnte, noch nie so freundlich

Und doch gingen innerhalb der Mauern

ausgesehen hatte.

des ungeheuren alten Palastes seltsame Dinge vor, Dinge, von denen es besser war, daß sie sie nicht sahen. Ehe ich die Begebenheiten schildere, welche diesen Theil meiner Geschichte abschließen, mag erwähnt werden, daß

Faustina fürs Erste hier zum letzten Male erscheint.

Von

dem Gesichtspunkt der meisten ihrer Bekannten betrachtet, war ihre Verbindung mit Gouache ein höchst unwahrschein­ liches Ereigniß.

Wenn Jemand eine Entschuldigung dafür

verlangt, daß er über ihr Schicksal in Ungewißheit bleibt,

so kann ich nur antworten, daß

Saracinrsca's und

ich die Geschichte der

nicht anderer Personen schreibe.

In

dieser Geschichte find gewifie Abschnitte, die für den Schrei­ ber selbst natürliche Haltepunkte bilden, und ebenso für

seine etwaigen Leser; und es ist unmöglich die Lebens­ schicksale einer Anzahl von Personen so in Einklang mit einander zu bringen, daß man sie so zu sagen, zu gleicher Zeit aufziehen und dann auch sicher sein kann, daß sie im

selben Augenblick ablaufen werden, wie weiland die Uhren seiner Majestät Karls des Fünften.

Wäre dem so, dann

würde diese Welt eine ganz andere sein.

284 Sechzehntes Kapitel.

Es verlohnt der Mühe, den Vorgang im Studirzimmer zu beschreiben, während der Notar die umfangreichen Documente verlas. An einem Ende des langen grünen Tisches saß San Giacinto allein, selbst im Sitzen überragte seine Gestalt die Andern. Seine Trauerkleidung stimmte zu seinem dunklen mächtigen Kopf. Sein Ausdruck war ruhig und gedankenvoll, er verrieth weder Befriedigung noch Triumph. " Von Zeit zu Zeit wandten sich seine tiefliegen­ den Augen mit fragendem Blick zu Saracinesca, als wolle er sich versichern, daß der Fürst allen Punkten zustimmte und sich auch bewußt wäre, daß jetzt die letzte Gelegenheit für ihn wäre zu sprechen, wenn er überhaupt Einspruch erheben wollte. Am andern Ende des Tisches saßen die beiden Saracinesca's neben einander. Die merkwürdige Aehnlichkeit zwischen ihnen trat gerade jetzt stark hervor; aber wenn auch, abgesehen von der Verschiedenheit im Alter, beinahe Zug für Zug stimmte, war doch der Aus­ druck ihrer Gesichter völlig verschieden. Das graue Haar des alten Mannes und sein spitzer Bart schien sich vor unterdrückter Aufregung zu sträuben. Seine dicken Brauen waren zusammengezogen, als ob er sich mit Gewalt be­ herrschte, und dann und wann sprühte ein Zornesblitz aus seinen Augen. Er saß gerade und hoch aufgerichtet auf seinem Platze, die Hände aber hielt er unter dem Tische, denn er wollte San Giacinto das nervöse Zucken seiner Finger nicht sehen lasten. Giovanni dagegen folgte den Verhandlungen mit augenscheinlicher Gleichgültigkeit. Er sah von Zeit zu Zeit nach der Uhr, unterdrückte ein Gähnen und betrachtete sich seine Nägel mit großer Aufmerksamkeit. Es war klar, daß ihn die Angelegenheit nicht rührte. Es

285 war keine leichte Sache für den alten Edelmann, die Dom-

mente verlesen zu hören, welche ihm einen Titel nach dem andern, seine Güter und sein übriges Vermögen zu Gun­ sten eines Mannes absprachen, der noch jung war, und den er trotz der Blutsverwandtschaft als tiefer stehend an­

Er hatte sich immer für den Vertreter einer älteren

sah.

Generation gehalten,

der kraft seiner Stellung berechtigt

war, auf seinen Sohn die ganze Fülle jener stolzen Tra­ ditionen zu vererben, in denen er wie in seinem natür­

Giovanni dagegen be­

lichen Elemente ausgewachsen war.

saß schon ein gutes Theil von der Gleichgültigkeit, welche die jüngeren Leute des neunzehnten Jahrhunderts aus­ zeichnet.

