Föderalismus in Deutschland: Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik [1 ed.] 9783412513221, 9783412513207

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Föderalismus in Deutschland: Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik [1 ed.]
 9783412513221, 9783412513207

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Dietmar Willoweit (Hg.)

Föderalismus in ­Deutschland Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik

Böhlau Verlag wien köln weimar

Veröffentlicht mit der Unterstützung durch den Magistrat der Stadt Fulda

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Berlin, Reichstagsgebäude Glasfenster – Südseite: »Eintracht«, Germania einigt die deutschen Stämme; Farblithographie. Aus: Das Reichstagsgebäude in Berlin von Paul Wallot, Leipzig (Cosmos Verlag für Kunst und Wissenschaft) 1897/1913. Berlin, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte. (©) akg images Korrektorat  : Anja Borkam, Jena Einbandgestaltung    : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51322-1

Inhalt

Zum Geleit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  9

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 11

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 13

Dietmar Willoweit

Einführung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 17

Rudolf Schieffer †

Desintegration und neue Integration auf dem Boden des fränkischen Großreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 27

Caspar Ehlers

Die Bedeutung der Leges Barbarorum für den Föderalismus. Rechtswirklichkeit, -transfer und -pluralität.. . . . . . . . . . . .

 43

Hans-Werner Goetz

Vom »Stamm« zum »Territorium«? Zur Genese, Struktur und Bedeutung der Großregionen (Stammesprovinzen und Herzogtümer) im Ostfränkischen Reich . . . . . . . . . . . . . . .

 59

Steffen Schlinker

Die Bedeutung des Krongutes für die Entwicklung der Herrschaftsräume.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 91

Dieter Weiß

Kaiser, Reich und Landesfürstentum – die Epoche Ludwigs des Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Horst Carl

Landfrieden und föderative Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Wolfgang Wüst

Die Reichskreise als föderale und regionale Elemente der Reichsverfassung (1500–1806) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

Georg Schmidt

Deutsche Freiheit statt Monarchisierung. Die föderale Einheit im Alten Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Kurt Andermann

Geistliche Herrschaft im Alten Reich und ihr Beitrag zur Ausbildung von Regionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Winfried Müller

Das Ende des Alten Reiches und Modelle der Neuordnung (1795–1813). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Reinhard Stauber

Föderative Staatlichkeit in der Mitte Europas. Zur Entstehung des Deutschen Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Harm-Hinrich Brandt

Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Jana Osterkamp

Föderale Ideen in der Habsburgermonarchie und die imperiale Vielfalt der Nationen und Territorien (1848–1867). . . . . . . . .

Katharina Weigand

Königlich-bayerische Träume von einem Dritten Deutschland ..

271

297

Dietmar Willoweit

Die Bundesstaaten im Deutschen Reich. Kompetenzen und politische Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Horst Möller

Föderalismus in der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . .

313

337

Inhalt 

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Arthur Benz

Unitarisierende und partikulare Kräfte im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kyrill-A. Schwarz

Der Bundesstaat des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . .

359

387

Albert Funk

Wer hat Angst vor Autonomie? Rückblick auf die regionale Eigenständigkeit als Dauermerkmal deutscher Geschichte. . . .

417

Verzeichnis der Abbildungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

429

Register der Länder, Regionen, Herrschaften, Herrschaftsmittelpunkte und geographischen Räume.. . . . . .

431

Register der Völkerschaften.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

438

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Geleit Bestattungsort eines Königs zu sein, ist ein Vorzug, den Fulda, wo Konrad I. seine letzte Ruhe fand, mit nur wenigen anderen deutschen Städten gemeinsam hat. Nicht zuletzt deswegen entschlossen sich vor beinahe zwei Jahrzehnten einige historisch Interessierte dazu, im Rahmen der Bürgerschaftlichen INITIATIVE unter dem Motto »Zukunft braucht Herkunft  !« dafür Sorge zu tragen, dass man sich der Bedeutung dieser geschichtlichen Gegebenheit mehr denn je bewusst ist. Vor diesem Hintergrund kam es auch zu dem vorliegenden Band »Föderalismus in Deutschland. Zu seiner wechselvollen Geschichte vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik«, der aus Vorträgen einer von der Bürgerschaftlichen INITIATIVE angestoßenen und im vergangenen Jahr in Kooperation mit der Stadt Fulda durchgeführten gleichnamigen Tagung hervorging, für deren wissenschaftliche Leitung dankbarerweise Herr Prof.  Dr.  Dr.  h.c.  Dietmar Willoweit gewonnen werden konnte. Diesem exzeptionellen Faktum der Genese der Publikation gingen Maßnahmen voraus, welche die Bürgerschaftliche INITIATIVE in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts herbeigeführt hat. Von denen bedarf insbesondere die unter der wissenschaftlichen Leitung von Herrn Prof. Dr. Hans-Werner Goetz abgehaltene Tagung, die ihren Niederschlag in dem Band »Konrad I. – Auf dem Weg zum ›Deutschen Reich‹  ?« fand, hier der Erwähnung. Im Rahmen der Auswertung des damaligen Tagungsgeschehens, bei der das von Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Dietmar Willoweit erstellte Werk »Deutsche Verfassungsgeschichte«, von zentraler Bedeutung war, ergab sich nämlich die Absicht, zukünftig den konsensualen Komponenten der Regentschaft Konrads  I. und deren Langzeitwirkungen besondere Beachtung zu schenken. Aus dieser Akzentuierung der weiteren Beschäftigung mit der historischen Person des in Fulda bestatteten Königs resultierte unsere Auffassung, das Zustandekommen und der Verlauf von dessen Herrschaft könnten als Wurzelgrund des bis heute praktizierten Prinzips föderaler deutscher Staatlichkeit gelten. Den Anlass dafür, von dieser These ausgehend eine wissenschaftliche Beleuchtung der wechselvollen Geschichte des Föderalismus in Deutschland zu bewirken, bot das herannahende Jubiläum »Fulda – seit 1100 Jahren Bestattungsort des Königs Konrad I.«, welchem der hiesige Oberbürgermeister, Herr Dr. Heiko Wingenfeld, erfreulich viel Gewicht beimisst.

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Zum Geleit

Damit steht er in der Tradition seiner Vorgänger, welche die von der Bürgerschaftlichen INITIATIVE entfalteten Aktivitäten von Anfang an sowohl ideell als auch materiell gefördert haben. Denn die Binnen- sowie die Außenwahrnehmung einer Ortschaft werden erheblich von deren Umgang mit ihrer Geschichte bestimmt. Und insofern dürfte auch dieser Tagungsband zur Wertschätzung der Stadt Fulda, welche die Herausgabe finanziell ermöglicht hat, beitragen. Zumal er wohl deutschlandweit Beachtung finden wird, da seine Thematik die politische Ordnung der Deutschen betrifft, deren föderaler Charakter immer wieder Anlass zu Reformdebatten gibt. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist zu hoffen, dass sich bei der Lektüre der gehaltvollen Aufsätze neue Zugänge zum Gestern ergeben mögen, die das Verständnis vom Heute erleichtern und aus denen Anregungen für Morgen entstehen. Beauftragte der Bürgerschaftlichen INITIATIVE Josef Hoppe

Dr. Thomas Heiler

Fulda, im Januar 2019, dem Zeitpunkt, zu welchem die Bestattung des Königs Konrad I. in Fulda 1100 Jahre zurückliegt

Vorwort

Dank des Engagements der »Bürgerschaftlichen Initiative« in Fulda und der Aufgeschlossenheit der Stadt Fulda für die Geschichte unseres Landes konnte dort vom 21. bis 24.  März 2018 ein wissenschaftliches Symposion über den deutschen Föderalismus stattfinden, dessen Beiträge in diesem Band nun der Öffentlichkeit vorgelegt werden. Hinter dem in großen Zügen bekannten Thema verbirgt sich die Frage nach dem Selbstverständnis Deutschlands, also seiner »Identität«. Ich danke allen Autorinnen und Autoren, die sich auf Nachforschungen darüber eingelassen haben. Mein Dank gilt auch Anton Schindling, Tübingen, den nur eine Erkrankung hinderte, sich an diesem Vorhaben mit einem Beitrag über die Reichskirche zu beteiligen. Dankenswerterweise hat sich an seiner Stelle Kurt Andermann kurzfristig bereit erklärt, einen solchen Beitrag zu verfassen. Eine Erkrankung zwang auch Hermann Rumschöttel, auf seine Teilnahme zu verzichten, weshalb ein Beitrag über die »Regionalität im ›Dritten Reich‹« in diesem Bande fehlen muss. Weiterführende Hinweise zu dieser Problematik habe ich daher in die Einführung eingefügt. Dank verdient auch die Stadt Fulda für ihre großzügige finanzielle Unterstützung und nicht zuletzt Frau Dr. phil. des. Stephanie Krauß M.A., die sich die Mühe bereitet hat, die eingegangenen Texte in formaler Hinsicht zu überarbeiten und einander anzugleichen. Die Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen des Böhlau-Verlages, Frau Dorothee Rheker-Wunsch und Frau Julia Roßberg war stets erfreulich und förderlich. Auch ihnen sei herzlich Dank gesagt. Vielleicht kann dieses Buch dazu beitragen, die mit dem Föderalismus gegebene Vielfalt nicht als Last zu empfinden, sondern Verständnis dafür zu wecken, wie tief und unwiderruflich föderales Denken in der deutschen Geschichte und damit auch in der Gesellschaft und im Staat unserer Gegenwart verankert ist. Dietmar Willoweit

