Einbürgern und Ausschließen: Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland 9783666351655, 9783647351650, 3525351658, 9783525351659

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Einbürgern und Ausschließen: Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland
 9783666351655, 9783647351650, 3525351658, 9783525351659

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 150

V&R © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 150 Dieter Gosewinkel Einbürgern und Ausschließen

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Einbürgern und Ausschließen Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland

von

Dieter Gosewinkel

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Umschlagabbildung: Felix Nussbaum, »Selbstbildnis mit Judenpaß«, nach August 1943 Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück mit der Sammlung der Niedersächsischen Sparkassenstifung © VG Bild-Kunst, Bonn 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gosewinkel, Dieter: Einbürgern und Ausschließen: die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland/von Dieter Gosewinkel. Göttingen : Vandcnhoeck und Ruprecht, 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 150) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr. ISBN 3-525-35165-8 Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2001, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Inhalt Vorwort

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Einleitung

11

I. Vornationale Staatsangehörigkeit im Staatenbund

27

1. 2. 3. 4.

Deutscher Bund und zwischenstaatliche Verträge Die Staatsbürgerschaft in Österreich Staatsbürgerschaft und Gemeindezugehörigkeit in Süddeutschland Späte Staatsbildung in Sachsen

II. Staatliche Integration und soziale Kontrolle: Das preußische Untertanengesetz von 1842 1. Voraussetzungen: Staatliche Integration und gesellschaftliche Mobilität 2. Die Entstehung eines Gesetzesmodells III. Die deutsche Staatsangehörigkeit in der Revolution von 1848

27 33 41 60

67 67 81 102

1. »Deutscher« und »Deutschland«: Grundbestimmungen 109 2. Das deutsche Reichsbürgerrecht: partikularistische Brechungen . 120 3. Grenzfälle der deutschen Staatsbürgerschaft 128 IV Die Entwicklung zum Nationalstaat (1849-1871) 1. Konvergenz der Staatsangehörigkeitsregelungen: Preußen als Leitbild 2. Tendenzen der Zentralisierung auf der Bundesebene 3. Kodifikation im entstehenden Nationalstaat (1866-1871)

136 136 149 162

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V.

Die Praxis der Staatsangehörigkeit im nationalen Machtstaat: Das Deutsche Kaiserreich (1871-1914) 1. 2. 3. 4.

Migration und Staatsangehörigkeit Optionen: Elsaß-Lothringen und Nordschleswig Die polnische Minderheit: Staatsbürger zweiter Klasse Nicht-Deutsche im deutschen Nationalstaat: Die Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Staatsbürgerschaft 5. Das Einbürgerungsverfahren: Institutionen und Statistik 6. Die Praxis der Einbürgerung 7. Die Konturierung des Nationalstaats durch Fernhaltung: Polen und Juden

VI. Die Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats: Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 1. 2. 3. 4.

Die Reform: Initiativen und Gegenkräfte Die Staatsangehörigkeit der Frauen im ›männlichen Staat‹ ›Männlicher Staat‹ oder ›Rassestaat‹ in den Kolonien? »Keine Volksgemeinschaft ohne Wehrgemeinschaft«: Das Gesetz von 1913

VII. Die Volkstumsprägung der Staatsangehörigkeit im besiegten Nationalstaat. Erster Weltkrieg und Weimarer Republik 1. Nation und ›Wehrgemeinschaft‹ im Krieg 2. Deutsche - Minderheiten - Volkszugehörige 3. Inklusion und Exklusion in der Demokratie: Reformen der Staatsbürgerschaft und ihre Grenzen 4. Primat der ›Deutschstämmigkeit‹: die Einbürgerungspolitik .... VIII. Volk und Rasse: Deutsche Staatsangehörigkeit unter nationalsozialistischer Herrschaft 1. Radikale Eingriffe in das Staatsangehörigkeitssystem 2. Die Staatsangehörigkeit im Rassestaat: Die Nürnberger Gesetze von 1935 3. Die Fragmentierung der Staatsbürgerschaft im ›völkischen‹ Staat (1935-1939) 4. Die Auflösung der Staatsangehörigkeit im Rassekrieg (1939-1945) 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

177 178 191 211 218 233 246 263

278 278 294 303 310

328 330 338 345 353

369 369 383 393 404

Schluß

421

Abkürzungen und Siglen

434

Quellen- und Literaturverzeichnis

435

Register

462

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Vorwort Staatenlose waren für Hannah Arendt das »traurigste Produkt der europäischen Bürgerkriege und das deutlichste Zeichen für die Zerrüttung der Nationalstaaten.« Sie zeigte, daß weder das 18. noch das 19. Jahrhundert Menschen kannte, die, obgleich sie »in zivilisierten Ländern« lebten, sich in einer »Situation absoluter Recht- und Schutzlosigkeit« befanden (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 578). Blickt man auf den Paß, den der Maler Felix Nussbaum in der Hand hält, porträtiert er sich in seinem »Selbstbildnis mit Judenpaß« von 1943 als Staatenlosen. Für Felix Nussbaum wie für Hunderttausende anderer Deutscher löste sich Schutz in Diskriminierung auf Deutscher Staatsbürger zu sein bot keinen Schutz mehr vor Ausschluß. Damit verlor die deutsche Staatsangehörigkeit ihre elementare Polarität, die sie vom Beginn des 19. Jahrhunderts an gekennzeichnet hatte: die Unterscheidung und das Gegenüber von Staatsbürger und Nicht-Staatsbürger, von Einbürgerung und Ausschluß. In dieser Studie geht es um die Geschichte eben dieser Polarität: die Herausbildung, Festigung und wachsende politisch-soziale Bedeutung des Unterschieds zwischen staatlicher Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. Scheint an der Wende zum 21. Jahrhundert die Staatsangehörigkeit an Bedeutung zu verlieren, galt ein Jahrhundert zuvor das Gegenteil. Viele derer, die als Deutsche geboren oder erst durch ein aufwendiges Verfahren eingebürgert wurden, empfanden dies als Besonderheit, vielleicht sogar als Auszeichnung. Sie knüpften daran ihre nationale Ehre, sahen auf ihre Vorrechte gegenüber Ausländern, beanspruchten staatlichen Schutz und erhielten ihn - bis diese Gewißheiten im zweiten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ungewiß wurden. Diese Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich im Dezember 1999 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht habe. Sie entstand in einer Stadt, in der die Risse der Geschichte schärfer hervortreten als an anderen Orten in Deutschland. In Berlin lassen sich die historischen Spuren eines Einwanderungslandes mit Händen greifen. Hier fand ich neben reichhaltigem Quellenmaterial geistige Anregungen in Fülle, ohne die einem wissenschaftlichen Vorhaben der Atem ausginge. Sehr danken will ich zuerst Arnulf Baring, der mich davon überzeugte, nach Berlin zu kommen, und mich bestärkte, meinen eigenen Kräften zu trauen. Jürgen Kocka hat meine Arbeit an dem Thema von Beginn an mit großer Aufgeschlossenheit und stetem Interesse gefördert. Ihm 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

danke ich ebenso wie Hans-Ulrich Wehler, Helmut Berding und Hans-Peter Ulimann für hilfreiche Anmerkungen und die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft. Ralph Jessen und Angelika Schaser haben die Arbeit vom Beginn bis zur Buchgestaltung in allem begleitet und sich der Mühe eingehender Korrekturen unterzogen. Ihre freundschaftliche Hilfe ist kaum zu wägen. Auch meinem Vater danke ich sehr. Nach seiner genauen Durchsicht des Manuskripts riskiere ich gern, als Autor für alle Fehler zu haften. Auf je eigene Weise, in der Nähe und aus der Ferne haben Johannes Bähr, Jochen Bußmann, Christoph Conrad, Nina Dethloff, Christoph Enders, Christiane Frig, Martina Kessel, Alfred Künschner, Johannes Masing, Annette Rosskopf und Jochen Wieland über lange Jahre zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Sonja Roth hat für den Schlußakkord die richtigen Töne gefunden. Für sorgfältige Recherchen danke ich Dominik Nagl, für die Betreuung der Drucklegung Ulrich Dietenberger und Dörte Rohwedder. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft gebührt schließlich Dank für die Finanzierung der Schreibphase und der Drucklegung der Arbeit. Eine Arbeit wie diese lebt von der wissenschaftlichen Einsamkeit, mindestens ebenso aber von den freundschaftlichen Bindungen des Autors. Den Freunden Clemens Picht und Christel Zahlmann kann ich nicht mehr danken. Ihr Tod im Oktober 1994 brach unsere gemeinsamen Gespräche und Arbeiten ab. Ihrem Andenken widme ich dieses Buch. Berlin, im Juli 2001

Dieter Gosewinkel

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Einleitung Die Staatsangehörigkeit entstand mit dem modernen Staat. Sie bestimmte das Staatsvolk und kennzeichnete den historischen Übergang vom Territorialzum Personenverbandsstaat. Mit dem Ausbau und der Konzentration staatlicher Herrschaftsgewalt im Übergang zur Moderne wuchs die Bedeutung der Staatsangehörigkeit für den einzelnen. Sie vermittelte fundamentale Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat bis hin zu den existentiellen Bereichen der Daseinsvorsorge und Wehrpflicht. Mit der Demokratisierung staatlicher Herrschaft eröffnete die Staatsangehörigkeit wachsende politische Partizipationschancen der Staatsbürger. In den verschärften nationalen Auseinandersetzungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde sie zur Institution des Nationalstaats. Im Verfahren der Einbürgerung legte dieser grundlegende Maßstäbe und Grenzen seines Selbstverständnisses offen. Mit der Aufnahme in den Staat entschied sich auch die Aufnahme in die Nation. Staatsangehörigkeit und Einbürgerungspolitik wurden zum Austragungsort nationaler Abgrenzungskämpfe. Demokratisierung, soziale Expansion und Nationalisierung sind auch in Deutschland zentrale Vorgänge der Ausformung staatlicher Herrschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Staatsangehörigkeit bildet alle drei Vorgänge ab; im Prozeß der Nationalisierung staatlicher Herrschaft stellt sie eine Schlüsselinstitution dar. Die folgende Untersuchung wird daher den historischen Entwicklungsgang der Staatsangehörigkeitsregelungen und der Einbürgerungspolitik in Deutschland in ihrem Zusammenhang mit der Herausbildung, Entfaltung und Krise des deutschen Nationalstaats analysieren. Anhand der Staatsangehörigkeit wird der Prozeß des Nation-building in Deutschland, seine Entwicklungsschritte und Brüche, untersucht. Ausgangspunkt ist die Staatsangehörigkeit als eine rechtliche Institution. Doch geht es um mehr als rechtliche Institutionengeschichte. Hervortreten soll der Bedeutungs- und Funktionswandel der Institution in den Phasen der Nationalstaatsentwicklung. Es geht um die Praxis der Einbürgerungspolitik, die von einer politisch-administrativen Elite mit weitreichenden sozialen Folgen gestaltet wird. Durch die Politik der Staatsangehörigkeit und Einbürgerung werden Grundmuster nationaler Identität ausgeprägt und institutionell verfestigt. Die historischen Strukturen der Staatsangehörigkeit als prägender Teil der «politischen Kultur«1 des deutschen Nationalstaats sollen hervortreten. 1 Verstanden als ein historisch geformtes System »kollektiver Werthaltungen«, die »u. a. im

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Zentraler Gegenstand der Untersuchung ist nicht die Geschichte der »Staatsbürgerschaft« (citizenship),2 d. h. der inhaltlichen Rechte und Pflichten eines Staatsbürgers. Darum geht es zwar auch. Im Mittelpunkt der Arbeit steht aber ein vorgelagertes Problem: der Zugang zum Nationalstaat und dessen Abgrenzung nach außen. Diese wird durch eine rechtliche Institution definiert und geregelt, für die die deutsche Sprache - im Unterschied zum Englischen und Französischen - den präzisen Ausdruck »Staatsangehörigkeit« kennt.3 Dieser Begriff entstammt der deutschen Rechtssprache des 19. Jahrhunderts. In einer semantischen Überlagerung, die für die Umbruchzeit der politisch-historischen Begriffssprache vom 18. zum 19. Jahrhundert bezeichnend ist,4 überschnitt sich das Wort »Staatsangehöriger« mit den älteren Wortfeldern des »Untertanen« und des »Staatsbürgers« und löste sich schließlich davon ab. Der älteste Begriff und Status, nämlich der des »Untertanen«, zeugte von der hierarchischen Beziehung zwischen Staat und Individuum in Deutschland und blieb an die monarchische Staatsform gebunden. Der Begriff des »Staatsbürgers« prägte sich dagegen erst im politischen Sprachgebrauch des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus. Seiner moralischen, patriotischen und universalistischen Intention nach war er gegen die Ungleichheit der Staatsglieder und gegen die monarchische Regierung gerichtet. Im Unterschied zum französischen Begriff des »citoyen« ging das egalitäre Postulat jedoch nicht einher mit der demokratischen Forderung nach Partizipation bei der Bildung des Staatswillens. Der Begriff »Staatsbürger« verwies zwar auf das Streben nach verfassungsrechtlich gesicherten Rechten. Seine egalisierende Wirkung erschöpfte sich jedoch auch als Rechtsbegriff der frühkonstitutionellen Verfassungen in der formalen Gleichheit der Staatsmitglieder. Diese Verengung des Rechtsbegriffs »Staatsbürger« trug dazu bei, daß er im Verlauf des 19. Jahrhunderts fast vollständig hinter dem des »Staatsangehörigen« zurücktrat. Dieser bezeichnete eine nurmchr formal und rechtlich definierte Mitgliedschaft in einem abstrakten Staat. Seine neutrale juristische Formulierung verband die beiden älteren Begriffe des »Untertanen« und »Staatsbürgers« und formulierte ihren gemeinsamen Kern abstrakt. Er verknüpfte die Gleichheit der Staatsmitglicder in ihrer Unterwerfung unter die Staatsgewalt mit der Gleichheit der Staatsglieder untereinander in ihren Rechten und Pflichten. Fortbestehende Unterschiede im sozialen und rechtlichen Gehalt dieser Rechte blieben dabei ausgeklammert. In seiner begrifflichen Abpolitischcn System erzeugt worden sind oder auf den politischen Prozeß Einfluß nehmen«, d. h. ihm zum Teil auch vorausliegen. Vgl. zur Problematik und historischen Wendung des Begriffs »Politische Kultur« Megerle u. Steinbach, S. 125. 2 Zur Forschung über »citizenship« (Staatsbürgerschaft) und deren Abgrenzung zur Staatsangehörigkeit Goscwinkel, Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, S. 544f. 3 Mit weiteren Nachweisen Gosewinkel, Untertanschaft. 4 S. Stolleis, Untertan, S. 65, 82.

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straktheit verdrängte der Rechtsterminus »Staatsangehörigkeit« jede politische oder gar demokratische Konnotation, die der französische Begriff des »citoyen«, in Anklängen auch der Begriff »Staatsbürger«, enthielt. Mit seiner Präzision, seiner Abstraktion von Rechtsinhalten und der Konzentration auf die ›Außenseite‹ des Staates entsprach der Begriff des Staatsangehörigen den Bedürfnissen des juristischen Positivismus und seines Zeitalters. Er verkörperte formale juristische Begriffsstrenge unter Außerachtlassung der sozialen und politischen Substanz. Wie andere Rechtsbegriffe teilte auch die Staatsangehörigkeit das Dilemma des Positivismus. Der politische Gehalt verschwand nicht, sondern blieb nur verdeckt. Er brach sich in der Interpretation und praktischen Ausfüllung des Begriffs Bahn. So wurde im Zeitalter des Nationalstaats gerade die begriffliche Beschränkung auf die rechtliche ›Außenseite‹ des Nationalstaates zum Einlaßtor für nationalpolitische Debatten. Was der Begriff nicht aussprach, wurde in der staatlichen Praxis zum hochpolitischen Streitpunkt. Die bis hin zur rassischen Segregation reichende Ausschlußwirkung der Staatsangehörigkeit hat neuere Analysen geleitet, die vom Fluchtpunkt des Nationalsozialismus her die Geschichte der deutschen Staatsangehörigkeit als Vorgang fortschreitender Verengung und Exklusion interpretieren. Als handgreifliches Symbol einer Entwicklung struktureller und kontinuierlicher Diskriminierung dient das ausgeprägte Abstammungsprinzip des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, das in Gegensatz zu einem assimilationsfreundlichen Territorialprinzip gestellt wird. Die Geschichte der Staatsangehörigkeit erscheint somit als negativer Traditionsbestand der politischen Kultur in Deutschland. Um die historische Analyse aus der Verengung eines Prinzipienstreits zu lösen, will diese Untersuchung die Perspektive erweitern und vier übergreifende Fragestellungen verfolgen: 1. Die Frage nach den politischen Entwicklungsfaktoren der Staatsangehörigkeit führt zu zwei Problemkreisen: Wo zeigen sich Kontinuität und Wandel in der Entwicklung der Institution Staatsangehörigkeit im Wechsel der politischen Systeme und über die Zäsuren der Jahre 1871, 1918, 1933 und 1945 hinweg ? Inwieweit entfaltet die Institution Staatsangehörigkeit eine binnenhomogenisierendeWirkung d. h. inwieweit trägt sie zur Zentralisierung und Vereinheitlichung der ursprünglich föderativen Grundstruktur des deutschen Nationalstaats bei und stellt damit einen Faktor im Prozeß innerer Integration des «unvollendeten Nationalstaats«5 dar? Zwei in der bisherigen Forschung übersehene bzw. unterschätzte Entwicklungslinien erfordern dabei eine nähere Untersuchung. Die Staatsangehörigkeit in Deutschland entstand föderativ, d. h. in den Gliedstaaten des Deutschen Bundes und des Deutschen Reiches. Ihr Gehalt entwickelte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts - neben innerstaatli5 Schieder, Kaiserreich, S. 95.

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chen Kodifikationen - zunächst aus Verträgen zwischen den Bundesstaaten.6 Eine zentrale Fragestellung der Untersuchung lautet daher: Wie und aufgrund welcher Faktoren vollzog sich vom Ausgangspunkt der föderativen Gliederung Deutschlands und sehr heterogener partikularstaatlicher Bedingungen her eine allmähliche Annäherung und Angleichung der Vorstellung davon, wer ›Deutscher‹ sei, und wie wurde diese in der Praxis der Staatsangehörigkeit und Einbürgerung umgesetzt? Wie zu zeigen sein wird, stellt sich die Entwicklung der Staatsangehörigkeit in Deutschland während des 19. Jahrhunderts als Prozeß der Nationalisierung dar. Zur «Nationalisierung der Massen«7 trug neben nationalen Denkmälern, Mythen, Stereotypen und öffentlichen Feiern auch die unaufdringlich, aber stetig wirkende alltägliche Symbolik standardisierter, massenhaft ausgegebener Urkunden8 über die staatliche Zugehörigkeit bei. Die Staatsangehörigkeit wirkte auch als symbolische Integrationsklammer im Prozeß des Nation-building. Diese Bedeutung wuchs mit dem Ausbau des Paß- und Ausweiswesens im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Ältere Forschungen haben unterschätzt, wie sehr Kriege und äußere Bedrohungen die Konzepte der Nation und die Bildung der Nationalstaaten geformt und verfestigt haben. Diese wachsende Erkenntnis9 müßte sich in besonderem Maße an der Staatsangehörigkeit erweisen, denn die Definition der Zugehörigkeit zum kämpfenden Nationalstaat erhält im Krieg neue, existentielle Wirkung. Damit gewinnt die Staatsangehörigkeit schließlich Bedeutung in einem umfassenderen Zusammenhang. Versucht man der schwierigen und vieldeutigen Problematik der »Identität«10 des deutschen Nationalstaats näherzukommen, bündeln sich in der Staatsangehörigkeit und Einbürgerungspolitik zwei Vorgänge, die diese Identitätsbildung konstituieren: Nach innen vollzieht sich der Abbau der Grenzen partikularer Identitäten der deutschen Staatsvölker. Parallel dazu verstärkt sich dieser Vorgang durch die Wendung nach außen, durch die gemeinsame nationale Abgrenzung gegen andere konkurrierende Nationalstaaten. 2. Unter der Oberfläche rechtlicher Formalisierung birgt, formt und verfestigt die Institution der Staatsangehörigkeit mit staatlich-autoritativer Wirkung Leitbilder der sozialen, nationalen und politischen Selbstdefinition einer staat6 Die föderative Entwicklung wird übergangen bei Brubaker, Citizcnship and Nationhood, der die Bedeutung der Staatsverträge zwar sieht, sie aber nur allgemein (S. 69f.) behandelt; gleichfalls Grawert, S. 136f., der jedoch das Schwergewicht auf die innerstaatliche Gesetzgebung legt; dazu näher Fahrmeir, Gcrman Citizenships. 7 Vgl .dazu Mosse. 8 Zum engen Zusammenhang zwischen Formalisierung und symbolischer Bedeutung am Beispiel des Personalausweises in Frankreich vgl. Noiriel, Tyrannie du National, S. 190. 9 Eingehend dazu Langewiesche, Nationalismus, S. 16-21. 10 Dazu Estel, S. 219f

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lich verfaßten Gemeinschaft. Als deren Gradmesser wird hier die Praxis der Einbürgerung im historischen Wandel interpretiert. Insbesondere im Verhältnis des Staates zur Familie und der Geschlechter zueinander trifft die Staatsangehörigkeit Festlegungen, die in der historischen Forschung noch kaum Beachtung gefunden haben.11 Die Durchsetzung der ›selbständigen‹ Staatsangehörigkeit der Ehefrau ist zunächst Fortsetzung des Kampfes um die allgemeine familienrechtliche Gleichstellung der Frau und darin zugleich eine wichtige Forderung der internationalen Frauenrechtsbewegung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.12 Andererseits scheint diese Forderung- mit der Staatsangehörigkeit insgesamt-einem Prozeß der Nationalisierung zu unterliegen. So werfen Quellenbefunde zur Staatsangehörigkeit neues Licht auf die Frage, inwieweit emanzipatorisches Streben und Nationalbewußtsein nicht nur vereinbar waren, sondern sich vielfach gegenseitig bedingten und verstärkten.13 Das Spannungsverhältnis zwischen beiden politischen Zielsetzungen, so zeichnet es sich ab, ist jedenfalls geringer als bisher angenommen. Neben diesen geschlechtsspezifischen definierten nationale und religiöse Leit- und Abwehrbilder Gehalt und Grenzen der Bereitschaft zur Inklusion. Anhand zweier Minderheiten, die im Zentrum der Einbürgerungspolitik standen, sollen die Konturen der Staatsangehörigkeit nachgezeichnet werden. Beide wurden einerseits in der Zeitspanne zwischen den polnischen Teilungen und dem Abschluß der Emanzipationsgesetzgebung Untertanen bzw. »Staatsbürger« deutscher Staaten. Als Einwanderer und Einbürgerungsbewerber polnischer Nationalität bzw. jüdischer Religionszugehörigkeit bildeten sie jedoch andererseits einen exponierten Gegenstand der deutsch-polnischen Nationalitätenkämpfe und der antisemitischen Abwehrbestrebungen innerhalb des Deutschen Reiches. Inwieweit wirkte die Einbürgerungspolitik als Regulativ, das die Grenzen und Grenzverschiebungen hinsichtlich der Einschlußbereitschaft einer nationalstaatlich verfaßten Gemeinschaft konturierte? 3. Die Staatsangehörigkeit läßt sich soziologisch als Institution des Ein- und Ausschlusses, als Schlüssel zur Verteilung von Lebenschancen14 fassen. Hier soll es um die konkreten Wirkungen dieser Funktion in ihrem historischen Wandel gehen. Analysiert wird daher die Entwicklung der Staatsbürgerschaft, der Rechte und Pflichten des Staatsangehörigen. Dabei ist die Entstehung und Wirkungs11 Die Literatur zur Geschlechtcrgeschichte nimmt überwiegend die Ungleichheit im Hinblick auf die Staatsbürgerschaft (»citizenship«), nicht jedoch in der den Zugang zur Staatsbürgerschaft vermittelnden Staatsangehörigkeit in den Blick, vgl. z. B. Pateman, Equality; allgemein Frevert, »Mann und Weib ...«, S. 61-132; Lister; Kerber, Appelt. Auch das Sammelwerk von Gerhard widmet dem Thema keine Beachtung. - Neuerdings haben Wecker sowie Burger diese Forschungslücke aufgegriffen. 12 Eingehende Bezugnahme darauf im Bundesarchiv, Abt. Berlin-Lichterfelde (BA-L), Reichsministerium des Innern, Nr. 8060, 8061. 13 Problemstellung aufgegriffen bei Chickering , S. 60, 183. 14 Grundlegend Walzer, S. 65, 98-105, 107.

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weise wesentlicher Kodifikationen bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte daraufhin zu untersuchen, inwieweit die Staatsangehörigkeit in ihnen tatsächlich ein positives - d. h. Lebenschancen mehrendes - Zuteilungskriterium bedeutet.15 Erst von daher läßt sich die im Anschluß an Thomas Marshall16 formulierte Frage beantworten: Stellten NichtStaatsangehörige, historisch gesehen, eine Sonderklasse Minderberechtigter neben und unterhalb der allgemeinen, ›national‹ definierten Klassenschichtung dar? Inwieweit setzt demgegenüber die Ausdehnung bestimmter Bereiche bürgerlicher und sozialer Rechte auch auf NichtStaatsangehörige einen Entwicklungsgang fort, in dem Staatsbürgerrechte zur universellen Vereinheitlichung national verschiedener Lebensbedingungen beitragen?17 4. Die Staatsangehörigkeit läßt sich als Ein- und Ausschlußmechanismus einer nationalstaatlich verfaßten Bürgergesellschaft, einer »civil society«,18 begreifen. Damit wendet man ein der europäischen Aufklärung entstammendes normatives Modell, die »civil society«, als Maßstab auf die Geschichte der Moderne an. Bei der Historisierung dieses Modells treten die Verwirklichungsdefizite der sozialtheoretischen - auf universal fortschreitende Vereinheitlichung zu umfassender rechtlicher und sozialer Gleichheit sowie politischer Teilhabe angelegten - Utopie um so schärfer hervor. Die der Staatsangehörigkeit immanente Abschließungswirkung nach außen zeigt die ›externen‹ Kosten der fortschreitenden Binnenhomogenisierung liberaldemokratischer Gesellschaften im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts an. Zwar verzeichnen Forschungen zur jüngsten Vergangenheit19 Tendenzen der Konvergenz historisch gewachsener Bürgergesellschaften. Andere hingegen verweisen auf die historische Bedeutung und Beharrungskraft nationaler Abgrenzungsmuster und -Institutionen in Gestalt von »cultural idioms«.20 In diesem Sinne soll die Analyse der Staatsangehörigkeit dazu beitragen, die historischen Grenzen einer nationalen Bürgergesellschaft genauer zu bestimmen. Es soll gezeigt werden, inwieweit die wachsende politische und soziale Homogenität einer entstehenden Bürgergesellschaft mit ihrer zunehmenden Abschließung nach außen einhergeht.21 15 Zu dieser in der historischen Literatur bisher nicht systematisch erforschten Frage in Ansätzen Friederichsen. 16 Dazu Marshall mit einem wegweisenden historischen Stufcnmodcll der Entwicklung von bürgerlichen über wirtschaftliche zu sozialen Rechten. 17 Schuck, S. 60f, spricht von der »Entwertung« der (amerikanischen) Staatsangehörigkeit. Sie äußert sich in der fortschreitenden Angleichung des Rechtsstatus von Vollbürgern und Ausländern, die sich legal und auf Dauer im Land aufhalten. Die historischen Ursachen und Entwicklungsschritte einer »Entwertung« der Staatsangehörigkeit sind noch zu untersuchen. 18 Dazu programmatisch für die historisch vergleichende Gesellschaftsanalyse Kocka, Bürgergesellschaft. 19 Hollifteid, S. 229f 20 Brubaker, Citizenship and Nationhood, S. 15. 21 Zu diesem Spannungsverhältnis in vergleichender soziologischer Analyse Bös, S. 621-623.

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Die Staatsangehörigkeit als Konstruktion des Staatsrechts hat ihre erste wissenschaftliche Bearbeitung in juristischer Literatur, vor allem in Gesetzeskommentaren, erfahren. Ihrer primär systematischen, teils auch pragmatischpolitischen Zwecksetzung entsprechend erhält diese Literatur in der historisch-wissenschaftlichen Analyse ganz überwiegend den Stellenwert einer Quelle. Ausnahmen stellen einzelne rechtshistorische Arbeiten dar, vor allem die grundlegende verfassungs- und dogmenhistorische Monographie Rolf Grawerts zu «Staat und Staatsangehörigkeit«.22 Sie endet indessen mit dem 19. Jahrhundert. Die politische Geschichte der Staatsangehörigkeit im entstehenden Nationalstaat sowie ihr Funktions- und Bedeutungswandel in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts werden nicht behandelt. Lediglich eine neuere Studie geht ausführlich auf die Geschichte der ethnischen Komponente des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ein, beschränkt sich indessen auf die Basis der Staats- und völkerrechtlichen Literatur.23 In diese Lücke dringt die neuere soziologische Forschung vor. Die Staatsangehörigkeit als Instrument des «Ein- und Ausschlusses« sich voneinander abgrenzender nationaler Gesellschaften,24 ihre Bedeutung für die »Identität«25 eines Nationalstaats im Spannungsfeld zwischen ethnischer und politischer Definition26 einer politischen Gemeinschaft. Alles das wird bisweilen auch in historischer Genese behandelt. Es dominieren indessen strukturelle, oftmals gegenwartsbezogene Fragestellungen. Eine Ausnahme stellt die Forschung von Rogers Brubaker27 dar. Hier wird erstmals die Entstehung der modernen deutschen Staatsangehörigkeit in den Zusammenhangeines spezifischen Nationsbegriffs und Nationalstaats gestellt. Aus seinem historischen Abriß gewinnt Brubaker ein Vergleichsmodell. Er kontrastiert die abstammungsbezogene Staatsangehörigkeit der deutschen ethnisch-kulturellen Nationalstaatskonzeption scharf mit dem assimilationsgeneigten Territorialprinzip der politisch-republikanischen Nationalstaatstradition Frankreichs. Die Stärke des Vergleichs birgt zugleich die Schwäche der historischen Darstellung. Brubakers gegenwartsbezogener Ausgangspunkt - die Erklärung scharf divergierender Einbürgerungsraten und -konzeptionen in Deutschland und Frankreich - verengt die historische Perspektive allzusehr auf die Gegenüberstellung zweier Leitprinzipien des Staatsangehörigkeitserwerbs. Die ethnisch-kulturelle Dominante der deutschen Staatsangehörigkeitskonzeption er22 Grawert. 23 Silagi, Vertreibung, inbes. S. 41-51, 76-130; mit knappen Bemerkungen zur Geschichte auch Ziemske, S. 230-239. 24 Exemplarisch Walzer, S. 98-102. 25 Brubaker, Citizenship and Nationhood, S. 4f.; Eisenstadt. 26 Bös; Takenaka. 27 Brubaker, Citizenship and Nationhood.

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scheint allzu statisch als vorpolitische Konstante. Sie ist indessen in gleichem Maße Ergebnis historisch bedingter, zeitverhafteter politischer Entscheidungen und Interessenkonstellationen.28 Politische Beweggründe hinter der ethnisch-kulturellen Argumentation und Staats- neben abstammungsbezogenen Angehörigkeitselementen treten bei Brubaker zurück. Seine doppelte Beschränkung auf die Ebene des Zentralstaats und dessen Gesetzgebung29 übergeht die föderative Herkunft und Praxis der Staatsangehörigkeit im deutschen Bundesstaat sowie die soziale Wirkung der Einbürgerungspolitik in den Einzelstaaten. Allein die historischen Arbeiten von Andreas Fahrmeir haben bisher dieses Forschungsdefizit aufgegriffen und mit materialreichen Studien zu füllen begonnen.30 Insbesondere dessen Cambridger Dissertation, die einen Vergleich zwischen England und den deutschen Staaten von 1789 bis 1870 unternimmt, stellt eine grundlegende Vorarbeit zu dieser Untersuchung dar. Fahrmeir gelangt mit ähnlichen Fragestellungen - Wer war Deutscher bzw. Ausländer in den deutschen Bundesstaaten? Welchen Unterschied machte dies? - zu dem überzeugenden Ergebnis, daß die Partikularität der deutschen Staatsangehörigkeiten bis hinein in die Zeit der Reichsgründung gegenüber der Vorstellung einer übergreifenden ›deutschen‹ Staatsangehörigkeit überwog. Die Arbeit untersucht die Unterschiede der Einbürgerungspraxis in den Staaten des Deutschen Bundes und die erstmalige Abgrenzung ihrer Staatsangehörigkeiten durch ein Netz heterogener zwischenstaatlicher Verträge. Indem Andreas Fahrmeir die Verschiedenheit der föderativen Praxis zeigt und den Zusammenhang im Fragmentcharakter der Nations- und nationalen Staatsangehörigkeitskonzeption herausarbeitet, tritt er überzogenen Kontinuitätsvorstellungen entgegen. Die Dominanz des national exklusiven Abstammungsprinzips ist nicht ein traditioneller Wesenszug deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, der in das frühe 19. Jahrhundert zurückreicht, sondern das Ergebnis einer im Deutschen Kaiserreich einsetzenden Entwicklung.31 Eben dieser fundamentale Bedeutungswandel der deutschen Staatsangehörigkeit, ihre Nationalisierung, liegt außerhalb des zeitlichen Rahmens, den Fahrmeir behandelt. Diesem begrenzten zeitlichen Horizont entsprechend werden die Vorstufen des Nationalisierungsprozesses, die Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung 1848 und des Norddeutschen Reichstags 1870, nurmehr kursorisch berücksichtigt. Angesichts des weitgespannten Vergleichs mit England bleibt die quellenintensive Darstellung der deutschen Ent28 Vgl. Takenaka, S. 347, 357; vgl. grundsätzlich zur Nation als politischer Bewußtseinsgemeinschaft Böckenförde, Nation. 29 Abgesehen von der Behandlung Preußens. 30 Vgl. Fahrmeir, Citizens; ders., German Citizcnships. 31 Fahrmeir, German Citizcnships, S. 751.

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wicklung eng auf die hessischen Staaten und Bayern begrenzt. Die abnehmende Bedeutung der Staatsverträge und entsprechend zunehmende Bedeutung der innerstaatlichen Gesetzgebung, vor allem Preußens, für die Konstituierung der Staatsangehörigkeit tritt nicht hervor. Schließlich nimmt Fahrmeir das allen Bundesstaaten gemeinsame Problem der ›Grenzgruppen‹ der Staatsangehörigkeit - insbesondere der Juden, zunehmend auch der Polen - nicht systematisch in den Blick. Einige historische Einzelstudien stellen die Kontinuität des Abstammungsprinzips und dessen Dominanz in der Geschichte der deutschen Staatsangehörigkeit in das Zentrum ihrer Interpretation.32 Sie tragen z. T. wichtige, in der bisherigen Literatur nicht berücksichtigte Einzelfragen nach, z. B. die Diskriminierung der Sinti und Roma.33 Insgesamt jedoch gehen sie in ihrer Grundthese nicht über den Ansatz von Rogers Brubaker hinaus bzw. spitzen dessen Kontinuitätsthese zu. Neuere historische Forschungen zur Geschichte der Nation und des Nationalstaats - auch unter dem Aspekt des Nation-building34 - in Deutschland übergehen die konstitutive Bedeutung der Staatsangehörigkeit.35 Historische Studien zur Einbürgerung und Einbürgerungspolitik existieren nur vereinzelt für Minderheiten, insbesondere für die Gruppe der Juden.36 Arbeiten zur Geschichte nationaler Minderheiten in Deutschland während des 19. Jahrhunderts behandeln die Staatsangehörigkeit unter dem Gesichtspunkt von Options- und Minderheitenrechten.37 Studien zur Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland richten den Blick nicht auf die Staatsangehörigkeit, sondern auf deren ökonomisch-soziale Folgewirkungen für die nichtdeutsche Staatsangehörigkeit.38 Sie übergehen auch die Einbürgerungspolitik als Ausschnitt der Einwanderungsproblematik.39 Forschungen über nationale Verbände im Deutschen Kaiserreich tragen dem hohen nationalpolitischen Stellenwert der Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungspolitik40 in der Verbandsprogrammatik nicht Rechnung. Neuere Arbeiten zur Begriffs- und Sozi32 Vgl. W. Mommsen, Nationalität; Turner; Wippermann, Blutrecht; ders., »Ius sanguinis«. 33 S. Wippermann, Blutrecht, S. 22f. 34 Bendix, Nation-building. 35 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866—1918, Bd. II (lediglich knappe Hinweise zum Optantenproblem in Elsaß-Lothringen, S. 282-286); Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (kein Hinweis im Abschnitt über »reichsdeutschen Nationalismus«, S. 938-965), zuletzt aufgegriffen ders., Gefahrdung des Sozialstaats, S. 785. 36 Wertheimer, Unwelcome Strangers, S. 43,54; Maurer, Ostjuden , S. 308f.; Majer, Fremdvölkische. 37 Vgl. z. B. Blatt, S. 5()f. 38 Herbert, Ausländerbeschäftigung ; Dohse. 39 Auch in den wegweisenden Arbeiten von Bade, z. B. im Überblick: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? 40 Zuletzt Peters.

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algeschichte von Bürgertum und Bürgerschaft41 behandeln unter anderem die thematisch angrenzenden Bereiche der Stadtbürgerschaft und der Staatsbürgerschaft. Doch geht es ihnen zuallererst um die rechtlichen, politischen und sozialen Folgewirkungen der Stellung als Stadt- oder Staatsbürger, nicht um die ›Außenseite‹ dieser Stellung, die Bedingungen des Ein- und Ausschlusses in Stadt und Staat. Faßt man die Forschungsergebnisse zusammen, liegen neben wenigen historischen auch rechtswissenschaftliche und soziologische Teilergebnisse zum Thema vor. Es fehlt jedoch eine Geschichte der modernen deutschen Staatsangehörigkeit, die diese als Institution des Nationalstaats und zugleich als Ergebnis konkreter politischer Entscheidungsvorgänge erfaßt. Mit Ausnahme der Arbeiten Andreas Fahrmeirs und lokaler Studien zur Einbürgerung von Juden42 fehlen Untersuchungen, die zur administrativen Praxis der Staatsangehörigkeit und zu ihrer sozialen Wirkung vordringen. Insbesondere aber ist die Staatsangehörigkeit als Faktor des Nation-building im föderativ gegliederten Staatsverbund bisher gänzlich unbeleuchtet geblieben. Weder der Vergleich zwischen den Bundesstaaten noch ihre Beziehungsgeschichte im Blick auf Staatsangehörigkeit und Einbürgerungspolitik haben bisher die nötige Beachtung in der historischen Forschung gefunden. Eine Geschichte der Staatsangehörigkeit und Einbürgerungspolitik muß zu den politischen Entscheidungsvorgängen vordringen, die, zumeist abgeschirmt von der Öffentlichkeit, die Einbürgerungspraxis bestimmten und die Gesetzgebung vorbereiteten. Die Untersuchung stützt sich daher in ihrem Kern auf unveröffentlichte Quellen der Regierungen des Deutschen Reiches und ausgewählter Bundesstaaten im Zeitraum von der Gründung des Deutschen Bundes bis zum Ausgang des Zweiten Weltkriegs. Angesichts dieses Zeitraums und eines Quellenkorpus, der weitgehend das erste Mal ausgewertet wird, konzentriert sich die Studie auf die politische Entscheidungsebene in den Regierungen und Gesetzgebungsorganen. Dabei wird die Einbürgerungspolitik aus Einzelfällen rekonstruiert, die zur Entscheidung der oberen Verwaltungsbehörden gelangten und angesichts der Dichte ihrer Überlieferung die Konfliktlinien und Grundentscheidungen der Verwaltungspraxis in scharfen Umrissen hervortreten lassen. Dadurch treten innerhalb eines administrativen Massenverfahrens die Kriterien der Ein- und Ausgrenzung hervor, welche die Verwal-

41 Vgl. dazu die von Kocka, Lepsius und Koselleck herausgegebenen vier Bände über das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1985-1992; Kocka, Bürgertum im 19. Jahrhundert (nur im Beitrag von Jersch-Wenzel, Bd. 1, Hinweise auf die städtische Einbürgerung von Juden); Puhle; Tenfelde u. Wehler; Meieru.Schreiner, Stadtregiment und Bürgerfreiheit; Koselleck u. Schreiner, Bürgerschaft; Hinweise auf die Bürgeraufnahme und das Verhältnis von »Staatsbürger« und »bürgerlicher Gesellschaft« bei Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit, S. 21 f., 28f). 42 van Rahden, Juden, S. 267-299; Schüler-Springorum, S. 174-185.

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tungsspitze aufgrund von Einzelfallen entwickelte und daraufhin für die Verwaltung insgesamt verbindlich machte. Die Praxis der Staatsangehörigkeitspolitik kristallisiert sich in der Gesetzgebung zu festen institutionellen Formen. Daher wird die regierungsinterne Entscheidungsbildung zu zentralen Gesetzeskodifikationen, insbesondere des preußischen Untertanengesetzes von 1842, des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 und der Nürnberger Rassegesetze von 1935, untersucht. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Aktenüberlieferungen des in Staatsangehörigkeitssachen federführenden Reichsministerium des Inneren, das die Grundsätze der Einbürgerungspolitik festlegte und deren Koordination im Bundesstaat übernahm. Das Auswärtige Amt repräsentierte angesichts drohender diplomatischer Konflikte das außenpolitische Interesse an der Staatsangehörigkeit und bildete mit seinem Netz von Auslandsvertretungen ein Informationszentrum für nationale Stimmungen des Auslandsdeutschtums und dessen Haltung zur deutschen Staatsangehörigkeit. Das Reichsjustizministerium war als gutachterliche Instanz einbezogen, während das Reichskolonialamt im ausgehenden 19. Jahrhundert vor die neuartige Frage gestellt wurde, wie die Staatsangehörigkeit der eingeborenen Bevölkerung in den Kolonien zu beurteilen sei. Da sich die Staatsangehörigkeit in Deutschland aus den Bundesstaaten heraus entwickelte und die Einbürgerungspolitik bis zur Gleichschaltung 1934 in die Hoheit der Länder fiel, wird die Einbürgerungspraxis aus den Akten und Quellenpublikationenen einiger Staaten des Deutschen Bundes und Reiches rekonstruiert. Die Auswahl der Länder richtet sich nach ihrem politischen Gewicht innerhalb des Bundes. Einbezogen werden daher neben Österreich die Königreiche Bayern, Württemberg und Sachsen sowie das Großherzogtum Baden. Der Schwerpunkt liegt indessen auf dem preußischen Staat, und zwar aus mehreren Gründen: Das preußische Untertanengesetz von 1842 diente in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Modell der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung im Deutschen Reich, und die Grundsätze der preußischen Einbürgerungspolitik nach 1871 wurden zur politischen Leitlinie auch für die anderen Bundesstaaten. Hinzu kommt, daß Preußen den weitaus größten Anteil der Einwanderung in das Deutsche Reich verzeichnete, zudem aufgrund seiner geographischen Lage stetige Zuwanderung sowohl aus West- als auch Osteuropa erfuhr. Preußen nimmt also in politischer wie demographischer Hinsicht eine Schlüsselstellung ein. Regierungsinterne Überlieferungen anderer Bundesstaaten werden daneben ausgewertet, soweit ihre Staatsangehörigkeitspolitik gegenüber Preußen eine eigenständige und abweichende Position darstellte wie insbesondere in Bayern und Württemberg zur Zeit der Weimarer Republik. Die gedruckten Gesetzes- und Verwaltungsquellen der Bundesstaaten und des Reiches bilden angesichts eines Zeitraums von beinahe anderthalb Jahrhunderten das Gerüst einer Rekonstruktion der deutschen Staatsangehörigkeit. 21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Hinzu kommen statistische Erhebungen, die nach der Reichseinigung Daten zur Einbürgerung öffentlich zugänglich machten oder auch aus politischen Gründen geheimgehalten wurden. Eine Sonderstellung unter den publizierten Quellen kommt der zeitgenössischen juristischen Literatur zur Staatsangehörigkeit zu. Nach den Anfängen im Partikularrecht der Bundesstaaten nahm sie mit der Reichseinigung und im Zeitalter des juristischen Positivismus erheblichen Aufschwung, differenzierte sich aus und regte rechtspolitische Debatten an. Insbesondere die weitverbreiteten und einflußreichen ›Referentenkommentare‹ zum Staatsangehörigkeitsrecht, verfaßt von Beamten, die an leitender Stelle die Staatsangehörigkeitspolitik mitbestimmten, sind ein Beispiel für die Prägekraft rechtspolitischer Argumentation in wissenschaftlich systematischer Form.43 Die Politisierung der Staatsangehörigkeit, ihre Entwicklung zu einem breitenwirksamen Thema der politischen Debatte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, bringt schließlich eine wachsende Zahl publizistischer Stellungnahmen in Zeitschriften und Zeitungen hervor. Sie zeigen, wie dem Bedeutungswandel eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung folgt, und belegen den Aufstieg der Staatsangehörigkeit von einem verwaltungsinternen Spezialgegenstand zu einer politischen Grenzfrage der modernen, mobilen Industriegesellschaft. Die Untersuchung spannt den zeitlichen Bogen von der Gründung des Deutschen Bundes 1815 bis zum Ausgang des Zweiten Weltkriegs, der sich im Grundgesetz von 1949 rechtlich niederschlägt. Nach dem Abschluß der Phase staatlicher Rekonstruktion und Neubildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts bilden die Staaten des Deutschen Bundes auf der Grundlage der Bundesakte von 1815 eine territoriale Staatshoheit aus, die bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein die institutionelle Gestalt der Staatsangehörigkeit in Deutschland prägt. Diese föderative Grundstruktur wird im Prozeß der staatlichen Vereinheitlichung und Nationalisierung umgeformt. Das nationalsozialistische Regime - diese These bestimmt den zeitlichen Endpunkt - setzt die Entwicklung nicht fort, sondern unterbricht und radikalisiert sie, bevor die Staatsangehörigkeit im Grundgesetz von 1949 zu der institutionellen Form zurückkehrt, die sich an der Wende zum 20. Jahrhundert ausgeprägt hatte. Die chronologisch angelegte Gliederung der Untersuchung erweitert sich im zweiten und sechsten Kapitel zu vertiefenden Abschnitten über Knotenpunkte der institutionellen Entwicklung, an denen sich politische, demographische und soziale Umbrüche verknüpfen. Das erste Kapitel untersucht Grundzüge der vornationalen Staatsangehörigkeit im Deutschen Bund von 1815. Entstehungshintergrund der Staatsangehörigkeit ist ein grundlegender 43 S. die Kommentare der zuständigen Referenten im Reichsministerium des Inneren während des Kaiserreichs bzw. der nationalsozialistischen Herrschaft sowie im Bundesinnenministerium: Cahn, Reichsgesetz; Stuckart u. Globke, Kommentar zum Reichsbürgergesetz; Lösener u. Knost, Die Nürnberger Gesetze; Maßfeiler.

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staatlicher Reformprozeß, und zwar die Integration neu hinzugewonnener Gebiete, die Durchsetzung der Souveränität des Staates gegenüber territorialen und ständischen Gewalten und in einzelnen Staaten auch die konstitutionelle Verankerung politischer Freiheiten des »Staatsbürgers«. Wegweisend für die Kodifikation der modernen Staatsangehörigkeit war Österreich. Analysiert wird die Entstehung der österreichischen »Staatsbürgerschaft« zur Vereinheitlichung der national und sprachlich, konfessionell und kulturell besonders heterogenen Gebietsteile des Vielvölkerstaats. In den süddeutschen Staaten des ›Dritten Deutschland‹, Bayern, Württemberg und Baden, steht die Durchsetzung staatlicher Angehörigkeitsbestimmung gegenüber ständischer und kommunaler Herrschaft im Vordergrund. Die besondere Behandlung der Juden im Hinblick auf ihren Status als Staatsangehörige und Staatsbürger stellt hier wie in den anderen Staaten des Deutschen Bundes eine Probe auf den Stand der staatsbürgerlichen Emanzipation und Gleichheit dar. Während Sachsen seinen späten Staatsbildungsprozeß erst 1852 mit einem Staatsangehörigkeitsgesetz abschloß, schuf Preußen, dessen Politik der Staatsangehörigkeit und Einbürgerung im zweiten Kapitel behandelt wird, ein Modellgesetz. Das Untertanengesetz im Zusammenhang der preußischen Heimatgesetzgebung von 1842 entstand unter dem Druck der Pauperismuskrise. Die Darstellung beginnt mit der Heterogenität der preußischen Rechtslage und Verwaltungspraxis vor dem Untertanengesetz sowie dessen Entstehung im Widerstreit einer restaurativen und einer reformerischen Konzeption. Die Behandlung der Auswirkungen des Gesetzes im Kommunal- und Familienrecht sowie im Sonderrecht für Juden ergänzt die Entstehungsgeschichte des Gesetzes um eine Analyse ihrer sozialen Auswirkungen. Die Revolution von 1848 warf jenseits der territorialstaatlichen Unterschiede erstmals die Frage nach einer einheitlichen Definition des »Deutschen«, nach einer deutschen Staatsangehörigkeit auf. Mit dieser Frage führt das dritte Kapitel hinein in die zentrale Auseinandersetzung der Frankfurter Nationalversammlung über den Umfang und die nationale Zusammensetzung eines deutschen Nationalstaats, die sich im Spannungsverhältnis zwischen Territorialitäts- und Nationalitätsprinzip ausdrückt. Es läßt sich zeigen, wie die Ausgestaltung von Struktur und Gehalt des deutschen Reichsbürgerrechts durch die Auseinandersetzung zwischen Unitariern und Föderalisten, zwischen dem Streben nach sozialer Vereinheitlichung und kommunaler Besitzstandswahrung geprägt wurde. Die Ablehnung von Menschenrechten und die Einführung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden entschieden schließlich Grenzfragen der Staatsangehörigkeit. Das vierte Kapitel behandelt eine Phase des Übergangs zwischen Revolution und Reichseinigung, die zunehmende Homogenisierung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts aufgrund der Konvergenz der innerstaatlichen Regelwerke und der Verdichtung des zwischenstaatlichen Rechts. Gezeigt wird die 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Durchsetzung gleicher Grundprinzipien und die Politisierung der Staatsangehörigkeit, die wachsende Bedeutung als Schlüssel zu fundamentalen Rechtsgewährleistungen gewinnt. Die zentralisierende Wirkung zwischenstaatlicher Vereinbarungen, der Gothaer Konvention von 1851 und der Bancroft-Verträge von 1868, mündet in die Kodifikation der Bundesangehörigkeit, die der Norddeutsche Reichstag 1870 verabschiedet und die das Deutsche Reich 1871 übernimmt. Nachgezeichnet wird, wie sich föderative und etatistische gegenüber unitarischen und nationalen Strömungen durchsetzen und die Gestaltung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts bestimmen. Das fünfte und sechste Kapitel, welche die Entwicklung der Staatsangehörigkeit im ersten deutschen Nationalstaat analysieren, bilden den Kern der Untersuchung. Sie behandeln den grundlegenden Veränderungsvorgang, der die deutsche Staatsangehörigkeit beeinflußt, ihre Funktion wandelt und sie institutionell umformt, den Prozeß der Nationalisierung. Das fünfte Kapitel legt den Schwerpunkt auf die politische und soziale Praxis der Einbürgerung. Gezeigt wird die Auswirkung verstärkter Migration auf die Staatsangehörigkeit. Die Option der Staatsangehörigkeit in Elsaß-Lothringen und Nordschleswig wurde zum nationalen Konfliktherd zwischen dem Deutschen Reich, Frankreich und Dänemark. Die diskriminierende Politik gegenüber deutschen Staatsangehörigen polnischer Nationalität stufte diese zu Staatsbürgern zweiter Klasse herab, während zugleich die materielle Bedeutung der Staatsangehörigkeit, insbesondere im Bereich politischer und sozialer Rechte, zunahm. Bis hinein in die Personalpolitik der Behörden und die statistische Erfassung der Einbürgerungsverfahren wirkte sich die Nationalisierung der deutschen Gesellschaft aus und bestimmte auch die Praxis der Einbürgerung. Hier vollzog sich die Konturierungdes Nationalstaats durch Fernhaltung. Polen und Juden unterlagen im Einbürgerungsverfahren einem diskriminierenden Sonderrecht. Das sechste Kapitel verlagert die Blickrichtung auf die Gesetzgebung der Staatsangehörigkeit im Kaiserreich. Die Reforminitiative, die zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 führte, schuf eine Rechtsinstitution des deutschen Nationalstaats, die grundlegende nationale Zeitströmungen und soziale Strukturen der Gesellschaft des Kaiserreichs aufnahm. In der Auseinandersetzung um die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau treten die sozialen Konturen des ›männlichen Staates‹ hervor. Der Konflikt zwischen rassischer Diskriminierung und patrilinearem Prinzip, der wegen der Staatsangehörigkeit in den deutschen Kolonien ausgetragen wird, zeigt grundlegende Veränderungen in der Konzeption der deutschen Nation an. Die Lösung des Gesetzes von 1913 hingegen hält nochmals das staatsnationale und das ethnisch-kulturelle Strukturprinzip der deutschen Staatsangehörigkeit in einer ambivalenten Schwebelage. Das siebente Kapitel zeigt die sich steigernde Nationalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit, die vom Ersten Weltkrieg ihren Ausgang nimmt, sich nach 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

der Niederlage des Deutschen Reichs in der nationalen Krisenlage der Weimarer Republik verstärkt und schließlich radikalisiert. Die Durchsetzung einer ethnischen, expansiven Konzeption des ›Rußlanddeutschen‹ während des Krieges zeigt Verschiebungen in der Nationsvorstellung an, die sich im Vordringen des Konzepts der Volkszugehörigkeit gegenüber der Staatsangehörigkeit ausdrücken. Angesichts verengter politischer Reformspielräume nimmt die exklusive Wirkung der deutschen Staatsangehörigkeit zu. Die Einführung der selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau scheitert ebenso wie die Liberalisierung der Einbürgerungspolitik, in der sich ›völkische‹ Kategorien behaupten. Das abschließende achte Kapitel über die Staatsangehörigkeit während der nationalsozialistischen Herrschaft zeichnet die Etappen nach, in denen sich die Politik der Staatsangehörigkeit radikalisiert und mit tradierten Prinzipien bricht. Nach ersten tiefen Eingriffen während der Konsolidierungsphase der nationalsozialistischen Herrschaft wird mit den Nürnberger Rassegesetzen ein neues System der Staatsangehörigkeit im Rassestaat geschaffen. Die folgende Politik der Diskriminierung fragmentiert den Status der Staatsbürgerschaft und beginnt, die substantiellen Unterschiede im Status von Ausländern und rassisch verfolgten Deutschen aufzuheben. Im Rassekrieg nach 1939 verliert die deutsche Staatsangehörigkeit vollends ihre rechtlichen Konturen. Sie lösen sich in einem ständischen System gestufter Zugehörigkeiten und Rechte auf, das den Zwecken eines kontinentalen Besatzungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungsregimes entspricht. Drei Leitmotive durchziehen die Untersuchung: die Verstaatlichung, die föderative Homogenisierung und die Ausschlußwirkung der Staatsangehörigkeit. Sie kennzeichnen als strukturelle Probleme die Geschichte der deutschen Staatsangehörigkeit insgesamt, stehen zugleich aber in einer zeitlichen Abfolge. Die zentrale politische Bedeutung der Staatsangehörigkeit kann erst entstehen, seitdem der Staat ab Beginn des 19. Jahrhunderts in der Bestimmung politischer Zugehörigkeit den Primat gegenüber kommunalen und feudalen Partikulargewalten durchgesetzt hat. Die inhaltliche Angleichung einer Vorstellung des ›Deutschen‹ in dem ausgeprägt föderativen Staatensystem Deutschlands wird durch die zunehmende Homogenisierung und Vereinheitlichung der Staatsangehörigkeitsregelungen im Bundesstaat mitgetragen. Erst auf der Grundlage vereinheitlichter staatlicher Definitionsmacht entfaltet die Staatsangehörigkeit schließlich ihre Abgrenzungswirkung. Diese entwickelt sowohl eine geschlechtsspezifische als auch eine nationale Stoßrichtung. Angesichts der Erschwernisse, die seit dem 19. Jahrhundert verheirateten Frauen, Polen und Juden bei der Aufnahme in die deutsche Staatsangehörigkeit entgegenstanden, treten Konturen der nationalstaatlich verfaßten Gesellschaft hervor und gewinnen Kontinuität. 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

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I. Vornationale Staatsangehörigkeit im Staatenbund Der Eintritt in die Moderne revolutionierte die äußere und innere Gestalt Deutschlands. Der Prozeß sich beschleunigender Veränderung wurde zum Kennzeichen des anbrechenden 19. Jahrhunderts. Die Staatenwelt Mitteleuropas erfuhr die tiefgreifendsten politischen und territorialen Umwälzungen seit dem Dreißigjährigen Krieg. Untergang, Neubildung und Veränderung von Staaten und Staatenverbindungen verschoben mit den Grenzen auch die staatlich-politische Zuordnung großer Bevölkerungsgruppen.1 Wachsende Wanderungsbewegungen zwischen den deutschen Staaten und über sie hinaus leiteten ein Zeitalter ein, in dem die Mobilisierung der Bevölkerung zugleich das Problem ihrer Zugehörigkeit und Zuweisung in staatliche Verantwortung stellte.

1. Deutscher Bund und zwischenstaatliche Verträge Der Auflösung des seit langem zerfallenden Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 folgte kein Zusammenschluß der Staaten Mitteleuropas zu einem neuen deutschen Staat. Die Frontbildungen der Rheinbundzeit, die napoleonischen Eroberungskriege und die wechselnden Abwehrkoalitionen hatten zwischen den deutschen Staaten des alten Reiches Gegensätze und Entwicklungsunterschiede entstehen lassen, die sich in einem engen staatlichen Zusammenschluß schwer überbrücken ließen. Die beiden Hegemonialstaaten, Preußen und Österreich, waren in sich multinational gegliedert. Beide umfaßten neben der deutschsprachigen Bevölkerung starke Gruppierungen polnischer, Österreich auch tschechischer, ungarischer und anderer nichtdeutscher Sprach- und Kulturzugehörigkeit. Ausländische Monarchen2 regierten in Staaten mit deutscher Untertanschaft. Schließlich gingen die Interessen der europäischen Hegemonial- und Garantiemächte des Wiener Friedens von 1815, insbesondere Österreichs und Englands, aber auch Frank1 S. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 1l f.; Bade, Auswanderungsland, S. 17f. 2 Der englische König in Hannover, der dänische König in Holstein sowie der holländische König in Luxemburg.

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reichs, dahin, keinen nach innen und außen gefestigten deutschen Nationalstaat in der Mitte Europas entstehen zu lassen.3 Anstelle eines einheitlichen deutschen Nationalstaats setzte sich das Prinzip monarchischer Legitimität in einem lockeren, bündisch gegliederten Staatengefuge durch. Der Deutsche Bund von 1815 faßte 41 souveräne, grundsätzlich gleichberechtigte Staaten und Städte zusammen.4 Sein Zweck bestand in der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit seiner Mitglieder. Damit war freilich zugleich die Grenze der Wirksamkeit des Bundes bestimmt. Sein Zweck beschränkte sich auf den Bereich der »Gefahrenabwehr«, erstreckte sich indessen nicht auf den weiten Bereich der »Wohlfahrtspflege«, die Förderung der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Einzelstaaten.5 Es war ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen souveränen Staaten, der von eng begrenzten Ausnahmebestimmungen abgesehen6- kein unmittelbares Verhältnis der Zugehörigkeit oder Untertanschaft zwischen dem Bund und den Angehörigen der Einzelstaaten entstehen ließ. Mit der Französischen Revolution war das Zeitalter der europäischen Nationalstaaten angebrochen und hatte auch in Deutschland eine an Stärke gewinnende Nationalbewegung entstehen lassen. Doch folgte die staatliche Neuordnung Deutschlands bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dem überkommenen Prinzip der Territorialität. Die Zusammenfassung der infolge Mediatisierung und Säkularisierung neu strukturierten Herrschaftsbereiche des alten Reiches, ihre staatliche Durchdringung in neu gefaßten, einheitlichen Territorien war das beherrschende Ordnungsinteresse bei der Gründung des Deutschen Bundes. Der Territorialstaat triumphierte gegenüber dem Nationalstaat und gelangte zu seiner Vollendung. Diese Entwicklung hatte unmittelbare Auswirkung auf die Definition staatlicher Zugehörigkeit. Sie bestand im Rahmen des Deutschen Bundes allein in der Zugehörigkeit zu einem Territorialstaat. Eine eigenständige unmittelbare Angehörigkeit zum Bund, gar ein Reichsbürgerrecht, gab es nicht. In der staatsrechtlichen Literatur und verschiedenen politischen Stellungnahmen der Zeit bis 1848 wurde indessen in Art. 18 der Bundesakte ein »Bundesindigenat«, ja sogar ein »allgemeines deutsches Bürgerrecht«,7 gesehen. Zwar konnten derartige Interpretationen auf entsprechende Bundesvertragsentwürfe maßgeblicher Vertragsstaaten verweisen.8 Doch fanden sie im Bundesvertrag selbst keine Stütze: Die gewährleisteten Rechte der Auswanderungs- und steuerlichen Ab3 S. Doering-Manteuffel, S. 3. 4 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 583. 5 Ebd., S. 594f. 6 Vgl. Art. XXIX, XXX (Fälle der Justizverweigerung bzw. -hinderung), LIII (Verweigerung zugesicherter Rechte) der Wiener Schlußakte vom 15.5.1820. 7 Vgl. Müller, Auswanderungsverhältnisse, S. 81 f. 8 Grawert, S. 195.

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zugsfreiheit gingen über den Status quo nicht hinaus.9 Lediglich die Freiheit gleichen Grundstückserwerbs (Art. 18 a Bundesakte) konnte als Vorstufe eines Bundesindigenats gedeutet werden, wie es die Verfassungen des Norddeutschen Bundes bzw. Reiches von 1866/71 vorsahen.10 Hingegen wollten die maßgeblichen Vertragsstaaten die exklusive Angehörigkeitsbeziehung zu ihren Untertanen nicht durchbrechen lassen. Es gab zeitgenössische Interpretationen, die diese erklärte Absicht zu übergehen suchten, wie Andreas Fahrmeir dargelegt hat.11 Diese Interpretationen stammten indessen von enttäuschten Befürwortern einer nationalstaatlichen Einigung. In der Vertragskonstruktion und Staatenpraxis des Deutschen Bundes fanden sie keine Entsprechung. Die Staaten des völkerrechtlichen Deutschen Bundes blieben füreinander Ausland, ihre Angehörigen Ausländer und - im staatsrechtlichen Sinn - gerade nicht »Deutsche«. Doch löste diese völkerrechtliche Grundentscheidung nicht die wachsenden praktischen Probleme, die sich aus der Intensivierung der Verkehrs- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten des Deutschen Bundes ergaben. Eine gemeindeutsche Staatsangehörigkeit auf der Ebene des Deutschen Bundes war also - ungeachtet dahingehender Absichten und Ansätze - nicht entstanden. Der Entwurf einer solchen übergreifenden Staatsangehörigkeit teilte die innere Schwäche des Staatenbundes: Die vertraglichen, auf dem Kompromiß der beteiligten, äußerst verschiedenen Staaten und Städte beruhenden Grundlagen des Bundes entbehrten der systematischen Geschlossenheit, welche die innere und nach außen wirkende Einheitlichkeit eines modernen Staates ausmachen.12 Der Deutsche Bund wirkte weder nach innen noch nach außen als Staat. So brachte er auch keine ›deutsche Staatsangehörigkeit‹ hervor. Wo aber entstand die Staatsangehörigkeit in Deutschland? In Frankreich hatte der zentrale und zunehmend zentralisierende Nationalstaat der Französischen Revolution eine einheitliche französische Staatsangehörigkeit geschaffen. Waren es in Deutschland angesichts des fehlenden Zentralstaats die Einzelstaaten, oder lag der Ursprung davor, also in Verträgen zwischen den Staaten? Letztere Auffassung hat Andreas Fahrmeir im Anschluß an Rogers Brubaker13 hervorgehoben. Er geht von dem Befund aus, daß die rudimentären Ausführungen der frühkonstitutionellen deutschen Verfassungen zu Staatsangehörig9 S. Fahrmeir, German Citizenships, S. 729. 10 S. Art. XVIII a. Deutsche Bundesakte vom B.Juni 1815; Art. 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 26. Juli 1867; Art. 3 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871. 11 Fahrmeir, German Citizenships, S. 729. 12 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 486; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 326f. 13 Brubaker, Citizenship, S. 69f.; Fahrmeir, Citizens, S. 26-28.

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keit und Staatsbürgerschaft teils begrifflich unklar, teils dem Prinzip nach inkonsistent gewesen seien und deshalb einer ausführenden rechtlichen Regelung bedurft hätten. Die systematische Inkonsistenz sieht er in dem Gegensatz der Prinzipien, die einerseits den Erwerb, andererseits den Verlust der Staatsangehörigkeit statuierten. Während die Verfassungsregeln14 die Abstammung von Staatsangehörigen Eltern zum Leitprinzip des Staatsangehörigkeitserwerbs erhoben, ließen sie den Verlust derselben durch das Verlassen des Territoriums bzw. durch einen längeren Aufenthalt außerhalb seiner Grenzen zu. Geht man davon aus, folgert Fahrmeir weiter, daß die Abstammung als ursprüngliches Erwerbsprinzip dominant war in den Staaten und Städten des Deutschen Bundes, trat bei Staatsangehörigen, die über die Grenzen ihres Heimatstaats wanderten, nach gewissem Zeitablauf der Verlust ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit ohne den anschließenden Erwerb der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats ein. Staatenlosigkeit war unweigerlich die Folge, mithin ein Status, der die Migranten sowohl in ihrem rechtlichen als auch in ihrem sozialen Status weitgehend schutzlos stellte. Dies aber lag nicht im Interesse derjenigen Staaten, die von gehäufter Fernwanderung über ihre Grenzen betroffen waren. Fahrmeir sucht also nach dem »missing link«, das den Widerspruch zwischen dem abstammungsbezogenen Erwerbs- und dem territorialen Verlustprinzip überbrückt.15 Da, wie er zu Recht feststellt, innerstaatliche Gesetzesregelungen, welche die Staatsangehörigkeit der deutschen Staaten in Ausführung der Verfassungen einheitlich und systematisch regelten, bis zum Ende der 1830er Jahre, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht existierten, geht er über Staaten hinaus und findet sie in den zwischenstaatlichen Verträgen. Er bezieht sich auf das zunehmend dichter werdende Netz von Vereinbarungen, das nach 1815 mehr und mehr deutsche Städte und Territorien einzubeziehen begann. Fahrmeir kann überzeugend nachweisen, daß diese Verträge dem Prinzip der »impliziten Naturalisation« folgten. Um die Staatenlosigkeit der länger in den staatlichen Territorien weilenden ausländischen Migranten zu vermeiden, verpflichteten sich die Vertragsparteien dazu, mit Ablauf einer gewissen Aufenthaltsdauer die Staatsangehörigen des jeweils anderen Staates als eigene zu behandeln, sie mithin einzubürgern. Dieses implizite ius domicilii trat ergänzend als wesentlicher Erwerbsgrund der Staatsangehörigkeit neben das Recht der Abstammung. Doch wurde damit das ›ius domicilii‹ zum eigentlichen, typprägenden Vermittlungsprinzip der Staatsangehörigkeit in den Staaten des deutschen Vormärz? Diese zugespitzte These Fahrmeirs steht und fällt mit der Frage nach der quantitativen Bedeutung dieses Vertragsprinzips. Wie groß war im

14 Mit Nachweisen Fahrmeir, Citizens, S. 24f. 15 Ebd., S. 27; ders., German Citizenships, S. 731, 735.

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Vormärz die Wanderungsbewegung zwischen den Staaten des Deutschen Bundes, die füreinander Ausland waren? Statistische Daten über derartige Wanderungsbewegungen sind bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur vereinzelt vorhanden und erlauben nur mit großer Zurückhaltung verallgemeinernde Schlußfolgerungen. Wo Daten für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts existieren, insbesondere für den preußischen Regierungsbezirk Düsseldorf und das rheinische Industriegebiet, hat die neuere Forschung in der Tat erhebliche Wanderungsbewegungen bereits vor dem Einsetzen der Industrialisierungsphase festgestellt.16 Entgegen früheren Annahmen der Modernisierungstheorie wandelte die Migration mit der Industrialisierung »weit weniger ihre Geschwindigkeit als ihren Charakter«.17 Doch bleibt für die Fragestellung dieser Arbeit entscheidend, wie weit sich die Migrationsbewegungen erstreckten. Gingen sie über die Grenzen der Staaten, oder reichten sie nur bis zum nächsten Regierungsbezirk oder gar Kreis? Die verfügbaren Datenreihen zur Ein- und Auswanderung in den deutschen Staaten führen hier nicht weiter; sie enthalten bei der Definition des Begriffs ›Ausland‹ nicht die entscheidende Differenzierung zwischen ›deutschen‹ und ›nichtdeutschen‹ Staaten.18 Wo diese Differenzierung hingegen regional begrenzt nachweisbar ist, widerspricht sie der Annahme einer starken zwischenstaatlichen Wanderungsbewegung bis in die Endphase des Vormärz. Im Regierungsbezirk Düsseldorf überwiegt erst nach 1846 die Kreisgrenzen überschreitende Wanderung die Wanderungsbewegung innerhalb des Stadtkreises und geht 1847 in etwa gleicher Höhe über die Grenzen des Regierungsbezirks.19 Der Wanderungsaustausch mit dem - nicht näher definierten, d. h. auch nichtdeutsche Staaten einschließenden - »Ausland« übersteigt erstmals im Jahre 1846 die Durchschnittsmarke von 10 % der Gesamtwanderungsbewegung, ohne sie bis 1866 auch nur annähernd wieder zu erreichen.20 Betrachtet man die -offizielle- Auswanderung aus dem Königreich Württemberg nach Zielgebieten zwischen 1817 und 1860, erreicht die Auswanderung in die Staaten des Deutschen Bundes zwar zwischen 1820 und 1844 nach einem Abfall zwischen 1830 und 1834 - einen durchschnittlichen Anteil von 35,9 % an der Gesamtauswanderungsrate.21 Doch ist einerseits Württem16 Hochstadt, Migration and Industrialization; ders., Migration in Germany, S. 81 f. 17 Lenger, S. 65, 91, Charles Tilly übernehmend ( Zitat Englisch). 18 S. Köllmann u. Kraus, Quellen zur Bevölkerungsstatistik, Bd. 1, S. 10, die darauf hinweisen, daß die Daten aufgrund von Zählfehlern nur »mit äußerster Vorsicht« zu benutzen seien. 19 Lenger, Tabelle 11, S. 247-250. 20 Insgesamt deutlich darunter liegen die speziellen Zahlen für die Städte Rheindahlen und Rheydt innerhalb des Regierungsbezirks Düsseldorf, für die allerdings erst nach 1834 entsprechende Zahlen existieren. In Rheydt übersteigt die Auslandswanderungsquote bis 1850 nie 6%, in Rheindahlen nicht mehr als 1%, vgl. Matzerath, S. 49-51. 21 Vgl. Hippel, Tabellen 57, 58, S. 262f.

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berg ein Staat mit weit überdurchschnittlicher Migrationsrate.22 Zum andern konzentriert sich dieser Teil der Auswanderung sehr stark auf die Nachbarstaaten Bayern und Hessen, insbesondere aber auf Baden. Diese Auswanderungsbewegung ist zwar ein überstaatliches, gleichwohl aber regionales, nicht den Deutschen Bund insgesamt berührendes Problem - im ganzen also ein Sonderproblem, das auf die Wanderungsbewegungen zwischen anderen Bundesstaaten ohne weitere Zahlenangaben nicht zu übertragen ist. Soweit also Migrationszahlen existieren, zeigen sie, daß die innerstaatlichen bzw. europäischen und interkontinentalen23 Zielgebiete im behandelten Zeitraum jederzeit die Wanderungsbewegungen innerhalb des Deutschen Bundes deutlich überwiegen, diese teils zur Randerscheinung machen. Bereits unter quantitativem Gesichtspunkt ist es daher nicht gerechtfertigt, das ›ius domicilii‹ der zwischenstaatlichen Verträge als ein dem ius sanguinis gleichstehendes oder dieses sogar überwiegendes Erwerbsprinzip der Staatsangehörigkeit zu interpretieren. Betrachtet man den differenziertesten verfügbaren Datensatz - des Regierungsbezirks Düsseldorf-, erreicht die Staatsgrenzen überschreitende Wanderungsbewegung erst um 1840 einen nennenswerten, 10 % überschreitenden Umfang.24 Zu diesem Zeitpunkt ist die Vorbereitung einer systematischen Staatsangehörigkeitsgesetzgebung im Staate Preußen weit vorangeschritten. Sie - und nicht mehr die zwischenstaatlichen Vertragswerke - ist fortan maßgeblich für alle mit dem Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit zusammenhängenden Fragen. Will man daher die grundlegenden Entstehungszusammenhänge der deutschen Staatsangehörigkeit erfassen, führt der Blick zurück auf die Einzelstaaten, auf deren Verwaltungspraxis und Gesetzgebung. Dabei ist eine Vorbemerkung angebracht: Die Literatur zur Geschichte der modernen Staatsangehörigkeit in Deutschland betrachtet diese überwiegend von ihrem Ergebnis her, einer doppelten Vereinheitlichung, die sich sowohl auf den materiellen Bestand der Rechtsregeln als auch auf ihre zentralstaatliche Durchsetzung gegenüber föderalen Gliederungen bezieht. Angesichts der prägenden Wirkung des preußischen Gesetzes von 1842 wird die historische Entwicklung linear auf diesen ›Modellfall‹ rückbezogen. Die Herausbildung des kleindeutschen Nationalstaats unter preußischer Führung scheint diese Sicht rückblickend zu legitimieren.

22 Vgl. Köllmann u. Kraus, Quellen zur Bevölkerungsstatistik, Bd. 1, z. B. im Verhältnis und Vergleich zu dem bevölkerungsstärkeren Bayern (S. 65), Preußen (S. 226f., bis auf das Jahr 1834); das annähernd gleich große Königreich Sachsen (bis auf das Jahr 1832, in dem eine Zunahme von 126.237 verzeichnet wird), wobei hier Zählfehler (vgl. S. 10) hineinspielen könnten. 23 Vgl. Hippel, S. 262 (Tab. 57). 24 Höhepunkt der Bevölkerungsbewegung in Preußen (bis 1875) mit einer Zunahme von 343.439, s. Köllmann u. Kraus, Quellen zur Bevölkerungsstatistik, Bd. 1, S. 227.

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Tatsächlich aber ist der Gehalt der deutschen Staatsangehörigkeit historisch nur von seinem föderativen Ursprung und seiner territorialen Verschiedenheit her zu erklären. Mehr noch: Er wird ebenso von ›erfolgrcichcn‹, sich durchsetzenden und Kontinuität wahrenden wie von abgelehnten und verdrängten Entwicklungslinien bestimmt. Die Fortentwicklung der deutschen Staatsangehörigkeit ging von Preußen aus, ihre kodifìkatorische Grundlegung erfuhr sie jedoch in Österreich.

2. Die Staatsbürgerschaft in Österreich Bei Gründung des Deutschen Bundes kannte allein Österreich eine moderne Regelung seiner Staatsangehörigkeit: Es gab generelle und abstrakte, staatsweit und für jedermann geltende Angehörigkeitsnormen. Sie waren in der Habsburgermonarchie parallel - wenn auch davon unabhängig - zur französischen Gesetzgebung entwickelt worden,25 und zwar - wie im Code Civil - in einer großen Kodifikation des Privatrechts, dem Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch. Es wurde nach seiner Erprobung in Westgalizien im Jahre 1812 endgültig in den deutschen Erbländern, in Galizien sowie in der Bukowina in Kraft gesetzt, schließlich zwischen 1815 und 1817 auf die übrigen österreichischen Länder - mit Ausnahme der ungarischen - ausgedehnt. Österreich verfügte somit in dem gesamten Territorium, das dem Deutschen Bund angehörte, und darüber hinaus über einheitliche Regeln, die den Erwerb der österreichischen »Staatsbürgerschaft« bestimmten. Die zweite deutsche Führungsmacht trat fast drei Jahrzehnte vor Preußen mit einer geschlossenen Angehörigkeitskonzeption in den Staatenbund ein. Dabei war die Ausgangslage, die zur frühen Kodifikation geführt hatte, in manchem der Preußens nach 1815 vergleichbar. Die österreichische Monarchie stand vor dem Abschluß einer Phase von Reformen, die den Staat, sein Verhältnis zur Kirche und die wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse von Grund auf umgestaltet hatten.26 Die Reformen Josephs II. setzten zentralisierende und rationalisierende Neuerungen im Geiste der Aufklärung mit Mitteln des bürokratischen Absolutismus durch. An ihrem Ende sollte eine vereinheitlichte, gestraffte staatliche Verwaltung der gleichfalls in ihrem Rechtsstatus weitgehend vereinheitlichten Untertanschaft gegenüberstehen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einschränkung des Zunft- und Gewerbezwangs,27 die Durchsetzung weitgehender Rechtsgleichheit im Rahmen einer Justizreform 25 Grawert, S. 146. 26 Vgl. zusammenfassend Kann, S. 166f. 27 Ebd., S. 169, 172, 177.

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schufen Voraussetzungen für eine bürgerliche Gesellschaft jenseits ständischer Ungleichheit. Wie in Preußen ging diese Reform von der Staatsspitze und einer bürokratischen Elite aus. Sie war in Österreich mehr noch ein Werk des radikal egalisierenden Absolutismus, in beiden Staaten war sie kein Vorgriff auf ein Verfassungsversprechen oder gar auf ein konstitutionelles System. In wesentlich anderer, verschärfter Form trat hingegen das Problem der Integration äußerst verschiedengestaltiger Territorien auf. Bereits räumlich umspannten die unter der habsburgischen Krone vereinten Länder ein weitaus größeres Gebiet als der preußische Staat in seiner größten Ausdehnung vor 1806. Hinzu kam die historische Eigenart der österreichischen Länder, die wie Böhmen und Ungarn - als selbständige Königreiche mit jeweils verschiedenen Formen politischer Repräsentation bestanden hatten. Größer als in Preußen war das soziale Gefälle zwischen den städtischen und ländlichen, den wirtschaftlich hochentwickelten Gebieten des Westens und Nordens und den rückständigen Agrargebieten der südöstlichen Peripherie, insbesondere der Bukowina und Galizien.28 Hinzu traten schließlich kulturelle Verschiedenheiten und Gegensätze. Unter der habsburgischen Krone war eine Vielzahl von Völkern vereinigt, die sich sprachlich, kulturell und konfessionell stark voneinander unterschieden.29 Anders als in Preußen handelte es sich - von den zergliederten mehrheitlich deutschen Siedlungsgebieten insbesondere im tschechischen Böhmen und Mähren, im Donauraum und Siebenbürgen abgesehen um räumlich und politisch zusammenhängende Bevölkerungsgruppen. Zwar dominierte die deutsche Bevölkerungsgruppe sprachlich und politisch im Gesamtreich. Doch stellte sie weder im österreichischen noch im ungarischen Teilgebiet die Mehrheit. Ihr standen zudem ähnlich homogene, kulturelle Eigenständigkeit behauptende Gruppierungen gegenüber, die - anders als im preußischen Staat - keine ›Minderheiten‹ gegenüber einer mehrheitlich deutschen Bevölkerung waren. Diese verstanden sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend als den Staat mittragende Völkerschaften. Der österreichische Staat war mithin ein Vielvölkerstaat, dessen äußerer Zusammenhalt sich aus historischen, dynastischen, feudalen Loyalitätsbeziehungen herleitete und der auf die habsburgische Krone konzentriert war. Einen inneren, vom zentralen Staat ausgehenden Zusammenhang dieses politischen und ethnischen Konglomerats erstrebten die Reformen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Sie zielten auf die Schaffung einer allen gemeinsamen, gleichen Untertanenstellung,30 die auf der substantiellen Gleichheit des Rechts und der wirtschaftlichen Freiheit beruhte. Aus der Sicht der an der Reformgesetzgebung Beteiligten lag die Verwirklichung oder doch zumindest Vorwegnahme 28 Hierzu Matis u. Bachinger. 29 Grundlegend dazu Wandruszka u. Urbanitsch. 30 Vgl. statt aller Kann, S. 175f.

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der freien »bürgerlichen Gesellschaft« in der Sphäre des Privatrechtsverkehrs31. Die Kodifikation einer einheitlichen, staatsweiten Privatrechtsordnung setzte einerseits gedanklich den Status gleicher Staatsbürger voraus, mußte ihn aber erst politisch schaffen. So hatte es innere Folgerichtigkeit, daß die große, die Reformzeit abschließende Kodifikation des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs zugleich erstmals einheitlich und - potentiell - für den Geltungsbereich aller Länder der Monarchie eine österreichische »Staatsbürgerschaft« herstellte. Diesen Zusammenhang brachte § 4 des neuen Gesetzbuchs auf den Punkt: »Die bürgerlichen Gesetze verbinden alle Staatsbürger«. Der einschränkende Zusatz »alle Staatsbürger der Länder, für welche sie kund gemacht worden sind«32, deutete die zentrale Schwierigkeit an, auf die der gesetzgeberische Anspruch in den folgenden Jahrzehnten stieß. Es ging darum, die Vorstellung einer einheitlichen Staatsbürgerschaft in der Wirklichkeit eines regional, politisch und kulturell äußerst uneinheitlichen Staatsgebildes durchzusetzen. Das Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch vom 1.Juni 1811 (ABGB) traf eine systematische Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Fremden, die bereits das ältere österreichische Recht seit Mitte des 1 B.Jahrhunderts kannte. Die nicht in Kraft getretenen großen Kodifikationsentwürfe, der Codex Theresianus und das Josephinische Gesetzbuch von 1766 bzw. 1786, unterschieden »Untertanen« (bzw. »Inländer«) von »Fremden«. Ein Konskriptionspatent Maria Theresias von 1779 rechnete zu den »Ausländern« auch die Angehörigen eines anderen Kronlandes, die den gleichen Bedingungen der Naturalisation unterlagen wie Angehörige eines fremden Staates.33 Bereits bei den ersten Vorarbeiten zum neuen Zivilrecht hatte dieser föderative, mehr auf die Integration der Erblande gegenüber den übrigen Kronländern gerichtete Ansatz den Widerspruch einer unitarisierenden Richtung erfahren.34 Letztere setzte sich im ABGB durch. Sein Geltungsbereich definierte als »Inland« potentiell alle Länder der österreichischen Monarchie. Die stetige politische Spannung zwischen den Ländern und dem Zentralisierungsimpetus der kaiserlichen Staatsgewalt, die den Gesetzgebungsprozeß begleitet hatte, war darin im Vorgriff auf eine gesamtstaatliche Vorstellung des österreichischen Staatsbürgers aufgelöst.35 Wie weit dieser Vorgriff reichte, zeigte sich darin, daß der Status des Staatsbürgers nicht durch eine Landesmitgliedschaft vermittelt, sondern unmittelbar (und zentral) für den Gesamtstaat, und zwar als »österreichische Staatsbürgerschaft«, 31 Vgl. Grawert, S. 147. 32 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) vom 11.Juni 1811 (Justizgesetzsammlung Nr. 946). 33 Dazu insgesamt Thienel, S. 32f. 34 Die - 1756 aufgelöste - Brünner Kommission vertrat den föderativen Standpunkt gegenüber der Wiener Kommission, die sich am Ende durchsetzte, vgl. Harrasoivsky, S. 78. 35 Vgl. Strakosch, S. 75, 83.

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erworben36 wurde. Nach Maßgabe ihrer zunehmenden territorialen Erstrekkung kennzeichnete damit die zivilrechtliche Konstruktion der Staatsbürgerschaft Österreich als einen Einheitsstaat.37 Leitprinzip für die Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft war die Abstammung von einem männlichen österreichischen Staatsbürger (§ 28 ABGB). Sie vermittelte zugleich den »vollen Genuß der bürgerlichen Rechte«. Wie im späteren preußischen Recht war also das Abstammungsrecht unbestritten Grundlage und Ausgangspunkt für alle weiteren Erwerbsregeln.38 Anders als die preußische Regelung 30 Jahre später verknüpfte sich hingegen in ein und demselben Tatbestand die Feststellung der formellen Rechtsstellung eines österreichischen Staatsbürgers mit der Einräumung einer materiellen Rechtsstellung. Auch wenn diese ausdrücklich auf die »bürgerlichen Rechte« beschränkt blieb, stellte sie doch den Rechtsvorteil und die Gleichheit im Genuß dieser Rechte im Sinne einer »Wohltat«39 in den Vordergrund. Das entsprach dem naturrechtlich-aufklärerischen Grundduktus der Kodifikation, der auch die Begriffswahl bestimmte. Während der Ausdruck »Untertan« beiläufig erwähnt wurde, war zentraler Bezugspunkt des Gesetzes der Begriff »Staatsbürger«.40 Außer dem Erwerb durch Geburt kannte das ABGB die Aufnahme in die Staatsbürgerschaft durch ausdrückliche Verleihung. Wie in der preußischen Regelung waren Kernbedingungen der Aufnahme das »sittliche Betragen« sowie die »Erwerbsfahigkeit«, zudem ein hinreichendes Vermögen.41 Offener noch als in Preußen wurde die Einbürgerung in der Formulierung absolutistischer Rechtstradition ausdrücklich als »bloße Gnadensache« behandelt.42 Lag hierin sowie in der folgenden Formalisierung und Ritualisierung eine Parallele zum späteren preußischen System der ausdrücklichen Aufnahme, führte das österreichische Zivilrecht hingegen Erwerbstatbestände ein, die diese Systematik durchbrachen. § 29 ABGB ließ die Aufnahme eines Gewerbes für den Erwerb der Staatsbürgerschaft genügen, sofern diese »die ordentliche Ansässigkeit im Land« notwendig machte.43 Die assimilierende, eingliedernde Kraft des Landes machte also die ausdrückliche Aufnahme überflüssig und wurde noch verstärkt durch das Domizilsprinzip. Ein zehnjähriger ununterbrochener Wohnsitz im Land bewirkte aus sich heraus den Erwerb der Staatsbürger36 Thienel, S. 35. 37 Ulbrich, Handbuch, S. 34 38 Milner, S. 5.; zur Entwicklung Ulbrich, Staatsbürgerschaft, S. 312-314. 39 Vgl. Ofner, S. 608, zur Motivation durch die Gesetzgebungskommission. 40 Grawert, S. 150. 41 Wobei dieses in der Folge nicht als »absolutes Erfordernis« gedeutet wurde, vgl. Hofkanzleidekret vom 30. Jänner 1824, in: Goldemund u. a., S. 482. 42 Hofkanzleidekret vom 29. Juli 1813, in: Goldemund u. a., S. 483. 43 Einschränkungen § 31 ABGB, nicht bloße Innehabung oder zeitliche Benützung von Immobilien sowie Erfordernis persönlicher Ansässigkeit im Land.

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schaft.44 Ohne ausdrückliche Aufnahme wurde die österreichische Staatsbürgerschaft ferner - wie im späteren preußischen Recht - durch die Heirat ausländischer Frauen mit Staatsbürgern sowie durch Eintritt in den öffentlichen Dienst erworben, unter dem ein »wirklicher«, nicht lediglich provisorischer Staatsdienst zu verstehen war. Ebensowenig wie ein bloß vorübergehender Staatsdienst reichte ein nur zeitweiliger Militärdienst zum Erwerb der Staatsbürgerschaft aus, jedoch mit zwei Ausnahmen: Ausländische Offiziere, die sich nach ihrem Austritt aus der k.k. Armee zehn Jahre lang im Staatsgebiet aufgehalten hatten, erlangten damit die volle Rechts- und Pflichtenstellung eines österreichischen Staatsbürgers. Die Söhne nur zeitweilig dienender ausländischer Soldaten galten im Sinne des Staatsbürgerschaftsrechts als »konskribierte Inländer«, wenn sie in »ein Militär-Erziehungshaus aufgenommen« worden waren. Sie wurden, wie die Verordnung unmittelbar nach Erlaß des ABGB hervorhob, »hierdurch vom Staat gleichsam adoptiert«.45 Neben die tatsächlich assimilierende Kraft des Landes und der Familie trat also die militärische Ausbildung. Durch sie wurden Heranwachsende vom Staat wie von einer Familie ›adoptiert‹. Das war ein ›natürlicher‹ Vorgang, der keiner ausdrücklichen staatlichen Bestätigung mehr bedurfte. Beim Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft durch Verehelichung und Rechtsnachfolge standen (Ehe-)Frauen und Kinder in fast vollständiger Abhängigkeit vom Ehemann und Vater. Es galt der Mehrheit der Gesetzgebungskommission als »unwandelbare Grundregel«46, daß die Gattin die rechtliche Eigenschaft des Mannes annimmt. Der Primat der staatsangehörigkeitsrechtlichen Einheit der Familie wirkte ebenso hierarchisch wie patriarchalisch-fürsorgend: Konsequent wurde die (Ehe-)Frau dem Ehemann untergeordnet, andererseits uneheliche Kinder einer einheiratenden Ausländerin aufgrund ihrer Legitimation in die Staatsangehörigkeit des Vaters einbezogen.47 Soweit der Schutzverband der Familie reichte, überwog er die Ablehnungsgründe gegenüber ›mitgebrachten‹ unehelichen oder ehelichen Kindern der Frau. Nicht legitimierte ausländische Kinder hingegen blieben Ausländer, auch wenn die Mutter eingebürgert worden war.48 Die Unterscheidung zwischen Staatsbürgern und Fremden enthielt politisches Recht, das weit über die zunächst unpolitische Sphäre des Privatrechts hinausgriff Diese Erkenntnis war bereits den Redaktoren des ABGB bewußt.49 44 § 29 ABGB, vgl. Goldemund u. a., S. 478. 45 Hofkriegsrätliche Verordnung vom 4. März 1812, in: Goldemund u. a., Das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht, S. 476; Burger, Staatsbürgerschaft, S. 124-127. 46 Ofner, S. 610. 47 Erlaß des Ministeriums des Innern, 6. Dezember 1850, in: Goldemund u. a., Das österreichische Staatsbürgerschaftsrecht, S. 473. 48 Ebd., S. 488 (uneheliche Kinder); Erlaß des Ministeriums des Innern, 24. April 1877, in: ebd., S. 489 (eheliche minderjährige Kinder einer eingebürgerten Witwe). 49 Thienel, S. 35.

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Sie schlug sich nieder in dem Erlaß einer Reihe von staatsrechtlichen Vorschriften, welche die österreichische Staatsbürgerschaft bis zum Vorabend der Revolution von 1848 zu einer Institution des Staatsrechts machten. Die Entwicklung der Jahrzehnte nach 1815 zeigt eine allmähliche Politisierung und Bedeutungssteigerung der Staatsbürgerschaft. Im Jahre 1832 wurde der Verlust der Staatsbürgerschaft durch Auswanderung, den das ABGB als ›politisches Recht‹ ausgeklammert hatte, neu geregelt. Über eine Bewilligungspflicht wurde die Auswanderung vollständig unter staatliche Kontrolle gestellt. Zugleich konnte auch bei unerlaubter Auswanderung die Staatsbürgerschaft nur durch einen ausdrücklichen Akt, die behördliche Bewilligung bzw. ein Gerichtsurteil, verlorengehen. Auch ein mehrjähriger Aufenthalt im Ausland allein reichte nicht aus, den Verlust herbeizuführen.50 Am nachdrücklichsten kam das gewachsene staatliche Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Kontrollierbarkeit der Staatsbürgerschaft ein Jahr darauf zum Ausdruck. Ein Hofkanzleidekret von 1833 schaffte das Domizilsprinzip ab. Auch ein Fremder, der sich zehn Jahre lang ununterbrochen im Geltungsbereich des ABGB aufgehalten hatte, wurde nur dann eingebürgert, wenn er sich in besonderer Weise als politisch fügsam erwiesen hatte, indem er sich »fortwährend ruhig, den Gesetzen und den Anordnungen der gesetzlichen Behörden gehorsam und gut gesinnt betragen und durch seine Aufführung und gezeigte Denkungsart niemals zu einem gegründeten Verdacht oder Beschwerde Anlaß gegeben« hatte.51 Das war eine dehnbare Klausel, die insbesondere das politische Wohlverhalten der Fremden herbeiführen sollte. Ihren Hintergrund bildete die große Zahl polnischer Emigranten, die nach der gescheiterten Revolution im Jahre 1830 von Rußland nach Österreich gekommen waren. Insgesamt nahm die Zuwanderung nach Österreich im Verlauf des Vormärz stark zu.52 Damit wurde der österreichische Domizilsgrundsatz zum Politikum, weil er fremde Staatsangehörige allein aufgrund ihres Aufenthalts für den österreichischen Staatsverband vereinnahmte.53 Die Rechtsänderung entsprach somit außenpolitischen Rücksichten, zentralisierte und erhöhte die politische Kontrolle der Einbürgerung insgesamt. Nach dem Frieden von 1815 - in der Phase der territorialen Ausdehnung des ABGB - stieg die Bedeutung der Staatsbürgerschaft als Mittel staatlicher Integration, und zwar in doppelter Weise. Zum einen wurden die bürgerlichen Rechte der österreichischen Staatsbürger inhaltlich, zum anderen die Kriterien der Verleihung formal vereinheitlicht, der Akt der Einbürgerung politisch aufgewertet und mit rituellen Formen versehen. Der Bewerber stellte den Einbür50 Kaiserliches Patent vom 24. März 1832,.§§ 2, 7c, 9, 10, in: Goldemund u. a., S. 489f. 51 Hofkanzleidekret vom 1. März 1833, in: Goldemund u. a., S. 480. 52 Vgl. Sandgruber, S. 632; das Willensprinzip (über)betonend Burger, Staatsbürgerschaft, S. 120. 53 Vesque von Püttlingen, Handbuch, S. 92; Thienel, S. 38.

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gerungsantrag zwar bei den unteren Behörden. Bewilligen konnte ihn aber nur die Hofkanzlei.54 Die Einbürgerung ließ sich deshalb jederzeit in die politische Arkansphäre hineinziehen.55 Ausdrücklich sollte »Feierlichkeit« den Verleihungsakt umgeben. Allen künftigen Staatsbürgern ohne Unterschied des Standes sollte die »Wichtigkeit der mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Vorzüge lebhaft vorgestellt« und »gleicher Schutz mit den Eingeborenen zugesichert« werden. Ihnen wurden ihre staatsbürgerlichen Pflichten in Erinnerung gerufen und daraufhin ein förmlicher Untertaneneid abgenommen. Die Formalisierung und Vereinheitlichung der Einbürgerung betonte die Gleichheit der Staatsbürger, die in der Gleichheit der Untertancnstellung gegenüber dem Kaiser bestand. Auf ihn leisteten die neuen Untertanen den »Untertaneneid«. Allerdings galt dieses Gleichheitspostulat nicht uneingeschränkt. Er schloß Frauen aus, da diese grundsätzlich nicht zur Huldigung zugelassen waren. Der Huldigungseid, der - im Unterschied zum ungarischen Reichsteil - auf keine fest gegründete Tradition zurückgreifen konnte, geriet überdies in der Staatspraxis zur »bloßen Feierlichkeit«.56 Das Problem der Eindeutigkeit im Hinblick auf die mehrfache Staatsangehörigkeit stellte sich indessen nach 1812 noch nicht in besonderer Weise. Verbots- und Ausschlußregeln bei mehrfacher Staatsbürgerschaft führte das österreichische Recht nicht ein und ließ auch bei Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit die österreichische nicht automatisch erlöschen.57 Die Gesetzgebungskommission des ABGB hatte das schlichte Vorhandensein »gemischter Untertanen« genügen lassen, um ein ursprünglich erwogenes Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit zu streichen.58 Mehrere Gründe scheinen dabei zusammengewirkt zu haben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand die Herausbildung der völkerrechtlichen wie der staatsrechtlichen Institution der Staatsangehörigkeit in den Anfängen. Noch fehlten ihr internationalrechtlich die systematische Trennschärfe ebenso wie der materiellrechtliche Gehalt: Das Fehlen konstitutionell gewährleisteter politischer Rechte ließ das Konkurrenzproblem mehrerer Staatsangehörigkeiten und damit ihre praktische Bedeutung schrumpfen. Hinzu kam die besondere Lage des österreichischen Gesamtstaats, in dem verschiedene nationale Zugehörigkeiten nebeneinanderstanden. Die Zulassung doppelter Staatsbürgerschaft vermied gerade gegenüber den Ländern der Monarchie, auf die sich die Geltung des ABGB noch nicht er54 Hofkanzleidekrete vom 29. Juli 1813 und 30. Jänner 1824, vgl. Goldemund u. a., S. 483,485. Zwischen 1829 bis 1857 wurde die Einbürgerungskompetenz wiederum an die Landesstellen delegiert. 55 Zur Kompetenzregelung der Einbürgerung als Ausdruck wechselnder politischer Strömungen vgl. Milner, S. 24. 56 Vgl. Milner, S. 15; Vesque von Püttlingen, Handbuch, S. 95. 57 Anm. 3 zum Kaiserlichen Patent vom 24. März 1832, S. 497, vgl. Goldemund u. a., S. 497. 58 Vgl. Ofner, S. 63.

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streckte, eine scharfe Grenzziehung. Die Angehörigen der ungarischen Länder galten demnach - jedenfalls bis zur Schaffung einer getrennten österreichischen und ungarischen Staatsbürgerschaft im Jahre 1867 - nicht als Ausländer.59 Die Schaffung und der Ausbau einer einheitlichen österreichischen Staatsbürgerschaft von der Inkraftsetzung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs bis zur Revolution von 1848 war eine bürokratische Zentralisierungsleistung des spätabsolutistischen Staates. Ihre Durchsetzung beruhte darauf, daß zwei politisch-soziale Grundströmungen des europäischen 19. Jahrhunderts in Österreich erst ab der Jahrhundertmitte zum Durchbruch kamen, denn die Forderung nach konstitutionellen staatsbürgerlichen Rechten, getragen von der liberalen und demokratischen Bewegung, hatte noch keinen Erfolg in der Kodifikation politischer Rechte errungen. Der österreichische »Staatsbürger« blieb ein Phänomen der konstitutionellen Theorie einerseits, der lediglich formell vereinheitlichenden Staatspraxis andererseits, die die Wirkung des Status auf die Sphäre der »bürgerlichen Rechte« beschränkte. Hier bildete er nicht eine politische Spitze gegen das absolutistische Zentralregime, sondern wurde zu seiner administrativen Befestigung eingesetzt. Darin wirkte eine »vorrevolutionäre Verwendungstradition des Wortes »Staatsbürger« im Kontext des aufgeklärten Absolutismus«60 nach. Verglichen mit den nur wenige Jahre nach dem ABGB erlassenen Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus blieb der österreichische Begriff des »Staatsbürgers« mithin formaler, unpolitischer und damit rückständigen. Die revolutionäre Bedeutung allgemeiner politischer Teilhabe, die nach 1789 in dem Begriff anklang, war mit dem »Staatsbürger« des ABGB nicht gemeint. Die Nationalbewegungen des Vielvölkerreiches entstanden erst. Die slawische Renaissance und die Ideen des Nationalismus begannen das Bewußtsein nationaler Eliten des österreichischen Kaiserreichs zu formen, griffen jedoch noch nicht auf die politische und soziale Ebene durch.61 Die allmähliche Politisierung und Bedeutungssteigerung der Staatsbürgerschaft ging noch nicht einher mit ihrer Nationalisierung. Die unitarisierende Staatsbürgerschaftspolitik sah mithin auf der Ebene des österreichischen Zentralstaats von nationalen Differenzierungen ab.

59 Goldemutid u. a., S. 490, Anmerkung zu § 1, Kaiserliches Patent vom 24. März 1832: Solange die österreichische Monarchie ein einheitlich verwaltetes Staatswesen bildete - d. h. bis 1867 - , konnte von einer besonderen österreichischen und ungarischen Staatsbürgerschaft nicht die Rede sein; Milner, S. 89; Beispiele bei Burger, Staatsbürgerschaft, S. 103f. 60 Vgl. Stolleis, Untertan, S. 73. 61 Vgl. Kann, S. 261; für die Naturalisation in Niederösterreich s. Burger, Staatsbürgerschaft, S. 141-143, 148.

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3. Staatsbürgerschaft und Gemeindezugehörigkeit in Süddeutschland Preußen und Österreich beherrschten politisch den Deutschen Bund. Sie überragten ihn zugleich, da Teile ihres Territoriums, insbesondere die sprachlich und ethnisch nicht-deutschen Gebiete, außerhalb der Bundesgrenzen lagen. Die Schaffung einer umfassenden Angehörigkeitsbcziehung dieser - mehr oder weniger - multinationalen Staaten erstreckte sich somit von vornherein auf Gebiete und Bevölkerungsgruppen, die aus der Sicht des Bundesverbands fremde Staatsteile, somit also Ausland waren. Diese territoriale und politische Ambivalenz teilten nicht die nächst den genannten Hegemonialstaaten größten und politisch einflußreichsten süddeutschen (Mittel-)Staaten Bayern, Württemberg und Baden. Sie gehörten dem Staatenbund von Beginn mit ihrem gesamten Territorium an und bildeten den Kern62 der gegen die preußischösterreichische Hegemonie gerichteten Staatengruppe des ›Dritten Deutschland‹. Die drei süddeutschen Staaten sollen nicht nur deshalb in bezug auf die Entstehung der Staatsangehörigkeit im Zusammenhang behandelt werden. Zumindest vier weitere wesentliche Gemeinsamkeiten legen dies nahe: Die Staaten erfuhren zwischen dem Beginn der Auflösung des alten Reiches ab 1803 und dem Wiener Kongreß 1815 eine völlig neue Zusammenfassung, Festigung und Erweiterung ihres Staatsterritoriums und eine Umgestaltung ihrer staatlichen Institutionen. Sie vergrößerten ihren territorialen Bestand und stiegen von Markgrafschaften bzw. Herzogtümern zum Großherzogtum (Baden) und zu Königreichen (Bayern und Württemberg) auf Alle drei Staaten waren im Rheinbund von 1806 mit dem napoleonischen Frankreich verbündet, kamen in enge Berührung mit dem revolutionären Recht Frankreichs, rezipierten es oder entwickelten doch in Auseinandersetzung damit eigene moderne Rechtsformen. Das unterschied sie grundlegend von Preußen und auch von Österreich, die ihre Reformanstrengungen aus älterer, eigenständiger Tradition bzw. in Reaktion auf die militärische Niederlage gegen das revolutionäre Frankreich sowie in Absetzung dagegen entwickelt hatten. Bayern, Württemberg und Baden waren militärische und politische Gewinner der revolutionären Umbruchphase in der deutschen Staatenwelt des beginnenden 19. Jahrhunderts. Ihr Modernisierungsimpetus war personell und programmatisch ungebrochen. Die Neuordnung und Erweiterung ihres Territoriums begriffen sie als große Herausforderung und Chance zu tief eindringender staatlicher Integration. Alle drei Staaten konstituierten sich zu Beginn (Bayern 1808) oder bis zum Abschluß der Reformphase als Verfassungsstaaten (Württemberg und Baden, 1818/19). Es lag in dem Anspruch dieses modernen 62 Vgl. Weis, Begründung, S. 67.

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revolutionären Rechtsinstruments, eine möglichst umfassende Regelung der staatlichen Gewalt, ihrer Ausübungsmodalitäten und Grenzen zu geben. Dazu gehörte neben der Festlegung des territorialen auch die des personellen Bestandes der Staaten. Alle drei Verfassungsstaaten führten den Begriff des »Staatsbürgers« ein, der ein einheitliches, eben nicht mehr ständisch gestuftes, sondern gleiches Verhältnis der Individuen zur Staatsgewalt zum Ausdruck brachte. Vom bloßen Untertan unterschied sich der Staatsbürger der süddeutschen Verfassungsstaaten dadurch, daß er Inhaber politischer Freiheits- und repräsentativer Mitwirkungsrechte in den Ständcversammlungen war. Der begriffliche Übergang vom Untertan zum Staatsbürger vollzog sich freilich - analog dem Prozeß der Modernisierung - nicht schlagartig, qua dekretierter Definition. Auch darin zeigt sich ein gleitender Übergang, der einer scharfen Scheidung zwischen Reform- und Restaurationszeit vor und nach 1815 entgegensteht.63 Bevor sich der Begriff des »Staatsbürgers« in den drei süddeutschen Verfassungen zwischen 1818 und 1820 durchsetzte, hatte in der staatlichen Reformpolitik nach 1803 der »Untertan«, zeitweilig in paralleler Verwendung zum »Staatsbürger«, dominiert. In der begrifflichen Vereinheitlichung und Angleichung spiegelte sich die Durchsetzung dreier Reformziele, die den drei süddeutschen Staaten gemeinsam waren: Die Integration der neu hinzugewonnenen Gebiete,64 die Durchsetzung der Souveränität des Staates gegenüber territorialen und ständischen Gewalten sowie die Verankerung ›bürgerlichen, insbesondere politischer Freiheiten. Neben dem erheblichen Gebietszuwachs warf die Mediatisierung ehemals reichsunmittelbarer Herrschaften und Städte verstärkte Integrationsprobleme auf Mehr als in den nördlichen Territorien des früheren Heiligen Römischen Reiches, insbesondere in Preußen, waren die süddeutschen Gebiete vielfach ein ›Flickenteppich‹ territorialherrschaftlicher und ständisch-lokaler Gewalten, die aneinander grenzten und verschiedenen Angehörigkeitsregeln unterlagen. In Bayern zeigt denn auch die frühe Verwendung des Staatsbürgerbegriffs in Reformvorlagen und Memoranden der Montgelas-Zeit den nivellierenden Impetus der Begrifflichkeit; die Souveränität des Staates und die Gleichheit der Untertanen, die grundsätzlich den Adel - unter Beibehaltung einzelner Privilegien - einschloß, sollten durchgesetzt werden.65 Die erste bayerische Verfassung von 1808 postulierte demnach die Gleichbehandlung des Adels mit »den übrigen Staatsbürgern«.66 In der Rechtsterminologie Württembergs, dessen staatliche Modernisierung unter Friedrich I. ein besonderes (spät)absoluti63 Zu dieser Differenzierung in der neueren Forschung allgemein s. Ulimann u. Zimmermann, Einleitung, S. 12, 14. 64 S. dazu Berding, Historische Einordnung, S. 20. 65 Schimke, Regierungsakten, S. 38. 66 Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808, § 5, s. Weber, Neue Gesetz- und Vcrordnungssammlung für das Königreich Bayern, Bd. 1, München 1819, S. 160.

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stisches Gepräge hatte, fand der Begriff des »Untertanen« bis in den ersten Verfassungsentwurf von 1815 Verwendung und wurde erst mit dem Verfassungsentwurf von 181767 durch die Bezeichnung Staatsbürger abgelöst, ohne daß der Begriff »Untertan« damit völlig aus der Rechtssprache verschwand.68 Baden führte 1808 in einem der Constitutionsedikte, welche die Grundlage der späteren Verfassung von 1818 schufen, den Begriff in der Doppelung »Staatsbürger und Untertan« ein, sprach aber bereits von einem »Staatsbürgerrecht«.69 Die drei Staaten kannten die Unterscheidung zwischen Staatsbürgern/Untertanen und Schutzgenossen bzw. Forensen.70 Letztere standen zwischen dem Fremden- und dem vollen Staatsbürgerstatus und unterlagen zum Teil einer besonderen Abgabepflicht.71 Der Begriff des »Staatsangehörigen« wurde vielfach in zwischenstaatlichen Vereinbarungen72, zunehmend auch synonym mit dem Begriff »Staatsbürger« verwandt. Hier zeigt sich die noch unsichere, tastende Begrifflichkeit der staatlichen Konstituierungsphase des frühen 19. Jahrhunderts. Der »Staatsangehörige« blieb indessen ein juristisch-technischer Begriff minderen politischen Rangs. Politischer Leitbegriff und für das innere Recht der Staaten maßgeblich blieb der »Staatsbürger«. Er enthielt neben der gemeinsamen und gleichen Gesetzesunterworfenheit, der Untertanschaft, zugleich die bürgerlichen und politischen Rechte. Hierin lag ein einschneidender Unterschied zu Österreich und mehr noch zu Preußen. In beiden Staaten wurde der Verfassungsbegriffeines politischen Staatsbürgers erst mit den revolutionären Konstitutionalisierungsversuchen 67 Vgl. Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt, Nr. 15, 1817, S. 117.; Beilagen zum Verfassungs-Entwurf Gesetze und Statuten, Adelsstatut, in: Fricker, S. 140: ritterschaftlicher Adel als »Staatsbürger« (§ 6); Verordnung, die gesetzlichen Bestimmungen über die Auswanderungen betreffend, vom 15. August 1817, in: Staats- und Regierungsblatt 1817, S. 403 (§ 1: »jeder selbständige Staatsbürger«). 68 Instruktion für die Oberämter, die Anweisung des Wohnsitzes für I Ieimathlose betreffend, in: Königlich-Württcmbcrgisches Staats- und Regierungsblatt 1824, Nr. 4, S. 34: »UnterthancnVerhältnis« und »Unterthan«. 69 Landesherrliche Verordnung, die Grundverfassung der verschiedenen Stände betreffend (6. Constitutionsedikt) vom 4.6.1808, in: Regierungsblatt für das Großherzogtum Baden 1808, S. 145. Zum Begriffsinhalt vgl. Lee, 259f 70 Edikt über das Indigenat, das Staatsbürger-Recht, die Rechte der Forensen und der Fremden in Baiern, in: Königlich Baierisches Regierungsblatt 1812, Sp. 209. 71 Vgl. Verordnung, die Bürger-Annahme und das damit verbundene Bürger-Annahme-Gcld in den vormaligen Patrimonial-Herrschaften betreffend, in: Königlich Württembergisches Staatsund Regierungsblatt 1810, S. 539, Nr. 1: »Schuz- und Schirmgeld für die aufgenommenen Schuzgenossen, solange diese nicht das volle Untertanen-Recht erlangt haben«. 72 Übereinkunft zwischen Bayern, Baden und Württemberg wegen wechselseitiger Übernahme der Vaganten und anderen Ausgewiesenen, in: Großherzoglich-Badisches Regierungsblatt 1816, S. 139; Ministerialerklärung, die Erläuterung und Ergänzung der mit der herzoglich Sachsen-Coburgischcn Regierung wegen wechselseitiger Übernahme von Ausgewiesenen bestehenden Convention vom 11 ./22. Dezember 1822, in: Regierungsblatt für das Königreich Bayern 1842, S. 1366.

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nach 1848 geschaffen. Der österreichische Staatsbürger des ABGB von 1811 blieb auf die Sphäre des Privatrechts beschränkt. Das preußische Untertanengesetz von 1842, beinahe drei Jahrzehnte nach den süddeutschen Kodifikationen, mied in bewußter Begrifflichkeit den Vorgriff auf den politischen Staatsbürger. Es beschränkte sich auf die politisch neutralisierte technische Basisregelung der ›Staatsangehörigkeit‹. Schloß die Durchsetzung des Wortes »Staatsbürger« den Versuch begrifflicher Staatsintegration ab, mußten sich Gehalt und Reichweite seines politischen Anspruchs an einer besonderen Gruppe der im Staat Ansässigen beweisen, nämlich an den mediatisierten ehemaligen reichsständischen Fürsten, den sogenannten Standesherren,73 sowie den Reichsrittern. Die Durchsetzung des staatlichen Souveränitätsanspruchs hing davon ab, inwieweit er diese ehedem hochprivilegierte Adelsschicht dem Gleichheitsanspruch einer territorial umfassenden Staatsbürgerschaft zu unterwerfen vermochte und gegenüber lokaler Untertanschaft das Monopol der staatsweiten Bestimmung über die Untertanstellung durchsetzte. In den süddeutschen Mittel Staaten, ganz anders als in dem wesentlich größeren Preußen, war die Durchsetzung des staatlichen Souveränitätsanspruchs bereits eine Frage des territorialen Herrschaftsumfangs: Im späteren Großherzogtum Baden betrug der Anteil der mediatisierten adligen Grundherrschaften ein Drittel des gesamten Staatsterritoriums.74 Die drei Staaten griffen in der Reformzeit zwischen 1806 und 1813 tief in die Adelsvorrechte der Mediatisierten ein. Ihr Souveränitätsanspruch, die Ausübung von Herrschaftsgewalt aus eigenem Recht, wurde auf Dauer gebrochen. Bayern, der größte Staat, betrieb, relativ gesehen, die schonendste Politik gegenüber dem mediatisierten Adel. Nach Montgelas' Vorstellungen sollten mediatisierten Adligen Vorrechte insoweit belassen werden, als sie ihrer Stellung als »Staatsbürger« nicht widersprachen.75 Die bayerischen Reformmaßnahmen, die maßgebend für die Adelsvorschriften der Deutschen Bundesakte im Jahre 1815 wurden, kennzeichneten den allen drei Staaten gemeinsamen Umfang der Adelsrestriktionen: die Durchsetzung des staatlichen Monopols in der Besetzung von Staatsstellungen, die Abschaffung adliger Steuerbefreiungen und eines privilegierten Gerichtsstandes, die Beschränkung und Umwandlung der Patrimonialgerichtsbarkeit in die staatlich kontrollierte Gerichtsbarkeit sowie die Ablösung der Grundherrschaft.76 Die drei Staaten deklarierten sowohl in der politischen Programmatik als auch in der rechtlichen Terminologie die mediatisierten Familien als ihre Staatsbürger. Doch wie weit der darin zum Ausdruck kommende Souveränitätsanspruch des Staates reichte, entschied sich 73 74 75 76

Deutsche Bundesakte vom 8.6.1815, Art. XIV. Ullmann, Baden , S. 53-55. Vgl. Demel, S. 219. Vgl. Weis, Begründung, S. 47.

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an der Frage, inwieweit er die Eindeutigkeit und Einzigkeit der Staatsbürgerschaft und das Monopol ihrer Verleihung durchsetzte. In den drei Staaten gab es mediatisierten Adelsbesitz, der die neu gezogenen Staatsgrenzen überschritt und damit das Problem mehrfacher Staatsangehörigkeit aufwarf. Es gab Standesherren, die in bis zu sieben verschiedenen Staaten Grundbesitz hatten. In einem militärischen Konflikt zwischen diesen Staaten geriet die staatliche Loyalitätsbeziehung in Zweifel. Überdies durchkreuzte die territorial vermittelte, die Staaten übergreifende und neben ihnen bestehende politische Machtstellung der Mediatisierten den Anspruch der mediatisiercnden Einzelstaaten, auf ihre Angehörigen unmittelbar und umfassend zuzugreifen. Die einzelstaatlich nicht kontrollierbare Herrschaftsmacht der ehemaligen Reichsstände, z. B. der Reichsritter, erschien den Staaten, die ihre innere wie äußere Souveränität gerade mit der Abschaffung der alten Reichsinstitutionen vervollständigt hatten, als potentielle Bedrohung ihrer neu gewonnenen Stellung. Es sagte viel über die innere Stabilität, mithin auch über das politische Selbstbewußtsein der Staaten aus, inwieweit sie dem Problem der ›ambivalenten Machtstellung‹ ehemaliger Standesherren Bedeutung beimaßen. Bayern schloß die Grundlagen seiner Adelsgesetzgebung im Jahre 1812 mit einem umfassenden Edikt über das Indigenat77 ab. Darin wurde eine klare Unvereinbarkeitsregel mit Blick auf den grundbesitzenden Adel getroffen: »Wer in einem fremden Staate domiziliert ist, und demselben durch Unterthans- oder Lehens-Verband angehört, kann in Unserem Königreiche das Staatsbürger-Recht weder erwerben, noch beibehalten, noch ein Lehen besitzen, ohne der persönlichen auswärtigen Unterthans- und Lehens-Verbindung gänzlich entsagt zu haben, und aus derselben ohne Vorbehalt entlassen worden zu seyn«. Adlige Grund- und Lehensherren, deren ehemaliges Vaterland mit Bayern vereinigt worden war, die keine Erklärung für Bayern abgegeben hatten und sich daraufhin weiter außer Landes aufhielten bzw. ohne Bewilligung des bayerischen Staates in auswärtigem Dienst verblieben, wurden neben anderen Sanktionen mit der Streichung aus den Adels- und Ordens-Registern und dem Verlust ihrer Titel bestraft.78 Die Deutsche Bundesakte von 1815 suchte, ohne eine Restauration der Adelsprivilegien herbeizuführen, den Ausgleich zwischen Adels- und staatlichen Souveränitätsinteressen. Am Ende von zwei Jahrzehnten wechselnder Kriegskonstellationen unter den deutschen Staaten entschärfte sich das Problem, das aus der Ambivalenz staatlicher Loyalität erwuchs, mit der Schaffung eines Staatenbundes, der die gegenseitige militärische Beistandspflicht der in ihrer territorialen Souveränität bestätigten Staaten vorsah. Das 77 Edikt über das Indigenat, das Staatsbürger-Recht, die Rechte der Forensen und der Fremden in Baiern vom 6.1.1812, Königlich Baierisches Regierungsblatt 1812, Sp. 209, Art. XXXVI. 78 Art. XXXI-XXXIII des Edikts über das Indigenat vom 6.1.1812.

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bayerische Edikt über das Indigenat von 1818 behielt daher allen Standesherren, »welche sich ihren Aufenthalt in den zum deutschen Bund gehörenden, oder mit demselben in Frieden lebenden Staaten wählen«, alle durch die Königliche Deklaration zugestandenen Rechte vor und behandelte sie im übrigen entsprechend dem aus dem Grundbesitz entspringenden Pflichtenstatus von Forensen. Die Verpflichtung zur ›Eindeutigkeit‹ der Staatsbürgerschaft wurde in allgemeinen Formulierungen, die adlige Standesherren nicht mehr unter den Staatsbürgern hervorhoben, dadurch unterstrichen, daß die Annahme von Diensten, Gehältern, Pensionen, Ehrenzeichen einer auswärtigen Macht ohne Bewilligung des bayerischen Staates den Verlust des Staatsbürgerrechts nach sich zog. Grundbesitz in einem fremden Staat, sofern damit keine bleibende persönliche Ansässigkeit und keine Kollision mit den Untertanspflichten gegenüber dem Königreich verbunden waren, blieb erlaubt.79 Das Großherzogtum Baden begnügte sich in seinem 6. Constitutionsedikt von 1808 damit, in seinem Staat wohnhaften Standes- und Grundherren das Staatsbürgerrecht zuzuweisen, zu seiner vollen Ausübung indessen zu verlangen, daß es nur gegenüber dem Staat Baden bestand. Der badische Staat, der in der Abschaffung der Adelsprivilegien über Bayern hinausging, sah sich durch die Gründung des Deutschen Bundes und zur Abwehr einer Adelsrestauration zu einzelnen Zugeständnissen gegenüber den Standesherren gezwungen, um die staatlichen Souveränitätsgewinne aus der Rheinbundzeit zu verteidigen.80 In der grundlegenden Verordnung zur Rechtsstellung des ehemaligen Reichsadels behielt sich der badische Staat das ausschließliche Recht vor, neue Untertanen anzunehmen oder Untertanen aus dem Staatsverband zu entlassen. Die Standesherren durften nur inländisches bzw. von staatlichen Behörden naturalisiertes Verwaltungspersonal beschäftigen.81 Damit sicherte sich der Staat grundsätzlich das Monopol der Bestimmung über die Staatsbürgerschaft. Auch wenn sich in manchen Gebieten des Deutschen Bundes aus der Sicht der Bevölkerung, die der Standesherrschaft unterlag, diese vielfach als »Unterlandesherrschaft« mit eigener Untertanschaft ausnahm,82 entsprach dies in Baden nicht der staatsrechtlichen Realität. Diese wies voraus auf den fortschreitenden Abbau adliger Herrschaftsprivilegien, auf ihr allmähliches Aufgehen im Staatsverband. Ausnahmen davon gewährte der Staat nur durch Verordnung gegen-

79 Edict über das Indigenat vom 26.5.1818, Erste Beilage zu der Verfassungsurkunde, §§ 10-5, s. Weber, Neue Gesetzes- und Vcrordnungssammlung für das Königreich Bayern, Bd. 1, München 1819, S. 598. 80 Vgl. fehrenbach, Scheitern der Adelsrcstauration, S. 252-254. 81 Verordnung (Die Rechts-Verhältnisse der vormaligen Reichs-Stände und Reichs-Angehörigen betreffend) vom 25.4.1818, §§ 18, 29, 34, 41, in: Großherzoglich Badisches Staats- und Regierungsblatt 1818, S. 45. 82 Gollu›itzer, S. 77-80.

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über einzelnen Standesherren.83 Bei der Annahme fremder Dienste beharrte er auf der für alle Staatsbürger geltenden Pflicht zur Eindeutigkeit.84 Besonders scharfe Adelsrestriktionen verhängte der württembergische Staat. Als ein »Purgatorium für die Standesherren«85 wurde die absolutistische Politik Friedrichs I. bezeichnet. Mit Härte beharrte der württembergische Staat auf der ›Eindeutigkeit‹ seiner Untertanschaft. In einem königlichen Befehl von 1807 äußerte sich der württembergische König »mißfällig« über das Verhalten seiner »Vasallen und Untertanen«, die ohne nähere Erklärung in fremden Kriegs- und Zivildiensten verblieben waren. Er ordnete daraufhin an, daß die Aufrechterhaltungadliger Liegenschaften und der Staatsdienst außerhalb der verbündeten Staaten des Rheinbundes »ohne Nachsicht« und absolut unvereinbar sei mit der Grundherrschaft und der Untertanschaft im württembergischen Staat. Die Übertretung dieses Gebots bedrohte der königliche Befehl mit der Sequestration der Liegenschaften bzw. mit dem Verlust des Untertanen- und Bürgerrechts.86 Die württembergische Verfassung von 1819 bekräftigte, auch adlige Standesherren einschließend, das allgemeine Verbot des unerlaubten Eintritts in fremde Staatsdienste. Die besonders intensive Pflichtbindung der Adelspolitik während der Reformzeit wirkte aber in einer Vorschrift nach, die einem Württemberger, der in einem fremden Staat seine bleibende Wohnung nahm, die Beibehaltung der württembergischen Staatsbürgerschaft nur mit königlicher Bewilligung und unter der Bedingung gestattete, daß »er den ihm obliegenden staatsbürgerlichen Pflichten in jeder Hinsicht Genüge« leistete.87 Die gemäßigte Adelspolitik in der restaurativen Phase des Deutschen Bundes zwang auch den württembergischen Staat, dessen Verhältnis zu den führenden Adelsfamilien gespannt blieb, zu Zugeständnissen88 hinsichtlich fortbestehender Privilegien. Doch wurde an dem grundsätzlichen Verbot der Mehrfachstaatsangehörigkeit festgehalten, auch wenn einzelnen Familien aus »besonderer Rücksicht« auf die individuellen Verhältnisse Ausnahmen gestattet wurden.89 83 Verordnung über die standesherrlichen Verhältnisse des Fürsten von Leiningen vom 22.5.1833, in: Staats- und Regierungsblatt für das Großherzogtum Baden 1833, S. 135, § 16f 84 Verordnung über die standesherrlichen Verhältnisse der Fürsten von Löwenstein -Wertheim vom 16.4.1833, § 6, in: Großherzoglich Badisches Staats- und Regierungsblatt 1833, S. 47. 85 Gollwitzer, S. 54-57. 86 Königlicher Befehl, die in fremden Diensten stehenden königlichen Vasallen betreffend, vom 11.9.1807, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1807, S. 421. 87 Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, §§ 34,35, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633. Zur württembergischen Reformgesetzgebung der Jahre 1817 bis 1823, die die Restauration der adligen Patrimonialgerichtsbarkeit und die Gleichstellung der adligen Verwaltung mit staatlichen Behörden verhinderte, vgl. Fehrenbach, Adel und Adelspolitik, S. 194. 88 Mann, S. 285; Herdt, S. 146, 148. 89 Vgl. z. B. Deklaration wegen der staatsrechtlichen Verhältnisse des gräflichen Hauses Königsegg-Aulendorffvom 6. August 1828, Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1828,

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Die Rechtsquellen der süddeutschen Staaten zeigen, wie sehr die Schärfung einer ›eindeutigen‹ Staatsangehörigkeit dem staatlichen Bedürfnis nach der Mediatisierung und Unterwerfung lokaler Adelsherrschaft entsprang. Dahinter stand die Ein- und Gleichordnung adliger Standesherren als Staatsbürger und die Herstellung uneingeschränkter Loyalität zum landesherrlichen Souverän. Wie alle anderen Staatsbürger der drei Staaten mußten auch die Standesherren und ehemaligen Reichsritter dem Landesherrn einen Huldigungseid leisten. Alle drei Staaten führten zur Integration ihrer neu erworbenen Territorien einen Untertaneneid ein.90 Besonders intensiv ausgestaltet wurde dieses Mittel der Loyalitätserzeugung in Bayern. Das Indigenatsedikt von 1812 schrieb für alle eingeborenen oder naturalisierten Bayern unter ausdrücklichem Einschluß der Prinzen des königlichen Hauses und der Majoratsbesitzer die Ableistung eines »Staatsbürger-Eides« mit der Formel »der Konstitution und den Gesezen (!) zu gehorchen, - dem Könige treu zu seyn«, vor. Der Eid war notwendige Bedingung für das Staatsbürgerrecht und die daraus fließenden Berechtigungen. Er wurde in Staatsbürgerregistern verzeichnet und sollte »mit Würde« sowie einer »belehrenden Erinnerung« an die mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechte und Pflichten verbunden werden.91 Die Formalisierung, rechtliche und rituelle Aufwertung der Staatsbürgerschaft durch den Staatsbürgereid, schließlich seine primäre Ausrichtung auf den Staat spiegeln in besonderer Weise das moderne Staatsverständnis der bayerischen Reformzeit. Staat und Herrscherpersönlichkeit waren voneinander abgehoben92, folglich wurde das Treuebekenntnis gesondert abgegeben. Die territoriale Festigung der drei süddeutschen Staaten nach 1806 brachte auch die Kodifikation und weitgehende Vereinheitlichung der Regeln über den Erwerb und Verlust ihrer Staatsbürgerschaft mit sich. Für den ursprünglichen Erwerb der Staatsbürgerschaft bzw. des Indigenats als dessen Voraussetzung rangierte übereinstimmend das Prinzip der Abstammung, der Geburt von Staatsangehörigen Eltern, an erster Stelle. Doch beanspruchte es nicht das Monopol im frühen 19. Jahrhundert. Das badische Konstitutionsedikt von 1808 deklarierte die bei Gründung des Rheinbundes im Großherzogtum BaNr. 54, § 6; Bekanntmachung, betreffend einen Nachtrag zu der K. Deklaration über die staatsrechtlichen Verhältnisse des fürstlichen Hauses Waldburg-Wurzach, in: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1847, S. 23; dazu Herdt, S. 148. 90 Landesherrliche Verordnung, die Grundverfassung der verschiedenen Stände betreffend (6. Constitutions-Edikt), in: Rcgierungs-Blatt für das Grosherzogthum Baden vom 27.6.1808, S. 145, 151. 91 Vgl. Edikt über das Indigenat, das Staatsbürger-Recht, die Rechte der Forensen und der Fremden in Baiern vom 6.1.1812, in: Königlich Baierischcs Regierungsblatt 1812, Sp. 209, III.Titel. Von der Leistung des Staatsbürger-Eides; vgl. auch Verfassungsurkunde vom 26.5.1818, Titel X, § 3: »Treue dem Könige, Gehorsam dem Gesetze«, in: Weber, Neue Gesetzes- und Verordnungssammlung für das Königreich Bayern, Bd. 1, München 1819, S. 578. 92 Vgl. Weis, Begründung, S. 39.

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den Wohnhaften als badische Staatsbürger und erhielt auch in dem vom Code Civil geprägten Landrecht von 1809 neben dem Geburts- das Territorialprinzip aufrecht: Wer in Baden von Fremden geboren war, wurde badischer Staatsbürger, wenn er dort seinen Wohnsitz nahm.93 Gemäß dem Tcrritorialprinzip konnte in Bayern wie in Baden das Staatsbürgerrecht durch zehnjährigen Wohnsitz im Land ersessen werden.94 Auch die Einwanderung und dauerhafte, nicht zeitgebundene Ansässigmachung zog die Naturalisierung nach sich.95 Der patriarchalische Impetus des württembergischen Spätabsolutismus verband das Territorialprinzip gar mit einem pädagogischen Anspruch: Fremde Landstreicher, die sich fünf Jahre lang in Württemberg aufgehalten hatten, sollten daraufhin nicht mehr ausgewiesen werden können, sondern »zu unschädlichen und wo möglich zu guten und nützlichen Staatsbürgern« gebildet werden.96 Erworben wurde das Staatsbürgerrecht - außer durch die Heirat einer Fremden mit einem Staatsbürger und durch die Annahme eines Staatsamts durch die Naturalisation. Insoweit entsprachen diese Regeln dem Standard, der sich in allen Staaten des Deutschen Bundes durchzusetzen begann. Hinzu traten spezielle Kriterien der Naturalisationswürdigkeit und Nützlichkeit, die sich auf die individuelle Leistungsfähigkeit wie auf dauerhafte Vermögensanlagen bezogen. Bayern verlangte von einem Einbürgerungsbewerber, daß er für den Staat wichtige Dienste leistete, »ausgezeichnete Talente« oder Erfindungen einbrachte, »bedeutende Etablissements« errichtete oder ein beträchtliches Gut ankaufte.97 Der württembergische Staat forderte 1807 für die Wiederaufnahme ehemaliger Untertanen deren Wehrtauglichkeit bzw. Herkunft aus »gutprädicirten Familien«.98 Bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein erhielt der württembergische Staat als Auswanderungsgebiet betont »strenge Maßstä93 6. Konstitutionsedikt vom 27.6.1808, in: Regierungs-Blatt für das Grosherzogthum Baden, S. 145 (S. 153); Landrecht für das Großherzogtum Baden nebst Handelsgesetzen. Amtliche Ausgabe, Karlsruhe 1840, 1. Buch. Von den Personen. 1. Titel. Von dem Genuß und Verlust der bürgerlichen Rechte. 1. Kapitel. Von dem Genuß der bürgerlichen Rechte, Nr. 9, S. 6. Jedoch schwächte der Zusatzartikel Nr. 9a das aus dem Code Napoléon übernommene, eingeschränkte ius soli weiter ab, indem der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt grundsätzlich in das Ermessen der Staatsregierung gestellt wurde, s. Hecker, Staatsangehörigkeit im Code Napoléon, S. 26. 94 6. Konstitutionsedikt vom 27.6.1808, in: Regierungs-Blatt für das Grosherzogthum Baden 1808, S. 145, Nr. 8 (S. 153); Edikt über das Indigenat vom 6.1.1812, in: Königliches Baierisches Regierungsblatt 1812, Sp. 208, Art. IV.2. 95 Edikt über das Indigenat vom 26. Mai 1818, Beilage zur Verfassungsurkunde des Königreichs Bayern, § 3b. 96 Generalverordnung vom 11.9.1807, § 21 in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1807, S. 445. 97 Edikt über das Indigenat vom 6.1.1812, in: Königlich Baierisches Regierungsblatt 1812, Sp. 210, Art. IV. 98 Verordnung, die Wiederaufnahme der in die königlichen Staaten zurückgekehrten Auswanderer in das Unterthanen- und Bürgerrecht betr., vom 5.5.1807, in: Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1807, S. 99.

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be« für die Wiederaufnahme ehemaliger Württemberger aufrecht.“ Entsprechend der starken kommunalen Tradition wurde die Staatsbürgerschaft durch das Orts- bzw. Schutzbürgerrecht vermittelt bzw. an deren Zusicherung gebunden.100 Im übrigen blieben die Kriterien der Naturalisation dem Verwaltungsermessen überlassen. Berufliche Kapazitätserwägungen, die in Baden im Verlauf der wirtschaftlichen Krise vor Ausbruch der Revolution 1848 zur Beschränkung der Naturalisation von Lehramtskandidaten führten, wurden nicht publiziert.101 Überblickt man die politischen und sozialen Faktoren, welche die rechtliche Gestalt der Staatsangehörigkeit wesentlich formten, liegt eine prägende Gemeinsamkeit der drei süddeutschen Staaten darin, daß sie bis 1848 im Saldo Auswanderungsgebicte waren. Die ländliche Überbevölkerung, verstärkt durch Hungersnöte in den Jahren 1816/17,102 führte in Württemberg und etwas später in Baden zu frühen Wanderungsverlusten, die sich ab Beginn der dreißiger Jahre für Jahrzehnte zu negativen Wanderungsbilanzen verstetigten.103 In Bayern wurde nach Abwanderungsverlusten zu Beginn und einem Zuwanderungsüberschuß in der Mitte der dreißiger Jahre die Wanderungsbilanz ab 1837104 stetig negativ. Die Auswanderung wirkte als Regulativ der Überbevölkerung sowie der landwirtschaftlichen Krisen. Sie wurde staatlicherseits durch die Dekretierung der Auswanderungsfreiheitl05 bekräftigt und führte den Verlust des Staatsbürgerrechts herbei, ohne daß es dazu einer ausdrücklichen Erklärung bedurfte.106 99 Vgl. Königliches Dekret an das Ministerium des Innern, 6.7.1858; Erlaß Ministerium des Innern an die Oberämter, 2.7.1817, betr. Anordnung der Weitergcltung der Verordnungen für Rückwanderer von 1804, wonach Rückwanderer vor der Wiedereinbürgerung Schutz- und Schirmgelder zu zahlen hatten , WIISTA, Ministerium des Innern, Ε 146, Bü 1621). 100 S. u., 6. Konstitutionsedikt, vom 27.6.1808, in: Rcgierungs-Blatt für das Grosherzogthtim Baden, S. 145 (155); Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, § 19, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633. 101 Ministerium des Innern an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten, 25.5.1847, GLA, Bestand 236, Ministerium des Innern , Nr. 11128. 102 Hippel, S. 148f.,164f. 103 Vgl. Köllmami u. Kraus, Quellen, S. 34, 40, 64. 104 Vgl. Köllmami u. Kraus , Quellen, S. 65. 105 In Baden war die Auswanderung 1804 einer Erlaubnispflicht unterworfen, vgl. Landesherrliche Verordnung über das Wegziehen, Auswandern und Austreten der Untertanen, vom 10.1.1804, in: Kur-Badischcs Regierungsblatt 1804, S. 11, §§ 8 ff. Das Gesetz über Wegzugsfreiheit vom 14.8.1817 ( in: Badisches Regierungsblatt 1817, S. 77), in Ausführung von Art. XVIII der Deutschen Bundesakte, erleichterte den Wegzug in andere Bundesstaaten bei Freiheit von Abzugsgeldern. Die bayerische Verfassungsurkunde vom 26.5.1818 räumte die Auswanderungsfreiheit nach Ableistung der Verbindlichkeiten gegenüber dem bayerischen Staat ein, vgl. Tit. IV, § 14, in: Weber, Neue Gesetzes- und Verordnungssammlung für das Königreich Bayern, Bd. 1, S. 578; entsprechend die Württembergischc Verfassungsurkundc vom 25. September 1819, § 32, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633. 106 Württembergische Verfassung vom 25.9.1819, § 33; bayerisches Edict über das Indigenat vom 26.5.1818, Erste Beilage zu der Verfassungs-Urkunde, § 6 (2), s. Karl Weber, Neue Geset-

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Das Interesse des Staates an der Auswanderung fand im raschen Erlöschen seiner Schutzpflicht für die Ausgewanderten seinen Ausdruck. Eine weitere Gemeinsamkeit verband die süddeutschen Mittelstaaten und unterschied sie von Preußen, nämlich der rechtliche Ausbau und das politische Gewicht kommunaler Angehörigkeitsbeziehungen. Die weit in das Heilige Römische Reich zurückreichende Tradition lokaler und städtischer Bürgerrechte in den süddeutschen Territorien, ihre Behauptung gegenüber dem Zugriff des Territorialherrn, erhielt festgefügte politisch-soziale Gemeinschaften, die in ihrem hierarchischen Gefüge nach innen stabil, nach außen vielfach abgeschlossen und von ausgeprägter Eigenart wirkten. Mack Walker hat die Besonderheit dieser lokalen Mikrokosmen in dem Begriff der »hometowns« gefaßt.107 Die relative Schwäche territorialstaatlicher Zentralgewalt, verglichen mit dem absolutistischen Preußen, erhielt politisches Selbstbewußtsein und Autonomiestreben der Kommunen am Leben, die sich über die Reformzeit des frühen 19. Jahrhunderts hinweg im Aufbau der modernen Territorialstaaten behaupteten. Mehr noch: Es entwickelte sich ein politisches Gemeindebewußtsein, das diese als »Grundlage des Staatsvereins«108 begriff und politisch verteidigte. Wie tief die zentralisierende Kodifikation einer staatsweiten Staatsangehörigkeit in diesen tradierten territorialen und sozialen Mikrokosmus eindrang, läßt sich vor allem an ihrem Verhältnis zur überkommenen Gemeindeangehörigkeit ablesen. Der enge sachliche Zusammenhang zwischen der Schaffung einer Staatsverfassung und ihrer gleichzeitigen Unterscheidung von der Verfaßtheit der eingelagerten kommunalen Einheiten tritt in den süddeutschen Staaten viel deutlicher hervor als in Preußen. Während hier eine Verfassung erst vier Jahrzehnte nach der ersten vereinheitlichenden Städteordnung (1808) folgte, wurden in Bayern, Württemberg und Baden Staats- und Gemeindeangehörigkeit früh in ihrem systematischen Zusammenhang begriffen und politisch geschaffen. Der straffere modernisierende und zentralisierende Impetus der süddeutschen Staaten, das Vorbild des revolutionären französischen Rechts, schließlich die historisch besonders ausgeprägte Beharrungskraft des kommunalen Bürgerrechts in den zersplitterten süddeutschen Territorien griffen dabei ineinander. Der sachliche Zusammenhang zwischen der Kodifikation des Stadt- und

zes- und Verordnungssammlung für das Königreich Bayern, Bd. 1, S. 598; Landrecht für das Großherzogtum Baden nebst I landelsgcsetzen. Amtliche Ausgabe, Karlsruhe 1840,2. Kapitel. Von dem Verlust der bürgerlichen Rechte. Erster Abschnitt. Von dem Verlust der bürgerlichen Rechte, insoweit er aus dem Verlust der rechtlichen Eigenschaft eines Inländers entsteht § 17(3): »endlich durch jede Niederlassung in einem fremden Land, ohne Absicht, zurückzukehren«. 107 Walker, S. 137-140. 108 Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, § 62, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633.

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des Staatsbürgerrechts spiegelt freilich zugleich einen elementaren politischen Konflikt, der weit hinein in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichte:109 den Kampf des traditionellen Gemeindebürgertums gegen den zentralisierenden und egalisierenden Zugriff des Staates. Baden ging zeitlich voran mit seinem 2. Constitutionsedikt von 1807, das seiner Funktion nach auf den gemeinderechtlichen Teil einer künftigen Verfassungvorgriff und das Verhältnis zwischen Staats- und Ortsbürgerschaft regelte. In Bayern fielen die Konstitution von 1808, das Indigenatsedikt und das Gemeindegesetz zeitlich annähernd zusammen, wobei in der bayerischen Staatsführung die Schaffung eines konstitutionellen Rahmens als Voraussetzung der Gemeindereform gesehen wurde.110 In Württemberg schließlich entstand das Verwaltungsedikt über die Gemeinden 1818 inmitten der Auseinandersetzung um die 1819 verabschiedete Verfassung und wurde nach deren Vereinbarung im Jahre 1822 in seinen Grundzügen bestätigt.111 Die landesweite Vereinheitlichung des Gemeinderechts schuf die Voraussetzungen für die Unterscheidung und schließlich Überordnung der Staatsangehörigkeit über das Gemeindebürgerrecht. Doch bedeutete die materielle Vereinheitlichung gerade in den süddeutschen Staaten nicht die nivellierende Einfügung der Kommunen in das Staatsganze. Nach vereinzelten anfänglichen Beschränkungen behauptete sich bis über die Jahrhundertmitte hinaus die politische und administrative Selbständigkeit der süddeutschen »Bürgergemeinde« gegenüber dem Staat.112 Das zeigte sich in allen drei Staaten. Das 6. badische Konstitutionsedikt von 1808 stellte klar, daß das badische Staatsbürgerrecht zwar nicht das Ortsbürgerrecht vermittle, wohl aber das Ortsbürgerrecht das Staatsbürgerrecht.113 Hier waren zwar Orts- und Staatsbürgerrecht begrifflich geschieden, doch erwuchs das letztere noch ganz traditionell aus lokalem Rechtsgrund. Wie bald der zentralisierende, vereinheitlichende Impetus der Reformstaaten an die Grenzen kommunaler Freiheit und Eigenständigkeit stieß, zeigte sich in Bayern. Das Gemeinde-Edikt von 1808 behandelte die Städte als Ausfluß der Staatsgewalt und beließ ihnen nur einen staatlich eng umgrenzten eigenen Wirkungskreis.114 Äußerer, bleibender Ausdruck des staatlichen Zentralisierungswillens war die dauerhafte Abkoppelung der zugleich in der Verfassung von 1808 kodifizierten bayerischen Staatsangehörigkeit (des »Indigenats«) von der Gemeindeangehörigkeit. Wie in Preußen mehr als dreißig Jahre spä109 S. eingehend Koch,S. 76, 79f. 110 Weiss, Integration der Gemeinden, S. 78. 111 Croon, S. 244f. zur württembergischen Gemeindeverfassung nach 1817 s. Waibel, S. 32f 112 S. Treichel, S. 80. 113 Landesherrliche Verordnung. Die Grundverfassung der verschiedenen Stände betreffend 6. Constitutionsedikt vom 26.7.1808, in: Badisches Regierungsblatt 1808, S. 145 (S. 155). 114 Weiss, Integration der Gemeinden, S. 86-89.

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ter115 war die Staatsangehörigkeit nicht mehr an die Voraussetzung des kommunalen Bürgerrechtserwerbs116 gebunden. Doch wich auch der bayerische Staat unter dem Druck kommunaler Selbstbehauptungskräfte, insbesondere des Bürgertums der großen Städte und der altständischen Kreise auf dem Land, zurück. Das Gemeinde-Edikt von 1818117 hob zwar nicht die Trennung von Staatsangehörigkeit und Gemeindebürgerrecht auf, führte jedoch die Selbstverwaltung der Kommunen wieder ein.118 Ein wesentlicher Bereich kommunaler Eigenständigkeit gegenüber dem Staat blieb das Recht zur Aufnahme in die Bürgerschaft. Weder im relativ zentralistischen Bayern noch in Württemberg oder Baden setzte sich vor der ersten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts die Einwohnergemeinde durch.119 Der Zuzug in die Gemeinden bzw. der Antritt des Bürgerrechts wurde von erheblichen Gebühren bzw. der Erfüllung sonstiger Zulassungsvoraussetzungen abhängig gemacht.120 Das Recht der Gemeinden auf Bürgeraufnahme wurde gestärkt; ein staatlicher Eingriff war nur bei Verweigerung der Aufnahme ohne hinreichende Gründe zulässig.121 So sollte in Bayern das Bürgerrecht entgegen einem Vorschlag des federführenden bayerischen Beamten Zentner122 nicht mit dem Staatsbürgerrecht erlöschen, insofern weiterhin unabhängig vom Staatsbürgerrecht, sogar diesem vorausliegend bestehenbleiben. Die württembergische Verfassung von 1819 faßte diese Rückverschiebung zugunsten der gemeindlichen Selbständigkeit in einer grundlegenden Aussage zusammen: »Die Gemeinden sind die Grundlage des Staatsvereins«.123 Mit diesem Satz war - weit über Württemberg hinaus - die süddeutsche ›Gemeindeideologie‹124 programmatisch zusammengefaßt, die der Entwicklung zur Staatsbürgergesellschaft die Grenzen partikularer und kommunaler Interessen 115 In dem Gesetz von 1842, s. Kap. II.2. 116 Vgl. Rehm, S. 263f. Eine Ausnahme stellt die württembergische Verfassung von 1819, § 19 (in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633) dar. 117 Die bayerische Gemeindeordnung von 1818 erwähnt Indigenat/Staatsangehörigkcit nicht als Voraussetzung der Mitgliedschaft in der Gemeinde (Bestimmung der zu einem GemeindeGliede erforderlichen Eigenschaften, § 11-18, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1818, S. 54f.). 118 Weiss, Die Integration der Gemeinden, S. 241. 119 Die Einwohnergemeinde wurde 1849 in Württemberg eingeführt (Waibel, S. 63f.) Eine Ausnahme stellte das Großherzogtum Hesscn-Darmstadt dar, in dem mit der Gemeindeordnung von 1821 ein einheitliches Ortsbürgerrecht geschaffen wurde, vgl. Matz, S. 39. 120 Vgl. auch das badische Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts vom 31.12.1831 (Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 117-132), §§ 15 ff·; dazu Nolte, S. 85-99; Matz, S. 43f. 121 Weiss, Integration der Gemeinden, S. 208f. 122 Friedrich von Zentner: bayerischer Justizminister 1823-1831. 123 Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, § 62, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633. 124 Am Beispiel des badischen ›Kommunalismus‹ eindringlich Nolte, S. 188-198.

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entgegensetzte. Das spiegelt sich seit Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts im Gemeinderecht der drei süddeutschen Staaten, das bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein auf die sozialen und politischen Veränderungen mit zunehmender Abschließung nach außen sowie mit illiberalen Restriktionen des Gemeindelebens und Oligarchisierungstendenzen nach innen reagierte. Zunächst blieb das zentrale Strukturmerkmal der Bürgergemeinde, die statusrechtliche Unterscheidung zwischen (Voll-)Bürgern und anderen minderberechtigten Einwohnern der Gemeinde, erhalten. Das geschah offen in Bayern, wo die Gemeindeordnung von 1818, am Leitbild des selbständigen Hausbesitzers und Gewerbetreibenden orientiert, »wirkliche Mitglieder einer Gemeinde« von »bloßen Miethbewohnern und Inleuten« minderen Rechts unterschied.125 Das württembergische Gemeindeedikt von 1822 ging von der Unterscheidung in Bürger und bloße Beisitzer aus, die keinen Anteil an den Gemeindenutzungen hatten.126 Kern und sozialer Rückhalt der spezifisch süddeutschen Gemeindemitgliedschaft war das Heimatrecht. Die Heimatgesetzgebung entsprang wie in Preußen dem Druck, im Staatsgebiet umherziehenden, pauperisierten, in die Städte drängenden Bevölkerungsgruppen Aufnahme in den Kommunen zu verschaffen, ohne diese finanziell und sozial zu überlasten. In diesem Interessenausgleich blieb den Gemeinden eine starke Entscheidungsposition127 über die Aufnahme neu Anziehender, nachdem sie die hergebrachten Aufnahmeregelungen in bestimmten Fällen dazu genutzt hatten, den Zugang zur Gemeinde völlig abzuschneiden. Im Unterschied zum preußischen System des Unterstützungswohnsitzes war das Heimatrecht, die Berechtigung zur sozialen Armenfürsorge, entweder ausdrücklich mit dem Bürgerrecht verschmolzen128 oder der Gemeindemitgliedschaft durch die gleichen Erwerbsvoraussetzungen rechtlich gleichgestellt.129 Das Heimatrecht ersetzte das Bürgerrecht als Säule des »hometown overcleaf« (!) (Mack Walker). Die Regeln der Armenunterstützung wurden zum Schlußstein der kommunalen Mitgliedschaftsstruktur. Die Aufnahme in den Bürgerrechtsverband löste so weitreichende finanzielle Folgelasten aus, daß die Kommunen ein hohes Interesse an der Bestimmung - und häufig re125 Verordnung, die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich betreffend, §§ 11-13, in: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1818, Sp. 49. 126 Croon, S. 247; Naujoks, S. 120. 127 Walker, S. 347f; Matz, S. 37f. 128 Vgl. z. B. in Baden: Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts vom 31.12.1831 (Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 117), § 1 Nr. 8: »Die Rechte der Gemeindebürger sind [... ] das Recht des Anspruches auf Unterstützung aus den Gemeindcmitteln in Fällen der Dürftigkeit«. 129 Walker, S. 347f; Rehm, S. 261 f.

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striktiven Handhabung - über die Aufnahmebedingungen behielten.130 Zwar traten die Unterstützungsleistungen der Gemeinden, Geldalmosen, Naturalien, ärztliche Versorgung, Wohnung, Kleidung und Brennmaterial, nur subsidiär ein, wenn der Unterstützungsbedürftige arbeitsunfähig war und von Dritten keine Unterstützungsleistung zu erwarten hatte. Doch wurden zusätzliche Kosten, die den Gemeinden durch vermehrten Zuzug Verarmter entstanden, in Form von Umlagen finanziert, welche die Gemeindemitglieder vermehrt belasteten.131 Während in Preußen die Durchsetzung einer einheitlichen Staatsangehörigkeit nach 1842 auf der einheitlichen Einwohnergemeinde beruhte, stieß in den drei süddeutschen Staaten die konstitutionell proklamierte Staatsangehörigkeit an die Grenze kommunaler Rechte. Zu ihnen gehörten neben dem Heimatrecht vor allem auch die Bestimmung über gesetzliche Eheverbote. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts waren Eheverbote - gleichfalls im Unterschied zu Preußen - eingeführt worden,132 um den Geburten- und Bevölkerungsüberschuß zu regulieren. Sie griffen tief in das soziale und private Leben ein, wobei ihre Ausführung in kommunaler Hand lag. Indirekt betrafen sie auch die staatliche Angehörigkeitsbeziehung, indem sie Handhabe boten, die Einheiratung von Ausländerinnen und damit den Erwerb der jeweiligen Staatsangehörigkeit zu unterbinden. Auch das badische Gemeinderecht von 1831, das von den Zeitgenossen und späteren Kommentatoren als das freiheitlichste seiner Zeit gesehen wurde,133 war insofern konservativ, als es die überkommenen Statusunterscheidungen, wenn auch verdeckt und mit anderen Begriffen, beibehielt. Zwar wurde der Status des »Schutzbürgers« ausdrücklich aufgehoben, doch blieb die (statusmäßige) Gliederung in die Rechtsstufen der »Gemeindebürger«, »staatsbürgerlichen Einwohner« und »Insassen« erhalten. Es kennzeichnet den spezifischen badischen Gemeindeliberalismus,134 daß er die liberale Verteidigung der Gemeinden gegenüber obrigkeitsstaatlichem Zugriff mit den konservativen Besitzwahrungsinteressen der kommunalen Bürgerschichten verband. So kam es, daß führende Liberale wie Karl von Rotteck im badischen Landtag Allmcndberechtigungen vor dem Zugriff nicht-bürgerlicher Kreise verteidigten135 und die Einführung eines Zensus forderten. Stärker etatistische, egalitäre Vorstellungen in der Tradition des Beamtenliberalismus, den der Schöpfer des badischen Gemeinderechts, Leopold Winter, vertrat, konnten sich nicht durchsetzen. Seine ursprüngliche Forderung, jeder badische Staatsbürger solle vollberechtigtes 130 131 132 133 134 135

Walker, S. 347-350. Matz, S.45f. Grundlegend Matz, S. 37f. Croon, S. 249. Vgl. Nolte, S. 93. Zur Sicherung ökonomischer Vorrechte bisheriger Ortsbürger vgl. ebd., S. 95.

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Gemeindcmitglied werden können, drang gegen den Kammerliberalismus nicht durch.136 Die Gemeindegliederung der engen, räumlich immobilen, vorindustriellen Gesellschaft setzte sich gegenüber der offenen Einwohnergemeinde der Staatsbürgergesellschaft durch.137 Verschärft wurde diese Tendenz durch die Einführung eines Gemeindezensus bzw. Klassenwahlrechts in den Jahren 1833 und 1837. Der zunehmende Zuzugsdruck verarmter ländlicher Bevölkerung, ihr Anspruch auf gemeindliche Nutzungen und Fürsorge, schließlich das wachsende Gewicht ihrer Mitbestimmung in gemeindlichen Angelegenheiten führten zu Ausschlußregelungen.138 Hinzu kamen Ehelichkeitsbeschränkungen, von denen noch die Rede sein wird. Parallel zur Pauperismuskrise nahmen die gemeindlichen Restriktionen bis zum Vorabend der Revolution zu, teilweise auch darüber hinaus. Das württembergische Gemeindegesetz von 1849139 gab zwar allen Gemeindeeinwohnern das kommunale Wahlrecht und vollzog damit den Schritt zur Einwohnergemeinde. Das badische Gesetz von 1851 hingegen verschärfte in seiner Reaktion auf die radikale revolutionäre Bewegung die Bestimmungen über die Aufnahme und das kommunale Klassenwahlrecht. Seine Absicht war, das politische Übergewicht eines soliden kommunalen Mittelstandes zu wahren. 140 Entgegen diesen restaurativen Tendenzen seit Mitte der dreißiger Jahre vollzog sich in der ersten Jahrhunderthälfte gleichwohl ein Vorgang, der langfristig die allmähliche Auflockerung der agrarisch und kleinstädtisch dominierten Enge und Immobilität der Gesellschaft im deutschen Süden und Südwesten ankündigte. Die Staatsangehörigkeit gewann für den kommunalen Wirkungskreis rechtlich und politisch an Bedeutung. Auch wenn die württembergische Verfassung daran festhielt, die Aufnahme in die Staatsbürgerschaft von der Zusicherung des Ortsbürgerrechts141 abhängig zu machen, löste sie sich von jeder gemeinderechtlichen Voraussetzung. Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit in den drei süddeutschen Ländern unterlagen nach 1818 keiner zwingenden Mitwirkung der Gemeinden mehr. Umgekehrt jedoch wurde die vom Staat verliehene Staatsangehörigkeit zunehmend eine wesentliche Voraussetzung kommunaler Wahlberechtigung. Das bayerische Gemeinderecht von 136 Zur Debatte ebd., S. 92-98. 137 Vgl. Leiser, S. 97f., der die beträchtliche Ausweitung des Bürgerstatus auf die Schutzbürger (von 120.000 auf 200.000) in den Vordergrund stellt, die verbleibenden beiden Statusklassen übergeht. Diese wurden aber wichtig mit der restriktiven Handhabung des Rechts der Bürgeraufnahme in der Folgezeit. 138 Zur Entwicklung der Zensusregelungen vgl. Nolte, S. 127-146. 139 Gesetz, betr. einige Änderungen und Ergänzungen der Gemeindeordnung vom 6.7.1849, in: Rcgierungs-Blatt für das Königreich Württemberg 1849, S. 277; zur Entstehung Hettling, S. 181f; Naujoks, S. 127f 140 Leiser, S. 51. 141 Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, § 19, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633.

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1818 ließ nur Inhaber des bayerischen Indigenats zur eigentlichen Gemeinde und damit auch zum Kommunalwahlrecht zu.142 Der ursprüngliche Bedingungszusammenhang zwischen dem Erwerb des lokalen und des staatlichen Bürgerrechts begann sich umzukehren. Die Staatsangehörigkeit wurde zunehmend zur Voraussetzung für den Erwerb des Bürgerrechts: in Württemberg kraft Anordnung der Verfassung,143 in Baden in negativer Weise bereits seit dem Constitutionsedikt von 1808 dadurch, daß das Ortsbürgerrecht mit dem Staatsbürgerrecht verlorenging;144 in Bayern zwar nicht aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung, dafür aber mittelbar, indem für beide objektiv annähernd die gleichen Voraussetzungen gestellt wurden und die volle Ausübung der politischen Bürgerrechte das Indigenat voraussetzte. Die moderne Staatsangehörigkeit erhielt schließlich im Staatsinnern nur dann Gehalt, wenn sie staatlichen Schutz auch gegenüber kommunalen Widerständen vermittelte. Der tatsächliche politische, soziale, damit auch symbolische Bedeutungszuwachs der Staatsangehörigkeit wird daran deutlich, daß sich im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Grundsatz durchzusetzen begann: »Der Staatsangehörige muß einer Gemeinde angehören«.145 Württembergstellte dies in seiner Verfassung von 1819 klar, Bayern und Baden gelangten dazu, indem sie Staatsangehörigen das Heimatrecht in jeder Gemeinde des Staates - gegebenenfalls durch staatliche Anweisung- garantierten.146 Mit dem Erwerb des Heimatrechts entstand das Bürger- und Beisitzrecht. Die notwendige gesamtstaatliche Regelung und Verteilung massenhafter sozialer Bedürftigkeit bediente sich der Staatsangehörigkeit als Grundlage und Schlüssel. Wie tief reichte der integrierende und nivellierende Anspruch der modernen Staatsbürgerschaft ? Auch in den süddeutschen Mittelstaaten stellte die religiöse Minderheit der Juden den Probierstein für diese Frage dar. Die Juden der drei Staaten traten unter dem Regime eines überkommenen, vielfältig gestuften und regional verschiedenartigen Sonderrechts in das 19. Jahrhundert ein. Gemessen an den norddeutschen Gebieten, vor allem auch Preußens, stellten die Juden in Süddeutschland einen höheren Anteil der Bevölkerung und waren - zu 90 % im Handel, dabei überwiegend im ›Nothandel‹ tätig - insgesamt ärmer. Die Spannung zwischen dem staatlichen Reformprojekt einer allgemei142 Weiss, Integration der Gemeinden, S. 250. 143 Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, § 63, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633; zur Überordnung des Staatsbürgers über den Gemeindebürger aufgrund des Bürgerrechtsgesetzes vom 15.4.1828 s. Hettling, Reform, S. 93. 144 6. Constitutionsedikt vom 27.6.1808, in: Badisches Regierungsblatt 1808, S. 145, 156. 145 Württembergische Verfassungsurkunde vom 25. September 1819, § 62, in: Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, S. 633. 146 Vgl. Gesetz über die Heimat vom 11.9.1825 (Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1825, Sp. 103), §§ 3-5; Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts vom 31.12.1831 (Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungsblatt 1832, S. 117), § 70; Rehm, S. 249.

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nen Staatsbürgerschaft und der kommunalen Aufnahme- und Fürsorgeverpflichtung mußte unter diesen Bedingungen besonders stark werden. Das wurde insbesondere in Baden147 deutlich, dem Staat mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil unter den drei Mittelstaaten und der vergleichsweise liberalsten Reformpolitik. Das Constitutionsedikt von 1808 hob Juden, vier Jahre vor dem preußischen Emanzipationsedikt, in den Status »erbfreier Staatsbürger« mit dem Genuß aller »allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte«. Zugleich aber sollten sie, »so lange sie nicht eine, zu gleicher Nahrungsart und Arbeitsfähigkeit mit den christlichen Einwohnern hinreichende Bildung im allgemeinen angenommen haben«, nur in Ausnahmefallen mit dem Gemeindebürgerrecht »begnadigt«, im allgemeinen aber nur als Schutzbürger aufgenommen werden.148 An diesem Rechtszustand sollte sich bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts nichts ändern.141' Die in dem Edikt ausgesprochene Aufnahmebeschränkung für Juden, die sich nur dort niederlassen durften, wo bereits Juden wohnten, hatte noch nach der Revolution von 1848 Bestand.150 Auch der badische Reformlandtag von 1831, der die liberalste Gemeindebürgerrechtsgesetzgebung innerhalb des Deutschen Bundes verabschiedete, beließ allein die Juden in der minderen Restkategorie der ›Schutzbürger‹, während alle ehemaligen Schutzbürger christlichen Glaubens in das volle Ortsbürgerrecht aufstiegen. Die Diskrepanz zwischen zentraler Emanzipation und gemeindebürgerlicher Diskriminierung trat nirgends schärfer zutage.151 Die Juden blieben eine »Klasse von Staatsleibeigenen«, durch Matrikel an den Ort ihrer Niederlassung gebunden und an der vollen Mitwirkung in gemeindlichen Angelegenheiten gehindert. Die Gesellschaft gleicher Staatsbürger endete auf der kommunalen Ebene, die nach der Vorstellung des badischen Gemeindeliberalismus gerade den ›Ursprung der Staatsbürgergesellschaft‹152 darstellte. Bayern, nach Preußen der Staat mit der zweitgrößten jüdischen Bevölkerungsgruppe im Deutschen Bund, gewährte in seinem Edikt von 1813 Juden grundsätzlich die Zulassung zum Indigenat und damit zur Staatsbürgerschaft. Verbunden war damit jedoch die Restriktion durch Matrikeleintragungen. Entsprechend der Absicht des Ediktes sollte die Zahl der Judenfamilien an den Orten, an denen sie bestanden, nicht vermehrt, vielmehr »nach und nach vermindert werden, wenn sie zu groß ist«. Darüber hinaus wurde jede Einwande147 Dazu umfassend Rürup, Emanzipation der Juden. 148 6. Constitutionsedikt vom 27.6.1808, in: Badisches Regierungsblatt 1808, S. 145 (163). 149 Aufhebung erst mit dem »Gesetz die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten betreffend« von 1862, Rürup, Emanzipation der Juden, S. 88-92. 150 Vgl. Ablehnung der Bürgerrechtsannahme des Israeliten Obergerichtsadvokat Naphtali Päpst in Freiburg, Ministerium des Innern an Staatsministerium, 21.2.1851, GLA, Bestand 233, Staatsministerium, Nr. 27636. 151 Rürup, Emanzipation der Juden in Baden, S. 74. 152 S.Nolte, S. 193, 204f.

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rungund Niederlassung fremder Juden im Königreiche verboten,153 insgesamt also die Zahl der ansässigen jüdischen Staatsbürger limitiert, lokal konzentriert und nach außen abgeschlossen. Die Matrikelregelung war damit einzigartig in der Emanzipationsgesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts. Sie kehrte den programmatischen Anspruch der Zulassung zur allgemeinen Staatsbürgerschaft in sein Gegenteil um. Die Niederlassungsfreiheit der jüdischen Bayern wurde strikt beschränkt,154 um den jüdischen Bevölkerungsanteil zu begrenzen. Insoweit stand das Edikt dem Absolutismus näher als dem Konstitutionalismus: Die Aufnahme der in Bayern ansässigen Juden in die Staatsbürgerschaft diente ihrer gleichmäßigen Erfassung, Kontrolle und Diskriminierung.155 Es kam zwar zur angestrebten Reduzierung der sogenannten Schacher-, Hausierund Betteljuden, doch die »Produktivierung« der Juden, ihre Verbürgerlichung durch handwerkliche und bäuerliche Berufstätigkeit, scheiterte an der wirtschaftlichen Entwicklung.156 In Verbindung mit Heiratsbeschränkungen wirkten diese Restriktionen auf die vermehrte Auswanderung von Juden157 hin, die in Bayern während der Wirtschaftskrise im Vorfeld der Revolution von 1848 besonders hohe Werte erreichte.158 In Württemberg schließlich, das mit 0,6 % den niedrigsten jüdischen Bevölkerungsanteil der drei Staaten aufwies, verhängte das absolutistische Reformregiment Friedrichs I. 1807 ein Einreiseverbot für »fremde Betteljuden« (wie auch andere Bettler) und unterwarf »ausländische Handelsjuden« strengen Paß- und Kautionsbedingungen. Ausländische Jüdinnen mußten, sofern sie einen inländischen Juden heirateten, eine Gebühr von 500 fl. zahlen, um in den Staatsschutz aufgenommen zu werden.159 Die restriktiven Einwanderungsvorschriften wurden auch durch das Emanzipationsgesetz von 1828160 aufrechterhalten. Zwar sollten »einheimische Israeliten« grundsätzlich - bei Ableistung eines Huldigungseides wie in Bayern - die Rechte der württembergischen Untertanen genießen, doch blieb insbesondere »fremden Schacher-Juden« die Aufnahme in das württembergische Staatsbürgerrecht verwehrt. Der Unter153 Edikt über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern vom 10.6.1813, §§ 1, 2, 11, 12, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1813, S. 921. 154 Auch wenn die Matrikelbeschränkung nicht immer strikt gehandhabt wurde, so z. B. für die größte bayerische jüdische Gemeinde in München, in der jüdische Familien ohne Matrikelnummer aufgenommen wurden, vgl. dazu Kilian, S. 268. 155 Vgl. Treml, S. 255-260. 156 Ebd., S. 257. 157 Vgl. Schimke, S. 547. 158 Vgl. Jersch-Wenzel, Bevölkerungsentwicklung, S. 65. 159 General-Verordnung. Die Polizei-Anstalten gegen Vaganten und andere der öffentlichen Sicherheit gefahrliche Personen vom 11.9.1807, § 10, in: Königlich-Württembergisches Staatsund Regierungsblatt 1807, S. 445; Verordnung, in Betreff der Vereinfachung des Geschäftsgangs, vom 28.6.1823, § 2, in: Königlich Württembergisches Staats- und Regierungs-Blatt 1823, S. 503. 160 Gesetz, in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubens-Genossen vom 25.4.1828, in: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1828, S. 301, Art. 1, 9.

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schied zwischen im Land ansässigen, naturalisierten Juden einerseits, ausländischen Juden andererseits vertiefte sich. Das zeigte sich in der Einbürgerungspolitik des württembergischen Innenministeriums: Die Aufnahme ausländischer Israelitinnen durch Einheirat sollte nicht unter den erleichterten Bedingungen für ausländische Christinnen stattfinden. Das Ministerium betonte zwar, daß Juden mit dem Gesetz von 1828 das volle Staatsbürgerrecht erlangt hätten. An den Beziehungen ausländischer Israeliten zum Staat habe das aber nichts geändert, zumal nach gegenwärtigem Recht »wichtigere Befugnisse« durch Aufnahme in den Staatsverband gewährt würden.161 Das württembergische Beispiel zeigt, daß die scharfe Abgrenzung nach außen auch im Hinblick auf erweiterte Rechte im Innern des Staates erfolgte. Noch vor der in ihrer Zeit als besonders fortschrittlich geltenden badischen Gemeindegesetzgebung schaffte Württemberg die bloße Schutzgenossenschaft für Juden ab und ließ sie zum Gemeindebürgerrecht zu.162 Insgesamt waren die drei süddeutschen Staaten zwar Vorreiter der Deklaration staatsbürgerlicher Gleichheit der Juden im Deutschen Bund. Betrachtet man hingegen die tatsächliche Einwanderungsmöglichkeit von außen, die Niederlassung im Innern des Staates unddiegemeinderechtliche Emanzipation, so waren sie eher beschränkt. Die süddeutschen Staaten waren nach innen halb geöffnete Staatsbürgergesellschaften. Sie ermöglichten eingesessenen Juden zögernd und schrittweise die Integration, begrenzten aber als Auswanderungsstaaten scharf die Zuwanderung insbesondere ausländischer Juden.

4. Späte Staatsbildung in Sachsen Sachsen, neben Preußen, Bayern, Württemberg und Hannover eines der fünf Königreiche des Deutschen Bundes, ging aus dem Umbruch der Rheinbundzeit völlig anders hervor als die süddeutschen Staaten. Sein Territorium war auf dem Wiener Kongreß dezimiert und politisch geschwächt worden. Wegen seiner Bündnistreue zu Napoleon drohte dem Königreich auf dem Wiener Kongreß sogar die völlige Annexion durch Preußen, an das es schließlich die Hälfte seines Gebietsstands, nämlich die nachmalige Provinz Sachsen, abtreten mußte. Der territoriale und politische Gewinn, den das vom Kurfürstentum zum Königtum aufgestiegene Sachsen aus der Bündnisverbindung mit dem napoleonischen Frankreich gezogen hatte, ging 1815 verloren. Im Ansatz ähnliche 161 Württembergisches Ministerium des Innern an die Regierung des Donaukreises, 19.9.1839, WHSTA, Bestand Ministerium des Innern, Ε 143, Bü 3229. 162 Gesetz vom 25.4.1828, Art. 13, in: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1828, S. 301.

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Reorganisations- und Reformversuche des Staates wie in Preußen und den süddeutschen Rheinbundstaaten waren steckengeblieben bzw. gescheitert. Dabei war der Modernisierungsbedarf, der in der sächsischen Staatsregierungklar erkannt wurde, strukturell ähnlich wie in den anderen Reformstaaten. Die Zersplitterung der unter der sächsischen Krone vereinigten und einverleibten Landesteile verlangte nach administrativer Zusammenfassung und Vereinheitlichung.163 Die frühere Klassifizierung der sächsischen Untertanen nach der Religion , wobei die evangelisch-lutherische Konfession bevorzugt wurde, war mit den territorialen Verschiebungen des frühen 19. Jahrhunderts endgültig hinfällig geworden.164 Das von Napoleon geschaffene katholische Großherzogtum Warschau fiel 1807 in Sekundogenitur an das sächsische Königshaus. Die Gleichstellung evangelischer und katholischer Untertanen der sächsischen Krone wurde daraufhin erklärt. Die Reformansätze scheiterten am Widerstand der Stände und adligen Korporationen, schließlich auch an den verengten Reformspielräumen der 1812 beginnenden Befreiungskriege. Die versäumte Vereinheitlichung des Staatswesens konnte dann angesichts der Halbierung Sachsens nicht mehr nachgeholt werden. Auch nach 1815 setzte sich in der Spitze des sächsischen Staates das Bewußtsein notwendiger Reformen nicht durch. Erst die aus Frankreich nach Sachsen hineinwirkende Julirevolution von 1830 und durchgreifende wirtschaftliche Veränderungen in der Phase der Frühindustrialisierung führten zur Verfassung von 1831 und in der Folge zu administrativen Reformmaßnahmen.165 Der enge programmatische und sachliche Zusammenhang zwischen der Vereinheitlichung des Staates zum einen und der Schaffung einer umfassenden Staatsangehörigkeit zum anderen wird in negativer Weise durch das sächsische Beispiel bestätigt. Erst 1852, vier Jahrzehnte nach dem Erlaß der ersten süddeutschen Indigenats- bzw. Staatsangehörigkeitsregelungen, ein Jahrzehnt nach dem preußischen Untertanengesetz von 1842, sogar mehr als zwei Jahrzehnte nach Erlaß der sächsischen Verfassung, die eine einheitliche sächsische »Staatsbürgerschaft« proklamierte,166 wurde ein ausführendes Gesetz über Erwerb und Verlust des Untertanenrechts im Königreich Sachsen erlassen.167 Die Entwicklung zu einer einheitlichen, umfassenden und systematischen sächsischen Staatsangehörigkeit stellt unter den deutschen Groß- und Mittelmächten einen Sonderfall dar. Während die süddeutschen Staaten und Österreich die Staatsangehörigkeit in engem Zusammenhang mit Verfassungen bzw. 163 Vgl. Schmidt, Reformbestrebungen, S. 4f, 20. 164 Vgl. Weiße, S. 89f. 165 Kiesewetter, S. 90f., 98f. 166 Verfassung für das Königreich Sachsen vom 4.9.1831, § 29. 167 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Unterthanenrechts im Königreiche Sachsen vom 2.7.1852 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1852, S. 240).

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zivilrechtlichen Kodifikationen regelten, Preußen diese Regelung in systematischer Verbindung mit dem kommunalen Niederlassungs- und Fürsorgerecht noch vor seiner Verfassung schuf, stellte der sächsische Staat sie an den Schluß seines inneren Modernisierungsprozesses. An der langgestreckten sächsischen Entwicklung lassen sich daher die wirtschaftlich-sozialen und politischen Faktoren ablesen, die zur Kodifikation einer modernen Staatsangehörigkeit drängten. Frühe Verordnungen und Mandate von 1822, 1826 und 1830, die Vorkehrungen gegen die Einwanderung Armer bzw. die Verarmung von Einwanderern im Königreich Sachsen trafen und eine fürsorgliche Kontrolle über das Auswanderungswesen vorsahen, gingen mit der Verwendung der Begriffe »Ausländer« und »Fremder« bzw. »Untertan« von der Existenz einer sächsischen Staatsangehörigkeit aus, ohne diese indessen zu definieren168. Sachsen war seit dem Mittelalter ein Einwanderungsland.169 Ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zog Sachsen - gerade im Vergleich zu Württemberg, Baden oder Bayern - durch sein breitgefächertes gewerbliches Angebot und durch seine Branchenvielfalt Arbeitsuchende an.170 Zwischen 1815 und 1830 schwankte die Wanderungsintensität stark; der absolute Wanderungsüberschuß war gering, verglichen mit dem Anstieg der sächsischen Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum um fast 19 %. Seit dem Beginn der dreißiger Jahre stieg der Wanderungsüberschuß stark an, verstetigte sich dann bis zu einem kurzen Einbruch in der Revolutionsphase um 1848171, um dann nach einem kurzen, durch Mißernten und den Krimkrieg bedingten Einbruch in den fünfziger Jahren in der Beschleunigungsphase der sächsischen Industrialisierung steil anzusteigen. 1831 erging ein Mandat, das auf das Zusammentreffen eines starken Bevölkerungswachstums mit vermehrter Einwanderung nach einem Jahrzehnt der Krisenerfahrung und wirtschaftlichen Depression reagierte.172 Zu Beginn der dreißiger Jahre hatten sich Not und Arbeitslosigkeit so vergrößert, daß in den dichtbevölkerten Gebieten Sachsens ein Überschuß an Arbeitskräften, vor allem an unselbständig Erwerbstätigen bestand.173 Das Mandat regelte die Niederlassungsbedingungen für einwandernde Ausländer in den sächsischen Kommunen, die den Staat vor der Überlastung mit verarmten, der Versorgung 168 Verordnung der Landesregierung, die Ausstellung von Heimatscheinen betreffend, 23.7.1822 (Gesetzessammlung für das Königreich Sachsen 1822, S. 383); Mandat, die Ehen der Handwerksgesellen und Ausländer betreffend, 10.10.1826 (Gesetzessammlung für das Königreich Sachsen 1826, S. 231); Mandat, das bei dem Auswandern hiesiger Unterthanen zu beobachtende Verfahren betreffend, 6.2.1830 (Gesetzessammlung für das Königreich Sachsen 1830, S. 12). 169 Vgl. Weiss, Bevölkerung, S. 166f 170 Kiesewetter, S. 211. 171 Ebd., S. 230. 172 Vgl. ebd., S. 78f, 138. 173 Vgl. Rosenthal, S. 25.

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und Unterstützung bedürftigen Familien bewahren sollten. Der dauernden Niederlassung von Ausländern in Sachsen wurden damit staatlicherseits einheitliche Bedingungen vorgeschaltet, die im Kern staatsweit die Kriterien eines Naturalisationsverfahrens vorwegnahmen, zugleich jedoch nur eine »vorläufige« Regelung sein wollten. Sie beschränkten sich auf Ausländer, die in Sachsen »Gewerbe oder Handarbeit« treiben wollten.174 Die Vorschriften über den Nachweis der Unbescholtenheit, Erwerbsfähigkeit und den Vermögensbesitz entsprachen dem Kriterienkanon der Staatsangehörigkeitsgesetze jener Zeit.175 Die einzelnen Erfordernisse waren: Der aufzunehmende Ausländer dürfe »nicht durch Kränklichkeit, oder überhaupt durch seine körperliche oder geistige Beschaffenheit, zu der Besorgnis Veranlassung« geben, künftig der Gemeinde zur Last zu fallen. Die Ablegung der Meisterprüfung sollte im Inland erfolgen. Der Ausschluß lediger Fabrikarbeiter von der dauerhaften Niederlassung wurde festgeschrieben. Alle Regelungen spiegelten die Notlage eines Staates, der von den Krisenerscheinungen der frühen Industrialisierungsphase betroffen war. Die notwendige staatliche Kontrolle der kommunalen Fürsorge in der Heimatgesetzgebung von 1834 setzte mit dem Grundsatz, daß »jeder Staatsangehörige des Königreichs Sachsen [...] zu irgendeinem Heimathsbezirkdesselben in dem Verhältnis der Heimatangehörigkeit stehen« müsse176, eine sächsische Staatsangehörigkeit voraus, die erst noch systematisch zu bestimmen war. Die steigende Auswanderung aus Sachsen nach der Revolution von 1848177 während der großen deutschen Auswandcrungswelle zwischen 1848 und 1855 vollzog sich vielfach heimlich und ging häufig mit der Wehrpflichtentziehung einher. Auch die daraufhin erfolgende staatliche Neuregelung des Auswanderungswesens178 ging von der Existenz des sächsischen »Untertanen« aus, der schließlich ein Jahr darauf- in dem Gesetz von 1852 - systematisch definiert wurde. Der Modernisierungsrückstand des späten Verfassungsstaats Sachsen im Vergleich zu den süddeutschen Staaten spiegelte sich in der staatsrechtlichen Terminologie. Der Begriff des »Staatsbürgers« tauchte nicht auf, sieht man einmal von der unter dem Eindruck der französischen Julirevolution von 1830 erlasse174 Mandat, die Niederlassung von Ausländern im Königreiche Sachsen, welche daselbst ein Gewerbe oder Handwerk treiben wollen, [...] betreffend, 13.5.1831 (Gesetzessammlung für das Königreich Sachsen 1831, S. 99). 175 S. oben Kap. I.2., unten Kap. II.2. 176 Vgl. Heimathsgesetz vom 26.11.1834 (Gesetzessammlung für das Königreich Sachsen 1834, S. 449), § 1. 177 Vgl. Rosenthal, 27, 47f. 178 Vgl. Verordnung, die Auswanderungen aus dem Königreiche Sachsen und die dabei in Obacht zu nehmenden Erfordernisse betreffend, 12.8.1851 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1851, S. 313).

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nen Verfassung179 ab. Statt dessen wurde der absolutistische Terminus des »Untertanen« eingeführt, der bis zum Ende des Königreichs Sachsen 1918 in Verwendung blieb. Der Ausdruck »Staatsangehöriger« war - außer im Heimatrecht - der staatsvertraglichen Praxis, der Definition der Zugehörigkeit zum sächsischen Staat nach außen, vorbehalten.180 In Sachsen wie auch in Preußen formte indessen die vertragliche Festlegung der Staatsangehörigen die systematische Untertanendefinition vor: Das Leitprinzip des Staatsangehörigkeitserwerbs, die Geburt von Untertanen,181 ging in das Gesetz von 1852 ein. Darin und in der Struktur des Gesetzes insgesamt182 liegen Parallelen zur Entstehung des ›späten‹ preußischen Untertanengesetzes 1842, das eine mehr als zwanzigjährige Staatsvertragspraxis ablöste.183 Wie wenig die revolutionären Ereignisse von 1848 die Kontinuität der sächsischen Staatspraxis unterbrachen, wie sehr vielmehr die Regelung der Staatsangehörigkeit als eine technisch-administrative, unpolitische Frage begriffen wurde, zeigt sich auch daran, daß das preußische Gesetz, ein Werk spätabsolutistischer Reform, in seinen prägenden Grundsätzen vom nachrevolutionären Sachsen übernommen wurde. Allein die ›Pflicht‹ der Ausländer zum Erwerb der sächsischen Untertanschaft im Falle einer dauerhaften Niederlassung und Gewerbeausübung in Sachsen übertraf den vorgefundenen Regelbestand anderer deutscher Staaten. Der sächsische Staat sicherte sich dabei eine doppelte Kontrollmöglichkeit. Ausländer, welche die Vorteile dauerhafter Ansässigkeit genossen, sollten auch den staatlichen Verpflichtungen unterliegen. Bei einer Niederlassung oder Gewerbeausübung, die den Erwerb des kommunalen Bürgerrechts bedingte, verlangte der Staat den vorangehenden Nachweis der Qualifikation zur Staatsangehörigkeit.184 Das Mitbestimmungsrecht der Gemeinden, denen das Mandat von 1831 inmitten der Pauperismuskrise mit den verschärften Aufnahmekriterien entgegengekommen war, wurde aufrechterhalten, jedoch der staatlichen Letztentscheidung unterworfen.185 Der in der Verfassung von 1831 179 Verfassung für das Königreich Sachsen vom 4.9.1831, § 25, der den Erlaß zweier Gesetze über das Heimatrecht und das »Staatsbürgerrecht« ankündigt. Im übrigen spricht der Verfassungstext nur von »Untertanen« . 180 Vgl. z. B. Ministerialcrklärung, die zwischen der Königl. Sächsischen und der Königl. Hannoverschen Regierung getroffene Übereinkunft wegen der Pflicht zur Übernahme von Auszuweisenden betreffend , 4.9.1839 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1839, S. 206). 181 Ministcrialerklärung zwischen Sachsen und Hannover vom 4.9.1839, § 2(1). 182 Im Gesetzesaufbau ebenso wie in allen grundlegenden Prinzipien war das sächsische dem preußischen Untertanengesetz nachgebildet. 183 S. unten Kap. II. 184 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Unterthanrechts im Königreiche Sachsen, 2.7.1852 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1852, S. 240), § 9. 185 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Unterthanenrechts vom 2.7.1852, § 7; Verordnung, die Ausführung des Gesetzes vom 2.7.1852 über Erwerbung und Verlust des Unterthanenrechts im Königreiche Sachsen betreffend, 2.7.1852 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1852, S. 247), § 6.