Er war mit seiner gegenwärtigen Lage ganz zu-

frieden und so lange daran gewöhnt, bei allem, was er im Leben schätzte oder bedurfte,

sich auf seine Persönlichkeit

und sein Privatvermögen zu verlasien, daß er sich nicht die Verantwortlichkeit wünschte, welche schwer aus dem Haupte

einer großen Familie lastet.

Ueberdies hatten die jüngsten

Ereignisse dem Gange seiner Gedanken eine andere Richtung gegeben.

Er sah dieses langwierige Geschäft als eine un­

erträgliche Plage an, die ihn davon zurückhielt, den Vor­

mittag bei seiner Frau zuzubringen. Vor der Mitte des Tisches saßen die beiden Notare,

zu ihren Seiten vier Schreiber,

alle blaffe,

glattrasirte

Leute in schwarzer Kleidung, von verschiedenem Alter, aber

alle mit dem beinahe unverkennbaren Stempel ihres Be­ rufes auf dem Gesicht.

Der Eine, welcher die Documente verlas, trug eine Brille.

Von Zeit zu Zeit schob er sie auf seine hohe Stirn

zurück und sah zuerst San Giacinto, dann den Fürsten Saracinesca an, woraus er die Gläser sorgfältig auf seiner

langen Nase zurechtrückte und weiter las, bis er wieder am

286 Ende einer neuen Reihe von Clauseln angekommen war; dann wiederholte er das Manöver mit mechanischer Regel­ mäßigkeit und verfehlte nie, San Giacinto den Vorzug des ersten Blickes zu geben. So ging das eine lange Zeit mit einer Eintönigkeit fort, die Giovanni beinahe aus dem Zimmer trieb. Nichts als die unerbittliche Nothwendigkeit konnte ihn auf seinem Platz festhalten. Endlich kam das letzte Dokument heran. Es war eine Erklärung der Wiedergabe in einfacher Form abgefaßt, so daß sie in wenig Worten alle vorhergehenden Dokumente in sich begriff. Die Urkunde besagte, daß Leo Saracinesca „frei an Leib und Seele", der Sohn des ver­ storbenen Giovanni Saracinesca, „den Gott in feiner Selig­ keit erhalten möge", alle Güter, Titel und Einkünfte, welche er direkt von Leo Saracinesca, dem elften dieses Namens, „den Gott in seiner Seligkeit erhalten möge", an Giovanni Saracinesca, Marchese di San Giacinto, „frei an Leib und Seele", zurückgäbe, abträte und überließe, an den Sohn des Orsino Saracinesca, neunten dieses Namens, „den Gott" u. s. w. u. s. w. Keine der althergebrachten Wen­ dungen war ausgelassen. Der Notar sah sich um, rückte seine Brille zurecht und las weiter. Die Urkunde besagte ferner, daß der vorerwähnte Giovanni Saracinesca, Mar­ chese di San Giacinto, hiemit den Empfang der besagten Titel, Güter und Einkünfte bescheinigte und erklärte, daß er alles als das volle Erbe annähme und allen weiteren Forderungen an den besagten Leo Saracinesca und dessen Erben auf ewige Zeiten entsage. Noch ein Mal hielt der Vorleser inne, dann las er die letzten Worte mit klarer Stimme: „Beide der edlen Betheiligten versprechen endlich inbezug auf die vorliegende Uebergabe, sie anzuerkennen, für

287 annehmbar, gültig und unumstößlich zu erachten und nicht zu dulden, daß je in anderer Weise davon gesprochen werde." Es folgten noch einige Worte, die den Namen des Notars und die Erklärung enthielten, daß die Urkunde in seiner Gegenwart vollzogen worden wäre, dann folgte das Datum. Als er zu Ende gelesen hatte, stand er auf und drehte das Document auf dem Tische um, so daß die bei­ den Parteien ihm gegenübertreten und es unterzeichnen konnten. Ohne ein Wort verneigte er sich gegen Saracinesca und reichte ihm die Feder. Der alte Herr schob seinen Stuhl zurück und ging erhobenen Hauptes und festen Schrittes daran, durch einen Federstrich dem zu entsagen, was sein Geburtsrecht gewesen war. Von Anfang bis zu Ende hatte er die Berechtigung der Ansprüche seines Vetters anerkannt, und er war nicht der Mann danach, im letzten Augenblicke zu zaudern. Sein Haar sträubte sich mehr denn je und seine dunkeln Augen sprühten Feuer, aber er ergriff die Feder und schrieb seinen Namen in großen kräf­ tigen Zügen eben so deutlich, wie er ihn vor fünfunddreißig Jahren unter seinen Ehecontract geschrieben hatte. Gio­ vanni sah ihm voll Bewunderung zu. Dann trat San Giacinto hinzu, der aus Ehrerbietung gegen den alten Herrn bereits aufgestanden war, und er­ griff ebenfalls die Feder. Er schrieb seinen Namen mit geraden festen Buchstaben wie gewöhnlich, am Ende aber machte die Feder einen breiten schwarzen Strich, als ob der Schreiber den letzten Zug bei einem großen Unter­ nehmen gethan hätte. „Es müssen zwei Zeugen mit unterschreiben", sagte der Notar während der darauffolgenden peinlichen Pause. „Don Giovanni kann der eine sein", setzte er hinzu, indem