Abkürzungsverzeichnis a. a. O. am angegebenen Ort Abs.  Absatz ADB Allgemeine Deutsche Biographie Aus Politik und Zeitgeschichte APuZ Art. Artikel Aufl. Auflage bay. bayerisch begr. begründet bes. besonders BGB Bürgerliches Gesetzbuch BT Bundestag BT-Drs. Bundestagsdrucksache BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Amtliche Sammlung bzw. beziehungsweise CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern CSU d. h. das heißt DBA Deutsche Bundesacte DDP Deutsche Demokratische Partei DDR Deutsche Demokratische Republik ders. derselbe dies. dieselbe DNA Desoxyribonukleinsäure EB Erzbischof ebd. ebenda ed. ediert EGBGB Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch erw. erweitert etc. et cetera Europäische Union EU EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft f. folgende FDP Freie Demokratische Partei GA Germanistische Abteilung GG Grundgesetz Ghzg Großherzog

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Abkürzungsverzeichnis

GWP

Gesellschaft. Wirtschaft. Politik. Sozialwissenschaften für politische Bildung GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HHStA LA Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Länderabteilung HJb Historisches Jahrbuch Hl. Heilig HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Historische Zeitschrift HZ i. E. im Erscheinen insges. insgesamt IPO Instrumentum Pacis Osnabrugense Jb.d.ö.R. Jahrbuch des öffentlichen Rechts Kaiser K./Ks. Kfz Kraftfahrzeug König Kg. Kgr. Königreich KPD Kommunistische Partei Deutschlands Lexikon des Mittelalters LexMA Lfg. Lieferung LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Lit. Literatur MGH Monumenta Germaniae Historica MGH LL Monumenta Germaniae Historica, Abteilung Leges MGH SS Monumenta Germaniae Historica, Abteilung Scriptores MIÖG Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Neue Folge N. F. ND Nachdruck/Neudruck NDB Neue Deutsche Biographie NRW Nordrhein-Westfalen NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei o. J. ohne Jahr Protokolle des österreichischen Ministerrats ÖMR op. cit. opere citato Partei des Demokratischen Sozialismus PDS PISA Programme for International Student Assessment (Internationale Schulleistungsuntersuchungen) RGBl. Reichsgesetzblatt RI Regesta Imperii Rn. Randnummer RTA Deutsche Reichstagsakten s. u. siehe unten SA Sturmabteilung

Abkürzungsverzeichnis 

sog. sogenannte/r SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StA Staatsarchiv Tz. Textziffer u. a. und andere und öfter u. ö. übers. übersetzt USA United States of America und so weiter usw. v. von vgl. vergleiche WSA Wiener Schlussakte WV Weimarer Reichsverfassung Z. Zeile ZBLG Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für historische Forschung ZHF zit. n. zitiert nach ZNR Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte ZRG ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik

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Dietmar Willoweit

Einführung I. Die Fragestellung II. Die Beiträge im Überblick III. Zum Karten- und Bildmaterial

I. Die Fragestellung

Ganze Generationen haben in Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts die Legende geglaubt, das einig Vaterland sei durch den »Partikularismus« der Fürstentümer in eine Vielzahl einzelner Staaten zerfallen.1 Während das Königtum in der Fremde [scil.: in Italien] in unfruchtbarem Kampf seine Kraft verzehrte, wucherte in Deutschland die Landeshoheit auf, deren Bildung die Zersplitterung unseres Vaterlandes, die Schwächung der Zentralgewalt bedeutet. Dieses Geschichtsbild des Historikers Heinrich von Sybel, dem sich der einflussreiche Georg von Below mit den zitierten Worten anschloss,2 hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben und diente sowohl dazu, die deutsche Reichsgründung von 1869/71 als erlösende Großtat der Nation zu feiern, wie auch, im Vergleich mit den westeuropäischen Staaten die Niederlage von 1918 verständlich zu machen. Das Lamento fand erst nach der Zuspitzung der Reichsidee durch das Führerprinzip im »Dritten Reich« ein Ende. Seitdem ist der deutsche Föderalismus in der Bundesrepublik politisch akzeptiert. Doch die alte Klage lebt im Verborgenen fort  : Es sei eben die 1871 »verspätete Nation« gewesen, die versucht habe, ihre Versäumnisse mit umso stärkerem Machtwillen und imperialistischen Bestrebungen auszugleichen. Diese von dem Philosophen 1 Über die ganz überwiegend negativen Konnotationen des Begriffs vgl. die Informationen bei Irmline Veit-Brause, Partikularismus, in  : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisch-politisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, Bd. 4 (1978), S. 735-766. Die Abwertung »partikularer« Staatlichkeit im 19. Jahrhundert als Hindernis deutscher Einheit reicht vom Vormärz über Karl von Rotteck und die Kritik am Deutschen Bund bis zu Heinrich von Treitschke, der im Partikularismus die Ursache für die »politische Entsittlichung der Nation« zu erkennen vermeinte. 2 Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters. Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte, 1914, S. 354, 356.

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Dietmar Willoweit

und Soziologen Helmuth Plessner seit 1959 ausgelöste Diskussion ist auch in der Gegenwart noch nicht vergessen.3 Die Geschichte der deutschen Vielstaaterei beeinflusst und belastet bis heute unser politisches Denken. Um sich von diesem Geschichtsbild zu befreien und es als eine nur spezifisch deutsche Nationalideologie wahrzunehmen, ist es notwendig, die realen Grundlagen der Vielfalt und Partikularität in Deutschland zu analysieren. Diese in unserem Lande besonders ausgeprägte Eigentümlichkeit erscheint gemeinhin als eine so selbstverständliche Banalität, dass sie über die Beschreibung der historischen Entwicklung und die Untersuchung einzelner Zeitabschnitte hinaus große Forschungsenergien nicht auszulösen vermochte. Eine Kooperation jedenfalls von Vertretern verschiedener historischer und angrenzender Disziplinen, um die partikularen Erscheinungen und föderalen Strukturen der deutschen Geschichte im Längsschnitt über mehr als eintausend Jahre hinweg zu verfolgen und zu erklären, ist bisher nicht versucht worden. Die Idee der bürgerschaftlichen »Initiative« in Fulda und die Einladung des dortigen Kulturamts, aus Anlass eines historischen Gedenktages ein wissenschaftliches Symposion über den deutschen Föderalismus zu organisieren, machte ein bisher wenig beachtetes Forschungsdefizit bewusst. Das den eingeladenen Referenten von mir vorgelegte Tagungskonzept sah vor, Regionalität als ein Charakteristikum deutscher Geschichte und Föderalismus als ihre rechtliche Organisation […] zu analysieren […]. Was […] ex post als »Staatsbildung« regional agierender deutscher Dynasten erscheint, dürfte vielfach von noch näherliegenden dynastischen, ökonomischen und herrschaftlichen Interessen abhängig gewesen sein. Mit dem Beginn der Neuzeit hat die Reformation neue Elemente regionaler Differenzierung entstehen lassen und föderative Regelungszwänge erzeugt oder stabilisiert. Diese haben auch die Aufklärung und die »Sattelzeit« überdauert. In der Bundesstaatlichkeit Deutschlands seit der Reichgründung lebt der Antagonismus einer selbstbewussten Regionalität und der politischen Gesamtordnung fort. Alle diese, hier nur anzudeutenden Komponenten der deutschen Geschichte zeigen, dass Regionalismus und Föderalismus […] eine offene, keineswegs determinierte Entwicklung durchlaufen haben. Dessen wirkungsmächtigste Faktoren unter möglichster Ausklammerung bisher geläufiger Geschichtsmodelle näher zu untersuchen, ist das Ziel des hier skizzierten wissenschaftlichen Vorhabens. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass 3 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes, 2.  Aufl. 1959, S.  39 ff. Vgl. a. die Hinweise von Wolfgang Wüst in seinem Beitrag im vorliegenden Band.

Einführung 

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die Partikularität der deutschen Herrschaftsgebilde nicht Spiegelbild zwangsläufiger Notwendigkeiten gewesen und daher nur deskriptiv zu schildern wäre, sondern auf dem Einfluss und der Gestaltung unterschiedlicher politischer Kräfte beruhte.