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vorgeschriebene »Unterthaneneid« wurde jedem aufnahmewilligen Ausländer abverlangt.186 Wie in Preußen ging auch die Staatsangehörigkeit in Sachsen nach einem zehnjährigen Auslandsaufenthalt verloren, konnte auch nicht mehr ersessen werden. Ihr Verlust war grundsätzlich an die Aushändigung einer Entlassungsurkunde geknüpft. Insgesamt sicherte sich der sächsische Staat in der Mitte des 19. Jahrhunderts damit eine umfassende, gegenüber kommunalen und ständisch-territorialen Machtpositionen durchgreifende, durch den Untertaneneid auf den König und Staat konzentrierte Kontrollgewalt. Die staatliche Kontrolle galt in negativer Weise auch für die Minderheit der Juden. Hinsichtlich ihrer Aufnahme als sächsische Untertanen erhielt das Gesetz von 1852 wesentliche Züge des Sonderrechts von 1838187 aufrecht. Juden unterlagen zwar nicht mehr den besonderen Aufnahmeerfordernissen des Mandats von 1831. Die grundsätzliche Beschränkung des Aufenthaltsrechts Neuanziehender188 auf die Städte Dresden und Leipzig sowie das unbedingte Zustimmungserfordernis der kommunalen Behörden dieser Städte bei Niederlassung ausländischer Juden blieben jedoch bestehen. War bis 1830 die Zuwanderung und Ansiedlung von Juden in Sachsen fast unmöglich, blieben in den folgenden Jahrzehnten bis zum Eintritt Sachsens in den Norddeutschen Bund scharfe Niederlassungsbeschränkungen in Kraft, die in dem Jahrzehnt zwischen dem Erlaß des Judengesetzes von 1838 und dem Revolutionsjahr 1849 die jüdische Bevölkerung nur um insgesamt 174 Köpfe wachsen ließen.189 In der Praxis der Verwaltung blieb die Aufnahme von Juden in die sächsische Staatsangehörigkeit grundsätzlich ausgeschlossen. Nur ausnahmsweise, wenn keine Konkurrenz für das kommunale Handwerk und den Handel entgegenstanden, wurden sie zugelassen.190 Die verglichen mit den anderen großen Staaten des Deutschen Bundes geringe Größe der jüdischen Minderheit in Sachsen191 und ihre weitgehende Konzentration auf die beiden großen Städte Leipzig und Dresden gaben ihrem Emanzipationsinteresse ein geringeres politisches Gewicht. Viel länger als in 186 Verfassung für das Königreich Sachsen vom 4.9.1839, § 139; Gesetz über Erwerbung und Verlust des Unterthanenrechts vom 2.7.1839, § 6. 187 Gesetz wegen einiger Modifikationen in den bürgerlichen Verhältnissen der Juden, 16.8.1838 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1838, S. 394). Das Gesetz setzte implizit den Erwerb des Untertanenrechts für Juden voraus, sprach dies aber nicht als Grundsatz aus und beschränkte sich auf Niederlassungs- und Gewerbebeschränkungen. Zur Entstehung und den Einschränkungen dieses Gesetzes s. Kirsch, Ringen, S. 21 f. 188 Ab 1849 nicht mehr für einheimische (naturalisierte) Juden. Zugleich stieg die Zahl der jüdischen Einwohner Sachsens, vgl. Höppner, Zahlen S. 298f. 189 Vgl. die Tabelle bei Höppner, S. 299 (1837 betrug die Zahl der in Sachsen ansässigen Juden 848, dagegen 1.022 im Jahr 1849). 190 Ebd., S. 286. 191 Sie erreichte vor 1867 nicht einmal 0,1 %, vor 1900 nicht 0,3 % der Gesamtbevölkerung, vgl. Höppner, S. 298.

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anderen deutschen Staaten des aufgeklärten Absolutismus wurden die Juden in Sachsen infolge der staatlichen Gesetzgebung und der gesellschaftlichen Beziehungen als Fremdkörper behandelt.192 Die sächsischen Juden lebten nach 1815 in einem Staat, der »in bezug auf seine Verfassung und Verwaltung« auf dem Entwicklungsstand des späten 18. Jahrhunderts stehengeblieben war und »in dieser Hinsicht im Vergleich zu anderen deutschen Groß- und Mittelstaaten jener Zeit als besonders rückständig bezeichnet werden«193 mußte. In einem Staat, der den Begriff des Staatsbürgers nicht verwandte, enthielt die Rechtsstellung der Juden im Unterschied zu Preußen194 nicht einmal terminologisch einen Vorgriff auf die Staatsbürgergcsellschaft. Juden blieben bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eine Randgruppe, eine Sondergruppe außerhalb der allgemeinen Untertanschaft. Die relativ späte Kodifikation einer sächsischen Staatsangehörigkeit erklärt sich zunächst aus der allgemeinen Staats- und verwaltungspolitischen Rückständigkeit des Staates, der erst mit der Verfassung von 1831 ein einheitliches Staatsgebiet195 schuf Hinzu kommt, daß in dem ›Einwanderungsland‹ Sachsen das Bedürfnis nach systematischer, kontrollierender und damit auch ausschließender Einwanderungspolitik als weniger drängend empfunden wurde. In den Fällen, in denen die Einwanderung als wirtschaftlich belastend und unerwünscht betrachtet wurde, beispielsweise zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts sowie im Fall der Juden, griffen spezielle staatliche Regelungen der Einbürgerungsvoraussetzungen ein. Darüber hinaus war der Einwanderungsdruck nicht so stark und die Aufnahmefähigkeit der sächsischen Wirtschaft groß genug, um die systematische Definition der sächsischen Untertanschaft zu einer staatspolitischen Frage zweiten Ranges zu machen. Auch die Beziehung zwischen staatlicher und nationaler Zugehörigkeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer enger wurde,196 bildete für die innere Integration des sächsischen Staatswesens kein zusätzliches Hindernis. Die sprachlich-kulturelle Minderheitsgruppe der Sorben war aufgrund der Gebietsabtretung nach 1815 zu vier Fünfteln an Preußen gefallen. Die moderne bürgerliche Nationalbewegung dieser kleinen Volksgruppe begann sich vor der Revolution von 1848 zu entfalten197 und richtete sich vor allem gegen die Schul- und Sprachenpolitik des preußischen Staates.

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Vgl. Lässig, S. 72. So das Urteil von Blaschke, Königreich Sachsen, S. 609. S.u. Kap. II.1. Vgl. Schmidt, Staatsreform, S. 139, 178f. S. unten Kapitel III. Vgl. Zwahr, S. 363.

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II. Staatliche Integration und soziale Kontrolle: Das preußische Untertanengesetz von 1842 Die Politik der Staatsangehörigkeit in Deutschland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist vom Modell des 1842 erlassenen preußischen ›Untertanengesetzes‹ geprägt worden. Dieses nimmt im Staatsangehörigkeitsrecht des deutschen Vormärz in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein: Das Gesetz entstand spät im Vergleich zu den übrigen großen Staaten des Deutschen Bundes. Es wirkte zum einen - im Unterschied zum österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch - über den Bereich des bürgerlichen Rechts hinaus. Zum anderen entstand es unabhängig von einer Verfassung und dem konstitutionellen Leitbild des Staatsbürgers - im Unterschied zu den süddeutschen Staaten. Dieser besondere Fall der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung, der zugleich ein politisches Leitbild hervorbrachte, soll deshalb in seiner Entstehung und Entwicklung näher betrachtet werden.

1. Voraussetzungen: Staatliche Integration und gesellschaftliche Mobilität Wer war Preuße nach 1815? Der größte und militärisch bedeutendste, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich expansivste Staat innerhalb des Deutschen Bundes war staatsrechtlich ein zerklüftetes Gebilde. Mehr als ein Viertel des Staatsterritoriums war mit dem Friedensschluß 1815 an die preußische Krone gekommen.1 Ein Großteil dieser Gebiete hatte -wie das Großherzogtum Berg, das Herzogtum Westfalen, die linksrheinischen und nassauischen Territorien nach 1806 unter dem Einfluß des revolutionären französischen Rechts gestanden. Die Rheinbundreformen - im Unterschied zur preußischen Reformzeit hatten das altständische Herrschafts- und Gesellschaftssystem stärker mit egalitären, konstitutionellen, laizistischen und zentralistischen Strukturen geprägt. Die kommunale städtische Ordnung, die traditionelle Stadtbürgerschaft, war staatlich reglementiert und nach dem Vorbild des revolutionären Frankreich

1 Vgl. zu einer Aufstellung der Gebiete Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 577.

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auf ein Staatsganzes, die Staatsbürgerschaft2, hin geordnet. Die bedeutenden Gebietsabtretungen des Königreichs Sachsen (ca. vierzig Prozent seines Gebiets und seiner Bevölkerung) brachten demgegenüber ein Territorium zu Preußen, das im Vergleich zu anderen deutschen Mittel- und Großstaaten besonders rückständig strukturiert3 war und weit hinter den staatlichen und gesellschaftlichen Reformen des altpreußischen Kernlandes zurückstand. Seit dem Dreißigjährigen Krieg in schwedischer Hand befindliche Gebiete Pommerns fielen an Preußen. Aus dem ehemaligen Großherzogtum Warschau gelangten der Netzedistrikt und Thorn, vor allem aber das überwiegend polnisch geprägte, nunmehr Großherzogtum genannte Departement Posen an Preußen. Fünfzehn Prozent der Bevölkerung und zwanzig Prozent des preußischen Territoriums waren polnisch.4 Zugleich erfuhr Preußen die größte Westausdehnung seiner Geschichte. Damit erreichte die politische, kulturelle und wirtschaftliche Heterogenität des preußischen Staates ihre größte Spannweite. Eine staatliche Integrationsaufgabe von neuer historischer Größenordnung stellte sich. Angesichts dieser Situation war die Rechtseinheit des Staates politisch prekär. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 wurde nach 1815 für die altpreußischen Gebiete, weitgehend auch für die östlichen und nördlichen Gebietsgewinne eingeführt, nicht jedoch für die rheinischen Gebiete französischen Rechts. Die Widerstände in der Verwaltung und Bevölkerung der Rheinprovinzen hatten sich dagegen durchgesetzt.5 Zwei Probleme trafen also zusammen, um die Frage ›Wer ist PreußeP‹ noch drängender zu machen: Das Preußische Landrecht war begrifflich unscharf1, verharrte in seinen Kategorien zwischen ständischen Abschichtungen und systematischen Versuchen einer Bestimmung der Staatsangehörigkeit.7 Zudem galt es nicht für das gesamte Gebiet der Monarchie. Eine einheitliche, systematische Bestimmung der Kriterien preußischer Staatsangehörigkeit war ein staatspolitisches Erfordernis. Administrativ(-technische), wirtschaftliche, aber auch staatspolitische Gründe griffen im Verlauf von beinahe drei Jahrzehnten ineinander und fanden Eingang in das preußische ›Untertanengesetz‹ von 1842. Die Entwicklung der preußischen Staatsangehörigkeit und das vielfältig begründete Bedürfnis nach ihrer Kodifikation sind nur aus den Defiziten der Staatspraxis zu verstehen. Zwischen 1815 und 1842 wurde die Eigenschaft eines preußischen Staatsangehörigen aufgrund verschiedenartiger rechtlicher 2 S. zum rheinischen Domizilrecht Pickhardt; zur Wirkung des Staatsangehörigkeitsrechts des Code Civil in den Rheinbundstaaten und den von Frankreich annektierten Gebieten s. Hecker, Staatsangehörigkeit im Code Napoleon. 3 Vgl. Blaschke, Sachsen, S. 609. 4 Vgl. Mieck, Epochen, S. 102. 5 Ebd., S. 99. 6 Koselleck, Preußen, S. 52-60. 7 Grawert, S. 126-128.; zur »Ambivalenz« als grundlegender Eigenschaft des Allgemeinen Landrechts s. Deter, S. 88f.

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Regelungen durch verschiedene Institutionen auf unterschiedlichen Stufen des preußischen Staatsaufbaus definiert. Kennzeichnend für die Lage war, daß diese Bestimmungen nach Anlaß und Region verschieden, inhaltlich vielfach nicht abgestimmt und insgesamt fragmentarisch blieben. Wer Preuße war oder wurde, setzte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem die kommunale Zugehörigkeit, die Eigenschaft eines Stadtbürgers, voraus. Das spiegelt bereits die variierende Begrifflichkeit des »Bürgers« im Preußischen Allgemeinen Landrecht. Die juristisch am umfassendsten und präzisesten definierte Begriffsebene war das Stadtbürger tum. Die ständische Kategorie »Bürgertum« bedeutete daneben alle Einwohner des Staates, die nicht zum Adel oder Bauernstand gehörten. In seiner weitesten, schließlich dem Staatsangehörigen am nächsten kommenden Bedeutung bezeichnete der »Bürger« ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, gleich welchen Standes.8 Begrifflich war die Staatsangehörigkeit eine Fortentwicklung, Vereinheitlichung und Verallgemeinerung des Stadtbürgers. In der Staatspraxis Preußens entsprach dem eine allmähliche Herauslösung der staatsweiten Angehörigkeit aus der Gemeindeangehörigkeit bis hin zu ihrer Unabhängigkeit.9 Das zunächst subsidiär gegenüber den Provinzrechten geltende Allgemeine Landrecht setzte den Ablösungsprozeß in Gang. In der folgenden Reformzeit erfolgte die allmähliche Verstaatlichung und Vereinheitlichung des Stadtbürgerrechts.10 Tatsächlich kam jedoch den kommunalen Körperschaften eine wesentliche Vorentscheidung über die Entstehung der Staatsangehörigkeit zu. Sie fußte auf dem Domizilsprinzip, demzufolge durch eine zehn Jahre währende Domizilierung11 in Preußen ein Fremder zum Inländer wurde.12 Im 18.Jahrhundert hatte die Aufnahme als Gemeindebürger die erforderliche Bewilligung zur Niederlassung, zur Domizilierung, und auf diesem Wege mittelbar den Erwerb der Staatsangehörigkeit mit sich gebracht.13 Die von lokalen Interessen dominierte, divergierende Praxis der Bürgeraufnahme bestimmte nicht ausschließlich, aber in hohem Maße die Zulassung zur Landesuntertanschaft. Die Entstehung einer preußischen Staatsangehörigkeit während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging also einher mit der schrittweisen Zurückdrängung kommunaler Mitwirkungsbefugnisse. Der Weg zur »staatsunmittelbaren« Staatsbürgergesellschaft führte über den schrittweisen Abbau der kommunalen 8 Vgl. Koselleck, Preußen, S. 87f, 660-662; Schneider, Bürger, S. 145; umfassend zur allgemeinen Semantik des »Bürgers« an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die sich mit der rechtlichen überschnitt und darüber hinausging, s. Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit, insbes. S. 2130. 9 Rehm, S. 233, 267. 10 Koselleck, Preußen, S. 560-595. 11 Preußisches Allgemeines Landrecht (PrALR) Theil II, Tit. 17, § 132. 12 Reskript des Preußischen Ministeriums des Innern vom 5. Juli 1826, in: Kamptz' Annalen 10 (1826), S. 769. 13 Rehm, S. 217, 219.

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Macht, Zugehörigkeit zu bestimmen.14 Staatliche Gesetze zur Vereinheitlichung der preußischen Kommunalverfassung schufen dafür wesentliche Voraussetzungen. Die Städteordnung von 1808 hielt zwar an dem überkommenen Modell der Bürgergemeinde fest. Ihre Mitglieder waren nur eigens aufgenommene Bürger, nicht die übrigen Einwohner, Eximierte und Schutzverwandte.15 Die Bedingungen des Bürgerrechtserwerbs wurden indessen erleichtert und vereinheitlicht. Die Revidierte Städteordnung von 1831 führte die moderne Einwohnergemeinde ein, in der alle Einwohner der Gemeinde zugleich das Bürgerrecht genossen.16 Damit war die angehörigkeitsrechtliche Sonderstellung der Gemeinden im Staat abgeschwächt, eine einheitliche, durch keine intermediären Körperschaften vermittelte, direkte Angehörigkeitsbeziehung des Individuums zum Staat vorbereitet. Zwar eröffnete noch zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter engen Voraussetzungen - die Aufnahme in das städtische Bürgerrecht zugleich die preußische Untertanschaft.17 Doch ist die Tendenz der preußischen Ministerien unverkennbar, den Zusammenhang zwischen Stadt- und Staatsbürgerrecht möglichst zu lockern. Zwei ministerielle Verfügungen aus den Jahren 1840 und 1841, welche die Auslegung von Konventionen mit anderen Staaten betreffen, lassen die tatsächliche Niederlassung und den Kaufeines Grundstücks in der Gemeinde für den Erwerb der preußischen Staatsangehörigkeit nicht genügen. Gefordert wird zumindest die »ausdrückliche Aufnahme« in den Gemeindeverband, verbunden mit der Ableistung des Bürgereids.18 Hierin kündigt sich der Übergang vom Niederlassungs- zum Aufnahmeprinzip an, den das neue Gesetz ein Jahr darauf vollziehen wird. Es konzentriert die »ausdrückliche Aufnahme« beim Staat.19 Die preußische Entwicklung zwischen Reformzeit und Vormärz zeigt, wie sehr die Vorstellung einer umfassenden preußischen Staatsangehörigkeit und die Praxis der Einbürgerung aus den Erfordernissen einer Gesellschaft erwuchs, die nach dem Ende des Absolutismus wirtschaftlich, sozial und räum14 Dazu umfassend Langewiesche, »Staat« und »Kommune«, S. 626. 15 Zur Diskrepanz der Zahlen zwischen »Einwohnern«, »Bürgern« und »Stimmfahigen«-letztere blieben weit unter 10 % der Einwohner-am Beispiel westpreußischer Städte s. Neugebauer, S. 150. 16 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Band I, S. 174—176, 1838 setzte der preußische Staat die lang angestrebte generelle Normierung der Bürgerrechtsgelder durch (vgl. Verordnung über die bei Gewinnung des Bürgerrechts zu entrichtenden Abgaben vom 28. Juli 1838, Preußisches Gesetzblatt 1838, S. 444). Die »Umbürgerung von Stadt zu Stadt« wurde dadurch freigegeben, die gesamtstaatliche Freizügigkeit vorangetrieben (Koselleck, Preußen, S. 562). 17 Im Fall des radikalen Schriftstellers Walesrode, dem die Regierung die Naturalisation verweigert hatte, machte dies der Magistrat der Stadt Königsberg wett, indem er Walesrode das Stadtbürgerrecht verlieh, das die preußische Untertänigkeit nach sich zog, vgl. Ebd., S. 583. 18 Preußisches Ministerialblatt der inneren Verwaltung (PrMBliV) 1841, S. 10, 274; Kamptz' Annalen 1837, S. 302. 19 S. unten Kap. II.2.

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lich in Bewegung geraten war. Die preußischen Agrarreformen hatten mit der Aufhebung der Erbuntertänigkeit und Schollengebundenheit die agrarische Mehrheit der Bevölkerung zur Bewegung an einen anderen Wohn- und Arbeitsort freigesetzt. Erst die Entbindung von der Gutsuntertänigkeit machte aus gutshörigen Bauern unmittelbare Untertanen des Staates, der nunmehr zum zentralen und ungeteilten Bezugspunkt der öffentlichen Rechtspflichten und Berechtigungen wurde.20 Die Einführung des freien Güterverkehrs, der freien Berufswahl und der in Stadt und Land gleichermaßen freien Gewerbeausübung schuf die Voraussetzungen einer freien Wirtschaftsgesellschaft. Die sozialen Folgen der Bauernbefreiung waren für viele ehemals Erbuntertänige verheerend. Nach der Befreiung aus persönlicher Abhängigkeit konnten viele Bauern die hohen Ablösepflichten ihres Landeigentums aus ehemaligem Gutsbesitz nicht tragen oder erwirtschafteten auf vielfach nicht ausreichend ertragsfähigen Landstellen keinen genügenden Lebensunterhalt.21 Die preußische Bevölkerung auf dem platten Land und in den Ackerstädtchen, die bis 1848 mehr als zwei Drittel der Bevölkerung ausmachte,22 wuchs nach 1815 an. Nach einer Agrarkrise, Hungersnot und Seuchen in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren erreichte sie zwischen 1837 und 1840 einen Höchststand. Die Bevölkerung wuchs insgesamt zwischen 1816 und 1848 um 55 %. Dieser Zuwachs entfiel vornehmlich auf die landlosen Unterschichten der städtearmen, rein agrarischen Provinzen. Die sozial schwächste Bevölkerungsschicht verzeichnete die weitaus höchste Zuwachsrate. Ungeachtet des Landesausbaus konnte die wachsende Produktivität der preußischen Landwirtschaft mit dem weitaus schneller zunehmenden Arbeitskräftepotential nicht Schritt halten. Seit Mitte der dreißiger Jahre staute sich auf dem Land überzähliges Arbeitskräftepotential. Es fand mit dem Rückgang des Heimgewerbes und der Überfüllung der Handwerksberufe keine Aufnahme auf dem Arbeitsmarkt. Das Handwerk, das hinter der Landwirtschaft den größten Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung stellte, expandierte zwar seinem Umfang nach, war aber weder auf dem Land noch in den Städten angesichts sinkender Einkommen fähig, den Arbeitskräfteüberschuß aus der landwirtschaftlichen Produktion aufzufangen. Das rapide, sozial segmentierte Bevölkerungswachstum, die agrarischen Produktionskrisen, die Anpassungsschwierigkeiten und die Überfüllung traditioneller Erwerbszweige, insgesamt die Umstrukturierung der Wirtschaft vom Agrar- zum Industriekapitalismus um die Jahrzehntwende nach 1840 wirkten sich in der massenhaften Verelendungskrise des Pauperismus aus. Diese Krise gehört zur unmittelbaren Vorgeschichte der Revolution von 1848. 20 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 188f. 21 S. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. I, S. 418. 22 Ebd., Bd. II, S. 14-24.

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Eine Folgeerscheinung der Überbevölkerungs- und Verelendungserscheinungen war die räumliche Mobilität der Bevölkerung. Auch wenn man den Beginn der massenhaften Binnenwanderungsbewegung in Preußen nach wie vor ab der Mitte der fünfziger Jahre ansetzt,23 zeigen neuere regionale Forschungen doch verstärkte Wanderungsbewegungen in der gesamten Zeit des Vormärz.24 Die Gesellschaft Preußens geriet bereits vor dem Durchbruch der Industrialisierung in räumliche Bewegung. Wanderungen innerhalb des Staates, vom Land in die Städte ebenso wie zwischen den Staaten, daneben auch zunehmend ins Ausland, insbesondere nach Übersee23, waren frühe erste Reaktionen auf die Krisenerscheinungen. Bewegungen der Auswanderung und der Einwanderung über die Grenzen des preußischen Staates gaben demnach den Anlaß für die ersten staatsweiten Regelungen der Staatsangehörigkeit und Einbürgerung in Preußen. Interne Gesetzesbestimmungen, Reskripte und Verfügungen waren ein Rcgelungsinstrument, Verträge mit anderen Staaten, vor allem mit solchen des Deutschen Bundes und des weiteren Auslands, ein anderes.26 Allen diesen Regelungen war gemeinsam, daß sie insgesamt unsystematisch auf eine Teilregion, den konkreten Anlaß bzw. Einzelfall bezogen waren oder nur Bestimmungen für einzelne Personengruppen enthielten. Doch läßt der noch fragmentarische Charakter Grundlinien erkennen, welche die Entwicklung der preußischen Gesellschaft zwischen der Reformzeit und dem vorrevolutionären Jahrzehnt nach 1840 insgesamt abbilden. Noch im Zuge der Reformgesetzgebung erließ der territoriale Rumpfstaat Preußen im Juli 1812 das Edikt »Wegen der Auswanderung preußischer Unterthanen und ihrer Naturalisation in fremden Staaten«.27 Es war darum bemüht, den liberalen Impetus der Auswanderungsfreiheit gewährenden Reformbürokratie zu betonen, zugleich aber die staatliche Kontrolle über Auslandsaufenthalte der eigenen Untertanen sicherzustellen.28 Diese erste für den gesamten preußischen Staat verbindliche Umschreibung der preußischen Untertanschaft entsprang einem spezifischen Entstehungszusammenhang, der für die Herausbildung der modernen Staatsangehörigkeit schlechthin konstitutiv wurde: der Sicherstellung der Militärpflicht. Vor Beginn des Befreiungskrieges gegen Napoleon stellte das Edikt die Loyalitätspflicht der im Ausland befindlichen, insbesondere der militärpflichtigen Untertanen gegenüber dem preußischen Staat klar.

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Vgl. Wehler, Gescllschaftsgcschichte, Bd. III, S. 22f. S. Lenger, S. 247-250. Wehler, Gescllschaftsgcschichte, Bd. II, S. 17. S. dazu unten Kap. IV. 2. Edikt vom 2. Juli 1812, in: Preußische Gesetzessammlung 1812, S. 114. Vorspruch des Edikts vom 2. Juli 1812.

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Das setzte indessen die Bestimmung der Untertanen voraus. Das Edikt von 1812 vermied dazu eine direkte und abschließende Aussage, faßte aber die in Bezug genommenen Untertanen nach Kriterien zusammen, die grundlegend für die Entstehung der preußischen Staatsangehörigkeit waren. An der Spitze stand das Abstammungsprinzip »aus Unsern Staaten [...] gebürtig«.29 Ungeachtet der häufig verwendeten territorialen Formulierung war damit nicht - oder jedenfalls nicht maßgeblich - die Geburt im Gebiet des preußischen Staates, sondern die Gebürtigkeit, d. h. die Abstammung von preußischen Untertanen gemeint. Darauf folgte das Domizil- oder Wohnsitzprinzip, das neben der Abstammung leitende Erwerbsprinzip der Untertaneneigenschaft. In seiner Kernvoraussetzung, dem zehnjährigen »gewöhnliche[n] Wohnsitz« in den preußischen Staaten, wurde es in den drei folgenden Jahrzehnten immer wieder durch die Staatspraxis bekräftigt. Verlangte das Edikt von 1812 außer dem zehnjährigen Aufenthalt den zusätzlichen Erwerb von Grundeigentum bzw. den Betrieb eines bürgerlichen Gewerbes, ließ die Praxis in der Folgezeit regelmäßig einen zehnjährigen, gegebenenfalls auch nur stillschweigend genehmigten Aufenthalt30 genügen. Erst in der Entstehungsphase des preußischen Untertanengesetzes wird dieses territoriale Prinzip in Zweifel gezogen und zunehmend auf zwischenstaatliche Vereinbarungen beschränkt. Das Gegenstück zum Erwerb der preußischen Staatsangehörigkeit durch Domizilsbegründung war ihr Verlust durch langjährigen Aufenthalt im Ausland.31 Es galt der Grundsatz, daß die Aufgabe des Domizils in Preußen und der Grenzübertritt zum Verlust des »Heimatrechts in Preußen« führte, und zwar unabhängig von der anderweitigen Aufnahme in eine andere Staatsangehörigkeit.32 Wie sehr der preußische Staat in einem fortdauernden Auslandsaufenthalt zugleich eine Zäsur in der Untertanenbindung sah, zeigt die Begründung, die das preußische Ministerium des Innern anläßlich der Auslegung eines Auslieferungsvertrags mit Rußland zu Beginn der dreißiger Jahre gab: Der preußische Staat wollte sich der Pflicht zur Aufnahme seiner seit langem nach Rußland ausgewanderten Untertanen entledigen. Der Verlust der Staatsangehörigkeit bei »wirklicher Auswanderung« drohte selbst dann, wenn der grundsätzlich erforderliche »Emigrationskonsens« von dem Auswanderer eingeholt wurde. Wiederholt wies das preußische Innenministerium die nachgeordneten Regierungspräsidenten33 darauf hin, daß die erteilten Emigrationskonsense mit der Warnung vor dem Verlust des Rechts auf Wiederaufnahme in die preußische Untertanschaft zu verbinden seien, denn gegebenenfalls hätten die Rück29 30 31 32 33

Edikt vom 2. Juli 1812, § 1. Vgl. Heyde, S. 46 (Reskript vom 29.2.1836); PrMBliV 1841, S. 10 (Nr. 19). Mascher, Staats- und Ortsangehörigkeit, S. 39; Heyde, Staats- und Ortsbürgerrecht, S. 3. Vgl. Mascher, Staats- und Ortsangehörigkeit, S. 52. Heyde, S. 2-4.

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kehrer die »unnachsichtige Zurückweisung an der Grenze« und eine Behandlung als »fremde Landstreicher« zu gewärtigen.34 Angesichts der zunehmenden territorialen Mobilität wurde die Klärung der Eigenschaft des preußischen Staatsangehörigen für die Erteilung staatlicher Dokumente, der Auswanderungskonsense, Heimatscheine und Reisepässe, notwendig. Im Verlauf der ersten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts entwikkelte Preußen ebenso wie die übrigen Staaten des Deutschen Bundes ein System von Pässen.35 Sie dienten bei Grenzübertritten als Bescheinigung über die Staatsangehörigkeit, den Zeitpunkt des Eintritts in das Gastland und damit über den Zeitablauf bis zum Verlust der Staatsangehörigkeit aufgrund fortgesetzten Domizils im Ausland. Sie erlaubten eine gewisse Kontrolle der Ein- und Auswanderung und klärten die Ausweisungsbefugnis36 gegenüber fremden Untertanen. Der Ausbau des Systems von Identifikationspapieren dokumentierte zum einen das wachsende Kontrollbedürfnis der Staaten über die zunehmenden Wanderungsbewegungen, zum anderen die steigende materielle Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Rechts- und Pflichtenstellung des einzelnen im Staat. Entscheidender Antrieb für die Einführung der Auswanderungskonsense und Heimatscheine war daher auch die Kontrolle der Militärpflicht. Das Edikt von 1812 wie die späteren Regelungen37 wollten sicherstellen, daß sich Männer nicht durch zeitweilige - unerlaubte - Auswanderung der Wehrpflicht entzogen. Wer einen preußischen Heimatschein besaß und gleichwohl in den Militärdienst des Gaststaates trat, verlor die preußische Staatsangehörigkeit und damit auch sein unbedingtes Wiederaufnahmerecht in Preußen. Falls er verarmte, hatte er das preußische Staatsgebiet zu verlassen.38 Die grundlegende Bedeutung der Militärpflicht für die Staatsangehörigkeit zeigt sich daran, daß zwar die Untertaneneigenschaft die Militärpflicht auslöste, die tatsächliche Ableistung des Militärdienstes aber die Staatsangehörigkeit bestimmte.39 Um den drohenden Verlust militärpflichtiger Untertanen zu unterbinden, knüpfte der preußische Staat den Eintritt seiner Untertanen in fremden Militärdienst an eine ausdrückliche Erlaubnis, deren Übertretung die Vermögensentziehung, ja sogar die Todesstrafe im Kriegsfall40 nach sich ziehen konnte. 34 Ebd., S. 3. Diese Regelung wurde abgeschwächt durch ein Reskript vom 10.12.1836. Insgesamt genossen ›Rußlandpreußen‹ nach Beginn der vierziger Jahre eine bevorzugte Behandlung, wenn sie ihre preußische Staatsangehörigkeit behalten wollten, s. dazu unten. 35 Fahrmeir, Citizens, S. 111-122. 36 Vgl. Heyde, S. 54c. 37 Vgl. Auswanderungserlaubnis, dazu Doehl, S. 35f.; Heyde, S. 11. 38 Doehl, S. 41. 39 Ebd. 40 Edikt wegen der Auswanderung Preußischer Untertanen und ihrer Naturalisation in fremden Staaten vom 2. Juli 1812, in: Preußische Gesetzessammlung 1812, S. 114, §§ 20, 21.

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Umgekehrt behandelten die Behörden Ausländer, die in ein ziviles Dienstverhältnis des preußischen Staates eintraten, wie gebürtige Preußen.41 Prägend für die preußische Praxis der Einbürgerung waren die Staatsangehörigkeitsverhältnisse innerhalb der Familie. Der Primat des Mannes in Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit wurde wiederholt bestätigt: Die Staatsangehörigkeit der Ehefrau und der ehelichen Kinder folgte der des Mannes. Die unehelichen Kinder erhielten die Staatsangehörigkeit der Mutter. Diese klaren Regeln durchschnitt lediglich eine Ausnahme, an der erneut die prägende Kraft des Militärischen zum Vorschein kam: Hatte ein Familienvater, der ohne Auswanderungskonsens ausgewandert war, dadurch seine Staatsangehörigkeit verloren, blieben gleichwohl seine Söhne wehrpflichtig in Preußen. Mit der Wehrpflicht aber blieb die Kernpflicht der Staatsangehörigkeit bestehen.42 Ihre zentrale Bedeutung zeigte sich daran, daß Mennoniten und Quäker, die den Waffendienst ablehnten, scharfen Einbürgerungsbeschränkungen unterlagen.43 Wie das Beispiel der Mennoniten und Quäker zeigt, nahmen religiöse Minderheiten eine Sonderstellung in der Staatsangehörigkeitspolitik ein. Eine besonders intensive und detaillierte Reglementierung erfuhr die staatliche Zugehörigkeit von Juden. Dabei hatte das Emanzipationsedikt vom 11. März 1812 die Basis für eine teilweise Angleichung der öffentlichen und privaten Rechtsstellung von Juden und Christen geschaffen. Bezogen auf das preußische Rumpfterritorium nach dem Tilsiter Frieden von 1807 wurde erstmals die große Mehrheit der in Preußen ansässigen Juden als »Einländer und preußische Staatsbürger« behandelt und grundsätzlich in den bürgerlichen Rechten und Freiheiten den Christen gleichgestellt.44 Damit wurde der Jahrhunderte alte quasi ständisch gestufte Fremdenstatus der Juden45, aus dem heraus - wie gegenüber Fremden insgesamt -jegliche Diskriminierung hätte begründet werden können, abgeschafft. Mehr noch: In der Begrifflichkeit des Reformedikts erschienen Juden als Avantgarde einer modernen Staatsbürgergesellschaft. Die kleine Bevölkerungsminderheit der Juden wurde aus der preußischen Untertanschaft als »Staatsbürger« hervorgehoben46 sowie ausdrücklich mit den liberalen Kronrechten der Reformära, also mit Niederlassungs- und Berufs-, Handels- und Gewerbefreiheit ausgestattet. 41 Edikt vom 2. Juli 1812, § 1. 42 Ministerialblatt für die gesamte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten (Pr MBliV) 1841, S. 257. 43 S. Verbot der Ansiedlung oder Aufnahme neuer Mitglieder der Sekten der Mennoniten und Quäker (1820), Doehl, S. 99. 44 Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in den Preußischen Staaten vom 11. März 1812, in: Preußische Gesetzessammlung 1812, S. 17, §§ 1,7. Als »Staatsbürger« galten danach fast neunzig Prozent der jüdischen Einwohner Preußens, während 10,58 % zu »ausländischen Juden« erklärt und weiterhin als Fremde behandelt wurden, s. Brammer, S. 62f, 422. 45 Vgl. Roeck, S. 149. 46 Koselleck, Preußen, S. 59.

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Die Entwicklung dieser weitreichenden Emanzipationsdeklaration bis zum Ende des Vormärz ist die Geschichte ihrer Geltungsverzögerung und Einschränkung.47 Das Edikt wurde nach 1815 nicht auf die hinzugewonnenen Gebiete Preußens ausgedehnt, in denen die hergebrachten Judenordnungen aus der Zeit vor der französischen Okkupation wieder in Kraft traten. Verstärkt durch antijüdische Strömungen in der Politik und Publizistik der Restaurationszeit vertiefte sich die Rechtsungleichheit innerhalb Preußens und machte die Ansätze zu einer einheitlichen Stellung der Juden als »Staatsbürger« zunichte. Die ihrem Ursprung nach nächst Baden emanzipationsfreundlichste Gesetzgebung innerhalb des Deutschen Bundes erfuhr bis zum Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. erhebliche Rückschritte. Dies zeigte die »Vorläufige Verordnung wegen des Judenwesens im Großherzogtum Posen« aus dem Jahre 1833.48 Diese Regelung betraf 40 % der preußischen Juden, für die das Edikt von 1812 nicht galt. Ihrem ersten rechtlichen Anschein nach zielte die Verordnung auf die Naturalisation von Teilen der Posener Judenschaft zu preußischen Staatsangehörigen. Tatsächlich jedoch waren die Aufnahmebedingungen so restriktiv, daß noch zehn Jahre nach Erlaß der Verordnung nur mehr 18,3 % der Posener Juden naturalisierte Preußen waren. Die »Unbescholtenheit« galt allgemein als Grundbedingung der Einbürgerung in Preußen.49 Die schriftliche Beherrschung der deutschen Sprache und die Annahme eines festen Familiennamens hatte bereits das Emanzipationsedikt von 1812 Juden für den Erwerb der preußischen Staatsbürgerschaft zur Pflicht gemacht.50 Mit den weiteren Bedingungen hingegen, insbesondere einer den Lebensunterhalt sichernden Tätigkeit in Wissenschaft und Kunst bzw. einem Vermögen von 5.000 Talern,51 wurden Kriterien bekräftigt, die seit 1817 Juden gegenüber christlichen Bewerbern diskriminierten. Die Bestimmung, daß ausnahmsweise auch »patriotische Handlungen«, durch die sich ein Jude besondere Verdienste um den Staat erworben hatte, zur Naturalisation qualifizierten, zielte auf die großen Verdienste jüdischer Freiwilliger in den Befreiungskriegen,52 änderte indessen nichts an der prinzipiell diskriminierenden und segmentierenden Wirkung der Verordnung: Für den Verordnungsgeber vorhersehbar begünstigte sie eine kleine, wohlhabende, bereits vor 1815 in Posen ansässige jüdische Oberschicht, die zum vollen Rechtsstatus der preußischen Staatsbürgerschaft zugelassen wurde, während die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung davon ausgeschlossen blieb. Die Aufteilung der Juden in zwei scharf voneinander 47 Dazu Hartmann, S. 247-260, der hervorhebt, daß - entgegen der Bezeichnung als »Staatsbürger« - die Juden nur in privatrechtlicher Hinsicht den Christen gleichgestellt wurden (S. 248). 48 Verordnung vom 1. Juni 1833, in: Preußische Gesetzessammlung 1833, S. 66. 49 Doehl, S. 71. 50 Edikt vom 11. März 1812, § 2. 51 Heyde› Staats- und Ortsbürgerrecht, S. 97f. 52 Vgl. Brenner, S. 265.

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geschiedene »Klassen«53 der Einbürgerungswürdigkeit unterlief den Entwurf einer allgemeinen gleichen Staatsbürgerschaft im Edikt von 1812. Die Posener Verordnung bekräftigte eine Einbürgerungspraxis, die Juden aus der Gruppe der Staatsfremden in Preußen diskriminierend hervorhob. Bereits das Edikt von 1812 hatte Juden im Unterschied zu anderen Nichtpreußen die Niederlassung in Preußen nur nach dem Erwerb des preußischen Staatsbürgerrechts erlaubt.54 Wurden daraufhin Juden wegen Nichteinholung der Staatsbürgerschaft ausgewiesen, traten die Behörden erneuten Eintrittsversuchen dadurch entgegen, daß sie Auslandspässe mit dem Vermerk »Zurückweisung wegen Nichteinholung der preußischen Staatsbürgerschaft« versahen und gleichwohl Rückkehrende nach dem »Recht der Vagabunden« behandelten.55 Besondere Vorkehrungen trafen die Behörden gegenüber Umgehungsversuchen dieser restriktiven Einbürgerungspraxis. Zwar wurde »inländischen Juden« nicht verboten, Ausländerinnen zu heiraten56 und ihnen damit nach allgemein geltenden Regeln die preußische Staatsbürgerschaft zu ermöglichen; doch wurde hier der Nachweis eines Heiratsguts von 500 Talern für angemessen erachtet.57 Die befürchtete Umgehung der Naturalisationspflicht durch Heirat eines ausländischen Juden mit einer »einländischen Jüdin« unterband bereits das Edikt von 1812. Schließlich wurde auch die Adoption eines Juden durch einen preußischen Untertanen - ein Akt, der nach allgemeinen Regeln die Staatsangehörigkeit übertrug-von der vorherigen Naturalisation abhängig gemacht.58 Unter den Bedingungen gesamtpreußischer Freizügigkeit und Gewerbefreiheit und in Anbetracht der verschiedenen Rechtsstellung der Juden in den preußischen Provinzen traf die restriktive Posener Verordnung die gewerblich besonders aktive, im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt auch besonders mobile Gruppe mit besonderer Härte. Rekurse benachteiligter Juden und rechtliche Unsicherheiten der nachgeordneten Behörden veranlaßten das Preußische Ministerium des Innern zu Beginn der vierziger Jahre, in eindeutigen Worten den Zustand der Rechtsungleichheit zu bekräftigen: Außerhalb des Geltungsbereichs des Edikts von 1812 erteilte Naturalisationspatente und die daran geknüpften Rechte galten nur nach Maßgabe und im räumlichen Geltungsbereich des Rechts der Provinzen, in denen sie erteilt worden waren. So wurden die in der Niederlausitz eingebürgerten Juden auf die bis zur preußischen Inbesitznahme der Provinz 1815 geltenden (vergleichsweise restrikti53 Laut Terminologie der Verordnung vom 1. Juni 1833, § 21; zur jüdischen Kritik daran: Jersch-Wenzeì, Rechtslage und Emanzipation, S. 51. 54 Ediktvom 11. März 1812, §31. 55 Vgl. Heyde, Staats- und Ortsbürgerrecht, S. 98. 56 Vgl. ebd., S. 95f. 57 Vgl. ebd., S. 96. 58 Ebd., S. 88.

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ven) sächsischen Judengesetze verwiesen. Einem jüdischen Kaufmann, der sich im ehemals hannoverschen Wiedenbrück niederlassen wollte, wurde die nach dortigem Recht notwendige Niederlassungsbewilligung der Gemeinde verweigert.59 Verhindert werden sollte, daß eine besonders freie Judengesetzgebung, wie sie in den Gebieten des westfälischen und französischen Rechts60 herrschte, z. B. auf Sachsen übertragen wurde, wo die »Niederlassung der Juden auf das engste beschränkt« war.61 Die Trennung der Juden des Großherzogtums Posen in zwei Klassen wirkte sich auf ihre Niederlassungs- und Einbürgerungschancen im übrigen preußischen Staatsgebiet aus. Während das Ministerium des Innern grundsätzlich bestrebt war, dem »Einschleichen« Posener Juden »mit Aufmerksamkeit zu begegnen«62, genoß die Oberklasse der nach den strengen Posener Bedingungen naturalisierten Juden eine entgegenkommende Behandlung: Ihre dortige Naturalisation qualifizierte sie in besonderer Weise zur Einbürgerung in den alten preußischen Provinzen.63 Wollten sie sich dort einbürgern lassen, mußten sie nicht ihren Wohnsitz verlegen, sofern sie dort die Niederlassung einer Handlungs-Kommandite oder die ihrer Kinder anstrebten.64 Diese Nachgiebigkeit begründete das Ministerium damit, daß auch die nicht unter dem Edikt von 1812 lebenden Juden »Untertanen des Staates«65 seien. Darin wurde nochmals die weit vorgreifende Absicht des Emanzipationsedikts deutlich, Juden jenseits der ständischen Grenzen zu Vorläufern der Staatsbürgergesellschaft zu machen. Sofern also bescheidene Ansätze dazu dreißig Jahre später erkennbar wurden, geschah dies um den Preis einer Scheidung der jüdischen Untertanen in Klassen. Das innere Recht des preußischen Staates entsprach der tatsächlichen, statusmäßigen und sozialen Lage des ›preußischen Untertanen‹ bis weit hinein in den Vormärz: Es blieb ein Torso, rechtlich fragmentarisch verfaßt, regional disparat und sozial gestuft. Von außen indessen, aus der Perspektive anderer Staaten, erschien dieser große Flächenstaat als eine Einheit, den mit seinen Nachbarstaaten ein einheitliches Problem verband: die wachsende Zahl von Menschen, welche die Grenzen überschritt, ohne daß ihre staatliche Zugehörigkeit und damit alle daran anknüpfenden Rechte und Pflichten geklärt waren. Der Begriff des »Landstreichers« bzw. »Vagabunden« drang in die zwischenstaatliche Rechtssprache vor.66 Staatenübergreifend entstand in der Bürokratie das Be59 Vgl. PrMBliV 1840, S. 11 (Bescheid Nr. 17 vom 5. Januar 1840). 60 Ebd., S. 152 (Verfügung Nr. 241 vom 26. April 1840). Zu den auch in Westfalen dominanten Widerständen gegen eine vollständige Emanzipation der Juden s. Herzig, S. 79-93 (83f). 61 PrMBliV 1840, S. 91 (Verfügung Nr. 144b vom 9. März 1840). 62 PrMBliV 1842, S. 337 (Verfügung Nr. 457 vom 5. September). 63 Vgl. PrMBliV 1841, S. 212 (Verfügung Nr. 330 vom 25. Juni 1841) 64 PrMBliV 1842, S. 188 (Verfügung Nr. 248 vom 24. Mai 1842). 65 Ebd. 66 S. z. B. Vertrag zwischen Preußen und Bayern wegen wechselseitiger Übernahme der

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dürfnis, klare und praktisch handhabbare Unterscheidungen zu treffen, um eigene Angehörige von Nichtangehörigen zu trennen, aus politischen, sozialen oder religiösen Gründen »lästige« Fremde unter Verweis auf ihre Eigenschaft als Nicht-Angehörige auszuweisen. Diese praktische Problemstellung war in den Jahren nach dem Wiener Kongreß einerseits drängender, andererseits politisch leichter realisierbar als die innere Vereinheitlichung des Begriffs und Rechts des preußischen Untertanen. Somit gingen die ersten Ansätze zur Zusammenfassung und Vereinheitlichung der preußischen Staatsangehörigkeit von Vertragsvereinbarungen aus, die Preußen zwischen 1818 und 1840 mit seinen Nachbarstaaten abschloß. Der Vertrag mit Bayern67 aus dem Jahre 1818 führte den Begriff »Staatsangehöriger« in die preußische Rechtssprache ein. Was im Verlauf des Jahrhunderts zum einheitlichen deutschen Rechtsbegriff für die Angehörigkeit zum Staat werden sollte,68 bezeichnete in den preußischen Vcrwaltungstexten noch einen zwischenstaatlichen Zusammenhang, der terminologisch und inhaltlich scharf vom innerstaatlichen Rechtsbegriff des Untertanen unterschieden wurde. Wie die folgenden Konventionen durchweg betonten, sollte die »Untertanschaft eines Individuums jedesmal nach der eigenen, innern Gesetzgebung des betreffenden Staates zu beurtheilen« sein.69 Der ›Staatsangehörige‹ war in der völkerrechtlichen Begrifflichkeit dieser frühen Verträge kein ›Untertan‹ des Staates, sondern galt nur als solcher für den zur Aufnahme verpflichteten Staat.70 Die ersten Verträge des Friedensschlusses von 1815 regelten Folgeprobleme: Die Garantie des Eigentumsrechts bei einem Wechsel der territorialen Souveränität wurde gewährleistet, wobei zugleich mehrfach gebietsuntertänige Eigentümer zur Entscheidung für eine Untertanschaft angehalten wurden.71 Das Vagabunden und Ausgewiesenen vom 9. Mai 1818 (Preußische Gesetzessammlung 1818, S. 53), §§ 1,3; Übereinkunft zwischen Preußen und Sachsen wegen gegenseitiger Übernahme der Vagabunden und Ausgewiesenen vom 5. Februar 1820 (Preußische Gesetzessammlung 1818, S. 40), §§ 1. 3. 67 Vertrag zwischen Preußen und Bayern wegen wechselseitiger Übernahme der Vagabunden und Ausgewiesenen vom 9. Mai 1818 (Preußische Gesetzessammlung 1818, S. 53), § 2. In Verträgen Preußens mit Rußland (Vertrag betreffend das Herzogtum Warschau vom 3. Mai 1815, Preußische Gesetzessammlung 1815, S. 128), Artikel 3 und 4, und mit Frankreich (Friedens- und Freundschaftstraktat vom 30. Mai 1814, Preußische Gesetzessammlung 1814, S. 113), Art. 17, wurden die Ausdrücke »Untertan« bzw. »Eingeborener« noch ungeschieden verwendet. 68 Crawert, S. 128, 135. 69 Z. B. Ministerialerklärung vom 12. November 1838 zur Erläuterung und Ergänzung der preußisch-sächsischen Konvention vom 21. Januar/ 5. Februar 1820 (Preußische Gesetzessammlung 1838, S. 542). 70 Übereinkunft zwischen Preußen und Schaumburg-Lippe wegen der wechselseitigen Übernahme der Ausgewiesenen vom 30. Mai 1839 ( Preußische Gesetzessammlung 1839, S. 198), §2: »Als Staatsangehörige [...] sind anzusehen :«. 71 Vgl. Verträge Preußens mit Frankreich vom 30. Mai 1814 (Preußische Gesetzessammlung 1814, S. 113), Art.16, und mit Rußland vom 3. Mai 1815 (Preußische Gesetzessammlung 1815, S. 113), Art. 9.

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Personalitäts- gegenüber dem Territorialitätsprinzip drang vor. Die beiden folgenden Verträge mit den größten Nachbarstaaten, Bayern und Sachsen, regelten in umfassender Weise die wechselseitige Behandlung von »Vagabunden und Ausgewiesenen«. Diese allgemeiner gefaßten Konventionsregeln kodifizierten für zwei Jahrzehnte die preußische Staatsangehörigkeit nach außen. Leitend wurde die 1820 abgeschlossene Vereinbarung mit dem Königreich Sachsen, das aufgrund seiner frühindustriellen, rasch expandierenden Gewerbetätigkeit Arbeit suchende Preußen anzog.72 Die Konvention stellte mit Vorbildwirkung für die folgenden Vertragswerke eine Rangfolge der Erwerbsprinzipien auf: An erster Stelle stand die Abstammung von Staatsangehörigen Eltern, gefolgt von der »ausdrücklichen« Aufnahme, der Naturalisation. Dahinter rangierte die zufällige Geburt »innerhalb des Staatsgebiets« von heimatlosen Eltern. Schließlich konnte es für eine »nähere Verbindung mit dem Staat« (und damit die Staatsangehörigkeit) genügen, daß der Betreffende, auch ohne im Staatsgebiet geboren zu sein, dort eine Wirtschaft anlegte oder auf zehn Jahre einen stillschweigend gestatteten Wohnsitz hatte. Zwar ging die Abstammung dem Territorialprinzip vor, doch war die »inzidente Einbürgerung« aufgrund dauerhaften Aufenthalts im Land ein wesentliches Ergänzungsprinzip, das Vorrang noch vor der familiären Bindung durch Eheschließung erhielt. Allerdings erwarben unselbständig Tätige (Handlungsdiener, Handwerksgesellen, Dienstboten, Schäfer und Dorfhirten) sowie zu Ausbildungszwecken im Land Befindliche (Zöglinge und Studierende) kein Wohnsitzrecht.73 Damit waren diejenigen Bevölkerungsgruppen mit besonders großer berufsbedingter Mobilität und niedrigem sozialen Status von der ›inzidenten Einbürgerung nach zehn Jahren ausgeschlossen.74 Die leitende Staatsangehörigkeit des Ehemanns wurde ausgedehnt: Auch nach seinem Tod blieben die ehelichen Kinder von einem Staatsangehörigkeitswechsel der Mutter unberührt.75 Die Grundsätze des Vertrags mit Sachsen gingen in erweiterter Form in die folgenden Vereinbarungen ein.76 72 Alle folgenden Konventionen nahmen Bezug darauf. Dementsprechend nahm auch die Prinzipienänderung der preußischen Vertragspolitik (1849/50) von einer Vereinbarung mit Sachsen ihren Ausgang (vgl. dazu unten Kap. IV.2.). 73 S. z. B. den Vertrag zwischen Preußen und Sachsen wegen gegenseitiger Übernahme der Vagabunden und Ausgewiesenen vom 5. Februar 1820 ( Preußische Gesetzessammlung 1820, S. 40), § 8. 74 Heyde, Staats- und Ortsbürgerrecht, S. 119f. 75 Vgl. Ministerial-Erklärung betreffend die Übereinkunft zwischen Preußen und Hannover wegen gegenseitiger Übernahme von Ausgewiesenen vom 20. August/25. September 1839 (Preußische Gesetzessammlung 1839, S. 257), § 2 Nr. (1). Dies wurde aufgrund der Gothaer Konvention vom 15. Juli 1851 (Preußische Gesetzessammlung 1851, S. 711), §5, grundsätzlich auf uneheliche Kinder erstreckt. 76 Insgesamt 20 Verträge zwischen 1838 und 1840.

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Das Funktionieren der Verträge beruhte auf der Verbesserung des polizeilichen Kontroll- und Ausweiswesens, mit dem ein weiteres Identifikationsmerkmal der Staatsangehörigkeit eingeführt wurde: der Besitz eines gültigen Heimatscheins oder Reisepasses.77 So sehr damit die Möglichkeit der Kontrolle verbessert wurde, so sehr wuchs ihre Notwendigkeit aus staatlicher Sicht. Gegen Ende der dreißiger Jahre ging die Krise des Pauperismus ihrem Höhepunkt entgegen. Wanderungsbewegungen zwischen überfüllten und überlasteten Kommunen drängten auf eine Gesamtlösung sowohl der Angehörigkeitsbeziehungen als auch des Armenwesens im preußischen Staat. Diese Lösung mußte über anlaßbezogene Vertragsregelungen hinausgehen. Sie mußte von innen kommen.

2. Die Entstehung eines Gesetzesmodells Den politischen Anstoß zur Schaffung des preußischen Untertanengesetzes gab ein Einzelfall. Die Frage entstand, ob ein in Tilsit arbeitender Dolmetscher namens Szymkiewicz, der unerlaubter Verbindungen zu polnischen Auswanderungskreisen verdächtigt wurde, polnischer Untertan war und deshalb an das Oberlandesgericht Breslau versetzt werden konnte. König Friedrich Wilhelm III. nahm den Fall zum Anlaß, die grundsätzliche Frage nach Entstehung und Verlust der preußischen Untertanschaft klären zu lassen. Der König erteilte im Dezember 1832 dem Ministerium des Innern und der Polizei sowie dem Justizministerium den Auftrag, ein Gesetz über die »Erfordernisse, unter welchen das Verhältnis eines Preußischen Untertans für die Ausländer entsteht«, zur legislativen Beratung im Staatsministerium vorzubereiten.78 Die Aufforderung traf die Ministerien nicht unvorbereitet. Bereits zu Beginn des Jahres 1831 hatte das Innenministerium einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der Regelungen zur Niederlassung von Fremden in Preußen enthielt. Er ging zurück auf eine nachdrückliche Intervention der Erfurter Regierung, die angesichts des Andrangs unvermögender und erwerbsunfähiger Personen, vor allem aus dem Ausland, Schutzvorschriften für die belasteten Kommunen gefordert hatte. Der Entwurf bezog sich in der Folge auf die »Niederlassung fremder Personen« allgemein, und zwar als Teil des umfassenden Armen- und kommunalen Zuzugsrechts. Doch mußte bereits dieser Entwurf zu der Unter77 S. dazu Fahrmeir, Citizens, S. 36, 108f., 153; vgl. auch Ministerial-Erklärung über die Vereinbarung zwischen Hessen und Preußen wegen gegenseitiger Übernahme der Ausgewiesenen vom 26. Mai/9. Juli 1840 (Preußische Gesetzessammlung 1840, S. 146), § 2a. 78 Kabinettsordre vom 5.12.1832, GSTA Dahlem , Rep. 77, Tit 227, Nr. 4, Bd. 1: Dazu und zum Folgenden insgesamt die Darstellung in der Denkschrift des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten (gez. Eichhorn) vom 15.1.1834, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2251.

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Scheidung zwischen »Fremden« und umherziehenden preußischen Untertanen Stellung beziehen. Die Regelungen dazu waren noch knapp und fragmentarisch gehalten. Die Frage aber, wer »Preuße« und wer »Fremder« war, erhielt grundsätzliches Gewicht, so daß sie sich herauslöste aus dem Komplex der Armengesetzgebung und in den Beratungen der Ministerien verselbständigte. Das Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten unter Eichhorn forderte daher bereits im Februar 1832 die Schaffung eigenständiger, fester Normen und Prinzipien über das preußische Untertanverhältnis. Insoweit stimmte es überein mit der preußischen Gesetzesrevision unter Justizminister Kamptz.79 Das Außenministerium hatte beim Abschluß von Staatsverträgen die ›äußere‹ Definition der preußischen Untertanschaft ausgearbeitet. Auch vor diesem Erfahrungshintergrund übernahm es nunmehr die führende Rolle bei der ›inneren‹, der staatsrechtlichen Definition. Motor der schwierigen legislativen Definitionsarbeit war der Direktor der zweiten Abteilung, Johann Albrecht Eichhorn. Dieser gehörte zum engeren Kreis der Reformergruppe um Stein und Hardenberg.80 Seit 1831 Leiter der Ministerialabteilung für die deutschen Angelegenheiten hatte er gegen den Widerstand Metternichs maßgeblich an der Vorbereitung des Zollvereins mitgewirkt. Er legte im Januar 1834 für sein Ministerium eine Denkschrift und einen Gesetzentwurf vor, welche die bisherigen legislativen Überlegungen mehrerer Ministerien81 zusammenfaßten, kommentierten und einen umfassenden eigenen Vorschlag unterbreiteten. In der Denkschrift verbanden sich wissenschaftliche Systematik, nüchterne Gegenwartsanalyse und ein klar ausgeprägter Reformwille zu einem Dokument, das seinem Anspruch und Stil nach zugleich Konsequenz und Schlußstück der Reformzeit war. Die Memoranden entwarfen die preußische Staatsangehörigkeit - vielfach noch unter dem hergebrachten Terminus »Indigenat« -von Beginn an mit Blick auf die übrigen Bundesstaaten: Die Konzeption der preußischen Staatsangehörigkeit - wie auch der anderer Staaten - sollte »allgemeine Grundsätze« aus dem Netz der bereits abgeschlossenen Staatsverträge gewinnen und sie dergestalt als »regulative Normen« 82 der inneren Gesetzge79 Zu diesen Vorgängen insgesamt Lippe, S. 137f. 80 Huber, Vcrfassungsgeschichtc, Bd. I, S. 130f; Galling, S. 376-378. 81 Das Innenministerium hatte sich nach dem besprochenen Entwurf vom Juli 1831 weitgehend passiv verhalten. Nachdem die Gesetzesrevisionskommission des Staatsrats unter Federführung des für die Gesetzesrevision zuständigen Justizministers Kamptz einen eigenen Entwurf vorgelegt hatte, bezog das Außcnministcrium am 15. Juli 1833 dagegen grundsätzlich Stellung in einem eigenen Entwurf, nachdem der Leiter der zweiten Abteilung, Eichhorn, bereits in dem Bericht vom 13.2.1832 einen Aufsatz über das Indigenat übermittelt hatte; vgl. dazu Lippe, S. 144f. 82 Vgl. Denkschrift vom 15.1.1834, enthaltend die Motive des von dem Ministerium der Aus-

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bung verwenden, daß diese ihrerseits »aus dem Wesen der Sache« auch auf andere Bundesstaaten anwendbar sein würde. Dahinter stand die Vorstellung eines materiell einheitlichen und politisch zu vereinheitlichenden Prinzips der Staatsangehörigkeit, letztlich der Ausgriff auf ein einheitliches gemeindeutsches Staatsrecht.83 In diesem Rahmen entwickelte das Außenministerium den inneren Ausgangspunkt des Entwurfs aus dem reformerischen Prinzip der »persönlichen Freiheit«84: Es sollte alle durch eigene Handlungen herbeigeführten Gründe für Erwerb und Aufhebung der Staatsangehörigkeit bestimmen. Dies lag in der Konsequenz einer grundlegenden politischen Veränderung, die ein wesentliches Motiv der Gesetzgebung war und in der Denkschrift zutage trat. Die Aufhebung der Guts- und Erbuntertänigkeit, des Zunft- und Innungswesens sowie die Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit durch die Reformgesetzgebung hatten die ständischen und lokalen Bindungen beseitigt. Gutszugehörigkeit und städtisches Bürgerrecht als solche vermittelten nicht mehr die Staatsuntertänigkeit. Die noch vom Preußischen Allgemeinen Landrecht vorausgesetzten »gleichbleibenden Verwaltungs- und Verfassungsformen« und der »ruhige Völkerverkehr« entfielen und verlangten nach einer umfassenden Neuregelung. Dazu war zunächst eine definitorische Grundlegung der Zugehörigkeit zum Staat erforderlich. Eichhorn schlug dazu den Ausdruck »Indigenat« vor. Er schien ihm die geläufigen Synonyma »Untertänigkeit, Untertanenverband, Staatsangehörigkeit und Staatsgenossenschaft« zu umfassen, zugleich aber den Anspruch inhaltlicher Allgemeinheit des Begriffs zu erfüllen. Indigenat sollte demnach »das Verhältnis der vollkommenen Unterordnung des Einzelnen unter die Gewalt und Gesetze des Staates, verbunden mit den darin begründeten allgemeinen85 bürgerlichen Rechten und Verbindlichkeiten« sein. Scharf setzte Eichhorn das »Indigenat« sowohl von den Begriffen »Heimatrecht« wie »Staatsbürgerrecht« ab. Heimatrecht sollte einerseits auf seinen lokalen Bewärtigen Angelegenheiten vorgelegten Gesetz-Entwurfs über das Indigenat, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2251, Bl. 113. 83 Eichhorn hielt die Bedingungen für Erwerb und Aufhebung der »Staatsuntertänigkeit« für diejenigen »Gegenstände, worüber es noch am ehesten möglich scheint, gleichmäßige Normen für alle deutsche Staaten herbeizuführen, indem spezielle Volks- und Landes-Eigenheiten-alles was zum eigentümlichen Leben eines Staates gehört-hierbei am wenigsten in Betracht kommen, der allgemeine Begriff der Staatsgenossenschaft aber in allen deutschen Staaten ein und derselbe ist, und im allgemeinen auf dieselben Interessen bei der Frage, wie jenes Verhältnis geknüpft und gelöst werden kann und soll-überall sich geltend machen werden.«, Denkschrift vom 15.1.1834, Bl. 113. 84 Aufsatz über das Indigenat, Beilage zum Schreiben vom 13 .2. 1832, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, NO. 4, Bd. 1; Denkschrift vom 15.1.1934, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2251, Bl. 118: »Der freie Wille (animus), Untcrthan zu werden« und aus dem Untertanenverband auszutreten. 85 Im Text hervorgehoben.

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zugspunkt innerhalb des Staatsgebiets zurückgeführt werden; es konnotierte zudem einen »unvertilgbaren Charakter« der Zugehörigkeit, den Eichhorn in Frankreich und England, nicht aber in Preußen gegeben sah.86 Das »Indigenat« sollte nicht nur durch das unauslöschliche Merkmal der Geburt, sondern auch durch Aufnahme in den Staatsverband eröffnet werden, durch einen Akt individueller Willensentscheidung. Der Begriff »Staatsbürgerrecht« hingegen wurde mit der Begündung verworfen, er deute auf »gewisse politische Rechte und Verbindlichkeiten« hin. Eichhorn verwies dazu auf das österreichische »Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch«, überging allerdings das Sondergesetz zur Judenemanzipation von 1812, in dem der Ausdruck erstmals Verwendung in der preußischen Gesetzessprache gefunden hatte. Offenkundig zielte dieser defìnitorische Abscheidungsversuch darauf, jeden Eindruck materieller Besonderheit zu vermeiden. Der systematisierende, vereinheitlichende technische Charakter der geplanten Gesetzesregelung stand im Vordergrund. Dazu diente eine allgemeine, neutrale, ja betont entpolitisierte Terminologie. Im Staatsrecht der preußischen Monarchie sollte ebensowenig der Begriff »Staats-Untertanschaft« wie der konstitutionelle Begriff des »Staatsbürgers« festgeschrieben werden. Doch blieb zugleich die Entwicklung hin zur »Staatsbürgerschaft« offen. Damit spiegelte der Entwurf bereits begrifflich die Zwischenlage der verfassungslosen Monarchie, in der mehrfache Verfassungsversprechen seit 1815 der Einlösung harrten. Seiner formalen Allgemeinheit ungeachtet enthielt der Begriff des »Indigenats« indessen eine weitreichende materielle Ausschlußwirkung. Sie zeigte sich in Eichhorns Bestimmung des Gegenbegriffs des »Fremden«. Dieser schloß neben bloßen Reisenden, vorübergehend im Land Verkehrenden und im Land umherziehenden Vagabunden die dort länger aufenthaltsberechtigten Gewerbetreibenden, aber auch die fremden Inhaber eines öffentlichen Amtes, das nicht auf Dauer angelegt war, ebenso vom Indigenat aus wie die auswärtigen Besitzer inländischen Grundeigentums, die sogenannten Forensen. Darin lag die klare Zurückweisung des Landes (Territoriums) und seiner assimilativen Kraft für den Erwerb der Staatsangehörigkeit. Der lediglich tatsächliche - und sei es auch längerfristige - Aufenthalt im Land sowie die Unterwerfung unter die Landesgesetze waren keine hinreichenden Gründe mehr für die Zugehörigkeit zum Staatsverband, an die engere und rigidere Bedingungen geknüpft wurden. Der hinter formalisierender Begrifflichkeit verdeckte inhaltliche Folgereichtum des Entwurfs erwies sich in den Prinzipien, die ihm zugrunde lagen. So machte der Entwurf das Willensprinzip sehr stark. Nicht mehr nur die still— 86 Die »Naturalisation« im englischen und französischen Sprachgebrauch betrachtet Eichhorn wegen des dort ausgeprägten Geburtsprinzips als »eine künstliche Gleichstellung mit dem Geburts-Verhältnisse« (Denkschrift vom 15.1.1834, Bl. 116).

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schweigende, auf längerem Aufenthalt im Land bzw. dessen Verlassen beruhende Annahme über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit sollte genügen, vielmehr erst eine eindeutige und ausdrückliche Erklärung die Aufnahme bzw. Entlassung bewirken. Damit war der in den Staatsverträgen festgelegte Domizilsgrundsatz, der eine ›implizite Einbürgerung ermöglichte, im inneren Staatsrecht abgeschafft. Neben dem Aufnahmeprinzip - ein systematisches Gegenstück dazu - stand das Abstammungs- oder Geburtsprinzip. Es wurde im Entwurf des Außenministeriums in ungebrochener Übereinstimmung mit der gesamten bisherigen Staatspraxis als das »ursprünglichste und entscheidendste Moment«, das auf »allgemeinen Rechtsprinzipien« fußende Prinzip des Staatsangehörigkeitserwerbs87 bezeichnet und lag insofern dem Aufnahmeprinzip voraus. Nur scheinbar eine Ausnahme stellten Ehefrauen und (minderjährige) Kinder dar, die unter der Gewalt des Ehemanns und Vaters standen. Sie wurden, der herrschenden Privatrechtslehre gemäß, in dem Entwurf als Teile einer einheitlichen »moralischen Person« Familie aufgefaßt, die neben dem Familienvater nicht zu eigenständiger Willensbekundung berechtigt seien.88 Das preußische Staatsangehörigkeitsrecht konkretisierte damit nur ein Eherechtsverständnis, das von den naturrechtlichen Rechtskodifikationen der Jahrhundertwende, dem Preußischen Allgemeinen Landrecht, dem österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch und dem französischen Code Civil, begründet worden war und für die Rechtsentwicklung des gesamten 19. Jahrhunderts bestimmend blieb: Entscheidend für die naturrechtliche Konstruktion der Ehe als Gesellschaftsvertrag war die Verbindung mit einem Unterwerfungsvertrag der Ehefrau, der dem Ehemann ein umfassendes Leitungs- und Vertretungsrecht einräumte. Die daraus erwachsende ›Ehevogtei‹ schlug sich in der Patrilinearität des Staatsangehörigkeitsrechts nieder. Dem staatlichen Bedürfnis nach rationaler Planbarkeit und zentralisierender Einheitlichkeit entsprach das Leitbild der ›(personellen) Eindeutigkeit‹, das Einhorns Entwurf durchzog. Es berührte sich mit dem Willensprinzip insofern, als daß es auf einem unvermittelten, (individuellen) Verhältnis des Staatsangehörigen zum Staat, d. h. auf der Vorstellung einer individuellen, auf vertraglicher Grundlage89 beruhenden Staatsmitgliedschaft, aufbaute. Nieder schlug es sich in dem Anliegen, jede Form der doppelten Staatsangehörigkeit strikt zu ver87 Häufig verwendete Formulierung, auch in den übrigen Verhandlungen, vgl. z. B. Denkschrift vom 15.1.1834, Bl. 116. 88 Denkschrift vom 15.1.1834, Bl. 126; vgl. dazu Dölemeycr, Frau und Familie, S. 637, 641; Vogel, S. 275. 89 Vgl. Denkschrift vom 15.1.1834, Bl. 125: Die Aufhebung des Staatsangehörigkeitsverhältnisses sollte von einer »ausdrücklichen Willenserklärung von Seiten des Unterthanen und der ausdrücklichen Zustimmung von Seiten des Staatcs-als zwei zusammengehörigen Momenten« abhängen.

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meiden. Eichhorn wandte sich damit nachdrücklich gegen den Vorschlag des für die Gesetzesrevision zuständigen Justizministers Kamptz, und zwar mit dem systematischen Argument, daß die Vorstellung, Bürger zweier Staaten sein zu können, dem Begriff der Staatsangehörigkeit als der »vollkommenen Unterordnung des Einzelnen unter die Gewalt und die Gesetze eines Staates« widerspreche. Das Gebot lehnsrechtlicher Treue und Gefolgschaft - »Man kann nicht zwei Herren zugleich dienen« - war damit von einer personalen Abhängigkeit auf die Loyalität gegenüber der abstrakten Staatsperson übertragen.90 Virulent wurde die Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit insbesondere im Fall der Militärdienstpflicht mit der ihr innewohnenden Gefahr des Loyalitätskonflikts. Doch erstreckte die Denkschrift ihre Forderung nach Eindeutigkeit darüber hinaus und forderte, daß jeder, der die Aufnahme als preußischer Untertan erstrebe, durch Zeugnis darzutun habe, daß er im Land seiner Herkunft nicht mehr durch »das Band der Untertanschaft« festgehalten sei. Eindeutigkeit verlangte der Entwurf auch in den Formen des Aufnahmeverfahrens: Auf eine ausdrückliche (nicht lediglich stillschweigende) Willenserklärung des Aufnahmebewerbers sollte ein »Angelöbnis« und die Erteilung eines »Indigenatspatents« folgen. Der Sinn dieses formalisierten und symbolisch aufgewerteten Verfahrens war ein doppelter: durch eine ausdrückliche Aufnahme die »richtige Bedeutung des Staatsverbandes dem Übertretenden lebhaft zu vergegenwärtigen«, um dadurch das »wesentliche Bedürfnis« des Staates zu befriedigen, also »zu wissen, wer im ganzen Umfang seines Gebietes als Untertan ihm angehöre und wer nicht.«91 Aus eben diesem Grund plädierte Eichhorn entschieden für die Abschaffung des Domizilsprinzips. Die Stärkung des Aufnahmegrundsatzes ermöglichte einerseits eine genauere staatliche Auswahl der Eintretenden. Er verlangte andererseits eine Präzisierung der materiellen Auswahlkriterien. Die Denkschrift des Außenministeriums griff dazu auf zwei Hauptkriterien zurück, die aus der Tradition des Stadtbürgerrechts92 geläufig waren: Außer der Freiheit von einem anderen Staatsverband sollten die Aufnahmebehörden einen gewissen Grad »sittlicher Unbescholtenheit« verlangen, um zu verhindern, daß das Land sich nicht »mit verderblichen oder gefährlichen Individuen« bevölkerte. Hier sollte jedoch ebenso wie bei dem zweiten Kriterium, der »zureichenden Erwerbsfähigkeit«, ein gewisser Bewertungsspielraum nach den Umständen des Einzelfalls verbleiben. Hinsichtlich der Juden wollte der Entwurf Sonderregeln einem für die ganze Monarchie ergehenden späteren Gesetz überlassen. Der individualistische Grundzug der Denkschrift zeigte sich hier erneut bei der Erwägung, die 90 91 92 schaft

Ebd., Bl. 127. Ebd., Bl. 118. Grundsätzlich zur Übertragung der Kriterien der Stadtbürgerschaft auf die Staatsbürgers. Fahrmeir, Citizens, S. 29f.

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»politischen, moralischen und ökonomischen Fähigkeiten« auch von Ehefrauen und minderjährigen Kindern, die unter väterlicher Gewalt standen, eigens und gesondert zu berücksichtigen. Die Überlegungen des Außenministeriums stellten einen Gegenentwurf zur Gesetzesrevision unter Federführung von Justizminister Kamptz dar. Dieser war es auch, der in eine eingehende Auseinandersetzung mit den Überlegungen Eichhorns eintrat. Er verkörperte in biographischer und politischer Hinsicht die ›Gegenseite‹ zur Reformposition Eichhorns. Karl Christoph Albert Heinrich von Kamptz gehörte zu den Vorkämpfern der preußischen Restauration. Er stammte aus mecklenburgischem Adel. Nach einer Tätigkeit alsjustizjurist, u. a. als ein von der Ritterschaft gewählter Beisitzer mecklenburgischer Gerichte, trat er in den preußischen Verwaltungsdienst ein. Der wissenschaftlich und politisch hochbegabte Jurist hatte führende Ämter im Polizei-, Kultusund Justizministerium inne. Als Mitglied der Restaurationspartei bezog er scharf Position gegen die nationalstaatliche Bewegung und war eine treibende Kraft in der Demagogenverfolgung. Seit 1832 war er Gesetzgebungsminister93. Kamptz richtete sich in seinem Votum vom 6. Juni 183494 gegen die Grundkonzeption des Entwurfs, den Eichhorn für das Außenministcrium vorgelegt hatte. Er kritisierte ihn als »zu theoretisch und abstrakt«, entspreche er doch zu sehr dem »Muster in sich abgeschlossener und solcher Staaten [...], in welchen das Staatsbürgerrecht mit großen politischen Rechten verbunden ist, deren Mitgenuß dem Ausländer ohne Erfüllung großer und schwerer Bedingungen und auch dann nur mittelst landesherrlich förmlich ertheilten Indigenats nicht gestattet ist.« Er hatte dabei wohl die konstitutionellen Staaten Süddeutschlands, vielleicht auch Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen, die ihre verfassungsmäßigen Grundrechte vielfach den eigenen Staatsangehörigen vorbehielten, die eben dadurch zu »Staatsbürgern« wurden. Nüchtern setzte Kamptz dagegen: »In dieser Lage befindet sich Preußen nicht«. Er zeigte in den folgenden Ausführungen, daß sein restauratives Gesellschaftsbild an die vorkonstitutionelle Lage des preußischen Staates gebunden war. Gegenüber der vom vertraglichen Willensprinzip geleiteten Aufnahmekonstruktion des Eichhorn-Entwurfs beharrte er darauf, daß dem preußischen Staat das Recht unbenommen bleiben müsse, nach eigenem Bedürfnis jemand als Untertanen aufzunehmen oder zu entlassen. Zur verbesserten polizeilichen Kontrolle stellte er sich gegen das Postulat der Freiheit der Auswanderung und verlangte, daß kein Untertan ohne Emigrationskonsens auswandern dürfe.95 93 Baumgart, S. 95-98; Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 142. 94 Votum des Justizministers von Kamptz vom 6. Juni 1834, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2251. 95 Vgl. Lippe, S. 174. 87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Dem Anspruch, ein allgemeines und gleiches Untertanverhältnis mit dem Begriff »Indigenat« zu begründen, setzte er die ständische Vielschichtigkeit dieses Rechtsbegriffs entgegen: Man könne z. B. in Dänemark und Ungarn das Indigenat besitzen, ohne Untertan in diesen Ländern zu sein. Eindringlich untermauerte Kamptz die Rückbesinnung auf ständische Rechtsverhältnisse mit eigenen Erfahrungen. Wie die beiden Staatsminister Bernstorff und Schuckmann - sie gehörten gleichfalls zur restaurativen Partei - besaß Kamptz als Grundbesitzer in anderen Ländern das Indigenat, ohne dort zugleich Untertan zu sein. Vor diesem Hintergrund erinnerte er daran, daß das Landsassiat (gegebenenfalls gestuft als »plenus« oder »minus plenus«) das Untertanverhältnis zu dem Souverän begründe, in dessen Hoheitsbereich das Grundvermögen liege und dem er den Huldigungseid schulde. Dieser Auffassung lag das ständisch begründete Gefolgschaftsverhältnis zugrunde, das noch ganz auf das Land und die Person des Landesherrn bezogen war. So plädierte Kamptz im Sinne der »bisherigen Verfassung«, die dies für jeden selbständigen Mann, sei es als Bürger, Gutsbesitzer oder Soldat vorsehe, dafür, jedem neu in den Staat Eintretenden einen »Huldigungseid« abzuverlangen. Gewicht und Würde dieses Eides verglich Kamptz in dem Versuch, eine Institution des ständischen Rechts auf den modernen Territorialstaat anzuwenden,96 mit dem Eid der Treue gegen den König und übertrug sie auf »das Band der Untertänigkeit«. Wenn Kamptz die Untertänigkeit vermittelnde Kraft des Landes betonte, lag es in der Konsequenz, daß er den Besitzer eines Rittergutes oder Hauses als Untertanen des jeweiligen Territoriums verstand und dabei durchaus eine doppelte Staatsangehörigkeit nicht nur hinnahm, sondern als unvermeidlich ansah.97 Das Gebot der ›Eindeutigkeit‹, wie es das Außenministerium aufgestellt hatte, wollte er auch in einer anderen Hinsicht nicht gelten lassen. Nach hergebrachtem Recht sprach er sich dafür aus, den - gegebenenfalls längeren - Aufenthalt im preußischen Territorium auch ohne ausdrücklichen Aufnahmeakt für den Erwerb der Untertanschaft genügen zu lassen, sofern der Aufzunehmende ein »eigenes Hauswesen« in Preußen begründete. Das Argument entsprach wiederum der Symmetrie des Gefolgschaftsverhältnisses: Wer über einen längeren Zeitraum den Schutz und die Rechte eines in Preußen Ansässigen genoß, sollte auch entsprechende Pflichten übernehmen. Schließlich stärkte Kamptz gegenüber den individualisierenden Ansätzen des Eichhorn-Entwurfs die ›Einheit der Familie‹. Eine Entscheidung über die moralische Einbürgerungswürdigkeit einzelner, unselbständiger Familienmitglieder lehnte er ab, um den Zusammenhalt der Familie nicht zu gefährden. 96 Der Anachronismus dieses Versuchs lag darin, daß das Vordringen des auf individuellen Willenserklärungen beruhenden Vertragsdenkens wie des Domizilsgrundsatzes in der modernen Staatsauffassung keinen Raum für einen Unterwerfungseid ließ, s. dazu Holenstein, S. 489f 97 S. Votum des Justizministers von Kamptz vom 6. Juni 1834, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2251, Bl. 164, am Beispiel des Rittergutsbesitzers, der einen doppelten Homagialeid leistet.

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Vergleicht man diese beiden Gesetzentwürfe, verkörpern sie zwei Epochen des Staatsrechtsdenkens und der gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen. Der von Kamptz so bezeichnete Entwurf eines »geschlossenen Staatswesens« verkörperte bei Eichhorn in seiner Betonung des autonomen Willens bürgerliches Rechtsdenken.98 Er enthielt einen Vorgriff auf den in festen Grenzen bestehenden, sich vom Ausland durch Kontrollen abgrenzenden , nach innen durch die Gewährung konstitutioneller Hechte enger zusammengeschlossenen Nationalstaat. Kamptz' restaurative Sicht beharrte - neben notwendigen Neuerungen - auf dem hergebrachten Primat des Landes und der Vielfalt ständisch geprägter Rechtszustände. Seine praktische Anschauung des Untertanverhältnisses war die eines in mehreren Staaten zugleich ansässigen Rittergutsbesitzers. Nicht die Deckung der Untertanschaft mit der Einwohnerschaft eines geschlossenen Territoriums, sondern die territoriale Grenzen überschreitenden, gestuften personalen Bindungen der ständischen Ordnung lagen dem zugrunde. Die Voten der beiden Ministerien spiegelten die ganze politische Spannweite der Reformgesetzgebung, die bis zum Abschluß weitere acht Jahre in Anspruch nahm. Neben den genannten Ministerien beteiligten sich die Minister des Innern, der Justiz, der Finanzen sowie das Kriegsministerium - zum Teil mit ausführlichen Voten - an den Gesetzesvorbereitungen. Nach Abschluß der ministeriellen Beratungen befaßte sich ab Februar 1838 der preußische Staatsrat mit der Gesetzesmaterie, die inhaltlich auf die beiden anderen großen Gesetzesprojekte, das Anzugs- und Aufnahmegesetz, abgestimmt werden mußte. Zwischen den Polen der beiden Entwürfe von Eichhorn und Kamptz bewegten sich die inhaltlichen Diskussionen und schließlich die Festlegungen des Gesetzeswerks. In der ministeriellen Debatte wurde rasch Einigkeit darüber erzielt, dem »Indigenat« den Begriff des »Untertanen« vorzuziehen. Damit setzte sich ein eingeführter, dem monarchischen Staatsrecht entstammender Begriff durch, der nach übereinstimmender Auffassung der Ministerien zwei Anliegen entsprach: Er enthielt keinen Bezug oder gar Vorgriff auf ein konstitutionelles Staatsbürgerrrecht, wie es in den süddeutschen Staaten bestand. Der Begriff schien keiner Definition zu bedürfen und entsprach zugleich dem - insbesondere vom Außenministerium formulierten - Anspruch formeller Allgemeinheit. Er ließ die ›Untertänigkeit‹ sowohl auf die Person des monarchischen Staatsoberhaupts als auch auf die abstrakte Staatsperson beziehen, betonte aber im Verhältnis der gemeinsamen Untertänigkeit die Gleichheit der Untertanen, während er die Scheidung oder Schichtung nach Gruppen und Ständen ausklammerte.“ 98 Dazu grundlegend Grimm, S. 12, 30. 99 Zum antiständischen, personell-allgemeinen Charakter des modernen Staatsangehörigkeitsrechts s. Grawert, S. 129, 132, 216f.

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Dem entsprach auch, daß sich das vom Außenministerium propagierte Prinzip der ausdrücklichen Aufnahme‹ durchsetzte. Das Finanzministerium unter Albrecht Graf von Alvensleben, der - nächst dem Außen- und dem Gesetzgebungsministerium - mit zwei eigenen Entwürfen den Gesetzgebungsvorgang am nachhaltigsten beeinflußte, untermauerte das Bedürfnis nach Eindeutigkeit der Staatsangehörigkeit mit einem außenhandelspolitischen Argument. England und Frankreich sähen sehr scharf auf die eindeutige nationale Zuordnung fremder Schiffe, würden sie andernfalls konfiszieren.100 Daß mit dem Aufnahmeprinzip eine »Mittelgruppe« länger im Land Verweilender zwischen den »eigentlichen Fremden und den Untertanen« entstand, wurde als notwendig und wünschenswert angesehen, zumal mit dem neuen Prinzip Vorsorge für eine schnelle und bestimmte Entscheidung über die Aufnahme getroffen werde.101 Im Verlauf der Verhandlungen wurde die Ablösung der Staats- von der Gemeindeangehörigkeit immer deutlicher. Ließ die hergebrachte Staatspraxis noch den Bürgerrechts- für den Staatsangehörigkeitserwerb genügen,102 betonten die ministeriellen Voten, daß die Untertanschaft ausschließlich durch einen Akt der staatlichen Provinzialbehörden erworben werde.103 Die Vermeidung doppelter Untertanschaft war ein weithin akzeptiertes Gesetzgebungsziel. Das Außenministerium plädierte im Sinne einer eindeutigen Staatsangehörigkeit dafür, auch ausländische Rittergutsbesitzer mit Grundbesitz in Preußen aufgrund ihres Homagialeids als preußische Untertanen zu behandeln, zumal sie über ihre ständischen Vertretungsrechte erheblichen Einfluß auf die Staatsangelegenheiten auszuüben vermochten. Der Minister des Innern, Gustav Adolf von Rochow, spitzte diese Auffassung aus Anlaß zweier Fälle noch zu, welche die Rittergutsbesitzer Berlepsch und Westphalen betrafen.104 Er trat dafür ein, den nach unterschiedlichen Provinzialrechten abgeleisteten ritterschaftlichen Homagialeid scharf zu unterscheiden vom Erwerb der Untertaneneigenschaft und diese grundsätzlich zur Voraussetzung der Eidesleistung zu machen. Rochow wollte jedenfalls bei nichtdeutschen Ausländern die Entscheidung für eine persönliche Untertanschaft verlangen, um unauflös100 Vgl. »Pro-Memoria zu dem Gcsctz-Entwurfc über das Unterthan-Verhältnis« (undatiert, wohl 1841), GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 3, Bl. 92-109. 101 Promemoria , ebd. 102 Vgl. Regierung Merseburg an das Ministerium des Innern, 22.10.1834, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 2; Ministerium des Innern an Regierung Merseburg, 22.6.1838 (Ausweisungsverbot für einmal durch »Bürgereid« aufgenommene ehemalige ausländische Untertanen, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 3. 103 »Anderweiter Gesetzentwurf nach Maßgabe der in dem zweiten Votum seiner Exzellenz des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats- und Finanzministers Herrn Grafen von Alvensleben gemachten Vorschläge«, Überarbeitung des Gesetzentwurfs des Außenministeriums vom 10.6.1837, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 2, dazu Lippe, S. 183. 104 Zu Clemens von Westphalen, der auf dem westfálischen Provinziallandtag 1841 als Sprecher einer altständischen Opposition gegen den modernen Staat aufgetreten war, s. Reif, Westfälischer Adel, S. 444.

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liehe Konflikte angesichts des Kriegsdienstes, der »wichtigsten Untertanenpflicht«, zu vermeiden.105 Widerstände im Preußischen Staatsrat, dem das Gesetz seit dem Februar 1838 zur Beratung vorlag,106 verhinderten, daß das Prinzip der ›eindeutigen‹ Staatsangehörigkeit ungebrochen zur Geltung kam: Wer als Angehöriger eines anderen deutschen Bundesstaates ein preußisches Rittergut erwarb, erlangte durch den Homagialeid zugleich die preußische Untertanschaft , mußte aber die Militärpflicht nur bei Wohnsitznahme in Preußen ableisten. Diese Lösung privilegierte im Zuge einer restaurativen Adelspolitik107 die ständische Ritterschaft. Doch blieb diese Sonderstellung beschränkt auf Mitglieder anderer deutscher Bundesstaaten, die dadurch heraus- und abgehoben wurden gegenüber Ausländern aus nichtdeutschen Staaten. Hierin lag entsprechend der Gesetzesinitiative ein Zug zur Vereinheitlichung und Angleichung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse zwischen den Staaten des Deutschen Bundes. Die Prinzipien der ›Ausdrücklichkeit‹ und ›Eindeutigkeit‹ erfuhren eine wesentliche Einschränkung im Hinblick auf den Verlust der Untertaneneigenschaft. Finanzminister Alvensleben, unterstützt durch die Vorbehalte des Innen- und Gesetzgebungsministers gegen den geplanten »Patentismus«,108 drang mit seinem Anliegen durch, die preußische Staatsangehörigkeit nach längerem Aufenthalt im Ausland erlöschen zu lassen, um dies anderen Staaten entgegenhalten zu können und den preußischen Staat vor der erzwungenen Wiederaufnahme verarmter Auswanderer zu schützen.109 Alvensleben verstand dies als Abwehrmaßnahme gegenüber ausländischen Staaten, die mangels vertraglicher Vereinbarung langansässige Preußen nicht als eigene Untertanen betrachteten, während dies Preußen bei Ausländern seinerseits tat. Entscheidend war schließlich, daß sich das Aufenthaltsprinzip in allen Staatsverträgen durchgesetzt hatte, die Preußen ab dem Ende der dreißiger Jahre mit allen Nachbarstaaten abgeschlossen hatte. Die Übernahme in das innere Staatsrecht Preußens machte es vereinbar mit dem zwischenstaatlichen Recht. Im Hinblick auf die Gruppe der Juden bewegte sich die Diskussion auf einen Mittelweg zu. Weder sollten die herkömmlichen besonderen Einbürgerungshürden für Juden im Gesetz festgeschrieben noch der Sonderstatus dieser Gruppe aufgehoben werden. Die praktizierte Diskriminierung der Juden ge105 Ministerium des Innern an König Friedrich Wilhelm IV., 24.10.1841, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 3, Bl. 160f. 106 Lippe, Preußische Heimatgesetzgebung, S. 226f. 107 S. Reif, Adelspolitik, S. 206f. 108 Vgl. Votum des Ministers des Innern , Rochow, 31.12.1834, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 28-36. 109 Votum Finanzminister Alvensleben, 16.8.1836, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 172; vgl. Lippe, S. 181f. Die endgültige Durchsetzung dieses Gedankens in den Beratungen des Staatsrats kam folglich nicht so unvorbereitet und überraschend, wie Lippe, S. 236, annimmt.

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genüber Christen beim Staatsangehörigkeitserwerb durch Adoption sollte abgeschafft110 werden, jede einzelne Einbürgerung aber einer gesonderten Erlaubnis des Ministeriums bedürfen. Zu Beginn der vierziger Jahre kam das Gesetzgebungsverfahren zum Abschluß. Die wachsende Not der Gesellschaft, die Krise des Pauperismus, die den gesamten preußischen Staat erfaßte, forderte eine auch den gesamten Staat erfassende Gesetzgebung. Wie Reinhart Koselleck herausgearbeitet hat, gründete die Einheit des Staates eben nicht mehr nur in der Einheit der Verwaltung, sondern ebenso in seiner Gesellschaft, die ihrerseits staatliches Handeln hervorbrachte. Gegen Ende der dreißiger Jahre stieg die interlokale und zwischenstaatliche Wanderung stark an; zugleich wurden von Zuziehenden überfüllte Gemeinden von der Last der Armenfürsorge niedergedrückt. Das »Untertanengesetz«, wie das Gesetz über »die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Untertan, so wie über den Eintritt in fremde Staatsdienste« fortan kurz genannt wurde, erging im Zusammenhang mit drei anderen Gesetzen, war auf diese inhaltlich abgestimmt. Die Gesetze »Über die Aufnahme neu anziehender Personen«, über die »Verpflichtung zur Armenpflege« und über »Die Bestrafung der Landstreicher, Bettler und Arbeitsscheuen« wurden durch das Untertanengesetz ergänzt und zu einer gesamtstaatlichen Einheit zusammengefaßt, die nach außen, also gegenüber anderen Staaten, die preußische Untertanschaft als rechtlich geordnetes und berechenbares Ganzes erscheinen ließen. Das Untertanengesetz schloß die Reihe von Staatsverträgen, die Preußen seit dem Ende der dreißiger Jahre über die Behandlung heimatloser Ausländer und Vagabunden mit seinen Nachbarstaaten eingegangen war, innerstaatlich ab. Dazu gehörte, daß das neue Gesetz ein Prinzip festschrieb, von dem das System der Staatsverträge ausging, nämlich den Verlust der preußischen Staatsangehörigkeit nach zehnjährigem - unerlaubtem - Aufenthalt im Ausland. Damit wurde das hergebrachte Domizilsprinzip - in negativer Form und außerhalb des Staatsgebietes -weitergetragen. Dabei verlor es seinen konstitutiven Charakter für das Prinzip der Staatsangehörigkeit. Das Land vermittelte nicht positiv den Erwerb der Staatsangehörigkeit, sondern es gab nur mehr negativ den Anlaß, Untertanen, die ohne Erlaubnis für längere Zeit ausgewandert waren und auf die der Staat glaubte, leicht verzichten zu können,111 aus der Untertanschaft auszuscheiden. Das Domizilsprinzip war damit aus polizeilichen Gründen und zur Wahrung der völkerrechtlichen Reziprozität teilweise beibehalten worden. Nach innen hingegen setzte sich die›ausdrücklicheAufnahme‹ als konstitutives 110 Minister des Innern Rochow anjustizminister Mühler, 21.12.1837, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 3. 111 S. Gesetzentwurf mit Motiven vom 18.1.1838, an den Staatsrat, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2252, zu § 29: Bei Individuen, welche sich längere Zeit unerlaubt im Ausland aufhielten, lasse sich annehmen, daß sie ihr bisheriges Untertanenverhältnis aufgeben wollten.

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Prinzip der Staatsangehörigkeit vollständig gegen das Domizil durch. Eindeutig bestimmte das Gesetz: »Der Wohnsitz innerhalb unserer Staaten soll für sich allein die Eigenschaft als Preuße nicht begründen«.112 Die Aufnahme in den preußischen Staatsverband erfolgte grundsätzlich durch individuelle, in Form einer »Naturalisations-Urkunde« patentierte Verleihung.113 Die Bestallungeines Ausländers im preußischen Staatsdienst wurde dem grundsätzlich gleichgestellt.114 Ausnahmen vom Prinzip ausdrücklicher Ernennung wurden nur bei der Verheiratung und der Legitimation unehelicher Kinder gemacht. Die Formalisierung der preußischen Staatsangehörigkeit von den Gegnern als »Patentismus« ironisiert115 - erstreckte sich auch auf deren Verlust durch Entlassung.116 Wie bei der Aufnahme galt auch bei der Entlassung aus der preußischen Staatsangehörigkeit das Willensprinzip. Es herrschte -von Ausnahmen der Militärpflicht und der Aufnahmebereitschaft der deutschen Bundesstaaten abgesehen - Auswanderungs- und Entlassungsfreiheit.117 Die Aufnahmekriterien folgten weitgehend dem Kanon der hergebrachten Staatspraxis. Neben der Dispositionsfähigkeit standen ein unbescholtener Lebenswandel, die Ernährungsfähigkeit des Antragstellers für sich und seine Angehörigen, schließlich der Nachweis über die Erfüllung der Militärpflicht in einem anderen deutschen Bundesstaat und der Nachweis einer Wohnung am Ort der Aufnahme. Einen besonderen Aufnahmegrund stellte die »Bestallung« im preußischen Staatsdienst dar. Ein Ausländer erwarb damit automatisch eine Ausnahme vom Prinzip der ausdrücklichen Aufnahme - die preußische Staatsangehörigkeit. Das besondere, in der Pflichtenstellung gründende Näheverhältnis des Staatsdieners zum Staat hob ihn zugleich hervor aus der Menge der übrigen Staatsangehörigen und erübrigte gesonderte Naturalisationsverfahren. Das wurde im preußischen Untertanengesetz klar geregelt, war aber kein Spezifikum des preußischen Etatismus, sondern ein weithin anerkannter Erwerbsgrund der Staatsangehörigkeit.118 112 S. Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Untertan, so wie über den Eintritt in fremde Staatsdienste vom 31. Dezember 1842 (kurz: »Untertanengesetz«), in: Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 15, § 13. 113 Preußisches Untertanengesetz vom 31. Dezember 1842, §§ 1Abs.4, 5Abs.l. 114 Ebd., § 6 Abs.l (mit Ausnahme der als Konsuln, Handels-Agenten usw. Angestellten, § 6 Abs.l Satz 2). 115 S. Votum des Ministers des Innern Rochow »betreffend den von dem kgl. Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten vorgelegten Gesetzentwurf über das Indigcnat«, 31.12.1834, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 2, Bl. 28-36; in diesem Sinne auch Justizminister Kamptz, »Zusammenstellung der in den Votis Ihrer Exzellenzen .... ausgesprochenen verschiedenen Ansichten und Vorschläge in Betreff des von dem Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten vorgelegten Entwurfs über das Indigenat«, ebd., Bl. 47-76. 116 Preußisches Untertanengesetz vom 31. Dezember 1842, §§ 16, 20. 117 Ebd., §§ 17-19. 118 S. Grawert, S. 185; Makarov, Allgemeine Lehren, S. 223.

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Leitendes Prinzip für den Ersterwerb der preußischen Staatsangehörigkeit blieb indessen - als »natürliches Prinzip« gänzlich unangefochten - die Abstammung von Staatsangehörigen Eltern. Seinen Vorrang vor jedem ausländischen Territorialelement stellte die Formulierung klar, daß jedes eheliche Kind eines Preußen, »auch wenn es im Ausland geboren ist«, durch die Geburt preußischer Untertan sei. Ob die Klarstellung hinsichtlich der Geburt im Ausland eine Staats- oder bevölkerungspolitische Stoßrichtung verfolgte oder lediglich die Zufallseinwirkungen des Territorialprinzips bei Geburt im Ausland abwehren wollte, läßt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht mehr rekonstruieren.119 Die Systematik des Gesetzes spricht für letztere Annahme, denn das Domizilsprinzip, das die durch Abstammung erworbene preußische Staatsangehörigkeit bei langjährigem Aufenthalt im Ausland begrenzte, schwächte gerade die Relevanz des Abstammungsprinzips. Das war mit einem systematischen Einsatz des Abstammungsprinzips als Mittel zur geschlossenen Selbstreproduktion und Erhaltung des ›Volkskörpers‹ nicht vereinbar. Vom Prinzip der ›eindeutigen Staatsangehörigkeit‹ allerdings machte das Gesetz deutliche Abstriche. Zwar hielt es fest, daß grundsätzlich der Eintritt in einen - gegebenenfalls die fremde Staatsangehörigkeit vermittelnden - fremden Staatsdienst der vorherigen Entlassung aus der preußischen Staatsangehörigkeit bedurfte. Doch gestattete es mit »unmittelbarer Erlaubnis«, daß ein Preuße bei einer fremden Macht diente und gleichwohl seine preußische Staatsangehörigkeit behielt.120 Insoweit war eine doppelte Staatsangehörigkeit zugelassen; sie wurde mehr noch sanktioniert durch eine Klausel, die in besonderer Weise dem Besitzstand altständischer Rechte entgegenkam: Doppelte Untertanenverhältnisse aus dem hergebrachten »Grundbesitz und namentlich aus dem Besitz eines Ritterguts und dem Homagial-Eid«121 wurden damit zugelassen. In einem wichtigen Bereich wurde damit das restaurative Sonderinteresse des grundbesitzenden Adels über das moderne Prinzip eindeutiger und gleicher Staatsangehörigkeit gestellt. Andererseits knüpfte dieses Privileg ganz im Sinne der Adelspolitik Friedrich Wilhelms IV122 - an den Grundbesitz des alten, politisch bevorrechtigten Adels an. Es begünstigte damit nicht den Adel schlechthin, sondern eine schmale, überkommene Herrschaftsschicht. Die Trennung der Staats- von der Gemeindeangehörigkeit wurde im Unterschied zum süddeutschen Recht eindeutig vollzogen. Dadurch, daß eine Gemeinde keinen Ausländer als Mitglied aufnehmen durfte, der nicht zuvor die 119 Der Gesetzentwurf vom 18.2.1838 (GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2252), zu § 1,begründet den Zusatz über das Ausland mit der Klarstellung, daß es für das Abstammungsprinzip auf den Ort der Geburt nicht ankomme. 120 Preußisches Untertanengesetz vom 31. Dezember 1842, §§ 24, 25. 121 Ebd., § 11. 122 S.Reif, Adelspolitik, S. 214.

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Eigenschaft als preußischer Untertan erworben hatte123, war zugleich klargestellt, daß das Stadtbürgerrecht die staatliche Untertanschaft nicht mehr begründete, sondern von ihr (mit)bedingt war. Diese Vorschrift ergänzte § 12 des Aufnahmegesetzes124 vom 31. 12.1842, der klarstellte, daß der bloße Aufenthalt in einer Gemeinde nicht deren Mitgliedschaft begründete. Beide Regelungen zusammengenommen entzogen einer durch das Domizilsprinzip vermittelten Mitgliedschaft von Ausländern, in der Gemeinde oder im Staat, den Boden. Das Gesetz kodifizierte ein patrilineares Staatsangehörigkeitsrecht reiner Ausprägung. Ehefrauen und eheliche Kinder folgten ausschließlich dem Ehemann und Vater. Die staatsangehörigkeitsrechtliche Unselbständigkeit der Ehefrau galt umfassend, positiv und negativ: Ausländerinnen wurden durch Heirat zu Preußinnen, Preußinnen aber verloren durch die Heirat mit Ausländern ihre Staatsangehörigkeit. Die Diskriminierung der Frau folgte einer rechtlichen Symmetrie, die strikt nach Geschlechtern unterschied. Nationale Wertigkeiten, die den Verlust einer Preußin oder Deutschen qua Heirat zum Problem gemacht hätten, spielten im Gesetzgebungsdiskurs vor der Jahrhundertmitte noch keinerlei Rolle.125 Wo eine individualisierende Sicht der Familienmitglieder dennoch Platz griff, blieb sie rein negativ: Ehefrauen und Kinder, deren Unbescholtenheit je für sich in Zweifel stand, hinderten dadurch die Einbürgerung der gesamten Familie.126 Als einzige nach inhaltlichen Kriterien abgegrenzte Gruppe im Rahmen der ansonsten strikt allgemeinen Gesetzesterminologie erfuhren die Juden eine Sonderregelung. Ihre »Naturalisation« bedurfte der gesonderten Zustimmung des Innenministers. Die zentrale Steuerung der Einbürgerungspolitik gegenüber Juden, die das Emanzipationsedikt von 1812 eingeführt hatte127, wurde damit fortgesetzt. Zudem waren inhaltliche Sonderregelungen durch das Gesetz, das lediglich allgemeine Mindestkriterien der Einbürgerung enthielt, nicht ausgeschlossen. Sie wurden der Verwaltungspraxis anheimgegeben, bis ein in Vorbereitung befindliches Gesetz über die Verhältnisse der Juden in der gesamten preußischen Monarchie eine einheitliche Regelungtraf.128Eine verdeckte Sonderregelung steckte allerdings in der Klarstellung, daß - entgegen bisheriger Praxis - die Adoption für sich allein nicht die Wirkung einer Naturalisation entfaltete. Damit wurden Juden und Christen zwar vordergründig 123 Preußisches Untertanengesetz vom 31. Dezember 1842, § 12. 124 Vgl. Doehl, S. 107 (Erlaß des Preußischen Ministeriums des Innern vom 5.5.1857). 125 Vgl. hingegen das ausgehende 19. Jahrhundert, unten Kap. VI.2., 3. 126 Preußisches Untertanengesetz vom 31. Dezember 1842, § 10 Satz 2. 127 Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in den preußischen Staaten vom 11. März 1812, in: Preußische Gesetzessammlung 1812, S. 17, §32. 128 S. Votum des Justizministers von Kamptz vom 6. Juni 1834, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2251, Bl. 166; Schneider, preußische Staatsrat, S. 190f.

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gleichbehandelt. Das Ziel dieser Regelung war jedoch, jüdischen Einbürgerungswilligen nicht das Schlupfloch der Adoption zur Umgehung der speziellen Einbürgerungshürden zu eröffnen.129 Das Untertanengesetz bestimmte bis zum Erlaß eines Gesetzes des Norddeutschen Bundes im Jahre 1870, das die preußischen Regelungen annähernd vollständig übernahm, den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit im größten deutschen Staat. Es wurde mit seinem Regelwerk, das inhaltliche Prägnanz mit formeller Allgemeinheit verband, zum Prototyp des modernen Staatsangehörigkeitsgesetzes in Deutschland schlechthin. Mehrere Gründe spielen dabei zusammen: Das Regelwerk war geeignet zur Anpassung an wechselnde Bedürfnisse politischer Systeme und (bevölkerungs)politischer Strömungen. Die personelle Allgemeinheit der Gesetzesformulierung schuf zum einen erstmals ein einheitliches130, nicht nach Ständen, Klassen, historischen, nationalen oder regionalen Besonderheiten geschiedenes preußisches Staatsvolk. Es trug somit zur Rationalisierung staatlicher Herrschaft bei. Insgesamt war es seiner Struktur nach modern, Ausdruck einer sich herausbildenden Gesellschaft der Staatsbürger, obwohl dieser Begriff in dem Gesetz ausdrücklich gemieden wurde. Der absolutistische Terminus des Untertanen verdeckte unter dem semantischen Bezug auf die Monarchie eben jene Struktur modemer Gleichheit. Die Knappheit der Regelungen ließ bewußt Raum für Entscheidungsspielräume der Verwaltung. Wer tatsächlich Preuße wurde, blieb der praktischen Einbürgerungspolitik überlassen. Preuße war zunächst und vor allem, wer von preußischen Eltern geboren wurde. Dieser Grundsatz galt den Gesetzgebern geradezu als Axiom, als »natürliches«, als unbefragtes Prinzip, das die hergebrachte Praxis des städtischen Bürgerrechtserwerbs mit der Zugehörigkeit zur modernen Staatsbürgergesellschaft verband. Das Abstammungsprinzip wurde nicht -wie später - in Gegensatz zum Domizilsgrundsatz gebracht, ein möglicher Gegensatz überhaupt nicht gesehen. Die Debattenlinie verlief vielmehr zwischen dem Domizils- und dem Aufnahmegrundsatz. Die Entscheidung des Gesetzgebers für die ›Doppelspurigkeit‹ des Vermittlungsprinzips war ein Kompromiß aus völkerrechtlichen, sozial- und bevölkerungspolitischen Interessen. Er lag fern der abstrakten Prinzipientreue der vorgetragenen staatstheoretischen wie auch der späteren nationalpolitischen Erwägungen. Die Vereinheitlichung und Verstaatlichung der preußischen Staatsangehörigkeit, zwei Hauptziele des neuen Gesetzes, setzten sich freilich nur in einem 129 Der Ausschluß der Adoption als Erwerbsgrund der Staatsangehörigkeit kam erst nach dem Gesetzentwurf vom 18. Februar 1838 in das Gesetz. Damit wurde eine Verwaltungspraxis gesetzlich gedeckt, die bei Juden die Adoption nicht zum Erwerb der Staatsangehörigkeit genügen ließ (s. Heyde, Staats- und Ortsbürgerrecht, S. 88). 130 Siehe im Kontrast dazu die rechtlich und sozial hochdifferenzierte, nicht eindeutig definierbare ›Untertanenstellung‹ noch um 1800, dazu Kocka, Stand noch Klasse, S. 139f

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langgestreckten, von Einschränkungen und zeitweiligen Rückbewegungen begleiteten Prozeß durch. Für die Verstaatlichung der Staatsangehörigkeitspolitik war die Sicherstellung des freien staatlichen Ermessens in der Einbürgerungsentscheidung grundlegend. Darin wurde die preußische Praxis prägend für die moderne deutsche Staatsangehörigkeit insgesamt. Die inhaltlichen Kriterien der Einbürgerung blieben im Arkanbereich der Verwaltung. Sie machten aus der Einbürgerung einen Akt staatlicher Gnade, der aus dem Recht des Absolutismus im Zeitalter des entstehenden bürgerlichen Rechtsdenkens Bestand behielt.131 Das Ermessen eröffnete z. B. Spielräume für berufspolitische Kapazitätserwägungen. Wegen »des ungewöhnlich großen Andrangs« von Apothekerlehrlingen und Medizinstudenten wurde die Einbürgerung dieser Berufsgruppen von ihrer gegenwärtigen »Nahrungsfähigkeit« abhängig gemacht; denn andernfalls werde »jeder Unterschied zwischen In- und Ausländern« aufgehoben.132 Dagegen sollten die Erwerbschancen der eigenen Untertanen gewahrt werden. Eine Ausnahme von diesen Beschränkungen galt indessen für den Militärdienst. Auch Ausländer konnten grundsätzlich in der preußischen Armee dienen.133 Noch standen Militärdienst und Staatsangehörigkeit nicht in dem eindeutigen funktionalen Zusammenhang, der sich im Zeitalter des Nationalstaats erst allmählich herauszubilden begann. Auch in der preußischen Staatsregierung bedurfte das Prinzip der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit, das zwischen Naturalisierten und ›geborenen Preußen‹ nicht unterschied, grundsätzlicher Klärung. Um nicht »zwei Klassen«134 von Untertanen zu schaffen, kamen die preußischen Minister überein, sollte der Widerruf von Naturalisationen grundsätzlich ausgeschlossen sein, denn es liege im »Begriff der Naturalisation«, daß sie gleiche Rechte gewähre wie das Indigenat.135 Dem Streben nach Vereinheitlichung der Untertaneneigenschaft entsprach schließlich die Standardisierung behördlicher Ausweisdokumente preußischer Untertanen. Bei Naturalisations- wie Entlassungsurkunden wurden einheitliche Formulare für das gesamte preußische Königreich eingeführt.136

131 Zur Ausweitung des königlichen Bestimmungsrechts in französischen Naturalisierungsverfahren des 17. Jahrhunderts s. Wells, S. l()7f. 132 Circular-Verfügung des Ministeriums des Innern an die Regierungen, 9. Juli 1844, PrMBliV 1844, S. 228. 133 Ministerium des Innern, Verfügung vom 14.6.1844, PrMBliV 1844, S. 202. 134 Votum, Minister des Innern Arnim an Minister der Justiz Uhden, 5.8.1845, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5. 135 Ministerium des Innern, Ministerium der Justiz, Staatsministerium an König Friedrich Wilhelm IV., 28.10.1845, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5. 136 Minister des Innern, Circular-Verfügung an die Regierungen und den Polizeipräsidenten in Berlin, 15.4.1843, PrMBliV1843, S. 187.

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Die soziale Krise der vierziger Jahre schlug sich in der Handhabung des Untertanengesetzes nieder. Die Zehnjahresfrist, die für den Verlust der Staatsangehörigkeit im Ausland galt, wurde bei denjenigen extensiv ausgelegt, die unerlaubterweise aus Preußen ausgewandert waren und auf die der preußische Staat verzichten wollte.137 Ausnahmen betrafen Rußlandpreußen‹, die als qualifizierte, wirtschaftlich besonders erfolgreiche Elite galten.138 Für Gemeinden, die sich gegen Überlastung durch Einwanderung schützen wollten, entstand das Problem, daß die uneinheitliche lokale und regionale Praxis der Einbürgerung in Verbindung mit der Freizügigkeit im preußischen Staat einen regional sehr unterschiedlich wirkenden Einbürgerungsdruck hervorrief.139 Ein Konflikt zwischen allgemeiner Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit einerseits, 140 sozialer Schutzbedürftigkeit der Kommunen andererseits brach auf. Um besonders belastete Gemeinden, insbesondere an den preußischen Grenzen, zu schützen, fand der Innenminister eine Kompromißlösung, die einerseits das System der Freizügigkeit nicht aufhob, andererseits aber den Kommunen verstärkten staatlichen Schutz gegen überhöhten Andrang einräumte, der seinerseits zentrale Kontrolle und gegebenenfalls Verteilung ermöglichte:141 Wer im Verlauf von drei Jahren nach seiner Naturalisierung die Gemeinde wechseln wollte, mußte zur Niederlassung erneut die Einbürgerungsvoraussetzungen des Untertanengesetzes - einschließlich der gemeindlichen Zustimmung erfüllen.142 Bei fehlendem »Interesse der Gemeinde« an der Niederlassung soll-

137 Ministerium des Äußern an Ministerium des Innern, 13.11.1843, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 4 : Im Unterschied zu den »Rußlandpreußen« bestehe kein Interesse daran, andere »Auslandspreußen« auf die Wahrung ihrer Preußenrechte aufmerksam zu machen, da diese vielfach nur ihren Untertanenpflichten im Ausland entgehen wollten; Ministerium des Innern, Circular an die Regierung Danzig und alle Regierungen, 24.1.1844, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 4 (PrMBliV 1844, S. 166); Ministerium des Innern, Circular an die Regierungen, 19.4.1847, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 4; Ministerium des Äußern an Ministerium des Innern, 6.6.1860, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 7 : Gegenüber Rußlandpreußen werde in besonderer Weise »in dubio zu Gunsten der Erhaltung der hiesigen Untertanschaft verfahren«. 138 Vgl. zur Privilegierung dieser Gruppe im Zarenreich Brandes, S. 90f, 105. 139 S. die nachdrückliche Stellungnahme des Magistrats von Magdeburg gegenüber dem Ministerium des Innern, 18.11.1845, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5. 140 Diese Position vertraten in Berichten an das Ministerium des Innern die Regierung Liegnitz an Ministerium des Innern, 10.1.1846; Regierung Magdeburg an Ministerium des Innern, 21.5.1844; Regierung Königsberg an Ministerium des Innern, 4.1.1846 (dort staatliche Inschutznahme industrieller Zuwanderer vor kommunalen Abwehrtendenzen), GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5. 141 Es gab jedoch kein absolutes Abwcisungsrecht der Gemeinde, nurmehr eine erneute, von der staatlichen Behörde zu beachtende Einwendungsmöglickeit, vgl.§ 7 Nr. 4 Preußisches Untertanengesetz vom 31.12.1842. 142 Anordnung König Friedrich Wilhelm IV., 10.1.1848, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5.

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te die Einbürgerung versagt werden.143 Die Durchsetzung des preußischen Modells einer verstaatlichten,144 weitgehend entkommunalisierten Staatsangehörigkeit mußte sich also im Tempo an die sozialen Existenzbedingungen der Kommunen anpassen. Um die preußische Armenfürsorge gegen Überlastung zu schützen, wurde auch der Grundsatz der Einheit der Familie im Staatsangehörigkeitsrecht eingeschränkt. Die unehelichen Kinder einer Ausländerin, die einen Preußen heiratete, blieben Ausländer, heimatscheinpflichtig und von Ausweisung bedroht.145 Das Prinzip der Familieneinheit reichte eben so weit, wie es der Grundsatz der Patrilinearität gebot, und nicht weiter. Eine Sonderstellung im Gesamtgefüge der preußischen Staatsangehörigkeit behielt die Gruppe der Juden. An ihnen brach sich der Anspruch einer einheitlichen Untertanschaft auch nach dem Erlaß des Untertanengesetzes. Auch das »Gesetz über die Verhältnisse der Juden«, das am 23. Juli 1847 erging,146 hob die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht auf Es stellte zwar für die gesamte preußische Monarchie den Grundsatz auf, daß Juden »neben gleichen Pflichten auch gleiche bürgerliche Rechte mit unseren christlichen Untertanen zustehen«. Tatsächlich blieb jedoch ein umfangreiches System fein differenzierter Ausnahmen von diesem Grundsatz bestehen, unter anderem gab es besondere Hürden beim Erwerb der preußischen Staatsangehörigkeit durch Juden. Die Unterscheidung zwischen naturalisierten und nicht naturalisierten Juden im Großherzogtum Posen, die mit der Verordnung von 1833 eingeführt worden war, wurde ausdrücklich aufrechterhalten. Sie wurde zwar gemildert durch Erleichterungen: Die erfolgreiche Ableistung der militärischen Dienstpflicht mit guten Führungs-Attesten und die Aufnahme aufgrund besonderer Eignung. Diesen Erleichterungen standen jedoch besondere, für Christen nicht geltende Entzugsgründe147 der Staatsangehörigkeit gegenüber. Der Verlust des städtischen Bürgerrechts und die Aberkennung der Nationalkokarde zogen den Verlust der Untertanschaft für Juden nach sich. Die Integrationskraft des preußischen Militärdienstes - seit 1845 galt die allgemeine Wehrpflicht für alle Juden - wirkte sich demnach positiv wie negativ aus.148 Sie 143 Ministerium des Innern an Regierung Liegnitz, 20.5.1847, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5. 144 S. Langewiesche, »Staat« und »Kommune«, S. 628. 145 Ministerium des Inneren an die Regierung Erfurt, 26.2.1847, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 5. 146 Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847, in: Preußische Gesetzessammlung 1847, S. 263; vgl. zur EntstehungJersh-Wenzel, Rechtslage und Emanzipation, S. 55f. 147 Gesetz vom 23. Juli 1847, § 30: Neben dem Verlust der Wehrwürdigkeit führten wissentlich unrichtige Angaben im Einbürgerungsverfahren und der Entzug des städtischen Bürgerrechts zum Verlust der Naturalisation. 148 In Fortsetzung der Praxis vor dem Erlaß des Untertanengesetzes, vgl. Ministerium des Innern, Verfügung an die Regierung zu Posen, 30.12.1842, PrMBliV 1843, S. 5 (Verbot der Naturalisation von Juden nach Aberkennung der Nationalkokarde).

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öffnete Juden den Zugang zum preußischen Staatsverband, verschloß ihn aber auch bei mangelnder Wehrwürdigkeit. Das Gesetz von 1847 spiegelt die ambivalente Lage der Juden im preußischen Vormärz. Neben liberalen Fortschritten149 erhielt es die zwei scharf in ihren Rechten unterschiedenen Klassen naturalisierter und nichtnaturalisierter jüdischer Einwohner des Großherzogtums Posen aufrecht.150 Erst die Verfügung des preußischen Innenministeriums vom 13. Dezember 1848 brachte eine tatsächlich revolutionäre Neuerung: Erstmals in der Geschichte Preußens wurden Christen und Juden in den Bedingungen ihrer Naturalisation einander gleichgestellt.151 Mit dem Untertanengesetz geriet der innere, d. h. staatsrechtliche Begriff der »Untertanschaft« zum maßgeblichen rechtlichen und politischen Bezugspunkt der preußischen Staatszugehörigkeit. Nicht mehr die zwischenstaatliche Vertragsdefinition, sondern die Systematik eines inneren Gesetzes wurde zum Ausgangspunkt der Bestimmung, wer »Preuße« war. Die Unterscheidung der beiden Rechtssphären wurde bereits terminologisch deutlich. Der rechtstechnisch-neutrale Begriff der Staatsangehörigkeit, wie ihn die Staatsvertragspraxis ausgebildet hatte, blieb nunmehr strikt auf diesen Bereich beschränkt. Ein »Staatsangehöriger« war fortan ein Individuum, das der betreffende Heimatstaat aufgrund vertraglicher Verpflichtung von einem anderen Staat übernehmen mußte. Der »Untertan« bestimmte sich ausschließlich nach innerem Staatsrecht.152 Die Bestimmung des Untertanen gewann nicht nur terminologische Eigenständigkeit, sondern schließlich den Primat über den völkerrechtlichen Begriff der Staatsangehörigkeit. Der erste Staatsvertrag, den Preußen nach dem Erlaß des Untertanengesetzes über die Übernahme von Ausgewiesenen abschloß, eine Übereinkunft mit Württemberg aus dem Jahre 1845, knüpfte erstmals an den Begriff der »Untertanschaft« an und beurteilte diese primär »nach der inneren Gesetzgebung des betreffenden Staates«.153 Eine Konvention mit Sachsen aus dem Jahre 1850 zog schließlich die vertragsrechtliche Konsequenz aus der ›Doppelspurigkeit‹ des preußischen Systems. Preußen wie Sachsen verpflichteten sich, ehemalige Angehörige, die nach der jeweiligen inländischen Gesetzgebung ihre Untertanschaft verloren hatten, so lange aus dem anderen Staat zu übernehmen, wie sie diesem nach dessen eigener Gesetzgebung nicht angehör149 Zur politischen Diskussion des Preußischen Landtags s. Bleich, Sitzungen der Kurie der drei Stände und der Herrenkurie vom 14. bis 25. Juni 1847, S. 1702-2146, 2430-2440; Brammer, S. 338f. 150 Jersch-Wetizeì, Rechtslage und Emanzipation, S. 55. 151 Ministerium des Innern, Circular-Verfügung an die Regierungen, 13.12.1848, PrMBliV 1848, S. 373. 152 Ministerium des Innern, Verfügung an die Regierung zu N., 14. Juni 1844 (Zusatz über Heimatscheine), PrMBliV 1844, S. 202. 153 Übereinkunft zwischen Preußen und Württemberg wegen Übernahme von Ausgewiesenen vom 5. Dezember 1845, in: Preußische Gesetzessammlung 1845, S. 779, § 2a.

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ten. Ebenso wie Preußen innerstaatlich den Staatsangehörigkeitserwerb aufgrund bloßen Domizils abgeschafft hatte, um sich fremder Heimatloser entledigen zu können, mußte es jetzt heimatlose ehemalige Preußen aus dem Ausland zurücknehmen. Das innerstaatliche Monopol des Aufnahmegrundsatzes schlug auf das zwischenstaatliche Recht durch.154 Der preußische Staat schärfte den Begriff des Untertanen im ausgehenden Vormärz. Die Gesetzgebung stellte sich zwar in den Zusammenhang der Rechtsvorschriften des Deutschen Bundes und griff dabei zurück auf allgemeine, auch in anderen Bundesstaaten beachtete Prinzipien. Insgesamt jedoch ging zunächst die Vereinheitlichung der preußischen Untertanschaft nach innen einher mit ihrer schärferen Abgrenzung nach außen. Wer »Preuße« war, stand eindeutiger denn je fest. Inwieweit war ein Preuße aber auch »Deutscher«? Hinter der Konkurrenz zweier staatsrechtlicher Begriffe stand eine politische Kernfrage der deutschen Revolution von 1848.

154 Die Vertragsregelungen zogen daraus die Konsequenz, indem sie nurmehr eine Rücknahmepflicht ehemaliger Staatsangehöriger statuierten,die im Aufenthaltsstaat nicht eingebürgert worden waren, s. Ministerial-Erklärung betreffend den Abschluß einer neuen Übereinkunft zwischen Preußen und dem Königreich Sachsen wegen Übernahme von Ausgewiesenen, 31.12.1850, in: Preußische Gesetzessammlung 1851, S. 5, § 1, die die Regelung der Gothaer Konvention vom 15. Juli 1851, in: Preußische Gesetzessammlung 1851, S. 711, § 1b., vorbereitete, s. dazu unten. Damit endete das Regime der ›impliziten‹ Einbürgerung durch Staatsverträge (s. Fahrmeir, Citizens, S. 35f.), und der Primat des staatlichen Gesetzesrechts setzte sich durch.

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III. Die deutsche Staatsangehörigkeit in der Revolution von 1848

Die Frage staatlicher Zugehörigkeit wurde zum Grenz- und Konfliktfall im revolutionären Europa des Jahres 1848.' Die Revolution stand am Beginn einer Unterscheidung der Staatsangehörigkeiten nach nationalen Kriterien: der Nationalisierung der Staatsangehörigkeit. Waren und blieben beispielsweise die Elsässer ›Franzosen‹, d. h. Angehörige des französischen Staates, oder wurden sie als ›Deutsche‹, als Angehörige eines neu zu gründenden deutschen Nationalstaates, reklamiert? Der Kampf der Polen, die in den Staaten der Teilungsmächte Rußland, Preußen und Österreich lebten, um die Neugründung eines polnischen Nationalstaates lief auf tiefe Einschnitte in das Territorium und die Bevölkerung der drei Staaten hinaus. Wer ›Pole‹ war oder sich als solcher bekannte, wurde zum Revolutionär gegen die territoriale Ordnung Mitteleuropas und berührte damit zugleich die politischen Interessen Frankreichs und Englands. Zählten schließlich die Bewohner Lombardo-Venetiens zum Habsburgerstaat Österreich, oder waren sie künftige ›ltaliener‹ entsprechend ihrem Streben nach Sezession und Aufnahme in einen neu zu gründenden italienischen Nationalstaat?2 Die Bedeutung der staatlichen Zuordnung spitzte sich zu im besonders dichten nationalen Mischungsraum Mitteleuropa, der vom Deutschen Bund und dem Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie beherrscht wurde. In diesem Raum, der politisch und kulturell unter deutscher Hegemonie stand, zugleich aber eine Vielzahl zentrifugaler, nach Unabhängigkeit strebender Nationalbewegungen umfaßte, drängte eine starke Nationalbewegung auf die Gründung eines Bundesstaates »Deutschland« in der Mitte Europas. Wer aber war ›Deutscher‹? Vor 1848 wäre diese Frage nach sprachlichen und kulturellen Kriterien entschieden worden.3 Die von Herder ausgehende Bestimmung der deutschen Nation durch die gemeinsame Sprache hatte sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern analog auch in den kleineren mitteleuropäischen Nationalitäten des Habsburgerreichs durchgesetzt. Die Definition der Nation nach Kriterien der Sprache, 1 Vgl. Schulze, Staat und Nation, S. 216-225.; Mommsen, 1848, S. 219-237. 2 Wollstein, S. 7f. 3 Schulze, Weg zum Nationalstaat, S. 62-70; ders., Staat und Nation, S. 145-148, 170f.

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Kultur und Geschichte war zum Leitbild des vorstaatlichen, nicht an einem bestehenden Staat gebildeten bzw. sich von diesem abspaltenden Begriffs der Nation geworden.4 Die frühe deutsche Nationalbewegung in ihrer Gegnerschaft zum napoleonischen Frankreich hatte die Vorstellung einer deutschen, nicht staatlich organisierten Nation gerade aus einer gemeinsamen Kultur und ihrer Entgegensetzung zu Frankreich entwickelt und in dem neuen, romantischen Gedanken eines mit besonderem geschichtlichen Auftrag handelnden deutschen »Volkes« überhöht.5 Für die große Mehrheit der Wortführer der deutschen Nationalbewegung erschien es selbstverständlich, daß die Einheit der deutschen Nation in ihrer kulturellen und ethnischen Gemeinsamkeit bestand, daß »Österreich deutsch war und daß Deutschland Österreich einschloß, von der Etsch bis an den Belt reichte«.6 Zugleich blieb der Konflikt dieser Idee der Nation mit ihrer staatlich-territorialen Organisation und Begrenzung als Nationalstaat, sein Hineinragen in gemischt-nationale Gebiete und der mögliche Ausschluß kulturell deutsch geprägter Gebiete, unausgetragen. Die deutsche Nationalbewegung war auf diesen Konflikt ungenügend vorbereitet, als er 1848 mit der Gründung eines Staates auf der Grundlage der deutschen Nation aufbrach: Ging die Nation in der Bevölkerung des zu gründenden Nationalstaats vollständig auf, oder mußten aus politischen und territorialen Rücksichten einerseits Teile der Nation außerhalb des Staates bleiben, andererseits nicht der deutschen Nation Angehörige Mitglieder des neuen Staates werden? Die staatliche Bedeutung des ›Deutschen‹ mußte neu definiert werden. Das Recht des Deutschen Bundes gab dafür kein Vorbild ab. Über die Staatsangehörigkeiten der Bundesstaaten hinaus vermittelte die Bundesakte nur fragmentarische Ansätze einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit, die überdies primär auf eine innere Vereinheitlichung des Personen- und Wirtschaftsverkehrs, noch nicht auf die Repräsentation einer Einheit des Bundesstaats nach außen abzielten. Art. 18 der Bundesakte enthielt die Grundlage eines gemeinsamen Indigenats.7Jedoch gab es weder eine gemeinsame Wehrpflicht noch einen gemeinsamen Paß. Die Staatsangehörigkeitspolitik lag ausschließlich bei den Einzelstaaten. Die stark divergierende Praxis der Einzelstaaten und Unklarheiten in der Staatsvertragspraxis, die dazu führten, daß Personen Undefiniert als ›Deutsche‹ betrachtet wurden, jedoch keiner einzelnen Staatsangehörigkeit mehr zugeordnet werden konnten, hatten bereits vor der Revolution die Ministerialbürokratien der Bundesstaaten zu Entwürfen einer bundesstaatlichen Vertragslösung veranlaßt.8 4 Vgl. Mommsen, 1848, S. 221; Schieder, Typologie und Erscheinungsformen, S. 69f. 5 Schulze, Weg zum Nationalstaat, S. 63. 6 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 310; zur Bedeutung der Sprache im deutschen Frühnationalismus s. Echtemkamp, S. 98-109, 292-306. 7 S.o. Kap. I.1. 8 Vgl. Fahrmeir, Citizens, S. 32f.

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Das Fehlen einer ›deutschen‹ Staatsangehörigkeit kennzeichnete Deutschland auch im europäischen Vergleich als instabilen Raum mangelnder nationalstaatlicher Verdichtung. Selbst das multinationale, nicht konstitutionelle, im Verlauf der Josephinischen Reformzeit jedoch stärker zentralisierte Österreich hatte, wie gezeigt, über die Einheit seines Privatrechts eine österreichische Staatsbürgerschaft hergestellt. Stärker noch fiel der Unterschied zu den westlichen Verfassungsstaaten ins Auge. Der französische Staat hatte sich durch die revolutionären Verfassungen, die vom »citoyen frangais« ausgingen, zugleich als Nationalstaat konstituiert. Mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika in der Verfassung von 1787 war gleichfalls die Basis eines nordamerikanischen Nationalstaats geschaffen. In Belgien fiel mit der Verfassunggebung von 1831 die Gründungeines Nationalstaats zusammen. Eben darin lag die mehrfache Herausforderung, die sich den auf revolutionäre Veränderung drängenden politischen Kräften stellte: Sie wollten mit einer Verfassung einen deutschen Staat schaffen, der zugleich der Staat der deutschen Nation war. An der Ausgestaltung der ›deutschen‹ Staatsangehörigkeit als konstitutioneller Institution mußten sich Art und Reichweite und damit der Erfolg dieses Gründungsakts erweisen. Die Aufgabe, die sich der am 18. Mai 1848 in Frankfurt am Main zusammentretenden konstituierenden Nationalversammlung stellte, war strukturell verschieden von der Schaffung der Staatsangehörigkeit in den deutschen Bundesstaaten. Stand hier der Gesichtspunkt der Integration räumlich, politisch und sozial heterogener Gebietsteile zumeist kleinerer staatlicher Einheiten im Vordergrund, stellte sich diese Anforderung der Paulskirchenversammlung in zugespitzter Form, und zwar sowohl was den Umfang des zu schaffenden Staatsgebiets als auch die Hcterogenität seiner Teile anging. Einer der basisrevolutionären Prozesse des Vormärz, das sprunghaft beschleunigte Bevölkerungswachstum, wies enorme regionale Unterschiede auf Wuchs z. B. in manchen preußischen Ostprovinzen zwischen 1815 und 1848 die Bevölkerung um bis zu 120 %, stieg sie in weiten Gebieten Bayerns und Württembergs nur zwischen zwanzig und dreißig Prozent.9 Die strukturellen Verschiedenheiten zwischen den deutschen Agrarregionen blieben bestehen und wurden zum Teil noch durch die Unterschiede in Art und Erfolg der Agrarreformen verfestigt. Während in Preußen die Bauernbefreiung zu lebensfähigen Besitzklassen von Mittel- und Großbauern geführt hatte, war die Ablösung der Grundherrschaft in Süd- und Mitteldeutschland unvollendet steckengeblieben. In Österreich stand die Bauernbefreiung noch aus.10 Das darin sich abzeichnende Nord-SüdGefälle wurde noch verschärft durch die konfessionellen Unterschiede, die nicht nur eine tiefe soziale und kulturelle, sondern auch politische Prägekraft 9 Vgl. Wehler, Gcsellschaftsgeschichte, Bd. II, S. 549. 10 Ebd., S. 550f; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 601.

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entwickelten.11 So beeinflußten konfessionelle Ausrichtungen eine politische Grundentscheidung der Paulskirchcnversammlung: die großdeutsche Lösung unter Einbeziehung der katholischen Führungsmacht Österreich bzw. die kleindeutsche Ausgestaltung des deutschen Nationalstaats unter Führung des protestantischen Preußen. Wie Thomas Nipperdey gezeigt hat, waren die »konfessionellen Gegensätze und Leidenschaften [...] eine erstrangige Realität«, die in ihrer Tiefe und Reichweite in den Debatten der Parlamente nicht adäquat repräsentiert waren.12 Zu diesen Unterschieden zwischen den Staaten trat die regional sehr verschieden ausgeprägte soziale Ungleichheit im Zuge tiefgehender demographischer und wirtschaftsstruktureller Umwälzungen, die nach der Jahrhundertmitte in die Industrielle Revolution einmündeten. Die Pauperismuskrise, deren Auswirkungen in Hungersnöten und Agrarrevolten des Jahres 1847 zu den unmittelbaren Ursachen der Revolution zählten, war ein Symptom dieser Entwicklung. Insbesondere in den Staaten Preußen und Sachsen waren die industriellen Führungsregionen konzentriert,13 die Schrittmacher dieser Entwicklung darstellten und die wirtschaftliche Unterlegenheit der stärker agrarisch geprägten Regionen und Staaten desto schärfer hervortreten ließen. Gewiß lassen sich auch vereinheitlichende, die Heterogenität der deutschen Staatenwelt abschleifende und überbrückende Entwicklungen nachweisen: Dazu zählt der Ausbau eines die Staaten übergreifenden Handels-, Informations- und Verkehrssystems. Auch die Herausbildung einer auf mannigfache Publikationsorgane gestützten, von einem rasch expandierenden Vereinswesen getragenen literarischen und politischen Öffentlichkeit gehört dazu.14 Insbesondere aber ein auf die Gemeinsamkeit von Bildung und Besitz gestütztes Bürgertum schien der Schrittmacher einer jenseits tradierter ständischer und politischer Barrieren bestehenden , die Staatsgrenzen überschreitenden »bürgerlichen Gesellschaft« zu sein. In den Integrationsfaktoren dieser gesellschaftlichen Gruppierung, die zum maßgeblichen Träger der Revolution von 1848 wurde, in ihrem neuhumanistischen Bildungsideal, ihrem Liberalismus und Nationalismus, zeigen sich Züge einer »gemeinbürgerlichen« Homogenisierung. Doch läßt dieser Befund keinen direkten Rückschluß auf die reale Tragweite heterogener Faktoren in der vorrevolutionären deutschen Staatenwelt und ihre Resistenz gegenüber den Einigungsbestrebungen des Parlaments zu. Im Gegenteil: Die Dominanz, ja beinahe die Monopolstellung des Bildungsbürger11 Sie wirkte sich z. B. in einem höheren Alphabetisierungsgrad der protestantischen im Vergleich zu den Elementarschulen der katholischen Staaten aus, s. Wehler, Gescllschaftsgeschichte, Bd. II, S. 577. 12 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 618. 13 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. II, S. 632-636. 14 Vgl. Schulze, Weg zum Nationalstaat, S. 70-75.

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tums in der Paulskirchenversammlung, die ein Akademiker-, Beamten- und Juristenparlament15 war, verführt allzu leicht zur Übernahme von Homogenitätsvorstellungen, die diese parlamentarische Elite von sich selbst und dem zu schaffenden einheitlichen Nationalstaat besaß. Die parlamentarische Unterrepräsentation konfessioneller Gegensätze ist nur ein Beispiel dafür. Die Vorstellung, wer ›Deutscher‹ war, die vielleicht normiert werden konnte, sich aber noch nicht annähernd realisiert hatte, mußte die Nationalversammlung angesichts der Heterogenität des staatlich zu ordnenden Raumes16 erst noch entwikkeln. Anders auch als in den Verfassungen der Bundesstaaten stellte sich das Problem der Konstituierung der Staatsangehörigkeit neu. Der Ausdruck ›Deutscher‹ war, im Unterschied zu ›Bayer‹, ›Preuße‹ oder ›Badener‹, die sich von den alten Territorien ableiteten, kein eingeführter Verfassungsbegriff. Seine begriffliche Bestimmung war um so bedeutungsvoller, als daran, den liberalen revolutionären Zielsetzungen entsprechend, Freiheitsgarantien und Grundrechte in neuem, die Landesverfassungen überragenden Umfang geknüpft werden sollten. Damit gewann zugleich die Qualität des Deutschen nach außen einen erhöhten politischen Wert, der Nicht-Deutsche in höherem Maße und in größerem territorialen Umfang diskrimierte als die Verfassungen der Bundesstaaten. Die Konstitutionalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit entfaltete somit eine scharfe nationale Abgrenzungswirkung, die zugleich zum dritten Problemkreis führt: Die Abgrenzung der Nation als Staat erzeugte einen doppelten Definitionsdruck: Sie ging einher mit einer Abgrenzung des deutschen Nationalstaats nach außen sowie der Unterscheidung von ›Nationalitäten‹ nach innen. Denn die Definition der eigenen, den Staat konstituierenden Nation bedingte die Abgrenzung zu fremden Nationen und deren Angehöriger, und zwar außerhalb wie innerhalb der Grenzen des eigenen Staates. In den beiden Führungsstaaten des Deutschen Bundes hatte bereits vor 1848 der Prozeß der Segmentierung nach Nationalitäten innerhalb des gemeinsamen Untertanen- bzw. Staatsbürgerstatus eingesetzt. In denjenigen Provinzen Preußens, die außerhalb des Deutschen Bundes lagen, in Ost- und Westpreußen, insbesondere aber im Großherzogtum Posen mit seiner mehrheitlich polnischsprachigen Bevölkerung,17 hatte die preußische Bürokratie während der Amtszeit des Posener Oberpräsidenten Flottwell (1830-1841) eine forcierte Politik der ›Germanisierung‹ betrieben. In der Schul-, Sprachen- und Bodenpolitik wurden Angehörige der polnischen Sprache und Kultur entweder dem Druck der Assimilation an die hegemoniale deutsche Kultur oder der Diskriminierung-so z. B. im Grunderwerb - ausgesetzt. Die staatliche Bürokratie nutz15 Nipperdev, Deutsche Geschichte 1800-1860, S. 610. 16 Vgl. zu dieser Problematik mit Schwerpunkt in der Zeit der Reichseinigung nach 1866 Kocka, Probleme der politischen Integration, S. 118-136. 17 S. Hagen, S. 87f; Broszat, deutsche Polcnpolitik, S. 101 f.

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te damit ein kulturelles Kriterium, ›deutsch‹ zu sein und zu sprechen, als Unterscheidungs- und Herrschaftsinstrument, das die politisch definierte Zugehörigkeit zum preußischen Staat überging und ihre Einheitlichkeit auflöste. Dieser Vorgang war um so bemerkenswerter, als er die vorherrschende Strömung des Partikularismus in den staatlichen Führungen des deutschen Vormärz konterkarierte. In den meisten deutschen Bundesstaaten wurden Begriff und Bedeutung der »Nation« vielfach auf die Territorialstaaten bezogen und auf deren territoriale Identität reduziert, während die daneben bestehende Vorstellung, »Deutscher« zu sein, verdrängt oder unter den Verdacht der Illoyalität gestellt wurde.18 Dagegen setzte in Preußen und Österreich, Staaten mit starken nichtdeutschen Gruppen, eine gegenläufige Entwicklung ein. Im Gegeneinander von staatlichem Assimilationsdruck und zunehmender Nationalisierung der nichtdeutschen Minderheit griff der Territorialstaat zu einem übergeordneten, über sein Territorium hinausweisenden nationalen Bezugs- und Rechtfertigungsgrund seiner Politik.19 Das Eindringen nationaler Kriterien in die Frage der staatlichen Zugehörigkeit wurde besonders augenfällig im Falle der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Während Holstein völkerrechtlich dem übernationalen Deutschen Bund angehörte, waren die Holsteincr staatsrechtlich Untertanen des dänischen Königs, der die in Personalunion mit Dänemark verbundenen Herzogtümer regierte. Eine dänische Staatsangehörigkeit der Schleswiger und Holsteiner im modernen Sinn, vergleichbar der Staatsangehörigkeit in einem der deutschen Bundesstaaten, bedeutete dies jedoch nicht. Die staatsrechtliche Verbindung der Herzogtümer wurzelte in einer althergebrachten, auf die Person des Herrschers bezogenen dynastischen Verbindung, nicht in der Zugehörigkeit zum Territorium Dänemarks, seiner Verwaltung und ständischen Repräsentation. Der komplexe feudalrechtliche Status der beiden Herzogtümer ebenso wie die Gegebenheit eines gemischtsprachigen Landes20 fügten sich nicht in die Kategorien eindeutiger Zugehörigkeit, welche die modernen Nationalbewegungen, die dänische wie die deutsche, verfochten, und gerieten in der Folge unter deren Druck. Einer Forderung der dänischen Nationalbewegung entsprechend proklamierte der dänische König im März 1848 die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staat. Die deutsche liberale und nationale Bewegung in Schleswig wie in Holstein beantwortete diesen Akt mit offener 18 Wehler, Gcscllschaftsgcschichtc, Bd. II, S. 396f. 19 Der Posener Oberpräsident Flottwell bezeichnete es 1841 als Ziel seiner Politik der Germanisierung, die »Elemente des deutschen Lebens in seinen materiellen und geistigen Beziehungen« immer mehr in Posen zu verbreiten, »damit endlich die gänzliche Vereinigung beider Nationalitäten als der Schluß dieser Aufgabe durch das entschiedene Hervortreten deutscher Kultur erlangt werden möge«, zitiert nach Broszat, deutsche Polenpolitik, S. 103. 20 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 661-673; Wollstein, S. 23f; eingehend unter dem Blickwinkel der Grenzziehung: Hansen, Deutschlands Nordgrenze, S. 115f.

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Auflehnung gegen die dänische Krone. Der Streit darum, ob die Herzogtümer zu Dänemark bzw. zu dem neu zu gründenden deutschen Nationalstaat gehören sollten, wurde zu einem zentralen nationalpolitischen Krisenherd der Paulskirchenversammlung. Die aufeinander bezogenen, sich bekämpfenden und gegenseitig verstärkenden nationalen Bewegungen der Dänisierung bzw. Germanisierung der Herzogtümer vor 1848 hatten für die deutsche Nationalversammlung eine Ausgangslage geschaffen, in der die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staatsverband den casus belli bedeutete.21 Die Einbeziehung der österreichischen Monarchie in einen deutschen Nationalstaat spitzte die Konflikte zu, die aus der Nationalisierung der Staatsangehörigkeit erwuchsen. In allen Teilgebieten des Vielvölkerstaates lebten neben der deutschen etliche andersnationale Gruppen. Allein in den westlichen Kerngebieten der österreichischen Kronlande (Ober-und Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg, Tirol, Kärnten, Steiermark) sowie in den nördlichen Randgebieten Böhmens und Mährens stellten die Deutschen die Mehrheit, aufs Ganze des Reiches gesehen jedoch nur ein Drittel der Bevölkerung. Jedes österreichische Territorium brachte eine mehr oder weniger geschlossene kulturell nichtdeutsche Gruppierung in den deutschen Nationalstaat ein. Die einfache Kennzeichnung seiner Staatsangehörigen als »Deutsche« mußte mit dem nationalen und kulturellen Selbstverständnis der nichtdeutschen Gebietsangehörigen konfligieren. Dies galt um so mehr, als im Vormärz eine Welle der Nationalisierung die ethnischen und kulturellen Unterschiede der Bevölkerungsgruppen erkennbar gemacht und verschärft hatte.22 So entwickelten die slawischen Nationalitäten, vor allem die Tschechen und Polen, beeinflußt auch durch panslawistische Ideen, Pläne zur Durchsetzung nationaler Gleichberechtigung und Autonomie bis hin zur Trennung und Abspaltung von den deutsch dominierten Gebieten der Habsburgermonarchie. Kennzeichnendes Beispiel dafür war der Brief des Führers der tschechischen Nationalbewegung Frantisek Palacky an die Frankfurter Nationalversammlung, in dem er die Teilnahme tschechischer Delegierter mit dem Argument ablehnte, in einem deutschen Nationalstaat sei für einen »Böhmen slawischen Stammes« kein Platz.23 Die Gründung eines deutschen Nationalstaats erhob die Schaffung einer deutschen Staatsangehörigkeit zur politischen Notwendigkeit. Ihre rechtliche Ausgestaltung war zugleich ein konstitutionelles wie auch ein nationales und soziales Problem.24 21 Zugleich ist der Streit um die nationale Zugehörigkeit der Eibherzogtümer ein Beispiel dafür, wie sich nationale Ansprüche hergebrachter Formen feudalen Ursprungs zur Maximierung ihrer Gebietsansprüche bedienten (vgl. Mommsen, 1848, S. 212, 222). 22 Kann, S. 267f. 23 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 643. 24 Diese grundsätzlich auf die Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts bezogene Kategorisicrung Ernst-Wolfgang Böckenfördes (Böckenförde, Verfassungsprobleme, S. 248) läßt sich an der Rechtsinstitution Staatsangehörigkeit beispielhaft zeigen; zum sozialen Problem einer Konstitu-

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1. »Deutscher« und »Deutschland«: Grundbestimmungen Die Erarbeitung einer Verfassung war Anlaß und Ziel der Versammlung, die am 18. Mai 1848 erstmals in der Paulskirche zu Frankfurt zusammentrat. Sie repräsentierte das vornehmste Ziel der deutschen Revolution: die Herstellung der nationalstaatlichen Einheit Deutschlands. Dieses Ziel einte alle politischen Gruppierungen und Parteien, die auf revolutionäre Veränderung drängten, also bürgerlich Gemäßigte und Radikale, Linke und Rechte, die später über die Größe und Zusammensetzung dieses Nationalstaats, seine Staatsform und Verfassungsgrundsätze in unüberbrückbare Gegensätze gerieten. Bereits die Festlegung des Wahlgebiets zur Nationalversammlung enthielt eine Vorentscheidung über die Größe und nationale Zusammensetzung des künftigen Staatsgebiets. Diese Entscheidung traf ein Vorparlament, das von einem Ausschuß der revolutionären, die führenden liberalen und demokratischen Köpfe Südwestdeutschlands vereinigenden Heidelberger Versammlung zusammengerufen worden war. Das Wahlgebiet ging über die Grenzen des Deutschen Bundes hinaus.25 Es bezog die eindeutig »deutschen« Gebiete Preußens, Ost- und Westpreußen, ein und ließ die Teilnahme der überwiegend polnischen Provinz Posen offen. Die mehr als fünfhundert Abgeordnete umfassende revolutionäre Versammlung betrachtete es Anfang April 1848 als »die heilige Pflicht des deutschen Volkes«, an der Wiederherstellung Polens mitzuwirken. Bei den Eibherzogtümern machte sich das Vorparlament den Ende März erklärten Widerstand der deutschen Bewegung Schleswig-Holsteins gegen die Trennung der beiden Gebiete zu eigen. Die nationalpolitische Forderung nach unaufhebbarer Einheit der Herzogtümer schlug sich im Beschluß des Vorparlaments nieder, das außerhalb des Bundesgebiets liegende Schleswig in die Wahl zur Nationalversammlung einzubezichen. Von Beginn an verzichtete das Parlament darauf, österreichische Gebiete außerhalb des Bundesgebiets zu berücksichtigen, bezog andererseits aber alle bundeszugehörigen Gebiete ein, und zwar einschließlich der Länder Böhmen und Mähren, in denen seit März 1848 die tschechische Nationalbewegung auf eigenständige, von der ›deutschen‹ Nationalversammlung unabhängige Vertretungsorgane drängte. Das Ergebnis der Wahlgebietsfestlegung war ein ›expansiver Kompromiß‹: Nicht alle Gebiete, die staatsrechtlich zu den Staaten des Deutschen Bundes gehörten, waren zugleich Wahlgebiet, hingegen alle Territorien dieser Staaten, soweit sie zum Deutschen Bund gehörten, und zwar ungeachtet der nationalen - nach Sprache und Kultur bestimmten - Mehrheitsverhältnisse. Insofern als tionalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit s. unten das Verhältnis zum Gemcindcbürgcrrecht (Kap. III. 2.). 25 Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 601.

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das Wahlgebiet über den Deutschen Bund hinausgriff, erfaßte es Territorien, die nach nationalen Kriterien mehrheitlich deutsch26 waren. Es bezog jedoch ein Territorium nicht ein, das mehrheitlich polnisch war, das Großherzogtum Posen. Insgesamt zeichnete sich hier die Ambivalenz der Definition deutscher Staatsangehörigkeit ab, die fortan die Debatten der Paulskirchenversammlung bestimmte. Leitgesichtspunkt war das Territorialprinzip, jenseits der Bundesgrenzen dominierte hingegen das Nationalitätsprinzip, das seinerseits territoriale Grenzziehungen zur Folge hatte. Hieran erwies sich das - wohl unlösbare Dilemma der deutschen Nationalbewegung, die in ihrer großen Mehrheit und bis tief in die Linke27 hinein einen kulturell und ethnisch definierten Begriff der Nation vertrat, dessen Sprengkraft aber entschärfen mußte, weil Ausgangspunkt der Nationalstaatsbildung das Gebiet des Deutschen Bundes war. Erst jenseits seiner staatlichen Grenzen konnte sich der Hegemonialanspruch dieses Nationsbegriffs auch territorial expansiv auswirken. Die Ambivalenz von Territorial- und Nationalitätsprinzip zeigte sich am Beispiel der preußischen Ostprovinzen. Noch vor der Wahl zur Nationalversammlungwurden auf Beschluß der Bundesversammlung Ost-und Westpreußen dem Deutschen Bund und damit dem Wahlgebiet einverleibt. In besonders augenfälliger Weise war es in der Provinz Posen, in der seit Ende März 1848 die polnische Unabhängigkeitsbewegung im Kampf mit preußischen Truppen gelegen hatte, zu einer territorialen Aufteilung entlang den Linien der Nationalität gekommen. Die preußische Regierung teilte im April 1848 Posen in einen größeren westlichen, überwiegend deutschen, und einen östlichen, überwiegend polnischen Teil , »Herzogtum Gnesen« genannt. Der westliche Teil, »Deutsch-Posen«, wurde in den Deutschen Bund aufgenommen und entsandte zwölf Abgeordnete, elf Deutsche und einen Polen, in die Nationalversammlung. Die Aufnahme gemischtnationaler Gebiete, insbesondere Böhmen-Mährens und Posens, in das Wahlgebiet des deutschen Nationalstaats machte die Umschreibung des Wahlvolks, die zugleich eine Vorentscheidung über die Träger einer künftigen deutschen Staatsangehörigkeit enthielt, zu einem nationalen Politikum ersten Ranges. Die staatsrechtliche Begriffsbildung verdeckte jedoch zunächst diesen Sachverhalt. Der Begriff »Deutsche«, den die grundrechtsprogrammatischen Entwürfe der südwestdeutschen Liberalen und Demokraten noch im Herbst 1847 verwendet hatten , fand in den Beschlüssen des Vorparlaments von März/April 1848 keine Erwähnung. Weniger die Abgrenzung der deutschen Nation nach außen als vielmehr die Vorbereitung einer den deutschen Staat nach innen integrierenden Verfassung in Form eines »allgemei26 Dies galt nicht für die nördlichen Teile des Herzogtums Schleswig (Haderslebcn, Apenrade), die mehrheitlich deutschsprachig waren. 27 Eingehend gezeigt bei Jansen, Einheit, S. 24()f., 425, 613, 616.

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nen deutschen Staatsbürgerrechts« stand dabei im Vordergrund.28 Auch der Entwurf der Reichsverfassung, den die siebzehn von der Bundesversammlung eingesetzten Männer des öffentlichen Vertrauens am 26. April 1848 vorlegten und der erstmals Grundrechtsgewährleistungen einer künftigen Verfassung in eine systematische Form brachte, verwendete das Wort »deutsch« nur als Attribut (»deutsches Volk«, »deutscher Staat«), nicht als Gattungsbegriff. Die nationale, primär kulturell definierte Herkunftsbezeichnung »Deutscher« wurde also nicht zusammengeführt mit der staatlichen Zugehörigkeit, die in die anationale, technisch-formale Formulierung »alle Angehörigen des Deutschen Reiches« gekleidet wurde.29 Nachdem die Nationalversammlung den Entwurf des Siebzehner-Ausschusses abgelehnt hatte, setzte sie einen dreißigköpfigen ständigen Verfassungsausschuß ein, der die entscheidenden Vorarbeiten zu der neuen Bundesverfassung leistete. Die Entwürfe und Beschlüsse des Ausschusses führten nunmehr den Begriff des »Deutschen« als Träger der Grundrechte und Inbegriff des in allen deutschen Staaten gleichberechtigten Inhabers des »allgemeinen deutschen Staatsbürgerrechts« ein. Der abschließende Bericht des Ausschusses, der im Bereich der Grundrechte wesentliche Formulierungen der späteren Verfassung vorwegnahm, prägte den Grundsatz: »Jeder Deutsche hat das allgemeine deutsche Staatsbürgerrecht«.30 Im Vordergrund stand bei diesen Formulierungen die nationale Beschränkung der Grundrechtsträgerschaft, der Wunsch, sie den Angehörigen des deutschen Volks vorzubehalten und gerade nicht als universelle Menschenrechte einzuräumen. Daraufist noch zurückzukommen. Blickt man indessen über diese Abgrenzungsintention der Verfassungsausschüsse hinaus, blieb die substantielle Frage offen, wer denn »Deutscher« war. Die Klärung dieser politischen Frage blieb den Plenardebatten der Nationalversammlung im Frühsommer 1848 vorbehalten. Mit dem raschen Verlauf der Revolution und der Aussicht auf das erste nationale Verfassungswerk hielt der politische Begriff »deutsch/Deutscher« Einzug in die Verfassungssprache und fand darin eine zusätzliche symbolische Aufwertung. Heinrich Simon, ein führendes Mitglied des Verfassungsausschusses und Abgeordneter des linken Zentrums31, faßte dies in den Ausruf, ein 45-Millionen-Volk werde sich »vor der Welt« seines Namens nicht schämen.32 Dementsprechend entschied die Natio28 Offenburgcr Programm der südwestdeutschen Demokraten vom 10. September 1847; Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen vom 10. Oktober 1847; Die Beschlüsse des Vorparlaments vom 31. März und 1. bis 4. April 1848, abgedruckt bei Scholler, S. 45, 49, 50. 29 Der Siebzehner-Entwurf der Reichsverfassung am 26. April 1848, § 25n., vgl. ebd, S. 52. 30 Vgl. Bericht des Verfassungsausschusses, § 1, ebd., S. 62; Wigard I, 30. Sitzung (3.7.1848), S. 682f. 31 Später der gemäßigten Linken, s. Scholler, S. 277. 32 Wigard I, 31. Sitzung (4.7.1848), S. 741.

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nalversammlung, den Begriff »Deutscher« und nicht ›Reichsbürger‹ oder eine ähnlich technisch-neutrale Formulierung in die Verfassung aufzunehmen. Wer aber war Deutscher? Jacob Venedey, ein Abgeordneter der demokratischen Linken33, hielt jede Spezifizierung des Begriffs für unvereinbar mit der »Würde der Nation«. Er berief sich dazu ausdrücklich auf das Vorbild der französischen und englischen Nation. Die Beschwörung der Würde der Nation löste indessen nicht das manifest gewordene politische Definitionsproblem. Dessen Schwierigkeit war den Abgeordneten wohl bewußt. Bezeichnenderweise riß ein österreichischer Abgeordneter aus Wien, Eduard Melly, das Problem an, indem er die Frage aufwarf, wie denn ethnisch Deutsche im Ausland nunmehr von deutschen Staatsbürgern zu unterscheiden seien.34 Georg Beseler, der als Vorsitzender und Berichterstatter den Entwurf des Verfassungsausschusses vor der Nationalversammlung vertrat, lieferte das zentrale Argument für die Formulierung des Ausschußentwurfs: Auf eine politische Definition des »Deutschen« sei verzichtet worden, um die »politische Einheit nicht in Frage zu stellen«. Der Privatrechtler und Rechtshistoriker Beseler, einer der führenden Juristen der Nationalversammlung und Mitglied des rechtsliberalen Zentrums, gab zugleich eine allgemeine Begründung, welche die Grundlinie der folgenden Debatte bestimmte: Er strebe mit dem Ausschußvorschlag eine neue Kongruenz zwischen Nationalität und Staat an.35 Die Bestimmung der Nation durch die Grenzen des Staates, durch seine Territorialität, lehnte Beseler bewußt an das Beispiel der westlichen konstitutionellen Nationalstaaten Belgien und Frankreich an. Der Bezug auf das westliche Vorbild des territorialen und politischen Prinzips der Staatsangehörigkeit beherrschte die Debatte, und das unabhängig von der politischen Lagerzugehörigkeit. Die Abgeordneten traten dafür ein, die deutsche Staatsangehörigkeit als ›neutralen‹, generischen Begriff zu erhalten, sie grundsätzlich auf das Gebiet des Deutschen Bundes zu beschränken und daher Posen36 sowie das transleithanische Österreich auszunehmen.37 Der Erwerb dieser Staatsangehörigkeit sollte folglich an die Geburt bzw. an den Aufenthalt im Land geknüpft werden, wobei Bezug auf ein Prinzip des französischen Code Civil genommen wurde.38 Der demokratische Abgeordnete Tellkampf gab diesem Gedanken besondere Prägnanz mit der Formulierung: Deutscher sei »jeder Mensch, der innerhalb des Bereichs des deutschen Bun33 Ebd., 31. Sitzung (4.7.1848), S. 739, Unterstützung vom Abgeordneten Friedrich Ernst Scheller, ebd., S. 740. 34 Ebd., S. 740. 35 Ebd., S. 738. 36 Gemeint war der ›polnische‹ Teil Posens, das Großherzogtum Gnesen. 37 Abg. Fritsch, ebd., S. 734. 38 Abg. Julius von Dieskau und Friedrich Ernst Scheller, ebd., S. 729 und 740f; Abg. Johann Peter Werner, ebd., S. 761 (mit Bezug auf den Code Civil); Abg. Karl Biedermann, Wigarâ II, 40. Sitzung (18.7.1848), S. 965.

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desstaats geboren und aufgewachsen ist«, und zwar einschließlich aller »Nichtdeutschredenden, dem Deutschen Reich Angehörigen«.39 Scharfsinnig und grundsätzlich äußerte sich dazu der demokratische Abgeordnete Wilhelm Jordan aus Berlin. Nation sei ein neuer, weiter Begriff, Nationalität »nicht mehr begrenzt durch Abstammung und Sprache«, vielmehr bestimmt »durch den politischen Organismus, durch den Staat«. Deutschland sei demnach ein politischer Begriff40 Ausdrücklich bezog sich Jordan auf Großbritannien, vor allem aber auf die USA, die er als Modell für die Überwindung jeglicher Partikular-Nationalitäten der verschiedenen Stämme Nordamerikas ansah. Jordans Anliegen, den »National-Stolz« auf den Staat zu gründen, zielte jenseits grundsätzlicher Überlegungen auf das zentrale nationalpolitische Problem. Er wollte Loyalität zum künftigen deutschen Nationalstaat auch bei den nicht deutsch sprechenden Minderheiten erzeugen, das »Mißtrauen« der Slawen z. B. beseitigen. Damit war das Grundproblem einer nationalstaatlichen Staatsangehörigkeit im multinationalen Staat gestellt: Je enger sich Begriff und Inhalt der Staatsangehörigkeit an eine dominante Nationalität banden, desto diskriminierender wirkte sie potentiell gegenüber Minderheitsnationalitäten innerhalb des Staatsverbands. Die Ausgestaltung des Nationalitätenrechts enthielt eine Vorentscheidung über das Prinzip der Staatsangehörigkeit. Die Behandlung der nichtdeutschen Nationalitäten war bereits von Beginn an zum nationalen Prüfstein der deutschen Nationalversammlung geworden. Bereits zur Wahl der Nationalversammlung hatte der revolutionäre Prager Nationalausschuß unter dem Einfluß Palackys erreicht, daß weniger als ein Drittel der böhmisch-mährischen Wahlkreise in Frankfurt vertreten war. Mit diesem weitgehenden Wahlboykott litt bereits die politische Repräsentation der tschechischen Kronlande Österreichs in der deutschen Nationalversammlung an einem starken Defizit. Unter dem Gesichtspunkt nationaler Repräsentation aber war sie äußerst zweifelhaft. Am 2. Juni 1848 begann ein panslawischer Kongreß in Prag. Sein Programm zielte auf die Verwandlung Österreichs in einen Bundesstaat, der vornehmlich als Föderation seiner slawischen Nationalitäten gedacht war, ein Vorhaben, das einem deutschen Nationalstaat entgegengesetzt war.41 Titus Mareck, ein demokratischer Abgeordneter Mährens in der Paulskirche, drängte deshalb die Nationalversammlung zu einer Stellungnahme, die den panslawischen Staatsbildungsplänen die entscheidende Rechtfertigung nehmen sollte: die befürchtete Unterdrückung der slawischen Na39 Abg. Johann Ludwig Tellkampf, Wigard I,31. Sitzung (4.7.1848), S. 740,755; Wigard II, 43. Sitzung (20.7.1848), S. 1064, mit dem Antrag: »Deutscher Staatsbürger ist jeder Mensch, der innerhalb des Bereichs des deutschen Bundesstaats geboren ist«. 40 Vgl. auch Abg. Andreas Michelsen, Wigard I, 31. Sitzung (4.7.1848), S. 741: Nationalität im »politischen«, nicht »natürlichen« Sinn. 41 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 563.

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tionalitäten. Mareck stellte den Antrag, »Deutschland« möge »durch seine Vertreter feierlich« erklären, daß »allen jenen Staatsbürgern eines mit Deutschland verbundenen Staates, welche nicht zum deutschen Volksstamme gehören, alle Rechte der deutschen Staatsbürger zukommen und daß ihnen die Aufrechterhaltung und Achtung ihrer Nationalität garantiert sei«.42 Ein Abgeordneter aus Brünn unterstützte den Antrag, indem er die großen Schwierigkeiten schilderte, in einer überwiegend von Slawen bewohnten Stadt die Delegation zu einer Nationalversammlung in Deutschland durchzusetzen. Dieses werde von Slawen als »Ungeheuer« dargestellt, das »alle Nationalitäten verschlingt«.43 Die Nationalversammlung gab daraufhin am 31. Mai 1848 unter dem Eindruck des Prager Kongresses die feierliche Erklärung ab, daß »sie in vollem Maaße das Recht anerkenne, welches die nichtdeutschen Volksstämme auf deutschem Bundesboden haben, den Weg ihrer volksthümlichen Entwickelung ungehindert zu gehen«, und es sich »von selbst verstehe, daß jedes der Rechte, welche die im Bau begriffene Gesammtverfassung dem deutschen Volk gewährleisten wird, ihnen gleichmäßig zusteht«. Zwar weniger präzise als der Antrag Marecks, was die gleichberechtigte staatsbürgerliche Stellung deutscher und nichtdeutschcr Nationalitäten in dem neuen Nationalstaat anlangte, war die Deklaration doch ein rhetorisch wirkungsvolles Dokument des Selbstbewußtseins und der Toleranz, indem die Versammlung erklärte: »Das fortan einige und freie Deutschland ist groß und mächtig genug, um den in seinem Schooßc erwachsenen andersredenden Stämmen eifersuchtslos in vollem Maaße gewähren zu können, was Natur und Geschichte ihnen zuspricht«.44 Diese Erklärung aus der Frühphase der Frankfurter Beratungen, in der die nationalen Erwartungen der Nationalversammlung sich noch ungeschmälert auf das »Großdeutschland«45 richteten, ließ nur ein territoriales,politischesPrinzip der Staatsangehörigkeit zu, wenn es seine erklärte Absicht, die Integration der Nationalitäten, nicht untergraben wollte. In eben dieser Absicht, die slawischen Volksstämme nicht »gehässig« zu stimmen, führte Georg Beseler für die territorial-staatliche Umschreibung des »Deutschen« an, die der Verfassungsausschuß unter seiner Führung vorgeschlagen hatte und die sich schließlich im Verfassungstext durchsetzte: »Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das Deutsche Reich bilden«.46 Den engen Zusammenhang dieser Formulierung mit dem Nationalitätenrecht stellte Beseler selbst her, indem er § 47 des Ausschußentwurfs zur Abstützung seiner Argumentation heranzog, der feststellte: 42 43 44 45 46

Abg. Titus Mareck, Wigard I, 8. Sitzung (27.5.1848), S. 118; 10. Sitzung (6.6.1848), S. 183. Abg. Leopold von Neuwall (Brünn), ebd., 8. Sitzung (27.5.1848), S. 119. Vgl. ebd., 10. Sitzung (31.5.1848), S. 183. Dazu umfassend Wollstein. § 131 Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849.

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»Den nicht deutschen Volksstämmen Deutschlands ist ihre Volksthümlichkeit gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, so weit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterricht, der Literatur, der Verwaltung und der Rechtspflege. Jedes bürgerliche und staatsbürgerliche Recht der Deutschen steht ihnen in gleichem Maße zu«.47 Wie sehr diese Gleichstellungsklausel und die vorangehende Resolution der Nationalversammlung der Rücksichtnahme auf österreichische Nationalitäteninteressen entsprangen, belegt ihre Entstehungsgeschichte. Sie geht zurück auf den Antrag eines österreichischen Abgeordneten im Siebzehnerausschuß der Bundesversammlung, Franz von Sommaruga, der die Gewährleistung der »Freiheit volkstümlicher Entwicklung insbesondere auch der nicht deutschen Volksstämme«48 der »böhmischen Charte« vom 8. April 1848 entlehnt hatte, in welcher der österreichische Kaiser die »vollkommene Gleichstellung« der böhmischen und deutschen Sprache in den böhmischen Kronlanden versprochen hatte.49 Von ihrer Entstehungsgeschichte und Zielrichtung her kann die Gleichstellungsklausel mithin als ›österrcichische‹ Klausel angesehen werden, die auf die Umschreibung der Staatsangehörigkeit zurückwirkte. Doch war der Fall Österreich nicht nur der Grund, vielmehr zugleich die Grenze der territorialen Definition deutscher Staatsangehörigkeit. Der Primat territorialer und politischer Definitionen in den frühen Debatten der Nationalversammlung verstellt allzu leicht den Blick für eine andere Konzeption des »Deutschen«, die im Verfassungstext nicht zum Tragen kam, aber in der politischen Debatte eine latente, überdies zunehmende Wirkung entfaltete.50 Letztlich zeigt sich hier, daß die Debatte um Territorialitäts- und Nationalitätsprinzip nur zwei Varianten darstellte, um das eine, in der Paulskirche mehrheitlich vertretene Prinzip der ethnisch-kulturellen deutschen Nation in seiner nationalstaatlichen Umsetzung staatsrechtlich handhabbar und möglichst wirksam zu machen. Das Territorialitätsprinzip der großdeutschen Nationalstaatspläne erhielt nämlich seine Zuspitzung aus dem entgegengesetzten Nationalitätsprinzip der nichtdeutschen Nationalitäten. Abgeordnete aus den ›slawischen‹ Gebieten Österreichs erinnerten die Parlamcntsmchrheit daran, daß nach dem Verständnis der Angehörigen slawischer, aber auch italienischer Nationalität in Österreich der Begriff »deutsch« strikt sprachlich und gerade nicht staatlich gemeint sei, folglich der neutrale Begriff des Staatsbürgers oder Reichsangehörigen vorzuziehen sei.51 47 Entwurf der deutschen Verfassung. Die Rechte der Deutschen, Art. XI, § 47, vgl. Scholler, S. 62. 48 Siebzehner-Entwurf der Rcichsverfassung am 26. April 1848, § 25 s, vgl. ebd., S. 52. 49 Vgl. Stourzh, Gleichberechtigung der Nationalitäten, S. 19f. 50 Zur Konkurrenz der Prinzipien und der Verlagerung des politischen Schwerpunkts in den Debatten der Paulskirche s. Hansen, Wandel und Überwindung, S. 71-93 (72, 87). 51 Abg. Karl Giskra (Mährisch-Trübau), Karl Jaup (Darmstadt), Karl Boczek (Tischnowitz, Mähren), Titus Mareck (Gräz), Wigard I, 31. Sitzung ( 4.7.1848), S. 739-741.

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Darin spiegelte sich in doppelter Weise der ethnisch und kulturell bestimmte Begriff der Nation, der in Mittel- und Osteuropa während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschend war. Er hatte sich als vorstaatlicher Begriff gerade in den deutschen Sprachgebieten und Territorialstaaten ausgebildet und vor 1848 durchgesetzt. Als Begriff, der ein außer- und vorstaatliches Kriterium zum Leitbild staatlicher Einigung und Selbständigkeit machte, wurde er zum Instrument nationaler Emanzipation gerade für diejenigen kleineren Nationalitäten, die im Vielvölkerstaat Österreich zu staatlicher Unabhängigkeit oder doch wenigstens zur Gleichberechtigung strebten. Das Territorialitätskonzept der Paulskirchenversammlung wurde also mit einem spezifisch deutschen Konzept der Nation konfrontiert, das in national emanzipatorischer Absicht gegen seinen Urheber gewandt wurde.52 Was sich in dieser nationalen Oppositionshaltung ankündigte, bestätigte die weitere Entwicklung: Das territorial-politische Integrationsinteresse der Nationalversammlung hatte ethnische und kulturelle Kriterien einer Definition des »Deutschen« nur überlagert, aber nicht auf Dauer verdrängt.53 Dies wurde offenkundig in der Auseinandersetzung der Paulskirchenversammlung um die Stellung der Provinz Posen, die Ende Juli 1848 - nur wenige Wochen nach der Diskussion um die Grundrechte und den Begriff des »Deutschen« - stattfand. Anlaß der Auseinandersetzung54 war ein Antrag der äußersten Linken, die Zugehörigkeit der Provinz Posen zum Deutschen Bund abzulehnen und die zwölf Posener Abgeordneten aus der Nationalversammlung auszuschließen. Dahinter stand die Frage, ob die Nationalversammlung die von der preußischen Regierung vollzogene Aufspaltung des Posener Territoriums in einen ›deutschen‹ und einen ›polnischen‹ Teil billigte und damit zugleich den Anspruch der polnischen Nationalbewegung auf Errichtung eines unabhängigen polnischen Nationalstaats unter Einschluß des gesamten Großherzogtums Posen zurückwies. Die Debatte geriet zur grundsätzlichsten und schärfsten Auseinandersetzung um die Nationalitätenproblematik des angestrebten deutschen Nationalstaats. Sie stellte zugleich den Wendepunkt der deutschen Polenpolitik dar: von der Polenfreundschaft des Vormärz, die noch das Frankfurter Vorparlament mit der Forderung nach »Wiederherstellung des Polenreichs« unterstützt hatte, hin zum Primat eines expansiven kulturnationalen Begriffs von Deutschland. Die Nationalversammlung bestätigte nämlich mit großer Mehrheit das Stimmrecht der Posener Abgeordneten und die Einverleibung ›Deutsch-Posens‹ in den Deutschen Bund. In diesem Zusammenhang wesentlich ist die Umkehrung der Argumentation, verglichen mit der vorangegangenen Debatte um den Begriff des Deut52 Mommsen, 1848, S. 211; Koralka, S. 29-46 (39f.); Sundhaussen, S. 64f. 53 Übersehen bei Strauss, S. 52. 54 Zum gesamten Zusammenhang Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 642f.

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schen: Das Territorialitätsprinzip wurde von den Verteidigern der Unabhängigkeit und staatlichen Integrität Polens ins Feld geführt.55 Die Verteidiger der Teilung Posens hingegen argumentierten mit dem Primat deutscher Nationalität, das der Breslauer Abgeordnete Stenzel, Berichterstatter des Ausschusses über die Posener Angelegenheit, mit dem Interesse der mehrheitlich deutschen Bevölkerung Deutsch-Posens so begründete: »Wir wollen Deutschland angehören, dem wir durch die Sprache, Abstammung, Empfindung, Sympathie zugehören«. Den erkennbaren Wandel der Stimmung in der Polenfrage faßte er zusammen: » Sympathien, ja wir haben Sympathien für Polen, wir sind mitleidig, wir möchten ihnen helfen, wo wir können, aber die Liebe ist für unser Vaterland, das ist die Hauptsache«.56 Robert Blum, einer der herausragenden Sprecher der Linken, war es, der in einer Aufsehen erregenden Rede die Inkonsequenz der Nationalversammlung in der Behandlung der Posen-Frage aufdeckte. Während in der Frage »Schleswig-Holsteins, der Slawen und Triests« die territoriale Auffassung ausschlaggebend gewesen sei, konnte Blum zu Recht zeigen, gebe im Fall Posens der »National-Gesichtspunkt« den Ausschlag. Welche Konsequenz dieses Prinzip aber enthielt, führte er der Versammlung vor Augen: »Dann sind Sie auf der anderen Seite so gerecht, und wenn Sie Posen zerschneiden, um die Deutschen zu reclamiren, so schneiden Sie auch Schleswig durch, geben Sie die Slawen los, die zu Österreich gehören, und trennen Sie auch Südtyrol von Deutschland«, bis hin zu der Folgerung »Befreien Sie die 600.000 unglückseligen Deutschen im Elsaß, die sogar unter der Herrschaft einer Republik schmachten«.57 Blums Einwand war in seiner Prinzipienstrenge gedanklich konsequent; nur entsprach er nicht der Politik der Nationalversammlung. Diese ließ sich von der Absicht leiten, dem deutschen Nationalstaat so viele Menschen deutscher Nationalität wie außenpolitisch möglich und vertretbar einzuverleiben. Dort, wo dies nur unter Einbeziehung nichtdeutscher Nationalitäten möglich war z. B. im Fall Böhmens und Mährens -, galt das territorial-politische Prinzip der Staatsangehörigkeit. Dort jedoch, wo dieser Kompromiß politisch nicht geboten war wie im Falle der ›ethnischen Entflechtung‹ mehrheitlich deutscher und polnischer Gebietsteile in Posen trat das Prinzip ethnisch-kultureller Abstammung in den Vordergrund.58 Nicht der gegenseitige Ausschluß, sondern das Nebeneinander, ja das Zusammenwirken beider Prinzipien bestimmte die 55 Abg. Franz Schuselka (Kloster-Neuburg), Janiszewski (Posen), Wigard II, 46. Sitzung (25.7.1848), S. 1161-1166. 56 Abg. Stenzel, ebd., S. 1123. 57 Abg. Robert Blum, ebd., 46. Sitzung (25.7.1848), S. 1142. Dieser in sich konsequente Standpunkt wurde auf der politischen Linken auch nach 1849, z. B. von Jakob Venedey, vertreten, s.Jansen, Einheit, S. 240. 58 Vgl. dazu Mommsen, 1848, S. 222.

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Opportunität der Paulskirchenpolitik. Nach vollzogener Aufteilung des Posener Territoriums anhand nationaler Kriterien wäre die Anwendung des Territorialprinzips für das Integritätsinteresse des deutschen Nationalstaats schädlich gewesen. Also entstand Raum für aterritoriale, vorpolitische, auch emotionale Kriterien nationaler Zugehörigkeit. Niemand verkörperte die Ambivalenz und Opportunität dieser Argumentation so treffend wie der demokratische Abgeordnete Wilhelm Jordan. War er in der Grundrechtsdebatte der vehementeste Befürworter des territorial-politischen Prinzips gewesen, trat er in der Posen-Debatte für dessen Umkehrung ein und untermauerte damit den Primat des ethnisch-kulturellen Nationsbegriffs: Gegen den territorialen Integritätsanspruch der polnischen Unabhängigkeitsbewegung verteidigte er die Demarkation Posens nach Kriterien der Sprache und Kultur. Dem Vorwurf einer vierten Teilung Polens hielt er entgegen: »Es ist nichts anders geschehen, als daß man festgestellt hat, wie weit sich Deutschland tathsächlich nach Osten erstrecke, d. h. wie weit deutsche Sprache und Gesittung siegreich vorgedrungen ist«. Würde man demgegenüber das gesamte Posener Territorium unter polnische Herrschaft bringen, gäbe man eine halbe Million Deutscher »in der secundären Rolle naturalisierter Ausländer in die Unterthänigkeit einer anderen Nationalität, die nicht soviel humanen Inhalt hat, als das Deutschthum«.59 Das Modell, nach dem eine Nationalität, die in ihrem Gebiet die Mehrheit besaß, gleichberechtigt in einem Gesamtstaat lebte, der mehrheitlich anderer Nationalität war - so sah es die Nationalversammlung für Böhmen und Mähren vor - schied Jordan für Posen von vornherein aus. Deutsche unter polnischer Herrschaft konnte er sich nur im minderen Status »naturalisierter Ausländer« vorstellen. Jordans Rede geriet zum Fanal einer nationalen Gegnerschaft,60 die keine prinzipielle Gleichachtung und Gleichberechtigung der deutschen und polnischen Nationalität zugestand. Jordan versagte den Polen nicht den Respekt vor ihrer »unverwüstliche(n) und tapfere(n) Vaterlandsliebe«, hielt die Deutschen aber für das humanere Volk, das die Posener Polen unter preußischer Herrschaft »zur Gesittung und Humanität« erst »erzogen« habe.61 Neben aktuellen sicherheitspolitischen Argumenten brachte er tiefer liegende Vorstellungen zum Tragen, welche die sprachliche und historische Andersartigkeit, ja ein prinzipielles kulturelles Gefälle zwischen Deutschen und Polen festhielten. Nach Jordans Auffassung konnte diese Kluft nicht nur, sie sollte auch nicht durch territoriale Gemeinsamkeit und den politischen Willen zu einem gemeinsamen Nationalstaat überbrückt werden. 59 Wilhelm Jordan, Wigard II, 46. Sitzung (25.7.1848), S. 1143; zum Stellenwert der Debatte als Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Deutschen und Polen s. Mülleru.Schönemann, S. 9, 21. 60 Zur grundsätzlichen Bedeutung der Rede vgl. Wollstein, S. 146f. 61 Vgl. Wigard II, 46. Sitzung (25.7.1848), S. 1144, 1147, 1150.

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Jordans Argumentation fand Unterstützung insbesondere bei den deutschen Abgeordneten Posens, die zeigte, wie sehr die politisch-territoriale Grenzziehung auf einer Schicht vorpolitischer Vorstellungen ruhte, dadurch gestützt und mitbedingt wurde. Der Abgeordnete Goeden aus Kotoszyn erkannte diesen Zusammenhang sehr klar: »Wir sind Deutsche, und gehören unserem Vatcrlande an, weil uns ein vernünftiger, rechtlicher, ein souveräner Wille dazu treibt, ein Wille, der bedingt ist durch unsere geographische Lage, durch unsere Sprache und Sitte, durch unsere Zahl, durch unseren Besitz, vor allem aber durch unsere deutsche Gesinnung und unsere Liebe zum Vaterland [...]. Wir haben eine Erinnerung, eine Geschichte«.62 Ein katholischer Abgeordneter aus Westfalen unterstützte ihn, indem er einen Großteil Posens für »deutsch« nach »Abstammung und Sprache« , aber auch dem »Willen« nach hielt. Ein Abgeordneter aus dem oberschlesischen Ratibor warnte davor, mit der Weggabe eines Großteils Posens, das Lied »unseres alten Volkssängers«: »Soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt« zu streichen.63 Die sprachlich-kulturelle Grenze als letzte Linie, die zur Erhaltung des Deutschtums schlechthin nicht aufgebbar war, ging am deutlichsten aus dem Positionswechsel hervor, den der mährische Abgeordnete Giskra vornahm. Hatte er im Hinblick auf seine Heimat Mähren noch für das territoriale Prinzip plädiert, führte er nun aus: »Wir stehen auf der nationalen Basis, die Polen gegenüber uns nur auf der territorialen [...]. Der territoriale Standpunkt hat gleichfalls seine Berechtigung, aber keine eigene, sondern nur die untergeordnete, dem nationalen zur Stütze zu dienen«.64 Die Unterscheidung zwischen den Prinzipien der politischen Territorialität und der ethnisch-kulturellen Nationalität war damit nicht nur verwischt, sondern aufgehoben. Beide wurden je nach politischer Lage und Opportunität letztlich zur Begründung eines expansiven territorialen Anspruchs herangezogen. Hatte die Nationalversammlung für Österreich zugunsten der Deutschen die Toleranz des Territorialprinzips reklamiert, galt dies Prinzip nicht gegenüber dem historisch stärker legitimierten, mit Waffengewalt eingeforderten polnischen Nationalstaatsstreben. Je nach der Stärke und Durchschlagskraft territorialer Unabhängigkeitsbewegungen argumentierte die Mehrheit der Nationalversammlung mehr territorial oder national. Die Rücksichtnahme auf die multinationalen Verhältnisse Österreichs schien ihr im Falle des preußischen Posen nicht mehr angeraten. Hier trafen die historischen Ansprüche zweier existierender bzw. ehemals existenter Staaten mit nationalem Anspruch aufeinander. Wer ›Deutscher‹ war, entschied sich also nach territorialen und nach ethnischkulturellen Kriterien, letztlich nach Maßgabe eines expansiven territorialen 62 Ebd., S. 1138. 63 Abg. Felix Fürst von Lichnowsky (Ratibor), ebd., 47. Sitzung (26.7.1848), S. 1182. 64 Vgl. ebd., 48. Sitzung (27.7.1848), S. 1204. 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Anspruchs. Je unwahrscheinlicher die Einbeziehung Österreichs in eine großdeutsche Lösung des Nationalstaats wurde, desto mehr verblaßte die Toleranzidee hinter den Konzepten der Territorialität und der Gleichberechtigung der Nationalitäten. Beseler, der Berichterstatter des Verfassungsausschusses, brachte diese Entwicklung im Februar 1849, als sich das Scheitern der großdeutschen Lösung des Nationalstaats abzeichnete, bei der Verabschiedung des Artikels über die Gleichberechtigung der Nationalitäten prägnant zum Ausdruck: Die Nationalversammlung sei »tolerant« gewesen, doch bestehe kein Zweifel, wer das »herrschende Volk« sei.65 »Das deutsche Volk besteht zunächst aus Deutschen, und wenn wir anderen nichtdeutschen Volksstämmen in Deutschland ein gleiches Recht einräumen, dann, meine Herren, haben sie dies dankbar anzuerkennen«.66 Die Verschiebung wird erkennbar: Mit dem Ausscheiden des multinationalen Österreich aus dem Projekt eines deutschen Nationalstaats und dem Scheitern der polnischen Nationalstaatsgründung war der verbleibende kleindeutsche Nationalstaat ethnisch und kulturell homogener als ursprünglich erwartet. Der politische Zweck des Territorialprinzips hatte sich damit erledigt. Die ethnisch-kulturelle Definition des »Deutschen« drang im politischen Vorstellungsbild und Entscheidungsprozeß vor, auch wenn sie im Text der Paulskirchenverfassung keinen Niederschlag fand.