288 er ihm mit der gewissenhaften Genauigkeit des Juristen nur den Namen gab, der ihm von jetzt ab zustand. „Einer Ihrer Schreiber kann der andere sein", meinte Saracinesca, dem daran lag, so schnell wie möglich sortzukommen. „Es ist nicht gebräuchlich," versetzte der Notar; „ist sonst Niemand im Palast? Einer der jungen Fürsten wäre trefflich dazu geeignet." „Sie find alle fort", sagte San Giacinto. „Doch halt, da wäre ja der Bibliothekar! Wird er dem Zweck ent­ sprechen? Er muß um diese Stunde in der Bibliothek sein. Ein anständiger Mann, seit dreißig Jahren im Hause. Uebrigens würde auch wohl der Haushofmeister in seinem Bureau sein." „Der Bibliothekar ist der beste", versetzte der Notar. „Ich will ihn gleich holen, ich weiß nach der Biblio­ thek zu finden." San Giacinto verließ das Studirzimmer durch die auf den Gang führende Thür. Die Andern konnten seine schweren Tritte hören, als er rasch über den gefliesten Corridor ging. Der alte Saracinesca ging im Zimmer auf und ab, unfähig seine Ungeduld zu bemeistern. Giovanni setzte sich wieder und wartete, er blieb bis zuletzt gleichgültig. Arnoldo Meschini war in der Bibliothek, wie San Giacinto vermuthet hatte. Er saß auf seinem gewöhnlichen Platz am oberen Ende des Saales, von Büchern und Schreibmaterialien umgeben, mit denen er herumhantirte, ohne sie ernstlich zu gebrauchen. Zum Glück für ihn hatte ihn während der letzten zehn Tage Niemand beachtet. Sein Aussehen war unordentlich und schlumpig, und er war noch mehr zusammengefallen. Seine Augen sahen trüb und glasig aus, während er vor sich aus den Tisch starrte und

289 nahmen einen wilden verstörten Ausdruck an, wenn er beim Aufblicken glaubte, irgend etwas Gräßliches rasch über den Hellen Marmorboden schlüpfen oder über den polirten Tisch auf sich zukriechen zn sehen. Sein früheres Aussehen von Anspruchslosigkeit und schäbiger Respectabilität war gänz­ lich verschwunden. Seine unordentliche Kleidung, sein wirres graues Haar, das ihm unter dem schwarzen Käpp­ chen hervor um die mißgestalteten Ohren hing, sein theils gelbes, theils stark geröthetes Gesicht, das aussah, als würde es von innen versengt, seine ungewaschenen Hände, kurz jede Einzelheit seiner äußeren Erscheinung bekundete seine gänzliche Herabgekommenheit. Aber bis dahin hatte Nie­ mand von ihm Notiz genommen, denn er hatte seine Zeit theils in seiner Dachstube, theils in der einsamen Biblio­ thek, theils beim Apotheker auf der St. Bartholomäusinsel zugebracht. In seinen wachen Stunden war sein Verstand kaum mehr thätig, wenn nicht angeregt durch die Furcht, welche jetzt der geringste Umstand in ihm hervorrief. Bei Nacht hatte er Träume und am Tage Visionen und seine Visionen nahmen gewöhnlich die Gestalt von San Giacinto an. Er hatte ihn in Wirklichkeit nicht wiedergesehen, seit er ihn am Paradebettc des Fürsten getroffen, aber seine Furcht vor ihm war womöglich größer, als wenn er ihm alle Tage begegnet wäre. Der Gedanke, daß der Riese ihm anflanerte, war bei ihm zur fixen Idee geworden, und doch hatte er nicht den Muth zu entfliehen. In Folge des beständigen Trinkens und der ihn lähmenden Furcht war

all seine Thatkraft entwichen. An jenem Morgen war er wie gewöhnlich am Ponte Quattro Capi gewesen und mit dem Schlafmittel in der Tasche zurückgekehrt. Zhm war nur noch der Trieb ge­ blieben, seine Empfindungen in den Tagesstunden durch Gram fort, Sant' Jlaric.