Die Probleme der Umsetzung dieses Konzepts beginnen bei der Terminologie. In einem Denkprozess, der die Geschichte des »Föderalismus« verstehen möchte, spielt die Ermittlung einer adäquaten Begrifflichkeit eine geradezu erkenntnisleitende Rolle. Denn Verständnis ist auf einem wenig behandelten Forschungsfeld nur mit begrifflichen Unterscheidungen zu gewinnen, die auch die sprachlichen und kategorialen Vorgaben unserer Gegenwart kritisch reflektieren. In diesem Sinne bedarf das Thema des vorliegenden Bandes vorab einer definitorischen und differenzierenden Eingrenzung, und dies in dreifacher Hinsicht  : Föderalismus weist erstens mit seinem Suffix »ismus« schon sprachlich auf eine abgeschlossene Systematik hin, wie sie etwa für eine festgeschriebene Verfassungsstruktur charakteristisch ist, nicht aber für einen historischen Entwicklungsprozess. Interessiert dieser in erster Linie, so ist es richtiger, von – möglicherweise – föderalen Strukturen oder überhaupt besser von Elementen der Föderalität zusprechen. Deren Merkmale aber zeichnen sich nach unserem Verständnis durch ein mehr oder minder ausgeprägtes Maß rechtlicher Verbindlichkeit aus, und dies in einem integrierenden Gesamtzusammenhang, wie er zum Beispiel dem frühneuzeitlichen Reichstag nicht abzusprechen ist. Davon zu unterscheiden sind zweitens Phänomene bloßer Partikularität mit einer zwar rechtlich fixierten Herrschaftslegitimation, jedoch ohne definierte Teilhabe am System der übergeordneten politischen Einheit, was sich etwa für die im Reichstag nicht vertretenen Reichsritter sagen lässt. Drittens sind föderale Strukturen von den Erscheinungen bloßer Regionalität zu unterscheiden, die sich aufgrund sozialer Vorbedingungen und politischer Entscheidungen herausgebildet haben. Sprachgemeinschaften, Siedlungsbedingungen, kulturelle Faktoren, Grenzziehungen und anderes konstituieren nicht Föderalität, können aber zu föderalen Verfestigungen führen. Alle diese Facetten unseres Themas – Föderalität, Partikularität und Regionalität – haben Entwicklungsprozesse durchlaufen, die hier in Hinblick auf die in diesem Band präsentierten Ergebnisse der Fuldaer Tagung kurz angedeutet seien. II. Die Beiträge im Überblick

Die historische Genese der Regionalität in jenem Raum, den später Deutschland darstellen und organisieren sollte, reicht in die Zeiten des Fränkischen Reiches

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Dietmar Willoweit

zurück. Zum Teil Erbschaft des römischen Imperiums, umfasste es von Anbeginn Angehörige verschiedener Völker, von denen einige bestimmten Siedlungsschwerpunkten zugeordnet werden können, ohne aber deshalb schon eine Region mit eigenem Profil zu konstituieren. Das gilt etwa für die Franken zwischen Niederrhein und Loire, aber ebenso für die Burgunder, die alle in Nachbarschaft mit der romanischen Bevölkerung lebten. Wie sehr diese Einwanderer der politischen Disposition des karolingischen Herrscherhauses unterworfen waren, zeigt die Reichsteilung von 843, als mit dem lotharingischen Mittelreich ein multiethnisches Gebilde geschaffen wurde, dessen nördliche Gebiete trotz ihrer künstlich geplanten Entstehung fortan das Eigengewicht einer Region »Lothringen« gewannen (Rudolf Schieffer †). Engere Bezüge zwischen germanischen Stämmen und von ihnen bewohnten Siedlungsräumen sind eher außerhalb der alten Reichgrenzen bei den Sachsen und Friesen festzustellen. Hier ist auch für die ihnen verordneten Leges eine quasi »territoriale« Geltung denkbar, während diese Rechtsquellen sonst – in den ethnisch gemischten alten Reichsgebieten – eher Regeln für Angehörige bestimmter Völker oder Stämme enthalten (Caspar Ehlers). Untersucht man das Vorkommen von Volks- und Gebietsnamen in den Quellen systematisch, so ergeben sich aufschlussreiche Einblicke in den Prozess der Regionenbildung und Unterschiede, zum Beispiel zwischen West- und Ostfranken  ; als weiterer Faktor der Regionenbildung lässt sich die Herrschaftsbildung führender Adelsgeschlechter ausmachen (Hans-Werner Goetz). Das Frühmittelalter bietet zwar Anhaltspunkte für die Wahrnehmung früher Regionen, aber nahezu nichts, was auf die Entstehung föderaler Beziehungen hindeutet, wenn man einmal von der kontroversen Diskussion um gelegentlich auftretende »Amtsherzöge« absieht. Regional anerkannte und begrenzte Herrschaftsgewalt ist noch lange als »partikular« anzusprechen, ohne dass man schon einen föderalen Zusammenhang der eher locker kooperierenden Einzelgewalten feststellen könnte. Doch ändert sich das Bild allmählich seit dem 12. Jahrhundert. Die Verfassungspolitik Kaiser Friedrichs I. schuf mit der Etablierung des Kreises der Reichsfürsten ein formalisiertes Verhältnis zwischen der Zentralgewalt und den wichtigsten Partikulargewalten, indem es diese legitimierte und sie andererseits an den Entscheidungen des Reichsoberhauptes teilhaben ließ. Mit der Entstehung des Kurfürstenkollegs band sich das Königtum dauerhaft an Entscheidungen einer noch engeren Gruppe bestimmter, besonders angesehener Territorialherrscher, die schließlich »das Reich« repräsentierten. Das hatte auch Konsequenzen für ihre Herrschaftsgebiete, deren Kernlande seit der Goldenen Bulle von 1356 nicht mehr geteilt werden durften. Diese Entwicklung beruhte insofern auf den besonderen Verhältnissen des Ostfränkischen Reiches, als des-

Einführung 

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sen Könige von Anbeginn nur über begrenzte Möglichkeiten einer »reichsunmittelbaren« Herrschaft verfügten. Im Gegensatz zu dem auf spätrömischen Strukturen und Besitzungen im Zentrum des Landes aufbauenden Westfrankenreich erstreckte sich das ostfränkische Königsgut zwar auch vor allem auf ehemals römischem Boden, aber deshalb begrenzt auf die Gebiete an Rhein, Main und Mosel  ; die später hinzugekommenen Besitzungen am Harz boten keinen Ansatz für eine wesentliche Machterweiterung mehr. Daher fiel es der kaiserlichen Politik nicht schwer, den Status des Reichsgutes durch Veräußerungen, vornehmlich an geistliche Würdenträger, dem längst üblichen Prinzip der regionalisierten Herrschaftswahrnehmung anzupassen (Steffen Schlinker). Auf diese Weise, also durch aktives Eingreifen der Politik, bildeten sich auch neue Regionen mit eigenem politisch-geistlichem Profil, wie die Herzogtümer Westfalen und Franken. Diese politische Strukturierung des Reiches erscheint nur durch die Brille des neuzeitlichen Nationalstaates als ein Zerfallsprozess der Reichsgewalt und Sieg partikularer Interessen über das Königtum. Zutreffender ist diese Entwicklung als eine unter den gegebenen Voraussetzungen realistische Diversifizierung von Herrschaft mit deren gleichzeitiger Legitimierung durch das Reichsoberhaupt zu begreifen. Der Logik dieses Systems entsprach auch die Hausmachtpolitik der königlichen Herrscher des 14. und 15. Jahrhunderts, die aber wegen der Existenz anderer, ebenso legitimierter Territorialgewalten stets an Grenzen stieß, in ihrem jeweiligen Herrschaftsraum jedoch stabilisierend wirkte (Dieter J. Weiß). Kraftvolle Schritte, dieses Nebeneinander partikularer Herrschaftsgewalten nicht nur durch königliche Hoftage und Gerichtsurteile, sondern durch föderale Bindungen weiter zu intensivieren, sind erst im 15. Jahrhundert zu beobachten. Das überbordende Fehdewesen im Inneren des Reiches und zunehmend auch die drohende Türkengefahr zwangen zu neuen Formen institutionalisierter Kooperation. Das älteste für die Eindämmung der Fehde zur Verfügung stehende Instrument waren die Landfrieden, seit der Stauferzeit befristet und räumlich begrenzt eingesetzt. Ihre Bedeutung für die Herausbildung regionaler Formen des Zusammenwirkens unterschiedlicher Herrschaftsträger und damit von Regionalbewusstsein ist kaum zu überschätzen. Mit dem Schwäbischen Bund entstand seit 1488 ein handlungsfähiges Verfassungsgebilde, das vorbildhaft die 1495 in dauerhafte Institutionen einmündende Reichsreform beeinflusste (Horst Carl). Für die nunmehr rechtlich viel weitergehend als bis dahin festgeschriebene Reichsverfassung wurde ihre durch und durch föderale Gestalt charakteristisch, die danach zwar mehrfachem Wandel unterlag, aber niemals mehr in vorföderale, flexible Formen der Partikularität und nur regional bedingter Unterschiedlich-