2. Das deutsche Reichsbürgerrecht: partikularistische Brechungen Zielte die erste Frage: ›Wer ist Deutscher?‹ auf die äußere Gestaltung und Abgrenzung des Nationalstaats, richtete sich die zweite Frage: ›Wie wird man Deutscher?< auf dessen innere staatsrechtliche Gestalt. Im Gewande der Staatsangehörigkeit stand damit die Gliederung des künftigen Nationalstaats zur Diskussion67. Die unitarisch-zentralistische stand der föderativ-partikularen Auffassung gegenüber. Erkennbar wurde ein Nord-Süd-Gefälle innerhalb der verfassunggebenden Versammlung. Es waren überwiegend norddeutsche Abgeordnete, die das vom Verfassungsausschuß vorgeschlagene »allgemeine deutsche Staatsbürgerrecht« als ausschließliches Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland auffassen woll65 Wigard Vll, 107. Sitzung (16.2.1849), S. 5209. 66 Vgl. auch die Stellungnahme des Südtiroler Abgeordneten Esterle: »Sie können wohl den Slawen, den Czechen, den Italiener usw. zu einem Bürger des Deutschen Reiches, aber niemals zu einem Deutschen machen«, ebd., S. 5208. 67 Grawert, S. 195.

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ten. Eigenständige Länderstaatsangehörigkcitcn sollten daneben nicht bestehen, zumal nach dieser Auffassung die Länder überwiegend territoriale Gliederungen ohne vollständige eigene Staatlichkeit darstellen sollten. Der Abgeordnete des liberalen Zentrums Johann Ludwig Tellkampf aus Breslau, der für ein umfassendes Territorialitätsprinzip eintrat.68 verstand demnach das allgemeine deutsche Staatsbürgerrecht so, daß es das Staatsbürgerrecht aller Einzelstaaten einschloß. Der Göttinger Historiker Georg Waitz lehnte Landesbürgerschaften deswegen ab, weil die Länder nur »Gliederungen« der großen einheitlichen deutschen »Nation« mit lediglich »territoriale(m) Charakter« seien.69 Mehrere Motive trugen diese Argumentation: Zunächst bestand das Bedürfnis nach einer einheitlichen staatsrechtlichen Gestaltung des deutschen Nationalstaats, um staatliche Geschlossenheit auch nach außen zu demonstrieren. In diesem Sinne forderte der preußische Abgeordnete und Staatsrechtler Ludwig von Rönne, der im übrigen für ein gemäßigtes Modell nach Art des amerikanischen Bundesstaats plädierte, daß die Einbürgerung im deutschen Nationalstaat zentral durch die Bundesgewalt vorgenommen werden solle, um das Gefälle zwischen den Bundesstaaten auszugleichen. 70 Hinzu kam die gewachsene nationalpolitische Symbolkraft einer deutschen Staatsangehörigkeit, welcher der Ausschuß für Volkswirtschaft besondere Bedeutung beimaß. Hatte der Verfassungsausschuß auf die Aufstellung »allgemeiner Grundsätze über Erwerbung und Verlust des deutschen Staatsbürgerrechts« verzichtet, teils, weil »die Gesamtverfassung und ihr Verhältnis zu den einzelnen Staaten noch nicht geordnet« sei, teils wegen des Fehlens einer umfassenden bürgerlichen Gesetzgebung,71 verfolgte der volkswirtschaftliche Aussschuß eine durchweg unitarische, auf die zentrale gesetzliche Durchformung des Nationalstaats zielende Linie. Er schlug deshalb eine Regelung vor, derzufolge jeder Deutsche das Recht der Auswanderung besitzen und auch im Ausland deutscher Staatsbürger bleiben sollte. Die Begründung des Ausschusses ist nach Sprache und Gehalt ein Dokument des wachsenden Nationalbewußtseins, das die Staatsangehörigkeit als wesentliches Integrationsmittel begriff: »Dadurch, daß Deutschland seine Söhne nicht schutz- und hülflos in die Fremde entläßt, und keinem Auswanderer seine Staatsbürgerrechte entzieht, erkennt es nicht nur an, daß es die geistigen Bande der Nationalität, welche durch keine Entfernung zerrissen werden, für stärker und höher achtet, als die physischen, sondern es stärkt auch, wie das Beispiel England hinreichend lehrt, das deutsche Volksbewußtsein durch alle Thei68 Der Erwerb der Staatsangehörigkeit sollte nach Tellkampf aufgrund der Geburt in Deutschland erfolgen, vgl. Wigard I, S. 740, 755. 69 Wigard II, 40. Sitzung (18.7.1848), S. 958. 70 Ebd., S. 962. 71 Bericht des Verfassungsausschussses (Entwurf, angenommen in der 21. Sitzung des Ausschusses am 19. Juni 1848), vgl. Scholler, S. 62, 67. 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

le der Erde, und trägt dadurch wesentlich dazu bei, in jedem seiner Bewohner den Patriotismus und die aufopfernde Hingabe an das Gemeinwesen groß zu ziehen, ohne welche kein großer und freier Staat wahrhaft gedeihen kann«.72

Die unitarische Konstruktion der Staatsangehörigkeit verfolgte jedoch nicht nur eine nationalpolitische Außenwirkung, sondern auch eine umfassende Liberalisierung und Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse, die der volkswirtschaftliche Ausschuß gegen partikulare Interessen und Rechte durchsetzen wollte. Eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit sollte partikularstaatlichc Schranken abbauen, die der Freiheit der Niederlassung und des Eigentumserwerbs im gesamten Staatsgebiet im Wege standen. Die föderative Gegenposition speiste sich im wesentlichen aus zwei Motiven, nämlich aus einer historisch-organizistischen Rechtsauffassung und einem ausgeprägt süddeutschen Partikularismus. Das erste Motiv hing mit dem Einfluß der Historischen Rechtsschule zusammen. Diese von Carl Friedrich von Savigny begründete, in der deutschen Rechtswissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende Rechtstheorie stand in engem Zusammenhang mit den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Klassik und Romantik73. Der Gedanke der historischen Bedingtheit des Rechts, das Ausdruck eines unverwechselbaren, individuellen Volksgeistes sei und die Eigenart der ›Nation‹ mitbestimme, wirkte in der Nationalversammlung als eine Art intellektueller Grundprägung.74 Im ›Juristenparlament‹ der Paulskirche verband diese Theorie die rechtswissenschaftlich ausgebildeten Abgeordneten, die den weitaus größten Anteil der akademischen Berufsangehörigen ausmachten,75 vielfach auch über Fraktionsgrenzen hinweg. Georg Beseler, der einflußreiche Vorsitzende des Verfassungsausschusses, leitete aus der organologischen Auffassung der Historischen Rechtsschule die föderative Gestalt der deutschen Staatsangehörigkeit ab. Von der Grundposition her, daß das Volk nicht - wie von demokratischen Verfassungen vorausgesetzt - eine »Masse von Einzelnen« darstelle, sondern die Berücksichtigung seiner vielfach in »einzelne(n) Stämmen« verkörperten »Sitte« und »Bedürfnisse« im Recht verlange, war für ihn die Existenz der Bundesstaaten mit je eigenem Staatsbürgerrecht eine Selbstverständlichkeit.76 Entschiedener und in ihrem politischen Interesse eindeutiger verteidigten prominente süddeutsche Abgeordnete partikulare Eigenheiten und Rechte ge72 Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft (Wigard I, S. 689), vgl. Scholler, S. 76, 79. 73 Dazu grundlegend, kritisch zugleich die Eigenständigkeit der Historischen Rechtsschule betonend: Wieacker, S. 348f, insbes. S. 36()f. 74 Siemann, S. 43f., 80f. 75 Vgl. dazu ebd., S. 34: 491 von 812 Abgeordneten (d. h. 60,2 %) verfügten über eine juristische Universitätsausbildung; zur sozialen Gliederung der Nationalversammlung insgesamt vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 610f. 76 Wigard II, 40. Sitzung (17.7.1848), S. 971-974.

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gen den vereinheitlichenden Durchgriff des sozial intervenierenden, zentralisierenden Staates. Carl Mittermaier, Professor des Strafrechts und badischer Abgeordneter, belegte sein Plädoyer für die unbedingte Aufrechterhaltung der Landesstaatsbürgerschaft als Stufe zwischen der allgemeinen Staatsbürgerschaft und dem Gemeindebürgerrecht mit den Gefahren einer nivellierenden Zentralisierung am Beispiel der Schweizer Entwicklung. Dort sei nach 1801 das Kantonalrecht unterhalb der Schweizer Bürgerschaft eingeführt worden, nachdem die Schweizer im Zentralismus der revolutionären Helvetischen Republik zunächst ohne regionalen Anhaltspunkt »wie von dämonischer, unsichtbarer Macht getrieben« umhergeirrt seien. Mittermaier ging es darum, die Immediatisierung der Gemeinden gegenüber dem Freizügigkeit durchsetzenden Zentralstaat zu vermeiden. Er würde in seiner Heimat »totgeschlagen«, kündigte er an, falls eine beliebige Zuzugsmöglichkeit zu den attraktiven badischen Gemeinden eröffnet werde.77 Sein badischcr Abgeordnetenkollege Anton Christ, der der demokratischen Linken angehörte, bekräftigte die notwendige Trennung von Staats- und Gemeindebürgerrecht, um »Aufruhr in den Gemeinden« zu vermeiden.78 Auch der hochangesehene württembergische Liberale Robert von Mohl begründete sein selbstverständliches Festhalten an der Landesstaatsbürgerschaft damit, daß ihr Erwerb an die Unbescholtenheit und Erwerbsfähigkeit geknüpft sei und somit gerade reiche Gemeinden vor unliebsamem Zuzug geschützt werden könnten. Der partikularstaatliche Standpunkt setzte sich durch, unterstützt von konservativen Besitzwahrungsinteressen der Kommunen, und zwar gerade auch in den Gebieten des liberalen Gemeinderechts.79 Ansätze zu einer reichsweiten Vereinheitlichung und ›Nationalisierung‹ der Grundsätze für den Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit drangen nicht durch. Die Paulskirchenverfassung bestimmte im Paragraphen 131, daß das deutsche Volk aus den Angehörigen der Staaten bestand, welche das Deutsche Reich bildeten. Die Eigenschaft des »Deutschen« war damit zugleich rechtlich formalisiert, territorialisiert und föderalisiert. Die Institution der bundesstaatlichen Staatsangehörigkeit war damit geschaffen, die über beinahe ein Jahrhundert den deutschen Nationalstaat kennzeichnete. Eine Hürde des Partikularismus auf dem Weg zu einer homogenen Bundesstaatlichkeit wurde freilich abgebaut. Das Hindernis der »Bescholtenheit« entfiel, das vielfach dem Wechsel zwischen den Landesstaatsangehörigkeiten entgegengehalten worden war und das Beseler noch in dem Bericht des Verfassungsausschusses verteidigt hatte. Weniger staatsorganisatorische oder nationalpolitische als liberal-rechtsstaatliche Argumente gaben dabei den Ausschlag. 77 Wigard I, 31. Sitzung (4.7.1848), S. 743. 78 Ebd., S. 744 (Abg. Anton Christ). 79 S. o. Kap. I.3.

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Die Unbestimmtheit und Mißbrauchsanfálligkeit des Kriteriums, seine Nähe zum Recht der »Gesinnung« statt der »Thaten«80 erregten den Widerspruch der Versammlungsmehrheit, die die Formel der »Bescholtenheit« als Relikt des Polizeistaats bekämpfte. Unter dem Beifall der Abgeordneten führte der hochgeehrte Vorkämpfer der deutschen Nationalbewegung, der greise Friedrich Ludwig Jahn,81 das Bescholtenheitskriterium ad absurdum, indem er erklärte, nach hergebrachter Auslegung müsse die ganze Versammlung als bescholten gelten. »Jeder Deutsche hat das deutsche Reichsbürgerrecht«, bestimmte die Paulskirchenverfassung. Die deutsche Staatsangehörigkeit war also unmittelbar verknüpft mit dem deutschen Reichsbürgerrecht, einer Reihe von Rechten, die dem formalen Begriff Staatsangehörigkeit rechtliche und politische Substanz gaben. Erst die im Reichsbürgerrecht zusammengefaßten Rechte hoben den Status des ›Deutschen‹ über den eines Angehörigen des bayerischen, preußischen oder anderen Staates hinaus. Sie erst schufen Rechte, die über die Summe der territorial gebundenen Staatsbürgerrechte hinausgingen und eine eigenständige, den Bundesstaat zum Nationalstaat integrierende, damit zugleich zentralisierende Wirkung entfalteten. Eben deshalb geriet das Reichsbürgerrecht in den politischen Streit zwischen unitarischen und föderalistischen, liberalen und partikularistisch-protektionistischen Strömungen. Das Reichsbürgerrecht bestand in einem gemeinsamen Indigenat, d. h. aus gemeinsamen Rechten aller Deutschen, die einem Gleichstellungsgebot in allen Bundesstaaten unterlagen und damit eine wahrhaft revolutionäre Neuerung darstellten.82 Dem Entwurf des Verfassungsausschusses zufolge zählten dazu im Kern83 die Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit, die Freiheit des Grunderwerbs, die Gewerbefreiheit und das Recht aller Deutschen auf Erlangung des Gemeindebürgerrechts. Der Verfassungsausschuß hatte die Angleichung der unterschiedlichen Bedingungen in den Bundesstaaten einem Reichsgesetz überlassen, bis zu dessen Erlaß in den Einzelstaaten der Grundsatz ›relativer Parität‹, d. h. die Gleichbehandlung aller Deutschen mit den Angehörigen der jeweiligen Staaten galt. Diese Regelung enthielt ein Provisorium, das das Gleichbehandlungsanliegen des Reichsbürgerrechts in doppelter Weise hemmte: Die endgültige Gleichstellung wurde nicht direkt angeordnet, sondern erst im Detail auszuhandelnden Gesetzen überantwortet. Die relative Parität erhielt das Ungleichgewicht zwischen Staaten mit liberaler und restrikti80 Abg. Otto Plathner (Halberstadt), Wigard II, 40. Sitzung (17.7.1848), S. 956. 81 Abg. Friedrich Ludwigjahn, ebd., S. 955. 82 Fahrmeir, Citizens, S. 34. 83 Vgl. Art. I, § 2 Bericht des Verfassungs-Ausschusses, vgl. Scholler, S. 62. Dazu kamen das Verbot der Strafe des bürgerlichen Todes und die Auswanderungsfreiheit, die die Nationalversammlung um ein Gleichstellungsgebot im bürgerlichen, Straf- und Prozeßrecht erweiterte (vgl. §§ 134-136 der Paulskirchenverfassung vom 28.3.1849).

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ver Gesetzgebung aufrecht. Deren Angehörige wurden in Staaten mit freizügiger Gesetzgebung begünstigt, während im umgekehrten Fall eine deutliche Benachteiligung eintrat. Insbesondere die Staatsangehörigen Preußens, das über die liberalste Niederlassungs-, Gewerbe- und Gemeindegesetzgebung im Deutschen Bund verfügte, erlitten dadurch Nachteile in anderen deutschen Bundesstaaten. Das Hindernis einer »unmittelbaren Gewährung« der Freiheitsrechte gaben die Ausschußmotive mit dem Recht und Interesse der Gemeinden an, »deren selbständige Haltung und Ehrenhaftigkeit zu bewahren und zu heben eine der wichtigsten Aufgaben deutscher Staatskunst«sei.84 Die Gegenposition bezog der volkswirtschaftliche Ausschuß, der ein Höchstmaß an Freizügigkeit und Gewerbefreiheit zur »Hebung des nationalen Gewerbefleißes« und zur Bekämpfung des Pauperismus durchsetzen wollte. Entsprechend seiner unitarischen Grundlinie sah der Ausschußentwurf vor, durch zentrale Reichsgesetze das Recht jedes einzelnen festzulegen, »an jedem Orte des Reichsgebiets seinen Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen« sowie Liegenschaften zu erwerben und Gewerbe zu treiben. Damit sollten alle »particularen Bestimmungen«,85 welche die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit im Deutschen Reich regelten, aufgehoben bzw. vereinheitlicht werden. Der Streit um Umfang und Reichweite des Reichsbürgerrechts berührte zugleich die Grundzüge der Wirtschafts- und Sozialordnung des künftigen deutschen Nationalstaats. Das zeigte die folgende Debatte der Nationalversammlung mit aller Deutlichkeit. In allen politischen Lagern bestand zwar Einigkeit darüber, die »deutsche Ausländerei«86 abzuschaffen, d. h. einheitliche Rechte des deutschen Reichsbürgers zu schaffen, die ihn in jedem Bundesstaat als »Deutschen« von Ausländern unterschieden. Über die Reichweite dieser Rechte hingegen entbrannte grundsätzlicher Streit, der sich insbesondere am zentralen Durchgriff des Nationalstaats auf die Gemeinderechte, auf das kommunale Bürger- und Vermögensrecht, zuspitzte.87 In verschärfter Weise trafen hier süddeutsche und norddeutsche, vor allem preußische Traditionen erneut aufeinander. Bereits in der Debatte des Verfassungsausschusses hatte sich der Konflikt aufgeladen zwischen denjenigen, die den »genossenschaftlichen Verband«88 der Gemeinden vor ›Überflutung‹89 schützen wollten, und den strikten Unitaristen, die vor der »Tyrannei der Gemeinden«90 warnten. Der süddeutsche Partikularismus wirkte insbesondere dort als Gemeindeprotektionismus, wo er sich mit organizistischen Argumenten der Historischen 84 Bericht des Verfassungsausschusses, Motive, vgl. Scholler, S. 62, 67f. 85 Bericht des Ausschusses für Volkswirtschaft, vgl. Scholler, S. 76, 82. 86 Vgl. Abg. Albert Sprengel, Wigard II, 37. Sitzung (13.7.1848), S. 854. 87 S. Koch, S. 88f. 88 So der badische Abgeordnete Theodor Welcker, Verhandlung des Verfassungsausschusses über § 6, vgl. Droysen, S. 30, im folgenden zitiert nach Scholler, S. 190, 193. 89 Abg. Friedrich Ernst Scheller, vgl. ebd., S. 191. 90 So der der Linken angehörende Dresdner Abgeordnete Franz Wigard, vgl. ebd., S. 192.

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Rechtsschule verband. In diesem Sinne plädierte der Abgeordnete Hermann aus München dafür, die Bedürfnisse der Einwohner des jeweiligen Staates den Ausschlag geben zu lassen: Es sei »die Gewohnheit des Denkens und Lebens im Volk [...] so innig verknüpft mit den gesetzlichen Einrichtungen. [...] Selbst anscheinend nachteilige und wahrhaft ungeschickte Einrichtungen werden [...] zur Gewohnheit«.91 Sein Münchener Abgeordnetenkollege Beisler forderte: »Die Freiheit und das Recht des Genieindebürgers darf nicht das Recht des Staatsbürgers, nicht das Recht des Gemeindebürgers verschlingen. Wir postuliren unter jenen Rechten auch das Recht der Association. Wohlan, die Gemeinde ist die wichtigste aller Associationen, und eine Beschränkung der Rechte dieser Association greift in die theuersten Rechte ein«.92 Der Meraner Abgeordnete Weber warnte gar vor einem »Bürgerkrieg«, falls das Gemeindebürgerrecht angetastet werde.93 Auch Abgeordnete, die zugunsten der Liberalisierung und Entfaltung der nationalen Wirtschaft grundsätzlich für weitgehende Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und eine staatliche Regelung der kommunalen Armenfürsorge wie in Preußen eintraten, wollten das ›engere Gemeindebürgerrecht‹, das Recht auf Zulassung zum Gemeindebürger und Teilhabe am gemeindlichen Vermögen, unberührt lassen.94 Der Danziger Abgeordnete Osterrath, der zwar eine reichsweite Vereinheitlichung der Zulassungsbedingungen für das Gemeinderecht befürwortete, bezeichnete hingegen ein unbeschränktes kommunales Zuzugsrecht als potentiellen Eingriff in das Gemeindeeigentum und »Communismus der gefährlichsten Art«.95 Der demokratische Abgeordnete Moriz Mohl schließlich, der für nationale Niederlassungsfreiheit nach englischem, amerikanischem und französischem Vorbild eintrat und gegen die Zunftautonomie kämpfte, beharrte zugleich auf dem Bestimmungsrecht der Kommunen über ihr Armenwesen 96 , da man den Gemeinden nicht zumuten könne, »alle möglichen zuziehenden Armen oder selbst Vaganten u. s. w. aufzunehmen«. An solchen Vorstellungen wird die Stoßrichtung deutlich: Es ging der liberalen Versammlungsmehrheit auch und vor allem um die Verteidigung des bürgerlichen Eigentumsrechts, das der radikale, bis auf die Gemeindeebene durchgreifende Unitarismus durch Maßnahmen in Frage stellte, die zugleich

91 Vgl. den Abg. Friedrich von Hermann (München), WigardI,32. Sitzung (6.7.1848), S. 757. 92 Abg. Hermann von Beisler (München), Wigard II, 37. Sitzung (13.7.1848), S. 871. 93 Abg. Beda Weber, ebd., 40. Sitzung (18.7.1848), S. 954. 94 Vgl. die Stellungnahmen der Abgeordneten Bernhard Eisenstuck johann Gottfried Eisenmann und Wilhelm Adolf von Trützschler, Wigard I, 32. Sitzung (6.7.1848), S. 760 , 765, 770, sowie Gustav von Salzwedel, Wigard II, 37. Sitzung (13.7.1848), S. 872. 95 Abg. Heinrich Philipp von Osterrath (Danzig), 37. Sitzung (13.7.1848), S. 863. 96 Abg. Moriz Mohl, Wigard II, ebd., S. 858. 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Sozialrevolutionären Charakter annehmen konnten. Darauf wies der demokratische97 Abgeordnete Friedrich Wilhelm Schlöffel aus Schlesien hin, das ein Jahr zuvor von den schweren Unruhen des Weberaufstands erschüttert worden war. Er plädierte nachdrücklich gegen die Aufrechterhaltung des Gemeindebürgerrechts als »Erwerbsquelle der privilegierten Kasten, für den Staat im Staate«, als »Ab- und Ausschlicßungsmittel gegen die armen rechtsfähigen Brüder«. Die Durchsetzung eines umfassenden Reichsbürgerrechts im Sinne sofortiger Freizügigkeit und Niedcrlassungsfreiheit galt ihm und anderen Abgeordneten der Linken als Mittel gegen den Pauperismus und die Entstehung einer »Klasse von Armen«,98 mithin als politischer Hebel, durch Freiheit zugleich soziale Gleichheit und nationale Einheit herzustellen. Die Debatte enthüllte ein grundsätzliches Dilemma der Paulskirchenversammlung:99 Das Bewußtsein der Abgeordneten, ›Staatsbürger‹ eines künftigen deutschen Nationalstaats zu sein und eine deutsche Staatsbürgerschaft zu schaffen, brach sich an Partikularismen kommunaler und sozialer Herkunft. Der Staatsbürger verdrängte nicht den Gemeindebürger, dem der Wahlkreis die Wahrung kommunaler Interessen der Besitzstandswahrung anvertraut hatte. Das Gefühl regionaler Verpflichtung und Solidarität überwog das Nationalgefühl.100 Die weit überwiegende Mehrheit der Abgeordneten stimmte darin überein, das Recht der Gemeinde auf Zulassung zum Bürgerrecht und Bestimmung über das Gemeindeeigentum aufrechtzuerhalten. Diese Entscheidung blieb in der schließlich gefundenen Verfassungsregelung verdeckt. Diese übernahm weitgehend den Vorschlag des Ausschusses für Volkswirtschaft, der durch das Recht eines jeden Deutschen, »an jedem Ort des Reiches [...] das Gemeindebürgerrecht zu gewinnen«,101 ergänzt wurde. Damit war freilich nur ein Verbot der Diskriminierung von Rcichsbürgern beim Erwerb des Gemeindebürgerrechts festgelegt. Ein Anspruch aller Reichsbürger auf Zulassung in jeder deutschen Gemeinde lag der überwiegenden Mehrheit der Nationalversammlung fern. Zwar blieb der Erwerb des Reichsbürgerrechts unabhängig vom Gemeindebürgerrecht.102 Den Zugang zu diesem verschaffte es aber nicht. Nicht einmal eine provisorische relative Parität in der Zulassung zum Gemeindebürgerrecht wurde eingeführt. Statt dessen wurde die Ausgestaltung eines weitgefaßten Reichsbürgerrechts einer für das ganze Reich geltenden Heimat-

97 Friedrich Wilhelm Schlöffel, ebd., S. 868f. 98 Abg. Eduard Wedekind, ebd., 37. Sitzung (13.7.1848), S. 873; Julius von.Dieskau, ebd., S. 862; Friedrich Wilhelm Schlöffel, ebd., S. 868f. 99 Dazu Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 619. 100 Wie sehr noch nach der Reichsgründung 1871 das Nationalgefühl einem lokalen partikularistischen ›Hcimatbewußstein‹ entsprang, zeigt exemplarisch Confino. 101 § 133 Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849. 102 Abg. Georg Beseler, Wigard II, 37. Sitzung (13.7.1848), S. 873f.

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gesetzgebung103 und Gewerbeordnung überlassen. Vorderhand hatte sich damit die liberale, gemäßigt unitarische Linie im Verfassungstext durchgesetzt. Die aufgebrochenen Interessenkonflikte über die inhaltliche Ausgestaltung des Reichsbürgerrechts im Spannungsfeld zwischen kommunalem Partikularismus und sozialem Unitarismus waren indessen nur aufgeschoben.

3. Grenzfalle der deutschen Staatsbürgerschaft Bezweckte das Reichsbürgerrecht nationale Integration primär im Ausgleich des Rechtsgefálles zwischen den Bundesstaaten, so zielten die Grundrechte der Freiheit und Gleichheit104 auf die national einheitliche Rechtsstellung des Staatsbürgers gegenüber dem Staat schlechthin, der Landes- ebenso wie der Nationalstaatsgewalt. Das Reichsbürgerrecht wie die Grundrechte, in der Paulskirchenverfassung zusammengefaßt als »Grundrechte des deutschen Volkes«, hatten die deutsche Staatsangehörigkeit zur unbedingten Voraussetzung. Zusammengenommen gaben sie dem Rechtsbegriff des »Deutschen« seine substantielle Bedeutung als Staatsbürgerschaft des deutschen Nationalstaats. Die Beschränkung der Freiheits- und Gleichheitsrechte auf deutsche Staatsangehörige war nicht selbstverständlich. Die großen Individualrechtskodifikationen der Moderne, die Verfassungsdeklarationen der amerikanischen Revolution sowie die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen von 1789, waren Menschenrechtsdeklarationen in der Tradition des universellen säkularen Naturrechts. Die Verfassunggebung des deutschen Nationalstaats hingegen statuierte von den ersten Entwürfen des Vorparlaments bis zum Verfassungstext Rechtsgewährleistungen, die ausschließlich dem »deutschen Volk«, der Gesamtheit der Deutschen, zukommen sollten. Wolfram Siemann hat diese nationale Beschränkung der deutschen Grundrechtskodifikation mit der Dominanz der Historischen Rechtsschule unter den einflußreichen juristischen Abgeordneten der Paulskirche erklärt. Seiner konzisen Argumentation zufolge setzte sich die historisch-rechtliche Auffassung von einem spezifischen, das Recht prägenden und begrenzenden Volksgeist durch: Die Interpretation der Staatsbürgerrechte als ›germanische Urrechte‹, die eine volkstümliche deutsche Freiheit zum Gewohnheitsrecht ausprägten, sah sich selbst als die ›modernere‹ Auffassung gegenüber dem rationalen Vernunftrecht. Der Jenaer Privatrechtler und Rechtshistoriker Andreas Michelsen, einer der Vertreter der Historischen Rechtsschule im Parlament, begründete seine Ablehnung von Menschenrech103 Zum stark unitarisch geprägten Entwurf eines Reichsgesetzes über das Heimatrecht vgl. Kühne, S. 209f. 104 Vgl. §§ 137ff. der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849

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ten damit, daß man »heut zu Tage über diesen abstracten Standpunkt hinaus« sei. »Wir stehen auf dem Standpunkt des Staatsbürgerthums, und fassen daher diesen Satz nicht wie ein bloßes Menschenrecht«.105 Diese Argumentation entschärfte, entradikalisierte und nationalisierte den vernunftrechtlichen Anspruch der Linken.106 Bis zum gemäßigten Liberalismus Karl von Rottecks, der den deutschen Nationalstaat auf wesentliche Menschenrechte und einen vernunftrechtlich begründeten Rechtsstaat bauen wollte, habe damit - Siemann zufolge - das universalistische westliche Modell der Grundrechte durch ein spezifisch deutsches ersetzt werden sollen, so daß ein besonderer ›deutschcr‹ Weg zum Konstitutionalismus beschritten wurde.107 So schlüssig Siemanns Erklärung einen deutschen Sonderweg zur Grundrechtsgeschichte zu belegen scheint, so geht sie doch zu sehr von einem statischen westlichen ›Modell‹ der Menschenrechtsentwicklung aus. In Frankreich zumal brach die restaurative Charte Constitutionelle von 1814 mit der revolutionären Tradition der Menschenrechte und deklarierte ausschließlich »droits des Frangais«. Eben diese französische Verfassung wurde modellprägend für den deutschen Konstitutionalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.108 Sowohl die Verfassungen des süddeutschen Frühkonstitutionalismus als auch die mitteldeutschen Verfassungen in der Folge der Julirevolution von 1830109 statuierten Grundrechte der Badener, Württemberger etc., d. h. der Bürger des jeweiligen Staates. Verstärkt wurde diese Wirkung noch durch die in Deutschland stark rezipierte belgische Verfassung von 1831, die in der Formulierung der Grundrechte ihrerseits auf die Charte Constitutionelle zurückging. Die Abgeordneten der Paulskirche hatten demnach einen deutschen Konstitutionalismus vor Augen, dessen Vorbild durchaus das französische Verfassungsrecht war, indessen nicht das der Revolution, sondern der Restauration. Hinzu kommt, daß die - relative - Schwäche menschenrechtlicher Argumentation in der Nationalversammlung der schwachen Präsenz menschen105 Siemann, S. 126. 106 Dazu und zur Polarität der Auffassungen Strauss, S. 1,5, 33. 107 Siemann, S. 60, 90, 127-129, 240, 275, 286. 108 Zu diesem Rezeptionsvorgang differenzierend Rimscha, S. 39f, 83 f., der die wesentliche Parallele zwischen der Charte und den süddeutschen Verfassungen darin sieht, daß nicht mehr vorstaatliche, sondern durch den monarchischen Staat Rechte der Staats-Bürger bzw. Untertanen garantiert werden. 109 Vgl. dazu: Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26.5.1818, § 2 (Indigenat als Voraussetzung für das »Staats-Bürgerrecht«); Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22.8.1818, Abschnitt II: »Staatsbürgerliche und politische Rechte der Badener«; Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25.9.1819: Kap. III »Von den allgemeinen Rechts-Verhältnissen der Staatsbürger«; Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17.12.1820, Tit. III: »Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Hessen«; Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen vom 4.9.1831, Abschn. III: »Von den allgemeinen Rechten und Pflichten der Untertanen«, zu den Texten s. Huber, Dokumente zur Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 155, 187, 221, 263.

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rechtlicher Forderungen in der politischen Öffentlichkeit entsprach. Das zeigt die Fülle der Petitionen, die vom Frühjahr 1848 bis zum März 1849 an die Nationalversammlung gerichtet wurden. Überwogen in diesen politischen Bittschriften bereits von Beginn an kollektiv formulierte Begehren die individuellen Rechtsreklamationen, verstärkte sich dieses Ungleichgewicht im Verlauf der Frankfurter Debatten. Als Erklärung bietet sich an, daß der revolutionäre menschenrechtliche Impetus französischer Tradition den deutschen Petenten um so suspekter wurde, je mehr die »ungewollte Revolution«110 in politische Wirren und zeitweilige Anarchie trieb.111 Die Abnahme der Petitionen und Hinwendung der Petenten zu einer stabilisierenden Ordnungsmacht nahm somit den ohnehin minoritären menschenrechtlichen Ambitionen innerhalb des Parlaments den notwendigen Rückhalt in den politischen Trägergruppen der Revolution. Die Mehrheit der Paulskirchenabgeordneten fällte ihre Entscheidung für eine nationale, nicht menschenrechtliche Formulierung der Grundrechte aus Gründen, die insoweit spezifisch ›deutsch‹ waren, als sie der spezifisch deutschen Situation einer ›späten‹ bürgerlichen Revolution und nationalen Wissenschaftstradition entsprachen. Insgesamt jedoch beschritt die Paulskirchenverfassung nicht einen deutschen Sonderweg zu nationalen Grundrechten, sondern holte auf zentraler Ebene eine konstitutionelle Entwicklung nach, die andere westeuropäische Nationalstaaten bereits vollzogen hatten. Die Ausschließlichkeit, mit der die Paulskirchenverfassung die Grundrechte an die nationale Staatsangehörigkeit band, verdankte sich schließlich dem verstärkten nationalen Durchsetzungsbemühen eines ›späten‹ Nationalstaats in der Mitte Europas. Die These von einem deutschen ›Sonderweg‹ der nationalen Grundrechte statt Menschenrechte ist nur dann durchschlagend, wenn man eine abstrakte Entwicklungsfolge menschenrechtlicher und nationaler Grundrechtskodifikationen als Modell unterstellt. In ihrem historischen Kontext, in ihrer Zeit, war die erste deutsche Verfassung auf nationaler Ebene kein Sonderfall, sondern Abbild einer europäischen Gesamtentwicklung konstitutioneller Nationalstaatsgründungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts.112 110 Vgl. Mommsen, 1848, S. 16f., 303. 111 Schirrmeister, S. 209f. 112 Vgl. Frankreich: Die Charte Constitutionclle vom 4.6.1814 und entsprechend die Charte Constitutionen vom 8.8.1830 enthielten einen ersten Abschnitt »Droit public des Francais« (s. Schubert, Bd. 1, S. 346f.und 364f); differenzierend die Constitution Francaise vom 4.11.1848 mit dem 2. Kapitel »Droits des citoyens garantis par la Constitution«, der zwischen Rechten für »jedermann« (»chaeun«) und den Rechten der »Staatsbürger« (»citoyen«) unterschied (Schubert, Bd. 2, S. 7f). Die »Constitution der Spanischen Monarchie« vom 18. Juni 1837 enthielt einen ersten Titel »Von den Spaniern«, der sich durchweg an »alle Spanier« als Rechtsträger richtete (ebd., S. 105f.). Die »Verfassungsurkunde Portugals« (Carta de Lei) vom 19.4.1826 sprach in ihrem achten Titel von »Allgemeinen Verfügungen und Gewährleistungen der bürgerlichen und politischen Rechte der Portugiesischen Bürger« (ebd., S. 148f). Die Verfassung Griechenlands vom 17.5.1827 (s. Pölitz,

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Überblickt man die Bedeutung des Staatsbürgerrechts der Deutschen, das von den »Grundrechten des deutschen Volkes« konstituiert wurde, stellte es eine revolutionäre Kodifikation dar. Erstmals wurde die Staatsangehörigkeit eines nationalen deutschen Bundesstaates geschaffen. Durch die Definition, wer Deutscher war, wurde Deutschland nach außen und nach innen abgegrenzt. Erst auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Staatsangehörigkeit wurden die Deutschen Träger der Grundrechte.113 Diese Rechte führten auch in den verfassungslosen Staaten Deutschlands Grundrechtsgewährleistungen ein, präzisierten und erweiterten die vorhandenen Grundrechtskataloge der konstitutionellen Bundesstaaten. Der enge Zusammenhang zwischen deutscher Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft wird am Beispiel der Juden deutlich. Der Bericht des Verfassungsausschusses formulierte den Grundsatz der Gleichheit als antiständisches Programm: »Alle Deutschen sind gleich vor dem Gesetze. Standesprivilegien finden nicht statt.« Auf die Religionsfreiheit bezogen, die jedem »Deutschen« gewährleistet wurde, folgte daraus als Konsequenz: »Durch das religiöse Bekenntniß wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt«.114 Aber waren Juden Deutsche? Diese Frage warf eine doppelte Problematik auf, die sowohl das Staatsrecht als auch das politisch-kulturelle Grundverhältnis zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden berührte. Staatsrechtlich konnten Juden - nach der politisch-territorialen Lösung, die sich in den Verfassungsdebatten abzeichnete, - nur dann »Deutsche« sein, wenn sie Angehörige der Staaten waren, die das Deutsche Reich bildeten115. »Angehörige« der Staaten bedeutete, daß Juden nicht kraft ihrer religiösen Zugehörigkeit als Ausländer, als ›Fremde‹, behandelt wurden. Das war, wie gezeigt116, vor der Revolution z. B. in Preußen nicht der Fall: Erst das Gesetz vom 6. April 1848 hob den in Posen bestehenden diskriminierenden Status der ›nicht naturalisierten‹ Juden auf, der S. 522f.) stellte in Art. 5 das »Staatsrecht der Hellenen« auf, das allein die vollen politischen Rechte umfassen sollte. Die Staatsverfassung Belgiens vom 25.2.1831 sprach im zweiten Titel »Von den Belgiern und ihren Rechten«, wobei einige Rechte ausschließlich Belgiern, andere »jedem« garantiert wurden (Schubert, Bd. 2, S. 315f). Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg vom 9.7.1848 enthielt ein zweites Kapitel »Des Luxembourgeois et de leurs Droits« und stellte in Art. 11 das Prinzip auf, das für alle Verfassungsstaaten der Zeit vor und in der Revolution von 1848 galt: »(La naturalisation) seulc assimile l'étranger au Luxembourgeois, pour l'exercice des droits politiques« (Ebd., S. 287f). 113 Zu dieser grundsätzlichen Wirkung des Grundrechtsgesetzes vom 27. Dezember 1848, das indessen nicht in allen Staaten, unter anderem den bereits unter dem Einfluß der Gegenrevolution stehenden Preußen und Österreich, verkündet wurde, vgl. Huber, Verfassungsgeschichtc, Bd. II, S. 782f. 114 Vgl. §§ 6, 13, Bericht des Verfassungsausschusses, Droysen, Anlage 5, S. 372f. 115 § 131 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849. 116 S. oben Kap. II.3.

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achtzig Prozent der jüdischen Bevölkerung betraf.117 Nun erst wurde beinahe ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Preußens aus dem Status der Fremden zu »Untertanen« erhoben.118 Im Dezember 1848 schaffte Preußen schließlich die Diskriminierung der Juden im Naturalisationsverfahren ab.119 Erst diese volle Anerkennung der Juden als Staatsangehörige Preußens schuf staatsrechtlich die Voraussetzung für ihren Status als Staatsbürger des Deutschen Reiches und damit als ›Deutsche‹. Die Frage indessen, ob ein Jude ›Deutscher‹ sein könne, ging 1848 nicht in einer staatsrechtlichen Konstruktion auf Dies anzuerkennen hieß, Juden aufgrund ihrer vollen Emanzipation nicht nur als vollberechtigte Mitglieder des deutschen ›Nationalstaats‹, sondern auch als Mitglieder der deutschen ›Nation‹ anzuerkennen. Daß diese Begriffe nicht gleichgesetzt wurden, die Zugehörigkeit zur deutschen ›Nation‹ vielmehr als spezifische, engere Voraussetzung für die Mitgliedschaft im deutschen Nationalstaat begriffen werden konnte, zeigt eine grundsätzliche Kontroverse, die in der Paulskirchenversammlung aufbrach. Hinter der Feststellung, daß das religiöse Bekenntnis den »Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt«,120 stand die Auffassung, daß die Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben einen von Staats wegen nicht zu beachtenden Unterschied gegenüber christlichen Staatsbürgern darstellte. Danach konnten Juden nicht nur Deutsche sein, sie mußten vom Staat als solche behandelt werden. Eben dieser Grundauffassung widersetzte sich der württembergische Liberale Moriz Mohl. Er repräsentierte in aller Schärfe den entgegengesetzten Standpunkt. Mohl erklärte: »Wir wollen human sein gegen die Israeliten, so human wie immer möglich, aber, meine Herren, unsere erste Pflicht ïst gegen das deutsche Volk«.121 Apodiktisch schickte er voraus: »Die Israeliten gehören vermöge ihrer Abstammung, das wird Niemand leugnen, dem deutschen Volk nicht an, und sie können demselben ganz und vollkommen niemals angehören«. Dies war der unbemäntelte Rückgriff auf einen gänzlich unpolitischen, aterritorialen Begriff des Deutschen, der absolute ethnische Schranken errichtete, der staatsbürgerlichen Emanzipation unüberwindliche Hindernisse entgegensetzte und Sondergesetze forderte.122 Gabriel Riesser, der herausragende jüdische Parlamentarier der Paulskirche, setzte in nüchterner Ironie dagegen, die Juden hätten zwar »in der bisherigen 117 Vgl. Toury, Soziale und politische Geschichte, S. 286; Rümp, Tortuous and Thorny Path, S. 30. 118 Zahlen nach Toury, Soziale und politische Geschichte, S. 10f. (jüdische Bevölkerung Preußens 1843: 206.527; jüdische Einwohner der Provinz Posen 1846: 81.289). 119 Dazu näher Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 85f. 120 Vgl. § 146 Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849. 121 S. Wigard III, 67. Sitzung (29.8.1848), S. 1750, 1754 (Zitat). 122 Moriz Mohl plädierte für ein Sondergesetz., ebd., S. 1754.

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Unterdrückung, das Höchste, den vaterländischen Geist, noch nicht erreicht [...]. Aber auch Deutschland hat es noch nicht erreicht«, um zukunftsgewiß hinzuzufügen: »Die Juden werden immer begeistertere und patriotischere Anhänger Deutschland's unter einem gerechten Gesetz werden. Sie werden mit, und unter den Deutschen Deutsche werden. Vertrauen Sie der Macht des Rechts, der Macht des einheitlichen Gesetzes und dem großen Schicksale Deutschland's«.123 Riessers Grundsatzrede entwarf das Gegenmodell zu Mohl: eine politische, auf die Kraft der Assimilation durch staatliche Institutionen setzende Konzeption des Nationalstaats. Sie enthielt zudem das herausragende Bekenntnis eines deutschen Juden zum Patriotismus in Gestalt eines Versprechens: Indem Juden als ›Deutsche‹, d. h. als vollberechtigte deutsche Staatsbürger Anerkennung fanden, würden sie auch als überzeugte ›Deutsche‹ handeln. Dahinter stand zugleich die konsequente Ablehnung der jüdischen Gemeinschaft als eigenständiger ›Nation‹, die Vorstellung vom nationalen Aufgehen der Juden in der territorialen und staatlichen Einheit Deutschland.124 Damit sprach Riesser für die ganz überwiegende Mehrheit der deutschen Juden. Das politische Bewußtsein, »Deutscher« zu sein, setzte für die Juden im künftigen deutschen Nationalstaat eine revolutionäre Veränderung des innerjüdischen Bewußtseins voraus. Die politische Aktivierung der Juden im Verlauf und in der Folge der Ereignisse von 1848 löste diesen Bewußtseinswandel aus und bedeutete zugleich einen »innerjüdischen Wendepunkt.«125 Viele Juden, die sich während des Vormärz politisch passiv verhalten hatten, identifizierten sich nunmehr offen mit der Revolution. Es kam zu keiner allgemein-jüdischen Stellungnahme, die die Partikularität der Juden als Gruppe betont hätte. Juden ergriffen vielmehr Partei im Rahmen der allgemeinpolitischen Gruppierungen. Der Verzicht auf gemeinsame jüdische Reaktionen - nicht einmal auf die terrorartigen Pogrome in vielen deutschen Städten zu Beginn der revolutionären Ereignisse126 - wurde als Beitrag zum Gelingen der Revolution betrachtet. In dem weit verbreiteten Stolz darauf, »Deutscher« zu sein, erschien das gutgesinnte deutsche Volk als Gegensatz zum judenfeindlichen Pöbel. Das hergebrachte spezifisch jüdische Zusammengehörigkeitsgefühl erlitt während der Revolution einen Bruch und begann sich in der Folge auf das »spirituelle(...) Band eines individuellen mosaischen Konfessionalismus«127 zu reduzieren. Die Revolution ließ religiöse Indifferenz und Säkularisierung in den traditionellen 123 S. ebd., 67. Sitzung ( 29.8.1848), S. 1757. 124 Vgl. dazu Rinott, S. 16f. 125 So Toury, Revolution von 1848, S. 364,367,369; Lindner, S. 263, spricht von einem »ideologischen Umformungsprozeß«. 126 Vgl. Rürup, Fortschritt und seine Grenzen, S. 987f.; Rohrbacher, S. 228f. 127 Toury, Revolution von 1848, S. 369.

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jüdischen Gemeindeverband eindringen und begann ihn durch die Identifizierung mit dem Deutschtum zu ersetzen.128 Die Paulskirchenverfassung löste schließlich die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden als Deutsche vom religiösen Bekenntnis. Die politischterritoriale Konzeption der deutschen Staatsangehörigkeit erstreckte sich danach ohne Einschränkung auch auf Juden. Sie wurden, sofern sie einem deutschen Staat angehörten, als »Deutsche« anerkannt und genossen die vollen Rechte eines deutschen Staatsbürgers. Die staatsrechtliche Vollemanzipation des Jahres 1848 markiert eine revolutionäre Zäsur in der deutsch-jüdischen Geschichte, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit dem innerjüdischen Bewußseins- und Mentalitätswandel,129 der mit dem Jahr 1848 das Leitbild des »deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens« an die Stelle einer eigenständigen jüdischen Nation‹ setzte. Freilich hatte die Entwicklung der Debatte um die Reichsstaatsangehörigkeit gezeigt, daß das ambivalente Nebeneinander einer politisch-territorialen und einer ethnisch-kulturellen Konzeption ungeachtet der textlichen Festlegung in der Verfassung erhalten blieb. Entsprechendes galt für die Dekretierung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden. Ob Juden auch als ›Deutsche‹ behandelt wurden, mußte sich erst in der staatlichen Praxis erweisen, die auf das revolutionäre Verfassungsdekret folgte. Die Debatten der Nationalversammlung hatten die fortbestehenden Vorbehalte deutlich gemacht. Faßt man die Ereignisse des Revolutionsjahrs 1848 zusammen, blieb die Imagination des ›Deutschen‹ in der deutschen Nationalversammlung ambivalent, auch wenn der Verfassungstext eine eindeutige Sprache zu sprechen schien. Überblickt man die Debatten insgesamt, verlagerte sich die politische Argumentation vom Territorialitäts- auf das Nationalitätsprinzip, eine Verschiebung, die im Verfassungstext nicht mehr entsprechend zum Ausdruck kam. Mit dem Schwinden der politischen Aussichten auf ein Österreich einschließendes »Großdeutschland« zum einen, dem außenpolitisch erzwungenen Verzicht auf das ›ganze Schleswig-Holstein‹ zum anderen verlor das Territorialitätsprinzip seinen politischen Zweck: In einem »Kleindeutschland« ohne das multinationale Habsburgerreich war die Durchsetzung sprachlich-ethnischer Homogenität möglich und erschien den Abgeordneten der Nationalversammlung auch politisch zunehmend erstrebenswert. Hinzu kam eine latente Hierarchie nationaler Präferenzen: Gegenüber Dänemark hatte das Festhalten am territorialen Grundsatz der ›Unteilbarkeit‹ der Eibherzogtümer einen national expansiven Vordergrund. Ermöglicht und getragen wurde es aber von der Vorstellung ethnischer und sprachlicher ›Ver128 Vgl. zusammenfassend Volkov, Juden in Deutschland, S. 39f. 129 Revolutionärer Wandel im Sinne »langfristiger Wandlungen im politischen Handeln, in der kollektiven Mentalität der Menschen«, vgl. dazu Jansen u. Mergel, S. 12.

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wandtschaft‹, die sich der organizistischen Metaphern leiblicher Verwandtschaft bediente. Dänen galten als ›stammverwandt‹ mit den Deutschen, als »Brudervolk« des einen »germanischen Stammes«,130 der mit den Deutschen auf »gleicher Kulturstufe«131 stand. Die Existenz einer starken, geschlossenen dänischen Minderheit in Nordschleswig wurde schon deswegen als geringes Integrationsproblem gesehen132 und einer Gebietstrennung nach sprachlichethnischen Kriterien, die ein englischer Vermittlungsvorschlag vorsah, entgegengehalten. Die Bekräftigung der ›Stammverwandtschaft‹ hing indessen auch mit einer gemeinsamen Gegnerstellung zusammen: Die ›Stammverwandtschaft‹ zu den Dänen wurde ausdrücklich im Gegensatz zu den Slawen und zur slawischen Sprache gesehen.133 In bildreicher Sprache verlangte deshalb der greise Ernst Moritz Arndt geradezu von den Dänen, daß »sie ein Brudervolk mit uns sein müssen, damit keine östliche Barbarei und Wildheit, die uns jetzt, ..., aus allen wallonischen und slawischen Völkern bedroht, eindringen« könne.134 Während den Dänen nach Abschluß des Waffenstillstands »ehrliche Freundschaft«135 angeboten wurde, blieb das Verhältnis zu den Polen in Posen von grundlegender Fremdheit, teils Aggressivität geprägt, die eine Trennung der Provinz nach sprachlich-ethnischen Kriterien rechtfertigte, ja sogar erforderlich machte.

130 Vgl. Abg. Ernst Moritz Arndt, Wigard III, 77. Sitzung (14.9.1848), S. 2049; Abg. Georg Bcseler, Wigard IV, 99. Sitzung (19.10.1848), S. 2759. 131 Abg. Wilhelm Jordan , Wigard III, 78. Sitzung (16.9.1848), S. 2086. 132 Abg. Andreas Michelsen, Wigard I, 15. Sitzung (9.6.1848), S. 284: »Es gehen in Schleswig die Volkssprachen allmälig in einander über«. 133 Abg. Michelsen (ebd., S. 284), der die Gemeinsamkeit der deutschen und dänischen im Unterschied zu den slawischen Sprachen hervorhebt. 134 Abg. Ernst Moritz Arndt, Wigard III, 77. Sitzung (19.9.1848), 2050. 135 Abg. Georg Beseler, Wigard IV, 99. Sitzung (19.10.1848), S. 2759.

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IV. Die Entwicklung zum Nationalstaat (1849-1871) Die Geschichte der Staatsangehörigkeit in den deutschen Staaten zwischen der Revolution von 1848/49 und der Zeit der Reichseinigung zwischen 1866 und 1871 zeichnet sich durch die inhaltliche Angleichung, also durch die Homogenisierung der staatlichen Regelungen aus. Diese Entwicklung vollzog sich zum einen in den Staaten selbst, zum andern wurde sie vorangetrieben durch den Ausbau und die Verdichtung zwischenstaatlicher Regelungen der Staatsangehörigkeit. Beiden Vereinheitlichungstendenzen lag eine sozioökonomische Veränderung zugrunde: Die zunehmende Industrialisierung ab der Jahrhundertmitte löste eine Bewegung der (Arbeits-) Wanderung aus, die in neuem Umfang staatliche Grenzen überschritt, und zwar in doppelter Hinsicht: Neben der anhaltenden Auswanderung aus dem Gebiet des Deutschen Bundes kam es in bisher unbekanntem Umfang zu Wanderungen1 zwischen den deutschen Staaten. 1. Konvergenz der Staatsangehörigkeitsregelungen: Preußen als Leitbild Die Entwicklung der Staatsangehörigkeit in den wichtigsten Staaten des Deutschen Bundes zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung zeichnet sich gegenüber dem Vormärz durch die Kontinuität inhaltlicher Strukturen und fortschreitende Kodifikation aus. Das Königreich Sachsen erließ im Jahre 1852 als letzter großer Staat des Bundes ein systematisches »Gesetz über Erwerbung und Verlust des Untertanenrechts im Königreich Sachsen«,2 nachdem ein erster Kodifikationsversuch im Zusammenhang mit der Heimatgesetzgebung des Jahres 1834 an einer politischen Kontroverse in der sächsi-

1 Da systematische statistische Erhebungen der Wanderungsbewegungen im Rahmen von Volkszählungen erst in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzen, lassen sich Daten zur staatenübergreifenden Migration bislang nur ansatzweise aus regionalen Erhebungen ableiten, dazu Hochstadt, S. 147f.; zu einem Aufriß der Forschung vgl. Langewiesche u. Lenger, S. 94, 96f. 2 Vom 2.7.1852 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1852, S. 240, samt Ausführungsverordnung, ebd., S. 247).

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schen Ständeversammlung gescheitert war.3 Gerade der Zusammenhang dieser beiden Gesetze zeigte, wie notwendig die eindeutige, das gesamte Territorium erfassende Definition der Staatsangehörigkeit war: Das Heimatgesetz von 1834 erhob die Staatsangehörigkeit zur Voraussetzung für das Recht auf »Heimat« und damit auf kommunale Armenunterstützung. Mit der wachsenden Zahl Fremder ohne ›Heimat‹ und Staatsangehörigkeit, die das ab der Jahrhundertmitte4 wirtschaftlich expandierende, von einer raschen Industrialisierung erfaßte Sachsen auf Dauer zu ihrem Aufenthaltsort machten, wurde die Definition der Staatsangehörigkeit zu einem sozialen Kernproblem. Ebenso wie der preußische Staat, dessen Heimatgesetzgebung von 1842 vor allem der Vergewisserung diente, wer denn die Armen des Staates seien,5 vollendete nunmehr auch Sachsen seine Heimatgesetzgebung. Wie Preußen griff das postrevolutionäre Sachsen den monarchischen Terminus »Untertan« auf Der rechtstechnische Ausdruck »Staatsangehörigkeit« hatte sich, über seine Verwendung in zwischenstaatlichen Verträgen hinaus, terminologisch noch nicht als umfassender Begriff für die Angehörigkeit des Individuums zum Staat durchgesetzt. Betrachtet man die Prinzipien für den Erwerb der sächsischen Staatsangehörigkeit nach dem Gesetz von 1852, entsprachen sie dem gemeinsamen Regelungsbestand der deutschen Bundesstaaten, wie er sich im Vormärz herausgebildet hatte. Das Geburtsprinzip (qua Abstammung) stand an erster Stelle vor der Legitimation, der Annahme an Kindes statt, der Verheiratung, der Aufnahme durch Naturalisation und der Übertragung eines öffentlichen Amtes. Jegliches territoriale Erwerbselement fehlte. Der badische Staat bekräftigte diese Tendenz, indem er 1854 ausdrücklich die seit 1808 geltende Ersitzung der badischen Staatsangehörigkeit aufgrund eines »zehnjährigen ehrlichen Aufenthalts im Lande« aufhob.6 Lediglich Bayern bewahrte bis 1871 ein territoriales Element: Das bayerische Indigcnat konnte durch »Einwanderung« erworben werden, die aufgrund der »Ansässigmachung« in Bayern ohne ausdrückliche Aufnahme in den Staatsverband erfolgte. Anders jedoch als bei der früheren ›Ersitzung‹ der Staatsangehörigkeit durch zehnjährigen Aufenthalt war die »Einwanderung« in zweifacher Weise formalisiert. Sie setzte die dokumentierte Entlassung aus dem früheren Untertanenverband sowie die ausdrückliche gemeindliche Zustimmung in Gestalt der »Ansässigmachung« voraus. Wie in Preußen war damit ein konkludenter, nur durch tatsächlichen Aufenthalt im Gebiet bedingter Staatsangehörigkeitserwerb ausgeschlossen. Der ›Patentismus‹ und ein - von der Kommune bestätigter - Willensentschluß einer öffentlichen Körperschaft hatten sich damit in Bayern durchgesetzt.7 Mit der Einfüh3 4 schen 5 6

Vgl. Paul, S. 2f., 6. Zur Wandcrungsbilanz, die zwischen 1855 und 1900 - bis auf kurze Stagnationsphase zwi1875 und 1880 - positiv war, s. Höpprier, S. 299. S. o. Kap. II.2. Großherzoglich Badisches Regierungs-Blatt 1854, S. 51.

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rung des Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870 als Reichsgesetz hob auch Bayern diesen Restbestand des territorialen Erwerbsprinzips auf.8 Im Verhältnis zu den Gemeinden setzte der Staat sein Bestimmungsrecht über die Staatsangehörigkeit weitgehend durch. Preußen, das im Vormärz die Entkommunalisierung der Staatsangehörigkeit am weitesten vorangetrieben hatte, bekräftigte den Grundsatz, daß eine Gemeindeangehörigkeit ohne Staatsangehörigkeit unstatthaft sei, indem Ausländer von den allgemeinen, durch die Mitgliedschaft in der Gemeinde bedingten »Nutzungen und Gerechtsamen«9 ausgeschlossen blieben. Nachdrücklich trat das preußische Innenministerium Versuchen der Ortspolizeibehörden entgegen, die Übersiedlung und die Naturalisation von Ausländerinnen, die einen Preußen heirateten, deshalb abzulehnen, weil »aus der Niederlassung solcher Frauenspersonen Schaden für die Gemeinde zu befürchten stehe.«10 Die Einbürgerung der nach Preußen einheiratenden Frauen wurde vollständig verstaatlicht, indem in diesen Fällen die allgemeinen Naturalisationsvoraussetzungen, mithin auch das gemeindliche Anhörungsrecht, für nicht anwendbar erklärt wurden. Andererseits konnte auch der preußische Staat gemeindliche Belange und die Bedingungen kommunaler Integrierbarkeit der Eingebürgerten nicht außer acht lassen. Zu Beginn der fünfziger Jahre häuften sich Fälle, in denen Einbürgerungsbewerber aufgrund von Bedenken der Niederlassungsgemeinde abgelehnt worden waren und die daraufhin in einer anderen Gemeinde die Aufnahme in den preußischen Staatsverband erreicht hatten. Aufgrund der kommunalen Niederlassungsfreiheit für alle preußischen Staatsangehörigen waren die neu Eingebürgerten anschließend in die Gemeinde ihrer Wahl zurückgezogen, ohne daß diese sich dagegen wehren konnte. Um dieser Umgehung kommunaler Mitwirkungsbefugnisse zu begegnen, ordnete das preußische Innenministerium -wie bereits 1836 Baden11- an, daß mit der Naturalisation grundsätzlich eine dreijährige Umzugssperre verbunden war.12 Diese Maßnahme stand im Zusammenhang einer grundsätzlich restriktiven Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik Preußens zu Beginn der fünfziger Jahre. Um das Eindringen insbesondere von Angehörigen »der gewerbetreibenden und arbeitenden Klasse« zu vermindern, die den in anderen Staaten bestehenden Gewerbe- und Heiratsbeschränkungen entgehen wollten, wurde Einbür7 Vgl.Kutz, S. 4. 8 S. Ministerialerlaß vom 9. Mai 1871, den Vollzug des Norddeutschen Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 betr. (in: Weber, Bd. 9, 4. Mai 1871 bis 25. Mai 1873). 9 Vgl. § 12 Preußisches Untertanengesetz vom 31.12.1842; Ministerialreskript vom 23.12.1844, in: Mascher, Staatsbürger-, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht, S. 38. 10 Mascher, ebd., S. 24. 11 Vgl. Badisches Ministerium des Innern an die Regierung des Oberrheinkreises, 2.5.1836, GLA Nr. 10653. 12 PrMBliV 11 (1850), S. 104, und 12 (1850), S. 132.

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gerungsbewerbern die schriftliche Versicherung abverlangt, daß sie sich zuvor bei keiner anderen Behörde des Staates um die Einbürgerung beworben hatten.13 Grundsätzlich wurde die Frage, ob die Ansiedlung eines Ausländers im Interesse des Orts der Niederlassung angeraten sei, zunächst der Ortsobrigkeit überlassen.14 Während also dem Staat das Letztentscheidungsrecht über die Naturalisation reserviert war, wurden die verbleibenden kommunalen Mitwirkungsrechte gestärkt, um örtliche Abwehrinteressen als Filter staatlicher Einwanderungspolitik nutzbar zu machen. Württemberg hatte, wie oben gezeigt,15 bereits in der Verfassungsurkunde von 1819 mit dem hergebrachten Prinzip gebrochen, nach dem die Staatsangehörigkeit lediglich ein Ausfluß der Gemeindeangehörigkeit war. Der Erwerb der Staatsangehörigkeit setzte eine Gemeindeangehörigkeit nicht mehr voraus, wohl aber umgekehrt. Auch in Baden war seit 1831 das kommunale Bürgerrecht an den vorgängigen Erwerb der Staatsangehörigkeit geknüpft.16 Das sächsische Gesetz von 1852 machte zwar die Aufnahme in den Untertanenverband grundsätzlich von der Aufnahmezusicherung einer bestimmten Gemeinde abhängig, behielt aber im Konfliktfall der staatlichen Regierungsbehörde das Recht über die Einbürgerungsentscheidung vor.17 Während also insbesondere Baden und Württemberg den staatlichen Primat durchsetzten und die nach tradiertem süddeutschem Recht starke Stellung der Gemeinden durchbrachen, bewahrte Bayern bis 1872 ein - förmlich begrenztes - originäres Bestimmungsrecht der Gemeinden über die Staatsangehörigkeit. Das bayerische Heimatgesetz von 1868 und die Gemeindeordnungen von 1869 sahen vor, daß Ausländern durch die Gemeindeverwaltung mit dem Heimatrecht bzw. Bürgerrecht zugleich das bayerische Indigenat verliehen werden konnte.18 Erst mit dem Beitritt Bayerns zum Deutschen Reich wurde dieses Prinzip abgeschafft: Fortan setzte der Erwerb des gemeindlichen Heimat- und Bürgerrechts die staatliche Verleihung des bayerischen Indigenats voraus.19 Damit war die Trennung von Staatsangehörigkeit und Gemeinderechten voll13 Circular-Verfügung des preußischen Innenministers , PrMBliV 14 (1853), S. 118. 14 Ministcrial-Reskript vom 28.8.1845, Mascher, Staatsbürger-, Niederlassungs- und Aufenthaltsrccht, S. 35. 15 S. o. Kap. I.3. 16 Gesetz über die Rechte der Gemeindebürger und die Erwerbung des Bürgerrechts vom 31.12.1831, §40 (Badisches Regierungsblatt 1832, S. 117). 17 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Untcrthancnrechts im Königreiche Sachsen vom 2.7.1852, § 7 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1852, S. 24()f. 18 Gesetz über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt vom 16.4.1868 (Weber, Bd. 7), dazu die Vollzugsinstruktion vom 29.6.1868 (vgl. von Riedel's Commentar, S. 254; Gesetz vom 29.4.1869, die Gemeindeordnung für die Landesteile diesseits des Rheins betreffend, § 14 (Weber, Bd. 7, S. 699); Gesetz vom 29.4.1869, die Gemeindeordnung für die Pfalz betreffend, § 14 (Weber, Bd. 8). 19 Ministerialerlaß vom 9.5.1871 (Weber, Bd. 9, S. 6).

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zogen, der Aufnahme in den Staat zeitliche und sachliche Priorität vor dem Erwerb der kommunalen Rechte eingeräumt.20 Im Verhältnis zwischen Staats- und Familienverband bekräftigte die Einbürgerungspolitik der großen deutschen Staaten den hergebrachten Grundsatz der Patrilinearität: Eheliche Kinder erwarben die Staatsangehörigkeit des Vaters mit der Geburt oder der Einbürgerung des Familienvaters. Ehefrauen folgten in Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit dem Ehemann. Unehelich geborene Kinder erhielten qua Geburt die Staatsangehörigkeit der ledigen Mutter. Wie sehr das dahinterstehende Prinzip der ›Einheit der Familie‹ auf den Ehemann und Familienvater ausgerichtet war, erwies sich wie bereits in Preußen während der vierziger Jahre an seiner Grenze, bei der Behandlung unehelicher Kinder. In Preußen wie auch in anderen Staaten wurde die staatsangehörigkeitsrechtliche Einheit zwischen Kindern und ihren ledigen Müttern bei der Einbürgerung gelöst. Heiratete eine Ausländerin einen Preußen, der nicht Vater ihrer Kinder war, wurden diese nicht automatisch durch Legitimation Preußen; vielmehr blieben sie in ihrem ursprünglichen Untertanverhältnis. Der preußische Staat behielt sich ihre Einbürgerung nach allgemeinen Kriterien vor.21 Deutlicher noch hob der sächsische Staat die Familieneinheit bei ›mitgebrachten‹ Kindern einer Ausländerin auf, und zwar nicht nur bei unehelichen, sondern auch bei ehelichen, und behielt sich eine »ausdrückliche« Aufnahme in die Untertanschaft im Einzelfall vor.22 Die württembergische Regierung nahm selbst die durch die Ehe einer Ausländerin mit einem Württemberger legitimierten Kinder nur aufgrund besonderer Entscheidung in den württembergischen Staatsverband auf.23 Auch Ausländerinnen, die im Ausland einen Württemberger heirateten, erwarben damit nicht selbstverständlich, sondern nur dann die württembergische Staatsangehörigkeit, wenn die neu gegründete Familie im Ausland absehbar »ein genügendes Auskommen« hatte.24 Letztere Maßnahme, die besonders tief in die ›Einheit der Familie‹ eingriff, zeigt, wie sehr die Staatsangehörigkeitspolitik der fünfziger und sechziger Jahre zugleich Bevölkerungspolitik war. Die Staaten versuchten, die Kontrolle über einwandernde Bevölkerungsteile zu bewahren, die über den Familienverband Einlaß in den zu Schutz verpflichtenden Verband des Aufnahmestaats erlangen wollten. Das preußische Innenministerium trat mit seinen Vorschriften der Einwanderung lediger Mütter entgegen, die den Heiratsbeschränkungen ande20 Vgl.beiRehum,S.266f. 21 Aufgrund eines Ministerialbeschlusses vom 21.1.1862, vgl. Mascher, Staatsbürger-, Niederlassungs- und Aufcnthaltsrecht, S. 23. 22 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Unterthanenrechts im Königreiche Sachsen vom 2. Juli 1852, § 11. 23 Vgl. Ministerialerlaß an die Regierung des Neckarkreises vom 22.1.1849, Bazille u.Köstlin, S. 361. 24 Ministerialerlaß an die Kreisregicrungen vom 1./22.2.1849, Bazille u. Köstlin, Recht der Staatsangehörigkeit, S. 362.

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rer deutscher Staaten entgehen wollten. Versuchen, die Schutzbedürftigkeit unehelicher Kinder als moralisches Argument für die Einbürgerung zu nutzen, trat das preußische Innenministerium zu Beginn der fünfziger Jahre vehement entgegen. Entschieden verhinderte der preußische Innenminister wiederholt die Einbürgerung von Ausländern, die mit Preußinnen uneheliche Kinder gezeugt hatten: Betrachte man uneheliche Kinder als Argument für die Einbürgerung, gebe dies ein »bedenkliches Beispiel« und könne eine »gefahrliche Anregung« zur Anknüpfung solcher Verhältnisse geben25. Das soziale Schutzbedürfnis lediger Frauen und ihrer (unehelichen wie ehelichen) Kinder wurde also unter Heranziehung grundsätzlicher Argumente öffentlicher Sittlichkeit aus dem Feld geschlagen. Soweit dem Prinzip der staatsangehörigkeitsrechtlichen ›Einheit der Familie‹ ein individueller Schutzgedanke zugrunde lag, wich er bevölkerungspolitischen, vor allem aber auch ökonomischen Erwägungen, die erst im Zusammenhang der preußischen Gewerbepolitik erkennbar wurden. Eine Gewerberechtsnovelle von 1849 schrieb vor, daß Ausländer sowohl zum Betrieb eines stehenden Gewerbes als auch zur Naturalisation nur »aus erheblichen Gründen« zuzulassen seien.26 Diese Protektion des einheimischen Gewerbes, die bis 1861 aufrechterhalten wurde, war letztlich ausschlaggebend für die restriktive Einbürgerungspolitik gegenüber den Vätern unehelicher Kinder. Die »Schwängerung einer Inländerin«, formulierte es der preußische Innenminister in einer Stellungnahme gegenüber König Friedrich Wilhelm IV, dürfe kein Mittel für ausländische Gewerbetreibende sein, die Einbürgerung in Preußen zu erlangen.27 Mit der Kodifikation der Staatsangehörigkeit verstärkte sich zugleich die Formalisierung des Einbürgerungsverfahrens und die Schärfung einer eindeutigen Staatsangehörigkeit. Im Zuge der Verhandlungen über einen Vertrag zwischen den Bundesstaaten zur gegenseitigen Aufnahme Ausgewiesener und Heimatloser28 hielt das preußische Innenministerium die nachgeordneten Behörden an, die »Duplizität« des Untertanenverhältnisses zu vermeiden und Einbürgerungen nur auf den Nachweis einer Entlassung aus der früheren Staatsangehörigkeit hin vorzunehmen. Das liege auch im Sinne einer Angleichung der Gesetzgebung in den Bundesstaaten.29 Ausnahmen wurden zugelas25 Z. B. Preußischer Minister (v.Westphalen) an König Friedrich Wilhelm IV., 14.12.1853, GSTA Dahlem, Rep. 89, Nr. 15704. 26 Vgl. § 67 Verordnung, betreffend die Einrichtung von Gewerberäthen und verschiedene Abänderungen der allgemeinen Gewerbeordnung, vom 9. Februar 1849, in: Gesetzessammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1849, S. 93. 27 Preußischer Minister des Innern an Friedrich Wilhelm IV., 5.11.1854, GSTA Dahlem, Rep. 89, Nr. 15704. 28 S. unten Kap. IV.2. 29 Preußischer Minister des Innern an die Regierungen, Circular, 4.3.1851; Preußischer Minister des Auswärtigen an den Minister des Innern, 22.6.1852, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 6.

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sen bei dem Eintritt von Offizieren in fremde Heeresdienste, wobei der Heimatstaat die Kontrolle über seine militärischen Interessen durch eine Erlaubnispflicht wahrte.30 Das ließ die Möglichkeit offen, Offizieren, die den militärischen Ehrenkodex durchbrachen und für »Gold, nicht für Ehre«31 in fremden Kriegsdienst traten, die preußische Staatsangehörigkeit abzuerkennen. Die Bindung der Staatsangehörigkeit sowohl an die praktischen Bedürfnisse als auch an das Ethos der Wehrgemeinschaft wurde dahinter erkennbar. Der badische Staat erhöhte ebenso substantiell wie formell die Eindeutigkeit der Staatsangehörigkeit, indem er einen schriftlichen Verzicht auf die frühere Staatsangehörigkeit forderte und Formulare für die Indigenatserteilung vorschrieb.32 Württemberg setzte 1871 mit dem Eintritt in das Deutsche Reich die Eindeutigkeit seiner personalen Staatshoheit durch. Das Privileg der doppelten Staatsangehörigkeit für Standesherrn wurde aufgehoben.33 Damit wirkte die eindeutige Staatsangehörigkeit nicht nur schärfer abgrenzend nach außen, sondern zugleich modernisierend durch die Beförderung der Gleichheit nach innen. In den zwei Jahrzehnten zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung steigerte die Staatsangehörigkeit mit ihrer systematischen und schärferen rechtlichen Konturierung zugleich ihre materielle Bedeutung. Die Staatsangehörigkeit bestimmte darüber, wer Inhaber fundamentaler Freiheitsund Mitwirkungsrechte sowie Träger wirtschaftlicher Rechte und militärischer Pflichten war. Sie wurde im politischen und ökonomischen Sinn zunehmend attraktiv für Einwanderer und ansässige Ausländer. Dies hatte unmittelbar Auswirkungen auf die Praxis der Einbürgerung. Die Kontrolle und Beschränkung der Naturalisation wurde politischer, d. h. sie geriet unter den zunehmenden Einfluß allgemeiner außen-, wirtschafts- und nationalpolitischer Erwägungen. Mit der Politisierung der Ein- und Ausschlußregeln wuchs zugleich das Bedürfnis nach weitreichendem Ermessen der Einbürgerungsbehörden ebenso wie nach Geheimhaltung der Ermessenserwägungen. Ein Beispiel dafür ist die Behandlung polnischer Einwanderer und Einbürgerungsbewerber in Preußen nach der Revolution von 1848/49. Mit der Niederschlagung des polnischen Aufstands in Rußland im Jahre 1831 und der gescheiterten Neugründung eines polnischen Nationalstaats im Zuge der revolutionären Ereignisse waren zahlreiche polnische Flüchtlinge und Emigranten, insbesondere aus den polnischen Gebieten Rußlands, nach Preußen ge30 §§ 25, 26 Preußisches Untertanengesetz vom 31.12.1842 (Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 15) ließen den Eintritt eines Preußen in fremde Staatsdienste nur mit Erlaubnis des Königs zu. Der unerlaubte Eintritt in fremde Staatsdienste wurde bestraft. 31 Pr. Minister des Innern an Minister des Äußern, 31.3.1865, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 8. 32 Vgl. Verfügung des Ministeriums des Innern vom 7. Oktober 1864 (in: Gesetze über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit, Berlin 1898, S. 381) 33 Bazillen. KöstIin,S. 138.

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langt. In der preußischen Behördensprache wurden sie mit diskriminierendem Unterton vielfach »Überläufer« genannt. Sie siedelten vor allem in den an Kongreßpolen angrenzenden Kreisen, insbesondere in der Provinz Posen. Die preußische Regierung verfolgte diese Flüchtlingsbewegung mit verschärften Kontrollmaßnahmen. Der nationalpolitische Interessenkonflikt über Posen, der in der Revolution gewaltsam aufgebrochen und zum Wendepunkt im deutsch-polnischen Verhältnis insgesamt geworden war, schlug sich direkt in restriktiven Maßnahmen der preußischen Innenbehörden nieder. Polnische »Überläufer« wurden dazu verpflichtet, sich mit Aufenthaltskarten zu versehen. Im Frühjahr 1852 beriet das Innenministerium über grundsätzliche Maßnahmen, um die sich in großer Zahl in den Ostprovinzen aufhaltenden polnischen Emigranten »möglichst unschädlich zu machen«, ihren etwaigen Absichten auf »Erregung von Unruhe« zu begegnen und das »deutsche Element möglichst zu stärken«, daneben aber zugleich das »Wohl der Grundbesitzer« zu fördern.34 Die doppelte, sowohl nationalpolitische als auch ökonomische Motivation der Maßnahmen gegenüber polnischen Emigranten schlug sich unmittelbar in der Einbürgerungspolitik nieder. Der Oberpräsident der Provinz Posen, eine wichtige Mittlerinstanz zwischen zentralen und lokalen politischen Interessen innerhalb der Provinz, in der die Mehrzahl der polnischen Bevölkerung Preußens lebte, formulierte als Grundsätze der Naturalisation: »Politisch verbietet sich jede Naturalisation, aus welcher ein Zuwachs von Kräften entsteht, welche vorzugsweise eine Herstellung der polnischen Nationalität zur Selbständigkeit anstreben [...]; nationalökonomisch erscheint jede Naturalisation bedenklich, welche einen Zuwachs an hervorbringenden/produktiven Kräften verspricht, sofern dadurch den im Inland bereits vorhandenen gleichartigen Kräften eine gefahrliche Konkurrenz bereitet wird«. Er wies daher die nachgeordnete Behörde an, bestimmte Personengruppen nicht zur Einbürgerung zuzulassen. Zu ihnen gehörten Personen, die an politischen Aktivitäten zur Herstellung des polnischen Reiches beteiligt waren, also »die älteren Emigranten und sonst politisch compromittierte Personen jeder Art«, sowie Personen, deren Abhängigkeit von oder Übereinstimmung mit dem polnischen Großgrundbesitz, der polnischen Presse oder dem polnischen Klerus bestand. Bei Gewerbetreibenden sollten die durch die Verordnung von 1849 verschärften Vorschriften der allgemeinen Gewerbeordnung Anwendung finden; allein die Naturalisation von »Personen des ländlichen Gewerbes« sollte unbedenklich sein.35 Ziel des Posener Oberpräsidenten war es, die »Leichtigkeit der Naturalisation, dieses stark wirkenden Reizmittels, für immer neue Ein34 Protokoll der Sitzung im preußischen Innenministerium, 8.5.1852, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 1. 35 Oberpräsident der Provinz Posen an die Regierung Bromberg, 8.1.1852, »Grundsätze über die Naturalisation für polnische Überläufer und Flüchtlinge«, GSTA Dahlem, Rep. 77, Nr. 1176, Nr. 2a, Bd. 1. 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

dringlinge« zu beschränken.36 Der Grund für eine solche restriktive Einbürgerungspolitik mit langen Aufenthaltsfristen bestand darin, die Arbeitskraft und Anpassungsbereitschaft der Bewerber über einen längeren Zeitraum zu kontrollieren und zu forcieren. Die Furcht vor der Auslieferung als »Schwert des Damokles«, so sah es der Oberpräsident Schlesiens, machte die polnischen Arbeiter zu »folgsamen und fleißigen, von den Dirigenten unserer großen gewerblichen Etablissements gern gesehenen Arbeitern«.37 In geheimen »Instruktionen« des Posener Oberpräsidenten vom Dezember 1852 zeigte sich eine Grundtendenz, welche die folgenden zwei Jahrzehnte der preußischen Einbürgerungspolitik gegenüber Polen und Juden prägte: Je stärker das staatliche Interesse an der Kontrolle und Abwehr bestimmter Gruppen war, desto eher wurde die Einbürgerungsentscheidung auf eine höhere Verwaltungsebene gehoben und zentralisiert. Die Instruktionen sahen vor, daß insbesondere die Einbürgerung polnischer katholischer Geistlicher nicht mehr bei den Regierungen, sondern beim Oberpräsidenten liegen sollte. Bei Teilnehmern an der »Insurrektion von 1831« sollte die Zustimmung des Innenministeriums eingeholt werden38. Ein Erlaß vom Januar 1853, der 1855 aus Anlaß des Einbürgerungsantrags eines »polnischen Juden« bestätigt wurde, legte fest, daß »kein fremder Pole«, also nicht nur polnische Überläufer, ohne ministerielle Zustimmung eingebürgert werden sollte.39 Dieser Erlaß wurde schließlich auf alle russischen Untertanen ausgedehnt, um dann in einer Phase der Liberalisierung im Herbst 1857 auf die Angehörigen des höheren Bürger- bzw. Adelsstandes beschränkt zu werden.40 In der Folge des gescheiterten polnischen Aufstands von 1861 in Rußland erfuhr auch in Preußen die nationalpolnische Bewegung eine solche Verstärkung, daß das preußische Innenministerium erneut alle Einbürgerungen von Polen und Russen zentraler Kontrolle unterwarf41 Bereits 1861 hatte der Oberpräsident Posens Anweisung gegeben, alle Anhänger der polnischen Bewegungspartei als potentielle Agitatoren von der Einbürgerung auszuschließen. Polnische Flüchtlinge der ersten Generation sollten nur dann »Bedeutung für den Staat« haben und ausnahmsweise eingebürgert werden können, falls sie sich verheirateten und Aussicht auf Nachkom36 Oberpräsident der Provinz Posen an den preußischen Innenminister, 24.7.1852, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 1. 37 Oberpräsident Schlesien an den Minister des Innern, 22.2.1854, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 2. 38 Oberpräsident Posen, Instruktion über die Aufnahme und polizeiliche Beaufsichtigung der polnischen Flüchtlinge, 1.12.1852, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 1. 39 Minister des Innern an die Regierung Marienwerder, 5.7.1855, sowie 31.3.1857, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 2. 40 Minister des Innern an die Regierungen und den Polizeipräsidenten von Berlin, geheimes Circular, 9.10.1857, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 3. 41 Minister des Innern an die Regierungen und den Polizeipräsidenten von Berlin, Circular, 29.1.1863, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 3.

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menschaft verhießen, die dem Heere nicht entzogen werden konnte.42 In ständiger Praxis der Provinz Posen wurden in den folgenden Jahren Polen, die den höheren Ständen angehörten, von der Einbürgerung ausgeschlossen.43 Demgegenüber wurden die Angehörigen der »arbeitenden Klassen« bevorzugt, und zwar sowohl aus politischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen: Insbesondere an landwirtschaftlichen Arbeitskräften herrschte Mangel. Der »polnische Landarbeiter« war nach dem Urteil der preußischen Behörden »wegen seiner Gefügigkeit, seiner Anstelligkeit, seiner Ausdauer und seiner geringen .Ansprüche« bei den deutschen Landwirten beliebt, zudem nicht anfällig für revolutionäre Bestrebungen.44 Überblickt man die Entwicklung der Einbürgerungszahlen aus Rußland eingewanderter Polen in Preußen zwischen 1849 und 1870, läßt sich erst ab Mitte der fünfziger Jahre ein deutlicher Anstieg feststellen. Am Beispiel sechs ausgewählter Verwaltungsbezirke,45 die mehr als neunzig Prozent der polnischen Einbürgerungen vollzogen, zeigt sich, daß nach einer restriktiven Phase in der ersten Jahrzehnthälfte die liberalere Politik gegen Ende des Jahrzehnts die Einbürgerungszahlen auf das Doppelte ansteigen ließ. Dann griffen erneut die Restriktionen nach dem Aufstand von 1861 und senkten die Zahlen stetig bis 1870.46 Mit Nachdruck bestand der Posener Oberpräsident auch nach der Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1866 darauf, daß die Grundsätze der preußischen Einbürgerungspolitik in einer »der deutschen Nationalität entsprechenden Weise«47 gehandhabt wurden. Das Bundesgesetz von 1870 ließ denn auch diesem politischen Verlangen den gewünschten rechtlichen Ermessensspielraum.48 Die juristisch-technischen Grundprinzipien der Staatsange42 Oberpräsident der Provinz Posen an den Minister des Innern, 4.1.1863, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 3. 43 Oberpräsident Posen an den Minister des Innern, 22.3.1866 und 22.7.1867, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 3. 44 Oberpräsident Posen an den Minister des Innern, 22.3.1866 und 31.7.1869 (Zitat). 45 Herangezogen wurden die Erhebungen der preußischen Innenbehörden über die zwischen 1849 und 1880 aus Rußland eingewanderten und eingebürgerten russischen Staatsangehörigen polnischer Nationalität (vgl. dazu die Erhebungen und die Zusammenstellung in GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Beiheft 1) Es handelt sich um die fünf Regierungsbezirke Gumbinnen, Posen, Bromberg, Oppeln, Königsberg, die mit weitem Abstand die meisten Polen einbürgerten. Hinzugenommen wurde der - allerdings in den Daten bis 1860 lückenhafte - Bezirk des Polizeipräsidenten von Berlin. Die Verwaltungsbezirke zusammen verzeichneten zwischen 1849 und 1880 mehr als 90 % , d. h. 8252 der insgesamt 9038 eingebürgerten Personen polnischer Nationalität. 46 In den sechs Verwaltungsbezirken wurden 1849: 97, 1850: 77, 1855:185, 1860:364, 1865: 320 und 1870: 252 Personen polnischer Nationalität (russischer Staatsangehörigkeit) eingebürgert. 47 Oberpräsident Posen an den Minister des Innern, 22.7.1867, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 176, Nr. 2a, Bd. 3 48 S. unten Kap.V.3. und 7.

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hörigkeit im Bundesstaat wurden damit vereinheitlicht, ihre politische Handhabung hingegen wechselnden Macht- und Opportunitätsfragen anheimgestellt.49 Die restriktive Einbürgerungspolitik gegenüber Polen folgte primär nationalpolitischen, erst in zweiter Linie wirtschaftlichen Erwägungen, zumal landwirtschaftliche Arbeitskräfte in Preußen benötigt wurden. Mehr noch als die Gruppe der Polen war die Gruppe der Juden Ziel von Einbürgerungsrestriktionen. Es gab beträchtliche Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen. Ein Großteil der eingewanderten Juden, welche die preußische Staatsangehörigkeit beantragten, war polnischer Nationalität.50 Doch entsprang die besonders scharfe Kontrolle jüdischer Einbürgerungen zusätzlichen Motiven. Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts erlebte die jüdische Minderheit in Deutschland einen sozialen Aufstieg, der sich schneller und umfassender als der jeder anderen soziokulturellen Gruppe vollzog. Juden partizipierten nicht nur am industriellen Take-off der ausgehenden fünfziger und sechziger Jahre. Sie spielten darin mit ihrer traditionell großen, zudem wachsenden Bedeutung im Handel, Bank- und Finanzwesen, ihrem Erfolg in den Bereichen der Konsumgüter-, später auch der modernen Elektro- und Chemie-Industrie eine zunehmend aktive Rolle. Preußen, das Kernland der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Aufschwungs, wurde zunehmend attraktiv für einwandernde Juden. Ungeachtet des anhaltenden Auswanderungsüberschusses erhöhten sich ab der Mitte der fünfziger Jahre die Einbürgerungsraten der Juden.51 Eingewanderte Juden wurden in Preußen seßhaft, wollten »Preußen« werden und standen in wirtschaftlicher Konkurrenz zu den einheimischen Handwerkern und Kaufleuten. An eben dieser wirtschaftlichen Konfliktlinie entbrannten die Auseinandersetzungen um die Voraussetzungen der Einbürgerung in Preußen. Äußerer Anlaß der Meinungsverschiedenheiten war die Frage, ob die Einbürgerung von Juden insofern einem Sonderrecht unterstellt blieb, als sie in jedem Fall einer speziellen Genehmigung durch das preußische Innenministerium unterworfen war. Mit dem zentralisierten Zustimmungsvorbehalt behielt das Ministerium ein wirksames politisches Steuerungsinstrument der gesamten jüdischen Einwanderung und Einbürgerung in der Hand. Es war in der preußischen Verwaltungspraxis Unklarheit darüber entstanden, ob das aus der Revolutionszeit stammende Gebot der Gleichstellung von Christen und Juden in der Einbürgerung durchgriff oder die diskriminierenden Einbürgerungsvorschriften für 49 S.dazu unten, Kap. V. 5., VI.4, VII.4. 50 Behördliche Zählungen für den Zeitraum 1849 bis 1880 ergaben, daß von 9.038 aus den polnischen Gebieten Rußlands Eingebürgerten mehr als ein Drittel jüdischer Religionszugehörigkeit war, vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 79. 51 S.ebd., S.77f.

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Juden aus vorrevolutionärer Zeit weiterhin galten.52 Mit der Aufhebung der Frankfurter Grundrechte im Jahre 1851 hatte nämlich der restaurierte Deutsche Bund zugleich die zentrale Emanzipation der Juden rückgängig gemacht. Sachsen erhielt daraufhin in dem Untertanengesetz von 1852 die Sonderbeschränkungen für Juden aus vorrevolutionärer Zeit aufrecht. Baden schloß 1862 die Judenemanzipation ab. Württemberg erkannte erst mit dem Emanzipationsgesetz von 1864 die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden an.53 Das preußische Innenministerium beendete 1855 die Unsicherheiten der Verwaltungspraxis. Ungeachtet des religiösen Diskriminierungsverbots in der preußischen Verfassung von 185154 stufte es das revolutionäre Recht zu bloßen »Grundsätzen« herab und erhielt die ministerielle Genehmigungspflicht für den Aufenthalt und die Naturalisation von Juden in vollem Umfang aufrecht. Lediglich die Aufenthaltsgenehmigung für jüdische Rabbiner wurde an die Regierungspräsidenten delegiert.55 Die volle praktische Bedeutung dieses fortbestehenden Ausnahmerechts gegen Juden wird erst erkennbar, wenn man seinen inneren Zusammenhang mit der bereits erwähnten Kontingentierungsvorschrift gegen ausländische Gewerbetreibende aus dem Jahre 1849 sieht. Diese Verordnung schrieb vor, daß Ausländer sowohl zum Betrieb eines stehenden Gewerbes als auch zur Naturalisation nur »aus erheblichen Gründen« zuzulassen seien.56 Mit dieser Vorschrift war den preußischen Behörden eine Handhabe zur Verhinderung jeder Seßhaftmachung konkurrierender ausländischer Gewerbe gegeben. Das Innenministerium konnte mit der Entscheidung über die Einbürgerungen zugleich die Ansiedlungjüdischer Gewerbetreibender zentral kontrollieren. Die Protektion des einheimischen Gewerbes sollte vor allem durch die Erschwerung der Naturalisation jüdischer Gewerbetreibender erreicht werden. Diesen Zusammenhang machte der preußische Innenminister Manteuffel deutlich, indem er den Regierungspräsidenten des ostpreußischen Gumbinnen im Jahre 1850 dazu ermunterte, bei der Naturalisierung russischer oder polni52 Vgl. § 5 Abs.2 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als Preußischer Unterthan vom 31.12.1842 ( Preußische Gesetzessammlung 1843, S. 15) ; § 71 Gesetz über die Verhältnisse der Juden. Vom 23. Juli 1847 (Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1847, S. 263). 53 Gesetz über Erwerbung und Verlust des Untertanenrechts im Königreiche Sachsen vom 2. Juli 1852 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen 1852, S. 240), § 13; Gesetz ,betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen (Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1864, S. 137). 54 Art. 12 der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850. 55 Ministerium des Innern, Circular an die Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin, 13.10.1855, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 7. 56 Vgl. § 67 Verordnung, betreffend die Errichtung von Gewerbcräthen und verschiedene Abänderungen der allgemeinen Gewerbeordnung, vom 9. Februar 1849 (in: Gesetzes-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1849, S. 93).

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scher Juden »größte Vorsicht« walten zu lassen. Wohl im Hinblick auf die protektionistische Verordnung von 1849, die zur Einbürgerung ausländischer Gewerbetreibender die Anhörung der kommunalen und wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften vorschrieb, gab er zu erwägen, daß »Naturalisierungsanträge fremder Juden nur in denjenigen Fällen zu berücksichtigen sind, in welchen die Aufnahme derselben dem Interesse des Staates resp. der Ortsgemeinde zusagt«.57 Indem er seine Überlegungen auf alle Ausländer, und zwar »ohne Unterschied des Glaubens«, bezog, verdeckte der preußische Innenminister allerdings nur, daß die zentrale Zielgruppe der Restriktionen einwandernde Juden waren. Sie vor allem wurden durch die folgenden Maßnahmen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre getroffen, mit denen die Einbürgerungs- und Gewerbebeschränkungen für Ausländer auch auf »Gewerbsgehülfen« und Kaufleute ausgedehnt wurden.58 Eine Sonderbestimmung für ausländische Medizinstudenten stellte klar, daß diese vor der Einbürgerung nur ausnahmsweise zum Examen zugelassen würden und auch nach erfolgreicher Staatsprüfung und Naturalisation nicht ohne weiteres das Recht erlangten, sich als Ärzte niederzulassen.59 Die Regierungspräsidenten wurden vom Innenministerium darin bestätigt, die Einbürgerungjüdischer Handeltreibender an kleineren Orten grundsätzlich abzulehnen.60 Erst zu Beginn der sechziger Jahre lockerten sich die protektionistischen und restaurativen Tendenzen der preußischen Wirtschafts- und Einbürgerungspolitik. Die Einbürgerungsziffern der Juden in den östlichen Regierungsbezirken Preußens begannen zu steigen.61 Nach der Aufhebung der protektionistischen Regelung gegen ausländische Gewerbetreibende in einer Gewerberechtsnovelle von 1861 sah das Innenministerium keinen Grund mehr, Juden gegenüber Christen in der Einbürgerung zu diskriminieren.62 Es kennzeichnete indessen die bürokratische Beharrungskraft der antijüdischen Einbürgerungspolitik Preußens, daß der ministerielle Zustimmungsvorbehalt bei jüdischen Einbürgerungen auch gegen Einwände unterer Behörden bis 1870 aufrechterhalten wurde. Selbst der Einwand des Düsseldorfer Regierungspräsidenten, der Vorbehalt habe infolge der Gewerbeliberalisierung seine praktische Bedeutung

57 Ministerium des Innern an den Regierungspräsidenten Gumbinnen, 23.11.1850, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 6. 58 Erlaß an die Königl. Regierung zu N.N. vom 16. November 1851, in: PrMBliV 12 (1851), S. 309; Erlaß an die Königl. Regierungzu N., vom 12. August 1852, in: PrMBliV 13 (1852), S. 234. 59 Circular-Erlaß an sämtliche Königliche Regierungen, vom 4. März 1853, in: PrMBliV 14 (1853), S. 77. 60 Ministerium des Innern an die Regierung Trier, 7.2.1856, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 7. 61 Vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 79. 62 Minister des Innern an die Regierung Bromberg, 19.9.1863, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 8.

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verloren und verursache nur mehr »lästige Mehrarbeit«, drang nicht durch.63 Es erwies sich, daß die Ratio der preußischen Einbürgerungsrestriktionen gegenüber Juden im Kern keine politische, sondern eine wirtschaftliche war. Erst mit der Neuregelung der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung für den gesamten Norddeutschen Bund im Jahre 187064 entfiel die letzte gesetzliche Diskriminierung der Juden im Einbürgerungsverfahren. Faßt man diese Entwicklung zusammen, so zeigt sich: Die inhaltliche Angleichungdes Staatsangehörigkeitsrechts in den Staaten des Deutschen Bundes bestand weitgehend in der Annäherung an die Prinzipien des preußischen Untertanengesetzes. Es handelte sich um Konvergenz auf ein Leitmodell hin. Ungeachtet pragmatischer Einschränkungen setzte sich die Entkommunalisierung der Einbürgerungsentscheidung nach preußischem Muster gegen den starken kommunalen Partikularismus in Süddeutschland durch. Die Prinzipien der Abstammung und der ausdrücklichen Aufnahme bei Erwerb der Staatsangehörigkeit drangen auch in Sachsen und Süddeutschland durch. Die preußische Einbürgerungskontrolle gegenüber Polen und Juden entsprach zwar einer besonderen Einwanderungssituation und Nationalitätenkonflikten, die in anderen Bundesstaaten nicht oder in deutlich minderem Maße auftraten. Doch prägte Preußen damit ein Kontrollsystem vor, das sich nach 1871 im Bundesstaat insgesamt durchsetzen sollte. 2. Tendenzen der Zentralisierung auf der Bundesebene Die inhaltliche Angleichung (Homogenisierung) der Staatsangehörigkeitsprinzipien und ihre Bedeutungssteigerung in den Bundesstaaten wurde nochmals verstärkt durch eine mehrfache Veränderung auf der zentralen Ebene des Bundes. Zu Beginn der fünfziger Jahre setzte die Zentralisierung deutscher Staatsangehörigkeitspolitik ein: Das System bilateraler Verträge wurde weitgehend abgelöst durch das multilaterale Vertragswerk der Gothaer Konvention von 1851. An die Stelle der Verträge im Staatenbund trat mit dem Gesetz von 187065 das einheitliche und vereinheitlichende Gesetz im Bundesstaat. Die zentrale Vereinheitlichung der Staatsangehörigkeitsregeln führte wiederum zu 63 Regierung Düsseldorf an den Minister des Innern, 17.11.1866, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 8. 64 Vgl. Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vorn 1. Juni 1870 (Bundesgesetzblatt 1870, S. 355), das dem preußischen Untertanengesetz von 1842 strukturell entsprach, den ministeriellen Vorbehalt bei der Naturalisation von Juden fallen ließ mit der Begründung, das praktische Bedürfnis sei entfallen und eine derartige Regelung laufe der Unabhängigkeit staatsbürgerlicher Rechte vom Religionsbekenntnis zuwider, vgl. die »Motive«, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 8. 65 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 (Bundesgesetzblatt 1870, S. 355).

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einem - relativen - Bedeutungsverlust der Staatsangehörigkeitspolitik in den Ländern. Die Gründung eines deutschen Nationalstaats, des Deutschen Reiches, machte die Festlegung einheitlicher Kriterien des ›Deutschen‹, d. h. des Reichsangehörigen, erforderlich. Inhaltlich vollzog sich die Angleichung der Staatsangehörigkeitsregeln, wie gezeigt, im Wege der Borussifizierung. Doch ging die Wirkung dieses Vorgangs weit darüber hinaus: Es vollzog sich eine Nationalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit. Die Gründe dafür liegen zunächst in den allgemeinen Faktoren, welche die schrittweise Entwicklung des deutschen Staatenbundes zum Nationalstaat von 1871 trugen. Dazu gehörte in erster Linie die deutsche Nationalbewegung, die nach dem Scheitern der Revolution von 1848 Pläne einer staatlichen Zusammenfassung des lockeren Deutschen Bundes vorantrieb. Zudem vervielfachten sich die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen den Staaten des Deutschen Bundes. Die Häufigkeit der staatenübergreifenden Migration zwischen den Staaten des Deutschen Bundes und über seine Außengrenzen nahm erheblich zu. Mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 entfiel nicht das politische Bedürfnis einer einheitlichen Definition der Angehörigkeit zum Bund sowie ihrer materiellen Folgen. Ein postrevolutionärer Versuch zu einer grundlegenden Reform des Deutschen Bundes nahm nochmals die Lösung der Paulskirchenverfassung auf: Die Erfurter Unionsverfassung vom 28. Mai 1849, deren Inkraftsetzung von konservativ-partikularistischen Kräften verzögert wurde und die mit der Restauration des Deutschen Bundes scheiterte, definierte eine deutsche (föderative) Reichsbürgerschaft auf der Grundlage der Einzelstaatsangehörigkeiten. Nach dem erneuten Scheitern eines bundesstaatlichen Lösungsversuchs erwuchs der wirkliche Veränderungsschub aus einem sozialen Problem, aus der zunehmenden »Heimatlosigkeit«, d. h. aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit von Menschen, die aus ihrem Heimatstaat abgewandert waren und sich über lange Zeit in einem fremden Staat aufhielten. Das seit dem Vormärz verstärkt hervortretende Problem der »Heimatlosigkeit« war mit dem hergebrachten System bilateraler Heimatverträge, erkannten die politisch führenden norddeutschen Staaten, nicht mehr zu lösen. Ende des Jahres 1850 schlossen die Regierungen Preußens und Sachsens eine neue »Übereinkunft hinsichtlich der Übernahme von Heimathlosen und Ausgewiesenen« ab, die den Vertrag von 1820 zwischen den beiden Staaten ablöste. Ebenso wie der Vertrag von 1820 zum Prototyp der folgenden preußischen Heimatverträge wurde, geriet die Übereinkunft von 1850 zum Modell eines multilateralen Abkommens. Die Häufung der Fälle von Undefinierter Heimatlosigkeit in den beiden bevölkerungsreichsten Staaten Norddeutschlands stand am Anfang dieser Entwicklung.66 66 Zur Entstehung des Vertrages und weiteren Motiven, vgl. Fahrmeir, Citizens, S. 35f.

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Das Grundprinzip des preußisch-sächsischen Vertrags leitete einen Paradigmenwechsel im zwischenstaatlichen Auslieferungs- und Übernahmerecht des Deutschen Bundes ein. Es füllte jene ›Zuordnungslücke‹, die aufgrund einer Asymmetrie des Territorialprinzips zwischen Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit geklafft hatte: Das Territorialprinzip hatte beim Verlust der Staatsangehörigkeit dazu geführt, daß Menschen, die ihren Heimatstaat verlassen hatten, ihre Staatsangehörigkeit verloren, ohne eine neue im Aufnahmestaat zu gewinnen. Zwar sahen die Verträge vor, daß ein zehnjähriger Aufenthalt im Gebiet des fremden Staates - sofern die Voraussetzungen einer dauerhaften beruflichen Niederlassung - gegeben waren, dessen Staatsangehörigkeit vermittelte. Jedoch, und dies war der Punkt stetigen Konflikts, wurde diese Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung durch die Ausgabe von »Heimatscheinen« unterlaufen. In einem Promcmoria des Jahres 1852 faßte das preußische Außenministerium die Zweckentfremdung und widersinnigen Konsequenzen dieses »Systems« von Heimatscheinen zusammen: Ursprünglich waren sie als Ausweis über die Staatsangehörigkeit des Inhabers eingeführt worden. Dann aber hatten sie eine neue, erweiterte Funktion im Zusammenhang mit den Konventionen zur Regelung der Staatsangehörigkeit von Vagabunden und Heimatlosen gefunden. Diese Bestimmungen waren zunehmend unter den Einfluß des »in vielen deutschen Staaten hervorgetretenen Bestrebcn(s)« geraten, »sich gegen Einwanderungen aus anderen deutschen Staaten abzuschließen«. Die Konventionen wurden auf »alle Individuen bezogen, von denen man besorgte, daß sie künftig einmal lästig werden könnten«. Zu diesem Zweck wurden die Heimatscheine zur Aufenthaltsbedingung umfunktioniert. Sie sicherten dem Inhaber, zeitlich befristet, die Aufnahme durch seinen Heimatstaat zu. Vor Ablauf dieser Frist konnten die Zuwanderer ohne weiteres in ihren Heimatstaat zurückgeschoben werden, ohne daß die Aufnahmepflichten der abgeschlossenen Konventionen griffen. Diese Konventionen seien also abgeschlossen worden, resümierte das Außenministerium lakonisch, »um nicht in Anwendung gebracht zu werden«.67 Die in den Konventionen vorgesehene Ersitzung der Staatsangehörigkeit im Aufnahmestaat war dadurch quasi ausgeschlossen, das System eindeutiger Zuordnung der Staatsangehörigen gestört, indem häufigjuristischer Streit um die Gültigkeit und Dauer einer Befristung der Heimatscheine entstand. Das neue Vertragsprinzip beseitigte das territoriale Element in seinem zwischenstaatlichen Geltungsbereich. Das ius domicilii verschwand. Ein Zugewanderter galt weiterhin als Angehöriger seines Heimatstaats, sofern er nicht nach dem inneren Recht des Aufnahmestaates dessen Angehöriger geworden war. Selbst wenn demnach ein Einwanderer die Staatsangehörigkeit seines 67 Promcmoria (undatiert, wohl Auswärtiges Amt), betr. Die »Form der Hcimatschcinc«, GSTA Dahlem, Auswärtiges Amt, 2.4.1, Abteilung III, Nr. 235.

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Heimatstaats verloren hatte, mußte er von diesem jederzeit auf Verlangen des Aufnahmestaates wieder übernommen werden. Das beließ den Zuwanderer zwar in einem unsicheren Zwischenstatus. Doch war dieser, so lag es in der Konsequenz der preußischen Vertragsmotive, nicht labiler als unter dem Regime der hergebrachten »Heimatscheine«.68 Das neue Prinzip hatte eine mehrfache Wirkung: Es bestätigte und bestärkte das nach innerstaatlichem Recht vordringende Prinzip der Abstammung, indem es territoriale Elemente beseitigte und eine Geltungsvermutung zugunsten der ursprünglichen, grundsätzlich durch Abstammung erworbenen Staatsangehörigkeit aufstellte.69 An dieser Anpassung des zwischenstaatlichen an das innerstaatliche Recht war insbesondere Preußen gelegen, das in dem Gesetz von 1842 den rein faktischen Erwerb der preußischen Staatsangehörigkeit gerade ausgeschlossen hatte.70 Das innerstaatliche Recht wurde insgesamt gestärkt, indem es den Primat über die Bestimmung der Staatsangehörigkeit (zurückerhielt. Die sächsische Regierung betrachtete dies als Maßnahme, die gelockerte »Anhänglichkeit an das Vaterland« zu steigern, das Untertanenverhältnis als »etwas festes und bleibendes, mit der Persönlichkeit verwachsenes« zu festigen.71 Das neue Vertragssystem ordnete das staatlich-administrative Interesse an souveräner Bestimmung über die personale Zugehörigkeit dem individuellen Interesse an der Stetigkeit und Berechenbarkeit seines sozialen Umfeldes über. Doch mußte das nicht mit einer Einschränkung der Migration einhergehen. Im Gegenteil: Beide vertragschließenden Regierungen versprachen sich davon, daß ein Hauptbedenken gegen die Aufenthaltserlaubnis für fremde Staatsangehörige entfiel, indem nämlich nicht mehr die »Besorgnis künftiger Verarmung«, sondern das tatsächlich eingetretene Bedürfnis öffentlicher Armenfürsorge den Ausschlag für die Gewährung des Aufenthalts gab.72 Die sächsische Regierung ging so weit, das neue Prinzip als »Freizügigkeitskonvention« zu interpretieren. Indem ein Staat fremde Untertanen nicht mehr innerhalb einer 68 Preußischer Minister des Innern an das Auswärtige Amt, 30.6.1851, GSTA Dahlem, Ministerium des Äußeren 2.4.1., Abteilung III, Nr. 234. 69 Dies stellte die sächsische Regierung heraus, indem sie in dem neuen Vertragsprinzip die Übertragung des sächsischen Heimatrechts (von 1834), das grundsätzlich nur durch die »Geburt am Ort« entstand, auf den staatlichen und zwischenstaatlichen Bereich sah, vgl. »Einige Bemerkungen, die sächsisch-preußische Übereinkunft wegen der Ausgewiesenen vom 31. Dezember 1850 betr.« (Frh.v.Beust, Gesandter Sachsens in Preußen), BHSTA, Ministerium des Äußeren, Nr. 54093. 70 Auswärtiges Amt an Minister des Innern, 24.9.1851, GSTA Dahlem, Minister des Äußeren, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 234. 71 Vgl. »Einige Bemerkungen, die sächsisch-preußische Übereinkunft wegen der Ausgewiesenen vom 31. Dezember 1850 betr.« (Frh.v.Beust, Gesandter Sachsens in Preußen), BHSTA, Ministerium des Äußeren, Nr. 54093. 72 Auswärtiges Amt an den Minister des Innern, 15.6.1951, GSTA Dahlem, Minister des Äußeren, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 234.

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bestimmten Frist ausweisen mußte, um sich ihrer auf Dauer zu entledigen, entfielen Ausweisungsmaßnahmen, die bisher auch und gerade unbescholtene Personen getroffen hatten. Nunmehr erhielten derart unbescholtene Personen, sofern gegen sie keine politischen oder polizeilichen Ausweisungsgründe vorlagen, eine »billige Anwartschaft« auf Zulassung in jedem Konventionsstaat. Damit beförderte das neue Prinzip das »Gesamtinteresse der Nation«, weil es dem Bestreben der deutschen Staaten entsprach, »ihren Untertanen gegenseitig in gewerblicher und wirtschaftlicher Beziehung eine möglichst freie Bewegung auf dem ganzen Bundesgebiete zu sichern«.73 Sachsen wies dem neuen Konventionsprinzip ausdrücklich die Funktion nationaler Integration zu. Es sollte das Bindeglied zwischen dem in der Revolution von 1848 entworfenen »Reichsbürgerrecht« und einem noch zu schaffenden »allgemeinen deutschen Heimatrecht« bilden. Die Einführung des Prinzips durch zwischenstaatliche Verträge wahrte zugleich die föderative Grundlage dieses nationalen Heimatrechts, das in der »Partikulargesetzgebung« der Einzelstaaten wurzelte. Diese weitgreifenden Absichten zeigen, wie sehr die preußisch-sächsische Konvention von 1850 nach den Vorstellungen der Vertragspartner von Beginn an über eine bilaterale Übereinkunft weit hinausging. Im Juli 1851 kam es daraufhin in Gotha zwischen sechzehn deutschen Bundesstaaten zu Verhandlungen über den Abschluß einer Konvention, welche die Behandlung Ausgewiesener und Heimatloser betraf. Allein das Königreich Hannover meldete Widerspruch zu den von Preußen und Sachsen eingeführten Konventionsprinzipien an. Bereits im Vorfeld der Konferenz hatte Hannover, das in seiner inneren Gesetzgebung das Territorialprinzip beim Erwerb der Staatsangehörigkeit aufrechterhielt, grundsätzliche Kritik geäußert, die in besonderer Weise auf die Lage der von Ausweisung bedrohten Individuen einging. Insbesondere das »Proletariat« werde von den neuen Regelungen hart getroffen, denn gerade Personen dieses Standes gingen mit ihrer Staatsangehörigkeit »sorglos« um; sie verlören ihre Staatsangehörigkeit im Ausland und versäumten die Gelegenheit, diejenige des Aufenthaltsstaats zu erwerben. Würden diese Personen im Falle der Bedürftigkeit in ihr Heimatland zurückgewiesen, erwachse daraus ein doppelter unnötiger Nachteil. Zum einen würden diese unterstützungsbedürftigen Personen in ihrem Heimatland widerstrebenden Gemeinden zugewiesen. Demgegenüber sei zum anderen in ihren langjährigen Aufenthaltsgemeinden, in denen sie sich zur Zeit ihrer Arbeitsfähigkeit aufgehalten hätten, viel eher mit »Mildtätigkeit« zu rechnen.74 73 »Bemerkungen« zur sächsisch-preußischen Übereinkunft wegen der Ausgewiesenen vom 31.12.1850, BHSTA, Ministerium des Äußeren, Nr. 54093. 74 Hannoversches Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten an das Preußische Ministerium des Innern, 12.6.1851, GSTA Dahlem, Auswärtiges Amt, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 234.

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Eben diesen Einwand wollte die von Sachsen in Abstimmung mit Preußen verfaßte Stellungnahme75 ausräumen, indem sie gerade die bisherige Lage als unsicher für die betroffenen Individuen darstellte. Die Richtigkeit dieser Argumentation steht und fallt mit dem großen Umfang und der destabilisierenden Wirkung des »Systems« der Heimatscheine, die von Preußen und Sachsen behauptet wurde, im einzelnen aber nicht nachprüfbar ist. Die Akten deuten jedenfalls nicht darauf hin, daß die politisch Verantwortlichen beider Staaten diesen Grund nur vorgaben, etwa um die Staatsangehörigkeitsverhältnisse im Deutschen Bund entsprechend dem preußischen Hegemonialinteresse neu zu gestalten. Diesen Gedanken hat Andreas Fahrmeir verfolgt, ohne hinreichende Anhaltspunkte dafür zu finden.76 Politisch setzten sich 1851 Preußen und Sachsen durch. Das ›Herkunftsprinzip‹ drang in der Gothaer Konvention vom 15. Juli 1851 »wegen gegenseitiger Übernahme der Ausgewiesenen und Heimathlosen« gegen den Widerstand Hannovers77 durch, das folglich der Konvention nicht beitrat. Die Konvention wurde 1854 und 1858 auf zwei Anschlußkonferenzen in Eisenach in den Grundsätzen ihrer Anwendung modifiziert und ergänzt, ohne daß die Grundprinzipien des Vertrags verändert wurden. Hannover unternahm auf der Konferenz von 1858 einen letzten Vorstoß, das ins domicilii der hergebrachten Auslieferungsverträge auch in die Gothaer Konvention einzuführen, und wies dazu auf mehrere Fälle hin, in denen Ausweisungen nach zehn- bis zwanzigjährigem Aufenthalt aufgrund des Herkunftsprinzips zu »großen Nachteilen« für die betroffenen Familien geführt hatten. Nochmals wurde der Prinzipienwechsel von 1851 eingehend erörtert, im Ergebnis aber endgültig bestätigt.78 Lediglich als marginaler Auffangtatbestand blieb ein territoriales Element bestehen: Diejenigen Personen, die niemals einem der Vertragsstaaten angehört hatten, wurden dem Staat zugewiesen, in dessen Gebiet sie sich fünf Jahre lang aufgehalten hatten oder geboren waren.79 Je mehr Staaten des Deutschen Bundes der Konvention beitraten und ein flächendeckendes Vertragsnetz entstand, desto mehr schrumpfte diese Personengruppe zu einer Restkategorie. Das vermag zu erklären, warum nur mehr fünf Jahre dauernden Aufenthalts statt wie bisher zehn die Aufnahmepflicht auslösten.80 75 S.o. »Bemerkungen«. 76 Fahrmeir, Citizens, S. 38f. 77 Müller, Übereinkunft, S. 36, 40f. 78 Als Gründe gegen die Wiedereinführung des ius domicilii wurden angeführt: entgegenstehende Verfassungsbestimmungen, wesentlich verschiedene Verhältnisse in den Städten, schließlich die schlichte Abneigung gegen eine erneute Änderung des 1851 eingeführten Prinzips, vgl. ebd., S. l00f. 79 § 2 der Gothaer Konvention von 1851. Als dritter Aufnahmegrund galt eine Verheiratung im Aufnahmegebiet in Verbindung mit einer sechswöchigen gemeinsamen Wohnzeit mit der Ehefrau, § 2b. 80 Der praktische Grund einer Beweiserleichterung durch Verkürzung der zeitlichen Anforderungen an den Aufenthalt und die eheliche Wohnzeit erklärt sich auch daraus, daß sie eher für

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Gegen den prinzipiellen Widerstand Hannovers wurde ein Prinzip eingeführt, das Preußen bereits in seiner inneren Politik praktizierte: Uneheliche Kinder folgten nicht dem Staatsangehörigkeitswechsel der Mutter. Dieser Grundsatz, der durch eine Klausel zur Erhaltung der Familieneinheit bis zum 16. Lebensjahr der Kinder gemildert wurde,81 entsprang dem Interesse des preußischen Staates, der als einziger keine Heiratsbeschränkungen kannte, ledige Mütter, die sich in Preußen verheiraten wollten, fernzuhalten.82 Die Regelung sollte das Wanderungsgefalle zwischen Staaten mit restriktiven und solchen mit liberalen Heiratsregelungen mindern. Im Jahre 1861 waren alle Staaten des Deutschen Bundes dem Gothaer Vertragswerk beigetreten, zuletzt Lübeck, Österreich, Liechtenstein und Dänemark.83 Der Vertrag war die zentrale staatsangehörigkeitsrechtliche Regelung des Deutschen Bundes, bevor er mit dem Bundes- bzw. Reichsgesetz von 1870 diese Bedeutung verlor.84 Dies zeigt, daß sich die Prinzipien des Vertrags politisch bewährt hatten. Sie warfen jedenfalls - entgegen den Einwänden Hannovers - keine sozialen und armenrechtlichen Folgeprobleme auf, die eine abermalige Änderung der Vertragsprinzipien nahegelegt hätten. Die weitergehende Frage nach der ›Wirkung‹ der Gothaer Konvention im ganzen ließe sich abschließend nur dann beantworten, wenn genauere Zahlen zu ausdrücklichen und impliziten Einbürgerungen (aufgrund eines Aufenthalts im Territorium) in den Vertragsstaaten vorlägen. Nur dann wäre die verändernde Wirkung der Konvention präzise meßbar, die dem ersten Anschein nach regional verschieden ausfiel.85 Doch deutet viel darauf hin, daß dieses Vertragswerk Gehalt und Wirkung des Staatsangehörigkeitsrechts durchgreifend änderte. Dem entspricht zunächst die Aufrechterhaltung und umfassende Ausdehnung der vertraglichen Grundprinzipien, die nach Auffassung der ersten Signatarstaaten 1851 auf »ganz neuen, [...] bisher noch nicht angewendeten Grundsätzen« beruhten.86 Die Konvention verlagerte die Definition der Staatsangehörigkeit zurück von der zwischenstaatlichen Ebene in die Entscheieine kleine Gruppe Heimatloser galt. Dies muß zumindest die Vorstellung der Vertragsparteien gewesen sein. Andernfalls hätten diese erheblichen Fristverkürzungen das leitende ›Herkunftsprinzip‹ konterkariert. 81 Vgl. §§ 5, 6 Abs. 2 der Gothaer Konvention von 1851. Der erneute Vorstoß Hannovers auf der Folgekonferenz in Eisenach 1854, die unehelichen Kinder mit ehelichen gleichzustellen, indem erstere ebenso dauerhaft an die Staatsangehörigkeit der Mutter gebunden wurden wie letztere an die des Vaters, wurde abermals abgelehnt, vgl. Müller, Die Übereinkunft der deutschen Bundesstaaten, S. 75. 82 Fahrmeir, Citizens, S. 36. 83 Ebd., S. 37, 59, Anm. 62. 84 Die Konvention blieb formell in Kraft bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, vgl. ebd., S. 39. 85 Ebd., S. 61f. 86 Vgl. Müller, Übereinkunft, S. 53: Schlußprotokoll der Gothaer Konferenz vom 15. Juli 1851, Punkt 8.

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dungsgewalt der Staaten, deren bestehendes Staatsangehörigkeitsrecht bestärkt oder daraufhin weiterentwickelt wurde. Das Abstammungsprinzip wurde nochmals verstärkt, das Territorialprinzip in doppelter Weise zurückgedrängt: Auf der Ebene der Konvention beschränkte es sich zunehmend auf eine abnehmende Sondergruppe. Einzelstaaten, die territoriale Elemente des Staatsangehörigkeitserwerbs aufrechterhielten,87 gerieten unter den Druck fehlender Reziprozität. Während sie selbst fremde Staatsangehörige aufgrund ihrer langen Ansässigkeit aufnahmen, wurden ihre eigenen Bürger in den fremden Staaten davon ausgeschlossen. Zugleich setzte sich das neue System unbefristeter Heimatscheine mit nur wenigen Ausnahmen durch, auch wenn diese Bestimmung nicht Inhalt des Vertragstextes selbst wurde.88 Damit war zugleich ein Schritt zurformalen Egalisierung des Ausweiswesens über die Staatsangehörigkeit in Deutschland getan. Zur inhaltlichen Vereinheitlichung des Staatsangehörigkeitsrechts trug die Übereinkunft zur Behandlung unehelicher Kinder ebenso bei wie die Einrichtung einer schiedsgerichtlichen Streitentscheidung.89 Damit kommt man der Frage näher, ob die Gothaer Konvention ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer ›deutschen‹ Staatsangehörigkeit war oder lediglich eine technische Maßnahme. Die Bekräftigung des Abstammungsprinzips bedeutete freilich keine Stärkung oder gar Begründung eines ethnisch-kulturell vereinheitlichten Deutschtums. Gegen dieses Mißverständnis einer einseitig verfahrenden Analyse bleibt festzuhalten, daß die Staatsangehörigkeit im föderativ und politisch vielgegliederten Deutschen Bund staatlich und noch nicht national aufgefaßt wurde.90 Das Abstammungsprinzip war auf den jeweiligen Staat bezogen und begrenzt. Es wurde, wie das Beispiel Sachsen zeigt, von der politischen Führung der Einzelstaaten eher als Mittel zur Hebung des Landespatriotismus betrachtet und auch so eingesetzt. Insgesamt wirkte die Stärkung des Abstammungsprinzips zwar vereinheitlichend auf das gesamte Staatsangehörigkeitsrecht des Deutschen Bundes ein, schuf damit jedoch erst die entscheidende Voraussetzung einer gemeindeutschen Staatsange87 Nach dem Vertragsschluß erhielten nach den Feststellungen des preußischen Außenministeriums nur die vier nicht der Gothaer Konvention beigetretenen Staaten Hannover, Braunschweig, Mecklenburg-Strclitz und Mecklenburg-Schwerin das Wohnsitzprinzip in ihrer inneren Gesetzgebung aufrecht (Auswärtiges Amt an den Preußischen Minister des Innern, 24.9.1851, GSTA Dahlem, Auswärtiges Amt, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 234). 88 Entgegen Fahrmeir, Citizens, S. 36.Vgl. die fast ausnahmslos zustimmenden Erklärungen der Vertragsstaaten zu den von Preußen vorgeschlagenen entsprechenden Formularen der Heimatscheine, Korrespondenz in GSTA Dahlem, Auswärtiges Amt, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 235.; Müller, Übereinkunft, S. 4f. 89 Vgl. die allein zwischen 1852 und 1860 ergangenen 20 Streitentscheidungen, GSTA Dahlem, Auwärtiges Amt, 2.4.1. Abteilung III, Nr. 271; als Vertragsfortbildung zum Teil eingegangen in den Kommentar von Müller, Übereinkunft, S. 26. 90 Treffend Fahrmeir, Citizens, S. 38; desgleichen Silagi, Vertreibung, S. 46.

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hörigkeit: durch eine institutionelle Form, die in der Folge zunehmend mit nationalen, ethnisch-kulturellen Inhalten gefüllt werden konnte.91 Im Ergebnis führte der Gothaer Vertrag zu einer Anpassung der Staatsangehörigkeitspolitik in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes an das Recht Preußens, zu einer ›Verpreußung‹ der Staatsangehörigkeit. Für die Hypothese, daß der Vertrag einem langgehegten Plan zur Errichtung einer preußischen Hegemonie über Deutschland entsprang,92 bieten die Akten jedoch keinen Anhaltspunkt. Wohl aber wehrte Preußen von Beginn an erfolgreich Versuche ab, den Vertrag zu einer Angelegenheit des Deutschen Bundestags zu machen, ihn in einen Bundesbeschluß zu überführen und den wechselnden politischen Machtverhältnissen des Staatenbundes anheimzugeben. Letzteres lag insbesondere im Interesse Österreichs,93 das auf diesem Weg seinen Einfluß im Deutschen Bund zu stabilisieren hoffte. Bereits 1853 formulierte Ministerpräsident Manteuffel in Abstimmung mit dem preußischen Bundestagsgesandten Otto von Bismarck die Grundlinie einer entsprechenden Vertragspolitik, die bis zum Zerfall des Deutschen Bundes galt: Preußen hatte Interesse an einem Beitritt der süddeutschen Staaten Baden und Württemberg zu der Konvention. Der Übernahme des Gothaer Vertrags in einen Bundesbeschluß war es nur dann bereit zuzustimmen, wenn dieser mit der Konvention inhaltlich übereinstimmte und Holstein, Dänemark und die Niederlande auch ihre Besitzungen außerhalb des Deutschen Bundes den Regeln der Gothaer Konvention unterwarfen.94 Preußen stellte damit unerfüllbare Voraussetzungen für einen Bundesbeschluß, der daraufhin nicht zustande kam. Auch die auf nahezu alle Bundesglieder ausgedehnte Gothaer Konvention blieb ein Vertragswerk, das preußischer Initiative entsprang und gegen dessen Willen nicht geändert werden konnte. In diesem Sinne war die Vertragspolitik Preußens in Staatsangehörigkeitsfragen zwar nicht ein hervorstechendes Mittel, jedoch ein genauer Ausdruck der preußischen Hegemonialinteressen, die auf eine Überwindung des Deutschen Bundes und der dualistischen Führungsaufteilung mit Österreich, schließlich auf eine politische Neuordnung Deutschlands unter Führung Preußens hinausliefen. 91 Vgl. dazu unten Kap. V.6., 7: Kap. VI. 1., 4. 92 Dazu Fahrmeir, Citizens, S. 38f. Das von Fahrmeir angeführte Indiz für diese Hypothese, der Entwurf eines Staatsangehörigkeitsgesetzes in der von Preußen dominierten Erfurter Union von 1850 und seine Übereinstimmung mit der Gothaer Konvention, scheint eher dagegen zu sprechen, zumal die in dem Gesetzentwurf vorgesehene ›Ersitzung‹ der Staatsangehörigkeit aufgrund zehnjährigen Aufenthalts sowohl durch das preußische Gesetz von 1842 wie durch die Gothaer Konvention von 1851 ausgeschlossen bzw. auf ein Mindestmaß reduziert werden sollte. 93 Auswärtiges Amt an Preußischen Minister des Innern, 23.11.1860, GSTA Dahlem, Auswärtiges Amt, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 270. 94 Auswärtiges Amt an den preußischen Bundestagsgesandten Otto von Bismarck, 22.1.1853; Preußischer Ministerpräsident an Bismarck, 17.4.1853; Preußischer Ministerpräsident an Bismarck, 12.4.1856, Auswärtiges Amt an Minister des Innern, 23.11.1860, GSTA Dahlem, Auswärtiges Amt, 2.4.1., Abteilung III, Nr. 270.

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legen und sich dort niederzulassen, ohne daß dieser Befugnis durch die Gesetze über den Militairdienst Eintrag geschehen könnte, in welchem Falle ihnen die Eigenschaft als Französische Bürger erhalten bleiben wird. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit Deutschland vereinigten Gebieten gelegenen Grundbesitz zu behalten.«62

Diese Regelung entsprach der völkerrechtlichen Tradition, die z. B. der Friedensvertrag von Turin von 1860 zwischen Frankreich und Sardinien aufgenommen hatte. Allein der Formulierung nach konnte sogar der Eindruck entstehen, als sei das Deutsche Reich Frankreich entgegengekommen und es seien die aus Elsaß-Lothringen Stammenden, dort aber zur Zeit des Friedensschlusses nicht Ansässigen von der Optionspflicht ausgenommen worden. Diese Interpretation wurde in der Folge von der französischen Regierung und in der Literatur vertreten und zum Ausgangspunkt einer Reihe politischer Konflikte, die von den Optionsregelungen ausgingen. Die genaue Rekonstruktion der Vertragsverhandlungen63 zeigt indessen einen Formulierungsfehler bei der von beiden Seiten gewollten Anlehnung an die Turiner Vertragsregelungen: Auch Franzosen, die aus Elsaß-Lothringen stammten und hier nicht wohnten, mußten optieren. Diese Interpretation setzte die deutsche Seite in den Folgeverhandlungen durch, die im Dezember 1871 mit dem Abschluß einer Zusatzkonvention zum Frankfurter Friedensvertrag endeten.64 Darin mußte Frankreich auch in das Optionsrecht für Angehörige der französischen Armee einschließlich der Freiwilligen und ihrer Stellvertreter65 einwilligen. Den militärischen Bedürfnissen des Reiches entsprechend verschärfte die deutsche Verwaltung schließlich einseitig die Optionsbedingungen für Minderjährige im Hinblick auf künftige Rekruten. Die Unterscheidung des französischen Zivilrechts zwischen emanzipierten und nicht emanzipierten Minderjährigen wurde nicht übernommen, vielmehr unterschiedslos die Option aller Minderjährigen von der Entscheidung der Eltern abhängig gemacht. Ein selbständiges, von der Familie getrenntes Ausweichen der Minderjährigen vor dem deutschen Wehrdienst wurde damit unterbunden.66 Zudem stellten Verwaltungsanordnungen des Oberpräsidenten von ElsaßLothringen vom März 1872 erstmals öffentlich klar, daß diejenigen, die für Frankreich optiert hatten, das »Reichsland« verlassen mußten, wenn sie ihre französische Staatsangehörigkeit behalten wollten.67 Damit begannen im Früh-

62 Artikel 2 Abs.1 des Friedensvertrags zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich vom 10. Mai 1871, Rcichsgesetzblatt 1871, S. 223. 63 So klar Wahl, L'Option, S. 41,47. 64 Vgl. Zusatzkonvention zu dem am 10. Mai 1871 zu Frankfurt a.M. abgeschlossenen Friedensvertrage zwischen Deutschland und Frankreich, vom 11. Dezember 1871, RGBL 1872, S. 7. 65 S. Wahl, L'Option, S. 43. 66 Vgl. Roth, S. 96. 67 Vgl. Wahl, L'Option, S. 45.

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›festhielten‹, dienten vor allem der Erfüllung der Wehrpflicht,98 denn ein Motiv der Auswanderung war die Vermeidung der belastenden mehrjährigen allgemeinen Wehrpflicht, deren Verletzung mit entehrenden Strafen verbunden war. Demgegenüber gab es in den USA keine allgemeine Milizpflicht. Sie griff nicht bereits aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern von Fall zu Fall mit der Einberufung und Einstellung in das Heer.99 Der Wehrpflichtentzug deutscher Auswanderer, die von den USA ungeachtet der fortbestehenden Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes eingebürgert wurden, führte anläßlich der - zumindest zeitweiligen - Rückkehr der Auswanderer in das Gebiet ihres Herkunftsstaates zu Konflikten. Diese häuften sich in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Nach einer stark vermehrten Auswanderung im Vorfeld und infolge der Revolution von 1848/49 kam es im folgenden Jahrzehnt zur verstärkten Rückwanderung ehemaliger Deutscher amerikanischer Staatsangehörigkeit, die in Preußen als Militärpflichtige und -flüchtige verhaftet und zum Wehrdienst herangezogen wurden. Unter Berufung auf das symbolträchtige preußische Wehrpflichtgesetz von 1812 aus der Zeit der Befreiungskriege begründete die Regierung Manteuffel ihr scharfes, vielfach rücksichtsloses Vorgehen gegen »Refraktäre« damit, daß keineswegs die Auswanderung gehemmt, sondern die Auswanderer davon überzeugt werden sollten, daß die »Regierung die heimliche und unerlaubte Auswanderung nicht zu begünstigen gedenkt«.100 Die Konzeption der Staatsangehörigkeit als Wehrgemeinschaft stand dahinter. Hinzu kam die Absicht der restaurativen Regierung Manteuffel, die Rückwanderung überzeugter Demokraten, die aus politischen Gründen Deutschland verlassen hatten, zu verhindern. Es kam zu Härten in der Anwendung dieser Grundsätze. Sie trafen insbesondere Kinder, die ohne böse Absicht mit ihren Familien nach Amerika ausgewandert waren und als volljährige Rückwanderer von der Härte der Wehrpflicht überraschend getroffen wurden.101 Die zeitweilig verständnisbereite Haltung der amerikanischen Regierung wich im Jahre 1859 offener Konfrontation. Die USA forderten von Preußen, den Verlust der preußischen mit dem Erwerb der amerikanischen Staatsangehörigkeit anzuerkennen und überdies diejenigen Preußen, die sich der Wehrpflicht entzogen, ohne Deserteure zu sein, straflos zu stellen.102 Die amerikanische Regierung erhob die Durchset98 Dazu diente auch das Erfordernis des Auswanderungskonsenses der Regierung, s. preußisches Untertanengesetz vom 31.12.1842, § 23 (Preußische Gesetzessammlung 1842, S. 15). 99 Dzialoszynski, S. 87. Die Unterschiede kraß hervorkehrend unter kräftiger Verwendung landläufiger Vorurteile aus preußischer Sicht gegenüber den Militäreinrichtungen der USA , s. Kapp, (I.), S. 673f, der das »kleine stehende Heer« der USA als ein »mit allen möglichen WerberKniffen und Künsten zusammengetriebenes Gesindel aller Nationen« bezeichnet und entgegenhält: »Der Deutsche spielt [...] nicht, sondern er ist Soldat«. 100 vgl. Kapp, (I), 526f, 530. 101 Beispiele bei Kapp, (I.), S. 532f. 102 Vgl. Dzialoszynski, S. 10.

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zung des Schutzanspruchs gegenüber ihren Staatsangehörigen zu einer Frage nationaler Selbstbehauptung. Auch innenpolitische Motive des amerikanischen Präsidenten Fillmore, die politische Unterstützung der »Adoptivbürger« mit einem Aufsehen erregenden außenpolitischen Erfolg zu gewinnen, mögen eine Rolle gespielt haben.103 Jedenfalls standen sich die Verhandlungspositionen zunächst verhärtet gegenüber. Erst die Liberalisierung der preußischen Politik in der Neuen Ära, die zugleich eine mildere Praxis gegenüber Wehrpflichtigen mit sich brachte, die zeitweilige Konzentration der USA auf die Innenpolitik während des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865 und ein besonders verständigungsbereiter Kurs der preußischen Außenpolitik schufen die Basis für die Vereinbarung des Jahres 1868, die zwischen dem Norddeutschen Bund und den Vereinigten Staaten abgeschlossen wurde.104 Das Ergebnis der Verhandlungen im Februar 1868 bedeutete einen durchschlagenden Erfolg der amerikanischen Politik und eine grundlegende Einschränkung der bisher im Norddeutschen Bund vertretenen Prinzipien der Staatsangehörigkeitspolitik. Artikel 1 des Vertrages legte fest, daß der Heimatstaat die Ausgewanderten nach der Naturalisierung und einem fünfjährigen Aufenthalt im Aufnahmestaat als dessen Staatsbürger zu behandeln hatte. Der Norddeutsche Bund ging damit auf die seit 1795 in den USA geltende Aufenthaltsfrist vor der Naturalisation105 ein und verkürzte die in Preußen geltende Zehnjahresfrist auf die Hälfte. Das bedeutete zwar noch kein Einlenken auf die ›französische Lösung‹, die einen sofortigen Verlust der norddeutschen Bundesangehörigkeit mit dem Erwerb der amerikanischen Staatsangehörigkeit im Gefolge gehabt hätte, jedoch ein Abrücken von dem bisherigen Kernprinzip eines engen, wechselseitigen Zusammenhangs von Staatsangehörigkeit und Wehrgemeinschaft auch jenseits der Staatsgrenzen. Norddeutsche, die sich vor Eintritt in den Soldatenstand der Wehrpflicht entzogen, konnten dafür nach fünfjähriger Abwesenheit und ihrer Aufnahme in die amerikanische Staatsbürgerschaft nicht mehr belangt werden.106 Eine Auffangklausel, welche die ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufleben ließ, wenn der Betreffende sich wieder in seinem Heimatland niederließ, lief praktisch leer, indem der Aufnahmestaat schlicht eine Rückkehrabsicht unterstellte und damit den Anspruch auf seinen naturalisierten ›Adoptivbürger‹ erhärtete.107 Die formelle Reziprozität der Vertragsklauseln verdeckte das krasse quantitative Ungleichgewicht der Vertragswirkungen. Vier Jahrzehnte nach Abschluß der Verträge zeigte sich, daß nur 8 % der Millionen deutscher Einwanderer in die USA ihre deutsche Staatsangehörigkeit bewahrt hatten. Der Fall, daß ein 103 104 105 106 107

Kapp, (I.), S. 534. Texte aller Verträge samt Protokollen bei Dzialoszynski, S. 91 f. Kapp, ( II.), S. 209. Vgl. Dzialoszynski, S. 72-74 Vgl. Kapp, ( IL), S. 220f.

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Amerikaner sich im Deutschen Reich naturalisieren ließ und nach fünfJahren in die USA zurückkehrte, war überhaupt nicht vorgekommen.108 Die Zahl der nach Deutschland auswandernden bzw. rückwandernden Amerikaner blieb verschwindend gering, verglichen mit dem deutschen Exodus in die USA, und betraf überwiegend Amerikaner, die ihr amerikanisches Staatsbürgerrecht keineswegs aufgeben wollten. Letzteren Umstand hatten insbesondere die süddeutschen Staaten falsch eingeschätzt, die glaubten, sich durch die Verträge insbesondere verarmter Rückwanderer entledigen zu können.109 Es waren also die USA, deren Staatsangehörigkeitssystem und nationaler Schutzanspruch von dem Vertragsabschluß profitierten. Die Nachgiebigkeit der deutschen Verhandlungsposition entsprang in besonderem Maße dem Bedürfnis der Bismarckschen Außenpolitik, in der Entscheidungsphase des deutschen Einigungsprozesses möglichst günstige außenpolitische Rahmenbedingungen, damit auch freundschaftliche Beziehungen zu den USA herzustellen. Die weitgehende Einschränkung tradierter Staatsangehörigkeitsgrundsätze ergab sich indessen aus einem tiefer reichenden Bedürfnis nach Liberalisierung, das bei der Beratung des Vertragswerks im Norddeutschen Reichstag zutage trat: Die Zurückdrängung der Wehrpflicht wurde begrüßt, weil sie endlich die »häßliche Militärgeschichte« erledige, vor allem aber mit dem erleichterten und klaren Staatsangehörigkeitswechsel die notwendige Konsequenz aus der gewachsenen Mobilität, dem »gesteigerten Verkehr über die ganze Erde«,110 ziehe. In ihrem Kern stärkten die Verträge die Stellung des Individuums,111 seine willentliche Bestimmung über die eigene Staatsangehörigkeit, letztlich damit auch die Freiheit der Auswanderung. Das Vertragswerk bekräftigte das völkerrechtliche Prinzip der eindeutigen Staatsangehörigkeit112 durch den Grundsatz: »Die Naturalisation involvirt die Expatriation«.113 Zumindest aus der Sicht der deutschen Vertragspartner vollzog sich dieser Fortschritt eindeutiger nationaler Zuordnung der Staatsangehörigen nicht aufgrund, sondern gerade ungeachtet militärischer Interessen. Die diplomatische Nachgiebigkeit und Liberalisierung, die Lockerung des strengen Pflichtenzusammenhangs zwischen Wehrdienst und Staatsangehörigkeit, welche die Vertragswerke kennzeichneten, blieben indessen an die Zeitumstände politischer Liberalisierung gebunden. Dies zeigte sich, als sieben Jahre nach 108 Vgl. Bendix, Fahnenflucht, S. 106, 278. 109 Vgl. Kapp, (II.), S. 212, 223; vgl. dazu die Texte der Verträge zwischen den USA und den süddeutschen Verträgen mit entsprechenden Protokollzusätzen, Dzialoszynski, S. 113, 116, 119. Zur sozialen Lage der Rückwanderer Schniedewind , S. 139f., 175f. 110 So der Bremer Reeder H. H. Meier im Norddeutschen Reichstag, zitiert nach Kapp, (II.), S. 221. 111 Vgl. Bendix, Fahnenflucht, S. 276f. 112 Dazu Martitz, S. 793f., 806. 113 Vgl. Wesendonck, S. 205.

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Abschluß des Vertrages seine Verlängerung anstand. Die politische Atmosphäre war völlig verändert. Kritiker meldeten sich zu Wort, welche die Bancroft-Verträge als Werk des »Kosmopolitismus«, als leichtsinniges Verschleudern »nationaler Güter« und als Untergrabung eines geordneten Staatswesens werteten, dadurch daß das Grundprinzip »Ohne Pflichten keine Rechte und ohne Rechte keine Pflichten«114 aufgegeben worden sei.115

3. Kodifikation im entstehenden Nationalstaat (1866-871) Die Restauration des Deutschen Bundes nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung hatte keine nationale deutsche Staatsangehörigkeit hervorgebracht. Die Angehörigen des Deutschen Bundes galten nach außen - im Verhältnis zu anderen (National-) Staaten - als Angehörige der jeweiligen Bundesstaaten und erhielten allein durch sie diplomatischen Schutz. Auch nach innen erfüllte das Bundesindigenat des Art. 18 der Akte des Deutschen Bundes nicht einmal in Ansätzen die Funktion einer deutschen Staatsbürgerschaft, eines Reichsbürgerrechts, wie es die Paulskirchenverfassung statuiert hatte. Die Gesetzgebungen der Bundesstaaten variierten erheblich hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechte, die sie ihren Staatsangehörigen einräumten: Die Rechte der kommunalen Niederlassung und Armenfürsorge, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern und bürgerlichen Rechten, schließlich die staatlichen Pflichten des Militärdienstes und der Steuerleistung folgten einem Partikularismus, der seine eigentliche Spitze dadurch erhielt, daß in den Staaten ›Ausländer‹, zu denen auch die Angehörigen anderer Bundesstaaten zählten, gegenüber Inländern diskriminiert wurden. Die wirtschaftlichen Einigungsversuche Deutschlands, die vom Zollverein 1834 ihren Ausgang genommen hatten, sowie die politischen und rechtlichen Integrationsbedürfnisse des entstehenden Industriekapitalismus mit überstaatlichen Bewegungen des Arbeitsmarkts, der Produktions- und Handelsbeziehungen kollidierten mit der partikularstaatlichen Engräumigkeit des Deutschen Bundes. Seit Ende der fünfziger Jahre trieb zudem ein erneuter internationaler Aufschwung der Freihandelsbewegung in ganz Westeuropa die preußischen Pläne eines engeren wirtschaftlichen, gegen Österreich gerichteten Zusammenschlusses der Zollvereinsstaaten politisch voran.116 Den Durchbruch zu einem einheitlichen Recht sowohl der deutschen Staatsangehörigkeit als auch der Staatsbürgerschaft brachte der Krieg. Die Siege Preußens 114 Vgl. Kapp, (II.), S. 222, 227. 115 Zur Vertragsverlängerung vgl. Kap.V.6.; zur weiteren Entwicklung Makarov, BancroftVerträgc, S. 151-153. 116 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 227.

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über Dänemark und Österreich in den Einigungskriegen 1864 und 1866 und der anschließende Zerfall des Deutschen Bundes beseitigten nationale Konfliktherde, die wesentlich zum Scheitern des ersten Versuchs einer deutschen Nationalstaatsgründung 1848/49 beigetragen hatten. Die weitgehende Übereinstimmung des preußischen Staates und der liberalen Bewegung bei den nationalpolitischen Zielsetzungen, der territorialen Expansion und den wirtschaftlichen Integrationsbedingungen bildete die entscheidende Voraussetzung für die Struktureigenart und Stabilität des deutschen Nationalstaats, der mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1866/67 seine Vorstufe erreichte. Der territoriale Umfang der deutschen Staaten, die sich zum Norddeutschen Bund zusammenschlossen, stand als Ergebnis des Einigungskrieges unter preußischer Führung eindeutig fest. Darin unterschied sich die nationalpolitische Lage 1866 wesentlich von jener des Revolutionsjahres 1848. Die Frage, ob und inwieweit territoriale Veränderungen und nationale Unabhängigkeitsbestrebungen die Prinzipien der Angehörigkeit zum nationalen Staat, die Definition des »Norddeutschen«, beeinflußten, stellte sich nicht. Auch ein zweiter Unterschied zu 1848 prägte die Ausgestaltung der Staatsbürgerschaft und der Staatsangehörigkeit Norddeutschlands. Während die Frankfurter Nationalversammlung 1848 die nationale, revolutionäre, einheitsbildende Kraft gegenüber den monarchischen Partikulargewalten repräsentierte, stellte der Gründungsakt des Norddeutschen Bundes einen Vertrag souveräner Monarchen und Städte dar. Damit war eine föderative Grundstruktur der nationalen Staatsangehörigkeit vorgeprägt, die über mehr als ein halbes Jahrhundert bestehen blieb. Sie wirkte sich zunächst in der verfassungsrechtlichen Grundlage des Norddeutschen Bundes aus. Der konstituierende Norddeutsche Reichstag beriet und verabschiedete 1867 einen Verfassungsentwurf, der von den vereinigten monarchischen Regierungen vorgelegt worden war und unter anderem zwei grundlegende Unterschiede zum Verfassungsentwurf der Paulskirchenversammlung aufwies. Er enthielt keine Grundrechte und keinen Hinweis darauf, wer »Norddeutscher« war. In sachlicher Entsprechung zum »Reichsbürgerrecht« von 1848/49 kodifizierten der Entwurf und die spätere Verfassung des Norddeutschen Bundes hingegen ein gemeinsames »Indigenat«,117 das die materielle Bedeutung einer einheitlichen norddeutschen Staatsbürgerschaft festlegte: »Für den gesamten Umfang des Bundesgebiets besteht ein gemeinsames Indigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem andern Bundesstaate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu öffentlichen Ämtern, zur Erwerbung von Grund117 Art. 3 des am 4.3.1867 dem Norddeutschen Reichstag vorgelegten Entwurfs einer Verfassung sowie der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 25.6.1867 und der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. 4. 1871.

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stücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechts und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Einheimische zugelassen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich zu behandeln ist.« Bereits die Begriffswahl deutete jedoch auf gravierende Unterschiede zur Verfassungskonzeption von 1848 hin. An die Stelle des seinerzeit neugeprägten unitarischen Begriffs »deutsches Reichsbürgerrecht« war das tradierte rechtstechnisch-formale »Indigenat« getreten. Die Bezeichnung »Angehöriger« eines Bundesstaates sollte gerade nicht vereinheitlichend wirken, setzte vielmehr als Sammelbegriff die partikularstaatlich variierenden Bezeichnungen »Unterthan« und »Staatsbürger« voraus und ließ sie bestehen. Die Verfassung bezog sich mit dem Wort »Staatsbürgerrecht« gerade auf die einzelnen Bundesstaaten und statuierte lediglich ein Gleichbehandlungsgebot, das die gleichberechtigte Zulassung jedes Bundesangehörigen zum Staatsbürgerrecht in jedem Bundesstaat festschrieb. Unitarisch motivierte Anträge in der verfassunggebenden Versammlung, den Begriff »Indigenat« durch »Bundesbürgerrecht« zu ersetzen und den Bezug auf ein föderatives »Staatsbürgerrecht« zu streichen,118 drangen nicht durch. Schließlich scheiterten Versuche linker liberaler und demokratischer Abgeordneter, in Anlehnung an die Paulskirchenverfassung einen Katalog von Grundrechten durchzusetzen, der den maßgeblichen materiellen Bezugspunkt und die unitarische Wirkung des »Rcichsbürgerrechts« von 1849 ausgemacht hatte. Die Mehrheit der verfassunggebenden Versammlung begnügte sich damit, daß die grundrechtlichen Freiheiten in den Bundesstaaten konstitutionell gesichert wurden, während ihre unmittelbare rechtliche Wirkung gering blieb. Auch die Erinnerung an die langwierigen Debatten der Paulskirche über die inhaltliche Ausgestaltung der »Grundrechte des deutschen Volkes« , welche die politisch vordringliche nationalstaatliche Einigung verzögert, im Ergebnis schließlich verhindert hätten, wurde angeführt.119 Pointiert wurde die politische Gewichtsverlagerung in einer Begriffsverschiebung deutlich, die der Abgeordnete Karl Braun, ein nationalliberaler Wortführer, vornahm: Er bezeichnete die vom gemeinsamen Indigenat zu sichernde »unbeschränkte wirtschaftliche Zugfreiheit«, die damit verbundene unbeschränkte Zulassung zum Aufenthalt in den Gemeinden, zum Geschäftsbetrieb und zum Erwerb von Grundeigentum als »Menschenrechte«.120 Die föderative Basislegitimation verdrängte jegliche unitarischen Modifikationsansprüche. Der Primat der wirtschaftlichen setzte sich gegenüber den politischen Freiheitsrechten durch. Dementsprechend wurde auch ein an die Verfassungsentwürfe Österreichs und der Paulskirche anknüpfender Antrag 118 Holtzendorffu. Bezold, Bd. I, S. 4()4f.: Antrag Abg. Arnold v. Kitz. 119 Pollmami, S. 207f. 120 Vgl. Holtzendorff u. Bezold, Bd. I, S. 434f.

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zur Sicherung der nationalen Minderheitenrechte abgelehnt.121 Die nationale Homogenität des Territoriums wurde als gesichert unterstellt, die Sicherung regionaler nationaler Minderheitsrechte den betreffenden Bundesstaaten überlassen. Nicht die äußere nationale, sondern die innere Integration auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens und der bürgerlichen Rechte war der Impetus, welcher der zentralen Indigenatsregelung der Verfassung des Norddeutschen Bundes zugrunde lag und folglich die norddeutsche Staatsbürgerschaft vor der Staatsangehörigkeit regelte. Allerdings traf der konstituierende Reichstag mit seiner Mehrheit der rechten Mitte eine Entscheidung, die über den engen föderativen Rahmen hinauswies. Auf eine liberale Initiative hin, die insgesamt auf eine erhebliche Ausweitung der Bundeskompetenzen abzielte, erhielt der Bund die Zuständigkeit für das Staatsangehörigkeitsrecht. Nach der Begründung des linken nationalliberalen Abgeordneten Kurt von Hammerstein drohte das geplante »Indigenat« leerzulaufen, wenn die Freizügigkeit und dauerhafte Niederlassung im gesamten Staatsgebiet durch regional verschiedene Diskriminierungen bestimmter Gruppen von Staatsbürgern unterbunden würde. Hammerstein führte das Beispiel der Diskriminierung von Juden im Orts- und Staatsbürgerrecht, insbesondere in den nordöstlichen Gebieten des Bundes an. Zum Zeitpunkt der Verfassungsdebatte im Frühjahr 1867 war die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden noch nicht gesetzlich festgeschrieben. Die Gruppe der Juden wurde damit - wie im preußischen Emanzipationsedikt von 1812 - zum Anlaß einer auf Gleichheit angelegten Regelung der Staatsbürgerschaft122, d. h. einer Neuerung, die darüber hinaus eine »Kompetenzerweiterung von außerordentlicher unitarisierender Tragweite«123 bedeutete. Über das gemeinsame Indigenat hinaus, das lediglich ein Gleichstellungsgebot in den jeweiligen Partikularstaaten enthielt, gewann der Bundesgesetzgeber nunmehr die Kompetenz, die Kriterien des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit in den Bundesstaaten zentral zu vereinheitlichen. Damit war die entscheidende staatsrechtliche Voraussetzung für die national homogene Staatsangehörigkeit eines Nationalstaats geschaffen. Doch überwog zunächst der innere Ausbau des norddeutschen Bundesindigenats mit den Bundesgesetzen über die Freizügigkeit und Gewerbeordnung und der Abschaffung des Paßzwangs.124 Die vereinheitlichende, nach außen abgrenzende Gesetzesregelung einer norddeutschen Staatsangehörigkeit erfolgte drei Jahre später, im Juni 1870, am Vorabend eines weiteren, des letzten nationalen Einigungskrieges. Der politische Druck eines potentiellen oder na121 122 123 124

Antrag Ludwig Christian Schradcr bei ebd., Bd. I, S. 405. Vgl.obenKap. II. 1. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 663. Torpey, Contrôle, S. 72-75.

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henden Krieges wurde zwar weder in den Gesetzesmotiven noch in den Beratungen unmittelbar spürbar, doch war diese Gesetzgebung insgesamt ein ungleich ›politischerer‹ Vorgang als in den deutschen Staaten der ersten Jahrhunderthälfte. Das hing nicht nur damit zusammen, daß das projektierte Gesetz mit einer größeren räumlichen Ausdehnung auch eine größere nationalintegrative Bedeutung erhielt. Erstmals wurde - von den Debatten der Paulskirche abgesehen, die keine rechtliche Wirksamkeit erlangt hatten - die Festlegung einer nationalen deutschen Staatsangehörigkeit in einem parlamentarischen Parteienstreit getroffen, d. h. nicht im innerstaatlichen Bereich des bürokratischen Arkanums, wie z. B. das preußische Gesetz von 1842. Dies hatte zur Folge, daß die Debatte zwischen föderalistischen und unitarischen, partikular-konservativen und national-liberalen Konstruktionen der nationalen Staatsangehörigkeit in den Gesetzesformulierungen selbst ausgetragen wurde. Die Nationalisierung, d. h. die nationale Zentralisierung der deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzgebung fiel mit ihrer Politisierung zusammen. Das zentrale Motiv des Gesetzes gemäß dem Bundesratsentwurf vom 14. Februar 1870 bildete auch hier zunächst die fehlende staatliche Einheit, »die in mannigfachen Beziehungen voneinander abweichenden Indigenats-Gesetzgebungen der einzelnen Bundesstaaten und in dem größten Bundesstaate« Preußen.125 Bereits zwei Jahre zuvor war im Preußischen Abgeordnetenhaus der Versuch einer Neuregelung des Untertanengesetzes von 1842 unternommen worden. Die preußischen Gebietserweiterungen aufgrund der Kriege von 1864 und 1866, die Annexion großer, ehedem selbständiger politischer Einheiten wie des Königreichs Hannover und des Herzogtums Holstein hatten dazu geführt, daß allein im erweiterten Preußen neun verschiedene Staatsangehörigkeitsgesetzgebungen bestanden. Für den Bundesrat, vertreten durch seine Präsidialmacht Preußen, folgte daraus: »Die Fortdauer dieses Zustands ist nicht verträglich mit den Bundcsintcressen. Die Verknüpfung der Bundesangehörigkeit mit der Staatsangehörigkeit erheischt für Beide die Einführung übereinstimmender Normen im ganzen Bundesgebiet«.126 Aus dem Interesse an staatlich-administrativer Homogenität, ein »einheitliches nationales Recht« zu setzen, hatte der Bundesrat aus einer systematischen Zusammenschau der divergierenden Staatengesetzgebungen einen Entwurf kondensiert, der zum einen dem Prinzip der mehrheitlichen Übereinstimmung folgte, zum anderen keine Abweichung von preußischen Gesetzesprinzipien zuließ. Seine vereinheitlichende, nationalisierende Wirkung erzielte der Gesetzentwurf durch die Borussifizierung der Staatsangehörigkeitsmaterie. 125 Entwurf zu einem »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit«, Aktenstücke des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, Anlagen, Nr. 11. 126 Entwurf des Norddeutschen Bundes zu einem »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit«, ebd., S. 155.

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Das Bewußtsein, eine nationale Staatsangehörigkeit zu schaffen, schärfte den Blick des Gesetzgebers für den internationalen Vergleich. Ungeachtet der national vereinheitlichenden Gesetzgebung blieb die norddeutsche Staatsangehörigkeit ihrer Grundkonstruktion nach föderativ: Sie wurde von den Bundesstaaten verliehen, und zwar aufgrund des Erwerbs der Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat. Zwischen zwei föderativ ausgestalteten Vergleichsmodellen der Staatsangehörigkeit, der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz, entschied sich damit der norddeutsche Bundesstaat für das letztere Modell. Ausdrücklich setzte sich der Entwurf vom »Unionsbürgerrecht« der USA ab, das als »unmittelbares, selbständiges Rechtsverhältnis« galt und sich als Folge des Sezessionskrieges in diese unitarische Richtung entwickelt hatte. Demgegenüber stellte sich der deutsche Entwurf in die Linie des »kantonalen Indigenats«, wie es im schweizerischen Bürgerrecht verkörpert war.127 Mit dieser Entscheidung für ein föderativ gegründetes, aber unitarisch ausgestaltetes Staatsangehörigkeitsrecht erzeugte das neue Gesetz ein Spannungsverhältnis, das sich im Ausbau des deutschen Nationalstaats zunehmend in die unitarische Richtung aufzulösen begann. Zugleich mit der Schaffung eines nationalen, nach allgemeinem, gleichem Wahlrecht bestimmten Parlaments, der Einsetzung eines parlamentarisch verantwortlichen Reichskanzlers und einer zentralen Bundessteuerkompetenz128 wurde das Bundesstaatsangehörigkeitsrecht zu einer Institution der Unitarisierung. Die einschneidendste Neuerung des Gesetzentwurfs bestand darin, die Auffassung, die in dem »Staatsbürgerrecht wesentlich nur einen Ausfluß und Zubehör der Gemeindeangehörigkeit erblickt und folgerichtig die Vorschriften über dessen Erwerb und Verlust lediglich in die Gemeinde- und beziehentlich Heimats-Gesetzgebung verweist«, endgültig zurückzuweisen. Die Motive erklärten, daß die Aufnahme dieses Prinzips, das zwar in einem kleineren Teil Norddeutschlands, immerhin aber in acht (ehemaligen) Staaten129 galt, einen solchen »legislativen Rückschritt« bedeutet hätte, daß dies der Mehrheit der Bundesstaaten nicht habe zugemutet werden können. Hier wurde in besonderer Weise das Interesse Preußens an einer Durchsetzung seines staatlichen Prinzips deutlich. Die Entkommunalisierung und Verstaatlichung der preußischen Verwaltung insgesamt, der Bürgerrechtsvermittlung im besonderen, welche die gesamte preußische Heimatgesetzgebung von 1842 prägte, wurde nunmehr zur Leitlinie des entstehenden deutschen Nationalstaats erhoben. Der Gemeinde bzw. dem kommunalen Armenverband - in den Worten des Entwurfs

22.

127 Entwurf »Gesetz über die Erwerbung [...]«, ebd., S. 155; näher entfaltet bei Landgraff, S. 10,

128 Dazu insgesamt Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 659, 661, 663. 129 Königreich Hannover, Braunschweig, Sachsen-Mciningen, Sachsen-Altenburg, SachsenCoburg-Gotha, Lauenburg, Lippe, Bremen.

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»einem untergeordneten Gliede des Staatsorganismus«130- blieb nur mehr ein Anhörungsrecht im Hinblick auf die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen einer Einbürgerung, d. h. den Nachweis eines »unbescholtenen Lebenswandels«, eines ausreichenden Unterkommens und der Fähigkeit des Einzubürgernden, sich und seine Angehörigen zu ernähren. Weitergehende kommunale Mitwirkungsrechte, wie z. B. im Königreich Sachsen, das die Naturalisation von der Beibringung der Aufnahmezusicherung einer inländischen Gemeinde abhängig machte, wurden damit abgeschafft. Eine sorgfältige Begründung verwandte der Entwurf auch auf die Übernahme des preußischen Prinzips einer ›Verjährung‹ der Staatsangehörigkeit bei zehnjährigem Aufenthalt im Ausland. Während in einzelnen Territorien des Bundes, z. B. Schleswig-Holstein, Kurhessen und Braunschweig, der Grundsatz galt, daß auch ein noch so langer Aufenthalt im Ausland selbst bei Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit die ursprüngliche Staatsangehörigkeit unberührt ließ - eine Parallele zum feudalen Rechtsprinzip der »perpetual allegiance« in England, das auch die frühe Verfassungsentwicklung der USA bestimmt hatte -,131 galt dies nicht für die Mehrheit der norddeutschen Bundesstaaten. Der Entwurf war bestrebt, die Übernahme der preußischen Zehnjahresfrist als einen Mittelweg herauszustellen zwischen den Staaten, die eine unauflösliche personale Verbindung statuierten, und denjenigen, die bereits einen kurzen, aber auf Dauer angelegten Auslandsaufenthalt, wie z. B. Hannover, für den Verlust der Staatsangehörigkeit genügen ließen. Der »stillschweigende Verzicht« auf die Staatsangehörigkeit, wie eine zehnjährige Abwesenheit im Ausland interpretiert wurde, sollte lediglich durch den Willensakt der Eintragung in die Matrikel eines deutschen Konsulats unterbrochen werden können. Die doppelte Begründung, die der Entwurf für diese Regelung anführte, ließ klar den Primat etatistisch-administrativer Erwägungen über jede andere kollektiv konstruierte oder subjektiv empfundene Angehörigkeitsbeziehung erkennen. Der Verlust der Staatsangehörigkeit wurde vorderhand als schlichter Verwaltungsvorgang betrachtet, für den die Zehnjahresfrist ein einfaches, leicht feststellbares Kriterium lieferte. Dahinter stand eine durchweg rationale Vorstellung, in der sich eine überkommene territoriale Begründung des staatlichen Angehörigkeitsverhältnisses mit seiner vertraglichen Grundlegung verband: Der Verlust der Staatsangehörigkeit aufgrund langer Abwesenheit im Ausland, führte der Entwurf an, ziehe lediglich die rechtliche Konsequenz aus dem »thatsächlich zerrissene(n) Band der Nationalität«. »Nationalität« in diesem Sinne bemaß sich demnach nicht nach individuell bestehender oder subjektiv empfundener Zugehörigkeit zu einem aterritorialen kulturellen Deutschsein. Genauer gesagt: »Nationalität« im rechtlich relevanten Sinn sprach jeder vor130 Entwuf zu einem »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit«, Motive, S. 155. 131 Vgl. oben Kap. III.2.; Martitz, S. 1157f.

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staatlichen und aterritorialen Beziehung konstitutive Bedeutung für die staatliche Angehörigkeitsbeziehung ab. Sie ließ statt dessen eine auf territoriale Kriterien gestützte Vermutung für die Beständigkeit einer »tatsächlichen« jenseits der staatlichen Angehörigkeit genügen. Die assimilatorische Kraft dieser tatsächlichen Zugehörigkeit bestand aus sich heraus nur und insoweit sie ›im Land‹ begründet und aufrechterhalten wurde. Jeder darüber hinausgehende Angehörigkeitswille jenseits der territorialen Grenzen fand rechtlich nur insoweit Beachtung, als er individuell, ausdrücklich und mit einem gewissen Aufwand, der Eintragung in eine Konsulatsmatrikel, betätigt wurde. Der Kern dieser Argumentation, für den das territoriale Element letztlich nur eine Umschreibung war, führte zurück auf eine Konstruktion des StaatBürger-Verhältnisses in Analogie zu einem vertraglichen Schuldverhältnis: Die Verjährung der Staatsangehörigkeit betrachtete der Bundesrat als »unentbehrlich für ein Gemeinwesen, welches, wie der Norddeutsche Bund, die schwerwiegendsten persönlichen Leistungen von seinen Angehörigen in Anspruch nimmt. Ein solches Gemeinwesen ist es seinen im Ausland sich aufhaltenden Angehörigen schuldig, eine Frist zu setzen, nach deren Ablauf das Band der Angehörigkeit von selbst als aufgelöst gilt, und mit den staatsbürgerlichen Rechten auch die Verpflichtungen gegen den Staat ein Ende nehmen«.132 Die Reichweite dieser gegenseitigen vertraglichen Verpflichtung war territorial bemessen und begrenzt. Der Vorrang etatistischer Erwägungen zeigte sich analog in der staatlichen Beschränkung der individuellen Freiheit zur Aufgabe der Staatsangehörigkeit. Auch hier wurden dem Entwurf die »am systematischsten in Preußen« durchgeführten Bestimmungen zugrunde gelegt, die im Interesse der allgemeinen Wehrpflicht den Wehrpflichtigen und dienenden Soldaten strikte Beschränkungen der Entlassungsfreiheit auferlegten, sofern sie nicht in einen anderen, dem Wehrverband des Norddeutschen Bundes angehörenden Staat übertraten.133 Nicht vorstaatliche, kulturelle Bande der »Nationalität«, wohl aber militärische Zweck- und Pflichterwägungen konstituierten den personalen Zusammenhalt zwischen dem deutschen Staat und seinen Bürgern. Erst indem die individuelle Erfüllung der Militärpflicht nach Ablaufeines längeren Aufenthalts im Ausland unwahrscheinlich wurde, erlosch das Interesse des Staates am Erhalt der Angehörigkeitsbeziehung. Die regulative Idee dieser gesamten Staatsangehörigkeitskonzeption war ihrem Ursprung nach die staatliche und militärische Räson aus der Tradition des preußischen Militärstaats. Dieser militärischen Staatsräson entsprach es auch, daß der Entwurf den 132 Entwurf zu einem »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit«, Motive, Aktenstücke des Reichtags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, Anlagen, Nr. 11, S. 159. 133 Vgl. § 15 Entwurf zu einem »Gesetz über die Erwerbung [...]«, ebd., Motive, S. 156.

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Verlust der norddeutschen Bundesangehörigkeit nicht durch den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit oder den Eintritt in fremden Staatsdienst erfolgen ließ, vielmehr entsprechende Regeln der Bundesstaaten abschaffte. Nicht der Mangel an Nationalbewußtsein oder der Bruch einer staatlichen Loyalitätsverpflichtung, der aus solchen Akten herausgelesen werden könnte, war entscheidend, sondern das Bedürfnis nach militärischer Inpflichtnahme des Individuums, die ausschließlich von Staats wegen definiert und aufrechterhalten wurde. Abweichungen von diesem Grundsatz, wie sie in den Bancroft-Verträgen mit den USA vereinbart worden waren, wurden vom Gesetzentwurf ausdrücklich auf vergleichbare Ausnahmefälle diplomatischer Rücksichtnahme in Staatsverträgen beschränkt.134 Die übrigen Grundsätze des Entwurfs folgten der Logik der föderativen Grundkonstruktion und dem Bestand hergebrachter Staatsangehörigkeitsregeln, wie sie im preußischen Gesetz von 1842 enthalten waren. Der tradierte Grundsatz, daß ein Einbürgerungsanspruch nicht bestand - denn es widerspreche dem »Begriffe der staatlichen Selbständigkeit, das freie Ermessen des Staates darüber einschränken zu wollen, wem er die Aufnahme unter seine Angehörigen gewähren oder versagen will« - , wurde nur im Hinblick auf übertretende Angehörige anderer Bundesstaaten mit der Begründung aufgehoben, »es würde der ganzen Tendenz der Verfassung zuwider sein [...], bei der einheitlichen Regelung des Indigenatswesens die Angehörigen der anderen Bundesstaaten in Bezug auf die Erwerbung der Staatsangehörigkeit noch ferner auf dem Fuße der Ausländer zu behandeln«.135 Mit dieser Regel wurde die »Ausländerei« innerhalb des deutschen Bundesstaates abgeschafft, gegen die bereits die Paulskirchenversammlung angekämpft hatte.136 Die Regeln des Staatsangehörigkeitserwerbs folgten dem Kanon des preußischen Untertanengesetzes von 1842, allen voran mit dem Abstammungsprinzip, das in allen Bundesstaaten das uneingeschränkte und primäre Erwerbsprinzip137 darstellte. Indessen wurde zwar die Legitimation, nicht aber die Adoption mit der (ehelichen) Abstammung gleichgestellt. Warum dies so geregelt wurde, ist aus den Motiven des Entwurfs nicht zu erhellen. Die Erklärung, daß die Adoption nur in einer Minderheit der Bundesstaaten für den Staatsangehörigkeitserwerb ausreichte, wird dafür nicht allein ausschlaggebend gewesen sein. Die Annahme liegt nahe, daß der Primat biologischer Abstammung, die ja auch durch eine Legitimation lediglich bestätigt wird und bei der Adoption fehlt, den Ausschlag gab. Ebenso bietet sich jedoch eine andere Erklärung 134 § 21 Abs. 3, ebd., Motive, S. 159. 135 Motive, ebd., S. 158. 136 Vgl. oben Kap. III. 137 Mit alleiniger Einschränkung für Schleswig-Holstein, das das Abstammungsprinzip nur bei Geburt im Inland gelten ließ, vgl. Entwurf zu einem »Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit«, Motive, S. 155.

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an: Von ihrer Entstehungsgeschichte her diente nämlich die Ausnahme der Adoption als Erwerbsgrund der Staatsangehörigkeit dem Zweck, das staatliche Entscheidungsmonopol bei der Vergabe der Staatsangehörigkeit aufrechtzuerhalten. Sie zielte darauf ab, die Umgehung staatlicher Einbürgerungsbeschränkungen, z. B. konfessioneller oder sozialer Art, zu verhindern. Daß damit seinerzeit insbesondere die Adoption von (erwachsenen) Juden ausgeschlossen werden sollte,138 besagt also noch nicht, daß die nationale Festschreibung des Abstammungsprinzips im Jahre 1870 biologischen oder gar frühen rassistischen Konzepten der Staatsgestaltung folgte. Die Motive lassen davon nichts erkennen; sie weisen vielmehr in eine andere Richtung: die Fortsetzung einer strikt etatistischen Linie, die allerdings durchaus zu staatlicher Diskriminierung führen konnte. Eine hergebrachte Diskriminierung des Staatsangehörigkeitsrechts wurde jedenfalls aus dem Gesetz - verbannt. Das Sonderrecht für die Einbürgerung von Juden, das in den Verfassungsberatungen über das »Indigenat« im März 1867 noch eine Rolle gespielt hatte, hob das Gesetz vom Juli 1869 im Zusammenhang mit der vollständigen staatsbürgerlichen Emanzipation der Juden139 auf Zugleich wurde die Patrilinearität des Staatsangehörigkeitsrechts als ein durch »sämmtliche Norddeutsche Gesetzgebungen durchgehender Grundsatz«140 auf der Ebene des Nationalstaats festgeschrieben. Nach der Aufhebung der staatlichen Eheverbote im Norddeutschen Bund war dies der einzige Bereich, in dem sich der Staat seiner Einflußmöglichkeit auf den Erhalt der Staatsangehörigkeit begab: Nur Frauen, die per se keiner Wehrpflicht unterlagen, schieden allein aufgrund eines zivilen Aktes, der Eheschließung mit einem Ausländer, automatisch aus der Staatsangehörigkeit aus bzw. traten in diese ein, indem sie einen Angehörigen des Norddeutschen Bundes heirateten.141 Männern hingegen, die dem Militär angehörten oder militärpflichtig waren, konnte die beantragte Entlassung aus der Staatsangehörigkeit verweigert werden.142 Über die Tradierung paternalistischer Rechtsgrundsätze hinaus wird hieran abermals die immanente militärische Ratio des Staatsangehörigkeitsrechts und der Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und Geschlechterdiskriminierung deutlich.143 138 Vgl. oben Kap. II.2. 139 Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung vom 3. Juli 1869 (BGBl. 1869, S. 292). 140 Entwurf zu einem »Gesetz über die Erwerbung ...«, Motive, S. 155. 141 Ebd., Motive, S. 155; gleichlautend im Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.Juni 1870 (BGBl 1870, S. 355). 142 S. § 15 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.Juni 1870. 143 Dazu Frevert, Soldaten, Staatsbürger, S. 69-87; Hagemann, »Bürger« als »Nationalkrieger«, S. 74-102 (77f, 93); s. unten Kap. VI.2.

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Die Beratung des Gesetzes im Norddeutschen Reichstag änderte weitgehend Formulierungen, nichts jedoch an den Prinzipien des Entwurfs. Doch täuscht dieser vordergründige Befund über die politischen Konflikte hinweg, die in der Gesetzeskonstruktion latent vorhanden waren und sich in parlamentarischen Auseinandersetzungen entluden. Zentraler Streitpunkt war die ›Verjährung‹ der Staatsangehörigkeit nach zehnjährigem Auslandsaufenthalt. Die föderativ-etatistische Position der verbündeten Regierungen, des Bundesrats, stand dabei einer unitarisch-liberalen Mehrheitslinie des Parlaments gegenüber, die den Antrag stützte, die Bundesangehörigkeit im Ausland nur bei gleichzeitigem Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit erlöschen zu lassen. Der nationalliberale Abgeordnete Johannes von Miquel begründete die parlamentarische Initiative144 mit einem grundsätzlichen Argument: Eine »Nation, die sich selbst achtet«, dürfe den Grundsatz des stillschweigenden Staatsangehörigkeitsverlusts nicht in seine Gesetze schreiben.145 Ausdrücklich berief sich Miquel auf das Vorbild der »anderen großen Nationen« in Europa und in Amerika, für deren Nationalbewußtsein eine derartige Vorschrift unvorstellbar sei. Er führte dem Parlament vor Augen, daß die früheren Klagen über die Treulosigkeit der Deutschen gegenüber ihrem Vaterland, ihre rasche Bereitschaft zur Aufnahme einer fremden Staatsangehörigkeit, nicht auf »Fehler der Deutschen«, sondern der staatlichen Einrichtungen, das Fehlen eines wirklich »großc(n) Vaterland(es)«, zurückzuführen gewesen seien. Nach der Gründung des Bundes seien aber gerade die Deutschen im Ausland »stolz ... auf die Wiedergeburt des Vaterlandes«. Eben diesen Deutschen aber - insbesondere aus den »unteren Volksschichten«, denen sowohl die Kenntnis von der Möglichkeit der Eintragung in eine Konsulatsmatrikel als auch die Mittel zu ihrer Realisierung fehlten - , die »immer haben Deutsche bleiben wollen«, nehme man ihren Stolz und ihr erwachtes Nationalbewußtsein. Unterstützt wurde Miquel von dem Abgeordneten Freiherr von Hagke. Dieser zitierte aus Zuschriften im Ausland lebender Deutscher, die es als Frage der nationalen Ehre empfänden, ihre Staatsangehörigkeit beizubehalten und dafür auch bereit seien, ein gewisses finanzielles Opfer zu erbringen.146 Diese Argumentation umriß eine Herausforderung, der sich das tradierte Staatsangehörigkeitsrecht von der Entstehung des deutschen Nationalstaats bis zum Ersten Weltkrieg immer mehr ausgesetzt sah. Ein neu entstehendes kollektives Nationalbewußtsein wurde, zunehmend unter Berufung auf seine Verbreitung gerade in den »unteren Volksschichten«, ins Feld geführt gegen eine 144 Abändcrungsantrag zu dem Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit (Dr. Braun, Wiesbaden), Aktenstücke zu den Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, Anlagen, Nr. 45. 145 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 18. Sitzung (10. März 1870), S. 268. 146 Ebd., S. 272.

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Haltung, die in das Licht eines bürokratischen, national engherzigen und volksfernen Traditionalismus gerückt wurde. Der linksliberale, der Fortschrittspartei angehörende Abgeordnete Wilhelm Löwe spitzte die Argumentation noch zu, indem er der Matrikelregelung vorhielt, sie begünstige die »reicheren Klassen«: Gerade der »Arme« aber, der »vermöge seines meistens niederen Bildungsstands in dem fremden Land lebend, von den Anschauungen ausgeht, die in dem fremden Land herrschen, der also, wenn er in einem Land lebt, wo die Unverjährbarkeit der nationalen Angehörigkeit besteht, wo es selbstverständlich ist, daß jeder, der da geboren ist, wohin er auch gehen mag, seine Nationalität behält, auch ohne eine bestimmte Form zu erfüllen, dieser Arme ist in Gefahr, seine Nationalität durch bloße Nachlässigkeit zu verlieren«.147 Er fügte noch hinzu, daß zumindest die öffentliche Meinung im Ausland einen Deutschen, der seiner Staatsangehörigkeit verlustig gegangen sei, auch weiterhin als Deutschen betrachten und behandeln werde. Damit bekräftigte er ein vorstaatlich begründetes kollektives Nationalgefühl durch eine Zuschreibung von außen. Darin wurden die Umrisse einer Nationvorstellung erkennbar, die einerseits zwar die staatliche Bekräftigung suchte, die sich andererseits jedoch nicht auf den Staat stützte und mit dem Verlust der staatlichen Anerkennung auch nicht verlorenging. Die Gegenposition vertrat in geradezu klassischer Reinheit und mit Nachdruck der Präsident des Bundeskanzleramts, Staatsminister Rudolf von Delbrück. Für ihn, der für die Regierungen der Bundesstaaten sprach, war die Verjährbarkeit der deutschen Staatsangehörigkeit ein essentielles Erfordernis staatlich-administrativer Klarheit, das er über das »Recht des Einzelnen auf seine Nationalität« stellte. Nach dieser Auffassung bestand das höchste Gebot darin, die Eindeutigkeit und Identifizierbarkeit der Staatsangehörigkeit auch gegenüber dem Ausland zu erhalten und die Schaffung einer »privilegierten Klasse« deutscher Staatsangehöriger zu vermeiden, die als Ausländer im Gaststaat politische Privilegien, z. B. die Befreiung von Steuer- und Militärdienstpflichten, genössen, sich zugleich aber den Pflichten eines Deutschen entzögen. Delbrück hatte dabei insbesondere die Deutschen in Rußland im Auge.148 Seinem prinzipiellen Postulat vom notwendigen Pflichtenzusammenhang aus Schutz und Gehorsam, Leistung und Gegenleistung konnte sich der Reichstag nicht entziehen. Als der Bundesrat die Aufrechterhaltung der Verjährungsklausel zum Zustimmungserfordernis erklärte, lenkte die liberale Reichstagsmehrheit ein und begnügte sich mit einer Klausel, die norddeutschen Bundesange147 Ebd., S. 270. 148 Ebd., S. 267, 269. Bereits 1869 hatte Bismarck in einem Schreiben an die deutschen Gesandten in Constantinopcl und St.Petersburg die Auffassung vertreten, die Verjährung der deutschen Staatsangehörigkeit nach zehn Jahren sei geboten, um die »doppelte Privilegierung« der Deutschen im Ausland zu vermeiden, Kanzler des Norddeutschen Bundes an Gesandte, 23.3.1869, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 9.

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hörigen nach Verjährung ihrer Staatsangehörigkeit die erleichterte Wiederaufnahme zugestand.149 Behauptete sich hier die etatistische Linie des von Preußen geführten Bundesrats, setzte sich in einem weiteren Konfliktpunkt die föderativ-partikularistische Auffassung der Regierungen durch. Auf Antrag unitarisch eingestellter liberaler Reichstagsabgeordneter sollte der Übertritt eines Bundesangehörigen in die Staatsangehörigkeit eines anderen Bundesstaats nicht mehr, wie der Regierungsentwurf vorschrieb, in einer förmlichen »Naturalisation«, sondern einer formlosen Aufnahme bestehen. Vor allem aber sollte diese »Aufnahme« nur mehr an die - gegebenenfalls anzumeldende - »Niederlassung« im Territorium des Aufnahmestaates, nicht aber an eine förmliche Zulassung gebunden sein.150 Angesichts der gleichmäßigen Regelung der Militär- und Armenverhältnisse im Norddeutschen Bund wollten die Liberalen die letzten Aufnahmehürden beseitigen. Sie betrachteten den wirtschaftlichen untrennbar vom politischen Zusammenhalt151 des Bundes und wollten ihn dadurch ausbauen, daß jeder »Norddeutsche« in jedem Bundesstaat politischer Staatsbürger werden könne. Darin sahen sie einen entscheidenden Schritt zur »Förderung des Nationalgefühls«,152 zu einem »Norddeutschen Bürgerrecht« in Ergänzung der unvollkommenen Indigenatsbestimmung der Verfassung. Eben diese politische Freizügigkeit wollten rechte Liberale wie konservative Partikularisten verhindern. Der Nationalliberale August Grumbrecht verwahrte sich gegen den Staatsangehörigkeitswechsel wider Willen, der allzuleicht durch bloßen territorialen Übertritt eintreten könne. Unterstützt wurde er von Vertretern der Bundesregierungen, die das Willensprinzip bei Aufgabe der Staatsangehörigkeit im In- und Ausland insgesamt sehr stärkten.153 Bezeichnend ist, wie sich die aufgeklärt-liberale Grundidee des autonomen, willensbegabten Individuums von den politischen, vor allem unitarischen Zielsetzungen des Liberalismus ablöste und nunmehr zur Bekräftigung partikularer Staatsvor149 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 50. Sitzung (20. Mai 1870), S. 1077; § 21 Abs.4 und 5 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes-und Staatsangehörigkeit vom 1.Juni 1870. 150 Antrag des linken Zentrumsabgeordneten Florens von Bockum-Dolffs, Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, Anlagen, Nr. 37. Er wurde im Plenum des Reichstags unterstützt von den nationalliberalen Abgeordneten Karl Braun und Karl Friedrich Frosch (Protokolle der Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 18. Sitzung (18. März 1870), S. 251, 254f., 258f. 151 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 1 H.Sitzung (18. März 1870), S. 258 (Abgeordneter Karl Braun). 152 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 1 S.Sitzung (18. März 1870), S. 256 (Abgeordneter Miquel). 153 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 1 S.Sitzung (18. März 1870), S. 254 (Abgeordneter Grumbrecht), 252 (Hofmann, Hessischer Bevollmächtiger zum Bundesrat), 259 (Präsident des Bundeskanzleramts Delbrück).

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Stellungen eingesetzt wurde. Diese sollten in dem beidseitigen Willensakt einer »mit einer gewissen Feierlichkeit«154 vorzunehmenden Verleihung der partikularen Staatsangehörigkeit zum Ausdruck kommen. Auf selten des konservativen Partikularismus stand dahinter aber der noch weitergehende Gedanke, die politische und wirtschaftliche Kontrolle über den eigenen Staat, seine regionalen Eigenarten gegenüber fremder Bemächtigung zu bewahren. Am deutlichsten sprach dies der Holsteiner Abgeordnete Rudolf Schieiden mit der Frage aus: »Ist es aber nicht eine Erschütterung dieser Grundlagen, wenn irgend ein beliebiger hergelaufener Mensch aus einem anderen Bundesstaate, der unmittelbar nach seiner Niederlassung wegen irgend eines Verbrechens oder Vergehens bestraft wird, [... ] nach verbüßter Strafe vor die Behörde treten kann und sagen, um meine Revange oder auch meinen Dank für die auferlegte Strafe zu zeigen, will ich Euch die Ehre erweisen, bei Euch Bürger zu werden«.155 Der konservative sächsische Abgeordnete Kurt von Einsiedel formulierte den Einwand politischer, indem er Bedenken gegen die beliebige Zulassung auswärtiger Bundesangehöriger zu den Wahlen erhob. Er fürchtete Wahlmanipulationen durch einen gelenkten massiven Zustrom von Bundesangehörigen. 156 Gemeint waren insbesondere Angehörige der unteren Klassen. Die Angst vor unkontrollierbaren Bevölkerungsströmen in einem Bundesstaat ohne Binnengrenzen, der einer nie gekannten rapiden Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse unterworfen war, erfaßte die scheinbar so rationale Konstruktion des Staatsangehörigkeitsrechts. Am Schluß reichten die partikularstaatlichen Vorbehalte im Norddeutschen Reichstag, um das urkundliche und »feierliche« Aufnahmeverfahren bei Übertritt in einen anderen Bundesstaat aufrechtzuerhalten.157 Die Trennung der partikularen Staatsbürgerschaften blieb damit auch symbolisch bestehen, selbst wenn der unitarischen Richtung kleine Zugeständnisse gemacht wurden: Der Begriff »Naturalisation«, der aus national-unitarischer Sicht »seine nationale Natur umformen«158 bedeutete,

154 Ebd., S. 260 (Delbrück). 155 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 50. Sitzung, (20. Mai 1870) S. 1079 (Delbrück). 156 Ebd., S. 1081. 157 Das Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit vom 1 .Juni 1870, § 7, sah den Anspruch jedes Bundesangehörigen auf Erteilung einer »Aufnahme-Urkunde« durch den Aufnahmestaat vor (vorbehaltlich einiger wirtschaftlicher und sozialer Vorbedingungen des Freizügigkeitsgesetzes ), während die bloße Ausgabe einer »Aufnahme-Bescheinigung« nach dem Beschluß des Reichstags in zweiter Lesung (s.Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, Anlagen, Nr. 50, § 7) in der dritten Lesung auf die Intervention der Bundesregierungen hin verworfen wurde. 158 Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes, 1. Legislaturperiode, 1 8.Sitzung (18. März 1870), S. 254 (Abgeordneter Braun).