II.

19

290 Trinken zu betäuben, während er die Zeit herbeisehnte, da er sich niederlegen und der kräftigeren Wirkung des Opiums überlassen konnte. So war er denn wie gewöhnlich zurück­ gekommen und hatte aus Macht der Gewohnheit seinen Platz in der Bibliothek eingenommen, denn die Furcht, es könnte aussehen, als vernachlässigte er seine Pflicht, hielt ihn davon zurück, immer auf seinem Zimmer zu bleiben. Wie gewöhnlich hatte er auch die Thür nach dem Gange abgeschlossen, um sich vor der Furcht einer übernatürlichen Heimsuchung zu schützen. Er saß zusammengekauert auf seinem Stuhl, seine langen Arme lagen vor ihm auf den Büchern und Papieren. Plötzlich fuhr er zusammen. Eins, zwei, — eins, zwei — ja, es erschallten Fußtritte im Corridor — sie kamen immer näher, — schwer, wie die des verstorbenen Fürsten, — aber schneller, wie San Giacinto's Schritte — näher und immer näher. Eine Hand drehte ein, zwei Mal am Schloß und schüttelte es dann heftig. Meschini war hilflos. Er konnte weder aufstehen und durch die andere Thür entfliehen, noch seine Tasche finden, wo der Revol­ ver steckte. Wiederum wurde am Schloß gedreht und ge­ rüttelt, und dann hörte er die tiefe, gefürchtete Stimme ihn rufen. „Herr Meschini!" Er schrie laut auf vor Furcht, war aber an allen Gliedern gelähmt. Einen Augenblick darauf übertönte ein fnrchtbares Krachen sein Geschrei. AIs San Giacinto seinen Angstschrei hörte, dachte er, es wäre ihm etwas zugestoßen. Er trat einen Schritt zurück und warf sich dann mit einem Sprunge mit seiner Riesenkraft gegen die Stelle, wo die Thürflügel zusammenstießen. Das Schloß zerbrach, die Panele krachten unter dem ungeheuren Druck, und die Thür

291 sprang auf.

In einem Augenblick stand San Giacinto

neben dem Bibliothekar und suchte ihn vom Tische fort und aus seinem Lehnstuhl zu ziehen. Er dachte, der Mensch hätte Krämpfe. In Wirklichkeit war er vor Schreck und Angst von Sinnen. „Einen leichten Tod, um Gotteswillen!" stöhnte der Elende, und wand sich unter den eisernen Händen, die ihn bei den Schultern hielten. „Um Gotteswillen! Ich will Ihnen alles sagen — oh, oh, martern Sie mich nicht, — nur leicht und schnell — ja, ich sage es Ihnen ja, ich habe den Fürsten umgebracht, — oh, Gnade, Gnade, nm Christi

willen!" San Giacinto packte ihn fester, und sein Gesicht wurde erdfahl. Er hob Meschini vom Stuhl und stellte ihn gegen den Tisch, so hielt er ihn auf Armeslänge vor sich; seine tiefliegenden Augen funkelten in einer Wuth, die bald un­ bezähmbar werden sollte. Meschini's von Natur starke Constitution gewährte ihm nicht die Wohlthat einer Ohn­

macht. „Sie haben ihn umgebracht — warum?" fragte San Giacinto mit zusammengebissenen Zähnen, kaum im Stande zu sprechen. „Für Sie, für Sie — oh Gnade, Gnade" — „Still!" schrie der Riese mit einer Stimme, bei der das Gewölbe des Saales erbebte. „Antworten Sie mir, oder ich reiße Ihnen mit den Händen den Kops ab! Weshalb sagen Sie, daß Sie ihn für mich um­

brachten?" Meschini zitterte am ganzen Leibe, und dann wurde sein verzerrtes Gesicht allmälig ruhig. Er hatte den Zu­ stand erreicht, welchen man den Somnambulismus der Furcht nennen kann. Der Schweiß bedeckte in einem Augen19'