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Dietmar Willoweit

keit zurückfallen konnte. Die Details der vielfach untersuchten und daher gut bekannten Verfassung des Alten Reiches waren nicht Gegenstand des vorliegenden Forschungsinteresses. Doch die reichsweite Organisation der verschiedenen und vielfach mindermächtigen Reichsstände in den Reichskreisen war zu berücksichtigen, weil diese wichtige Funktionen frühmoderner Staatlichkeit übernahmen und ohne Zweifel das Regionalbewusstsein mit kräftigen Impulsen förderten (Wolfgang Wüst). Allen Versuchen des Kaisertums, dennoch im Reiche eine imperiale Monarchie zu errichten, begegnete der selbstbewusste Anspruch, die »deutsche Freiheit« zu bewahren (Georg Schmidt). Die Vielfalt der im Reiche geschützten Lebens- und Herrschaftsformen motivierte nicht nur die Ablehnung egalisierender Maßnahmen absolutistischer Großstaaten. Sie hatte am Ende des Alten Reiches so tiefe Wurzeln geschlagen, dass regionale Unterschiedlichkeit eine Selbstverständlichkeit geworden war und die politische Realität der deutschen Fürstentümer emotionale oder intellektuelle Wünsche nach einem großflächig organisierten Einheitsstaat auf deutschem Boden als bloßen Traum disqualifizierte. Eindrucksvolle Zeugnisse der prägenden Kraft regionaler Herrschaftsverhältnisse sind noch heute in fast allen deutschen Ländern aufzufinden, am vielleicht lebendigsten aber in den ehemals geistlichen Staaten und deren Einflusszonen (Kurt Andermann). Die föderalen, also rechtlich maßgeblichen Beziehungen zwischen den deutschen Staaten und im Verhältnis zum Reich unterlagen freilich trotz aller ausgeprägten Regionalitäten seit dem Beginn der französischen Revolutionskriege radikalen Veränderungen, ohne aber jemals gänzlich zu verschwinden. Auch das mit dem Frieden von Lunéville 1801 nur noch rechtsrheinisch existente und infolge der Säkularisierungen und Mediatisierungen mit reduzierter »Partikularität« tiefgreifend veränderte Reich sollte sich in föderalen Strukturen reorganisieren. Nichts anderes geschah seit 1806 jedenfalls auf dem Papier in Gestalt des Rheinbundes, nachdem sich die seit dem Basler Frieden zwischen Frankreich und Preußen von 1795 angedeutete Nord-Süd-Teilung des Reiches durch Napoleons Sieg über Preußen 1806 als Phantom erwiesen hatte und in demselben Jahr das Reich untergegangen war (Winfried Müller). Erneut schienen unabsehbare politische Gestaltungsmöglichkeiten gegeben, als die Großmächte seit 1814 in Wien über einen Deutschen Bund zu verhandeln begannen, alsbald aber die »Mindermächtigen« einbeziehen mussten und schließlich eine von Vorläufigkeit, Unfertigkeit und vom Zeitdruck geprägte Föderation »souveräner« Staaten aus der Taufe hoben (Reinhard Stauber). Immer ging es in den Jahren seit dem Niedergang des Alten Reiches darum, auf welche Weise die politische Vielfalt Deutschlands föderal organisiert werden sollte, niemals aber um die Frage »ob

Einführung 

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überhaupt«. Dass dabei auch viele alte Herrschaftsgebilde untergingen und neue Herren Loyalitäten einforderten, mussten einerseits die Betroffenen erdulden wie andererseits die politisch Mächtigen solche Veränderungen als ihr Recht in Anspruch nahmen  : Aus Rheinländern und Sachsen wurden Preußen, aus Kurpfälzern Badener, aus Franken Bayern, Württemberger oder Badener usw. Doch unter einer territorial begrenzten deutschen Regierung zu leben, war selbstverständlich. Mit dem Revolutionsjahr 1848 öffnete sich nochmals ein schmales Zeitfenster mit Perspektiven föderaler Verfassungspolitik, weil nun die Frage der deutschen Einigung nach einer Antwort verlangte und vergleichbare Probleme die Monarchie der Habsburger zu lösen hatte. Diese erwies sich mit verschiedenen theoretischen Konzepten, dem 1848 in Prag zusammentretenden Slawenkongress und dem Versuch eines neoabsolutistischen Regiments mit »verwaltungsföderalistischen« Strukturen geradezu als ein Experimentierfeld föderalistischer Verfassungspolitik ( Jana Osterkamp). Für einen erneuerten Deutschen Bund ersann man in Wien einen Reformplan, der Deutschlands Zukunft hätte sein sollen und auf dem Frankfurter Fürstentag 1863 kontrovers diskutiert wurde, jedoch in Abwesenheit Preußens. Seine wohldurchdachten, wenngleich komplizierten Regelungen spiegelten die außerordentliche Komplexität des deutschen Föderalismusproblems wider. »Kontrafaktische Erwägungen« über die mögliche Effektivität dieses Entwurfs, der hier ausführlicher als bisher geschehen vorgestellt wird, münden in Skepsis (Harm Hinrich Brandt). Unterdessen hing das bayerische Verfassungsdenken der Idee an, dem »Dritten Deutschland« größeren Einfluss zu verschaffen, was die Koordination und Kooperation der in dieser »Trias« zu versammelnden Staaten vorausgesetzt hätte. Daran jedoch fehlte es (Katharina Weigand). Dass Bismarcks kleindeutsche Einigungspolitik mit der seit 1866 vorangetrie­ benen Prussifizierung weiterer Gebiete Deutschlands nur zu einer asymmetrischen Bundesstaatlichkeit führen konnte, war den Zeitgenossen bewusst und in der Wissenschaft niemals umstritten. Doch stellt sich in Hinblick auf die fortdauernde Lebenskraft des Föderalismus die Frage, welche innenpolitischen Spielräume den deutschen Staaten mit ihren vielen gekrönten Häuptern im wilhelminischen Reich verblieben waren. Während der Gesetzgebung des Reiches im Vergleich mit jener der Einzelstaaten schon wegen ihrer ökonomischen und sozialpolitischen Auswirkungen ein ungleich größeres Gewicht zukommt, lassen die Haushaltspläne der deutschen Bundesstaaten doch viel »Bürgernähe« erkennen, weil die Verwaltung fast völlig Ländersache blieb (Dietmar Willoweit). Dieses für den deutschen Föderalismus seit der Reichsgründung charak-

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teristische Verfassungssystem blieb auch für die Weimarer Republik maßgebend, nachdem sich Zentralisierungsideen und Versuche, das Übergewicht Preußens zu mindern, als unrealistisch erwiesen hatten. Doch die wirklichen Probleme der Weimarer Republik und ihrer Verfassungspraxis beruhten gerade nicht auf ihren föderalistischen Elementen (Horst Möller). Die Nationalsozialisten aber versuchten, mit dem »Führerprinzip« ein scheinbar auf den ersten Blick schon per definitionem zentralistisches System zu etablieren. Hermann Rumschöttel hatte es für die Tagung in Fulda und den vorliegenden Band übernommen, die besondere Eigentümlichkeit der Hitler-Diktatur in Hinblick auf die dennoch verbliebene »Regionalität im ›Dritten Reich‹« zu analysieren. Eine Erkrankung hinderte ihn daran. Daher sei an dieser Stelle mit ganz wenigen Worten und den wichtigsten Literaturhinweisen angedeutet, wie die Forschung das Verhältnis von Zentralität und Regionalität unter den Bedingungen des Nationalsozialismus bisher beurteilt hat. Sie betont vor allem die Differenz zwischen dem herkömmlichen Zentralismus bürokratisch-etatistischer Art, wie er sich in manchen Staaten Europas seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hatte und seit 1933 tatsächlich auch von Teilen der Berliner Ministerialbürokratie angestrebt wurde, einerseits, und Hitlers keinem »System« entsprechenden Führungsstil andererseits. Dieser duldete trotz der seit 1933 erlassenen Gleichschaltungsgesetze4 keine neuen, ihn bindenden Gesetzmäßigkeiten. Daraus erwuchsen nicht nur die bekannten »polykratischen« Elemente des Regimes, sondern auch Spielräume für machtbewusste oder von Hitler besonders favorisierte Gauleiter in ihren räumlich begrenzten Einflusszonen. Andererseits ließen sich die föderalen Traditionen gerade auch der süddeutschen Staaten nicht abrupt aus den Köpfen der dort in höheren Ämtern tätigen Parteichargen vertreiben.5 Nach der desaströsen Geschichte des »Dritten Reiches« konnte es nicht überraschen, dass die föderale Grundlage der nach dem Zweiten Weltkrieg neu zu gründenden, nicht zufällig jetzt ausdrücklich so genannten Bundesrepublik au4 Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich. Vom 31. März 1933, RGBl. I S.  153  ; Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich. Vom 7.  April 1933, RGBl. I S. 173  ; Gesetz über den Neuaufbau des Reiches. Vom 30. Januar 1934, RGBl. I S. 75  ; Reichsstatthaltergesetz. Vom 30.1.1935, RGBl. I S. 65 u. a. 5 Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hrsg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, 1996  ; Hermann Rumschöttel/Walter Ziegler (Hrsg.), Staat und Gaue in der NS-Zeit. Bayern 1933–1945 (ZbLG Beih. 21), 2004  ; Jürgen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Regionale Mittelin­ stanzen im zentralistischen Führerstaat, 2007.