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blieb fortan auf die Aufnahme von Nicht-Bundesangehörigen beschränkt. Die Aufnahme von Bundesangehörigen wurde kostenfrei gewährt.159 Die Politisierung des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts im Norddeutschen Reichstag hatte mit einem Sieg der konservativen Kräfte des (gemäßigten) Föderalismus und Etatismus geendet. Die immanente Tendenz zur nationalen Unitarisierung, die in der Konstruktion eines Bundes-Staatsangehörigkeitsrechts angelegt war, blieb gleichwohl bestehen und gewann mit der fortschreitenden nationalstaatlichen Einigung Deutschlands wieder an Bedeutung. Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs nach dem militärischen Sieg über Frankreich 1870/71 änderte zwar nichts am Wortlaut des Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870.160 Daneben brachte der Gebietszuwachs des Deutschen Kaiserreichs, die Annexion des Elsaß und Lothringens, eine Neuerung in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. Aufgrund ihrer besonderen außen- und sicherheitspolitischen Lage erhielten Elsaß und Lothringen nicht den Status von Bundesstaaten, sondern wurden als »Reichslande« direkt dem Kanzler des Deutschen Reichs unterstellt. Dies galt analog auch für die Staatsangehörigkeit.161 Wer staatsrechtlich zu den »Reichslanden« zählte, war damit nicht zunächst »Elsässer« oder »Lothringer« - wie ein »Preuße« oder »Bayer« Angehöriger des preußischen oder bayerischen Staates war - , sondern unmittelbar Reichsangehöriger, »Deutscher«. Über die militärische Annexion und reichsimmediate Stellung der ehemaligen französischen Provinzen war damit ein neues, unitarisches Element in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht hineingelangt, das seiner hergebrachten Grundanlage widersprach und bisher nur von extremen Unitaristen in der Paulskirchenversammlung 1848 gefordert worden war: die unmittelbare Reichsangehörigkeit.

159 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870, §24. 160 Das Gesetz vom 1. Juni 1870 wurde 1871 als Reichsgesetz übernommen (vgl. Cahn, Reichsgesetz, S. 9), wonach lediglich der Begriff »Norddeutscher« als »Deutscher« zu lesen war. 161 Die staatsrechtliche Zugehörigkeit zum »Reichsland« Elsaß-Lothringen wurde nicht mit »Staatsangehörigkeit«, sondern »Landeszugehörigkeit« bezeichnet, vgl. Cahn, Reichsgesetz, S. 12.

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V Die Praxis der Staatsangehörigkeit im nationalen Machtstaat: Das Deutsche Kaiserreich (1871-1914)

Der Übergang vom multinationalen, national inhomogenen Staatenbund zum deutschen Nationalstaat veränderte zugleich Funktion und Wirkung der Staatsangehörigkeit. Die Staatsangehörigkeit der deutschen Bundesstaaten vor 1866/71 war eine pränationale, vor allem im Vielvölkerstaat Österreich eine supranationale gewesen.1 Dies hatte nationale Präferenzkriterien und Diskriminierungen in der Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungspolitik keineswegs ausgeschlossen. Die Sonderregelungen für Angehörige polnischer oder dänischer Nationalität im Einbürgerungsverfahren Preußens oder auch türkischer Nationalität in Österreich2 zeigen dies. Jedoch beruhten diese Maßnahmen auf zwei Grundvoraussetzungen und Leitbildern, die der Staatsangehörigkeit als einem staatlichen Instrument nationaler Exklusion Grenzen zogen: Das Staatsverständnis sowohl Österreichs als auch Preußens beruhte erstens auf den Grundsätzen eines national gemischten Korpus von ›Untertanen‹ bzw. Staatsbürgern. Zweitens war den Staatsangehörigkeitskonzeptionen beider Staaten in der Tradition des bürokratischen aufgeklärten Absolutismus der Gedanke der Gleichheit immanent, und zwar sowohl in den Beziehungen der ›Untertanen‹ bzw. Staatsbürger untereinander als auch in ihrem Verhältnis zum Staat. Mit der Gründung eines von Preußen geführten Nationalstaats und seiner Abgrenzung von Österreich wurde zugleich das Staatsverständnis auf eine neue, eben nationale Grundlage gestellt. Staat und Nation traten in ein neues Verhältnis zueinander. Die Zugehörigkeit zum Nationalstaat implizierte die Zugehörigkeit zur Nation. Nach welchen inhaltlichen Kriterien auch immer sich die Nation bestimmen mochte, sie stellten zusätzliche substantielle Anforderungen dar, die nicht in der Zugehörigkeit zu einem abstrakten Staat, auch nicht in der Verbundenheit mit einer konkreten Staatsform oder einem Staatsoberhaupt aufgingen. Die Imagination der Nation, einer nationalen Gemeinschaft, konnte sich an einem vorhandenen Staat konstituieren oder sich im anderen Extrem gegen einen bestimmten Staat bilden.3 Immer aber veränderte 1 S.o. Kap. I.1,II.1. 2 Vgl. Vesque von Püttlingen, gesetzliche Behandlung der Ausländer in Österreich, S. 101 f. 3 Schulze, Staat und Nation, S. 169-172.; Gellner, S. 20.; Hobsbmvm, S. 112; am Beispiel der Staatsangehörigkeit Brubaker, Citizenship and Nationhood, S. 52; dagegen sieht Dann, S. 157,

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die Vorstellung eines nationalen Zusammenhangs zugleich die Konzeption des Staates, ergänzte, modifizierte - oder zerbrach sie. Was damit abstrakt umschrieben ist, vollzieht sich historisch nicht in Gestalt eines staatsrechtlichen Gründungsaktes. Dieser mag allenfalls die Grundlage für einen Vorgang bilden, der sich als langgestreckter Prozeß vollzieht: die Nationalisierung des Staates. Theodor Schieder hat diesen Vorgang in seinem wegweisenden Beitrag »Das Deutsche Reich als Nationalstaat« für einige Zentralbereiche staatlicher Politik und Wissensorganisation nachgezeichnet.4 Die Nahtstelle, an der Kriterien der Nation zugleich über die Zugehörigkeit zum Staat bestimmen, und die Einbürgerungspolitik des deutschen Nationalstaats sind dagegen noch nicht als Vorgang der Nationalisierung beschrieben worden. Trifft der oben beschriebene Zusammenhang einer Uberformung des vorhandenen Staates durch die Nation zu, gewinnen nationale Unterscheidungen im Einbürgerungsverfahren in doppelter Hinsicht Bedeutung: als Auswahlkriterium erwünschter und unerwünschter Nationen nach außen und bei der damit einhergehenden Entscheidung über die Stärkung oder Schwächung nationaler Gruppen im Innern des Staates. Um die Analyse der Nationalisierung des Staatsvolks vorzunehmen, muß die Bevölkerung des Deutschen Kaiserreichs in ihrer demographischen Entwicklung in den Blick genommen werden. Ihre Wanderungsbewegungen, ihre nationale und religiöse Zusammensetzung sind zugleich Voraussetzung sowie - über große Zeiträume gesehen - Indikator und Abbild stattfindender Nationalisierungsvorgänge.

1. Migration und Staatsangehörigkeit Die Bevölkerungsentwicklung im Deutschen Kaiserreich zeichnet sich durch einen stetigen, steilen Anstieg aus, der zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg einen Gesamtzuwachs von 65 % , von 40.995 Millionen auf 67.883 Millionen Menschen, ausmachte. In der Friedensphase eines knappen halben Jahrhunderts stieg das Deutsche Reich zu einer der führenden Industrie- und Handelsnationen der Welt auf. Wachsender Wohlstand, verbesserte Wohn- und Hygienebedingungen ließen die Sterblichkeitsziffern sinken, die Lebenserwartung um etwa ein Drittel steigen. Diese Zahlen waren auch im internationalen Vergleich mit anderen führenden Industrienationen bemerkenswert hoch. An der Wende zum 20. Jahrhundert bedeutete »Deutscher« zu sein, dem - von Rußland abgesehen - größten, in seiner Bevölkerungzahl am den Nationalstaat einseitig als »Subjekt staatlichen Handelns, mit dem sich die Nation auseinanderzusetzen hatte«. 4 S. Schieder, Kaiserreich.

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schnellsten wachsenden Nationalstaat des kontinentalen Europa anzugehören.5 Das Bewußtsein dieser zahlenmäßigen Entwicklung trug zur Ausbildung und Hebung des Nationalstolzes bei, zumal die Bevölkerungszahl im Zeitalter stehender Heere zugleich ein unmittelbarer Gradmesser der militärischen Stärke eines Nationalstaats war. Das Argument der zahlenmäßig gewachsenen Stärke der ›Deutschen in der Welt‹, ihrer Erhaltung und Förderung drang auch in die Staatsangehörigkeitspolitik ein und verband sich mit allgemeinen bevölkerungspolitischen Entwicklungen.6 In diesem Zusammenhang ist auch die verfeinerte statistische Erfassung der »Deutschen« in der gesamten Welt zu sehen. Erstmals nach der Volkszählung von 1900 wurden nicht nur die Ausländer im Deutschen Reich, sondern auch die »Deutschen im Ausland« systematisch erfaßt. Dabei sind die Erhebungskategorien aufschlußreich, die neben den deutschen Reichsangehörigen gleichberechtigt die im »Deutschen Reich Geborenen«, d. h. die ehemaligen deutschen Reichsangehörigen auswiesen. Im Falle der weitaus größten Auslandsgruppe, den Deutschstämmigen in den USA, führte dies dazu, daß mehr als drei Millionen im Deutschen Reich Geborene, jedoch kein deutscher Reichsangehöriger gezählt wurde.7 Die als »Deutsche« in den USA Gezählten waren dies somit im staatsrechtlichen Sinn nicht mehr. In der extensiven Verwendung der Kategorie »Deutscher«, die über den aktuellen staatsrechtlichen Status hinausging, zeigte sich somit ein Verständnis des Deutschen, das über rechtliche auf weitergespannte kulturelle Zugehörigkeitsvorstellungen ausgriff Begriff und landläufige Vorstellung des Auslandsdeutschen gingen nicht in der Reichsangehörigkeit auf. So sehr die Kategorie des Auslandsdeutschen expansiv, auf die Erfassung und Erhaltung eines möglichst großen Personenkreises »Deutscher« angelegt war, so klar grenzte sie sich von einer Gruppe ab, die im kulturellen Sinne »Deutsche« waren: von den Deutsch-Österreichern. Die staatsrechtliche Verfestigung der kleindeutschen Lösung im Deutschen Kaiserreich setzte im Verhältnis zum cisleithanischen Österreich zugleich den Primat des staatsrechtlichen Begriffs des »Deutschen« durch. Während das Bewußtsein, Deutscher zu sein, vor dem Ersten Weltkrieg nach überwiegender politischer Auffassung - von den Liberalen abgesehen - die Deutsch-Österreicher immer weniger einschloß,8 galt dies aus österreichischer Sicht keineswegs. Gerade in den letzten Jahrzehnten Cisleithanien-Altösterreichs vor dem Ersten Weltkrieg dominier5 Vgl Fischer u.Z., Bd. 5, S. 12,14. 6 Vgl. Kap. VI. l.,2. 7 Vgl. die Tabelle »Die Deutschen im Auslande«, in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1908, S. 10f. 8 Zur Entstehung einer neuen Kaiseridee, hinter der sowohl preußisch-konservative Vorstellungen wie auch der Österreich einschließende Reichstraditionalismus zurücktraten s. Langewiesche, Nation und Staat, S. 374.

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te, wie Gerald Stourzh gezeigt hat, ein »deutsches« Bewußtsein, »in welchem das sprachlich-kulturelle, bei vielen auch das »völkische« Zusammengehörigkeitsgefühl die staatlich-politischen sowie sprachübergreifenden kulturellen Sozialisationselemente überwog«.9 Neben der das Bewußtsein prägenden nationalisierenden Begrifflichkeit des »Deutschen« wirkten reale demographische Veränderungen auf die Vorstellung der Staatsangehörigkeit und ihrer alltäglichen Bedeutung ein. So ging der Zusammenschluß der deutschen Staaten zu einem Reich, das sich als Nationalstaat von den angrenzenden Territorien unterschied, einher mit grundlegenden Veränderungen im Migrationsgeschehen, die langfristig Auswirkungen auf die praktische Staatsangehörigkeitspolitik hatten. Die zunehmende Mobilität im Verlauf der Industrialisierung führte z. B. dazu, daß sich nach einer Schätzung etwa ein Zehntel der erwerbstätigen Bevölkerung des industriellen Ballungsraums Preußens - je nach Länge des Aufenthalts und individueller Bereitschaft - mit der Frage eines Staatsangehörigkeitswechsels innerhalb des Deutschen Reiches auseinandersetzen mußte. Eine erste Änderung klassifikatorischer Natur wirkte sich auf die Erfassung zwischenstaatlicher Wanderungsbewegungen aus. Wie gezeigt, waren die Angehörigen der Bundesstaaten des Deutschen Reiches füreinander nicht mehr »Ausländer« wie vor 1866, sondern Angehörige eines gemeinsamen Staates. Die Einbürgerung eines Bundesangehörigen in einem anderen deutschen Staat firmierte nicht mehr als »Naturalisation«, sondern als bloße »Aufnahme« und wurde durch eine Gebührenbefreiung prämiert. Diese Veränderungen bedeuteten zunächst nur verwaltungstcchnische Vorzeichen eines umgreifenden Wandels der Vorstellung von den Begriffen »Deutsche« und »Deutschsein«.10 Dieser äußerte sich zunächst in einer präziseren klassifikatorischen Erfassung der Wanderung zwischen den Staaten des Deutschen Reiches. Sie wurde nunmehr als ›Binnenwanderung‹ verstanden und nicht mehr wie vor der Reichsgründung1 ' als ›Außenwanderung‹, die fortan als Wanderung über die Reichsgrenzen definiert wurde. Dieser Umstand trug zunächst dazu bei, daß die Statistik der Binnenwanderer nach oben schnellte und damit das Ausmaß der zwischenstaatlichen Wanderung innerhalb des Reiches als Binnenvorgang des Deutschen Reiches schärfer ins Bewußtsein trat. Ausschlaggebend für die Politik der Staatsangehörigkeit war indessen die erhebliche reale Steigerung der Binnenwanderung zwischen den deutschen Bundesstaaten, die deshalb genauer betrachtet werden soll. Mit dem Ende der drit9 Vgl. Stourzh, Reich, S. 34. 10 Vgl. unten, Kap.VI.1.,4. 11 Dieser Sachverhalt wird in der historischen Literatur begrifflich nicht differenziert, s. z. B. bei Köllmann, Bevölkerungsgeschichte, S. 20 und Fischer, Deutschland 1850-1914, S.361, die Wanderungen innerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes und des Norddeutschen Bundes als »Binnenwanderung« bezeichnen.

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ten großen Welle der Überseewanderung in der ersten Hälfte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts12 verlagerte sich das Wanderungsgeschehen seinem Volumen nach auf die Binnenwanderung innerhalb des Deutschen Reiches. In der beginnenden Hochindustrialisierungsphase war die deutsche Industrie so weit entwickelt, daß sie die Arbeitskräfte aus den strukturschwachen, übervölkerten ländlichen Gebieten des Deutschen Reiches größtenteils aufnehmen konnte. Daraufhin setzte ein struktureller Umbruch der Auswanderung zur Ost-West-Wanderung innerhalb des Reiches ein. Mit Beginn der neunziger Jahre wanderten vornehmlich Bewohner der nordöstlichen Provinzen Preußens (Ostpreußen, Westpreußen, Posen) und aus Mecklenburg in die Hansestädte und nach Berlin, zum weit überwiegenden Teil aber in die preußischen Industrieprovinzen Rheinland und Westfalen aus.13 Damit veränderte sich zugleich die Reichweite der Wanderungsbewegung. War sie zuvor fast ausschließlich »Nahwanderung«,14 d. h. Nachbarschaftswanderung bzw. Wanderung aus den gleichen oder benachbarten Provinzen und Ländern gewesen, nahm ab den neunziger Jahren die »Fernwanderung«15 zu, welche die Grenzen der Provinz, gegebenenfalls des Staates und vielfach Distanzen über dreihundert Kilometer überschritt. Die Hauptzielgebiete der Binnenwanderung verzeichneten zwischen 1871 und 1910 jährliche Binnenwanderungsgewinne zwischen 1,6% (Sachsen) und 2,7 % (Hansestädte). Im Jahre 1900 hatten bereits knapp fünfzig Prozent aller in Deutschland außerhalb ihrer Geburtsprovinzen gezählten Personen Wanderungsstrecken über 250 km zurückgelegt.16 1907 waren 47 % der im Deutschen Reich lebenden Bevölkerung Binnenwanderer, d. h. nicht am Wohnort Geborene, in den Großstädten sogar 54 %. 30,9 % der Binnenwanderer im Deutschen Reich und 41,7 % in den Städten stellten »Fernwanderer« dar. Damit waren 14,5 % der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches und 22,9 % der großstädtischen Bevölkerung erst nach Wanderungen über die Grenzen ihrer Provinz bzw. des Bundesstaates an ihren Wohnort im Jahre 1907 gelangt.17 Die Auswirkungen dieser verstärkten Binnenwanderung auf die individuelle Staatsangehörigkeit und ihre subjektive Wahrnehmung durch die wandernden Bevölkerungsgruppen hingen in hohem Maße von zwei Faktoren ab: zum einen von der Überschreitung staatlicher, nicht nur provinzieller Grenzen innerhalb des Deutschen Reiches, zum anderen von der Stetigkeit der Wanderung, 12 Vgl. Bade, Auswandcrungsland, S. 17f; Marschalck, S. 48f., 188. 13 Zum Folgenden ebenda, S. 49f. 14 Vgl. dazu Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 15f. 15 Zu den Differenzierungen der »Binnenwanderung« nach Entfernungen in »Nachbarschaftswanderung«, »Nahwanderung« und »Fernwanderung« vgl. Köllmann, Industrialisierung, S. 109. 16 Vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 15, Anm.31. 17 Daten nach Köllmann, Industrialisierung, S. 117, und Marschalck, S. 182.

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d. h. der Verweildauer am Zielort im Aufnahmestaat, die ein wesentlicher Indikator sowohl für die rechtliche Möglichkeit als auch für die individuelle Bereitschaft zur Annahme einer neuen Staatsangehörigkeit ist. Beide Faktoren lassen sich aus den vorhandenen Daten zur Binnenwanderung nicht verläßlich ermitteln. Bereits die statistischen Kategorien der »Nahwanderung« und »Fernwanderung« haben sehr begrenzten Aussagewert für die Frage, ob im Verlaufe der Wanderung staatliche Grenzen innerhalb des Reiches überschritten wurden: In den städtischen und industriellen Ballungsräumen Mitteldeutschlands, in Frankfurt/Wiesbaden, Mannheim und den Hansestädten konnte »Nahwanderung« den Zuzug aus nahen Nachbarstaaten, z. B. aus Preußen, Thüringen bzw. Hessen, Baden und Württemberg, ebenso wie aus benachbarten Provinzen des eigenen Staates bedeuten.18 Umgekehrt bezeichnete »Fernwanderung« vom Osten in den Westen Preußens, auch wenn sie Entfernungen von weit mehr als dreihundert Kilometer betraf, gerade keinen Wechsel des staatlichen Territoriums. Der überwiegende Anteil der Binnenwanderung in der Hochindustrialisierungsphase des Deutschen Reiches war damit keine zwischenstaatliche Wanderung. Annähernde Vorstellungen vom Grad der zwischenstaatlichen Wanderung lassen sich indessen aufgrund regionaler bzw. lokaler Daten, vor allem in bezug auf das rheinisch-westfälische Zuwanderungsgebiet, gewinnen: Eine Aufgliederung der erwerbstätigen Bevölkerung des Jahres 1907 nach Herkunftsregionen ergab, daß 9 % der rheinischen, 11,9 % der westfälischen Erwerbstätigen weder aus der Zähl- noch aus der Nachbarprovinz oder aus den nordostdeutschen Provinzen Preußens stammten, sondern aus dem »übrigen Deutschland«.19 Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei um Angehörige nicht-preußischer Bundesstaaten, etwa ein Zehntel der erwerbstätigen Bevölkerung Preußens. Zieht man zum Vergleich Zahlen aus Chemnitz, der industriellen Großstadt Sachsens, für das Jahr 1904/05 heran, lag der Anteil der Fernwanderer an der erwerbstätigen Einwohnerschaft bei 14,9 %.20 Selbst wenn die Kategorie »Fernwanderer« auch Zuwanderung aus entfernteren Gebieten des Staates Sachsen einbezieht, sprechen doch die Gesamteinwanderungszahlen Sachsens für die

18 Dieses definitorische Problem mehr implizierend: Köllmann, Industrialisierung, S. 119. 19 Zahlen nach Köllmann, Rheinland-Westfalen, S. 254. In fünf untersuchten industriellen Großstädten des rheinisch-westfalischen Industriegebietes - Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen - lag der Anteil der Fernwanderer aus dem »restlichen Deutschland« an der gesamten, d. h. nicht lediglich der erwerbstätigen Einwohnerschaft zwischen 6,7% (Duisburg) und 9,7% (Dortmund), Zahlen errechnet nach Köllmann, Binnenwanderung. Dies unterstreicht den erhöhten Anteil der staatenüberschreitenden Fernwanderung an der -jüngeren - erwerbstätigen Bevölkerung, s.dazu unten. 20 Vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 39.

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Periode nach 1871 dafür, daß es sich dabei überwiegend um Einwanderung über die sächsischen Staatsgrenzen handelte.21 Die Aussagekraft dieser Zahlen für die Fluktuationsquote der Staatsangehörigkeit bleibt unter anderem deswegen ungewiß, weil die Qualifizierung der Herkunftsregionen zunächst nichts besagt über die Aufenthaltsdauer im Zielstaat. Zwar nahm die Wanderungshäufigkeit bis zu einer Entfernung von 250 km stetig ab. Doch ist dies nur ein grober Anhaltspunkt dafür, daß Wanderer zwischen den deutschen Bundesstaaten seßhafter waren als innerstaatliche Wanderer und daraufhin später einen Wechsel der Staatsangehörigkeit vollzogen. Aufschlußreicher für diese Fragestellung ist der Strukturwandel von der Familienwanderung zur Einzelwanderung, die ab den neunziger Jahren überwog und geradezu »ein Signum der Binnenwanderung in der Industriegesellschaft« wurde.22 Der Typus des zwanzig- bis dreißigjährigen erwerbstätigen männlichen Einzelwanderers wurde beherrschend im Binnenwanderungsgeschehen. Sobald diese Gruppe am Zielort der Wanderung eine Familie gründete, wurde sie indessen regional relativ immobil.23 Daraus läßt sich folgern, daß die auch bei der Wanderungsentfernung besonders große und mobile Gruppe der jüngeren Erwerbstätigen eine relativ hohe Zielortstabilität aufwies. Damit erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit des Staatsangehörigkeitswechsels, weil dieser vor allem mit dem Erwerb des politischen Wahlrechts auf der Ebene der Kommune und des Bundesstaates verknüpft war.24 Alles in allem brachte die Binnenwanderung der Hochindustrialisierungsphase sowohl nach ihrer Häufigkeit als auch nach ihrer Struktur eine deutliche Erhöhung der Wanderungsvorgänge mit sich, die für die Bestimmung der Staatsangehörigkeit innerhalb des Deutschen Reiches relevant wurden. Ein besonders anschaulicher Beleg für den Zusammenhang von (Arbeits)Binnenmigration und Staatsangehörigkeitsregelungen sind die speziellen staatsvertraglichen Vereinbarungen über Eisenbahnarbeiter. Seit den vierziger Jahren stellten die Eisenbahnbauten frühindustrielle Großprojekte dar, die große Zahlen von Bauarbeitern über längere Zeiträume auch aus anderen deutschen Staaten anzogen. Die Staatsgrenzen überschreitenden Arbeitswanderungen der Eisenbahnarbeiter waren Vorboten der großen Ströme ungelernter Arbeiter, die sich in der Phase der Hochindustrialisierung durch das Deutsche

21 In den Jahren 1867 bis 1875 stieg der Wanderungsüberschuß des Königreichs Sachsen um mehr als das Doppelte, verglichen mit den beiden Jahrzehnten davor, s. Köllmann u. Kraus, S. 52f. 22 Abgeleitet aus dem allgemeinen Trend der Familien zu relativer innerörtlichcr Mobilität, regionaler Immobilität, vgl. Langewiesche, Wanderungsbewegungen, S. 26. 23 Ebd., S. 29. 24 Jedenfalls in denjenigen Bundesstaaten, die das allgemeine gleiche (Männer-)Wahlrecht bzw. nur ein eingeschränktes Zensuswahlrecht kannten, insgesamt die überwiegende Mehrheit der Staaten des Deutschen Reiches.

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Reich zogen. Bereits das erste große, im Jahre 1836 begonnene Bauprojekt der Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Kompagnie warb ausdrücklich Ausländer an, die während mancher Monate der Bauphase 1837/38 bis zu einem Viertel der Arbeitskräfte ausmachten. Die Nah- und Fernwanderungen auslösenden Eisenbahngroßbaustellen wurden vielfach zu Kristallisationskernen neuer industrieller Entwicklungen und führten zu dauernden Umsiedlungen. In zunehmendem Maße kehrten Arbeiter nicht in ihre Heimat zurück, wechselten vielmehr zu anderen Baustellen über und suchten Arbeit an anderen Orten der Provinz oder des Staates, in die sie eingewandert waren.25 Die Staatsangehörigkeitsregeln mancher Staaten begünstigten dieses Wanderungsverhalten, indem sie z. B. aufgrund des hergebrachten Territorialitätsprinzips26 oder durch die Anstellung ausländischer Arbeiter im Eisenbahndienst, der zumeist Staatsdienst war, deren Einbürgerung herbeiführten. Eben dies aber wollten Staaten, die ohnehin unter massenhaften Verarmungserscheinungen litten, auf Dauer vermeiden. So kam es bereits mit den ersten Eisenbahnbauten ab den vierziger Jahren, die Staatsgrenzen überschritten, bis hin zum Abschluß des Eisenbahnausbaus am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu einer Kette staatsvertraglicher Regelungen, die bei Anstellung im fremden Staatsdienst oder bei längerem Aufenthalt auf fremdem Staatsgebiet den dortigen Erwerb der Staatsangehörigkeit ausschlossen. Allein Preußen traf zwischen 1845 und 1913 in 126 Eisenbahnverträgen derartige Abmachungen.27 Diese drängten das Territorialprinzip zurück und stärkten implizit das Abstammungsprinzip. Zugleich wurde die Vorstellung der Einbürgerung aufgrund eines besonderen vertragsähnlichen Loyalitäts- und Näheverhältnisses zum Staat geschwächt. Gleichwohl zeigt diese - indirekte - Stärkung des Abstammungsprinzips einmal mehr dessen ursprüngliche bürokratische, sozioökonomische Ratio. Sie hing nicht mit nationalisierenden Ausschlußerwägungen zusammen. Die Relevanz der Migrationsbewegungen für die Konstituierung und Wahrnehmung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse im Deutschen Reich wird noch deutlicher, wenn man zur Binnenwanderung die wachsende Zahl der Arbeitseinwanderung über die Außengrenzen des Deutschen Reiches hinzunimmt. In den fünf großen Industriestädten des Ruhrgebiets lag im Jahre 1907 der Ausländeranteil unter den Fernwanderern zwischen 5,3 % (Gelsenkirchen) und 32,3 % (Duisburg).28 Im Deutschen Reich insgesamt stieg der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung zwischen 1871 und 1910 von 5,0 auf 19,4 von Tausend.29 Nach 1885 kehrte sich die kontinentale Wanderungsbilanz des 25 26 27 28 29

Dazu insgesamt grundlegend Obermann, S. 306, 310f., 316. S.o. Kap. I.1. Vgl. die Auflistung bei Hecker, Staatsangehörigkeitsregelungen, S. 222-237. Vgl. Köllmann, Binnenwanderung, S. 172. Tabelle bei Marschalck, S. 175.

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Deutschen Reiches um. Hatte bis dahin neben der Wanderung nach Übersee auch die kontinentale Auswanderung überwogen, wurde die kontinentale Wanderungsbilanz in der Zeit von 1885 bis 1900 mit 300.000 Zuwanderern positiv. Erstmals in der Geschichte des Kaiserreichs gab es - in dem Jahrzehnt zwischen 1895 und 1905 - mehr Zu- als Auswanderung. Das Wanderungsgeschehen im Deutschen Kaiserreich unterlag also im Vergleich zur ersten Jahrhunderthälfte einem doppelten strukturellen Wandel: Erstens verschob sich der Schwerpunkt des Wanderungsgeschehens von der Auswanderung auf die Binnenwanderung und Einwanderung. Zweitens vollzog Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts den Übergang zum Arbeitsimportland und damit auf lange Sicht - den strukturellen Umbruch zum Einwanderungsland.30 Insgesamt verlagerte sich damit rein quantitativ das Migrationsgeschehen, soweit es für die Staatsangehörigkeit relevant wurde, von außen nach innen: von der Auswanderung zur Binnen- und Einwanderung, vom Verlust der deutschen Staatsangehörigkeiten im Ausland zu ihrem Neuerwerb und Wechsel im Innern des Deutschen Reiches. Versucht man zusammenfassend die von Fluktuationen der Staatsangehörigkeit betroffenen Personengruppen zumindest regional näherungsweise zu quantifizieren, eignet sich dazu das relativ gut erforschte rheinisch-westfälische Industriegebiet. Rechnet man zur Rate der zwischenstaatlichen Fernwanderer aus dem Deutschen Reich, die 1907 zwischen 9,0 und 11,9 % betrug, für dasselbe Jahr eine Näherungsrate der ausländischen Wohnbevölkerung von etwa 15 %31 hinzu, war in diesem Gebiet bis zu einem Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung von der Möglichkeit staatsangehörigkeitsrechtlicher Statusänderungen betroffen. Wanderungen, die über Staatsgrenzen führten und auf Dauer angelegt waren, weckten vielfach die Bereitschaft der Eingewanderten, sich einbürgern zu lassen. Aus der Sicht des Nationalstaats, der Einbürgerungsentscheidungen traf, fiel jedoch zunehmend ein Kriterium ins Gewicht, das von der individuellen Bereitschaft zur Einbürgerung unabhängig war und auf einer Zuschreibung beruhte: die Nationalität des Einbürgerungsbewerbers. Ein Staat, der sich selbst als Nationalstaat definierte, kam nicht umhin, in der Einbürgerungsentscheidung nationale Präferenzen vorzusehen. Unter diesem Gesichtspunkt war die Verteilung der Nationalitäten wesentlich, und zwar sowohl in der fest ansässigen, der Staatsangehörigkeit nach ›deutschen‹ als auch in der ›ausländischem Bevölkerung des Deutschen Reiches. Die Entscheidung, Ausländer einer bestimmten Nationalität einzubürgern oder abzuweisen, hing unmittelbar von der politischen Haltung ab, die der einbürgernde Nationalstaat gegenüber 30 Bade, Auswanderungsland, S. 29f. 31 Geschätzt nach dem Zwischenwert von 1900 (= 13,8%) und 1910 (= 19,4%), vgl. zu den Angaben Marschalck, S. 175.

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den Angehörigen dieser Nationalität unter seinen Staatsangehörigen einnahm. Im Einbürgerungsverfahren entschied er darüber, diese Nationalität zu stärken oder zu schwächen. Die stärkste nichtdeutsche Nationalität im Deutschen Kaiserreich stellten die Polen. Geht man nach dem Kriterium der Sprache,32 betrug ihr Anteil im Jahre 1900 über drei Millionen, d. h. etwa fünf Prozent der Gesamtbevölkerung.33 Allein in Preußen, wo die polnische Minderheit im wesentlichen siedelte, machten sie ein Zehntel der Gesamtbevölkerung im Jahre 1910 aus, d. h. 3,7 Millionen.34 Diese Angehörigen der polnischen Nationalität lebten weitgehend in geschlossenen Siedlungsgebieten des preußischen Ostens und - zunehmend seit der Jahrhundertwende - auch im Ruhrgebiet, wo sie 1910 eine Gruppe von drei- bis vierhunderttausend Personen ausmachten.35 Diese Gruppe der ›Ruhrpolen‹ ist das prägnanteste Beispiel für eine Kerngruppe der Ost-West-Binnenwanderung innerhalb des Deutschen Reiches, die sich zugleich innerhalb eines Bundesstaates, also Preußens, vollzog und die Staatsangehörigkeit der Wandernden unberührt ließ.36 Die vom Osten in den Westen Preußens wandernden Polen waren zwar staatsrechtlich betrachtet preußische Staatsangehörige, mithin ›Deutsche‹. Zugleich aber waren sie Angehörige einer nationalen Minderheit, die ihrerseits einer Nationalisierung unterlag. Eine starke, an Bedeutung zunehmende Strömung innerhalb dieser Minderheit strebte die Gründung eines unabhängigen polnischen Nationalstaats an. Ein fundamentales Spannungsverhältnis zwischen der Homogenität der staatsrechtlichen Angehörigkeitsbeziehung und der Inhomogenität der darin eingelagerten nationalen Loyalitäts- und Zugehörigkeitsverhältnisse wird daran erkennbar. Diese Spannung steigerte sich während des Kaiserreichs und kennzeichnete schließlich die staatliche Politik gegenüber allen nationalen Minderheiten des Reichs. Sie bestimmte auch die Perspektive einer restriktiven Einbürgerungspolitik: Die Einbürgerung von Angehörigen polnischer Nationalität drohte das ›polnische Elemente innerhalb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit deren innere Gegensätze zu verstärken. Aus dieser Sicht vermochten Angehörige der polnischen Nationalität, indem sie mit den vollen Rechten deutscher Reichsbürger ausgestattet wurden, um so wirkungsvoller für die Sezession vom Deutschen Reich zu kämpfen. Dieser grundsätzliche Zusammenhang betraf ebenso die nächst den Polen größten Minderheiten des Deutschen Reichs: die französisch sprechenden El32 Zur Verzerrung der Nationalitätenstatistik im Deutschen Reich aufgrund ihrer Politisierung und Nationalisierung s. Wehler, Polen im Ruhrgebiet, S. 439-444. 33 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1908, S. 8. 34 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 961. 35 S. Kiessmann, Einwanderungsprobleme, S. 305; ders., Long-Distance Migration, S. 104f 36 Zu Zahlenangaben für die Ruhrpolen vgl. Wennìng, S. 83; zur Wanderungsfluktuation ausländischer polnischer Arbeiter in Preußen 1907-1913 s. Woydt, S. 20.

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saß-Lothringer und die Dänen. Im Unterschied zu den Polen waren beide Minoritäten infolge kriegerischer Ereignisse und Gebietsangliederungen in der Gründungsphase des Deutschen Reichs zu ›Deutschen‹ geworden, sei es 1866 durch die Einverleibung der Eibherzogtümer in den preußischen Staat und damit in das spätere Reich, sei es durch die Annexion Elsaß-Lothringens als »Reichslande« nach 1871. Beiden nationalen Minderheiten war damit die deutsche Staatsangehörigkeit oktroyiert worden. Dieser Umstand verschärfte die ohnehin bestehenden national-kulturellen Konflikte, die sich vor allem am Sprachen- und Schulrecht entzündeten.37 Beide Minderheiten hatten vor der Gründung des deutschen Nationalstaats andere Staatsangehörigkeiten besessen. Auch wurden beide von Nationalstaaten unterstützt, die an das Kaiserreich angrenzten. Hinzu kam, daß sowohl Dänemark als auch Frankreich in den Friedensverhandlungen Optionsregelungen für ihre Minderheitsgruppen erreicht hatten. Anders als die polnische Minderheit konnten sich also die Dänen und Elsaß-Lothringer im Kampf um ihre Minderheitsrechte im Deutschen Reich gegebenenfalls unter den Schutz der Staatsangehörigkeit eines anderen Nationalstaates zurückziehen. Dieser Umstand wog die zahlenmäßig geringere nationale Problematik der Elsaß-Lothringer und Dänen - die französische Sprachgruppe im Deutschen Reich wurde 1900 mit 0,211, die dänische mit 0,141 Millionen angegeben38 - zu einem erheblichen Maße auf. Festzuhalten bleibt indessen, daß sich die nationalen Bruchlinien innerhalb der Reichsbürgerschaft nicht einfach mit der sprachlichen Zugehörigkeit deckten: Dies galt in beiden Richtungen. Zum einen waren nicht alle deutsch sprechenden Reichsangehörigen ihrer subjektiven Nationszugehörigkeit nach durchweg Deutsche. Das traf besonders auf Elsaß-Lothringen zu, wo die Mehrheit der Bevölkerung zwar deutsch sprach, politisch aber weitgehend dem Französischen und dem französischen Staat zuneigte. Rein quantitativ war deshalb die nationale Opposition in den »Reichslanden« weitaus größer, als die Sprachstatistik dies erkennen ließ. Zum anderen war die fehlende Deutschsprachigkeit nicht gleichzusetzen mit nationaler Opposition. Das traf insbesondere auf die Gruppe der polnisch sprechenden Masuren zu, die ebensoviele Mitglieder wie die dänische Sprachgruppe umfaßte.39 In der masurischen Volksgruppe Ostpreußens, die sich durch ihr protestantisches Bekenntnis scharf von den katholischen Polnischsprachigen der übrigen preußischen Provinzen unterschied, lebte ein altpreußisches Staatsbewußtsein fort, das nationalkulturelle Andersartigkeit mit der Loyalität gegenüber einem ›deutsch‹ ge37 Vgl. dazu unten, Kap. V.3. 38 Vgl. die Bevölkerung nach der Muttersprache am 1. Dezember 1900, in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1908, S. 8: Die genauen Angaben lauteten für »Französisch« 211.679, für »Dänisch (Norwegisch)« 141.061. 39 Vgl. die Bevölkerung nach der Muttersprache am 1. Dezember 1900, in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1908, S. 8: »Masunsch«: 142.049.

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prägten Staatswesen verband, wobei das protestantische Bekenntnis eine Brükkenfunktion einnahm.40 Angesichts wachsender nationaler Auseinandersetzungen zwischen Staatsangehörigen des Deutschen Reiches41 barg die annähernde Vervierfachung der Ausländerquote an der Wohnbevölkerung des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1910 eine zusätzliche Verschärfung der nationalen Konfliktlage. Es wird somit zu untersuchen sein, ob es zwischen diesen Vorgängen einen Zusammenhang gab und das starke Wachstum der Ausländerrate - zumindest auch - mit erhöhten Einbürgerungsrestriktionen zusammenhing. Geht man wiederum von der größten nationalen Minderheit aus, also von den Polen in Preußen, stieg die Zahl der polnisch sprechenden Ausländer erst ab der Jahrhundertwende steil an. Im Jahre 1890 waren 99,8 % der preußischen Bevölkerung, die Polnisch als ihre Muttersprache angaben, Angehörige des Deutschen Reiches.42 Ein Jahrzehnt später hatte sich die Zahl der polnisch sprechenden Ausländer in Preußen um nur knapp 1 % erhöht, und zwar um 35.887 ausländische Staatsangehörige, die fast ausschließlich aus Österreich-Ungarn und Rußland43 kamen und insgesamt 9,8 % der in Preußen ansässigen Ausländer ausmachten. Im Jahre 1907 stellten dagegen die 237.497 Angehörigen polnischer Nationalität bereits 32,4 % der ausländischen Arbeiter in Preußen.44 40 Jasinski, S. 99-108. Am Beispiel der Masurcn zeigt sich daher die begrenzte Deutungskraft der Unterscheidung objektiv-kultureller und subjektiv-politischer Nationenkonzeptionen. Ein Staat wie das Deutsche Reich nutzte innerhalb seines eigenen Gebietes sowohl einen subjektivpolitischen als auch einen objektiv-kulturellen Nationsbegriff, je nachdem , ob es sich um eine Bevölkerungsgruppe handelte, die erfolgreich assimiliert (Masuren) oder fremder Assimilation ausgesetzt worden war (Elsaß-Lothringen), dazu prägnant Winkler, Nationalismus, S. 8f. 41 Damit ist die Gesamtheit der Staatsangehörigen aller Einzelstaaten des Deutschen Reiches von 1871 gemeint. Für sie werden im folgenden die Sammelbegriffe »Reichsbärger« bzw. »Reichsbürgerschaft« benutzt, die keine Gesetzeskategorien darstellen, da es bis 1934 keine einheitliche und ausschließliche Staatsangehörigkeit des Deutschen Reiches gab. Davon zu unterscheiden ist der rechtliche Sonderstatus der »unmittelbaren Reichsangehörigkeit« (vgl. § 33 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 22. Juli 1913, RGBl. I S. 583), der all diejenigen staatsrechtlich dem Deutschen Reich Angehörenden betraf, die nicht zugleich die Staatsangehörigkeit eines deutschen Bundesstaates besaßen. Dabei handelte es sich um Ausländer und »Eingeborene«, die in den deutschen Schutzgebieten eingebürgert wurden, und ehemalige Deutsche, die sich nach ihrer Wiedereinbürgerung nicht im Inland niederließen. 42 Vgl. Berechnung nach von Fircks, S. 189f, S. 209, 244: von 2.765.101 Einwohnern Preußens, die Polnisch als ihre Muttersprache angaben, waren 2.759.845 Angehörige des Deutschen Reiches. 43 Vgl. Preußische Statistik Bd. 177 (1902), III. Theil. Die Muttersprache, S. XXVII; Bd. 188 (1904), S. 100f. 44 Errechnet nach Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung, S. 54: Danach gab es 1907 insgesamt 733.077 ausländische Arbeiter in der Industrie und Landwirtschaft Preußens. Statistische Angaben über den Anteil der fremden Muttersprachen an der ausländischen Wohnbevölkerung- nicht erwerbstätigen Bevölkerung - Preußens sind aufgrund der Volkszählung 1905 offenbar nicht eigens erhoben worden (vgl. dazu Broesike, S. 58.) Deshalb werden hier hilfsweise statistische Angaben zu erwerbstätigen Ausländern polnischer Nationalität herangezogen.

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Dieser hohe Anstieg der Ausländer polnischer Nationalität unter der Arbeiterbevölkerung Preußens deckte sich mit dem Anstieg der Quote russischer und österreichisch-ungarischer Staatsangehöriger, aus denen sich die polnischen Arbeiter fast durchweg rekrutierten. Diese beiden Ausländergruppen wuchsen zwischen 1900 und 1910 um insgesamt 84 % an und stellten damit allein 76 % des sprunghaften Ausländeranstiegs in jener Zeitspanne.45 Der Anteil der Polen unter den Reichsausländern stieg demnach in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg rapide an, während sich zugleich die deutsch-polnischen Nationalitätenkämpfe verschärften, insbesondere im preußischen Osten. Betrachtet man die Reaktion des preußischen Staates auf diese Herausforderung, deutet bereits auf der Ebene der Statistik der steile Anstieg nicht eingebürgerter Angehöriger polnischer Nationalität auf einen Kompromiß zwischen den ökonomischen und politischen Interessen des preußischen Staates hin: Der hohe Bedarf an (landwirtschaftlichen) Arbeitskräften im Osten Preußens, der aufgrund der Binnenwanderung in die Industriegebiete des preußischen Westens entstand, wurde durch polnische Wanderarbeiter gedeckt. Dies stand in scharfem Widerspruch zur preußischen Staatsräson, die gerade auf die Eindämmung der vorwiegend polnischen Zuwanderung aus dem östlichen Ausland ausgerichtet war. Die widerstreitenden Interessen wurden dadurch ausgeglichen, daß der Aufenthaltsstatus der polnischen Arbeiter durch ein ausgefeiltes System des »Legitimations- und Rückkehrzwangs«46 auf Unstetigkeit gestellt, d. h. auf Dauer in der Schwebe gehalten wurde. Mit Hilfe der Legitimationskarte wurde die Identität der einreisenden Wanderarbeiter wirksam kontrolliert und ihre Rückkehr ins Herkunftsgebiet während der winterlichen Sperrfrist für Wanderarbeiter durchgesetzt. Der Rückkehrzwang zielte speziell auf Arbeitskräfte aus dem ›östlichen‹ Ausland, unter ihnen die weitaus größte Gruppe der ausländisch-polnischen Arbeiter. Die derart erzwungene Mobilität der Arbeitskräfte, verbunden mit dem Verbot, Familienangehörige mitzubringen, entzog einer dauerhaften Ansiedlung und damit einer Einbürgerung jede Grundlage. Wie sehr die Staatsangehörigkeit mit Nationalitätenkonflikten belastet war und demzufolge als staatliches Instrument zu ihrer Kontrolle eingesetzt wurde, zeigte beispielhaft der Streit um die Beschäftigung ausländischer Polen im Westen Preußens: Bis zum Ende des Kaiserreichs ließ der preußische Staat entgegen dem Drängen der Industrieunternehmer ausländisch-polnische Arbeiter grundsätzlich nicht zur Beschäftigung in der Industrie des westlichen Preußen zu: Ausländische Polen sollten nicht mit Polen preußisch-deutscher Staatsangehörigkeit zusammengebracht werden, um eine weitere Verbreitung der nationalpolitischen Oppositionspolitik zu verhindern. 45 Errechnet nach der Zusammenstellung bei Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung, S.25. 46 Zum Gesamtzusammenhang grundlegend Bade, Auswanderungsland, S. 3()f., 42f; ders., »Preußengänger« und »Abwehrpolitik«, S. 111-130.

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Nationalitätenkonflikte im Deutschen Kaiserreich standen vielfach im Zusammenhang mit konfessionellen Auseinandersetzungen und wurden dadurch verschärft, wie sich ebenfalls am Beispiel der polnischen Minderheit zeigt. Die Polen im Kaiserreich waren überwiegend katholisch und gehörten damit zugleich einer konfessionellen Minderheit an. Zwar stellten Katholiken sowohl in Preußen als auch im Deutschen Reich mehr als ein Drittel der Bevölkerung, doch waren sie gegenüber der protestantischen Mehrheit in ihrem Einfluß in der Politik, der Wirtschaft und Kultur unterrepräsentiert.47 Die doppelte Minderheitenposition verschärfte die Außenseiterrolle der Polen im Rahmen des Deutschen Reiches, während sie umgekehrt den kulturell-politischen Zusammenhalt der polnischen Minderheit nach innen stärkte. Indirekt wird der konstitutive Charakter konfessioneller Fragen für Nationalitätenkonflikte dadurch bestätigt, daß sich die überwiegend protestantische Minderheit der polnisch sprechenden Masuren ohne Spannungen in den preußischen Staat einfügte. Diese Zusammenhänge legen die Berücksichtigung konfessioneller Kriterien bei der Untersuchung der Staatsangehörigkeitspolitik sowohl in Verbindung mit nationalen Auswahlkriterien als auch darüber hinaus nahe. Eine Gruppe, an der sich diese Zusammenhänge besonders eindrucksvoll zeigen lassen, stellten die Juden dar. Als religiöse Gruppe, die sich während des 19. Jahrhunderts ganz überwiegend48 nicht als eigenständige Nationalität verstand, wurden sie als Ausländer gleichwohl nach nationalen Kriterien wahrgenommen und eingestuft. Als kleine religiöse Minderheit - im Durchschnitt bei einem Prozent der Bevölkerung - , die über keine politische Lobby verfügte, waren die ausländischen Juden, die während des Kaiserreichs überwiegend aus den östlichen Nachbarstaaten in das Deutsche Reich einwanderten,49 vor allem als Angehörige russischer oder polnischer Nationalität einer doppelten - sowohl national als auch konfessionell begründeten - Abwehrpolitik ausgesetzt. Andererseits ließ sich im Zeitalter der staatsbürgerlichen Emanzipation die Tradition der diskriminierenden Sonderregeln für Juden in der Einbürgerungspolitik nicht einfach aufrechterhalten. Um so mehr wird deswegen der Blick auf die Praxis der Einbürgerung zu richten sein.50

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Fischer, Deutschland 1850-1914, S. 378f. Meyer, S. 357. Grundlegend Wertheimer, Unwelcome Strangers. Dazu Goseivinkel, »Unerwünschte Elemente«.

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2. Optionen: Elsaß-Lothringen und Nordschleswig Wenn die Schaffung eines Nationalstaats ein Prozeß allmählicher Nationalisierung war, mußte sich die nationalisierende Kraft des Deutschen Reiches an der Integration und Assimilation der ›nicht-deutschen‹ Gebiete und Bevölkerungen des Reiches erweisen, die zum Reichsterritorium neu hinzugekommen waren. Dies galt in besonderem Maße für die 1871 als »Reichslande« annektierten Gebiete des Elsaß und Lothringens. Erstmals wurde die deutsche Staatsangehörigkeit als Instrument nicht nurmehr staatlicher, sondern betont nationaler Integration eingesetzt. Dann unterschied sich die Annexion Elsaß -Lothringens in den Nationalstaat des Deutschen Reichs von der Einfügung der Herzogtümer Schleswig und Holstein in den preußischen Staat im Jahre 1866. Sowohl der Wiener als auch der Frankfurter Friedensvertrag von 1864 bzw. 1871 enthielt ein völkerrechtliches Instrument, das bereits im 18. Jahrhundert bei Gebietsabtretungen Anwendung gefunden hatte:51 Regelungen über die Option der Angehörigen des abgetretenen Gebietes, derzufolge sie zwischen der Staatsangehörigkeit des annektierenden und des früheren Staates wählen konnten. Ihrer hergebrachten Struktur nach setzte die Optionsregelung den Angehörigen des annektierten Gebietes eine Frist, innerhalb derer sie ihre Option treffen und -je nach deren Ergebnis - das annektierte Gebiet verlassen mußten. Dieser Mechanismus räumte einerseits den Einwohnern des betreffenden Gebietes die politische Wahlfreiheit ein, welchem Staat sie fortan Loyalität entgegenbringen wollten. Andererseits gab sie dem annektierenden Staat die Handhabe, Personen, die nicht ihre Loyalität gegenüber der neuen Staatsmacht bekundeten, aus dem Staatsgebiet auszuweisen und zur Umsiedlung zu zwingen. Das rechtliche Instrument, dessen Ursprünge in der Staatsräson des Spätabsolutismus lagen, erfuhr im Zeitalter des Nationalstaats einen grundlegenden Funktionswandel: Je nach Ausgestaltung und Handhabung der Optionsregelungen wurden diese zu einem Mittel, Loyalität zum annektierenden Nationalstaat zu erzwingen und in diesem Sinne die Bevölkerung des annektierten Gebiets national zu ›homogenisieren‹. Aufgrund des Frankfurter Friedens wurden die »Reichslande« Elsaß-Lothringen aus den ostfranzösischen Departements gebildet, die sich weitgehend mit den Gebieten deckten, die einst dem Heiligen Römischen Reich angehört hatten. Innerhalb des französischen Staates, dem das Elsaß seit der Herrschaft Ludwigs XIV, Lothringen seit 1766 angehörte, hatten die beiden Gebiete keinen politischen Zusammenhang gebildet. Er wurde erst durch die Annexion und die deutsche Verwaltung hergestellt. Gemeinsam war indessen den beiden Gebieten, daß die Mehrheit der Bevölkerung einen deutschen Dialekt sprach. Französisch war hingegen die vorherrschende Sprache insbesondere des städti51 Vgl. Kunz, Bd. 1; Gérardot, S. 7f.; Wahl, L'Option, S. 26f. mit weiteren Nachweisen.

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schen Bürgertums. Die bürgerliche städtische Oberschicht des Elsaß und Lothringens war -wie östlich des Rheins - Träger des Nationalstaatsgedankens. Sie hatte entscheidenden Anteil an der kulturellen und politischen Durchdringung der Gebiete mit französischem Nationalbewußtsein und der Stärkung ihrer mehrheitlichen politischen Anhänglichkeit an Frankreich.52 Hinzu kam, daß die Bevölkerung zu mehr als drei Vierteln katholisch, deutlich weniger als einem Viertel protestantisch war. Damit entsprach die konfessionelle Verteilung im ganzen derjenigen Frankreichs, während das Deutsche Reich überwiegend protestantisch geprägt war. Das annektierte »Reichsland« Elsaß-Lothringen war das Gebiet des Deutschen Reiches mit dem weitaus höchsten katholischen Bevölkerungsanteil.53 Ein in seiner politischen Mehrheit Frankreich zuneigendes, kulturell nachhaltig ›französisiertes‹ Gebiet war im Zuge deutscher Annexionsforderungen an das Reich gelangt, die sich maßgeblich auf eine ethnisch-kulturell fundierte Nationsidee54 gründeten. Historische Ansprüche auf ein ehemals ›deutsches‹ Gebiet, gestützt auf die nominelle deutsche Sprachmehrheit, hatten die Annexion vorbereitet, die von einer breiten, nationalliberal geprägten Öffentlichkeit getragen wurde. Dem setzten der französische Nationalstaat und die Mehrheit der Bevölkerung im »Reichsland« ein politisches, auf die Ideale der Französischen Revolution gestütztes Bewußtsein der Nationalität entgegen. Das Elsaß und Lothringen wurden nach 1871 zum Austragungsort des Konflikts zweier einander diametral entgegengesetzter Nationsbegriffe. Sie sind später in den dualen Kategorien der ›Kulturnation‹ und ›Staatsnation‹ von Friedrich Meinecke in die historische Begriffsbildung eingeführt worden. In der historischen Literatur jedoch, die diese Kategorien häufig unkritisch übernahm, wurde ihr keineswegs kategorialer Charakter zur Zeit der Entstehung übersehen. Die Schärfe der einander entgegengesetzten Nationsbegriffe gründete historisch in ihrer politischen Funktion, unvereinbare politische und territoriale Ansprüche zu legitimieren. Der nationale Kampf um das annektierte »Reichsland« war der Ausgangspunkt der begrifflichen Spaltung.55 Die Entstehung und der Einsatz der Optionsregeln zwischen Deutschland und Frankreich waren der erste praktische Anwendungsbereich dieses konzeptionellen, ursprünglich zutiefst politischen Streits. Die Optionsregel des Frankfurter Friedensvertrags wurde zur meistgenannten und am heftigsten umstrittenen Vertragsregelung überhaupt. Sie zeigte, wie sehr die Optionsklauseln vom Anwachsen des Nationalgefühls erfaßt und zum Gegenstand nationaler Konflikte wurden.56 52 Vgl. Wehler, »Reichsland«, S. 25f.; Hiery, S. 41f. 53 Ebd. , S. 46. 54 Dazu eingehend Gall, S. 366,374f., der zeigt, wie die deutsche Publizistik ausdrücklich ein auf den politischen Willen gestütztes Selbstbestimmungsrecht der Nation zurückwies. 55 Vgl. Schnapper, S. 162-168; Goseivinkel, Débat sur la nation, S. 323; die deutsch-französische Entgegensetzung differenzierend Giesen u. Junge, S. 523-538. 56 Dazu Kunz, Bd. 1, S. 58-60.

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Erst die Annexion Elsaß-Lothringens, die sich gegenüber der zeitweilig erwogenen Lösung eines neutralisierten Pufferstaats Elsaß-Lothringen durchsetzte, schuf die völkerrechtlichen Voraussetzungen für die Option der Bevölkerung und zugleich den Zwang zum staatlichen Bekenntnis für einen der beiden Nationalstaaten. Diese selbständige Folgewirkung einer Entscheidung für die Annexion ist in der Literatur nicht herausgestellt worden, sondern aufgegangen in der militärischen Intention: Ein durchgreifendes militärisches Argument für die Annexion lag darin, das elsaß-lothringische Grenzland als Festungsgürtel gegen Frankreich auszubauen und es vor allem auch als Rekrutierungsreservoir zu nutzen. Die Bevölkerungsstärke eines Nationalstaats galt im ausgehenden 19. Jahrhundert als eminenter Faktor militärischer Stärke.57 Die Expansion des deutschen Militärpotentials sicherzustellen und zugleich einen Aderlaß junger Rekruten im Optionsgebiet zu vermeiden, war denn auch ein Leitmotiv der deutschen Verhandlungsführung bei der Aushandlung der Optionsregeln.58 Nachdem sich die deutsche Annexionsentscheidung spätestens ab der Jahreswende 1870/71 abgezeichnet hatte, setzte die französische Seite auf ein Plebiszit über den Verbleib der Gebiete bei Frankreich. Als der Protest der gewählten Vertreter Elsaß-Lothringens, die sich im Februar 1871 gegen die Annexion auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beriefen,59 abgewiesen wurde, erhielt das Optionsrecht in der Vorstellung der französischen Verhandlungsführung den Stellenwert eines Ersatzplebiszits.60 Die deutsche Seite, die ursprünglich nur ein Emigrationsrecht für die Bevölkerung Elsaß-Lothringens einräumen wollte, konnte sich der Berufung Frankreichs auf die gängige, auch von Preußen im Frieden mit Dänemark 1864 eingehaltene völkerrechtliche Praxis nicht entziehen und willigte in die Gewährung eines Optionsrechts ein.61 Der Frankfurter Friedensvertrag vom 10. Mai 1871 räumte in seinem Artikel 2 den »aus den abgetretenen Gebieten herstammenden, gegenwärtig in diesem Gebiet wohnhaften Französischen Unterthanen, welche beabsichtigen, die Französische Nationalität zu behalten [...] bis zum 1. Oktober 1872 [...] vermöge einer vorgängigen Erklärung an die zuständige Behörde die Befugnis [ein], ihren Wohnsitz nach Frankreich zu ver57 Zur Bevölkerungsgrößc als Kriterium imperialistischer Stärke s. Meier-Welcker u. Groote, S. 28. 58 Vgl. Wahl, L'Option, S. 47. 59 Vgl. Wehler, »Reichsland«, S. 30; Wahl, L'Option, S. 29: Die französischen Vertrags Unterhändler beriefen sich auf das Vorbild Napoleons III., der den Bewohnern Savoyens und Nizzas im Frieden von Turin mit Sardinien(1860) das Selbstbestimmungsrecht in Form eines Plebiszits gewährt hatte. 60 Zum völkerrechtlich funktionalen Zusammenhang von Plebiszit und Option, gleichermaßen das Selbstbestimmungsrecht der von Staatensukzession betroffenen Personen sicherzustellen, vgl. Kunz, Bd. 1, S. 91. 61 Zur sorgfältigen Rekonstruktion des Verhandlungsverlaufs bei Wahl, L'Option, S. 28f.

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legen und sich dort niederzulassen, ohne daß dieser Befugnis durch die Gesetze über den Militairdienst Eintrag geschehen könnte, in welchem Falle ihnen die Eigenschaft als Französische Bürger erhalten bleiben wird. Es steht ihnen frei, ihren auf den mit Deutschland vereinigten Gebieten gelegenen Grundbesitz zu behalten.«62

Diese Regelung entsprach der völkerrechtlichen Tradition, die z. B. der Friedensvertrag von Turin von 1 860 zwischen Frankreich und Sardinien aufgenommen hatte. Allein der Formulierung nach konnte sogar der Eindruck entstehen, als sei das Deutsche Reich Frankreich entgegengekommen und es seien die aus Elsaß-Lothringen Stammenden, dort aber zur Zeit des Friedensschlusses nicht Ansässigen von der Optionspflicht ausgenommen worden. Diese Interpretation wurde in der Folge von der französischen Regierung und in der Literatur vertreten und zum Ausgangspunkt einer Reihe politischer Konflikte, die von den Optionsregelungen ausgingen. Die genaue Rekonstruktion der Vertragsverhandlungen63 zeigt indessen einen Formulierungsfehler bei der von beiden Seiten gewollten Anlehnung an die Turiner Vertragsregelungen: Auch Franzosen, die aus Elsaß-Lothringen stammten und hier nicht wohnten, mußten optieren. Diese Interpretation setzte die deutsche Seite in den Folgeverhandlungen durch, die im Dezember 1871 mit dem Abschluß einer Zusatzkonvention zum Frankfurter Friedensvertrag endeten.64 Darin mußte Frankreich auch in das Optionsrecht für Angehörige der französischen Armee einschließlich der Freiwilligen und ihrer Stellvertreter65 einwilligen. Den militärischen Bedürfnissen des Reiches entsprechend verschärfte die deutsche Verwaltung schließlich einseitig die Optionsbedingungen für Minderjährige im Hinblick auf künftige Rekruten. Die Unterscheidung des französischen Zivilrechts zwischen emanzipierten und nicht emanzipierten Minderjährigen wurde nicht übernommen, vielmehr unterschiedslos die Option aller Minderjährigen von der Entscheidung der Eltern abhängig gemacht. Ein selbständiges, von der Familie getrenntes Ausweichen der Minderjährigen vor dem deutschen Wehrdienst wurde damit unterbunden.66 Zudem stellten Verwaltungsanordnungen des Oberpräsidenten von ElsaßLothringen vom März 1872 erstmals öffentlich klar, daß diejenigen, die für Frankreich optiert hatten, das »Reichsland« verlassen mußten, wenn sie ihre französische Staatsangehörigkeit behalten wollten.67 Damit begannen im Früh-

62 Artikel 2 Abs.1des Friedensvertrags zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich vom 10. Mai 1871, Reichsgesetzblatt 1871, S. 223. 63 So klar Wahl, L'Option, S. 41,47. 64 Vgl. Zusatzkonvention zu dem am 10. Mai 1871 zu Frankfurt a.M. abgeschlossenen Friedensvertrage zwischen Deutschland und Frankreich, vom 11. Dezember 1871, RGBL 1872, S. 7. 65 S. Wahl, L'Option, S. 43. 66 Vgl. Roth, S. 96. 67 Vgl. Wahl, L'Option, S. 45.

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jahr 1872, während sich die deutsche Verwaltung in den Annexionsgebieten festigte, die einschneidenden, vielfach harten Konsequenzen der Annexion für das Alltagsleben deutlich zu werden. Die Ausübung des Optionsrechts enthielt die politische Entscheidung, sich einerseits dem annektierenden Staat zu entziehen, andererseits dem Heimatstaat die Loyalität zu bewahren und dies durch einen Wechsel des staatlichen Territoriums äußerlich kundzutun. Indem das Deutsche Reich in die Optionsregelung einwilligte, schloß es sich der Logik einer auf subjektive Kriterien und auf den Willen zur politischen, staatlichen Zugehörigkeit gegründeten Nationkonzeption an, die sowohl die Basis des französischen Nationalstaatsgedankens insgesamt als auch der Forderung nach Revision der Annexion ElsaßLothringens bildete. Wer das »Reichsland« verließ, bekundete dadurch den Willen, Franzose zu bleiben. Wer hingegen im Land blieb, dem wurde der Wille unterstellt, Deutscher zu werden. Über die Erfüllung der staatlichen Pflichten hinaus sah er sich nicht der Forderung ethnischer Kriterien oder kultureller Assimilationsakte ausgesetzt. Die Hoffnung auf ›Germanisierung‹ eines ›französisierten‹ Landes, die auf deutscher Seite an die Option geknüpft wurde, konnte sich nur im Verlauf eines längeren Homogenisierungsprozesses erfüllen, dessen Ausgangspunkt eine politische Entscheidung, keine ethnisch-kulturelle Zuschreibung war. Die französische Seite interpretierte dementsprechend die Option als Akt der politischen Opposition gegen die deutsche Besatzung und Entscheidung für die französische Nation und nutzte dies politisch. In der entscheidenden Phase der Optionen, die mit dem Frankfurter Friedensvertrag im Mai 1871 begannen und mit dem Auslaufen der Frist im Oktober 1872 endeten, agitierte denn auch die von Mühlhauser Unternehmerkreisen initiierte »Ligue d'Alsace« im Sommer 1872 massiv für Optionen, um ganz Europa die Opposition der Elsaß-Lothringer gegen die deutsche Annexion zu demonstrieren. Die »Ligue« propagierte die Option als Ersatz für das von Bismarck verweigerte Plebiszit und als historische Geste, um künftige Generationen von Elsaß-Lothringern in ihrem Bestand sicherzustellen. Sie sprach sich für die massenhafte Option aus und wollte zugleich die Optanten durch die Umgehung der deutschen Meldevorschriften im Land halten. Die forcierte Propaganda und die Heftigkeit der Opposition zeigen, wie sehr die ansteigende Zahl der Optionen und folgenden Emigrationen im Sommer 1872 den Arbeitsmarkt belastete, Familien zerriß und Protest gegen die deutsche Verwaltung bis hin zu gewaltsamen Aktionen auslöste.68 Erst im März 1872 wurde einer breiten Öffentlichkeit aufgrund der veröffentlichten Verwaltungsanordnungen bewußt, daß die Option für Frankreich grundsätzlich mit dem Zwang zur Emigration verbunden war. Noch im Sommer 1872 herrschte indessen die Auffassung vor, daß - gerade wegen der 68 Dazu insgesamt eingehend ebd. , S. 49f., 68.

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hohen Zahl der Optionen - die deutsche Regierung gezwungen sein werde, das Bleiberecht der Optanten anzuerkennen. Zugleich setzte in den letzten Monaten der Frist ein regelrechtes »Optionsfieber« ein.69 Die sprunghaft ansteigenden Optionen griffen in dieser letzten Phase von den Städten auch auf das sprachlich-kulturell stärker deutsch geprägte Land über. Im Bewußtsein der Öffentlichkeit, die mit wachsender nervöser Anspannung reagierte, gewann die Optionsfrage das Ausmaß eines Problems internationaler Ordnung . Überall im Optionsgebiet war die wachsende Zahl der Emigranten augenfällig. Notverkäufe nahmen zu, die Preise verfielen, Verkehrsmittel und Grenzübergänge waren überfüllt von Auswanderern. Zeitgenossen sahen in diesem Exodus eine drohende Entvölkerung Elsaß-Lothringens.70 Die Wahl der Staatsangehörigkeit wurde dadurch zu einem hochsymbolischen Akt, daß das nationale Bekenntnis an einschneidende persönliche Konsequenzen von existentieller Bedeutung geknüpft wurde. Die Ursachen der hohen Optionszahlen im annektierten »Reichsland« und die Motive der Optanten sind im einzelnen schwer gegeneinander abzuwägen. Doch lassen sich Grundlinien erkennen. In den frankophonen Gebieten war der Patriotismus, der Wunsch, die französische Staatsangehörigkeit an die Nachkommen weitergeben zu können, das treibende Motiv. Die Maßnahmen gegen die katholische Kirche im Rahmen des Kulturkampfs während des Sommers 1872 heizten die bestehende Abwehrstimmung der antipreußischen, damit zugleich antiprotestantischen katholischen Bevölkerungsmehrheit ElsaßLothringens zusätzlich auf. Die Idee, in der Option ein Plebiszit gegen das Deutsche Reich nachholen zu können, gewann rasch Anhänger, verstärkt durch die Hoffnung auf eine baldige Revanche. Von überragender Bedeutung aber war die Furcht vor dem deutschen Militärdienst, die zudem durch profranzösische Propaganda systematisch geschürt wurde. Die Vorbereitung von Musterungskommissionen seit August 1872 trieb die Optantenzahl in die Höhe. Es waren besonders die jungen Männer der zur Musterung anstehenden Jahrgänge 1849 und 1850, die ihre Eltern zur Option bewogen. Gerade in diesen Altersgruppen kann die Emigration nicht durchweg dem alleinigen Bedürfnis nach Erhaltung der französischen Staatsangehörigkeit zugeschrieben werden.71 Die Bilanz der Option zeigt zweierlei: In Elsaß-Lothringen selbst optierten 160.000 Personen für Frankreich, außerhalb des »Reichslands«, d. h. in Frankreich und im Ausland, 388.000 Personen, wobei in die letztere Kategorie etwa 230.000 Menschen fallen, die bereits vor 1870 aus dem Optionsgebiet ausge-

69 Dazu ebd., S. 66f. 70 Vgl. ebd., S. 70. 71 Ebd., S. 78f.

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wandert waren.72 Ein Zehntel der Zivilbevölkerung des »Reichslands« hatte damit für seine staatliche Zugehörigkeit zu Frankreich optiert. Ein Drittel der Optanten stammte aus Metz und den frankophonen Gebieten des Westens, während in den an Deutschland angrenzenden Gebieten des Nordens seltener von der Möglichkeit der Option Gebrauch gemacht wurde. Durchgängig lag die Rate der Optionen in den Städten deutlich höher als auf dem Land. Die »Option war vor allem eine Angelegenheit der Städte«, resümiert Alfred Wahl. Er schließt daraus, daß sich die städtische Bevölkerung viel stärker an Frankreich assimiliert hatte als die sprachlich stärker dem Deutschen zuneigende Landbevölkerung. Läßt sich insoweit ein sprachlich-kulturelles Erklärungsmuster für das Optionsverhalten anlegen, galt dies, wenn auch in abgeschwächter Weise ebenso für den Zusammenhang von Konfession und Option: Die Katholiken optierten überwiegend nicht für den französischen Staat als solchen, sondern wegen seiner Verteidigung der katholischen Kirche. Die Protestanten optierten überwiegend aus Feindschaft gegen den Katholizismus, gegen ein ihrer Auffassung nach katholisch-klerikales, potentiell wieder monarchisches Frankreich, weniger hingegen positiv für ein liberales Deutschland.73 Eindeutig überwiegend politische Argumente für die Option lassen sich indessen im OberElsaß erkennen, das mit einem Optionsanteil von 20,3 % der Bevölkerung um das Doppelte über dem Durchschnitt des übrigen Optionsgebiets lag. Die Propaganda des Plebiszitersatzes, welche die »Ligue d'Alsace« entfaltet hatte, verfing in der Bevölkerung: In diesem Optionsgebiet wurde die Option aus einer individuellen Angelegenheit zu einem »kollektiven und politischen Ereignis«.74 Die Zahlen bedürfen einer gewissen Einschränkung, insbesondere aufgrund der Optionen, die außerhalb des »Reichslands« erfolgten: Etwa 3.500 in der französischen Armee dienende Soldaten machten von der Möglichkeit Gebrauch, mit ihrer Option für Deutschland vor allem der Härte des algerischen Kolonialkrieges zu entgehen. Die erhöhte Quote von Mehrfachoptionen, insbesondere von Bewohnern der an Frankreich grenzenden Regionen, läßt darauf schließen, daß vor allem jüngere unverheiratete Männer die sozialen Vorteile einer mehrfachen Staatsangehörigkeit anstrebten.75 Die tatsächlichen Auswirkungen der Option werden schließlich erst erkennbar, wenn man sie in den Zusammenhang der gesamten Emigration aus dem »Reichsland« in den Optionsjahren 1871/72 stellt. Die Emigration war die von den deutschen Behörden geforderte Konsequenz, wenn die Optanten die An72 Ebd., S. 213, die Zahlenangaben bei Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 441-443, 459 differenzierend und präzisierend. Zur zweiten Kategorie zählten u. a. Individuen, die mehr als einmal in Frankreich optiert hatten; Roth, S. 98. 73 Vgl. Wahl, L'Option, S. 131. 74 Vgl. ebd., S. 130. 75 Vgl. ebd., S. 135, 145.

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nullierung76 ihrer Option für die französische Staatsangehörigkeit vermeiden wollten . Sie war damit die Probe auf die Entschiedenheit des Optionswunsches. 50.000 derjenigen, die im »Reichsland« für Frankreich optiert hatten, d. h. weniger als ein Drittel, zogen diese Konsequenz. Unter ihnen waren diejenigen Berufsgruppen am stärksten vertreten, die bereits den höchsten Anteil an den Optionen hatten. An der Spitze standen die freien Berufe, insbesondere Ärzte und Rechtsanwälte sowie die Handwerker, die etwa zu zwei Dritteln ihrer Option die Emigration folgen ließen. Einen starken Aderlaß erlebten die Gruppen der Staatsbediensteten (36 %) und Pensionäre (23 %), die aus Gründen der Ausbildung und Sprache bzw. aus Furcht vor dem Verlust ihres staatlichen Ruhegehalts emigrierten.77 Die Emigration der Optanten konzentrierte sich zu mehr als drei Vierteln auf die Städte, insgesamt zu 40 % auf die größten Städte Metz und Straßburg, Colmar und Mühlhausen. Damit optierte und emigrierte ein hoher Anteil der städtisch bürgerlichen Elite, also diejenige Schicht, die am stärksten die Assimilation Elsaß-Lothringens an Frankreich verkörpert und vorangetrieben hatte. Dadurch war Raum entstanden für eine Politik der Germanisierung, die in besonders effizienter Weise an einem partiellen Austausch der Eliten ansetzen konnte. Zu den Emigranten, die im »Reichsland« optiert hatten, kamen etwa 60.000, die vor französischen Behörden optierten und deshalb Elsaß-Lothringen verließen oder bereits vor der Option verlassen hatten. Zieht man daraufhin die Gesamtbilanz der durch Option bedingten oder zumindest von ihr begleiteten Emigration aus Elsaß-Lothringen, beläuft sie sich auf mehr als 110.000 Personen, mithin 7,5 % der Gesamtbevölkerung.78 Mehr als 50.000 der insgesamt mehr als 128.000 Emigranten der Jahre 1871/72 waren junge Männer der Jahrgänge 1851 bis 1854, die allein oder mit ihren Eltern emigrierten, um dem Wehrdienst zu entgehen. In der Gemengelage der Motive weist der hohe Anteil der Wehrpflichtigen auf einen zentralen Beweggrund für Option und Emigration hin. Die wehrpflichtigen jungen Männer entschieden sich mit dem französischen Wehrdienst für das aus ihrer Sicht geringere Übel im Vergleich zu dem gefürchteten ›preußischen‹ Drill. Hinzu kamen ökonomische Gründe sowie Sprach- und Ausbildungsprobleme, auch einfache Abenteuerlust. Gewiß kann deshalb die Option in Elsaß-Lothringen nicht als politisch begründetes Plebiszit gegen die Annexionsmacht, eine kollektive Opposition aus Patriotismus, gewertet werden, wie die »Ligue d'Alsace« es propagiert hatte, nicht zuletzt auch deshalb, 76 Vgl. ebd., S. 147f. 77 Zahlen bei ebd., S. 159, verallgemeinert aufgrund der Daten zu Metz. 78 Nach der Volkszählung von 1871, die eine Zivilbevölkerung von insgesamt 1.457.494 Personen ergab, vgl. Roth, S. 98. Bei der Emigrationssumme von 110.000 sind nicht berücksichtigt die 15.000 lediglich Ansässigen (»domiciliés«), die nicht aus Elsaß-Lothringen stammten, sowie die 2.000 bis 3.000 Personen, die ohne Option das Land verließen, vgl. Wahl, L'Option, S. 190.

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weil mehr als zwei Drittel der Optanten das Land nicht verließen und damit auf die Option für Frankreich verzichteten. Diejenigen jedoch, die für Frankreich optierten und außer Landes gingen, stellten eine besonders aktive, gebildete und - gemessen am hohen Anteil der Wehrpflichtigen - auch besonders junge Bevölkerungsgruppe dar, deren Verlust das annektierte Land in seiner ökonomischen und demographischen Entwicklung besonders hart traf Mit ihr ging zugleich ein wichtiger Teil der Trägerschicht französischer Kultur und Sprache. Festzuhalten bleibt ein paradox erscheinendes Ergebnis: Die Option, die grundsätzlich das subjektive, politische Bekenntnis zu einem Nationalstaat eröffnete, begünstigte in Elsaß-Lothringen ihrer Wirkung nach die Festigung und das Vordringen einer auf objektive, kulturelle, auch ethnische Kriterien gestützten Nationkonzeption. Der Aderlaß der frankophonen Elite verstärkte indirekt das autochthone ›deutsche‹ Element, insbesondere in der Landbevölkerung Elsaß-Lothringens. Vor allem beseitigte er Hindernisse für die sprachliche Assimilation des Landes ›von oben‹, und zwar durch die Vermittlung der Beamten- und Lehrerschaft, die durch »Altdeutsche« aus dem übrigen Reichsgebiet aufgefüllt wurde. Zwischen 1871 und 1895 stieg der Anteil der ›deutschen‹ Staatsangehörigen 79 in Elsaß-Lothringen insgesamt von 2 % auf 14 %, in Lothringen von 6 % auf 22 %. Damit war innerhalb einer Generation der Bevölkerungsverlust der Optionszeit mehr als wettgemacht. Folglich wurde das »Reichsland«, verstärkt noch durch Maßnahmen der sprachlichen Assimilation, nach ethnisch-kulturellen Kriterien der Nationalität homogener, ›deutscher‹. Mit dem Abschluß der Optionen endete freilich nicht ihre polarisierende, den Konflikt verstärkende Wirkung im Verhältnis der beiden Nationalstaaten. Die Zahl der Emigranten blieb infolge der Optionen hoch, unter anderem aufgrund der familiären Trennungen. Anläßlich einer Debatte im Reichstag 1874 erklärte der aus dem Elsaß stammende Abgeordnete Winterer: »Die Optionsfrage ist und bleibt eine der größten Fragen in Elsaß-Lothringen, sie greift, wie es Jeder leicht einsehen kann, in die innigsten und wichtigsten Familienverhältnisse einer äußerst großen Zahl von Familien ein [...]. Die Optionsfrage geht [...] direkt 50.000 Familien in Elsaß-Lothringen an«.80 Insbesondere junge Männer emigrierten illegal, um der Wehrpflicht im Reich zu entgehen. Die emigrierten Optanten unterlagen bei ihrer Rückkehr in elsaßlothringisches Gebiet im Unterschied zu »Nationalfranzosen« einer Aufenthaltsbegrenzung von drei Monaten, nach deren Ablauf ihnen die Ausweisung drohte. Wenn auch diese Bestimmung, welche die entschiedene Trennung der 79 Damit sind Staatsangehörige der anderen Bundesstaaten des Deutschen Reiches gemeint, vgl. dazu insgesamt Roth, S. 117. 80 Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Stenographische Berichte, 15. Sitzung (21. November 1874), S. 242. 199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Optanten von ihrem Heimatgebiet durchsetzen sollte, zeitweilig nachgiebiger gehandhabt wurde, blieben sie dem Druck einer besonders unsicheren Situation unterworfen. »Durch tausend Bindungen mit dem Leben des Landes verknüpft, waren sie Fremde ohne Aufenthaltsberechtigung«81 geworden, die zudem keinen juristischen Beistand erhielten, da es keine französischen Konsulate im Land gab. Sie waren starkem Druck ausgesetzt, der sie vielfach die elsässisch-lothringische Staatsangehörigkeit wiedererwerben ließ, wie die signifikant ansteigenden Einbürgerungszahlen für Elsaß-Lothringen um das Jahr 1875 belegen.82 Wie unsicher der Status der tolerierten Rückkehrer war, zeigte sich in der deutsch-französischen Krise des Jahres 1887.83 Von 10.225 aufgrund der Spannungslage ausgewiesenen Franzosen waren allein 5.067 Optanten. 2.000 weitere hatten die Aufgabe der französischen Staatsangehörigkeit der Ausweisung vorgezogen.84 Die Staatsangehörigkeit in Elsaß-Lothringen war somit zu einem Mittel der Konfliktaustragung zwischen dem deutschen und dem französischen Nationalstaat geworden. In einer Zeit der kriegerischen Konfrontation und der folgenden nationalen Dauerkrise wurde die Option symbolisch zu einer nationalen Entscheidung aufgeladen. Auch wenn dies im Einzelfall nicht die tatsächlichen Motive der Optanten erklärte, blieb die Erhöhung des Symbolwerts der Staatsangehörigkeit mit einer in existentielle Lebensbedingungen übergreifenden Alltagswirkung bestehen. Der zweite Krisenherd des Deutschen Reiches, an dem sich der nationalpolitische Streit an der Staatsangehörigkeit, ihrer Anerkennung und Verweigerung entzündete, war die preußische Provinz Schleswig-Holstein. Im Wiener Frieden von 1864 hatte Dänemark alle Rechte aus der ehemaligen Personalunion mit den Herzogtümern Schleswig und Holstein an Preußen und Österreich abtreten müssen. Aufgrund des Prager Friedens von 1866 waren beide Gebiete dem preußischen Staat einverleibt worden. Allen Einwohnern des nördlichen Abtretungsgebietes Schleswig, des Zentrums der deutsch-dänischen Nationalitätenkonflikte, räumte der Wiener Friedensvertrag die Möglichkeit der Option für Dänemark innerhalb von sechs Jahren ein. Die Optanten sollten mit ihrem Vermögen wahlweise auswandern oder im Land bleiben können.85 Die 81 Vgl.Roth, S. 121. 82 Vgl. ebd., S. 110, 121f. 83 Zur Stimmung im »Rcichsland« im Zusammenhang mit dem nationalistischen Kurs und der französischen Aufrüstung unter der Regierung Boulanger, Hiery, S. 219f; zu rechtlichen Unsicherheiten hinsichtlich der Lage der zurückgekehrten Optanten vgl. die Debatte des Reichstags 1878, Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte, 15. Sitzung (6. März 1878), S. 352f. 84 Vgl. Roth, S. 122. 85 Art. XIX Frieden zu Wien vom 30.12.1864 (Martens: Nouveau Recueil Général, Tome XVII, 2, S. 474, 484f)

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Option sollte mit dem Übertritt in dänisches Territorium wirksam werden. Der Prager Friedensvertrag verstärkte zudem das optative Element staatlicher Zugehörigkeit. Eine Schutzklausel, die der französische Kaiser Napoleon III. in Verteidigung des Nationalitätenrechts und als Friedensmittler zwischen Preußen und Österreich im Vertragswerk durchgesetzt hatte, bestimmte, daß Preußen Nordschleswig an Dänemark abtreten sollte, wenn die Bevölkerung des Gebiets diesen Wunsch in freier Abstimmung äußerte.86 Beide Vertragsklauseln stärkten das individuelle wie kollektive Recht politischer Selbstbestimmung. Indes trugen sie wenig zur Entschärfung der Nationalitätenkämpfe bei, wurden vielmehr vielfach zu deren Ansatzpunkt. Die nördlichen Distrikte Schleswigs, wo bereits 1867 die erste Wahl zum Norddeutschen Reichstag nach allgemeinem, gleichem Stimmrecht eine deutliche dänische Mehrheit87 ergeben hatte, blieben bis zur Aufhebung der Abstimmungsklausel im Jahre 1878 ein labiler Gebietsbestand, in dem sich die Staatsangehörigkeit der Bevölkerungsmehrheit in eine reale preußisch-deutsche und eine potentielle dänische aufspaltete, wenn sie nicht ohnehin für Dänemark optiert hatte. Auch danach blieb der Optantenstatus eine ambivalente rechtliche Kategorie zwischen dänischen und preußisch-deutschen Staatsangehörigen, die Ansatzpunkte zu politischen Druck- und Nationalisierungmaßnahmen bot. Liegen darin auch Parallelen zur Entwicklung des Optionsproblems in Elsaß-Lothringen, sind zunächst wesentliche Unterschiede im Ausgangspunkt festzuhalten. Die dänisch geprägten Gebiete Schleswigs wurden mit der Einverleibung in den preußischen Staat zunächst nicht Teil eines Nationalstaats. Die Politik Preußens gegenüber seinen nicht-deutschen Nationalitäten war bis in das Jahrzehnt der Reichseinigung hinein von dem patriarchalischen Grundimpetus der höherwertigen deutschen Kulturnation bestimmt. Der damit einhergehende Assimilationsdruck auf nichtdeutsche Minderheiten schuf erhebliche kulturelle und soziale Diskriminierungen und Belastungen. Entscheidend war jedoch die ambivalente Wirkung seines konservativ-etatistischen Ausgangspunkts: Er legitimierte den Assimilationsdruck, begrenzte ihn freilich zugleich. Wer die Anpassung an die staatlich durchgesetzte deutsche Kultur, die vorgegebene Leitkultur, vollzog, erfuhr die rechtliche Anerkennung und den Schutz als gleichberechtigter ›Untertan‹ des preußischen Staates. Dies änderte sich in dem Maße, in dem sich die stärker und radikaler werdenden Nationalbewegungen mit demokratischen Grundvorstellungen verbanden. Der doppelte, national wie demokratisch legitimierte Angriff auf die Hegemonie der nationalen Leitkultur richtete sich nicht nur gegen den kulturellen Assimilationsdruck, sondern zugleich gegen den monarchischen Staat, der ihn ausübte. Angesichts dieser Herausforderung veränderte sich auch die Grundlage der 86 Artikel V, Friede zu Prag vom 23.8.1866, zitiert nach : Hansen u. a., Minderheiten, S. 197. 87 23.469 dänische gegen 5.410 dänische Stimmen, vgl. Blatt, S. 15.

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preußischen Nationalitätenpolitik, und zwar unter zweierlei Einfluß: In Konfrontation mit den Angriffen und Ansprüchen der nicht-deutschen Nationalitäten unmittelbar am Ort der Auseinandersetzung verschärfte sich zum einen die Politik der unteren preußischen Behörden, wurde härter und diskriminierender. Zum anderen setzte sich mit dem Generationswechsel an der Spitze der preußischen Innenverwaltung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine ›nationalere‹ Logik und damit eine weniger dem Gedanken etatistischen Ausgleichs verpflichtete Politik durch. Oswald Hauser hat diesen Vorgang der »Nationalisierung Preußens« am Beispiel Schleswig-Holsteins grundlegend analysiert. Diese Entwicklung vollzog sich vom Ende der sechziger bis zum Ausgang der achtziger Jahre und schlug sich insbesondere in der Optantenpolitik nieder.88 In diesem Vorgang der allmählichen Umformung tradierter staatlicher Leitbilder, einer Staatsräson unter dem Einfluß von Nationalitätenkämpfen, unterscheidet sich die Lage des preußisch gewordenen Schleswig von Elsaß-Lothringen. Im reichsunmittelbaren Reichsland ging die Nationalisierung direkt von der Regierungsspitze des Nationalstaats aus, in Schleswig-Holstein unter allmählicher Verdrängung älterer Traditionen. Das zeigt bereits ein Blick auf die Optionsfristen. Mußten die Bewohner Elsaß-Lothringens nach 1871 innerhalb eines Jahres ihre Option für Frankreich erklären, blieben den in Schleswig ansässigen, Dänemark zuneigenden Untertanen Preußens sechs Jahre zu ihrer Option. Wie in Elsaß-Lothringen wurde auch in Schleswig die Wehrfrage zur Scheidemünze der Option. Nach anfänglich zögerndem Verlauf setzte mit der Einführung der dreijährigen Wehrpflicht im Dezember 1866 eine Massenoption89 junger Nordschleswiger ein, die zu diesem Zweck die Grenze nach Dänemark überschritten. Die Frage entstand, wie mit den Optanten zu verfahren wäre, wenn sie nach vollzogener Option auf preußisches Gebiet zurückkehrten, und welchen Status sie dann bezüglich der Wehrpflicht einnähmen.90 Die preußische Regierung reagierte scharf, indem sie in einem Erlaß vom 30. März 1867 alle schleswigschen Optanten, die für Dänemark optiert hatten und nunmehr zurückkehrten, ausnahmslos der Ausweisung unterwarf und eine Reoption für Preußen ausschloß. Die Regierung in Schleswig interpretierte diese Anordnung nochmals verschärfend, indem sie die Ausweisungen auf die Familienangehörigen der Optanten ausdehnte und die Lokalbehörden anwies, unverzüglich entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Außenpolitische Rücksichten, vor allem aber die nachdrückliche Intervention des Oberpräsidenten von Schleswig-Holstein, Scheel-Plessen, bewogen die preußische Regierung dazu, 88 Zu den Grundlinien dieser Argumentation vgl. Hauser, Nationalisierung Preußens, S. 95. 89 Vgl. dazu Nahr, S. 41. 90 Zum Folgenden insgesamt Hauser, Preußische Staatsräson, S. 43

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die Familienausweisung zurückzunehmen und nunmehr auch von der Ausweisung Verheirateter abzusehen. Freiherr von Scheel-Plessen, der bis 1879 als erster Oberpräsident der preußischen Provinz Schleswig-Holstein tätig und selbst Landeskind war, verkörperte die konservativ-etatistische Linie gegenüber dem scharfen Nationalisierungskurs der unteren Behörden. Viel spricht dafür, daß das stärker an tradierten feudalen Vorstellungen der Territorialität orientierte Denken des adligen Grundbesitzers Scheel-Plessen den modernen Unterscheidungen nach der Nationalität widersprach, während seit den achtziger Jahren zumeist bürgerliche Regierungspräsidenten, die durchweg nicht der Provinz entstammten,91 die neuen nationalen Leitlinien der preußischen Politik direkter durchsetzten, ohne familiäre oder lokale Loyalitätsbindungen. Scheel-Plessen, der sah, wie das Argument der Wehrgerechtigkeit, welche die Optanten nach Ansicht der preußisch-deutschen Bevölkerung mit ihrer Rückkehr verletzten, zum nationalen Kampfinstrument gewendet wurde, wandte sich gegen eine »Gefühlspolitik«, welche die Verwaltung als Partei in den Nationalitätenkampf hineinzuziehen drohte. Als mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 die Optionen erneut anstiegen und der Regierungspräsident von Schleswig diese als Rechtsmißbrauch und Verletzung der Gefühle der deutsch gesinnten Bewohner Schleswigs brandmarkte, trat der Oberpräsident dem erneut entgegen. Er betrachtete die Wahrnehmung des Optionsrechts, um dem preußischen Wehrdienst zu entgehen, nicht als strafwürdigen Mißbrauch, sondern plädierte dafür, mit der freien Ausübung des Optionsrechts zugleich die Verbindung zwischen nationaler und staatlicher Zugehörigkeit zu stärken, anstatt mit einer Verschärfung der Optionsfolgen potentielle Optanten abzuschrecken. Scheel-Plessen sah voraus, daß die dänischen Sympathien mit der Verhinderung der Option oder ihrer Rückgängigmachung nicht verschwinden, vielmehr verstärkt in den preußischen Untertanenverband hineingetragen würden. Als dänische Staatsangehörige auf schleswigschem Gebiet könnten sie hingegen leichter kontrolliert und gegebenenfalls ausgewiesen werden. Dieses Eintreten für eine formale, etatistische Interpretation und Handhabung der Staatsangehörigkeit ungeachtet ihrer nationalen Substanz war begleitet von Warnungen vor politischem Haß und nationalen Leidenschaften. In der deutsch-dänischen Konvention von Apenrade,92 mit der 1872 die Optionsfrage vorläufig zum Abschluß kam, übernahm die preußische Regierung den Standpunkt des Oberpräsidenten. Alle 1.046 Personen, die nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges nach Dänemark übergetreten waren, erhielten de facto ein Aufenthaltsrecht in Schleswig, 330 weitere, die ohne Optionserklärung fortgegangen waren bzw. die Einberu91 Dm., Staatliche Einheit, S.32f. 92 Nahr, S. 56f.

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fungsorder nicht angenommen hatten, wurden entweder nicht bestraft oder begnadigt. Die meisten Optanten kehrten daraufhin zurück und trugen zu einem erheblichen Anstieg der dänischen Staatsangehörigen in Nordschleswig bei. Hatten 1867 nur 4.575 Dänen in Nordschleswig gelebt, waren es 1881 etwa 25.000.93 Auf die Apenrader Konvention folgte das Jahrzehnt des inneren Reichsausbaus, in dem sich die Nationalitätenkämpfe insgesamt zu verschärfen begannen. Die härtere Haltung Bismarcks gegenüber »Reichsfeinden«, die in konfessioneller, politischer oder nationaler Hinsicht von der deutschen, protestantischen, konservativen bis gemäßigt nationalliberalen Mehrheitslinie abwichen, schlug sich auch in der Staatsangehörigkeitspolitik Nordschleswigs nieder. Nationale Gedanken gewannen gegenüber dem Staatsdenken vermehrt Einfluß auf die Verwaltung. Als 1878 die Abstimmungsklausel für Nordschleswig aufgehoben und damit der Verbleib dieses Gebiets auf unabsehbare Zeit im preußischen Staatsverband festgeschrieben wurde, änderte die dänisch gesinnte Minderheit die Taktik und Mittel ihres Kampfes. Nicht mehr von außen, durch Option und Stärkung des staatlich-dänischen Elements in Nordschleswig, sondern durch »Vergrößerung der dänischen Kampfkraft innerhalb des preußischen Staates«94 sollte das Ziel der Loslösung vom Deutschen Reich erreicht werden. Die kleine Gruppe der dänisch gesinnten Aktivisten, zumeist Intellektuelle, Lehrer, Publizisten,95 fand mit ihren Forderungen zunehmenden Widerhall in einer Bevölkerung, die nicht unbedingt feindlich gegenüber Preußen eingestellt war, sich aber durch den wachsenden Konformitätsdruck in der Wahrung ihrer nationalen Eigenart bedroht sah. So blieben die Wehrpflichtigen zumeist im Land. Optanten strebten die Wiedereinbürgerung nach Preußen an, machten diese auch zu einem nationalen Thema,96 um mit Hilfe des Wahlrechts in Preußen und dem Deutschen Reich die nationalen politischen Belange wirkungsvoller verteidigen zu können. Die staatsbürgerlichen Rechte, die aus der Staatsangehörigkeit folgten, wurden zur taktischen Waffe im Nationalitätenkampf Diese polemische Wendung der Staatsangehörigkeit mußte für die Verteidiger deutscher Staatlichkeit als Herausforderung, als Entwertung der nationalen Unterscheidungskraft einer staatlichen Institution gedeutet werden, vor der Scheel-Plessen gewarnt hatte. Konsequenz war die erneute Schärfung der staatlichen Pflichtstellung, die sich aus der Staatsangehörigkeit insbe93 Hauser, Preußische Staatsräson, S. 47. 94 Ebd., S. 49. 95 S. dazu Fink, S. 167f.: Es kam zur Gründung von Sprachen- und Schulvereinen. Religiöse und nationale Zielsetzungen verbanden sich im Grundtvigianismus und in den Freigemeinden. Die dänische Genossenschaftsbewegung setzte sich gegen den deutschen Hofaufkauf zur Wehr. 96 Vgl. die Diskussion über Einbürgerungshemmnisse für Dänen in Schleswig auf die Interpellation des dänischen Abgeordneten Johannsen hin, Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 84. Sitzung (22. Mai 1883), S. 2458f.

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sondere mit dem Wehrdienst ergab. Zudem wuchs die Unzufriedenheit über den seit 1880 amtierenden neuen Oberpräsidenten Steinmann angesichts der Hindernisse, die sich der angestrebten Politik konsequenter »Germanisierung« entgegenstellten. Im Jahre 1883 verfügte der preußische Innenminister Puttkamer in Abstimmung mit Bismarck, daß alle Optantensöhne, die in jenem Jahr militärpflichtig wurden, sich zum Wehrdienst melden mußten. Andernfalls drohte ihnen der Vollzug einer gleichzeitig zugestellten Ausweisungsverfügung. Hinter dieser Maßnahme stand die Erwägung, daß die insgesamt mehr als ein Zwölftel, in manchen Kreisen ein Fünftel der Bevölkerung ausmachenden dänischen Staatsangehörigen wegen ihrer Befreiung vom Wehrdienst Unmut in der deutschen Bevölkerung angesichts deren wirtschaftlicher Benachteiligung auslösten.97 Das Argument der Wehrkraft wurde damit in harter Konsequenz durchgesetzt. Es entsprach gleichwohl noch konservativer, etatistischer Logik, richtete sich nicht, wie Hauser gezeigt hat,98 gegen das Dänentum als solches, sondern zog die - wenngleich harte - Konsequenz aus der staatlichen Pflichtstellung, indem die Nordschleswiger nach der Aufhebung der Abstimmungsklausel betont an ihre Pflichten als preußische Staatsbürger gemahnt wurden. Nicht wer schlicht dänisch gesinnt, sondern wer der Staatsangehörigkeit nach Däne war, unterlag der Ausweisungsdrohung. Gewiß wurde mit diesen Maßnahmen nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern es war sogar erwünscht, daß sie die Festigung und Ausbreitung des nationalkulturellen Dänentums unterbanden. So unterstützte Bismarck die Ausweisung dänischer Nordschleswiger, die im Jahre 1884 zur Pflege ihrer nationalen Kultur und ihres Brauchtums Besuchsreisen nach Dänemark unternahmen und dort Massendemonstrationen zur Vereinigung ihrer Heimat mit Dänemark durchführten. Gleichwohl blieb die zwingende und dadurch begrenzende Voraussetzung dieser Ausweisungen eine staatliche: die fehlende preußische bzw. deutsche Staatsangehörigkeit. Wie sehr noch in der ausgehenden Bismarck- Ära die nüchterne Staatsräson politische Mäßigung auch in der Optantenfrage bestimmen konnte, zeigte sich im Jahre 1888, als die deutsche Außenpolitik der Neigung Dänemarks, sich einer gegen Deutschland gerichteten Allianz zwischen Frankreich und Rußland anzuschließen, entgegenzuwirken suchte. Die deutsche Führung griff eine entgegenkommende Haltung Dänemarks auf, das zu einer Entspannung in der Nordschleswig-Frage kommen wollte. Im Herbst 1888 wurden die verschärften Gesetzesmaßnahmen gegenüber der dänischen Minderheit in Nordschleswig gelockert. Ein Geheimerlaß des preußischen Innenministers Herrfurth verfügte, die Naturalisationsgesuche von Optanten zuzulassen und den 97 Laut einer Weisung Bismarcks an den deutschen Gesandten in Kopenhagen aus dem Jahre 1883, bei Hauser, Preußische Staatsräson, S. 52, die die Gesamtbevölkerung Nordschleswigs auf 292.400 , die Minderheit der dänischen Staatsangehörigen auf 25.000 veranschlagte. 98 Ebd., S. 53.

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vorübergehenden Aufenthalt für ausgewanderte Wehrpflichtige, die wegen Agitation ausgewiesen worden waren, zu erleichtern. Ein besonderes Entgegenkommen der preußischen Regierung bestand darin, daß sie erneut - zumindest zeitweilig - die Aufnahme kulturell dänisch Geprägter und politisch dänisch Gesinnter in die preußische Staatsangehörigkeit zuließ. Nochmals siegte die anationale, etatistische Ratio der Institution Staatsangehörigkeit über ihre substantielle Beschränkung aufgrund der Kriterien nationaler ›Homogenität‹. Damit war jedoch der Höhepunkt liberaler Staatsangehörigkeitspolitik überschritten. Sie hatte eine erhebliche Stärkung des dänischen Elements zur Folge. Die erleichterte Aufnahme von Optanten in den preußischen Untertanenverband vergrößerte die Zahl der dänischen Wähler und trug in Verbindung mit der Ausweitung der dänischen Vereinsorganisation zur Festigung der dänischen Nationalität in Nordschleswig bei. In Konfrontation mit verstärkten Germanisierungsbestrebungen in der deutschen Bevölkerung und Verwaltung, nachdem die Landtagswahl von 1893 den Mißerfolg der bisherigen Germanisierungspolitik erwiesen hatte, führte diese Entwicklung zur erneuten Verschärfung der Optantenpolitik. Seit der Mitte der neunziger Jahre hatte die schleswigsche Verwaltung die Ausweisungspolitik wieder aufgenommen. Sie betraf insbesondere Staatenlose, die vor Erreichen des wehrfähigen Alters unter Aufgabe ihrer preußischen Staatsangehörigkeit ausgewandert und nach ihrer Rückkehr nicht wieder eingebürgert worden waren. Ihre Ausweisung, die in dem Fall erfolgte, wenn sie dänische Agitation unterstützten, löste in der dänischen Bevölkerung besondere Empörung und Protest aus, weil diese Personen letztlich gebürtige Nordschleswiger waren.99 Henning Matzen, ein dänischer Staatsrechtler und Mitglied des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag, führte in seinen Schriften dem deutschsprachigen Publikum vor Augen, welch tiefe »Kluft« die Optionsproblematik zwischen den Mitgliedern zahlreicher Familien aufriß. So berichtete er von einem Vater, »daß die Ortsbehörden streng darüber wachen, daß ihn sein Sohn, der für Dänemark optiert habe, nicht besuche, selbst wenn es nur ein paar Stunden an einem hohen Festtage wären, und dies obendrein noch, obwohl der Sohn sich im Alter von zwanzig Jahren zur Aushebung habe stellen wollen, um zum preußischen Militärdienst ausgehoben zu werden«.100 Der neue Oberpräsident von Köller101 verfügte 1898, daß Optanten und Geburtsdänen, die an nationalistischen Massenausflügen nach Dänemark teilnahmen, Deutschland zu verlassen hätten. Eine gänzlich neue Qualität erreichte indessen von Köllers Anweisung, die speziell preußische Staatsangehörige 99 Vgl. dazu insgesamt Blatt, S. 51. 100 Vgl. Matzen, S. 201 f. 101 Zur Verhärtung des nationalen Kampfes in der »Köller-Zeit« vgl. Fink, Geschichte des schleswigschen Grenzlands, S. 173f.

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dänischer Gesinnung treffen sollte. Er ordnete an, daß bei diesen Personen dienendes Gesinde dänischer Staatsangehörigkeit gleichfalls auszuweisen sei. Getroffen werden sollten »fanatische Prinzipale«, die in der Tat, wie von der Verwaltung geplant, in wirtschaftliche Bedrängnis gerieten, da in Nordschleswig infolge der anhaltenden Auswanderung seit 1870 wenig Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Erst als deren Verknappung auch deutsche Arbeitgeber in Mitleidenschaft zog, wurden die Ausweisungen aufgehoben, falls die dänischen Arbeitskräfte ihre bisherige Stelle aufgaben und in den Dienst eines der nationalen Gesinnung nach ›deutschen‹ Hofbesitzers traten.102 Damit war die staatliche Privilegierung ›deutscher‹ gegenüber ›dänischen‹ Angehörigen des preußischen Staates sowohl mit politischen als auch ökonomischen Mitteln sichergestellt. Schließlich wurde den »fanatischen Prinzipalen« angeboten, man werde sie von der Ausweisung ihres Gesindes verschonen, falls sie sich bereit erklärten, von der Agitation gegen den preußischen Staat Abstand zu nehmen. Nur einige Hofbesitzer machten von diesem Angebot Gebrauch, während die Mehrzahl sich mit der Einstellung von Kindern behalf, die im Sommer zum Viehhüten und zur Erntehilfe eingesetzt wurden. Da diese schulpflichtigen Kinder zu ihrer Arbeit von der Schulpflicht freigestellt werden mußten, setzte die preußische Verwaltung hier abermals an und versagte den Dispens, falls die Kinder bei dänischen Agitatoren in Dienst treten wollten. Auf den »Dienstbotenkrieg« folgte der »Hütejungenkrieg«, wie die dänische Presse martialisch formulierte. Zeigte die Verbissenheit dieser Auseinandersetzungen, wie sehr sich der Nationalitätenstreit um die Jahrhundertwende verschärfte, spitzte ihn der Oberpräsident nochmals zu, indem er zuließ, daß Landräte eigenmächtig bestehende Richtlinien103 überschritten und die Ausweisung von Optanten anordneten, falls dänische Kinder ihrer Heimatgemeinde, die Schulen in Dänemark besuchten, dort nicht abgemeldet wurden. Insbesondere die Maßnahmen im Verlauf des »Dienstbotenkriegs« sahen für dänische Staatsangehörige und Optanten »Sippenhaft«104 vor, um auch und vor allem preußische Staatsangehörige dänischer Gesinnung zu treffen. Die fremde Staatsangehörigkeit war somit der Hebel der deutschen Verwaltung , preußische Staatsangehörige einer bekämpften nationalen Gesinnung unter politischen Druck zu setzen. Die Grenze zwischen den Staatsangehörigkeiten, die der Ausweisungsschutz markierte, verschwamm damit. Nicht mehr primär die Staatsangehörigkeit als solche, sondern die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität löste in Nordschleswig die staatliche Schutzpflicht aus, die ihrem ursprünglichen Gleichheitsgedanken nach allen Staatsangehörigen zukam. 102 Vgl. Blatt, S. 54. 103 Vgl. Grundsätze für Ausweisungen (Geheim!), Gravensteiner Protokoll vom 3.10.1898, in: Hauser, Preußische Staatsräson, S. 263. 104 So ebd., S. 59, zum Ganzen S. 56f.

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Um dänischen Agitatoren mit fremdenrechtlichen Maßnahmen beikommen zu können, ging die preußische Verwaltung in den Jahren 1900/1901 in einer Reihe von Fällen dazu über, die preußische Staatsangehörigkeit der Betreffenden zu bestreiten. »Optantenmacherei«105 nannte die dänische Presse das Verfahren, demzufolge die preußische Verwaltung Optionen für wirksam erklärte, bei denen der Optant seinen Wohnsitz nicht nach Dänemark verlegt hatte. Dieses Vorgehen widersprach einer jahrzehntelangen preußischen Verwaltungsübung und dem hergebrachten Institut der Option, das deren Wirksamkeit - wie z. B. in Elsaß-Lothringen - an einen zumindest zeitweiligen Wechsel des Territoriums knüpfte. Optanten, die sich jahrzehntelang darauf verlassen hatten, Preußen zu sein, und von den Behörden auch so behandelt worden waren, standen nunmehr einer Ausweisungsandrohung gegenüber. Es trug zum wachsenden Mißtrauen der dänisch gesinnten Bevölkerung gegenüber dem preußischen Staatsapparat bei, daß sich das Oberverwaltungsgericht, das den Rechtsverstoß der Verwaltung sehr wohl sah, aus formellen Gründen an dessen Aufhebung gehindert sah. In einem anderen Fall urteilte ein führender Beamter des preußischen Innenministeriums, der die Ausweisungspolitik gegenüber den Optanten mitformuliert hatte, nunmehr als Vorsitzender Richter des Oberverwaltungsgerichts über die Rechtmäßigkeit seiner Politik und bestätigte sie.106 Die Rechtsprechung deckte eine Verwaltungspraxis, in deren Verlauf Hunderte von Personen107 in der politischen Absicht zu Optanten gestempelt wurden, dadurch Wahlen zum Reichstag für die deutsche Seite positiv beeinflussen zu können. Ungeachtet dieser Maßnahmen stellten die Jahre von 1900 bis 1914 eine Zeit »fruchtbarer Entwicklung des Dänentums« dar.108 Die Zahl der Menschen, die sich zum Dänentum bekannten, wuchs. Die Folgen der Abwanderung wurden allmählich überwunden. Der qualitative Entwicklungssprung, der in der radikalen Verschärfung der Optantenpolitik lag, wurde auch durch die zeitweilige Wiederaufnahme einer Politik der Staatsräson nicht rückgängig gemacht. Um eine Anlehnung Dänemarks an das russisch-französische Bündnis vom 17. August 1892 zu verhindern, schloß das Deutsche Reich im Jahre 1907 mit Dänemark einen »Optantenvertrag«. In ihm verpflichtete sich Dänemark zur endgültigen Anerkennung der Nordgrenze Deutschlands und damit zum Verzicht auf Schleswig. Das Deutsche Reich willigte im Gegenzug darin ein, allen in Preußen wohnhaften staatenlosen Optantenkindern die Aufnahme in die preußische Staatsangehörigkeit zu gewähren. Damit löste der Vertrag vorderhand ein Problem, das in 105 Vgl. Blatt, S. 58f. 106 Vgl. ebd., S. 65f. 107 Ebd., S. 63, spricht von vier- bis fünfhundert Personen, die offenbar allein zwischen Verkündigung und Publikation des Urteils zu Optanten gestempelt wurden. 108 Fink, S. 177f; zum Solidarisierungs- und Nationalisierungseffekt der diskriminierenden Politik auf die dänische Minderheit s. Kühl, S. 126f.

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den dänisch gesinnten Bevölkerungskreisen Nordschleswigs erhebliche »Beunruhigung«109 ausgelöst hatte. Da die Optantenkinder auf preußischem Boden geboren waren, hatten sie - ungeachtet der dänischen Staatsangehörigkeit ihrer Eltern - nach dänischem Staatsangehörigkeitsrecht, das bis 1898 ausschließlich das Territorialitätsprinzip kannte, nicht die dänische Staatsangehörigkeit erlangt. Preußische Staatsangehörige waren sie andererseits mangels Abstammung bzw. Einbürgerung auch nicht geworden. Die daraufhin wachsende Gruppe der staatenlosen Optantenkinder machte diese zur Verfügungsmasse im Nationalitätenkampf Obwohl sie in Preußen aufgewachsen, dort familiär und sozial verankert waren, lebten sie unter dem Damoklesschwert der Landesverweisung, zumal ihnen als Staatenlosen kein Staat Ausweisungsschutz garantierte. Der Optantenvertrag befreite diese Gruppe überwiegend dänisch Gesinnter aus der schutzlosen Zwischenlage. Indem er sie in den eigenen Staatsverband aufnahm, verschob der preußische Staat freilich nur das Nationalitätenproblem und trug es in die eigene Staatsangehörigkeit hinein. Selbst Kritiker der scharfen Linie von Köller und Befürworter einer maßvollen Nationalitätenpolitik wie der Generalsuperintendent Kaftan kritisierten den nationalpolitischen Sprengsatz, der im Verhandlungsergebnis beschlossen lag. In einem Brief an den Oberpräsidenten von Bülow110 unterzog er den Vertrag einer kritischen Bewertung, und zwar gerade von einem moderaten, etatistischen Standpunkt aus: »... Kein Gerechtdenkender, wenigstens kein Nationalgesinnter wird es den Dänen Schleswigs verübeln, daß sie ihre Nationalität nicht wechseln wie einen Rock und daß sie festhalten an ihrer Muttersprache. Was gefordert werden kann und muß, ist Loyalität... In dem im Januar ... geschlossenen Optantenvertrag ist ausgesprochen, sowohl der preußische wie der dänische König wünschen eine Beruhigung Nordschleswigs. Inzwischen ist der Vertrag von den Dänen mit Jubel, von den Deutschen mit Trauer aufgenommen worden. Geordnet werden mußte die Optantenfrage. Was aber auch ich gewünscht hätte, ist dies, daß die Aufnahme der Optanten geknüpft worden wäre an das schriftliche Versprechen loyaler Haltung111 wie die Absage an alle, auf Änderung der Staatsgrenze abzielenden Bestrebungen. Es ist doch ein eigen Ding, daß unser Staat jetzt die Optanten befähigen soll und wird, ihn zu bekämpfen«. Der letzte Satz enthüllte das unentrinnbare Dilemma, in das die preußische Nationalitäten- und Staatsangehörigkeitspolitik im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geraten war: Die wechselseitige Loyalitätsbeziehung zwischen Staat und Staatsbürger, die den Kern der Staatsangehörigkeit ausmachte, lebte 109 Präambel der Konvention vom 11.1.1907 zwischen Preußen und Dänemark, abgedruckt bei: Hansen u. a., Minderheiten, S. 201 f. 110 Generalsuperintendent D.Kaftan an Oberpräsident von Bülow, 12.3.1907, zitiert nach Hauser, Preußische Staatsräson, S. 271. 111 Hervorhebung im Original.

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von nationalen Voraussetzungen, die der Staatsangehörigkeit vorauslagen, von ihr nicht beeinflußt, noch weniger garantiert werden konnten. Wenn die Loyalität zur deutschen Nationalität nicht eigens vor der Aufnahme in die Staatsangehörigkeit versprochen wurde, konnte sie von dem Staatsangehörigen nicht mehr erzwungen werden. Der Optantenvertrag erfüllte nicht seinen Zweck der »Beruhigung« eines zugespitzten Nationalitätenstreits.112 Es kam zur Einbürgerung von vier- bis fünftausend Optantenkindern, welche die dänischen Wahlerfolge erheblich stärkten, während die Dänen insgesamt zugleich »Staatsbürger zweiter Klasse« blieben.113 Die preußische Politik behielt ihre Linie der Ausweisungen bei, die 1910 nochmals stark anstiegen, während weiterhin zweitausend Heimatlose in Schleswig-Holstein blieben. Erst während des Krieges wurde ihr Status geklärt, indem das dänische Gesetz von 1898 rückwirkende Kraft erhielt. Sie wurden Dänen. Dieser Kompromiß, der Dänemarks Neutralität unterstützen sollte, nahm das Ergebnis des Ersten Weltkriegs vorweg. Schleswig wurde dänisch. Die Staatsangehörigkeit dokumentierte das Beharrungsvermögen, schließlich den Sieg der dänischen Seite im Nationalitätenkampf. Die Optantenpolitik in Nordschleswig wie auch in Elsaß-Lothringen erwies sich im Ergebnis als vergeblicher Versuch des preußischen Staates bzw. des Reiches, staatliche Loyalität zu erzeugen, um sie dann in den Dienst ethnischkultureller Homogenisierung zu stellen. Die Optionen zugunsten Deutschlands hinderten gerade nicht die Aufrechterhaltung älterer politischer Loyalitätsbeziehungen und kultureller Verwurzelung, wie insbesondere das Erstarken der dänischen Nationalbewegung in Nordschleswig zeigte. Schon deshalb verfehlten Germanisierungsversuche, die nicht an der Wahl der Staatsbürgerschaft, sondern von innen her, also an der national-kulturellen Ausrichtung der Staatsbürger, ansetzten, ihre beabsichtigten Wirkungen. Maßnahmen des Sprachen-, Schul- und Versammlungsrechts,114 welche die Hegemonie der deutschen Sprache und Kultur in den staatlichen Institutionen und von dort im politischen und öffentlichen Leben sicherstellen sollten, blieben weitgehend wirkungslos115 oder mobilisierten gerade die nationalen Gegenkräfte, die sich z. B. in der Gründung dänischer Sprach- und Kulturvereine niederschlugen. Im Unterschied zu den Siedlungsgebieten der polnischen Minderheit, von der noch eingehender die Rede sein wird,116 büßten diese Germanisierungsmaß112 Vgl. Nahr, S. 96. 113 Fink, S. 179, 185. 114 Zu Elsaß-Lothringen s. Rimmele, 1996, S. 49f., 161 f.; zu Nordschleswig s. Hauser, Preußische Staatsräson, S. 62f., sowie Blatt, S. 24f., 79f. 115 Dies gilt mit Einschränkung für Elsaß-Lothringen, wo sich die deutsche Hochsprache infolge der Schulpolitik ausbreitete und verfestigte, ohne indessen die mehrheitliche politische Orientierung der Einwohner zu beeinflussen, vgl. Rimmele, S. 162f. 116 S. unten Kap. V.3., 6.

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nahmen bereits deswegen an assimilatorischem Anpassungsdruck ein, weil die von Diskriminierungsmaßnahmen betroffenen Angehörigen der dänischen und französischen Minderheit nach Dänemark bzw. Frankreich ausweichen konnten. Hinzu kam, daß die deutsche Sprachenpolitik in Elsaß-Lothringen behutsamer und toleranter verfuhr als in Nordschleswig, toleranter vor allem als in den polnischen Gebieten Preußens.117 Bestehen blieb indessen der Eindrucknationaler Diskriminierung zwischen deutschen Staatsangehörigen. Die formell einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft zerfiel in doppelbödige nationale Rechtsklassen. Dieser Vorgang unterminierte die Loyalität der fremdnationalen Staatsangehörigen zum deutschen Staat von innen her.

3. Die polnische Minderheit: Staatsbürger zweiter Klasse Die Polen im Deutschen Reich waren mehrheitlich preußische Staatsangehörige, und dies seit Generationen. Dadurch unterschied sich die weitaus größte nationale Minderheit im Deutschen Reich grundlegend von den Dänen in Schleswig und den Franzosen in Elsaß-Lothringen beim Übergang dieser Territorien in preußischen bzw. deutschen Besitz. Der bei weitem schärfste Nationalitätenkampf im Deutschen Reich vollzog sich unter deutschen - preußischen - Staatsangehörigen. Jeder Zehnte von 24 Millionen Einwohnern, die Preußen 1871 in das Deutsche Reich einbrachte, war seiner Sprache und kulturellen Zugehörigkeit nach polnischer Nationalität.118 Dieses Verhältnis blieb bis 1914 konstant.119 Die Geschichte der Beziehungen zwischen deutschen Staatsangehörigen deutscher und polnischer Nationalität im Verlauf des Kaiserreichs ist die Geschichte einer nationalen Entzweiung: der Entstehung, gegenseitigen Zuspitzung und schließlich unversöhnlichen Konfrontation zweier Nationalismen innerhalb eines Staates, die konsequent in eine staatliche Entzweiung im Verlauf des Ersten Weltkriegs mündete. Anders als die dänischen Deutschen in Schleswig und die Frankreich zuneigenden Elsaß-Lothringer konnten sich die deutschen Polen nicht auf die Unterstützung, den diplomatischen und gegebenenfalls militärischen Druck eines Nationalstaats ihrer Nationalität verlassen. Daraus ergaben sich zwei Konsequenzen: Zum einen hatten die Angehörigen polnischer Nationalität bei der Gründung des deutschen Nationalstaats nicht die Möglichkeit der Option für einen polnischen Nationalstaat. Die quasi-plebiszitäre Ventilfunktion, die zumindest zeitweilig den Überdruck natio117 Zum entsprechenden Vergleich Elsaß-Lothringens mit Preußisch-Polen vgl. Rimmele, S. 161f. 118 Wehler, Polenpolitik, S. 109. 119 Ders., Gesellschaftsgeschichtc, Bd. III, S. 961: Nach der Volkszählung von 1910 waren von 35,4 Millionen Einwohnern Preußens 3,7 Millionen polnischer Nationalität.

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naler Spannungen in Schleswig und Elsaß-Lothringen gemindert hatte, fehlte in Preußen. Damit hing eine zweite Konsequenz zusammen: Die wachsende Tendenz der polnischen Minderheit zur staatlichen Sezession übte Druck auf die formal einheitliche Rechtsinstitution der Staatsangehörigkeit aus. Ihr politisches Empfinden, eine diskriminierte Sondergruppe unter den deutschen Staatsangehörigen zu sein, drängte nach einer selbständigen, Schutz gewährenden polnischen Staatsangehörigkeit. Die Deutschen (d. h. deutschen Staatsangehörigen) polnischer Nationalität wollten in zunehmendem Maße nicht mehr Deutsche sein.120 Fragt man nach der Bedeutung einer Nationalisierung der Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die polnische Minderheit im Deutschen Kaiserreich, sind also nicht Optionspolitik und Optionsverhalten der Gradmesser. Sie bemißt sich zum einen nach der rechtlichen Diskriminierung der Staatsangehörigen anhand nationaler Kriterien, d. h. nach der Aufhebung der Gleichheitsstruktur innerhalb der Staatsangehörigkeit, zum anderen anhand der Ein- und Ausschlußwirkung der Einbürgerungs- und Ausweisungspolitik. Dieser soll im Gesamtzusammenhang der Einbürgerungspraxis nachgegangen werden. Hier soll nur die Politik staatlicher Diskriminierung skizziert werden, die deutsche Staatsangehörige polnischer und deutscher Nationalität zunehmend voneinander unterschied und in rechtlich gestufte Klassen trennte. Bereits vor der Revolution von 1848, in der die deutsche und die polnische Nationalbewegung in der Posen-Frage gewaltsam aufeinandertrafen, war die polnische Minderheit Preußens einer Politik der ›Germanisierung‹ ausgesetzt gewesen. Insofern stellte nicht die Reichsgründung von 1871 als solche eine politische Zäsur dar, mit der sich ein qualitativer Sprung vollzog.121 Der Prozeß der Nationalisierung setzte bereits zuvor ein und zog sich bis in die achtziger Jahre hin. Er war begleitet von parteipolitischen Verschiebungen, wirtschaftlichen Umbrüchen, außenpolitischen Konstellationsänderungen, Bevölkerungsentwicklungen und einem Generationswechsel in der politischen Führung, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckten. Vergleicht man jedoch die Grundlagen, Zielrichtung und Intensität der staatlichen Maßnahmen gegenüber nicht-deutschen Minderheiten, unterscheidet sich das Ergebnis des Nationalisierungsvorgangs scharfvon der vorangehenden Politik seit dem Wiener Kongreß von 1815. König Friedrich Wilhelm III. hatte den polnischen Untertanen der preußischen Krone Freiheit im Bekenntnis der Nationalität, im Gebrauch der Sprache auch in öffentlichen Versammlungen sowie Zutritt zu allen staatlichen Ämtern und Würden garantiert. Dem Ausgangspunkt nach hatten somit bei gleicher Fähigkeit die Staatsbürger beider Nationalität grundsätzlich gleiche Chancen.122 Auch wenn in den dreißiger Jahren die Germani120 Jaworski, S. 25. 121 So auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band II, S. 270. 122 Vgl. Hauser, Polen und Dänen, S. 293.

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sierungspolitik des Oberpräsidenten Flottwell die mehrheitlich polnische Bevölkerung Posens123 einer harten kulturellen Assimilationspolitik unterwarf, war diese Linie doch getragen vom Primat staatlicher Integration, der die sprachliche Assimilation zu ihrer notwendigen Voraussetzung, nicht jedoch zum Mittel nationaler Diskriminierung erhob. In dieser Politik stand neben dem kulturellen Überlegenheitsanspruch noch eine »altliberale, von Herder stammende Achtung vor (und für) fremder Volkssprache und Kulturidentität«,124 die der vornationalen Tradition des preußischen Staates entsprach und seinen Maßnahmen Grenzen zog. Dieser liberale, tolerante Traditionsstrang staatlicher Nationalitätenpolitik verschwand im Verlauf zweier Jahrzehnte nach der Reichsgründung. Der kulturelle, zunehmend auch sozialdarwinistisch überhöhte Überlegenheitsanspruch der deutschen gegenüber der polnischen Nation drang ungehindert von Toleranzpflichten durch und radikalisierte die Maßnahmen. Nicht mehr ein - wenn auch nur begrenztes Nebeneinander zweier nationaler Kulturen, sondern die Verdrängung der polnischen Kultur durch die deutsche, bestimmte die staatliche Politik. Der Kampf um Nationalitätenrechte spielte sich in mehreren Bereichen staatlicher Politik ab. Erster Ansatzpunkt einer Politik der Nationalisierung war das Sprachen- und Schulrecht. Im Zuge des »Kulturkampfes« seit Beginn der siebziger Jahre verstärkten sich antikatholische und antipolnische Maßnahmen gegenseitig. Das Schulaufsichtsgesetz von 1872 sollte insbesondere den polnischen Klerus treffen,125 der in den Augen der preußischen Verwaltung die nationalpolitischen Bestrebungen der Polen in besonderer Weise stützte und die Schulkinder daran hinderte, Deutsch zu lernen.126 Auch die Sprachenpolitik wurde verschärft. 1872 führte die preußische Regierung die Unterrichtssprache Deutsch an den höheren Schulen auch für den Religionsunterricht ein, ein Jahr später in Posen auch für die Volksschulen, soweit die Schüler der deutschen Sprache folgen konnten. Wie Nipperdey gezeigt hat, mobilisierten »Sprachenkampf und Religionskampf, der katholische und der nationalpolnische Widerstand [...] die Massen und verschärften erst die nationalen Spannungen«.127 Dabei erzielte die Sprachenpolitik das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung. Sie wurde von den Polen als Versuch der Entnationalisierung aufgefaßt und verschärfte noch den polnischen Widerstand. Das preußische Geschäftssprachengesetz von 1876128 und das Gerichtsverfassungsgesetz des Rei-

123 S. Broszat, deutsche Polenpolitik, S. 86, 101 f. 124 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, S. 270. 125 Dazu insgesamt Rimmele, insbes. S. 83f. 126 Zum Folgenden eingehend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 271 f. 127 Ebd., S. 271. 128 Damit verbunden waren Versuche, Deutsch als »Staatssprache« der »Hauptnation« (vgl. dazu Schieder, Kaiserreich, S. 37, 42) durchzusetzen, indem die Post in den Sprachenstreit einbe-

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ches von 1877 machten Deutsch als Amts- und Gerichtssprache verpflichtend, eine Maßnahme, die alle nationalen Minderheiten traf Die Verschärfung des Nationalitätenkampfes ab der Mitte der achtziger Jahre führte zugleich zu einer Ausweitung der diskriminierenden Gesetzesmaßnahmen. Seit den siebziger Jahren begann sich das Verhältnis zwischen ›deutschem‹ und ›polnischem‹ Grundbesitz im östlichen Preußen, das sich nach 1850 zunächst zugunsten der deutschen Seite verschoben hatte, wieder deutlich dem polnischen Anteil zuzuneigen. Die polnische Bevölkerung wuchs weit mehr als die deutsche,129 die sich zudem durch eine starke Abwanderung in die Städte und westlichen Industrieregionen des Reiches verringerte. Neben Massenausweisungen nichtdeutscher Polen, von denen noch die Rede sein wird, führte diese Verschiebung die preußische Regierung zu einer nationalen Bodenpolitik. Das Ansiedlungsgesetz von 1886 ermöglichte den staatlichen Ankauf polnischer Güter mit Steuergeldern, um diesen Landbesitz an neu anzusiedelnde Bauern aufzuteilen. Dahinter stand die Vorstellung, über ›innere Kolonisation nicht nur das Vordringen der polnischen Nationalität einzudämmen, sondern diese darüber hinaus in ihrem Bestand einzuschränken und schließlich zu verdrängen. Mit dem »Kampf um den Boden« vollzog sich der Übergang zu einer aggressiven Germanisierungspolitik. Der Grundbesitz preußischer Staatsangehöriger, für den zivilrechtlich uneingeschränkt die gleichen Grundsätze des Eigentumsrechts galten, wurde zum Gegenstand diskriminierender bzw. privilegierender staatlicher Maßnahmen allein nach dem Kriterium nationaler Zugehörigkeit des Eigentümers. Anders als im staatlichen Sprachenrecht bestanden im Bereich nationaler Bodensubventionierung jedoch Spielräume für Gegenmaßnahmen der Polen, die ihrerseits bankrotte polnische Güter durch Aufkäufe oder finanzielle Unterstützung in ›polnischem‹ Eigentum zu halten suchten. Parallel zu diesen Maßnahmen verschärfte sich die staatliche Schulpolitik, indem der obligatorische polnische Sprachunterricht entfiel. Nach dem Sturz Bismarcks, dem eine vorübergehende Lockerung der Sprach- und Religionspolitik folgte, verhinderte die fortgeschrittene nationale Radikalisierung der Politik in beiden Lagern einen dauerhaften Ausgleich. Mit dem 1894 gegründeten »Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken«, nach den Kürzeln seiner Gründer »Hakatisten« genannt, entstand der Typ des radikalnationalen Agitationsvereins, der den antipolnischen Kampf mit neuen aggressiven Mitteln vorantrieb. Nicht mehr nur die Unterdrückung nationalpolnischer Regungen und der Zwang zur Sprachintegration, sondern die aktive staatliche Unterstützung einer nationalen Bodenpolitik war politisches Ziel dieser Vereinigung, das sich auch mit dem »Dispositionsfonds« von zogen wurde, d. h. die Versendung polnisch adressierter Briefe in Frage gestellt wurde. Auch in der Armee wurde ausschließlich deutsch gesprochen, vgl. dazu Rimmele, S. 45. 129 Zu den Zahlen ebd., S. 36.

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1898 politisch realisierte. Parallel dazu wurden die verbliebenen Reste der polnischen Schulsprache weiter zurückgedrängt. Gegen diese Maßnahmen gerichtete polnische ›Schulstreiks‹ blieben zwar erfolglos, vertieften aber die Spannungslinien innerhalb der staatlichen Institution Schule, in der sich die deutsche Unterrichtsverwaltung und deutsche Schüler einerseits, Schüler und Eltern polnischer Nationalität andererseits gegenüberstanden. Um die Jahrhundertwende erreichten die nationalen Diskriminierungsmaßnahmen im preußischen Osten auch die ins Ruhrgebiet übergesiedelten Polen, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß die polnische Minderheit im Ruhrgebiet sich insgesamt der deutschen Umgebung stärker akkulturiert hatte als die Polen im preußischen Osten. Eine bergpolizeiliche Anordnung von 1899 knüpfte die Anstellung »Fremdsprachiger« an den Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse.130 In einer letzten Verschärfung des Nationalitätenkampfes wurde 1908 die Ansiedlungspolitik um das Mittel der Enteignung ergänzt. Nachdem der vom preußischen Staat subventionierte Aufkauf ›polnischen‹ Bodens an wirtschaftlichen Boykott- und Gegenmaßnahmen der polnischen Seite weitgehend gescheitert war, wurde nunmehr das schärfste Zwangsmittel eingesetzt, mit dem der Staat in freies Eigentum eingreifen konnte. Auch wenn der preußische Staat dieses Mittel aus politischen Gründen nur sehr zurückhaltend einsetzte: Dem Grundsatz nach war mit der Enteignung außerhalb staatlicher Institutionen, d. h. im Bereich des ›freien‹ Grundstücksmarkts, ein Instrument verfügbar, das anhand nationaler Kriterien nicht nur begünstigte, sondern von Staats wegen zwangsweise eingriff. Damit war die Schwelle zur nationalprotektiven staatlichen Zwangswirtschaft überschritten. Diese Tendenz setzte sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs auch unter der in den Formen zwar gemilderten, in der Sache aber ostpolitischer Kontinuität verpflichteten Kanzlerschaft Bethmann Hollwegs fort. Der Entwurf eines »Parzellierungsgesetzes« aus dem Jahre 1914 sollte die Möglichkeiten des polnischen Bodenerwerbs erheblich beschränken. Schließlich griff nationalpolitisch motiviertes Sonderrecht auch in anderen Bereichen der Verwaltung und des staatlich reglementierten öffentlichen Lebens. Der öffentliche Dienst einschließlich Post und Eisenbahn wurde - bis hinein in die unteren Ränge - möglichst ›deutsch‹ besetzt. Der Staat drängte die Einstellung polnischer Volksschullehrer dadurch zurück, daß er den Gemeinden das Anstellungsrecht nahm und in staatliche Hand überführte. Alle Beamten wurden - unter Androhung der Disziplinierung - darauf verpflichtet, die nationaldeutschen Ziele zu verfolgen.131 Das ansonsten liberale Reichsvereins130 Vgl. Wehler, Polen im Ruhrgebiet, S. 444, 452; Kiessmann, Polnische Bergarbeiter, S. 52, 63f. 131 Durch einen Ministerialerlaß des Jahres 1898 wurden die Lehrer und Beamten der gemischtsprachigen Provinzen dazu verpflichtet, die Regierung bei der Stärkung des »deutschen

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gcsetz von 1908 enthielt einen »Sprachenparagraph«, der für öffentliche Versammlungen den Gebrauch der deutschen Sprache vorschrieb, um somit die politische Agitation einzudämmen. Abgemildert wurde diese Vorschrift lediglich für Verwaltungskreise, in denen die letzte Volkszählung mindestens sechzig Prozent der alteingesessenen Bevölkerung als Fremdsprachige erfaßt hatte. Damit wurde die Ausübung eines Grundrechts der preußischen Verfassung von den Ergebnissen einer politisierten, vom Zählpersonal überdies vielfach manipulierten Nationalitätenstatistik abhängig gemacht,132 ein Schritt, mit dem das Reich - nur geringfügig beschränkt - den Totalitätsanspruch des Deutschen als herrschender Nationalsprache in den vorstaatlichen öffentlichen Raum ausdehnte. Diese Maßnahmen stellten in ihrer Gesamtheit staatliches Sonderrecht dar, das entlang ethnisch-kultureller Kriterien Staatsbürger national geschiedener Klassen schuf Ein »doppelbödiges Recht«133 entstand, das dem fundamentalen Gedanken der Rechtsgleichheit zuwiderlief, der sowohl dem Prinzip des Rechtsstaats als auch der preußischen Verfassung134 zugrunde lag. Besonders eklatant war dies im Ansiedlungsgesetz von 1908,135 das die anläßlich des Wiener Vertragsschlusses von 1815 durch König Friedrich Wilhelm III. proklamierte Eigentumsgarantie für polnische Untertanen aufhob.136 Freilich blieben rechtsstaatliche Sicherungen bestehen, auf die sich auch preußische Staatsangehörige polnischer Nationalität mit Erfolg berufen konnten. Das Preußische Oberverwaltungsgericht trat wiederholt einer Ausdehnung der Geschäftssprachenregelungen von 1876 auf das Versammlungsrecht entgegen und bestritt insoweit den Totalitätsanspruch der herrschenden Nationalsprache Deutsch.137 National- und preußischen Staatsbewußtseins« zu unterstützen und »auch durch ihr gesamtes außerdienstliches und selbst gesellschaftliches Verhalten an der Erfüllung der bezeichneten Aufgabe mit(zu)arbeiten«, vgl. dazu Balzer, S. 156f. Hinzu traten staatliche Erwartungen hinsichtlich der Erziehung der Kinder der Beamten in deutscher Kultur und Gesinnung, andererseits für den Beamtendienst »unter schwierigen politischen Verhältnissen inmitten einer fremdsprachigen Bevölkerung« (ebd., S. 158f). 132 Dazu Wehler, Polenpolitik, S. 118; Rimmele, S. 159. 133 Wehler, Polenpolitik, S. 122. 134 Art. 3 bis 42 (Rechte der Preußen) und 86 (unabhängige richterliche Gewalt) der Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. 135 Das Argument des Gleichheitsverstoßes wurde in der öffentlichen Debatte um das Ansiedlungsgesetz insbesondere vom Zentrum vorgebracht, im Laufe der parlamentarischen Debatte hingegen zu einem Verstoß nurmehr gegen den »Geist der Verfassung« abgeschwächt. Demgegenüber unterstützte die Publizistik des konservativen Parteilagers, das die Verabschiedung des Ansiedlungsgesetzes vorantrieb, das Gesetz mit dem Argument, daß »ungewöhnliche Zustände ... ungewöhnliche Maßnahmen« erforderten, die zugleich eine »Weiterbildung des Staatsrechts« darstellten, vgl. Balzer, S. 109, 115. 136 Wehler, Polenpolitik, S. 115f. 137 Schieder, Deutsches Kaiserreich, S. 43; zu den zentralen Entscheidungen dieser vom Oberverwaltungsgericht kontinuierlich verfolgten Linie zwischen 1876 und 1903 vgl. Balzer, S. 242-245; Wichardt, S. 44f.

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Als hingegen das Reichsvereinsgesetz von 1908 den Vorrang der deutschen Versammlungssprache gesetzlich festschrieb, griff dagegen keine richterliche Kontrolle durch. Daran läßt sich der beschränkte Geltungsanspruch des Gleichheitsgrundsatzes in der gesamten deutschen Rechtspraxis und -Wissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufweisen.138 Es entsprach der rechtsdogmatischen Grundvorstellung im Zeitalter des Positivismus, daß verfassungsrechtlich garantierte Grundrechte, auch der Gleichheitssatz, dem politischen Gesetzgeber keine rechtlichen Schranken auferlegten und daher auch nicht von Gerichten gegen das Gesetz gewandt werden konnten. Die Sicherung des Rechtsstaats war nach dieser herrschenden Auffassung dadurch gewährleistet, daß vom Gesetz nicht gedeckte, d. h. der Gleichheit widersprechende Übergriffe der Verwaltung gerichtlich kontrolliert wurden. Der Vorrang der Verfassung139 galt noch nicht im Staatsrecht des Deutschen Kaiserreichs, dagegen der Primat des politischen Gesetzgebers. Hinzu kam, daß der dadurch eröffnete (national)politische Spielraum des Gesetzgebers den juristischen Hütern des Rechtsstaats durchaus nicht unerwünscht war. Theodor Schieder hat darauf hingewiesen, daß auch Juristen, die vom geltenden Recht den Totalitätsanspruch der deutschen Staatssprache nicht legitimiert sahen, das grundsätzliche Recht des Nationalstaats befürworteten, diesen Anspruch gesetzlich einzuführen.140 Diese Rechtsauffassungen zeigen die Grenzen rechtsstaatlichen Bewußtseins im Deutschen Kaiserreich. Sie belegen die wechselseitige Verstärkung rechtspositivistischer und nationalpolitisch restriktiver Anschauungen: Kein natur- oder menschenrechtlicher und damit übernationaler Maßstab der Gleichheit wurde an die diskriminierenden Maßnahmen des deutschen Nationalstaats angelegt, sondern die beschränkten Kontrollmittel des nationalen Rechtsstaats. Das mochte der immanenten Logik rechtsstaatlicher Dogmatik folgen, widersprach indessen einem viel weiter gefaßten Rechtsbegriff der Gleichheit, der im politischen Raum wirksam war. Die substantielle Klassifizierung der Staatsbürger nach ethnisch-kulturellen Kriterien verletzte einen elementaren, noch aus vornationaler Zeit stammenden, am (preußischen) Staat orientierten Gleichheitsanspruch der diskriminierten Nationalitäten. Gewiß trifft zu, daß die Polen in Deutschland keine deutschen Patrioten waren, dies vielfach auch bewußt nicht sein wollten, wie die Stellungnahmen polnischer Abgeordneter bereits im Norddeutschen Reichstag im Jahre 1867 zeigen.141 Insofern gab es 138 Übergangen auch bei Wehler, Polenpolitik, S. 112, 114, 116, dessen These von der politisch zerstörerischen Wirkung der Verletzung eines umfassenden Rechtsbegriffs der Gleichheit durch den preußischen Staat ich folge. 139 Eingehend Wahl, Vorrang der Verfassung, S. 485-511. 140 Schieder, Kaiserreich, S. 43; mit weiteren Nachweisen Rimmele, S. 141. 141 Vgl. Schieder, Kaiserreich, S. 27f Das Problem der Loyalität der polnischen Bevölkerung ist noch nicht zusammenhängend erforscht, s. Makoivski, S. 56.

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ein genuines, nicht nur als Reaktion von preußisch-deutschen Diskriminierungsmaßnahmen abgeleitetes polnisch-nationales Sonderbewußtsein und Absonderungsbedürfnis. Doch bedeutete dies nicht von Anfang an und für die Mehrheit der Polen eine staatliche Sezession von Deutschland. Dazu hätte es einer nicht absehbaren völligen Veränderung der europäischen Verhältnisse bedurft, die tatsächlich erst der Weltkrieg erbrachte. Statt dessen erstrebte die Mehrheit der Polen mittelfristig Rechtsgleichheit und Autonomie innerhalb des preußisch-deutschen Staates.142 Dabei wurde unter Rechtsgleichheit substantielle Gleichbehandlung und Gleichachtung nationaler Eigenart verstanden. Dies war um so bedeutsamer, als die preußische Verfassung von 1850- im Unterschied zur Paulskirchenverfassung143 - keine Garantie der Minderheitenrechte kannte. Auf der Durchsetzung einer umfassend verstandenen substantiellen Rechtsgleichheit ruhten mithin die Erwartungen der nationalen Minderheiten in Preußen wie im Deutschen Reich: der Polen ebenso wie der Dänen und der Elsaß-Lothringer. Indem der deutsche Nationalstaat die Minderheitenrechte nicht garantierte und zugleich die Rechtsgleichheit durchbrach, forcierte er den Versuch einer ethnischen Homogenisierung seines Staatsvolks. Tatsächlich erzielte er damit die Aufspaltung der einheitlichen Staatsbürgerschaft in nationale Klassen. Dies setzte Sezessionsbestrebungen der national Deklassierten frei, die von der gemeinsamen formalen Staatsangehörigkeit nur mehr kaschiert wurden.

4. Nicht-Deutsche im deutschen Nationalstaat: Die Bedeutung der Staatsangehörigkeit für die Staatsbürgerschaft Zeigt das Beispiel der polnischen Minderheit in Deutschland, wie die verbindende (integrative) Kraft der Staatsangehörigkeit abnahm, galt das auch für ihre Entwicklung nach innen. An der Außenseite hingegen, in der Abgrenzung des neuen deutschen Nationalstaats von anderen Staaten, erhielt die Staatsangehörigkeit eine neue, wachsende Bedeutung. »Ausländer« zu sein im Deutschen Reich nach 1871 bedeutete nicht mehr nur einem anderen Staat, sondern einem nichtdeutschen (National-)Staat anzugehören. Das Zusammentreffen der staatlichen und nationalen Abgrenzungswirkung schärfte nicht nur den Begriff des Ausländers zu einem außerdeutschen Staatsangehörigen. Es steiger-

142 In dieser Argumentation folge ich Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 279. 143 S.o. Kap. I I I . 1 .

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te zugleich die materielle Verschiedenheit im Status der Staatsbürgerschaft, die auf einer deutschen bzw. nichtdeutschen Staatsangehörigkeit beruhte. Die Frage, was es bedeutete, »Ausländer« im Deutschen Kaiserreich zu sein, führt zu der Frage nach den politischen, ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen, die der Rechtsstatus Staatsangehörigkeit beeinflußte und gegebenenfalls entscheidend vorprägte. Das Deutsche Kaiserreich stellte eine Phase des beschleunigten Ausbaus staatsbürgerlicher Rechte dar. Zu diesen traten erweiterte politische Partizipationsrechte, z. B. auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene, in Selbstverwaltungskörperschaften, insbesondere in Form des Reichstagswahlrechts, das auch im europäischen Vergleich eine breite demokratische Repräsentation gewährleistete. Mehr noch im Ausbau der sozialen Rechte setzte sich das Deutsche Reich international an die Spitze der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Der Aufbau eines umfassenden Sozialversicherungssystems mit Kranken-, Alters- und Invalidenversicherung machte die dauerhafte Teilhabe an diesem staatlich reglementierten Sozialsystem ökonomisch erstrebenswert. Vorbedingung für jede Einbeziehung von Ausländern in dieses wachsende Gefüge staatsbürgerlicher Rechte war jedoch ihr territorialer Inlandsstatus. Der Aufenthalt im Deutschen Reich war die Voraussetzung jeder Rechtswahrnehmung durch Ausländer. Das Recht zum Aufenthalt und der Schutz vor Ausweisung waren ihre Grundlagen, ohne die keine noch so weitgehende innerstaatliche Rechtsgarantie tatsächliche Wirksamkeit erlangte. Diesen Zusammenhang hat Knuth Dohse herausgearbeitet,144 wobei die Wirkung dieses Rechtsmechanismus weit über den bei ihm zentral behandelten Arbeitsmarkt hinausging: Die Reglementierung des Aufenthaltsrechts war das Schlüsselinstrument, mit dem der Staat im Wege der Stabilisierung des Aufenthalts zugleich die Stabilität der sozialen und ökonomischen Beziehungen, der Arbeitsmarkt-, Ausbildungs-, Heirats- und schließlich Einbürgerungschancen im Deutschen Reich in entscheidendem Maße definierte. Mit der Sicherstellung der Verfügung über die territoriale Präsenz der Ausländer besaß der Staat ein Regulativ seiner migrationsbedingten demographischen Entwicklung insgesamt, insbesondere seiner ökonomischen Kapazität und seines Arbeitsmarkts.145 Im Zeitalter wachsenden Personen- und Handelsverkehrs und liberalisierter Einzugskontrollen hatte auch das Deutsche Kaiserreich von 1871 die präventiven Aufenthaltsbeschränkungen weitgehend beseitigt und die Freizügigkeit innerhalb seines Staatsgebiets für Ausländer ebenso wie für Inländer hergestellt. Darin folgte der deutsche Nationalstaat der internationalen Tendenz zur Festigung der Rechtsstellung des Fremden im innerstaatlichen Recht, die zu144 Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 66f.; Belege für die praktische Bedeutung bei van Rahden, Grenze, S. 64; ders., Juden, S. 291. 145 Vgl. Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 66f.

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dem durch völkerrechtliche Verpflichtungen verstärkt wurde. Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes wurde der allgemeine Paßzwang für die Einund Ausreise von Ausländern aufgehoben und erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder eingeführt. Mit der Liberalisierung des Zuzugsrechts verlagerte sich das Schwergewicht der staatlichen Territorialgewalt über Ausländer auf das Ausweisungsrecht. Das staatliche Recht, die aus irgendeinem Grund ›lästig‹ fallenden oder als ›schädlich‹ empfundenen Fremden aus den eigenen Gebieten zu entfernen, wurde zum zentralen Regulierungsinstrument im Fremdenrecht des Kaiserreichs. Je nachdrücklicher das deutsche wie auch das internationale Recht den Grundsatz des Verbots einer Ausweisung eigener Staatsangehöriger (Inländer) durchzusetzen begann, desto mehr fiel der Gegensatz zur Praxis der Ausweisungen von Ausländern ins Gewicht. Das Instrument der administrativen Landesverweisung nahm im Deutschen Kaiserreich die Funktion der Einwanderungsgesetzgebung in Einwanderungsländern an: Mit weitgehender Unterstützung der Rechtswissenschaft beanspruchten die Landespolizeibehörden ein sachlich nicht begrenztes, gerichtlich nicht überprüfbares146 Ausweisungsrecht. Im Geltungsbereich der staatlichen Ausweisungskompetenz befanden sich Ausländer mithin in einer Enklave des Polizeistaats inmitten des Rechtsstaats.147 In diskretionärer Entscheidung praktizierten die Staaten des Deutschen Reiches damit ein Souveränitätsrecht, das jede Erwägung ökonomischer, sicherheits- oder nationalpolitischer Art deckte, sofern sie »im Interesse der öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung« lag.148 Begründung, Reichweite und Handhabung der administrativen Ausweisung im Deutschen Kaiserreich trugen dazu bei, den Aufenthaltsstatus der Ausländer in stetiger Unsicherheit zu halten, ihn unter einen »politischen Opportunitätsvorbehalt«149 zu stellen. Die von den einzelnen Bundesstaaten ausgehende Landesverweisung war de facto zumeist eine Reichsverweisung, da sich die anderen Staaten in der Regel weigerten, die Ausgewiesenen aufzunehmen, und Absprachen trafen, um die zwischenstaatliche Kontrolle der Ausweisungen zu gewährleisten und die Betroffenen gegebenenfalls auch aus der neuen Zufluchtstätte abzuschieben.150 Schließlich wurden damit die Voraussetzungen des einzigen wirksamen Ausweisungsschutzes, der Erlangung einer deutschen Staatsangehörigkeit, untergraben. Um Einbürgerungen bestimmter Bevölkerungsgruppen bereits im

146 Vgl. für Preußen Friederichsen, S. 83; allgemein zu den »sehr schwache(n) Rechtsbehelfe(n)« für Ausgewiesene bis hinein in die Zeit der Weimarer Republik s. Kobarg, S. 58. 147 Vgl. Isay, S. 100; Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 23. 148 Nach der amtlichen Begründung des Strafgesetzbuchs von 1871, die den Verwaltungsbehörden ausdrücklich diesen Spielraum einräumte, vgl. Friederichsen, S. 83. 149 Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 27 150 Vgl. Barfuss, S. 176, am Beispiel Bremens und Oldenburgs.

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Vorfeld zu verhindern, konnten diese präventiv ausgewiesen werden : eine Motivation, die insbesondere bei den Ausweisungsaktionen Preußens eine tragende Rolle spielte. Im größten Industriestaat des Reiches, der die höchsten Einwanderungszahlen sowohl in seinen (östlichen) Agrargebieten als auch in den industriellen Ballungsräumen verzeichnete und die weitaus größte Zahl der Ausländer aufnahm, wurden Ausweisungen periodisch als arbeitsmarktund nationalpolitisches Regulierungsinstrument eingesetzt. Sie erreichten bisweilen das Ausmaß von Massenausweisungen wie in dem besonderes Aufsehen erregenden Fall der Ausweisung von etwa 32.000 russischen und österreichischen Staatsangehörigen polnischer Nationalität während der Jahre 1885/86. Die meisten der Ausgewiesenen waren seit Generationen überwiegend in den preußischen Ostprovinzen ansässig gewesen. Sie hatten in Zeiten liberalerer Handhabung der Grenzbestimmungen und Staatsangehörigkeitsregeln die preußische Staatsangehörigkeit nicht erworben,151 was ihnen nunmehr zum Verhängnis wurde. Im Rahmen der verschärften antipolnischen Abwehrpolitik Preußens ab der Mitte der achtziger Jahre wurden sie in einer mit besonderer polizeistaatlicher Härte durchgeführten Aktion nach Rußland und Österreich ausgewiesen. Zugleich ersuchte Preußen die anderen Bundesstaaten, die Versuche der Betroffenen zu unterbinden, sich durch Erwerb einer anderen deutschen Staatsangehörigkeit ein Aufenthaltsrecht zu sichern.152 Die Massenausweisungen, die nach Motivation und Anlage der Maßnahmen zudem deutlich antijüdische Züge trugen, waren in ihrer Härte ein einmaliger Vorgang in den europäischen Friedenszeiten des 19. Jahrhunderts und stießen auf scharfe internationale Kritik, ohne jedoch den preußischen Staat zum Einlenken zu bewegen. Sie belegen, wie nationale Konfliktfälle schlagartig die politische Schutzwirkung der Staatsangehörigkeit zur Wirkung brachten und zugleich die ›Verreichlichung‹ der Staatsangehörigkeitspolitik durch bundesstaatliche Absprachen und Einflußnahmen vorantrieben.153 Auch wenn die Überwachungs- und Ausweisungspraxis in anderen Gebieten des Deutschen Reiches milder als in Preußen war, richtete sie sich doch am hegemonialen Bundesstaat aus, verletzte jedenfalls nicht dessen Interessen.154 Neben allgemeinen administrativen Ausweisungen standen solche infolge strafgerichtlicher Verurteilungen. Sie konnten aus sicherheitspolizeilichen, wirtschaftspolitischen, vor allem auch staatspolitischen Gründen erfolgen. Ausländische Jesuiten und Sozialdemokraten, die auf der Grundlage der Kulturkampfgesetze und des Sozialistengesetzes aus den Jahren 1872 und 1878 151 Vgl. Neubach, S. 39. Den Maßnahmen von 1885/86 gingen im Sommer 1884 die Ausweisungen von mehr als sechshundert Juden aus Berlin voraus, die die Ausweisungen aller vier Ostprovinzen Preußens in den Jahren 1883/84 übertrafen, s. dazu ebd., S. 21. 152 Vgl.ebd., S. 41. 153 S. dazu Kapitel V.6, 7., VI.4. 154 So für Bremen und Oldenburg Barfuss, »Gastarbeiter«, S. 83, 172f, 184.

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verurteilt wurden, unterlagen der Ausweisung. Die immense staatspolitische Bedeutung, welche die preußische Staatsregierung der Ausweisung im Kampf gegen die ›Reichsfeinde‹ beimaß, wird auch daran erkennbar, daß sie die Maßnahme auf Inländer erstreckte, denen zuvor die deutsche Staatsangehörigkeit gerichtlich entzogen worden war. Die Ausbürgerung, das äußerste Mittel, über das ein Staat jenseits physischer Vernichtung verfügte, um unwillkommene Menschen aus seiner Gemeinschaft auszustoßen, wurde gegenüber katholischen Geistlichen gesetzlich eingeführt und praktiziert. Gegen die sozialdemokratischen ›Reichsfeinde‹ vermochte es indessen auch Bismarck im Jahre 1888 nicht durchzusetzen.155 Das Reichsvereinsgesetz von 1908, das die volle Vereins- und Versammlungsfreiheit deutschen Staatsangehörigen vorbehielt, realisierte seinen nationalpolitischen Restriktionszweck auf indirekte Weise: Ausländische Polen, die der Gefahr der Ausweisung wegen politischer ›Lästigkeit‹ entgehen wollten, begannen sich vom polnischen Vereinsleben fernzuhalten und traten vielfach aus Vereinen aus, welche die großpolnische Idee verfochten. Damit spaltete und schwächte das Verdikt der Ausweisung zugleich das polnische Vereinsleben insgesamt.156 Somit zeigt sich, daß der Liberalisierung der präventiven Aufenthaltsbeschränkungen die Entliberalisierung der Ausweisungsbefugnis entsprach. Der deutsche Nationalstaat öffnete seine Grenzen, um die einziehenden Ausländer einem rechtlich labilen Schwebezustand zu unterwerfen, sie nach Belieben von seiner Staatsangehörigkeit fernzuhalten und gegebenenfalls aus seinem Territorium zu verweisen. Die ökonomische Nutzbarkeit dieses ungesicherten, von Ausweisung bedrohten Ausländerstatus erwies sich bei der Steuerung der polnischen Arbeitsmigration. Allen nationalpolitischen Abwehrmaßnahmen zum Trotz zwangen die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Ost-West-Binnenwanderung und die partielle Entvölkerung der agrarischen Ostgebiete Preußens ab den neunziger Jahren zur Beschäftigung Hunderttausender eingewanderter polnischer Arbeitskräfte. Um den wachsenden Arbeitskräftebedarf mit den nationalpolitischen Zielsetzungen des preußischen Staates zu verbinden, erfand die preußische Verwaltung das erwähnte157 System des Legitimations- und Rückkehrzwangs. Bei Zuwiderhandlung gegen den Rückkehrzwang drohte die Strafe der sofortigen Ausweisung. Die damit verbundene Unstetigkeit des Aufenthalts drückte die Arbeitswanderung zur reinen Saisonarbeit herab und verhinderte die Ansiedlung der Wanderarbeiter. Der Rückkehrzwang traf vor allem auslän155 S. Thümmler, S. 21, während von der Möglichkeit der Ausweisung gem. § 28 Sozialistengesetz in großem Umfang Gebrauch gemacht wurde. S. auch die Expatriierung aufgrund des Reichsgesetzes betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874 , die im Fall des Paderborner Bischofs Martin angewandt wurde (Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 725, 729). 156 Vgl. Barfuß, S. 184. 157 S.o. Kap.V.l.

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disch-polnische Arbeitskräfte (aus Russisch-Polen und Galizicn) und minderqualifizierte Arbeitskräfte innerhalb und außerhalb der Landwirtschaft.158 Die ausländische Staatsangehörigkeit der Wanderarbeiter wurde zum Anknüpfungspunkt und Hebel, um nationalpolitische, berufsqualifikatorische und ökonomische Ziele in Einklang zu bringen. Ein von den anwerbenden Arbeitgebern gewünschter Effekt bestand darin, daß die schlecht ausgebildeten ausländischen Arbeitskräfte zu geringeren Löhnen als deutsche Arbeiter beschäftigt werden konnten. Die Staatsangehörigkeit schied mithin grundsätzlich minderqualifizierte und -bezahlte, national unerwünschte Wanderarbeitskräfte von seßhaften, besser qualifizierten und bezahlten Arbeitern, die national integriert waren oder doch als integrierbar angesehen wurden. Damit trieb die Unterscheidung nach Inländern und (östlichen) Ausländern einen nationalen Keil in den Anspruch internationaler Solidarität der Arbeiterklasse. Die Arbeitsmigranten wurden von den deutschen Gewerkschaften und Arbeitern als »Lohndrücker« und »Streikbrecher« kritisiert,159 wobei es z. B. in der Bauarbeitergewerkschaft, die in besonderem Maße vom Konkurrenzdruck ausländischer Wanderarbeiter betroffen war, zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Mit der Aufrechterhaltung und Förderung160 des Imports billiger ausländischer Arbeitskräfte ergriff der Staat Partei zugunsten der Produktionsinteressen und damit gegen die Forderung nach einem »Inländerprimat« (bzw. nach Erzwingung gleicher Lohnbedingungen), die von den Arbeitnehmervertretungen erhoben wurden. Der fundamentalen Rechtsunsicherheit des Ausländerstatus, die in der ständig drohenden Ausweisung lag, entsprach der annähernd vollständige Ausschluß von politischen Rechten. Die Reichsgesetzgebung schloß Ausländer sowohl vom aktiven wie passiven Wahlrecht zu den Parlamenten des Reichs wie der Einzelstaaten161 aus. Im Unterschied zum differenzierten Recht in den Staaten des Deutschen Bundes, das Ausländer nicht strikt von der Mitwirkung in gemeindlichen Vertretungsorganen fernhielt, wurde im Kaiserreich das Inländermonopol politischer Rechte zunehmend auch auf die kommunalen Vertretungskörperschaften erstreckt. Parallel dazu unterlag die Vereins- und Versammlungsfreiheit, die zwar keinen Ausgleich für fehlende politische Mitwirkungsrechte bot, aber zumindest eine kollektive öffentliche politische Betätigung garantierte, einer fortschreitenden Verengung auf deutsche Staatsangehörige. Wurde die Rechtslage aufgrund der preußischen Verfassung von 1850 zunächst so interpretiert, daß sie auch Ausländern im wesentlichen den gleichen Schutz ihrer Versammlungen und Vereinsbildungen garantierte wie preu158 Zum Ganzen Bade, Auswanderungsland, S. 29f. 159 S. Dohse, S. 57f.; Herbert, Ausländerbeschäftigung, S. 48f., 68f. 160 Insbesondere durch die Konzentration der Arbeitsanwerbung in staatlicher Hand, vor allem durch die Feldarbeiterzentrale, s. Herbert, Ausländerbeschäftigung, S. 34f. 161 Vgl. Frisch, S. 353, 356.

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ßischen Untertanen, verlor diese Auffassung um die Jahrhundertwende an Boden. Die Rechtslehre begann die Versammlungstätigkeit von Ausländern allgemeinem Polizeirecht zu unterwerfen und sie dadurch gegenüber ›deutschen‹ Versammlungen zu diskriminieren, die unter Grundrechtsschutz standen. Das Reichsvereinsgesetz von 1908, das Reichsangehörigen das Recht der Vereinsbildung und Versammlung vorbehielt, kodifizierte diesen Interpretationswandel und zeigte mit seiner antipolnischen Spitze die sich insgesamt vollziehende Nationalisierung der Rechtslehre wie der Rechtspraxis an. Die Konzession einer Petitionsmöglichkeit für Ausländer war demgegenüber in ihrer Bedeutung verschwindend gering. Nicht einmal diese rudimentäre letzte Möglichkeit, ein politisches Anliegen öffentlich zu Gehör zu bringen, genoß den Minimalschutz einer rechtlichen Garantie.162 Die Ausweitung demokratischer Mitwirkungsrechte und der insgesamt wachsende Einfluß der parlamentarischen Vertretungen aller Ebenen auf die staatliche Politik stellten mithin Ausländer in doppelter Weise materiell schlechter: Sie wurden in die wachsende Zahl öffentlich-politischer Mitwirkungsrechte nicht einbezogen. Darin zeigte sich ein grundlegender Vorgang tiefer Ambivalenz: Die Demokratisierung und Parlamentarisierung des Deutschen Kaiserreichs bedeutete insoweit zugleich seine Nationalisierung, d. h. seine nationale Abschließung nach außen. In gleicher Weise wirkte die Entwicklung hin zum Interventionsstaat. Die Ausweitung staatlicher Betätigung auf die Kontrolle und Gestaltung der Wirtschaft sowie die Regelung sozialer Belange bedeuteten eine Ausweitung der öffentlichen Amtsausübung weit über die klassischen Tätigkeitsfelder staatlicher Hoheitsverwaltung hinaus. Die Ausdehnung des juristischen Begriffs »öffentliches Amt« ging einher mit dem Ausschluß der Ausländer von der Ausübung amtlicher Leitungsfunktionen. Insgesamt galt hier der Grundsatz des politischen Fremdenrechts, daß inländische Hoheitsbefugnisse auch nur von Inländern ausgeübt werden durften. Zwar bestand ein gesetzliches Anstellungsverbot für Ausländer nur ausnahmsweise, Verwaltungsanordnungen hielten sie jedoch vom inländischen Staatsdienst fern. Wurden sie gleichwohl angestellt, war die notwendige Folge der gleichzeitige Erwerb der inländischen Staatsangehörigkeit.163 Der Status des Inländers, die Innehabung einer deutschen Staatsangehörigkeit, näherte sich damit einer notwendigen Voraussetzung, jedenfalls aber Folge staatlicher Amtsausübung an. Diese Entwicklung war insbesondere folgenreich für den expandierenden Bereich ehrenamtlicher Tätigkeiten, die zwar nicht staatlichen Dienst im engen Sinn, jedoch ein öffentliches Amt darstellten. Die ehrenamtliche Tätigkeit im engeren staatlichen Hoheitsbereich der Justiz, das Amt des Schöffen bzw. Geschworenen, wurde für das gesamte Deutsche Reich durch das Gerichtsver162 Friederichseti, S. 261: Das preußische Herrenhaus erklärte sich 1904 für berechtigt, aber nicht verpflichtet, Petitionen von Ausländern zu beraten und zu beschließen. 163 S. Cahn, Reichsgesetz, S. 86.

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fassungsgesetz von 1877 Deutschen vorbehalten mit der Begründung, »man sei es der deutschen Nation schuldig, daß ein Deutscher nur von einem Deutschen gerichtet werden könne«.164 Ein Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit, der erheblich an Bedeutung gewann, war die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Sozialversicherung. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung begründete eine nach Systematik und Umfang in der industriellen Welt einzigartige Politik der Risikoverminderung angesichts der völlig neuen sozialen Herausforderungen der Industriewirtschaft. Aufgrund des flächendeckenden Ausbaus der Versicherungspflicht, die schließlich alle Kernbereiche der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse umfaßte, mußte den Ausländern ihre Beteiligung an der Selbstverwaltung des schnell wachsenden Versicherungsapparates um so attraktiver erscheinen, als zugleich der Anteil ausländischer Arbeitskräfte seit dem Ende des Jahrhunderts rasch zunahm.163 Während die ersten Gesetze des großen Sozialversicherungswerks, das Krankenversicherungsgesetz von 1883 und das Unfallversicherungsgesetz von 1884, in der Selbstverwaltung nicht zwischen Ausländern und Deutschen unterschieden, änderte sich dies mit der Einführung der Alters- und Invaliditätsversicherung von 1889, die - weit vor der Unfallversicherung- auf Dauer den zweitgrößten Kapitalbedarf hinter der Krankenversicherung ausmachte,166 und den folgenden Sozialgesetzen. Die SPD widersetzte sich dem Ausschluß ausländischer Arbeiter von der ehrenamtlichen Sozialversicherung, nachdem diese jahrelang alle Pflichten der Sozialgesetzgebung getragen hatten. Doch setzte sich die Reichstagsmehrheit bei der Beratung der abschließenden sozialrechtlichen Kodifikation, der Reichsversicherungsordnung von 1911, dagegen durch: Es sei »absolut unzulässig, Ausländern einen Einfluß auf Verwaltung und Rechtsprechung einzuräumen«.167 Damit behauptete sich das Nationalitätsprinzip gegenüber zwei konkurrierenden Grundprinzipien: Der Ausschluß von Ausländern aus der Selbstverwaltung einer Beitragsgemeinschaft, der sie als Mitglieder angehörten, war unvereinbar mit Vorstellungen mitgliedschaftlicher Repräsentation. Er verstieß zugleich gegen die Gleichheitsgrundlage eines auf Leistung und Gegenleistung beruhenden schuldrechtlichen Austauschverhältnisses. Ergänzt wurde dieser Vorgang durch die korporatistische staatliche Durchdringung der Berufsorganisationen. Mit der Einführung öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltungskörperschaften im Handwerk wurden zugleich Ausländer 164 Zitiert nach Friederichsen, S. 268. 165 S.o. Kap.V.1. 166 Vgl. dazu Born u. a., S. 147-153: Im Stichjahr 1900 betrug das Versicherungskapital der Invaliden- und Altersversicherung insgesamt 186 Millionen Reichsmark (156 Millionen Mark Beiträge und 30 Millionen Reichszuschuß) gegenüber 208 Millionen in der Kranken- und 105 Millionen in der Unfallversicherung. 167 Friederichsen, S. 268, Anm. 5.; vgl. Verhandlungen des Reichstags, XII. Legislaturperiode, Anlagen, Bd. 279, Drucksache Nr. 946, Bericht der 16. Kommission über den Entwurf einer Reichsversicherungsordnung.

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von den zentralen Selbstverwaltungsfunktionen ausgeschlossen.168 Dieser Vorgang zeigt beispielhaft, wie im Nationalstaat die (partielle) Verstaatlichung der beruflichen Selbstverwaltung zu deren Nationalisierung führte. Die Ausstattung der beruflichen Selbstverwaltung mit hoheitlichen Kontrollbefugnissen der Sphäre staatlichen Rechts ›hob‹ sie aus dem Bereich gesellschaftlicher Berufsbeziehungen in eine staatliche Sphäre, an der nur Mitglieder des Staates, nicht aber Staatsfremde teilhaben sollten. Entsprach der Diskriminierung von Ausländern auch eine Schlechterstellung in den Leistungsansprüchen gegenüber den Versicherungsträgern? Mit dem umfassenden System staatlicher Sozialversicherung war ein neuer Typus sozialer Rechte des versicherten Individuums gegenüber dem Staat entstanden, die sich nach Begründung und Umfang grundlegend von hergebrachten Fürsorgeansprüchen gegenüber dem Staat unterschieden. Während der allgemeine Fürsorgeanspruch eines hilfsbedürftigen Ausländers gegenüber dem Staat aus dem spontanen Eintritt der Unterstützungsbedürftigkeit im Staatsgebiet entstand, beruhte der Anspruch des Sozialversicherten auf einem - zumeist länger anhaltenden - Arbeitsverhältnis (und einer entsprechenden längeren Anwesenheit) im Staatsgebiet, das ihn versicherungspflichtig machte, d. h. zur Zahlung regelmäßiger eigener Beiträge aus seinem Arbeitsentgelt verpflichtete. Hing demnach die staatliche Fürsorge nicht von Gegenleistungen ab, war die Sozialversicherungsleistung (zumindest partiell) durch eine Beitragsleistung des Versicherten bedingt. Die daraus ableitbare Annahme, daß die Diskriminierung von Ausländern im Rahmen der beitragsfreien staatlichen Fürsorge größer gewesen sei, geht gleichwohl fehl. Das Gesetz des Norddeutschen Bundes über den Unterstützungswohnsitz, das endgültig die Ortsarmenverbände aus ihrer Verknüpfung mit der korporativen Gemeindezugehörigkeit ablöste, ging von dem Grundsatz aus, daß die »Humanität« es gebiete, hilfsbedürftige Ausländer ebensowenig ohne Unterstützung zu lassen wie Deutsche. Die folgende Landesgesetzgebung Preußens und der meisten Bundesstaaten - mit Ausnahme Badens und insbesondere Bayerns169 - entsprach daher dem Grundsatz der Gleichbehandlung von hilfsbedürftigen In- und Ausländern, und zwar ohne diese Leistung vom Prinzip der Gegenseitigkeit abhängig zu machen. Das politische Zugeständnis wie die Gleichstellung insgesamt blieb indessen begrenzt, zumal sich der Staat vor Eintritt des Fürsorgefalls der Ausländer durch Ausweisung entledigen konnte.170 168 Vgl. Friederichsen, S. 269. Insoweit wirkte der Korporativismus des Handwerks in doppelter Weise protektionistisch: zu Lasten der nicht staatlich organisierten Arbeitnehmer und der ausländischen Gewerbetreibenden, s. Winkler, Pluralismus, S. 8, 18. 169 Zum besonderen System des bayerischen Heimatrechts, das nicht mehr aus Gründen der Systemüberlegenheit, sondern zur Kompensation der Zustimmung zur Reichsgründung aufrechterhalten wurde, vgl. Redder, S. 13-15. 170 Vgl. Friederichsen, S. 224.

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Grundsätzlich anders verhielt es sich mit Ausländern in längerfristigen versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen. Die Risiken von Krankheit, Unfall und Invalidität trafen sie und die deutschen Versicherungsträger in gleichem Maße wie deutsche Arbeiter. Sie standen ihnen daher in der Versicherungspflicht weitgehend gleich.171 Waren demnach die Versicherungsbeiträge deutscher und ausländischer Versicherungsnehmer grundsätzlich gleich, so galt dies gerade nicht für die Versicherungsleistungen. Diese wurden parallel zu den ehrenamtlichen Selbstverwaltungsrechten der Ausländer, beginnend mit dem Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz von 1889, eingeschränkt. Die Einführung dieser langfristig besonders kapital- und leistungsintensiven Versicherung unterwarf die Sozialversicherungsleistungen erstmals fremdenrechtlichen Beschränkungen: Bei Eintritt der Leistungspflicht gegenüber ausländischen Arbeitern, die zu diesem Zeitpunkt im Ausland ansässig waren, wurden diese auch gegen ihren Willen mit einer dreifachen fahresrente abgefunden. Mit dieser Regelung begann die »Politisierung der Ausländerrechtsstellung« im Sozialversicherungsrecht, die Ausländer bereichsweise aus dem auf Gegenseitigkeit und Gleichheit beruhenden Solidarprinzip der Versicherungspflicht ausnahm. Die nächste Stufe wurde mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 erreicht, welche die Ausländerrechtsstellung im Bereich der Alters- und Invaliditätsversicherung bzw. der Hinterbliebenenversorgung weiter verschlechterte. Die Versicherungsleistungen an die im Ausland ansässigen Versicherten bzw. deren Hinterbliebene wurden obligatorisch abgefunden bzw. weiter beschränkt. Aus übergeordneten ordnungspolitischen Gründen der Einwanderungsförderung, Arbeitsmarkt- und Bevölkerungspolitik wurde auch der individuelle Leistungsanspruch ausländischer Arbeiter eingeschränkt. Diese Maßnahmen deuten auf einen Kompromiß im Spannungsverhältnis zwischen politischen und ökonomischen Zielsetzungen hin. Aus nationalpolitischen Gründen suchte das Deutsche Reich die Fluktuation der Arbeitsmigration aus den östlichen Nachbarstaaten zu begrenzen, auf die es andererseits als Arbeitsimportland in der Hochphase der Industrialisierung angewiesen war. Die versicherungsrechtlichen Maßnahmen prämierten daher die Seßhaftigkeit und das soziale Wohlverhalten eines für nützlich erachteten Kerns der ausländischen Wohnbevölkerung, indem sie andererseits die Rückwanderung in die Herkunftsländer, die freiwillige ebenso wie die durch Ausweisung nach strafgerichtlicher Verurteilung erzwungene, durch Kürzung existentieller Versicherungsleistungen sanktionierten. Die Stellung des Ausländers im Berufsrecht des Deutschen Kaiserreichs variierte erheblich, wobei insbesondere die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Berufssparte und der Grad der Selbständigkeit der Berufsausübenden den Ausschlag gaben. Die Rechtsstellung der zumeist ungelernten ausländischen Ar171 Ebd., S. 230.

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beitskräfte, die vor allem aus den östlichen Nachbarländern in das Reichsgebiet kamen und den überwiegenden Anteil ausländischer Berufstätiger ausmachten, unterlag, wie oben gezeigt, den schärfsten regulativen Eingriffen des Staates wegen ihres gesamtwirtschaftlichen, demographischen und nationalpolitischen Potentials. Das System des Rückkehr- und Legitimationszwangs sowie die Zentralisierung und Verstaatlichung der Arbeitsanwerbung und -Vermittlung, die der Staat nach dem Ende des Merkantilismus erstmals wieder in eigene Regie übernahm,172 waren die zentralen Regulierungsinstrumente, welche die Freiheit ausländischer Arbeiter zur Einreise und Arbeitsaufnahme einem fast lückenlosen System des staatlichen Arbeitsmarktprotektionismus unterwarfen. Im Ausländergewerberecht hingegen dominierte der Grundsatz der Gewerbefreiheit, den die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes von 1869 eingeführt hatte. Die Freiheit des ›stehenden‹ Gewerbebetriebs wurde entgegen Versuchen, sie insbesondere für ausländische jüdische Gewerbetreibende einzuschränken,173 bis hinein in die nationalsozialistische Gewerbegesetzgebung aufrechterhalten. Lediglich der Gewerbebetrieb ausländischer juristischer Personen im Reichsgebiet, d. h. zumeist wirtschaftlicher Unternehmen größeren Umfangs, wurde einer Genehmigungspflicht unterworfen. Das preußische Gesetz über den Bergwerksbetrieb von 1908 bekräftigte dies für den Bereich der wirtschaftlich und militärisch bedeutenden Mineralgewinnung. Ausnahmen vom liberalen Territorialprinzip der Gewerbefreiheit wurden mit sicherheits- und ordnungspolitischen Erwägungen begründet, die das nicht ortsgebundene und damit erschwert kontrollierbare Wander- und Marktgewerbe betrafen. Während die reichsweit geltenden Verwaltungsvorschriften ausdrücklich174 ausländische Zigeuner, Trödler und Kesselflicker einer verschärften Kontrolle unterwerfen wollten, trafen sie indirekt und unausgesprochen die Gruppe ausländischer jüdischer Gewerbetreibender, die einen besonders hohen Anteil an den Wandergewerbetreibenden stellten. Den geringsten Beschränkungen unterlagen Ausländer in den auch insoweit ›freien‹ Berufen. In der wirtschaftlichen Liberalisierungsphase nach der Reichsgründung wurden 1872 die Berufszulassungsbeschränkungen für ausländische Apotheker und Ärzte aufgehoben. Die Rechtsanwaltsordnung von 1878 verwirklichte die ›freie Advokatun,175 indem sie das staatliche Ernennungsmonopol für Rechtsanwälte aufhob. Als daraufhin im folgenden Jahrhundertdrittel die Zahl der Jurastudenten wie der Rechtsanwälte rasch anstieg und eine hefti172 Vgl. ebd., S. 183f., 190; zu den einzelnen Maßnahmen Dohse, S. 29f. 173 So das Berliner Kammergericht unter Rückgriff auf § 71 des preußischen Gesetzes vom 23.7.1847, vgl. ebd., Die Rechtsstellung des Fremden, S. 174f. 174 ZBIDtR 1883, S. 305 (31.10.1883). 175 Vgl. Siegrist, S. 403, 411.

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ge politische Debatte über die »Überfüllung« des Berufsstands entbrannte,176 reagierte der preußische Staat mit einer Verengung der staatlichen Examensbedingungen: Ausländische Rechtskandidaten wurden nur beschränkt zum Staatsexamen bzw. zum juristischen Vorbereitungsdienst zugelassen, der als Beamtenverhältnis ausgestaltet war.177 Zwar wurden Ausländer bei der Zulassung zu den ›freien‹ Berufen nicht diskriminiert, doch bestanden weiterhin staatliche Kontingentierungsregulative. Sie setzten bereits an den staatlichen Ausbildungsvoraussetzungen, spätestens bei der Entscheidung über die Einbürgerung an, wie zu zeigen ist.178 Je weiter man in die staatsferne Sphäre der Freiheitsrechte vordrang, desto geringer wurde die staatliche Diskriminierung der Ausländer im Recht des Deutschen Kaiserreichs. Dies galt in besonderem Maße für das Vermögensrecht. Das Eigentumsrecht war das Kernrecht des wirtschaftlich selbständigen Staatsbürgers.179 Es genoß in allen deutschen Staaten Verfassungsrang und galt als das Signum einer bürgerlichen Rechtsordnung, ja als das Freiheitssubstrat moderner Staatsbürgerschaft schlechthin. Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 garantierte das Eigentum unterschiedslos für Deutsche und Ausländer. Das Gesetzeswerk war seiner Grundanlage nach »kosmopolitisch«; denn es kodifizierte die Rechtsfähigkeit aller natürlichen Personen kraft »Menschenantlitz«, nicht als »deutsches Volksrecht, sondern Menschenrecht«.180 Die grundsätzliche Gleichstellung von In- und Ausländern setzte sich auch international in den meisten anderen Zivilrechtsordnungen des 19. Jahrhunderts durch. Die bürgerliche Rechts- und Sozialordnung des 19. Jahrhunderts in Europa ruhte auf dem Boden prinzipieller Gleichberechtigung der in Rechtsverkehr miteinander tretenden Rechtssubjekte. Das Marktmodell des frühen Liberalismus mit der Vorstellung freien, ständischen und staatlichen Beschränkungen nicht unterworfenen Eigentumserwerbs181 stand dahinter. Darin wirkte ein vornationales, insoweit auch transnationales Sozialmodell der Aufklärung nach. Es forderte deshalb auch dort, wo sich die privatrechtliche Eigentumsordnung im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Gren176 Zwischen 1880 und 1913 stieg die Zahl der Jurastudenten von 5.199 auf 10.442, die der Rechtsanwälte von 4.000 auf 12.000, vgl. ebd., S. 591 f. 177 S.Justizministerium an PrMdl, 23.5.1910; PrMdl an Regierungspräsidenten, 29.10.1910 mit dem Hinweis, daß der juristische Vorbereitungsdienst infolge »übergroßen Andrangs« überfüllt sei und daß ausländische Kandidaten mit dem Ersten Staatsexamen keine bestimmte Aussicht auf Zulassung zum Vorbereitungsdienst erlangten, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 22. 178 S. u. Kap. V. 6., 7. 179 Zum Folgenden eingehender Gosewinkel, Eigentum vor nationalen Grenzen, S. 87-106. 180 Zielke, S. 43; dazu Coing, S. 263, 284f. (allerdings mit einer Einschränkung wegen der Aufnahme des Staatsangehörigkeitsprinzips im Einführungsgesetz zum BGB). 181 Coing, S. 70f. (begründet in der frühliberalcn Verbindung von Eigentum und individueller, nicht gemeinschaftsgebundener persönlicher Freiheit), vgl. dazu Schwab, S. 79f.

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zen eines Nationalstaats entfaltete, von seinem Ansatz her die Gleichstellung der Wirtschaftssubjekte innerhalb eines Territoriums. Dieser Grundsatz erschien dem Gesetzgeber des BGB so sehr als Selbstverständlichkeit, daß er ihn nicht ausdrücklich in das Gesetzeswerk aufnahm.182 Soweit Ausnahmen von diesem Grundsatz bestanden, betrafen sie nicht das Eigentum an beweglichen Sachen, das im Zeitalter hochindustrieller Massenproduktion gegenüber dem Grundeigentum an Bedeutung gewann. Vor allem wurden Diskriminierungen ausländischer Rechtsinhaber für eine neue Form des Eigentums abgebaut, die in der Hochblüte wissenschaftlicher und technischer Neuerungen eine rasche ökonomische Wertsteigerung erfuhr: das Recht des »geistigen Eigentums«, des weitverzweigten Urheberrechts und der gewerblichen Schutzrechte. Der nationale Rechtsschutz knüpfte nicht mehr maßgeblich an die Staatsangehörigkeit183 des Urhebers und Erfinders an. Vielmehr sollte die wirtschaftliche Verwertung des geschützten geistigen Eigentumsrechts im Inland bzw. in einer inländischen Gewerbeniederlassung den Ausschlag für den Schutz geben. Gerade am Beispiel gewerblicher Schutzrechte,184 einer modernen, nationale Grenzen rasch überschreitenden Form des geistigen Eigentums, zeigte sich also, wie sehr das ökonomische Verwertungsinteresse nationaler Eigentumsrechte von der Person des Rechtsträgers absah, statt dessen die territoriale Nutzung innerhalb des nationalen Wirtschaftsstaates in den Vordergrund stellte und durch umfassende multilaterale Vertragswerke185 schützte. Auf dieser Grundlage schritt ab der Jahrhundertwende die Entnationalisierung des Ausländerimmaterialgüterrechts in Richtung auf eine allmähliche Rechtsangleichung von In- und Ausländern voran. Freilich ist das fortschreitende Prinzip der »Inländerbehandlung« in der Geschichte des geistigen Eigentums nicht gleichzusetzen mit einer gleichsam selbstläufigen Durchsetzung eines Grundsatzes der »Weltoffenheit«. Die Schutzgewährung nach dem Territorial- , nicht dem Nationalitätsprinzip erlaubte den Abbau von Diskriminierungen immer in den (territorialen) Grenzen und nach Maßgabe der Wettbewerbsinteressen des Nationalstaats.186 182 Friederichsen,S. 139. 183 Für das gesamte Recht des gewerblichen Rechtsschutzes vgl. Osterrieth, S. 180 (Gebrauchsmusterrecht), S. 221 und 236 (Geschmacksmusterrecht), S. 258 (Urheberpersönlichkeitsrecht), S. 410 (gegen unlauteren Wettbewerb). Noch das Reichsgesetz von 1876 hatte das Staatsangehörigkeitsprinzip für maßgeblich erklärt. Vgl. Wächter, S. 118f. 184 Friederichseti, S. 143 (während das Patentrecht von Beginn an keinen fremdenrechtlichen Restriktionen unterlag). 185 Die Pariser Übereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883, der das Deutsche Reich 1903 beitrat, und die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Werken der Tonkunst von 1896. Vgl. dazu Dölemeyer, Wege der Rechtsvereinheitlichung, S. 66. 85. 186 Zu dieser Problematik, die bis in die gegenwärtigen Rechtsinteressen hinein bestimmend geblieben ist, s. eindringlich Ullrich, S. 624f).