292 blick seinen ganzen Körper, und seine Stimme sank zu deut­ lichem Geflüster herab. „Er Uetz von mir die Documente fälschen und wollte mich nicht dafür bezahlen. Da erwürgte ich ihn." „Was für Documente?" „Die Documente, welche Sie zum Fürsten Saracinesca gemacht haben. Wenn Sie mir nicht glauben, gehen Sie auf mein Zimmer. Hier ist der Schlüssel, in meiner rechten Tasche." Er konnte sich kaum rühren. San Giacinto hielt ihn fest und beobachtete jede seiner Bewegungen. Sein eigenes Gesicht war todtenblaß, und seine Lippen waren fest zusammengepreßt. „Sie fälschten sie ganz und gar, und die Originale sind unberührt?" fragte er und packte ihn unwillkürlich fester, so daß Meschini vor Schmerz kreischte. „Ja!" schrie er. „O, foltern Sie mich nicht — einen leichten Tod" — „Kommen Sie mit", sagte San Giacinto, indem er seine Arme losließ und ihn beim Kragen ergriff. Dann schleppte er ihn fort und schob ihn nach der geborstenen Thür des Corridors zu. Auf der Schwelle zuckte und wand sich Meschini und wollte zurück, aber er konnte eben so wenig aus diesen Händen los, wie ein Lamm aus den Krallen eines Adlers, die sich ihm tief ins Fleisch geschla­

gen haben. „Vorwärts!" trieb ihn der starke Mann in wüthendem Tone fort. „Durch diesen Gang kamen Sie um ihn zu todten. — Sie kennen den Weg." Mit einem Ruck der rechten Hand warf er den heulen­ den Elenden in den Corridor. Auf dem ganzen Wege durch den engen Gang erschallten Meschini's flehende Rufe

293 um Gnade laut und durchdringend, aber Niemand hörte ihn. Die Mauern waren dick und die Entfernung von den bewohnten Gemächern beträchtlich. Endlich aber er­ reichte das Geschrei das Studirzimmer. Saracinesca blieb stehen. Giovanni sprang auf. Die Notare blieben aus ihren Plätzen sitzen und zitterten. Der Lärm kam immer näher und plötzlich ging die Thür auf. San Giacinto schleppte die formlose Maffe des jam­ mervollen Geschöpfes hinein und warf sie über das halbe Zimmer, so daß der Elende vor den Füßen des alten Für­ sten zusammensank. „Hier ist der Zeuge für die Docnmente", schrie er wüthend. „Er hat sie gefälscht, und er soll sie in der Hölle beglaubigen! Er hat seinen Herrn in diesem Zimmer um­ gebracht, und hier soll er die Wahrheit bekennen, ehe er stirbt. Gestehe, Du Hund! und mach's schnell, sonst werde ich Dir helfen!" Er stieß das am Boden liegende Geschöpf mit dem Fuß. Mcschini wälzte sich hin und her und verbarg sein Gesicht auf dem Fußboden. Da ergriffen ihn wieder die riesigen Hände und stellten ihn auf die Füße und hielten ihn mit dem Gesicht den acht Männern entgegen, die alle aufgestanden waren und ihn mit schweigender Verwunde­ rung ansahen. „Sprich!" schrie San Giacinto dem Mcschini ins Ohr. „Du bist noch nicht todt! Du hast noch viel durchzumachen, hoffe ich-" Wiederum lief ein Zittern durch die Glieder des Un­ glückseligen, und er wurde ruhig und fügsam. Es war ja alles so, wie er es in seinen schrecklichen Träumen und Visionen gesehen hatte, das geheime Gemach, die strengen Richter, ganz schwarz gekleidet, die grausame Stärke des

294 San Giacinto, bereit ihn zu foltern. Der Schatten des Todes trat ihm vor die Augen. „Lassen Sie mich sitzen", sagte er mit gebrochener Stimme. San Giacinto führte ihn zu einem Stuhl in der Mitte des Zimmers. Dann stellte er sich vor die eine Thür und winkte seinem Vetter, die andere zu bewachen. Aber Ar­ naldo Meschini hatte keine Hoffnung mehr zu entfliehen. Seine Stunde war gekommen, und er wußte es. „Sie haben die Documente gefälscht, welche uns vor Gericht als die Originale vorgelegt wurden. Gestehen Sie das vor diesen Herren!" San Giacinto war der