Einführung 

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ßer Frage stand. Die Vorgeschichte der Bundesrepublik begann mit der Reorganisation und Bildung neuer deutscher Länder aus den Resten Großpreußens in Westdeutschland und nach den Vorgaben der alliierten Zonengrenzen. Der sich damit von Anbeginn abzeichnende Föderalismus auch des neuen Deutschland entsprach nicht nur einer Forderung der Siegermächte, sondern auch nachdrücklichen Wünschen vor allem süddeutscher Politiker. Auch die sowjetische Besatzungszone ist trotz des bals erkennbaren Willens zur politischen Uniformität zunächst, bis 1952, in Länder aufgeteilt. Die für das Grundgesetz der Bundesrepublik gefundenen verfassungsrechtlichen Regelungen erwiesen sich jedoch nicht in jeder Beziehung als ausreichende und dauerhafte Lösungen. Sehr bald zeigten sich Tendenzen der Unitarisierung, unterstützt durch die frühzeitig einsetzende Kooperation der Länder auf vielen Verwaltungsebenen, auch durch Einbeziehung der Zentralgewalt in genuine Aufgabenfelder der Bundesländer, sodass schließlich unübersichtliche Formen der »Politikverflechtung« entstanden. Auch Föderalismusreformen gelang es nicht, ein stabiles Gleichgewicht zwischen der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse und der Bewahrung politischer Freiräume der Bundesländer herzustellen. Trotz dieser sowohl aus politologischer Sicht (Arthur Benz) wie nach staatsrechtlichem Verständnis (Kyrill-A. Schwarz) unbefriedigenden Spannungslage zwischen gesamtstaatlichen Bedürfnissen und einzelstaatlichen Interessen sieht sich der Föderalismus keiner lautstarken Grundsatzkritik ausgesetzt. Zu intensiv hat er in der Geschichte der Bundesrepublik die Bundesländer in die Entscheidungen der politischen Zentrale eingebunden und zu lebendig ist immer noch die Vielfalt der Regionalismen, die gleichsam den emotionalen Humus der Länderstaatlichkeit bilden. Selbst innerhalb der Ländergrenzen findet verschiedenartiges Regionalbewusstsein Formen der Selbstdarstellung und -bestätigung. Solche Beobachtungen sprechen dafür, dass der Entstehung föderaler Verfassungsverhältnisse letztlich ein elementarer Freiheitswille zugrunde liegt, der gegenüber den mächtigeren Herrschafts- und Staatsgewalten einen Raum der Autonomie zu sichern sucht (Albert Funk). III. Zum Karten- und Bildmaterial

Einer Erläuterung bedarf die in diesem Band getroffene Kartenauswahl. Das Thema verlangt nach Visualisierung, und der Leser möchte nicht mit dem Hinweis auf geläufige historische Atlanten abgespeist werden, die auch nicht immer zeigen, was zu erörtern war. In einigen wenigen Fällen haben die Autoren selbst

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Kartenbilder entworfen. Im Übrigen habe ich mich aus zwei Gründen dafür entschieden, eher auf ältere Kartenwerke – überwiegend aus dem späten 19. Jahrhundert  – zurückzugreifen. Zum einen verdienen sie es, als wissenschaftsgeschichtliche Zeugnisse einer noch nicht weit zurückliegenden Forschungsepoche, die bis heute unser Geschichtsbewusstsein beeinflusst, in Erinnerung gerufen zu werden. Die kritische Distanz, die diese Karten mit ihren bestimmten Grenzziehungen herausfordern, dürften den wissenschaftlichen Dialog nur fördern. Zum anderen zeigen sie vielfach Details der Herrschaftsverteilung, wie sie in neueren Übersichtskarten aufgrund fortgeschrittener Einsichten der landesgeschichtlichen Forschung kaum noch gewagt werden. Das Verständnis der Genese föderaler Beziehungen indessen mögen solche Vergröberungen eher fördern, weil es für diese Fragestellung nicht auf den Einblick in landesgeschichtliche Mikrostrukturen, sondern auf die Herausbildung der größeren politischen Räume ankommt. Für einige Beiträge stand passendes Kartenmaterial nicht zur Verfügung. D ­ afür boten aussagekräftige Grafiken (im Beitrag von Hans-Werner Goetz) oder weithin unbekannte Bilder (zu den Beiträgen von Harm-Hinrich Brandt und Katha­ rina Weigand) wertvolles Anschauungsmaterial. Nicht mehr eingearbeitet werden konnte das große Werk von Andreas Rutz über »Die Beschreibung des Raums« mit Themen und Details, die auch in Beiträgen dieses Bandes teils erörtert, teils für diese von unmittelbarer Bedeutung sind, wie die Frage nach der sog. »grenzenlosen Herrschaft« im Mittelalter, die vormodernen Verfahren der Grenzmarkierung, das Aufkommen der Kartographie als Instrument der Verwaltung und die Grenzziehungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.6 Der Blick auf die historischen Karten vergegenwärtigt die unwiderrufliche Tatsache, dass Deutschlands unterschiedliche Landschaften mit ihren »Stämmen« stets regionalen Herrschaftsgewalten unterworfen waren. Diese entwickelten ihren eigenen politischen Stil, ihre eigenen Verwaltungstraditionen und bestimmten lange Zeit selbst die Konfession der Untertanen. Bis heute sind es daher nicht zufällig die Länder, die dem Bürger gegenüber die Staatsgewalt repräsentieren.

6 Andreas Rutz, Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich, 2018 (Norm und Struktur Bd. 47).

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Desintegration und neue Integration auf dem Boden des fränkischen Großreichs I. Merowingische Voraussetzungen II. Einheit und Vielfalt unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen III. Die Auflösung des Großreichs IV. Der Weg zu neuen Einheiten

Auf dem Würzburger Historikertag von 1980 hielt Josef Fleckenstein einen weit ausholenden Vortrag, worin er die Entwicklung des Frankenreichs zwischen 500 und 900 mit den Kategorien Integration und Desintegration beschrieb.1 Eben dieser Blickwinkel bestimmt auch die folgenden Überlegungen. I. Merowingische Voraussetzungen

Als erste Phase der Integration sah er die Reichsgründung Chlodwigs I. und das Regiment seiner merowingischen Nachfolger an, die sich militärisch in ganz Gallien und auch bereits rechts des Rheins Geltung verschafften und im Unterschied zu den meisten anderen Barbarenherrschern ihrer Zeit die Loyalität der bodenständigen Romanen durch deren Beteiligung an der administrativen Macht, vor allem aber die eigene Hinwendung zu deren katholischem Christentum zu gewinnen verstanden.2 Nach einer gewissen Erschlaffung im 7. Jahrhundert leitete der 751 vollendete Aufstieg der Karolinger zum Königtum die zweite Phase ein, in der die Monarchie im Bündnis mit dem Papsttum gesteigerte Autorität als Gottesgnadentum erlangte3 und mit tatkräftiger Unterstützung des Adels, der an den Erfolgen beteiligt wurde, die Grenzen ihrer Herrschaft über 1 Josef Fleckenstein, Das Großfränkische Reich  : Möglichkeiten und Grenzen der Großreichsbildung im Mittelalter, in  : HZ 233 (1981), S. 265–294 (auch in  : ders., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters, 1989, S. 1–27). 2 Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich, 3. Aufl., 2004  ; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, 2011  ; Martina Hartmann, Die Merowinger, 2012  ; Sebastian Scholz, Die Merowinger, 2015. 3 Josef Semmler, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung, 2003  ; Der Dynas-

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die Alpen, über die Pyrenäen und bis an die Elbe vorschob, was das regnum Francorum endgültig zum Vielvölkerstaat machte und Hand in Hand ging mit der Ausbreitung von Christentum und Kirche überall in Mitteleuropa.4 Den Beginn einer dritten Phase der Integration setzte Fleckenstein um 800 an, als die äußere Expansion des Reiches an ein Ende kam und gleichzeitig aus der Rangerhöhung Karls des Großen zum Kaiser ein kräftiger Impuls erwuchs, das Großreich mit der lateinischen Christenheit in eins zu setzen und nach kirchlichen Maßstäben umzugestalten, was eine allgemeine Bildungserneuerung einschloss.5 Um die bis ins frühe 9. Jahrhundert fortschreitende, allenfalls zeitweise stagnierende Integrationsleistung recht zu ermessen, muss einerseits festgestellt werden, dass nie wieder im europäischen Mittelalter ein derart großer Raum einem einzigen politischen Willen unterworfen war, gleiche normative Weisungen in Gestalt von Kapitularien empfing und die Voraussetzungen für dauerhafte Innovationen in der Reichsverwaltung, im Gerichts-, im Heer- und im Münzwesen, vor allem aber im Bereich von Kirche und Kultur bot.6 Andererseits ist gebührend zu betonen, dass das Karlsreich alles andere als ein Einheitsstaat im modernen Sinne war oder sein sollte. Schon die Merowinger hatten keine flächendeckend gleichmäßige Herrschaft ausgeübt, sondern es mit einer Fülle von regionalen und lokalen Machthabern zu tun gehabt, die gerichtliche, fiskalische und militärische Befugnisse wahrnahmen

tiewechsel von 751. Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, hrsg. von M. Becher/J. Jarnut, 2004. 4 Wilfried Hartmann, Karl der Große, 2010, S. 82–111  ; Bernard S. Bachrach, Charlemagne’s Early Campaigns (768–777). A Diplomatic and Military Analysis, 2013  ; Matthias Becher, Gewaltmission. Karl der Große und die Sachsen, in  : C. Stiegemann/M. Kroker/W. Walter, Credo. Christianisierung Europas im Mittelalter. Bd. 1, Essays, 2013, S. 321–329  ; Malte Prietzel, Lernen durch Kriege. Die Feldzüge Karls des Großen und die Weltsicht der politischen Elite, in  : Karl der Große/ Charlemagne. Orte der Macht. Essays, hrsg. von F. Pohle, 2014, S. 58–65. 5 Timothy Reuter, The End of Carolingian Military Expansion, in  : Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814–840), hrsg. von P. Godman/R. Collins, 1990, S. 391–405 (auch in  : ders., Medieval Polities and Modern Mentalities, 2006, S. 251–267)  ; Thomas Martin Buck, »Capitularia imperatoria«. Zur Kaisergesetzgebung Karls des Großen von 802, in  : HJb 122 (2002), S. 3–26  ; Rosamond McKitterick, The Carolingian Renaissance of Culture and Learning, in  : Charlemagne. Empire and Society, hrsg. von Joanna Story, 2005, S. 151–166  ; Steffen Patzold, Die Kaiseridee Karls des Großen, in  : Pohle (wie Anm. 4), S. 152–159. 6 Karl Ferdinand Werner, Missus  – Marchio  – Comes. Entre l’administration centrale et l’administration locale de l’Empire carolingien, in  : Histoire comparée de l’administration (IVe-XVIIIe siècles), hrsg. von W. Paravicini/K. F. Werner, 1980, S.  191–239 (auch in  : ders., Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs. Ursprünge – Strukturen – Beziehungen, 1984, S. 108–156)  ; Matthew Innes, Charlemagne’s Government, in  : Story (wie Anm. 5), S. 71–89.