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War somit der zivilrechtliche Eigentumsschutz weitgehend entnationalisiert, so zeigten sich innerhalb des primär politisch interpretierenden Staatsrechts Tendenzen zur Nationalisierung des Eigentumsschutzes. Ob Ausländer in den Genuß des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes kommen sollten, begann um die Jahrhundertwende in Frage gestellt zu werden. Die Bedeutungsaufwertung der Grundrechte insgesamt erlaubte zugleich ihre spezifisch nationale Auslegung. Die »Grundrechte der Preußen«, von denen der Text der preußischen Verfassung sprach, wurden von Staatsrechtlern erstmals als »Ausdruck von Gedanken des nationalen Stolzes und der nationalen Ehre«187 interpretiert und einschließlich des Eigentumsrechts Deutschen vorbehalten. Diese Auffassung entsprach nicht der Mehrheit, war jedoch Teil einer umfassenderen, an Boden gewinnenden Nationalisierungsströmung in der Staatsrechtslehre, die zur selben Zeit das antipolnische Sonderrecht des Reichsvereinsgesetzes von 1908 rechtfertigte.188 Faßt man zusammen, so unterlag die materielle Rechtsstellung der Ausländer im Deutschen Kaiserreich, aufs Ganze gesehen, einem Prozeß der Politisierung und Nationalisierung. Dies betraf die Rechtsstellung ebenso wie deren Interpretation in der Rechtslehre. Je näher ein Recht dem expandierenden staatlichöffentlichen Bereich stand, desto mehr setzte sich das Nationalitäts- gegenüber dem Territorialitätsprinzip durch. Die Nationalisierung vertiefte zugleich das soziale Gefälle innerhalb der Gruppe der Ausländer, denn die schärfsten sozialen und politischen Beschränkungen trafen die Gruppe, die den ganz überwiegenden Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung des Reichs stellte:189 Arbeiter, die, mangelhaft ausgebildet, mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in Beschäftigungsverhältnissen standen, in denen die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung schlechter als die der Deutschen waren.190 Im Interesse der industriellen Arbeitgeber wurden ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zunehmend ausländische Arbeiter in das Land geholt. Sie wurden zu Bedingungen beschäftigt, die gerade die unteren Lohngruppen stabilisierten, die sozialgesetzlichen Bestimmungen unterliefen und eine industrielle Reservearmee formten, die als »Konjunkturpuffer« diente. Die damit verbundene Teilung des Arbeitsmarktes lag im Interesse der Arbeitgeber. Sie bedeutete zugleich eine Spaltung der Arbeiterklasse, eine ›Unterschichtung‹ der deutschen Arbeiterschaft durch Arbeiter fremder Staatsangehörigkeit. So sehr ökonomi187 Zorn, S. 150f. 188 S. oben Kap. V.3. 189 Zu einer Aufstellung nach Bildungsgrad und Wirtschaftsbranchen s. Herbert, Ausländerbeschäftigung, S. 56f: Der Ausländeranteil der ungelernten Arbeiter lag mit 21% nur im metallverarbeitenden Gewerbe unter 50%, in den übrigen Branchen zwischen 58% (Textil) und 79% (Steine/Erden), in der Industrie insgesamt bei 58%. Insgesamt war die Zahl der ausländischen ungelernten Industriearbeiter um 42% höher als die der deutschen. 190 Vgl. ebd., S. 40f, 52. Dohse, S. 66f.

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sche Verwertungs- und nationalpolitische Beschränkungsinteressen auf dem Arbeitsmarkt des späten Kaiserreichs auch politisch konkurrierten:191 Sie verstärkten sich gegenseitig in der Aufrechterhaltung diskriminierender Rechtsund Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeitskräfte. Die Staatsangehörigkeit wurde zur sozialen Trennlinie innerhalb des industriellen wie des landwirtschaftlichen Arbeitsmarktes. Dies wird zusätzlich belegt durch das Gegenbeispiel der umfassend territorial, nicht national geschützten Vermögens- und Berufszugangsrechte. Die weitgehende Gleichstellung von In- und Ausländern in diesem Bereich zielte strukturell auf ein soziales Segment, das im Zeichen einer hochindustriellen Arbeitsgesellschaft mit hohem Bedarf an industriellen Arbeitskräften vergleichsweise schmal war: auf die relativ kleine, sozial gehobene Gruppe der ausländischen Vermögensbesitzer, Gewerbetreibenden und frei Berufstätigen.192« Läßt sich somit eine strukturelle, insgesamt zunehmende rechtliche Diskriminierung der Ausländer im Deutschen Kaiserreich erkennen, wurde dieses Gefälle auch nicht durch den Wegfall der deutschen Staatsangehörigen vorbehaltenen staatlichen Pflichten ausgeglichen. Zwar unterlagen Ausländer nicht der Wehrpflicht, in Preußen193 zudem nicht der Schulpflicht. Doch wirkte sich die Wahrnehmung dieser Entlastung nicht als Privileg, sondern als Schlechterstellung aus: Auf der Hand liegt, daß das Versäumnis schulischer Bildung das Bildungs- und Sozialgefälle der Ausländer gegenüber den Deutschen nur mehr vertiefte. Auch der Wegfall der Wehrpflicht, der Ausländern zunächst Gewinn an Lebenszeit und wirtschaftliche Vorteile zu erbringen schien, bedeutete in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs zugleich einen Nachteil. In einer Gesellschaft, deren öffentliche Wertnormen stark und zunehmend von militärischen Umgangsformen, Ehrvorstellungen und Hierarchien geprägt war, bedeutete das ›Ungedientsein‹ für ausländische Männer ein soziales Manko, das ihre beruflichen Chancen und ihre soziale Integration hemmte. Ausländer blieben grundsätzlich194 von eigenen Erfahrungen in der vom zivilen Leben scharf gesonderten Welt des Militärs ausgeschlossen.195 Sie konnten schon deshalb nicht Kriegervereinen beitreten, die zu den größten Massenorganisationen des Kaiserreichs zählten und wesentlich zur Pflege militärischen Denkens im zivi191 S. Herbert, Ausländerbeschäftigung, S. 28f., 46f. 192 Nach der Berufszählung von 1907 betrug der Anteil ausländischer Erwerbstätiger im Bereich der Industrie 4,5 %, in der Land- und Forstwirtschaft 3,5 %, in Handel und Verkehr 2,5%, in der Sparte Freie Berufe/öffentlicher Dienst 1,9%. Von insgesamt gezählten 1.342.294 Ausländern waren 8,9% im Bereich Handel und Verkehr bzw. freie Berufe/öffentl.Dienst beschäftigt, errechnet nach Dohse, S. 50. 193 Vgl. Friederichseti, S. 273. 194 Sofern sie nicht freiwilligen Wehrdienst leisteten, wozu sie zugelassen waren. 195 Dazu eingehend Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, S. 230f.

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len Leben und zur Nationalisierung der Gesellschaft im Ganzen beitrugen.196 Der Ausschluß galt um so mehr für den Status des Reserveoffiziers, der ein soziales Prestige- und Unterscheidungsmerkmal und beinahe unerläßliche Voraussetzung für den Aufstieg in die gehobenen Positionen des beruflichen und öffentlichen Lebens war.

5. Das Einbürgerungsverfahren: Institutionen und Statistik Mit dem Bundesgesetz von 1870 schuf der deutsche Nationalstaat erstmals einheitliche Kriterien für die Staatsangehörigkeit in den Bundesstaaten und deren Einbürgerungspolitik. Die Reichsgesetzgebung beließ den Bundesstaaten die souveräne Ermessensentscheidung über die Einbürgerung im Einzelfall, steckte ihnen jedoch einen Rahmen, den sie nicht aufgrund eigener Gesetzgebung durchbrechen durften. Die Länder führten das Reichsgesetz als eigene Angelegenheit mit den Mitteln ihrer eigenen Verwaltung aus. Sie unterlagen dabei jedoch der Aufsicht des Reiches. Der Bundesrat konnte die Einhaltung des Reichsgesetzes gegenüber den Ländern durchsetzen und damit indirekt auch die Verwaltung der Länder beeinflussen. Zwar verzichtete das Bundesgesetz von 1870 auf einen möglichen direkten Eingriff in die Organisationsgewalt der Länder im Bereich der Staatsangehörigkeitspolitik. Doch blieb das Mittel der Reichsaufsicht jederzeit einsetzbar.197 Das Deutsche Reich hatte somit im Staatsangehörigkeitsrecht eine staatsrechtliche Konstruktion geschaffen, die einerseits dem bundesstaatlichen Grundgefüge Rechnung trug, andererseits aber dem Homogenisierungsstreben des Nationalstaats ein wirksames Instrument in die Hand gab. Die Ausführung des Reichsgesetzes lag ausschließlich in den Händen der Länderverwaltungen. Sie bestimmten die Einbürgerungsprozedur, stellten Urkunden über die Aufnahme in und die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit aus. Sie erteilten Pässe, mit denen sich die Staatsangehörigen in anderen Bundesstaaten ausweisen konnten, Heimatscheine, die zum Gebrauch im Ausland dienten. Das Gesetz stellte nur einheitliche Mindestanforderungen der Einbürgerung auf und ließ den Ländern weite Spielräume des Ermessens, die sie durch generell geltende Verwaltungsvorschriften oder einzelne Anweisungen an nachgeordnete Behörden ausfüllten. Die politische Bedeutung der Einbürgerungs- bzw. Entlassungsentscheidung wurde dadurch unterstrichen, daß sie im gesamten Reich höheren Verwaltungsbehörden vorbehalten war. Der 196 Vgl. Rohkrämer, S. 70, 77, 82. 197 Vgl. Mußgnug, S. 189.

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Einbürgerungsantrag wurde lediglich bei der unteren Verwaltungsbehörde, dem Landrats- bzw. Kreisamt,198 eingereicht, die ihn mit einer Stellungnahme versehen an die höhere Verwaltungsbehörde, d. h. an die Regierung des Bezirks, in kleineren Staaten direkt an die Staatsregierung weiterleitete. Dies bedeutete zugleich eine Verstaatlichung der Entscheidung über die Staatsangehörigkeit, zumal damit den Repräsentanten der kommunalen Selbstverwaltung jede wirkliche Mitentscheidung über die Einbürgerung genommen wurde. Das Reichsgesetz schrieb nur mehr eine Anhörung der Gemeinde bzw. des Ortsarmenverbandes über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Einbürgerungsbewerbers vor.199 Die Entkommunalisierung der Staatsangehörigkeit vollzog sich parallel zur Abschaffung der Gemeindemitgliedschaft als Vorbedingung der Staatsangehörigkeit200 im gemeinsamen Indigenat des Deutschen Reiches. Während die überwiegende Mehrzahl der Einbürgerungsfälle durch die höhere Verwaltungsbehörde abgewickelt wurde, lag die letzte Entscheidung bei der Staatsführung, die durch den Innenminister bzw. in höchster Instanz durch den Monarchen selbst getroffen wurde. Die Verwaltungspraxis zeigt, daß sich die Staatsregierungen immer wieder bestimmte Fälle oder Gruppen von Einbürgerungsbewerbern aus politischen, militärischen, wirtschaftlichen Gründen zur Entscheidung vorbehielten. Diese Sondergruppen sowie eine zunehmende Zahl von Rekursen gegen Ablehnungsentscheidungen der unteren Behörden trugen zur wachsenden Bedeutung der Staatsangehörigkeitsangelegenheiten in der engeren Regierungstätigkeit bei. Die Zentralisierung und politische Lenkung der Einbürgerungsentscheidungen schlug sich auch darin nieder, daß Einbürgerungsrichtlinien gegenüber der politischen Öffentlichkeit zunehmend geheimgehalten wurden, ein Vorgang, der seinerseits den Bedarf an zentraler Koordination und Entscheidung erhöhte. Immer wieder sah sich das Ministerium genötigt, die nachgeordneten Behörden an die Entscheidungskriterien sowie an deren Geheimhaltung gegenüber den Antragstellern zu erinnern.201 Zwei Gründe trugen schließlich dazu bei, die Zentralisierung der Staatsangehörigkeitsfragen auf die Reichsebene zu übertragen. Zum einen stieg der Bedarf an einer Koordination der föderalen Staatsangehörigkeitspolitik in ei198 Cahn, Reichsgesetz, S. 52. 199 Vgl. § 8 Abs. 2 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom l.Juni 1870. 200 S.o. Kap. I.3., Π.3., IV. 1. 201 S. Rundschreiben des Preußischen Innenministeriums an die Regierungspräsidenten, 30.6.1911, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, No. 4, Bd. 22: Es sei weder erwünscht noch entspreche es dem staatlichen Interesse, Dienstvorschriften, die ein besonderes ministerielles Zustimmungserfordernis bei der Einbürgerung bestimmter Gruppen festlegten, nach außen hervortreten zu lassen. Daher wurden die Regierungen ersucht, sich bei künftigen Bescheiden einer Erklärung hinsichtlich der Haltung des Innenministeriums zu enthalten.

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nem Nationalstaat mit durchlässigen Binnengrenzen und einem gemeinsamen Indigenat. Damit wirkte sich die Einbürgerungsentscheidung eines Bundesstaates indirekt aufjeden anderen aus. Zudem mußte die Fortbildung der Gesetzgebung über die Staatsangehörigkeit auf der Ebene des Reiches erfolgen. So entstand mit der Einrichtung eines selbständigen Reichsamts des Innern im Jahre 1879 ein fester Zuständigkeitsbereich für Indigenatsangelegenheiten. Zum anderen wurde mit der zunehmenden Zahl im Ausland lebender Deutscher deren konsularische Betreuung und Interessenwahrnehmung durch eine Zentralinstitution des Reiches dringlicher. Diese Aufgaben übernahm eine 1885 neu geschaffene Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes.202 Die Tendenzen zur Vereinheitlichung der Staatsangehörigkeit im nationalen Bundesstaat schlugen sich auch in der Formalisierung des Urkundenwesens nieder. Aufgrund eines Bundesratsbeschlusses von 1881 führte das Reich einheitliche Formulare ein, die sowohl die Ausweispapiere zur Verwendung innerhalb des Reiches wie auch die »Heimatscheine« betrafen, mit denen sich Angehörige der deutschen Bundesstaaten im Ausland als ›Deutsche‹ auswiesen. In den formalen Anforderungen wurden auch die Einbürgerungs- bzw. Entlassungsurkunden standardisiert. Die Formalisierung, die Ausstattung mit den Insignien des Staates und die Erteilung von gehobenen staatlichen Stellen zum Abschluß eines zumeist langwierigen Verfahrens gaben der Einbürgerung den Stellenwert eines rite de passage, der mit der Taufe, Heirat oder Beamtenernennung vergleichbar war. Die Einbürgerungsentscheidung wurde von höheren Beamten, durchweg juristisch gebildeten Akademikern,203 getroffen. Mit der Abschaffung eines Mitentscheidungsrechts kommunaler Verwaltungsstellen und ihrer Zurückdrängung auf empfehlende Stellungnahmen lag damit die Einbürgerungsentscheidung ausschließlich in den Händen staatlich ausgebildeter und besoldeter Beamter, d. h. einer Funktionselite, die sich durch ein elitäres und exklusives Selbstverständnis auszeichnete. Dieser Kastengeist wurde gefestigt durch die relative soziale Abgeschlossenheit204 aus den Schichten des Adels sowie des gehobenen Bürgertums. Hinzu kam das besondere Prestige der juristischen Universitätsausbildung, die mit der wissenschaftlichen Vorauslese künftiger Verwaltungs- und Justizbeamter das »Arsenal der Herrschaft« rekrutierte.205 Insbesondere in den gehobenen Positionen der höheren Beamtenschaft erfolgte eine strenge politische Auslese nach dem Kriterium einer konservativ-regie202 Hubatsch, S. 131, 156; Morsey, S. 151, 159. 203 Zum Juristenmonopol in der höheren Beamtenschaft nach preußischem Vorbild vgl. Süle, S. 83, 90-93. 204 Das preußische Beispiel belegt anhand einer Erhebung von 1910, daß der Adel mehr als ein Drittel des Kerns der höheren Bürokratie stellte und in den Spitzenrängen (Minister: 63%; Oberpräsidenten 91,7%; Regierungspräsidenten: 63,9%) deutlich dominierte, dazu ebd., S. 195f. 205 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 744.

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rungstreuen Gesinnung. Sozialdemokraten und deren Abkömmlinge waren von gehobenen Beamtenpositionen faktisch ausgeschlossen. Aufsteiger aus niederen sozialen Schichten in gehobene Beamtenpositionen galten als politisch besonders gefügig.206 Die Dominanz der Protestanten im Bildungsbürgertum insgesamt steigerte sich in der höheren Beamtenschaft zur deutlichen Überrepräsentation.207 Juden, die gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil und im Vergleich auch zu den Protestanten einen um beinahe das Zehnfache höheren Anteil akademisch Gebildeter stellten, waren demgegenüber in der hohen Beamtenschaft eine absolute Ausnahme.208 Ungeachtet ihrer staatsbürgerlichen Gleichstellung als Konfessionsgruppe hatten sie nur nach der Taufe eine Chance, in höhere Beamtenränge aufzusteigen. Das hohe Prestige der juristischen Profession und der juristischen Funktionäre hing zudem mit der fortschreitenden Verrechtlichung aller Lebensbereiche zusammen. Die schnelle Ausdehnung und hohe Differenzierung des Rechtsstoffes zwang die Juristen zur verstärkten Spezialisierung. Mit dem Hineinwachsen in einen angesehenen Expertenstatus trat freilich zugleich der umfassende humanistische Bildungsanspruch des Bürgertums zurück. Die Spezialisierung des Juristenberufes und damit auch der höheren Beamtenschaft, vergleichbar der Professionalisierung in den freien Berufen, trug damit nicht nur zur Ausweitung der Berufsgruppe, sondern zugleich zum Zerfall ihrer bildungsbürgerlichen Kohärenz bei. Die Erosion des bildungsbürgerlichen Ideals durch konkurrierende »Säkularreligionen« erfaßte auch die Beamtenschaft. Die nach außen geschlossen wirkende Kaste wurde wie das Bildungsbürgertum insgesamt empfänglich für Welterklärungen quasi-religiösen Charakters, die mit dem Anspruch größerer Modernität auftraten. Die tiefgreifende Statusverunsicherung, die das Bildungsbürgertum insgesamt erfaßte, erreichte auch die akademisch gebildete Beamtenschaft als Wahrnehmung einer »Kulturkrise«, die sich in der Suche nach neuer kultureller Sinnstiftung niederschlug. Hierin liegt eine wesentliche Ursache für das Vordringen eines neuen entschiedeneren Reichsnationalismus auch in der Beamtenschaft. Er wurde noch verstärkt durch die besonders enge Verbindung von Protestantismus und Nationalismus, die sich insbesondere in der stark protestantisch dominierten Beamtenschaft der norddeutschen Bundesstaaten auswirkte. Die Nationalisierung der höheren Beamtenschaft zeigte sich an ihrer hohen Repräsentanz in den großen nationalistischen Agitationsverbänden, die seit den achtziger Jahren

206 Dazu insgesamt mit Beispielen Röhl, höhere Beamtenschaft, S. 152f. 207 Vgl. Süle, S. 195. 208 Röhl, höhere Beamtenschaft, S. 150; ders., Glanz und Ohnmacht, S. 166, erwähnt als absolute Ausnahmefälle den Staatssekretär im Reichskolonialamt Rudolf Dernburg, für das Auswärtige Amt einen Angehörigen des Hauses Rothschild sowie u. a. Wilhelm Cahn, den bedeutenden Kommentator des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts im ausgehenden 19. Jahrhundert.

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entstanden und für eine imperialistische Politik nach außen, forcierte Germanisierung im Innern des Deutschen Reiches eintraten.209 Die Einbürgerungsbewerber im Deutschen Kaiserreich sahen sich mithin einer sozial geschlossenen und hervorgehobenen, durchweg christlich, insbesondere protestantisch geprägten, gegenüber den Weisungen der bürokratischen Zentrale politisch gefügigen, zunehmend von nationalem Gedankengut durchdrungenen höheren Beamtenschaft gegenüber, in deren Händen die Entscheidung über die Aufnahme in den Verband des Nationalstaats konzentriert war. Insgesamt zeichneten sich im Verwaltungsverfahren in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten folgende Grundtendenzen ab: die Verstaatlichung, Zentralisierung und Formaliserung der Verwaltungsentscheidungen sowie die Professionalisierung durch juristisch gebildete Beamte. Die Aufnahme in den deutschen Staatsverband wurde damit zum einen rationalisiert, zum anderen wirksamer, zentralisiert und politisiert. Wie viele Personen im Deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 eingebürgertwurden, ist unbekannt. Statistische Angaben für das gesamte Reichsgebiet sind nur für den Zeitraum von 1872 bis 1882 veröffentlicht. Für den preußischen Staat wurden die Zahlenveröffentlichungen von 1883 bis 1887 fortgesetzt. Von da an bestand weder für den Gesamtstaat noch für Preußen eine amtlich ermittelte, zugleich öffentlich zugängliche Zusammenfassung der Einbürgerungszahlen. Erst im Jahre 1892 begann die preußische Innenverwaltung erneut mit der systematischen Sammlung von Einbürgerungsdaten durch die Regierungspräsidenten. Auch diese Überlieferung enthält jedoch Lücken, wechselte in den Erhebungskategorien und wurde zumeist nicht zentral zusammengefaßt. Für das Deutsche Reich insgesamt und sein weitaus bedeutendstes Einwanderungsgebiet Preußen lassen sich daher nur Näherungswerte der Einbürgerung zwischen 1871 und 1918 ermitteln. Eingeführt wurde die jährliche Reichsstatistik über »Erwerb und Verlust der Deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeit« aufgrund eines Beschlusses des Bundesrats von 1871. Für alle Bundesstaaten bis hinunter zur Ebene der Bezirksbehörden, die über die Einbürgerung entschieden, wurden darin Daten über die Zahl, das Alter, das Geschlecht, Herkunfts- und Zielgebiet derjenigen festgehalten, die innerhalb des Deutschen Reiches die Staatsangehörigkeit wechselten, als Ausländer naturalisiert oder renaturalisiert wurden bzw. aus einer deutschen Staatsangehörigkeit, sei es in einen anderen Bundesstaat, sei es ins Ausland entlassen wurden.210 Von Beginn an waren diese Erhebungen jedoch mit derartigen Fehlern behaftet, daß es im Vorwort der Statistik für 1876 209 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgcschichte, Bd. III, S. 1076. 210 Vgl. im einzelnen die detaillierten Zusammenstellungen in der Statistik des Deutschen Reiches: Bd. 20 (für das Jahr 1875), Bd. 25 (für 1876), Bd. 30 (für 1877), Bd. 37 (für 1878), Bd. 43 (für 1879), Bd. 48 ( für 1880), Bd. 53 (für 1881), Bd. 59 (für 1882).

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im Rückblick auf die ersten fünf Erhebungsjahre skeptisch hieß: Welchen Bruchteil der Gesamtsumme des rechtlichen Staatsangehörigkeitswechsels die Statistik erfasse, könne »nicht einmal durch Schätzung«211 ermittelt werden. Waren also nur mehr die beurkundeten, nicht die übrigen Fälle des Staatsangehörigkeitswechsels z. B. durch Legitimation, Verheiratung, Aufnahme in den Staatsdienst erfaßt, verlor die Statistik ihren Aussagewert für den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit aufgrund eines mehr als zehnjährigen Aufenthalts im Ausland. Vollends unergiebig war die Erhebung für die Ermittlung der Auswanderung aus dem Deutschen Reich. Die Zahl der tatsächlichem Auswanderungen ohne Entlassungsurkunde überstieg , wie eine Aufstellung für Preußen aus den Jahren 1874 bis 1881 zeigt, die rechtlich beurkundetem Entlassungen im Jahresdurchschnitt um mehr als das Doppelte, im Deutschen Reich bis hin zum Fünffachen.212 Die Zahl der tatsächlichen Auswanderer, deren weitaus größter Teil nach Übersee ging, läßt sich anhand amtlicher Aufnahmen genau beziffern. Insbesondere diese Zahl aber war für die Statistik des Deutschen Reiches erheblich, das in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Reichsgründung ein Auswanderungsland war. Über den zeitlichen Rhythmus, die Zusammensetzung und die Zielorte der Auswanderung gaben andere Erhebungsmittel genauere Auskunft als die Staatsangehörigkeitsstatistik. Zudem stellte die Zahl der tatsächlichen Einwanderungen wie auch der Einbürgerungen nur einen Bruchteil der Summe aus Staatsangehörigkeitsentlassungen und Auswanderungen dar. Aus allen diesen Gründen wurde die aufwendige Staatsangehörigkeitsstatistik des Deutschen Reiches ab dem Jahre 1882 nicht mehr zusammengefaßt. Ein statt dessen von Preußen initiiertes, vielseitig verwendbares Zählkartensystem in den Bundesstaaten schlug sich nicht mehr in der Veröffentlichung von Übersichtslisten für das Deutsche Reich nieder.213 Wenn auch die preußische Initiative einer Modernisierung und Zentralisierung des Erhebungssystems ergebnislos verlief, war sie doch für die Entwicklung der Staatsangehörigkeitsstatistik folgenreich. Neben detaillierten Berufskategorien führte die neue Zählweise vor allem die differenzierte Erfassung aller Aufgenommenen und Entlassenen nach der Religionszugehörigkeit ein. Diese Erweiterung erschien nur als ein Detail unter anderen im Zuge einer 211 Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 25, S. 48. 212 Vgl. die Aufstellung in: Jahrbuch für die amtliche Statistik des Preußischen Staates, V. Jahrgang, Berlin 1883, S. 145, die für den Zeitraum 1874 bis 1881 11.137 Entlassungen mit Urkunde, 22.887 Entlassungen ohne Urkunde im Jahresmittel errechnet; Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 48, S. VII.28, für die Jahre 1872 bis 1880: In den Jahren 1875 und 1880 betrug die Zahl der (mit Urkunden) Entlassenen 6.865 bzw. 22.180, die Zahl der nach Übersee Ausgewanderten 30.773 bzw. 106.190. 213 Auf Initiative Preußens faßte der Bundesrat Ende 1882 den Beschluß, Zählkarten anstelle der bisher üblichen Listen aufzustellen und jährliche Übersichten anzulegen, s. »Der Erwerb und Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit im preußischen Staate während des Jahres 1883«, in: Zeitschrift des Königlichen Preußischen Statistischen Bureaus 24 (1884), S. 56.

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Anpassung des Erhebungsinstrumentariums an den insgesamt wachsenden Informationsbedarf einer modernen Verwaltung. Tatsächlich jedoch bestand ein enger zeitlicher und politischer Zusammenhang mit einer Verschärfung der preußischen Einbürgerungspolitik gegenüber Juden.214 Bereits im Mai 1881, als viele russische Juden vor den Pogromen nach der Ermordung des russischen Zaren Alexander II. nach Preußen flohen, hatte der preußische Ministerpräsident Bismarck eine Erhebung aller im Zeitraum zwischen 1848 und 1880 in Preußen eingebürgerten Juden angeordnet. Als das Statistische Landesamt sich zunächst außerstande sah, entsprechend differenzierte Daten beizubringen, führte dies zu einer kategorialen Wende in der gesamten preußischen Statistik: Die mit der Statistik befaßten Behörden wurden angewiesen, in Zukunft die Religionszugehörigkeit und Nationalität aller Ausländer aufzulisten. Auch rückwirkend erhoben die preußischen Regierungspräsidenten in aufwendiger Zählarbeit die Einbürgerungszahlen für Juden seit 1848, seit dem Jahr also, in dem der Wegfall besonderer Einbürgerungsbeschränkungen für Juden ihre Unterscheidung von Eingebürgerten christlicher Konfession erschwerte. Seit 1882 begannen statistische Handbücher des preußischen Staates Daten über die Religionszugehörigkeit der deutschen Bevölkerung zu veröffentlichen. Die Forderung nach einem religiösen Zensus, den die Antisemitenpetition von 1880/81 erhoben hatte, war damit erfüllt. Die preußischen Staatsangehörigkeitsstatistiken der Jahre 1883 bis 18872l5 enthalten die einzigen amtlichen Zahlenpublikationen zur Einbürgerung von Juden vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933. Die gegen die jüdische Zuwanderung gerichtete Abwehrpolitik Preußens ging einher mit dem Durchbruch des modernen Antisemitismus, der sich seit Beginn der 1880er Jahre mit radikalem Nationalismus zu verbinden begann und parlamentarische Macht durch Parteien erlangte, die im Reichstag vertreten waren. Eine Zeitströmung, in der antijüdische Einstellungen öffentliche Legitimität und politische Macht gewannen, ließ auch die scheinbar neutralen Kategorien der preußischen Statistik nicht unbeeinflußt. Die Erhebung der Staatsangehörigkeitsstatistik nach konfessionellen Kriterien enthielt den Ansatz zur Diskriminierung - und war auch als solche gedacht. Aufgrund eines Bundesratsbeschlusses des Jahres 1887 brach auch in Preußen die statistische Erhebung der Staatsangehörigkeit ab, genauer: die öffentliche Erhebung. Denn fünfJahre später, im Jahre 1892, ging die preußische Verwal214 S. dazu näher Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 78f. 215 Vgl. die Erhebungen »Der Erwerb und Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit im Preußischen Staate« für die Jahre 1882 bis 1887, in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus , Bd. 23 (für 1882), Bd. 24 (1883); Bd. 25 (1884); Bd. 26 (1885), Bd. 27 (1886) sowie Bd. 29 (1887). Lediglich in der Reichstagsdebatte anläßlich der Beratung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 wurden amtliche Zahlen der Einbürgerung von Juden für das Jahr 1910 bekanntgegeben, Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 13. Legislaturperiode, Anlagen, Bd. 301, Drucksache Nr. 962, S. 1421f

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tung dazu über, systematische jährliche Erhebungen der preußischen Einbürgerungszahlen nach Nationalität und Religionszugehörigkeit vorzunehmen: Zu jedem Jahresbeginn sollten die Regierungspräsidenten namentlich aufgeschlüsselte Listen aller Einbürgerungen vorlegen. Politisch zielte diese Erhebung auf die Erfassung und Fernhaltung osteuropäischer Juden. Die Anweisungen wurden mehrfach verschärft und umformuliert, in ihrer antijüdischen Stoßrichtung blieben sie indessen unverändert. Der preußische Innenminister verband die Anordnung der Datenerhebung mit der Warnung an die Regierungspräsidenten, das nachgiebige Verhalten anderer Bundesstaaten bei der Einbürgerung osteuropäischer Juden zu übernehmen, und wies sie an, insbesondere die Einbürgerungsversuche »der jüdischen Kaufleute Rumäniens mit besonderer Vorsicht zu behandeln«.216 Die Motive und der politische Hintergrund, warum die preußische Einbürgerungsstatistik im Jahrzehnt zwischen 1881 und 1892 beibehalten und ausgebaut wurde, rechtfertigen es, von der Geburt einer eigenständigen preußischen Einbürgerungsstatistik aus dem Geist des Antisemitismus zu sprechen. Die Abwehr unerwünschter Einwanderer, die insbesondere auf Angehörige der jüdischen Religion und ebenso auch der polnischen Nationalität zielte, trieb den statistischen Ehrgeiz an. Er führte dazu, daß ab 1894- mit einer Unterbrechung von 1898 bis 1904 - die preußischen Innenbehörden bis 1919 detaillierte Statistiken der Einbürgerung anlegten. Sie wurden zeitweilig bis zum Jahre 1911 im preußischen Innenministerium zu systematischen Übersichten zusammengefaßt, die unter anderem die Gesamtzahlen der eingebürgerten Juden auswiesen. Diese Daten wurden niemals publiziert, blieben vielmehr vertraulich im Innenbereich der Verwaltung. Wiederholte Vorstöße der preußischen Statistiker, die aufwendigen Datensammlungen im Anschluß an die bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichenden Erhebungen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, wurden von der Regierungszentrale knapp abgewiesen. Die Ratio der Datenerhebung zur Staatsangehörigkeit hatte sich nämlich gewandelt. Nicht mehr die gegenseitige Information der Bundesstaaten und der politischen Öffentlichkeit, um Hinweise auf die Wanderungsbewegungen im Deutschen Reich zu gewinnen und möglicherweise eine konzertierte Bevölkerungspolitik vorzubereiten, stand im Vordergrund. Ab der Mitte der neunziger Jahre ging es der preußischen Verwaltung vielmehr um die Erfassung und Fernhaltung bestimmter und politisch unerwünschter Einwanderungsgruppen. Der starke Rückgang der Auswanderung und der Umschlag der Wanderungsbilanz in einen zeitweiligen Einwanderungsüberschuß gaben der Einbürgerung schlagartig eine neue politische Bedeutung und damit auch deren Statistik. Sie offenbarte nämlich den selektiven Charakter der Einbürgerungs216 Preußischer Minister des Innern an sämtliche Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin, 19.1.1892, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 15.

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politik und wurde eben darum der politischen Öffentlichkeit vorenthalten. Die gesammelten Daten enthielten Detailinformationen über die geographische und nationale Herkunft, die Familiengröße und das Alter, die Vermögensverhältnisse und die Konfession der Eingebürgerten. Ihre systematische Offenlegung hätte Rückschlüsse auf die Ausschlußkriterien der Einbürgerungspolitk erlaubt und damit Diskriminierungen offengelegt, die gegen das Gebot staatlicher Gleichbehandlung der Konfessionen sowie gegen außenpolitische Rücksichten verstießen und innerstaatliche Feinderklärungen, insbesondere gegen Sozialdemokraten und mißliebige ausländische Journalisten, enthielten. Gerade die NichtVeröffentlichung der Datenzusammenfassungen machte diese auch innerhalb der Verwaltung zu einem Machtinstrument der Zentrale gegenüber den nachgeordneten Behörden. Ohne die Vergleichszahlen der anderen Verwaltungsbezirke zu kennen, mußte jeder preußische Regierungspräsident gewärtigen, jederzeit zur strikten Einhaltung der Abwehrvorschriften ermahnt zu werden. Die kommentierten Datenzusammenfassungen, die das Statistische Landesamt alljährlich für das Preußische Innenministerium erstattete, dienten zu kontrollierenden Rückfragen und zwangen die Provinzialbehörden zu Berichterstattungen an das Innenministerium.217 Die Bilanz der Einbürgerung im Deutschen Reich in dem Jahrzehnt nach der Reichsgründung zeigt insgesamt einen Anstieg der absoluten Einbürgerungszahlen. Wurden 1872 und 1873 noch 2.296 bzw. 2.381 Ausländer im Deutschen Reich naturalisiert, waren es 1881 und 1882 4.635 bzw. 3.880 Personen. Der Jahresdurchschnitt der beiden Erhebungsjahre stieg also von 2.339 auf 4.258 Personen.218 Jedoch trat diese Zunahme völlig zurück hinter der Zahl der aus der Staatsangehörigkeit Entlassenen, die mit 269.648 Personen etwa fünfmal höher lag als die Gesamtzahl der 53.586 Eingebürgerten. Der Anteil Preußens an der Gesamteinbürgerung lag zwischen knapp sechzig und siebzig Prozent219 und entsprach mit einem Jahresmittel von 2.984, d. h. 61,2 % der eingebürgerten Personen, fast genau seinem Anteil an der Gesamt217 Den »Jahresnachweis« des Preußischen Statistischen Landesamts für 1910, der 91 eingebürgerte »Israeliten« verzeichnete, glich das Preußische Innenministerium z. B. mit der Zahl der ministeriellen Zustimmungen ab, die für die Einbürgerung von Juden vorgeschrieben waren, vgl. Aktenvermerk aufgrund des Berichts des Statistischen Landesamts an das Preußische Innenministerium, 20.4.1911, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 22. 218 Dabei fiel das Jahr 1875 mit insgesamt 9.604 Eingebürgerten, von denen allein beinahe 6.000 auf die Niederlande entfielen, aus dem Rahmen, vgl. zu statistischen Zusammenfassungen für die Jahre 1872 bis 1878: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 37, S. 25; bis 1880: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 48, S. VII. 29; bis 1882: Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 59, S. X.205. 219 Errechnet nach der Zusammenstellung der Angaben für 1872 bis 1882 in: Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, Bd. 24 (1884), S. 74. Die dortigen Angaben liegen (aufgrund einer erweiterten Erhebungsgrundlage Preußens) leicht über den Zahlenangaben der Statistik des Deutschen Reiches, wobei diese Abweichung für die hier angestrebte Ermittlung tendenzieller Ergebnisse nicht ins Gewicht fällt.

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bevölkerung des Deutschen Reiches.220 In den Jahren 1883 bis 1887 blieb das Jahresmittel der preußischen Einbürgerungen mit 2.949 Personen annähernd gleich. Auch die unter Verschluß gehaltenen preußischen Erhebungen ab 1892 zeigen erst nach der Jahrhundertwende einen - dann allerdings durchgreifenden -Wandel an. Ergibt eine Stichprobe221 für die Jahre 1896 bis 1898 ein Jahresmittel von 2.796 eingebürgerten Personen, so ändert sich dies schlagartig in den Jahren 1904 bis 1906. 7.270 Personen pro Jahr werden in dieser Zeit in Preußen eingebürgert, zwischen 1909 und 1911 schließlich sogar 8.984 Personenjährlich.222 Der Anstieg der Einbürgerung nach der Jahrhundertmitte zeigt die Folgen der Wende im Wanderungsgeschehen des Deutschen Reiches. Der Übergang zum Einwanderungsland Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts trieb, nachdem ein erheblicher Teil der Eingewanderten mehr als ein Jahrzehnt in Deutschland ansässig war, auch die Einbürgerungszahlen in die Höhe. Die Gesamteinbürgerung in Preußen zwischen 1896223 und 1914 belief sich, überschlägig berechnet, auf etwa 120.000, d. h. im Jahresdurchschnitt auf mehr als 6.000 Personen. Schlüsselt man die Einbürgerungsdaten Preußens und des Reiches nach der Herkunftsstaatsangehörigkeit der Eingebürgerten auf, ergibt sich eine bemerkenswerte Parallele zur Entwicklung der Einbürgerungszahlen: Der quantitati220 Der Anteil Preußens an der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches stieg - aufgrund eines überdurchschnittlichen natürlichen Bevölkerungswachstunis - zwischen 1871 und 1913 von 60 auf 62,4% an, errechnet nach den Angaben bei Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 494. 221 Aus den jährlichen Datenerhebungen der preußischen Innenverwaltung sind für den Zweck dieser Darstellung Stichproben in Form dreier Jahresgruppen, und zwar 1896 bis 1898, 1904 bis 1906 und 1909 bis 1911 (gesammelt in GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Beiheft 3-5, Beiheft 13-15, Beiheft 18-20), entnommen worden. Diese Jahresgruppen eigneten sich besonders, weil sie den Erhebungszeitraum im Abstand halber Jahrzehnte erfassen, die Erhebungskriterien annähernd gleich sind und die Datenzusammenfassungen von der preußischen Zentralvcrwaltung selbst vorgenommen wurden. Damit sind diese Datenzusammenfassungen genauer vergleichbar als z. B. in den Jahrgängen 1899 bis 1903, in denen das Innenministerium lediglich die Erhebungen der Regierungpräsidenten sammelte, ohne sie zu einer Gesamtstatistik zusammenzufassen (vgl. die Sammlungen in GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Beiheft 7 bis 11). Dies könnte damit zusammenhängen, daß in diesen Jahren keine Angaben über die Religionszugehörigkeit der Eingebürgerten erhoben wurden. Darin läge ein weiterer Beleg dafür, daß die politische Relevanz der zentralen Datensammlung mit der Steuerung der Einbürgerung nach konfessionellen Kriterien zusammenhing. 222 Berechnet nach den Jahressummen der Naturalisierten (unter Abzug der Aufnahmen aus anderen Bundesstaaten und der Renaturalisationen): für 1896 (2.090), 1897 (2.790), 1898 (3.509), 1904 (7.335), 1905 (6.897), 1906 (7.578), 1909 (9.736), 1910 (8.262), 1911 (8.954). In diesen neun Erhebungsjahren wurden 57.151 Personen eingebürgert. Rechnet man-zur Erzielungeines groben Näherungswerts - den Jahresdurchschnitt von 6.350 auf 19 Erhebungsjahre (1896 bis 1914) hoch, so ergibt sich eine Gesamtzahl von 120.652 Personen. 223 1896 wiesen die internen Datenzusammenfassungen des Innenministeriums erstmals die Gesamtzahl der eingebürgerten Personen, nicht nur der Einbürgerungsurkunden bzw. der eingebürgerten Familienoberhäupter aus (vgl. GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Beiheft 4).

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ve Sprung der preußischen Einbürgerungszahlen zwischen der Jahrhundertwende und 1910 ging einher mit einer einschneidenden Veränderung ihrer nationalen Zusammensetzung. Die Einbürgerungsstatistik des Deutschen Reiches zwischen 1872 und 1882 hatte im Ost-West-Vergleich ein deutliches Übergewicht der westlichen Herkunftsstaaten angezeigt. Die Einbürgerungen aus den größten westlichen Anrainerstaaten des Reiches, Holland und Frankreich,224 gefolgt von den USA sowie den Nachbarstaaten Belgien/Luxemburg, Dänemark und der Schweiz, machten über zwei Drittel der Gesamtsumme aus, während der Anteil der beiden großen östlichen Nachbarstaaten, Österreich-Ungarn und Rußland, deutlich unter einem Drittel lag. Die Ost-West-Verteilung im Verhältnis eins zu zwei setzte sich gleichfalls in der Einbürgerungsstatistik Preußens zwischen 1883 und 1887 fort. Von insgesamt 14.747 Naturalisierten kamen 4.804 aus Österreich-Ungarn und Rußland, 9.406 aus westlichen Staaten.225 Noch an den preußischen Einbürgerungszahlen für 1896 bzw. 1898226 stellten die Staatsangehörigen ÖsterreichUngarns und Rußlands insgesamt einen Anteil von etwa dreißig Prozent. Mit der wachsenden Einwanderung von Arbeitern aus Osteuropa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stieg der Anteil der Staatsangehörigen aus Österreich-Ungarn und Rußland an der preußischen Wohnbevölkerung227 steil an. Zugleich kehrte sich das Ost-West-Verhältnis der Einbürgerungen um. In den Jahren 1904 bis 1906 schnellten die Einbürgerungen aus Österreich-Ungarn und Rußland auf einen Anteil zwischen 74 % und 78 % hoch, der sich in den 224 Der konstant hohe Einbürgerungsanteil der Holländer während der ersten zwei Jahrzehnte nach der Reichsgründung ging auf die traditionell starke Arbeitseinwanderung dieser Gruppe in die westlichen Regierungsbezirke Preußens zurück. Die Einbürgerung der Franzosen konzentrierte sich demgegenüber fast vollständig auf das annektierte Elsaß-Lothringen und das halbe Jahrzehnt nach Auslaufen der Optionsfrist. Im Jahre 1877 ließen sich 3.099 Franzosen in ElsaßLothringen einbürgern (Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 30, S. 98). Danach fiel die Zahl der weiteren Einbürgerungen steil ab. 225 Dabei stellten die ehemaligen Staatsangehörigen aus Österreich-Ungarn mit 4.252 Personen hinter den Holländern mit 5.336 Personen das zweitgrößte Kontingent. Es folgten Dänemark (1.678) die USA (1.194), Rußland (552), Schweden/Norwegen/Schwciz (521), Belgien/Luxemburg (440), Frankreich (162) und Italien (75). Diese Zahlenzusammenstellungen anhand der preußischen Staatsangehörigkeitsstatistik 1883 bis 1887 (Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, Bd. 24, S. 62f; Bd. 25, S. 154f; Bd. 26, S. 154f; Bd. 27, S. 152f; Bd. 29, S. XXf., der nurmehr die Naturalisationen von Ausländern berücksichtigt, nicht die Renaturalisationen ehemaliger Deutscher. 226 Vgl. die Zusammenstellungen in GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Beiheft 4 und 6. Sie weisen für 1896 die Zahl von 613, für 1898 insgesamt 1101 Einbürgerungen aus ÖsterreichUngarn und Rußland aus. 227 Die ausländische Wohnbevölkerung Preußens stieg zwischen 1890 und 1910 um das Vierfache, von 164.805 auf 688.839, an. Zwischen 1900 und 1910 stieg der Anteil der Staatsangehörigen Österreichs, Ungarns und Rußlands daran von knapp 50% auf 60%, zusammengestellt aus den tabellarischen Übersichten, in: Preußische Statistik, Heft 188, S. 98, und Heft 234, S. XXVII.

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Jahren 1909 bis 1911 zwischen 69 % und 78 % einpendelte.228 Der einschneidende Übergang zum Einwanderungsland und - mit gewisser zeitlicher Verzögerung - damit auch zum ›Einbürgerungsland‹ verknüpfte sich im Deutschen Reich mit der Erfahrung und dem Vorstellungsbild des einwandernden, die Einbürgerung anstrebenden Ausländers aus Osteuropa, der sich zumeist dem slawischen Sprach- und Kulturkreis zurechnete.229 Neben der Herkunftsnationalität der Eingebürgerten stand, wie gezeigt, die Erfassung derJuden im Mittelpunkt der veröffentlichten wie geheimen staatlichen Staatsangehörigkeitsstatistik seit den achtziger Jahren. War die Sonderkontrolle der Einbürgerung von Juden durch ministerielle Prüfung aufgrund der Emanzipationsgesetzgebung des Norddeutschen Bundes abgeschafft worden, bereitete die statistische Erfassung der jüdischen Einbürgerungen zu Beginn der achtziger Jahre deren Wiedereinführung vor. Die rückwirkende ›Judenzählung‹ in Preußen aus dem Jahre 1881 zeigte in den fünf preußischen Regierungsbezirken mit den höchsten Einbürgerungsziffern und dem großstädtischen Zentrum Berlin230 eine auffallende Tendenz: In den beiden Jahr228 Die Gesamtzahlen der Einbürgerungen aus Österreich-Ungarn und Rußland beliefen sich 1904 auf 5.433 (von insgesamt 7.335), 1905 auf 5.373 (von insgesamt 6.897), 1906 auf 5.881 (von insgesamt 7.578), 1909 auf 6.677 (von insgesamt 9.736), 1910 auf 5.964 (von insgesamt 8.262) und 1911 auf 6.980 (von insgesamt 8.954) Personen (ermittelt anhand der Jahreszusammenstellungen für 1904 bis 1906 und 1909 bis 1911, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Beihefte 13 bis 15, 18 bis 20). Unter Einbürgerungen werden -wie bei den preußischen Nachweisen der Jahre 1883 bis 1887 - nurmehr Naturalisationen von Ausländern, nicht Renaturalisationen ehemaliger Deutscher verstanden. 229 Der Anteil der »Deutsch-Österreicher« an den Einbürgerungen aus den östlichen Nachbarstaaten ist in den ausgewerteten Jahreszusammenstellungen nur für 1896 gesondert ausgewiesen und beläuft sich dort auf 331 von insgesamt 447 Einbürgerungen aus Österreich-Ungarn. Der Anteil der »Deutsch-Russen« an den eingebürgerten Russen beträgt im gleichen Jahr 90 von insgesamt 166. Auch wenn daraus auf einen erheblichen Anteil kulturell deutsch Geprägter an den Einbürgerungen aus östlichen Staaten geschlossen werden könnte, bleibt die stetig ansteigende Zahl eingebürgerter Russen zu berücksichtigen, die nach 1905 die Zahl der Einbürgerungen aus Östereich-Ungarn übersteigt. Im Jahre 1911 stehen 2.529 eingebürgerte Personen aus ÖsterreichUngarn neben 4.451 ehemaligen Russen. Berücksichtigt man weiterhin, daß bei der Volkszählung von 1910 nur etwas mehr als die Hälfte der aus Österreich-Ungarn und Rußland stammenden ausländischen Wohnbevölkerung Preußens Deutsch als Muttersprache angab, davon nur ein Viertel der russischen Staatsangehörigen, so spricht viel dafür, daß der überwiegende Teil der eingebürgerten Ausländer aus Osteuropa in kultureller Hinsicht nicht deutsch geprägt war (vgl. dazu die Zusammenstellung »Die ortsanwesende Bevölkerung am 1. Dezember 1910 nach Muttersprache und Staatsangehörigkeit«, in: Preußische Statistik, Bd. 234, Berlin 1913, S.XXXI). 230 Es handelt sich um die Bezirke Gumbinnen (3.021 eingebürgerte Personen, davon 1.003 Juden), Bromberg (2.252 eingebürgerte Personen, davon 238 Juden), Königsberg (2.214 eingebürgerte Personen, davon 373 Juden), Posen (2.192 eingebürgerte Personen, davon 395 Juden), Oppeln (2.095 eingebürgerte Personen, davon 501 Juden). Der Regierungsbezirk Marienwerder, in dem mit 3.701 eingebürgerten Personen die höchste Einbürgerungszahl überhaupt verzeichnet wurde, wurde von den preußischen Statistikern nicht einbezogen, da die Zahlen nicht nach Religionszugehörigkeit differenziert waren. Für Berlin (596 eingebürgerte Personen, davon 150 Juden) existieren erst ab 1858 Zahlen, so daß für die vorangehende Zeit in der obigen Zusammen-

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zehnten vor und nach der Reichsgründung stieg der Anteil von Juden polnischer Nationalität an den Eingebürgerten russischer Staatsangehörigkeit231 von 4,9 % (im Jahre 1860) über 14,7 % (im Jahre 1870) auf 37,2 % (im Jahre 1880).232 Allein von Mai 1881 bis Oktober 1883 wurden in den vier östlichen Regierungsbezirken Preußens und in Berlin weitere 430 Russen eingebürgert, unter ihnen nahezu die Hälfte Juden.233 Die relative Liberalität dieser Einbürgerungspolitik in der Zeit der Reichsgründung tritt erst im Vergleich zu den achtziger Jahren deutlich hervor. Stellten Juden unter den Eingebürgerten in Preußen insgesamt noch in den Jahren 1883 und 1884 7,9 % bzw. 10,7 %, bedeutete das Jahr 1885 eine scharfe, dauerhafte Zäsur. Die Massenausweisungen in den Jahren 1885/1886, die auf Ausländer polnischer Nationalität, unter ihnen war ein hoher Anteil Juden, zielten, trieben insgesamt 32.000 Ausländer aus Preußen. Mehr als 10.000 davon waren Juden, die vielfach seit Jahrzehnten in Preußen lebten, aber nicht die preußische Staatsangehörigkeit erworben hatten. Der massenhafte Zwangsexodus eines Großteils der jüdischen Einbürgerungskandidaten und verschärfte Einbürgerungsrichtlinien ließen die Einbürgerungsrate von Juden in den Jahren 1885 und 1886 auf 4,7 % bzw. 4,3 % fallen.234 Nichts zeigt den Erfolg der preußischen Abwehrpolitik gegenüber jüdischen Einbürgerungsbewerbern genauer als die geheimen Einbürgerungsstatistiken. Als deren Instrumente um die Mitte der neunziger Jahre griffen,235 fiel die Rate der Juden unter den Eingebürgerfassung leichte Verzerrungen auftreten. Die Zahlen der fünf Regierungsbezirke und Berlins wurden anhand der Stichjahre 1849,1850, 1855, 1860, 1865, 1870, 1875 und 1880 ermittelt. 231 Die Zählung diente der »Nachweisung über die an Einwanderer aus Rußland erteilten Naturalisations-Urkunden« aus den Jahren 1849 bis 1880, zusammengestellt in GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Beiheft 1. Ihre doppelte Stoßrichtung ging dahin, aus den Russen, dem Hauptkontingent der ›Osteinwanderer‹, neben den Juden (insgesamt 3.036) die Angehörigen polnischer Nationalität (insgesamt 9.038) hcrauszufiltern. 232 In absoluten Zahlen für die sechs Erhebungsgebiete: 1860 waren von 429 eingebürgerten Russen 21 Juden; 1865: von 402 Russen 34 Juden; 1870: von 434 Russen 64 Juden; 1875: von 888 Russen 299 luden; 1880: von 228 Russen 85 luden. 233 Vgl. Wertheimer, Unwelcome Strangers, S. 47; auf lokaler Ebene bestätigt für Breslau s. van Rahden,Juden,S.276f. 234 Die Daten der jüdischen Eingebürgerten anhand der preußischen Statistiken der Jahre 1883 bis 1887. Berücksichtigt sind nur mehr Naturalisationen ausländischer Juden, nicht Aufnahmen und Renaturalisationen. Danach betrug die Zahl der eingebürgerten Juden (in Klammern): für 1883 (173 ) ; 1884 (239); 1885 (120 ) ; 1886 (195). Die veröffentlichte Gesamtzahl der in den preußischen Staat aufgenommenen Juden für 1887 (insgesamt 256) ist damit nicht vergleichbar, da sie Naturalisationen nicht von Aufnahmen und Renaturalisationen unterscheidet. 235 Als Stichprobenjahre ausgewählt wurden auf der Grundlage der im Preußischen Innenministerium angelegten Zusammenfassungen (s. o.) die Jahre 1896, 1897,1905, 1906, 1909, 1910, 1911, da sie die Vergleichbarkeit der Erhebungsgrundlage gewährleisten. Dazu gehört die Erfassung aller naturalisierten Personen (einschl. der Familienangehörigen) sowie die Miterfassung von Renaturalisationen, Aufnahmen aus andereren Bundesstaaten (nur für 1896 und 1897 getrennt ausgewiesen) und Wiederaufnahmen. Die vor 1896 zusammengefaßten Daten erfassen nicht die Religionszugehörigkeit bzw. die eingebürgerten Familienangehörigen.

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ten deutlich unter 2 % bis auf 0,7 %. Während der verbleibenden Friedenszeit des Deutschen Kaiserreichs stieg sie im Durchschnitt nicht mehr über 1,07 % der Eingebürgerten.236 Diese Maßnahmen wirkten um so einschneidender, als sie in eine Phase fielen, in der Deutschland erstmals seit dem Vormärz wieder ein Einwanderungsland für Juden geworden war. Zwischen 1896 und 1905 erreichte die Einbürgerungsbilanz für Juden wieder positive Werte. In dieser Dekade wanderten mehr Juden in das Deutsche Reich ein als auswanderten, nachdem sie in den vorangehenden Jahrzehnten einen besonders hohen Anteil an der allgemeinen Auswanderungsbewegung gehabt hatten.237 Die verschärften Einbürgerungsbeschränkungen griffen also genau zu dem Zeitpunkt, in dem sich eine reale Vermehrung der preußischen Staatsbürger jüdischen Glaubens abzeichnete. Dadurch erscheinen die relativ hohen jüdischen Einbürgerungsraten Preußens aus den sechziger und siebziger Jahren in anderem Licht. Sie fielen in eine Phase, in der der Zuwachs an jüdischen Staatsbürgern weitaus geringer war als der Verlust aufgrund Auswanderung. Sobald sich hingegen eine reale Vermehrung der preußischen Staatsangehörigen um »unerwünschte Elemente« ankündigte, wie Bismarck die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa genannt hatte,238 fiel eine Schranke. Die einwanderndenjüdischen Osteuropäer, zunehmend als »Ostjuden« bezeichnet, bildeten einen immer größeren Anteil an der wachsenden ausländischen Bevölkerung. »Ostjuden« blieben sie um so länger, als sie immer seltener eingebürgert wurden. Als solche wurden sie in der Öffentlichkeit auch zunehmend schärfer und ablehnender wahrgenommen. Gesellschaftliche und staatliche Ablehnung bedingten und verstärkten sich somit gegenseitig.

6. Die Praxis der Einbürgerung Eine einheitliche nationale Staatsangehörigkeitspolitik im deutschen Nationalstaat von 1871 gab es nicht. Sie war im bundesstaatlichen Gefüge des Deutschen Reiches nicht angelegt und konnte daher erst als Folge eines Prozesses entstehen, in dem sich der Wille zu politischer Vereinheitlichung und Vorgänge tatsächlicher Angleichung verbanden. 236 Nach einem Spitzenwert von 1,77 % im Jahre 1896, dem die niedrigste Rate von 0,68 % im Jahre 1897 unmittelbar folgte, pendelten sich die Werte zwischen 0,94 % (1905) und 1,59 % (1906) ein, bevor sie 1911 auf 0,72 % fielen. Die absoluten Zahlen für die Aufnahme von Juden in die preußische Staatsangehörigkeit bewegten sich zwischen 24 (1897) und 104 (1910). 237 Vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 74. 238 Vgl. ebd., S. 75f, 92.

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Voraussetzung dafür war rein äußerlich die Angleichung der Ausweisformulare. Bundesratsbeschlüsse der Jahre 1881 und 1883239 führten einheitliche Formulare ein für die Erteilung von Staatsangehörigkeitsausweisen - gedacht zur Benutzung innerhalb des Reichsgebiets - sowie von Heimatscheinen, die als Ausweis im Reichsausland dienten. Während die Staatsangehörigkeitsausweise nur die ausstellenden Bundesstaaten erkennen ließen, wiesen die Heimatscheine neben dem Bundesstaat in ihrem Kopf den Inhaber als Angehörigen des »Deutschen Reiches« aus. Damit war ein Reichsausweis geschaffen, zu dessen mustergetreuer, mit »größter Sorgfalt« vorzunehmender Ausstellung die nachgeordneten Behörden wiederholt angemahnt wurden.240 Im Jahre 1907 wurde das Formular einheitlich um einen Passus ergänzt, der auswandernde Deutsche daran gemahnte, daß sie nach mehr als zehnjährigem Auslandsaufenthalt ihre deutsche Staatsangehörigkeit verlören. Indirekt wurde damit der Ausweisinhaber an den Wert der Urkunde erinnert, den das einheitliche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 mit neuen, einheitlichen Formularen unterstrich. Die verschärften Kontrollerfordernisse der Kriegssituation und die verbesserte photographische Technik führten 1916 dazu, daß jeder Heimatschein mit einem Photo des Inhabers und einer Personenbeschreibung versehen werden mußte.241 Der Heimatschein des Deutschen Reiches war damit zu einem Identifikationspapier geworden, das eindeutig und im Sinne moderner kriminaltechnischer Erfordernisse relativ fälschungssicher, einheitlich und genau identifizierbar seinen Inhaber als Angehörigen des Deutschen Reiches auswies. Mit der politischen wuchs zugleich die symbolische Bedeutung der Staatsangehörigkeit. Sie wurde noch dadurch unterstrichen, daß die einmal erteilte Naturalisation eine herausgehobene rechtliche Bestandskraft genoß. Das Preußische Oberverwaltungsgericht, das der Fremdenpolitik immer wieder rechtsstaatliche Grenzen zog, entschied 1886, daß die Zurücknahme der einmal erfolgten Naturalisation ausgeschlossen sei. Der preußische Innenminister Köller, der durch liberale, uneinheitliche Entscheidungen der Provinzialbehörden die Durchsetzung neuer, restriktiver Einbürgerungsrichtlinien gefährdet sah, nahm diese Entscheidung im Jahre 1895 zum Anlaß, die »Wichtigkeit des Gegenstandes« zu betonen, die »in der ausländischen Gesetzgebung vielfach dazu geführt hat, daß Naturalisationen nur durch Parlamentsbeschluß, durch Spezialgesetz oder Entschließung des Landesherrn erfolgen können«. Angesichts der Irreversibilität der Einbürgerung behielt er sich selbst die letzte Ent239 Vgl. Cahn, Reichseesetz, S. 158, 192f. 240 Vgl. »Allgemeine Verfügung vom 25. Juli 1898, betr. Die Ertheilungvon Heimathscheinen und Staatsangehörigkeitsausweisen«, in: PrMBliV1898, S. 150. 241 Verfügung vom 6. März 1916, betr. »Mißbräuchliche Verwendung von Staatsangehörigkeitsausweisen und Heimatscheinen«, in: PrMBliV 1916, S. 58.

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Scheidung darüber vor.242 Aus Gründen der politischen Vereinheitlichung setzte sich auch die Kompetenzverlagerung der Einbürgerungsentscheidung auf die höheren Verwaltungsbehörden der Bundesstaaten durch. In den süddeutschen Staaten Württemberg und Baden wurde die Naturalisationskompetenz wegen der politischen Bedeutung der Entscheidung ausdrücklich den Kreisregierungen bzw. Landescommissären zugewiesen.243 Desgleichen setzte sich das staatliche Einbürgerungsmonopol gegenüber den traditionell starken Mitwirkungsbefugnissen der süddeutschen Gemeinden nur aufgrund besonderer Klarstellung durch. Hatte sich bereits 1871 die Regierung des württembergischen Schwarzwaldkreises im Sinne eines »einheitliche(n) nationale(n) Rechts« mehrheitlich dafür ausgesprochen, für die Naturalisation nicht mehr die vorausgegangene Zusicherung eines Gemeindebürgerrechts zu verlangen, bestätigte noch ein Erlaß des Innenministers von 1881 die gegenteilige hergebrachte Auffassung, bevor das württembergische Gemeindeangehörigkeitsgesetz von 1885 in Anpassung an das Bundesgesetz von 1870 ein gemeindliches Mitentscheidungsrecht bei der Einbürgerung aufhob.244 Wiederholt bedurfte es der Hervorhebung und Präzisierung, daß die Angehörigen der deutschen Bundesstaaten nicht als »Ausländer« zu behandeln seien. Die gleichzeitige Zugehörigkeit zu mehreren Staaten, die im Verhältnis zum Ausland als Doppel- oder Mehrfachstaatsangehörigkeit grundsätzlich gemieden wurde, wurde im Verhältnis der deutschen Bundesstaaten untereinander ausdrücklich für zulässig erachtet.245 Die Gewöhnung an eine gemeinsame deutsche Staatsangehörigkeit, die als Ausland nunmehr die Staaten außerhalb des Deutschen Reiches definierte, vollzog sich auch auf der Ebene der Verwaltung mit Verzögerungen und Anpassungsschwierigkeiten. Es war daher wohl mehr als eine regionale Kuriosität, daß das bayerische Innenministerium im Jahre 1890 erst aufgrund eines akribischen Rechtsgutachtens zu dem Schluß kam, das Ehrenbürgerrecht der Stadt Augsburg dürfe an einen Preußen verlie-

242 Cirkular an die Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin, 3.2.1895, PrMBHV 1895. S. 26. 243 S. Verordnung vom 14. Juni 1888, Gesetzes- und Verordnungsblatt für das Großherzogtum Baden 1888, S. 292; Erlaß des Königlichen Ministers des Innern an die Kreisregierungen vom 22.10.1891, in: Bazille u. Köstlin, S. 432. 244 S. Bericht der Königlichen Regierung für den Schwarzwald-Kreis an das Königliche Ministerium des Innern, 27.9.1871, Württembergisches Hauptstaatsarchiv (kurz: WHSTA) Ε 151/02, Büschel 981; Erlaß des Ministeriums des Innern an die Kreisregierungen, 31.1.1881, in: Bazille u. Köstlin, S. 405. Mit Schreiben vom 6.7.1871 an die Ministerien des großherzoglichen Hauses, der Justiz und des Auswärtigen stellte das badische Ministerium des Innern klar, daß die Erwerbung des Gemeindebürgerrechts durch die Staatsangehörigkeit bedingt sei, BGLA, 233/1143. 245 Preußisches Ministerium des Innern an die Königliche Regierung zu N., 3.10.1872, in: PrMBHV 1872, S. 249.

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hen werden, zumal dieser nicht mehr »Ausländer« im Sinne der bayerischen Gemeindeordnung sei. Der Preuße war Otto von Bismarck.246 Den eigentlichen Test auf den Integrationsgrad einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit bildete die Frage der Ablehnung unerwünschter Einbürgerungsbewerber. In einem Bundesstaat mit offenen Binnengrenzen konnte ein Bewerber, der von einem Staat nicht eingebürgert worden war, über die Einbürgerung in einem anderen Bundesstaat in den ersten Staat zurückkehren und dort die Aufnahme in den Staatsverband beanspruchen. Diese Umgehungsproblematik, die bereits den Norddeutschen Reichstag beschäftigt hatte, zwang die Bundesstaaten zur Koordination in der Einbürgerungsfrage, zur Aufstellung gemeinsamer Richtlinien und zur Abstimmung in umstrittenen Einzelfällen. Die Ermessensspielräume, die das Bundesgesetz von 1870 in der Einbürgerungsentscheidung ließ, wurden von der Verwaltung mit Kriterien gefüllt, die per sc restriktiv waren und eines Mindestmaßes an föderativer Homogenität bedurften, damit die von der Verfassung vorausgesetzte Vorstellung einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit überhaupt erst politischen Gehalt gewinnen konnte. Dieser Gehalt war nicht rechtlich vorgegeben. Er konnte ökonomische, politische, kulturell-religiöse oder nationale Aspekte enthalten und diese in ihrer Verbindung und Gewichtung wandeln. Diese Aspekte verband jedoch, daß sie nach innen, d. h. innerhalb des Bundesstaates eine politische Übereinkunft bildeten, zu einem Zweck indessen, der nach außen gerichtet war: auf die Abwehr des Fremden, der inneren Übereinkunft nicht Entsprechenden. Es ist ein Paradox, daß sich der Aufbau einer politischen, d. h. nicht nur rechtlichen Gemeinsamkeit über ein Negativum, die Einigung über die Ablehnung Außenstehender, vollzieht. Diese Eigenart teilt die Staatsangehörigkeit im föderativen Nationalstaat mit der Entwicklung des modernen Nationalismus und der Nation insgesamt: Die Nation konstituiert sich wesentlich über die Definition und Abwehr gemeinsamer Feinde.247 An dieser strukturellen Parallele zeigt sich die Schlüsselbedeutung der Staatsangehörigkeit im Prozeß nationalstaatlicher Integration. Die konstitutiven Erwägungen, die in das Ermessen der staatlichen Behörden im Einbürgerungsverfahren gestellt waren, blieben jeder Nachprüfung durch Instanzen außerhalb des Verwaltungsbereichs entzogen. Die Verwaltungsgerichte waren nach einhelliger Auffassung der Rechtslehre an der eigenen Bewertung der Ermessensentscheidungen gehindert, die als ›diskretionänund damit als geheim und unaufhebbar galten. Nicht die Antragsteller, noch weniger die politische, nicht einmal die parlamentarische Öffentlichkeit 246 Bayerisches Ministerium des Innern an die Königliche Regierung von Schwaben und Augsburg, 21.4.1890, BHSTA, Ministerium des Äußern, Nr. 54115. 247 VglJeismann; Alter, S. 24.

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hatten einen rechtlichen Anspruch darauf, die Gründe für eine ablehnende Entscheidung über einen Einbürgerungsantrag zu erfahren. Die negative Konstitution des Nationalstaats nach außen vollzog sich anhand vieler sichtbarer Einzelfälle, in ihrer Gesamtheit und inneren Systematik jedoch im Arkanbereich des Staates und vor der Öffentlichkeit verborgen. Die Formulierung und Durchsetzung dieser gemeinsamen, negativ integrierenden Staatsangehörigkeitspolitik hing von politischen Interessen und Machtverhältnissen ab. Es liegt daher nahe, die Staatsangehörigkeitspolitik des hegemonialen Bundesstaates Preußen in ihrer Leitfunktion für den Nationalstaat insgesamt zu untersuchen. Der preußische Staat verzeichnete den weitaus höchsten Anteil an Ausländern und dominierte die innere und äußere Politik des Reiches. Vor allem aber wurden die Nationalitätenkonflikte des Deutschen Reiches innerhalb des preußischen Staatsgebiets und an dessen Grenzen ausgetragen. Die preußische Praxis steht daher im Mittelpunkt einer Analyse der Einbürgerungspolitik, die sich nach den allgemeinen und politischen Kriterien der Einbürgerungsentscheidung vor allem auf die nationalen Auswahl- und Abwehrgesichtspunkte konzentriert. Ein allgemeines Kriterium, das ausnahmslos geprüft wurde, war die wirtschaftliche Stellung des Antragstellers. Über die Mindestbedingung des Bundesgesetzes von 1870 hinaus, das vorschrieb, der einzubürgernde Ausländer müsse am Ort seiner Niederlassung ein Unterkommen finden und sich sowie seine Angehörigen zu ernähren imstande sein, wollte der preußische Staat eine ausreichende Gewähr haben, daß die neu Eingebürgerten nicht bald der Armenfürsorge zur Last fielen. Zu diesem Zweck führte das Innenministerium die Kategorie der Einkommensverhältnisse in seinen jährlichen Nachweisen ein. Die Einbürgerung besonders wohlhabender Personen galt als Erfolg in der jährlichen Einbürgerungsbilanz. Umgekehrt wurden ungenügende oder ungesicherte Vermögensverhältnisse als Einbürgerungshindernis behandelt. Feste Einkommensgrenzen legte die Verwaltung nicht fest, doch wurde immer wieder bekräftigt, daß Anträge von Ausländern, deren »Existenzverhältnisse nicht für vollkommen gesichert zu erachten sind, mit Zurückhaltung zu behandeln sind«.248 Dieser Einwand galt in besonderem Maße für Einwanderergruppen, die überdies aus nationalen Gründen unerwünscht waren. Er wurde deswegen in erhöhtem Maße Einwanderern aus Osteuropa entgegengehalten, die zudem im Durchschnitt ärmer als die einwandernden Westeuropäer waren.249 So sehr 248 Preußisches Ministerium des Innern an Regierungspräsident Aachen, 6.5.1912, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 22; Oberpräsident der Provinz Westfalen an das Preußische Ministerium des Innern, 18.7.1900, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 249 In der Zusammenfassung der Einbürgerungsnachweise für das Jahr 1904 resümierte das Preußische Statistische Landesamt in einem Schreiben an das Preußische Ministerium des Innern vom 13.4.1905: Bei den Einbürgerungen erbringe »im allgemeinen der Osten der Monarchie die am wenigsten bemittelten Naturalisierten ..., meistens Ansiedler aus Rußland mit einem Einkorn-

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Wohlsituiertheit die Einbürgerung begünstigte, war die preußische Verwaltung doch bemüht, jeden Verdacht der Beeinflussung ihrer Entscheidung durch materielle Vorteilszuwendung auszuräumen. Dem Bevollmächtigten des »Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie«, der sich für zwei Antragsteller verwandt hatte, hielt das Innenministerium entgegen, es sei unzulässig, »Entscheidungen über Naturalisationsgesuche in irgend welchen Zusammenhang mit Zuwendungen des Antragstellers für gemeinnützige oder patriotische Zwecke zu bringen«.250 Ein weiteres Hindernis konnte daraus entstehen, daß der Bewerber noch nicht aus seiner ursprünglichen Staatsangehörigkeit entlassen war. Der Grundsatz der Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit verfestigte sich indessen erst allmählich, galt nicht bereits von der Gründung des Deutschen Reiches an. Noch im Jahre 1886 verständigten sich das Auswärtige Amt und das Preußische Ministerium des Innern darüber, daß keine generelle Anordnung bestehe, erst nach der Entlassung aus der ursprünglichen Staatsangehörigkeit Menschen in Preußen einzubürgern. Allerdings empfahl das Innenministerium, zur »Vermeidung unerwünschter Duplizität der Unterthan-Verhältnisse« diesen Grundsatz künftig in Preußen durchzusetzen. Es folgte darin der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, die acht Jahre darauf bekräftigte, daß »die Pflicht der Treue und des Gehorsams nicht zwischen mehreren Staaten getheilt werden kann, daß ein gleichzeitiges Indigenat in mehreren unabhängigen Staaten eine Irregularität ist, welche dem ausgebildeten modernen Staatsbegriffe widerspricht, und daß viele Staaten dies Postulat zu einem Satze ihres positiven Staatsrechts erhoben haben«.251 Durchgesetzt wurde dieser Grundsatz zunächst in zweiseitigen Abkommen bzw. in Regelungen, mit denen das Deutsche Reich auf entsprechende Vorkehrungen reagierte, die unter anderem die Türkei und Österreich-Ungarn zum Schutz ihrer Staatsangehörigkeit getroffen hatten. Treibendes Motiv der Herstellung rechtlicher Eindeutigkeit war das Bestreben, zum einen Kollisionen in der Wehrpflicht zu vermeiden, zum anderen aber auch die ungehinderte Ausweisung mißliebiger Ausländer sicherzustellen.252 Doch unterlag das strikte, vermeintlich formale Prinzip einer bezeichnenden Ausnahme: Es galt nicht - oder doch in abnehmendem Maße - für ehemalige men, das selten 900 Mark übersteigt, z.T. auch Ackerknechte, in Schlesien Handwerker, Händler und dergleichen Leute mit geringem Einkommen«, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 19. 250 Preußisches Ministerium des Innern an den Bevollmächtigten des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, IIauptmannEngelbrecht, 11.3.1909, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 21. 251 Unter Berufung auf die Staatsrechtswissenschaft Preußisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 3.2.1894, für die preußische Innenverwaltung mitgeteilt in: PrMBliV 1894, S. 39. 252 So zur Begründung der Praxis der Berliner Polizeiverwaltung, Polizeipräsident Berlin an Preußisches Ministerium des Innern, 12.3.1886, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 12.

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Angehörige eines deutschen Staates, die aus Rußland in das Deutsche Reich zurückwanderten, und für Deutsche, die ins Ausland wanderten. Rückwandernde Rußlanddeutsche, denen das Zarenreich erhebliche Hindernisse bei der Entlassung aus der russischen Staatsangehörigkeit in den Weg legte, erhielten gleichwohl die preußische Staatsangehörigkeit.253 Hinsichtlich auswanderungswilliger bzw. im Ausland ansässiger Deutscher wies das Innenministerium die nachgeordneten Behörden 1904 darauf hin, es »sei im Interesse des Deutschtums im Ausland erwünscht, daß die sich dort aufhaltenden Deutschen ihre Staatsangehörigkeit beibehalten«, und bat, dafür Sorge zu tragen, daß das Behördenpersonal die Auswandernden nicht dazu ermutige, ihre bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben, um dadurch Schwierigkeiten mit dem Wehrdienst zu entgehen.254 Daran wurde zweierlei deutlich: Zum einen war das Bewußtsein um den nationalen Wert der deutschen Staatsangehörigkeit in den nachgeordneten Behörden nicht von Beginn an vorhanden, sondern wurde erst auf dem Weg autoritativer Anordnung nahegelegt und mit Nachdruck versehen. Zum anderen zeigte sich, daß ein der Staatsräson entspringendes Rechtsprinzip bereitwillig Erfordernissen nationaler Opportunität untergeordnet wurde, wenn es galt, die besondere Gruppe (ehemaliger) Deutscher als Träger eines nach kulturellen, ethnischen oder ökonomischen Kriterien hoch bewerteten ›Deutschtums‹ zu schützen. Unter den allgemeinen Einbürgerungskriterien kam der Wehrfähigkeit in bezug auf die Männer eine Schlüsselfunktion zu. Dabei wurde unter Wehrfähigkeit nicht nur die physische Fähigkeit zur Ableistung des Militärdienstes verstanden, sondern auch die individuelle Bereitschaft dazu. Die Wehrfähigkeit in diesem umfassenden Sinn nahm den Charakter einer Probe auf die ›Gemeinschaftsfähigkeit‹ des Einbürgerungsbewerbers schlechthin an: Eine in der gesellschaftlichen Werthierarchie des Deutschen Kaiserreichs hoch eingeschätzte Eigenschaft, die Fähigkeit und Bereitschaft, Wehrdienst zu leisten, bündelte soziale und politische Kernbedingungen der Integrierbarkeit in ein Gemeinwesen, genauer gesagt: in die Vorstellung einer ›Gemeinschaft‹, die ein Gemeinwesen von sich selbst entwickelte. Kraft ihres hohen Rangs war diese Eigenschaft dazu imstande, den Mangel anderer Einbürgerungsvoraussetzungen zu mindern oder sogar zu überspielen. Umgekehrt wurden ansonsten hoch bewertete Qualitäten durch den Ausfall der Wehrfähigkeit gemindert. Dies zeigt die Behandlung wehrflüchtiger Deutscher: Wer sich der Wehrpflicht entzog,

253 Die Regierungspräsidenten wurden lediglich angewiesen, die eingebürgerten Russen auf die strafrechtlichen Folgen der unerlaubten Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit aufmerksam zu machen, Preußisches Ministerium des Innern an die Regierungspräsidenten, 16.7.1890, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 13. 254 Preußischer Minister des Innern, Verfügung vom 20.11.1904, in: PrMBliV 1904, S. 277.

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wurde sozial geächtet.255 Um den Verrat an der Wehrpflicht zu brandmarken und sich der zurückkehrenden Wehrflüchtigen auf Dauer zu entledigen, erwog die preußische Regierung, die Betreffenden mit ihren Namen im Reichszentralblatt zu veröffentlichen, um sie dann auszuweisen. Offenbar verhinderten nur diplomatische Rücksichten und Koordinationsprobleme unter den Bundesstaaten die Verwirklichung dieses Vorhabens.256 In der Konsequenz dieser Bewertung lag es, daß die preußische Regierung wehrflüchtige ehemalige Deutsche von der »besonderen Vergünstigung« der Renaturalisation weitgehend ausschloß. Auch Deutsche, welche die Wiedereinbürgerung beantragten, um im Ausland der Wehrpflicht zu entgehen, wurden kritischer Prüfung unterworfen.257 Aber auch umgekehrt wirkte die Wehrfähigkeit: Sie vermochte nationale oder konfessionelle Schranken der Einbürgerung zu senken. Die Bereitschaft des Einbürgerungsbewerbers, sich dem insbesondere in Preußen harten, mehrjährigen Wehrdrill zu unterziehen, belegte zweierlei: zum einen seine Bereitschaft, sich den belastenden Pflichten der erstrebten Staatsangehörigkeit zu stellen und damit ›einzufügen‹ in eine vorgegebene Gemeinschaftsstruktur; zum anderen die Nützlichkeit des Einzubürgernden für das (nationale) Gemeinschaftsganze, und zwar über das mit der Einbürgerung verfolgte Individualinteresse hinaus. Dieser Zusammenhang veränderte sich freilich im Verlauf des Kaiserreichs. Davon wird im Zusammenhang mit der Einbürgerung von Polen und Juden noch die Rede sein. Wesentlich war, daß die Wehrfähigkeit und die ökonomischen Voraussetzungen grundsätzlich durch den Einbürgerungsbewerber beeinflußbar und ihm nicht objektiv vorgegeben waren. Sie errichteten mithin relative, keine absoluten Einbürgerungshindernisse. Die ökonomischen und militärischen Bedingungen der Einbürgerung definierten die Staatsangehörigkeit als eine Wirtschafts- und Wehrgemeinschaft. Ihre Definition als politische Gemeinschaft faßte der preußische Staat enger, und zwar in Form von Diskriminierungen, die auf den Erhalt eines konservativliberalen, bürgerlichen, protestantisch dominierten Staatsbewußtseins zielten und diese Bewußtseinsgemeinschaft gegen Abweichungen und Angriffe von 255 Vgl. Jahr, S. 191: »Der ehrlose Deserteur geriet zum Antipoden des freudig seinen ehrenvollen Wehrdienst erfüllenden Staatsbürgers, der sich damit selbst aus der Gesellschaft ausschloß«. 256 Preußisches Ministerium des Innern an den Reichskanzler, 12.12.1884; Ministerium des Äußeren an das Preußische Ministerium des Innern, 31.3.1885, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 12: Die Überlegungen der Ministerien fielen in die Zeit verstärkter Wchrflucht, vor allem in die USA, und der Massenausweisungen von 1885. Sic zielten auf eine allgemeine Lösung für Ausweisungen. Diplomatische Bedenken trug das Außenministerium hinsichtlich der rückkehrenden Wehrflüchtigen aus den USA. 257 Preußischer Minister des Innern, Verfügung vom 25. Juni 1875, in: PrMBliV. 1875, S. 228; Preußischer Minister des Innern an die preußischen Regierungen (Circular), 10.12.1878, betreffend Hinweise, daß Deutsche in Venezuela die Renaturalisation nur erstrebten, um ihre Söhne der Wehrpflicht in Venezuela zu entziehen, ohne nach Deutschland zurückkehren zu wollen, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 10.

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außen verteidigten. Es ist eingehend beschrieben worden, wie die Politik Preußens, schließlich auch die des Reiches, auf die Definition, Diskriminierung und Fernhaltung von »Reichsfeinden« angelegt war. Dazu zählte der Kulturkampf, der im Jahrzehnt nach der Reichsgründung im protestantischen, nationalliberal dominierten Preußen gegen den politischen Katholizismus und seine Organisationen ausgetragen wurde. Ebenso gehörte auch der politische Kampf gegen die Sozialdemokratie dazu, den die Regierungen Preußens und des Reiches mit den Mitteln des politischen Strafrechts führten. Die besonders scharfe Unterdrückung sozialistischer Parteitätigkeit durch das Sozialistengesetz zwischen 1878 und 1890 war nur das signifikanteste Kennzeichen einer jahrzehntelangen staatlichen Diskriminierung demokratischer Politik, die auf die grundlegende Veränderung der Verfassungsordnung und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse abzielte. Die monarchischen Staaten des Deutschen Reiches verteidigten damit den konstitutionellen und gesellschaftlichen Status quo gegen eine neue politische Bewegung, die von außen aus einer sozial und politisch minderberechtigten Lage in das Zentrum der Macht drängte. Die sozialistische Arbeiterbewegung führte den Kampf um gleichberechtigte Anerkennung ihrer Zugehörigkeit zum Staat und die Beeinflussung seiner Entscheidung, den die staatliche Bürokratie zu verzögern und abzuwehren suchte. Zu diesen Abwehrmaßnahmen gehörte auch die Kontrolle der öffentlichen Meinung, soweit sie auf grundsätzliche Kritik und Veränderung des politischen Systems abzielte oder zumindest diesen Verdacht nahelegte. Die Pressezensur und die Maßregelung politisch unliebsamer Journalisten waren ein weiterer Versuch, das existierende politische System gegen Veränderung von außen abzuschirmen und zu stabilisieren. Die ›innere‹ Konfliktkonstellation zwischen ›Rcichsfeinden‹ und reichstragender Mehrheit, die Spannung zwischen innen und außen, fand ihre strukturelle Entsprechung und Fortsetzung in der Einbürgerungspolitik, an der Außenseiten der staatlich definierten Gemeinschaft. Sowohl bei der Abwehr ›reichsfeindlicher‹ Bestrebungen des Katholizismus als auch der Sozialdemokratie wurde das Mittel der Ausbürgerung erwogen und auch genutzt. Das »Expatriierungsgesetz«258 kam 1874 auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes gegen den ›ultramontaner‹ Loyalitätsverletzungcn bezichtigten Paderborner Bischof Martin zum Einsatz. Auch wenn die scharfen Abwehrmaßnahmen und das Verbot katholischer Ordensgesellschaften im Jahre 1887 gelockert wurden, machte der Staat doch die Reichsangehörigkeit zur zwingenden Voraussetzung für die Aufnahme eines Bewerbers in einen katholischen Orden. Damit behielt sich der Staat eine wirksame Kontrolle über die Wiederzulassung katholischer 258 Reichsgesetz betreffend die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874 (RGBl 1874, S. 43), vgl. I luber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, S. 724, 729.

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Geistlicher vor, die während des Kulturkampfs ins Ausland gegangen waren und nach Deutschland zurückkehren wollten.259 Wie sehr die Frontstellungen des Kulturkampfs nachwirkten, zeigte sich zu Beginn der neunziger Jahre im Fall expatriierter Schulkinder. Dem Regierungspräsidenten des überwiegend katholischen Regierungsbezirks Köln lag das Renaturalisicrungsgesuch eines neunjährigen katholischen Mädchens vor, das wie viele andere katholische Schulkinder, insbesondere aus dem »Handwerker- und Arbeiterstand Kölns«, ohne staatliche Genehmigung in eine holländische bzw. belgische katholische Schule geschickt worden war. Um der Bestrafung zu entgehen, hatten die Eltern »auf Anraten der katholischen Geistlichkeit« und aufgrund der »Agitation durch die katholische Presse« die Entlassung der Kinder aus der Staatsangehörigkeit beantragt, konnten nun aber nicht mehr die Schulausbildung im Ausland finanzieren. Der Regierungspräsident hielt grundsätzlich eine Ablehnung der Wiedereinbürgerung für zulässig, da ihr ein »unbedachter Auswanderungsantrag« voraufgegangen sei. Weil aber »eine Gegenströmung in katholischen Kreisen« bemerkbar sei und die frühere Agitation offenbar nachgelassen habe, hielt er die Ablehnung des Gesuchs für eine allzu »strafende Härte«.260 Gleichwohl bekräftigte das Innenministerium 1898 eine spezielle Vorlagepflicht bei Einbürgerungen von Personen geistlichen Standes und meldete ein Jahr später grundsätzliche Einwände gegen die Renaturalisierung katholischer Geistlicher an, die vor Erreichen des militärpflichtigen Alters aus Deutschland ausgewandert waren. Deren Verhalten lasse »auf einen gewissen Mangel an patriotischem Pflichtgefühl und an Heimats-Sinn schließen«. Demgegenüber müsse der Staat den »allergrößten Wert darauf [...] legen, daß sich der heimische Klerus nicht ohne zwingenden Grund von der Erfüllung der allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten und von den heimatlichen Bildungsfaktoren loslöst«.261 Ein tief sitzendes Mißtrauen der preußischen Behörden hinsichtlich der Loyalität der ›ultramontan‹ gesonnenen katholischen Geistlichkeit blieb Bestandteil einer behördlichen Abwehrmentalität, die den offenen politischen Konflikt überdauerte. Dabei richtete sich, soweit dies die Akten erkennen lassen, die Abwehr nicht gegen die katholische Konfession der Einbürgerungsbewerber als solche.262 Diese wurde in der Masse der Fälle 259 Preußische Minister des Innern sowie der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelcgenhcitcn, 27.1.1887, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 260 Regierungspräsident Köln an Preußisches Ministerium des Innern, 7.5.1891, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 14. 261 Preußischer Minister des Innern an den Minister der geistlichen Angelegenheiten, 20.4.1899, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 16. In seiner Antwort vom 9.5.1899 drang der Minister der geistlichen Angelegenheiten auf eine Unterscheidung zwischen den älteren, d. h. durch die Härte des Kulturkampfes veranlaßten, und neueren Auswandcrungsfällen, a.a.O. 262 Daraufgeben bereits die Einbürgerungszahlen Preußens zwischen 1883 und 1887 einen Hinweis, die ein halbes Jahrzehnt nach dem Abflauen des Kulturkampfs eine um fünfzig Prozent höhere Einbürgerungsrate für Katholiken als für Protestanten erkennen lassen (insgesamt 9.620

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nur ausschlaggebend, wenn sie sich mit nationalen Vorbehalten verband wie im Falle eingewanderter Polen und Russisch-Litauer,263 deren Katholizismus der Staat zugleich als Indiz einer nationalpolitischen Abwehrhaltung wertete. Getroffen und ferngehalten werden sollte der katholische Klerus,264 vor allem Jesuiten.260 Anders war es mit Einbürgerungsbewerbern, die in sozialdemokratischen Organisationen tätig waren oder doch zumindest bei den Behörden in diesem Verdacht standen. Bereits die einfache Mitgliedschaft sprach in den Augen der Einbürgerungsbehörden gegen die »politische Unverdächtigkeit« des Bewerbers, die bei jedem Einbürgerungsantrag zu prüfen war.266 Als 1888 die Verlängerung des Sozialistengesetzes anstand, legte die Reichsregierung auf Drängen Bismarcks dem Reichstag eine verschärfte Gesetzesfassung vor, die sozialdemokratische Aktivitäten mit der Strafe der Ausbürgerung bedrohte. Hier war freilich die Grenze des Abwehrkonsenses überschritten. Vorgetragene Bedenken des internationalen Rechts verstärkten noch das Bewußtsein der Reichstagsmehrheit, daß die Ächtung und Ausstoßung von Sozialdemokraten aus der Gemeinschaft der deutschen Staatsangehörigkeit angesichts der Stärke und Verbreitung der Bewegung politisch nicht ratsam sei.267 Die Gesetzesverschärfung drang nicht durch. Nicht zur Ausstoßung aus der bestehenden Staatsangehörigkeit, wohl aber zur Fernhaltung von außen kommender Sozialdemokraten genügte der bürokratische Abwehrimpuls und wurde anhand zahlreicher Einzelfälle bis zum Ende des Kaiserreichs immer wieder bestätigt. So lehnte der Polizeipräsident von Berlin die Einbürgerung eines Schriftsetzers ab, weil er Mitglied des auf »sozialdemokratischem Boden stehenden Zentralverbandes deutscher Buchdrucker«, überdies aus der Kirche ausgetreten sei und den Antrag nur im Hinblick auf die nächsten Wahlen gestellt habe. Die mögliche Beeinflussung von Katholiken gegenüber 6.224 Protestanten), vgl. Aufstellungen in der Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, Bd. 24-27, 29. 263 Preußischer Minister des Innern an den Regierungspräsidenten Gumbinnen, 7.3.1906, GSTA Dahlem, Rcp. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 20: Anweisung, die russisch-litauischen Arbeiter, bei denen durchweg die katholische Konfession anzunehmen sei, wegen »der Gleichartigkeit der politischen Bestrebungen« mit den polnischen Arbeitern gleichzustellen. 264 Diese spezielle Zielrichtung belegen auch die vom preußischen Innenministerium zu einer besonderen Aktengruppe »Die Naturalisation ausländischer Geistlicher und Lehrer« zusammengefaßten Einzelfälle, GSTA Dahlem, Rcp. 77, Tit. 227, Nr. 44, insbesondere Bd. 3 für den Kulturkampfund die folgende Zeit. 265 Noch 1908 lehnten es die preußischen Minister der geistlichen Angelegenheiten (3.10.1908) und des Innern ab, die gemilderte Wiedercinbürgerungspraxis gegenüber Missionaren auch aufJesuiten zu erstrecken, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 60, Bd. 1. 266 Vgl. die zentrale Zusammenfassung der preußischen Einbürgcrungsrichtlinien »Verleihung und Wiedervcrlcihung der preußischen Staatsangehörigkeit auf Grund §§ 8 und 21 des Rcichsgcsetzcs vom 1. Juni 1870, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Beiheft 2. 267 Vgl. Cotita, S.121 Thümmler S. 21f; Lidtke.

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Wahlen durch eingebürgerte Sozialdemokraten beschäftigte die preußischen Behörden nachhaltig und war ein wesentlicher Ablehnungsgrund in Einbürgerungsverfahren. Auf entsprechende Berichte aus Hessen hin wies das preußische Innenministerium alle Regierungspräsidenten an, falls die sozialdemokratische Parteileitung durch Forcierung von Einbürgerungen Wahlen zu beeinflussen versuche, die Einbürgerungsanträge aus sozialdemokratischen Berufskreisen in diesen Bezirken einer »besonders strengen Prüfung« zu unterziehen.268 Der Berliner Polizeipräsident beobachtete 1899, daß »die socialdemokratische Partei mit größter Energie und Zähigkeit für die Ausbreitung ihres Einflusses auf allen ihr nur irgendwie zugänglichen Gebieten des öffentlichen Lebens« agitiere und damit insbesondere bei Wahlen zu Gemeindevertretungen Erfolg habe. Auch die Naturalisation ausländischer Parteigänger werde dazu eingesetzt, indessen nur bei Personen, die politisch noch nicht hervorgetreten und den Behörden noch unbekannt seien. Zwei Jahre darauf konnte der Polizeipräsident dem Innenministerium nicht ohne Genugtuung mitteilen, daß eine sozialdemokratische Kampagne zur Naturalisation ausländischer Parteigenossen nicht zuletzt deswegen unterblieben sei, weil dies zu einer »verderblichen Konkurrenz für den deutschen Arbeiter« führen könne.269 Noch nach der Rcichstagswahl von 1913, aus der die SPD mit Abstand als stärkste Partei hervorgegangen war, wurde z. B. ein Mitglied des »sozialdemokratischen Zentralverbandes der deutschen Holzarbeiter« als Einbürgerungskandidat abgelehnt, da er »sozialdemokratischer Gesinnung« verdächtig sei und als Werkführer nachteiligen Einfluß auf andere Beschäftigte ausüben könne.270 Erst infolge des Ersten Weltkriegs lockerte sich diese Ablehnungshaltung. Der preußische Innenminister empfand 1915, daß angesichts einer freiwilligen Dienstbereitschaft im aktiven Heer der »Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie, insbesondere wenn der Antragsteller keine führende Parteirolle innehat, in der jetzigen Zeit kein entscheidendes Gewicht« beizulegen sei.271 Wurde demnach Sozialdemokraten aus politischen Gründen die Einbürgerung versagt, galt dies in erheblich verschärfter Form für die Berufsgruppe der Journalisten. Das Auswärtige Amt setzte durch, die Naturalisation ausländischer Journalisten in jedem Einzelfall einer ministeriellen Entscheidung zu unterwerfen. Zur Begründung führte das Ministerium 1903 an, daß sich im 268 Regierungspräsident Wiesbaden an PrMdl, 4.10.1899; PrMdl an alle Regierungspräsidenten (Circular), 20.1.1900, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 269 Polizeipräsident Berlin an PrMdl, 30.12.1899 und 22.9.1901, GSTA Dahlem, Rep. 77,Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 270 Polizeipräsident Berlin an PrMdl, 19.10.1911, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 17, Bd. 31; Regierungspräsident Breslau an PrMdl, 20.11.1913, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 226 B, Nr. 65, Bd. 1. 271 PrMdl an Regierungspräsident Potsdam, 28.1.1915, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit 226 B, Nr. 63, Bd. 1.

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politischen Leben »unerwünschte ausländische Einflüsse in steigendem Maße« geltend gemacht hätten. Über die Verweigerung der Naturalisation könne auf »Agitatorcn«und Korrespondenten politischer Blätter Einfluß ausgeübt werden. Das besondere nationale Interesse an dieser Frage bekräftigte das Ministerium zwei Jahre darauf: »Unsere Presse ist mit der Mitarbeiterschaft von Fremdlingen belastet, die auf Grund ihrer im Ausland erworbenen Neigungen und Abneigungen, insbesondere bei der Behandlung internationaler Fragen in deutschen Blättern eine unseren Interessen zuwiderlaufende Politik betreiben. Im Falle ihrer Naturalisation erscheinen diese fremden Elemente äußerlich als reichsdeutsche Publizisten, während sie, wenigstens in der Regel, ihrem inneren Wesen und ihren Anschauungen nach eine entsprechende Wandlung nicht erfahren haben.«272 Dahinter stand die Vorstellung der deutschen Staatsangehörigkeit als einer nach außen geschlossenen, im Innern homogenen politischen Gesinnungsgemeinschaft, die es nach innen gegebenenfalls mit den Mitteln des Zwangs und der Ausscheidung abweichender Meinungen durchzusetzen galt. Die Einbürgerung ausländischer Journalisten wurde entsprechend dem Interesse des Auswärtigen Amtes unter den Vorbehalt außenpolitischer Interessen gestellt,273 wobei sich die Bereitschaft der Behörden zur Ablehnung mißliebiger Journalisten dadurch verstärkte, daß die Antragsteller vielfach Juden waren und von daher verschärften Bestimmungen und Ablehnungshaltungen begegneten.274 Der preußische Staatsminister Posadowsky sah Juden als Hauptbeteiligte einer »ausländischen Invasion« der deutschen Öffentlichkeit. »Die deutschen Witzblätter, die zum großen Teil unter dem Einfluß österreichischer, in Deutschland naturalisierter Juden« ständen, seien die »politisch radikalsten und sittlich verwerflichsten Presseerzeugnisse«.275 Waren die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen vergleichsweise weit gefaßt, betrafen die politischen Kriterien eher kleinere Gruppen. So erhielt die Staatsangehörigkeit im deutschen Nationalstaat ihre eigentlichen, scharfen Konturen durch das Kriterium der Nationalität. Das zeigt der Aufwand, den die preußische Innenverwaltung mit der Formulierung, Durchsetzung und Anpassung nationaler Kriterien bei der zentralen Steuerung des Einbürgerungsverfahrens betrieb, ebenso wie die große Mehrzahl der problematisierten Einbür272 Auswärtiges Amt an PrMdl, 24.10.1903, daraufhin PrMdl an die Regierungspräsidenten (Cirkular), 16.12.1903, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 18; Auswärtiges Amt an PrMdl, 28.2.1905, ebd., Bd. 19. 273 Mit Nachdruck betont in Auswärtiges Amt an PrMdl, 14.3.1907, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 54, Bd. 1. 274 Z. B. im Falle des österreichischen Journalisten Kahn , »jüdischer Religion«, wie hervorgehoben wurde, versicherte der zuständige Referent dem Polizeipräsidenten von Berlin, die Anweisung wegen einer »dilatorischen Behandlung« von Anträgen ausländischer Journalisten zu beachten, 18.9.1903, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 18. 275 Laut Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 13.2.1907, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2253.

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gerungsfälle. In der Einbürgerungspraxis des Kaiserreichs verfestigten sich über beinahe ein halbes Jahrhundert nationale Präferenzen, die über eine bloße Verwaltungsübung hinausgingen, vielmehr Aufschluß über tieferliegende nationale Mentalitäten geben, die von der (preußischen) Bürokratie in praktische Politik umgesetzt wurden. Eine bevorzugte Rolle genoß die Gruppe der ›Deutschen‹ im Ausland. Dazu gehörten unter anderem ehemalige Angehörige deutscher Staaten, die ins Ausland ausgewandert waren. In ihrer Mehrzahl handelte es sich um Auswanderer aus dem deutschen Kultur- und Sprachraum, deren Familien teils seit Jahrhunderten insbesondere im mittel- und osteuropäischen Ausland ansässig waren. Sie wurden seit dem ausgehenden Jahrhundert als ›Auslandsdeutsche‹ entdeckt und zunehmend politisch umworben. Einen besonderen Rang genossen die ›Deutschbalten‹. Der preußische König und Kaiser selbst wies die Behörden an, die zuwandernden »deutsch-baltischen Elemente« mit Entgegenkommen zu behandeln, da sie insbesondere für die Landwirtschaft des Ostens »sehr brauchbare Elemente« seien.276 Die kaiserliche Anordnung bekräftigte die allgemeine Tendenz der Reichspolitik und behördlichen Praxis seit dem ausgehenden Jahrhundert, Auslandsdeutsche in ihrer deutschen Staatsangehörigkeit zu erhalten und die Rückwanderung ehemaliger Deutscher zu begünstigen.277 Verstärkt wurde diese Politik durch die nationalen Konflikte und Wanderungsbewegungen im Innern des Reiches. Die infolge der starken Binnenwanderung in den Westen des Reiches einsetzende Furcht vor der ›Entvölkerung‹ des deutschen Ostens, die einherging mit einer Verstärkung des polnischen Bevölkerungsanteils und des polnischen Nationalbewußtseins, forcierte die Bemühungen um die Rückgewinnung ethnisch-kulturell Deutscher aus Osteuropa. Seit dem Jahre 1899 verlangte die preußische Regierung von renaturalisierungswilligen Russen, daß sie unter anderem »nach Sprache und Sitte deutsch geblieben« seien.278 Dafür wurden sie im Rückbürgerungsverfahren bevorzugt behandelt. Der Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer, der mit Unterstützung des preußischen Staates für die Rückwanderung warb und diese organisieren half, erhoffte sich von der Wiedereinbürgerung, daß sie »die Rückwanderer in ihrem neu erwachten Heimatgefühl für das angestammte Mutterland« bestärken werde.279 Auch 276 Bericht des preußischen Innenministers in der Sitzung des Staatsministeriums vom 18.12.1905, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2253. 277 Vgl. die Verfügung des PrMdl vom 27.8.1903 (PrMBliV1903, S. 187), die die Behörden anwies, jede noch so kurze Rückkehr in das Reichsgebiet als Unterbrechung der Frist zu werten, wonach der zehn Jahre lang im Ausland Befindliche seine deutsche Staatsangehörigkeit verlor. 278 PrMdl an die Regierungspräsidenten Königsberg, Gumbinnen, Danzig, Marienwerder, Posen, Bromberg, Breslau, Liegnitz und Oppeln, 8.6.1899, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 279 Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer an PrMdl, 5.10.1910, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 22.

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wenn die Behörden dies nüchterner sahen und in vielen Fällen vor der Wiedereinbürgerung eine Probezeit forderten, in der der »wünschenswerte Bevölkerungzuwachs« ermittelt werden sollte280, förderten sie die Wiedereinbürgerung nach dem Grundsatz, daß eine sprachlich-kulturelle Verhaftung mit dem ›Deutschsein‹ die regelmäßige Vermutung für die Einbürgerungswürdigkeit begründete. Betrachtet man die größten Einwanderergruppen des Deutschen Reiches im Hinblick auf das nationale Konfliktpotential, das in ihrer Einbürgerung lag, rangieren z. B. die USA weit oben in der Gruppe derjenigen, die relativ wenigen nationalen Vorbehalten begegneten. Abgesehen davon, daß die Amerikaner einen vergleichsweise geringen Anteil an der Zahl der Einbürgerungen hatten, handelte es sich auch hier vielfach um deutsche Rückwanderer. Die fremdenpolitische Debatte um die Amerikaner in Deutschland konzentrierte sich daher auf diplomatische und militärpolitische Fragen des nationalen Prestiges. So plädierte der preußische Kriegsminister im Jahre 1877 mit großem Nachdruck dafür, die Bancroft-Vcrträge mit den USA von 1877 nicht zu verlängern. Alarmiert durch die hohe Rate in die USA auswandernder Wehrpflichtiger, die sich möglicherweise als amerikanische Staatsbürger wieder in Deutschland niederließen, sah der Minister die Wehrgerechtigkeit gefährdet. Hätten bei Abschluß der Verträge politische Gründe einer »Befestigung der freundschaftlichen Gesinnung« gegenüber den USA den Vorrang vor militärischen Erwägungen gehabt, sei dies nun durch die neue »gebietende Machtstellung« Deutschlands hinfällig.281 Doch war die Reichsregierung weiterhin entschlossen, das politische Einvernehmen mit den USA nicht zu gefährden. Das Auswärtige Amt erinnerte daran, daß das strukturelle Ungleichgewicht bei Vertragsabschluß der deutschen Seite vollauf bewußt gewesen sei. Doch müsse die »leichte Reizbarkeit des amerikanischen Volkes« in Rechnung gestellt werden. Vorrangig sei, »Verstimmungen« zu vermeiden und den erhofften Abschluß eines Handelsund Auslieferungsvertrags nicht zu gefährden. Die Bancroft-Verträge wurden verlängert.282 Wollte sich das Deutsche Reich das Wohlwollen der aufsteigenden amerikanischen Nation sichern, die zugleich das weitaus wichtigste Aufnahmeland für Zehntausende deutscher Auswanderer alljährlich war,283 galten derartige Rücksichten für keinen anderen Staat, aus dem Einwanderer nach Deutschland ka280 PrMdl an Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, 4.6.1910, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 21. 281 Preußischer Kriegsminister an PrMdl, 11.3.1877, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 10. 282 Auswärtiges Amt an den Preußischen Kriegsminister, 19.11.1877, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Bd. 10. Die Ausweisungsbestimmungen für rückkehrende ehemalige Deutsche wurden leicht verschärft, vgl. PrMdl an Regierungen (Circular), 18.6.1880, ebd., Bd. 11. 283 Der Anteil der USA an der deutschen Auswanderung betrug trotz stark zurückgehender Auswanderung insgesamt in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zumeist mehr als

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men. Hier schlugen nationale Vorstellungsbilder positiver oder negativer Art in der Einbürgerungspolitik unvermittelter durch. Das galt z. B. für die kleine Gruppe Schweizer Einwanderer, die überwiegend als »dem deutschen Volksstamm« zugehörig problemlos eingebürgert wurden.284 Gleiches galt für die Niederländer, die bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein die größte Einwanderungsgruppe im Reich und in Preußen stellten,285 bevor sie von den Einwanderern aus der Habsburgermonarchie und Rußland überflügelt wurden. Kennzeichnend für diese Einwanderungsgruppe war ihre hohe Konzentration in den an Holland angrenzenden westlichen Regierungsbezirken Preußens, nämlich Düsseldorf und Münster. Beide Regierungspräsidenten stimmten darin überein, daß die holländischen Zuwanderer als »nicht unerwünschter Bevölkerungszuwachs« anzusehen seien. Der Regierungspräsident von Münster hob im Jahre 1900 als besonderen Vorteil hervor, daß die starke Einwanderung von Holländern in der Landwirtschaft die unbedingt notwendigen Arbeitskräfte zuführe und wegen der »nahen Sprech- und Stammesverwandtschaft jede nationale Gefahr« ausschließe im Gegensatz zu den »ausländisch-polnischen Saisonarbeitern«. Die holländischen Kinder würden ausnahmslos in Schulen aufgenommen und seien von beiden Konfessionen für »deutsch-christliche Gesittung« zu gewinnen.286 Der preußische Minister der Geistlichen Angelegenheiten setzte sich überdies dafür ein, holländischen Wissenschaftlern in Fragen der Staatsangehörigkeit möglichst weit entgegenzukommen, da derartige wissenschaftliche Beziehungen »aus kulturellen Gründen in hohem Grade wünschenswert seien«.287 In diesen Einschätzungen werden die positiven Kriterien der Integrierbarkeit - das Fehlen nationaler Konflikte, sprachliche, kulturelle und konfessionelle Gemeinsamkeiten - aus der Sicht der staatlichen Behörden beispielhaft deutlich. Vergleicht man diese Äußerungen mit der Einschätzung der Einwanderer polnischer Nationalität, wird ein wechselseitiger Zusammenhang erkennbar. Das Ost-West-Gefälle hinsichtlich der Intensität nationaler Konflikte drückte sich nicht nur in einem entsprechenden Gefälle positiver und negativer nationeunzig Prozent, vgl. »Deutsche Auswanderer über deutsche und fremde Häfen nach Wanderzielen«, 1891-1910, in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 32 (1911), S. 29. 284 Z. B. Regierungspräsident Breslau an PrMdl, 15.10.1904, vgl. die gesammelten Fälle von Schweizer Gewerbetreibenden GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 49, Bd. 2. 285 In Preußen stellten die Niederländer zwischen 1883 und 1887 36,2 % der Eingebürgerten, 5.336 Personen von insgesamt 14.747 (zur preußischen Statistik, s.o). In den Erhebungsjahren 1894-1896, 1904-1906, 1909-1911 betrug der holländische Anteil an den Einbürgerungen im Jahresdurchschnitt 12,3 % (7.035 von 57.151 Personen insgesamt). 286 S. Regierungspräsident Münster an PrMdl, 1.6.1900; Regierungspräsident Düsseldorf an PrMdl, 22.6.1900: Im Bezirk stieg der Anteil ausländischer Holländer zwischen 1898 und 1899 von 41.424 auf 46.938, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 287 Preußischer Minister der Geistlichen Angelegenheiten an PrMdl, 9.1.1907, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 20.

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naler Vorstellungsbilder aus; es wurde auch durch vorhandene, lang tradierte Vorstellungsbilder verstärkt. Im Vergleich zu den Holländern stellten Zuwanderer aus dem romanischen Sprach- und Kulturkreis, Italiener und Franzosen, nur einen kleinen Bruchteil der Eingebürgerten.288 Bereits diese relativ geringe Zahl mag erklären, daß in den Einbürgerungsverfahren gruppenbezogene ›nationale‹ Abwehrimpulse nicht in nennenswerter Form hervortraten, vielmehr allgemeine Erwägungen der ›Unbescholtenheit‹ und der Gefahr wirtschaftlicher Konkurrenz289 im Vordergrund standen. Die Behandlung der Franzosen, die nach Abschluß der Optionen in Elsaß-Lothringen nur mehr eine Splittergruppe unter den preußischen Einbürgerungen ausmachten,290 stand angesichts latenter Dauerspannungen zwischen den beiden Nationalstaaten unter dem Primat der Diplomatie: Repressive Maßnahmen gegenüber Franzosen parierte die französische Seite mit dem warnenden Hinweis darauf, daß die preußischen Staatsangehörigen in Frankreich bekanntlich zahlreicher seien als die Franzosen in Preußen.291 Anders als bei den Optionen in Elsaß-Lothringen wirkte sich der deutschdänische Konflikt unmittelbar auf die preußische Staatsangehörigkeitspolitik aus. Die Gruppe der Dänen stellte auch - im Gegensatz zu den Franzosen - mit einer Rate von sechs bis elf Prozent einen erheblichen politischen Faktor in der preußischen Einbürgerungszahl dar.292 Wie gezeigt, wurde die Optantenfrage 288 Italicner stellten zwischen 1883 und 1887 weniger als 1% der Eingebürgerten in Preußen, nach den Erhebungen der Jahre 1894-1896, 1904-1906 und 1909-1911 im Jahresdurchschnitt 1,4 % (775 von 57.151 Eingebürgerten). Damit lag der Gesamtdurchschnitt deutlich niedriger als bei Wemiematifi, S. 166f., der aufgrund der Angaben von 1904 einen Anteil der Italiener von weniger als drei Prozent der Eingebürgerten annimmt. 289 Dies betraf insbesondere italienische Zuwanderer. So wollte der Regierungspräsident von Merseburg die Einbürgerung eines italienischen Bergmanns ablehnen, weil es ihm bedenklich erschien, in »Zeiten rückläufiger Konjunktur auf fast allen Erwerbsgebieten einem Ausländer ohne zwingenden Grund das Heimatrecht in Deutschland zu gewähren«. Vielmehr müsse bei umfangreichen Arbeiterentlassungen die Möglichkeit gewahrt bleiben, zum Schutz der einheimischen Arbeiter mit Hilfe der Ausweisung gegen ausländische Konkurrenz vorzugehen, Regierungspräsident Merseburg an PrMdl, 27.10.1903, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 33, Bd. 1. Das Preußische Innenministerium zeigte sich davon nicht beeindruckt und verfügte die Einbürgerung. Zu den insgesamt steigenden Einbürgerungszahlen der Italiener in Bayern, Baden und Elsaß-Lothringen vgl. Fabbro, S. 253f. , der dort - im Gegensatz zu den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen - eine wachsende Bereitschaft zur dauerhaften Niederlassung konstatiert. 290 Zwischen 1883 und 1887 stellten die Franzosen einen Anteil von 1,1% der preußischen Einbürgerungen (162 von 14.747), in den Erhebungsjahren 1896-1898, 1904-1906, 1909-1911 im Durchschnitt nurmehr 0,2% (113 von 57.151). 291 S. dazu Regierungspräsident Düsseldorf an PrMdl, 3.4.1898, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 31, Bd. 1, unter Verweis auf eine entsprechende Äußerung des französischen Konsuls. 292 Im Deutschen Reich stellten die Dänen zwischen 1872 und 1882 etwa 1,9% der Eingebürgerten, in Preußen zwischen 1883 und 1887 11,4% , in den Jahren 1894-1896, 1904-1906 und 1909-1911 durchschnittlich 6,7%.

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zu einem Instrument des nationalen Kampfes. Ungeachtet einer feststellbaren Radikalisierung der Optantenpolitik wurde die Auseinandersetzungjedoch im Kern politisch ausgetragen. Noch im Optantenvertrag von 1907 setzte Preußen auf die Assimilierbarkeit der dänischen Optantenkinder, die in den preußischen Staatsverband aufgenommen wurden. Die Bereitschaft zur Erfüllung der Wehrpflicht fand als Ausweis des Integrationswillens Anerkennung. Die dänische Nationalbewegung wurde hart bekämpft, zugleich jedoch als Verfechter politischer und kultureller Eigenständigkeit und als Gegner gleich geachtet. Die Abwehrhaltung der ›Deutschen‹ gegenüber den ›Dänen‹ im preußischen Einbürgerungsverfahren gründetete sich nicht auf das Stigma der kulturellen oder ökonomischen Minderwertigkeit, sondern der nationalpolitischen Gefährlichkeit.293

7. Die Konturierung des Nationalstaats durch Fernhaltung: Polen und Juden Alle bisher betrachteten Einbürgerungsgruppen galten unter nationalem Gesichtspunkt als erwünscht, neutral oder doch wenigstens grundsätzlich assimilierbar. Anders war es mit den Polen. Keine andere nationale Gruppe erfuhr in der preußischen Einbürgerungspolitik eine auch nur annähernd vergleichbare Beachtung und Kontrolle. Das lag zunächst nahe, weil ›die polnische Frage‹ den weitaus bedeutendsten Nationalitätenkonflikt im Deutschen Reich darstellte. Doch gewann die Behandlung der Polen einen weitergehenden, prinzipiellen Stellenwert: Mit der Abwehr der Polen schärfte die deutsche Staatsangehörigkeit erst ihre spezifische nationale Kontur. Die preußische Staatsangehörigkeitspolitik gegenüber Zuwanderern polnischer Nationalität zeigt die Etappen der preußischen Polenpolitik im Kaiserreich und ist ein Gradmesser ihrer Radikalisierung. Die eingehende Kontrolle der Zuwanderer polnischer Nationalität setzte bereits vor der Reichsgründung ein. Ihr Ausgangspunkt war der Brennpunkt der deutsch-polnischen Nationalitätenkämpfe, nämlich die Provinz Posen. 1868 wurde speziell für »polnische Flüchtlinge«, die sich nach dem gescheiterten Aufstand von 1863 nach Posen geflüchtet hatten, eine »Aufenthalts-Karte« eingeführt, die eine detaillierte physische Personenbeschreibung auswies. Zu293 Noch in einer Phase verschärfter nationaler Auseinandersetzungen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs begründete der Preußische Innenminister die Fernhaltung der Reichsdänen aus der »Nordmark« damit, daß diese »verhältnismäßig gebildeten und zahlungskräftigen Elemente in der Nordmark politische Schädlinge sind«, PrMdl an alle Staatsministerien, 13.1.1914, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 3, Beiheft 2.

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gleich wurde 1869 bekräftigt, daß die Einbürgerung russisch-polnischer Ausländer der Zustimmung des Innenministers bedürfe.294 Nach der Reichsgründung lockerte sich die Abwehrpolitik. Der Oberpräsident von Posen sah in der Zahl der polnischen Flüchtlinge für seine Provinz keine nationale Gefahr und plädierte dafür, die Einbürgerung dieser Gruppe wieder den Regierungspräsidenten zu überlassen. Er drängte darauf, die mündliche Beherrschung der deutschen Sprache ausdrücklich zur Einbürgerungsbedingung zu erheben. Es liege auf der Hand, »daß man von jedem Deutschen - und durch die Naturalisation wird der Ausländer eben Deutscher - verlangen kann und muß, daß er sich in deutscher Sprache verständlich zu machen verstehe«.293 Diese Begründung folgte noch ganz der traditionellen preußischen Assimilationsvorstellung, welche die sprachliche Anpassung zwar zur zwingend notwendigen, aber eben auch hinreichenden Voraussetzung der staatsbürgerlichen Integration machte. Die preußische Regierung übernahm diesen Vorschlag und wandte ihn auf alle Einbürgerungsbewerber polnischer Nationalität in der Provinz Posen an.296 Die vergleichsweise liberale Politik gegenüber polnischen Zuwanderern in dem Jahrzehnt nach der Reichsgründung zeigte sich zum einen im deutlichen Anstieg der Einbürgerungsrate mit dem Höhepunkt in der Mitte des Jahrzehnts.297 In einem seltenen Fall von Unparteilichkeit nahmen preußische Regierungsbehörden sogar die polnischen Zuwanderer gegen Angriffe aus der Bevölkerung in Schutz. Mitglieder einer ostpreußischen Gemeinde hatten sich nämlich 1874 in einer Petition an die Behörden gewandt, die »unheimlichen Gäste« aus dem russischen Polen, denen vorgeworfen wurde, den Lohn zu drücken und dem Wehrdienst zu entfliehen, vor ihrer Einbürgerung abzuschieben. Dieser Forderung setzte der Oberpräsident von Ostpreußen entgegen, daß die ortsansässigen Polen »willige und größtenteils fleißige Leute« seien, die von Handwerksmeistern und Besitzern gern angenommen würden. Die Klage wegen Lohndrückerei sei lediglich den »exorbitanten Forderungen der einheimischen Arbeiter und ihrer Trägheit zuzuschreiben ..., wenn sie sich we294 S. GSTA Dahlem, Rcp. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 3. 295 Oberpräsident der Provinz Posen an PrMdl, 17.5.1871, GSTA Dahlem, Rcp. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. 296 PrMdl an Oberpräsident der Provinz Posen, 11.11.1871, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. 297 Daten für die Zuwanderer polnischer Nationalität aus Rußland enthält die »Nachweisung über die an Einwanderer aus Rußland erteilten Naturalisations-Urkunden« aus den Jahren 1849 bis 1880, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Beiheft 1. Stichproben aus den fünf Regierungsbezirken mit der höchsten Zuwanderungsrate (abgesehen vom Regierungsbezirk Marienwerden, für den keine hinreichend differenzierten Daten vorlagen), d. h. für Gumbinnen, Posen, Bromberg, Oppeln, Königsberg, und die Stadt Berlin, ergaben für die folgenden acht Stichjahre (die Naturalisationen von Polen in Klammern): 1849 (97), 1850 (77), 1855 (185), 1860(364), 1865 (320), 1870 (252), 1875 (415), 1880 (126). Der Höhepunkt der Einbürgerungen lag also in der Mitte der siebziger Jahre. Von insgesamt 17.534 Naturalisationen russischer Staatsangehöriger in Preußen zwischen 1849 und 1880 entfielen 9.038 auf Angehörige der polnischen Nationalität.

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niger gut fort bringen könnten«.298 Zwar gab es auch in den siebziger Jahren scharfe Restriktionen. So ersuchte die preußische Regierung 1873 mit Nachdruck alle Bundesregierungen, russische und galizischc Emigranten polnischer Nationalität nur dann zu naturalisieren, wenn sie »jedem politischen Treiben« fernständen. Auch blieben die einwandernden Polen aus dem »höheren Bürger- oder Adelsstand« zu ihrer Naturalisation einer besonderen Genehmigung des Oberpräsidenten unterworfen.299 Doch folgten diese Beschränkungen einer klaren politischen Logik. Sie zielten speziell auf die polnische Elite und auf Kreise, die nationalpolitisch schädlicher Aktivitäten verdächtigt wurden. Damit war nicht die Gesamtheit der polnischen Einwanderer gemeint, die vielerorts als ökonomisch nützlicher Bevölkerungszuwachs begrüßt und naturalisiert wurden. Die Wende zu den achtziger Jahren brachte eine Zäsur in der Einbürgerungspolitik sowohl gegenüber Polen als auch gegenüber Juden.300 Dieser Vorgang erklärt sich vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden politischen Wandels der politischen Atmosphäre insgesamt. Der Boom der Gründerzeit war von einer schweren industriellen Depression abgelöst worden, zu der in der Mitte der siebziger Jahre eine schwere Agrarkrise kam. Die liberale Regierungspartei zerfiel. An ihrer Stelle begann Bismarck mit einer Koalition konservativer Parteien zusammenzuarbeiten. In scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen wurden Katholiken, Sozialisten und Angehörige der nichtdeutschen Nationalitäten, Dänen, vor allem aber Polen, zu »Reichsfeinden« deklariert. In diesem politischen Klima-Umschwung vollzog sich der Aufstieg eines neuen Reichsnationalismus. Auf der konzeptionellen Grundlage einer Volks- und Kulturnation verschärfte er althergebrachte Feindstereotypen nach außen und erzeugte neue Feinderklärungen nach innen. Zum Leitbild entwickelte er die innere Homogenität der Nation,301 die konkurrierende nationale und religiöse Loyalitätsbindungen stigmatisierte und verdrängte. In dieser Phase wirtschaftlicher Krise und verschärfter deutsch-polnischer Auseinandersetzungen in den preußischen Ostprovinzen zu Beginn der achtziger Jahre ergriff die preußische Regierung umfassende Abwehrmaßnahmen aus Anlaß einer Flüchtlingswelle aus Rußland, insbesondere aus dessen polnischen Provinzen. Auf Drängen Bismarcks, der die Flüchtlinge aus Osteuropa, insbesondere Polen und Juden, als »unerwünschte Elemente« von Preußen fernhalten wollte,302 formulierte der preußische Innenminister Puttkamer 1881 298 Beschwerde von Angehörigen der Gemeinde Lautenberg, 31.1.1874; Oberpräsident der Provinz Preußen an Mdl, 30.4.1874 , GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. 299 PrMdl an Oberpräsidenten der Provinz Posen, 11.11.1871; PrMdl an alle Bundesregierungen, 17.3.1873, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. 300 S. dazu Kap. V.3. 301 Vgl. Wehler, Gesellschaftsgcschichte, Bd. III, S. 953. 302 Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck laut Protokoll einer Besprechung des Staatsministeriums vom 22.5.1881, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Beiheft 1.

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das System der preußischen Abwehrpolitik, das bis zum Ende des Kaiserreichs Gültigkeit behielt. Die Maßnahmen waren dem Wortlaut nach auf russische Staatsangehörige bezogen. Tatsächlich zielten sie aber, wie eine geheime Zusatzanweisung zur Erhebung aller Naturalisationen aus den »polnischen« Provinzen Rußlands erkennen ließ, auf Angehörige polnischer Nationalität und jüdischer Konfession. Puttkamer wies die nachgeordneten Behörden an, die Einbürgerung russischer Staatsangehöriger nur in Ausnahmefällen zuzulassen. Die Einwanderung sollte sorgfältig kontrolliert, Russen in grenznahen Gebieten einer genauen Überprüfung unterzogen werden. Die Polizeibehörden waren gehalten, periodisch solche Menschen auszuweisen, um den Staat von unerwünschten Fremden zu befreien. Die Verschränkung verschärfter Grenzkontrollen, individueller und kollektiver Ausweisungen von Ausländern sowie der restriktiven Handhabung der Aufenthaltsgenehmigungen baute ein gestuftes System von Zugangshürden auf, das bereits die Voraussetzungen eines Einbürgerungsverfahrens stark beschränkte, vor allem einen längeren Inlandsaufenthalt dieser Menschen.303 Die Maßnahmen griffen nicht sofort und überdies uneinheitlich. Zwischen 1881 und 1883 wurden allein in den östlichen Regierungsbezirken Preußens und in Berlin 430 Russen eingebürgert, unter ihnen 136 polnischer Nationalität.304 In einer Kontroverse zwischen den Provinzialbehörden plädierte der Oberpräsident von Ostpreußen für eine Verschärfung der Zuwanderungsbestimmungen, während sein westpreußischer Kollege nochmals humanitäre Gesichtspunkte erwog. Es sei »eine alte Übung in unserem Staate, Ausländern, welche in ihrem Heimatland bedrückt und unglücklich waren, eine Zuflucht zu gewähren, und sie hat Preußen zum Ruhm gereicht«. Auch wenn er die russischen Polen in bezug auf »Betriebsamkeit und Kapitalbesitz« ausdrücklich nicht mit den Salzburgern und Hugenotten vergleichen wollte, hielt er den »Zuzug guter und billiger Arbeitskräfte« für wünschenswert. Freilich markierte auch er scharf die Grenze der Liberalität. Sie sei erreicht, falls der »Zuwachs des slawischen Elements« zu große Dimensionen annehmen sollte.305 Die Debatte wurde durch eine zentrale Entscheidung beendet. Im Februar 1885 sah sich Bismarck aufgrund der Einbürgerungsstatistik zum Handeln veranlaßt. Er setzte durch, daß »russische Untertanen«, die offiziell nicht als »Polen« zu bezeichnen seien, fortan grundsätzlich nicht mehr bzw. nur noch aus303 PrMdl an die Oberpräsidenten der Provinzen Posen und Preußen, 28.5.1881, GSTA Dahlem, Rcp. 77,Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4.; Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 92, unter der Perspektive der antijüdischen Stoßrichtung der Maßnahmen. 304 Vgl. PrMdl an das Auswärtige Amt, 23.11.1884, mit einer Übersicht der Naturalisationen in den östlichen Regierungsbezirken Preußens vom 28.5.1881 bis zum 1.10.1883, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. 305 Oberpräsident der Provinz Ostpreußen an PrMdl, 15.8.1882; Oberpräsident der Provinz Westpreußen an PrMdl, 3.5.1882 und 13.7.1882, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4.

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nahmsweise mit ministerieller Genehmigung naturalisiert werden durften. Die weitere Maßnahme wirkte noch einschneidender, nämlich die »umfassende Ausweisung« aller russischen Staatsangehörigen, die sich nicht zu Reisezwekken in Preußen aufhielten. Von der folgenden Massenausweisung russischer und österreichischer Polen in den Jahren 1885 und 1886 war bereits die Rede. Nationalpolitische Maßnahmen gegen polnische Einwanderer, welche die nationalpolnische Bewegung in den preußischen Ostprovinzen zu stärken drohten, verbanden sich dabei - wie in der preußischen Abwehrpolitik insgesamt mit antisemitischen Beweggründen.306 Von den etwa 32.000 Ausgewiesenen war etwa ein Drittel Juden.307 Antisemitische und antipolnische Motive verstärkten sich gegenseitig. Den Primat der Nation gegenüber der Ökonomie, der sich mit diesen Maßnahmen dauerhaft durchsetzte, begründete die preußische Staatsführung grundsätzlich: »Wir halten es bei aller Anerkennung der Landwirtschaft als des wichtigsten aller Gewerbe, doch für ein geringeres Übel, daß einzelne Gebiete Mangel an Arbeitskräften haben als daß der Staat und seine Zukunft leidet«.308 Die zentrale Lenkung durch das Ministerium blieb fortan fester Bestandteil der antipolnischen Einbürgerungspolitik, wobei zudem die sprachlichen Anforderungen verschärft wurden.309 Lockerungen des Einbürgerungsverbots wurden lediglich für Polen eingeführt, die als Angehörige der zweiten Generation im Deutschen Reich lebten. Sic zeigten, wie sehr die Wahrnehmung der sich zunehmend verschärfenden nationalpolitischen Konflikte die Spielräume der preußischen Polenpolitik verengte. In der Mitte der neunziger Jahre löste sich die Frage nach dem Aufenthaltsstatus der polnischen Ausländer von dem hergebrachten Muster der Behandlung kleinerer, fluktuierender Gruppen politischer Flüchtlinge und landwirtschaftlicher Arbeiter ab. Die Nachkommen der Polen, die Massenausweisungen in den Jahren 1885/86 in Preußen entgangen waren, stellten die zweite, allmählich bereits die dritte in Preußen ansässige Generation von Zuwanderern polnischer Nationalität. Mit dem Übergang zum Einwanderungs- und Arbeitseinfuhrland stieg die Zahl ausländischer Arbeitskräfte polnischer Nationalität, die in die preußischen Ostprovinzen wanderten, sprunghaft an. Zu306 Dazu eingehend Neubach, S. 4f, 22.; Wertheimer, Unwelcome Strangers, S. 60f. 307 Nach den Berechnungen Neubachs, Die Ausweisungen von Polen und Juden, S. 129. Die Zahlen für die Juden werden von Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 963, übernommen, der allerdings von 48.000 ausgewiesenen Polen spricht. 308 Preußischer Ministerpräsident und Kultusminister an PrMdl, 11.3.1885, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 5. 309 Nach kurzer Lockerung 1892 wurde 1895 die ministerielle Genehmigung für alle Einbürgerungen verpflichtend gemacht und ab 1898 für »Personen polnischer oder mährischer Abstammung« aufrechterhalten , die zudem nachweisen mußten, daß sie der »deutschen Sprache in Wort und Schrift hinlänglich mächtig« waren, PrMdl an Regierungspräsidenten (Cirkular), GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 16.

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gleich begannen langansässige ausländische Polen wie auch preußische Staatsbürger polnischer Nationalität von den agrarisch geprägten östlichen in die industriellen westlichen Provinzen Preußens zu ziehen, wo beide Gruppen ähnlich ›fremd‹ waren. Die tatsächlichen Unterschiede zwischen ausländischen und preußischen Staatsangehörigen polnischer Nationalität begannen sich zu verwischen. Die veränderte Situation verlangte aus der Sicht der preußischen Verwaltung nach einer rechtlichen Neubestimmung, die das Innenministerium im Jahre 1900 den Oberpräsidenten der drei östlichen Provinzen vorgab. Leitend war die doppelte Überlegung, einerseits die Dauerniederlassung zuwandernder Saisonarbeiter zu verhindern, andererseits den ansässigen Polen der zweiten Generation grundsätzlich die Möglichkeit der Einbürgerung und Integration zu eröffnen. Der Erlaß erhielt den Grundsatz aufrecht, daß Polen der älteren Generation von der Einbürgerung ausgeschlossen blieben. Die Einbürgerungsmöglichkeit wurde nur männlichen Nachkommen der zweiten Generation, und zwar den 1885 im Inland verbliebenen polnischen Ausländern, eingeräumt, während die Nachkommen der nach 1885 ins Inland Gelangten gleichfalls grundsätzlich nicht eingebürgert werden sollten. Dahinter stand die Überlegung, daß die ausländischen Polen, die von den Massenausweisungen 1885 verschont worden waren, besonders integrationswürdig erschienen und einen langjährigen, verfestigten Aufenthaltsstatus genossen. Die Angehörigen dieser privilegierten zweiten Generation wurden vor eine Entscheidung gestellt: Sie mußten bei Eintritt in das wehrfähige Alter die Einbürgerung beantragen und dazu ihre Wehrdienstfähigkeit nachweisen. Verweigerten sie diese Nachweise ihres staatsbürgerlichen Integrationswillens, mußten sie zwingend ausgewiesen werden. Sie konnten auch ansonsten des Landes verwiesen werden, falls ihr persönliches Verhalten, politische und wirtschaftliche Gründe sowie die mangelnde Beherrschung des Deutschen in Wort und Schrift der Einbürgerung widersprachen.310 Das Ministerium stützte mithin die Einbürgerungswürdigkeit - außer auf die allgemeinen politischen und ökonomischen Voraussetzungen - auf zwei Säulen: auf die kulturelle Assimilation durch die Sprache und auf die staatsbürgerliche durch den Wehrdienst. Bezogen auf diesen Aspekt blieben freilich Entscheidungsspielräume: Reichte die subjektive Bereitschaft zum Wehrdienst aus, oder verbot die objektiv erwiesene Wehruntauglichkeit eines jungen Polen seine Einbürgerung und löste gar die Ausweisungspflicht aus? Diesen harten Konsequenzen suchte das Innenministerium auszuweichen, indem es 1904 in einem letzten Liberalisierungsversuch vorschlug, die Wehrdienstfähigkeit junger Polen aus Familien, die bereits vor 1885 im Land ansässig geworden und 310 PrMdl an Minister der geistlichen Angelegenheiten, 30.6.1900; PrMdl an die Oberpräsidenten von Ostpreußen, Westpreußen und Posen, 30.6.1900, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17.

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»christlicher Religion« waren, als zwingende Einbürgerungsvoraussetzung fallenzulassen.311 Doch scheiterte dieser Vorschlag an dem entschiedenen Widerspruch der beiden Provinzen, in denen die deutsch-polnischen Nationalitätenkämpfe am schärfsten ausgetragen wurden: Die Oberpräsidenten Westpreußens und Posens sprachen sich aus »nationalpolitischen Rücksichten« grundsätzlich dafür aus, ein generelles Einbürgerungsverbot für alle ausländischen Polen zu verhängen bzw. den gesamten männlichen Nachwuchs bei Erreichen des militärpflichtigen Alters auszuweisen. Da diese konsequenten Maßnahmen aber »Schwierigkeiten« begegneten, war es nach ihrer Auffassung jedenfalls unbedingt geboten, Wehruntaugliche von der Einbürgerung auszuschließen und sie gegebenenfalls auszuweisen.312 Die Härte des Nationalitätenkampfes verbiete die Gemeinsamkeit in einer Staatsangehörigkeit, lautete die Schlußfolgerung des westpreußischen Oberpräsidenten, der für ein Einbürgerungsverbot den »Volkscharakter« der Polen, »ihre politische Unzuverlässigkeit und jegliche(n) Mangel an Garantien für ihre spätere loyale Haltung« ins Feld führte.313 Auch die mildere Praxis der Oberpräsidenten von Schlesien und Ostpreußen,314 die für die Einbürgerung junger Polen die Militärtauglichkeit nur in Einzelfällen verlangten und auf die »große Härte« weitergehender Regelungen hinwiesen, veranlaßte das Innenministerium nicht zu einer generellen Lockerung der Einbürgerungskriterien. Statt dessen wurde die regional unterschiedliche Praxis fortgesetzt.315 Zwar waren differenzierte Zwischentöne nicht zu überhören. Auch scharfe Verfechter einer harten antipolnischen Linie im Nationalitätenkampf erkannten, daß die sprachlichen Unterschiede zwischen jungen polnischen Ausländern, deren Väter und Großväter bereits in Preußen geboren waren, und den polnischen Preußen vielfach eingeebnet waren. Selbst Behörden konnten sie oftmals nicht unterscheiden, so daß z. B. die unehelichen Kinder polnischer Ausländerinnen als Preußen registriert wurden.316 311 PrMdl an Oberpräsident von Posen, 6.5.1904 und 20.10.1904, GSTA Dahlem, Rcp. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 19. 312 In der Grundaussage einig, in der Konsequenz härter der Oberpräsident von Posen an PrMdl, 8.11.1904, sowie Oberpräsident von Westpreußen an PrMdl, 1.11.1904, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 19. 313 Oberpräsident von Westpreußen an PrMdl, 1.11.1904, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 19. 314 Zur Praxis im Ruhrgebiet, Brcpohl, S. 184f.; Franke, S. 23, der noch im Jahre 1939 in den meisten Fällen ein »langsames, beharrliches Hineinwachsen des Andersvölkischen in den deutschen Kulturkreis« feststellt, zumal das Ruhrgebiet niemals »eine gewaltsame Umvolkung« erlebt habe. 315 Oberpräsident Schlesien an PrMdl, 7.11.1904; Oberpräsident Ostpreußen an PrMdl, 19.12.1904; daraufhin Vermerk PrMdl, 19.1.1905, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 19. 316 So eingehend der Oberpräsident von Westpreußen an PrMdl, 1.3.1906, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 20.

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Doch unterlagen diese Einsichten dem Primat des Nationalitätenkampfes. Unter strenger Geheimhaltung wurden die antipolnischen Abwehrvorschriften zur Vermeidung von Umgehungen auch den anderen Bundesstaaten zur Beachtung anempfohlen.317 1906 wurden sie auf Angehörige tschechischer Nationalität ausgedehnt, um alle »slawischen Elemente« zu treffen, deren Einbürgerung nationalpolitisch bedenklich erschien.318 Der nationalpolitische Kampf diktierte die Einbürgerungspolitik. Die politischen Vorbehalte wurden zudem verstärkt durch Unterströmungen der kulturellen und ökonomischen Geringschätzung, die der polnischen Nationalität begegneten. Sie traten im behördlichen Schriftverkehr nur in Andeutungen zutage, schärften aber erkennbar eine Mentalität, die von der Abwehr zur bewußten Abgrenzung überging. Junge ausländische Polen, welche die Einbürgerung in einer der umkämpften Ostprovinzen Preußens anstrebten und ebenso gut deutsch sprachen wie ihre preußischen Altersgenossen, durften keiner nationalpolnischen oder sozialdemokratischen Umtriebe verdächtig und sollten möglichst auch nicht Juden sein. Eingebürgert wurden sie aber nur, wenn sie mit der Ableistung des Wehrdienstes den Beweis ihrer Integrationsbereitschaft erbrachten. Dies waren die Hindernisse, die der preußische Staat der polnischen wie sonst keiner anderen Nationalität bei der Einbürgerung entgegenstellte und weitgehend für das gesamte Deutsche Reich verbindlich machte. Die nationale Staatsangehörigkeit im Deutschen Kaiserreich konstituierte sich damit als eine spezifisch antipolnischc. Die Handhabung der deutschen Staatsangehörigkeit zeigte jedoch nicht nur antipolnische, sondern auch antijüdische Züge. Diese Feststellungen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander. Die Gruppen jüdischer und polnischer Zuwanderer waren in der Realität des Kaiserreichs vielfach identisch. Noch mehr deckten sie sich in den Augen der Bürokratie. Die Abwehrvorschriften gegen Polen zielten - vor dem Hintergrund ihrer Entstehung immer auch explizit oder implizit gegen Juden. Die parallele Entwicklung beginnt mit der Phase relativer Liberalisierung in den beiden Jahrzehnten vor und nach der Reichsgründung. Nicht nur Ausländer polnischer Nationalität, sondern auch Juden wurden in diesem Zeitraum verstärkt eingebürgert. Mehr als ein Drittel der in den altpreußischen Regierungsbezirken zwischen 1849 und 1880 Eingebürgerten aus den polnischen Provinzen Rußlands, nämlich 3.036 von 9.038, waren jüdischer Konfession. Die Einbürgerungsraten dieser ›polnischen‹ Juden erreichten zwischen 1870 und 1880 Anteile von 14,7% bis 317 Vgl. die entsprechenden Zusicherungen der Bundesstaaten auf Ersuchen Preußens 1907, GSTA Dahlem, Rep. 77,Tit. 227, Nr. 4, Bd. 20. 318 PrMdl an die Regierungspräsidenten (Cirkular), 18.2.1906, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 20. Die bestehenden Einbürgerungsgrundsätzc für die Angehörigen der zweiten Generation wurden bestätigt durch PrMdl an Minister der geistlichen Angelegenheiten, 20.9.1910, ebd., Bd. 22.

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37,3 % aller aus Rußland Eingebürgerten.319 Zwischen 1880 und 1910 stieg der Anteil der Ausländer unter der jüdischen Wohnbevölkerung des Reiches von 2,7 % auf 12,8 %, von 18.000 auf insgesamt knapp 80.000. Der Anteil der sogenannten »Ostjuden«, d. h. der Juden aus Rußland und den Ländern der Habsburgermonarchie, lag dabei durchweg bei 88 %. Also verschmolz das Bild des jüdischen Ausländers in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit mit dem »Ostjuden«, der vielfach aus den polnischen Provinzen Rußlands und Österreichs stammte.320 Zwei Beobachtungen schließen sich daran an: Zum einen ist das Wahrnehmungsbild des »Ostjuden« ein weiterer Grund für die vielfache Gleichsetzung und parallele Behandlung von Polen und Juden in der preußischen Einbürgerungspolitik. Zum anderen läßt der hohe, weit über dem Bevölkerungswachstum liegende Anteil der »Ostjuden« unter den jüdischen Ausländern und der Juden unter den Ausländern insgesamt vermuten, daß ein ›Einbürgerungsstau‹ unter den jüdischen Ausländern des Kaiserreichs bestand. Denn im behandelten Zeitraum wurde Deutschland erstmals in der Moderne zum Einwanderungsland für Juden. Zwischen 1895 und 1905 wanderten 11.000 mehr Juden in das Deutsche Reich ein, als es verließen:321 ein Faktor, der den zunehmenden Willen zur Seßhaftwerdung und den allgemein steigenden Wunsch nach Einbürgerung nahelegt. Aus allem läßt sich damit die Annahme herleiten, daß Juden besonders hohe Einbürgerungshindernisse in den Weg gelegt wurden. Die Genese dieser spezifischen bürokratischen Hindernisse setzt in der ersten Hälfte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts an. Die Abwehrmaßnahmen ergaben sich aus der verstärkten Zuwanderung russischer Juden, die vor Pogromen und wirtschaftlicher Not aus dem Zarenreich in das Deutsche Reich flohen. Die Entschiedenheit und Rigidität, mit der sie durchgesetzt wurden, hatten jedoch eine tiefere Ursache: Antijüdische Vorbehalte wurden durch eine Homogenitätsvorstellung der Nation genährt, deren radikale Ausprägung ein neuer politischer Antisemitismus war, in dem sich die zentralen Tendenzen eines pessimistischen, krisenverhafteten, antiliberalen und aggressiven Zeitbewußtseins bündelten. Seit dem Ende der siebziger Jahre tauchte in Deutschland eine neue, radikalisierte Form der Judenfeindschaft auf, die sich vom traditionellen Antijudaismus in mehrfacher Hinsicht unterschied. Die religiöse Feinderklärung wurde durch Argumente einer neuen Rassetheorie (pseudo)wissenschaftlich ergänzt und zunehmend ersetzt. Der moderne Antisemitismus trat organisiert in Parteien und Verbänden in der Öffentlichkeit in Erschei319 Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 79. 320 Vgl. dazu Wertheimer, Unwelcome Strangers, Table I, S. 185, Table IV Jewish and Gentile Aliens from Eastern Europe (by nationality), S. 196. Der Anteil der Angehörigen polnischer Nationalität ist jedoch aus den Angaben über die Staatsangehörigkeit der östlichen Nachbarländer des Deutschen Reiches nicht mehr zu ermitteln. 321 Vgl. mit weiteren Nachweisen Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 74.

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nung. Er wollte schließlich die liberale Errungenschaft der Emanzipation rückgängig machen und Juden unter diskriminierendes Sonderrecht stellen, bis hin zu ihrer Absonderung und Vertreibung aus der homogenen Nation.322 In diesem veränderten politischen Klima vollzog sich die verschärfte Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik gegenüber Juden, mit der Preußen zu Beginn der achtziger Jahre den anderen Staaten des Reichs voranging.323 Es kennzeichnet den reaktionären Charakter der preußischen Abwehrpolitik, daß sie antijüdisches Sonderrecht aus der Zeit vor der Durchsetzung der Emanzipation wiederaufnahm und mit neuen Motiven systematisch zuspitzte. Entgegen der emanzipatorischen Absicht des Bundesgesetzes von 1870, vor den Augen einer kritischen Öffentlichkeit geschützt durch den Arkanbereich der Verwaltung, erneuerte Preußen ab 1883324 den besonderen ministeriellen Zustimmungsvorbehalt für die Einbürgerung von Juden, der nach kürzerer Lokkerung in der Ära Caprivi bis zum Ende des Kaiserreichs aufrechterhalten blieb.325 Damit behielt die Regierung die zentrale Kontrolle über die lokale Einbürgerungspraxis und konnte eine liberalere Handhabung der Einbürgerungsregeln in den Kommunen weitgehend unterbinden. Während z. B. der Breslauer Magistrat die Einbürgerung von Juden grundsätzlich befürwortete, sofern nur keine sozialen Gründe entgegenstanden, beharrten die staatlichen Behörden, von Ausnahmefällen abgesehen, auf der politischen, antisemitisch motivierten Exklusion der jüdischen Bewerber.326 Das Privileg erleichterter Einbürgerung für festangestellte ausländische Bedienstete im Kirchendienst, welches das Gesetz von 1870 vorschrieb,327 wurde ab dem Jahre 1884 den Juden dadurch vorenthalten, daß das preußische Innenministerium die Arbeitserlaubnis für jüdische Synagogenbedienstete von einer ministeriellen Genehmigung abhängig machte, die das obsolete preußische Judengesetz von 1847 vorschrieb.328 Damit behielt das Ministerium zugleich die Kontrolle über den Kernbereich des jüdischen Gemeindelebens, das ζ. Β. für rituelle Schlachtungen auf die dauerhafte Beschäftigung ausländischer jüdi322 Wehler, Gescllschaftsgeschichtc, Bd. III, 924; Volkov, luden in Deutschland, S. 47-53. 323 Zur preußischen Polenpolitik im ganzen Bmbaker, Citizenship, S. 128-132. 324 Vgl. IVertheimer, Unwantcd Elements, S. 47, 55: Ein Erlaß vom 4. Juli 1898 bestätigte die feste Praxis bis zum Ende des Kaiserreichs. 325 Nach der Aufhebung der ministeriellen Zustimmungsvorbehalte im Circular des PrMdl vom 20.7.1892 sicherte sich 1893 der Oberpräsident von Ostpreußen (Schreiben an PrMdl , 31.8.1893) ein Zustimmungsrecht, bevor durch Erlaß des PrMdl vom 3.2.1895 alle Einbürgerungen der ministeriellen Zustimmung unterworfen wurden, die mit Erlaß vom 4.7.1898 für die Gruppen der Geistlichen, Juden und »Personen polnischer und mährischer Abstammung« aufrechterhalten wurden, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 14, 15 und 16. 326 Deutlich herausgearbeitet bei van Rahden, Juden, S. 282, 293, 297; Schüler-Springorttm, S. 174f. 327 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 1870 (Bundesgesetzblatt 1870, S. 355), §9. 328 PrMdI an AA, 25.6.1900, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 16.

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scher Schächtcr angewiesen war.329 Noch weiter ging die bayerische Ausschlußpraxis, die unter Hinweis auf die »staatsamtlichen Funktionen«, die Inhaber des Pfarramts nebenher bekleideten, israelitische Kultusgemeinden von Anfang an nicht als »Kirchen« im Sinne des Gesetzes und damit als staatlich privilegierte Glaubensgesellschaften anerkannte.330 Die Maßnahmen gegen die »unerwünschten Elemente«, mit denen Bismarck insbesondere Juden meinte, sollten vor allem den »Zuzug desjüdischen Proletariats« aus Rußland unterbinden.331 Dem entsprach der Berliner Polizeipräsident, indem er die Einbürgerungsrate russischer Juden, die im Jahre 1882 25 % der Einbürgerungsanträge gestellt hatten, bei 1 % hielt.332 Entsprechend ihrer restriktiven Haltung gegenüber polnischen Zuwanderern drängten die Oberpräsidenten von Ostpreußen und Posen auch auf Beschränkung der jüdischen Zuwanderung und drangen damit bei der Regierung durch.333 Die erwähnten Massenausweisungen der Jahre 1885/86 trafen allein 1 ().()()() Juden und waren auch in erster Linie gegen sie gerichtet.334 Die detaillierteste und zugleich schärfste Reglementierung der Einbürgerungsvoraussetzungen335 zielte auf die Gruppe der Juden, mehr noch auf die der Polen. Diese blieben zwar wie Juden der »ersten Generation« grundsätzlich aus »nationalen und politischen« Gründen von der Einbürgerung ausgeschlossen, doch war diese Regelung nochmals verschärft für die dem »Handels- und Gewerbestand« angehörigen Juden in den östlichen Provinzen Preußens. Selbst wenn die individuelle Berufstüchtigkeit eines Juden der ersten Generation anerkannt sei, müsse er in Ermangelung eines »besonderen wirtschaftlichen Interesses« dann abgelehnt werden, wenn wie z. B. in Posen »das jüdische Element derart überwiege, daß eine Verstärkung des letzteren ... nicht angebracht sei«. Während für männliche polnische Einbürgerungsbewerber der 329 Wertheimer, Unwantcd Elements, S. 46; ders., Jewish Lobbyists, S. 147-149, mit dem Beispiel der jüdischen Gemeinde Dirschau, die 1907 die strikt auf ein Jahr befristete Arbeitserlaubnis für einen rituellen Schächter aus Rußland erlangte. 330 Bayerisches Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegcnheiten an das Ministerium der Justiz, 13.4.1912, BIISTA, Ministerium des Innern, Nr. 74142. 331 Preußischer Ministerpräsident an PrMdl, 11.2.1882, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Beiheft 1. 332 Von 231 Gesuchen stammten 59 von russischen Juden, davon wurden 3 eingebürgert, Polizeipräsident Berlin an PrMdl, 10.12.1883, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. Dabei seien insbesondere »zweifelhafte Existenzen« ohne Pässe nicht eingebürgert worden, um das »Proletariat« nicht zu vermehren. Zu den folgenden Ausweisungen vom Sommer 1884, vgl. Neubach, S. 18f. 333 Oberpräsident von Posen an PrMdl, 12.8.1882, und Oberpräsident von Königsberg an PrMdl, 24.2.1884, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 1176, Nr. 2a, Bd. 4. 334 Neubach, S. 4f., 22, 144f. 335 Vgl. zum Folgenden die Zusammenstellung der Grundsätze der Naturalisation (175 Seiten; undatiert, angesichts der darin enthaltenen Jahresdaten nach 1903 angelegt), GSTA Dahlem, Rcp. 77, Tit. 227, Nr. 53, Beiheft 2.

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»zweiten Generation«, die in Preußen geboren und aufgewachsen waren, die Tauglichkeit zum Dienst mit der Waffe nicht mehr zwingend vorausgesetzt wurde, sofern sie der christlichen Religion angehörten, galt dies für Juden ausnahmslos. Auch leitende Beamte, die eine Lockerung der Wehrpflichtkriterien für Polen befürworteten, schlossen sie für Juden ausdrücklich aus:336 Nur ihre nachgewiesene Wehrtauglichkeit ermöglichte die Naturalisation, sofern dieser nicht staatliche, kommunale und wirtschaftliche Interessen entgegenstanden. So verfügte das Innenministerium über einen als »besonders tüchtig« anerkannten Techniker, seine Einbürgerung in Posen müsse abgelehnt werden, da dort das jüdische Element bereits überwiege und nicht verstärkt werden dürfe.337 Juden standen noch unter den Polen am unteren Ende einer Skala der ›Einbürgerungswürdigkeit‹. Sie sollten ersichtlich als Sondergruppe getroffen werden. In ihnen bündelten sich nationale, wirtschaftliche und konfessionelle Ablehnungsgründe und verfestigten sich in jahrzehntelanger Verwaltungspraxis zu einem festumrissenen Negativbild. Festzuhalten bleibt allerdings, daß auf der Ebene allgemeiner Regelung nur relative, grundsätzlich überwindbare Einbürgerungsschranken errichtet wurden. Die Einbürgerungswürdigkeit der Juden blieb an ihre Religionszugehörigkeit sowie an wirtschaftliche und militärische Zweckerwägungen gebunden. Diese Erwägungen sind insgesamt auch für die Verwaltungspraxis des Kaiserreichs bestimmend gewesen. Auch gab es durchaus die nüchterne Einsicht, daß der preußische Staat nicht umhinkam, Juden, die bereits in der dritten Generation im Land ansässig waren und Ausweisungsschutz genossen, schließlich einzubürgern.338 In seltenen Ausnahmefällen konnten auch Einbürgerungsbeschränkungen durch besondere Fürsprache oder Leistungen überwunden werden. So wurde ein jüdischer Bankier, obwohl er im Ausland bleiben wollte, auf besondere Fürsprache von Bismarcks Bankier Gerson von Bleichröder eingebürgert. Im besonders restriktiven Ostpreußen verwandte sich ein Regierungspräsident für einenjüdischen Kaufmann, weil er der evangelischen Kirche einen Kronleuchter gestiftet und gute Dienste als »Kundschafter« geleistet habe.339 Die Abwehrmaßnahmen gegenüber Juden waren also nicht völlig starr. Sie kannten Ausnahmen und unterlagen einer bürokratischen Kontrolle, die durch das Gleichmaß auch ein Minimum an Berechenbarkeit und Rechtsstaatlichkeit einhielt. Die »nicht zu leugnende Härte«340 der Maßnahmen wurde jedoch 336 Vgl. die Unterscheidung in PrMdI an Oberpräsident Posen, 20.10.1904, und Oberpräsident Ostpreußen an PrMdl, 19.12.1904, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 19. 337 Vermerk PrMdl, 2.5.1901, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 17. 338 PrMdl an Regierungspräsident Köln, 7.3.1910, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 21. 339 PrMdl an Reichskanzler, 3.11.1874, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 10; Regierungspräsident Gumbinnen an PrMdl, 14.8.1893, ebd., Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Beiheft 1. 340 Preußischer Minister des Innern in der Sitzung des Staatsministeriums, 13.2.1907, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2253.

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selbst im inneren Kreis der preußischen Staatsregierung eingeräumt. In deren vertraulichen Beratungen traten auch tieferliegcnde Präferenzmuster und Abwehrmotive deutlicher hervor, die ansonsten im behördlichen Schriftverkehr verdeckt blieben. Als in den Jahren nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905 verstärkt jüdische Zuwanderer nach Preußen gelangten, begegnete ihnen die preußische Regierung mit massiver Ablehnung. Der preußische Ministerpräsident und Reichskanzler von Bülow verlangte eine »energische Abweisung« der jüdischen Zuwanderung. Für ihn zeigte sich »die politisch radikale Gesinnung des Judentums überhaupt« darin, daß Juden auch in der sozialdemokratischen Bewegung Deutschlands eine führende Rolle einnnähmen. »Die Revolution in Rußland sei ihr Werk und die Solidarität des Judentums« gehe so weit, daß sogar an der Berliner Börse Sammlungen für die Revolution veranstaltet würden.341 Der Unmut konzentrierte sich auf die russisch-jüdischen Studenten. Der preußische Finanzminister schlug vor, durch Erhöhung der Kollegiengelder den »Zuzug der minderwertigen slawischen und jüdischen Studenten« fernzuhalten.342 Die Konturen des Vorstellungsbildes von einem internationalen sozialistischen Judentum, das kulturell nicht hoch zu bewerten sei, hob sich um so schärfer vor dem Hintergrund des Gegenbilds ab. Für erwünscht hielt Reichskanzler von Bülow nämlich die Zulassung von »einwandfreien Elementen, so von Engländern, Amerikanern, Italienern, auch aus Griechenland und Rumänien [...],weil durch sie freundliche Beziehungen zwischen den Völkern geknüpft [würden] und deutsche Kultur in das Ausland getragen« werde.343 Verrieten diese Außerungen noch hergebrachte judenfeindliche Stereotypen und Ablehnungsmuster, ließ sich auf der Ebene des Einzelfalls, in der Art der Begründung und in sprachlichen Nuancierungen das Vordringen neuer, absoluter Ablehnungsgründe feststellen, die biologische und rassische Unterscheidungsmerkmale unterlegten. Ein selten eindeutiges Beispiel ist die Marginalie zu einem Runderlaß des preußischen Ministerpräsidenten aus dem Jahre 1911. Hier heißt es: »Die grundsätzliche Nichtaufnahme von ausländischen Juden erfolgt nicht wegen ihres Glaubensbekenntnisses, sondern wegen ihrer Abstammung und Rasseeigenschaften. Diese werden durch die - aus geschäftlichen Gründen angestrebte - Taufe nicht behoben«.344 341 Protokoll der Sitzung des Staatsministeriums, 18.12.1905, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2253. 342 Der Vorschlag scheiterte am preußischen Kultusminister, der statt dessen die Einschränkung der Naturalisation verlangte, Protokoll der Sitzung des preußischen Staatsministcriums, 20.12.1905, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2253. 343 Protokoll der Sitzung des Staatsministeriums, 13.2.1907, GSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2253. 344 Vgl. Runderlaß des Preußischen Innenministers an die Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin, 7.2.1911, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 22.

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Die Fernhaltung von Juden und Polen war die Klammer, die aus den föderativen Einbürgerungspolitiken der Bundesstaaten eine nationale machte. Die amtliche Korrespondenz der Bundesstaaten zeigt, wie Preußen seinen hegemonialen Anspruch in der Abwehrpolitik durchzusetzen vermochte. Als die preußische Regierung zwei Jahre nach der Reichsgründung den Nachteilen der neugeschaffenen Freizügigkeit dadurch zu begegnen suchte, daß sie die anderen Länder zur politischen Kontrolle polnisch-russischer Einbürgerungsbewerber anhielt, gingen die Bundesstaaten, allen voran Bayern und Baden, darauf bereitwillig ein.345 Sie setzten gleichfalls ebenso wie Württemberg die Verschärfung der Abwehrkriterien im Zuge der preußischen Massenausweisungen der Jahre 1885/86 um, und zwar auch gegen Bedenken der nachgeordneten Behörden. Als z. B. die Regierung von Mittelfranken langansässige Einbürgerungsbewerber von der Verschärfung ausnehmen wollte, ermahnte sie die bayerische Regierung zu »großer Strenge« gegenüber jüdischen Zuwanderen! aus Rußland. Ausnahmen kamen nur gegenüber Katholiken in Betracht.346 Die badische Regierung nutzte den Fall eines jüdischen Bewerbers, der mit der Naturalisation in Baden seine Ablehnung in Preußen zu umgehen versuchte, um die Einbürgerungsentscheidung politisch aufzuwerten und straffer in der Hand der höheren Verwaltungsbehörde zu konzentrieren.347 Antijüdische Untertöne verbanden auch die Bchördensprache in den Bundesstaaten. So wurde auf Drängen Preußens der Einbürgerungsantrag des Bankiers Emil Rothschild wegen einer, wie es übereinstimmend hieß, »mit großer Geriebenheit« durchgeführten Unterschlagung abgelehnt.348 1891 setzte die preußische Regierung im Bundesrat einen Beschluß durch, der ihr fortan ein Einspruchsrecht gegen jede Einbürgerungsentscheidung im Deutschen Reich sicherte. Damit wurde die institutionelle Konsequenz aus der koordinierten Abwehrpolitik gezogen und die Voraussetzung für eine nationale Staatsangehörigkeitspolitik geschaffen. Auf dieser Grundlage teilte die preußische Regierung im Zuge einer erneuten Verschärfung der Einbürgerungspoli345 Bayerisches Ministerium des Innern an die Regierungen (Runderlaß), 22.3.1873, BHSTA, Ministerium des Äußern, Nr. 92681; Badischer Minister des Innern an Staatsministerium, 10.4.1886, BGLA, Abteilung 233 (Staatsministerium), Nr. 27635. 346 Bayerisches Ministerium des Innern an die Regierung Mittelfranken, 10.8.1886; Ministerium des Äußern an Ministerium des Innern, 10.8.1886; Ministerium des Äußern an Ministerium des Innern, 28.3.1887 und 30.12.1888: keine Bedenken bei »katholischer Konfession«, BHSTA, Ministerium des Äußern, Nr. 92681. 347 Badisches Ministerium des Innern an Staatsministerium, 18.5.1888, BGLA, Abteilung 233, Nr. 27635; Badisches Ministerium des Innern an Staatsministerium, 28.3.1888, BGLA, Abteilung 236, Nr. 11128; Verordnung vom 14.6.1888, Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1888. 348 Preußische Gesandtschaft an Badisches Staatsministerium, 4.1.1890, BGLA, Abteilung 236, Nr. 11128; Bayerisches Ministerium des Innern an die Regierungen, 9.1.1890, Staatsarchiv München, Α 42036; zu sporadisch auftretenden Argumcntationsfiguren des rassischen Antisemi­ tismus in den Akten der Einbürgerungsverfahren s. van Rahden, Juden, S. 280.

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tik gegenüber »Ostjuden« und slawischen Einbürgerungsbewerbern nach 1905 den übrigen Bundesstaaten die preußischen Richtlinien zur Berücksichtigung mit. Sie wurden direkt umgesetzt349 oder - wie in Bayern - mit den landeseigenen Einbürgerungsrichtlinien verschmolzen.350 Die Praxis der Staatsangehörigkeitspolitik während der langen Friedenszeit des Deutschen Kaiserreichs läßt sich zusammenfassend als langgestreckter Prozeß fortschreitender Nationalisierung beschreiben, der sich auf mehreren Ebenen vollzog. Die sozialen Veränderungen der steigenden Wanderungsbewegungen während der Industrialisierungsphase verstärkten die Koordination und Angleichung der Einbürgerungspraxis in den Bundesstaaten, die damit gemeindeutsche Strukturen der Staatsangehörigkeit herauszubilden begann. Mit den deutschen Gebietsgewinnen infolge der Einigungskriege wurde die Option für die deutsche Staatsangehörigkeit zu einer Option für den deutschen Nationalstaat: Die Staatsangehörigkeit geriet zum Mittel nationaler Integration. Der vordringende Reichsnationalismus, zum Teil in Verbindung mit einer neuen, radikalen Form der Judenfeindschaft, prägte die höhere Beamtenschaft, ihre Politik statistischer Erhebung und ihre Entscheidungspraxis in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten. Der Nationalitätenkampf im Innern des Deutschen Reiches forcierte schließlich in doppelter Weise die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit. Die rechtliche Institution der Staatsangehörigkeit verlor nach innen ihre vereinheitlichende soziale Wirkung. Es entstanden nach nationalen Kriterien diskriminierte Gruppen von Staatsbürgern erster und zweiter Klasse‹. Nach außen wirkten sich die Nationalitätenkämpfe in einer restriktiven Einbürgerungspraxis aus, die insbesondere Polen, aber mehr noch Juden traf. Die Staatsangehörigkeit trug somit zur Konstituierung der deutschen Nation bei, als Instrument der Unterscheidung von ›fremd‹ und ›zugehörig‹, von Freund und Feind.

349 Württembergisches Ministerium des Innern an die Kreisregierungen, 16.2.1907, WHSTA, El 51/02, Büschel 984: Ausdehnung des Naturalisationsverbots auf »sämtliche polnischen Ausländer« und Bereiterklärung, keine Einbürgerung aus diesem Personenkreis ohne Absprache mit der preußischen Regierung vorzunehmen. 350 Vgl. die Zusammenfassung der - mit den preußischen weitgehend übereinstimmenden bayerischen Einbürgerungsrichtlinien auf den preußischen Vorstoß hin, Bayerisches Ministerium des Innern an das Ministerium des Äußern, 14.3.1907, BHSTA, Ministerium des Innern, Nr. 74140.

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VI. Die Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats: Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913

Nationalitätenkämpfe und Wandlungen des nationalen Selbstverständnisses veränderten die Praxis der Einbürgerungspolitik im Deutschen Kaiserreich. Wie tief der Wandel war, zeigte sich daran, daß er in Grundlagen der Staatsangehörigkeitspolitik eindrang: in das zentrale Bundesgesetz von 1870. Ein Menschenalter nach der Verabschiedung des Gesetzes im Norddeutschen Reichstag entstand eine Reforminitiative im Deutschen Reichstag, die eine Veränderung im Entstehungsprozeß der Staatsangehörigkeitsregeln insgesamt anzeigte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts waren die Grundregeln über die deutsche Staatsangehörigkeit entweder den Reform- und Rationalisierungsbestrebungen der staatlichen Bürokratie - z. B. im preußischen Untertanengesetz von 1842 oder der Neugründung eines Staates - in der Paulskirchenversammlung und bei der Gründung des Deutschen Reiches - gefolgt. An der Wende zum 20. Jahrhundert drängten erstmals organisierte politische Kräfte aus dem Innern der deutschen Gesellschaft auf eine neue - nationale - Gestaltung der grundlegenden Zugehörigkeitsregeln zum deutschen Nationalstaat.

1. Die Reform: Initiativen und Gegenkräfte Gegen Ende des Jahres 1894 brachte eine Gruppe von 33 Reichstagsabgeordneten einen Antrag auf Änderung des Bundesgesetzes von 1870 ein. Die Initiatoren kamen aus der Reichspartei und der Konservativen Partei, in ihrer überwiegenden Mehrzahl aber aus der Nationalliberalen Partei. Ihre Initiative enthielt zwei Forderungen, die den Kern der zwei Jahrzehnte währenden politischen Reformdiskussion bildeten. Die Abgeordneten ersuchten die verbündeten Regierungen, »baldigst dem Reichstage einen Gesetzentwurf zur Abänderung des Gesetzes vom 1. Juni 1870 über den Erwerb und den Verlust der deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeit vorzulegen und in demselben die Grundsätze einer Erschwerung des Verlustes der deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeit, der durch Aufenthalt im Ausland her278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

beigeführt wird, sowie der Erschwerung der Naturalisation der Fremden im Deutschen Reiche zur Geltung zu bringen.«1

Der nationalliberale Abgeordnete Ernst Hasse begründete die Initiative am 6. März 1895 vor dem Deutschen Reichstag. Hasse sprach nicht nur als Vertreter der stärksten Gruppe, die den Antrag unterstützte. Als Professor für Statistik an der Universität Leipzig trat er vor dem Parlament mit wissenschaftlicher Autorität auf. Vor allem aber sprach er zugleich als Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes, der die Reichstagsinitiative mit einer gleichlautenden Petition2 unterstützte. Der Alldeutsche Verband war seit seiner Gründung im Jahre 18913 einer radikalen völkisch-nationalen Programmatik verpflichtet. Seine Agitation erhielt um so größere Durchschlagskraft, als der Verband von angesehenen Vertretern des protestantischen Bildungs- und Großbürgertums gegründet und geleitet wurde. Das Einflußgeflecht des Verbandes umfaßte höhere Staatsbeamte, Industrielle, konservative und nationalliberale Reichstagsabgeordnete, bekannte Ärzte, evangelische Geistliche, Hochschullehrer und Kolonialpolitiker, verband also führende Repräsentanten aus den Schlüsselbereichen des öffentlichen Lebens. Seinem Programm nach verfolgte der Verband eine doppelte nationalpolitische Stoßrichtung: Nach innen diente er »der Belebung des vaterländischen Bewußtseins in der Heimat« und der »Bekämpfung aller der nationalen Entwickelung entgegengesetzten Richtungen«. Nach außen betrieb er die »Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen in allen Ländern, wo Angehörige unseres Volkes um die Behauptung ihrer Eigenart zu kämpfen haben« sowie die »Förderung einer thatkräftigen deutschen Interessenpolitik in Europa und über See«.4 An den Grenzen des Reiches bedeutete dies eine Politik des ›Deutschtums‹, die sich gegen die »slawische Gefahr« richtete und eine völkische Minderheitenpolitik in Mitteleuropa forcierte. Dementsprechend unterstützte der Alldeutsche Verband die ihm ideologisch eng verbundenen Gründer des »Deutschen Ostmarkenvereins« , der sich gegen die »slawische Gefahr« richten sollte.5 Die Reichstagsinitiative folgte in ihrer Doppelstruktur genau einer Entschließung, die der Alldeutsche Verband im Juni 1894 gefaßt hatte und mit der er aus einer verbandsinternen Krise heraus erneut die Initiative in der Deutsch-

1 Reichstag, 9. Legislaturperiode, 3. Session, Anl1, S. 101, Aktenstück Nr. 36, Antrag Dr. Hasse, Graf von Arnim und Genossen vom 5.12.1894. 2 Verhandelt in Drucksache Nr. 463, Reichstag, 9. Legislaturperiode, 4. Session (1895/97), Anl.3, S. 2248. 3 Hervorgegangen aus dem von Carl Peters 1886 gegründeten Allgemeinen Deutschen Verband zur Förderung überseeischer deutsch-nationaler Interessen, s. dazu Peters. 4 Laut Satzung der Gründungsversammlung des »Allgemeinen Deutschen Verbandes« von 1891, der 1894 in »Alldeutscher Verband« umbenannt wurde, vgl. ebd., S. 19. 5 S. ebd., S. 30, 204.

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tumspolitik zu gewinnen trachtete.6 Die Staatsangehörigkeit wurde zum nationalpolitischen Instrument, das in zweifacher Hinsicht konservativ wirkte: Sie sollte das ›Dcutschtum‹ im Staatsinnern wie im Ausland gegen den Andrang »Fremder«, gegen Vermischung und Auflösung schützen und es ausbauen. Zur Begründung seines Antrags entfaltete der Statistiker Hasse vor dem Reichstag detailliertes Zahlenmaterial, mit dem er den Umbruch in der Wanderungssituation des Reiches seit Beginn der neunziger Jahre dokumentierte.7 Er zeigte den Übergang Deutschlands zum Einwanderungsland bei gleichzeitig anhaltender Auswanderung. Den Anteil der »Sprach- und Rassefremde(n)« im Reich bezifferte er auf neun Prozent der Gesamtbevölkerung, wobei »die größere Hälfte dieser Fremden aus dem Osten stammt und deshalb vermuthlich slawischer oder semitischer Abstammung ist.« Auf der Grundlage dieses Materials entwickelte Hasse ein Bild der Bedrohung. Für ihn verfügte das Deutsche Reich über einen »Überschuß an Volkskraft«, angesichts dessen jede namhafte Einwanderung nicht nur »überflüssig«, sondern sogar »schädlich« sei. Sie enthielt - und das war Hasses Kernargument - einen Angriff auf die ›I Iomogenität‹ des deutschen Volkes, das vom Andrang »Sprach- und Rassefremder« bedroht sei. Wie sehr diese Homogenitätsvorstellung von einer tatsächlichen oder vorgegebenen Empfindung nationaler Minderwertigkeit vorangetrieben wurde, zeigte Hasses Vergleich: »Im Gegensatz zu anderen Kulturvölkern, dem französischen, italienischen und englischen, istja an sich schon das deutsche Volk sehr wenig homogen gestaltet.« Zur Verteidigung dieser Homogenität sollte nunmehr die Politik der Staatsangehörigkeit und Einbürgerung ein nationales Bollwerk errichten. Hasse schlug deshalb eine doppelte Beschränkung der Einbürgerung vor. Danach sollte »grundsätzlich überhaupt nicht oder so wenig als möglich naturalisiert werden«. Ein bevorzugter Anspruch auf Einbürgerung sollte allein »deutschte(n) Volksgenossen« zustehen. Damit zielte Hasse ausdrücklich auf die in Rußland lebenden Balten sowie die nach Südrußland und nach Amerika ausgewanderten Deutschen, die nach Deutschland zurückkehren und die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangen wollten. Andererseits solle die Staatsangehörigkeit Fremden, die »in nationaler Hinsicht minderwerthig« seien, fortan verschlossen bleiben. Hasse unterstrich die Gewichtsverschiebung weg von materiellen und sozialen hin zu nationalen Einbürgerungskriterien: »Ich meine, eine Bürgschaft für das Wohlverhalten, für die nationale Gesinnung künftiger Generationen liegt weniger darin, daß ein Einwanderer über ein größeres Vermögen verfügt, als in seiner Abstammung«.8 Der Primat ethnisch-kulturel6 Vgl. die Entschließung des Alldeutschen Verbandes auf seinem ersten Kongreß 1894, Brubaker, Citizenship, S. 116; Peters, S. 29. 7 Vgl. Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Niederschriften (kurz: RT-Prot.), 9. Legislaturperiode, 53. .Sitzung, 6.3.1895, S. 1277-1280. 8 Vgl. RT-Prot., 9. Legislaturperiode, 53 .Sitzung, 6.3.1895, S. 1279.

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ler Abstammung als Kernkriterium der nationalen ›Homogenität‹ deutscher Staatsangehörigkeit war damit erstmals grundsätzlich und mit Schärfe zur Grundlage einer Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts erhoben. Die grundlegende Bedeutung dieses Ansatzes bestand darin, daß Hasse aus ihr die zweite Reformforderung als systematische Konsequenz entwickeln konnte. Zur Erhaltung der Integrität eines ›homogenen‹ deutschen Volkes gehörte die Erschwerung des Verlusts der Reichsangehörigkeit. Hasse konnte mit Genugtuung auf die Tradition nationalliberaler Staatsangehörigkeitspolitik verweisen, die bereits im Norddeutschen Reichstag für eine Lockerung der starren Verlustbestimmungen bei mehr als zehnjährigem Aufenthalt im Ausland eingetreten war.9 Er bekräftigte zweieinhalb Jahrzehnte nach Gründung des deutschen Nationalstaats nunmehr mit neuem Nachdruck das »Interesse eines selbstbewußten und mächtigen Reichs« - wie andere selbstbewußte Nationalstaaten auch - ,die »Verfügung« über seine Reichsangehörigen zu behalten. Über Hasses legitimatorisches Bemühen um Kontinuität hinaus war grundlegend neu die systematische Grundlegung der ›äußeren‹ in der ›inneren‹ Deutschtumspolitik. Nicht mehr-jedenfalls nicht maßgeblich -die außenpolitischen Motive nationalstaatlicher Konkurrenz und imperialen Machtanspruchs trugen die Reforminitiative, sondern die Erfahrungen jahrzehntelanger Nationalitätenkämpfe im Innern des Reiches, verstärkt durch die Bedrohungsvorstellung einer neuen Einwanderung. Dieser historische und politische Zusammenhang der beiden Reformziele blieb fortan bestehen, auch wenn in der folgenden Reformdebatte der ›äußere‹ Aspekt politisch stärker in den Vordergrund trat. Die politische Durchschlagskraft beider Zielsetzungen lag gerade in ihrem Zusammenhang, auch wenn dieser nicht immer öffentlich namhaft gemacht wurde. Wie sehr der nationale Gedanke die Systematik des hergebrachten Staatsangehörigkeitsrechts aufweichte, zeigte das Abrücken vom Prinzip der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeit. Hasse unterstrich, daß die doppelte Staatsangehörigkeit im Ausland lebender Deutscher nicht nur hinzunehmen, sondern im nationalpolitischen Interesse ausdrücklich zu erleichtern sei. Dem hergebrachten föderativen Prinzip fremd war schließlich sein abschließender Reformvorschlag nach Einführung einer einheitlichen nationalen Kontrolle der Einbürgerungspolitik durch eine neu zu schaffende »Reichszentralstelle«. Damit hatte Hasse den Reformkanon umrissen, der die Debatten der folgenden zwei Jahrzehnte bestimmte: die innere und äußere Stärkung einer ethnisch-kulturell homogenen staatlichen Gemeinschaft und ihre effiziente, zentrale Kontrolle durch den Nationalstaat. Von wem aber ging - nach der Vorstellung der Gesetzesinitiatoren - der Angriff auf die nationale ›Homogenität‹ der deutschen Staatsangehörigkeit aus? 9 S. Kap. IV.3.

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Wer stand hinter der Bedrohungswahrnehmung, die sich im Gesetzesantrag der Nationalliberalen und Konservativen in den neutralen Terminus »Fremde« kleidete? Um diese Frage zu beantworten, muß der konservativ-nationalliberale Antrag in seinem parlamentarischen Umfeld gesehen werden. Zur gleichen Zeit waren nämlich dem Reichstag zwei weitere Anträge vorgelegt worden, welche die gleiche Stoßrichtung, die Fernhaltung Fremder, verfolgten, auch wenn sie bereits bei der Einwanderung ansetzten: Die Initiative von 35 konservativen Abgeordneten forderte ein Gesetz, das »Israeliten, die nicht Reichsangehörige« waren, die Einwanderung über die Grenzen des Reiches untersagte. Der Gesetzesantrag einer Parlamentariergruppe aus den antisemitischen Parteien ging in seinem Ausschlußprogramm noch darüber hinaus. Er verlangte neben einem Einwanderungsverbot auch die Ausweisung soeben eingewanderter ausländischer jüdischer Gewerbetreibender. Hinzu kam ein ausdrückliches Einbürgerungsverbot für Juden. Das Feindbild dieser Gruppen war eindeutig, ebenso seine Begründung bis hin zu radikaler Feindseligkeit. Der Abgeordnete Jacobskötter begründete den Antrag der konservativen Parlamentarier damit, daß die im Land befindlichen Juden das gesamte öffentliche und gewerbliche Leben ungünstig beeinflußten, um so mehr aber die einwandernden »fremden Elemente«, die dem »deutschen und christlichen Volksleben schädlich« werden könnten.10 Erinnerten bereits diese Formulierungen an das Diktum Heinrich von Treitschkes aus dem Berliner Antisemitismusstreit von 1879/80 »Die Juden sind unser Unglück«, fügte der konservative Abgeordnete eine Liste landläufiger antijüdischer Vorbehalte hinzu. Vom Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs, der den deutschen Mittelstand schädigte, über den Konkursschwindel bis hin zur jüdischen Presse, welche die »allerheiligsten Güter« in den Schmutz ziehe, reichten die Vorwürfe. Ein weiterer konservativer Unterzeichner bekannte sich freimütig zum »Rassenantisemitismus« und folgerte daraus: »Ein Zigeuner wird kein Deutscher durch die heilige Taufe, so hoch ich in religiöser Beziehung deren Werth anerkenne; ebenso wenig wird ein Jude durch die Taufe Deutscher«, die Juden seien »ein anderes Volk« als die Deutschen.11 Damit war, fast ein halbes Jahrhundert nach der Paulskirchenversammlung, die Unvereinbarkeitsthese Moriz Mohls erneuert: »Juden können nicht Deutsche sein«.12 Die Vertreter der antisemitischen Parteien wurden noch deutlicher. Sie sprachen unzweideutig von einem »parasitischen Volk«, von »Rassefremdheit«, »Cholerabazillen« und »Judengesindel«.13 Sie bekämpften die Juden nicht aus religiösen Gründen, sondern, wie es der Abgeordnete Ahl10 RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 27.2.1895, S. 1144f. 11 Abgeordneter Freiherr von Langen, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 6.3.1895, S. 1290, 1294. 12 S.o. Kap. III.3. 13 Abgeordneter Bindewald, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 47. Sitzung, 27.2.1895, S. 1146; Abgeordneter Ahlwardt, ebd., 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1297f.

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wardt formulierte, weil sie »eine andere Rasse bilden, ein anderes Volk mit ganz anderen Eigenschaften«. Selbst in den Parteien, die in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit gegen eine antijüdische Ausnahmegesetzgebung eingestellt waren, zeigten sich verbale Zugeständnisse an antijüdische Stimmungen. Der sozialdemokratische Sprecher Vogtherr, der sich im übrigen für »unbedingte Gleichberechtigung« aussprach, bekundete gleichwohl Verständnis dafür, daß »verletzte Gefühle nach irgend einer Richtung haben dazu führen können, sich beispielsweise der antisemitischen Bewegung anzuschließen«, und plädierte dafür, stärker darauf zu achten, welches »Menschenmaterial« in das Land einwandere. Dafür mußte er sich von dem Konservativen Freiherr von Langen, der sich für den Rassenantisemitismus aussprach, trotz der Ablehnung des Gesetzentwurfs ein gewisses »antisemitisches Gepräge« seiner Ausführungen entgegenhalten lassen.14 Die Ambivalenz in den Worten des SPD-Sprechers entsprach Stimmungsschwankungen in der Position der SPD insgesamt. Während die politische Führung und Programmatik der Partei strikt gegen den Antisemitismus auftraten, waren in der breitenwirksamen Unterhaltungspresse vielfach antisemitische Stereotypen nachweisbar, die auf die Tiefenwirkung eines antisemitischen »kulturellen Codes« auch in der Mitgliedschaft der SPD hindeuteten.15 Eine ähnliche Ambivalenz war in der Haltung der stärksten Reichstagsfraktion, bei den Sprechern des Zentrums,16 zu spüren. Wie die SPD sprach sich die im Kulturkampf diskriminierte katholische Partei gegen jede konfessionelle Ausnahmegesetzgebung aus. Während also der Zentrumsabgeordnete Rickert mit statistischer Genauigkeit gegen die verbreitete Annahme einer jüdischen Masscneinwanderung‹ argumentierte, erinnerte sein Fraktionskollege Lieber daran, mit »welcher Brutalität und Bosheit gerade jüdische Federn« während des Kulturkampfes alles, was der Partei »heilig« gewesen sei, »in den Koth gezogen« hätten.17 Im liberalen Lager wollten die Nationalliberalen, die mehrheitlich »gegen jedes Ausnahmegesetz für einen bestimmten Volksstamm stimmten«, doch zugleich auch keine »Lanze brechen für all und jeden Juden«, die nach den Worten des Fraktionssprechers durchaus zu den fremden ›Elementen‹ gehören konnten, die eine Gefahr für das »deutsch-nationale Leben« bedeuteten.18 Die 14 Abgeordneter Vogtherr, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 47. Sitzung, 27.2. 1895, S. 1149, sowie die Replik ebd., 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1302; Abgeordneter Freiherr von Langen, ebd., 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1290. 15 Vgl. dazu Leuschen-Seppel, S. 259f.; Henke, S. 92f.;Volkov,Juden in Deutschland 17801918, S. 52, 120 (Antisemitismus als »kultureller Code«). 16 Zur gespaltenen Haltung der Zentrumspartei, in der ausgeprägte antisemitische Vorbehalte aus politischem Räsonnemcnt und Sorge um den katholischen Selbstschutz zurückgestellt wurden , eingehend Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus, insbes. S. 238f., 265. 17 Abgeordneter Rickert, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1283; Abgeordneter Lieber, ebd., S. 1286. 18 Abgeordneter Paasche, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 47. Sitzung, 27.2.1895, S. 1152.

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Fraktion teilte sich in einige Unterstützer des Antrags Hasse/von Arnim und die Mehrheit der Befürworter einer konsequent liberalen Linie. Lediglich die linksliberalen Parteivertreter machten keinerlei verbale Zugeständnisse an antisemitische Haltungen und beharrten sowohl auf der Gleichberechtigung als auch der öffentlichen Gleichachtung der jüdischen Konfession. Der Abgeordnete Hermes führte den statistischen Nachweis, daß »das Gerede von der jüdischen Masseneinwanderung nichts ist als eine Fabel«, daß sich der jüdische Bevölkerungsanteil bis 1890 aufgrund der Auswanderung eher verringert als vermehrt habe. In Anspielung auf Treitschkes Diktum wandte er sich dagegen, Juden die Schuld für die »ganze Misere unserer gegenwärtigen schlechten wirthschaftlichen und sozialen Verhältnisse« anzulasten, und stellte der antisemitischen Vorstellung einer ethnisch-rassischen Abstammungsgemeinschaft das Gegcnmodell entgegen: »Wer ist Deutscher? Jeder in Deutschland Geborene oder hier Naturalisierte ist ein Deutscher«. In einem Staat, der die Freiheit des religiösen Bekenntnisses gewährleistete, hielt er es für einen »Widersinn, von den deutschen Juden als Nichtdeutschen oder Fremden sprechen zu wollen«.19 Der Antrag der konservativ-nationalliberalen Abgeordneten fiel also in eine politische Atmosphäre der Ambivalenz, in der die Parlamentsmehrheit ebenso ein Ausnahmerecht gegen Juden ablehnte wie Verständnis gegenüber antisemitischen Tendenzen aufbrachte. In dieser Atmosphäre bestand Einvernehmen darüber, auf wen ein Gesetzesvorschlag zielte, der, allgemein formuliert, die »Naturalisation von Fremden« erschweren sollte. Hasse leitete seine Antragsbegründung mit einem Bekenntnis gegen die antisemitische Bewegung ein, rechtfertigte sie jedoch zugleich im Nachsatz. Er wies den Antisemitismus aus den niederen Motiven der »religiösen Unduldung« und des »wirtschaftlichen Brodneides« zurück, aber er begrüßte einen allgemeinen Einstellungswandel, nach dem endlich die »Judenfrage aus dem Gesichtspunkt des berechtigten nationalen Egoismus und im Rahmen einer weitausschauenden nationalen Bevölkerungspolitik zu behandeln« sei. Er führte aus: »In der antisemitischen Bewegung, die jetzt in der ganzen Welt platzgreift, erblicke ich unter anderem den Ausdruck des sogenannten Nativismus, den wir überall da finden, wo ein selbstbewußtes Volksthum durch Bruchteile fremder Völker überschwemmt wird und sich nun gegen die hieraus sich ergebenden nationalen und wirtschaftlichen Nachtheile auflehnt.«20 Hasse wechselte damit schlicht die Motive für den Antisemitismus aus. Dieser bedurfte zu seiner Rechtfertigung ›höherer‹, allgemeinerer, ›wissenschaftli19 Abgeordneter Hermes, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1287, 1289; entsprechend Abgeordneter Eugen Richter, ebd., S. 1295. 20 Abgeordneter Hasse, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 9. LP, 3. Session, 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1277f.