Sprecher. „Der Fürst bewog mich dazu", antwortete Meschini leise. „Er versprach mir zwanzigtausend Scudi für die

Arbeit." „Wann sollten sie bezahlt werden — wann? Sagen Sie alles!" „Sie sollten mir baar bezahlt werden an dem Tage, wo das Urtheil gefällt wurde." „Sie kamen hieher um Ihr Geld zu fordern?" „Zch kam hieher. Er leugnete, mir etwas Bestimmtes versprochen zu haben. Ich wurde wüthend. Ich tödtete ihn." Ein heftiger Schauder schüttelte ihn von Kopf bis Fuß. „Sie erdrosselten ihn mit einem Taschentuch?" „Es gehörte Donna Faustina?" „Der Fürst warf es auf den Boden, nachdem er sie geschlagen hatte. Ich sah den Streit mit an. Ich wartete auf mein Geld. Ich beobachtete sie durch die Thür." „Sie wissen, daß Sie sterben müssen. Wo sind die

295 Documente, welche Sie entwendeten, um die andern zu fälschen. „Ich habe es Ihnen ja schon gesagt — im Schrank in meinem Zimmer. Hier ist der Schlüssel. Nur — um Gotteswillen" — Er brach wieder zusammen. Vielleicht fühlte er, in Folge der in letzter Zeit angenommenen Gewohnheit, sogar in diesem äußersten Augenblick das Bedürfniß zu trinken, denn seine Hand tastete nach der Rocktasche; statt der Flasche bekam er den kalten stählernen Lauf des Revolvers zu fassen, den er ganz vergessen hatte. San Giacinto sah den Notar an. „Ist dieses ein ausreichendes Geständniß? Genügt es, um diesen Menschen vor Gericht zu stellen?" fragte er. Aber ehe der Notar antworten konnte, ertönte Meschini's Stimme durch das Zimmer, nicht schwach und gebrochen, sondern laut und klar. „Ja, es ist! es ist!" rief er in plötzlicher furchtbarer Aufregung. „Ich habe alles gesagt. Die Documente wer­ den für sich sprechen. Ach! Sie hätten besser gethan, mich bei meinen Büchern zu lassen!" Er wendete sich an San Giacinto: „Sie werden niemals Fürst Saracinesca wer­ den. Aber ich werde Ihnen doch entgehen. Sie sollen mich nicht langsam zu Tode martern, Sie sollen's nicht —

sag' ich"-------San Giacinto trat ihm einen Schritt näher. Die Nähe des Mannes, der ihm so entsetzliche Furcht eingeflößt hatte, machte allem Zaudern ein Ende. „Sie sollen's nicht!" kreischte er, „aber mein Blut komme über Ihr Haupt! — Ach!" Drei Mal in rascher Folge erschütterte ein lauter Knall die Luft, und alles, was von Arnoldo Meschini

296 übrig war, lag als formloser Haufen am Boden. Während man bis zwanzig zählen konnte, herrschte im Zimmer tiefe Stille. Dann trat San Giacinto vor und beugte sich über den Körper, während die Notare nebst ihren Schreibern sich in eine Ecke drückten. Saracinesca und Giovanni standen ernst und schweigend neben einander, wie tapfere Männer, wenn sie etwas Gräßliches mitangesehen haben und nichts dabei thun können. Meschini war todt. Als San Gia­ cinto sich der Thatsache vergewiffert hatte, blickte er auf. Der wilde Zorn war gänzlich aus seinem Gesichte ver­ schwunden. „Er ist todt", sagte er ruhig. „Sie haben es alle mitangesehen. Sie werden darüber in einer halben Stunde Zeugniß abzulegcn haben, wenn die Polizei kommt. Sei so gütig, die Thür aufzumachen." Er nahm den Leichnam behutsam auf die Arme, aber mit einer Leichtigkeit, die alle in Erstaunen setzte. Gio­ vanni hielt die Thür offen, und San Giacinto legte seine Last sanft aus die Fliesen im Corridor. Dann kam er ins Zimmer zurück. Die Thür des Studirzimmers schloß sich für immer hinter Arnoldo Meschini. Während der darauf folgenden Todtenstille trat San Giacinto an den Tisch, auf dem das Actenstück lag, wel­ ches noch auf die Unterschrift der Zeugen harrte. Er nahm es in die Hand und wendete sich an Saracinesca. Es war für ihn nicht nöthig, sich von dem Verdacht einer Mitschuld an dem abscheulichen Betrüge zu reinigen, den Montevarchi kurz vor seinem Tode ins Werk gesetzt hatte. Keinem der Anwesenden fiel es ein, gegen ihn Argwohn zu hegen. Selbst wenn sie es gethan hätten, so war es doch klar, daß er nicht Meschini herbeigeschleppt haben würde, um in ihrer Gegenwart einen Betrug einzugestehen, an dem er selbst