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und im romanischen Süden Galliens als comites (mit Bezug auf eine civitas), im Norden als grafiones bezeichnet wurden.7 Dazu kamen mächtige »Bischofsherrschaften«, die erst von den Hausmeiern des frühen 8.  Jahrhunderts beseitigt wurden.8 Nur in den Randgebieten des Reiches entstanden großräumige Dukate bzw. Prinzipate mit militärischer Bedeutung.9 Aus der nach dem Tod Chlodwigs I. (511) einsetzenden Praxis der Reichsteilungen unter den erbberechtigten Königssöhnen erwuchsen zunächst ad hoc abgegrenzte Teilreiche, die sich mit der Zeit zu der Dreizahl von Austrien, Neustrien und Burgund mit je eigener Führungsschicht verfestigten.10 Darüber hinaus wurde das Reich durch seine ethnisch-sprachliche ­V ielfalt strukturiert. Sein Name war regnum Francorum, abgeleitet von einem Volk, dem Gregor von Tours am Ende des 6. und der sog. Fredegar um die Mitte des 7. Jahrhunderts eine ruhmreiche Geschichte zugeschrieben hatten,11 doch fränkisch besiedelt war allein der Kernraum zwischen Loire und Rhein, und nur allmählich drang der Frankenname im 9.  Jahrhundert auch ostwärts in die Mainlande vor.12 Die von den Merowingern und vor allem den Karolingern nach und nach vereinnahmten anderen Völker (gentes) bestanden, wenn auch ohne monarchische Spitze, neben den Franken weiter und traten durch gesonderte Heeresaufgebote, durch je eigene Rechtsüberlieferung wie auch als   7 Werner Hechberger, »Graf, Grafschaft«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 2, 2012, Sp. 509–522.   8 Bernhard Jussen, Über ›Bischofsherrschaften‹ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ›Antike‹ und ›Mittelalter‹, in  : HZ 260 (1995), S. 673–718  ; Hans Hubert Anton, »Bischofsherrschaften« und »Bischofsstaaten« in Spätantike und Frühmittelalter. Reflexionen zu ihrer Genese, Struktur und Typologie, in  : Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit, hrsg. von F. Burgard/C. Cluse/A. Haverkamp, 1996, S. 461–473.   9 Karl Ferdinand Werner, Les principautés périphériques dans le monde franc du VIIIe siècle, in  : I problemi dell’occidente nel secolo VIII, 1972, S. 483–514 (auch in  : ders., Structures politiques du monde franc (VIe-XIIe siècles). Études sur les origines de la France et de l’Allemagne, 1979, Nr. II)  ; Andrea Stieldorf, Marken und Markgrafen. Studien zur Grenzsicherung durch die fränkisch-deutschen Herrscher, 2012, S. 36–47. 10 Eugen Ewig, Überlegungen zu den merowingischen und karolingischen Teilungen, in  : Nascita dell’Europa ed Europa carolingia  : un’equazione da verificare, 1981, S.  225–253 (auch in  : ders., Spätantikes und Fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften, Bd. 3, 2009, S. 287–315)  ; Ian Wood, The Merovingian Kingdoms, 450–751, 1994  ; Franz-Reiner Erkens, »Divisio legitima« und »unitas imperii«. Teilungspraxis und Einheitsstreben bei der Thronfolge im Frankenreich, in  : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 52 (1996), S. 423–485  ; Sören Kaschke, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis und Normvorstellungen in zeitgenössischer Sicht, 2006. 11 Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, 2006, S. 116–174  ; Ulrich Nonn, Die Franken, 2010  ; Helmut Reimitz, History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, S.550–850, 2015. 12 Jürgen Petersohn, Franken im Mittelalter. Identität und Profil im Spiegel von Bewußtsein und Vorstellung, 2008, S. 60–128.

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räumliche Gliederungen (regna) bei Reichsteilungen sichtbar in Erscheinung. Während einzig das Langobardenreich mit dem regnum Francorum in Personalunion verbunden war (seit 774),13 galten Burgunder und aquitanische Romanen, Alemannen und Bayern, Friesen, Sachsen und Thüringer untereinander als gleichrangig.14 Ihre Verschmelzung zu einem einzigen Reichsvolk lag außerhalb des Vorstellbaren, vielmehr blieben ihre normativen Gepflogenheiten nach dem Prinzip der Personalität des Rechts – neben der fränkischen Lex Salica und der Lex Ribuaria – in Kraft und wurden ebenso wie diese auf Betreiben Pippins des Jüngeren und Karls des Großen neu formuliert und ergänzt, teils überhaupt erstmals lateinisch kodifiziert.15 Forderungen einer geistlichen Elite um Erzbischof Agobard von Lyon († 840), die zur Zeit Ludwigs des Frommen danach strebte, »die Vielfalt der Volksrechte« (diversitas legum) im Geiste des Christentums zu überwinden, weil vor Gott kein Unterschied sei zwischen »Aquitaniern und Langobarden, Burgundern und Alemannen«, und stattdessen zu einer allen gemeinsamen lex Francorum gelangen wollte,16 stießen politisch ins Leere, offenbar weil sie der vorwiegenden Erfahrung von Unterschiedlichkeit zuwiderliefen. Ein eher gangbarer Weg der Integration, den Karl schon früh einschlug, lag darin, nicht nur Gefolgsleute aus dem eigenen fränkischen Herkunftsmilieu, sondern auch Anführer aus den übrigen Völkern am Vollzug der Herrschaft zu beteili13 Herwig Wolfram, Intitulatio I  : Lateinische Königs- und Fürstentitel bis zum Ende des 8. Jahrhunderts, 1967, S. 217–220  ; Giovanni Tabacco, L’avvento dei Carolingi nel regno dei Longobardi, in  : Langobardia, hrsg. von S. Gasparri/P. Cammarosano, 1990, S. 375–403  ; Giuseppe Albertoni, L’Italia carolingia, 1997. 14 Erich Zöllner, Die politische Stellung der Völker im Frankenreich, 1950  ; Hans-Werner Goetz, Gens – Regnum – Lex. Das Beispiel der Franken, in  : Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hrsg. von G. Dilcher/E.-M. Distler, 2006, S. 537–542  ; Janet L. Nelson, Frankish Identity in Charlemagne’s Empire, in  : Franks, Northmen and Slavs. State Formation in Early Medieval Europe, hrsg. von I. H. Garipzanov/P. J. Geary/P. Urbańczyk, 2008, S. 71–83. 15 Rosamond McKitterick, The Carolingians and the written word, 1989, S. 37–75  ; Wilfried Hartmann, Karl der Große und das Recht, in  : Karl der Große und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, hrsg. von P. Butzer/M. Kerner/W. Oberschelp, Bd. 1, 1997, S. 173– 192  ; Gerhard Dilcher, Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle normativer Traditionen germanischer Völkerschaften bei der Ausbildung der mittelalterlichen Rechtskultur. Fragen und Probleme, in  : Dilcher/Distler (wie Anm. 14), S. 15–42. 16 Agobard, Adversus legem Gundobadi c. 4, 3, 7, hrsg. von L. van Acker, 1981, S. 21, 20, 23  ; vgl. Egon Boshof, Erzbischof Agobard von Lyon. Leben und Werk, 1969, S.  41–43  ; Arnold Angenendt, Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter, in  : Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, hrsg. von P. Wunderli, 1994, S. 27–52, hier S. 41.