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cher‹ Argumente, die das Theorem von der ›Homogenität‹ eines Staatsvolks begründeten und von dorther diejenigen ausschied, die »nach ihrer Sprache und nach anderen Merkmalen erkennen lassen, daß sie einer fremden Rasse angehören«. Seine Verwendung des Wortes »Rasse« war zwar noch nicht gleichbedeutend mit der radikalen biologischen Verengung des Begriffs. Hasse hielt kulturelle Kriterien wie die Sprache für konstitutive Merkmale der Rasse. Doch zog er zugleich keine scharfe Grenzlinie zu rassebiologischen Vorstellungen, ließ vielmehr die begriffliche Grenze offen, indem er religiöse Kriterien als irrelevant verwarf. Diese begriffliche Unschäfe eröffnete politische Spielräume, wie der zweite Hauptunterzeichner neben Hasse, der gleichfalls dem Alldeutschen Verband angehörende konservative Abgeordnete von Arnim - Muskau, verdeutlichte. Dieser begrüßte zugleich den Antrag der konservativen Abgeordneten auf ein Einwanderungsverbot für Juden, da er dem Vordringen der »slavisch-semitischen« Bevölkerung aus dem Osten Einhalt gebiete. Seiner Ansicht nach stellte der konservativ-nationalliberale Antrag das Anliegen nurmehr auf eine »breitere [...] Basis«.21 Der Gesetzentwurf, der die Reformdebatte um die deutsche Staatsangehörigkeit in Gang setzte, war seiner Form nach nicht explizit antisemitisch. Doch nahm er die Unterstützung der antisemitischen Bewegung nicht nur billigend in Kauf, sondern bezweckte sie. Die konservativen und nationalliberalen Abgeordneten, die den Antrag stützten, huldigten keinem offenen Antisemitismus, betrachteten diesen aber als Antriebsmoment ihrer eigenen, weiter ausgreifenden Zielsetzungen. Sie billigten und legitimierten ihn und lieferten die intellektuelle Rechtfertigung dafür, daß sich der Antisemitismus als »kultureller Code«22 auch in der politischen Debatte um die Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts etablierte. Daran änderte nichts, daß der Antrag keine Mehrheit fand. Im folgenden Jahr wurde er in Form einer Petition des Alldeutschen Verbandes der Reichsregierung als Material zu einer bevorstehenden Änderung der Gesetzgebung überwiesen.23 Während der politisch-parlamentarisch organisierte Antisemitismus auf dem Rückzug war,24 wirkte eine seiner zentralen Forderungen in einem ›neutral‹ formulierten Gesetzesantrag fort. Die Abwehr der »slavisch-semitische(n) Bevölkerung«,25 die der fortwirkenden Gesetzesinitiative zugrunde lag, bestimmte auch Überlegungen zur Gesetzesreform, die seit längerem in der Innenverwaltung des Reiches und Preußens 21 Abgeordneter von Arnim, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1302. 22 Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, S. 13-36. 23 Beschluß des Reichstags, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 141. Sitzung, 5.12.1896, S. 3755, aufgrund der Petition des Alldeutschen Verbandes (dazu Aktenstück Nr. 463, RT-Prot., 9. LP, 4. Session, Anlagcnband 3, S. 2248), die darüber hinaus einen Gesetzentwurf über das Auswanderungswesen enthielt. 24 Vgl. Levy, S. 195f. 25 Abgeordneter von Arnim, RT-Prot., 9. LP, 3. Session, 53. Sitzung, 6.3.1895, S. 1302.

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im Gange waren. Sie hatten unmittelbar vor der parlamentarischen Gesetzesinitiative 1894/95 ein Ergebnis erbracht. Die Überlegungen reichten weit zurück. Den ersten Anstoß dazu hatten bereits kurz nach der Reichsgründung das preußische Kriegs- und das Innenministerium gegeben, indem sie die Militärpflichtigkeit der nach Deutschland zurückkehrenden Kinder anmahnten, deren Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatten. Das dabei auftretende Problem der Wehrgerechtigkeit bezogen sie in besonderer Weise auf die dänischen Optanten, die mit ihren Kindern in Nordschleswig geblieben waren oder dorthin zurückkehrten. Die Frauen und Kinder insbesondere derjenigen Männer, die für Dänemark optiert und Nordschleswig aus Gründen der Wehrpflicht verlassen hatten, »werden dänische Staatsangehörige« - argumentierten die Minister - »und so ist die Möglichkeit vorhanden, daß durch Generationen sich in einem Teile Deutschlands das National-Dänentum fortpflanzt«. Um diesen Mißstand zu beseitigen, schlugen die Minister eine Gesetzesrevision vor unter Hinweis auf den »altenglischen Satz, daß jeder auf englischem Boden Geborene englischer Unterthan wird«: Auf deutschem Boden Geborene bzw. dort länger Ansässige sollten also deutsche Staatsangehörige werden. Der Vorstoß bedeutete nichts anderes als einen grundlegenden Prinzipienwechsel im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht. Die Abschaffung des Territorialprinzips im preußischen Untertanengesetz von 1842 und im Bundesgesetz von 1870 wäre damit rückgängig gemacht, das Monopol des Abstammungsprinzips gebrochen worden. Die vorgebrachten Gründe der nationalen Staatsräson und Wehrgerechtigkeit waren auch nicht durch Bedenken ethnisch-kultureller Assimilierbarkeit gemindert: Die staatlich-kulturelle Integrierbarkeit der Dänen wurde zu Beginn der 1870er Jahre noch ebensowenig als prinzipielles Problem gesehen wie die der Holländer im westlichen Preußen. Diese sollten - nach einem parallelen Vorschlag des Düsseldorfer Regierungspräsidenten - aufgrund eines längerfristigen Aufenthalts im Land die preußische Staatsangehörigkeit erwerben können.26 Doch blieb es zunächst nur bei Erwägungen, die daran scheiterten, daß die entstandenen Probleme nach Auffassung der preußischen Regierung mit dem hergebrachten Ausweisungsrecht zu lösen seien, ohne daß es einer Änderung des Staatsangehörigkeitsprinzips bedürfe.27 Wirklicher Veränderungsdruck ging erst zwei Jahrzehnte später von einer quantitativen Verschärfung des Problems aus. Bereits 1884 hatte der Statthalter von Elsaß-Lothringen angesichts 26 Vermerk Preußisches Ministerium des Innern und Preußisches Kriegsministerium an den Reichskanzler, 11.9.1872, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 1; PrMdl an Reichskanzler, 30.11.1872, ebd., Nr. 4, Bd. 10. Das Problem stellte sich für Holländer verstärkt, zumal diese nach dem holländischen Territo2rialprinzip nach mehr als fünfjährigem Aufenthalt im Ausland die holländische Staatsangehörigkeit verloren. 27 PrMdl an Regierungspräsident Düsseldorf, 31.3.1874, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4, Bd. 10; PrMdl an Regierung Schleswig, 22.2.1875, ebd., Nr. 53, Bd. 1.

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der wachsenden Zahl von »National-Franzosen« im Reichsland vor der Entstehung »vollständig französischer Kolonien« und dem Wehrpflichtentzug eines erheblichen Anteils der Aushebungsjahrgänge gewarnt.28 Beinahe ein Jahrzehnt später unternahm Fürst Hohenlohe als Statthalter von Elsaß-Lothringen einen umfassenden Vorstoß. Er ging dabei von dem grundsätzlichen Befund aus: »Die Steigerung der Verkehrsverhältnisse der Neuzeit und die nach dem Rechte der meisten Staaten bestehende Gleichstellung der Fremden mit dem Einheimischen in Bezug auf bürgerliche Rechtsverhältnisse haben aber in wachsendem Maße die Niederlassung von Inländern im Ausland und von Ausländern im Inland zur Folge. In letzter Beziehung entsteht die Gefahr, daß sich im Laufe der Zeit im Inland Kolonien von Fremden bilden, welche allmählich die Fühlung mit ihrem Fleimatlande einbüßen«. Diese Fremden würden unter Umständen staatenlos und lebten in dem Gastland mit Wohnort und Rechtsschutz, ohne doch dort ihren staatsbürgerlichen Pflichten zu genügen. Hohenlohe schlug deshalb eine Änderung des Reichsgesetzes vor, derzufolge »für die Kinder eines Ausländers durch Geburt im Inland die inländische Staatsangehörigkeit unter gewissen Voraussetzungen begründet werde«. Zu erwägen sei, die Gesetzesänderung über Elsaß-Lothringen hinaus auch auf andere Grenzregionen mit ähnlichen Problemen zu erstrecken.29 Bemerkenswert war, daß sich Hohenlohe unmittelbar auf die bedeutende französische Staatsangehörigkeitsnovelle von 1889 bezog. Dieses Gesetz, mit dem in Frankreich der säkulare Umbruch zum Territorialprinzip abschloß,30 wurde für den höchsten Beamten in Elsaß-Lothringen ausdrücklich zum Anlaß der von ihm vorgeschlagenen Neuregelung. Sein vergleichender Blick auf das französische Staatsangehörigkeitsrecht entsprang indessen einer jahrelangen aufmerksamen Beobachtung der französischen Novellierungsgesetzgebung durch die Reichsregierung. Bereits zwei Jahre vor Verabschiedung des französischen Gesetzes am 28. Juni 1889 hatte das Auswärtige Amt das preußische Innenministerium von den umfangreichen parlamentarischen Vorbereitungsarbeiten informiert. Die Novelle, die erstmals das französische Staatsangehörigkeitsrecht in einem gesonderten Gesetz zusammenfaßte, erregte wegen ihres inklusiven Charakters die besondere Aufmerksamkeit der deutschen Seite. Hinter der öffentlich bekundeten Absicht der französischen Regierung, mit der Ausdehnung des Territorialprinzips die Zahl der ständig auf französischem Boden lebenden Fremden zu verringern, erkannte der mißtrauische Blick der 28 Statthalter von Elsaß-Lothringen (Manteuffcl) an Staatssekretär von Hofmann, 28.8.1884, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2. 29 Statthalter von Elsaß-Lothringen Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst an den Reichskanzler Caprivi, 16.7.1892, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2. 30 Brubaker, Citizenship and Nationhood, S. 103f., 107.

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deutschen Diplomaten den verdeckten Zweck, die durch »mangelhaften Zuwachs der einheimischen Bevölkerung bedrohte Wehrkraft des Landes durch vermehrte Aufnahme des ausländischen Elementes zu heben«.31 Wie gewichtig das militärpolitische Motiv der französischen Neukodifikation tatsächlich war, ist nicht abschließend geklärt. Tatsächlich hat die neuere Forschung ergeben, daß es zumindest ein wichtiges Motiv darstellte.32 In der zeitgenössischen französischen Publizistik wurde nachdrücklich daraufhingewiesen, daß Frankreich, das nur zwei Drittel der Bevölkerung des Deutschen Reiches zählte, auch ein weitaus niedrigeres Bevölkerungswachstum aufweise. Französische Statistiker warnten vor einem »beängstigenden«,33 die Wehrkraft Frankreichs gefährdenden Problem. Somit lag es nahe, daß die deutsche Diplomatie den militärpolitischen Zweck der Novelle in das Zentrum stellte und alarmiert reagierte. Aufmerksam registrierte die deutsche Botschaft in Paris den raschen Anstieg der französischen Naturalisationen in den Jahren 1889 und 1890, darunter den steigenden Anteil Deutscher, vor allem aus Elsaß-Lothringen.34 Als der französische Kassationshof das neue Gesetz überdies erweiternd auslegte, indem er für den Erwerb der französischen Staatsangehörigkeit die Geburt auf französischem Boden auch dann genügen ließ, wenn nicht der Vater, sondern nur die Mutter dort geboren war, bedeutete dies ein weiteres Alarmzeichen. Diese neuartige matrilineare Erweiterung des französischen Staatsangehörigkeitsrechts schloß insbesondere die Kinder von Ausländern ein, die nach Frankreich eingewandert waren und eine dort geborene Französin geheiratet hatten. Zwar deutete auch der zu Rate gezogene Reichsstatthalter Hohenlohe dieses Urteil so, daß es im Widerspruch zur früheren Rechtsprechung stand und offenkundig darauf ziele, die Zahl der französischen Staatsangehörigen zu erhöhen, doch riet er von ursprünglich erwogenen Protestmaßnahmen ab, mit denen die französische Regierung öffentlich zur Aufhebung des Urteils gezwungen werden sollte.35 Hohenlohe sah nüchtern, daß Frankreich souverän in der Regelung seiner Staatsangehörigkeitsregeln war, und schlug statt dessen entsprechende Gegenmaßnahmen vor. 31 Deutsche Botschaft Paris an den Reichskanzler, 26.4.1892, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 41, Bd. 2. 32 Vgl. Weil, S. 471; Noiriel, Tyrannie, S. 88. 33 Vgl. ders., Le creuset franqais, S. 48; Lc Bras, S. 48. 34 Deutscher Botschafter Paris an das Auswärtige Amt, 20.2.1890 und 2.7.1892, der, gestützt auf die Angaben des Journal Officiel, für die Jahre 1889 bis 1891 die Deutschen vor den Italienern als Spitzengruppe der Eingebürgerten ausmachte. 1890 betrafen von 5.984 Einbürgerungsfällen allein 1.052 Deutsche aus Elsaß-Lothringen. 1891 waren es unter 5.371 Einbürgerungsfällcn allein 1.335 Elsaß-Lothringer, zudem 511 Deutsche aus den übrigen Bundesländern, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 41, Bd. 2. 35 Deutscher Botschafter Paris an den Reichskanzler, 26.4.1892; Kaiserlicher Statthalter von Elsaß-Lothringen an das Auswärtige Amt, 25.6.1892, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 41, Bd. 2.

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Der Novellierungsvorschlag des Reichsstatthalters von Elsaß-Lothringen ein Jahr vor dem Vorstoß der Reichstagsparteien war die einzige Initiative zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts während des Kaiserreichs, die von der staatlichen Verwaltung ausging. Er führte zu einem Meinungsbild, das eine einzigartige Bestandsaufnahme der politischen Bewertung und Funktion der Staatsangehörigkeitspolitik im Innenbereich der Verwaltung enthält. Denn der preußische Innenminister bat 1893 alle preußischen Provinzialbehörden um eine Stellungnahme zu dem Gesctzcsvorschlag Hohenlohcs.36 Mit seltener Genauigkeit läßt sich rekonstruieren, wie sehr vorhandene nationale Präferenzmuster der führenden preußischen Beamten durch die regionalen Besonderheiten ihrer Verwaltungsbezirke, also deren Einwanderungssituation, verstärkt wurden und von daher die politische Bewertung des Staatsangehörigkeitsrechts prägten. Dabei ergab sich in Preußen ein scharfer Ost-West-Gegensatz. Die Oberpräsidenten der bevölkerungsreichen und stark industrialisierten westlichen Provinzen Westfalen und Rheinland sprachen sich einhellig und mit Nachdruck für die Einführung des Territorialprinzips aus. Die in den Grenzbezirken dieser Provinzen ansässigen Ausländer waren überwiegend Einwanderer aus den benachbarten Staaten Belgien und Holland, die vielfach bereits in der zweiten Generation in Preußen lebten. Die Oberpräsidenten dieser Provinzen stellten insbesondere den Gedanken der Wehrgerechtigkeit in den Mittelpunkt, die Reziprozität staatlicher Rechte und Pflichten, die durch die Einführung des territorialen Prinzips der Staatsangehörigkeit gestärkt werden sollte. Der Oberpräsident von Westfalen versprach sich davon eine zusätzliche Stärkung für das »schwach(e) Staatsbewußtsein« in den Grenzgebieten mit katholischer Bevölkerung. Die Regierungspräsidenten von Aachen und Trier wiesen darauf hin, wie viele holländische und belgische Familien seit langem ansässig seien und keine Absicht zeigten, in ihr Heimatland zurückzukehren. Erst bei der Wehrerhebung entdeckten sie ihre fremde Staatsangehörigkeit wieder und erregten aus diesem Anlaß den Unmut der deutschen Staatsbürger, die zur Wehrpflicht herangezogen wurden. Die Ausführungen waren nicht nur von der Vorstellung, sondern ebenso von dem Wunsch getragen, die Ausländer durch die Einbindung in die staatliche Pflichtgemeinschaft auch gesellschaftlich zu integrieren. Gleiche Pflichten für alle ansässigen Bürger sollten den sozialen Frieden wahren. Wie günstig die Voraussetzungen dafür waren, unterstrich der Düsseldorfer Regierungspräsident im Hinblick auf die Kinder der holländischen Einwanderer. Die »hier geborenen und erzogenen Kinder betrachten die deutsche Sprache als ihre Muttersprache, nehmen deutsche Sitten und Gewohnheiten an, besuchen die deutschen Schulen und nehmen überhaupt an allen öffentlichen Einrichtungen theil wie Kinder deutscher Nationalität. Viele Söhne dieser 36 Auf die Anregung des Reichsinnenministeriums hin, Reichskanzler (Reichsamt des Innern) an den preußischen Innenminister, 24.6.1893, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2.

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Familien betrachten sich daher auch als Deutsche und melden sich zur Stammrolle an«. Sie würden sogar vielfach zum Wehrdienst herangezogen, ohne daß ihre Staatsangehörigkeit geprüft werde. Aus dieser Sicht war die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an lang ansässige ausländische Familien nur mehr der Abschluß und damit die Sanktionierung einer bereits gegebenen gesellschaftlichen und kulturellen Assimilation.37 Grundlegend anders stellte sich die Lage in der Provinz Schleswig-Holstein dar. Deren Oberpräsident sah zwar in der Nationalitätenfrage eine Parallele und die Dänen wie die Franzosen in Elsaß-Lothringen als einen »mächtige(n) Fremdkörper, der zäh an dem fremdländischen Wesen festhält und innerlich in steter Opposition zum preußischen Staat und zum deutschen Reiche verharrt«. Doch zielte der Oberpräsident gerade deswegen nicht auf ein territoriales Staatsangehörigkeitsprinzip, zumal dieses auch nicht assimilationswillige Dänen zwangsweise in den staatlichen Verband eingefügt hätte. Er setzte vielmehr angesichts eines Ausländeranteils, den er insgesamt für »nicht besorgniserregend« hielt, auf das hergebrachte Prinzip, die wehrpflichtigen jungen Dänen vor die Wahl zwischen dem Einbürgerungsantrag und der Ausweisung zu stellen. Zwar wurden die Dänen grundsätzlich für integrationswürdig gehalten, doch bot die hergebrachte Kombination aus Abstammungsprinzip und Einzeleinbürgerung die geeignetere Handhabe, um eine politische Kontrolle über die Einbürgerung auszuüben. Den eigentlichen Gegenpol zu diesen überwiegend integrationsbereiten und durchweg politisch geprägten Stellungnahmen der westlichen und nördlichen Verwaltungsprovinzen bildeten die vier Oberpräsidenten der preußischen Ostprovinzen. Ebenso eindeutig wie die beiden Oberpräsidenten der Westprovinzen für die Einführung des Territorialprinzips waren, sprachen sie sich dagegen aus. Die Oberpräsidenten Ost- und Westpreußens sowie Posens und Schlesiens befürchteten nämlich übereinstimmend38 erhebliche wirtschaftliche und nationale Nachteile, die aus der vermehrten staatlichen Integration ›östlicher‹ Zuwanderer entstehen könnten. Der Oberpräsident Schlesiens kennzeichnete scharf das Abwehrbild der »fremden Elemente [...] jüdischer, polnischer und russischer Familien«, die »schwer assimilierbar« seien. Wie die anderen Verwaltungschefs sah er in der nationalen Haltung der Polen das bedeutendste Hin37 Vgl. Oberpräsident von Westfalen an PrMdl, 3.10.1893; Regierungspräsident von Aachen an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Coblenz, 19.9.1893; Regierungspräsident von Trier an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 19.10.1893; Regierungspräsident von Düsseldorf an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, 24.11.1893, GSTA Dahlem, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2. 38 Lediglich der Regierungspräsident von Oppeln hielt den Rückgriff auf den französischen Grundsatz des ius soli für erwägenswert, um die »Rechtsunsicherheit« angesichts der unklaren Staatsangehörigkeitsverhältnisse vieler Einwanderer in der zweiten Generation zu beheben, s. Regierungspräsident von Oppeln an Oberpräsident von Breslau, 9.10.1893, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2.

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dernis: Wie Erfahrungen mit »einverleibten Polen im preußischen Staat« gezeigt hätten, halte »der Pole zäh an seinem nationalen Wesen fest. Den unausgesetzten Germanisierungsbestrebungen hat er bisher erfolgreich Stand gehalten.« Der Regierungspräsident von Marienwerder prognostizierte, daß die Gleichstellung als Staatsbürger die Polen keineswegs dahin führe, sich »als Deutsche zu fühlen«. Vielmehr werde das ›polnische‹ Identitätsgefühl durch die aus Rußland eintretenden Angehörigen der polnischen Nationalität nochmals gestärkt. Der Oberpräsident Ostpreußens markierte scharf den Unterschied zu Elsaß-Lothringen. Während im Reichsland die Nichtdeutschen vermeiden wollten, deutsche Staatsangehörige zu werden, sei es in Ostpreußen umgekehrt, denn die eingewanderten Familien hätten vielfach den Wunsch, die preußische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Dieser werde jedoch nur selten berücksichtigt, weil »die Naturalisation dieser Leute - mcistjüdisch-polnischer Nationalität - für die diesseitigen Staatsinteressen nicht wünschenswert« sei.39 Damit war der entscheidende Zusammenhang benannt. Den Einwanderern polnischer und russischer Nationalität - vielfach jüdischer Konfession - wurde zweierlei abgesprochen: zum einen die Bereitschaft zur Loyalität gegenüber dem deutschen Staat ungeachtet ihrer Aufnahme in den Staatsverband; zum zweiten ihre Einbürgerungswürdigkeit. In der Sicht der Oberpräsidenten zeigte sich ein unüberwindbarer Gegensatz zwischen der staatlich-rechtlichen und der kulturell-nationalen Zugehörigkeit, die durch die staatsrechtliche Integration der Zuwanderer - von Einzelfällen abgesehen - nicht mehr zu schließen war. Dabei beschrieben die höchsten Provinzialbeamten nicht nur eine politische Gegebenheit des scharfen Nationalitätcnkampfes im östlichen Preußen. Sie vertieften vielmehr ihrerseits den Zwiespalt, indem sie vorstaatliche und vorpolitische Wertungskriterien nationaler, sozialer und konfessioneller Art für wesentlich hielten. Die ›Einbürgerungswürdigkeit‹ rangierte noch vor der ›Einbürgerungsfähigkeit‹. Dahinter stand eine ebenso klare wie selten ausgesprochene Rangfolge. Der Berliner Polizeipräsident machte sie deutlich, indem er bedauerte, daß »die gebildeten und wohlhabenderen f...] Ausländer, namentlich Engländer und Amerikaner«, sich lediglich vorübergehend in Berlin aufhielten - im Unterschied zum »ausländische[n] Proletariat«. Er ließ keinen Zweifel daran, auf wen sich dieses Negativbild bezog, nämlich auf die »fast ausschließlich vom Hausier- und Zwischenhandel lebenden, in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung höchst bedenklichen russischen und galizischen Juden«.40 39 Regierungspräsident von Marienwerder an den Oberpräsidenten von Ostpreußen, 12.9.1893; Oberpräsident von Schlesien an das preußische Ministerium des Innern, 14.10.1893; Oberpräsident von Ostpreußen an das Preußische Ministerium des Innern, 23.11.1893, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Band 2. 40 Polizeipräsident Berlin an PrMdl, 19.10.1893, ähnlich Oberpräsident von Schlesien an PrMdl, 14.10.1893,

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Die Einführung des Territorialprinzips widersprach aus dieser Sicht der preußischen Abwehrpolitik, die auf genereller Fernhaltung in Verbindung mit ausnahmsweiser Naturalisation im Einzelfall beruhte. Die Einbürgerung der zweiten Einwanderergeneration aufgrund ihrer Geburt im Land hätte der preußischen Verwaltung die Handhabe genommen, Polen und Russen, insbesondere von niedriger sozialer Herkunft und jüdischer Konfession, aus dem preußischen Staatsverband und damit auch von dauerhafter wirtschaftlicher Konkurrenz fernzuhalten.41 Das prinzipielle Feindbild des armen Osteinwanderers gab schließlich den Ausschlag und verhinderte die Einführung des Territorialprinzips in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht. In einem zusammenfassenden Bericht4- für die Reichsregierung kam das preußische Innenministerium zu dem klaren Schluß, daß eine Gesetzesänderung nachdrücklich abzulehnen sei: Das Territorialprinzip werde andernfalls mnerwünschtc Elcmcntc‹ in die deutsche Staatsangehörigkeit aufnehmen, die zudem ein »fremder Körper im Staat« blieben. Während gegenüber den Dänen politische Vorbehalte galten, waren letztlich die Verhältnisse an den »Ostgrenzen« des Reiches ausschlaggebend. Das Ministerium machte sich uneingeschränkt die Argumente der Oberpräsidenten aus den vier Ostprovinzen zu eigen und stellte die Gegensätze innerhalb Preußens scharf heraus: Während im Westen vorwiegend »wohlhabende oder nutzbringendem Erwerb nachgehende Leute« die Einbürgerung beantragten, sei es im Osten »fast ausnahmslos polnisch-russisches, galizisches und darunter wieder vornehmlich jüdisches Proletariat«. In der Diktion von Kämpfern gegen feindliche Naturgewalten, die in den Zuwanderern keine Individuen, sondern eine anonyme Bedrohung sahen, erinnerte der Innenminister an die Ausweisungsaktion von 1885. Seinerzeit habe man »einen Strom von Einwanderern« über die »Grenzen zurückgeworfen« und ihr »Wiedereinbrechen« abgewehrt, so daß nunmehr eine »leidliche Säuberung von jenen zweifelhaften Elementen« gegeben sei. Einer Einbürgerung dieser ›Elemente‹ traute der Minister keinerlei Integrationskraft zu. Im Gegenteil: Eine Naturalisation werde sie nicht dem Deutschtum, sondern fast ausschließlich der dazu in Gegensatz stehenden polnischen Nationalität zuführen. Hinter diesem Argument verbarg sich das Eingeständnis der Unterlegenheit gegenüber der französischen Staatsangehörigkeitskonzeption, jedenfalls ihrer Unübertragbarkeit. Die Kraft der Franzosen, »assimilierend auf ihre Umgebung zu wirken« und »fremde Elemente« in die eigenen »Stammeseigentümlichkeiten« einzugliedern, sah der preußische Minister in Deutschland gerade 41 Der Oberpräsident von Posen (an PrMdl, 14.10.1893, GSTA Dahlem, Rep. 77,Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2) hielt es für erwünscht, die polnischen Saisonarbeiter in dem Gefühl zu erhalten, daß sie nur geduldet seien. 42 PrMdl an Reichkanzler und Reichsamt des Innern, 29.3.1894, GSTA Dahlem, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 53, Bd. 2.

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nicht. Für ihn bestand ein weiterer wesentlicher Unterschied darin, daß Frankreich die Zuwanderung »wertvoller Elemente« erlebe und zudem ein Interesse habe, seine geringe Bevölkerungszahl zu steigern. Die deutsche Staatsangehörigkeitspolitik - das war das Resümee - besaß weder die Kraft noch den Willen, sah auch nicht die Notwendigkeit, die Mehrzahl der ansässigen Ausländer zu loyalen deutschen Staatsbürgern zu integrieren. Der Gegensatz zu Frankreich wurde in der Argumentation des Ministeriums beinahe zu einer Naturgegebenheit stilisiert. Doch verdeckte dies nur eine politische Entscheidung: Der preußische Staat entschied sich gegen die staatliche Integration der vorhandenen Ausländer. Er stand vor der Wahl zwischen zwei Staatsangehörigkeitsprinzipien, die zugleich Regulative der Einwanderungspolitik darstellten. Bei der Abwägung der politischen Vorteile, welche die Einführung des assimilativcn Territorialprinzips im Westen des Staates versprach, gegen die Nachteile in den östlichen Grenzregionen, dem hauptsächlichen Einwanderungsgebiet, überwogen letztere. Im Rahmen dieser Abwägung spielte die Wahrnehmung fehlender ›Einbürgerungswürdigkeit‹ der in ihrer Mehrheit ›östlichen‹ Zuwanderer eine wesentliche Rolle. Antijüdischc und antipolnische Ressentiments flossen erkennbar in die Stellungnahmen der Verwaltungsführung ein. Daraus jedoch den Primat ethnisch-kultureller Wahrnehmungsmuster im Entscheidungsvorgang abzuleiten, hieße, den ökonomischen, vor allem den politischen Kontext des administrativen Diskurses zu verkennen. Die kulturellen und religiösen Vorbehalte gegenüber den ›östlichen‹ Einwanderern gingen nämlich immer einher mit Bedenken hinsichtlich ihres ökonomischen und sozialen Status. Im Unterschied zu den wohlhabenderen ›westlichen‹ Einwanderern erschienen sie den Behörden in einem materiellen, utilitaristischen Sinn nicht als ›wertvoller‹ Bevölkerungszuwachs. Insbesondere spiegelte der fehlende Glaube an die assimilative Kraft der deutschen Staatsangehörigkeit nicht eine ahistorische Konstante nationaler Selbstwahrnehmung, sondern er entsprang politischer Erfahrung der Zeitgenossen. Die Verschärfung der Nationalitätenkämpfe, obwohl z. B. die Angehörigen der deutschen Mehrheit und der polnischen Minderheit fast durchweg dieselbe Staatsangehörigkeit teilten, mußte aus staatlicher Sicht Skepsis gegenüber der politischen Integrationskraft der Staatsangehörigkeit wecken. Im Unterschied zum Vergleichsstaat Frankreich43 gab es im Innern des Deutschen Reiches organisierte, an Stärke zunehmende nationale Minderheitsbewegungen, die politischen Rückhalt im Ausland hatten und sezessionistische Tendenzen entwickelten. In dieser Lage konnte die Einführung territorialer Elemente in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht als Preisgabe staatlicher Entscheidungsmacht über die Einbürgerung bzw. Ausweisung als potentiell gefährlich eingestufter Ausländer gesehen werden, und sie wurde überwiegend so verstanden. 43 Näher dazu Gosewinkel, Staatsangehörigkeit in Deutschland und Frankreich.

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Die Entscheidung gegen das Territorialprinzip der Staatsangehörigkeit war wesentlich von Integrationsskepsis gegenüber ›östlichen‹ Einwanderern und Angehörigen dänischer Nationalität bestimmt. Sie bezog sich also auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, enthielt jedoch zugleich eine Weichenstellung der gesamten Einwanderungspolitik. Dies bedeutete um so mehr, als die Entscheidung in einem Augenblick fiel, in dem im Deutschen Reich die Einwanderung die Auswanderung zu überwiegen begann. Der Übergang zum Einwanderungsland fiel also zusammen mit der Ablehnung eines integrativen territorialen Staatsangehörigkeitsprinzips. Der Gegensatz zwischen der objektiven Einwanderungssituation und der fehlenden staatlichen Integrationsbereitschaft wurde damit auf Dauer gestellt. Deutschlands Weg zum Einwanderungsland wider Willen begann mit einer administrativen Entscheidung gegen ein intcgratives Staatsangehörigkeitskonzept.

2. Die Staatsangehörigkeit der Frauen im ›männlichen Staat‹ Jedes Staatsangehörigkeitsrecht enthält eine Festlegung über die Stellung von Ehe und Familie sowie über die Hierarchie der Geschlechter. Seit den ersten Staatsangehörigkeitskodifikationen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellte die Familie eine zentrale Institution für die Vermittlung der Staatsangehörigkeit dar. Sowohl die Eheschließung als auch die eheliche Geburt eines Kindes begründete die Staatsangehörigkeit, die von der des Ehemanns und Vaters ausging. Zwar war damit die Staatsangehörigkeit der Ehefrau von Beginn an ein vom Ehemann abgeleiteter, unselbständiger und minderrangiger Status. Doch konnte eine unverheiratete volljährige Frau von jeher selbständig die Staatsangehörigkeit erwerben, auch wenn diese Fälle eine seltene Ausnahme darstellten und einer besonders kritischen behördlichen Prüfung unterzogen wurden. Damit blieb ein Rest selbständiger Rechtsfähigkeit der Frau im Staatsangehörigkeitsrecht erhalten, der auch rechtspolitisch nie in Frage gestellt wurde. Anders verhielt es sich mit den materiellen Bürgerrechten der Frauen auf kommunaler wie auf staatlicher Ebene. Sie unterlagen im Verlauf des 19. Jahrhunderts einer fortschreitenden Einschränkung. Noch zu Beginn des Jahrhunderts konnten Ledige und Witwen, sofern sie Hausbesitzerinnen und Gewerbetreibende waren, selbständig das städtische Bürgerrecht erwerben. Auch das kommunale Bürgerrecht der Ehefrauen ging nicht umstandslos in dem des Mannes auf Wirkten hier noch Traditionen des »ganzen Hauses« und der ständisch-korporativen Ordnung fort, änderte sich dies im Verlauf der ersten Jahrhunderthälfte. Je ›politischer‹ die Rechte wurden, d. h. je mehr sie in die politi294 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

sehe Repräsentation und Mitbestimmung des kommunalen Gemeinwesens hineinragten, desto nachhaltiger blieben Frauen davon ausgeschlossen. Waren Frauen ohnehin nur mehr Bürgerinnen im sozialen, nicht aber im politischen Sinn, schrumpfte ihr materieller Bürgerrechtsstatus zusätzlich dadurch, daß das moderne kommunale Bürgerrecht - in Abkehr von ständischen und korporativen Eingrenzungen - immer stärker als politisches Recht konzipiert wurde.44 Die politische Erweiterung und soziale Öffnung des kommunalen Bürgerrechts war begleitet von seiner geschlechtsspezifischen Abschließung. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts konnten auch ledige und verwitwete Frauen nicht selbständige Bürgerinnen sein. Verheiratete Frauen waren dies nur nach Maßgabe ihrer Ehemänner. Wenn auch tradierte Ausnahmen in den Landgemeindeordnungen bestehenblieben, zeichnete sich in den städtischen Kommunen doch ein Prinzip ab, das mit der fortschreitenden Verstädterung der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert noch an Bedeutung gewann: Frauen, verheiratete wie unverheiratete, waren keine Bürgerinnen im politischen Sinn. Nochmals verschärft galt dies auf der Ebene der Staatsbürgerrechte, die mit den ersten Repräsentatiwerfassungen und Grundrechtsgewährleistungen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden. Frauen galten -von den ersten Kodifikationen der Staatsbürgerrechte an - über das ganze 19. Jahrhundert nicht als Staatsbürgerinnen im politischen Sinn. Ob verheiratet oder ledig: Sie waren nicht rechtsfähig als Bürgerinnen des Staates. Sie genossen nicht-weder eigenständig noch in Ableitung von einem Ehemann - das Stimmrecht in öffentlichen Wahlen oder das Recht, öffentliche Ämter zu bekleiden. Zu Beginn des letzten Jahrhundertdrittels war die Vorstellung, daß Frauen zur Wahrnehmung öffentlich-politischer Rechte nicht befähigt seien, mithin ihr Ausschluß davon auf einer naturgegebenen Ungleichheit beruhe, die festgefügte Auffassung der staatsrechtlichen Publizistik und die durchgehende Praxis aller deutschen Verfassungen. Die diskriminierende Wirkung dieser Ungleichheitsvorstellung wurde dadurch verdoppelt, daß der Liberalismus, der die treibende politische Kraft beim Ausbau staatsbürgerlicher Rechte für Männer war, die Rechtlosstellung der Frauen mit dem zentralen Leistungsprinzip, der vermeintlich geringeren Eignung, rechtfertigte. In der staatsrechtlichen Literatur wurde der Staat als durchweg ›männliches Wesen‹ imaginiert, der das dynamische, gestaltende Prinzip, die politische Tat, verkörperte, während Frauen aus dieser Sicht nur eine »ruhende Macht im Staat« darstellten.45 Verstärkt wurde dieses Vorstellungsbild noch durch die Mentalität des Militärischen, die alle Bereiche der Gesellschaft des Deutschen 44 Im Folgenden stütze ich mich auf den Überblick bei Frevert, »Mann und Weib«, S. 61-132, hier S. 74-83. 45 Zitate ebd., S. 112, 119, 124, 131.

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Kaiserreichs durchdrang und die politische Ideenwelt und Sprache prägte. So diente die ausschließlich männliche Wehrpflicht als zusätzliche Rechtfertigung der Geschlechterdiskriminierung46 im Wahlrecht. Mit dem Wegfall ständischer Unterschiede und dem Vordringen staatsbürgerlicher, demokratischer Rechte usurpierte in dem Maße, in dem diese Männern vorbehalten blieb, »die Geschlechterdifferenz [...] als Ordnungs- und Vergemeinschaftungsinstrument eine geradezu übermächtige Bedeutung«. An dieser neuartigen Form sozialer und rechtlicher Ungleichheit setzte die Gegenbewegung, die Frauenbewegung, ein, die nach ersten Forderungen in der Revolution von 1848/49, Frauen als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen anzuerkennen, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an Organisationskraft und politischer Macht gewann. Die »Frauenfrage« wurde von den Organisationen der Frauenbewegung zunehmend nicht mehr nur als sozialökonomisches, sondern als politisches Problem definiert. Während sich der 1894 gegründete Bund Deutscher Frauenvereine, die Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung, in seiner Anfangsphase nicht klar für das Frauenstimmrecht aussprach, stand diese Forderung im Mittelpunkt des 1899 gegründeten Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine und des Vereins für Frauenstimmrecht, der nach der Jahrhundertwende entstand. Zahlreiche Provinz- und Lokalverbände für Frauenstimmrecht, die nach 1909 in Preußen gegründet wurden, konzentrierten sich in einem ersten Schritt auf politische Mandate im kommunalen Bereich. Die stärkste politische Unterstützung bei der Durchsetzung des Frauenstimmrechts ging von der sozialdemokratischen Bewegung aus. Zwar verzichtete die Reichstagsfraktion der SPD aus taktischen Gründen darauf, das Frauenstimmrecht in den Vordergrund zu stellen, denn das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht auf allen Ebenen der politischen Mitbestimmung hatte Vorrang, doch war es ein fester Programmgesichtspunkt der Partei im ganzen und ein zentraler Agitationspunkt der sozialdemokratischen Frauenbewegung. Die Anerkennung des Frauenwahlrechts und damit der Frau als politischer Staatsbürgerin stellte den revolutionären Fluchtpunkt der deutschen Frauenbewegung dar, und zwar sowohl ihres gemäßigteren als auch ihres radikalen Flügels.47 Um ihn kristallisierte sich die Forderung nach umfassender politischer und sozialer Gleichstellung. Eine Konsequenz daraus war nur mehr die Forderung nach Gleichberechtigung der Ehefrau im Staatsangehörigkeitsrecht, nach Anerkennung ihrer selbständigen Staatsangehörigkeit. Verglichen mit dem revolutionären allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Frauen besaß dieser 46 S. dazu dies., Soldaten, Staatsbürger, S. 72; zum Zusammenhang zwischen der ausschließlich männlichen Wehrpflicht und dem Status des »Vollbürgcrs« s. Hagemann, »Bürger« als »Nationalkrieger, S. 77f, 93. 47 Diese Gemeinsamkeit gegenüber herkömmlicher Kritik an der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung betont Bock, Frauenwahlrecht, S. 113f.

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Punkt eher randständige Bedeutung, aber höhere Konsensfähigkeit und Integrationskraft in allen Lagern der Frauenrechtsbewegung. Als die Novellierung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts im Frühjahr 1912 in ihre Endphase trat, drängten alle großen Frauenrechtsverbände in einer konzertierten Aktion auf die Einführung einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau. Dem Gesetzentwurf der Reichsregierung, der an dem hergebrachten Grundsatz festhielt, daß eine Frau mit der Heirat die Staatsangehörigkeit des Ehemannes erwarb und diese auch nur mit ihm gemeinsam verlor,4* stellten die Frauenverbände zwei Reformvarianten entgegen. Sie plädierten in Eingaben an den Reichstag alternativ für Neuerungen. Entweder sollte die Ehefrau die Staatsangehörigkeit ihres Mannes teilen, daneben aber ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit beibehalten, also die doppelte Staatsangehörigkeit erwerben können. Weiter ging die Forderung, die vorsah, daß die Ehefrau allein und frei darüber zu verfügen habe, ob sie ihre alte Staatsangehörigkeit behalten oder statt dieser die Staatsangehörigkeit, eventuell auch die Staatenlosigkeit des Mannes annehmen wolle.49 Die Eingaben stellten zur Begründung die »arge(n) praktische(n) Nachteile« in den Vordergrund, die den Ehefrauen aus ihrer unselbständigen Staatsangehörigkeit erwuchsen: Verloren sie bei der Eheschließung mit einem Ausländer die deutsche Staatsangehörigkeit, erwuchsen daraus vielfach rechtliche Nachteile. Die Frau drohte die Vergünstigungen des deutschen Familienrechts bei Unterhalt, Versorgung und Scheidung - auch zu Lasten der Kinder - zu verlieren. Mit der deutschen Staatsangehörigkeit ging der Anspruch auf zahlreiche staatliche Sozialleistungen, »Stiftungen« genannt, verloren. Besonders schwerwiegend war der Verlust des Ausweisungsschutzes. Brachte die Deutsche in die Ehe mit einem Ausländer eigene Kinder mit ein, blieben diese gleichwohl Deutsche. Wurde die Mutter mit ihrem ausländischen Ehemann, z. B. im Falle des Krieges oder aus anderen Gründen, ins Ausland ausgewiesen, drohte ihre Trennung von den Kindern, denn diese wurden von dem ausländischen Staat als Deutsche nach Deutschland zurückgewiesen. Zur Illustration dieser oftmals versteckten Gefahren führten die Eingaben an den Reichstag einen Fall an, in dem eine Deutsche einen Mann geheiratet hatte, den sie für einen Deutschen gehalten hatte, der aber tatsächlich Russe war. Die Frau hatte damit ohne ihr Wissen die russische Staatsangehörigkeit erhalten und wurde, nachdem ihr russischer Mann straffällig geworden war, mit diesem nach Rußland ausgewie48 Entwurf eines Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, RT-Prot., 13. Legislaturperiode, 1912, Anlagen, Bd. 298, Nr. 6, §§ 2Nr. 3, 3, 5. 49 Deutscher Verband für Frauenstimmrecht an den Deutschen Bundesrat, 25.4.1912; Rechtsschutzverband für Frauen an den Deutschen Reichstag (undatiert); Württembergischer Verband für Frauenstimmrecht, Württembergischer Verein für Mutterschutz, Verein Frauenlesegruppe, Württembergischer Lehrerinnenverband an das Reichsamt des Innern (undatiert, im Ministerium eingegangen am 18.3.1912), alle BA Lichterfelde (kurz: BA-L), RDI, Nr. 8014.

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scn. Die Anerkennung eines eigenständigen Willens der Ehefrau zur Staatsangehörigkeit verlange auch, argumentierten die Eingaben, daß diese Deutsche bleiben könne, wenn der Ehemann die deutsche Staatsangehörigkeit verliere. Die Eingaben hoben dazu den in dem Regierungsentwurf vorhandenen positiven Ansatz hervor, der den Antrag eines Deutschen auf Entlassung aus der deutschen Staatsangehörigkeit nicht selbstverständlich auf dessen Ehefrau erstreckte, sondern dazu deren Zustimmung zur Voraussetzung machte.50 Von daher kritisierten die Eingaben als inkonsequent, daß der strafweise Entzug der Staatsangehörigkeit des Mannes, sei es wegen unerlaubten Eintritts in fremden Staatsdienst oder sei es wegen Fahnenflucht auf die Ehefrau ausgedehnt werden sollte. Diese Kritik enthielt nicht weniger als die Aufhebung der staatsangehörigkeitsrechtlichen Haftungseinheit der Familie. Auf dieser Linie lag auch der Vorschlag einer doppelten Staatsangehörigkeit für deutsche Frauen, die Ausländer heirateten. Die Frauenverbändc betrachteten die Durchbrechung des strikten Prinzips, die mehrfache Staatsangehörigkeit zu vermeiden, als unbedenklich, da sein Hauptgrund, die Militärpflicht, für Frauen »gegenstandslos« sei.51 Diese Vorschläge rührten indessen an einen grundsätzlichen Zusammenhang. Sie legten offen, daß ein tragendes Prinzip des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, die ›Eindeutigkeit‹ nach außen, in hohem Maße patrilinear strukturiert war. Mehr noch: Das tradierte deutsche Staatsangehörigkeitsrecht war analog einer Familie konstruiert. Die Aufnahme in die Staatsangehörigkeit wurde weitestgehend durch die familiär vermittelte Abstammung und die Eheschließung vollzogen, die Entlassung betraf den gesamten Familienverband. Die selbstverständliche Einbeziehung der Ehefrauen und ehelichen Kinder in diesen Haftungszusammenhang und umgekehrt der zumindest partielle Ausschluß der außer- und vorehelichen Kinder bekräftigten dies. Die Konstruktion des ›männlichen Staates‹ setzte sich auch in der Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit fort. Der Staat, verstanden als männlich dominierte und geschlossene Wehrgemeinschaft, wurde nach innen wie nach außen mitgetragen von einem Staatsangehörigkeitsrecht, das die patriarchalische Struktur der Familie reproduzierte. Die Reformvorschläge der Frauenverbände lösten diesen prinzipiellen Haftungsverbund auf, nämlich die Symmetrie zwischen Familie und wehrhaftem Staat. Die Begründungen der Eingaben lassen nicht erkennen, ob diese prinzipiellen Konsequenzen der Gesetzesvorschläge vollauf mitbedacht waren. Die Formulierungen sprechen vielmehr dafür, daß die systemverändernde und gemeinschaftsauflösende Wirkung der Gesetzesvorschläge für die Initiatorinnen 50 Vgl. Entwurf eines Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, RT-Prot., 13. LP, Anlagen, Bd. 298, Nr. 6, § 14. 51 S. auch Jellinek, Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz.

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um so mehr von untergeordneter Bedeutung war, als sie diese mit der Stärkung einer anderen Gemeinschaft rechtfertigten: der deutschen Nation. Die Eingaben begründeten ihre Vorschläge bemerkenswert klar mit dem nationalen Anliegen der deutschen Frauen: Ebensowenig wie der Eheschluß einen Konfessionswechsel der Ehefrau erzwingen könne, dürfe dies für die Staatsangehörigkeit gelten. Alles andere bedeute für eine »ihrem Vaterland ergebene Frau [...] eine schlimme Zumutung«.52 Die Parallelisierung des religiösen mit dem nationalen Selbstbestimmungsrecht der Ehefrau belegte nicht nur ein weiteres Mal die vielfach zu beobachtende Strukturparallele und Funktionsäquivalenz von Religion und Nation, von religiösen und nationalen Vorstellungsbildern. Sie erwies zugleich die fortschreitende Nationalisierung der deutschen Frauenbewegung. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten Frauen, insbesondere in den bürgerlichen Frauenverbänden, das Argument und Angebot eines spezifisch weiblichen Beitrags zur Gemeinschaftsordnung Nation, und zwar in der Hoffnung, an deren Egalitätsversprechen zu partizipieren.53 Fortschritte in der Rechtsstellung und Selbständigkeit der Frau sollten nicht unter Aufgabe der mit den Männern gemeinsam zu tragenden nationalen Gemeinschaft, sondern zu ihrer Stärkung vorangetrieben werden. Darin stimmten die Frauenverbände von dem eher gemäßigten Dachverband, dem Bund Deutscher Frauenvereine, bis hin zu den radikaleren Verbänden für Frauenstimmrecht und zur Sozialdemokratie überein. Die SPD unterstützte die Forderung der Frauenverbände und forderte im Reichstag, den »Rest der alten Geschlechtsvormundschaft« aufzuheben. Auch Otto Landsberg, Sprecher der SPD-Fraktion im Reichstag, begründete dies mit dem Respekt vor dem Patriotismus und dem vergleichenden Hinweis auf die Religion: »Wenn ein Gesetz bestimmen würde, daß eine Frau, die einen Andersgläubigen zum Manne nimmt, ihre Religion ipso iure verlieren und die Religion des Mannes erwerben soll, würde man mit vollem Recht ein derartiges Gesetz barbarisch nennen [...]. Ich meine, was von der Religion gilt, muß auch von der Vaterlandsliebe gelten.«54

Mit genauem Blick sezierte er das Spannungsverhältnis innerhalb der Regierungsvorlage: Einerseits bestand das Hauptziel des Entwurfs darin, so viele Deutsche wie möglich in der deutschen Staatsangehörigkeit zu halten. Andererseits wurde auf deutsche Frauen, die Ausländer heirateten, leichthin verzichtet. Der Schluß drängte sich auf, daß unter wertvollen Deutschen zunächst und vor allem Männer verstanden wurden. Abermals erwies sich damit der Staat als ›männlicher Staat‹. 52 Eingabe Bund Deutscher Frauenvereine (gez. Dr. Gertrud Bäumer, Alice Bcnshcimer) an die Mitglieder der Kommission für die Revision des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechts, 27.4.1912, Helenc-Lange-Archiv, Bestand Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine. 53 Ein Zusammenhang, dessen Erforschung noch in den Anfängen steht: Ein Aufriß bei Appelt, S. 131. Zu ersten Ergebnissen vgl. Schaser, »Corpus mysticum«, S. 123-126; Plancrt, S. 199f. 54 Vgl. RT-Prot., 13. LP, 14.Sitzung, 27.2.1912, S. 280.

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Die Initiative der Frauenverbändc und der SPD verfolgte nicht nur das grundsätzliche Ziel der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Frauen. Sie war zugleich Ausdruck einer gewandelten demographischen und sozialen Situation. Das schnelle Wachstum der ausländischen Wohnbevölkerung im Deutschen Reich, die überwiegend aus Männern,55 zumeist Arbeitswanderern, bestand, erhöhte die Zahl der nationalen Mischehen. Die wachsende Erwerbstätigkeit von Frauen gab diesen größere wirtschaftliche Selbständigkeit gegenüber ihren deutschen wie ausländischen Ehemännern. Die besseren und schnelleren Verkehrsverbindungen zwischen dem Deutschen Reich und dem Ausland vermehrten die staatsangehörigkeitsrechtlichen Kollisionsfälle ehemals deutscher Frauen, die mit ihren ausländischen Ehemännern ins Ausland gingen bzw. später von dort als Ausländerinnen oder Staatenlose zurückkehrten. Verschärft trat dieses Problem bei deutschen Jüdinnen auf. Sie hatten, verglichen mit anderen deutschen Frauen, ein erhöhtes Interesse daran, trotz ihrer Heirat mit Ausländern die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten. Folgten sie nämlich ihrem jüdischen Ehemann ins Ausland, waren sie dort vielfach Staaten- und schutzlos und von daher um so mehr judenfeindlichen Maßnahmen ausgeliefert.56 Das rechtspolitische Problem regte die Publizistik an. Rechtswissenschaftliche Dissertationen17 widmeten der Problematik Bestandsaufnahme; in der Presse erschienen politische Positionsbestimmungen. Daran zeigte sich in zweifacher Hinsicht die wachsende Bedeutung der Staatsangehörigkeit: Je mehr staatsbürgerliche Berechtigungen sich an die Staatsangehörigkeit knüpften, desto erstrebenswerter wurde ihr Erwerb, desto umkämpfter ihr Verlust. Dies galt allgemein im Verhältnis zwischen Ausländern und deutschen Staatsangehörigen, in neuer, verstärkter Weise auch im Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Je mehr Gleichberechtigung Frauen gegenüber Männern forderten, je mehr sie ein eigenständiges Persönlichkeitsrecht jenseits der Ehe und unabhängig von ihrem Ehemann anstrebten, desto gewichtiger wurde eine eigenständige Staatsangehörigkeit in allen wesentlichen Sozialbeziehungen: im Verhältnis der Mutter gegenüber den sorgebedürftigen Kindern, im Erwerbsleben der Frauen, in ihrer politischen Stellung als Staatsbürgerinnen. Denn ohne eine eigenständige Staatsangehörigkeit wurde die Gewährung staatsbürgerlicher Rechte für Frauen, sofern sie Ausländer heirateten, gegenstandslos. 55 Zwischen 1900 und 1910, dem Jahrzehnt des schnellsten Wachstums der ausländischen Bevölkerung im Deutschen Kaiserreich, lag der Anteil der Ausländerinnen zwischen 40,4 % und 43,0 % (1900: 314.463 von insgesamt 778.737; 1905: 429.240 von insgesamt 1.028.560; 1910: 542.879 von insgesamt 1.259.873), s. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1912, S. 7. 56 Vgl. zu entsprechend begründeten Vorstößen jüdischer Verbände und Einzelfällen der Ehefrauen insbes. russischer Juden, die von Ausweisung bedroht waren, Wertheimer, Jewish Lobbyists, S.145-147. 57 Vgl. Krause; Nickell; Voß.

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Doch war die Front der politischen Vorbehalte und juristischen Gegenargumente festgefügt. Ebensowenig wie sich vor dem Ersten Weltkrieg das Fraucnstimmrecht durchzusetzen vermochte, wurde die Forderung nach einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau verwirklicht. Selbst Hinweise auf die grundlegende Inkonsistenz des Regicrungsentwurfs verfingen nicht. Die Befürworter einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau wiesen auf den Widerspruch hin, daß die Regierungsvorlage einerseits das Prinzip des freiwilligen Staatsangchörigkeitsverlusts statuierte, es andererseits aber Frauen vorenthielt. Ein weiterer Einwand traf die Kerninitiative der Novellierung: Wer durch die Staatsangehörigkeit das »nationale Empfinden« stärken wolle, dürfe dieses auch Frauen nicht absprechen. Offenbar sei aber die Befürchtung, männliche Geschlechtsvorrechte aufgeben zu müssen, stärker als das »nationale Empfinden«.58 Diese Kritik traf den Kern. Der Reformvorstoß der Frauenorganisationen zielte nicht nur auf die Gleichberechtigung der Frau. Er durchtrennte den fundamentalen Konstruktionszusammenhang von Staat und Familie. Im Gegensatz dazu stellte sich die Mehrheit der Reichstagsabgeordneten ausdrücklich den »Staat als Familie«59 vor. Darunter verstanden sie dabei die hergebrachte, vom Ehemann und Vater rechtlich und sozial dominierte Familie. Wer die rechtliche Rollenverteilung innerhalb der Familie verschob, veränderte damit zugleich das Wesen des Staates und umgekehrt. Diese doppelte Herausforderung der sozialen Basiskonstruktionen, auch wenn sie von der Reichstagsmehrheit offenbar mehr gespürt als erkannt wurde, erklärt die Vehemenz des Widerstands,60 welcher der Reforminitiative begegnete. Sie verbarg sich hinter nüchternen Verweisen auf hergebrachte Grundsätze »der gesamten Kulturwelt, daß die Frau die Staatsangehörigkeit des Mannes teile«, und auf drohende »Verwirrungen« des gesamten Privatrechts. Das »Band der Ehe«, resümierte der Berichterstatter der Gesetzeskommission im Reichstag, sei ein zu enges, als daß es nicht auch äußerlich im Staatsangehörigkeitsrecht hervortreten müsse.61 Das Reichsgesetz von 1913 änderte damit nichts an der »Geschlechtsvormundschaft« des Mannes im ehelichen Staatsangehörigkeitsrecht. Zwar konnte fortan ein Ehemann nur mit Zustimmung der Ehefrau deren Entlassung aus der deutschen Staatsangehörigkeit beantragen. Auch wurde verwitweten und geschiedenen ehemaligen Deutschen, die mit Ausländern verheiratet gewesen

58 Vgl. Bericht der 6. Kommission des Reichstags, RT-Prot., 13. Legislaturperiode, Anlagen, Bd. 301, Nr. 962, S. 1417. 59 Vgl. RT-Prot., 13. Legislaturpenode (1912-1914), Anlagen, Bd. 301, Drucksache Nr. 962, S. 1421. 60 Das Protokoll der Rcichstagskommission vermerkte zu dem Rcformvorschlag »lebhaften« Widerspruch, RT-Prot., 13. Legislaturperiode, 1912-1914, Anlagen, Bd. 301, Nr. 962, S. 1414. 61 RT-Prot., 13. Legislaturperiode, 13. Sitzung (23.2.1912), S. 282.

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waren, die Wiedereinbürgerung erleichtert.62 Doch blieb der hergebrachte Grundsatz der Patrilinearität unangetastet, daß Ehefrauen mit der Heirat und eheliche Kinder mit der Geburt die Staatsangehörigkeit des deutschen Vaters erhielten. Die Ehefrau wie auch die Kinder eines deutschen Wehrpflichtigen, der wegen Fahnenflucht oder unerlaubten Eintritts in fremden Staatsdienst aus der deutschen Staatsangehörigkeit ausgestoßen wurde, teilten dessen Schicksal.63 Die familienrechtliche Einheit und Eindeutigkeit der Staatsangehörigkeit im Dienste der staatlichen Wehrgemeinschaft blieb erhalten. »Die Frauen haben kein Vaterland«, kommentierte sarkastisch Helene Lange, die herausragende Persönlichkeit der bürgerlichen Frauenbewegung, das Gesetz in ihrer Zeitschrift »Die Frau«.64 Mit scharfem Blick resümierte sie, »wie wenig sich der Staat selbst als das direkte Vaterland der Frauen betrachtet. Er ist das Vaterland des Mannes, und nur so herum gehört sie dem Staate an«. Bitter hielt sie dem Gesetz vor, daß es die »Ehevogtei« des Mannes über den Patriotismus der deutschen Frauen gestellt habe. Aber auch Helene Lange, die keinerlei staatliches Interesse an der Aufrechterhaltung des hergebrachten Rechtszustandes erkennen wollte, überging den prinzipiellen Zusammenhang zwischen der patrilinearen Staatsangehörigkeit und der Wehrgemeinschaft. Die Entscheidung des Reichstags gab ein schlagendes Beispiel für die paradoxe Stellung der Frauen im politischen Gefüge des Kaiserreichs: Sie blieben ausgeschlossen als Staatsbürgerinnen, zugleich aber einbezogen in die politische Ordnung, die Sicherstellung ihrer Grundlagen und Reproduktionsfaktoren.65 Wie sehr der Gedanke einer familiären Mithaftung der Frau für das Wehrverhältnis des Mannes verdeckt den rechtlichen Status quo forttrug, zeigte sich, als die tatsächliche Grundlage dieses Haftungszusammenhangs in Zweifel geriet. Mitten im Ersten Weltkrieg erwog der Statthalter von Elsaß-Lothringen, Ehefrauen deutscher Soldaten, die mit ihren Kindern ins Ausland gegangen waren, unter ihnen »manche politisch recht bedenklichen Personen«, eben wegen eines politischen, den deutschen Interessen zuwiderlaufenden Verhaltens auszubürgern. Eine solche Maßnahme hätte die betreffenden Frauen wenn auch nur in negativer Weise als politisch selbständig Handelnde anerkannt. Zugleich lag darin aber ein Angriff auf die staatsrechtliche Familieneinheit. Der Vorschlag wurde deshalb verworfen mit einem Argument, das nochmals die Funktion dieser Einheitskonstruktion offenlegte: Von der Ausbürgerung der Ehefrauen 62 Vgl. §§ 10, 18 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913 (RGBl I, S. 583). 63 Vgl. §§ 4 Abs.l, 6, 17 Nr. 6, 26-28 in Verbindung mit § 29 RuStAG 1913. Zur generalpräventiven Funktion dieser Haftung im Familienverband bei Fahnenflucht vgl. Straten, S. 79. 64 Vgl. Lange, »Frauen haben kein Vaterland«, S. 641 f.; zu Leben und politischer Arbeit im Kontext des Liberalismus s. jetzt Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. 65 Zu diesem Zusammenhang Pateman, Gleichheit, Differenz, Unterordnung, S. 56f: »Frauen in der politischen Ordnung: Das Paradox von Ausschluß und Einschluß«.

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und Kinder solle Abstand genommen werden, denn sie stelle eine unverhältnismäßige Härte für diejenigen Deutschen dar, die »im Feld ihre Pflicht dem deutschen Vaterland« gegenüber erfüllten.66

3. ›Männlicher Staat‹ oder ›Rassestaat‹ in den Kolonien? Die Patrilinearität des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts wurde indessen nicht nur durch die Forderung nach Gleichberechtigung der Frauen herausgefordert. Auch das politische Verlangen nach Diskriminierung sogenannter ›Fremdrassiger‹ stellte die hergebrachte Leitfunktion des Ehemanns und Vaters bei der Weitergabe und Vererbung der Staatsangehörigkeit in Frage. Stritten die Frauenverbände - wenn auch mit nationalen Argumenten - für eine Verbesserung der individuellen Rechtsstellung der Frau, forderten die Verfechter des Rassegedankens, die patrilineare Vererbung der deutschen Staatsangehörigkeit einzuschränken, um den deutschen Volkskörpen rassisch rein zu erhalten. Die Einwirkung der ›Rassenfrage‹ auf die Reformdebatte um das Staatsangehörigkeitsrecht zeigt einmal mehr die politische Bedeutungssteigerung und wachsende Politisierbarkeit dieser Rechtsmaterie. Einlaßtor für den Rassegedanken war die Lage der Staatsangehörigkeit in den deutschen Schutzgebieten. Das Schutzgebietsgesetz von 1888 bzw. 1900 sah ohne jede Einschränkung vor, daß nicht nur Ausländer, sondern auch »Eingeborene« der Schutzgebiete in die deutsche Reichsangehörigkeit aufgenommen werden konnten67 Daraus ergab sich, daß naturalisierte, »eingeborene« Männer ebenso die deutsche Staatsangehörigkeit an »Eingeborene« oder »Mischlinge« weitergeben konnten wie nichteingeborene deutsche Männer, die »eingeborene« Frauen oder Mischlingsfrauen in den Schutzgebieten heirateten und mit diesen Kindern zeugten. Das heißt: Mit der Erstreckung des hergebrachten Staatsangehörigkeitsrechts auf die deutschen Schutzgebiete fand eine ›rassische‹ Durchmischung der deutschen Staatsangehörigkeit statt. Deutsche wurden demnach auch Menschen nicht-weißer Hautfarbe, nicht-christlicher Kultur und Religion, mithin fremder ›Rasse‹, wie es in der Terminologie des beginnenden 20. Jahrhunderts durchgängig in allen politischen Lagern hieß.68 Diese Entwicklung zeichnete sich seit dem Beginn des Jahrhunderts ab, als die Zahl der Eheschließungen zwischen Deutschen und Eingeborenen, z. B. in 66 Reichsstatthalter von Elsaß-Lothringen an Reichskanzler, 15.2.1916, und Reichskanzler an Reichsstatthalter von Elsaß-Lothringen, 15.3.1916, BA-Lichterfelde, RDI, Nr. 8017. 67 § 6 Gesetz wegen Abänderung des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete, vom 17. April 1886. Vom 15. März 1888, RGBl 1888, S. 71; § 9 Schutzgebietsgesetz vom 10.9.1900, RGBl 1900, S. 813; exemplarisch Oguntoye, S. 14-21, 163f. 68 S. Conze, «Rasse«, S. 169f.

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Südwestafrika, zunahm. Zwischen 1905 und 1912 verboten daraufhin die deutschen Gouverneure von Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika und Samoa die Rassenmischehen in den Schutzgebieten bzw. behielten sich ausdrücklich deren Zulassung vor. In Südwestafrika wurden alle vor dem Verbot geschlossenen rassisch gemischten Ehen - insgesamt dreißig - für nichtig erklärt. Deutsche Männer, die mit einer Eingeborenen verheiratet waren bzw. im Konkubinat lebten, durften nicht mehr an Gemeinderatswahlen teilnehmen. In Samoa wurden nach dem Verbot geborene Mischlinge rechtlich den Eingeborenen gleichgestellt. Insgesamt handelte es sich um Maßnahmen, die in ihrer Rigidität unter den europäischen Kolonialmächten einzigartig waren. Die Eheverbote zielten darauf, die europäische Rasse in ihrer herausgehobenen Herrschaftsstellung unvermischt gegenüber den Farbigen zu erhalten. Eben diese Maßnahmen fielen in eine Phase schwerer kolonialer Unruhen und Aufstandsbewegungen gegen die deutsche Kolonialmacht. Sie lösten eine Krise aus, die zu einer Neuorientierung der Kolonialpolitik führte.69 Den Kolonialbehörden war dabei durchaus bewußt, daß die Maßnahmen letztlich nicht tatsächlich die Rassenmischung verhinderten. Ihr Ansatzpunkt war vielmehr, die sozialen und politischen Folgewirkungen auszuschließen, die sich aus dem Privileg der deutschen Staatsangehörigkeit ergaben. Verhindert werden sollte, daß eingeborene Frauen durch Heirat eines Deutschen und die Kinder aus solchen Mischehen die deutsche Staatsangehörigkeit erlangten. Um den Abschreckungszweck zu erreichen, ging die Kolonialverwaltung sogar so weit, deutsche Männer in ihren staatsbürgerlichen Rechten zu beschneiden.70 Diese Unterordnung männlicher Vorrechte unter die Ziele kolonialer Rassenpolitik löste schwere Kontroversen um die juristische Haltbarkeit der Eheverbote aus. Es waren deutsche Siedler und Familienväter, seit langem in den Schutzgebieten ansässig und von gutem Leumund, die mit Eingaben gegen die Beschneidung ihrer Rechte als Ehemänner und Familienväter protestierten. So opponierte z. B. ein Siedler aus Südwestafrika, der mit einer eingeborenen Rehobotherfrau verheiratet war, gegen die rückwirkende Annullierung seiner Ehe. Er empfand dies als schweren Undank gegenüber einem alten Soldaten, der zur Eroberung und Befriedung des Schutzgebietes im Namen des Deutschen Reiches beigetragen habe. Er kündigte an, er werde um keinen Preis seine Frau verlassen, die ihm eine treue Gefährtin gewesen sei, und forderte für seine Söhne die Anerkennung ihrer staatsbürgerlichen Rechte als Deutsche. Ein deutscher Grundbesitzer aus Samoa, dessen Ehe mit einer Samoanerin nicht anerkannt wurde, erreichte, daß sein Fall im Petitionsausschuß des Reichstags verhandelt wurde. Die Interessen angesehener und fürsorglicher Familienväter, die treu zu ihren eingeborenen 69 Vgl. Wildenthal, S. 267f. 70 Eingehend dazu Schulte-Althoff, S. 60f.

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Ehefrauen standen, kollidierten eben aus der Sicht der Kolonialverwaltung mit dem »öffentlichen Interesse« an der Aufrcchterhaltungvon Rang und Reinheit der weißen Rasse.71 Die Konflikte führten nicht zu einer eindeutigen Lösung. Die juristisch vielfach angezweifelten Mischehenverbote wurden aufgrund ihrer kolonialpolitischen Symbolwirkung zwar formal aufrechterhalten, aber in vielen Einzelfällen durch interne Vcrwaltungsmaßnahmcn abgeschwächt bzw. zurückgenommen. Die rechtliche Lage der Ehefrauen und Mischlingskinder aus kolonialen Mischehen blieb in der Schwebe. Eine grundsätzliche Lösung im Sinne der Reichskolonialpolitik konnte nur eine entsprechende Neuformulierung des Staatsangehörigkeitsrechts mit der Aufnahme von Rasseklauseln erbringen. Denn die politischen Kontroversen um die Ehebeschränkungen und Diskriminierung der ›Mischlingskinder‹ gingen im Kern auf den Vorwurf des staatlichen Willkürakts zurück, der darin bestand, daß deutschen Staatsangehörigen - vielfach nachträglich - ihre staatsbürgerlichen Rechte vorenthalten wurden. Grundsätzliche und rechtlich konsistente Lösungen mußten demnach bei Zugangsbeschränkungen zur deutschen Staatsangehörigkeit nach rassischen Kriterien ansetzen. Eben dieser Gedanke wurde seit längerem in kolonialpolitischen Verbänden und juristischen Debatten vorgetragen. Es war erneut der Alldeutsche Verband, der sich zum vehementesten Fürsprecher einer entsprechenden Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts machte. Er vollzog unter seinem 1908 gewählten Vorsitzenden Heinrich Claß den Übergang zu einer Programmatik, die eine umfassende Umgestaltung der Reichspolitik nach rassebiologischen Kriterien verlangte.72 Nationalliberal-konstitutionelle Beschränkungen, die noch in der Ära Hasse bestanden hatten, wichen einer ›modernen‹, radikalen Machtpolitik, die hergebrachte ethische und rechtliche Schranken überwand. Rasseantisemitische und rassebiologische Positionen, die Claß anonym popularisierte, wurden vom Alldeutschen Verband zwar nicht offiziell zum Programm erhoben, dominierten aber die Entwicklung der Verbandsideologie in den Jahren vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Eingabe, die Claß namens des Alldeutschen Verbandes im Oktober 1912 an die Reichsregierung richtete, war ein weiterer Versuch, rassebiologischen Kategorien im Recht Geltung zu verschaffen. Die Hauptversammlung des Verbandes forderte darin, durch das neue Staatsangehörigkeitsrecht in Zukunft durchweg zu verhindern, »daß Abkömmlinge von Weißen und Farbigen durch Geburt die Reichsangehörigkeit erwerben können«. Ausdrücklich begrüßte die Eingabe die bestehenden Eheverbote in den Kolonien und die gesellschaftliche Achtung der weißen Männer, die in Südwestafrika mit einer Farbigen in Geschlechtsgemeinschaft lebten. Für »Misch71 Vgl. die Fälle und die Argumentation des Reichskolonialamts bei Wildenthal, S. 268f. 72 Vgl. dazu Peters, S. 35f.

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lingskinder« müsse wieder der »altgermanische Grundsatz« gelten: »Das Kind folgt der ärgeren Hand«. Dies sei nach bisherigem Recht bei Kindern aus Mischehen mit farbigen Müttern nicht gewährleistet. Der Verband beklagte überdies, daß zwar die beabsichtigten Maßnahmen nicht die »Rassenschande« unterbänden, die insbesondere deutsche Frauen mit farbigen Männern begingen. Doch könnten die rechtlichen Folgen daraus mit einfachen Mitteln beschränkt werden. Im Dienste der »Reinhaltung der weissen Rasse«, schloß die Eingabe, dürften »Farbige [...] ein für alle Mal nicht in den deutschen Volkskörper aufgenommen werden«.73 Bereits im Jahre 1908 hatte die Deutsche Kolonialgesellschaft, das mit dem Alldeutschen Verband personell und programmatisch eng verbundene Zentrum der deutschen Kolonialbewegung, den grundsätzlichen Ausschluß der Eingeborenen von der Reichsbürgerschaft und die Verhinderung einer »Mischlingsrasse« gefordert. Unter den deutschen Kolonialjuristen, die ihrerseits vielfach in enger Verbindung mit den Kolonialorganisationen standen, löste die Rassenmischung eine eingehende Diskussion aus, in der sich die überwiegende Mehrheit für rassepolitische Maßnahmen der Diskriminierung aussprach. Die Rassenmischung wurde um das Jahr 1910 zum zentralen Konfliktpunkt des kolonialpolitischen Diskurses, angeheizt noch von den verstärkten Forschungen der anthropologischen Wissenschaft. Der Vorstoß des Alldeutschen Verbandes für die Rassentrennung im Staatsangehörigkeitsrecht stützte sich mithin auf eine breite rassepolitische Grundströmung sowohl in der deutschen Kolonialbewegung als auch in den völkisch-nationalen Verbandsorganisationen.74 Gemeinsam war diesen Positionen, daß sie die Beschneidung männlicher Ehevorrechte im rassepolitischen Interesse selbstverständlich hinnahmen. Die Ehefreiheit und die vom Vater her bestimmte staatsangehörigkeitsrechtliche Einheit der Familie, die im Staatsinncrn feste Prinzipien darstellten, wurden in den Kolonien dem bevölkerungspolitischen Gedanken rassischer Reincrhaltung untergeordnet. Angesichts dieser Interessengewichtung überrascht es nicht, daß die geforderte Restriktion der Rassenmischung Unterstützung bei Frauen fand, die sich in den Kolonialverbänden organisiert hatten. Dabei wirkten Argumente unterschiedlicher Herkunft zusammen. Unübersehbar war, daß in der weiblichen Bevölkerung der Kolonien deutsche gegenüber eingeborenen Frauen eine verschwindende Minderheit darstellten. Eingeborene Frauen waren für deutsche Siedler leicht zu erlangende Sexualpartncrinnen, die bereits aufgrund ihres minderen Rechtsstatus weniger Ansprüche an ihre männlichen Partner stellten 73 Alldeutscher Verband (gez. Claß) an den Reichskanzler, 25. 10. 1912, BA-Lichterfclde, RDI, Nr. 8014. 74 Unter anderem der »Deutschbund« und der »Deutschnationale Kolonialverein«, vgl. Schulte-Althoß] S. 84f.

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als deutsche Frauen. Der kulturelle Überlegenheitsanspruch der Siedler weißer Rasse wies ihnen gewissermaßen eine natürlich untergeordnete Stellung zu. Die Argumente der in den Kolonialverbänden organisierten Frauen, die sich gegen derartige Geschlechtsverbindungen richteten, stellten denn auch die Verletzung ethischer und kultureller Grundsätze in den Vordergrund. Sie sahen durch die Vermischung mit ›rassisch minderwertigem Geschlechtspartnerinnen insgesamt die »Kulturaufgabe der Frau« gefährdet, die dabei selbstverständlich als deutsche Frau verstanden wurde. Die »Kulturehe« beruhe auf der Verbindung zweier intellektuell und moralisch gleichwertiger Partner, wurde in Anknüpfung an Marianne Weber argumentiert. Eine solche moralische Gleichheit sei jedoch bei kolonisierten eingeborenen Frauen nicht gegeben. Die Vorsitzende des Deutsch-Evangelischen Frauenbundes beklagte schließlich, daß die deutsche Frau in ihrer Würde verletzt werde, wenn sie die Ehe mit einem deutschen Mann eingehe, der zuvor illegitim mit einer Farbigen zusammengelebt habe.75 Nicht zuletzt deutet sich in dieser Kritik an, daß die ethischen und geschlechterpolitischen Grundsatzargumente begleitet waren von Ressentiments gegen den sexuellenBetrugt‹ 76der Männer, die eine Mangelsituation zu ihren Gunsten und zum Nachteil der Rassereinheit nutzten. Ein Aufruf deutscher »Patrioten«77 stellte, und das besonders pointiert, die rassepolitischen Grundannahmen heraus, welche die Befürworterinnen einer Restriktion der Rassenmischehe verbanden. »Sollen deutsche Frauen und Mädchen stillschweigend dulden, daß man sie mit Angehörigen der am niedrigsten stehenden Rasse auf eine Stufe stellt? Sollen sie zusehen, wie ihre Söhne und Brüder mit Frauen dieser Rasse Verbindungen eingehen, die zwar vor dem Gesetz als Ehe bestehen können, welche aber der sittlich höher empfindende Mensch als solche nie anerkennen kann und darf?« Die Kritik des Aufrufs, den Frauen initiiert und im wesentlichen unterzeichnet hatten, deckte sich mit der Position der zentralen Frauenorganisation innerhalb der Kolonialbewegung, des Frauenbunds der Deutschen Kolonialgescllschaft.78 Die Frauen in der deutschen Kolonialbcwegung übernahmen - mit unterschiedlichen Abstufungen und Begründungen - die Rassenhierarchie aus der 75 Vgl. Wildenthal, S. 278f. 76 S. Ebd., S. 278. 77 »Aufruf an alle deutschgesinnten Männer und Frauen« (2.10.1912) mit 181 Unterzeichnern, überwiegend Frauen und einzelnen Männern, die die Übcrscnderin, Hanna Jukes, in ihrem Schreiben an die Reichsregierung als »Patrioten« bezeichnet sehen wollte, BA-Lichterfcldc, RDI, Nr. 8340. 78 Zum Folgenden eingehend Chickering, S. 180. Die Frauen, die den Aufruf (s. o.) unterzeichnet hatten, entstammten dem Milieu der oberen bürgerlichen Mittelklasse, das auch den Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft und den Verband der deutschen vaterländischen Frauenvereine insgesamt auszeichnete, ebd., S. 163, 184.

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männlich dominierten politischen Vorstellungswelt. Mehr noch: Die Teilhabe an der Vorstellung rassischer Überlegenheit vermittelte diesen Frauen ihrerseits ein Gefühl der Dominanz, der sie selbst in ihren ehelichen Beziehungen unterlagen. Die Teilhabe an der »heroischen Mission« der Kolonisierung und rassischen Herrschaft galt ihnen als Wertbeweis und Zeichen öffentlicher, ja nationaler Nützlichkeit, die weit über die hergebrachten Grenzen des Frauen gemeinhin zugewiesenen häuslichen Tätigkeitskreises hinausging. Der Weg zur Aufwertung der öffentlichen Rolle der deutschen Frau führte jedoch gerade nicht über die Solidarisierung mit gleichfalls diskriminierten eingeborenen Frauen. Auch in Fällen gewaltsamer Unterdrückung eingeborener Frauen ging es den deutschen Frauen in den Kolonialorganisationen kaum um die unterdrückten Afrikanerinnen oder Samoanerinnen,79 sondern zunächst darum, die eigene Rasseüberlegenheit nicht in Frage stellen zu lassen. Insoweit enthielt der koloniale Rassismus der deutschen Frauen eine defensive emanzipatorische Nebenwirkung. Der Druck rassepolitischer Argumente auf die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung wuchs also. Zugleich formierten sich die politischen Kräfte gegen ein Verbot der Mischehe. Im Mai 1912, drei Monate nach der ersten Lesung des Regicrungsentwurfs zu einem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz, verabschiedete der Reichstag eine Resolution, die die Anerkennung der Rassenmischehen forderte. Der Beschluß war zustande gekommen mit den Stimmen des Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei und der SPD, die bei den Reichstagswahlen im Januar 1912 stärkste Fraktion geworden war. Damit fand sich erstmals eine oppositionelle Mehrheit gegenüber der Reichsregierung zusammen, die auf die Weimarer Koalition‹ vorauswies und nach dem Ersten Weltkrieg den demokratischen Gegenentwurf zum Kaiserreich ins Werk setzen sollte. Während die imperialistischen und rassepolitischen Vorstellungen der konservativen und nationalen Vereinigungen, die bis weit hinein in das nationalliberale Lager Unterstützung fanden, ihren Höhepunkt erreichten, markierte die Resolution eine liberale Gegenposition. Zwar waren in der Sozialdemokratie ebenso wie im Zentrum durchaus ethnozentrische oder gar rassistische Strömungen und Untertöne nachweisbar.80 Doch gaben grundsätzliche Gleichheitsüberlegungen und christlich-humanitäre Glaubensgebote für ihre Entscheidung den Ausschlag. Das Zentrum machte sich dabei zum Fürsprecher der christlichen Kirchen, die sich gegen staatliche Verbote der Rassenmischehe aussprachen.81

79 So Wildenthal, S. 280. 80 Mit Beispielen für die SPD und das Zentrum vgl. Schulte-Althoff, S. 80,90. 81 Auch wenn einzelne Zentrumsabgeordnete, kirchliche Repräsentanten und Missionare beider Kirchen die Politik der Rassentrennung und die Einschränkung der Rechtsfähigkeit für Mischlinge und Farbige befürworteten, vgl. ebd., S. 88f. Insgesamt galten beiden Kirchen Rassenmischehen als unerwünscht, gleichwohl aber nicht von Staats wegen zu verbieten.

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Gleichwohl erwog die Reichsregierung, unterstützt von den Vorstößen der kolonialpolitischen Verbände und des Alldeutschen Verbandes, eine Regelung in das neue Staatsangehörigkeitsgesetz hineinzubringen, die Frauen und Kindern aus rassischen Mischehen die deutsche Staatsangehörigkeit versagte.82 Sie sollte die Bedenken gegen die Mischehe ausräumen, zugleich aber ihre staatsbürgerlichen Folgen beseitigen helfen. Zu einer klaren Gesetzesregelung kam es aber nicht. In einem Kompromiß einvernehmlichen Schweigens, der offenbar hinter den Kulissen geschlossen wurde und wohl auf die Reichstagsresolution zur Anerkennung der Mischehen zurückging,83 verzichtete das Zentrum auf einen gesetzlichen Zusatz zur Mischehenfrage. Die Regierung ließ ihrerseits die Staatsangehörigkeitsfrage der Mischehen fallen. Damit waren zwar fortan rassische Mischehen nicht gesetzlich legitimiert, und auch die Fortsetzung der bisherigen Verbotspraxis in den Kolonien war nicht ausgeschlossen. Andererseits aber wurde die Patrilinearität des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts zumindest gesetzlich nicht durch rassische Diskriminierungsklauseln angetastet. Das neue Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz bekräftigte überdies die Regelung des Schutzgebietsgesetzes von 1900, daß »Eingeborenen in einem Schutzgebiet« die unmittelbare Reichsangehörigkeit und damit die volle staatsbürgerliche Gleichstellung verliehen werden konnte.84 Der rassepolitische Vorstoß der kolonialpolitischen und nationalen Verbände hatte sich somit auf der Gesetzesebene nicht gegen das geltende Modell der patrilinearen Staatsangehörigkeit durchsetzen können. Der ›männlichc Staat‹ hatte insoweit über den Rassestaat obsiegt. Doch war es ein Sieg, der an der politischen Oberfläche blieb, denn die Grundsatzfrage der Einbürgerungspolitik in den Kolonien blieb offen. Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes kündigte das Reichsamt des Innern im Reichstag an, auch in Zukunft »reinrassige Eingeborene« grundsätzlich nicht, »Mischlinge« nur in seltenen Ausnahmefällen einzubürgern.85 Diese Regelung wurde vom Reichskolonialamt den Behörden der Schutzgebiete eingeschärft und auch durchgesetzt.86

82 Staatssekretär des Innern an Staatssekretär des Reichsjustizamts, 18.11.1912, BA-Lichterfcldc, Reichsjustizministerium, Nr. 5065. 83 Laut Besprechungsvermerk des Reichskolonialamts vom 23.1.1913, BA-Lichtcrfcldc, Reichskolonialamt, Nr. 5142. Danach legte das Zentrum »keinen Wert mehr auf einen die Mischehenfrage betreffenden Zusatzparagraphen. Auch die Nationallibcrale Partei, die einen den Schutzgebieten günstigen Antrag habe stellen wollen, werde ersucht werden, die Angelegenheit nicht ohne Not anzurühren«. 84 §33 Nr. 1 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913. 85 Erklärung Dr. Lewald, RT-Prot., 13. LP, 155. Sitzung, 30.5.1913, S. 5334. 86 El-Tayeb, S. 162; zu entsprechenden Anweisungen BA-L, Reichskolonialamt, Nr. 5156.

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4. »Keine Volksgemeinschaft ohne Wehrgemeinschaft«: Das Gesetz von 1913 Das Gesetz über die Reichs- und Staatsangehörigkeit von 1913 schloß den zwei Jahrzehnte währenden Entscheidungsprozeß ab.87 Der Gesetzgebungsprozeß spiegelt die Veränderungen der außen- und wehrpolitischen Konstellationen wider, in denen das Deutsche Reich stand. Mehr noch zeigt sich darin der Wandel in den nationalpolitischen Einstellungen der politischen Führung während des wilhelminischen Kaiserreichs. Die Initiative zu dem neuen Gesetz wurde auch nach der Eröffnungsdebatte des Jahres 1895 nicht von der Reichsregicrung, sondern von parlamentarischen, zunehmend auch von außerparlamentarischen Kräften vorangetrieben.88 Im Jahre 1898 erneuerten die nationalliberalen und konservativen Initiatoren ihren Vorstoß mit einem kompletten Gesetzentwurf, der die Kernforderungen von 1895 in Gesetzesform brachte. Die Naturalisation von Ausländern wurde durch zwei Bedingungen erschwert, die an das besondere ›Interesse des Deutschen Reiches‹ in bezug auf die Einbürgerung anknüpften. Zugleich mußte der ausländische Antragsteller deutscher Abkunft und der deutschen Sprache mächtig sein. Die Reichsangehörigkeit sollte fortan weder durch den Aufenthalt Deutscher im Ausland noch durch den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit verlorengehen. Im Falle der Wehrpflichtentziehung drohte Auslandsdeutschen die Ausbürgerung. Jede Naturalisation sollte der zentralen Bestätigung durch das Reichsamt des Innern sowie den Bundesrat unterliegen und in einem zentralen Register erfaßt werden. Damit hatte eine parlamentarische Initiative das Gesetzgebungsprogramm für den gesamten Novellierungsprozeß vorgegeben, das in der Folge auch für die Entwürfe der Reichsregierung maßgebend wurde. Zu den ursprünglichen Hauptforderungen einer doppelten Erschwerung sowohl der Einbürgerung von Ausländern als auch des Staatsangehörigkeitsverlusts für Auslandsdeutsche traten die Zentralisierung der Einbürgerungsentscheidung und die Einfügung der Novellierung in das Gefüge der staatlichen Wehrpflicht. Über ein weiteres Jahrzehnt wurde dieses Gesetzesprogramm von nationalliberalcn und konservativen Parlamentariern immer wieder im Reichstag vorgetragen, bis sich die Reichsregierung im Jahre 1908 für eine grundsätzliche Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts entschied und mit den Vorbereitungen eines Regierungsentwurfs begann. Anfänglich begleitete die Forderung der antisemitischen Parteien nach einem Einbürgerungsverbot für Juden die parlamentarische Dauerinitiative. Mit dem Niedergang des parlamentarisch organisierten Antisemitismus blieb 87 Zum Folgenden eingehend Brubahcr, Citizenship and Nationhood, S. 114f; Gosewinkel, Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats. 88 Der außerparlamentarische Impetus der Reforminitiative wird übergangen bei Mommsen, Nationalität im Zeichen offensiver Weltpolitik, S. 134.

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zwar nurmehr die neutral formulierte Forderung nach Erschwerung der Einbürgerung für Ausländer bestehen. Auf weiche Gruppe diese Restriktion aber in erster Linie zielte, wurde nicht mehr spezifiziert, war vielmehr seit der Reichstagsdebatte von 1895 unausgesprochen klar. Die Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts ist ein Beispiel dafür, wie die Beharrungskraft eines bürokratischen Regierungsapparates, die sich noch durch fachliche Vorbehalte und innere Interessengegensätze verstärkte, allmählich unter den Druck einer nationalpolitischen Bewegung geriet und sich aufzulösen begann. Entscheidend war dabei, daß die parlamentarischen von außerparlamentarischen Initiativen begleitet und verstärkt wurden. Der Alldeutsche Verband89 und die beiden einflußreichsten Organisationen der Kolonial- und auslandsdeutschen Bewegung, die Deutsche Kolonialgesellschaft90 und der Verein für das Auslandsdeutschtum, Verbände, deren Leitung eng mit den gouvernementalen, politisch und wirtschaftlich bestimmenden Führungsgruppen des Reiches verbunden waren, richteten Eingaben an die Reichsregierung. Vor allem organisierten sie Massenpetitionen und Eingaben, die Tausende von Auslandsdeutschen unterschrieben und an die Regierung sandten.91 Die Gleichförmigkeit, Massenhaftigkeit und Wiederholung der Aktionen erzeugten die politische Suggestion einer Massenbewegung, der sich auch nüchterne Rechtsexperten in der Ministerialverwaltung nicht gänzlich entziehen konnten. Den Eindruck eines populären Ansinnens stützte die schlichte, populäre Formulierung der Petitionen. Sie forderten, daß ein Deutscher im Ausland »niemals gegen seinen Willen seine Rechte als Reichsangehöriger« verlieren solle, daß die »Wiedererwerbung der früher verlorenen Reichsangehörigkeit in jeder Hinsicht erleichtert« und die Gebühren für die Konsulatseintragungen abgeschafft werden sollten. Schließlich wurde gefordert, »das schlecht verständliche Fremdwort »Matrikel« durch die Bezeichnung »Konsulatsliste der deutschen Reichsangehörigen« zu ersetzen.92 Zur Popularisierung und natio89 Vgl. Alldeutscher Verband, Entwurf eines Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit nebst Begründung, an Reichskanzler 8.10.1895, BA-L, RDI, Nr. 8005. Der Entwurf stimmte inhaltlich mit dem Gesetzentwurf überein, den die Abgeordneten Hasse, Lehr und von Arnim am 15.12.1898 dem Reichstag unterbreiteten, RT-Prot, 10.Legislaturperiode, Anlagen, Bd. 172, Nr. 66/68. 90 Vgl. Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft an Reichskanzler, 22.7.1898, BA-L, RDI, Nr. 8005, mit der Übersendung umfangreichen Materials zur Beschlußbildung in der Kolonialgesellschaft. 91 Allgemeiner Deutscher Schulverein an Reichskanzler, 18.3.1907, BA-L, RDI, Nr. 8010; Verhandlung der Petition an den Deutschen Reichstag in Drucksache Nr. 754, RT-Prot., 12. Legislaturperiode, Anlagen, Bd. 246. Zur Kampagne des Vereins für das Deutschtum im Ausland, der Rechtsberatung über den Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erteilte und mit Merkblättern warb, vgl. Weidenfeller, S. 339f. 92 Petition von Deutschen aus Orsova-Tsupanek an den Reichskanzler, November 1904, BAL, RDI, Nr. 8007; Sammlung weiterer Petitionen aus den Jahren 1905/06, BA-L, RDI, Nr. 8008, 8009.

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nalpolitischen Aufladung des vermeintlich abgelegenen Themas trugen auch sich mehrende Berichte in der Tagcspressc bei. Während die konservative und die nationalliberale Presse die Initiative lebhaft begrüßten,93 kritisierte die liberale die geforderte »reaktionäre Anti-Einwandcrungsbill«.94 Schließlich drang das Thema einer Staatsangehörigkeitsreform in die juristische Fachliteratur vor, erhielt die Anerkennung eines fachlich bedeutsamen Themas und trieb damit seinerseits nationalpolitische Argumentationen in der juristischen Fachdebatte voran.95 Insbesondere die Schrift des Hamburger Notars Hans Ratjen unter dem programmatischen Titel »Deutsche, die nicht Deutsche sind«96 popularisierte das Thema in einem breiten, politisch interessierten Leserkreis und wurde vom Alldeutschen Verband empfohlen.97 Insgesamt entwickelte sich die Reform der deutschen Staatsangehörigkeit nach der Jahrhundertwende von einem juristischen Spezialthema zum massenwirksamen Agitationsinstrument. Die Reichsregierung konnte sich dem Druck der Reforminitiative nicht entziehen. Im Jahre 1899 ließ sie einen internen Vorentwurf fertigen, der den Beratungen der folgenden Jahre zugrunde lag. Schnell zeigten sich die Linien, an denen über ein Jahrzehnt hinweg grundsätzliche Konflikte ausgetragen wurden, welche die regierungsinterne Einigung über eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ausschlossen. Einigkeit in allen Ressorts bestand darüber, daß die Zehn-Jahres-Frist, nach deren Ablauf ein im Ausland lebender Deutscher seine Staatsangehörigkeit verlor, aufzuheben sei. Zugleich aber forderte die Mehrheit der Minister - entgegen den Spielräumen, die der Entwurf der konservativ-nationalliberalen Reichstagsinitiative ließ - , daß die Vererblichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit im Ausland zu beschränken und die doppelte Staatsangehörigkeit grundsätzlich auszuschließen sei. Insbesondere aber bestanden sie darauf, daß Bedingung für ein Reformgesetz die zufriedenstellende Lösung der Militärverhältnisse der Auslandsdeutschen war. Zwei Grundanliegen standen sich gegenüber: Die nationalpolitische Reforminitiative nahm zur Stärkung der Staatsangehörigkeit der Auslandsdeutschen auch die Aufweichung des Gebots, die doppelte Staatsangehörigkeit zu vermeiden, und Einbußen an Wehrgerechtigkeit in Kauf. Demgegenüber ging die Gegenmeinung vom Primat der staatlichen Räson über die Opportunität der Nation aus: Danach leitete sich die Konzeption der Staatsangehörigkeit aus der Vorstellung 93 »Ein Gesetzentwurf über die deutsche Staatsangehörigkeit«, in: Deutsche Zeitung, Nr. 296, vom 17.12.1898; Hamburger Nachrichten vom 17.2.1898. 94 »Eine reaktionäre Anti-Einwanderungsbill«, in: Berliner Tageblatt, 21.2.1898 95 Zu einem Uberblick über die Reformdiskussion insbesondere Cahn, Reform des Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetzes; Lehmann, deutsche Reichsangehörigkeit, S. 776-856; Weiß, S. 383-396, 472-494; vgl. zu weiteren Nachweisen Straten, S. 71 f. 96 Ratjen. 97 Vgl. den Kommentar in: Alldeutsche Blätter, 11.9.1908.

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vom Staat als Wehrgemeinschaft ab, die auf Pflichtengleichheit beruhte und das Prinzip der Eindeutigkeit der Staatsangehörigkeit begründete. An der Gewichtung der staatlichen Wehrgemeinschaft, ihres gleichermaßen politischen wie symbolischen Rangs, entzündete sich die zentrale Debatte der gouvernementalen Reformphase. Weitgehende Bestätigung fanden die Anhänger des staatlichen Primats bei den Auslandsvertretungen des Deutschen Reiches. Sie sprachen sich aufgrund einer Befragung des Auswärtigen Amtes einhellig für die Vermeidung der doppelten Staatsangehörigkeit aus und meldeten keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Ausbürgerung wehrunwilligcr Auslandsdeutscher an. Der unbegrenzten Vererblichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit im Ausland hingegen begegneten sie mit Skepsis, da die Auslandsdeutschen ab der zweiten Generation vielfach ihrer Heimat entfremdet seien und das Reich kein Interesse daran habe, sich ihretwegen unverhältnismäßig großen Lasten und Verbindlichkeiten auszusetzen.98 Die ministeriellen Beratungen des Gesetzes gerieten wegen der Frage der Wehrpflicht in eine Sackgasse, die grundlegende Auffassungsunterschiede in der außen- und wehrpolitischen Bestimmung des Deutschen Reiches enthüllte. Es ging um die Frage, ob Erleichterungen der Wehrpflicht für Auslandsdeutsche unter den Vorbehalt der Ausbürgerung bei Verletzung der Wehrpflicht gestellt werden sollten. Das Auswärtige Amt sowie das preußische Kriegsministerium sprachen sich aus prinzipiellen Gründen für diese Regelung aus: Für das Kriegsministerium war die Ausbürgerungsmöglichkeit zur Aufrechterhaltung der Wehrdisziplin erforderlich. Das Auswärtige Amt machte politische Überlegungen geltend und unterschied: Auswanderer in europäische Länder träfen dort »geordnete Verhältnisse« an und seien »im allgemeinen nicht auf den Schutz des Reiches angewiesen. In Staaten Südamerikas und Ostasiens hingegen sei der Fremde, wenn er sich nicht auf seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit stützen könne, nicht selten fremder Gewalt preisgegeben«. Für diese Auswanderer seien häufig ein energisches Eintreten und Konfliktlösungen vonnöten, die gegebenenfalls auch zum Einsatz der Machtmittel des Reiches führen könnten. Unter diesen Umständen erfordere es das Staatsinteresse, daß keineswegs Leute geschützt würden, die mit der nicht abgeleisteten Wehrpflicht ihre zumeist einzige Pflicht gegenüber dem Reich nicht erfüllten. Das Reichsmarineamt, unterstützt vom preußischen Innenministerium, bezog die entgegengesetzte Position. Es machte vorderhand Gegengründe der militärischen Personalkapazität geltend. Danach bestand die Überlegenheit der 98 Vgl. die Zusammenfassung der Umfrage unter deutschen Auslandskonsulaten, Auswärtiges Amt an Reichsministerium des Innern, 27.7.1901, BA-L, RDI, Nr. 8007. Eingehender noch die Auszüge aus den Gutachten der kaiserlichen Vertretungen im Ausland über den Entwurf eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes aus dem Jahre 1910, BA-L, RDI, Nr. 8012.

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deutschen Marine gerade darin, daß sämtliche Schiffe im Krieg mit Seeleuten besetzt werden konnten, da viele deutsche Seeleute - unter ihnen allein 10.000 in England - in ausländischen Handelsmarinen dienten. Die Ausbürgerung dieser Seeleute, die zu einem erheblichen Teil ihre deutsche Wehrpflicht nicht erfüllt hätten, werde die Schlagkraft der deutschen Marine erheblich schwächen.'^ Die Ausbürgerung wegen Verletzung der Wehrpflicht war, ohne daß dies in der Absicht der ministeriellen Gesetzesredakteure gelegen hätte, unversehens zum zentralen Thema des ganzen Gesetzes geworden und blockierte über mehrere Jahre die Gesetzgebung. Die politische Dimension des dahinterstehenden Konflikts wurde im Jahre 1905 deutlich, als sie der Leiter des Reichsmarineamts, Admiral von Tirpitz, offenlegte. Er stellte die »die besten nationalen Kreise des Volkes umfassend(e)« Bewegung zur Erhaltung der Staatsangehörigkeit Auslandsdeutscher in den Zusammenhang einer »weitblikkenden Bevölkerungspolitik im Interesse unserer nationalen Entfaltung«. Tirpitz machte sich den Wahlspruch dieser Bewegung »Semel Germanus, semper Germanus« zu eigen, der das Deutschsein zur unaufgebbaren, vererblichen, ›objektiven‹ Eigenschaft machte, und übertrug ihn auf das militärische Interesse der Marine: »Arbeitskraft, Intelligenz und Kapital der Auslandsdeutschen stellen einen wichtigen, in gewisser Hinsicht den wichtigsten Teil unserer Überseeinteressen dar. Es ist ein Widersinn, daß vom deutschen Volk andauernd erhebliche Opfer zum Schutz dieser Interessen verlangt werden und zu gleicher Zeit ein erheblicher Teil der letzteren zwangsweise (gegen den Willen der Beteiligten) durch Ausbürgerung fallen gelassen werden soll«. Auf eben diese Auslandsdeutschen aber sei die »Flottenpolitik wie Überseepolitik« angewiesen. Aus Tirpitz' Sicht stand die Staatsangehörigkeitspolitik ebenso wie die Flottenpolitik im Dienste der neuen »Weltpolitik« des Deutschen Reiches. Beide gehörten zusammen und waren aufeinander bezogen, denn angesichts des Mangels an geeigneten Stützpunkten sei die Marine gezwungen, mit den Auslandsdeutschen dauernde und enge Fühlung zu halten.100 Im Gegensatz zum Auswärtigen Amt vertrat das Reichsmarineamt die Auffassung, daß die Vielzahl von Auslandsdeutschen und die damit verbundenen potentiellen außenpolitischen Verwicklungen durchaus im Interesse des Reiches und des Deutschtums lägen, also eine Stärkung seiner »Vorpostenlinie« darstellen könnten.101 Der politische und militärische Kopf der deutschen Flottenbewegung behandelte also die Staatsangehörigkeit als wichtiges Instrument deutscher Flottenpolitik. Die Vorbereitung der parlamentarischen Beratungen des zweiten 99 Vgl. die Besprechung über die Abänderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, 6.1.1902, BA-L, RDI, Nr. 8007. 100 Staatssekretär des Reichsmarineamts an Reichskanzler, 10.11.1905, BA-L, RDI, Nr. 8009. 101 Stellungnahme der Vertreter des Reichsmarineamts in der Sitzung am 30.10.1905, BA-L, RDI, Nr. 8008.

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Flottengesetzes, das nach Tirpitz' Vorstellungen den Durchbruch zur weltweiten Vormachtstellung der deutschen Kriegsflotte bringen sollte und auf breite Unterstützung in den nationalen Verbänden und im flottenbegeisterten Bürgertum setzte, verlangte, daß jede nationalpolitische Irritation in diesen Unterstützerkreisen vermieden werde. So sehr auch der Leiter des Reichsmarineamtes gegenüber dem Kriegsministerium den »altpreußischen Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht« betonte, war er doch zu dessen Relativierung im nationalen Interesse bereit. Das Anliegen, »wertvolle schneidige Leute - auch wenn sie leichtlebiger seien und Wehrpflichtverletzungen begangen hätten im Deutschtum zu erhalten«,102 setzte eine grundsätzlich andere Priorität als das Auswärtige Amt und das Kriegsministerium. Nicht nur das ›altpreußische‹ Pflichtethos der Staatsgemeinschaft als Wehrgemeinschaft, mehr noch der außenpolitische Zwiespalt zwischen realpolitischer Bescheidung und imperial ausgreifender Weltpolitik wurde damit in das Staatsangehörigkeitsrecht hineingetragen. Noch nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg beklagte von Tirpitz, daß den deutschen Behörden vielfach das »warme Gefühl« für die große Nation gefehlt habe, um das eifrige Nationalbewußtsein der Marine davon um so stärker abzuheben.103 Tirpitz' Anliegen verkörperte eine neue Form des imperialen, aggressiven Nationalismus, der mehr auf technischen Fortschritt, individuelle Leistungsfähigkeit, politische und militärische Nützlichkeit als auf die Pflichtbindung an Gemeinschaftswerte setzte. Ein ›moderner‹ Nationalismus, der sich klassenübergreifend präsentierte, auf den imperialistischen Kampf nach außen gerichtet war und breite Popularität erzielte, drang gegenüber der älteren Vorstellung vor, die stärker auf die inneren Gemeinschaftsbeziehungen der Nation abhob.104 Die unmittelbare Verknüpfung von Flotten- und Staatsangehörigkeitspolitik gelang indessen nicht. Das Eindringen nationaler Gedankengänge in die technische Materie des Staatsangehörigkeitsrechts folgte nicht den Konjunkturen der Tagespolitik. Ein Jahr darauf, im Herbst 1906, vertagte Posadowsky, der Leiter des Reichsamts des Innern, die weiteren Gesetzesberatungen, indem er die staatlichen Interessen mit dem politischen Anliegen einer baldigen Gesetzesänderung für unvereinbar erklärte.105 Erst der Übergang zum »BülowBlock« nach den »Hottentotten-Wahlen« im Jahre 1907 schuf die politischen Voraussetzungen für die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und leitete die entscheidende Phase ein. Die Wahlen, die im Zeichen radikalisierter nationalistischer Agitation standen, brachten den Konservativen, Nationalliberalen, Christlich-Sozialen und Antisemiten im Reichstag die absolute Mehrheit der 102 Ebd. 103 Tirpitz, Erinnerungen, Leipzig 1919, S. 7()f. 104 Zu den Erscheinungsformen des neuen integralen Nationalismus s. Schulze, Staat und Nation, S. 274-278; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. III, S. 1067-1071, 1077. 105 Staatssekretär des Innern an Reichskanzler, 6.11.1906, BA-L, RDI, Nr. 8010

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Mandate, so daß Reichskanzler Bülow seine Politik der nationalen Sammlung fortsetzen konnte. Der Exponent einer sozialpolitischen Annäherung an die SPD, Posadowsky-Wehner, wurde an der Spitze des Reichsamts des Innern durch Bethmann Hollweg abgelöst. Im Januar 1908 drängte nunmehr Reichskanzler Bülow auf baldige Erledigung des Gesetzgebungsauftrags, der durch erneute konservativ-nationalliberalc Reichstagsinitiativen unterstrichen wurde. Als Linie gab Bülow vor, die Ausbürgerung als Folge der Wehrpflichtentziehung einzuschränken.106 Ein halbes Jahr daraufsetzte Bethmann Hollweg diese Direktive in ein Memorandum um, das die Erhaltung einer »möglichst großen Zahl« Auslandsdeutscher zur Leitlinie erklärte und die Ausbürgerung als Strafe für die Wehrpflichtentziehung aufhob. Die beschleunigte Gesctzesvorlage sollte »einen nationalen Zug in die Beratungen des Reichstags bringen und damit ein Gegengewicht gegen die Interessen- und Parteikämpfe des Herbstes« bilden. Bethmann Hollweg empfahl zugleich, eine ausdrückliche Vorschrift zu vermeiden, welche die Naturalisation von Ausländern erschwerte. Eingedenk der Debatte des Jahres 1895 erinnerte er daran, daß jede derartige Bestimmung »namentlich von liberaler Seite schon wegen des vermuteten Zusammenhangs mit der Judenfrage« unter Verdacht gestellt werde. Aus seiner Sicht genügten die bestehenden rechtlichen Mittel zur Beschränkung der Einbürgerung den von »nationaler Seite« vertretenen Wünschen.107 Nach dieser Stellungnahme Bethmann Hollwegs stand fest, daß die angestrebten Einbürgerungsbeschränkungen im Einvernehmen der Bundesstaaten auf dem Verwaltungsweg stattfinden würden - ohne die Öffentlichkeit einer Gesetzesverschärfung. Noch aber mußte ein Kompromiß in der Frage der Ausbürgerung gefunden werden. Das Auswärtige Amt warf- entgegen statistischen Relativierungsbemühungen der Innenbehörden108 - nochmals das ganze Gewicht seiner institutionalisierten außenpolitischen Kompetenz in die Waagschale. Die Befragung von siebzig deutschen Auslandsvertretungen ergab, wie gezeigt, ein mehrheitliches Plädoyer für die Ausbürgerung wegen Verletzung der Wehrpflicht. Diese Ansicht filterte jedenfalls die Führung des Ministeriums aus den diplomatischen Berichten heraus, die vielfach illusionslos die Einschätzung vertraten, daß mit der staatlichen Loyalität vieler Auslandsdeutscher in einem militärischen Konflikt nicht zu rechnen sei.109 Umgekehrt sei diesen aber überwiegend 106 Reichskanzler an Staatssekretär des Innern, 7.1.1908, BA-L, RDI, Nr. 8010. 107 Vorausgesetzt, man mache die »vorherige Niederlassung im Inland zum ausdrücklichen Erfordernis für die Aufnahme«, Staatssekretär des Innern an Reichskanzler, 25.7.1908, BA-L, RDI, Nr. 8010. 108 Zu den Bemühungen des Innenministeriums, die zahlenmäßige Bedeutung der Wehrpflichtentzichung zu relativieren, vgl. Staatssekretär des Innern an die Staatsminister, 22.9.1908, BA-L, RDI, Nr. 8010. 109 Vgl. z. B. den Bericht des Deutschen Konsuls in Porto Alegre, Brasilien, an das Auswärtige Amt, 13.3.1910: Ein großer Teil der Deutschen habe die deutsche Staatsangehörigkeit »gern« gegen die brasilianische eingetauscht. Gegenüber der deutschen Staatsangehörigkeit herrsche in »al-

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bewußt, daß die Erhaltung der staatsbürgerlichen Rechte an die Wehrpflicht geknüpft sei. Der Leiter des Auswärtigen Amtes, Kiderlen-Waechter, nahm das Ergebnis der Erhebung zum Anlaß, um auf der Sicherstcllung der Wehrpflicht zu beharren, auf der »Deutschlands Größe« beruhe. Der Regierungsentwurf, der im Frühjahr 1912 dem Reichstag vorgelegt wurde, sah endlich eine Reihe von Wehrpflichterleichterungen für Auslandsdeutsche vor. Ein militärpflichtiger Deutscher, der ungeachtet dieser Erleichterungen seine Wehrpflicht verletzte, verlor seine deutsche Staatsangehörigkeit.110 Letztlich hatte sich damit der etatistische Standpunkt des Auswärtigen Amtes durchgesetzt, auch wenn die Nichterfüllung der Wehrpflicht als »Verzicht« fingiert wurde. Maßgeblich blieb der Verstoß gegen die Wehrgerechtigkeit und die »höchste Pflicht gegen das Vaterland«.111 Der Gedanke »Keine Volksgemeinschaft ohne Wehrgemeinschaft« hatte sich damit gegen den unbedingten Erhalt und Primat der Volksgemeinschaft durchgesetzt. Der Regierungsentwurf, Ergebnis der zwei Jahrzehnte währenden interministeriellen Debatten, nahm in jedem tragenden Gesichtspunkt das Ergebnis der Gesetzesberatungen vorweg. Wie sehr auch nationale Interessenverbände die Beharrungskraft in der Ministerialbürokratie überwunden und die Gesetzgebungsarbeit in Gang gehalten hatten, so beharrungskräftig erwies sich das gouvernementale Beratungsergebnis andererseits gegenüber oppositionellen Änderungsanträgen. Der Regierungsentwurf ebenso wie das Gesetz schienen ein ursprüngliches Anliegen der Initiative von 1895 zu übergehen. Der Gesetzeswortlaut ließ nur eine marginale Verschärfung der allgemeinen Naturalisationsbedingungen für Ausländer erkennen.112 Doch lag die eigentliche Beschränkung etwas verdeckt in einer Bestimmung, die vorderhand einer Homogenisierung und Zentralisierung der Einbürgerungsentscheidung im Bundesstaat diente, denn die Einbürgerung in einem Bundesstaat sollte erst erfolgen können, nachdem durch den Reichskanzler festgestellt worden war, daß keiner der übrigen Bundesstaaten dagegen Bedenken erhoben hatte. Entscheidend aber war, daß diese Bedenken auf einen zusätzlichen Ablehnungsgrund, eine Gefährdung, die das »Wohl des Reiches oder eines Bundesstaats betraf«, len Klassen« der deutschen Bevölkerung eine »betrübliche Gleichgültigkeit«, und zwar »im auffallenden Kontrast zu den Behauptungen der meist im alldeutschen Lager befindlichen Vorkämpfer eines neuen Staatsangehörigkeits-Gesetzes«, gesammelt mit den anderen Berichten, BA-L, RDI, Nr. 8012. 110 Entwurf eines Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, § 22, RT-Prot., 13. LP (19121914), Anlagen, Bd. 298, Drucksache Nr. 6. 111 Entwurf eines Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, S. 17, RT-Prot., 13. LP (19121914), Anlagen, Bd. 298, Drucksache Nr. 6. 112 § 7 des Regierungsentwurfs machte erstmals die vorherige Niederlassung im Inland zur Voraussetzung der Einbürgerung (vgl. RT-Prot., 13. LP (1912/1914, Anlagen, Bd. 298, Drucksache Nr. 6, S. 2, 22).

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gestützt werden konnten. Damit war eine Generalklausel geschaffen, aufgrund deren sich die Einbürgerungspolitik des Deutschen Reiches an dem politischen Ermessen eines einzelnen Bundesstaates ausrichtete, der die Befürchtung einer Gefährdung anmeldete. Da die letzte Entscheidung beim Bundesrat lag, war ausschlaggebend, ob sich dieser Bundesstaat mit seinen Bedenken dort durchsetzte. Es lag auf der Hand, daß diese Vorschrift auf den Hegemonialstaat Preußen zugeschnitten war und der Durchsetzung seiner besonders restriktiven Einbürgerungspolitik diente. Bereits 1891 hatte Preußen im Bundesrat einen Beschluß durchgesetzt, nach dem der Bundesstaat, in dem die Einbürgerung angestrebt wurde, im Bundesrat mit seinen Bedenken anzuhören war. Das Reichsgesetz von 1913 faßte diesen Beschränkungsmechanismus in Gesetzesform. Es eröffnete die Möglichkeit, bestimmte Kategorien von Ausländern, »beispielsweise stammfremde Elemente aus dem Osten, wie Polen und Tschechen, oder nicht auf unserer Kulturstufe stehende Juden«, wie es eine Stellungnahme des Reichsamts des Innern formulierte, in flexibler, d. h. auf den Einzelfall bezogener Weise, von der Staatsangehörigkeit auszuschließen, ohne deswegen allgemeine Grundsätze aufstellen zu müssen, die in der Öffentlichkeit als »besonders gehässig(es)« Ausnahmerecht gegenüber bestimmten Nationalitäten, Konfessionen oder Berufen aufgefaßt werden mußten.113 Wurde damit regierungsintern eingeräumt, daß die Vorschrift auch als konfessionelles Regulativ diente, um insbesondere Juden fernzuhalten, wurde dies zugleich in der Öffentlichkeit vehement bestritten. Vertreter der preußischen Regierung erklärten vielmehr mit Nachdruck vor dem Reichstag, daß das »Religionsbekenntnis als solches ein maßgebendes Moment für die Behörden bei der Entscheidung über Naturalisationsanträge nicht bilde«.114 Die Praxis der preußischen Behörden zeigte aber ein anderes Bild. Längst war in der jüdischen Bevölkerung und der liberalen Öffentlichkeit allgemeinkundig, daß Juden wenn auch nicht vollständig, so doch systematisch von der preußischen Staatsangehörigkeit ferngehalten wurden. Im Jahre 1910 hatte der Verband der Deutschenjuden gegen die Diskriminierung der Juden im Einbürgerungsverfahren Protest eingelegt. Die Eingabe der jüdischen Zentralorganisation warf ein scharfes Licht auf die Einbürgerungspraxis und bekundete »auch im Namen der deutschen Juden«115 die »Kränkung« aufgrund der »fast ausnahmslosen Nichtgewährung der inländischen Staatsangehörigkeit an Ausländer jüdischen Glaubens«. Vor dem Reichstag machten sich SPD und Freisinnige Volkspartei die Kritik der jüdischen Organisation zu eigen, nannten die Erklärung des 113 Vgl. Bemerkungen zu den Ausführungen der Königlich Bayerischen Regierung über die Aufnahme von Ausländern, BA-L, RDI, Nr. 8013. 114 Prot.RT, 13. LP (1912-1914), Anlagen, Bd. 301, Drucksache Nr. 962. 115 Hervorhebung im Original, s. Ausschuß des Verbandes der Deutschen Juden an den Reichskanzler, 27.2.1910, BA-L, RDI, Nr. 8011.

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preußischen Regierungsvertreters »völlig haltlos« und durch die Tatsachen »vollständig widerlegt«.116 Eduard Bernstein ging im Namen der SPD noch über das Anliegen des Verbandes der Deutschen Juden hinaus und forderte die Gewähr, daß die Einbürgerung fortan völlig religionsneutral zu erfolgen habe. Doch die Forderung des jüdischen Verbandes nach einem ausdrücklichen Diskriminierungsverbot im Staatsangehörigkeitsrecht widersprach der Auffassung der Reichstagsmehrheit. Während Vertreter der rechten Splitterparteien offen die Stärkung des Rassegedankens im Staatsangehörigkeitsrecht propagierten,117 ließen sich die Nationalliberalen von dem Regierungsversprechen künftiger Religionsneutralität beruhigen. Der Vertreter des Zentrums distanzierte sich ausdrücklich von jedem Antisemitismus, um sich im selben Atemzug gegen eine »massenhafte Naturalisation von galizischen Hausierern« auszusprechen.118 Offenkundig benutzte die Reichstagsmehrheit die preußische Regierungserklärung als Vorwand, um die diskriminierende Verwaltungspraxis gesetzlich ungehindert aufrechterhalten zu können. Das heißt, daß die Mehrheit des Reichstags die Diskriminierung von Juden bei der Einbürgerung unterstützte oder sie doch zumindest einschließlich ihrer Zentralisierung und Effektivierungauf der Reichsebene hinnahm. Blieb die Behandlung der Juden bei der Einbürgerung umstritten, herrschte Einmütigkeit hinsichtlich des zweiten großen Reformziels der Novelle: Die Aufhebung der Zehn-Jahrcs-Verlustfrist für Auslandsdeutsche wurde von allen Parteien begrüßt. Die jahrzehntelange Propaganda der nationalen und auslandsdeutschen Verbände ließ es als Selbstverständlichkeit erscheinen, daß diese Verlustregel dem nationalen Selbstbewußtsein des Deutschen Reiches widersprach. Auch aus der Sicht der SPD, welche die grundsätzlichsten und schärfsten Einwände gegen den Regierungsentwurf vortrug, war die Aufgabe dieser Bestimmung eine längst überfällige »Selbstverständlichkeit«, zumal für ein Land, das, fügte Otto Landsberg hinzu, »Weltpolitik« treibe. Der Staatssekretär im Reichsamt des Innern Delbrück formulierte den nationalen Kernpunkt der Gesetzesreform mit breiter Zustimmung bis weit hinein in das liberale und linke Lager des Reichstags, wenn er den Regierungsentwurf damit begründete: »Das ›civis Germanus sum‹ hat aufgehört, ein leeres Wort zu sein. Es ist das stolze Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einem großen und mächtigen Staat. Das Bewußtsein, ein 116 S. RT-Prot., 13. LP (1912/1914), 153. Sitzung (28.5.1913), S. 5274 (Landsberg, SPD), 5285 (Blunck, Freisinnige Volkspartci) 117 S. ebd., S. 5282 (Abg. Giese, Konservative Partei), 5287 ( v. Liebcrt, Deutsche Reichspartei). 118 S. ebd., S. 5276 (Abg. Beizer, Zentrum), S. 5279 (Abg.Beck, Nationalliberale Partei), nachdem noch in der ersten Lesung der nationalliberale Vorsitzende der Reichstagskommission, Richthofen, eine gesetzliche Klarstellung gebilligt hatte (vgl. RT-Prot., 13. LP (1912-1914), 13. Sitzung (23.2.1912), S. 284.

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Deutscher zu sein, erschöpft sich nicht mehr in einem Bündel sentimentaler Erinnerungen [...]. Das Bewußtsein, ein Deutscher zu sein, gibt gleichzeitig das Gefühl der Sicherheit, das alle kennen, die sich unter dem Schutz einer starken Flagge wissen.«119 Delbrück schlug damit bis in die Wortwahl hinein den politischen Bogen zu den Anträgen führender Nationalliberaler im Norddeutschen Reichstag von 1870. Hatten diese noch vergeblich den Stolz auf den kommenden deutschen Nationalstaat gegen die 10-Jahres-Frist angeführt, war ihre Auffassung vier Jahrzehnte später zum politischen Gemeingut geworden. Das Motiv der ›Weltpolitik‹ hinter der Staatsangehörigkeitsreform, das bis hinein in die Sozialdemokratie Widerhall fand, hatte auch der führende Kopf des deutschen Linksliberalismus, Friedrich Naumann, bereits 1908 mit Nachdruck für die Erhaltung der deutschen Staatsangehörigkeit angeführt; sie ergebe sich zwingend aus der Flottenpolitik, einer »Expansionspolitik des Deutschtums«, die auf den »lebendigen Menschen« gestützt werden müsse.120 Die Aufhebung des automatischen Staatsangehörigkeitsverlusts entsprach überdies dem liberalen Prinzip individueller Willensentscheidung. Sie schloß schließlich zu den nationalen Rechtstraditionen der großen Nationalstaaten auf Umfangreiche rechtsvergleichende Arbeiten der Entwurfsredaktoren hatten nämlich gezeigt, daß die deutsche Verlustregelung - abgesehen von Österreich-Ungarn - beinahe einzigartig im Staatsangehörigkeitsrecht der großen europäischen Nationalstaaten dastand.121 Von daher entsprang es mehr dem Motiv der Angleichung an das immer wieder zitierte Vorbild des englischen und französischen Nationalstolzes als einem nationalen Überlegenheitsgefühl. Insgesamt zeigt sich hinter der Erschwerung des Staatsangehörigkeitsverlusts für Auslandsdeutsche ein breiter nationalpolitischer Konsens, der auf einer Vielzahl außen- und nationalpolitischer, auch sozialer122 Motive beruhte, doch in seinem politischen Kern eines anzeigte: Die deutsche Staatsangehörigkeit war am Vorabend des Ersten Weltkrieges - in allen politischen Lagern - zu einem nationalpolitischen Symbol, zu einem Gut geworden, dessen Besitz und Verteidigung nicht nur einen praktischen Vorteil darstellte, sondern eine Frage des Nationalgefühls, ja der nationalen Ehre war. Diese breite Politisierung und Nationalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit wird von Interpretationen übersehen, welche die Durchsetzung des ius sanguinis auch für Auslandsdeutsche und ihre Privilegierung beim Wiedererwerb der deutschen Staatsangehörigkeit schlicht als konsequente Durchsetzung der ethnisch-kulturellen

119 RT-Prot., 13. LP (1912/1914), 13. Sitzung (23.2.1912), S. 250. 120 RT-Prot., 12. LP (1907-1911), 130. Sitzung (24.3.1908), S. 4271. 121 Vgl. die Aufstellung der Gründe für den Verlust der Staatsangehörigkeit in RT-Prot., 13. LP (1912/1914), Anlagen, Bd. 298, Drucksache Nr. 6, S. 82f. 122 Betont von dem Abgeordneten Briihne (SPD), s.RT-Prot., 12. LP ,46.Sitzung (2.3.1910), S. 1651.

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Grundkonzeption der deutschen Staatsangehörigkeit deuten.123 Zwar hatte der völkisch-nationale Grundimpetus der Reforminitiative von 1895 mit seinen antisemitischen Nebenaspekten einen solchen Zusammenhang von Beginn an nahegelegt. Zwei Jahrzehnte später war er - in der Sicht der politisch Handelnden - gelockert. Sie unterschieden schärfer zwischen innen und außen, zwischen der äußeren Stärkung des deutschen Nationalstaats und des Auslandsdeutschtums einerseits, der inneren Durchsetzung nationaler ›Homogenität‹ andererseits. Die Kontroverse um die Einbürgerung der Juden hatte dies gezeigt. Die eigentliche Auseinandersetzung um die Grundkonzeption des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts entbrannte daher am Prinzip des Staatsangehörigkeitserwerbs. Sollte das reine Abstammungsprinzip (ius sanguinis) Geltung behalten oder vom Territorialprinzip (ius soli) eingeschränkt werden? Nachdem die Regierungen Preußens und des Reiches bereits vor 1895 die Übernahme territorialer Elemente des französischen Rechts grundsätzlich verworfen hatten, fanden diese auch im Regierungsentwurf von 1912 keinerlei Berücksichtigung. Grundsätzliche Opposition dagegen kam von der SPD. Die nunmehr stärkste Oppositionspartei zog mit ihrer Position die Summe aus Jahrzehnten demographischer und sozialer Veränderungen, aber auch eigener Diskriminierungserfahrungen im Kaiserreich. Der stark steigende Anteil ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, ihre systematische Anwerbung entsprechend den Marktbedürfnissen der Industriegesellschaft, zugleich aber ihre Fernhaltung aus der deutschen Staatsangehörigkeit, weil sie meistens polnischer Nationalität und sozialdemokratischer Gesinnung waren, trieb die SPD zu einem grundsätzlichen Vorstoß gegen das exklusive Abstammungsprinzip. Sie forderte, allen in Deutschland Geborenen und Aufgewachsenen, auch wenn sie Kinder von Ausländern waren, die deutsche Reichsangehörigkeit zu geben. Karl Liebknecht begründete diese Haltung im Namen seiner Partei mit fundamentalen Widersprüchen in der hergebrachten Staatsangehörigkeitspolitik. »Für einen ausländischen Arbeiter«, konstatierte er, der als Anwalt reiche Erfahrungen in Einbürgerungsfällen gesammelt hatte, ist es »ein Ding der Unmöglichkeit, in Deutschland naturalisiert zu werden«. Einerseits würden dafür fiskalisch-armenpflegerische Gesichtspunkte angeführt, andererseits ziehe man die Arbeiter nach Deutschland künstlich herein, »sie werden speziell nicht nur in der Industrie, sondern auch von den Hauptmatadoren jenes glühenden Nationalbewußtseins, den Herren, die in den Parteien der Rechten ihre Vertretung gefunden haben, in Massen nach Deutschland hineingezogen«. Liebknecht traf einen Grundwiderspruch, indem er folgerte: »Wenn aber die ausländischen Arbeiter gut genug dazu sind, 123 S. Brubaker, Citizenship and Nationhood, S. 119; nahegelegt auch bei Monimsen, Nationalität im Zeichen offensiver Weltpolitik, S. 136, der das Motiv der »Weltpolitik« anführt, ohne seine Breitenwirksamkeit zu beleuchten.

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daß sie in Deutschland ausgebeutet werden, dann sollten sie auch gut genug dazu sein, daß man sie in Deutschland naturalisiert«. Dementsprechend sollte auch jeder, der als Soldat für das Deutsche Reich »sein Blut verspritzt hat oder zu verspritzen bereit war«, das Recht auf Einbürgerung haben. Eine abschließende gesetzliche Aufstellung der Versagungsgründe sollte der restriktiven insbesondere preußischen - Praxis der Einbürgerungsverweigerung aus politischen und wirtschaftlichen Gründen einen Riegel vorschieben. Der SPD-Antrag formulierte insgesamt einen konsistenten Gegenentwurf zum hergebrachten System des Staatsangehörigkeitserwerbs. Er beruhte auf dem vertraglichen Gedanken der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten in einer staatlich verfaßten Gemeinschaft, nüchtern formuliert, ein Staat sei heute nichts anderes »als eine Gemeinschaft derer, die sich zu gemeinschaftlicher Arbeit verbunden hätten, eine Arbeitsgemeinschaft«.124 Die Radikalität dieses Gegenentwurfs zur herrschenden Gemeinschaftsvorstellung erwies sich am vehementen Widerspruch, dem sie begegnete. Selbst innerhalb der SPD-Fraktion erfuhr sie eine einschränkende Interpretation. Otto Landsberg, wohl mit Rücksicht auch auf Bedrohungs- und Konkurrenzängste an der eigenen Parteibasis,125 versicherte dem Reichstag, daß niemand daran denke, dem Deutschen Reich zuzumuten, »Krethi und Plethi zu naturalisieren«. Vielmehr würden nicht »minderwertige«, sondern nur »tüchtige und vollständig einwandfreie«, keineswegs »minderwertige Ausländer« zu deutschen Staatsbürgern gemacht. Nur ein »geistig und körperlich durchaus tüchtiger Mann« erhalte daher einen Anspruch auf Einbürgerung. Auch nach dieser Auffassung wirkte also die Einbürgerungsprozedur als bevölkerungspolitischer Filter.126 Doch waren die Sclektionskriterien strikt am Nutzen für den Arbeitsprozeß ausgerichtet: Wer sich psychisch und physisch als Mitglied der »Arbeitsgemeinschaft« eignete, erwarb dadurch einen Anspruch auf Aufnahme. Die Partei der Arbeiterbewegung blieb damit ihrem Entstehungsparadigma verpflichtet: Die Einfügung in den marktbestimmten Arbeitsprozeß, dessen Bedingungen es gerecht zu gestalten galt, war der Ausgangspunkt, die notwendige, zugleich aber auch hinreichende Eintrittsbedingung für die Entwicklungjeder weitergehenden staatlichen Gemeinschaftsvorstellung. Konfessionelle Maßstäbe, vor allem ›objektive‹ Kriterien der Nationalität, Ethnizität oder Rasse, lagen dieser an der Zweckrationalität des Arbeitsprozesses orientierten Gemeinschaftsvorstellung fern. 124 Vgl. Bericht der 6. Reichstagskommission, RT-Prot., 13. LP (1912/1914), Anlagen, Bd. 301, S. 1421. 125 Dazu Herbert, Ausländerbeschäftigung, S. 68f.; Barfuss, S. 187, 203. 126 Landsberg stellte damit klar, daß die SPD lediglich für ein bedingtes ius soll, die Aufnahme eines im Land geborenen Ausländers kraft Antrags, nicht jedoch - wie in den USA und Frankreich - für den automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt im Land, iure soli, eintrat, s. Brubaker, Citizenship and Nationhood, S. 120.

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Gerade um die Aufrechterhaltung dieser vermeintlich ›objektiven‹ Differenzierungskriterien war es aber der Reichstagsmehrheit zu tun. Dem Staat als »Arbeitsgemeinschaft« wurde die Konzeption vom Staat als »Familie« entgegengesetzt.127 Auch in diese werde nur aufgenommen, wer ihr genehm sei, ohne einen Anspruch darauf zu haben. Mit Hilfe der Metapher »Familie« konnte nationalen und ethnischen Unterschieden genetische und damit vererbliche Qualität zugeschrieben werden. Die Analogie von Staat und Familie fügte sich ganz in die Konzeption vom »christlichen Staatswesen«, die das Zentrum und Teile der Konservativen Partei verfochten. Beide Parteien sprachen sich gegen die Einführung des ius soli sowie eines Einbürgerungsanspruchs aus.l28 Der Sprecher der Konservativen begrüßte, daß das Gesetz den Grundsatz des ius sanguinis festgeschrieben habe, daß also »in der Hauptsache die Abstammung, das Blut das Entscheidende für den Erwerb der Staatsangehörigkeit ist«. Der Sprecher der Nationalliberalen Partei wollte zwar den Ausdruck »völkisches Empfinden« vermeiden, plädierte aber, in der Sache gleichbedeutend, dafür, »ein gewisses Mitempfinden, ein Verstehen der Volksseele, ein Hineinwachsen in alle die Verhältnisse, die die Entwicklung der Geschichte und der Zusammensetzung unseres Volkes mit sich bringt«, zur Bedingung der Einbürgerung zu erheben.129 Damit formulierte er nochmals in eindringlicher Weise die ethnisch-kulturelle Mehrheitskonzeption, die den Regierungsentwurf trug und schließlich durchsetzte. Zwar erhielt der sozialdemokratische Vorstoß parlamentarische Unterstützung, denn Teile der Fraktion der Nationalliberalen bekundeten eine vorsichtige Annäherung an das ius soli.130 Die Fortschrittliche Volkspartei sprach sich für das ius soli als modernes, international herrschendes Rechtsprinzip aus.131 Die Vertreter der dänischen und polnischen Minderheit132 erhofften sich davon eine Minderung ihrer Diskriminierung und des Problems der Staatenlosigkeit. Demgegenüber beharrte die Reichsregierung mit Unterstützung der Reichstagsmehrheit erfolgreich133 auf der Aufrechterhaltung des reinen ius san127 Vgl. Bericht der 6. Kommission, RT-Prot., 13. LP (1912/1914), Anlagen, Bd. 301, Drucksache Nr. 962, S. 1421. Der Befürworter dieser Konzeption distanzierte sich indessen ausdrücklich von antisemitischen Einschränkungen der Einbürgerung. 128 S. RT-Prot., 13. LP (1912/1914), 153. Sitzung (28.5.1913), S. 5276 (Abg. Beizer, Zentrum). 129 S. ebd., S. 5278 (Abg. Beck, Nationalliberale Partei), S. 5282 (Abg. Giese, Konservative Partei). 130 Der nationalliberale Vorsitzende der Reichstagskommission, Freiherr von Richthofen, hatte noch in der ersten Lesung eine Art Optionsmodell für Ausländer erwogen, die in Deutschland geboren waren und dort bis zur ihrer Volljährigkeit gelebt hatten, s. RT-Prot., 13. LP (1912— 1914), 13. Sitzung (23.2.1912), S. 284. 131 RT-Prot., 13. LP (1912/1914), 153. Sitzung (28.5.1913), S. 5284. 132 Ebd., S. 5287 (Abg. Dombek). 133 Die Reichsregierung in Verbindung mit den Regierungen der Bundesstaaten machte die Aufrechterhaltung des reinen ius sanguinis zur Bedingung für die Verabschiedung des Gesetzes, s.

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guinis. Mit Nachdruck erinnerte die Reichsregierung an die nationalpolitische Ratio, die hinter dieser Grundentscheidung stand. Der Vertreter des Reichsinnenministeriums, dessen Abteilung den Gesetzentwurf erarbeitet hatte, gemahnte die Abgeordneten an die »geographische Situation und besondere Lage« des Deutschen Reiches, das in besonderer Weise der Einwanderung aus Osteuropa ausgesetzt sei. Gerade deshalb gelte es am Regierungsentwurf festzuhalten, denn er legitimiere und stütze die hergebrachte Einbürgerungspolitik, und zwar »im Interesse einer nationalen Politik, um den Strom von Ausländern, der vom Osten in unser Land hereinkommen will, zurückzuhalten.«134 Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 kodifizierte das exklusive ins sanguinis zu einer gleichermaßen rechtlichen wie politischen Institution der deutschen Staatsangehörigkeit. Die Entscheidung für das Monopol des Abstammungsprinzips beim Ersterwerb der deutschen Staatsangehörigkeit setzte nicht schlicht eine bürokratische Tradition aus dem 19. Jahrhundert fort. Sie traf in gleichem Maße eine politische Entscheidung gegen die politische Alternative: das ius soli. Der Ausschluß jedes territorialen Elements135 beim Staatsangehörigkeitserwerb diente dem Ausschluß bestimmter Einwanderungs- und Ausländergruppen. Das exklusive ius sanguinis diente der Fernhaltung von Zuwanderern ›aus dem Osten‹, die als ethnisch und kulturell fremd und minderwertig sowie als nationalpolitisch gefährlich eingestuft wurden.136 Es sollte insbesondere Polen und Juden weitgehend aus der deutschen Staatsangehörigkeit fernhalten. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht stellte ein rechtliches Regulativ bereit, das die ökonomisch nützliche Arbeitszuwanderung, zugleich aber jederzeit ihre Unterbindung aus ethnisch-kulturellen Gründen ermöglichte. Somit wirkte das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 als Institution potentiell geschlossenerStaatlichkeit137und stellte diese politische Intention auf Dauer. Das ius sanguinis half somit, eine bestimmte historische Abwehrvorstellung und Abwehrpolitik strukturell zu verfestigen. Die Vererbung138 der StaatsangeStaatssekretär des Innern Delbrück, RT-Prot., 13. LP (1912-1914), 169. Sitzung (25.6.1913), S. 5764. 134 S. RT-Prot., 13. LP (1912/1914), 154. Sitzung (29.5.1913), S. 5304. 135 Abgesehen von marginalen territorialen Elementen in §§ 4 Abs.2, 9 Nr. 2. Danach erwarben Findelkinder die Staatsangehörigkeit des Bundesstaates, in dem sie aufgefunden wurden. Ausländer, die im Deutschen Reich geboren waren und sich dort bis zu ihrem 21. Lebensjahr aufgehalten hatten, bedurften zu ihrer Einbürgerung lediglich der Zustimmung des Niederlassungsstaates. Die Findelkindklauscl war, da sie eine Durchbrechung des ius sanguinis bedeutete, erst aufgrund eingehender Erhebungen in allen Bundesstaaten in den Gesetzentwurf aufgenommen worden, die ergaben, daß diese Fälle insgesamt quantitativ kaum ins Gewicht fielen, vgl. dazu die Berichte der Bundesstaaten, BA-L, RDI, Nr. 8014. 136 Zu diesem deutschen Stereotyp der Bedrohungswahrnchmung Bade, Europa, S. 215. 137 S. Gosewinkel, Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats, S. 377. 138 Die uneingeschränkte Vererblichkeit der Staatsangehörigkeit war von jeher Bestandteil des Abstammungsprinzips (mißverständlich Mommsen, Nationalität im Zeichen offensiver Welt-

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hörigkeit nach dem Abstammungsprinzip entsprach überdies in besonderer Weise ethnischen Homogenitätsvorstcllungen, die von der ›objektiven‹ Qualität der Eigenschaft des ›Deutschen‹ und ihrer genetischen Übertragung ausgingen.139 Im Ergebnis hatten sich somit die ethnisch-völkischen Vorstellungen der nationalen Verbände gegenüber der politisch-utilitaristischen Konzeption der Reichstagslinken durchgesetzt. Insgesamt fand die Nationalisierung des Staatsbürgers im Sinne einer Angleichung der Staatsangehörigkeit an vorstaatlich-vorpolitische Nationvorstellungen im ius sanguinis ihre rechtliche Legitimation. Gleichwohl gilt es, diesen Befund gegen zweierlei interpretatorische Vereinfachungen und Verzerrungen abzugrenzen. Die Verfestigung des exklusiven ius sanguinis bedeutete nicht die Übernahme des blutsbezogenen, biologischen Rassetheorems in das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht.140 Zwar unterlegten die Vertreter der nationalen und antisemitischen Verbände und Parteien ihrer ethnischen Homogenitätskonzeption immer wieder das Kriterium der »Rasse«. Doch traf das Wort nicht die Konstruktion des Abstammungsprinzips. Die deutsche Staatsangehörigkeit wurde zwar durch Abstammung vererbt. Solange aber daneben ein Einbürgerungsverfahren stattfand, das nicht - oder nicht zwingend - rassischen Kriterien folgte, blieb die deutsche Staatsangehörigkeit grundsätzlich erwerbbar auch für solche Bewerber, denen eine fremde Rassezugehörigkeit zugeschrieben wurde. Waren diese einmal naturalisiert, gaben sie ihre Staatsangehörigkeit durch Vererbung weiter wie jeder andere Deutsche. Insoweit blieb auch das Abstammungsprinzip eine rechtlich-formale Konstruktion, als es von der Qualität des Blutes, das vererbt wurde - sei es biologischer oder rassischer Natur -, gänzlich absah. Dies belegen zwei Gesetzesdetails: Zum einen wurde der Begriff des »Deutschen« in dem neuen Gesetzeswerk strikt formal auf die staatliche Zugehörigkeit zu einem Bundesstaat oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit beschränkt.141 Damit wurden politik, S. 137) und wurde lediglich durch das Reichsgesetz von 1913 auf Deutsche im Ausland erstreckt. 139 Vgl. Brubaker, Citizcnship and Nationhood, S. 137. 140 Vgl. insbesondere Turner, S. 147, der durch das »ius sanguinis einen fruchtbaren Boden für die nationalsozialistische Saat des Völkermords« gelegt sieht, da es den Glauben genährt habe, daß die Zugehörigkeit zur Nation eine Sache der Abstammung und daher der Biologie sei (Hervorhebung D.G.). Die Veränderung des Prinzips im rassistischen NS-Recht tritt hinter der »völkischen Uminterpretation« zu sehr zurück auch bei Mommsen, Nationalität im Zeichen offensiver Weltpolitik, S. 138; die funktionale Kontinuität ohne weiteres aufgrund des rechtlichen Prinzips voraussetzend Wippermann, » ius sanguinis« und Minderheiten, S. 141, sowie El-Tayeb, S. 149; Rasseprinzip und ius sanguinis in eins setzend Fahlbusch, S. 55. 141 Ubersehen bei Brubaker, Citizcnship and Nationhood, S. 117, der die staatsnationale Verengung des Begriffs »Deutscher« infolge seiner Aufnahme in das Gesetz übergeht; insoweit zutreffend zur Entkoppelung von ethnos und demos im Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 Silagi, Vertreibung, S. 76.

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ausdrücklich Bedenken aus nationalen und antisemitischen Parteikreisen abgewiesen, die völkische und rassische Momente verwischt sahen, wenn ein Deutsch-Österreicher nicht mehr als Deutscher galt, ein Slawe aber sehr wohl durch Naturalisation Deutscher werden konnte.142 Zum zweiten widersprach das Gesetz Forderungen nach einer rassischen Verengung der Staatsangehörigkeit, indem es Eingeborene der Schutzgebiete gerade nicht vom Erwerb der Reichsangehörigkeit ausnahm. Das »Blut« im Prinzip des »ius sanguinis« war formal und instrumenteil, nicht substantiell gemeint. Daß es von Apologeten des biologischen Rassegedankens substantiell interpretiert wurde, sagt viel über die propagandistische Ausdeutbarkeit des Wortes »Blut« zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nichts jedoch über die sachliche Richtigkeit dieser terminologischen Aufladung. Zum zweiten übersieht die einlinige Interpretation des Gesetzes von 1913 als ›Ethnonationalisierung‹143 die gegenläufigen und begrenzenden Tendenzen aus dem ›staats-nationalen‹ Prinzip. So durchkreuzten staatsnationale Erwägungen der Gegenseitigkeit von Schutz und Gehorsam völkische Homogenitäts- und Expansionsbestrebungen. Ein Ausländer, der im deutschen Militär- und Staatsdienst gestanden hatte, konnte - in Abweichung von dem allgemeinen Grundsatz - die Einbürgerung beanspruchen.144 Die Durchsetzung des Grundsatzes »Keine Volksgemeinschaft ohne Wehrgemeinschaft« erhob die Wehrbereitschaft prinzipiell zur Bedingung und Grenze der Staatsangehörigkeit , und zwar ungeachtet der ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit zum Deutschtum. Die Tradition einer symbolischen Heiligkeit145der Staatsangehörigkeit lebte darin fort. Sie schlug sich in der äußersten Konsequenz der Pflicht des Staatsangehörigen nieder, im Militärdienst sein Leben für den Staat zu opfern. Darin zeigte sich, wie sehr militärische Erwägungen in der Hochphase der nationalstaatlichen Entwicklung Europas kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs den staatsnationalen Grundzug der Kodifikation ausprägten und auf Dauer stellten. Daraus folgte schließlich auch die Einzigkeit, die ungeteilte Loyalitätspflicht der staatlichen Angehörigkeitsbeziehung. Dem trug das neue Gesetz mit dem neu eingeführten, grundsätzlichen Ausschluß einer doppelten Staatsangehörigkeit Rechnung.146 142 S. § 1 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 23.7.1913; RT-Prot., 13. LP (1912/ 1914), Anlagen, Bd. 301, Drucksache Nr. 962, S. 1413. 143 So auch die eindringliche Studie von Brnbaker, Nationhood and Citizenship, S. 115, der das Wehrpflichtproblem nicht in seiner grundsätzlichen Bedeutung sieht. 144 S. §§ 12 (Militärdienst, erstmals ausdrücklich im gemeindeutschen Staatsangehörigkeitsrecht), 14 RuStAG vom 23.7.1913 (Staatsdienst, auch jüdische »Religionsgesellschaften« einschließend). 145 Dazu eingehend Brubaker, Einwanderung und Nationalstaat, S. 4. 146 Vgl. § 25 RuStAG 1913. Die ausnahmsweise Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit bedurfte der behördlichen Genehmigung; s. Silagi, Vertreibung, S. 79.

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Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 war ein gesetzgeberisches Jahrhundertwerk. Es kodifizierte den säkularen Wandel der deutschen Staatsangehörigkeit des 19. Jahrhunderts, verkörpert im Übergang vom Territorial- zum Abstammungsprinzip, und schrieb diesen Paradigmenwechsel für das 20. Jahrhundert fest. Das Gesetz beruhte auf einer konkreten Abwehrvorstellung gegenüber ›Ostausländern‹ und Juden und verfestigte sie. Es legitimierte und begünstigte Diskriminierungen nach ethnisch-kulturellen Kriterien, doch es erzwang sie nicht. Das Gesetz ließ auch Spielräume für eine liberale Einbürgerungspolitik. Letztlich entscheidend für die restriktive oder liberale Vergabe der deutschen Staatsangehörigkeit blieben auch nach 1913 politische Entscheidungen und Mentalitäten, denen das neue Gesetz nur mehr einen institutionellen Rahmen gab.

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VII. Die Volkstumsprägung der Staatsangehörigkeit im besiegten Nationalstaat: Erster Weltkrieg und Weimarer Republik

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs aktualisierte schlagartig die staatsnationale Bedeutung des neuen Staatsangehörigkeitsrechts. Die Generalmobilmachung im August 1914 erfaßte nicht mehr - wie in Friedenszeiten - nur die wehrpflichtigenjungen Männer eines Jahrgangs. Auf dem Höhepunkt der Mobilisierung standen mehr als dreizehn Millionen deutscher Männer aller Altersklassen und Schichten unter Waffen.1 Sie unterlagen der Dienstpflicht, weil sie deutsche Staatsangehörige waren. Entzogen sie sich dieser Pflicht, wurden sie als Fahnenflüchtige ausgebürgert2 bzw. als Deserteure bestraft. Die Mobilisierten unterlagen Ausreisebeschränkungen; sie konnten mit ihren Familien nur aufgrund besonderer Genehmigung das Land verlassen. Wehrpflichtige deutsche Männer wurden nach Kriegsausbruch nicht mehr aus der Staatsangehörigkeit entlassen.3 Deserteure unterlagen harten Strafen,4 wehrflüchtige Auslandsdeutsche und Überläufer wurden ausgebürgert: aus der Wehrgemeinschaft im Krieg‹ symbolisch ausgestoßen. Derartige Fälle häuften sich im Verlauf des Krieges insbesondere in den deutschen Gebieten mit hohem Anteil französischer, dänischer und polnischer Nationalität.5 Auch die Amnestierung der Wehrpflichtvergehen nach Kriegsende hob die Ausbürgerung grundsätzlich nicht auf6 Die Aufspaltung in Freund und Feind aufgrund der Staatsange1 Vgl. Schmidt-Richberg ,S. 136. 2 S. §§ 26,27 RuStAG vom 22. Juli 1913. 3 Aufgehoben als Ergebnis der Besprechung im Reichsministcrium des Innern am 19. Februar 1919, BA-L, RDI, Nr. 8020. 4 S.Jahr, S. 79f., 183f. 5 Vgl. Ergebnis der am 12. Januar 1918 im Reichsamt des Innern erfolgten kommissarischen Beratungen über die Ausbürgerung von Überläufern, BA-L, RDI, Nr. 8019. Darin gab der Vertreter des Ministeriums für Elsaß-Lothringen die Zahl der ausgebürgerten Fahnenflüchtigen mit 6000 an; vgl. auch Der kaiserliche Statthalter in Elsaß-Lothringen an Reichskanzler, 13.3.1917, BAL,RDI, Nr. 8018: »nahezu 5.000«. 6 Lediglich mit Rücksicht auf die drohende Ausweisung ausgebürgerter deutscher Wehrflüchtiger aus der Schweiz und die »innere Lage Deutschlands« befürwortete das Reichsinnenministerium am 5. September 1919 die beschleunigte Wiedereinbürgerung der Betreffenden, auch wenn sie sich des »Verrats oder eines sonstigen schmachvollen Verhaltens gegen die eigenen Volksgenossen« schuldig gemacht hatten, BA-L., RDI, Nr. 8020.

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hörigkeit machte Staatenlose zu einer nicht einzuordnenden Zwischenkategorie, mit der sich die militärische Führung schwertat. Ihr ambivalenter Status veranlaßte das Kriegsministerium zu speziellen Verwendungsvorschriften, die hilfsweise auf die ehemalige Staatsangehörigkeit zurückgriffen. Man gründete darauf eine abgestufte Loyalitätsvermutung: Nur diejenigen Staatenlosen, die zuvor deutsche Staatsangehörige gewesen waren, kamen zur Verwendung an der Kampffront in Betracht, die übrigen lediglich zum Einsatz in der Etappe.7 Schließlich wurden deutsche Staatsangehörige - Männer wie Frauen - in ausländischen Staaten, die sich mit Deutschland im Krieg befanden, als ›feindliche Ausländen (›enemy aliens‹) behandelt. Sie wurden in ihren Rechten beschnitten, ausgewiesen oder auch interniert.8 Umgekehrt unterlagen Ausländer im Gebiet des Deutschen Reiches entsprechenden Sanktionen. Gehörten sie einem ›Feindstaat‹ an, galten sie als ›feindliche‹ Ausländer.9 Ihre Einbürgerungsanträge wurden nach Kriegsbeginn in Preußen nur mehr dann bearbeitet, wenn die Antragsteller im Inland geboren oder aufgewachsen waren. Andernfalls wurde das - ausschlaggebende militärische Interesse an einer Einbürgerung ebenso abgelehnt wie im Falle ehemaliger Deutscher, die zur Umgehung der Wehrpflicht Ausländer geworden waren. Diese Regelungen blieben angesichts »innerer Unruhen« auch nach dem Waffenstillstand bestehen.10 Der Kriegsausbruch veränderte also die Bedrohungswahrnehmung. Während die hergebrachten Abwehrmaßnahmen gegenüber Einbürgerungsanträgen aus östlichen Nachbarstaaten beibehalten wurden, aber in den Hintergrund traten, begann die Bedrohung durch England und durch die im Land befindlichen Engländer das Bewußtsein der politischen und militärischen Stellen zu dominieren. Die Furcht vor dem ›Feind im Land‹ und der Spionagetätigkeit11 eingebürgerter Engländer führte zur Internierung12 englischer Staatsangehöriger und zum Einbürgerungsstop.13 7 Preußischer Kriegsminister an Reichskanzler, 15.10.1917, BA-L, RDI, Nr. 8019. 8 Zu den scharfen Kontroll- und Internierungsmaßnahmcn gegenüber der größten Gruppe deutscher Staatsangehöriger im Ausland, den Deutschen in den USA, nach deren Kriegseintritt 1917 vgl. Nagler, S. 198f.; zu den Deutschen in Großbritannien Panavi. 9 Zu den einschneidenden Diskriminierungsmaßnahmen gegen feindliche Ausländen in allen kriegführenden Staaten s. Bade, Europa, S. 246-249. 10 Preußischer Minister des Innern an Reichskanzler (Reichsamt des Innern), 6.12. 1914, BAL, RDI, Nr. 8020; Vgl. Vermerk über die wesentlichen Ergebnisse der am 19. Februar 1919 im Reichsministerium des Innern abgehaltenen Besorechuni?. BA-L. RDI. Nr. 8020. S. 3. 11 Chef Admiralstab der Marine an das Preußische Ministerium des Innern, 27.9.1915, BA-L, Nr. 8053: »Nach meiner Kenntnis des englischen Volkscharakters bleibt ein Engländer fast immer im Herzen Engländer«. 12 Zu Organisation und Psychologie der Lagergcsellschaft in Ruhleben Ketchum, S. 69f, der beschreibt, wie die Behandlung Angehöriger unterschiedlicher sozialer Herkunft als ›Briten‹, d. h. als britische Staatsangehörige, eine ›nationalisierende‹ Wirkung entfaltete. 13 Aufzeichnung über kommissarische Besprechung im Rcichsamt des Innern, 18.11.1915, BA-L, Nr. 8053.

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1. Nation und ›Wchrgcmcinschaft‹ im Krieg Die deutsche Gesellschaft im Krieg formierte sich nach anderen Kriterien als im Frieden. Die Unterscheidungen der »Klassengesellschaft im Krieg« wurden keineswegs eingeebnet, wie die politische Rhetorik und staatliche Propaganda bei Kriegsbeginn suggerieren wollten.14 Staatliche Pflichten überlagerten jedoch teilweise die Klassendifferenzierungen und veränderten sie in ihrer Gewichtigkeit. Diese Pflichten knüpften äußerlich an die Staatsangehörigkeit an und hatten weitreichende, ja existentielle Folgen für die Betroffenen. Sowohl sozialdemokratische Arbeiter als auch deutschkonservative Unternehmer und Reserveoffiziere wurden zur Front eingezogen, eben weil sie Deutsche waren. Die militärischen und nationalen Anforderungen der ›Wehrgemeinschaft‹ im Krieg überlagerten auch tradierte Abwehrbilder. Im ersten vollen Kriegsjahr, im Jahre 1915, wurden erheblich mehr Juden-jüdische Männer-eingebürgert als im Vorkriegsjahrzehnt.15 Juden wurden nicht nur als deutsche Soldaten benötigt. In der deutschen Kriegszielpolitik gegenüber Osteuropa spielten sie darüber hinaus eine aktive Rolle als Emissäre deutscher Interessen. In den Vorstellungen der deutschen Kriegsführung kam ihnen die Aufgabe zu, die großen jüdischen Minderheiten des russischen Reiches kulturell und politisch für Deutschland zu gewinnen, Vorposten für deutsche Expansionspläne schaffen zu helfen. Eigens gegründete jüdische Organisationen warben dafür, die Juden Osteuropas als natürliche Nutznießer deutscher Dominanz und Träger deutscher Kultur anzusehen und einzusetzen.16 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Politik des Burgfriedens wurden von den deutschen Juden als Versöhnungsangebot verstanden und als herausragende Chance genutzt, ihre Loyalität zur Krieg führenden deutschen Nation unter Beweis zu stellen. Die jüdischen Vereinigungen unterstützten beinahe rückhaltlos die deutschen Kriegsziele und forderten ihre Mitglieder dazu auf, über das Maß der Pflicht hinaus ihren Patriotismus zu beweisen.17 Die allgemeine Wehrpflicht des deutschen Staatsangehörigen wurde für Juden zum Instrument, ihre Gleichwertigkeit als Staatsbürger und ihren Anspruch auf gleichberechtigte Mitgliedschaft in der deutschen Nation einzufordern. Der Krieg mobilisierte also den Status der Pflichtigkeit, der auf den Staat bezogen war, und verstärkte damit eine Gemeinschaftsvorstellung, die maßgeblich auf der Staatsangehörigkeit beruhte. Er deckte freilich zugleich andere Gemeinschaftsvorstellungen auf und forcierte sie derartig, daß sie den rechtlich-formalen Rahmen der Staatsangehörigkeit überschritten oder unterliefen 14 schaft 15 16 17

So im Ergebnis klar - ungeachtet einzelner nivellierender Faktoren - Kocka, Klassengesellim Krieg, insbesondere S. 129-141. Vgl. Gosewinkel, »Unerwünschte Elemente«, S. 97. Vgl. Putzer, S. 362-364. Vgl. ebd., S. 358f.

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und ihn schließlich durchbrachen. Gemeint sind nationale und religiöse Gemeinschaftsbeziehungen. Dies soll am Beispiel der Rußlanddeutschen und jüdischen Deutschen gezeigt werden. Die revolutionierende Wirkung des Ersten Weltkrieges im Bereich der politischen Vorstellungen wurde zunächst durch seine umfassenden territorialen Veränderungen ausgelöst, und dies mit unmittelbaren Auswirkungen auf die Vorstellungen von der personalen Zusammensetzung eines künftigen Deutschen Reiches. Hatten vor dem Krieg ›Auslandsdeutsche‹ vorwiegend als Vorposten kultureller und wirtschaftlicher Expansionsvorstellungen gegolten, rückten sie nunmehr in militärische und politische Reichweite. Dies galt insbesondere für die weitaus größte Gruppe deutscher Auswanderer in Europa: die »Rußlanddeutschen«. Um ihre veränderte Funktion in der politischen Wahrnehmung des Deutschen Reiches zu verstehen, bedarf die Entwicklung der Rußlanddeutschen zur nationalen Minderheit der Darlegung.18 Es handelte sich um deutsche Siedler, die in ihrer großen Mehrzahl infolge der Anwerbung durch den Zaren im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts nach Rußland eingewandert waren. Der Anteil reichsdeutscher Staatsangehöriger unter ihnen betrug am Ende des 19. Jahrhunderts nur mehr einen geringen Bruchteil.19 Die formal-rechtliche Bindung an das Deutsche Reich war somit weitgehend gelockert bzw. nicht mehr vorhanden. Als ›Deutschc‹ galten im ausgehenden Zarenreich deutsch sprechende Bewohner, die zu weit mehr als 90 % russische Staatsangehörige darstellten. Die Deutschen genossen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine privilegierte rechtliche Stellung, die ihnen von den Zaren bestätigt wurde und ihre starke Loyalitätsbeziehung zum russischen Herrscherhaus prägte. Das änderte sich ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nach 1871 wurden die deutschen Siedler zunächst den übrigen Untertanen der russischen Krone staatsbürgerlich gleichgestellt. Sie unterstanden der allgemeinen Verwaltung und Wehrpflicht, ihre bisherigen Privilegien wurden aufgehoben. Unter dem Druck wachsender nationalistischer, panslawistischer Propaganda diskriminierte der russische Staat die ›deutschen‹ Siedler seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ungeachtet ihrer russischen Staatsangehörigkeit. Die verschlechterten außenpolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland, der überragende wirtschaftliche Erfolg der deutschen Kolonien und ihr weit überdurchschnittliches Bevölkerungswachstum schürten Neid undÜUberfremdungsängste.Die Deutschen galten dem wach18 Zum Folgenden im Überblick Brandes, S. 85-134. 19 Bei der russischen Volkszählung des Jahres 1897, die insgesamt 1.790.000 Deutsche ermittelte, betrug im größten deutschen Siedlungsgebiet an der Unteren Wolga der Anteil der nichtrussischen Staatsangehörigen in der deutschen Kolonie 0,37 %, im zweitgrößten Siedlungsgebiet im Bereich des Schwarzen Meeres nicht mehr als 7,2 %. Die - städtisch geprägten - deutschen Siedlungsgebiete Inner-Rußlands stellten mit 22,19 % zwar den höchsten Ausländeranteil, insgesamt jedoch nur 5,83 % der deutschen Bevölkerung, vgl. dazu Kappeier, S. 14, 28.

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senden russischen Nationalismus als angebliche Vorposten des mächtigen Deutschen Reiches und potentielle Vaterlandsverräter. Genährt wurden diese Maßnahmen dadurch, daß die Rußlanddeutschen ihrerseits im wilhelminischen Kaiserreich zunehmend zu Objekten nationalistischer Propaganda gerieten, die sie als besonders gefährdeten und schützenswerten Vorposten des Reiches verteidigte. Auch hier nahmen radikale Stellungnahmen aus dem Umfeld des Alldeutschen Verbandes eine Vorreiterrolle ein. Sie verfochten um die Jahrhundertwende Pläne einer expansiven deutschen Hegemonie über Mittel- und Osteuropa, in denen die Rußlanddeutschen die Vorposten bzw. Nutznießer einer Annexionspolitik darstellten. Derartige Pläne schürten wiederum die nationalistische russische Gegenpropaganda.20 Gerade weil die Rußlanddeutschen selbst keinen Anteil an dieser ›reichsdeutschen‹ Propaganda hatten,21 sich vielmehr zurückhaltend und weiterhin loyal zum russischen Herrscherhaus verhielten, stellen sie ein treffendes Beispiel für die (Re-)Ethnisierung der Staatsangehörigkeit unter dem Druck konkurrierender Nationalismen dar. Im Spannungsfeld zweier starker, sich zudem gegenseitig verstärkender nationaler Bewegungen wurde aus einer vergleichsweise kleinen Gruppe loyaler russischer Staatsangehöriger eine herausgehobene ›Minderheit‹, die beide Nationalbewegungen übereinstimmend nicht mehr nach rechtlichen, sondern nach ethnisch-kulturellen Kriterien definierten. Die äußeren, d. h. über das Territorium des Deutschen Reiches hinausweisenden Wirkungen dieser ethnisierten Deutschtumsvorstellung blieben bis zum Kriegsausbruch gering. Während der Alldeutsche Verband direkten Einfluß auf die Gründung nationaler Vereine im Baltikum und Pläne zur Umsiedlung Deutscher innerhalb Rußlands in das Baltikum nehmen konnte, konzentrierte er sich nach der ersten russischen Revolution 1905 auf das Ziel, die Rückwanderung Rußlanddeutscher in den Osten des Deutschen Reiches propagandistisch und organisatorisch zu unterstützen. Die Förderung der Ansiedlung rußlanddeutscher Familien in Preußen stand, wie gezeigt,22 seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Zeichen der Zurückdrängung des nationalpolnischen Einflusses. Nach der Jahrhundertwende wurde sie nochmals forciert, um den infolge der Binnenwanderung wachsenden Bedarf an Arbeitskräften im östlichen Preußen auszugleichen. Die staatliche Unterstützung der Rückwanderung, die sich mit der Gründung des »Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer« im Jahre 1909 organisatorisch verfestigte, machte sich die ethnischen und kulturellen Vorzugskriterien zu eigen, aufgrund derer die nationalen Verbände die Rückwanderung Rußlanddeutscher forderten.23 20 Vgl. Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich S. 351f.; differenzierend dazu Neutatz, S.204f. 21 So die These von Neutatz, S. 204f, 214. 22 S.ebd., S.226f. 23 In einer Denkschrift vom 22.2.1917 hob der Fürsorgevercin »das reine deutsche Blut« der

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Der Kriegsausbruch im August 1914 veränderte die Politik des Deutschen Reiches gegenüber den Rußlanddeutschen in zweierlei Hinsicht entscheidend: Zum einen waren territorialen Expansionsplänen keine räumlichen Schranken mehr auferlegt. Die alldeutsche Bewegung, die nach Kriegsbeginn weiteren Aufschwung nahm, propagierte nunmehr den hegemonialen Ausgriff nach Osten. Das Deutsche Reich solle sich mit den östlichen, auf slawischem Boden verstreuten deutschen Kolonien territorial vereinigen. In einer Eingabe an den Reichskanzler zu Beginn des Kriegsjahres 1916 stellte der Alldeutsche Verband seine Haltung gegenüber den Rußlanddeutschen in den Zusammenhang einer umfassenden Einbürgerungs- und Einwanderungspolitik.24 Der Krieg, lautete der zentrale Ausgangspunkt, »hat einen großen Teil der Völker der Erde, vor allem fast alle europäischen Völker, in einen Bewegungszustand von einer wohl noch nie geschauten Stärke vereinigt, hat die beteiligten Völker bis in die Tiefen hinab aufgewühlt [...]. Der Krieg wird [...] auf der Erde, vor allem aber in Europa, weitgehende Zustandsänderungcn zur Folge haben, und diese werden [...] bei den unterlegenen Völkern und unter ihnen wieder bei den auf geringerer Entwicklungshöhe stehenden am tiefgreifendsten sein«. Die daraus folgende »Umwandcrungsbewegung großen Umfanges und auch wohl langer Dauer« werde in besonderem Maße das »im Herzen Europas« gelegene und leicht zugängliche Gebiet Deutschland betreffen. Die Eingabe betrachtete es als Gewinn, daß im Zuge dieser » Umwandcrung« zahlreiche Deutsche zurückwanderten, denen »mit allen Kräften« Raum zu verschaffen sei. Demgegenüber sah der Verband die Gefahr der »schwersten Schädigungen des Volkskörpers« im Einströmen wirtschaftlich und kulturell besonders »niedrig stehender Bevölkerungsteile« drohen. Es gelte also, den Krieg, der »nach vielen Richtungen reinen Tisch« mache, zu nutzen, um ein grundlegendes Einwanderungsgesetz zu schaffen, das »auf dem naturwissenschaftlichen, rassehygienischen, individualhygienischen, kulturellen, wirtschaftlichen Gebiet« den »besonderen Anforderungen des deutschen Volkskörpers« entspreche. Gefordert wurden ein sofortiger Niederlassungs- und Einbürgerungsstop für Ausländer, von dem nur fremde Staatsangehörige deutscher Abstammung ausgenommen werden sollten, und die Erarbeitung eines Einwanderungsgesetzes, auf dessen Grundlage ein Reichswanderungsamt zentrale Maßstäbe der Einwanderung festsetzen sollte. Das Neue an der alldeutschen Eingabe bestand darin, daß sie die Kriegslage und kommende Bevölkerungsverschiebungen nutzte, um aus der Friedenszeit deutschrussischen Einbürgerungsbewerber hervor, denn »die Kolonien haben sich scharf durch Religion, Muttersprache und Kulturzustand von ihrer Umwelt abgesondert, eng zusammengeschlossen, völlig rein erhalten«, BA-L, RDI, Nr. 8055. 24 Eingabe Alldeutscher Verband an den Reichskanzler, 10.2.1916, betreffend »den Schluß der Rcichsgrenzen gegen unerwünschte Einwanderung«, BA-L, RDI, Nr. 8018.

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bekannte Forderungen der Staatsangehörigkeitspolitik zum Gesamtkonzept einer ›Volkstumspolitik‹ im kontinentalen Maßstab zu erweitern. Stießen die vorgeschlagenen Maßnahmen auch auf Ablehnung im Reichsamt des Innern,25 so fanden die alldeutschen Expansionspläne im Verlauf des Krieges wachsende Unterstützung im deutschen Generalstab, insbesondere im Umkreis Ludendorffs.26Je tiefer deutsche Truppen in russisches Staatsgebiet vordrangen, desto realistischer erschien die Verwirklichung dieser Pläne sowohl der deutschen Militärführung als auch den Rußlanddeutschen. Als Mitte Februar 1918 deutsche und österreichische Truppen in die Ukraine einmarschierten und damit das Besatzungsgebiet der Mittelmächte seine größte Ausdehnung erreichte, wurden sie von der überwiegenden Mehrzahl der dort lebenden ›deutschen‹ Russen als Befreier begrüßt. Aber auch die veränderte Haltung des russischen Staates trug zum Wandel im Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den Rußlanddeutschen bei. Diese hatten bei Kriegsausbruch - mit Ausnahme deutsch-baltischer Kreise ihre Loyalität als russische Untertanen unter Beweis gestellt. Sie waren in den russischen Truppen gegen Deutschland zu Felde gezogen und stellten auch einen hohen Anteil des russischen Generalstabs.27 Aber alle Ergebenheits- und Tapferkeitsbeweise konnten nicht verhindern, daß die deutschstämmigen Russen von der überhandnehmenden nationalistischen Strömung unter den Generalverdacht der Illoyalität gestellt wurden. In den gemischten deutsch-russischen Verbänden an der russischen Westfront, die direkten Kontakt mit den deutschen und österreichischen Truppen hatten, entstanden Irritationen, bei denen staatsbürgerliche und nationale Loyalität in die Grauzone eines ambivalenten, spannungsvollen Verhältnisses gerieten. Die deutsch sprechenden Soldaten des russischen Heeres waren für ihre russischen Kameraden nicht mehr eindeutig vom deutschen Feind zu unterscheiden und deshalb Verdächtigungen, Zurücksetzungen und Schikanen ausgesetzt. Die deutsch-russischen Soldaten selbst - auch wenn sie vielfach wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet wurden - unterlagen, Augenzeugenberichten zufolge, wachsenden Gewissenskonflikten. Unter den Wolgakolonisten, die einen besonders hohen Anteil der deutsch-russischen Soldaten stellten, wurden Erinnerungen an die Zeit der Auswanderung nach Rußland, an den Kampf ›Deutsche gegen Deutsche‹ im Siebenjährigen Krieg, wachgerufen. Seit Beginn des Krieges betrieben die deutschstämmigen Siedler Wolhyniens und Russisch-Polens verstärkt ihre Bemühungen um Einbürgerung und Einwanderung in das Deutsche Reich, eine Entwicklung, die sich nach der deutschen Besetzung dieser westrussischen 25 Bemerkungen zu der Eingabe des Alldeutschen Verbandes vom 10.2.1916, BA-L, RDI, Nr. 8018. 26 Vgl. Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich, S. 450. 27 Vgl. ebd., S. 461 f.

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Gebiete noch verstärkte. In den ersten Kriegsjahren übersiedelten schätzungsweise 30.000 Personen aus diesen Gebieten nach Deutschland. Verdächtigungen und nationale Absetzbewegungen, die sich unter dem Druck der Kriegsereignisse wechselseitig verstärkten, untergruben die russisch-deutsche Wehrgemeinschaft. Nach der russischen Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg im September 1914 wurden die an der Westfront kämpfenden ›dcutschcn‹ Soldaten des russischen Heeres an die Kaukasusfront versetzt.28 Die sogenannten »Liquidationsgesetze« vom Februar 1915 verboten allen Siedlern deutscher Abstammung den Kauf von Grund und Boden. Deutsche Bauern in den westlichen Grenzgebieten wurden zum Verkauf ihres Landes gezwungen, die Wolhynicn-Deutschcn zudem in das Landesinnere deportiert. Im Mai 1915 wurden deutsche Geschäfte in Moskau geplündert. Die staatliche Wchrgemeinschaft zwischen Deutschen und Russen löste sich an den Bruchlinien teils zugeschriebener, teils real wirksamer nationaler, ethnischkulturell begründeter Differenzen auf. Der Erste Weltkrieg hatte damit den Mechanismus kriegsbedingter nationaler Segregation, Entrechtung und Vertreibung nationaler Minderheiten ausgelöst, der zum Ursprung und ›Modell‹ ethnischer Vertreibungen und ›Säuberungcn‹ deutscher und anderer Minderheiten im Zweiten Weltkrieg und der Folgezeit werden sollte. Die ehemals privilegierten deutschen Untertanen des Zaren waren damit zu Staatsbürgern minderer nationaler Klasse geworden und kündigten in der Folge ihre Loyalität gegenüber dem zaristischen Staat. Im Februar 1917 begrüßten die Rußland-Deutschen die Revolution. Nach der Besetzung ukrainischer Gebiete durch deutsche und österreichische Truppen im Frühjahr 1918 schlugen sie mehrheitlich die Umwandlung der deutschen Siedlungsgebiete um Odessa und Taurien in reichsdeutsche Kolonien vor. Anderenfalls baten sie um Zustimmung zur Einwanderung in das Deutsche Reich.21 Unter dem Druck des Krieges hatte sich somit die Mehrheit der Rußlanddeutschen sowohl die Expansionsvorstellungen als auch die nationalen Präferenzkriterien der alldeutschen Bewegung zu eigen gemacht. Diese verhießen nämlich - aus der Sicht der bedrängten Rußlanddeutschen - Schutz durch die reichsdeutsche Staatsangehörigkeit, sei es auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, sei es infolge seiner Expansion zur osteuropäischen Kolonialmacht. In der wechselseitigen Verstärkung von Eigen- und Fremddefinition hatte sich somit der Begriff des ethnisch-kulturell bestimmten »Deutschen« aus der russischen Staatsangehörigkeit herausgelöst und selbständigen politischen Gehalt gewonnen. Von dort aus fand er Eingang in die Friedensverhandlungen. In den Friedensverträgen mit der Sowjetunion und der Ukraine setzte das Deutsche Reich das Recht der Deutschen beider Länder durch, innerhalb einer Frist 28 Zum Folgenden eingehend ebd., S. 495f. 29 Brandes, Deutsche in Rußland, S. 124.

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von zehn Jahren in ihr »Starnmland« zurückzuwandern.30 Damit erhielten die ›Deutschen‹ in Rußland einen besonderen, vertragsrechtlich gesicherten Status, der sie von den übrigen Staatsbürgern der entstehenden Sowjetunion unterschied. Im Gegensatz zu den Privilegien unter dem Zarenregime wurde ihnen jedoch nunmehr der Schutz von einem auswärtigen (National-)Staat gewährt, der aus nationaler Verbundenheit über territoriale und staatliche Grenzen hinweg handelte.31 Die Regierung des Deutschen Reiches setzte damit ihre Politik der bevorzugten Einbürgerung und Ansiedlung Rußlanddeutscher fort, die nach Kriegsausbruch eine neue Qualität und Zielsetzung gewonnen hatte.32 Deutsche Rückwanderer aus Rußland, in denen die »deutsche Sprache in Familie, Kirche und Schule sich vollkommen erhalten« hatte, genossen seit Kriegsausbruch Vorzugsrechte bei der Einbürgerung. Eben diese ausgeprägte Bewahrung deutscher kultureller Eigenart in ihren Siedlungsgebieten machte die Rußlanddeutschen in den Expansionsplänen des deutschen Generalstabs33 und des Alldeutschen Verbandes zu geeigneten Siedlungsvorposten eines »Großdeutschen Reiches« im slawischen Raum.34 Wenige Monate vor Kriegsende, im Juli 1918, stellte sich das preußische Innenministerium hinter die Forderung des Vereins für das Deutschtum im Ausland, die »tunlichst lückenlose Wiedereinfügung des im Ausland verloren gegangenen Deutschtums in den Reichskörper« sicherzustellen.35 Auch nach dem Kriegsende wurden Rußlanddeutsche bevorzugt eingebürgert. Der Einsatz des staatlich gestützten Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer zugunsten der »Erhaltung dieses kernhaften, gesunden, mit den besten deutschen Eigenschaften 30 Vgl. 6. Kapitel, Art. 21 Deutsch-russischer Zusatzvertrag zu den Friedensverträgen zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei einerseits und Rußland andererseits vom 3. März 1918 (RGBl 1918, S. 622). In diesen Verträgen setzte eine Reichsregicrung erstmals den Schutz von ethnisch Deutschen (Volksdeutschen) rechtlich um, vgl. Silagi, Vertreibung, S. 92. 31 Im internationalen, durch den Völkerbund garantierten Minderheitenschutzsystem nach 1918 funktionierte dieser Schutz indirekt, indem ein Staat die Beschwerde der ihm ›stammverwandtem Minderheit weiterleitete und damit das Kontrollverfahren in Gang setzte, vgl. Pieper, Minderheitenfrage, S. 9, 33, 58f. S. Brubaker, I lomcland Nationalism, S. 117f. 32 Die Anteilnahme des Reichs an den Rußlanddeutschen im zeitlichen Umfeld des Ersten Weltkriegs ist deshalb keine bloße »Episode«, wie Silagi, Vertreibung, S. 84, 89 behauptet. 33 Die militärische Spitze des Reiches drang auf den Schutz der »treuen Volksgenossen« gegen den »Vernichtungskampf der Groß-Russen« und befürwortete später die verstärkte Einbürgerung »zuverlässiger« deutschrussischer Kriegs- und Zivilgefangener, um sie für »kriegswirtschaftliche Interessen« nutzbar zu machen, Preußisches Kricgsministcrium an die Königlichen Generalkommandos, 21.12.1915, BA-L, RDI, Nr. 8055, sowie Preußisches Kriegsministerium an Reichskanzler, 15.1.1917, BA-L, RDI, Nr. 8055; dagegen völkerrechtliche Bedenken des Reichsinnenministeriums, das die Einbürgerung auf die Zeit nach dem Friedensschluß verschieben wollte, laut Protokoll der Beratung im Reichsinnenministerium, 16.2.1917, BA-L, RDI, Nr. 8055. 34 Vgl. Ingenhorst, S. 31-33. 35 S. Preußischer Minister des Innern an Reichskanzler, 6.12.1914; Preußischer Minister des Innern an Reichskanzler, 20.7.1918, BA-L, RDI, Nr. 8020.

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ausgestatteten Bauern- und Landarbeiterschlages« trug insoweit Früchte, als das preußische Innenministerium die erleichterte Einbürgerung der deutschstämmigen russischen Kriegsgefangenen und Rückwanderer anordnete.36 Die wachsende Kriegslast unter dem Druck deutscher Niederlagen und schwindender Siegchancen an der deutschen Westfront ließ die Konturen einer ›inneren Wehrgemeinschaft‹ schärfer hervortreten, die sich von der formalen Staatsangehörigkeit zunehmend schärfer abhob. Während die Rußlanddeutschen als bedrohte, politisch nützliche und besonders einbürgerungswürdige auslandsdeutsche Minderheit zunehmend in die Wehrgemeinschaft der deutschen Nation einbezogen wurde, geriet dagegen die Zugehörigkeit der jüdischen Minderheit zunehmend in Zweifel. Die latente Spannung zwischen dem ethnisch-kulturellen und dem staatsnationalen Pol der deutschen Staatsangehörigkeit brach in der zweiten Kriegshälfte konfliktträchtig auf in der Debatte um die sogenannte »Judenzählung« im deutschen Heer. Antisemitische Propaganda hatte den Anlaß dazu gegeben, daß im Herbst 1916 innerhalb des deutschen Heeres die Zahl der Juden festgestellt wurde.37 Die »Judenzählung« markierte einen tiefen Einschnitt. Sie legte die Konstruktion der deutschen Nation gegen die Juden frei. »Keine Volksgemeinschaft ohne Wehrgemeinschaft« war ein Leitgedanke des Gesetzes von 1913 gewesen, der völkische Forderungen nach einer imperialen Erweiterung des Auslandsdeutschtums durch die Wehrpflicht begrenzt hatte. Unter dem Druck antisemitischer Strömungen innerhalb der ›Wehrgemeinschaft‹ zeigte sich, daß der Leitgedanke umkehrbar war. In der Wahrnehmung der militärischen Führung lebte die Wehrgemeinschaft aus der spezifischen Homogenität einer Volksgemeinschaft, die nicht in der gemeinsamen Staatsangehörigkeit aufging. Jüdische Soldaten, die -wie alle deutschen Soldaten - aufgrund ihrer staatlichen Angehörigkeit zu Deutschland einen hohen Blutzoll entrichteten, wurden in entehrender Weise durch die bloße Zählung als besondere, als mindere Klasse innerhalb der Wehrgemeinschaft stigmatisiert. Bereits die Zulassung der Judenzählung unterlief den in der Staatsangehörigkeit formalisierten Glcichheitsanspruch der Wehrgemeinschaft im Krieg‹ und ersetzte ihn durch einen ethnisch, religiös bzw. rassisch bestimmten Substanzbegriff.

36 Preußischer Minister des Innern an den Reichsminister des Innern, 19.7.1919, BA-L, RDI, Nr. 8020. Dies spricht ebenso gegen die von Silagi, Vertreibung, S. 99, vertretene These von der bereits im September 1918 vollzogenen »Kehrtwendung« der deutschen Einbürgerungspolitik zuungusten der Rußlanddeutschen wie die Einrichtung der Reichswandcrungsstellc und die Ausdehnung ihrer Kompetenzen zum Reichswanderungsamt im Mai 1919, ebd., S. 100. 37 Berding, Moderner Antisemitismus, S. 169; zur Konstruktion der Nation gegen die Juden, erkennbar an der Zäsur der »Judenzählung« s. Jeismann, Der letzte Feind, S. 189.

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2. Deutsche - Minderheiten -Volkszugehörige Das Deutsche Reich nach 1918 hatte mit dem Zweiten Deutschen Kaiserreich noch den Namen gemeinsam, war aher als Staat wesentlich davon verschieden. Der Friedensvertrag von Versailles erlegte dem besiegten Deutschen Reich den Verlust all seiner Kolonien auf, die an die Siegermächte fielen.38 Mehr als 13 % des europäischen Reichsgebietes fielen durch Abtretung und Abstimmungen infolge des verlorenen Krieges an die Nachbarstaaten. Allein zwei Drittel des Abtretungsgebiets erhielt der neugegründete polnische Staat, ein Fünftel Frankreich, das Elsaß-Lothringen zurückbekam. Dänemark erhielt das umstrittene Gebiet Nordschleswig zugesprochen. Auch Belgien und die neugegründete Tschechoslowakei verleibten kleinere Gebiete des Deutschen Reiches ihrem Staatsgebiet ein.-™ Insgesamt verlor das Reich dadurch beinahe ein Zehntel seiner Bevölkerung.40 Die territorialen Konfliktherde der Nationalitätenkämpfe waren damit vom Reich abgetrennt, allerdings um den Preis ständiger Revisions- und Reibungspunkte mit beinahe allen Nachbarstaaten. Aus der wirtschaftlichen und militärischen Großmacht in der Mitte Europas war nach dem Krieg eine territorial und politisch beschnittene Mittelmacht geworden, welcher der Friedensvertrag nur mehr eine militärische Reststreitmacht zugestand und langfristige Reparationslasten auferlegte. Die Abtretung der Gebiete Nordschleswigs, Elsaß-Lothringens und Posens, Westpreußens sowie des Memellandes, deren militärische Gewinnung und Verteidigung symbolisch hochbeladene Gründungsetappen in der Entstehung und Mythologie des deutschen Nationalstaats bedeuteten, behaftete das Deutsche Reich seit 1918 nach Auffassung der ganz überwiegenden Bevölkerungsmehrheit mit einem nationalen Makel. Sie belastete insbesondere die neue Staatsform der Republik, deren Repräsentanten das Vertragswerk von Versailles unterzeichnet hatten. Die aus der Revolution von 1918/19 hervorgegangene Staatsform der Demokratie stand deshalb an ihrem Beginn offen, später dann bis zu ihrem Untergang latent unter der Bedrohung durch die nationale Gegenrevolution. Wurden militärische Revancheforderungen zunächst nur von einer radikalnationalen Minderheit propagiert, verfügte die Forderung nach territorialer Revision der Gebietsabtretungen - auch wenn sie nicht auf eine vollständige und gewaltsame Revision abzielte41 -während der gesamten Dauer der Weimarer Republik 38 An England, Frankreich, Belgien, Australien und Japan, vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1920, S. 14. 39 Es handelte sich um Eupen-Malmcdy und das Hultschiner Ländchen. Insgesamt betrug die Abtretungsfläche 705.7947 ha, d. h. 13,05 % der 1910 für das Deutsche Reich ermittelten Zahlen, vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1927, S. 10. 40 Insgesamt 6.475.640, d. h. 9,97 % der ortsanwesenden Bevölkerung von 1910, vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1927, S. 10. 41 Vgl. Winkler, Weimar, S. 602.