297 betheiligt war. Allein seine redlichen Augen sprachen be­ redter für seine Unschuld, als Zeugniffe oder Beweise es gekonnt hätten. Er hielt dem Fürsten Saracinesca das Document hin. „Willst Du es zur Erinnerung aufbewahren?" fragte er. „Oder soll ich es in Deiner Gegenwart ver­ nichten?" Seine Stimme zitterte nicht; sein Gesicht war nicht verstört. Giovanni, der hochherzige Edelmann, fragte sich, ob er einen solchen Schlag so gefaßt ertragen haben würde, wie dieser sein Vetter, der ehemalige Gastwirth. Hoff­ nungen, wie sie nur Wenige je hegen können, waren plötz­ lich vernichtet. Eine Zukunst reich an Macht, Vermögen und beinahe der höchsten Ehren, welche sein Vaterland einem Manne verleihen konnte, war in einem Augenblick vor seinen Augen zertrümmert worden. Träume, welche dem Gleichgültigsten die Aussicht aus die höchste Befrie­ digung eröffnen würden, waren binnen zehn Minuten in nichts verschwunden, gerade in dem Augenblick, da sie ver­ wirklicht werden sollten. Und doch — derselbe Mann, welcher diese Hoffnungen gehegt, welcher sich auf eine Zukunft gefreut hatte, dessen Seele oft in den Visionen, die schon Wirklichkeiten werden wollten, geschwelgt haben mußte, dieser selbe Mann stand vor ihnen, äußerlich voll­ kommen gefaßt, und machte seinem Vetter den Vor­ schlag, das Blatt als eine Erinnerung aufzubewahren, welches von seiner eigenen furchtbaren Enttäuschung Kunde gab. Eigentlich war er von allen Anwesenden der ruhigste. „Soll ich es zerreißen?" fragte er nochmals und hielt das Document zwischen den Fingern. Da nahm der alte Fürst das Wort.

298 „Mache damit was Du willst", antwortete er. „Aber reiche mir die Hand. Du bist tapferer als ich." Die beiden Männer sahen einander an, als sie sich die Hand reichten. „Es soll nicht die letzte Verhandlung zwischen uns sein", sagte Saracinesca. „Es soll bald eine andere statt­ finden. Was auch die Wahrheit sein mag, das Werk jenes Schurken betreffend, Du sollst Deinen Antheil

haben." — „Vor wenigen Stunden wolltest Du den Deinen nicht annehmen", antwortete San Giacinto ruhig. „Muß ich Deine eigenen Worte wiederholen?" „Nun, nun — wir wollen das noch besprechen. Dies war ein schrecklicher Vormittag, und wir haben noch an­ dere Dinge zu thun, ehe wir wieder an unsere Geschäfte gehen können. Die Leiche jenes armen Mannes liegt vor der Thür. Wir wollen zuerst diese Angelegenheit be­ denken und nach der Polizei schicken. Giovanni, mein Junge, willst Du es Corona sagen? Ich glaube, sie ist noch hier im Hause." Giovanni brauchte dazu nicht getrieben zu werden. Er ging in das Empfangszimmer, wo Corona noch neben Faustina auf dem Sopha saß. Sein Gesicht muß sehr bleich ausgesehen haben, denn Corona erschrak, als sie ihn ansah. „Ist etwas vorgefallen?" fragte sie. „Ja, etwas höchst Unangenehmes ist vorgefallen", antwortete er und sah Faustina an. „Meschini, der Biblio­ thekar, ist ganz plötzlich in dem Studirzimmer gestorben, wo wir alle waren." „Meschini?" rief Faustina erstaunt und mit einer ge­ wissen Aengstlichkeit,