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gen und deren Verschwägerung mit dem fränkischen Adel zu begünstigen. So formierte sich binnen weniger Jahrzehnte eine Anzahl hochmögender Familien, die im Dienste der Karolinger zu Ämtern, Besitz und Verwandtschaft in mehreren, mitunter weit auseinanderliegenden Regionen gelangt war und von der Forschung als Reichsaristokratie bezeichnet worden ist.17 Aus dieser »staatstragenden« Schicht des Großreichs gingen gegen Ende des 9. Jahrhunderts diejenigen Machthaber hervor, die die Karolinger im Königtum ablösten. II. Einheit und Vielfalt unter Pippin, Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen

Die unter den Merowingern entstandene Herrschaftsarchitektur, die den Vorfahren Karls des Großen den Aufstieg an die Spitze des Adels in Austrien, dann in der gesamten Francia und schließlich den Griff nach dem Königtum erlaubt hatte,18 blieb auch unter der neuen Dynastie grundsätzlich erhalten. Charakteristisch für die untere Ebene waren weiterhin die Grafschaften, die sich bald auch in Sachsen, Bayern, Italien und Aquitanien (in spezifischen Abwandlungen) fanden, aber wohl nie zu einem lückenlosen System perfektioniert worden sind.19 Das Vorrecht der Könige auf Auswahl und Einsetzung der Grafen stieß schnell an faktische Grenzen, die aus der Rücksicht auf Erbansprüche und die regionalen Machtverhältnisse resultierten. Gleichzeitig wurden die Amtssprengel der Grafen zunehmend durchlöchert durch die Privilegierung kirchlicher Immunitätsbezirke, die für ihre weltlichen Belange eines Vogts bedurften und damit eine weitere Form von Adelsherrschaft erzeugten.20 Eine zeitweilig recht wirksame 17 Gerd Tellenbach, Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, 1939, S. 41– 69  ; Karl Ferdinand Werner, Bedeutende Adelsfamilien im Reich Karls des Großen, in  : Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hrsg. von H. Beumann, Bd. 1  : Persönlichkeit und Geschichte, 1965, S. 83–142 (auch in  : ders., Frankenreich (wie Anm. 6), S. 22–81  ; Josef Fleckenstein, Adel und Kriegertum und ihre Wandlung im Karolingerreich, in  : Nascita (wie Anm. 10), S. 67–94 (auch in  : ders., Ordnungen (wie Anm. 1), S. 287–306)  ; Werner Hechberger, Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter. Zur Anatomie eines Forschungsproblems, 2005, S. 186–194. 18 Jörg W. Busch, Die Herrschaften der Karolinger 714–911, 2011, S. 2–15  ; Karl Ubl, Die Karolinger. Herrscher und Reich, 2014, S. 17–30  ; Rudolf Schieffer, Die Karolinger, 5. Aufl., 2014, S. 11–60. 19 Hans K. Schulze, Die Grafschaftsorganisation als Element der frühmittelalterlichen Staatlichkeit, in  : Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 14 (1990), S. 29–46  ; Hechberger (wie Anm. 17), S.  194–201  ; Roman Deutinger, Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit, 2006, S. 146–165. 20 Ingrid Heidrich, Die Verbindung von Schutz und Immunität. Beobachtungen zu den merowingi-

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Neuerung der Karolinger war die Aussendung von bevollmächtigten geistlichen und weltlichen Königsboten, die in ihrem jeweiligen Bezirk der Zentrale zur Überwachung und gegebenenfalls Korrektur der lokalen Instanzen dienten.21 Auf der mittleren Ebene hatte der Aufstieg der Karolinger gerade darin bestanden, die aus eigenem Recht herrschenden Familien in den Randzonen (wie Thüringen, Alemannien, Bayern, Aquitanien) nach und nach auszuschalten, um die Kontrolle über das ganze Reich bis an seine äußeren Grenzen zu gewinnen.22 Innerhalb der Familie schloss das Reichsteilungen zwischen gleichberechtigten Brüdern nicht aus, wie sie von 741/42 bis 747 unter den Hausmeiern Karlmann und Pippin23 oder von 768 bis 771 unter den Königen Karl und Karlmann24 bestanden. Karl der Große ließ sich die alleinige Hoheit über die zentrale Francia zeitlebens nicht nehmen, richtete aber an der Peripherie früh schon räumlich abgegrenzte Teilherrschaften größeren Umfangs ein, die innerhalb der Familie verblieben  : 781 Italien und Aquitanien für die im Kindesalter stehenden Söhne Pippin und Ludwig, nach 788 Bayern für den Schwager Gerold.25 806 tauchte dann bei der Regelung seiner Nachfolge in der Divisio regnorum auch wieder das Konzept der Teilbarkeit des gesamten Reiches auf, um drei Söhne einigermaßen gleichmäßig bedenken zu können.26 Tatsächlich verwirklicht wurde eine solche Realteilung jedoch erst 843 schen und frühkarolingischen Schutzurkunden für St. Calais, in  : ZRG GA 90 (1973), S. 10–30  ; Josef Semmler, Iussit … princeps renovare … praecepta. Zur verfassungsrechtlichen Einordnung der Hochstifte und Abteien in die karolingische Reichskirche, in  : Consuetudines monasticae. Eine Festgabe für Kassius Hallinger aus Anlaß seines 70. Geburtstages, hrsg. von J. F. Angerer/J. Lenzenweger, 1982, S. 97–124  ; Dietmar Willoweit, »Immunität«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 2, 2012, Sp. 1180–1192. 21 Werner (wie Anm. 6)  ; Deutinger (wie Anm. 19), S. 165–187  ; Matthias Hardt, »Königsbote«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 3, 2016, Sp. 31–33. 22 Joachim Jahn, Hausmeier und Herzöge. Bemerkungen zur agilolfingisch-karolingischen Rivalität bis zum Tode Karl Martells, in  : Karl Martell in seiner Zeit, hrsg. von J. Jarnut/U. Nonn/M. Richter, 1994, S. 317–344. 23 Heinz Joachim Schüssler, Die fränkische Reichsteilung von Vieux-Poitiers (742) und die Reform der Kirche in den Teilreichen Karlmanns und Pippins, in  : Francia 13 (1985), S. 47–112  ; Matthias Becher, Eine verschleierte Krise. Die Nachfolge Karl Martells 741 und die Anfänge der karolingischen Hofgeschichtsschreibung, in  : Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung, hrsg. von J. Laudage, 2003, S. 95–133. 24 Ulrich Nonn, Zur Königserhebung Karls und Karlmanns, in  : Rheinische Vierteljahrsblätter 39 (1975), S. 386 f.; Jörg Jarnut, Ein Bruderkampf und seine Folgen  : Die Krise des Frankenreiches (768–771), in  : Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Friedrich Prinz, hrsg. von G. Jenal, 1993, S. 165–176 (auch in  : ders., Herrschaft und Ethnogenese im Frühmittelalter. Gesammelte Aufsätze, 2002, S. 235–246). 25 Brigitte Kasten, Königssöhne und Königsherrschaft. Untersuchungen zur Teilhabe am Reich in der Merowinger- und Karolingerzeit, 1997, S. 138–165. 26 Peter Classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in  : Festschrift für Hermann

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im Vertrag von Verdun.27 Zum Erscheinungsbild der Mittelgewalten des Karolingerreiches gehören schließlich die zur Grenzsicherung eingerichteten Markgrafschaften, die nach Größe und militärischem Potential die Grafschaften im Binnenland übertrafen und daher ein gewisses Eigengewicht erlangten.28 Beim Blick auf die früh- und hochkarolingische Integration des Großreichs, die häufig als Grundlegung Europas gewürdigt worden ist, wird leicht übersehen, dass in den Quellen die Vereinheitlichung des Reiches kaum je als ausdrückliches Ziel des politischen und legislativen Handelns bezeichnet wird. Vielmehr waren es störende Divergenzen in der Ordnung und liturgischen Praxis der Kirche, die Bedrückung der unteren Schichten, Klagen über Ungerechtigkeiten vor Gericht oder Beeinträchtigungen des Handels durch Münzvielfalt, die das Einschreiten des Kaisers herausforderten, konkrete Missstände also oder auch nur historisch bedingte Entwicklungsunterschiede der verschiedenen Regionen, die überwunden oder doch gemildert werden sollten.29 Die Wahrung und Steigerung der Reichseinheit wurde augenscheinlich nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern muss als die objektiv eingetretene Konsequenz vieler subjektiv anders begründeter Einzelmaßnahmen eingeschätzt werden. Die Einheit des Reiches war für Karl den Großen nicht einmal davon abhängig, dass ein einziger Gebieter an der Spitze stand, denn er sah in der bereits erwähnten Divisio regnorum, seinem politischen Vermächtnis von 806, eine Aufteilung unter dreien seiner Söhne vor, die nur deshalb nicht verwirklicht wurde, weil Pippin und Karl vor dem Vater starben und ihren Bruder Ludwig den Frommen als Universalerben zurückließen. Heimpel, hrsg. von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 3, 1972, S. 109– 134 (auch in  : ders., Ausgewählte Aufsätze, 1983, S.  205–229)  ; Johannes Fried, Erfahrung und Ordnung. Die Friedenskonstitution Karls des Großen vom Jahr 806, in  : Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter, hrsg. von B. Kasten, 2008, S.  145–192  ; Sören Kaschke, Tradition und Adaption. Die »Divisio regnorum« und die fränkische Herrschaftsnachfolge, in  : ebd., S. 259–289. 27 François Louis Ganshof, Zur Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Vertrages von Verdun (843), in  : Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 12 (1956), S.  313–330  ; Thomas Bauer, Die Ordinatio imperii von 817, der Vertrag von Verdun 843 und die Herausbildung Lotharingiens, in  : Rheinische Vierteljahrsblätter 58 (1994), S. 1–24. 28 Karl Ferdinand Werner, La genèse des duchés en France et en Allemagne, in  : Nascita (wie Anm.10), S. 175–207, (auch in  : ders., Frankenreich (wie Anm. 6), S. 278–310)   ; Stieldorf (wie Anm. 9), S. 47–108  ; Stefan Tebruck, »Markgraf«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 3, 2016, Sp. 1302–1304. 29 Rudolf Schieffer, Die Einheit des Karolingerreiches als praktisches Problem und als theoretische Forderung, in  : Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa, hrsg. von W. Maleczek, 2005, S. 33–47.