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über eine politische und parlamentarische Mehrheit, die bis weit hinein in das linksliberale und sozialdemokratische Parteilager reichte. Sowohl hinsichtlich der Nationalitätenfrage als auch der Staatsangehörigkeit im Deutschen Reich schienen die Gebietsabtretungen zunächst größere Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen. Unter den 6,475 Millionen der abgetretenen Bevölkerung befanden sich 2,941 Millionen, die nicht deutscher Muttersprache waren,42 davon allein 2,315 Millionen, die polnisch und 0,204 Millionen, die französisch sprachen.43 Versteht man die Sprache als wesentliches Merkmal der Nationalität innerhalb eines Staates unterhalb der Ebene der Staatsangehörigkeit, läßt sich anhand der Ergebnisse der Volkszählung von 1925 die Verschiebung der Nationalitäten innerhalb des Deutschen Reiches bemessen. In diesem Jahr gaben von der Wohnbevölkerung des Reiches - die Ausländer jeweils eingeschlossen - nurmehr 356.314 Polnisch als Muttersprache44 an, unter ihnen 238.101, die zugleich des Deutschen kundig waren. Französisch war, weit hinter der masurischen, wendischen, tschechischen und dänischen Sprache, die nach dem Polnischen an zweiter bis fünfter Stelle standen, mit 7.138 Muttersprachlern eine verschwindend kleine Sprachminderheit.45 Der prozentuale Anteil der Ausländer, und zwar der nichtdeutschen Staatsangehörigen, an der Wohnbevölkerung hatte sich von 1910 bis 1925 von 1,9 % auf 1,5 %,46 somit um mehr als ein Fünftel vermindert. Hinzu kam, daß 1925 immerhin 72,5 % der Ausländer Deutsch als ihre Muttersprache angaben, also war nur etwa 0,4 % der Gesamtbevölkerung - sowohl nach der Staatsangehörigkeit als auch der sprachlich-kulturellen Zugehörigkeit - nicht deutsch. Bezieht man die Reichsinländer mit fremder Muttersprache ein, machten die 631.000 Mitte der zwanziger Jahre lediglich 1 % der Wohnbevölkerung des Deutschen Reiches aus. Insgesamt überschritt die Gruppe der fremden Staatsangehörigen und Fremdsprachigen 2,1 % der Reichsbevölkerung nicht.47 Zum Vergleich: 1900 hatte der fremdsprachige Anteil der deutschen Bevölkerung (wiederum Ausländer eingeschlossen) bei 7,5 % gelegen,48 die Gesamtgruppe der Fremdsprachigen und fremden Staatsangehörigen war damit noch etwas höher. 42 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1921/22, S. 15. 43 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1927, S. 10f. 44 Berechnet nach den Zahlen derjenigen, die nur eine fremde (nichtdeutsche), nicht auch di( deutsche Sprache als Muttersprache angaben. 45 Davon 5380, die zugleich des Deutschen kundig waren, Zahlen errechnet nach: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1929, S. 18f. 46 Vgl. dazu Maurer, Ostjuden, S. 80 (wobei sich Unschärfen aus den unterschiedlichen Zählweisen 1910 und 1925 ergeben.) 47 Errechnet nach: Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches 1928, S. 19; Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches 1929, S. 18. 48 Errechnet nach: Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches 1908, S. 8 (Die Bevölkerung nach der Muttersprache am 1. Dezember 1900).

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Ging diese Entwicklung auch maßgeblich auf die Gebietsabtretungen und Abstimmungen zurück, kam die Abschirmung des nationalen Arbeitsmarkts hinzu. Im Vergleich zum Kaiserreich ging die Ausländerbeschäftigung drastisch zurück. Die Umstellung des Anwerbungssystems auf ein zentral gesteuertes staatliches Genehmigungsverfahren führte dazu, daß der Import von Arbeitskräften genau den Konjunkturlagen der nationalen Wirtschaft angepaßt werden konnte. Angesichts der fortwährenden wirtschaftlichen Krisenlage des Reiches führte dies dazu, daß der Anteil ausländischer Beschäftigter im Vergleich zum Kaiserreich zwischen 1923 und 1933 auf etwa ein Drittel zurückging.49 Die Rückkehr zahlreicher ausländischer Arbeitskräfte in ihre Heimatländer im Rahmen der Demobilmachung, die Weiterwanderung insbesondere der polnischen Arbeitskräfte nach Belgien und Frankreich sowie ein verschärftes Sichtvermerks- und Ausweisungssystem beschränkten und senkten die Zahl der ausländischen Arbeiter. Ein von deutschen Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch besetzter Prüfungsausschuß ließ die Beschäftigung von Ausländern nur zu, wenn nicht genügend deutsche Arbeiter für die Arbeitsstelle zur Verfügung standen. Erstmals in der Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland wurde damit der Primat inländischer Arbeit systematisch verrechtlicht und durchgesetzt. Dieses Abwehrsystem wirkte um so stärker, als es gewerkschaftlich organisierte Vertreter der Arbeitnehmer in die Entscheidung einbezog. An die Stelle von Einbürgerungsansprüchen für langansässige Arbeitnehmer, die die SPD noch 1913 im Reichstag gefordert hatte, trat ein flexibles Instrumentarium der nationalen Kontrolle des Arbeitsmarkts, das sich auf den Primat der nationalen Arbeit gründete.50 Verglichen mit dem Kaiserreich war die wirtschaftlich instabile Weimarer Republik überdies kein attraktives Einwanderungsland. Im Jahrzehnt zwischen 1920 und 1930, insbesondere im Inflationsjahr 1923, überstieg die Auswanderung nach Übersee die Einwanderung bei weitem. Das Deutsche Reich wurde erneut zum Auswanderungsland.51 Alle diese Faktoren trugen dazu bei, daß der territorial verkleinerte deutsche Nationalstaat nach dem Ersten Weltkrieg deutlich ›homogener‹ (›deutscher‹) als das ausgehende Kaiserreich war. Der Anteil der fremdstaatlichen und fremdsprachigen Bevölkerung hatte sich um beinahe drei Viertel reduziert. Die fortschreitende Homogenität zwischen deutscher Staatsangehörigkeit und deutschem Staatsgebiet galt indessen nur innerhalb der Grenzen des Deutschen

49 Vgl. Bade, Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland, S. 49; Dohse, S. 113; Herbert, Fremdarbeiter, S. 49. 50 Vgl. Dohse, S. 86f., 114. 51 Erst auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, zwischen 1930 und 1933, führte die vermehrte Rückwanderung wieder zu einem Wanderungsüberschuß, dazu insgesamt Kötlmann, Bevölkerungsentwicklung, S. 77.

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Reiches. Die Ereignisse des Krieges hatten in mehrfacher Hinsicht die Vorstellung von den Deutschen und deren Zahl im Ausland revolutioniert. Nicht mehr die Deutschen, die vielfach vor Generationen in das - überwiegend überseeische - Ausland ausgewandert waren und im Kaiserreich als Vorposten des Deutschtums wiederentdeckt worden waren, bestimmten das Bild des Auslandsdeutschen. Es waren vielmehr große, geschlossen siedelnde Gruppen Deutscher im europäischen Ausland, die erst der Krieg in die militärische Reichweite des Deutschen Reiches gebracht oder zu Ausländern gemacht hatte. Dazu gehörten zum einen, wie gezeigt, die ethnisch-kulturellen Deutschen im ostmitteleuropäischen Raum, die der Krieg ins Blickfeld der nationalen Vorstellungen und Propaganda rückte.52 Vor allem aber gehörten dazu die Deutschen in den Abtretungsgebieten. Unter den beinahe sechseinhalb Millionen Einwohnern dieser Gebiete sprach mehr als die Hälfte deutsch.53 Sie waren nicht nur der Nationalität, sondern ganz überwiegend auch der Staatsangehörigkeit nach Deutsche, und dies in Gebieten, die vielfach seit mehr als einem Jahrhundert zu einem deutschen Staat gehört hatten. Diese Deutschen hatte der Krieg gegen ihren Willen der Gebietshoheit eines fremden Staates unterstellt. Ihre Staatsangehörigkeit geriet in einen ambivalenten Schwebezustand. Sie waren noch Angehörige des Deutschen Reiches, wurden aber in den Gebieten, die an Polen, Belgien, die Tschechoslowakei, Dänemark und Litauen gefallen waren bzw. zu der unter einem Völkerbundsprotektorat stehenden Stadt Danzig gehörten, zur Option angehalten.54 Ihre Entscheidung für die fremde Staatsangehörigkeit, die ihnen den Verbleib im Heimatgebiet ermöglichte, trafen sie vielfach mit Unterstützung der deutschen Reichsregierung, die an einem massenhaften Rückstrom Deutscher aus den Abtretungsgebieten kein Interesse hatte, diese vielmehr als Vorposten künftiger Revisionsansprüche in ihren Gebieten halten wollte. Deutsche, die in den Abtretungsgebieten ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgaben, bildeten somit eine nationale Irredenta. Die Vorstellung ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland wurde zwar von ihrer früheren Staatsangehörigkeit gestützt, jedoch zunehmend davon abgelöst. Außerhalb der Grenzen der Weimarer Republik drang somit eine Konzeption des ›Deutschen‹ vor, die ihre Zusammcngehörigkeits- und Schutzansprüche gerade nicht aus staatlich-rechtlichen, sondern aus ethnisch-kulturellen Kategorien der ›Nationalität‹ bezog. 52 Brubaker, Homeland nationalism, S. 119f. 53 Bezogen auf den Stand des Reichsgebiets von 1910 gaben von 6.475.640 Ortsansässigen in den Abtretungsgebieten 3.481.690 Deutsch als ihre alleinige Muttersprache an, vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1927, S. 10. Diese Gruppe deutscher Nationalität wird im Folgenden - mangels differenzierter Statistiken - mit deutschen Staatsangehörigen gleichgesetzt. 54 S. Kunz, Bd. I, S. 171 f. Hinsichtlich des Gebiets Elsaß-Lothringen wurde von Frankreich jedoch - entgegen fester völkerrechtlicher Übung-jegliches Optionsrecht verweigert, s. Schätze!, elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit, S. 29f.

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Dieser politische Vorgang schlug sich nicht nur in der politischen, sondern auch in der wissenschaftlichen Begriffs- und Konzeptionsbildung nieder. Die renommierten Staatsrechtslehrer Rudolf Smend und Hans Nawiasky unterstützten eine Entschließung des Vereins für das Deutschtum im Ausland, in der Gesetzessprache das Wort »Deutsche« durch »Reichsangehörige« zu ersetzen.55 Dies war eine unmittelbare begriffliche Konsequenz aus den Bevölkerungsverlusten infolge der Gebietsabtretungen Das Wort »Deutscher« hatte das Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 synonym zu »Reichsangehöriger« benutzt, weil sich der Gehalt beider Begriffe in der politischen Realität und Vorstellungswelt des Kaiserreichs weitgehend deckte. Dies war nach 1918 nicht mehr der Fall. Die vorgeschlagene Gesetzesrevision unterblieb zwar, sehr wahrscheinlich aus gesetzespraktischen wie auch völkerrechtlichen Ansprüchen. Sie zeigte aber einen grundlegenden Vorstellungswandel an, der sich auch in publizistischen Bestandsaufnahmen im Grenzbereich von Wissenschaft und Politik niederschlug. Ein Beitrag für den 1929 erschienenen Sammelband »Volk und Reich der Deutschen« stellte fest, daß die Beziehungen des »deutschen Reichsvolks« zu den »außerhalb lebenden Menschen deutschen Blutes [...] ein gewaltiges Umdenken« in Gang gesetzt hätten: »An die Stelle staatsbürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Saturiertheit ist volksbürgerliche Sehnsucht und Aufgeschlossenheit auf allen Gebieten getreten«.56 Die Trennung der Staatsangehörigkeit von der Volkszugehörigkeit, ihre Abwertung gegenüber der Vorstellung eines grenzüberschreitenden Volksganzen lag auch dem großangelegten, vom Reichsinnenministerium organisatorisch und finanziell unterstützten Projekt eines »Handwörterbuch(s) des Grenz- und Auslandsdeutschtums« zugrunde. Der 1933 nach längerer Vorbereitung von führenden wissenschaftlichen Fachvertretern herausgegebene erste Band betrachtete die »historische und gegenwärtige Rechtslage der um ihr Dasein kämpfenden Grenz- und Auslandsdeutschen in Europa« als einen wesentlichen Teil des Werkes.57 Die Geschichtswissenschaft übernahm bei der Erforschung und Aufwertung des deutschen ›Volkstums‹ im Osten eine Leitfunktion und suchte damit zugleich die Nähe zur Politik. Die Hinwendung gerade ihrer produktiven und langfristig einflußreichen Vertreter zur ›Volkstumsgeschichte‹ sah in dem Volk und nicht mehr in dem in der Gegenwart politisch geschwächten, an Grenzen und Verträge gebundenen Staat eine geschichtsmächtige Kraft.58 55 Verein für das Deutschtum im Ausland an RDI, 16.8.1922, mit einem handschriftlichen Vermerk Rudolf Smends, BA-L, RDI, Nr. 8025. Zustimmend Laun, S. 246; dazu Silagi, Vertreibung, S. 102. 56 Wertheimer, Auslandsdeutschtum und Deutschtumspolitik, S. 207. 57 Petersen u. Scheel, Vorwort, S. V; dazu Überkronte, S. 104-127; Fahlbusch, S. 55-58. 58 Vgl. Schönwälder, S. 53; Conze, eine Leitfigur der Volkstumsgeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus, faßte rückblickend den nach 1918 einsetzenden Umbruch in der Nationkonzeption in einem Paradigmcnwechsel zusammen: der Übergang von der Staatsnation zur Volksnation, vgl. Conze, Sozialgeschichte 1850-1918, S. 604.

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Das Spannlingsverhältnis zwischen Staats- und Volksnation wurde auch im Text der Weimarer Reichsverfassung festgeschrieben. Er griff den Entwurf der Paulskirche auf und schrieb in seinem Artikel 113 den Schutz von Minderheiten gegenüber nationaler Diskriminierung vor: Die »fremdsprachigen Volksteile des Reiches« sollten »in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung« nicht beeinträchtigt werden.59 Diese Formulierung des innerstaatlichen Minderheitenschutzes entsprach zugleich außenpolitischen Rücksichten60 und ließ sich den Nachbarstaaten entgegnen, um sie ihrerseits zum Schutz der großen deutschen Minderheiten anzuhalten.61 Die territoriale Umwälzung der beiden Großstaaten Ostmitteleuropas nach 1918, die Zerschlagung des multi-ethnischen Österreich-Ungarn und die nationale Beschneidung des Deutschen Reiches, brachte mit der Neuordnung Ostmitteleuropas nach Nationalstaaten eine Vielzahl von Minderheitenschutzregeln hervor. Die Abgrenzung der (nationalen) »Minderheiten« von der Mehrheit des Staatsvolks wurde geradezu zum Signum der Epoche nach dem Ersten Weltkrieg.62 Insofern vollzog die Weimarer Verfassung eine internationale Rechtsentwicklung nach. Doch wurde das nationale Kriterium der Sprache erst durch die Unterscheidung einer fremdsprachigen Minderheit von der deutschsprachigen Mehrheit des deutschen Staatsvolks verfassungsrechtlich beachtlich. Die Verfassung überging gerade nicht die sprachlich-nationalen Unterschiede in Gestalt einer Staatsbürgerschaft, die auf allgemeiner Gleichheit und auf deren Durchsetzung beruhte, sondern hob sie hervor.63 Darin lag, zumindest indirekt, die Unterscheidung nach sprachlich-nationaler Mehrheit und Minderheit innerhalb ein- und desselben Staatsvolks und damit die Abscheidung einer sprachlich-national homogenen Mehrheit der Volksnation, welche die Staatsnation dominierte, ohne mit ihr zusammenzufallen. Nicht die Durchsetzung eines allgemeinen, auch menschenrechtlich begründeten Gleichheitssatzes, sondern die Nationalstaatsidee lag dieser Regelung zugrunde.64 Sie erkannte nationale Minderheiten nicht nur als solche an, sondern kennzeichnete sie auf Dauer: eine Norm, welche den Unterschied zwischen staatlicher Gleichheit und nationaler Inhomogenität auch im Verfassungsverständnis verfestigte. Weiterhin erhielt der Gedanke einer deutschen Volksnation und Volkszugehörigkeit im Umbruch nach 1918 auch außenpolitisch Nahrung. Die Auflö59 Art. 113 Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 unter weitgehender Übernahme von § 188 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849. s. dazu oben Kao. III. 1. 60 S. dazu Gerber, S. 15f. 61 Nach Auffassung des Reichsinnenministeriums, das die staatlichen Aktivitäten zugunsten der auslandsdeutschen Minderheiten koordinierte, hatten diese Minderheiten in Art. 113 einen »wertvollen Rückhalt für ihre Forderungen auf Freiheit ihrer kulturellen Lebensbelange«, RDI an Auswärtiges Amt, 6.6.1923, BA-L, RDI, Nr. 5843. 62 Vgl. Pieper, S. 53f. 63 S. Gerber, S. 16, 24, entgegen der preußischen Minderheitenpolitik des 19. Jahrhunderts. 64 S. ebd., S. 36f, mit dem Nachweis konträrer Interpretationen.

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sung des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates, die Schrumpfung des Reststaates »Österreich« auf den ethnisch homogenen ›deutschen‹, d. h. deutschsprachigen Teil der ehemaligen Doppelmonarchie, ermöglichten eine Wiederannäherung zwischen den beiden ›deutschen‹ Staaten Mitteleuropas, die seit dem Ausscheiden Österreichs aus dem staatlichen Einigungsversuch 1848/49 und der kleindeutschen Reichsgründung 1866/71 blockiert war. Ein starkes Deutschbewußtsein65 setzte sich auf österreichischer Seite durch, während auf deutscher Seite alle Parteigruppierungen den Wunsch nach einem staatlichen Zusammenschluß des Deutschen Reiches mit Österreich unterstützten. Erst das alliierte Veto unterband die geplante Staatenunion. Auch danach blieb jedoch hier wie dort die Forderung bestehen, mit Hilfe der Staatsangehörigkeit ein besonderes politisches Näheverhältnis auf der Grundlage kultureller Gemeinsamkeit zu institutionalisieren. Der »Österreichischdeutsche Volksbund«, der prominente Mitglieder insbesondere aus dem republikanischen Parteienspektrum vereinte und auf die Schaffung eines »GroßDeutschland« hinarbeitete, forderte für Deutsche aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn, die durch »Sprache, Kultur- und Schicksalsgemeinschaft mit den Reichsdeutschen verbunden sind«, die bevorzugte Einbürgerung.66 Vorschläge einer »Volksbürgerschaft« wollten die fehlende staatliche Einheit überbrücken, um »das kulturelle Band, das die staatlich getrennten Volksteile verbindet, durch ein rechtliches Band zu verstärken«.67 Eine polemische Wendung schließlich erhielt die Gegenüberstellung von Staatsnation und Volksnation in neuen, antidemokratischen und nationalistischen Vereinigungen, welche die Verbände des ›alten‹ Nationalismus und deren Staatsangehörigkeitspolitik an Radikalität weit übertrafen. Das Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei von 1920 spielte die Volkszugehörigkeit gegen die Staatsangehörigkeit aus und verlangte, daß nur »Volksgenossen« auch deutsche »Staatsbürger« werden durften.68 Volksgenossen aber konnten ausschließlich Menschen »deutschen Blutes« sein. Der völkische 65 Das überdies eine neue »deutsch-österreichische Staatsbürgerschaft« schuf (s. deutschösterreichisches Staatsangehörigkeitsgesetz vom 5.12.1918, abgedruckt bei Schätzet, Wechsel der Staatsangehörigkeit, S. 162) Aus der begleitenden Publizistik programmatisch Schwarz; s. Stourzh, Vom Reich zur Republik, S. 34, der von dem aufkommenden Schlagwort der »Volksbürgerschaft« spricht. 66 Österreichisch-deutscher Volksbund für Berlin und Nordost-Deutschland an das Reichsministerium des Innern, 29.6.1920, BA-L, RDI, Nr. 8021. 67 Vgl. Merkl, BA-L, RDI, Nr. 8027. Die Projekte einer Uberbrückung der verbotenen Staatenunion durch das Band der Staatsangehörigkeit blieben bis zum Ende der Weimarer Republik bestehen. Der Entwurf eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes der Reichstagsfraktion der DDP von 1927 (abgedruckt bei Schätzet, Staatsangehörigkeitsgesetz, S. 147f.) sah einen Einbürgerungsanspruch für Österreicher und die Einführung doppelter Staatsangehörigkeit vor. Die erste Forderung machte sich der Deutsche Juristentag auf das Referat von Erich Koch-Weser hin zu eigen (abgedruckt in: Der Auslandsdeutsche 14 [ 1931), S. 659f 68 S. Bruhaher, Citizenship and Nationhood, S. 167.

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»Deutsche Hochschulring«, ein von radikalnationalen Angehörigen der Kriegsgeneration geführter studentischer Verband, ließ für seine Mitgliedschaft nicht mehr die formale deutsche Staatsangehörigkeit genügen, sondern schloß nicht »Deutschstämmige«, unter denen vor allem Juden verstanden wurden, von seiner Mitgliedschaft aus.69 Insgesamt führte also die relative nationale Homogenität im Innern des Weimarer Staates nicht zu einer Konsolidierung der Staatsangehörigkeitskonzeption. Die Vorstellungen einer deutschen Volksnation - mochten sie demokratischer oder antidemokratischer Provenienz sein - traten im Gegenteil in ein Spannungsverhältnis zur realen Lage des politisch besiegten und territorial beschnittenen Staates. In dieser Spannungslage zwischen Staats- und Volkszugehörigkeit gewann der diffuse, territorial nicht begrenzte Substanzbegriff des Volkes an Gewicht gegenüber dem formal begrenzten Begriff der Staatsangehörigkeit.

3. Inklusion und Exklusion in der Demokratie: Reformen der Staatsbürgerschaft und ihre Grenzen Der Übergang zur Demokratie in der Weimarer Reichsverfassung bedeutete eine in der deutschen Verfassungsgeschichte einzigartige Ausdehnung der individuellen Rechte der Staatsbürger. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht stand nunmehr sowohl auf der Ebene des Reiches als auch der Länder allen volljährigen Staatsangehörigen zu. Die Einführung des Frauenwahlrechts brach mit der Ideologie des ›männlichen Staates‹. Die verfassungsrechtliche Anerkennung der Frau als Staatsbürgerin führte erstmals dazu, daß mit der Staatsangehörigkeit grundsätzlich der volle Status des Staatsbürgers verknüpft war. Ein Staatsangehöriger war zugleich Staatsbürger und umgekehrt. Angesichts des erheblich erweiterten Gehalts der staatsbürgerlichen Rechte wuchs damit die Bedeutung der Staatsangehörigkeit als Schlüsselinstitution, die über den Zugang zur Staatsbürgerschaft Partizipations- und Lebenschancen eröffnete. Gilt dieser Befund in besonderem Maße für den Kernbereich der Staatsbürgerschaft, also für die politischen Rechte, zeigt sich die reale Bedeutung der Staatsangehörigkeit insgesamt erst bei einem Überblick über wichtige Rechtsbereiche, die einen Gesamteindruck von ihrem ökonomisch-sozialen Gehalt geben. Dem Vergleich hinsichtlich des Rechtsstatus von Ausländern und Deutschen in der Weimarer Republik vorgeordnet ist die Regelung des Aufenthaltsrechts für Ausländer im Gebiet des Deutschen Reiches. Mit dem Ersten Weltkrieg war die liberale Epoche des Aufenthaltsrechts für Ausländer zu Ende 69 Vgl. Herbert, Best, S. 64-69.

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gegangen. In der Zeit der Reichsgründung waren die kommunalen Aufenthaltsbeschränkungen für Ausländer, die noch aus der Krisenphase des Pauperismus stammten, ebenso abgeschafft worden wie der allgemeine Paß- und Sichtvermerkszwang, so daß ab 1867 weder In- noch Ausländer bei der In- und Ausreise einer wirksamen Paßkontrolle unterlagen.70 Eine Ausnahme vom Grundsatz der Paßfreiheit stellte der in Preußen eingeführte Legitimationszwang für ausländische Saisonarbeiter dar, bevor ab 1914 zunächst aus militärischen, später aus allgemeinen Gründen der wirtschaftlichen Krise neue Paßschranken errichtet wurden, die eine zunehmend effektive Kontrolle des Zuzugs von Ausländern erlaubten.71 Die Einführung einer allgemeinen, staatlich kontrollierten Zuzugsgenehmigung für ausländische Arbeiter und Angestellte im Jahre 1925 regulierte wirksam die Dauer des Arbeitsaufenthalts im Reich, insbesondere in Zeiten der Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. In Verbindung mit der in der Inflationskrisc 1922/23 eingeführten und systematisch ausgebauten staatlichen Beschäftigungskontrolle ausländischer Arbeitskraft stand somit dem Staat ein flexibles, den wirtschaftlichen Konjunkturlagen anzupassendes Regulativ für den gesamten Ausländerarbeitsmarkt zur Verfügung. Die umfassende staatliche Kontrolle der Anwerbung, Einstellung und Aufenthaltsdauer72 ausländischer Arbeitskräfte trug dazu bei, daß seit Beginn der zwanziger Jahre der Anteil der zur Arbeit legitimierten ausländischen Arbeitskräfte gegenüber dem Kaiserreich fast stetig fiel, von unter dreißig Prozent im Jahre 1923 auf weniger als vierzehn Prozent im Krisenjahr 1932.73 Wenn auch im Tarifrecht der Weimarer Republik die Lohndiskriminierungen ausländischer Arbeitnehmer abgebaut wurden,74 läßt sich doch insgesamt von einem wirksamen System nationaler Protektion des Arbeitsmarkts sprechen: Die Zahl der von gleichen Löhnen profitierenden ausländischen Arbeitnehmer war auf einen Bruchteil der ausländischen Beschäftigtenzahl des Kaiserreichs gesunken. Im Sozialversicherungsrecht, in dem überdies zunehmend gegenseitige Verpflichtungen aus Staatsverträgen griffen, wurde das Fremdenrecht abgebaut. Die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung ging gleichfalls grundsätzlich von der Gleichstellung aus. Die Erwerbslosenfürsorge wurde vom Prinzip der 70 Vgl. Fahrtneir, Paßwesen, S. 67-76, der auf die Aufrechterhaltung eines »dezentralen Kontrollsystems« hinweist. 71 S. Friederichsen, Stellung des Fremden, S. 64-67, 72-74. 72 Aufgrund des Arbeitsnachweisgesetzes sowie der Verordnung über die Anwerbung und Vermittlung ausländischer Landarbeiter von 1922, der Verordnung über die Einstellung ausländischer Arbeitnehmer von 1923, auf deren Grundlage im Inflationsjahr 1923 ein allgemeines Beschäftigungsverbot verhängt wurde, sowie der Verordnung über ausländische Arbeitnehmer von 1933, vgl. Friederichsen, S. 187f; Dohse, S. 93f. 73 Verglichen mit dem Jahr 1913, Zahlen berechnet nach den Angaben bei Herbert, Ausländerbeschäftigung, S. 100, 251f. 74 Dohse, S. 92.

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Gegenseitigkeit abhängig gemacht. Landwirtschaftliche Wanderarbeiter konnten von der Versicherungspflicht freigestellt werden. Ihr Gewerbe konnten Ausländer unter den gleichen Bedingungen wie Deutsche frei ausüben. Diese Gleichstellungen gingen zum einen auf Verpflichtungen aus dem Versaillcr Vertrag zurück, denn im Unterschied zu den Nachbarstaaten, die in der Zwischenkriegszeit die wirtschaftliche Betätigung der Ausländer in ihren Ländern tiefgreifenden Beschränkungen unterwarfen, hatte sich Deutschland im Friedensvertrag einseitig dazu verpflichtet, den Angehörigen der ehemaligen Feindstaaten den Vorteil der Meistbegünstigung einzuräumen.75 Vor allem aber betrafen die Regelungen ganz überwiegend längerfristig gefestigte und zugelassene Arbeitsverhältnisse, deren Zahl jedoch gerade aufgrund des staatlichen Zulassungssystems stark zurückging. Die Leistungen nach dem allgemeinen Fürsorgerecht für Ausländer, das nicht in festen Arbeitsverhältnissen stehende Hilfsbedürftige betraf, wurden demgegenüber eingeschränkt.76 Insgesamt betrafen die Verbesserungen im wirtschaftlichen und sozialen Rechtsstatus die erheblich geschrumpfte Zahl von Ausländern, die in festen Arbeitsverhältnissen standen, während die eigentliche Diskriminierung bereits im Vorfeld bei der Anwerbung und Zulassung zur Arbeit und zum Gewerbe griff. Kann man insoweit allenfalls qualitativ - in bezug auf bestimmte Gruppen von Ausländern und wirtschaftlich-soziale Rechtsverhältnisse - von einer teilweisen Angleichung an den Status der Staatsangehörigen reden, wird dies zum einen, verglichen mit den Ausländcrzahlen des Kaiserreichs, quantitativ stark relativiert. Insbesondere aber traf es nicht auf die politische Rechtsstellung der Ausländer zu. Ihr strikter Ausschluß vom Wahlrecht wurde beibehalten, hinsichtlich der politischen Rechte und Ämter teilweise noch verstärkt.77 Die Formulierung der Weimarer Verfassung über die Volkssouveränität, wonach die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, war unbestritten auf ›das deutsche Volk‹ bezogen, die Summe der deutschen Staatsangehörigen. Die Gründung der gesamten Staatsgewalt auf die Gesamtheit der Staatsangehörigen führte dazu, daß die deutsche Staatsangehörigkeit erstmals auch zur zwingenden Voraussetzung für das Amt des Staatsoberhaupts gemacht wurde.78 Die Einführung der Demokratie minderte mithin in doppelter Weise den politischen Rechtsstatus der Ausländer: Ihre Nichtteilhabe an politischen Rechten vermehrte sich nicht nur dem Umfang nach. Sie wirkte sich auch qualitativ verstärkt aus. Denn gerade 75 Vgl. Friederichsen, S. 175. Allerdings wurden der Küstenhandel und die Schiffsführung 1925 bzw. 1931 auf deutsche Staatsangehörige beschränkt, ebd., S. 178. 76 Vgl. ebd., S. 225, abgemildert jedoch durch Staatsverträge. 77 Ebd., S. 264f. Das Versammlungs- und Vereinsrecht wurde gem. Art. 123, 124 Weimarer Reichsverfassung Deutschen vorbehalten. 78 Vgl. Art. 41 Weimarer Reichsverfassung, entgegen den Verfassungsentwürfen, die den mindestens zehnjährigen Besitz der Reichsangehörigkeit genügen lassen wollten, vgl. Anschütz, S. 224.

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die Ausweitung der politischen Teilhaberechte in der Demokratie ließ den minderen Status der Ausländer besonders spürbar werden. Dies zeigte sich insbesondere im Bereich der Grundrechte. Die Reichsverfassung setzte die Tradition des deutschen Konstitutionalismus fort und gewährleistete - entsprechend der Paulskirchenverfassung - »Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen«. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Unterscheidung der Verfassungstexte zwischen Staatsangehörigen Grundrechtsträgern und nichtberechtigten Ausländern geringe Bedeutung gehabt. Liberale Staatsrechtler interpretierten z. B. die »Grundrechte der Preußen« in der preußischen Verfassung von 1850 entgegen dem Wortlaut nach dem Territorialprinzip‹ und lehnten eine rechtliche »Sonderstellung« der Fremden ab.79 Mit der erstmaligen Gewähr eines umfassenden Grundrechtskanons auf der Ebene des Nationalstaats gewann hingegen das Nationalitätsprinzip, das seit dem ausgehenden Kaiserreich in der Staatsrechtslehre zunehmend verfochten wurde, 80 nochmals deutlich an Boden, und zwar unter dem steigenden Einfluß einer verfassungstheoretischen Strömung, die die Grundrechte als Werte der nationalen Volksgemeinschaft auslegte.81 Dies fiel zusammen mit einer juristischen Bedeutungssteigerung der Grundrechte. Sie wurden in der Rechtslehre und Rechtsprechung zunehmend als Recht interpretiert, das auch den demokratischen Gesetzgeber band. Nationale Intensivierung und juristische Effektuierung der Grundrechte griffen mithin ineinander und verbreiterten die Kluft zwischen Staatsbürgern und Ausländern. Insgesamt zeigt sich, daß die Ausweitung einzelner Bereiche wirtschaftlicher und sozialer Rechte in der Weimarer Republik nur mehr einer stark reduzierten Ausländerbevölkerung zugute kam. Die Ausdehnung demokratischer Rechte für Deutsche wirkte sich zugleich als verschärfte Diskriminierung der Ausländer aus. Wurde somit die nationale Trennlinie zwischen Deutschen und Ausländern der Tendenz nach stärker gezogen, schien für eine Gruppe die Gleichstellung als Staatsangehörige nurmehr eine Frage logischer Konsequenz zu sein: Die Anerkennung der Frauen als vollberechtigte Staatsbürgerinnen blieb unvollkommen ohne die gleichzeitige Anerkennung der gleichen, selbständigen Staatsangehörigkeit. »Die Gewährung des politischen Stimmrechts [an die Frauen], die Erklärung in der Verfassung, daß sie in der Ehe gleichberechtigt neben dem Manne stehe, lassen es als ein gänzlich Überlebtes, durch nichts zu rechtfertigendes Überbleibsel alter Zeiten erscheinen, wenn die Frau nicht auch als Staatsangehörige als freie, selbständige Persönlichkeit gewertet wird«. 79 Vgl. ders., Verfassungsurkunde, S. 101. 80 In der Interpretation eines Hauptvertreters: Die Grundrechte seien »Ausdruck von Gedanken des nationalen Stolzes und der nationalen Ehre«, vgl. Zorn, S. 150f. 81 Vgl. Harz, S. 33f., 42, 47f. 348 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

So begründete der Bund Deutscher Frauenvereine 1925 seine Petition an den Reichstag, mit der er die Forderung der Vorkriegszeit aufnahm, aus dem Staatsangehörigkeitsrecht die Regelung zu streichen, nach der die deutsche Frau bei der Heirat mit einem Ausländer automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit verlor.82 Die rechtswissenschaftliche Literatur griff das Reformvorhaben auf und zeigte, daß der im Jahre 1913 herangezogene - vermeintlich - althergebrachte Grundsatz aller »Kulturvölker«, die ›Einheit der Familie‹, sich im kontinentaleuropäischen Recht erst mit den Kodifikationen im Gefolge der Französischen Revolution, in den angelsächsischen Ländern zum Teil erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hatte.83 Die Reformforderung war bekannt, doch hatten sich die Voraussetzungen ihrer Realisierung seit der Vorkriegszeit grundlegend gewandelt. Der Weltkrieg hatte die Rolle der Frauen im beruflichen und politischen Leben einschneidend verändert, ihre Selbständigkeit gestärkt und die Gleichberechtigung herbeigeführt. Er hatte zugleich durch Zwangsabtretungen und Vertreibungen Gebietsund Staatsangehörigkeitswechsel in einem Maße ausgelöst, das im modernen Europa unbekannt war. Die damit einhergehende massenhafte Staatenlosigkeit hatte mit den Ehemännern zugleich ganze Familien staatenlos bzw. zu Ausländern gemacht, insbesondere in den von Deutschland abgetretenen Gebieten.84 Die sich häufenden Eheschließungen deutscher Frauen mit Angehörigen der alliierten Besatzungstruppen trugen das Problem auch direkt in das Reichsgebiet. So hatte die Reichstagsfraktion der Deutschen Demokratischen Partei mit den beiden führenden Frauenpolitikerinnen Marie Elisabeth Lüders und Gertrud Bäumer sowie Walther Schücking, einem renommierten Fachmann des internationalen Rechts, 1921 die Initiative ergriffen. Sie forderten die Reichsregierung auf, zu grundlegenden Gesetzesnovellen in Amerika, Frankreich und England Stellung zu beziehen, welche die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau einführten, und eine entsprechende Gesetzesänderung vorzuschlagen.85 Gerade die deutsche Nation, untermauerte Lüders den Vorstoß, habe nämlich ein besonderes Interesse an der Reform, weil »sie durch den erzwungenen Verlust weiter Landstrecken in ihrem nationalen Bestande auf das gröblichste verletzt sei«. Das gelte gerade auch im Hinblick auf die Frauen, die

82 S. Bund Deutscher Fraucnvercine an den Reichstag, 28.5.1925, BA-L, RDI, Nr. 8060. 83 Vgl. Jellinek, Staatsangehörigkeit, S. 220f.; Müller-Sprenger, der die Entstehung der unselbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau mit der Ablösung des Domizils- durch das Abstammungsprinzip zu Beginn des 19. Jahrhunderts erklärt, S. 14f.; Voß Bender, Prause; Stiebler; Zepf, der für das »moderne Prinzip« einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Frau eintritt, und zwar auch aufgrund ihrer »nationalen Leistungen« während des Weltkriegs, S. 89f. 84 Partsch, S. 59-68. 85 Vgl. »Das Gesetz über die Staatsangehörigkeit der Frau«, in: Die Frau 30 (1922/23), S. 120122.

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»den geraubten Landesteilen« durch Option ihrer Männer verlorengegangen seien.86 Erneut forcierte die linksliberale Reichstagsinitiative das nationale Argument der Novelle aus der Vorkriegszeit, aktualisierte es und gab ihm revisionistische Stoßkraft angesichts der Kriegsfolgen, wie Lüders unterstrich: »Wir werden nicht ruhen, bis auch hier das Wort ›Revision‹ Wirklichkeit geworden ist.«87 Auch hier veränderte der Krieg die Argumentationsgrundlage der Staatsangehörigkeitspolitik, verschärfte ihre nationale Stoßrichtung und verschaffte ihr dadurch breitere Akzeptanz. So zeigte der konservative, der DNVP angehörende Reichsinnenminister v. Keudell »volles Verständnis« für die Wünsche nach einer befriedigenden Lösung der Staatsangehörigkeit der deutschen Frauen, die mit Ausländern oder Staatenlosen verheiratet waren.88 Dieser Stimmungsumschwung war indessen erst möglich durch die Verschiebung ideeller Grundlagen des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Krieg hatte in die allgemeine Geltung des Grundsatzes der Familieneinheit »eine erste Bresche gelegt«, wie der scharfsinnige Kommentator der Weimarer Staatsangehörigkeitspolitik, Gustav Schwartz, feststellte. Der quasi naturrechtlich geltende Grundsatz der Familieneinheit werde vom nationalen Standpunkt aus zunehmend als eine »schmerzliche und anstößige Beeinträchtigung des völkischen Prinzips« gedeutet. Schwartz zeigte, wie nach dem Krieg in den angelsächsischen Ländern die Frauenemanzipation, in Frankreich, Belgien und Rumänien hingegen eine nationalistische Welle den Grundsatz der Familieneinheit im Staatsangehörigkeitsrecht durchbrach.89 Liier lag in der Tat ein entscheidender Entwicklungssprung: Konnte der Grundsatz der Familieneinheit bei der Novcllicrung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts 1913 noch als national herrschende Auffassung verstanden werden, so brach infolge des Krieges der Gegensatz zwischen den Prinzipien auf Die ›Modernität‹ der Frauenemanzipation und des völkischen Prinzips ergänzten sich - objektiv gesehen - im Staatsangehörigkeitsrecht. Verfechter der Gleichberechtigung der Frau ließen denn auch eine argumentative Verbindung anklingen. Der linksliberale ehemalige Reichsjustizminister Erich Koch-Weser bewog 1931 den Deutschen Juristentag dazu, die Einführung der selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau zu fordern, und unterstrich den darin liegenden Vorteil für die »Staatsraison« so:

86 Vgl. Lüders, Vaterlandslose Frauen; dies., Staatslosc Frauen ?, S. 35-37; insbes. im Hinblick auf Elsaß-Lothringen, vgl. dies., Zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 721. 87 Vgl. ebd., S. 724. 88 S. RT-Prot., 289. Sitzung (18.3.1927), S. 9678. Vorangegangen war ein einstimmiger Beschluß des Ausschusses für den Reichshaushalt, das Staatsangehörigkeitsrecht zu ändern, s. Stenographischer Bericht des Ausschusses, 228. Sitzung (4.3.1927), Auszug, BA-L, RDI, Nr. 8061. 89 Vgl. Schwartz, Recht der Staatsangehörigkeit, S. 187-191.; Jellinek, Staatsangehörigkeit, S. 233.

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»Wir können es heute nicht mehr verstehen, daß etwa eine deutsche Privatdozentin in einer deutschen Universitätsstadt, die mit einem Schweizer eine Ehe eingeht, zwangsweise Ausländerin wird und des deutschen Wahlrechts verlustig geht, während eine sprach- und landesunkundige Mulattin durch die Ehe mit einem Deutschen Deutsche wird, und wenn sie mit ihrem Mann nach Deutschland zurückkehrt, das Wahlrecht ausüben kann«.90

Es war paradox, daß die national motivierte Initiative zur Novellierung des nationalen Staatsangehörigkeitsrechts auf den Druck einer umfassenden internationalen Entwicklung zurückging. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Mitte der zwanziger Jahre hatten führende Staaten der Welt, die USA, Frankreich und die Sowjetunion sowie eine Reihe kleinerer europäischer und außereuropäischer Staaten, eine Wende in ihrem Staatsangchörigkcitsrccht vollzogen.91 Unter dem Einfluß zunehmender Gleichberechtigung der Frauen, vor allem der Einführung des Frauenstimmrechts, sowie nationalistischer Tendenzen hatten sie Regelungen eingeführt, nach denen ihre eigenen Staatsangehörigen nicht mehr mit der Heirat automatisch Ausländerinnen wurden. Entsprechend blieben vielfach auch ausländische Frauen, die Staatsangehörige dieser Länder heirateten, Ausländerinnen. Die Stärkung einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau, die darin lag, wollten internationale Frauenrechtsverbände festigen und weiter ausbauen. Der »Weltbund für Frauenstimmrecht und Staatsbürgerliche Frauenarbeit« setzte eine Sonderkommission ein, die Reformvorschläge an den Völkerbund machte und dort auch beratend tätig wurde.92 Die International Law Association trat 1923 dafür ein, jedem Ehepartner freie Hand bei der Bestimmung seiner Staatsangehörigkeit zu lassen. Dahinter stand die Erkenntnis, daß zwar die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau weltweit vordrang, zugleich aber nach einer weltweit einheitlichen Regelung verlangte, um die Friktionen zwischen den national verschiedenen Staatsangehörigkeitssystemen zu reduzieren.93 Das nationale Staatsangehörigkeitsrecht war in der Nachkriegswelt der Staatsgründungen, (Zwangs) Migrationen und Bevölkerungsverschiebungen längst zu einem Gebiet geworden, das der Koordination durch internationales Recht bedurfte. Die Reichsregierung verschob denn auch jede nationale Gesetzesänderung bis zu einer Entscheidung auf internationaler Ebene.94 Zwar beharrten die 90 Vgl. Koch-Weser, Staatsangehörigkeit der verheirateten Frau, S. 130; ders., Empfiehlt es sich, S. 306-333. 91 Vgl. dazu Schwartz, Recht der Staatsangehörigkeit, S. 33-36, 98-103, 140, 187-191. 92 Zu den Einflußversuchen internationaler Frauenrechtsverbände insgesamtJellinek, Staatsangehörigkeit, S. 230. 93 So Schwartz, Recht der Staatsangehörigkeit, S. 190. 94 Vgl. die Antwort der Reichsregierung auf die Anfrage der Abgeordneten der Deutschen Demokratischen Partei, Verhandlungen des Reichstags, 1. WP (1920), Anlagen, Bd. 375, Nr. 1928 (Anfrage vom 15.12.1922), Antwort RT-Prot. 283. Sitzung (15.12.1922), S. 9343f, abgedruckt in: Das Gesetz über die Staatsangehörigkeit der Frau, in: Die Frau, Jg. 30, 1922/23, S. 120-122.

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deutschen Frauenverbände auf dem Vorbild der USA, die entschlossen mit einer nationalen Gesetzesnovelle vorangegangen waren,95 ließen sich letztlich jedoch auf eine internationale Regelung verweisen.96 Das mag auch darauf zurückzuführen sein, daß Marie Elisabeth Lüders, die parlamentarische Hauptvertreterin des Reformvorhabens, als deutsche Regierungsvertreterin 1930 an der Kodifikationskonferenz in Den Haag teilnahm. Diese erste vom Völkerbund einberufene internationale Konferenz, auf der Frauen als Regierungsdelegierte ein internationales Vertragsdokument mitunterzeichneten,97 empfahl den Völkerbundstaaten, in ihr Staatsangehörigkeitsrecht den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter aufzunehmen und den Staatsangehörigkeitswechsel von Frauen nur mit deren Zustimmung zuzulassen. Die Vollversammlung des Völkerbundes begnügte sich daraufhin im September 1931 damit, den Regierungen die Haager Konvention zur Ratifizierung zu empfehlen. Damit scheiterten Frauenforderungen, die auf eine neue, weitergehende Konvention zielten.98 Die Verantwortung lag erneut bei den nationalen Regierungen.99 Wichtige Zeit war verstrichen. Der Versuch der deutschen Frauenbewegung, aus »taktischen Gründen« auf eine etappenweise Realisierung des Ziels hinzuarbeiten,100 hatte keinen Erfolg gehabt. Inmitten der Weltwirtschaftskrise und der Agonie des Weimarer Parlamentarismus kam eine Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts nicht mehr zustande. Der doppelte Primat der ›Einheit der Familie‹ und des Ehemanns überdauerte die Weimarer Demokratie, auch wenn der fortschreitende Verfall der politischen und religiösen Grundlagen101 dieser Rechtsprinzipien offenkundig geworden war. Der ›männliche Staat‹ befand sich im Staatsangehörigkeitsrecht auf dem hinhaltenden Rückzug. 95 So die Eingabe des Bundes der Deutschen Frauenvereine an den Reichstag, 28.5. 1925, BAL, RDI, Nr. 8060; auch Lüders, Eine nationale Frauenfrage, S. 199-200. Zur Entstehung des amerikanischen Cable Act von 1922 unter den Anforderungen einer Einwanderungsgesellschaft vgl. eingehend Bredbenner, S. 80f, wobei rassische Beschränkungen durchaus aufrechterhalten wurden, s. S. 98. 96 Die stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenverbände Gertrud Bäumer, Ministerialrätin im Reichsministerium des Innern, erklärte in einer ministeriellen Besprechung 1922, daß die Antragsteller nicht eine »sofortige Lösung« wollten, vielmehr eine Lösung auf dem Wege internationaler Vereinbarungen anstrebten, Vermerk Reichsjustizministerium, 15.3.1922, BA-L, Reichjustizministcrium, Nr. 5068. 97 Lüders, Staatsangehörigkeit der Ehefrau, S. 449-454. 98 Noch zu Beginn des Jahres 1932 setzte Marie Elisabeth Lüders auf eine internationale Lösung durch eine »offizielle Kommission des Völkerbunds« zur Staatsangehörigkeitsfrage, Lüders an Staatssekretär von Weizsäcker, Auswärtiges Amt, 22.1.1932, Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, R 45942. 99 S, Velsen, S. 159-163; zu einer pessimistischen Einschätzung der Erfolgsaussichten eines internationalen Vorgehens s. den internen Vermerk, Reichsminister des Innern an Auswärtiges Amt, 23. 6. 1932, Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Rechtsabteilung, R 45917. 100 So Lüders, Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 724. 101 Dazu Koch-Weser, Staatsangehörigkeit der verheirateten Frau, S. 129.

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4. Primat der ›Deutschstämmigkeit‹: die Einbürgerungspolitik Der Krieg hatte mit den realen Bedingungen auch die ideellen Grundlagen der deutschen Staatsangehörigkeitskonzeption verändert. Die durch Gebietsverluste neu entstandenen deutschen Minderheiten im Ausland, die territoriale Beschneidung des Reiches, das Vordringen völkischen und volksnationalen Gedankenguts hatten das staatsnationale Strukturelement überlagert und zurückgedrängt. Welche verändernde Wirkung konnte angesichts dieser Zeitströmungen der Wechsel zur demokratischen Staatsform auf die Einbürgerungspolitik ausüben ? Die praktische Einbürgerungspolitik der Weimarer Republik begann mit einem Vorstoß, die Kontinuität der preußischen Abwehrpolitik zu durchbrechen. Er kam aus Preußen und fiel in eine Phase der Destabilisierung, der die Republik seit dem Jahresbeginn 1919 ausgesetzt war. Eine radikale Rätebewegung, kommunistische Aufstandsversuche und gewaltsame Auseinandersetzungen, große Streikaktionen und separatistische Bewegungen bedrohten den inneren Frieden und die territoriale Integrität des Reiches. Die alliierten Friedensbedingungen mit der territorialen Beschneidung und weitgehenden Entmilitarisierung Deutschlands lagen vor und stießen auf scharfen und geschlossenen Widerstand in fast allen deutschen Parteien. In dieser Spannungslage der Republik entsprach Wolfgang Heine,102 Innenminister der von der SPD geführten preußischen Regierung, zunächst einem nationalpolitischen Bedürfnis, indem er angesichts der Einwanderung Hunderttausender Deutscher,103 vor allem aus den polnisch besetzten Gebieten, die »grundsätzlich ausnahmslose Wiedereinbürgerung ehemaliger Deutscher« für geboten hielt. Er appellierte an die vernünftige nationalpolitische Einsicht und das Pflichtgefühl, indem er voraussetzte, daß ein Ausländer, der »unter den heutigen Zeitverhältnissen und unter dem Drucke des unglücklichen Kriegsausgangs« die deutsche Staatsangehörigkeit anstrebe, zeige, daß er »innerlich einen festen Anschluß an das deutsche Staatswesen gefunden habe«. Für eine »politische Selbstverständlichkeit« hielt er die Einbürgerung der Ausländer, die selbst oder deren Söhne im deutschen Heer Kriegsdienst geleistet hatten. Einen scharfen Bruch mit der preußischen Praxis jenseits aller hergebrachten Selbstverständlichkeit bedeutete es hingegen, wenn Heine diese Feststellungen ausdrücklich auch auf Juden aus Polen und Galizien ausdehnte. Er kündigte an, daß Preußen angesichts der grundlegenden Änderung der deutschen Militärverfassung die Einbürgerung dieser Gruppe ebensowenig von der Wehrfähigkeit abhängig mache wie von konfes102 In einer Darstellung der preußischen Praxis gegenüber dem Staatsrat für Anhalt, Dessau, 31.5.1919, BA-L, RDI, Nr. 8020. 103 Vgl. Köllmann, Bevölkerungsentwicklung, S. 81.

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sionellen Erwägungen. Insbesondere mit der letzten Ankündigung löste Heine Forderungen ein, welche die SPD mit der Verabschiedung des Gesetzes von 1913 im Reichstag erhoben hatte. Die Gründung der staatlichen Mitgliedschaft auf Gleichheit und wechselseitige Solidarität im Verhältnis der Staatsbürger untereinander und gegenüber dem Staat enthielt eine Konzeption der Staatsangehörigkeit, die aus einer auf Vernunft gegründeten Vertragsgemeinschaft hervorging. Diese erweiterte und verallgemeinerte die Kriterien der Einbürgerung, beseitigte indessen keineswegs ihren Ausschlußcharakter. Die Grenze lag in einer Voraussetzung, die I leine so formulierte, daß der Einbürgerungskandidat ein »in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Beziehung erwünschter Bevölkerungszuwachs« sein mußte. Preußens Abgehen von der »preußisch-deutschen Ostmarkenpolitik« brach zugleich mit dem reichsweit geltenden Konsens der Einbürgerungspolitik im Kaiserreich. Mit wachsender Kritik und schließlich offener Opposition wurde dieser Vorgang in Bayern beantwortet. Erhebungen des Bayerischen Statistischen Landesamtes zeigten, daß in den Jahren 1919 und 1920 die Zahl der Einbürgerungen in Bayern im Vergleich zu 1914 auf das Drei- bis Sechsfache gestiegen war, unter ihnen mehr als achtzig Prozent »sonstige« Ausländer, die also nicht ehemalige Reichsdeutsche waren oder im deutschen Kriegsdienst Verwendung gefunden hatten.104 Die bayerische Regierung sah eine wachsende Zahl von Einbürgerungsanträgen für »österreichisch-galizische und russischpolnische Juden« voraus und drängte auf die Aufrcchterhaltung der hergebrachten Grundsätze, um die »drohende Überfremdung« durch seinerzeit ferngehaltene Personenkreise und die Gefährdung »wichtiger (r) deutsche(r) Interessen nationaler und wirtschaftlicher Art« zu unterbinden.105 Das von der SPD regierte Preußen und das nach 1920 mehrheitlich von antirepublikanischen Kräften regierte Bayern, die beiden größten Länder des Deutschen Reiches, verkörperten also zwei divergierende Grundpositionen, aus denen die Einbürgerungspolitik der Weimarer Republik im politischen Streit entstand. Eine Beratung im Reichsinnenministerium sollte im September 1920 die neue gemeinsame Linie einer »gesunden, die bevölkerungspolitischen Interessen des Reiches wahrenden Einbürgerungspolitik« festlegen.106 Die beteiligten Vertreter der Reichsregierung und der vier größten Länder waren auf der Grundlage einer Beratungsvorlage des Reichsinnenministeriums darum bemüht, Rahmenrichtlinien zu verabschieden, deren unterschiedliche Hand104 Auszug aus der Zeitschrift des Bayerischen Statistischen Landesamtes 53 (1921), Heft 3, BA-L, RDI, Nr. 8057. 105 Bayerisches Ministerium des Äußern an das Reichsministcrium des Innern, 31.1.1920; Bayerisches Staatsministcrium des Innern an den Preußischen Minister des Innern, 5.6.1920, BAL, RDI, Nr. 8021. 106 Übereinstimmende Auffassung der Konferenzteilnehmer nach der im Reichsinnenministcrium angefertigten Niederschrift vom 3. September 1920, BA-L, RDI, Nr. 8021.

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habung in den Ländern durch das hergebrachte Abstimmungsverfahren im Reichsrat auszugleichen sein würde. Grundsätzliche Einigkeit bestand darüber, daß das bevölkerungspolitische Interesse des Reiches darauf gerichtet sei, nur Personen aufzunehmen, die »in staatsbürgerlicher, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht einen wertvollen Bevölkerungszuwachs« darstellten. Kein Widerspruch erhob sich gegen die Empfehlung des Reichsinnenministeriums, aus der Volksgemeinschaft »Schädlinge« fernzuhalten, um so mehr in der Zeit des Wiederaufbaus, in der ein Interesse an der Vermehrung der Bevölkerungszahl nicht bestehe. Angesichts des Mangels an Wohnungen, Nahrungsmitteln und Arbeitsplätzen und des »Zustroms fremdstämmiger Einwanderer« hielt man eine besonders strenge Prüfung der wirtschaftlichen Einbürgerungsbedingungen für geboten. Die staatsbürgerliche Eignung fordere den positiven Nachweis »einer mit den deutschen staatsbürgerlichen Interessen solidarischen Gesinnung« und des Willens zur »getreulichen Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten«. Dies sei am ehesten bei ehemaligen Reichsdeutschen und »deutschstämmigen« Ausländern der Fall.107 Übereinstimmung herrschte auch über eine zurückhaltende Einbürgerung aus Ländern einer »der deutschen nicht gleichwertigen oder doch völlig fremden Kultur«. Das zielte ausdrücklich auf die Angehörigen der »Oststaaten«, denen man die allmähliche Durchdringung der deutschen Kultur mit »wesensfremden, der Aufrechterhaltung der deutschen Eigenart schädlichen Elementen« zuschrieb.108 Einigkeit bestand also über eine grundsätzlich restriktive Einbürgerungspolitik, die der außenpolitischen und wirtschaftlichen Notlage des Reiches Rechnung trug und besondere staatsbürgerliche Loyalität verlangte. Offener Dissens hingegen brach in der Frage auf, wie »fremdstämmige Ostausländer« zu behandeln seien. Die Mehrheit der Länder wollte sie frühestens in der zweiten Generation zur Einbürgerung zulassen und knüpfte damit an die Regelungen des Kaiserreichs an. Hier aber lag für Preußen und Braunschweig die Grenze. Der preußische Vertreter ließ zwar »besondere Vorsicht« gegenüber Ostausländern gelten, verlangte aber, diese grundsätzlich wie andere Ausländer zu behandeln. Der aufgebrochene Dissens wurde indessen kurz darauf wieder verdeckt. In einem Schreiben an den Reichskanzler nahm der preußische Innenminister die Einbürgerungsanträge von Angehörigen »feindlicher Staaten« zum Anlaß, ins107 Aufzeichnung über die Beratungsgegenstände, betr. Kommissarische Beratung im Reichsministerium des Innern am 3. September 1920, BA-L, RDI, Nr. 8021. 108 So die nicht bestrittene Formulierung in den »Beratungsgegenständen« (Aufzeichnung zu der kommissarischen Beratung am 3.9.1920, BA-L, RDI, Nr. 8021), zu denen der Vertreter des Reichsinnenministeriums »allgemeine Anerkennung« (Niederschrift über das Ergebnis der kommissarischen Beratung, S. 6, BA-L, RDI, Nr. 8021) konstatierte.

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gesamt mehr Einheitlichkeit in der Einbürgerungspolitik zu suchen. Er verwies dabei auf die preußischen »Grundsätze«, Ausländer, die aus »nationalen Gründen oder wegen ihrer objektiven Herkunfts- oder Abstammungsverhältnisse« nicht als erwünschter Bevölkerungszuwachs angesehen werden könnten (»Polen und aus den slavischen Ländern des Ostens stammende Personen«), in der ersten Generation gar nicht, in der zweiten nur im Fall der Wehrtauglichkeit einzubürgern.109 Das war exakt die preußische Polenpolitik aus dem Kaiserreich. Der Kurswechsel in der preußischen Politik zielte offenbar maßgeblich darauf, allzu große Differenzen zur bayerischen Praxis zu vermeiden.110 Die Schwankungen erklären sich aber auch aus dem Zusammenhang mit verschärften Ausweisungsbestimmungen gegenüber Ostjuden angesichts der verschlechterten wirtschaftlichen Lage.111 Jedenfalls erhielt die Beharrungskraft der Abwehrpolitik in der damaligen Konfliktlage gegenüber dem polnischen Nationalstaat neue Bedeutung. Der preußische Minister bestätigte auch insofern die Tradition deutscher Einbürgerungspolitik, als er die Doppelpoligkeit der Einbürgerungskriterien unterstrich: Die Tauglichkeit zum Militärdienst blieb als Vorzugskriterium ebenso erhalten wie der Nachweis deutscher Abstammung.112 Eine weitere Verschärfung der Einbürgerungspolitik lag darin, daß Preußen die ursprünglich vorgesehene Mindestniederlassungsfrist von zehn Jahren113 für »fremdstämmige Ausländer ... aus Oststaaten« im Jahre 1921 zunächst auf fünfzehn, 1925 schließlich auf zwanzigjahre hochsetzte.114 Der Abstimmungsund Einigungsdruck unter den Ländern des Reiches wirkte sich auch auf Preußen aus. Aus der Erfahrung mit den Einbürgerungsrichtlinien von 1921 plädierte die überwiegende Zahl der Länder für die Heraufsetzung der Mindestfrist von zehnjahren.115 Bayern setzte das Maß restriktiver Einbürgerungspolitik, indem es für »kulturfremde« Ausländer aus östlichen Staaten eine Regelbewährungsdaucr von zwanzig Jahren verlangte und preußische Einbürgerungsvorschläge blockierte.116 Aber auch die allgemeinen politischen Ver109 Preußischer Minister des Innern an den Reichskanzler, 6.12.1920, BA-L, RDI, Nr. 8021. 110 Laut Darstellung des Ministerialdirektors im preußischen Innenministerium, Badt, in einem Bericht für die gemeinsame Besprechung über die Staatsangehörigkeit am 13.7.1929, BAL,AA, Nr. 35333/1. 111 Maurer, Ostiuden, S. 364. 112 Preußischer Minister des Innern an den Reichskanzler (Reichsministerium des Innern), 6.12.1920, BA-L, RDI, Nr. 8021. 113 Niederschrift der kommissarischen Besprechung vom 3.9.1920, S. 4 , BA-L, RDI, Nr. 8021. 114 Preußischer Minister des Innern an den Preußischen Ministerpräsidenten, 19.6.1928, GHSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2255. 115 Aufzeichnung betreffend die Beratung der Einbürgerungsrichtlinien, undatiert (1922), BA-L, RDI, Nr. 8025. 116 Preußischer Minister des Innern an den Reichsminister des Innern, 17.2.1923, BA-L, RDI, Nr. 8025.

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hältnisse schlugen sich in der preußischen Positionsverschiebung nieder. Das Bedürfnis nach einer homogenen Einbürgerungspolitik wird unter dem doppelten Druck der Inflationskrise und der verschärften alliierten Reparationspolitik verstärkt worden sein. Der zentrale Konfliktherd der Debatten um die Einbürgerungspolitik der Jahre 1923 und 1924 betraf die Behandlung der »Ostjuden«117. Dieses politische Schlagwort fand Einlaß in die interministeriellen Debatten. Mit seiner Kombination aus einem geographischen und einem religiösen Attribut wurde es zum Kürzel und Sinnbild des unerwünschten ›Ostausländers‹ schlechthin. Zugleich zeigte es Verlagerungen im Begriff des »Juden« an. In der Sprache der Ministe rialbürokratie meinte »Jude« nicht mehr eine präzise Religionsbczeichnung, sondern changierte zwischen einer Bezeichnung für Nationalität und einem zunehmend diffuser werdenden Ausdruck für Stammeszugehörigkeit.118 Die Eigenschaft des »Juden« schloß in der Verwaltungspraxis insbesondere der beiden großen süddeutschen Staaten Bayern und Württemberg119 die Vermutung der »Deutschstämmigkeit« aus, die eine bevorzugte Einbürgerung erlaubte. ›Deutschstämmigkeit‹ wurde zu einem akulturellcn Kriterium, zu dem die Kulturfremdheit oder Kulturverwandtschaft des Einbürgerungsbewerbers hinzutreten konnte.120 Der Nachweis der Zugehörigkeit zu einer ›nicht kulturfremden‹ Nation war hingegen für per se ›frcmdstämmige‹ Juden bereits aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit äußerst schwer zu führen. In einem Fall, der repräsentativ für die Argumentation der Innenbehörden ist, lehnte Bayern die Einbürgerung eines Bewerbers ab. Das Ministerium sei angesichts des jüdisch klingenden Namens nicht davon überzeugt, daß der Bewerber deutschstämmig, d. h. »deutschen Blutes« sei. Unterstützend trat ein 117 Zur Durchsetzung des Ausdrucks im allgemeinen Sprachgebrauch des frühen 20. Jahrhunderts und Symbolfigur des deutschen Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Aschheim, S. 3, 230f.; Heia, S. 64f.; Pommeriti, Ausweisung von Ostjuden, S. 311-340, der den Zusammenhang der antijüdischen Maßnahmen mit der Hypcrinflation unterstreicht, S. 314f. 118 Ein schlagendes Beispiel zeigen die Ausführungen Bremens: Der Antragsteller Lcvy sei seiner Nationalität nach nicht Deutsch-Böhme, sondern »Israelit«, wenngleich er der evangelischen Kirche angehöre , Senatskommission Bremen an das Reichsministerium des Innern, 10.3.1924, BA-L, RDI, Nr. 8045; vgl. auch die Kritik Bremens daran, daß in den Antragslisten des Polizeipräsidenten Berlin unter Nationalität statt »Israelit« vielfach die Angabc »Deutscher« gemachtwerde, Senatskommission Bremen an das Reichsministerium des Innern, 3.10.1924, BA-L, RDI, Nr. 8046. 119 Württembergisches Ministerium des Innern an das Rcichsministerium des Innern, 18.7.1923, BA-L, RDI, Nr. 8044: »Große Bedenken« , »Personen ostjüdischcr Abstammung« , die auch »bei äußerer Anpassung dem Deutschtum für die Regel wesensfremde Elemente sind«, in vorgeschlagenem Maße an der Einbürgerung zu beteiligen. 120 Vgl. die Unterscheidung Bayerns zwischen 1. Deutschstämmigen, 2. Fremdstämmigen und nicht einer kulturfremden Nation Angehörigen, 3. Fremdstämmigen und einer kulturfremden Nation Angehörigen, Bayerisches Staatsministerium des Innern an Reichsministerium des Innern, 20.11.1922, BA-L, RDI, Nr. 8052.

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Argument hinzu, das kennzeichnend für die Ablehnung der meisten Einbürgerungsanträge ostjüdischer Einwanderer in der Zeit zwischen 1923 und 1925 wurde: Bayern wollte den bayerischen Ärztestand vor ausländischer Konkurrenz schützen,121 Lübeck die einheimische Akademikerschaft vor ausländischen Studenten.122 Wirtschaftliche Erwägungen verbanden sich mit einem antijüdischen Impetus, verdeckten letzteren oder machten ihn doch plausibel. Die Homogenität des Staatsvolks, nach der die Abwehrpolitik der Länder in letzter Hinsicht strebte, war vor allem antijüdisch ausgerichtet. Unter dem Eindruck einer akuten Krisensituation, begleitet von Massenarbeitslosigkeit und Währungsverfall, konturierte die staatliche Bürokratie der Länder die Grenzen des Staatsvolks. Der Verweis auf die Krise rechtfertigte freilich zugleich den Rückgriff auf tiefer liegende strukturelle Abwehrhaltungen, die eine Jahrzehnte währende staatliche Praxis in der Vergangenheit geformt und legitimiert hatte und die nunmehr reaktiviert wurde. Wie sehr der überkommene Abwehrimpetus gegen die Einbürgerung von Juden auch in Preußen nachwirkte, zeigte sich, als sich der preußische Innenminister Severing im April 1922 zu der Klarstellung veranlaßt sah, daß das Religionsbekenntnis weder als solches noch bei der Beurteilung der »Deutschstämmigkeit« des Einbürgerungsbewerbers ausschlaggebend sei. Severing bezog damit eine Gegenposition zu der bayerischen Haltung: Jude und »deutschstämmig« zu sein war für ihn dann vereinbar, wenn sich der jüdische Ausländer auch im Ausland »deutsche Sitte und Sprache« bewahrt hatte.123 Wie weit die preußische Einbürgerungspraxis124 von diesem Gleichachtungsanspruch eines ›kulturdeutschen‹ Juden entfernt sein konnte, zeigten indessen Fälle offener antisemitischer Willkür in Berliner Einbürgerungsbehörden.12η Severings Drängen auf eine religionsneutrale und liberalere Handhabung der Einbürgerungspolitik trug ihm im Wahlkampfjahr 1924 von seiten deutschvölkischer Abgeordneter den Vorwurf ein, er habe allein in einem Jahr 90.000 Ostjuden eingebürgert: ein Beleg für die große Bedeutung der Einbürgerungspolitik in der politischen Polemik. Die preußische Regierung reagierte darauf mit der Veröffentlichung der Einbürgerungszahlen für die Jahre 1921 bis 1923. Während die Gesamtzahl der Einbürgerungen von 6.953 um mehr als das Dop121 Ein Leitmotiv der bayerischen Abwehrhaltung, vgl. die Fülle der Beispiele in BA-L, RDI, Nr. 8045 bis 8048. 122 Senatskommission Lübeck an Senatskommission Hamburg, 13.5.1924, BA-L, RDI, Nr. 8046; Hinweis auf Häufung der Ablehnungen von (promovierten) Akademikern in den Akten des Reichsrats; mit Beispielen aus der preußischen Ablehnungspraxis gegenüber ostjüdischen Arbeitern im Rheinland s. Heid, S. 229f. 123 Preußischer Minister des Innern an die Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten in Berlin, 18.4.1922, BA-L, RDI, Nr. 8054, auf »angebrachte Beschwerden« hin. 124 Zur Ablehnungspraxis im Rheinland s. Heid, S. 229f, 235. 125 »Polizciwillkür bei Einbürgerungsgesuchen«, in: Vorwärts, Nr. 63, 1923.

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pelte auf 17.848 gestiegen war, hatte zugleich der Anteil »fremdstämmiger Ostausländer« von 757 auf 309, also auf weniger als die Hälfte abgenommen.126 Die Zahlen legen einen Zusammenhang nahe: Die hochschnellende Zahl ›deutschstämmiger‹ Einbürgerungen, überwiegend ehemaliger Deutscher, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit in den abgetretenen Gebieten verloren und später für Deutschland optiert hatten, auf dem Höhepunkt der Inflations- und Krisenzeit ging zu Lasten ›fremdstämmiger‹ Bewerber. Preußen, in dem 1925 fast 63 % der Ausländer und über siebzig Prozent der ausländischen Juden wohnten, hatte 1923 weniger als 58% der Bewerbungen zur Einbürgerung vorgeschlagen.127 Selbst wenn man in Ermangelung genauerer Angaben einmal annimmt, daß die eingebürgerten Juden mit der Gruppe der ›fremdstämmigen‹128 Eingebürgerten annähernd identisch waren, betrug ihr Anteil an der Gesamtzahl der Einbürgerungen weit weniger als die Hälfte des jüdischen Anteils an der ausländischen Wohnbevölkerung Preußens.129 Im Ergebnis änderten also auch die relativ liberalen Leitlinien der preußischen Einbürgerungspolitik nichts daran, daß durch die Einbürgerungspraxis Juden im Vergleich zu anderen Bewerbergruppen deutlich benachteiligt wurden. Der politische Konflikt über die Einbürgerung brach grundsätzlich auf, als die Stabilisierung der außenpolitischen und wirtschaftlichen Lage des Deutschen Reiches dafür Raum ließ. Die Konsolidierung der Reparationslasten, die Räumung des besetzten Ruhrgebiets und die deutsche Initiative zu einer neuen Friedens- und Sicherheitspolitik in der ersten Hälfte des Jahres 1925 leiteten eine Phase innerer und äußerer Beruhigung ein. Die neuere Forschung hat gezeigt, wie begrenzt oder vorläufig, insgesamt aber »prekär«,130 die Stabilisierung der Demokratie blieb. Das Bewußtsein dieser Gefährdungslage und das Bedürfnis, sie nicht durch Konflikte zwischen den Ländern zu verschärfen, 126 Die Annahme, daß der sprunghaft ansteigende Anteil ›nicht Fremdstämmigen auch mit der Einbeziehung der Ostjuden in diese Kategorie zusammenhing, lag nach Severings Direktive an die nachgeordneten Behörden nahe, traf aber wohl nicht zu. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden in der Reichskanzlei die Einbürgerungszahlen Preußens von 1919 bis 1931 zusammengestellt. Sie ergaben für den genannten Zeitraum dieselben Gesamtzahlen, für zwei Jahrgänge sogar deutlich niedrigere Einbürgerungszahlen der ›fremdstämmigen Ostausländcr‹, vgl. Maurer, Ostjuden, S. 317, 857. 127 Näherungswerte errechnet nach den - unvollständigen - »Monatslisten« der 1923 zur Einbürgerung Vorgeschlagenen im Rcichsinnenministerium (BA-L, RDI, Nr. 8044, 8045), aufgrund der Angaben für sechs Monate und die sechs Länder Preußen, Sachsen, Bayern, Württemberg, Baden und Hamburg. 128 Sowohl nach den Zahlen des preußischen Innenministeriums (309, vgl. Maurer, Ostjuden, S. 316) als auch nach der Erhebung aus nationalsozialistischer Zeit (1069,vgl. Maurer, Ostjuden, S. 857). 129 Bezogen auf die Ergebnisse der Volkszählung von 1925, die für Preußen einen Ausländeranteil von 573311 auswies, davon 76387 Juden, vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1928, S. 19, sowie Maurer, Ostiuden, S. 77, insbesondere S. 308-323. 130 Winkler, Weimar, S. 244-284.

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wirkten auch in der Einbürgerungspolitik bis in das Jahr 1926 nach. Zusätzlich bewogen außenpolitische Gründe Preußen noch im Sommer 1925 dazu, die von Bayern strikt verfochtene Mindestniederlassungsfrist von zwanzig Jahren für fremdstämmige Bewerber auch im eigenen Land verbindlich zu machen. Damit hatte sich die restriktive Linie Bayerns durchgesetzt, der sich schließlich selbst Sachsen, das bisher der preußischen Linie am nächsten gestanden hatte, nicht mehr entzog. Hauptsächlich betroffen waren die Polen als größte Gruppe unter den sogenannten »fremdstämmigen« Bewerbern. Im Sommer 1925, im Vorfeld der Locarno-Konferenz, erreichte der Optantenkonflikt mit Polen seinen Höhepunkt. Polen wies Deutsche in den Abtretungsgebieten, die nicht für Polen optiert hatten, aus.131 Bayern nahm diese Maßnahmen zum Anlaß, seinerseits die Einbürgerung ›fremdstämmiger‹ polnischer Staatsangehöriger grundsätzlich abzulehnen, und fand dafür die Unterstützung anderer Länder.132 Der Schriftwechsel zwischen den Innenministerien zeigt, wie sehr insbesondere diejenigen Länder, die mit wirtschaftspolitischen und antijüdischen Argumenten die Einbürgerung fremdstämmiger Ausländer äußerst restriktiv behandelt hatten, das polnische Vorgehen als Bestärkung ihrer Politik nutzten. In einzelnen Fällen fielen auch bisher geübte rhetorische Rücksichten, wenn etwa das Innenministerium von Mecklenburg - Strelitz die Polen als »Angehörige einer fremden Nation« bezeichnete, die »in ihren innersten Instinkten dem Deutschtum fremd und abhold ist«. Sie würden immer ein »unsicheres und zersetzendes Element in der deutschen Bevölkerung« bilden, insbesondere »Angehörige der jüdischen Rasse«.133 Außenpolitisch unterstützt wurde die restriktive Linie durch das Auswärtige Amt, das aufgrund konsularischer Berichte über die Verweigerung der Einbürgerung Deutscher in Polen seinerseits »größte Zurückhaltung«134 gegenüber der Einbürgerung polnischstämmiger Personen in Deutschland empfahl. Aus außen- wie innenpolitischen Gründen kündigte Preußen folglich den Konsens mit den übrigen Ländern auf. Es wandte sich von Beginn an, verstärkt nach dem polnischen Einlenken in der Optantenfrage und Konzessionen im Völkerbund im September 1926, gegen die Nutzung der Einbürgerungsfrage als diplomatische Repressalie. Vor allem innenpolitische Gründe waren dafür ausschlaggebend. Preußen hatte den weitaus größten Anteil von Ausländern polnischer Nationalität. Viele Angehörige dieser Gruppe, die sich seit Jahr131 Schattkowsky, S. 306. 132 Bayerisches Staatsministerium des Äußeren an das Auswärtige Amt, 30.7.1926, BA-L, RDI, Nr. 8027. 133 Innenministerium Mecklcnburg-Strelitz an das Reichsministcrium des Innern, BA-L, RDI, Nr. 8047. 134 Auswärtiges Amt an das Reichsministerium des Innern, 19.10.1926, BA-L, RDI, Nr. 8027.

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zehnten in Deutschland aufhielten, teilweise als österreichische Staatsangehörige an der Seite der deutschen Truppen gekämpft hatten, waren durch den Versailler Friedensvertrag ohne ihr eigenes Zutun polnische Staatsangehörige geworden. Ihre Versuche, sich in Preußen wieder einbürgern zu lassen, scheiterten an der Einbürgerungsblockade, welche die anderen Länder des Reichsrats unter der Führung Bayerns errichteten. Preußen wies auf den Widersinn hin, der darin liege, sogenannte »Papierpolen«, die niemals die polnische Sprache gesprochen hätten und nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland »vollkommen im Deutschtum« aufgegangen seien, an der Einbürgerung zu hindern, zumal sie deutsch gesinnt seien. Wenn Polen seinerseits deutsch Gesinnte nicht einbürgere, sei dies konsequent, zumal in Deutschland polnisch Gesinnte auch nicht eingebürgert würden.135 Außenpolitische Zurückhaltung stieß auf den Widerstand einer Linie, die das Streben nach völkischer Homogenität mit außenpolitischer Legitimität versah. Die teils offenen, teils latenten Meinungsverschiedenheiten summierten sich zu einem Grundsatzkonflikt, der im Jahre 1927 aufbrach. Der Rückgang der außenpolitischen Spannungen mit Polen seit dem Herbst 1926 und die Liberalisierung des innenpolitischen Klimas begünstigten einen Vorstoß Preußens zur Lockerung der Einbürgerungspolitik. Der neue, seit Herbst 1926 als Nachfolger Carl Severings amtierende preußische Innenminister Albert Grzesinski nutzte eine zentrale Konferenz der Länder und der Reichsressorts dazu, um auf eine grundsätzliche Neuorientierung der Einbürgerungspolitik zu drängen. Das preußische Innenministerium verlangte, den Begriff des »Deutschstämmigen« durch den Ausdruck »Kulturdeutscher« zu ersetzen. Hinter dem Begriffsstand ein Kategorienwechsel. Mit der Aufgabe der »Deutschstämmigkeit« wollte Grzesinski das Privileg der Blutsabstammung für die Aufnahme in die Staatsangehörigkeit abschaffen. Der Begriff »Kulturdeutscher« sollte die deutsche Akkulturation, die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturgemeinschaft im umfassenden Sinn,136 betonen. Der Vorstoß richtete sich gegen den Ausschluß von Juden über das Kriterium der Deutschstämmigkeit. Wie sehr er das Zentrum des überkommenen Vorstellungsbildes von wertvollem Deutschtum in Frage stellte, zeigte sich an dem mehrheitlichen Widerstand, den Preußen erfuhr: Deutsche Kultur allein biete keine Sicherheit für das Vorhandensein »deutscher staatsbürgerlicher Gesinnung«. Strebsame Angehörige östlicher Völker eigneten sich die höherentwickelte deutsche Kultur zur Verbesserung ihrer wirt135 Preußischer Minister des Innern an Reichsminister des Innern, 7.10.1926, BA-L, RDI, Nr. 8027. 136 Kriterien dafür waren: Zusammenhang mit einer jetzt oder früher in Deutschland ansässigen Familie, Geburt oder Aufwachsen in einem deutschsprachigen Gebiet oder in einer deutschen Siedlung, Besuch deutscher Schulen, deutsche Namen sowie Bewahrung deutscher Sitte und Sprache, vgl. Preußischer Minister des Innern an den Reichsminister des Innern, 28.6.1927, BA-L, RDI, Nr. 8028.

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schaftlichen Aufstiegschancen an. Bei Ostjuden schaffe schon der Anklang der jiddischen Volkssprache an das Deutsche einen solchen Anreiz. Gleichwohl seien Einwanderer aus diesen Ländern kein erwünschter Bevölkerungszuwachs. Was »deutschstämmig« nach der Mehrheitsmeinung über die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur hinaus bedeutete, blieb in vagen Wendungen (»deutsche Gesittung, Gesinnung und Lebensart«)137 unklar. Klar war nur, daß die Aufrechtcrhaltung des Begriffs ›Deutschstämmigkeit‹ die Handhabe zum Ausschluß von Juden bot. Die Zulassung eng begrenzter Ausnahmen für Bewerber, die innerlich mit dem deutschen Volkstum »völlig verwachsen« seien oder »eine hervorragende Betätigung in der deutschen Kultur« nachwiesen, bestätigte diesen Grundsatz nur, denn im Vorfeld der Beratungen hatte z. B. der Widerspruch gegen die Einbürgerung eines bekannten jüdischen Musikers aus Österreich für Aufsehen gesorgt.138 Die von Preußen verlangte Rückkehr zu einer zehnjährigen Mindestniederlassungsdauer auch für fremdstämmige Ausländer wurde von der Mehrzahl der Länder und der Rcichsressorts mit Argumenten zurückgewiesen, welche die Gemengelage aus objektiver Notlage und subjektiver Bedrohungswahrnehmung widerspiegelten, aus der die restriktive Einbürgerungspolitik der Weimarer Republik erwachsen war: Die »Zerrüttung der wirtschaftlichen Verhältnisse« nach dem Krieg und der Erwerbs- und Wohnungsmangel hätten zur Zurückhaltung bei Einbürgerungen geführt. Angesichts der »Knappheit des Lebensraums«, der »Überbevölkerung«, die seit 1919 etwa 400.000 Reichsdeutsche in die Auswanderung getrieben habe, und der »notleidenden deutschen Volksgenossen aus dem Ausland« sei die Erleichterung der Einbürgerung fremdstämmiger Ausländer nicht zu verantworten gewesen. Insbesondere über die zeitweilig ungesicherten Ostgrenzen habe sich ein »Strom« von Einwanderern ergossen, deren Kultur der deutschen »nicht gleichwertig« sei139. Die Vertreter dieser Linie widersetzten sich mehrheitlich der Senkung der Mindestniederlassungsdauer. Lediglich die Entspannung im Verhältnis zu Polen trug dazu bei, daß Preußen mit der Forderung durchdrang, fremdstämmige Polen nicht mehr grundsätzlich von der Einbürgerung auszuschließen. Für Bayern, das einflußreicher Stimmführer der Opposition blieb, gefährdete die einbürgerungsfreundliche Haltung Preußens gegenüber »fremdstämmigen Ostausländern« die Errungenschaften der bisher geübten zurückhaltenden Einbürgerungspolitik, die zugleich im Dienste einer »gesunden allgemeinen Bevölkerungspolitik« des Reiches stehe. In einer grundsätzlichen Stellungnahme, mit welcher der süddeutsche Staat die übrigen Mitglieder des Reichsrats 137 »Niederschrift über das wesentliche Ergebnis der am 7. Juli 1927 im Rcichsministcrium des Innern abgehaltenen kommissarischen Beratung«, S. 8, BA-L, RDI, Nr. 8028. 138 Es handelte sich um den Kapellmeister der Berliner Staatsoper, Josef Wolfsthal, s. den Artikel »Die Einbürgerungsfrage«, in: Berliner Tageblatt, Nr. 295, 1927. 139 Niederschrift der Beratung am 7. Juli 1927, S. 13-16, BA-L, RDI, Nr. 8028.

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auf seine Seite bringen wollte, zeichnete die bayerische Regierung nochmals ein scharfes Bild der Bedrohung: Nach dem Krieg habe ein »starker Zustrom« von Ostausländern eingesetzt, die »skrupellos« ihre wirtschaftliche Stellung in der inflationsgeschwächten deutschen Wirtschaft ›ausgebeutet‹ hätten140 und auch in die deutsche Wissenschaft eindrängen, wo sie den Erhalt der deutschen Kultur gefährdeten und deutsche Wissenschaftler verdrängten. Der Übergang zum Begriff des »Kulturdeutschen« privilegiere diese »Elemente«, indem er äußere Anpassung genügen lasse. Dagegen sei zu fordern, daß jemand »innerlich in seinen Anschauungen im deutschen Wesen und in deutscher Kultur Wurzeln geschlagen hat«. Keinen Zweifel ließ der bayerische Minister, daß sich dieses Bedrohungsbild zuallererst auf »Ostjuden« bezog, die infolge des Krieges und der Umwälzungen in Osteuropa nach Deutschland gekommen waren. Er drängte die Sprache als kulturelles Integrationskriterium völlig zurück, indem er klarstellte: »Aus dem Gebrauch der deutschen Sprache kann aber nicht geschlossen werden, daß der Ostjude dem deutschen Volkstum irgendwie nahesteht«. Scharf trennte der Minister zwischen den »Juden des Ostens«, die »ein eigenes Volkstum mit ausgesprochener Eigenart« darstellten, und »ihren Glaubensgenossen im Inland, die im Deutschtum aufgegangen sind«.141 Diese Position war also nicht schlechthin antisemitisch im rassischen Sinn. Sie erkannte Prozesse jüdischer Akkulturation an das Deutschtum an, doch nur im Hinblick auf die Vergangenheit, während sie sie für die Zukunft bewußt erschwerte. Der Dissens über die Kriterien der Einbürgerung blieb in der Folgezeit bestehen. Die nationalistische Presse führte scharfe Angriffe gegen die Linie des preußischen Innenministers, in bestimmten Fällen Juden das privilegierende Attribut »deutschstämmig« zuzuerkennen.142 Der Reichsrat wurde zum Austragungsort von Kampfabstimmungen über die Einbürgerungspolitik. Die unitarisierende Wirkung, die die preußische Staatsangehörigkeitspolitik im Kaiserreich entfaltet hatte, verkehrte sich in der Weimarer Republik in ihr Gegenteil. Mit der Liberalisierung der preußischen Einbürgerungspolitik wurde nunmehr der Föderalismus nachdrücklich ins Spiel gebracht, insbesondere von Bayern, und zwar als Bollwerk einer restriktiven Linie. Deshalb begegnete der von Vertretern der Deutschen Demokratischen Partei getragene Vorstoß zur Einführung einer unitarischen Reichsangehörigkeit einem doppelten Vorbehalt. Neben der allgemeinen Aushöhlung des Föderalismus fürchtete Bayern auch die Durchsetzung der liberalen Einbürgerungspolitik unter preußischer Hegemonie. Im Jahre 1927 forcierten Reichsjustizminister Erich Koch-Weser und die 140 Zu Wucher und Krisengcwinnlertum als Kernvorwürfen bereits der 1923 durchgeführten Ausweisungen gegenüber Ostjuden s. Pommcrin, Ausweisung von Ostjuden, S. 334. 141 Bayerisches Ministerium des Äußern an RDI (Abdruck an das Auswärtige Amt und die Regierungen der deutschen Länder), 23.2.1929, BHSTA, Ministerium des Äußern, Nr. 100361. 142 Vgl. die Artikel »Die ›deutschstämmigen‹ Ostjuden« (Kreuz-Zeitung, Nr. 248,1927); »Ostjuden sind deutschen Stammes« (Deutsche Zeitung, 8.6.1927).

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Reichstagsfraktion der Deutschen Demokratischen Partei das Reformvorhaben durch eine Reichstagsentschließung,143 die jedoch von Bayern und anderen Ländern als Aufhebung der Eigenstaatlichkeit zurückgewiesen wurde.144 Als Koch-Weser im Jahre 1931 den Deutschen Juristentag hinter seine Reformforderung brachte, empfahl Bayern, die Ergebnisse der Tagung »totzuschweigen«.145 Die relativ liberale preußische Einbürgerungspolitik behauptete sich demnach zwar als partikular im Reichsrat146, indem mit dem durch einzelne Länder verstärkten hohen preußischen Stimmenanteil die Einsprüche anderer Länder überstimmt wurden147. Preußen konnte hingegen den oppositionellen Ländern nicht seine eigene Linie aufzwingen, es sei denn um den Preis, das Funktionieren des Bundesstaats aufs Spiel zu setzen. In einem demokratischen Bundesstaat war zudem die Heterogemtät der Einbürgerungspolitik(en) größer als in einem Bund von Monarchien. Unter den Bedingungen eines bundesstaatlichen Gcfüges mit offenen Grenzen mußte ein Mindestmaß an Homogenität der Einbürgerungspolitik gewahrt bleiben, um die Heterogenität der Lebensverhältnisse nicht zur Bruchstelle des Gesamtstaates werden zu lassen. Bayern suchte die Unterstützung des württembergischen Nachbarstaats für seine Politik.148 Wie sehr sich das eher kleinstädisch-ländlich geprägte Milieu der süddeutschen Länder von der Einbürgerungspolitik des großstädtischen Preußen bedroht sah, zeigt ein Rundschreiben Württembergs an die Länder und Reichsministerien. Darin wurde Besorgnis über die hohe Einbürgerungsratc der Reichshauptstadt »mit wesensfremden, dem Deutschtum innerlich 143 S. RT-Prot., 3. WP (1924/27), 307. Sitzung (6.4.1927), S. 10569.: Der Reichstag forderte die Reichsregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, »der für alle Deutsche an Stelle der Staatsangehörigkeiten eine deutsche Reichsangehörigkeit setzt«. 144 Vgl. Niederschrift über die kommissarische Beratung am 7.7.1927, S. 2lf.,BA-L, RDI, Nr. 8028. Der Vertreter des preußischen Justizministeriums sprach von einer Umgestaltung des Reiches zum »Einheitsstaat«. 145 Staatsrat von Jan an Prof. Dr. Freiherr von Scheuerl, der das Korreferat zu Koch-Weser gehalten hatte, 24.9.1931, BHSTA, Ministerium des Innern, Nr. 74145. 146 Preußischer Ministerpräsident an das Bayerische Staatsministcrium des Außeren, 31.8.1928 (Entwurf), GHSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2255, S. 8: Darin erklärte Preußen, angesichts des Dissenses zwischen den Ländern an der Verwendung der Kategorie »Kulturdeutscher« festzuhalten; vgl. auch die regelmäßige Überstimmung der bayerischen Einsprüche, Niederschriften der Vollsitzungen des Reichsrats 1927-1932, in denen insgesamt 703 Einsprüche (1927: 9; 1928: 75; 1929: 80; 1930: 5; 1931: 435; 1932: 99), ganz überwiegend gegen preußische Einbürgerungsvorschläge, zurückgewiesen wurden. 147 Laut Darstellung des Berichterstatters Freiherr von Imhoff im Reichsrat hatte Preußen mehr und mehr Länder auf seine Seite bringen können, bevor diese sich ab Ende der 20er Jahre erneut für eine schärfere Beurteilung der Einbürgerungsanträge aussprachen (Niederschriften über die Vollsitzungen des Reichsrats 1931, S. 25). 148 Bayerischer Minister des Innern an das Württembergische Ministerium des Innern, 3.1.1928, BIISTA, Ministerium des Äußeren, Nr. 100314, mit der Bitte, gleichfalls eine Gegcnstellungnahme zur preußischen Politik zu erarbeiten.

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nicht verbundenen Bestandteilen« ausgedrückt. Das anti-urbane verband sich in schlagender Weise mit dem antijüdischen Element, wenn das württembergische Staatsministerium davor warnte, »Fremdkörper« einzubürgern, die »durch eine ihnen vielfach eigene wirtschaftliche, künstlerische oder wissenschaftliche Begabung und Beweglichkeit mehr und mehr Kreise und Berufe zu durchsetzen trachten, deren Deutscherhaltung für Reich und Länder besonders wichtig [...] ist«.149 Einzelne Formulierungen und Argumentationen ließen auch klar rassehygienische Grundvorstellungen erkennen. Sie traten dort zutage, wo sie auf politische Zustimmung oder doch zumindest Verständnis rechnen konnten. Aus der bayerischen Verwaltung wurde angeregt, die unehelichen Kinder deutscher Frauen, die aus Verbindungen mit farbigen Soldaten der alliierten Besatzungstruppen stammten - sogenannte »Rheinlandbastarde« - und die nach deutschem Recht deutsche Staatsangehörige waren, aus Gründen der Rassehygiene sterilisieren zu lassen. Der Reichsminister für die besetzten Gebiete lehnte diesen Vorschlag zwar ab, ließ aber erkennen, daß solche Maßnahmen zuvor erörtert worden seien. Sie scheiterten aus außen- und innenpolitischen Gründen. Das geltende Recht lasse derartige Zwangsmaßnahmen gegen deutsche Staatsangehörige nicht zu, d. h. weder gegen die Mütter noch gegen ihre Kinder.150 Angesichts dieser tief verwurzelten Widerstände waren die Spielräume einer Liberalisierung der Einbürgerungspolitik gering und schwanden vollends in der wirtschaftlichen Depressionsphase nach 1929, in der sich die nationalistischen Angriffe auf die Demokratie noch verschärften. Deshalb scheiterte auch Preußens letzter Vorstoß zu einer Vereinheitlichung der Einbürgerungspolitik nach dem von ihm entwickelten Grundsätzen.151 1931 hatten sich die Fronten verschoben. Unter dem Eindruck der verschärften Krise rückte Preußen näher an Bayerns Position heran und forderte, Einbürgerungswillige, die erst nach der Revolution und Inflation in das Land gekommen seien, künftig einer »schärferen Nachprüfung« zu unterwerfen. Scharf grenzte es sich gleichzeitig gegen den Ablehnungsgrund der ›Fremdrassigkeit‹ ab, einen Begriff, den die thüringische Regierung mit dem nationalsozialistischen Innenminister Wilhelm Frick eingeführt hatte. Er sei sachlich unhaltbar, »am wenigsten in einem Land, das wie Deutschland - der Blutmischung so viele hervorragende Namen verdankt«.152 149 Württembergisches Staatsministeriuni an die Regierungen der Länder, Reichsinnenministerium und Auswärtiges Amt, 2.5.1928, GHSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2255. 150 S. Pommerin, Sterilisicrungder Rheinlandbastarde, S. 32; zu Parallelen in den rassistischen Stereotypen gegenüber Juden und »Schwarzen« s. Lebzeltcr, S. 53. 151 Vgl. Niederschrift über die Besprechung im Reichsinnenministerium am 13.7.1929, bei der Reichsinnenminister Sevcring (SPD) die preußischen Vorschläge als einheitliche Linie des Reiches empfahl, BA-L, AA, Nr. 35333/1. 152 Ausführungen des preußischen Vertreters im Reichsrat vom 31.1.1931 (Niederschriften über die Vollsitzungen des Rcichsrats 1931, S. 24).

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Mit der Reichsexekution gegen Preußen im Juli 1932, der Absetzung der sozialdemokratischen Regierung Braun und Severing, wurde die Einbürgerungspolitik des Reiches weitgehend gleichgeschaltet. Reichsinnenminister Freiherr von Gayl wollte dazu im Oktober 1932 den Konsens der Länder erneut bekräftigen. Nichts belegt klarer die Entstehung der Weimarer Einbürgerungspolitik aus dem Bewußtsein der Krise als Gayls Rückgriff auf die Einbürgerungsrichtlinien des Krisenjahres 1921, die er zuspitzte und aktualisierte.153 Die gegenwärtige Wirtschaftslage ermögliche der deutschen Bevölkerung nicht den »erforderlichen Lebensraum«. Eine »strengere Einbürgerungspraxis gegenüber ... den entwurzelten Existenzen fremder Länder« sei geboten, insbesondere gegenüber »Fremdstämmigen ... niederer oder doch völlig fremdartiger Kultur, insbesondere also den Angehörigen der slawischen Oststaaten und den Ostjuden«.154 Die Mehrheit der deutschen Länder hatte den Kategorienwechsel von der ›Deutschstämmigkeit‹ zum ›Kulturdeutschtum‹ abgelehnt. Sie hielt an dem diffusen Begriff der ›Fremdstämmigkeit‹ fest, um die Grenzlinie zwischen Homogenität und Dishomogcnität zum deutschen Staatsvolk zu kennzeichnen. Zwar wirkte die Grenze nicht absolut. Sie blieb relativ, überwindbar durch jahrzehntelange Ansässigkeit und besondere Akkulturationsleistungen. Doch blieb dies, systematisch gesehen, eine Ausnahme. Die Regelvermutung der Inhomogenität, die in der Zuschreibung ›fremdstämmig‹ steckte, enthielt neben dem kulturellen ein inhaltlich ebenso diffuses wie unauflösliches ethnisches Moment. ›Fremden Stammes‹ zu sein konnte durch kulturelle Leistung überbrückt und ausgeglichen werden, war aber grundsätzlich identifizierbar und untilgbar, denn diese Vorstellung blieb an biologische Abstammung gebunden. Das kulturelle Moment des Einbürgerungskriteriums ›Fremdstämmigkeit‹ war akzidentiell, das Abstammungsmoment jedoch essentiell. Die mehrheitliche Abneigung, deutsch akkulturierte Juden aus dem Begriff der Fremdstämmigkeit auszunehmen, bewies dies. Im Kriterium ›Fremdstämmigkeit‹ angelegt war also die mögliche Aufstellung absoluter, nicht erwerbbarer Homogenitätskriterien. Betrachtet man die Einbürgerungspraxis der Weimarer Republik als Ganzes, also über ihre völkischen Zuspitzungen hinaus, wirkten föderative Unterschiede und liberale Traditionen fort und verhinderten die Durchsetzung absoluter völkischer Homogenität. Gleichwohl markiert die Staatsangehörigkeitspolitik der Weimarer Republik eine Zäsur. Um sie näher zu bestimmen, soll auf die begrifflichen Ausgangsbeobachtungen zurückgegriffen werden. Mochte auch der Text des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 unverändert 153 Walter, Antisemitische Kriminalität, S. 231 f. 154 Reichsminister des Innern an die Landesregierungen, 3.10.1932, GHSTA Dahlem, Rep. 90, Nr. 2255.

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bleiben, verbarg dies nur einen tiefgreifenden Umbau seiner ideellen und politischen Grundlagen, der im Ersten Weltkrieg seinen Ausgang nahm. In der kurzen Phase der Weimarer Republik erfuhr die Konzeption der deutschen Staatsangehörigkeit im Zeichen des ›Volkstums‹ eine »Politisierung«, welche die schrittweise Nationalisierung im Kaiserreich an Intensität und Wirkung weit übertraf Bedeutete die ›Entdeckung‹ des Auslandsdeutschen im ausgehenden 19. Jahrhundert die Mobilisierung eines nationalen Symbols überwiegend zu innenpolitischen Zwecken, revolutionierte der Kriegsausgang Gehalt und politische Bedeutung dieses Begriffs. Der Auslandsdeutsche außerhalb der Grenzen des besiegten deutschen Nationalstaats, ein Angehöriger einer deutschen ›Minderheit‹, deutscher Volkszugehörigkeit und vielfach ehemaliger deutscher Staatsangehörigkeit, wurde zu einer realen politischen Größe, die mehrere Millionen Menschen umfaßte. Für die Reichspolitik und die politische Öffentlichkeit wurden sie ein Objekt der Fürsorge und Unterstützung; ihretwegen kam es zu diplomatischen Kämpfen und revisionistischen Bestrebungen. Dieses politische und nationale Beziehungsgeflecht wurde vom rechtlichformalen Begriff der Staatsangehörigkeit nicht mehr adäquat erfaßt. Die »Unzulänglichkeit«155 der Staatsangehörigkeit brachte eine neue, eine politische Begrifflichkeit hervor. Um die Kluft zwischen der Realität des territorial beschnittenen Nationalstaats und dem räumlich entgrenzten Wunsch nationaler Zusammengehörigkeit zu überbrücken, erhielt die Volkszugehörigkeit«156 rechtliche Qualität. Sie erfüllte den Rechtsbegriff der auslandsdcutschen ›Minderheit‹ mit Substanz, löste sich von der Staatsangehörigkeit ab und trat gleichberechtigt neben diese. Aus der Sicht einer wachsenden Zahl politischer Kommentatoren und Rechtspraktiker relativierte dies nicht nur die Bedeutung der Staatsangehörigkeit. Sic schrieben der »Volkszugehörigkeit« die eigentliche Leitfunktion zu.157 Ausdruck dieser begrifflichen Aufspaltung war die Entstehung eines neuen Begriffs, der in Konkurrenz zur rechtlich-formalen Beschränkung des »Deutschen« im Reichsgesetz von 1913 trat: der »Volksdeutsche«.,158 In dieser Begriffsprägung wurde die Bedeutungsvielfalt des Wortes »Volk«, das im staatsrechtlich -politischen Sinn des Art. 1 der Weimarer Reichsverfassung auch das Staatsvolk der Demokratie bedeutete,159 auf einen Substanzbegriff ethnisch-kultureller Homogenität verengt. Der begrifflichen Reduktion von Volk auf Volkstum entsprach die Verengung von Staatsangehörigkeit auf Volkstum. 155 Vgl. Schätze!, Rechtsbeziehungen der Auslandsdeutschen, S. 13f. 156 Vgl. ebd., S. 8f. 157 S. Broecker, S. 21; Becker, Das Problem der mehrfachen Staatsangehörigkeit, S. 480. 158 Broecker, S. 14, definierte »volksdeutsch« als »Zugehörigkeit zum deutschen Volk ohne Rücksicht auf Staatsbürgerschaft«, erkannte jedoch kein besonderes Interesse des Deutschen Reiches an der Einbürgerung der Volksdeutschen an, s. Silayi, Vertreibung, S. 110f. 159 Art. 1 der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919: » Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.«

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Freilich konnte sich der begriffliche Kategorienwechsel nur mit Unterstützung einer institutionellen und publizistischen Lobby vollziehen. In der Übergangszone von Recht und auslandsdeutscher Politik entstand eine Gruppe von Fachleuten, die zugleich als Publizisten und Rechtsvertreter auslandsdeutscher Interessen vor nationalen und internationalen Behörden und Gerichten auftraten. Sie erfuhren, so z. B. der Berliner Rechtsanwalt Carl Georg Bruns,160 Unterstützung durch die Reichsbehörden, wirkten in die wissenschaftliche Begriffsbildung hinein und waren durch ihre Beratungstätigkeit vielfach mit dem wachsenden Netzwerk auslandsdeutscher Schutz- und Interessengruppen verbunden.161 Nicht die Auflösung, wohl aber die Relativierung und Bedeutungsminderung des Begriffs Staatsangehörigkeit gegenüber dem der Volkszugehörigkeit in der Publizistik wie in der öffentlichen Wahrnehmung - zeichnete die Weimarer Republik aus.162 Indem die völkische Substanz gegen die formale staatliche Begrenzung ausgespielt wurde, war die Bestandskraft der Institution Staatsangehörigkeit erodiert, bevor das NS-Regime zu ihrer radikalen Aufhebung schritt.

160 Vgl. Schoot, S. %f. 161 S. ebd., S. 90f, 105f. 162 Zum Beispiel Schätze!, Rechtsbeziehungen der Auslandsdeutschen, S. 9: »Die ethnographische Einteilung gilt als die natürliche, gegebene Vorlage, der die politischen Grenzen zu folgen haben«; ähnlich ders., Elsaß-lothringische Staatsangehörigkeitsregelung , S. 147: »Wie der Staat wird die Staatsangehörigkeit zum Zwitterbegriff. Sie ist noch rein rechtlich die alte Gebietsangehörigkeit; zum wirklichen Vollbürgcr gehört jedoch gleichzeitig die Volkszugehörigkeit«.

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VIII. Volk und Rasse: Deutsche Staatsangehörigkeit unter nationalsozialistischer Herrschaft

Die Machtübernahme des Nationalsozialismus bedeutete zugleich eine tiefe Zäsur in der Staatsangehörigkeitsentwicklung, genauer: einen Bruch mit der tradierten institutionellen Struktur der deutschen Staatsangehörigkeit insgesamt. In der Literatur wird vielfach die ausgeprägte Kontinuität betont, die zwischen dem ethnisch-kulturell definierten ins sanguinis und dem gleichfalls blutsbezogenen Rasseprinzip des nationalsozialistischen Staatsangehörigkeitsrechts bestanden habe.1 Doch läßt sich diese Argumentation von der Umwandlung der »Blut«- Metapher und unbestreitbaren, im einzelnen noch zu zeigenden ideellen Kontinuitätslinien zu einem Schluß verleiten, der nur beim ersten Hinsehen plausibel erscheint. Ein tiefer eindringender Blick zeigt jedoch, daß die deutsche Staatsangehörigkeit zwischen 1933 und 1945 einen Prozeß der Auflösung und des Umbaus erfuhr, der sie in mehrfacher Hinsicht scharf vom Vorangehenden abhebt. Der Nationalsozialismus radikalisierte die Staatsangehörigkeitspolitik und stellte sie auf eine qualitativ neue Grundlage. Die Intentionen und Grundstrukturen dieses Vorgangs bildeten sich in den ersten zwei Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft bis zum Erlaß der Nürnberger Rassegesetze 1935 aus. Auf dieser Phase der Restrukturierung liegt daher besonderes Gewicht. Die Politik der folgenden Jahre hatte stärker ausführenden Charakter, bevor sie sich unter den Bedingungen der Kriegsführung und Herrschaftsausdehnung nochmals radikalisierte und neue Formen annahm.

1. Radikale Eingriffe in das Staatsangehörigkeitssysstem Die »Politisierung der Staatsangehörigkeit«, die sich nach Walter Schätzeis Beobachtung in der Weimarer Republik vorbereitet hatte, zeigte sich unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in ihrem ganzen Ausmaß. Die jahrzehntelange politische Aufladung dieser Rechtsinstitution wird gerade durch die radikalen Eingriffe belegt, welche die nationalsozialistisch geführte 1 S. dazu Literatur zu Kap. V.4.

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Reichsregierung in Angriff nahm. Nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 erließ Reichsinnenminister Frick am 15. März 1933 »zur ersten Einleitung einer bewußt völkischen Politik« einen Runderlaß an die Landesregierungen, der anordnete, die weitere Zuwanderung von Ausländern »ostjüdischer Nationalität« abzuwehren, derartige Ausländer fortan nicht mehr einzubürgern und sie bei unbefugtem Aufenthalt - aus dem Reichsgebiet auszuweisen.2 Diesen vorläufigen Anordnungen, die zunächst nur negative Veränderungen im Sinne des angestrebten völkischen Staats verhindern sollten, folgte eine gesetzliche Maßnahme, die erstmals tief in bestehende Rechtspositionen der Staatsangehörigkeit eingriff Im Juli 1933 erging das »Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit«.3 In doppelter Stoßrichtung führte das Gesetz damit sowohl die Denaturalisation als auch die Strafexpatriation in das deutsche Recht ein. Die Einführung der Staatsangehörigkeit auf Widerruf für den Fall, daß »die Einbürgerung nicht als erwünscht anzusehen ist«, und die damit ermöglichte Denaturalisation derjenigen, die zwischen dem 9. November 1918 und dem 30. Januar 1933 eingebürgert worden waren, zielte ausdrücklich auf die Gruppe der »Ostjuden«.4 Hitler begründete im Reichskabinett diese Maßnahme damit, daß ein Vorgehen speziell gegen die »Ostjuden« auf allgemeines Verständnis rechnen könne, wobei er auf fortbestehende konservative Vorbehalte anspielte, die sich gegen die Ausdehnung der Maßnahme auf alle deutschen Juden richteten. Tatsächlich knüpfte die Denaturalisation der Ostjuden an Forderungen an, die während der Weimarer Republik nicht nur von der radikalen NSDAP, sondern auch von konservativen Abgeordneten der parlamentarischen Rechten erhoben worden waren.5 Wenn nunmehr die Expatriationsmaßnahme zeitlich begrenzt und auf eine spezielle Gruppe von Juden beschränkt wurden, entsprach dies allerdings nur zeitweiliger und politisch-taktischer Rücksichtnahme. In Wirklichkeit ergaben sich die Maßnahmen aus einem langgehegten Kernziel der nationalsozialistischen Ideologie, Juden in umfassender Weise aus der deutschen Staatsangehörigkeit auszuschließen. Bereits das Programm der NSDAP vom Februar 1920 hatte gefordert: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf die Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein ... Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben und unter

2 Vgl Adam, S. 44, Anm.101. 3 Gesetz vom H.Juli 1933, RGBl I, S. 480. 4 § 1 Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933; Durchführungsverordnung vom 26. Juli 1933, RGBl I, S. 538, zu § 1. 5 Vgl. Adam, S. 25, 29, 42, 81; Maurer, Ostjuden, S. 316f.

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Fremdenrecht stehen«. Hitler hatte bereits 1927 in »Mein Kampf« gegen das rechtsstaatlich-formale Staatsangehörigkeitsrecht der Weimarer Republik polemisiert, da es keine »rassischen Bedenken« berücksichtige. Er kritisierte, daß »jedes Juden- oder Polen-, Afrikaner- oder Asiatenkind ohne weiteres zum deutschen Staatsbürger deklariert werden könne« und der Staat dadurch »Giftstoffe« in sich aufnehme, die er kaum auszuscheiden vermöge.6 Bereits zu Beginn der dreißiger Jahre wurden in der Führung der NSDAP Pläne zur grundlegenden Novellierung des Staatsangehörigkeits- und Fremdenrechts und zur Herabstufung der jüdischen Deutschen in einen minderen Rechtsstatus entwickelt.7 Insgesamt bedeutete damit die Denaturalisation der Ostjuden einen Schritt zur Verwirklichung der biologistischen Reinheitsvorstellung, die Hitler mit den »Giftstoffen«, die den Staatskörper vergifteten, 1927 umschrieben hatte. Die Durchsetzung völkischer Homogenität der Staatsangehörigkeit, genauer: die Herstellung der Identität von erwünschter Rasse- und Staatszugehörigkeit war in konservativen und völkischen Ideologemen seit dem Kaiserreich vielfach gefordert worden. Nun wurde sie erstmals geltendes Recht, und zwar mit zwei radikalen Neuerungen: Zum einen wurde erstmals ein zugeschriebenes Rassemerkmal, das ›objektiv‹ und absolut galt, d. h. vom Betreffenden nicht durch eigenes Zutun zu beseitigen bzw. zu beeinflussen war, zum Maßstab des Ausschlusses aus der Staatsangehörigkeit erhoben. Darin lag ein wesentlicher Unterschied zur Ausbürgerung nach bisherigem Staatsangehörigkeitsrecht. Das Reichsgesetz von 1913 band die schärfste Sanktion, die Ausstoßung aus der Staatsangehörigkeit, strikt an die Verletzung fundamentaler Loyalitätsverpflichtungen gegenüber der staatlichen Gemeinschaft: an die Wehrpflichtentziehung, Fahnenflucht und den unerlaubten Eintritt in fremde Staatsdienste.8 Zum zweiten begnügte sich der nationalsozialistische Staat nicht mit der Verhinderung künftiger Aufnahmen, sondern griff- über die bestehenden Ausnahmevorschriften hinaus - in den bestehenden Rechtsstatus der Staatsangehörigkeit ein. Die Radikalität dieser Maßnahme zeigte sich im Bruch der rechtlichen Form. Für die liberale, das Individuum schützende Rechtsdogmatik des bürgerlichen Rechtsstaats seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unvorstellbar war die einseitige staatliche Rücknahme eines mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakts aus nachträglich eingetretenen Gründen. Die Denaturalisation der Ostjuden enthielt somit, systematisch gesehen, einen Vorgriff auf die systematische Zerstörung eines Berechenbarkeit garantierenden rechtsstaatlichen Kernbestands, des subjektiven öffentlichen Rechts schlechthin.

6 Hitler, Mein Kampf, S. 76-79. 7 Vgl. Adam, S. 28f. 8 Vgl. §§ 26-28, 32 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913.

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An diesem Befund ändern die Ausnahmeregelungen nichts, die bestimmten Gruppen der von der Denaturalisation Betroffenen gewährt wurden.9 Es entsprach vielmehr der Auflösung rechtsstaatlicher Logik im Nationalsozialismus, daß die Ausführungsvorschriften gerade nicht als erschöpfende, d. h. grundsätzlich ergänzbare Regelung interpretiert und das Ermessen dementsprechend zu Lasten der Betroffenen ausgeübt werden konnte. Somit wies der Reichsinnenminister die Landesregierungen an, den Begriff des »Ostjuden« auch auf diejenigen anzuwenden, die aus anderen als östlichen Staaten eingewandert waren, sofern sie nur aus diesen Ländern stammten und eine jüdische Herkunft aufwiesen. Auch sollten diejenigen Frontkämpfer nicht geschützt werden, die sich eine »grobe Verletzung ihrer soldatischen Pflichten« hatten zuschulden kommen lassen. Für die Interpretation sollte der Zweck maßgeblich sein, den »unerwünschten Bevölkerungszuwachs wieder auszuscheiden, den das deutsche Volk durch eine den Einbürgerungsgrundsätzen der nationalen Bewegung zuwiederlaufende [sie !] Behandlung von Einbürgerungsanträgen in dem erwähnten Zeitraum erfahren hat.«10 Stellte somit das Denaturalisationsgesetz von 1933 einen Bruch im bisherigen deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz dar, wird diese Bedeutung nicht dadurch relativiert oder gar aufgehoben, daß die Vorläufer der »Denaturalisation« im außerdeutschen Recht lagen. Die alliierten Gegner Deutschlands, England und Frankreich, hatten während des Ersten Weltkriegs Denaturalisationsbestimmungen in ihr Staatsangehörigkeitsrecht eingeführt, die im deutschen Recht keine Entsprechung fanden. Unter dem Eindruck eines mit radikaler Härte geführten verlustreichen Krieges und eines offenen, von der offiziellen Propaganda geschürten Deutschenhasses waren in Frankreich 1915 und in England noch kurz vor Ende des Krieges Gesetzesbestimmungen eingeführt worden, die äußerlich alle Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze aufwiesen, die auch das nationalsozialistische Gesetz von 1933 kennzeichneten.11 Es waren Sondergesetze, die erstmals auch inmitten des Staatsvolks im Inland ansässigen Naturalisierten die Staatsangehörigkeit entzogen und mit ihrem Strafcharakter das Rückwirkungsverbot verletzten. Auch sie trennten eine -vielfach nur zugeschriebene - materielle Nationalität von der formellen Staatsangehörigkeit und nutzten diese Diskrepanz, um sich ihrer Schutzpflicht für ihre na-

9 Wie bereits im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 (RGBl I, S. 175) wurde eine Ausnahme für ›Frontkämpfer‹ gemacht, und zwar für »Ostjuden, die im Weltkrieg an der Front gekämpft oder sich um die deutschen Belange besonders verdient gemacht haben«, s. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 26.7.1933 (RGBl I, S. 538), zu § 1. 10 S. Reichsminister des Innern an die Landesregierungen, 9.8.1933, BA-L, Rcichministeniim des Innern, R 43 II/134. 11 Dazu kritisch bereits 1925 Schwarz, Recht der Staatsangehörigkeit, S. 194f.

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turalisierten Staatsbürger zu entledigen.12 Doch enden hier zugleich die Parallelen zum deutschen Gesetz von 1933. Die alliierten Gesetze waren durch den Krieg bedingt und blieben auch dort, wo sie zeitlich über den Kriegszustand hinausreichten, auf die kriegerische Auseinandersetzung zwischen Nationalstaaten bezogen. Die Denaturalisationen erfolgten, um die Betreffenden als feindliche Ausländen zu stigmatisieren und zu bekämpfen. Auch dort, wo sich - wie z. B. im englischen Recht - die Sanktionen von der Kriegssituation ablösten, blieben sie an konkretes Fehlverhalten oder Loyalitätsverletzungen der betreffenden Naturalisierten gebunden. Zudem stellten die alliierten Gesetze ungeachtet ihrer Verabschiedung im Kriegszustand Parlamentsgesetze dar, waren im Entwurfstadium parlamentarischer Kritik, auch Abmilderungcn und zeitlichen Beschränkungen unterworfen worden. Eben darin unterschied sich das deutsche Gesetz von 1933 wesentlich. Es war eine Diktaturmaßnahme, von der Rcichsregicrung ohne öffentliche Diskussion zur unmittelbaren Umsetzung nationalsozialistischer Programmatik eingeführt und dementsprechend jederzeit verlängerbar. Die Denaturalisationsbestimmung wurde auch nicht mit einer kriegsähnlichen Bedrohung des inneren Friedens durch die auszubürgernden Ostjuden begründet. Sie fiel vielmehr in eine Phase nachlassender antisemitischer Politik, mit der das Regime zugleich auf ausländische Kritik reagierte.13 Ausreichend für die Ausbürgerung blieb die rückwirkende Bewertung des Einbürgerungsvorgangs als »nicht erwünscht«. Das Gesetz von 1933 setzte keinen - realen oder fiktiven - Krieg voraus, sondern erklärte ihn - zunächst gegenüber einer Randgruppe, zu deren Schutz sich absehbar kein Widerstand regen würde. In ihrer praktischen Umsetzung führte die Dcnaturalisierungsmöglichkeit zu einer Sammelüberprüfung, die grundsätzlich alle Einbürgerungen während der Weimarer Republik einbeziehen konnte14 und unter den Eingebürgerten eine allgemeine Verunsicherung über ihre wirksame Zugehörigkeit zum deutschen Staatsverband auslöste. Sie wurde überdies auf Beamtenernennungen ausgedehnt, zumal diese quasi automatisch die Einbürgerung der verbeamteten Ausländer zur Folge gehabt hatten.15 Recherchen des Reichsinnenministeriums im Vorfeld des Gesetzes vom 14. Juli 1933 ergaben, daß allein in Preußen von 1919 bis 1931 annähernd 130.000 Ausländer eingebürgert worden waren.16 Insgesamt wurden in 10.487 Fällen die Einbürgerungen widerrufen. Davon bezogen sich 6.943 auf »Juden«, 3.544 auf »Nichtjuden«. Berücksichtigt man, 12 Vgl zu den französischen Gesetzen vom 7.4.1915 und 18.6.1917 sowie zum englischen Gesetz vom 8.8.1918 ebd., S. 18-33., 61-68, insbes. S. 20, 63. 13 S. Longerich, Politik der Vernichtung, München 1998, S. 46f. 14 Vgl. Weiss, »Ostjuden«, S. 220, Anm. 18, die von »unzähligen Personenakten« spricht, die solche Überprüfungen nachweisen. 15 Aufgrund § 14 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913; zum Folgenden eingehend Maurer, Ausländische Juden, S. 189-210.

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daß sich die Widerrufe auch auf Ehefrauen und Kinder bezogen, beträgt die geschätzte Gesamtzahl der Denaturalisierten zwischen dreißig- bis vierzigtausend Personen.17 Die systematische Erhebung der Auszubürgernden und die effiziente Umsetzung der Maßnahmen konnten sich auf erfahrene Beamte im Reichsinnenministerium stützen, die das Vorgehen zudem in der juristischen Fachöffentlichkeit legitimierten. Der bereits während der Weimarer Republik für Staatsangehörigkeitsfragen zuständige Referent im Reichsinnenministerium, Hermann Hering, begrüßte die Gelegenheit zur Revision der »fehlerhaften Einbürgerungspraxis« in der Weimarer Republik. Deren Hauptursache sah er »in dem Mangel an völkischem Bewußtsein und der Nichtachtung rassischer Unterschiede bei Behandlung der Einbürgerungsgesuche. Die liberale Demokratie stand im Banne des von der französischen Revolution verkündeten Grundsatzes der Gleichheit von allem, was Menschenantlitz trägt. Mochte das gesunde Gefühl des schlichten Mannes den Einwanderer fremden Blutes noch so stark ablehnen, die in liberalistischen Ideen schwelgende führende Oberschicht, namentlich die den artfremden Gästen innerlich nahestehenden Politiker und ihre Presse, verstanden es meisterhaft, den klaren Blick des einfachen Bürgers und Arbeiters zu vernebeln, indem sie ihre verschwommenen Menschheitsideale als hohen Fortschritt der Kultur und Zivilisation priesen, die Betonung der Unterschiede von Blut und Rasse als intellektuell und kulturell rückständig, als »ungebildet« brandmarkten. So wurde das Emporkommen des von der völkischen Bewegung getragenen Gedankens verhindert, daß Volksgemeinschaft Blutsgemeinschaft ist.«18 Die demonstrative Verbindung aus administrativer Erfahrung und politischer Anpassungsbereitschaft eines leitenden Beamten, die hierin zutage tritt, erklärt die Effizienz und Verschärfung der folgenden Maßnahmen des Nationalsozialismus gerade auch aus der Aufrechterhaltung eines äußeren Modus der Rechtlichkeit, der Kontinuität rechtlichadministrativer Formen. Derartige Kontinuitätsbrücken waren um so wichtiger, als die materiellen und sozialen Folgen der Ausbürgerung einschneidend wirkten. Sie betrafen in den meisten Fällen Personen, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, zumal während der Weimarer Republik zumindest zehn, vielfach zwanzig Jahre Ansässigkeit für die Einbürgerung verlangt worden waren.19 In der Regel wurden die Ausgebürgerten, die ganz überwiegend aus den polnischen Gebieten 16 Nach einer im Mai 1933 angefertigten Aufstellung im Reichsministerium des Innern, BAL, R 43II/134,die insgesamt 129.517 zwischen 1919 und 1931 Eingebürgerte, unter ihnen 114.029 »Deutschstämmige«, 11.254 »Ostausländer nicht deutscher Herkunft« und 4.234 »Sonstige Fremdstämmige« zählte. 17 Zu den Zahlen vgl. Lehmann, Einleitung, S. IX-XXIII (XIII). 18 Hering ,622. 19 S.o.

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des ehemaligen Zarenreichs und den Gebieten der ehemaligen Habsburgermonarchic stammten, staatenlos. Nach dem Untergang der beiden multinationalen Imperien hatten die Nachfolgestaaten, in denen, so z. B. in Polen, vielfach ein scharfer Antisemitismus und diskriminierende Gesetzgebung vorherrschten, kein Interesse an der Aufnahme der ehemaligen Deutschen.20 Sie unterlagen zunächst allen Einschränkungen des Ausländerstatus, sie benötigten einen Fremdenpaß, eine Aufenthalts- sowie eine Arbeitserlaubnis. Sie waren den zunehmend verschärften und extensiv gehandhabten Ausweisungsbestimmungen für Ausländer ausgesetzt. Der nationalsozialistische Staat verfügte im Unterschied zu den Regierungen der Weimarer Republik völkerrechtlich unzulässige Massenausweisungen, die insbesondere auf »Ostjuden« abzielten. Die Ausbürgerung hatte überdies einschneidende Beschränkungen der Berufsausübung zur Folge. So führte z. B. der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit zum Verlust der Kassenzulassung bei Ärzten und Zahnärzten, damit in freien Berufen, in denen eingewanderte Juden besonders stark vertreten waren und entsprechend hohe Investitionen zur Gründung einer wirtschaftlichen Existenz aufgebracht hatten. Staatenlosen Juden wurde 1934 die Aufnahme einer Berufstätigkeit im Inland zusätzlich erschwert. Besondere Diskriminierungen folgten für die Ausgebürgerten aus ihrem Status als Staatenlose. Im Unterschied zu Ausländern, die unter dem Schutz eines bestimmten ausländischen Staates standen, waren sie vollends schutzlos gestellt. Sie kamen nicht in den Genuß des Gegenseitigkeitsprinzips internationaler Verträge, das z. B. im Bereich der Sozialversicherung die Gleichbehandlung der Angehörigen eines Staates im Ausland von der Behandlung der Ausländer in diesem Land abhängig machte. Sie waren angesichts der mangelnden Aufnahmebereitschaft anderer Staaten de facto an der Auswanderung gehindert und damit diskriminierenden Maßnahmen schutzlos ausgeliefert. So wurden z. B. in den Jahren 1935 und 1936 zahlreiche Staatenlose aufgrund kleinerer Paßvergehen ausgewiesen. Da kein Staat diese Staatenlosen aufnahm, wurden sie in ein Konzentrationslager gebracht. All dies führte dazu, daß ausländische Juden in Deutschland vielfach höheren rechtlichen Schutz genossen als staatenlose, ehemals deutsche Juden, ja sogar als Juden deutscher Staatsangehörigkeit. Polen, das im eigenen Staatsgebiet Juden systematisch diskriminierte, gewährte seinen jüdischen Staatsbürgern Deutschland gegenüber aus außenpolitischen Gründen den Schutz der polnischen Staatsangehörigkeit.21 Die Ausbürgerungsmaßnahmen ließen den Anteil der Staatenlosen unter den ausländischen Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1939 von einem knappen Zehntel auf mehr als die Hälfte hochschnellen. Im Unterschied zu 20 S. z. B. Weiss, »Ostjuden«, S. 226-232. für Polen, Rumänien und die Sowjetunion - im Unterschied zur Tschechoslowakei. 21 S. dazu ebd., S. 220-225, 231.

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Juden deutscher Staatsangehörigkeit, die im eigenen Land gleichfalls fortschreitender Diskriminierung unterworfen waren, erhielten die ausgebürgerten deutschen »Ostjuden« nicht einmal im Ausland diplomatischen Schutz. Emigrierten sie, traf die Staatenlosigkeit die sozial Schwächeren und schlechter Ausgebildeten unter ihnen besonders hart. Im Unterschied zu erfolgreichen Künstlern und Wissenschaftlern z. B. konnten die ›kleinen Leute‹ nicht mit der Aufnahme in die Staatsangehörigkeit des Exillandes rechnen. Die »Ostjuden« waren eine kleine, die schwächste Gruppe, an der der nationalsozialistische Staat erstmals die Staatsangehörigkeitspolitik als Mittel der›ethnischen Säuberung‹ und wirtschaftlichen Entrechtung erprobte. Die Expatriierungen nach dem Gesetz vom 14. Juli 1933 zielten indessen neben den nicht erwünschten Naturalisierten auch auf eine zweite Gruppe: Im Ausland befindlichen Reichsangehörigen, die ihre »Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk« verletzt oder einer Rückkehraufforderung des Reichsinnenministers nicht Folge geleistet hatten, konnte die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt werden. Rein formal schien diese Sanktion an hergebrachte Regelungen des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts anzuknüpfen. Sie band die Expatriierung an ein subjektiv-schuldhaftes Verhalten des Bestraften, der sich zudem im Ausland aufhielt und damit seine Distanzierung vom Heimatstaat anzuzeigen schien. Im Unterschied zum Reichsrecht von 1913 bedurfte es jedoch nicht einer Loyalitätsverletzung in den staatstragenden Elementarbereichen der Wehrpflicht und des Staatsdienstes. Vielmehr reichte ein Verhalten aus, das »feindseliger Propaganda gegen Deutschland« Vorschub leistete oder das deutsche Ansehen oder die Maßnahmen der nationalen Regierung herabzuwürdigen suchte.22 Die Expatriierung war damit zu einer Sanktion des allgemeinen politischen Strafrechts ausgedehnt worden. Was Bismarck im Rahmen des Sozialistengesetzes nicht durchzusetzen vermocht hatte und im Deutschen Reich bis dahin nur einmal unter der Geltung des Jesuitengesetzes eingesetzt worden war, nämlich die Ausstoßung aus der staatlichen Gemeinschaft wegen einer bestimmten, als staatsfeindlich eingestuften politischen Haltung, baute das nationalsozialistische Regime zu einem universalen Strafinstrument gegen beliebig definierbare Regimegegner aus. Die Wirkungsgeschichte der 1933 eingerichteten Strafexpatriation ist die Geschichte ihrer kontinuierlichen Ausweitung und Entgrenzung im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft. Getroffen werden sollten zunächst emigrierte politische Gegner des Regimes, exponierte Vertreter linker Parteien, Künstler und Intellektuelle. Die ersten Ausbürgerungslisten verzeichneten denn auch Namen einflußreicher, bekannter Persönlichkeiten, von denen 22 S. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 26. Juli 1933 (RGBl I, S. 538), Abschnitt I. zu § 2.

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manche Weltruf genossen wie Thomas Mann und Albert Einstein. Angesichts der starken internationalen Kritik, die den rigiden Ausbürgerungsmaßnahmen entgegenschlug, und mit Rücksicht auf die außenpolitischen Interessen des Reiches ging die nationalsozialistische Reichsführung in den ersten Jahren selektiv vor, konzentrierte die Maßnahmen auf politisch exponierte Regimegegner und vermied Massenausbürgerungen. Dies änderte sich mit dem außenpolitischen Erstarken des nationalsozialistischen Systems, der Abnahme des internationalen Interesses, nachdem sehr bekannte Persönlichkeiten ausgebürgert waren, und dem wachsenden Einfluß des SS-Apparates unter Himmler ab 1937. Die Ausbürgerung wurde zu einem polizeilichen Verfahren unter Federführung der Gestapo, in dem die Strafsanktion immer seltener mit politischen, dafür zunehmend mit allgemeinen rassischen, sexuellen und kriminellen Tatbeständen motiviert wurde. Im Rahmen dieser entgrenzten Strafvorschriften begannen Massenexpatriationen, die in verstärktem Maße den Charakter rassischer Säuberungsmaßnahmen annahmen und vornehmlich auf Juden abzielten. Auch die Strafexpatriation lief damit ebenso wie die Denaturalisierung schließlich auf eine rassische Homogenisierungsmaßnahme im Wege des Staatsangehörigkeitsentzugs hinaus. Das NS-Regime zielte mit den Expatriierungsmaßnahmen in doppelter Weise auf Zerstörung. Im Vordergrund standen zunächst die unmittelbaren rechtlichen Nachteile für die Betroffenen. Als Staatenlose im Ausland verloren sie unvermittelt und unvorbereitet jeden staatlichen Schutzanspruch. Dies wurde offenkundig mit dem Ablauf des Passes und damit dem Verlust jedes Legitimationspapiers. Klaus Mann hat z. B. die existentielle Bedeutung des Passes beschrieben, dessen Kostbarkeit erst im Augenblick des unwiederbringlichen Verlustes offenkundig wurde.23 Der Paß wurde zum symbolischen Zentrum des Überlebenskampfes im Ausland, sein Verlust und die oftmals vergeblichen Bemühungen um einen rettenden Ersatz waren vielfach die Ursache für die psychische Zermürbung der Ausgebürgerten. Mindestens ebenso einschneidend wie diese völkerrechtlichen Folgen des Staatsangehörigkeitsverlustes waren die abgestuften, tief in die private Rechtssphäre der Betroffenen eindringenden Nebenstrafen der Strafexpatriation. Sie zielten zunächst auf die Zerstörung der materiellen Lebensgrundlage des Ausgebürgerten, die ihn zum Abbruch jeglicher Beziehung zu seinem ehemaligen Heimatstaat zwingen sollte. In fast allen Ausbürgerungsfällen machte das nationalsozialistische Regime von der eigens im Gesetz vom 14. Juli 1933 geschaffenen Möglichkeit Gebrauch, das Vermögen der Ausgebürgerten zu beschlagnahmen und dem Reich verfallen zu erklären. Alle Renten- und Versorgungsansprüche der Ausgebürgerten wurden ohne Rücksicht auf erworbe23 Vgl. das Zitat bei Lehmann, In Acht und Bann, S. 62.

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ne Rechtsansprüche ersatzlos gestrichen. Im Jahre 1937 hob das Regime sämtliche erbrechtlichen Ansprüche der Expatriierten auf und bedrohte die Umgehung dieses Verbots mit Strafe. Die intendierte ›Entwurzelung‹ der Ausgestoßenen wurde nach dem Prinzip der Sippenhaftung auf alle Ehegatten, auch auf adoptierte und uneheliche Kinder ausgedehnt. In beinahe allen Fällen wurde damit die Ausbürgerung auf die nächsten Familienangehörigen ausgeweitet. Wurden somit die Existenz sichernden privatrechtlichen Beziehungen zum Deutschen Reich systematisch gekappt, kam noch eine Strafsanktion hinzu, die auf die Vernichtung der beruflichen Ehre der Ausgebürgerten abzielte: Den Ausgebürgerten konnten zusätzlich die akademischen Grade aberkannt werden, eine Maßnahme, von der - unter tätiger Mitwirkung der gleichgeschalteten deutschen Hochschulen - massenhaft Gebrauch gemacht wurde und die auf die Diskreditierung der geistigen Elite Deutschlands in ihren Emigrationsländern ausgerichtet war. Zuletzt wurde ab 1938 die anfänglich politische Strafexpatriation in das Strafregister eingetragen und für untilgbar erklärt. Diese Maßnahmen kennzeichnen den Höhepunkt der individuellen Entwürdigung durch Ausbürgerung, die über den Entzug einzelner Rechte auf eine zweite umfassendere, symbolische Wirkung zielte: die »geistig-moralische Achtung«24 der Ausgebürgerten. Es belegt-wenn auch in paradoxer Weise-die seit dem 19. Jahrhundert gewachsene hohe politische Symbolkraft der Staatsangehörigkeit, daß selbst die nationalsozialistische Ideologie, welche die rechtsstaatliche Formgebung der Staatsangehörigkeit als Relikt eines überholten Rechtsformalismus aufzulösen trachtete, auf ihre im kollektiven Rechts- und Alltagsbewußtsein fest etablierte symbolische Bedeutung nicht verzichten wollte. Freilich war es eine offenkundige rechtsgeschichtliche Klitterung, daß Hermann Göring die Expatriation in die Kontinuität der altgermanischen und mittelalterlichen »Achtung« stellte, zumal es bereits an der Staatsqualität der Stammes- und Territorialherrschaften jener Zeit fehlte. Dennoch wird darin das Bemühen deutlich, eine noch nicht erledigte, auch international weiterhin ihre Funktion erfüllende Form des liberalen Rechtsstaats ideologisch umzuinterpretieren. Die Staatsangehörigkeit als Institution wurde dadurch gegenüber dem Ausland wie im Innern nicht aufgehoben, sondern mit einer zusätzlichen substantiellen Bedeutung aufgeladen, die gerade in den entehrenden Strafsanktionen lag. Die Strafexpatriation war keine »Achtung« im Sinne des mittelalterlichen Rechts, aber sie sollte ebenso wirken und wurde auch so aufgefaßt. Die völlige Entrechtung der Ausgebürgerten lieferte sie dem »Ehrentod« aus.25 Das nationalsozialistische Regime wollte die Ausbürgerung als Vogelfreierklärung, 24 So ebd., S. 65f 25 So sahen es Entwürfe zum nationalsozialistischen Strafrecht vor, die die »Ächtung« als schwerste Ehrenstrafe zusätzlich zur Entscheidung über Freiheits- und (physische) Todesstrafe verlangten, s. dazu ebd., S. 71. Der bürgerliche Tod‹ als Ehrenstrafe war Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft worden.

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als Proskription verstanden wissen. So wurde sie auch aufgefaßt von deutschen Kreisen im Ausland - und schließlich von den Ausgebürgerten selbst, welche diese Maßnahme oftmals als »Hitler-Acht« oder »Bannfluch« verstanden.26 Die ehrvernichtende Intention der Ausbürgerung traf freilich nicht alle Expatriierten gleichermaßen. Wer als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus bereits in kritischer intellektueller Distanz zu den politischen Entwicklungen im Weimarer Staat gestanden hatte, mochte von den Maßnahmen unberührt bleiben. So erklärte Kurt Tucholsky zu seiner Ausbürgerung lakonisch, er empfinde diese weder als Orden noch als Diffamierung, sondern als Unbequemlichkeit, die Laufereien mache. Andere international bekannte Emigranten wendeten die Diffamierungsabsicht der nationalsozialistischen Ausbürgerung in einen »Pour le mérke der Emigration«. Das Bild veränderte sich aber bereits, je näher die ihrer deutschen Staatsangehörigkeit Beraubten dem deutschen Staat gestanden und den Dienst für diesen als Ehre betrachtet hatten. So sah es Robert Weismann, der bis zum Preußenschlag 1932 als Staatssekretär unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun gedient hatte. Weismann, der bekannte, über mehr als vier Jahrzehnte »in Treue Preussen und dem Reich« gedient und »für die Grösse des Vaterlandes und die Wiederherstellung seiner Freiheit« gearbeitet zu haben, fühlte sich in seiner Lebensarbeit mißachtet, in seiner Ehre gekränkt.27 In ihrer Wirkung noch verstärkt wurde diese, wenn die Ausbürgerung bei weniger bekannten und schlechter situierten Emigranten zugleich eine dauernde materielle Existenzbedrohung bedeutete, was mit der Ausweitung zu massenhaften Ausbürgerungen ab 1937 immer häufiger der Fall war. Insgesamt nehmen die nationalsozialistischen Ausbürgerungen in ihrer Zeit auch international eine Ausnahmestellung ein. Die juristischen Verteidiger der Maßnahmen - unter ihnen der spätere Widerstandskämpfer Graf von Stauffenberg28 - rechtfertigten diese häufig mit dem Verweis auf Beispiele von Strafexpatriationen im ausländischen Recht. So hatten insbesondere die Sowjetunion, das faschistische Italien und das antinationalsozialistische Österreich die Zwangsausbürgerung eingeführt, um Regimegegner aus politischen, religiösen 26 S. ebd., S. 71; dazu inges. Torpey, Invcntion, S. 131-143. 27 Robert Weismann an den Reichskanzler (Abschriften an den Reichspräsidenten, den Rcichsminister des Innern, den Reichsminister des Äußern, den Preußischen Ministerpräsidenten), 9.8.1933, BA-L, R 43II/134. 28 Vgl. Stauffenberg, S. 270. In der Reihe der rechtswissenschaftlichen Publikationen, die die Strafexpatriation durchweg legitimierten, lediglich gegen die Denaturalisation Bedenken erhoben, zeigten sich auch moderate Auffassungen, die den Maßnahmen rechtsstaatlichc Grenzen ziehen bzw. ihre Erstreckung auf Familienangehörige einschränken wollten (vgl. Friedrich, S. 25f, 61, 64f; Horn, S. 56; Dobschütz, S. 9f., 30) grundsätzlich einverstanden mit dem entehrenden Charakter der Sanktionen (Friedrich, S. 42f; Horn, Zwangsausbürgerung, S. 57; Dobschütz, Widerruf einer Einbürgerung, S. 28). Grundsätzliche Vorbehalte angedeutet nur mehr bei Lange, Aberkennung der Staatsangehörigkeit, S. 53.

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und auch rassischen Gründen zu verfolgen.29 Die Sowjetunion ζ. Β. hatte allein in der Phase unmittelbar nach dem Regimewechsel weit mehr als eineinhalb Millionen Emigranten ausgebürgert, während es im nationalsozialistischen Deutschland insgesamt knapp vierzigtausend Personen waren.30 Entscheidend ist jedoch die systematische Konsistenz und qualitative Wirkung der Ausbürgerungsmaßnahmen.31 So stellte z. B. das sowjetische Regime nach seiner Stabilisierung die Massenausbürgerungen ein und ermöglichte einem Großteil der ausgebürgerten Emigranten die Repatriierung, teilweise auch Wiedergutmachung. In Italien wurde die Strafexpatriation vergleichsweise zurückhaltend angewandt. Beide Rechtsordnungen verboten die Sippenhaftung bzw. schränkten sie erheblich ein. Im nationalsozialistischen Deutschland hingegen verschärften und erweiterten sich die Strafmaßnahmen kontinuierlich, und zwar ohne die Möglichkeit der Revision oder Wiedergutmachung. In der Stringenz und Totalität der Maßnahmen, welche die Ausgebürgerten in der Gesamtheit ihrer Existenz erfassen und vernichten sollten, stand die Ausbürgerungspolitik des Nationalsozialismus einzigartig dar. Die Denaturalisierungen und Strafexpatriationen durchbrachen auch äußerlich sichtbar in der rechtlichen Form die vermeintlich sichere Bestandkraft und Schutzwirkung der Staatsangehörigkeit. Darin lag der tiefste, zunächst noch punktuelle, auf bestimmte Gruppen bezogene Eingriff in das System der Staatsangehörigkeit während der Frühphase des nationalsozialistischen Regimes. Zugleich aber setzte unmittelbar nach dem Regimewechsel ein Vorgang ein, der die Substanz der Staatsangehörigkeit von innen aushöhlte, indem er die staatsbürgerlichen Rechte bestimmter Gruppen Deutscher einschränkte bzw. aufhob, ohne zunächst ihren formalen Status als Staatsangehörige anzutasten. Die diskriminierenden Maßnahmen zielten vor allem auf die Gruppe der Juden. Ein staatlich initiierter und vorangetriebener Boykott gegen die Wirtschaftsbetriebe deutscher Juden am 1. April 1933 war der Ausgangspunkt einer Serie antijüdischer Gesetze, die insgesamt darauf abzielten, »Juden« aus ihren Berufen im Staat und in wesentlichen Bereichen der Wirtschaft und des Kulturlebens zu verdrängen. Das »Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das Juden und politisch Mißliebige aus dem Staatsdienst entfernen sollte, enthielt erstmals eine rassische Gesetzesdefinition des »Juden« als »nicht arisch«. Gesetze zum Entzug der Kassenzulassung für jüdische Ärzte und Apotheker sowie zur Beschränkung unter anderem der Rechtsanwaltstätigkeit engten die Berufstätigkeit der Juden gerade in den prestige- und einkommensträchtigen freien Berufen ein. Gesetzesmaßnahmen zur Einschränkung des Schul- und Hochschulbesuchs, der Habilitation und der Betätigung von Juden in den Spitzenbereichen des Kulturlebens schlossen diese von wesentlichen 29 Vgl. Nachweise bei Lessing, S. 231-323. 30 Vgl. Hepp, S. XXIV.

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intellektuellen Bildungs- und Leitfunktionen aus. Gegen Ende des Jahres 1933 waren damit Juden in wichtigen Positionen öffentlicher und wirtschaftlicher Berufstätigkeit eingeschränkt, obwohl sie nach wie vor »Deutsche« blieben. Es handelte sich um eine gezielte und systematische Sondergesetzgebung, welche die deutschen Staatsangehörigen in Klassen abgestufter Qualität aufspaltete. Die naheliegende Konsequenz, die verschiedenen Klassen der Staatsbürger in einer entsprechend abgestuften Neuregelung des gesamten Staatsangehörigkeitsrechts festzuschreiben, wurde denn auch im federführenden Reichsinnenministerium gezogen, das im Jahre 1933 entsprechende Gesetzesentwürfe erarbeitete. Die Gründe, warum eine derartige neue Grundlegung der Staatsangehörigkeitspolitik um zwei Jahre aufgeschoben wurde, sind nicht eindeutig zu ermitteln. Im Vordergrund standen wohl wirtschaftliche Erwägungen, die weitere Diskriminierungsmaßnahmen gegen Juden unterbanden. Hinzu kamen Widerstände konservativer Mitglieder des Reichskabinetts, schließlich Schwierigkeiten, den Begriff der Rasse inhaltlich und rechtssystematisch klar zu definieren. So blieb es am Ende der Konsolidierungsphase nationalsozialistischer Herrschaft bei dem ausgefeilten Sonderrecht gegen Juden.32 Verglichen mit den Sonderbestimmungen gegen die Angehörigen der polnischen Nationalität am Ende des Kaiserreichs erreichte es hinsichtlich seiner ideologischen Geschlossenheit und Durchschlagskraft eine neue Qualität rechtlicher Gruppendiskriminierung. Sie wurde auch dadurch unterstrichen, daß es im Unterschied zum Rechtsstaat des Kaiserreichs keinen wirksamen Rechtsbehelf dagegen mehr gab. Juden waren zwar die zentrale, jedoch nicht die einzige Gruppe Deutscher, gegen die das nationalsozialistische Regime in seiner Frühphase diskriminierendes Sonderrecht erließ. Von politischen Gegnern, insbesondere Sozialdemokraten und Kommunisten, einmal abgesehen, die aufgrund allgemein formulierter Normen infolge des Ermächtigungsgesetzes und des politischen Strafrechts bekämpft wurden, erging gleichzeitig mit dem Gesetz zur Zwangsexpatriierung ein Gesetz, das in einem engen inhaltlichen Zusammenhang zur Ausstoßung ›minderwertiger‹ Staatsangehöriger stand: Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933, das die Zwangssterilisation sogenannter »Erbkranker« anordnete,33 war parallel zu den Entwürfen eines rassisch bestimmten Staatsangehörigkeitsrechts vorbereitet worden und hatte mit diesem die Logik des Ausschlusses gemein34: Menschlichem Leben, das 31 Im Anschluß an Lehmann, In Acht und Bann, S. 68f. 32 Dazu umfassend Walk. 33 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom H.Juli 1933, RGBl I, S. 529; dazu im einzelnen Friedlander, Weg zum NS-Genozid, S. 65-73. 34 Vgl. Adam, S. 83. Zu dem von Beginn an bestehenden Zusammenhang von rassistischer Zwangssterilisation, Eheverboten und Staatsangehörigkeit in den nationalsozialistischen Gesetzcsplanungen s. Bock, Zwangssterilisation, S. 100.

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nach rassischen Kriterien als ›minderwertig‹ eingestuft wurde, entzog das Gesetz den Schutz als gleichberechtigtem Mitglied der staatlich verfaßten Gemeinschaft, sei es durch eigenen Ausschluß oder sei es durch Verhinderung seiner biologischen Fortpflanzung. Indem letztere Maßnahme bereits die Entstehung erbkranken Nachwuchses deutscher Staatsangehöriger verhindern wollte, suchte sie einen späteren Ausschluß etwaiger erbkranker Kinder vom Lebensschutz, der ihnen als Abkömmlingen von Deutschen grundsätzlich zustand, von vornherein überflüssig zu machen. In diesem Sinne kann die »Erbgesundheitsgesetzgebung« des Jahres 1933 - in der Vorstellungswelt der Rassehygiene - als präventive Maßnahme zur ›Höherzüchtung‹ einer biologisch definierten deutschen Staatsangehörigkeit interpretiert werden. Die gesetzlichen Eingriffe in das tradierte Staatsangehörigkeitsrecht schufen die Grundlagen für eine Zentralisierung der Staatsangehörigkeitspolitik, die sich nach Jahrzehnte langen Reformdiskussionen unter dem Druck der nationalsozialistischen Diktatur innerhalb eines Jahres vollzog. Bereits das Expatriierungsgesetz vom Juli 1933 konzentrierte die Entscheidung über die Strafexpatriierung beim Reichsinnenminister, der in seinen Ausführungsrichtlinien die Länder direkt anhielt, das Letztentscheidungsrecht seines Ministeriums in allen Grundsatzfragen zu beachten. Im August 1933 verhängte das Reichsinnenministerium zentral ein dauerhaftes Einbürgerungsverbot für »Nichtarier«.35 Ein halbes Jahr darauf erfolgte mit der Gleichschaltung der Länder auch die Gleichschaltung der Staatsangehörigkeit. »Es gibt nur noch eine deutsche Staatsangehörigkeit (Reichsangehörigkeit)«, dekretierte die Verordnung vom 5. Februar 1934 und schloß damit die Reformdiskussion ab.36 Die eigene Staatsangehörigkeit der Länder, die mit dem deutschen Föderalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden und bis in die Weimarer Republik hinein als ein Kernstück der föderativen Souveränität verteidigt worden war, wurde von der zentralisierenden Diktatur des nationalsozialistischen Staates beseitigt. Diese schuf sich dadurch das staatsrechtliche Instrument für eine einheitliche, durchgreifende Änderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts im Dienste der rasseideologischen Zielsetzungen des Regimes.37

35 Vgl. Walk, S. 49, Richtlinien des Rcichsinncnministcriums für die künftige Einbürgerung in Deutschland, August 1933. 36 Verordnung über die deutsche Staatsangehörigkeit vom 5. Februar 1934, RGBl. I, S. 85. 37 Eine weitere Vorbereitung dazu leistete das Gesetz zur Änderung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 15. Mai 1935 (RGBl. I, S. 593), das die gesetzlichen Ansprüche auf Einbürgerung im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 aufhob und den Behörden dafür ein nicht näher eingegrenztes Ermessen einräumte.

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2. Die Staatsangehörigkeit im Rassestaat: Die Nürnberger Gesetze von 1935 Im September 1935 führte die nationalsozialistische Reichsführung eine der größten und wirkungsvollsten Propagandaveranstaltungen in der Geschichte des Regimes durch, den Reichsparteitagin Nürnberg. Mit der Masseninszenierung aus Körperkult und Machtdemonstration sollten die Einheit von Führung und Volk sowie die Geschlossenheit und Konsolidierung des Regimes unter Beweis gestellt werden. Ein politischer Höhepunkt des »Parteitags der Einheit« war die Verabschiedung der »Nürnberger Gesetze« durch den eigens nach Nürnberg einberufenen Reichstag. Die parlamentarische Reichsvertretung war seit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes und dem Übergang der Gesetzgebungsgewalt an Hitler politisch bedeutungslos geworden und zu einem bloßen Akklamationsorgan herabgesunken, in dem keine politische Opposition mehr bestand, sondern eine plebiszitäre Zustimmung zu den Entscheidungen der nationalsozialistischen Führung fingiert wurde.38 Die ausnahmsweise Einberufung des Reichstags nach Nürnberg sollte indessen nicht nur die Propagandawirkung des Parteitags unterstützen, sondern den verabschiedeten Gesetzen eine zusätzliche Legitimität verleihen, die ihre Bedeutung von anderen Regierungsakten mit Wirkung in der Öffentlichkeit abhob39: Das »Reichsbürgergesetz« und das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« vom 15. September 1935 kodifizierten - gerade in ihrem Zusammenhang - einen neuen Typ staatlicher Zugehörigkeit, das Staatsangehörigkeitsrecht des nationalsozialistischen Rassestaats.40 Die Formulierung des »Reichsbürgergesetzes« ist von einem Hauptbeteiligten, dem Rassereferenten im Reichsinnenministerium Bernhard Lösener,41 später als ein Auftragswerk weniger Stunden - auf direkte Anordnung Flitters ohne nähere inhaltliche Vorgaben - unmittelbar vor der Verabschiedung durch den Reichstag in Nürnberg dargestellt worden. In der historischen Forschung ist die Entstehungsgeschichte dieses Gesetzes daraufhin als Beispiel für den sich »unregelmäßig, unsystematisch und unzusammenhängend« äußernden Führerwillen42 und damit als Beleg für den ›polykratischen‹ Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems interpretiert worden. Die Knappheit des nur drei Paragraphen umfassenden Gesetzes und seine rahmenartigen Formulierungen stützen diese Deutung. 38 Vgl.Tarrah-Maslaton,S.62f. 39 Abstimmungsergebnis bei Stuckart u. Globkc, S. 49. 40 S. Reichsbürgergesetz vom 15.9.1935 (RGBl 1935, S. 1146); Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.9.1935 (RGBl 1935, S. 1146). 41 Vgl. Lösener, Dokumentation, S. 274-279. 42 So bei Broszat, Staat Hitlers, S. 356, Tarrab-Maslaton, S. 65f.

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Doch greift sie in mehrfacher Hinsicht zu kurz.43 Löseners Darstellung erweckt den Eindruck, als sei das Gesetz ohne systematische Vorüberlegungen und deshalb nur aus »Phrasen« zusammengestellt worden. Tatsächlich gab es schon seit mehr als zwei Jahren innerhalb der Reichsministerien Überlegungen zu einer systematischen Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts. Bereits bei Erlaß des Expatriationsgesetzes vom Juli 1933 hatte der Reichsinnenminister den Landesregierungen eine »umfassende Neuregelung« des Staatsangehörigkeitsrechts in Aussicht gestellt.44 Ein knappes halbes Jahr vor dem Nürnberger Parteitag hatte er der Presse die Grundzüge eines Gesetzesentwurfs mitgeteilt, die exakt das Reichsbürgergesetz vorwegnahmen.45 Das entsprach überdies der Systemlogik einer Ministerialbürokratie, die vor die Aufgabe der Durchsetzung neuer rassepolitischer Grundsätze in einer traditionell besonders festgefügten und fast in alle Lebensbereichc hineinwirkenden Rechtsmaterie wie dem Staatsangehörigkeitsrecht gestellt war. Die Zwangsexpatriationen und die gesetzlichen Diskriminierungsmaßnahmen gegen deutsche Staatsbürger seit 1933 enthielten Sonderrecht, das tief in das hergebrachte System des Staatsangehörigkeitsrechts eindrang, ohne dies ihrerseits systematisch zu untermauern. Aus der Perspektive der Verwaltung, die ein Mindestmaß an Rechtsgebundenheit als Funktionsmodus des bürokratischen Staates gewährleisten sollte, war die Neukodifikation des Staatsangehörigkeitsrechts ein drängendes, praktisches Bedürfnis. Sie bedeutete zugleich inhaltlich eine Mäßigung, verglichen sowohl mit spontanen Zwangsmaßnahmen und terroristischen Ausschreitungen, die gegen Juden verübt wurden, als auch mit radikaleren Diskriminierungsplänen in den Reihen der NSDAP Wie sehr ein Mindestmaß an ›Berechenbarkeit‹ diskriminierenden Sonderrechts auch den Interessen der Betroffenen entsprach, zeigte sich, als die einschneidenden 43 Darin stimme ich Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S. 163f., zu. Dagegen schließt sich Adam, S. 130f., der Darstellung Löseners an, wobei er die öffentliche Ankündigung eines umfassenden neuen Staatsangehörigkeitsrechts Übersicht (S. 119). 44 Reichsminister des Innern (in Vertretung: Staatssekretär Pfundtncr) an die Landesregierungen, 9.8.1933, BA-L, RDI, R 43 II/134: »Die Rcichsregierung beabsichtigt im Zuge ihrer völkisch-nationalen Politik, auch das Staatsangehörigkeitsrecht einer umfassenden Neuregelung zu unterziehen«. Zu den eingehenden Beratungen eines neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Juli und August 1933 s. Longerich, S. 48, 602 (Anm. 130). 45 Vgl. den Artikel »Frick über das neue Staatsbürgerrecht« in: Deutsches Nachrichtenbüro, Nachtausgabe, 27. April 1935. Frick erklärte darin, es sei »kein Geheimnis«, daß die Reichsregierung eine Neugestaltung des Staatsbürgerrechts plane und das Reichsinnenministerium eine Gesetzesvorlage vorbereite: »Das neue Staatsbürgerrecht wird einen schärferen Maßstab an jeden legen, der deutscher Staatsbürger ist oder werden will«. Die Staatsbürgerschaft werde »das höchste Recht«, der Staatsbürgerbrief »die wertvollste Urkunde« eines Deutschen sein. Nur die deutsche Staatsbürgerschaft werde den Weg zu allen öffentlichen Ämtern in Staat und Partei, das Recht zum Waffentragen, zu Wahlen und Abstimmungen eröffnen. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft müsse daher, den nationalsozialistischen Grundsätzen entsprechend, an die Bedingung der »rassischen Zugehörigkeit zum deutschen Volk« geknüpft werden.

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Nürnberger Gesetze vom deutschen Judentum mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen wurden.46 Der nationalsozialistische Rassestaat war insoweit noch »Normenstaat«47, als er vor allem auch im Hinblick auf das Ausland festlegen mußte, wer mit welcher Wirkung zu seinen Staatsangehörigen zählte. Mag auch die konkrete Formulierung der Nürnberger Gesetze situativ gefunden worden sein, ist das Reichsbürgergesetz doch ein besonders prägnantes Beispiel für die direkte rechtliche Umsetzung einer ideologischen Kernforderung des Nationalsozialismus, die am Ursprung seines Programms stand. Das Reichsbürgergesetz behielt nominell den Begriff der deutschen »Staatsangehörigkeit« bei, die auch weiterhin nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 erworben wurde. In einem zweiten entscheidenden Schritt spaltete der Text die Staatsangehörigen in einer Weise auf, die einen fundamentalen Wandel im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bedeutete. Er schuf eine besondere Gruppe Staatsangehöriger: die »Reichsbürger«. Vor den übrigen deutschen Staatsangehörigen zeichneten sie sich dadurch aus, daß sie zum einen »deutschen oder artverwandten Blutes« waren, zum anderen durch ihr Verhalten bewiesen, daß sie »gewillt und geeignet« waren, »in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen«. Allein »Reichsbürger« sollten die Träger der vollen politischen Rechte und Pflichten sein. Das »Reichsbürgerrecht« sollte durch die Verleihung eines »Reichsbürgerbriefes« erworben werden.48 Was geschah aber, wenn sich »Reichsbürger deutschen oder artverwandten Blutes« mit deutschen Staatsangehörigen verbanden und Nachkommen hatten, die »nicht-deutschen oder artverwandten Blutes« waren ? Das herkömmliche Staatsangehörigkeitsrecht hätte nach dem Abstammungsprinzip diese Nachkommen selbstverständlich zu deutschen Staatsangehörigen und damit zu Angehörigen des Schutzverbandes Deutsches Reich gemacht. An dieser Stelle setzte jedoch das gleichzeitig mit dem Reichsbürgergesetz erlassene »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« an und erwies die enge, systematische Verzahnung der beiden Gesetze. Das Blutschutzgesetz baute auf dem Begriff »Staatsangehöriger deutschen oder artverwandten Blutes« auf und verbot dessen Eheschließung mit Juden, auch wenn sie deutsche Staatsangehörige waren. Verboten wurde gleichfalls der außereheliche Verkehr zwischen diesen beiden Gruppen ebenso wie die Beschäftigung fortpflanzungsfähiger weiblicher Staatsangehöriger deutschen oder artverwandten Blutes bei Juden. Verstöße gegen diese Verbote wurden mit Strafe bedroht, entspre46 S.Adam, S. 118f., 130; Yahil, S. 126. 47 Insoweit abweichend von Fraenkel, der allgemein alle Juden betreffenden Fragen spätestens mit der Entscheidung über deren Ausschluß aus der Wirtschaft dem »Maßnahmenstaat« zurechnet, S. 120; differenzierend auch Majer, S. 147f, die mit dem Begriff des »Ausnahmestaats«, das in Gesetzesform ergehende, materiell dem Maßnahmestaat zuzurechnende Sonderrecht zu erfassen sucht. 48 Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935, RGBl. I, S. 1146.

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chcnde Eheschließungen für nichtig erklärt. Das Blutschutzgesetz zielte also darauf ab, die Rechtsklassen der Staatsangehörigen, die das Reichsbürgergesetz diskriminierend unterschied, gegen natürliche Vermischung abzuschließen und etwaige rechtliche Mischungsverhältnisse auf Dauer zu verhindern. Zugleich legte es klar, gegen wen sich die systematische Segregation unter den deutschen Staatsangehörigen richtete: gegen »Juden«. Die Verbindung aus Blutschutz- und Staatsangehörigkeitsgesetzgebung sollte also ein geschlossenes System der rassischen Segregation der Staatsangehörigkeit etablieren. Aus diesem Grund erübrigte sich wohl auch ein im Reichsinnenministerium 1934/35 ventiliertes Gesetzesprojekt, die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau - zumindest begrenzt - einzuführen. Dieses Vorhaben war gerade nicht, wie in einem angesehenen völkerrechtlichen Fachorgan begleitend richtiggestellt wurde, einem »liberalistischen Individualismus«, sondern »den Gemeinschaftswerten des Staates und der Familie« entsprungen.49 Auch auf das seit dem Kaiserreich bekannte Argument des »Nationalstolzes«50 wurde zurückgegriffen, der es gebiete, reichsdeutsche Frauen nicht so »leichtherzig aus dem Reichsvolk ausscheiden zu lassen.« Tatsächlich aber ging es entscheidend um etwas Neues, wie Lösener, der Rassereferent im Reichsinnenministerium, hervorhob: »Wie es untragbar für den völkischen Staat ist, daß ihm die standesamtliche Sanktion eines Liebesbundes zwischen einem Reichsdeutschen und einer Ausländerin ohne weiteres eine neue Staatsangehörige zuführt, ohne daß hierbei nach ihrer Rasse, ihrem Volksstamm, ihrem Wesen oder ihren gesundheitlichen Werten gefragt wird, so ist es gleichfalls untragbar, daß der Staat unbeteiligt zusieht, wie reichsdeutsche Volksgenossen ihm in großer Zahl verlorengehen, weil ihre Ehemänner die Reichsangehörigkeit nicht besitzen«.51

Die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau wurde damit lediglich ein Reflex der aktiven wie passiven Rassehygiene und der Bevölkerungspolitik. Ein ursprünglich sowohl emanzipatorisch als auch völkisch-national motiviertes Reformprojekt wurde nach Maßgabe rassepolitischer Ziele genutzt, aber auch nur insoweit verwirklicht. Der NS-Staat löste die traditionelle Institution der Ehe nur so weit auf, als es für seine Rassepolitik notwendig war.52 Die Ehever49 Vgl.Auburtin, S. 59; Endematm, S. 331-332: »Wir nationalsozialistischen Frauen [...] wollen als blutsmäßig Deutsche unsere Zugehörigkeit zum Vaterlandc nicht zwangsläufig verlieren durch die Eheschließung mit einem Ausländer (wobei nichtarischc Ausländer selbstverständlich ausgeschlossen sind).« 50 Lösener, Staatsangehörigkeit und Reichsbürgerrecht, S. 28. 51 S. Lösener, Staatsangehörigkeit, S. 410. Des weiteren führt Lösener die hergebrachten Gründe an, u. a. soziale Härten für Frauen, die durch die Heirat staatenlos werden bzw. ihre deutsche Staatsangehörigkeit verlieren, obwohl sie im Inland bleiben, zitiert bei Auburtin, Staatsangehörigkeit der verheirateten Frau, S. 60. 52 Zur Instrumentalisierung der Ehe- durch die Rassepolitik des Nationalsozialismus vgl. Czarnowski, S. 79, 92.

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bote der Nürnberger Rassegesetzgebung genügten vorerst den Zwecken des Rassestaats, der zudem mit jeder weitergehenden Zulassung einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau zu seiner patriarchalischen Frauenpolitik insgesamt in Konflikt geraten wäre. Überblickt man die Rassegesetzgebung, revolutionierten zwei Neuerungen das System des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts: Die Aufspaltung der Staatsangehörigkeit in vollberechtigte Reichsbürger und ›einfache‹ Staatsangehörige mit abgestuftem Rechtsstatus schuf zwei Klassen von Staatsangehörigen. Die Trennung dieser beiden Kategorien anhand zugeschriebener Eigenschaften der Rasse (»deutschen oder artverwandten Blutes«) verfestigte die Klassen der Staatsbürgerschaft zu absolut undurchdringlichen Ständen des ›Geblüts‹. Die Eheverbote des Blutschutzgesetzes entsprachen - wenn nicht in der Herleitung, so doch in ihrer Funktion - den Ehebeschränkungen, welche die Standesgrenzen des vormodernen europäischen Feudalsystems abgesteckt und aufrechterhalten hatten. Diese historische Analogie war zwar den Urhebern der Gesetze nicht bewußt, wohl aber, daß sie einen radikalen Bruch mit dem bestehenden Staatsangehörigkeitssystem vollzogen. So propagierten die führenden Kommentatoren als einen besonderen Fortschritt des neuen Staatsangehörigkeitsrechts die Überwindung des liberalen Gedankens universaler menschlicher Gleichheit.53 An seine Stelle sei der Leitgedanke der biologisch begründeten »Rasse« getreten. Hier lag in der Tat der Paradigmenwechscl, der den historischen Ort des nationalsozialistischen Staatsangehörigkeitsrechts bestimmt. Die Gleichheit der Untertanen war die Konstruktionsgrundlage des preußischen Untertanengesetzes von 1842 gewesen. Die Gleichheit hatte darin bestanden, daß - ungeachtet regionaler und nationaler, religiöser, ständischer und ökonomischer Verschiedenheit-die Staatsangehörigen in gleichem Maße zum Schutz durch den Staat berechtigt wie zum Gehorsam verpflichtet wurden. Neben dieser durch das Staatsangehörigkeitsrecht kodifizierten Basisgleichheit blieben freilich vielfältige tatsächliche und rechtliche Unterschiede zwischen den Staatsangehörigen bestehen. Solange kein übergeordnetes (Verfassungs-) Recht dies verbot, durfte der Staat seine Staatsangehörigen aufgrund ihrer Religion oder Nationalität ungleich behandeln. Doch vollzog sich diese rechtliche Ungleichbehandlung außerhalb des Staatsangehörigkeitsrechts und ließ dieses unberührt. Die Basisgleichheit des Staatsangehörigkeitsstatus bildete im Gegenteil einen Maßstab, vor dem sich rechtliche Unterschiede der Staatsbürger abhoben und- im Zuge fortschreitender Demokratisierung- zunehmender Rechtfertigung bedurften. Allenfalls ließ die Gleichheitsbasis des hergebrachten Staatsangehörigkeitsrechts die Existenz anderweitiger rechtlicher Ungleichbe-

53 Stuckart u. Globke, Kommentar, S. 7; Löseneru. Knost, S. 14.

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handlung offen, ohne sie jedoch vorauszusetzen oder gar zu bestärken. Man kann in diesem Sinne von einer immanenten Gleichheitsvermutung sprechen. Mit dieser prinzipiellen ›Offenheit zur Gleichheit brach das nationalsozialistische Staatsangehörigkeitsrecht. Es verlegte die Ungleichheit in das System der Staatsangehörigkeit hinein. Das blieb zunächst terminologisch verdeckt, zumal das Wort »Staatsangehörigkeit« weiterhin verwendet wurde und im Verkehr ausländischer Staaten mit Deutschland die »Deutschen« insgesamt umschrieb. Doch wurde die Bedeutung dieses Status unmittelbar relativiert durch die Einführung des Begriffes »Reichsbürger«. Dieser Status setzte zwar einerseits die Staatsangehörigkeit voraus, qualifizierte aber zugleich - nach der Vorstellung des nationalsozialistischen Gesetzgebers - die deutschen Staatsangehörigen »deutschen oder artverwandten Blutes« als herausgehobene, als privilegierte Mehrheitsgruppe. Die »Staatsangehörigkeit« enthielt damit eine ambivalente Bedeutung: Sie kennzeichnete die allgemeine Mindestvoraussetzung für die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Zugleich aber geriet sie zur Bezeichnung einer Restkategorie: der - ›einfachen‹- Staatsangehörigen, einer als rassisch minderwertig eingestuften Minderheit, die von der Mehrheit der vollberechtigten Reichsbürger diskriminierend unterschieden wurde. Wer infolge der Nürnberger Gesetze nur die deutsche Staatsangehörigkeit aufweisen konnte, war als Jude oder Zigeuner54 gekennzeichnet. Damit hatte der Begriff des Staatsangehörigen in der deutschen Geschichte einen Funktionswandel, eine Funktionsumkehrung erfahren: von der Integration in den Staat zur Stigmatisierung durch den Staat. An die Stelle der Offenheit des Staatsangehörigkeitsstatus hin zur staatsbürgerlichen Gleichheit trat die absolute, unverrückbare Grenze der Rasse. Mit der funktionellen Umkehrung der hergebrachten Staatsangehörigkeitskonzeption veränderte sich auch die Funktion eines ihrer tragenden Prinzipien. Das Abstammungsprinzip hatte bis dahin die Weitergabe der deutschen Staatsangehörigkeit an den rechtlich - formalen Staatsangehörigkeitsstatus der Eltern geknüpft: Sie mußten Deutsche sein, ohne daß es darauf ankam, ob sie eingebürgert worden waren oder ihrerseits von Deutschen abstammten. Es konnten demnach z. B. Franzosen, Russen jüdischer Religionszugehörigkeit oder Chinesen qua Abstammung ihre deutsche Staatsangehörigkeit vererben, sofern sie in Deutschland eingebürgert worden waren. Die Weitergabe der Staatsangehörigkeit iure sanguinis, d. h. durch das Blut, war also nur mehr eine Metapher, die den Vorgang körperlicher Abstammung - im Unterschied zur Adoption oder Legitimation - umschrieb. Die physische Verwandtschaft durch das glei-

54 S. dazu Wippermann, Blutrecht der Blutsnation, S. 30f., der die Kontinuität der Ausgrenzung von Zigeunern aufgrund eines rassisch verstandenen Abstammungsprinzips betont; knapp Jansen, Sinti und Roma, S. 71-81.

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che Blut, nicht eine bestimmte Substanz des Blutes war entscheidend für die Weitergabe der Staatsangehörigkeit durch Abstammung. Dies änderte sich radikal mit dem rassischen Staatsangehörigkeitsrecht. Der Kernstatus der Staatsangehörigkeit, die »Reichsbürgerschaft«, wurde nicht mehr einfach durch physische Abstammung von Deutschen erworben.55 Hinzu mußte eine bestimmte Qualität des weitergegebenen Blutes kommen, die seiner Substanz zugeschrieben wurde: die Rasseeigenschaft. In diesem Sinne stellten die Eheverbote des Blutschutzgesetzes Durchbrechungen des hergebrachten Abstammungsprinzips dar. Sie stellten klar, daß nicht jeder, sondern nur ›rassisch qualifizierte Deutsche die Reichsbürgerschaft erwerben und durch Abstammung weitergeben konnten. Sogenannte ›rassisch Minderwertige‹ hingegen konnten die Reichsbürgerschaft nicht erwerben und sollten sie auch nicht durch die Verbindung mit ›rassisch Höherwertigem ihren Abkömmlingen verschaffen können.56 In diesem geschlossenen System rassischer Begrenzung lag ein qualitativer Bruch mit dem hergebrachten Abstammungsprinzip. Nicht ohne zynischen Hintersinn begrüßte der Gesetzeskommentator Lösener die Aufhebung des Grundsatzes, »daß das Recht zur Mitbestimmung der staatlichen Geschicke den meisten Staatsangehörigen gleichsam in den Schoß fiel«.57 Die Formulierungen der Nürnberger Gesetze erscheinen in der Tat als direkter Ausfluß des Führerwillens, vergleicht man damit die Ankündigung aus Hitlers »Mein Kampf« aus dem Jahre 1927. Dort heißt es: »Der völkische Staat teilt seine Bewohner in drei Klassen: In Staatsbürger, Staatsangehörige und Ausländer [...]. Der Staat muß einen scharfen Unterschied machen zwischen denen, die als Volksgenossen Ursache und Träger seines Daseins und seiner Größe sind, und solchen, die nur als ›verdiencnde› Elemente innerhalb eines Staates ihren Aufenthalt nehmen«.58 55 Dies war gerade der Angriffspunkt des nationalsozialistischen Rechts. In der Sprache einer Dissertation, deren Autor sich für die »Aufnordung« der deutschen Staatsangehörigkeit aussprach: » Ein Pole, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und eine Jüdin heiratet, setzt in seinem Kinde einen deutschen Staatsangehörigen in die Welt. Ein Neger in den deutschen Schutzgebieten, dem nach § 33 die Reichsangehörigkeit verliehen war, schenkte Deutschland in seinem Kind einen Deutschen«, s. Redelberqer, S. 12, 44. Diesen kategorialen Unterschied zwischen dem Abstammungprinzip (ius sanguinis) und dem Rasseprinzip verkennt Fahlbusch, S. 55. 56 Auch die Einbürgerung, d. h. die Aufnahme in den Status der ›cinfachcn‹ Staatsangehörigkeit, sollte fortan an die Prüfung der »Rasse« und der Erbgesundheit gebunden werden, wobei der Kreis der auszuschließenden Krankheiten weiter zu ziehen sei als die zu Sterilisation berechtigenden Erbkrankheiten aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, s. Lösener, Staatsangehörigkeit und Reichsbürgerrecht, S. 21, 23; dagegen Lösener u. Knost, S. 41: Der »Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ist nicht von der Erfüllung rassischer Voraussetzungen abhängig. Auch Personen artfremden Blutes können die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben.« 57 Vgl. ebd., S. 15. 58 Hitler, S. 78.

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Die Umsetzung der programmatischen in gesetzestechnisch handhabbare Formulierungen stand seitdem freilich noch aus. Das war die Stunde der ministeriellen Administratoren und Gesetzeskommentatoren. Sie definierten während der Monate, die auf den Nürnberger Parteitag folgten, in Ausführungsbestimmungen und Interpretationen die technischen Details des neuen Staatsangehörigkeitsrechts, die existentielle Bedeutung gewannen: Wer ist »Reichsbürger«? Wer ist Jude? Wer ist »deutschen oder artverwandten Blutes«? Alle diese Fragen galt es zu klären. Erst die administrativen Ausführungsbestimmungen, mit denen die Verwaltung die Initiative gegenüber der politischen Führung zurückgewann und sich in entscheidenden Punkten gegenüber radikaleren Parteiauffassungen durchsetzte,59 verliehen den Programmsätzen der Rassegesetze die Konturen des Rassestaats. Die Durchsetzung der Rassegrundsätze bediente sich der hergebrachten rechtsstaatlichen Formen, um die Maßnahmen der Segrcgation und Ausmerzung mit Hilfe eines eingespielten Verwaltungsapparats effizient zu machen. Im Bereich der Staatsangehörigkeit war der nationalsozialistische Rassestaat jedenfalls bis zur Schwelle der physischen Massenvernichtung im Zweiten Weltkrieg - ein Normenstaat. Die Staatsangehörigkeit war, das zeigen die Nürnberger Rassegesetze, eine der Institutionen, deren rechtliche Formen zur Aushöhlung und schließlich Umkehrung ihres hergebrachten Gehalts genutzt wurden. Das zeigte sich anhand der »Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz« vom 14. November 1935, die grundlegende Begriffe der Nürnberger Gesetze klärte:60 Grundsätzlich war »Jude«, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammte. Wer von lediglich einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltcrntcilen abstammte, war »jüdischer Mischling«. Er konnte aber als Jude »gelten«, falls er neben zwei volljüdischen Großeltern religiöse bzw. eheliche Beziehungen zum Judentum und zu Juden aufwies. Auf dieser definitorischen Grundlage stellte die Verordnung fest: »Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein« und bestimmte als Reichsbürger diejenigen »Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes«, die bei Inkrafttreten des Reichsbürgergesetzes das Reichstagswahlrecht besessen hatten. Die Diskriminierung von Juden, die vor 1933 ein Leitmotiv geheimgehaltener Verwaltungsvorschriften gewesen war, wurde nunmehr offen als gesetzlicher Grundsatz publiziert. An die Stelle relativer, überwindbarer Aufnahmehindernisse trat die Segregation der Staatsangehörigen nach absoluten Rassebegriffen. Freilich zeigt ein genauer Blick auf die Gesetzesformulierung, daß die Rasse als Substanzbegriff zunächst eine gesetzgeberische Behauptung war, die ihrer59 Vgl. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S. 165f. 60 S. Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, in: RGBl. I, S.1333.

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scits der inhaltlichen Auffüllung bedurfte. Die begriffliche Unsicherheit des Verordnungsgebers zeigte sich in der Formulierung »Als volljüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat«. War nun die ›Rasse‹ oder die Religionszugehörigkeit ausschlaggebend ? Ein zwei Wochen darauf ergehender Runderlaß an die nachgeordneten Behörden suchte die Unklarheit zu überbrücken, indem er »grundsätzlich nicht die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft, sondern zur jüdischen Rasse« für maßgeblich erklärte. Zugleich aber wurde bekräftigt, daß ein Großelternteil, da er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte, ohne weiteres und unwiderleglich als Angehöriger der jüdischen Rasse galt. Die offenkundige Verlegenheit der Reichsführung, eine verwaltungstechnisch verläßliche Definition des Rassebegriffs zu finden, wurde also durch die Religionszugehörigkeit überbrückt.61 Der Widersinn, ja der zynische Pragmatismus, der in der Gleichsetzung von Religion und Rasse lag, ist oftmals hervorgehoben worden.62 Der Rückgriff auf eine kulturell geprägte, durch Umweltbeziehungen bestimmte und aufrechterhaltene Eigenschaft wie die Religionszugehörigkeit, um eine - angeblich physisch nachweisbare »Rasse« zu definieren63 lief den Gesetzeskommentaren diametral zuwider. Denn diese wollten in den Nürnberger Gesetzen gerade eine Abkehr von den Vorstellungen der »Umweltbeeinflussung« menschlicher Qualität, vielmehr deren biologische Bestimmung nach der »Erbmasse« sehen.64 Die Gleichsetzung von Religion und Rassezugehörigkeit war eine zweckgebundene gesetzgeberische Fiktion, wie die führenden Kommentatoren selbst offenlegten: Sie mußten klarstellen, daß ein zum Judentum übergetretener »Deutschblütiger« für seine eigene Einordnung weiterhin als »deutschblütig« anzusehen sei, lediglich für die »arische« Einordnung der Enkel gelte er als Volljude.65 Die gesamte Konstruktion verfolgte also den Zweck, eine präzise, administrativ handhabbare, zugleich die Schwierigkeiten der Rassebestimmung und ihres praktischen Nachweises vermeidende Definition zu setzen, deren Hauptziel nicht in der ›Wahrheit‹, sondern in ihrer umfassenden Ausschlußwirkung lag. Sie erfaßte über die etwa 500.000 im Deutschen Reich le61 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 (RGBl I, S. 1333), § 2 Abs.2; Runderlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern vom 26. November 1935 (RMBliV 1935, S. 1429). 62 Zuletzt Friedländer, Drittes Reich und die Juden, S. 169; Tarrab-Maslaton, S. 68. 63 Innerhalb der NSDAP wurde die Religionszugehörigkeit der Juden bis zu ihrer Emanzipation um 1800 - und ihrer zunehmenden ›Vermischung‹ mit Christen - offensichtlich als verläßlicher Indikator für die Rassezugehörigkeit bewertet, eine Interpretation, die den kategorialen Gegensatz zwischen Rasse- und Religionszugehörigkeit nurmehr zeitlich zurückvcrlagert, vgl. Majer, S. 202, Anm. 43. 64 S. Stuckart u. Globke, S. 7; Stuckart u. Schiedermair, S. 5. 65 Vgl. Stuckart u. Globke, S. 65f; dazu Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S. 169.

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bcnden Glaubensjuden hinaus schätzungsweise 160.000 bis 260.000 Nachkommen aus Mischehen.66 Die Nürnberger Rassegesetzgebung bildete in ihren beiden Teilen, der Reichsbürger- und der Blutschutzgesetzgebung, eine aufeinander bezogene, unlösbare Einheit.67 Ihre Verbindung bestand in der Aufhebung der Rechtsgleichheit nach dem Kriterium der Rasse. Erstmals wurde der Begriff »Rasse« ausdrücklich in den Mittelpunkt einer Gesetzgebung gestellt, die eine alle Lebensbercichc umfassende Segrcgation des deutschen Staatsvolks bezweckte. Die kategoriale Verschiebung zeigte sich im veränderten Stellenwert des Begriffes »Volk«. »Volk« war der zentrale Begriff des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts seit dem Ersten Weltkrieg gewesen und hatte insbesondere der Ableitung des Kriteriums ›Dcutschstämmigkeit‹ gedient. Im neuen Staatsangehörigkeitsrecht der Rassegesetze hingegen wurde »Volk« als zu allgemeiner, dem spezifisch Neuen nicht mehr gemäßer Begriff zurückgestellt. Er wurde einer ethnischkulturellen Beschreibung der »Volkskunde« zugeordnet, die eine mehrere Rassen umfassende geschichtlich bedingte »Schicksals- und Blutsgemeinschaft« bezeichnete. Die »Rasse« hingegen, auf die das neue Recht entscheidend abstellte, war nach einhelliger Auffassung der Kommentatoren blutsmäßig und eindeutig naturwissenschaftlich bestimmt. Nicht mehr die ›Deutschstämmigkeit‹, sondern die ›Deutschblütigkeit‹ war danach das entscheidende Kriterium.68 Dadurch, daß die rassische Definition der Staatsangehörigkeit in alle Rechtsbereiche hineinwirkte, bildete sie den Dammbruch hin zum System »völkischer Ungleichheit«.69 Die bloße Scheidung der formal gleichen Staatsangehörigkeit in Stände wertungleichen Rechts höhlte die Wirkung des »Schutzverbandes«70 Staatsangehörigkeit aus. Indem die nationalsozialistische Diktatur den privilegierten Stand der Reichsbürger deutschen oder artverwandten Blutes schuf, gab sie - im Unterschied zu dem vormodernen ständischen Wertkosmos - der Entrechtung der übrigen, als ›minderwertig‹ eingestuften Staatsangehörigen für die Zukunft unbegrenzt Raum. Die Schlüsselfunktion des Reichsbürgergesetzes bestand in der Legitimation der systematischen Ungleichbehandlung, die im Blutschutzgesetz vom selben Tag ihre erste unmittelbare Konkretisierung fand. Mit der Einführung der allgemeinen Formulierung »deutschen oder artverwandten Blutes« waren nicht mehr nur die Juden, sondern ›rassisch Minderwertige‹ das allgemeine Gegenbild. Bereits die ersten Ausführungsbestimmungen zum Blutschutzgesetz im November 1935 began66 Yahil, S. 119. 67 So nachdrücklich Lösener u. Knost, S. 16. 68 Stuckart u. Globke, S. 2; Stuckart u. Schiedermaier, S. 5, 18; Lösener, Staatsangehörigkeit und Reichsbürgerrecht, S. 22,. 3()f.; Lösener u. Knost, S. 20. 69 Vgl. Majer, S. 195. 70 Vgl. § 1 Abs. 1 des Reichsbürgergesetzes vom 15.9.1935.

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nen denn auch die Diskriminierung auf »Zigeuner, Neger oder ihre Bastarde« auszudehnen.71 Wie sehr damit das Kriterium der biologischen Minderwertigkeit die Wirkung des vermeintlichen »Schutzverbandes« deutsche Staatsangehörigkeit durchschnitt, zeigte das sogenannte Ehegesundheitsgesetz vom Oktober 1935. Wie das Blutschutzgesetz griff es mit seinen rassehygienisch begründeten Eheverboten tief in die Intimsphäre privater Lebensgcstaltungdcr Betroffenen ein, und zwar ungeachtet ihrer deutschen Staatsangehörigkeit.72 Die Neuartigkeit dieser Konstruktion der Staatsangehörigkeit ist auch in das Bewußtsein der damaligen deutschen Staatsrechtswissenschaft gedrungen. In der rasch wachsenden Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu den gesetzgeberischen Eingriffen in das Staatsangehörigkeitsrecht finden sich mehrere Monographien, die das Wesen, die Entwicklung und den Begriff der Staatsangehörigkeit behandeln. Sie zeigen zum einen das Bedürfnis nach wissenschaftlich ordnender Bestandsaufnahme inmitten rascher, radikaler Veränderungen. Zum anderen dokumentieren sie in einem ideologischen Kernbereich des NS-Rechts, wie rasch und vollständig die deutsche Staatsrechtswissenschaft jede kritische Funktion gegenüber der politischen Führung aufgegeben hatte. Während sich die etablierten Hochschullehrer mit Neubestimmungen der »Staatsangehörigkeit« zurückhielten, entstanden unter ihrer Anleitung Dissertationen zu diesem Zweck. Die Arbeiten der juristischen Nachwuchsgeneration waren sich einig in der Zielsetzung, Irrwege der »liberalen Staatslehre«, ihrer individualistischen, gemeinschaftsfernen, dem Gedanken universeller Gleichheit verpflichteten Gedankengänge aufzudecken.73 Nur wenig kaschiert durch den konventionellen, systematischen Duktus wissenschaftlicher Arbeit unterstellten sie ihre Dissertationen ganz einem affirmativen Zweck: der Legitimation des neuen Rassegedankens74 im Staatsangehörigkeitsrecht, des politisch Gewordenen, weil es und wie es geworden war.