299 „Ja. Sind Sie nervös, Donna Faustina? Oder darf ich Ihnen etwas ganz Gräßliches erzählen?" Es war

gefragt wie ein Mann. „Sa, ja — was ist es?" fragte sie schnell. „Meschini gestand in unser aller Gegenwart, er wäre die Veranlaffung — mit einem Wort, er gestand, daß er Ihren Vater ermordet hätte. Ehe ihn Jemand daran hin­ dern konnte, erschoß er sich. Es ist furchtbar!" Mit einem leisen Schrei, in dem mehr Verwunde­ rung als Entsetzen lag, sank Faustina auf einen Stuhl. Ueber dem brennenden Wunsch, seiner Frau die ganze Wahrheit sofort zu erzählen, vergaß Giovanni alsbald das junge Mädchen. Sobald er aber von neuem zu sprechen begann, führte Corona ihn fort in die Fenster­ nische, wo sie vor wenigen Stunden zusammen gestanden hatten. „Corona, — was ich ihr gesagt habe, ist noch nicht Alles. Es steckt noch mehr dahinter. Meschini hatte die Documente gefälscht, durch welche San Giacinto Anspruch auf das Erbe erhielt. Montevarchi hatte ihm zwanzig­ tausend Scudi für das Geschäft versprochen. Weil er ihm das Geld nicht auszahlen wollte, brachte Meschini ihn um. Verstehst Du es?" „Ihr werdet also doch alles behalten?" „Alles, — aber wir müssen San Giacinto etwas ab­ geben. Er hat sich wie ein Held benommen. Er hat es alles herausbekommen und Meschini zum Geständniß ge­ bracht. Als er die Wahrheit erfuhr, zuckte ihm kein Mus­ kel im Gesicht, sondern er bot meinem Vater das Actenstück, welches dieser eben unterschrieben hatte, als ein An­ denken an den Vorfall an."

„Dann wird er auch eben so wenig etwas annehmen

300 wie Du und Dein Vater. Ist es ganz sicher, Giovanni? Ist kein Irrthum möglich?" „Nein; es ist absolut sicher. Die Originaldocumente sind hier im Hause." „Dann freue ich mich für Dich, Geliebter," ver­ setzte Corona. „Es wäre für Dich sehr schwer gewesen zu ertragen." — „Nach diesem Morgen? Nach dem neulichen Abend im Sant' Uffizio?" fragte Giovanni und sah ihr tief in die herrlichen Augen. „Kann irgend etwas schwer zu tragen sein, wenn Du mich liebst, mein Herz?" „O mein Geliebter! Das wollte ich von Dir hören!" Ihr Haupt sank auf seine Schulter, als hätte sie nun die vollkommene Ruhe gefunden, nach der sie sich einst so ge­ sehnt hatte. Hier endet der zweite Act der Familiengeschichte der Saracinesca's. Ihre Schicksale weiter zu erzählen, hieße auf eine ganz verschiedene Reihe von Begebenheiten ein­ gehen, die an sich vielleicht minder ungewöhnlich, aber möglicherweise doch der Beschreibung werth sind, da sie jene Periode in sich begreifen, während welcher Rom und die Römer anfingen, sich umzugestalten und modern zu werden. Bei den nachfolgenden Ereignissen, den politi­ schen sowohl wie den sozialen, spielten die Saracinesca's eine Rolle, sowohl in dem Strudel glänzender Gesellig­ keit, der sich aus verschiedenen Gründen im Winter des Oekumenischen Concils entwickelte, wie bei dem Zusam­ menbruch der weltlichen Macht des Papstthums, in der sozialen Verwirrung, welche auf diese längst vorauszu­ sehende Katastrophe folgte, und welche mit schnellen Schrit­ ten zu dem jetzigen Stand der Dinge führte. Wenn es Leser giebt, die noch Jntereffe für Corona und Giovanni



301



empfinden, so kann der Erzähler seine Aufgabe noch ein

Mal

aufnehmen

und

ihre

Erlebnisse

seit

jenem

würdigen Vormittag im Palaste Montevarchi

nach berichten.

denk­

der Reihe

Sie selbst sind Thatsachen und gehören

als solche zu dem Jahrhundert,

in welchem wir leben;

ob fie interessante Thatsachen find oder nicht, das mögen Andere beurtheilen, und wenn das Urtheil fie für platt,

überflüssig, oder wohl gar für langweilig erklärt, so ist das nicht ihre Schuld; der Tadel trifft den, welchem, obschon

er sie gut kennt, der redliche Versuch, fie zu schildern wie sie sind, mißlungen ist.