3. Die Fragmentierung der Staatsbürgerschaft im›völkischen Staat‹ (1935-1939) Die Staatsbürgerschaft im nationalsozialistischen Staat gab es spätestens seit den Rassegesetzen nicht mehr. Auf der Grundlage der Rassediskriminierung wurde die Fragmentierung der Staatsbürgerschaft - ihre Aushöhlung von innen her vorangetrieben. In den verbleibenden vier Jahren bis zum Ausbruch des Krie71 72 73 74

Vgl. Majer, S. 188, Friedlander, Weg zum NS-Gcnozid, S. 64. S. ebd., S. 73; Bock, Zwangssterilisation, S. 100, 102. S. Saebisch, S. 5f.; Weite, S. 32; Flessner, S. 13; Redelberoer, S. 10f. S. Saebisch, S. 18, 20; Redelberger, S. 10f.; Flessner, S. 16.

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ges war vorherrschend die Vertiefung der Kluft zwischen den (bloßen) »Staatsangehörigen« und den »Reichsbürgern«. Die schrittweise Auflösung des »Schutzverbandes« der Staatsangehörigkeit für Deutsche, die nicht »deutschen oder artverwandten Blutes« waren, konzentrierte sich nach dem Nürnberger Parteitag auf das Gebiet der Wirtschaft. In der Folge der Rassegesetze erging bis zur Mitte des Jahres 1936 eine Reihe von Rechtsverordnungen, die sogenannte »Volljuden« von allen öffentlichen Ämtern einschließlich der Tätigkeit an Schulen und Hochschulen ausschlossen. Weitere Beschränkungen des Rechtsanwalts- und Arztberufs trugen dazu bei, die akademisch gebildete Elite der deutschen Juden aus ihren Berufen und dem geistigen Leben Deutschlands zu verdrängen. Bisher unreglementierte Berufe wurden einem Verbot unterstellt. Sie trafen -wie z. B. das Verbot des Devisenhandels - insbesondere wirtschaftlich einträgliche, freie Berufstätigkeiten und dehnten zugleich die Kontrolle auf die Verbringung von Vermögenswerten ins Ausland aus. In einem dichter und unüberschaubarer werdenden Geflecht des Sonderrechts wetteiferten die Reichsministerien darin, die Juden diskriminierenden Maßnahmen in ihrem jeweiligen Ressort zu perfektionieren. Andererseits wurde, entgegen radikaleren Forderungen in der Parteiführung, der Status sogenannter »Mischlinge« nicht angetastet. Befürchtungen, daß anderenfalls die deutsche Wirtschaft in eine Krise geraten könne, die Rücksichtnahme auf den Rüstungsaufbau und das außenpolitische Prestige des Reiches im Hinblick auf die Olympischen Spiele trugen dazu bei, daß das Jahr 1936 gleichwohl eine Periode relativer »Rechtssicherheit« für die rassisch Diskriminierten war. Das änderte sich ab dem Ende des Jahres 1937. Mit der Entlassung des Reichswirtschaftsministers Schacht, der in seinem Geschäftsbereich stets gesamtwirtschaftliche Stabilitätserwägungen über rassepolitische Säuberungsambitionen gestellt hatte, und dies in einer Phase wirtschaftlicher Hochkonjunktur bei Erfüllung des Vierjahrcsplans, erhielten radikalere Pläne zur Diskriminierung und Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft erneut Auftrieb und setzten sich im Verlauf des Jahres 1938 durch. Juden wurden besonderen Erschwernissen im Bereich des Steuerrechts unterworfen. Eine Kette von Verordnungen zum Reichsbürgergesetz bereitete die ›Arisierung‹jüdischer Geschäftsbetriebe vor und unterwarfjüdische Ärzte, Rechtsanwälte und Apotheker einem allgemeinen Berufsverbot.75 Es führte zur weitgehenden rassischen Segregation innerhalb dieser Berufsgruppen. Dem Ausschluß von den Vollrechten des Reichsbürgers folgte damit in den Berufsgruppen, in denen Juden traditionell besonders stark vertreten waren, die weitgehende Aufhebung des ökonomischen und sozialen Staatsbürgerstatus. 75 Nurmehr zur Behandlung und Beratung von Juden wurden die betreffenden Berufsgruppen zugelassen, vgl. die dritte bis achte Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die zwischen Juni 1938 und Januar 1939 ergingen, vgl. Adam, S.180f. Zu den durchgreifenden Wirkungen s. TarrabMaslatotuS. 122f.

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Die Aufhebung der einheitlichen Staatsangehörigkeit durch die Rassegesetze bereitete also die ökonomische Entrechtung vor. Folgerichtig setzten weitergehende Pläne im Februar 1938, nunmehr auch sogenannte jüdische »Mischlinge« wirtschaftlich auszuschalten, zunächst bei der Staatsangehörigkeit an. Pläne, sogenannte »Mischlinge« 1. und 2. Grades von der Reichsbürgerschaft, gegebenenfalls auch Kinder dieser rassischen Kategorien von der Staatsangehörigkeit insgesamt auszuschließen, scheiterten während der ersten Hälfte des Jahres 1938 an militärischen, finanziellen und außenpolitischen Hindernissen.76 Eine derart weitgehende Diskriminierung der jüdischen Staatsangehörigen bis hin zur Ausstoßung in die Staatenlosigkeit erschien der Reichsführung unter den Zwängen eines Friedensregimes, das zugleich ungehindert den Krieg vorbereiten wollte, nicht realisierbar. Statt dessen bot das reichsweite Pogrom im November 1938 den Anlaß, die Maßnahmen zum Ausschluß der »Volljuden« aus dem Wirtschaftsleben radikal zuzuspitzen.77 Das geschah zunächst in Form von Strafkontributionen und durch den Entzug von Versicherungsleistungen für die Schäden, die den Juden infolge des staatlich gelenkten Pogroms an ihrem eigenen Hab und Gut entstanden waren. Schließlich regelte eine seit langem vorbereitete »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« ihren umfassenden Ausschluß von jeder selbständigen und leitenden Wirtschaftstätigkeit in Handel und Gewerbe. Die Gewerbefreiheit jüdischer Gewerbetreibender sowie die freie Verfügung über ihr Vermögen wurden quasi aufgehoben. Die entschädigungslos angeordneten Erwerbsverbote und die Vermögensbeschränkungen führten zur ›Arisierung‹ der weitaus meisten in den Händen jüdischer Deutscher verbliebenen Vermögen. Der erzwungene Vermögensübergang raubte damit dem jüdischen Mittelstand die wirtschaftliche Existenzgrundlage in Deutschland. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges waren damit »Juden« im Sinne der Nürnberger Rassegesetze in jedem Bereich persönlicher Freiheitsentfaltung einschneidenden Beschränkungen durch den nationalsozialistischen Staat unterworfen. Der Ausschluß von jeder noch so geringen politischen Mitwirkungsmöglichkeit, die das nationalsozialistische Regime durchsetzte, sowie von öffentlichen und Ehrenämtern, die willkürliche Verhaftung und Schädigung an Leib und Leben in der Folge staatlich gelenkter Pogromaktionen, der Entzug öffentlicher kultureller Wirkungsmöglichkeiten in allen Bereichen, der schrittweise, systematische Entzug der wirtschaftlichen Existenzgrundlage un76 Vgl. Adam, S. 186f. Lediglich nach dem ›Anschluß‹ Österreichs wurden dort im öffentlichen Dienst Beschränkungen für Mischlinge eingeführt, die sich im übrigen Reichsgebiet nicht durchgesetzt hatten (ebd., S. 195). 77 Dazu eingehend Tarrab-Maslaton, S. 130f.; Adam, S.204f.;Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S. 245-260, 291f; Longerich, S. 208f. Im Folgenden sollen lediglich Grundzüge und Etappen der nationalsozialistischen Maßnahmen gegen jüdische Staatsangehörige dargestellt werden. Die Einzelheiten sind in der Literatur erschöpfend beschrieben.

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ter Mißachtung des tradierten bürgerlich-rechtlichen Eigentumsschutzes, die tief in die intime Privatsphäre eindringenden , demütigenden Beschränkungen der Partner- und Namenswahl: Alle diese Beschränkungen trafen deutsche Staatsangehörige, denen die Rassegesetze den Status des »Juden« zuschrieben. Diesewurden78formell nicht unter Fremdenrecht gestellt, wie es judenfeindliche Bestrebungen seit der Zeit der Emanzipation immer wieder gefordert hatten. Tatsächlich aber waren sie schärferen Diskriminierungen ausgesetzt, als dies Fremden jemals in der modernen deutschen Geschichte begegnet war. Juden wurden nicht nur schlechter behandelt als vor ihrer Emanzipation zu Staatsbürgern des Deutschen Reiches. Ihnen wurde die elementare Gleichstellung im Bereich der privatrechtlichen Eigentumssphäre genommen, die eine Errungenschaft des deutschen Fremdenrechts bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen war. Angesichts dieses Befundes schrumpfte der Status der - bloßen - Staatsangehörigkeit, und dies betraf fast ausschließlich deutsche »Juden«, zu einer schwindenden juristischen Restgröße. Sein Schutzumfang wurde in dem Maße ausgehöhlt, in dem das nationalsozialistische Regime sich dazu außenpolitisch und wirtschaftlich stabil genug betrachtete und die Konvergenz wirtschaftlicher und rassenpolitischer Interessen dies nahelegte. Die Aufsplitterung der Staatsangehörigkeit im nationalsozialistischen Staat löste damit die herkömmliche Bedeutung der Unterscheidung zwischen »Staatsbürgern« und »Ausländern« auf. Wo eigene Staatsangehörige schlechter behandelt wurden als Fremde, da relativierten sich die materiellen Nachteile des Rechtsstatus von Ausländern. Dies gilt allgemein, insbesondere jedoch für ein totalitäres System wie den Nationalsozialismus, und zwar vor allem aus zwei Gründen: Ein erster wesentlicher Grund lag in dem kategorialen Wandel, dem die Auffassung vom Staat während des Nationalsozialismus unterlag.79 Mit der Abkehr vom Liberalismus, die die nationalsozialistische Staatslehre zum Axiom erhob, war die Aufhebung einer autonomen, dem Individuum frei verfügbaren, gegen den Zugriff des Staates gesicherten Rechtssphäre verbunden. Die Vorstellung von der Gliedstellung des einzelnen in einer Volksgemeinschaft, einer ihn vollständig umfassenden Gemeinschaftsbindung, erkannte keine vom Staat prinzipiell unantastbaren Räume der individuellen Persönlichkeitsentfaltung an. In der Konsequenz dieses theoretischen Umbruchs lag die Ablehnung des subjektiven öffentlichen Rechts, einer zentralen Rechtsfigur des bürgerlichen Rechtsstaats, die zugleich der Konzeption des »Staatsbürgers« ein rechtliches Fundament gegeben hatte. Aus dem totalen Gemeinschaftsvorbchalt der Rechtsstellung folgte der Primat der Pflichtstellung des einzelnen. Die Ausübung seiner Rechte sollte ihre Zweckbindung und Grenze in der umfassenden Treuepflicht gegenüber der Volksgemeinschaft fin78 Von den Expatriationen abgesehen, s. o. Kap. VII. 1. 79 Zum Folgenden vgl. Schäfer, S. 106-121, passim.

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den. Mit dieser Maßgabe war dem nationalsozialistischen Staat die Möglichkeit des prinzipiell unbegrenzten, ständigen Zugriffs auf die Freiheitssphäre des Einzelnen eröffnet.80 Der praktische Niederschlag dieser staatstheoretischen Konstruktion wurde an der rechtlichen Stellung des einzelnen im Berufsleben sowie im Bereich von Ehe und Familie deutlich. Die staatliche Lenkung und ständische Durchorganisation der freien Berufe z. B. unterwarf diese Berufe im ganzen, also über rassepolitische Zielsetzungen hinaus, einer umfassenden staatlichen Bindung und hob damit die Berufsfreiheit auf Die Vorschriften zur Erhaltung der ›Erbgesundheit‹, die Eheverbote und Zwangssterilisation einschlossen, trafen potentielljede deutsche Familie, unterwarfen sie im intimsten Bereich der Persönlichkeitsentfaltung den Anforderungen des Rassestaats. Kennzeichnend für den nationalsozialistischen Staat war also, daß er nicht nur bestimmte Gruppen seiner Staatsangehörigen entrechtete, sondern die Grundlagen der »Staatsbürgerschaft« insgesamt zerstörte. Mit dem ideellen Angriff auf den Liberalismus, der Aufhebung grundrechtlicher Freiheiten, rechtsstaatlicher Sicherungen und demokratischer Mitwirkungsrechte führte der Nationalsozialismus den Angriff auf das Konzept der Staatsbürgerschaft insgesamt. Deshalb gewährte die Gesetzeskategorie des »Reichsbürgers deutschen oder artverwandten Blutes« lediglich eine relative Besserstellung gegenüber ›nicht Artverwandtei ‹. Ihrer Substanz nach war sie eine Leerformel, die der nationalsozialistische Staat mit wechselnden politischen Zweckerwägungen füllen konnte. Genauer Ausdruck der Verflüssigung rechtlicher Schranken, der Aufweichung von innen und außen, war die Sanktion der Zwangsexpatriation. Die entehrende Ausstoßung aus der staatlichen Gemeinschaft konnte auch »Reichsbürger« treffen. Die Relativierung des Fremdenstatus ging indessen nicht nur von der Relativierung der Kategorie »Staatsbürgerschaft« insgesamt im Staatsrecht des Nationalsozialismus aus. Sie fand auch Anhaltspunkte in der Praxis der Fremdenpolitik, d. h. der Politik gegenüber Ausländern. Während der Friedensphase des nationalsozialistischen Regimes unterlag der rechtliche Status von Ausländern keiner qualitativen Verschlechterung im Vergleich zur Weimarer Republik. Dieser Befund scheint zunächst dem Kern der nationalsozialistischen Ideologie, der umfassenden ›Rcinerhaltung‹ des Volkes und ›Ausmerze‹ alles Gemeinschaftsfremden, zu widersprechen.81 Leitende Motive der nationalsozialistischen Fremdenpolitik bis zum Kriegsausbruch waren jedoch weniger ideologische, sondern ökonomische und politische Zielsetzungen. Die Zurückstellung ideologischer Abwehrimpulse wurde zunächst durch die demo80 Zu dem hergebrachte Unterscheidungen und Abschichtungen auflösenden »völkischen Rechtsdenken« Herbert, Best, S. 196, 198. 81 S. dazu eingehend Peukert, S. 246f. (insbesondere S. 247, 262); zur Durchsetzung des »gesellschaftsbiologischen« Denkens nach 1933 s. Herbert, Best, S. 170, 172.

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graphische Ausgangslage begünstigt. In der Weltwirtschaftskrise war das Deutsche Reich zum Auswanderungsland geworden. Die Zahl ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland fiel 1930 unter die Grenze von 200,000, die sie erst 1936 wieder überschritt.82 Gemessen am Stand vor dem Ersten Weltkrieg war das ausländische Arbeitskraftpotential somit auf eine volkswirtschaftlich unbedeutende Größe geschrumpft.83 Der deutliche Anstieg ausländischer Arbeitskräfte im Reichsgebiet ab den Jahren 1936/37 ergab sich aus der raschen Erholung der deutschen Wirtschaft und dem schnell wachsenden Bedarf an Arbeitskräften im Zuge der expandierenden Rüstungswirtschaft. Die nationalsozialistische Regierung stellte völkische Bedenken zurück und warb ab 1936 ausländische Saisonarbeitskräfte an, insbesondere aus Polen und der Tschechoslowakei, also aus Staatsvölkern, die der Nationalsozialismus aus national- und rassepolitischen Gründen zu den ›Minderwertigen‹ rechnete.84 Sogar eine Lokkerung der Einbürgerungshindernisse für »rassisch und erbbiologisch geeignete einsatzfähige und arbeitswillige Bewerber« dekretierte die Reichsregierung.85 Die wachsende Zahl ausländischer Arbeitskräfte war jedoch um so eher mit den ideologischen Bedürfnissen des Regimes zu vereinbaren, als aus der Weimarer Zeit ein ausgearbeitetes staatliches Eingriffsinstrumentarium zur Sicherstellung des Primats inländischer Arbeit zur Verfügung stand. Es wurde 1938 noch durch eine neue Ausländerpolizeiverordnung ausgebaut, die der Polizei ein umfassendes Zugriffsrecht einräumte und mit der fast jederzeit möglichen Abschiebung die individuelle Ausländerbeschäftigung vollständig übergeordneten Bedarfserwägungenunterwarf.86 Die Verschärfung des Ausländerpolizeirechts als Regulativ völkischer und arbeitsmarktpolitischer Belange blieb neben der Beschränkung der freien Berufe die einschneidendste Änderung im nationalsozialistischen Fremdenrecht. Zulassungsbeschränkungen der kulturellen, rechtsberatenden und medizinischen Berufe sollten nicht nur neu hinzukommende Ausländer fernhalten,87 82 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 49, 56. 83 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 49 -56. 84 Der Anteil der Tschechen und Polen lag von 1936 bis 1938 beständig bei etwa 45 % der ausländischen Arbeitskräfte insgesamt (1936: 220.192; 1937: 265.689; 1938: 375.078), errechnet nach der Statistik bei Herbert, Fremdarbeiter, S. 58. 85 Mit der Begründung: »Die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt haben sich inzwischen so grundlegend geändert, daß bei dem großen Kräftebedarf« eine Erleichterung der Einbürgerung geboten sei. Dabei dachte das Reichsinnenministerium allerdings primär an »Volksdeutsche«, s. Runderlaß des Rcichsministers des Innern vom 4. August 1939, in: RMBliV 1939, S. 1641. 86 Ausländerpolizeiverordnung vom 22.8.1938 (RGBl I, S. 1053); s. dazu Friedrich, S. 84f.; Majer, S. 304. Ein Gesetz über Reichsverweisungen vom 23.3.1934 (RGBl. I, S. 467) hatte ein für das gesamte Reich einheitliches Ausweisungsrecht geschaffen. 87 Ausländer wurden vom Beruf des Patentanwalts (1933), Schriftleiters (1933) und Notars (1938) ausgeschlossen. Heilpraktiker (1935), Ärzte (1935), Tierärzte (1936) und Apotheker (1937) mit ausländischer Bestallung konnten nur mit besonderer Genehmigung des Reichsinnenmini-

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sondern auch Berufsangehörige, denen die deutsche Staatsangehörigkeit aus politischen oder rassischen Gründen entzogen worden war, von der weiteren Berufsausübung fernhalten. Hier wirkte das Fremdenrecht sowohl als Instrument der Zulassungsbeschränkung als auch des Ausschlusses aus der staatlichen Gemeinschaft. Doch blieb die Staatsangehörigkeit auch im Bereich der freien Berufe ein untergeordnetes Ausschlußkritcnum, verglichen mit den generellen Anforderungen nationaler, sittlicher und rassischer Zuverlässigkeit, die allen Bewerbern zur Zulassung zu den ständisch reglementierten Berufen abverlangt wurden. Darüber hinaus kam es - neben einzelnen Einschränkungen88 - zu keiner systematischen Verschärfung des nationalsozialistischen Fremdenrechts bis zum Kriegsbeginn. Auch rassepolitisch motivierte Versuche innerhalb der Reichsregierung, Eheschließungen zwischen ›Deutschblütigen‹ und Ausländern schlechthin zu verbieten,89; scheiterten aus einem Grund, der bezeichnend für die nationalsozialistische Politik der Segregation insgesamt war: Nicht die staatliche, sondern die zugeschriebene rassische Zugehörigkeit war für den nationalsozialistischen Staat das ausschlaggebende Kriterium der Diskriminierung.90 Die Entrechtung der eigenen Staatsangehörigen konnte im Schutz der staatlichen Souveränität erfolgen. Dagegen erlegte die Behandlung ausländischer Staatsangehöriger vertragliche und außenpolitische Rücksichten auf, die zur Mäßigung zwangen. Dabei sollen die Ausländern gegenüber feindliche Haltung der nationalsozialistischen Regierung und gegen Ausländer zielende staatliche Maßnahmen nicht übergangen werden. So kam es bereits ab Februar 1933 zu kampagnenartigen Ausweisungsaktionen, die auf ausländische Juden aus Osteuropa zielten, insbesondere aus der Sowjetunion und Polen, schließlich auch aus Rumänien. Die Ausweisung von etwa 20.000 polnischen Juden im Vorfeld des Reichssters ihren Beruf in Deutschland ausüben. Ärzte, denen die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen worden war, verloren ihre Approbation (1935), vgl. Friederichsen, S. 181 f. 88 Um die wichtigsten Bereiche zu nennen: Ausländer wurden 1937 von der freiwilligen Sozialversicherung, 1935 vom Ortsbürgerrecht ausgeschlossen, während 1940 die Inlandsstrafbarkeit für Staatsschutzdelikte von Ausländern ausgeweitet wurde, vgl. Friederichsetu S. 53, 123, 231. 89 S. Adam, S. 222, der auf die rassepolitische Absurdität einer derartigen Maßnahme hinweist, zumal z. B. Engländer, Niederländer oder Skandinavier als rassisch einwandfreie Ehepartner galten. 90 Programmatisch erklärte der Rassereferent im Reichsinnenministerium Lösener: »Da der Nationalsozialismus aber die Rasse als die Ursache ... der Grundveranlagung des Menschen anerkannt hat, so tritt die bisher allgemein übliche und allen bekannte Unterscheidung der Menschen nach Nationen, also nach Deutsch- oder Fremdstämmigkcit, im Denken unserer Tage zurück gegenüber der richtigeren, das Wesen der Sache erst wirklich treffenden Scheidung in deutschblütige und fremdblütige Menschen.« (s. Lösener, Staatsangehörigkeit und Reichsbürgerschaft, S. 22); entsprechend das für den standesamtlichen Gebrauch bestimmte I landbuch von Lichter u. Knost, S. 15.

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pogroms vom 9. November 1938 ist der krasseste Fall einer völkerrechtlich unzulässigen Massenausweisung, die das Regime als völkerrechtliche Vergeltungsmaßnahme deklarierte.91 Das Beispiel zeigt, daß nicht Ausländer schlechthin, sondern die rassisch definierten Juden das eigentliche Ziel der Massenausweisungen bildeten.92 Selbst der Diskriminierung dieses Hauptfeindes in der nationalsozialistischen Ideologie zog jedoch der Ausländerstatus politische Grenzen. Ausländische Juden, die diplomatischen Schutz erhielten, wurden aufgrund internationaler Verträge oder befürchteter Gegenmaßnahmen ihres Heimatstaates immer wieder von judenfeindlichen Maßnahmen ausgenommen und waren damit zum Teil bessergestellt als inländische Juden.93 Denn keiner der betroffenen Staaten Osteuropas nahm die Diskriminierung seiner jüdischen Staatsbürger in Deutschland stillschweigend hin. Insbesondere Polen, das sich einerseits von der wachsenden Macht des nationalsozialistischen Reiches bedroht fühlte, zugleich aber Druck durch die Behandlung der deutschen Minderheit im eigenen Land ausüben konnte, zwang das Deutsche Reich zum Einlenken.94 Insgesamt zogen die außenpolitische und ökonomische Ratio den nationalsozialistischen Maßnahmen gegenüber Ausländern engere Grenzen, als es den ideologischen Ambitionen des Regimes entsprach. Nicht die Diskriminierung des Fremden als Ausländer, sondern die Stigmatisierung und Aussonderung des Fremden im eigenen Staat war das Hauptziel der nationalsozialistischen Politik und zeugte vom Bedeutungsvcrfall der Staatsangehörigkeit insgesamt. Die Respektierung der Staatsangehörigkeit war an eine internationale Friedensordnung gebunden und zog dem nationalsozialistischen Regime nur mehr im Verhältnis zu anderen Staaten eine Grenze, die es im Innern Deutschlands nicht mehr einhielt. Zeichnen sich also die ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft durch die Auflösung der Staatsbürgerschaft und deren relativierende Zurückdrängung aus, wurde dieser Prozeß noch beschleunigt durch die Radikalisierung und den imperialen Ausgriff der nationalsozialistischen Außenpolitik. Ein treibendes Moment reichte dabei bis in die Geschichte des Ersten Weltkriegs zurück. Die Entdeckung, Definition und Förderung von Minderheiten deutscher Volkszugehörigkeit in Osteuropa95 war während der Weimarer Republik Gegenstand diplomatischer Verhandlungen, finanzieller und kultureller Förderung gewesen. Indem der nationalsozialistische Staat nunmehr mit militäri91 S. Maurer, Ausländische Juden, S. 195f.; zu weiteren Ausweisungen gegen ausländische Juden vgl. Adler, S. l04f. 92 Die durch ein Gesetz von 1934 eingeführte zentralisierte Rcichsverweisung wurde zur Verweisung ›artfrcmder‹ Ausländer »wegen Gefährdung der Reinhaltung der deutschen Rasse« genutzt, vgl. Majer, S. 292. 93 Vgl. Maurer, Ausländische luden, S. 199. 94 Vgl. Weiss, »Ostjuden«, S. 221f, 225, 231. 95 S.o. Kap. VII. 1.

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schem Druck die territoriale Revision des Versailler Vertragswerks betrieb, gerieten die Gruppen deutschen Volkstums in den östlichen Nachbarstaaten in das Sichtfeld politischer Entscheidungen, wer nämlich -jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches - »Deutscher« sei. Mit dem ›Anschluß‹ Österreichs sowie der Zerschlagung und weitgehenden Einverleibung der Tschechoslowakei in das »Großdeutsche Reich« im Jahre 1938 stand für den nationalsozialistischen Staat die Entscheidung über die Staatsangehörigkeit der Einwohner in diesen neuen Gebieten an. Grundsätzlich kamen zwei Modelle in Betracht: Sollten die Einwohner der hinzugekommenen Gebiete, die bisher Angehörige des österreichischen bzw. tschechoslowakischen Staates gewesen waren, automatisch Staatsangehörige des Großdeutschen Reiches werden können ? Oder sollten hier entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie hierarchische Rechtsabstufungen nach völkischen Wertigkeitskriterien eingeführt werden? Welcher Rang sollte dabei der deutschen Volkszugehörigkeit zukommen ? Alle diese Fragen mußten gelöst werden. Im Fall Österreich entschied die Reichsführung, die bisherigen österreichischen Staatsangehörigen - einschließlich der Angehörigen tschechischer Nationalität - uno actu zu deutschen Staatsangehörigen oder Reichsbürgern zu machen. Ausgenommen von der Reichsbürgerschaft waren lediglich Juden entsprechend den Bestimmungen der Nürnberger Rassegesetze, die auf die »Ostmark« übertragen und für ›Mischlinge‹ zusätzlich verschärft wurden.96 Die Schaffung einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit aufgrund des gebietlichen Zusammenschlusses mit Österreich knüpfte unter politisch veränderten Umständen an das gescheiterte Projekt der gemeinsamen Volkszugehörigkeit aus der Weimarer Republik an. Sie stützte sich, von der Rassegesetzgebung abgesehen, ausschließlich auf territoriale Kriterien, zumal Österreich sprachlich-kulturell ganz überwiegend deutsch geprägt war. Das änderte sich grundlegend mit der Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates und der weitgehenden Einverleibung seines Territoriums in das Großdeutsche Reich. Nach den Gebietsverlusten an die Tschechoslowakei im Versailler Vertrag und dauerhaften, scharfen Konflikten um die Rechte der starken sudetendeutschen Minderheit, deren Führung sich zudem für den Anschluß an das nationalsozialistische Reich aussprach, war die Tschechoslowakei in der Vorstellung der nationalsozialistischen Außenpolitik und Ideologie zum Feindstaat par excellence geworden, und zwar als Staat, der eine deutsche Minderheit unterdrückte, wie als slawische Nation, die als ›minderwertig‹ galt. Die96 Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 13.3.1938 (RGBl I, S. 237); Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Lande Österreich vom 3.7.1939 (RGBl I, S. 790); Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassegesetze im Lande Österreich vom 20.5.1938 (RGBl. I, S. 594); vgl. dazu Majer, S. 415. Emigranten wurden für staatenlos erklärt, vgl. zu einem Überblick aus der Sicht des verantwortlichen Staatssekretärs im Reichsinnenministerium, Stuckart, Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Gebieten, S. 233.

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ses doppelte Feindbild schlug sich in Staatsangehörigkeitsregelungen nieder, die sich z. B. von den Optionsregeln nach der Annexion Elsaß-Lothringens 1871 grundlegend unterschieden. Der Optionsvertrag, den das Reich nach der Besetzung des Sudetenlandes im November 1938 mit der Tschechoslowakei abschloß, räumte den »alteingesessenen«, d. h. bereits vor 1910 im Sudetenland Ansässigen »deutscher Volkszugehörigkeit«, die tschechoslowakische Staatsangehörige geworden waren, keine Optionsmöglichkeit ein. Sie wurden qua ›objektiver‹ Eigenschaft zu »Deutschen« erklärt.97 Angehörige nichtdeutscher Volkszugehörigkeit, die Tschechoslowaken blieben, konnten binnen drei Monaten aus dem Sudetengebiet ausgewiesen werden. Entsprechendes galt für deutsche Volkszugehörige im Restgebiet des tschechoslowakischen Staates. Damit wurde das Staatsangehörigkeitsrecht als Mittel der ethnischen Entmischung eingesetzt. Nachdem deutsche Truppen das restliche tschechische Gebiet im März 1939 besetzt und als »Protektorat Böhmen und Mähren« dem Deutschen Reich einverleibt hatten, setzte sich die Segregation der Staatsangehörigen nach Volkszugehörigkeit fort. Nur »Volksdeutsche Bewohner« des Protektorats wurden deutsche Staatsangehörige und Reichsbürger. Lediglich die übrigen Bewohner tschechischer Volkszugehörigkeit^ erhielten den separaten - und minderen - Status von Staatsangehörigen des Protektorats,98 denn Grundsatz der völkischen Segregation war, keinen »deutschen Volkszugehörigen zum Protektoratsangehörigen werden zu lassen«. Damit aber war unabweisbar die Frage aufgeworfen: Wer ist »deutscher Volkszugehöriger«? Die Verwendung des politischen Ausdrucks in rechtlichen Dokumenten99 unterstellte eine begriffliche Präzision, die das Reichsinnenministerium erst infolge der Schaffung des Protektorats Böhmen und Mähren herstellte. »Deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Kultur usw. bestätigt wird. Personen artfremden Blutes, insbeson97 S. Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen vom 20.11.1938 (RGBl II, S. 896), §§ 1, 3. Insoweit wurde das Staatsangehörigkeitsrecht gerade nicht »unabhängig von einer bestimmten Rasse« (laut Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 25.5.1939 (RMBliV 1939, S. 1233 I.a.7)) gewährt und einer individuellen Option anheimgestellt. Zur Begründung führte der deutsche Verhandlungsführer Hans Globke an, daß nach neuer Auffassung im Deutschen Reich der Volkszugehörigkeit größere Bedeutung zukomme als der Staatsangehörigkeit, s. Globke, Regelung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse, S. 481. 98 Erlaß des Führers vom 16.3.1939, Art. II, s. Ruby, S. 608; Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 15.10.1941 (RMBliV 1941, S. 1837). Protektoratsangehörige wurden außerhalb des Protektorats, auch im Großdeutschen Reich, nur dort nicht als Ausländer behandelt, wo dies ausdrücklich angeordnet war, s. Globke, Protektoratsangehörigkeit, S. 456. 99 S.Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen (RGBl II, S. 896), §§ 1-4.; Erlaß des Führers über das Protektorat Böhmen und Mähren vom 16.3.1939, Art.II, Ruby, S. 610.

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dere Juden, sind niemals deutsche Volkszugehörige, auch wenn sie sich bisher als solche bezeichnet haben«.100 Diese Definition war grundlegend. Sie zog die Summe aus zwei Jahrzehnten deutscher Staatsangehörigkeitspolitik. Ihr erster Teil hob die politisch-kulturellen Elemente eines Begriffs, der sich nach 1918 gerade in Absetzung zur formal-juristischen Staatsangehörigkeit entwickelt hatte,101 in den Rang einer juristischen Definition. Er kombinierte das subjektive Element des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum mit objektiven kulturellen Merkmalen. War die Definition der deutschen Volkszugehörigkeit insoweit noch offen, als sie auf grundsätzlich erwerbbare Merkmale abstellte, zog ihr zweiter Teil gemäß der nationalsozialistischen Lehre die absolute, unüberwindbare Grenze der Rasse.102 Diese Definition wurde zur grundlegenden Selektionsnorm nationalsozialistischer Staatsangehörigkeitspolitik in den Gebietsbesetzungen des folgenden Eroberungskriegs. Sie war offen genug, das positive Bekenntnis zum Volkstum des Eroberervolks zu würdigen, andererseits aber nach verschärfbaren objektiven Kriterien jederzeit zu schließen.103 Die amtliche Festlegung der »deutschen Volkszugehörigkeit« ein halbes Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkrieges kündigte eine weitere Etappe in der Neudefinition der deutschen Staatsangehörigkeit an. Ihrer Radikalität wegen war sie nicht rückwirkend für das ›Altreich‹ durchsetzbar. Konnten nach bisherigem Recht auch ›Fremdblütige‹, so ζ. Β. Juden, noch deutsche Staatsangehörige sein, sollte für die Zukunft und zunächst in den besetzten Gebieten des osteuropäischen Raumes eine neue Formel gelten, die lautete: Nur »deutsche Volkszugehörige« können deutsche Staatsangehörige sein. Damit war die deutsche Staatsangehörigkeit zur rassischkulturellen geworden.

100 Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 29.3.1939 (RMBliV 1939, S. 785). 101 S. o. Kap. VII.2. 102 Insoweit war die Definition des »Volksdeutschen« eben nicht nur oder vornehmlich politisch, so aber Silagi, Vertreibung, S. 121. 103 Die beabsichtigte Flexibilität der Definition zeigt eine interne Ausführungsrichtlinie des Reichsinnenministeriums, die den Begriff »deutsche Volkszugehörigkeit« weiter faßt als »deutschstämmig« und das Bekenntnis, Angehöriger des deutschen Volkes zu sein, unter Umständen auch bei ›Nicht-Deutschstämmigen‹, d. h. Angehörigen des tschechischen, slowakischen, ukrainischen usw. Stammes genügen läßt, während umgekehrt auch »ganz Deutschstämmige« , wenn »sie ganz in einem fremden Volk aufgegangen sind«, nicht als »deutsche Volkszugehörige« anerkannt werden, s. Reichsminister des Innern an die außerpreußischen Landesregierungen, Regierungspräsidenten etc., 29.3.1939, BA-L, R 43 II/135a.

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4. Die Auflösung der Staatsangehörigkeit im Rassekrieg (1939-1945) Die substantielle Aushöhlung der Begriffe Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft in den Jahren, die auf die Nürnberger Rassegesetze folgten, hatte innerhalb der Führung des Reiches und der NSDAP immer wieder Versuche hervorgebracht, die neuen Entwicklungen im Staatsangehörigkeitsrecht systematisch zu kodifizieren und dabei nach Möglichkeit zu radikalisieren.104 Die Projekte waren an Kompetenz- und Meinungsverschiedenheiten gescheitert. Die Entfesselung des Weltkriegs durch das Deutsche Reich schuf eine grundlegend neue Situation. Die Eroberung weiter Räume Europas, die Unterwerfung und Ausbeutung ihrer Völker trugen eine Dynamisierung der Herrschaftslage in sich, der die einfachen, auf den Friedenszustand und territoriale Stabilität zugeschnittenen Kategorien des hergebrachten Staatsangehörigkeitsrechts nicht genügten. Ein äußerer Faktor schneller Veränderung waren die sehr verschiedene Intensität und der rasch wechselnde territoriale Umfang der deutschen Herrschaftsgewalt im Verlauf der Kriegscreignisse. Dabei lassen sich mehrere Stufen unterscheiden: Dem Deutschen Reich staatsrechtlich eingegliedert wurden die westlichen Teile Polens, als »eingegliederte Ostgebiete«, die Stadt Danzig und die Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet. Mit der Annexion war eine Selektion der Staatsangehörigkeit verbunden.105 Nur die »Bewohner deutschen oder artverwandten Blutes« der eingegliederten Gebiete sollten die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Nur »Volksdeutsche« konnten darüber hinaus »Reichsbürger« werden.106 Betrafen diese Annexionen ehemals deutsche Gebiete mit hohen ›(volks)deutschcn‹ Bevölkerungsanteilen, war die Behandlung der Elsaß-Lothringer komplizierter. Nach dem Sieg über Frankreich im Sommer 1940, das zunächst als beschnittener Reststaat bestehenbleiben sollte, wurden keine französischen Gebiete annektiert. Erst 1942 erhielten »deutschstämmige Elsässer, Lothringer und Luxemburger«, sofern sie in die Wehrmacht oder Waffen-SS eintraten oder als »bewährte Deutsche« anerkannt wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit, 104 Main, S. 2()7f. 105 Die Angehörigen der gleichfalls annektierten altbelgischen Gebiete in Eupen, Malmedy und Moresnet erhielten lediglich die Staatsangehörigkeit auf Widerruf, s. Schärer, Deutsche Annexionspolitik im Westen, Frankfurt/Main 1975, S. 149f. 106 Nur in dem mit Kriegsbeginn eroberten Danzig sollten zunächst alle Danzigcr Staatsangehörigen auch deutsche Staatsangehörige werden (Gesetz über die Wiedervereinigung der Freien Stadt Danzig mit dem Deutschen Reich vom 1.9.1939 (RGBl I, S. 1547), § 2). Die »eingegliederten Ostgebiete« bestanden aus den »Reichsgauen« Danzig-Westpreußen und Wartheland sowie den Provinzen Schlesien und Ostpreußen, s. Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8.10.1939 (RGBl I, S. 2042), §§1,4, 6; Erlaß des Führers und Reichskanzlers zur Durchführung der Wiedervereinigung der Gebiete von Eupen, Malmedy und Moresnet mit dem Deutschen Reich vom 23.5.1940 (RGBl I, S. 803), § 2.

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andere nur aufWiderruf. Die abgestufte Einbürgerung ausgewählter Personengruppen wahrte zum einen außenpolitische107 Rücksichten, und zwar sollte der Anschein einer Annexion vermieden werden, zum anderen diente sie Rekrutierungszwecken. Überdies diente die Mischung aus Privileg und Vorbehalt bei der Einbürgerung nach Ansicht deutscher Zivilbehörden als Erzichungsinstrument bei der ›Rückdeutschung‹ der Bevölkerung Elsaß-Lothringens, in der sich deutlich Strömungen der Opposition und passiven Resistenz gegenüber der deutschen Besatzung abzeichneten.108 Eine weitere Gruppe bildeten die ehemaligen jugoslawischen Staatsangehörigen in den Gebieten der Untersteiermark, Kärntens und Krains. Nach ihrer Besetzung durch deutsche Truppen, als »Befreiung« in der nationalsozialistischen Gesetzessprache bezeichnet, im April 1941 konnten die Bewohner dieser Gebiete - auch ohne deren formelle Annexion - in das Deutsche Reich eingebürgert werden, wobei sich die Kategorien verschoben hatten. Personen »deutscher Volkszugehörigkeit« wurden nur mehr ›cinfache‹ Staatsangehörige, nicht mehr Reichsbürger wie in den eingegliederten »Ostgebieten«. Waren sie lediglich »deutschen oder artverwandten Blutes«, erhielten sie den minderen Status des deutschen Staatsangehörigen »aufWiderruf«.109 In entsprechender Weise wurde »deutschen Volkszugehörigen« im Gebiet des besetzten »Reichskommissariats Ukraine« die deutsche Staatsangehörigkeit teils unbedingt, teils widerruflich zuerkannt.110 Der Überblick zeigt die vielfältigen Abstufungen des verliehenen Staatsangehörigkeitsstatus. Je nach dem Grad der staatlichen Eingliederung und der ethnischen Mischlage des besetzten Gebietes, nach der Loyalität zum deutschen Volkstum und entsprechend der Rücksichtnahme auf außenpolitische und militärische Gegebenheiten wurden territorial verschiedene Regelungen eingeführt. Hinzu kamen Aufnahmeregelungen für »deutsche Volkszugehörige«, die zu Hunderttausenden111 aus osteuropäischen Gebieten in das Deutsche 107 Das Reichsinnenministeriurn (Staatssekretär Stuckart) sah darin einen Kompromiß zwischen dem Bedürfnis, eine Vorwegnahme der territorialen Lösung gegenüber Frankreich zu vermeiden und zugleich die Einführung der Wehrpflicht vorzubereiten, s. Reichminister des Innern, Niederschrift über die Sitzung am 27.10.1941, BA-L, R 43 11/137; Verordnung über die Staatsangehörigkeit im Elsaß, in Lothringen und in Luxemburg vom 23.8.1942 (RGBl I, S. 533). 108 S. dazu Kettenacker, S. 221 f., 230, 238. 109 Verordnung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit in den befreiten Gebieten der Untersteiermark, Kärntens und Krains vom 14.10.1941 (RGBl I, S. 648); Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 10.2.1942 (RMBliV 1942, S. 734). 110 Verordnung über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die in die Deutsche Volksliste der Ukraine eingetragenen Personen vom 19.5.1943 (RGBl I, S. 321), wobei dafür die Abstufungen der Deutschen Volksliste zugrunde gelegt wurden, vgl. dazu Fleischhauer, Das Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion, S. 185f. 111 Nach einer Aufstellung des Reichsinnenministeriums (vgl. Globke, Staatsangehörigkeit der Volksdeutschen Umsiedler, S. 2) waren bis zur ersten Jahreshälfte 1943 insgesamt 544.950 Volksdeutsche aus Estland, Litauen und Lettland, Wolhynien, Galizien und dem Narewgebiet, aus Bes-

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Reich umgesiedelt wurden. Bei der ersten Gruppe handelte es sich um deutsche Volkszugehörige, die in der vom Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 abgesteckten sowjetischen Interessenzone siedelten. Sowohl aus außenpolitischen als auch aus volkstumspolitischcn Interessen drängte das Deutsche Reich die deutschen Volksgruppen dieser Gebiete, in ein Land umzusiedeln, das ihre Vorfahren vielfach bereits Generationen zuvor verlassen hatten. Die formelle Freiwilligkeit der vertraglich vereinbarten Umsiedlungsaktionen widersprach im Baltikum wie in den anderen Umsiedlungsgebieten oftmals den Tatsachen. Die Umsiedlung erfolgte aus Furcht vor Deportationen, wirtschaftlicher Verelendung und Rechtlosigkeit und war deshalb in vielen Fällen eine kaschierte Zwangsumsiedlung.112 Umgesiedelt wurde, wer »deutscher Volkszugehörigkeit«113 war und dies durch sein Bekenntnis unter Beweis stellte. Er wurde dann in einem vereinfachten und beschleunigten Verfahren in die deutsche Staatsangehörigkeit aufgenommen, wobei sich jedoch die Einbürgerungsbehörden im Reich rassische oder politische Ausschlußgründe vorbehielten.114 Das Merkmal »deutsche Volkszugehörigkeit«, das in der Zeit des Ersten Weltkriegs zum nationalen Stigma im Russischen Reich geworden war, wurde nunmehr als ein rechtliches Instrument ethnischer ›Entmischung‹ eingesetzt. Eine Kennzeichnung, die im russischen Herrschaftsgebiet als Mischung aus nationalistischer Selbstdefinition und Fremdzuschreibung entstanden war,115 machte der natiosarabien, der Nord- und Südbukowina, der Dobrudscha, dem rumänischen Altreich, aus Bulgarien, Griechenland, Serbien, Kroatien, den italienisch gewordenen Teilen des ehemaligenjugoslawien und dem östlichen Generalgouvernement umgesiedelt worden. Andere Angaben (s. Militärgeschichtliches Forschungsamt, S. 272), nennen für den Stichtag 31.12.1942 611.945 Umsiedler. Allein in den »eingegliederten Ostgebieten« hatten 1944 750.000 Umsiedler Aufnahme gefunden, s. Harten, S. 99f 112 Vgl. z. B. zum Baltikum Loeber, S. 33f: »Totalitäre Maßnahme«; für Bessarabien und die Nordbukowina vgl.Jachomowski, S. 80f; zu Elementen des Zwangs bei den Südtiroler Volksdeutschen, die 1939/40 zu neunzig Prozent für Deutschland optierten s. Stuhlpfarrer, S. 189, 202. 113 S. Vertrauliches Dcutsch-Sowjetisches Protokoll über die Übersiedlung von Personen aus den Interessengebieten der Vertragspartner vorn 28.9.1939, in: Loeber, S. 46; Runderlaß des Reichsministers des Innern betr. Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch estnische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit vom 29.12.1939 (RMBliV 1940, S. 13); Runderlaß des Reichsministers des Innern betr. Erwerb der Deutschen Staatsangehörigkeit durch lettische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit vom 10.11.1939 (RMBliV 1939, S. 2325); Runderlaß des Reichsministers des Innern betr. Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch ehemals polnische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit aus Ostpolen vom 15.4.1940 (RMBliV 1940, S. 803); Runderlaß des Reichsministers des Innern betr. Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch deutsche Volkszugehörige aus Litauen vom 5.12.1941 (RMBliV 1941, S. 2167). 114 S. Loeber, S. 48. Die Zurückweisungen aus rassischen Gründen häuften sich, zumal die Furcht vor Deportation und Diskriminierung bzw. die I loffnung auf wirtschaftliche Besserstellung auch »Nicht-Volksdeutsche« zum Verlassen ihrer Siedlungsgebiete bewog, s.Jachomowski, S. 144. 115 S.o. Kap. VI.l.

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nalsozialistischc Staat zum Mittel einer völkischen Staatsangehörigkeitspolitik. Denn das verbindende Grundmotiv der deutschen Staatsangehörigkeitspolitik in den Gebiets- und Bevölkerungsverschiebungen des Zweiten Weltkriegs war ein doppeltes, nämlich die deutsche Staatsangehörigkeit zum ethnisch reinen Reservat »deutscher Volkszugehöriger« zu formen und durch sie eine Privilegiengrenze gegenüber völkisch Fremden und ›Minderwertigen‹ zu markieren. Die Staatsangehörigkeit im Zweiten Weltkrieg wurde zur Funktion der nationalsozialistischen Rassepolitik. Dies bereitete sich institutionell dadurch vor, daß Hitler im Oktober 1939 die zentrale Zuständigkeit für alle Angelegenheiten »zur Festigung deutschen Volkstums« dem Reichsführer SS übertrug.116 Damit lagen die Rückführung der Reichs- und Volksdeutschen ins Reich, die Abwehr von Gefahren für die ›deutsche Volksgemeinschaft und die Schaffung neuer Siedlungsgebiete in den Händen einer Organisation, die neben den staatlichen und militärischen Stellen das ideologische Machtzentrum und die treibende Kraft der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik im Krieg wurde. In seiner Funktion als »Reichskommissar zur Festigung deutschen Volkstums« wirkte der Reichsführer SS zudem in jede staatliche Planung hinein, die ›Volkstumsangelegenheiten‹ berührte. Dies betraf insbesondere den Schlüsselbegriff des nationalsozialistischen Staatsangehörigkeitsrechts, die Definition und praktische Handhabung der »deutschen Volkszugehörigkeit«. So zeichnete der Reichsführer SS zusammen mit dem in Staatsangehörigkeitssachen federführenden Reichsinnenminister die »Verordnung über die deutsche Volksliste«, die zur Basiskodifikation des rechtlichen »Volkstumskampfs« im Zweiten Weltkrieg wurde.117 Die Verordnung vom 4. März 1941 enthielt grundsätzliche Voraussetzungen, unter denen in den eingegliederten Ostgebieten die deutsche Staatsangehörigkeit vergeben wurde. Sic regelte damit eine seit Kriegsbeginn unklare Rechtssituation in einem Gebiet, das radikale Volkstums- und Rassepolitiker der Partei und SS zum zentralen Experimentierfeld der Selektion »deutscher Volkszugehöriger« von »Fremdvölkischen« gemacht hatten. Bezüglich der Frage, wie die rechtliche Trennlinie zu ziehen war, standen sich zwei Auffassungen gegenüber. Das Reichsinnenministerium, das die Kontinuität nationalsozialistischer Staatsangehörigkeitspolitik aus der Vorkriegszeit vertrat, hatte die generelle Einstufung der Polen als Volksgruppe »artverwandten Blutes« und damit als potentielle deutsche Staatsangehörige befürwortet. Diese extensive Auslegung des Begriffs »deutsche Volkszugehörigkeit« zielte auf eine möglichst große Zahl von ›Eindeutschungen‹ in dem ethnischen Mischgebiet, dessen Gesellschaft 116 Adam, S. 252. 117 S. Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 4.3.1941 (RGBl I, S. 118); dazu Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 13.3.1941, nicht veröffentlicht, abgedruckt in Documenta Occupationis Teutonicac, S. 122-139.

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von den gewaltsamen Volkstumskämpfen der Zwischenkriegszeit und der ersten Kriegsphase zerklüftet war.118 Demgegenüber verfolgten der Reichsführer SS, der die eingegliederten Gebiete mit einem dichten Organisationsnetz überspannte, und die örtlichen Parteiorganisationen eine restriktive Linie. In Danzig-Westpreußen, insbesondere aber im Warthegau, verbanden sich die nationalen und sozialen Interessen der zu örtlichen Honoratioren aufgestiegenen ehemaligen »aktiven« Volksdeutschen mit dem weltanschaulich dominierten Interesse regionaler Sicherheitspolizei an der »Polenabwehr« zu einer scharfen Abgrenzungspolitik. Deren Grundlinien bestimmten die Verordnung über die Deutsche Volksliste. Mit Unterstützung Hitlers hatten sich damit die rasse- und volkstumspolitischen Prinzipien der SS und der lokalen Parteiführung durchgesetzt. Die Volksliste stufte die ehemaligen polnischen und Danziger Staatsangehörigen, die in den eingegliederten Ostgebieten über neunzig Prozent der mehr als neun Millionen Einwohner zählten, in vier Abteilungen ein, die den Grad der Würdigkeit zur Aufnahme in die deutsche Staatsangehörigkeit ausdrückten. Politisch entscheidend aber war, wie die formalen Klassifikationen gefüllt wurden. In einer internen Ausführungsrichtlinie suchte das Reichsinnenministerium, dem das Klassifikationsschema vorgegeben worden war, Definitionsmacht zurückzugewinnen, und fomulierte einleitend den extensiven Grundsatz: »Für die Eintragung in die Deutsche Volksliste ist wesentlich, daß kein deutsches Blut verloren geht und fremdem Volkstum nutzbar gemacht werden darf. Aktive Betätigung für das Deutschtum ist daher nicht Voraussetzung für die Eintragung in die Deutsche Volksliste. Auch ein gleichgültiger oder gar ein schlechter Deutscher bleibt Deutscher, und es muß - wenn schon nicht seinetwegen, so doch seiner Kinder wegen - verhütet werden, ihn gegen seinen Willen in das nichtdeutsche Lager abzudrängen und diesem dadurch deutsches Blut zuzuführen. In den Ostgebieten darf keinem Deutschen der Zugang zur deutschen Volksgemeinschaft verwehrt werden.«

Daraus ergab sich eine Abstufung unter den drei Kernkriterien des Volkstumsnachweises: das »Bekenntnis zum deutschen Volkstum«, die »Abstammung« und die »Rassische Eignung«.119 Dem »Bekenntnis zum deutschen Volkstum« 118 Vgl. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 124. Das Reichsinnenministerium betonte, Deutschland habe ein Interesse daran, daß die Zahl der als deutsche Volkszugehörige anzuerkennenden Eingesessenen möglichst groß sei. Der Abstammung sei nicht ausschlaggebende Bedeutung beizulegen; anderenfalls könne ein Großteil der Bevölkerung z. B. Schleswig-Holsteins oder Schlesiens nicht als Deutsche anerkannt werden. Auch die aktive Betätigung für das Deutschtum könne nicht den Ausschlag geben, denn »Auch ein gleichgültiger oder gar ein schlechter Deutscher bleibt ein Deutscher«, ebd., S. 124. Diese Formulierung wurde aufgegriffen im Runderlaß des Reichsinnenministeriums vom 13.3.1941 ( Documenta Oaupationis Teutonicae, S. 123); Harter, S. 99f. 119 Das Reichsinnenministerium knüpfte damit an die dreigeteilte Definition der »deutschen Volkszugehörigkeit« des Runderlasses vom 29.3.1939 (RMBliV, S. 785) an.

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sollte nicht mehr die allein maßgebliche Bedeutung für die Einordnung als Deutscher beigemessen werden, um bloße »Lippenbekenntnisse« angeblicher Aktivisten im Volkstumskampf gegen die polnische »Fremdherrschaft« vor Kriegsbeginn auszuschließen. Statt dessen sollte der »Abstammung« -wenn nicht ausschließliche - so doch »wesentliche Bedeutung« zukommen. Grundsätzlich sollte die Aufnahme »fremdstämmiger Personen« (unter anderem Polen) in die deutsche Volksgemeinschaft »nur mit Vorsicht« erfolgen. Dies lag daran, daß das Kriterium der Fremdstämmigkeit in einer charakteristischen Unschärfe zugleich kulturell wie rassebestimmt war. Bis zu einem gewissen Grad war Fremdstämmigkeit tolerierbar, jenseits dessen schlug sie jedoch in eine unerwünschte »rassische Zusammensetzung« um. Während also die »Abstammung« Spielräume der ›Eindeutschbarkeit‹ ließ, war dies ausgeschlossen bei rassisch Ungeeigneten, sogenannten »Fremdblütigen« (»Juden, Zigeuner(n), Angehörige(n) außereuropäischer Rassen«). Dies sollte jedenfalls für »Vollfremdblütige« gelten, während »fremdblütige Mischlinge« 1. Grades , die sich »aktiv unter besonderen Opfern für die deutsche Sache« eingesetzt hatten, ausnahmsweise als deutsche Volkszugehörige anerkannt werden konnten. Die Kriterien ließen in ihren begrifflichen Unschärfen weite Spielräume, was den Stellenwert sowohl der »Rasse« als auch des »Bekenntnisses zum Deutschtum« anging. Letzteres Kriterium wurde besonders prämiert, indem diejenigen Volksdeutschen, und zwar auch die Angehörigen der »völkisch nicht klar einzuordnenden, blutmäßig und kulturell zum Deutschtum hinneigenden Bevölkerungsgruppen mit slawischer Haussprache«, die sich vor dem Krieg entweder aktiv im Volkstumskampf für das Deutschtum eingesetzt oder dieses doch zumindest bewahrt hatten, in die Abteilungen 1 und 2 der Volkstumsliste eingestuft wurden. Diese beiden ersten Kategorien Volksdeutscher wurden mit der Eintragung in die Volksliste deutsche Staatsangehörige, zudem mit der Aussicht auf den privilegierten Status der »vorläufigen Reichsbürger«.120 Die eigentlich problematische, angesichts der sprachlich-kulturell ganz überwiegend polnisch geprägten Gebiete auch zahlenmäßig weitaus bedeutendste Gruppe betraf die Abteilung 3. Sie sollte eine deutsch-polnische Mischgruppe erfassen, die - sei es durch kulturelle Bindungen, sei es durch Eheschließungen - Bindungen zum jeweils anderen Volkstum eingegangen und nunmehr »völkisch nicht klar« einzuordnen war. Zu ihr gehörten etwa auch die »zum Deutschtum hinneigenden Bevölkerungsgruppen mit slawischer Haussprache«, z. B. die Kaschuben im Reichsgau Danzig-Westpreußen und die Masuren im Kreis Suwalken. Diese Gruppe sollte nur durch individuelle Einbürgerung 120 Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 13.3.1941, Abschnitt II. (4), (5), (6) und III. (10) und (11). Nach einem Erlaß des Reichsführers SS sollten jedoch nur Angehörige der Abteilung 1 in die Partei aufgenommen werden, vgl. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 125, Anm. 1.

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im Einvernehmen mit dem Reichsführer SS »auf Widerruf«121 in die deutsche Staatsangehörigkeit aufgenommen werden. Schließlich sollte in der Abteilung 4 der Status der deutschen Staatsangehörigkeit »auf Widerruf« zunächst an sogenannte »Renegaten« erteilt werden, »aktiv verpolte Deutschstämmige« in der Sprache des Nationalsozialismus, die sich vor 1939 deutschfeindlich betätigt hatten.122 Hinzu kamen diejenigen, die zwar nicht deutscher Volkszugehörigkeit waren, aber zu den »als eindeutschbar anerkannten, rassisch wertvollen fremden Volkszugehörigen« gehörten. In dieser Auffangkategorie, die den rassischen Selektionskriterien des Reichsführers SS unterlag, konnten also negative Volkstums- durch positive Rassemerkmale überspielt werden.123 Jenseits der Kategorien der Volksliste, nicht einbürgerbar und »eindeutschbar«, sollte die »große Masse der nichtdeutschen Bevölkerung« der Ostgebiete stehen. Diese Bewohner sollten unterhalb der deutschen Staatsangehörigkeit den minderen Status von »Schutzangehörigen« erhalten, der ihnen lediglich nicht näher definierte »beschränkte Inländerrechte« vermittelte.124 Die rechtliche Kategorisierung und Institutionalisierung der Volkstumserfassung hob sich indessen scharf ab von ihrer praktischen Umsetzung.125 Die Einschaltung von SS-Dienststellen sowohl in die Normierung als auch in die praktische Anwendung der Volkstumskategorien, ihre Durchsetzung restriktiver rassischer Überprüfungskriterien durchkreuzte oftmals die extensive Auslegung der »auf die Rückgewinnung deutschen Blutes« abzielenden staatlichen Verwaltungsstellen. Ein gesondertes Rasseprüfungsverfahren der SS-Dienststellen verlief vielfach ohne inhaltliche Abstimmung mit dem Volkslistenverfahren. Hinzu kamen scharfe regionale Unterschiede. Wurden im »Mustergau« Wartheland besonders restriktive rassische Kriterien der ›Eindeutschung‹ angelegt, verfuhren die Behörden in Danzig-Westpreußen und Oberschlesien angesichts einer breiten deutsch-polnischen Zwischenschicht relativ großzügig, ignorierten die Rasseprüfung bzw. schafften sie sogar ab.126 Die Verwaltungschefs der Gaue handelten im Verfahren der ›Eindeutschung‹ vielfach eigenmächtig, ohne Abstimmung mit übergeordneten Dienstsstellen oder gar in Gegensatz zu deren Anordnungen. Angesichts dieses Wirrwarrs verfehlte die Volkstumspolitik nicht nur ihre Zielsetzung, die Selektion ›eindeutschungs121 Aufgrund der Zweiten Verordnung über die Deutsche Volksliste vom 31.1.1942 (RGBl I, S. 51). 122 S. Harten, S. 101. 123 Gemäß Nr. (12) Runderlaß konnte der Reichsführer SS, Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, Richtlinien für die als »eindeutschbar anerkannten« nichtdeutschen Volkszugehörigen aufstellen. Die Praxis der Eindeutschungspolitik wurde in der Folgezeit von den Richtlinien des Reichsführers SS bestimmt, die die Richtlinien des Reichsinnenministeriums modifizierten und zumeist verschärften, s. dazu Harten, S. 101f. 124 Vgl. Nr. (12) und (13) des Runderlasses vom 13.3.1941. 125 Zur Planung und Praxis der Germanisierungspolitik s. Harten, S. 105f. 126 S. Majer, S. 425.

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fähigen polnischer Gebietsangehöriger, sie verkehrte sich sogar in ihr Gegenteil. Die ›eingedeutschten‹ Polen der Abteilungen 3 und 4 der Volksliste waren nur mehr formal den »reichsdeutschen« Staatsangehörigen gleichgestellt. In der Praxis wurden sie sowohl von den Behörden als auch von den »Reichsdeutschen« vielfach schlecht behandelt. Die gerade im Warthegau immer wieder mit harten Druckmaßnahmen durchgesetzte ›Eindeutschung‹ setzte Familienzusammenhänge unter Druck oder riß sie auseinander. Dies minderte ungeachtet einzelner Vorteile, welche die deutsche Staatsangehörigkeit bot, die Akzeptanz des Eindeutschungsverfahrens in der polnischen Bevölkerung, verzögerte die Eintragung und steigerte sich in der letzten Kriegsphase zu Fällen offener Renitenz, die die deutschen Behörden mit Einweisungen in Konzentrationslager und Hinrichtungen bekämpften. Die Freiwilligkeit des Volkslistenverfahrens blieb somit weitgehend fiktiv.127 Dem Chaos der Kompetenzen und politischen Leitlinien entsprach das begriffliche Chaos der Volkstumspolitik. Mit den Bezeichnungen »fremdstämmig«, »deutschstämmig«, »deutscher Blutsanteil«, »eindeutschungsfähig« usw. beherrschten Begriffe die politische Praxis, die dem tradierten deutschen Staatsangehörigkeitsrecht fremd waren und angesichts ihrer weitreichenden praktischen Konsequenzen der Definition bedurften. Zu derartigen Bestimmungen, die eine einheitliche politische Definitionsgewalt sowohl vorausgesetzt als auch festgeschrieben hätten, kam es indessen nie. Selbst zentrale Normbegriffe wie »Pole« oder »Angehörige polnischen Volkstums« - gerade in ihren Unterschieden zu »Deutschen« und »Deutschtum«- wurden nicht einheitlich definiert.128 Darin spiegelt sich nicht nur das uneingestandene Bewußtsein, daß »Deutsche« und »Polen«, ebenso wie der Begriff »deutschen oder artverwandten Blutes«, tatsächlich nicht essentialistisch-rassisch, sondern nur mehr politisch zu bestimmen waren, sondern auch das - durch vielfache Konkurrenz gesteigerte - Bedürfnis, die Begriffe offenzuhalten, um sie wechselnden politischen Interessenlagen anpassen zu können. Der polykratische Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft während des Zweiten Weltkriegs findet somit in der begrifflichen Auflösung der Volkstums- und Staatsangehörigkeitspolitik seine Entsprechung. Hatten danach die Rechtstermini keine begriffliche Klarheit, ermangelte es ihnen durchaus nicht der rationalen Funktion. Sie repräsentierten in ihrer Gesamtheit einen Zustand vielfach gegliederter Uneinheitlichkeit, der durch eine Zielsetzung zusammengehalten wurde: die Etablierung eines hierarchischen Herrschaftssystems. Nicht die abschließende rechtliche Fixierung der Herr127 Eingehend mit Beispielen Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 128f., 133; zusammenfassend Majer, S. 424-431. 128 Lediglich eine negative Definition über die »Nichtzugehörigkeit zum polnischen Volk« erfolgte in einem Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 14.11.1940 (RMBliV, S. 2111).

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Schaftsschichten, sondern ihre bloße Existenz war ausschlaggebend, indem sie symbolisch ein Herrschaftsgefälle etablierten und über Lebenschancen entschieden. Daran wirkte die Staatsangehörigkeit als Instrument der Volkstumspolitik entscheidend mit. Die in Abteilung 1 und 2 der Deutschen Volksliste Eingestuften, die im Sammelverfahren eingebürgert wurden, sollten eine schmale Elite deutschen Volkstums darstellen,129 deren aktives Festhalten am deutschen Volkstum gegen politische Widerstände mit der Aufnahme in das Privileg der Reichsbürgerschaft 130 prämiert wurde. Demgegenüber konnten die in Abteilung 3 Eingestuften, die annähernd zwei Drittel der ›Eingedeutschten‹ ausmachten, im Verfahren der Einzeleinbürgerung grundsätzlich nur mit Zustimmung des Reichsführers SS in die deutsche Staatsangehörigkeit aufgenommen werden. Die Angehörigen dieser Gruppe, in der sich die Grenzen zwischen ›Deutschtum‹ und ›Polentum‹ verwischten, waren ihrem formalen Status nach Deutsche, aber lediglich Deutsche »auf Widerruf«. Ihre Staatsangehörigkeit konnte binnen zehn Jahren widerrufen werden, falls z. B. der Versuch einer Eindeutschung mißlungen war.131 Zwar standen sie in ihrem formalen Status »reichsdeutschen« Staatsangehörigen gleich, unterlagen aber, wie gezeigt, gerade wegen ihrer Zwischenlage Diskriminierungen durch die Behörden und die übrigen Gruppen vollberechtigter Staatsangehöriger.132 Noch diskriminierender wirkte die Eintragung in Abteilung 4 der Deutschen Volksliste für diejenigen Bewohner der Ostgebiete, die zuvor »im Polentum aufgegangen waren«. Die Gruppen 3 und 4 bildeten »Deutschtums-Anwärter auf Probe«,133 deren vorläufiger Status binnen zehn Jahren widerrufen werden konnte. Zwar waren sie arbeitsrechtlich und in Belangen der Ernährung den Deutschen gleichgeordnet. Sie unterstanden jedoch besonderer Erziehung und Überwachung durch Stellen der Partei und der Sicherheitspolizei. Sie waren von Beamtenstellen ausgeschlossen, unterlagen der Genehmigungspflicht bei Eheschließungen und einer erheblichen Verkürzung ihrer Bildungsmöglichkeiten sowie ihrer bürgerlichen Rechte und Vermögensrechte.134 129 Nach dem Stand des Volkslistenverfahrens vom Januar 1944 entfielen von insgesamt 9,5 Millionen Einwohnern der eingegliederten Ostgebiete 1,003 Millionen auf die Abteilungen 1 und 2, insgesamt also 10,6 %, vgl. die Zusammenstellung bei Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 134. 130 Die Ankündigung im Runderlaß des Reichsinnenministers vom 13.3.1941, Nr. 10 (s. o.), die Angehörigen der Listen 1 und 2 zu »vorläufigen Reichsbürgern« zu machen, wurde indessen nicht rechtlich ausgeführt. Nur Angehörige der Abteilung 1 sollten als Parteimitglieder zugelassen werden, s. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 125, Anm. 1. 131 Aufgrund der Zweiten Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 31.1.1942 (RGBl I, S. 51), III.; s. dazu den Runderlaß vom 13.3.1941, Nr. 12. 132 Majer, S. 429. 133 Vgl. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 133, 135. 134 Vgl. Harten, S. 102f. Angehörige der Abteilung 4, die als asozial, »erbbiologisch minderwertig« oder politisch stark belastet galten, sollten nicht ins Reich zur Eindeutschung verschickt,

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Zeichnet sich darin eine deutliche Binnenhierarchie im Rechtsstatus der deutschen Staatsangehörigkeit ab, lag der entscheidende Hiatus zwischen Staatsangehörigen und bloßen »Schutzangehörigen«. Nicht die Eindeutschung einer Minderheit, sondern die Selektion und Segregation dieser Gruppe, die schließlich mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung in den Ostgebieten ausmachte, war das Hauptergebnis der Volkstumspolitik. Der Rechtsstatus dieser als »fremdvölkisch« stigmatisierten Mehrheit wurde nie näher definiert.135 Bereits der terminologische Anklang an den minderen Status des vormodernen Stadtbürgerrechts, die Schutzverwandtschaft, zeigte die Zielrichtung der Kategorisierung als »Schutzangehöriger« an: Im Gegensatz zur euphemistischen Behauptung der Schutzgewähr waren »Schutzangehörige« prinzipiell rechtlos und damit unbegrenzt diskriminierbar.136 An ihnen schied sich nach nationalsozialistischer Rasselehre die germanische ›Herrenrasse‹ von der ›Sklavenrasse‹, deren Arbeitskraft und Leben beliebig verfügbar waren. Ähnlich kolonialen Verboten der ›Rassenmischehe‹ durften polnische »Schutzangehörige« der eingegliederten Ostgebiete keine Ehen mit anderen Personen eingehen37 und wurden einem terroristischen Sonderstrafrecht unterworfen. Sie unterlagen einschneidenden Beschränkungen der Freizügigkeit und persönlichen Bewegungsfreiheit, z. B. der Konzentration in Lagern bei Massenepidemien. Die Trennung von »Deutschen« und »Fremdvölkischen« und deren Isolierung von der Außenwelt diente der Lenkung des Arbeitseinsatzes und der Vorbereitung von Massendeportationen aus den Ostgebieten. Schließlich griffen diskriminierende Regelungen direkt in die materielle Existenzgrundlage der Schutzangehörigen ein. »Fremdvölkische« Polen wurden bei der Lebensmittelzuteilung diskriminiert und auf den gegen Kriegsende immer geringer werdenden Rest an Lebensmitteln verwiesen, den die deutschen Staatsangehörigen ihnen zuteilten. Waren insoweit noch Parallelen zu der wirtschaftlichen Entrechtung der Juden im Altreich festzustellen, erreichten die »fremdvölkischen« Juden in den eingegliederten Ostgebieten den Endpunkt der Diskriminierung. Noch unter den »schutzangehörigen« Polen stehend wurden sie - ebenso wie die Zigeuner - auch vom Erwerb der Schutzangehörigkeit ausgeschlossen.138 Staatsangehörigkeitsrechtlich waren sie damit ein Nullum, Staatenlosen gleichgestellt und damit jeglichen staatlichen Schutzes beraubt. sondern in Konzentrationslager überführt werden, s. Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 133, Anm. 3. 135 Majer, S. 428. 136 Zu den Überlegungen einer systematischen Kodifizierung der »Schutzangehörigkeit«, die schließlich zugunsten einer »elastische(n) Lösung« aufgegeben wurde, s. Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, R 46256. 137 Dazu im einzelnen eingehend Majer, S. 386f, insbesondere S. 431 f. 138 Aufgrund der Zweiten Verordnung über die Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 31.1.1942 (RGBl. I, S. 51), §§ 4 Abs. 2, 7 Abs. 2.

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Die Staatenloserklärung der Juden in den eingegliederten Ostgebieten ist wie das Instrumentarium der Deutschen Volksliste insgesamt paradigmatisch für den Stellenwert des allgemeinen Staatsangehörigkeitsrechts im Krieg. Es verlor seine zentrale Gestaltungskraft. Rechtliche Konstruktionen wie die »Staatsangehörigkeit auf Widerruf« und die »Schutzangehörigkeit« waren im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht vor dem Krieg unbekannt. Sie wurden zum Zweck der rassepolitischen Kontrolle der eingegliederten Ostgebiete eingeführt und erst von dort in verspätete, allgemeine Vorschriften des um seine Gestaltungskraft gebrachten Reichsinnenministeriums übernommen.139 Im April 1943 wurden die Juden nach dem Muster der eingegliederten Ostgebiete im gesamten Reichsgebiet aus der deutschen Staatsangehörigkeit ausgestoßen. Gerade die nachholende rechtliche Formgebung macht deutlich, daß das Staatsangehörigkeitsrecht spätestens mit der Einrichtung des Volkslistenverfahrens im Frühjahr 1941 jede institutionelle Eigenständigkeit eingebüßt hatte und zum politisch verfügbaren Instrument der rassischen Völkstumspolitik geworden war. Die rechtlichen Strukturen der tradierten Institution Staatsangehörigkeit lösten sich unter dem Druck des Rassestaats auf Die Legitimierung von Sammeleinbürgerungen, die in der Praxis vielfach Zwangseinbürgerungen waren, ihr systematischer Einsatz zur Umsiedlung als Mittel staatlicher Bevölkerungspolitik schlechthin veränderte zugleich die ideelle Grundlage der Institution. Der liberale Grundsatz autonomer Willensentscheidung über Aufnahme und Aufgabe einer Staatsangehörigkeit, der vom Beginn des 19. Jahrhunderts an das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht geprägt hatte, wurde dem kollektivierenden staatlichen Zugriff ausgeliefert.140 Die »Staatsangehörigkeit auf Widerruf« löste die Berechenbarkeit dieses rechtlichen Fundamentalstatus und damit die individuelle Rechtssicherheit einer Staatsbürgerschaft auf. Der »Schutzangehörige« war nur scheinbar eine rechtliche Figur zur Kennzeichnung einer »minderen Form der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich«.141 139 Vgl. die Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen vom 20.1.1942 (RGBl. I, S. 40), mit der Einführung der Sammeleinbürgerung und der Staatsangehörigkeit auf Widerruf; Zwölfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.4.1943 (RGBl 1, S. 268) mit der allgemeinen Einführung der Schutzangehörigkeit und der Staatenloserklärung der Juden. Das Reichsinnenministerium hatte Mühe, der im März 1941 eingeführten Schutzangehörigkeit irgendeine rechtliche Kontur zu geben. Die Schutzangehörigkeit sollte »eine mindere Form« der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich bezeichnen, ohne »Sonderrecht« darzustellen. Sie sollte »beschränkte Inländerrcchte« vermitteln, zugleich aber nicht bindend festgelegt werden, um eine »elastische Behandlung« des Instituts zu ermöglichen, s. Reichsminister des Innern (gez. Stuckart) an die Obersten Reichsbehörden, 16.6.1941, BA-L, R 43 11/137. 140 So betonte das Reichsinnenministerium, es entspreche »den Grundsätzen des autoritären Staates«, das Ausscheiden aus dem Staatsverband nicht dem Willen des Einzelnen zu überlassen, Reichsminister des Innern, Begründung einer Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen, 6.12.1941, BA-L, R 43 II/137. 141 Reichsminister des Innern (gez. Stuckart) an die Obersten Reichsbehörden, 16.6.1941, BA-L, R 43 11/137.

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Tatsächlich handelte es sich um eine bürokratische ad-hoc-Konstruktion zur Selektion, zur wirtschaftlichen Ausbeutung142 und Entrechtung ›fremdvölkischer Minderwertigen. Ungehindert von den Bindungen der hergebrachten Institution Staatsangehörigkeit durchschnitt das nationalsozialistische Regime deren Konventionen, so unter anderem auch die Vermeidung von Doppelstaatsangehörigkeit. »Aus politischen Gründen«, betonte das Reichssinnenministerium einen Monat nach Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion, habe es sich »als notwendig erwiesen, den deutschen Einfluss in den benachbarten germanischen Ländern auch durch persönliche Bindungen zu verstärken. Dies geschieht vorläufig vor allem durch die Aufnahme von Angehörigen dieser Länder in deutsche Dienste, insbesondere in die Waffen-SS (Standarten Nordland und Westland) und neuerdings freiwillige Formationen, die im Rahmen der Wehrmacht gegen die Bolschewisten kämpfen sollen«. Um den Wunsch dieser Männer, deutsche Staatsangehörige zu werden, auch »politisch wertvoll« zu machen, wurde demnach - mit besonderer Unterstützung der SS - die Doppelstaatsangehörigkeit im Dienste einer Integration der »germanischen Völker« zugelassen.143 Das entsprach zugleich Vorstellungen in den besetzten Gebieten, die in der Doppelstaatsangehörigkeit die Vorstufe einer künftigen großgermanischen Reichszugehörigkeit sehen wollten.144 Schließlich setzte der nationalsozialistische Staat eine weitere Konvention, die ›Einheit der Familie‹, außer Kraft, wo dies politisch opportun erschien. Damit zog das Regime zunächst die Konsequenz daraus, daß im Zuge der Umsiedlungen die Einheit der Familie tatsächlich verlorengegangen war. Um minderjährige Kinder deutscher Volkszugehörigkeit, deren Eltern bei den Umsiedlungsaktionen zurückgeblieben oder ums Leben gekommen waren, in die deutsche Volksgemeinschaft eingliedern zu können, wurde ihnen ein selbständiges Antragsrecht auf Einbürgerung zuerkannt.145 142 Nach Auffassung des Reichsinnenministeriums sollten die Schutzangehörigen in »loser Form« in den Schutzverband des Reiches hineingenommen werden, »weil wir ein Interesse an der Verwertung ihrer Arbeitskraft haben und sie nicht staatenlos oder fremdstaatlich lassen wollen«, Reichsminister des Innern an den Chef der Reichskanzlei (und weitere Dienststellen), 4.8.1942, BA-L, R 43 II/137. 143 Reichsminister des Innern (gez. Stuckart) an das Auswärtige Amt und den Leiter der Partei-Kanzlei, 12.7.1941, BA-L, R 43 II/137; Reichsminister des Innern, Niederschrift über die Sitzung am 27.10.1941, BA-L, R 43 II/137: Es sei die Zulassung der Doppelstaatsangehörigkeit ausschließlich für »Angehörige germanischer Völker« vorgesehen. Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen vom 20.1.1942 (RGBl I, S. 40), §2. 144 S. Reichskommissar der besetzten niederländischen Gebiete Seiß-Inquart an Staatssekretär Lammers, 3.5.1941, in: Jacobsen, S. 246. 145 Reichsminister des Innern (gez. Stuckart) an das Auswärtige Amt und den Leiter der Partei-Kanzlei, 12.7.1941, BA-L, R 43II/137;Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen vom 20.1.1942 (RGBl I, S. 40), § 3. Die Regelung beruhte darauf, daß zwischenstaatliche Verwaltungsvereinbarungen über die Umsiedlungen Minderjährigen ein selbständiges Recht auf Umsiedlung einräumten.

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Grundsätzlicher noch durchschnitten Regelungen die Familieneinheit, die eine selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau zuließen. In Anbetracht der durch den Krieg geschaffenen neuen Situation ließ sich der Grundsatz›völkischen Segregation nicht mehr - wie noch 1935 - durch das Verbot der Rassenmischehe durchsetzen. Bereits die Regelungen über die Eingliederung der tschechoslowakischen Gebietsteile durchbrachen -wenn auch einseitig zu Lasten der Ehefrauen146 - den Grundsatz der Einheit der Familie. Diese Entwicklung verstärkte sich noch im verschärften ›Volkstumskampf‹ des Krieges. Die Deutsche Volksliste in den eingegliederten Ostgebieten sah eine vom Geschlecht unabhängige, selbständige Einstufung der Ehegatten in »völkischen Mischehen« vor.147 Im Protektorat Böhmen und Mähren wurde die althergebrachte Patrilinearität dem Grundsatz untergeordnet, »keinen deutschen Staatsangehörigen zum Protektoratsangehörigen werden zu lassen«: Frauen deutscher Volkszugehörigkeit, die danach eine »völkische Mischehe« mit einem Protektoratsangehörigen eingingen, behielten ihre deutsche Staatsangehörigkeit und vererbten sie.148 Die ›Einheit der Familie‹ wich dem Grundsatz, »wertvolles deutsches Blut nicht verloren gehen«149 zu lassen. Freilich blieb damit die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau abgeleitet, relativ und begrenzt. Sie war wie das Staatsangehörigkeitsrecht insgesamt eine Funktion nationalsozialistischer Volkstumspolitik. Der Krieg, die Ausdehnung des staatlichen Herrschaftsbereichs in kontinentalem Ausmaß und seine Durchdringung nach rasseideologischen Kriterien hatten Form und Gehalt der deutschen Staatsangehörigkeit radikal verändert. Was aber bedeutete »deutsche Staatsangehörigkeit« für die Bewohner dieses von Deutschland beherrschten Kriegsimperiums, das auf dem Höhepunkt seiner territorialen Ausdehnung fast das gesamte europäische Festland umfaßte? Was 146 Der Grundsatz einer ›selbständigen‹ Prüfung der Volkszugehörigkeitsvoraussetzungen wirkte sich nur zugunsten der Ehefrau aus, wenn auch der Ehemann die Voraussetzungen erfüllte. Anderenfalls wurde auch sie nicht eingebürgert, s. Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen (RGBl II 1938, S. 896), § 1 Abs. 3; Globke, Regelung der Staatsangehörigkeitsverhältnisse, S. 480. 147 S. Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 13.3.1941 Nr. (6b). 148 S. Verordnung zur Regelung von Staatsangehörigkeitsfragen gegenüber dem Protektorat Böhmen und Mähren vom 6.6.1941 (RGBl I, S. 308), §§ 1-3; Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 15.10.1941 (RGBl I, S. 1837), Nr. (7), (9); s. auch Runderlaß des Reichsministers des Innern. Erwerb der Staatsangehörigkeit in den befreiten Gebieten der Untersteiermark und Oberkrains vom 10.2.1942 (RMBliV, S. 353), Nr. 13 a, b; Globke, Protektoratsangehörigkeit, S. 455; s. auch Silagi, Vertreibung, S. 124f. 149 S. Runderlaß des Reichsministers des Innern, Staatsangehörigkeit der Bewohner von Eupen, Malmedy und Moresnet vom 10.2.1942 (RGBl I, S. 361), Nr. 16 b. Danach konnten Ehefrauen ausnahmsweise vom Widerruf der Staatsangehörigkeit des Ehemannes ausgenommen werden. Dies wurde generell verstärkt durch die Verordnung über die Staatsangehörigkeit auf Widerruf vom 25.4.1943 (RGBl I, S. 269), § 3, die ausdrücklich bestimmte, daß Staatsangehörige Frauen deutschen Volkstums ihre deutsche Staatsangehörigkeit durch Heirat mit einem Staatsangehörigen auf Widerruf nicht verloren.

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bedeutete sie im Hinblick auf die politische Schichtung und den Herrschaftsstatus in den verschiedenen Gebieten ? Eine Momentaufnahme vom Ende des Jahres 1942 -vor der Niederlage bei Stalingrad hatte die deutsche Herrschaftssphäre insgesamt und mit der Einbeziehung der ukrainischen Volksdeutschen auch die deutsche Staatsangehörigkeit ihre größte Ostausdehnung erreicht150bietet ein verwirrendes Bild von Statusschichten und territorialen Unterschieden. Scheinbar noch übersichtlich war die Schichtung im ›Altreich‹, dem Gebiete des Deutschen Reiches noch vor den Gebietserweiterungen von 1938. Hier zählte der ganz überwiegende Teil der eingesessenen Bevölkerung zu den »Reichsbürgern deutschen oder artverwandten Blutes«. Die sogenannten ›fremdblütigen‹ Deutschen - bloße »Staatsangehörige« gemäß den Rassegesetzen von 1935, ganz überwiegend ›Volljuden‹ - bildeten nur mehr eine kleine Restgruppe. Sie waren für staatenlos erklärt und wurden in die Vernichtungslager Osteuropas deportiert. Ähnlich waren die Verhältnisse in den 1938 angegliederten Gebieten Österreich und Sudetenland, obwohl in diesem nicht der Status der (vorläufigen) Reichsbürgerschaft eingeführt worden war. Bereits in dem kleinen, 1940 wieder in das Reich eingegliederten westlichen Grenzgebiet von Eupen, Malmedy und Moresnet begann sich der Status des »Deutschen« zu differenzieren. Hier fing die Zone an, in der die »deutsche Volkszugehörigkeit« teilweise oder ganz die Staatsangehörigkeit bestimmte. Wer seine deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund des Versailler Vertrags verloren hatte, erhielt sie zurück.151 Wer zwar »deutschstämmig«, aber nicht alteingesessen war, wurde lediglich Deutscher ›auf Widerruf. Während in den genannten Gebieten die Mehrheit der Bevölkerung den vollen Status der deutschen Staatsangehörigkeit innehatte, änderte sich dies mit dem Übergang in das östlich angrenzende, nicht in das Reichsgebiet eingegliederte Protektorat Böhmen und Mähren. Hier war die Minderheit der (volks-)deutschen Staatsangehörigen von den tschechischen- Protektoratsangehörigen scharf getrennt und unterlag einer gesonderten Gerichtsbarkeit.152 Schärfer noch wirkte sich die Scheidung nach »Volkszugehörigkeit« in den Gebieten der Deutschen Volksliste aus. Sie trennte, wie gezeigt, die deutschen Staatsangehörigen in den eingegliederten Ostgebieten in eine vollberechtigte, prinzipiell reichsbürgerfähige und in eine minderberechtigte Hälfte, die Deut150 Die verstärkten Vorbereitungen zur Durchführung des Volkslistenverfahrens begannen im Dezember 1942, s. Fleischhauer, Dritte Reich und die Deutschen in der Sowjetunion, S. 186f. ,Verordnung über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die in die Deutsche Volksliste in der Ukraine eingetragenen Personen vom 19.5.1943 (RGBl I, S. 321). 151 Verordnung über die Staatsangehörigkeit der Einwohner von Eupen, Malmedy und Moresnet vom 23.9.1941 (RGBl I, S. 584). 152 Erlaß des Führers und Reichskanzlers über das Protektorat Böhmen und Mähren vom 16.3.1939 (RGBl I, S. 485), Artikel 2.

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schen »auf Widerruf«. Dabei zerfiel die letztere Gruppe in die Mehrheit der ›Eingedeutschten‹ und eine Minderheit der ›Rückgedeutschten‹. Unterhalb dieser Stufenleiter der deutschen Staatsangehörigen stand die überwiegende Mehrheit »fremdvölkischer«, damit also minderberechtigter Schutzangehöriger. Ging man weiter nach Osten in das aus den Kerngebieten des ehemaligen Polen gebildete Generalgouvernement, dessen Bevölkerung grundsätzlich nicht zur Eindeutschung vorgesehen und unter deutsche Verwaltung gestellt war, begegnete man einem eher ungegliederten Kolonialsystem. An seiner Spitze standen »reichsdeutsche« Besatzungsangehörige, ergänzt durch eine verhältnismäßig geringe Zahl eingebürgerter »Volksdeutscher«. Da ein Volkslistenverfahren nicht durchgeführt wurde, blieb die große Mehrheit der Bevölkerung staatenlos. Zu dieser Gruppe gehörten auch »deutschstämmige« Polen, die in einigen Rechtsbereichen wie Deutsche, in anderen nicht als solche behandelt wurden.153 Blickte man noch weiter nach Osten, so wurden deutsche »Volkszugehörige« aus volkstumspolitischen wie strategischen Gründen mit der Aufnahme in die deutsche Staatsangehörigkeit prämiert.154 Rückwirkend zum Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurde im Reichskommissariat Ukraine im Mai 1943 eine deutsche Volkstumsliste eingerichtet, nach der die - gemessen an Volkstumskriterien - zuverlässige Oberschicht der deutschen Volkszugehörigen kollektiv eingebürgert wurde, gegebenenfalls »auf Widerruf«. Darunter stand die große Mehrheit der als staatenlos, »fremdvölkisch« und damit rechtlich schutzlos behandelten ukrainischen Bevölkerung.155 Zu ihnen kamen Hunderttausende Staatenloser, insbesondere Juden und Polen, die aus dem »Altreich« und dem Generalgouvernement in die Vernichtungslager deportiert wurden. Noch komplexer wurde das Bild, wenn man die Ströme der Zwangsmigration hinzunahm, die das nationalsozialistische Herrschaftsgebiet durchzogen. Dazu gehörten die Millionen Deportierter, zu Staatenlosen degradierte Juden und Polen,156 die in die östlichen Gebiete zur Arbeit und Vernichtung gebracht 153 Vgl. dazu Majer, S.570f. 154 Wie z. B. die »deutschen Volkszugehörigen« in den sogenannten »befreiten«, ehemals österreichischen Gebieten nach der Zerschlagung des jugoslawischen Staates, Verordnung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit in den befreiten Gebieten der Untersteiermark, Kärntens und Krains (RGBl I, S. 648). Sie erwarben die deutsche Staatsangehörigkeit. Die ehemaligen Jugoslawen »deutschen oder artverwandten Blutes« wurden Deutsche aufWiderruf, sofern die Behörden sie als »heimattreu« einstuften, während die übrige Bevölkerung zu »Schutzangehörigen« des Deutschen Reiches wurde. 155 Verordnung über die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an die in die Deutsche Volksliste der Ukraine eingetragenen Personen vom 19.5.1943 (RGBl I, S. 321). 156 Juden wurden aufgrund der 12. Verordnung zum Reichsbürgergesetz (RGBl I, S. 268), § Abs. 1, zu Staatenlosen erklärt und Schutzangehörige zu Nicht-Staatsangehörigen (§ 1 Abs.2). Die Schutzangehörigkeit erlosch und wurde zur Staatenlosigkeit mit dem Verlassen des Gebiets

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wurden und die breite Masse der rechtlos gestellten Unterschicht noch vermehrten. Aber auch in Richtung Westen verliefen Ströme der - ganz überwiegend - erzwungenen Arbeitswanderung. Je länger der Krieg andauerte, desto mehr veränderte sich die Herrschaftsschichtung auch im »Altreich«. Unter die Masse der alteingesessenen »Reichsbürger« schob sich eine Unterschicht von Zwangsarbeitern, »Fremdarbeiter« genannt, welche die Rüstungswirtschaft des Reiches aufrechterhielten. Sie umfaßten 1941 etwa 3,5 Millionen, am Ende des Krieges 7,6 Millionen Menschen.157 Sie waren durchweg Nicht-Deutsche, also Angehörige fremder Staaten und Staatenlose.138 Sie waren in ihrer überwiegenden Mehrheit in Osteuropa beheimatet, vornehmlich in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und in dem ehemaligen Polen. Sie stammten nach der Besetzung sowjetischer Gebiete ganz überwiegend aus Osteuropa, insbesondere aus der Sowjetunion und dem ehemaligen Polen.159 Sie waren zwangsrekrutiert aus Gebieten des deutschen Herrschaftsbereichs, in denen sie als rechtlose »Fremdvölkische« ohne jeglichen deutschen Staatsangehörigkeitsstatus galten. Diesen Status nahmen sie auch im »Altreich« ein, standen auf der niedrigsten Stufe der Rangskala ausländischer Arbeiter, die in sich nach rassischen und politischen Kriteren gegliedert war. Während die Italiener,160 die »germanischen« und »verbündeten« Völker eine gemäßigte Behandlung erfahren sollten, wurden die »Polen und Ostarbeiter«161 im Reich einem rassistischen Sonderstrafrecht unterstellt. Ihr Schicksal hing vom Kriegsverlauf ab: Je günstiger sich die Lage für das Reich zu entwickeln schien, desto vernichtender waren die Strafmaßnahmen, die diese ›Unterklasse‹ von Ausländern nicht nur aus der staatlichen Ordnung, sondern aus jeder Lebensgemeinschaft mit dem deutschen Volk ›ausmerzen‹ sollten.162 Die Auflösung der Einheitlichkeit kennzeichnete also nicht nur den Rechtsstatus der Staatsangehörigkeit, sondern auch den des Ausländers. Dies ging so weit, daß bis zum Kriegsende unterschiedliche äußere Kennzeichnungen die nationalen Gruppen der »Fremdarbeiter« als ›höher‹- oder ›minderwertig‹ klassifizierten.163 der Schutzangehörigkeit, s. Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten (RGBl I, S. 118), § 7. 157 Zu den Zahlen vom September 1941 und August 1944 (einschl. der Kriegsgefangenen) vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 181 und 271. 158 Vgl Tabelle bei ebd., S. 271f. 159 Vgl. Tabellen bei ebd., S. 181, 271 f. 160 Mantelli, S. 57-59. 161 Zu den entsprechenden Richtlinien des Reichssicherheitshauptamts Ende 1942 s. Herbert, Fremdarbeiter, S. 189. Die untere Stufe umfaßte neben »Polen und Ostarbeitern« auch »Serben, Tschechen und Slowenen«. 162 Zur Durchsetzung eines rassistischen Sonderstrafrechts gegen »Polen und Ostarbeiter« in der Hand der Gestapo im Reich während des Sommers 1943 s. ebd., S. 246f. 163 Zur Aufrechterhaltung der rassisch motivierten Diskriminierungen zwischen den Fremdarbeitergruppen trotz einiger kriegswirtschaftlich bedingter Lockerungen s. ebd., S. 266f.

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Überblickt man nochmals das Gesamtbild, so zeigt sich wenig Regelhaftigkeit, die überdies im Verlauf des Krieges noch abnahm.164 Allerdings treten Grundlinien zutage. Erkennbar ist zum einen, daß sowohl die quantitative Bedeutung als auch die Konsistenz der deutschen Staatsangehörigkeit von Westen nach Osten abnahmen. Lediglich im »Altreich« stellte sie den Mehrheitsstatus dar. In den östlichen Gebieten war sie der Status einer Minderheit und zerfiel in die Rechtsschichten eines hierarchisch gestuften Kolonialsystems. Die Erfindung der Deutschen Volksliste, des Deutschen »aufWiderruf« und des »Schutzangehörigen« waren Stabilisierungsversuche dieses Systems. Zum zweiten wurden die Stufen dieser Hierarchie nach unten hin undurchlässiger. Nach der systematischen Entrechtung und Staatenloserklärung der Juden schwand der Unterschied zwischen dem Status des (Voll) Staatsangehörigen und des »Reichsbürgers«, der ohnehin nie rechtlich ausgefüllt wurde. Der Übergang zwischen den beiden ersten Abteilungen der Deutschen Volksliste wirkte sich praktisch nicht aus. Dagegen war der Deutsche »aufWiderruf« ein diskriminierender Status auf Probe, der mit einschneidenden Rechtsnachteilen und sozialer Abwertung verbunden war. Vollends tief war die rechtliche Kluft zum Status des »Schutzangehörigen«, den zugleich rassische und soziale Kriterien nach oben undurchlässig machten. Wer als »fremdvölkisch« und nicht »rückdeutschbar« definiert wurde, verlor tatsächlich jede Garantie staatlichen Schutzes, die der Staatsangehörige genoß. Noch unter den »Schutzangehörigen« wurden »vollfremdblütige« Juden und Zigeuner eingestuft. So sehr die Einheitlichkeit des Staatsangehörigkeitssystems insgesamt aufgelöst war, so eindeutig und irreversibel war der Ausschluß dieser Gruppe. Schließlich und drittens wurden die Rechtsschichten nach unten hin nicht nur undurchlässiger, sondern zugleich größer. Den deutschen Staatsangehörigen stand zur Zeit der größten Ausdehnung des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs eine Überzahl »fremdvölkischer« Schutzangehöriger, Staatenloser und Ausländer gegenüber. Insgesamt zeigt die Momentaufnahme der Jahreswende 1942/43 das Bild einer vielfach zerklüfteten Pyramide: Die Staatsangehörigkeit gliederte ein mehrfach geschichtetes Herrschaftssystem. Was mit den Nürnberger Gesetzen begonnen hatte, bildete sich im rassischen Eroberungskrieg aus. Doch war das Schichtengefüge labil, verschob sich, wurde durchlässig in den oberen und mittleren Bereichen. Stabilität erreichte es nur an der Basis: mit dem Ausschluß »Fremdvölkischer« zu deren Ausbeutung und Vernichtung. 164 Das Bild verändert sich nochmals durch die ›kriegswichtige‹ Einbürgerung der in der Waffen-SS, der Wehrmacht, der Organisation Todt, im Reichsarbeitsdienst und der deutschen Polizei eingestellten »deutschstämmigen« Ausländer, s. Führererlaß vom 25.5.1943 (RGBl I, S. 315), Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 23.5.1944 (RMBliV, S. 551). Aus der Sicht des Reichsführers SS entsprang die Wehrpflicht der Volksdeutschen in der militärischen Rasseformation der Waffen-SS einer grundlegenden völkischen Dienstpflicht, die durch die Einbürgerung nurmehr formal -auch mit Blick auf das Ausland - bestätigt wurde, s. Lumans, S. 212, 215.

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Schluß

Wer im Sommer 1945 durch das Gebiet des Deutschen Reiches fuhr, stieß an schwer überwindbare, scharf kontrollierte Grenzen. Ausweise galten nur für bestimmte Territorien, die durch die Herrschaftsbereiche der vier Besatzungsmächte begrenzt wurden. Die Zusammengehörigkeit mit dem angrenzenden Herrschaftsbereich war ebenso unklar wie die Rechte der Deutschen gegenüber den neuen Machthabern. Wie war die staatliche Zugehörigkeit definiert? Galt sie dem Deutschen Reich, dem angestammten Territorium oder der Besatzungsmacht? Parallelen zum politischen Umbruch der Jahre 1814/1815 scheinen auf Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches und einem Krieg wurden die territorialen Grenzen und die staatliche Zugehörigkeit neu bestimmt. Die Bewohner vieler Gebiete kannten den Staat, dem sie nunmehr zugewiesen wurden, als Besatzungsmacht. Doch stellte bereits eine der ersten Maßnahmen der Besatzungsmächte nach 1945 die grundlegende Verschiedenheit der historischen Situationen klar. Die gemeinsame Besatzungsgewalt der vier Alliierten bekräftigte - wenn auch zunächst negativ - die Existenz einer deutschen Staatsangehörigkeit. Der Alliierte Kontrollrat hob das Reichsbürgergesetz von 1935 und dessen Ausführungsvorschriften auf. Die Zwangseinbürgerungen französischer und luxemburgischer Staatsangehöriger während des Krieges wurden für nichtig erklärt. Damit entfiel die Zerstörung und Verformung, die das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht während der nationalsozialistischen Herrschaft erfahren hatte. Die Struktur des tradierten deutschen Staatsangehörigkeitsrechts aus der Zeit vor 1933 trat wieder hervor. Solange das Deutsche Reich besetzt, aber als Völkerrechtssubjekt nicht aufgelöst war, wurde die rechtliche Vorstellung einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit in allen vier Besatzungszonen aufrechterhalten. Die politische Substanz einer gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit blieb freilich in den folgenden Jahren unklar. Die Rekonstruktion deutscher Staatlichkeit von den Ländern her brachte verfassungsrechtliche Bestimmungen der Länderstaatsangehörigkeiten hervor, die - mit Ausnahme des Saarlands - keine politische Wirksamkeit erlangten. Denn mit der 1949 erfolgten Gründung zweier deutscher Staaten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches wurde die Länderstaatsangehörigkeit weithin gegenstandslos. Sowohl die einheitsstaatlich umgestaltete DDR als auch die föderative Bundesrepublik Deutsch421 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

land gingen übereinstimmend von einer fortbestehenden gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit aus. Die Fiktion der Rechtskontinuität des Deutschen Reiches war nur um den Preis der Kontinuität seines Staatsangehörigkeitsrechts zu haben. Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949, die provisorische Verfassung des deutschen Weststaates, zeigte die doppelte Spannung der unrechtsstaatlichen Vergangenheit wie der zerrissenen Gegenwart des geteilten deutschen Nationalstaats. Das soziale und rechtliche Chaos, das Millionen von Menschen hervorriefen, die aus Osteuropa und der sowjetischen Besatzungszone in den westlichen Teil Deutschlands strömten, zwang den Verfassunggeber erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte zur begrifflichen Festlegung des »Deutschen«. Demzufolge war zunächst »Deutscher«, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Mit diesem tautologisch anmutenden Rückverweis auf den Status der rechtlich tradierten deutschen Staatsangehörigkeit bekräftigte das Grundgesetz die Fortgeltung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 und griff die staatsrechtliche Konstruktion der Paulskirchenverfassung von 1849 auf Die zweite Kategorie des »Deutschen« hingegen verkörperte den paradigmatischen Wandel der Weltkriegszeit, den die deutsche Staatsangehörigkeit durchgemacht hatte. Danach sollte auch »Deutscher« sein, wer »als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit« Aufnahme im Gebiet des Deutschen Reiches gefunden hatte. Nichts zeigt klarer als diese Formulierung, wie sehr sich die Verfassunggeber in die historische Kontinuität des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts stellten -von ihrem Staatsverständnis her aber auch stellen mußten. Die Aufnahme des Begriffs »deutsche Volkszugehörigkeit« in das Grundgesetz lag zunächst in der Konsequenz einer ethnisch-kulturellen Konzeption, die mit der Fortgeltung des Reichsgesetzes von 1913 bekräftigt wurde. Zugleich aber übernahm die Bundesrepublik damit die historische Verantwortung für die Taten des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Die Zuschreibung deutscher »Volkszugehörigkeit« an Menschen in den eroberten Gebieten Osteuropas, ihre Selektion zur Bildung einer privilegierten Herrenschicht nach nationalsozialistischen Rassekriterien, hatte nach der Befreiung dieser Gebiete von nationalsozialistischer Herrschaft Revanchemaßnahmen in großem Ausmaß ausgelöst. Die millionenfache Entrechtung und Vertreibungjener Menschen, die zu »Volksdeutschen« qua Zuschreibung durch den deutschen Staat geworden waren, nahm den deutschen Nachfolgestaat in die Pflicht. Einer historischen Verpflichtung entsprach es auch, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Ausbürgerungen rückgängig machte, die das nationalsozialistische Regime aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen vorgenommen hatte. Die Staatsangehörigkeitskonzeption des Grundgesetzes hatte keinen vorausweisenden, neugestaltenden Charakter. Sie war ebenso provisorisch wie rückwärtsgewandt. Sie stellte sich in die historische Kontinuität, um die fragmen422 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

tierte staatliche Gegenwart zu stabilisieren und die Folgelasten der Unrechtsvergangenheit zu bewältigen. Zwischen der staatlichen Neuordnung Deutschlands nach 1815 und der Wiederherstellung verfaßter deutscher Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich die Institution der deutschen Staatsangehörigkeit heraus. Sie erhielt rechtliche Gestalt und stabilen Gehalt durch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913. Dieses Gesetz wurde zum politischen Symbol, bündelte die Entwicklung deutscher Staatsangehörigkeit im 19. Jahrhundert und bestimmte sie über das gesamte 20. Jahrhundert. Der Wandel der Staatsangehörigkeit als politischer Institution, der den Gang der Untersuchung bestimmt hat, wird vom Wandel der politischen Systeme beeinflußt. Er folgt jedoch nicht deren zeitlichen Zäsuren. Nicht der Übergang von der Monarchie zur Demokratie, sondern demographische Veränderungen, Wanderungsbewegungen, Wandlungen der nationalen Mentalität, vor allem Kriege haben der deutschen Staatsangehörigkeit Form und Gehalt gegeben. Die erste Etappe der Entwicklung reicht von der Herausbildung einer frühkonstitutionellen Staatsbürgerschaft bis zur Grundlegung des Abstammungsprinzips im preußischen Untertanengesetz von 1842. Grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen und Erfordernisse der Staatsintegration führten zur systematischen Regelung der Staatsangehörigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die österreichische Staatsbürgerschaft etablierte das Prinzip der Gleichheit, und zwar sowohl der Staatsangehörigen untereinander als auch in deren Verhältnis zum Staat. Die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden setzten mittels der Staatsangehörigkeit die Einheitlichkeit der Staatsgewalt in ihrem Territorium durch. Mediatisierte Standesherrn wurden zu eindeutiger Loyalität gegenüber dem Staat gezwungen und den Kommunen ihre Mitbestimmung über die Einbürgerung genommen. Als Auswanderungsgebiete mit hohem Geburtenüberschuß nutzten die meisten Staaten des Deutschen Bundes das Territorialprinzip, um sich der Staatsangehörigen zu entledigen, die sich im Ausland niederließen. Die Staatsangehörigkeit als Instrument der Bevölkerungspolitik und administrativen Sozialkontrolle bestimmte auch die Durchsetzung des Abstammungsprinzips im preußischen Gesetz von 1842. Der Gesetzgeber zielte auf eine effiziente Kontrolle der Einwanderung und der Sozialleistungen. Das Abstammungsprinzip entsprang dem Modernisierungsimpetus der spätabsolutistischen Reformbürokratie. Die Konstituierung einer ethnisch - kulturellen, ›nationalen‹ Gemeinschaft lag ihm fern. Die inhaltliche Homogenisierung der Staatsangehörigkeit im deutschen Staatenbund prägte ihre Nationalisierung im Sinne national vereinheitlichter Strukturen vor. Diese Angleichung unterschied sich indessen deutlich von einem ethnisch-kulturell einheitlichen Deutschtum. Zentraler Bezugspunkt der Staatsangehörigkeitspolitik dieser zweiten Phase der Entwicklung nach 1842 war der Staat, sei es der Einzelstaat oder sei es das Deutsche Reich als Gesamt423 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Staat. Erst nach und neben der politischen, etatistischen Konzeption bildete sich in der deutschen Nationalbewegung eine Vorstellung heraus, welche die deutsche Staatsangehörigkeit zugleich als Zugehörigkeit zu einer ethnisch und kulturell definierten deutschen Nation verstand. Das historische Nebeneinander dieser beiden Konzeptionen verfestigte sich zu einer strukturellen Ambivalenz, die zum Signum der deutschen Staatsangehörigkeit schlechthin wurde. Diese spezifische Ambivalenz trat in der Revolution von 1848 erstmals politisch hervor. Die ursprünglich territorial - politische Konzeption, die auf einen multinationalen großdeutschen Bundesstaat ausgerichtet war, wurde im Verlauf der Paulskirchendebatten überlagert von einer Konzeption ethnisch-kultureller Homogenität und Hegemonie des »Deutschen«. Die räumliche und ethnische Verengung des Nationalen drängte die Toleranz zurück. Bezeichnend für die Ambivalenz war jedoch, daß die Konzeptionen in der Schwebe blieben, so daß die eine die andere nicht völlig verdrängte. Das politische Ziel der Expansion des Nationalstaats, nicht ein prinzipielles Motiv bewog die Nationalversammlung zur jeweiligen Heranziehung der ethnischen oder territorialen Konzeption der Staatsangehörigkeit. Die Debatten der Paulskirchenversammlung griffen zeitlich der Nationalisierung der Staatsangehörigkeit voraus, die in einer dritten Phase der Entwicklung zum Durchbruch gelangte. Die Staatsangehörigkeit war Gegenstand und zugleich zentraler Faktor eines grundlegenden Wandels kollektiver Identität: der Nationalisierung der deutschen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Versteht man unter Nationalisierung die Ausrichtung bestehender politischer Institutionen und Einstellungen am Vorrang der Nation, wirkte die Staatsangehörigkeit als Schlüsselinstrument. Die Verlagerung von Identitätsbezügen der Region, der Heimat und des Bundesstaats auf die Nation und den Nationalstaat vollzog sich langsam und in Brüchen. Die Staatsangehörigkeit gab diesem Vorgang nicht nur einen institutionellen Rahmen, sondern übte einen immanenten Zwang zur Zentralisierung und Vereinheitlichung im föderativen System aus. Mit dem Übergang des Deutschen Reiches zum Einwanderungsland im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde die Koordination der Einbürgerungspolitik zwischen den Bundesstaaten zwingend. Diese geriet auf Dauer zum Regulativ der Einwanderung in den Nationalstaat und zwang zur Herausbildung nationaler Maßstäbe. Die ökonomisch erwünschte Zuwanderung von Osteuropäern geriet in Konflikt mit Forderungen der Nationalitätenpolitik, die insbesondere eine Verstärkung der polnischen Bevölkerungsgruppe vermeiden wollte. Der Spannungslage des ›Einwanderungslandes wider Willen‹ entsprach die Bekräftigung des reinen Abstammungsprinzips im Reichsgesetz von 1913. Der Ausschluß territorialer Einbürgerungskriterien ermöglichte eine effiziente Kontrolle der Zuwanderung und Einbürgerung nach nationalen Maßstäben. Ungeachtet radikaler und massenhafter Agitation für das ethnisch-kulturelle Prinzip blieb dieses jedoch eine Funktion der Politik. 424 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Das Abstammungsprinzip von 1913 war eine Institution des potentiellen, nicht des realen Ausschlusses bestimmter nationaler oder ethnischer Gruppen. Es wurde prägend für die nationale Identität der Deutschen, nicht jedoch durch die Determinierung einer ethnisch-exklusiven Abstammungs- und Rassegemeinschaft, sondern durch die Festschreibung der Ambivalenz: Das Abstammungsprinzip beseitigte nicht das staatsnationale Prinzip, sondern dessen Vorrang. Wie in der Nationalversammlung von 1848 blieb die Bestimmung der deutschen Staatsangehörigkeit zwischen ethnischen und politischen Maßstäben in der Schwebe. In der Offenlegung einer ambivalenten nationalen Identität zwischen Einheits- und Bundesstaat, zwischen Volksgemeinschaft und Wehrgemeinschaft, zwischen grundsätzlichem Ausschluß und möglichem Einschluß lag die paradoxe Prägekraft des Jahrhundertgesetzes von 1913. Sie hielt das Gesetz anpassungsfähig an den Wandel der politischen Rahmenbedingungen im 20. Jahrhundert. Der Krieg hob die ambivalente Schwebelage auf. Der Erste Weltkrieg und die deutschen Gebietsabtretungen nach 1918 veränderten - in einer vierten Phase - grundlegend die räumliche Wahrnehmung der ›Deutschen‹. Ethnisch deutsche Minderheiten, z. B. die Rußlanddeutschen, wurden im Verlauf des Krieges als ›Brückenköpfe des Deutschtums‹ für die Expansion nach Osteuropa entdeckt. Millionen ehemaliger deutscher Staatsangehöriger in den Abtretungsgebieten gerieten als deutsche »Volkszugehörige« zum Hebel der Gebietsrevision. Der Begriff des Volkszugehörigen als Antriebsmoment der Expansion, Mahnung der Irredenta und Verheißung ethnischer ›Reinheit‹ kennzeichnete einen neuen, völkischen Nationalismus, der zunehmend auch die Maßstäbe der Einbürgerungspolitik bestimmte. Die begrenzte Wirkung der Staatsangehörigkeit stand als Symbol für die enttäuschende staatliche Wirklichkeit, von der die Vorstellung der Volkszugehörigkeit unberührt blieb. Indem die völkische Substanz gegen die formale staatliche Begrenzung ausgespielt wurde, erodierte die Bestandskraft der Institution Staatsangehörigkeit insgesamt. Die Zäsur des Krieges im Nationalbewußtsein mündete in den Bruch des tradierten Staatsangehörigkeitssystems unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Den Primat der ethnischen Volkszugehörigkeit löste die Hegemonie der Rasse ab. Das nationalsozialistische Regime steigerte die Grundtendenzen des 19. Jahrhunderts, die Integrations-, Vereinheitlichungs- und Nationalisierungswirkung der Staatsangehörigkeit, ins Extrem - bis hin zur Zerstörung ihrer Grundlagen. Aus der Integration wurde Zwangshomogenisierung, aus der föderativen Struktur der Staatsangehörigkeit die unitarische Gleichschaltung. Der nationalsozialistische Staat nutzte die über ein halbes Jahrhundert gewachsene Bedeutung der Staatsangehörigkeit als Symbol nationalen Schutzes und Stolzes und verkehrte sie zur Waffe: zur moralischen Ächtung und ökonomischen Existenzvernichtung durch Ausbürgerung. Die formale Gleichheit der Staatsangehörigen wurde abgeschafft und durch die substantiel425 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

le Artgleichheit der Rasse ersetzt. Darin lag der elementare Bruch mit dem historisch gewachsenen System der Staatsangehörigkeit. An die Stelle prinzipieller Ambivalenz der Staatsangehörigkeit, die Freiräume zur Inklusion gewährt hatte, trat die Homogenität der Rasse. Die Ratio der Einwanderungskontrolle wurde ersetzt durch die Intention der rassischen Säuberung. Damit war die ursprüngliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit in ihr Gegenteil verkehrt: von der Integration in den Staat zur Diskriminierung durch den Staat. In der Rückschau liegt hier, in den Rassegesetzen von 1935 und der Volkstumspolitik des Rassekrieges, der Bruch in der Entwicklung der deutschen Staatsangehörigkeit. Er wurde vom nationalsozialistischen Regime bewußt und systematisch vollzogen, setzte einen Kerngehalt der nationalsozialistischen Ideologie um und war kein radikales Gelegenheitsprodukt polykratischer Herrschaft. Auf dieser Grundlage läßt sich der historische Ort des deutschen Abstammungsprinzips von 1913 präzisieren: Es war nicht das Vehikel des Rassestaates, und es begründete keine Kontinuitätslinie zur nationalsozialistischen Volkstumspolitik oder ließ diese gar als zwangsläufige Konsequenz erscheinen. Es folgte einer Ratio der Kontrolle, die restriktiv, aber nicht hermetisch war und sich nicht grundsätzlich von der restriktiven Einwanderungspolitik anderer Staaten der Zeit unterschied. Das Abstammungsprinzip war historisch immer verbunden mit der Möglichkeit der Einbürgerung, die keine Gruppe - auch nicht Juden - absolut ausschloß. Die Weitergabe der Staatsangehörigkeit durch Abstammung (›Blutsprinzip‹) barg eine juristische Metapher. Sie setzte keine biologisch-rassische Homogenität mit einem imaginären Volkskörper voraus und konstituierte sie auch nicht. Daß die Blutmetapher des Abstammungsprinzips als Substanzgleichheit des Blutes gedeutet wurde, beruht auf einer polemischen Verzerrung durch den radikalen völkischen Nationalismus. Damit diese Verzerrung zur politischen Praxis werden konnte, mußte in der nationalen Identitätsvorstellung der Deutschen ein Bruch eintreten: der Bruch der Weltkriegszeit. Ist nach allem die Geschichte der modernen Staatsangehörigkeit in Deutschland die Geschichte des deutschen Sonderwegs in der Moderne? Eine Antwort auf diese Frage gibt diese Arbeit nicht. Das kann und will sie nicht, weil die Annahme eines ›Sonderwegs‹ den eingehenden Vergleich mit einem zu definierenden ›Normalweg‹ voraussetzt. Ein solcher Vergleich, der über die Gesetzesprinzipien hinaus auch die Praxis der Einbürgerung und die Bedeutung der staatsbürgerlichen Rechte Deutschlands im Vergleich zu den westlichen Demokratien einbeziehen müßte, steht noch aus. Doch begründen die Ergebnisse dieser Studie Skepsis gegenüber der These des deutschen Sonderwegs. Darauf deuten einige Resultate hin: Die erstmalige Formulierung nationaler Grundund Freiheitsrechte und ihre Beschränkung auf Rechte der Deutschen im Jahre 1848 war kein nationaler Sonderfall, sondern Teil der Entwicklung des europäischen Konstitutionalismus im Zeitalter nationalstaatlicher Neugründungen in 426 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die 1913 eingeführte Aufhebung der Verjährung der deutschen Staatsangehörigkeit im Ausland, die als ein Zeichen für die Durchsetzung des ethnischen Nationalismus im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht gedeutet wurde, war im Vergleich kein avancierter nationaler Akt, sondern paßte sich an den nationalen Rechtszustand der westlichen Demokratien und Kolonialmächte Frankreich, England und USA an. Zwangsausbürgerungen und Denaturalisationen als ein systematisches Mittel politischen Ausschlusses wurden in Europa nicht vom nationalsozialistischen Regime, sondern von Frankreich und England während des Ersten Weltkrieges eingeführt. Hingegen bleiben Unterschiede unübersehbar: Das exklusive Abstammungsrecht des Deutschen Reiches unterschied sich scharf von Frankreich, England und den USA, an deren Staatsangehörigkeitssystemen das Territorialprinzip durchweg einen starken und stetigen Anteil hatte. Das Bekenntnis zur Nation als primär politischer Willensgemeinschaft fand in der territorialen Gemeinschaftsvorstellung dieser demokratischen Staaten seine Stütze. Vor allem war die Radikalität und Konsequenz, mit der das nationalsozialistische Regime die Staatsangehörigkeit als Instrument der Segregation und Vernichtung benutzte, ohne Parallele im Staatsangehörigkeitsrecht der westlichen Demokratien des 20. Jahrhunderts. Das völkisch-rassistische Staatsangehörigkeitsregime des Nationalsozialismus bleibt im Vergleich zu den westlichen Demokratien einzigartig, wenn auch hier Tendenzen zur Ethnisierung der Staatsangehörigkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unübersehbar sind. Doch stößt der Befund des Sonderfalls an seine Grenze. Erblickt man das zentrale Erkenntnisinteresse der These vom deutschen Sonderweg in der Erklärung, welche Kontinuitäten der deutschen Geschichte in ihrer Abweichung vom Entwicklungspfad westlicher Demokratien in den zivilisatorischen Bruch mündeten, den das nationalsozialistische Regime bedeutet, führt die Kontinuitätslinie vom Deutschen Kaiserreich zum Nationalsozialismus gerade nicht über die Brücke des Abstammungsprinzips der deutschen Staatsangehörigkeit. Das ius sanguinis war zwar aufladbar und wurde aufgeladen durch einen ethnischen Begriff der Nation, es war jedoch nicht systematisch unvereinbar mit dem Gedanken der Demokratie. Das zeigt die Beibehaltung des Abstammungsprinzips in der Weimarer Republik und unter dem Grundgesetz, zeigt auch jenseits der deutschen Grenzen die starke Ausprägung des Abstammungsprinzips in der multinationalen Schweizer Demokratie seit 1848. Die Reichstagsmehrheit von 1913, die das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz verabschiedete, stellte sich eine primär ethnisch-kulturell definierte, zugleich aber rechtlich geordnete und für Einbürgerung offene staatliche Gemeinschaft vor. Das nationalsozialistische Regime hingegen gründete die Staatsangehörigkeit auf die Volksgemeinschaft, schloß diese nach absoluten, 427 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

unüberwindbaren Rassekriterien und zerstörte die Basis rechtlicher Berechenbarkeit. Darin liegt eine Zäsur, die den Blick von der vermeintlichen Kontinuität einer deutschen Sonderentwicklung auf die Zäsuren der historisch-politischen Rahmenkonstellation lenkt, die den Sonderfall Nationalsozialismus ermöglichten. Die Staatsangehörigkeitskonzeption des Grundgesetzes betonte denn auch besonders den Bruch, den der Nationalsozialismus im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht bedeutete. Das Grundgesetz hob die gleichheitswidrigen Expatriierungen auf und legte eine ältere Kontinuitätslinie zugrunde. Die Schöpfer der Verfassung knüpften an die Fortgeltung des Reichsgesetzes von 1913 an und stellten damit die Kontinuität des Gleichheitsparadigmas klar. Das Grundgesetz kehrte damit zu einer tradierten institutionellen Struktur des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts zurück, die der nationalsozialistische Staat zeitweilig überlagert und letztlich zerstört hatte. Neben den zeitlichen Zäsuren kennzeichnen die personellen Grenzziehungen die historische Eigenart der deutschen Staatsangehörigkeit als Institution des Ein- und Ausschlusses. Von der Gründung des Deutschen Bundes bis zum Ausgang des Zweiten Weltkrieges standen drei ›Grenzgruppen‹ im Mittelpunkt der politischen Entscheidungen über Ein- und Ausschluß: (Ehe)Frauen, Polen und Juden. An ihrer Behandlung in der Staatsangehörigkeitspolitik treten Kontinuitätslinien hervor, die den historischen Gehalt der deutschen Staatsangehörigkeit konturieren. Die verheiratete Frau konnte in Deutschland bis zur Einführung der Gleichberechtigung aufgrund des Grundgesetzes 1949 ihre Staatsangehörigkeit nicht selbständig bestimmen. Von der Entstehung der Staatsangehörigkeit an wurden Frauen gemeinsam mit ihren Ehemännern oder aufgrund ihrer Eheschließung eingebürgert. Die gemeinsamen Kinder folgten der Staatsangehörigkeit des Vaters. Dieses auf den Familienvater und Ehemann ausgerichtete patrilineare Prinzip der Staatsangehörigkeit wurde mit dem Grundsatz der ›Einheit derFamilie‹ begründet, der sich aus dem patriarchalischen Familienbild des bürgerlichen Rechts im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ableitete. Am Ende des 19. Jahrhunderts griffen Frauenrechtsverbände mit der unselbständigen Staatsangehörigkeit der Frau zugleich das Monopol des ›männlichen Staates‹ an. Angesichts einerwachsenden Zahl nationaler Mischehen erstrebten sie die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau, um deutsche Frauen, die Ausländer heirateten, vor der Staatenlosigkeit und dem Verlust sozialer Rechte zu bewahren. Dem prinzipiellen Argument der ›Einheit der Familie‹ setzten sie ihrerseits das politische Nationalbewußtsein der Frauen entgegen, die durch Heirat nicht ihre nationale Staatsangehörigkeit verlieren wollten. Wegen der engen Verknüpfung des patriarchalischen mit dem nationalen Prinzip war das eine nicht zugleich mit dem anderen zu überwinden. Das emanzipatorische Ziel einer selbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau wurde vielmehr um428 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

gekehrt nur aufgrund seines Nutzens für die übergeordnete Gemeinschaft der Nation oder des Volkes für durchsetzbar gehalten. Diese nationale Begründung folgte dem Zug zur Nationalisierung in der bürgerlichen Frauenbewegung ab der Jahrhundertwende. Er verstärkte die Nationalisierung der Staatsangehörigkeitspolitik insgesamt. Der generelle Bedeutungsverlust religiöser Fundierungen des Prinzips der Familieneinheit nach dem Ersten Weltkrieg bereitete auf internationaler Ebene den Boden dafür, daß sich nationalistische und feministische Strömungen verbinden und die selbständige Staatsangehörigkeit der Ehefrau gesetzlich durchsetzen konnten. In Deutschland dagegen durchbrach erst der von der Rücksicht auf Tradition und Religion gelöste nationalsozialistische Rassegedanke das Prinzip der Familieneinheit. Im Krieg geriet die Staatsangehörigkeit der Ehefrau zur Funktion der nationalsozialistischen Volkstumspolitik. Soweit die ›Reinerhaltung der Rasse‹ es gebot, wurde die Staatsangehörigkeit ›deutscher‹ Frauen von der ihrer ›völkisch‹ unerwünschten Ehemänner getrennt. Am Beispiel der unselbständigen Staatsangehörigkeit der Ehefrau traten wesentliche Grundzüge der deutschen Staatsangehörigkeitskonzeption hervor. Die primäre Gemeinschaftsbindung der Staatsangehörigkeit verdrängte individualistische, emanzipatorische Ansprüche. Die Leitvorstellung der Analogie zwischen der patriarchalisch geprägten Familie und dem Staat wirkte darin fort. Die Dominanz der Gemeinschaftsbindung blieb auch über den Wechsel ihres Begründungsprinzips hinaus bestehen, als ›die Reinheit des Volkes‹ an die Stelle der ›Einheit der Familie‹ trat. Ihre spezifisch nationale Kontur erhielt die deutsche Staatsangehörigkeit durch die Abwehrpolitik gegenüber Polen. Vom Revolutionsjahr 1848 an, in dem der Nationalitätenkonflikt politisch aufbrach, geriet die deutsche Politik der Staatsangehörigkeit gegenüber Angehörigen polnischer Nationalität zum ständigen Konfliktherd. Polnische Einbürgerungsbewerber wurden schärferer Kontrolle und restriktiveren Bedingungen unterworfen als jede andere nationale Gruppe. Bis in die Zeit der Reichsgründung bestimmte sich der Grad der Restriktion sowohl nach nationalpolitischen als auch ökonomischen Motiven. Mit der Zuspitzung der Nationalitätenkonflikte ab den achtziger Jahren erhielt das nationale Abwehrmotiv in der Staatsangehörigkeitspolitik das Übergewicht. In einer Mischung ethnisch-kultureller Vorbehalte und politischer Erfahrungen aus dem Nationalitätenkampf, der sich wechselseitig verschärfte, nahm zudem das Vertrauen der Einbürgerungsbehörden in die Assimilationsbereitschaft der Polen ab. Die restriktive Politik der Staatsangehörigkeit gegenüber Ausländern polnischer Nationalität ging einher mit der Beschränkung staatsbürgerlicher Rechte der Polen deutscher Staatsangehörigkeit, die dadurch zu deutschen Staatsbürgern zweiter Klasse herabgestuft wurden. Die Angehörigen polnischer Nationalität in Deutschland waren Objekt einer Abwehrpolitik, welche die staatliche 429 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Schutzwirkung der Staatsangehörigkeit aus nationalem Interesse relativierte. Die Fernhaltung polnischer Zuwanderer, der größten Einwanderergruppe, bestimmte dementsprechend die national- und bevölkerungspolitische Ratio des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913. Die Festigung des reinen Abstammungsprinzips bekräftigte den antipolnischen Grundzug des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und institutionalisierte ihn. Der Erste Weltkrieg verschärfte auch hier das Konfliktpotential der Staatsangehörigkeit. Die doppelte - politische und nationale - Frontstellung des Reiches gegenüber dem polnischen Nationalstaat begünstigte in der Options- und Einbürgerungspolitik das Vordringen ›völkischer‹ Abwehrstereotypen. Die nationalsozialistische Herrschaft radikalisierte die antipolnische Politik auf neuer, völkischer Grundlage. Die Segregation deutscher und polnischer Volkszugehöriger im besetzten Polen wurde zum Modell der nationalsozialistischen Volkstumspolitik schlechthin: Polnische Volkszugehörigkeit und deutsche Staatsangehörigkeit sollten unvereinbar sein. Diese Forderung wurde zum Leitbild einer Rassepolitik von grausamer Härte. Die Fernhaltung der Polen war ein Ergebnis fortschreitender Nationalisierung der deutschen Staatsangehörigkeit.JwJe« hingegen waren die ›Grenzgruppe‹ der deutschen Staatsangehörigkeit schlechthin. Keine andere nationale, politische oder religiöse Gruppe wurde gleichermaßen und ebenso stetig besonderen Restriktionen unterworfen, die sowohl die Anerkennung als Staatsbürger als auch die Aufnahme in die Staatsangehörigkeit betrafen. Die Zulassung ausländischer Juden zu einer deutschen Staatsangehörigkeit blieb ungeachtet der Emanzipation einem geheimen, diskriminierenden Sonderrecht unterworfen. Hier bedeuteten die neunziger Jahre, in denen das Deutsche Reich auch für Juden zum Einwanderungsland wurde, eine Zäsur: Die antijüdischen (und antipolnischen) Beschränkungsmaßnahmen, die der preußische Staat gegenüber den anderen Bundesstaaten durchsetzte, führten zu einer zentral koordinierten Einbürgerungspolitik des Deutschen Reiches insgesamt. Das in jener Zeit entstehende Abwehrstereotyp des armen, unerwünschten »Ostjuden« war bis hinein in die Einbürgerungspolitik wirkungsmächtig. Als »unerwünschte Elemente«, die gleichwohl die Einbürgerung wünschten, konstituierten Juden in der Staatsangehörigkeitspolitik wie keine andere nationale oder religiöse Gruppe die Imagination des Deutschen negativ. Waren auch Juden aufgrund ihrer Emanzipation in Deutschland deutsche Staatsangehörige, sollten doch ausländische Juden möglichst nicht Deutsche werden. Als Jude war man vielleicht Deutscher, man wurde es jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen. Doch blieb der Ausschluß von Juden aus dem ›Organismus‹ der staatlichen Gemeinschaft bis zum Bruch 1933 nur ein relativer. Er war überwindbar durch individuelle Nützlichkeit, Wehrtauglichkeit und lange Akkulturation. Ihren absoluten Ausschluß aus der deutschen Staatsangehörigkeit bis hin zur Exter430 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

mination durch Expatriierung und Staatenloserklärung vollzog erst die RasseIdeologie des Nationalsozialismus. Hatten Juden bis 1933 als exponierte Gruppe die Grenzen der deutschen Staatsangehörigkeit scharf konturiert, wurden sie nach 1933 die ersten Opfer nach deren Auflösung. Die Rechtsfigur der Staatsangehörigkeit wurde zur Schlüsselinstitution mit gesellschaftsprägender Wirkung, indem sie über den Zugang zur Staatsbürgerschaft entschied. Bürgerliche, politische und soziale Rechte, die - nach Thomas Marshall - den Gehalt der modernen Staatsbürgerschaft ausmachen, wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend an die Staatsangehörigkeit geknüpft. Die darin liegende Nationalisierung der Staatsbürgerschaft erklärt zugleich die Politisierung der Debatte um die Staatsangehörigkeit, denn diese erhielt wachsende Bedeutung als Verteilungsschlüssel politischer und materieller Vorrechte der Staatsangehörigen gegenüber Ausländern. Im Zeitraum der Untersuchung entwickelte sich gerade auch deshalb die Staatsangehörigkeit von einem Instrument der Verwaltung zu einem Konfliktherd der Verteilungskämpfe in der mobilen Industriegesellschaft. Aus einem rechtstechnischen Spezialge genstand wurde ein politisches Symbol nationaler und ökonomischer Abgrenzung. Die Rechte der Staatsbürgerschaft wurden nach dem Territorialitäts- oder Nationalitätsprinzip gewährt, je nachdem, ob sie an den Aufenthalt im staatlichen Territorium oder an die Staatsangehörigkeit des Individuums anknüpfen. Insgesamt läßt sich die Entwicklung der Staatsbürgerrechte im Zeitraum zwischen dem Deutschen Bund und der Bundesrepublik Deutschland als Übergang vom Territorialitäts- zum Nationalitätsprinzip beschreiben. Dabei muß die inhaltlich und zeitlich unterschiedliche Entwicklung in den drei Rechtsbereichen unterschieden werden. Am schwächsten prägte sich das Nationalitätsprinzip der Staatsbürgerschaft in dem Rechtsbereich aus, der sich als erster herausbildete: in den bürgerlichen Rechten des Individuums. Die großen Zivilrechtskodifikationen aus der Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution stellten als erste Rechtsnormen der bürgerlichen Gesellschaft Inländer und Ausländer einander gleich. Das Sozialmodell der Aufklärung setzte sich im Marktmodell des frühen Liberalismus fort, das dem Leitbild des freien, weder staatlichen noch nationalen Schranken unterworfenen Eigentumserwerbs folgte. Der Grundsatz der Gleichbehandlung von Ausländern prägte das zivile Vermögensrecht des 19. Jahrhunderts und fand in der ›kosmopolitischen‹ Grundanlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 seinen Ausdruck. Im Unterschied zur Staatsimgehörigkett war die Nationalisierung der bürgerlichen Staatsbürgerrechte während des Ersten Weltkriegs nicht von durchgreifender Wirkung. Die ökonomische Ratio überwog die nationale, wie sich an der Entwicklung eines modernen Rechtsbereichs, des geistigen Eigentums, zeigte: Die territoriale Vergabe und Nutzung eines ökonomisch wertvollen Rechts erhielt Vorrang vor der Natio431 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

nalität des Rechtsträgers. Auch das nationalsozialistische Regime hob diese Rangfolge nicht auf. Es zerstörte zwar das System bürgerlicher Rechtsgleichheit, durchbrach dabei aber nicht das liberale Territorialitätsprinzip, sondern das Nationalitätsprinzip für bestimmte Gruppen eigener Staatsangehöriger. Im Bereich der politischen Rechte des Staatsbürgers hingegen erlangte das Nationalitätsprinzip hegemoniale Bedeutung. Auf staatlicher wie kommunaler Ebene wurde das aktive wie passive Wahlrecht zunehmend Staatsangehörigen vorbehalten. Es unterlag einem Prozeß fortschreitender Nationalisierung, der nach der Reichsgründung zum Abschluß kam. Die Ausweitung demokratischer Mitwirkungsrechte und staatlicher Wirtschaftstätigkeit während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik diskriminierte mithin Ausländer in doppelter Weise. Ihr Ausschluß von öffentlich-politischen Mitwirkungsrechten wirkte sich wegen deren Ausdehnung zugleich stärker diskriminierend aus. Die Mitwirkung in der öffentlich-rechtlichen Organisation der staatlichen Wirtschaftstätigkeit und wirtschaftlichen Selbstverwaltung blieb Staatsangehörigen vorbehalten. Die Demokratisierung und interventionsstaatliche Ausweitung staatlicher Tätigkeit grenzte mithin Ausländer in zunehmendem Maßealspolitisch minderberechtigte Klasse ab. Die sozialen Rechte der Staatsbürgerschaft bildeten die historisch jüngste Kategorie staatsbürgerlicher Rechte. Ihre Entstehung war zeitlich am engsten mit der Nationalisierung der Staatsangehörigkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert verknüpft. Gleichwohl wurde die soziale Staatsbürgerschaft in geringerem Maße vom Nationalitätsprinzip geprägt als die politische Staatsbürgerschaft. Soziale Rechte wirkten - aufs Ganze gesehen - nicht national exklusiv, weil sie wie die bürgerlichen Rechte in einem zentralen Bereich auf Prinzipien vertraglicher Gleichheit und Gegenseitigkeit beruhten. Auch hier zerstörte das nationalsozialistische Regime die Grundlage der Staatsbürgerschaft. Es hob im System der Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit der »Fremdarbeiter« jeden Anspruch auf Gleichheit und Gegenseitigkeit auf. Je näher die Rechte der Staatsbürgerschaft dem staatlich - öffentlichen Bereich standen, desto mehr wirkten sie national exklusiv. Die Verstaatlichung, Zentralisierung und Nationalisierung der individuellen Rechtspositionen vertiefte gerade in Verbindung mit der Demokratisierung staatlicher Herrschaft die Kluft zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern. Zwar wirkte die Staatsbürgerschaft national inklusiver im Bereich der sozialen Rechte, mehr noch im Bereich der bürgerlichen Rechte. Insgesamt jedoch war die deutsche Staatsbürgerschaft am Ende der Weimarer Republik zugleich ein materiell gehaltvolleres und national exklusiveres Gut als in der Gründungsphase des deutschen Nationalstaats. Die bürgerliche Gesellschaft des Deutschen Reiches von 1871 hatte die ständischen Schranken in ihrem Innern aufgehoben. Die Weimarer Demokratie setzte diesen Prozeß gesellschaftlicher Homogenisierung mit der Ausweitung politischer Teilhabe und sozialstaatlicher Fürsorge fort. 432 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Die Weimarer Gesellschaft kam dem Modell einer Bürgergesellschaft näher als jeder deutsche Staat zuvor. Zugleich gingjedoch die Nationalisierung der deutschen Gesellschaft ihrem Höhepunkt entgegen. An ihrer nationalen Außenseite grenzte sich die Staatsbürgergesellschaft der Weimarer Republik schärfer von anderen nationalen Gesellschaften ab als die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland ein Jahrhundert zuvor. Erst die Zerstörungswirkung der nationalsozialistischen Herrschaft leitete langfristig eine Veränderung ein. Die Auflösung des Unterschieds zwischen Territorialität und Nationalität sowie der Staatsbürgerschaft insgesamt durch das nationalsozialistische Rasseprinzip bildete den Erfahrungshintergrund, vor dem die Verfasser des Grundgesetzes eine Neuerung einführten. Erstmals kodifizierte eine Konstitution des deutschen Nationalstaats die grundlegenden Freiheitsrechte nicht nur als Rechte der »Deutschen«, sondern setzte an ihre Spitze das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten. Der Wandel der deutschen Staatsangehörigkeit zwischen 1815 und 1949 zeigt keine durchgehende Entwicklung vom Staat zum Volk - im Sinne von Volkstum -, noch weniger einen durchgängigen Primat des Volkes über den Staat. Ein starker assimilationsskeptischer, ethnisch-kultureller Grundzug ist bezeichnend für die Geschichte der deutschen Staatsangehörigkeit. Seine Entstehung liegt jedoch später, ist defensiver ausgerichtet und weniger dominant gewesen, als es bisher gesehen wurde. Dieser Grundzug stellte keine natürliche, quasi genetische Konstante des deutschen Nationsbegriffs dar, war vielmehr in entscheidendem Maße abhängig von einer politischen Konstellation spezifischer staatlicher Instabilität. Er entsprach der Lage eines spät entstandenen Nationalstaats mit ausgeprägten Nationalitätenkonflikten und unsicherer Staatsidee, mit hoher personeller Instabilität nach einschneidenden Gebietsveränderungen und Bevölkerungsverschiebungen. Es war somit die Schwäche des staatlichen Prinzips, seiner formenden Idee und seiner territorialen Grenzen, die den Rückzug auf eine vorstaatliche Substanz des »Volkes« im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht erst hervorbrachte. Was folgt daraus? Wenn - wie noch 1989 - die Grenzen des deutschen Staates gefestigt und nicht bedroht sind, wenn weitgehende Identität zwischen dem Siedlungsbereich der deutschen Volkszugehörigen und dem staatlichem Machtbereich besteht und keine Nationalitätenkämpfe im Innern stattfinden, dann verliert das ethnische Prinzip seine stabilisierende Funktion. Es tritt zurück.

433 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Abkürzungen und Siglen AA ABGB BA-L BGBl. BHSTA GSTA GLA HJ LP PrMBliV PrMdl RDI RGBl. RMBliV RT-Prot. VSWG WHSTA

Auswärtiges Amt Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch, Österreich Bundesarchiv, Abteilung Berlin - Lichterfelde Bundesgesetzblatt Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, Berlin Dahlem Badisches Generallandesarchiv, Karlsruhe Historical Journal Legislaturperiode Ministerialblatt für die gesamte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten Preußischer Minister des Innern Reichsamt / Reichsministerium des Innern Reichsgesetzblatt Reichsministerialblatt für die innere Verwaltung Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Niederschriften Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Württembergisches Hauptstaatsarchiv Stuttgart

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Quellen- und Literaturverzeichnis A. Ungedruckte Quellen Badisches Generallandesarchiv, Karlsruhe (GLA) Abteilung 233: Nr. 11128. Nr. 11143. Nr. 27635. Nr. 27636.

Staatsministerium Staatsbürgerrecht, Gesuche um Erteilung des Indigenats, 1841-1902 Staatsbürgerrecht, Staatsbürgerrecht, Allgemeine Grundsätze Bürgerannahme Bürgerannahme

Abteilung 236: Ministerium des Innern Nr. 10646. Die gleichzeitige Ausübung des Staatsbürgerrechts in Baden und Württemberg und die desfalls zwischen der Württembergischen und der Badischen Regierung getroffene Übereinkunft, 1843-1869 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BHSTA) Staatsministerium des Auswärtigen und des königlichen Hauses Nr. 54093. Nr. 54115. Nr. 92681. Nr. 100314. Nr. 100361.

Die Frage der Schaffung eines deutschen Indigenats, Abschluß eines Vertrages über Freizügigkeit, 1867-1869 Der Begriff »Ausländer« im Hinblick auf die Bayerische und die Reichsgesetzgebung über Bundes- und Staatsangehörigkeit, 1890 Die Naturalisation von russischen und galizischen Polen in einem Bundes-Staate, 1873-1918 Vollzug des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes, 1920-1931 Aufnahme bzw. Einbürgerung, 1929

Ministerium des Innern Nr. 74140. Nr. 74142. Nr. 74145.

Einwanderung und Indigenat, Generalia, 1871 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit, 1912-1913 Reichs- und Staatsangehörigkeit, 1928-1935

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Bayerisches Staatsarchiv, München Regierung von Oberbayern und Stadt München Α 42036.

Naturalisationen Bundesarchiv, Abteilung Berlin-Lichterfelde (BA - L)

Reichsamt/ Reichsministerium des Innern (RDI) Nr. 8005. Nr. 8007. Nr. 8008. Nr. 8009. Nr. 8010. Nr. 8011. Nr. 8012. Nr. 8013. Nr. 8014. Nr. 8017. Nr. 8018. Nr. 8019. Nr. 8020. Nr. 8021. Nr. 8025. Nr. 8027. Nr. 8028. Nr. 8044. Nr. 8045. Nr. 8046. Nr. 8047. Nr. 8048. Nr. 8052. Nr. 8053. Nr. 8054. Nr. 8055. Nr. 8057. Nr. 8060. Nr. 8061. Nr. 8340.

Staatsangehörigkeitsgesetzgebung, 1872-1898 S. o. 1902-1904 S. o. 1905-1906 S. o. 1906 S. o. 1906-1908 S.o. 1908-1910 Berichte der diplomatischen und konsularischen Vertretungen des Reiches über den Entwurf eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes, 1910 Staatsangehörigkeitsgesetzgebung, 1911-1912 S.o. 1911-1912 S. o. 1914-1916 Staatsangehörigkeit, 1916-1917 S. o. 1917-1918 S. o. 1918-1919 S. o. 1919-1921 Staatsangehörigkeitsgesetzgebung, 1922-1923 S. o. 1924-1927 S. o. 1927 Einbürgerungen, 1922-1923 S. o. 1923-1924 S. o. 1924-1925 S. o. 1925 S. o. 1925-1926 Einbürgerung (Äußerung der Presse), 1914-1915 Einbürgerung. Allgemeines, 1914-1915 Einbürgerung. Allgemeines, 1919-1927 Einbürgerung deutsch-russischer Kriegs- und Zivilgefangener, 1917-1919 Einbürgerungsstatistik, 1921-1924 Staatsangehörigkeit der Frauen, 1925 Staatsangehörigkeit der Frauen 1926-1927 Die Petitionen in bezug auf Freizügigkeit, Heimats- und Niederlassungsverhältnisse und Staatsangehörigkeit, 1905-1913

436 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Reichskanzlei, R 43 Reichs- und Staatsangehörigkeit - Allgemeines und Einzelfälle, 1920-1943 R 43 II/134. 1933-1944 R 43 II/135a. 1938-1940 R 43II/137. 1941-1943 Reichsj ustizministerium Nr. 5065. Nr. 5068.

Bundes- und Staatsangehörigkeit, 1908-1913 Reichs- und Staatsangehörigkeit, 1922-1928

Reichskolonialamt Nr. 5142. Nr. 5156.

Das neue Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, 1912-1913 Staatsangehörigkeitsverhältnisse, 1901-1936

Auswärtiges Amt Nr. 35333/1. Auslegung § 21 Gesetz 1870 (Verjährung)

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin - Dahlem (GSTA Dahlem) Rep. 77: Innenministerium Tit. 226 B: Einwanderungen Nr. 63, Bd. 1. Behandlung der Rückwanderer deutscher Abstammung Nr. 65, Bd. 1. Einwanderung aus Amerika Tit. 227: Indigenat Nr. 4, Bd. 1-3. Entwurf eines Gesetzes über die Erwerbung und den Verlust des Indigenats / Staatsangehörigkeit, 1828-1842 Nr. 4, Bd. 4-22. Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan vom 31.12. 1842, 1842-1913 Nr. 4, Beihefte Jährliche Nachweisungen der Regierungspräsidenten über Naturalisierungen, 1892-1911 Heft 1 (1892) Hefte 3-11 (1894, 1896, 1897, 1898, 1899, 1900, 1901, 1902, 1903) Hefte 13-15 (1904, 1905, 1906) Hefte 18-20 (1909, 1910, 1911) Nr. 15. Die Naturalisation ausländischer Gewerbetreibender Nr. 17, Bd. 31. Wiederaufnahme früherer preußischer Untertanen in den preußischen Untertanenverband Nr. 31, Bd. 1. Die Naturalisation französischer Staatsangehöriger Nr. 33, Bd. 1. Die Naturalisation italienischer Staatsangehöriger

437 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Nr. 41, Bd. 2. Nr. 44, Bd. 3. Nr. 49, Bd. 2. Nr. 53, Bd. 1-2.

Gesetzgebung des Auslands über Heimatverhältnisse Die Naturalisation ausländischer Geistlicher und Lehrer Die Naturalisation Schweizer Gewerbetreibender Gesetz über den Verlust und Erwerb der Staatsangehörigkeit in den einzelnen Bundesstaaten und im Norddeutschen Bund Nr. 53, Beiheft 2. Verleihung und Wiederverleihung der preußischen Staatsangehörigkeit auf Grund §§ 8 und 21 des Gesetzes vom 1. Juni 1870 Nr. 54, Bd. 1. Die Naturalisation rumänischer Gewerbetreibender Nr. 60, Bd. 1. Die Naturalisation von Angehörigen des Ordens der Gesellschaft Jesu

Tit. 1176: Ausweisungen Nr. 2a, Bd. 1-5. Die über den Aufenthalt polnischer Flüchtlinge in den preußischen Staaten sowie über deren Ausweisungen aus denselben ergangenen Bestimmungen, 1850-1885 Nr. 2a, Beiheft 1. Nr. 3, Beiheft 2. Staats- und verwaltungsrechtliche Vorschriften über die Behandlung der Dänen in Nordschleswig, 1841-1914 Rep. 89: Geheimes Zivilkabinett Nr. 15704.

Gesuche um Naturalisation in den preußischen Staaten, 1818-1860

Rep. 90: Staatsministerium Nr. 2251. Nr. 2252. Nr. 2253. Nr. 2255.

Generalakten über den Erwerb und Verlust der Reichs- und Staatsangehörigkeit, 1812-1837 Bestimmungen über den Erwerb und Verlust der Reichsangehörigkeit, 1837-1869 S. o., 1870-1909 S. o., 1923-1934

Auswärtiges Amt 2.4.1. Abteilung III Nr. 234. Die Grundsätze bei Abschließung von Conventionen zwischen Preußen und andern deutschen Bundesstaaten wegen gegenseitiger Übernahme der Vagabonden und Ausgewiesenen, 1847-1851 Nr. 235. s. ο. , 1852 Nr. 270. Die Verhandlungen beim Bunde hinsichtlich der Ausdehnung des Vertrages von Gotha, 1852-1890 Nr. 271. Die Mitteilung der infolge des Vertrages von Gotha 1851 ergehen­ den Schiedssprüche, 1853-1865

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Hauptstaatsarchiv Stuttgart (WHSTA) Ministerium des Innern Ε 143, Ministerium des Innern II, 1805-1882 Büschel 3229. Verhältnisse württembergischer Juden, 1823-1858 Ε 146, Ministerium des Innern III und IV, 1806-1906 Büschel 1621. Behandlung von Rückwanderern und Anwendung strenger Grundsätze bei der Wiederaufnahme, 1817-1858 Ε 151/02, Abt. II, Rechtssachen, Staatsangehörigkeit, Personenstand, 1802-1945 Büschel 981. Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz Büschel 984. Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, 1912

Politisches Archiv, Auswärtiges Amt, Bonn Rechtsabteilung R 45917. R 45942. R 46256.

Staatsangehörigkeit der Ehefrau, 1932 Internationale Kodifikation des Staatsangehörigkeitsrechts, 1932-1934 Schutzangehörigkeit des Deutschen Reiches, 1941-1943

B. Gedruckte Quellen: Periodika und Zeitungen Alldeutsche Blätter. Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt. Berichte des Statistischen Landesamts. Berliner Tageblatt. Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes. Deutsche Zeitung. Gesetzblatt für das Königreich Baiern. Gesetzsammlung für das Königreich Sachsen. 1818-1831. Fortgesetzt unter dem Titel: Sammlung der Gesetze und Verordnungen für das Königreich Sachsen. 1832-1834. Fortgesetzt unter dem Titel: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen. 1835-1918. Jahrbuch für die amtliche Statistik des Preußischen Staates. Kamptz' Annalen der preußischen inneren Staatsverwaltung. Königlich-Baierisches Regierungsblatt. 1806-1817. Fortgesetzt unter dem Titel: Regierungsblatt für das Königreich Bayern. 1818-1820. Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt. 1806-1823. Fortgesetzt unter dem Titel: Regierungsblatt für das Königreich Württemberg. 1824-1873.

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Kreuz-Zeitung. Kur-Badisches Regierungsblatt. 1803-1806. Fortgesetzt unter dem Titel: Regierungsblatt für das Großherzogthum Baden. 1807-1808. Fortgesetzt unter dem Titel: Großherzoglich-Badisches (Staats- und) Regierungsblatt. 1809-1868. Ministerial-Blatt für die gesamte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten. Niederschriften über die Vollsitzungen des Reichsrats. Preußische Statistik. Preußisches Gesetzblatt. Preußisches Ministerialblatt der inneren Verwaltung. Reichsgesetzblatt. Reichsministerialblatt für innere Verwaltung. Statistik des Deutschen Reiches. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. Verhandlungen des Deutschen Juristentags. Verhandlungen des Reichstags des Norddeutschen Bundes. Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte und Anlagen. Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Niederschriften. Vorwärts. Weber, Karl: Neue Gesetz- und Verordnungssammlung für das Königreich Bayern. Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus.

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Register Personenregister Ahlwardt, Hermann 282f. Alexander IL (Zar von Rußland) 239 Alvensleben, Albrecht Graf v. 90f. Arndt, Ernst Moritz 135 Arnim-Muskau, Hermann Traugott Graf v.279,284f,311 Bäumer, Gertrud 299, 349, 352 Beck, Anton Eugen 319 Beisler, Hermann v. 126 Beizer, Emil 319, 323 Bensheimer, Alice 299 Berlepsch, Friedrich Ludwig Karl Hans 90 Bernstein, Eduard 319 Bernstorff, Christian Günther Graf v. 88 Beseler, Georg 112, 114, 120, 122f, 127, 135 Bethmann Hollweg, Theobald v. 215, 316 Beust, Friedrich Ferdinand Freiherr v. 152 Biedermann, Karl 112 Bindewald, Friedrich 282 Bismarck, Otto v. 157, 173, 195, 204f, 214, 222, 239, 246, 249, 256, 265f, 273f., 376 Bleichröder, Gerson v. 274 Blum, Robert 117 Blunck, Andreas 319 Bockum-Dolffs, Florens v. 174 Boczek, Karl 115 Boulanger, Georges 200 Braun, Karl 164, 172, 174f. Braun, Otto 366, 379 Brubaker, Rogers 17-19, 29

Brühne, Friedrich 320 Bruns, Carl Georg 368 Bülow, Bernhard Heinrich Martin Graf Fürstv. 275, 315f. Bülow, Detlev Wilhelm Theodor v. 209 Cahn, Wilhelm 236 Caprivi, Georg Leo Graf v. 272, 287 Christ, Anton 123 Claß, Heinrich 305 Conze, Werner 342 Delbrück, Clemens Gottlieb Ernst v. 319f Delbrück, Rudolf v. 173-175 Dernburg, Rudolf 236 Dieskau, Julius v. 112, 127 Dombek, Paul 323 Eichhorn johann Albrecht 81-84, 86-89 Einsiedel, Kurt v. 175 Einstein, Albert 377 Eisenmann, Johann Gottfried 126 Eisenstuck, Bernhard 126 Esterle, Carl 120 Fahrmeir, Andreas 18-20, 29f, 154, 157 Fillmore, Miliard 160 Flottwell, Eduard Heinrich v. 106f., 213 Frick, Wilhelm 365, 370, 384 Friedrich I. (König von Württemberg) 42, 47,59 Friedrich Wilhelm III. (König von Preußen) 76, 81, 212, 216 Friedrich Wilhelm IV (König von Preußen) 91, 94, 97f, 141

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Gayl, Wilhelm Freiherr v. 366 Giese, Ernst 319, 323 Giskra, Karl 115, 119 Globke, Hans 402 Goeden, Adolph 119 Göring, Hermann 378 Grawert, Rolf 17 Grumbrecht, August 174 Grzesinski, Albrecht 361 Hagke, Friedrich Bernhard Freiherr v. 172 Hammerstein, Kurt v. 165 Hardenberg, Karl August Fürst v. 82 Hasse, Ernst 279-281, 284f, 305, 311 Hauser, Oswald 202, 205 Heine, Wolfgang 353f Herder, Johann Gottfried 102, 213 Hering, Hermann 374 Hermann, Friedrich v. 126 Hermes, Otto 284 Herrfurth, Ernst-Ludwig 205 Himmler, Heinrich 377 Hitler, Adolf 370, 383, 389, 407f Hofmann, Karl v. 174, 287 Hohenlohe-Schillingfürst, Chlodwig Fürst zu 287-289 Imhoff, Freiherr v. Franz-Josef 364 Jacobskötter, Johannes Carl Wilhelm 282 Jahn, Friedrich Ludwig 124 Jan, Heinrich v. 364 Janiszewski, Johannes 117 Jaup, Karl 115 Johannsen, Gustav Heinrich Jörns 204 Jordan, Wilhelm 113, 118f, 135 Joseph IL (deutscher Kaiser) 33 Juckes, Hanna 307 Kaftan, Theodor Christian Heinrich 209 Kamptz, Karl Christoph Albert Heinrich v. 82, 86-89, 93, 95 Keudell, Walter v. 350 Kiderlen-Waechter, Alfred v. 317 Kitz, Arnold v. 164

Koch-Weser, Erich 344, 350, 363f Köller, Ernst Matthias v. 206, 209, 247 Koselleck, Reinhart 92 Lammers, Hans Heinrich 415 Landsberg, Otto 299, 319, 322 Lange, Helene 302 Langen, Friedrich Ernst Freiherr v. 282f Lehr, Adolf 311 Lewald, Otto Friedrich Theodor 309 Lichnowsky, Felix Fürst v. 119 Lieber, Ernst Philipp 283 Lieben, Eduard Wilhelm Hans v. 319 Liebknecht, Karl 321 Lösener, Bernhard 383f, 386, 389 Löwe, Wilhelm 173 Lüders, Marie Elisabeth 349f, 352 Ludwig XIV (König von Frankreich) 191 Mann, Klaus 377 Mann, Thomas 377 Manteuffel, Otto Theodor Freiherr v. 147,157, 159 Manteuffel, Edwin Hans Karl Freiherr ν 287 Mareck, Titus 113-115 Marshall, Thomas 16, 431 Martin, Konrad 222, 254 Matzen, Henning 206 Meier, Hermann Heinrich 161 Meinecke, Friedrich 192 Melly, Eduard 112 Metternich, Klemens Wenzel Nepomuk Lothar Fürst v. 82 Michelsen, Andreas 113, 128, 135 Miquel, Johannes 172, 174 Mittermaier, Carl 123 Mohl, Moritz 126, 132f, 282 Mohl, Robert ν 123 Montgelas, Maximilian Joseph Freiherr Graf v. 42, 44 Mühler, Heinrich Gottlob v. 92 Napoleon I. (Bonaparte, Kaiser von Frankreich) 60f, 72 463

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Napoleon III. (Louis Bonaparte, Kaiser von Frankreich) 201 Naumann, Friedrich 320 Nawiasky, Hans 342 Neuwall, Leopold v. 114 Nipperdey, Thomas 105, 213 Osterrath, Heinrich Phillip v. 126 Paasche, Hermann 283 Päpst, Naphtali 58 Palacky, Frantisek 108, 113 Peters, Carl 279 Pfundtner, Hans 384 Plathner Otto, 124 Posadowsky-Wehner, Arthur Adolf Graf v. 258, 315 Prosch, Karl-Friedrich 174 Puttkamer, Robert v. 205, 265f. Ratjen, Hans 312 Richthofen, Freiherr v. 323 Rickert, Heinrich 283 Riesser, Gabriel 132f Rochow, Gustav Adolf v. 90-93 Rönne, Ludwig v. 121 Rothschild, Emil 276 Rotteck, Karl v. 55, 129 Salzwedel, Gustav v. 126 Savigny, Carl Friedrich v. 122 Scheel-Plessen, Karl Freiherr v. 202-204 Scheller, Friedrich Ernst 112, 125 Schieder, Theodor 178, 217 Schieiden, Rudolf 175 Schlöffel, Friedrich Wilhelm 127 Schrader, Ludwig Christian 165 Schücking, Walther 349 Schuckmann, Friedrich Freiherr v. 88 Schuselka, Franz 117 Schwartz, Gustav 350

Seiß-Inquart, Arthur 415 Severing, Carl 358, 361, 366 Siemann, Wolfram 128f Simon, Heinrich 111 Smend, Rudolf 342 Sommaruga, Franz v. 115 Sprengel, Albert 125 Stauffenberg, Claus Graf Schenk v. 379 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 82 Steinmann, Georg v. 205 Stenzel, Gustav 117 Stourzh, Gerald 180 Stuckart, Wilhelm 401, 405, 414f Tellkampf, Johann Ludwig 112f, 121 Tirpitz, Alfred v.314f Treitschke, Heinrich v. 282, 284 Trützschler, Wilhelm Adolf v. 126 Tucholsky, Kurt 379 Venedey, Jacob 112, 117 Vogtherr, Ewald 283 Waitz, Georg 121 Walesrode, Ludwig Reinhold 70 Walker, Mack 51,54 Weber, Beda 126 Weber, Marianne 307 Wedekind, Eduard 127 Weismann, Robert 379 Weizsäcker, Ernst Freiherr v. 352 Welcker, Theodor 125 Werner, Johann Peter 112 Westphalen, Clemens v. 90 Wigard, Franz 125 Winter, Leopold 55 Winterer, Landelin 199 Wolfsthal, Josef 362 Zentner, Friedrich v. 53

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Sachregister Absolutismus 33f., 40, 49, 59, 70, 97, 177 Abstammungsprinzip, ius sanguinis 13, 18, 30, 32, 36, 48, 64, 73, 80, 85, 94, 96, 137, 149, 152, 156, 170f, 184, 280f., 286, 290, 294, 298, 320f, 323-325, 327, 366, 388f., 409, 423f., 426f., 430 Adel, Ritterschaft 44f., 91, 94 Alldeutscher Verband 279, 285, 305f., 309,311f.,332f.,335f. Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch, Österreich 1811 33, 35-37, 39f, 84f Antisemitismus 15, 239f., 267, 271f., 277, 282-285, 305, 310, 319, 321, 337, 375 Arbeitsmarktpolitik 223, 227 Armenfürsorge, Armenunterstützung 54, 58, 92, 126, 137, 152, 162 Aufenthaltsrecht 219, 221, 345 Aufnahmeprinzip, s. Erwerb der Staatsangehörigkeit Ausbürgerung, Expatriierung 222, 254256, 298, 302, 310 , 313f, 316, 328, 370, 376-381, 397, 422, 425, 427f, 431 Ausländer 25, 29, 31, 35, 40, 62, 82, 84, 90f, 93, 125, 131, 170, 179f, 188f, 218f, 248, 329, 339, 396-399, 432 Ausländerbeschäftigung 19, 184, 189, 222f, 227f, 231f, 267f, 321f, 324, 340, 346, 397-399, 419, 432 Auslandsdeutschtum, Auslandsdeutsche 21, 172f, 179, 259, 310, 313f, 316, 319-321, 331-337, 341, 367f Ausschluß, Exklusion 13,16,20,25,177, 212, 254-259, 275, 324, 425, 428 Auswanderung, Auswanderungsfreiheit 28,32,38,49-51, 63,87,93,121,158f, 161,181,238,260,340,398 Auswärtiges Amt 21, 257f, 313, 316f Ausweisung 191, 195f, 199f, 205-210, 214,220-223,226,245,251,253,266f, 273, 286, 370, 375, 398-400

Baden 21, 23, 32, 41, 43f, 46, 48-53, 55, 57f, 60, 137-139, 142, 157f, 182, 226, 248, 276, 423 Badisches Landrecht 49 Baltikum, Balten 259, 280, 406 Bancroft-Verträge von 1868 24, 158-162, 170, 260 Bayern 21, 23, 32, 41-45, 48, 51-54, 5759, 79f, 104, 137f, 158, 226, 273, 276, 354, 356-360, 362-365, 423 Beamte, Behörden 233, 235-237 Belgien 104, 112,129,289 Berlin 181, 244f, 256, 266, 273, 291 Bevölkerungspolitik 55, 96, 140f, 227, 293, 322, 355, 386, 414, 423 Blutschutzgesetz, s. Nürnberger Gesetze ›Blutsprinzip‹ (aufgrund der Nürnberger Rassegesetze von 1935) 385, 389, 392 Böhmen, Mähren 34, 109f, 115, 117119,402,416f 109f, 117-119 Braunschweig 168, 355 Bürger/Bürgerinnen 69, 295 Bürgergemeinde 52, 54, 70 Bürgergesellschaft 16, 433 bürgerliche Gesellschaft 34f, 69,105,432 Bürgerlichkeit -im Recht 89 Bürgerschaft 20 Bürgertum 20, 69, 105, 192 Bukowina 33f Bund Deutscher Frauenvereine 296 Bundesangehörigkeit 24, 28f, 103, 162, 176, 166 Bundesindigenat 28f, 162-165 Bundesstaat, Föderalismus 13f, 22, 35, 103, 113, 120, 122, 124, 128, 149, 175, 382 - Staatsangehörigkeit im Bundesstaat 13, 18, 20, 22-24, 32f, 35, 122f, 145f, 153,

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163, 167, 170, 172, 174f., 181-190, 234f, 246, 276, 317, 356f, 364 citizenship 12 citoyen 13 civil society 16 Code Civil 33, 49, 51, 85, 112 Dänemark, Dänen 24, 88, 107f, 134f., 155, 157, 163, 187, 200-211, 243, 262f., 286, 290, 292, 323, 338 Danzig404, 408, 410 Demokratie, Demokratisierung 11, 201, 224, 347f., 427, 432 Denaturalisation 370-374, 377, 427 Deutsche Demokratische Partei 349, 363f. Deutsche Kolonialgesellschaft 306f Deutscher, deutsch 29, 102f., 178-180, 259, 284, 344, 430 - Begriff 23, 101, 106-120, 124, 127, 131-134, 150, 179f, 341f, 401, 411, 422 Deutschstämmigkeit 345, 353, 355, 357359, 361-363, 366, 392 Domizilsprinzip, s. Wohnsitzprinzip Düsseldorf, Regierungsbezirk 3lf, 148 Eherecht, Ehebeschränkungen 55f, 59, 85, 138, 140, 297, 300, 301, 303-309, 385, 387, 393, 397, 399, 413 Ehrenamt 224f Eid, bei Erwerb der Staatsangehörigkeit 39, 48, 59, 65, 70, 88, 90f, 94, 209 Eigentumsrecht 126, 214-216, 229-231, 377, 431 Einbürgerung, Naturalisation, s. auch Statistik - als Gnadenakt 97 - implizite 30 - Kriterien 36, 49f, 63, 78, 87, 93, 97, 123f., 138, 185, 233, 241, 250-263, 268-277, 280, 293, 310, 322, 344 - Politik 20, 143-149, 186, 220, 222, 239, 245-277, 290, 318, 324, 333, 353-370, 382

- Praxis 24, 246-277 - rechtliche Institution 175 - Sprache als Kriterium 76, 187, 261, 264, 267f, 289, 310, 336, 363 - Verfahren 97, 170f, 178, 233-250, 265, 414 - Wiedereinbürgerung 259f, 335-337, 353 Einschluß, Inklusion, durch Staatsangehörigkeit 20, 212, 425, 428 Einwanderung 21, 58f, 62, 65f, 139, 243, 259-263, 282-285, 324, 333, 362 Einwanderungsland 62, 185, 240, 242, 244, 246, 267, 271, 280, 294, 424, 430 Einwohnergemeinde 55f, 70 Elsaß-Lothringen 176, 186f, 191-200, 212, 286-291, 338, 402, 404f. Emigration 193-200, 376f England 27, 90, 102, 112f, 275, 291, 320, 329, 349, 372, 427 Entlassung, aus der Staatsangehörigkeit 65 Erbgesundheit 381 f., 397 Erwerb, der Staatsangehörigkeit 30, 32 - durch Abstammung, s. Abstammungsprinzip - durch Adoption 77, 95f, 137, 170f. - durch Aufenthalt 137, 151, 154, 160 - durch Aufnahme 36f, 70, 80, 85f, 90, 92f, 101, 137, 149, 175f - durch Einbürgerung, s. Einbürgerung - durch Eintritt in den öffentlichen Dienst 37, 93f, 137, 142, 170, 184, 224, 272f, 326 - durch Geburt im Land, s. Territorialprinzip - durch Heirat 37, 49, 60, 93, 137 - durch Legitimation 93, 137, 140, 170 - durch Militärdienst 37 Ethnie, ethnisch 25, 366, 402 Eupen404, 417 Exklusion, s. Ausschluß Expatriierung, s. Ausbürgerung Familie 15, 189, 207, 294, 298, 301, 323, 378, 386

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- ›Einheit der Familie‹ in der Staatsangehörigkeit 37, 85, 88, 99, 140f, 155, 194, 199, 202, 297f, 301f, 306, 349f, 352, 386, 415f., 428f. Föderalismus, s. Bundesstaat Forensen 84 Fortschrittliche Volkspartei 308, 323 Fortschrittspartei 173 Frankreich 17, 24, 27, 29, 41, 67, 90, 102104, 112, 128-130, 187, 191-200, 243, 262, 293, 320, 338, 349, 351, 404, 421 - Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitspolitik 33, 287f, 292f, 427 Frauen 15, 39, 141, 294-308, 348-352, 428 - Staatsangehörigkeit 294 - Staatsangehörigkeit der verheirateten Frau 15, 24f, 37, 85, 95, 138, 140, 171, 294-303, 348-352, 386, 416, 428 Freisinnige Volkspartei 318 Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer 323 Galizien 33f. Gemeindeideologie, Kommunalismus 53, 123, 125, 127f Gemeindezugehörigkeit, Gemeindebürgerrecht, s. kommunales Bürgerrecht Gemeinschaft, Vergemeinschaftung 15, 17, 252f, 258,281,298f, 322,330,376, 396f, 399, 429 Generalgouvernement 418 Germanisierung 106,108,195,198,205f, 210,212-215,237 Gewerbefreiheit 228 Gleichheit 226f, 337, 354, 425 - Rechtsgleichheit 12, 23, 33f, 36, 39, 42, 48, 60, 88f, 96f, 131, 142, 177, 217f, 225, 300, 387f, 392, 397, 423, 425, 428, 432 Gothaer Konvention von 1851 24, 149, 153, 155-157 Griechenland 275 Großherzogtum Berg 67 Großherzogtum Warschau 61, 68 Grundgesetz 22, 422, 428

Grundrechte 106,111,116,128-135,147, 164,231,348,426 Gumbinnen 147 Hamburg 181 Hannover 60, 153-155, 168 Heimatrecht 54f, 57, 73, 83, 136f, 139 Heimatschein 74, 81, 151, 154, 156, 247 Herzogtum Westfalen 67 Hessen, Kurhessen 19, 32, 158, 168, 182 Historische Rechtsschule 122,125f, 128 Holstein 107, 109, 117, 134, 157, 168, 187, 191,200-211 Homogenität, Homogenisierung 13, 16, 23, 25, 106, 134, 136, 149, 165f, 191, 199, 218, 233, 265, 271, 277, 280f, 285, 317, 321, 325, 337, 340, 345, 358, 361, 371,377, 425f Identität, des Nationalstaats 14, 17, 425 Indigenat 48, 52, 57f, 82-84, 88f, 103, 124, 139, 164, 166 Industrialisierung 61-63, 72, 105, 136f, 146, 180-190 Institution, der Staatsangehörigkeit 15, 345 Integration 68, 249, 277 - Funktion der Staatsangehörigkeit 13f, 23, 34, 38, 41, 61, 104, 121, 128, 153, 165, 191,218, 292f, 388, 426 Italien 262, 275, 379f, 419 Ius sanguinis, s. Abstammungsprinzip Ius soli, s. Territorialprinzip Jesuiten 221, 256 Journalisten 241, 254, 257f Juden 15, 19f, 23-25, 57f, 65f, 75-78, 84, 86, 91f, 95f, 99f, 131-134, 144, 146-148, 165, 171, 190, 221, 228, 236, 239f, 244-246, 258, 265-277, 282284, 290-292, 300, 310, 316, 318f, 321, 324, 327, 330f, 337, 345, 354, 356-363, 365f, 370-376, 380-393, 394-397, 399-401, 403, 409, 413f, 417f, 420, 428, 430f Juristen, Kommentatoren der Staatsange467

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hörigkeit 17, 22, 122, 228f., 235f., 300, 348,374,389-391,393 Kärnten 405 Kaschuben 409 Kinder 37, 80, 85, 140, 159, 255, 261, 287, 324, 415 - uneheliche Geburt und Staatsangehörigkeit 75, 140f, 155f, 269 Kolonien 303-309 kommunales Bürgerrecht, kommunale Zugehörigkeit 50-58, 60, 64, 69f, 81, 83, 86, 90, 94f, 98f, 123-127, 138f, 153, 167f,294f Konservative Partei 278, 282, 310, 323 Konstitutionalismus 59, 129f, 426 Krain 405 Krieg, und Staatsangehörigkeit 14, 162, 166, 328-330, 333, 335, 349f, 372f, 404-420, 426 »Kulturdeutsche« 358, 361, 363, 366 Kulturnation 192, 201,265 Landesstaatsangehörigkeit 121, 123, 150, 175, 421 Landstreicher 78, 92, 151 Leitkultur 201 Liechtenstein 155 Litauer 256 Lombardo-Venetien 102 Lübeck 155, 181, 358 Luxemburg 404, 421 Malmedy 404, 417 Masuren 187, 190,409 Mecklenburg 181, 360 Mediatisierung 42, 45 Memelland 338 Mennoniten 75 Menschenrechte 23, 111, 128-130, 217, 229, 433 Migration, Wanderung 24, 30-32, 50, 62, 72, 74, 81, 136, 150, 178-190, 268 Militärdienst, Wehrpflicht 72, 76, 86, 91, 93, 97, 99f, 142, 159-162, 169-171, 173, 193f, 196-199, 202-206, 232f,

251-253, 260, 263, 268f, 274, 286-290, 295f, 312-317, 326, 328-330, 353, 356, 371, 430 Minderheiten 19, 34, 186, 400f - Rechte 165, 218, 343 - und Staatsangehörigkeit 113,187,201218 »Mischlinge« 303-309, 326, 393 Moresnet 404, 417 Multinationalität 108, 113, 119f, 134, 177 Nation 17, 103, 177, 299 - Begriff 107 - ethnisch-kulturell 110,115-120,156f, 192, 199, 427 - politisch 113, 133f, 195, 199, 217, 427 Nationalbewegung, Nationalismus 40, 173, 214, 236f, 265, 277, 315, 332 Nationalliberale Partei 278f, 282-284, 310,319f Nationalisierung 201f, 212f, 224, 226, 231, 233, 249, 277, 280, 299, 325, 424, 429, 431-433 - der Staatsangehörigkeit, s. Staatsangehörigkeit Nationalität 185-190, 207, 258-263, 372 - und Sprache 191f, 197, 213, 285, 339, 343 Nationalitäten 113-118, 120, 201f, 209, 263, 265, 277f, 281, 290, 424, 429 Nationalitätenrecht 114, 213 Nationalitätsprinzip 110, 115, 134, 225, 230f, 348, 431f Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei 344, 384, 404 Nationalstaat 11, 13, 17, 28, 89, 97, 103, 105, 108f, 130,133,177, 185, 263-277, 343, 433 Nationalversammlung von 1848/49 104135, 162-164, 170 Nation-building 11, 14, 19f Naturalisation, s. Einbürgerung Niederlande 157, 243, 261f, 286, 289 Niederlassung, Niederlassungsfreiheit 59, 63f, 77, 81, 98, 124, 126, 138, 162 Niederlassungsprinzip 70

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Nordschleswig 200-211, 338 Nürnberger Rassegesetze von 1935 21, 25, 369, 383-393, 420f. Oberschlesien 410 Optionen der Staatsangehörigkeit, Optanten 19,24,187,191-211,262f, 341, 360, 402 Ostafrika 304 Österreich 21, 23, 27, 33-41, 43f, 104f., 107f., 114-116, 119f, 134, 155, 157, 162-164, 177, 179, 243, 251, 261, 267, 320,344,379,401,417,423 - Staatsbürger, Staatsbürgerschaft 33, 35f, 38, 40, 43f, 104 Ostpreußen 106, 109f, 181, 266, 269, 273, 290f. Partikularismus der Länder, s. Bundesstaat Paßwesen 14, 74, 156, 165, 220, 233, 235, 247, 263, 340, 346, 377 Pauperismus 23, 54, 56, 62, 71, 81, 92, 105, 125, 127 Personalitätsprinzip 80 Polen 15, 19, 24f, 38, 81, 102, 106, 108110, 116-120, 135, 142-145, 147, 186190, 210-218, 221-223, 256, 259, 261, 263-277, 290-293, 318, 323f, 334, 340, 356, 360-362, 375, 399f, 404, 407, 409-413, 418f, 428-430 Posen 68, 76-78, 106, 109f, 116-119, 131, 135, 143-145, 181, 212, 263f, 269, 273f, 290, 338 Positivismus, juristischer 13, 22, 217 Preußen 21, 27, 32-34, 41, 43, 51, 57, 60, 62, 67-101, 104-107, 109, 125, 131f, 136-138, 140-148, 150-155, 157, 159f, 162, 177, 181-190, 200-218, 221, 226, 237-248, 250-277, 289-294, 318, 322f, 353-368, 373 - Heimatgesetzgebung von 1842 89, 92, 167 - Untertanengesetz von 1842 21, 23, 32, 44, 64, 67-101, 149, 166, 170, 423 Preußisches Allgemeines Landrecht von

1794 68f, 83, 85 Privatrecht, Privatrechtsordnung 35, 229 Quäker 75 Rasse 13, 24, 271, 275, 283-285, 303, 325f, 360, 365, 381f, 391f, 399, 403, 409, 425f, 428f - Rassestaat 25, 303-309, 383-393, 404420 - und Staatsangehörigkeit 271, 275, 303309, 325f, 369, 371, 383-393, 403, 428 Rechtsstaat 129, 216f, 220, 274, 371f. Reichsamt (Reichsministerium) des Innern 21, 235, 316 Reichsangehörigkeit, unmittelbare 176, 309, 342, 363, 382 Reichsbürger (aufgrund der Nürnberger Rassegesetze von 1935) 385,387,389f, 393-395, 404, 412, 420 Reichsbürgergesetz von 1935, s. Nürnberger Gesetze Reichsbürgerschaft, Reichsbürgerrecht, deusches Staatsbürgerrecht 23, 28, 111, 115, 120-128, 150, 153, 156, 162-164, 174 Reichsführer SS 407f, 410, 412 Reichspartei 278 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 21, 24, 278-327, 342, 422424, 427f. Reichsverfassung von 1849 111, 422 Religion, Religionszugehörigkeit 104106, 131-134, 190, 196f, 204, 213, 238-240,261, 269, 274, 284, 299, 318f, 358,391,429 - Protestanten - Katholiken 144, 187, 190, 192, 222, 254-256, 265, 276 - Juden, s.Juden Rheinland 181-190 Rückwanderung 259f Rumänien 275, 399 Rußland 73, 98, 142, 144, 147, 221, 243, 261,266f, 273, 280, 290, 292, 331-337, 351,380,399,419

469 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

Rußlanddeutschtum, Rußlanddeutsche 25, 173,252,331-337,425 Sachsen 21, 23, 60-66, 68, 80, 100, 105, 136, 139, 150-154, 168, 182, 360 Samoa 304, 308 Schlesien 127, 144, 269, 290 Schleswig 107, 109, 117, 134, 168, 187, 191,200-212 Schutzangehörige 410, 413f, 418, 420 Schutzbürger 50, 55, 58 Schutzverwandte 70, 413 Schweiz 123, 167, 243, 261, 427 Selbstbestimmungsrecht 201 Siebenbürgen 34 Sonderweg, deutscher 130, 426f. Sorben 66 Sozialdemokraten 221f, 225, 235, 241, 251, 254, 256f., 265, 270, 275, 283, 296, 299, 308, 318f., 321f. Sozialversicherungsrecht 225-227, 346f. Sprache, s. Einbürgerung, s. Statistik, s. Nationalität Sprachenpolitik 210, 213-217 Staat 23, 433 - als Arbeitsgemeinschaft 322f. - als Familie 301, 323 - ›männlicher Staat‹ 24, 294-309, 345, 428 Staatenlosigkeit 30, 150, 206, 210, 297, 300,323,329,349,375-377,395,413f., 417f.,420, 431 Staatsangehörigkeit - Abstammungsprinzip, s. Abstammungsprinzip - auf Widerruf 405, 410, 412, 414, 417f, 420 - Begriff 12, 43, 64,69,79,100, 110, 137, 155,367 - doppelte, mehrfache 39, 45-48, 85f, 88-91, 94, 141f, 158, 161, 173, 197, 248, 251, 281, 297f, 312f, 326, 415 - Erwerb, s. Erwerb der Staatsangehörigkeit - ethnisch-kulturelles Prinzip 17, 24, 134, 173, 259f, 291, 312, 315, 320f,

-

-

323, 325-327, 332, 335f, 337, 341, 422, 424f, 433 Formalisierung 48, 86, 141, 235, 237, 247 Institution des Nationalstaats 11, 20, 278-327 Institution des Rechts 104, 324, 378, 380, 387, 380, 387, 390, 393f, 414, 423 Instrument ethnischer Entmischung 402, 407, 412 matrilineares Prinzip 288 Nationalisierung 11, 14f, 18, 22, 24, 40, 66, 102, 106-108, 123, 150, 157, 166, 172, 178, 196, 200, 212, 221, 249, 252, 277, 320, 350f, 423f, 429 Öffentlichkeit 22, 97, 142, 166, 234, 239-241, 245, 249f, 311, 316 Option, s. Option patrilineares Prinzip 24, 75, 80, 85, 95, 140, 171, 298, 302f, 309, 352, 428 Politisierung 37f, 40, 106, 142, 166, 176, 196, 227, 247f, 303, 31lf, 320, 367,369,431 Rechte und Pflichten, s. auch Staatsbürgerschaft 11, 74f, 158, 313 Ritualisierung 38f, 48, 86, 175, 326 staatsnationales Prinzip 17, 24, 156, 168-174, 176, 201, 203, 205f, 208f, 291 f., 312, 315, 325-328, 337, 423, 425 Standardisierung 97, 247 Symbolkraft 319f,378f Territorialprinzip, s. Territorialprinzip Unverlierbarkeit 84, 158, 168, 173, 319f Verlust, s. Verlust der Staatsangehörigkeit Verreichlichung 235, 276f, 281, 317, 382, 424 Verstaatlichung, Entkommunalisierung 25, 97, 99, 138f, 149, 167, 234, 237, 248 Verträge 18f, 29f, 32, 80, 82, 85, 92, 100, 103, 136, 149-153, 155, 157-162, 183f,208, 210 Willensprinzip 84f, 87, 93, 161, 169, 174, 320, 414

470 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35165-0

- Wohnsitzprinzip, s. Wohnsitzprinzip Staatsbürgerschaft, Staatsbürger 12, 15, 23, 33, 35f, 38, 40, 43, 67, 87, 165, 397 - Begriff 12f., 42, 44, 63, 66, 83f. - bürgerliche Rechte 16, 20, 43, 431 f. - politische Rechte 16, 20, 43, 219-224, 294f., 297, 345, 347f., 432 - Rechte und Pflichten 12, 15, 87, 204, 218-233, 287, 304f., 330, 335, 345, 377f., 380f., 394-396, 429, 431-433 - soziale Rechte 16, 20, 226, 297, 346f., 375, 432 - wirtschaftliche Rechte 16, 227-229, 346f, 375 Staatsbürgerinnen 294-303, 348 Staatsbürgergesellschaft 56, 66, 69, 75, 78, 96, 433 Staatsnation 192 Stadtbürger, Stadtbürgertum 69 Stadtbürgerrecht, s. kommunales Bürgerrecht Stadtbürgerschaft, s. Bürgerschaft Stand, ständisch 23, 25, 387, 392 Standesherren 44-47, 142, 423 Statistik - der Einbürgerung 22, 145, 180, 237246, 266, 354, 358f. - Migration 31, 179, 181-190, 238 - Nationalitäten 216 - Sprache 187-189, 339 Sudeten 402, 417 Südwestafrika 304 Territorialprinzip, ius soli 13, 17, 28, 49, 80, 84,94, 110, 112, 114-121, 134, 151, 153, 156, 169, 184, 203, 209, 230f, 286f, 289f, 292-294, 321, 323f, 327, 348, 423, 427, 431 f. Thüringen 182, 365 Tschechen, tschechisch 27, 108f, 270, 318,338,401f.,416f Türkei 251 Ukraine 334f, 405, 417f Umsiedlung 406, 415 Untertan 15, 28, 34f, 42, 47, 62, 72f.

- Begriff 12, 64, 79, 81, 83f, 89, 96, 100, 137 Ungarn, ungarisch 27, 34, 40, 88 Ungleichheit 232, 296 - rechtliche 34, 68, 75-77, 88, 99f, 106, 210-218, 232, 295f, 335, 381, 387f, 392, 394 -397, 429 Unitarismus, unitarisch 23f., 32, 35f, 120-122, 124-128, 164f, 167,172,174, 176,363,382, 424f Untertanengesetz von 1842, s. Preußen Untersteiermark 405 Vagabund, s. Landstreicher Verband der Deutschen Juden 318f. Verein für das Deutschtum im Ausland 311,336 Vereinigte Staaten von Amerika 87, 104, 113, 121, 128, 158-162, 167, 179, 243, 260, 275, 280, 291, 349, 351f, 427 Verfassung des Norddeutschen Bundes 163, 174 Vergleich des Rechts 167, 172, 320, 372f, 379 Verlust der Staatsangehörigkeit 30, 32, 38, - durch Aufenthalt im Ausland 65, 73, 91f, 98, 151, 158, 168f, 172-174, 247, 281,312,319f, 427 Versammlungs-, Vereinsrecht 224 völkisch 25, 279, 321, 350, 366 Volk 103, 122, 128 - ethnischer Verband 132, 280, 284, 328, 342f, 367, 369, 392, 408, 433 - politischer Verband 11, 347, 367 Volksdeutsche 367, 404, 417f, 422 Volksgemeinschaft 310, 317, 326, 337, 396, 425, 427 Volksliste, Volkslistenverfahren 407-409, 41lf, 414, 416, 420 Volksnation 343-345 Volkstum, s. Volk, ethnischer Verband Volkstumspolitik 334, 410-412, 426 Volkszugehörigkeit 335, 342-345, 367f, 402f, 405-407, 409f, 413, 417f, 422, 425, 430 471

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Wahlrecht 223, 257, 296, 345 Wanderung, s. Migration Warthegau 408, 410 Wehrpflicht, s. Militärdienst Wehrgemeinschaft 159, 253, 298, 302, 310, 313, 315, 317, 326, 328, 330, 337, 425 Weimarer Reichsverfassung 343 Weltpolitik 314, 319f. Westfalen 181-190 Westpreußen 106, 109f., 181, 266, 269, 290, 338, 408 Wiedereinbürgerung, s. Einbürgerung

Willensprinzip, s. Staatsangehörigkeit Wohnsitzprinzip, ius domicilii 30, 32, 36, 38, 69, 73, 80, 85f, 91-96, 101, 137, 151, 154 Wolhynien 334f Württemberg 21, 23, 31, 41, 47, 49-54, 56f, 59f, 100, 104, 139f, 142, 147, 157f, 182,248,357,364,423 Zentrum (Partei) 283, 308, 319, 323 Zigeuner ( Sinti und Roma) 19, 228, 282, 388, 393, 409, 413, 420 Zwangseinbürgerung 421

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