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Überhaupt gilt es im Auge zu behalten, dass die von 751 bis 840, also neunzig Jahre währende Alleinherrschaft des aktuellen Familienoberhaupts, nur unterbrochen von den drei Jahren der Rivalität zwischen Karl und seinem Bruder Karlmann von 768 bis 771, durch den genealogischen Zufall bedingt war, dass jeweils nur ein Thronerbe bereitstand. Angesichts des im Bewusstsein der Franken fest verankerten Erbanspruchs jedes Königssohns stellte das eine Ausnahmesituation dar, die kaum zukunftsfähig war.30 Von der »Einheit des uns von Gott bewahrten Reiches« (unitas imperii a Deo nobis conservati), die unter Karl nie in solcher Weise beschworen worden war, war denn auch erst die Rede, als Ludwig der Fromme 817 mit der Ordinatio imperii den Versuch unternahm, seinem zum Kaiser erhobenen Sohn Lothar  I. einen dauerhaften Vorrang vor dessen bloß königlichen Brüdern zu verschaffen, weil eine Aufteilung diesen Söhnen zuliebe ein scandalum »in der heiligen Kirche« (in sancta ecclesia) hervorrufen und sogar Gott beleidigen könne, in dessen Macht alle Reiche lägen.31 Der Fortbestand der monokratischen Einheit erscheint hier als Bedingung bleibenden göttlichen Wohlwollens für das Herrscherhaus, für die Großen, für alle. III. Die Auflösung des Großreichs

Das Scheitern dieses traditionswidrigen und wohl von Anfang an nicht unumstrittenen Zukunftsplans, das sich seit der ersten großen Reichskrise von 829/30 abzeichnete,32 markiert für Fleckenstein und viele andere Betrachter den historischen Wendepunkt, an dem die fortwährende Integration des Großreichs in das Stadium der Desintegration umschlug.33 Nicht als ob über Nacht alles anders geworden wäre. Wesentliche strukturelle Errungenschaften der vorausliegenden Zeit wie die Grafschaftsverfassung und die Grundherrschaft (im bipartiten System), das Schöffenwesen und die einheitliche Währung, nicht zuletzt die Kirchenorganisation und das aufblühende Schulwesen blieben unberührt von den 30 Dieter Hägermann, »Divisio imperii« von 817 und »divisio regni« von 831. Überlegungen und Anmerkungen zu »Hausgesetzen« Karls des Großen und Ludwigs des Frommen, in  : Kasten (wie Anm. 26), S. 291–299. 31 Ordinatio imperii, hrsg. von A. Boretius, in  : MGH Capitularia, Bd. 1, 1883, S. 270 f.; vgl. Schieffer (wie Anm. 29), S. 44. 32 Steffen Patzold, Eine »loyale Palastrebellion« der »Reichseinheitspartei«  ? Zur »Divisio imperii« von 817 und zu den Ursachen des Aufstands gegen Ludwig den Frommen im Jahre 830, in  : Frühmittelalterliche Studien 40 (2006) S. 43–77. 33 Fleckenstein (wie Anm. 1), S. 291 f. (Ordnungen S. 24–26).

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Zerwürfnissen im Herrscherhaus, die dazu führten, dass Ludwig der Fromme die Autorität verlor, um allseits akzeptierte Vorkehrungen für die künftige Aufteilung der Macht zu treffen.34 Nach seinem Tod entschied dann ein dreijähriger Krieg der Söhne darüber, dass das Kaisertum nicht länger eine alles überwölbende Klammer der Einheit bildete,35 sondern sich einzufügen hatte in die Gesamtherrschaft der drei Brüder, die 843 in Verdun bloße Demarkationslinien ihrer Zuständigkeitsbereiche verabredeten. Auch wenn die Beteiligten das nur als temporären Modus Vivendi betrachteten und weiter die Vorstellung vom fortbestehenden regnum Francorum als gemeinsamem Besitz des karolingischen Hauses proklamierten,36 konnte es doch mit der Zeit nicht ausbleiben, dass die faktisch autonomen Teilreiche unterschiedliche Ziele verfolgten und sich in offene Gegensätze zueinander verstrickten. Dazu trugen neben persönlichen Animositäten der Könige und den Ambitionen ihrer Söhne, die gemäß den nun obwaltenden Maximen auf zeitige Sicherung ihres Erbteils bedacht waren,37 vor allem Rivalitäten unter ihren adligen Gefolgschaften bei, nachdem die Reichsaristokratie im Zuge der karolingischen Bruderkämpfe zerfallen war.38 Nicht zu unterschätzen ist zudem die wachsende Herausforderung durch äußere Feinde wie die Normannen im Norden39 und die Sarazenen im Süden,40 denen nicht mit 34 Janet L. Nelson, The Last Years of Louis the Pious, in  : Godman/Collins (wie Anm. 5), S. 147–159 (auch in  : dies., The Frankish World 750–900, 1996, S. 37–50). 35 Janet L. Nelson, The search for peace in a time of war  : the Carolingian Brüderkrieg, 840–843, in  : Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, hrsg. von J. Fried, 1996, S. 87–114. 36 Reinhard Schneider, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft. Der Auflösungsprozeß des Karlingerreiches im Spiegel der caritas-Terminologie in den Verträgen der karlingischen Teilkönige des 9. Jahrhunderts, 1964, S. 49–53  ; Josef Semmler, Eine Herrschaftsmaxime im Wandel  : Pax und concordia im karolingischen Frankenreich, in  : Frieden in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Historischen Seminar der Universität Düsseldorf 1985, S. 24–34. 37 Kasten (wie Anm. 25), S. 378–557. 38 Gerd Tellenbach, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge. Zugleich eine Studie über kollektive Willensbildung und kollektives Handeln im neunten Jahrhundert, in  : Frühmittelalterliche Studien 13 (1979), S. 184–302 (auch in  : ders., Ausgewählte Abhandlungen, Bd. 2, 1988, S. 503–621). 39 Johannes Fried, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter, in  : Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hrsg. von J. Miethke/K. Schreiner, 1994, S. 73–104  ; Die Wikinger und das Fränkische Reich. Identitäten zwischen Konfrontation und Annäherung, hrsg. von K. P. Hofmann/H. Kamp/M. Wemhoff, 2014. 40 Ekkehard Eickhoff, Seekrieg und Seepolitik zwischen Islam und Abendland. Das Mittelmeer unter byzantinischer und arabischer Hegemonie (650–1040), 1966, S. 173–232.

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dem schwerfälligen Reichsheer der Könige, sondern nur mit dezentraler Abwehr durch regionale oder lokale Machthaber wirksam zu begegnen war. Die Desintegration seit der Spätzeit Ludwigs des Frommen betraf somit die oberste Spitze des politischen Systems, nicht dessen strukturelle Grundlagen. Sie wurzelte nicht in einem plötzlichen Unvermögen, des Riesenreichs in zuvor gewohnter Weise Herr zu bleiben, oder gar in einer objektiven Unmöglichkeit, ein Imperium dieser Größenordnung dauerhaft zusammenzuhalten,41 sondern darin, dass die exzeptionellen Voraussetzungen, unter denen dies seit Pippins Tagen gelungen war, durch die personelle Entwicklung der Dynastie hinfällig wurden.42 Das Nebeneinander mehrerer gleichrangiger Könige, das fortan zur Regel wurde, war gleichbedeutend mit einer Relativierung von monarchischer Autorität überhaupt und eröffnete den führenden Männern in den einzelnen Regionen zuvor ungekannte Handlungsspielräume, denn der jeweilige Status quo erschien nun als etwas Vorläufiges, jederzeit Veränderbares. So wurden aus den drei Reichen des Vertrags von Verdun nach dem Tod Lothars  I. 855 infolge der Dreiteilung des Mittelreichs insgesamt fünf und schon bald vier, nachdem der jüngste Erbe ohne Nachkommen gestorben war. Kinderlosigkeit oder Kinderreichtum in den einzelnen Zweigen des Herrscherhauses wurden zum Politikum ersten Ranges. Während das Reich Lothars II. unterging, weil ihm die Legitimierung eines Sohnes von umstrittener Herkunft misslang, hatte Ludwig der Deutsche die konkurrierenden Erwartungen von drei Söhnen im Zaum zu halten, während sich bei Karl dem Kahlen das Bestreben zeigt, erbberechtigte Söhne in den geistlichen Stand zu zwingen, um die Einheit des Westfrankenreichs nicht aufs Spiel zu setzen.43 Als es 870 dahin kam, dass es nördlich der Alpen nur noch zwei Frankenreiche gab, die wir im langfristigen Rückblick gern als Vorformen Frankreichs und Deutschlands einschätzen,44 war das im Erleben der Zeitgenossen ein ganz vergänglicher Zustand, denn schon 876 zerfiel der Osten durch Erbteilung in drei Reiche, von denen sich eines mit Italien verband, und 880 erzwangen im Westen verfeindete Adelsgruppen die Aufteilung unter den beiden halbwüchsigen Söhnen Ludwigs des Stammlers, sodass es zeitweilig wieder fünf Frankenkönige 41 Martin Gravel, Distances, rencontres, communications. Réaliser l’Empire sous Charlemagne et Louis le Pieux, 2012. 42 Walter Schlesinger, Die Auflösung des Karlsreiches, in  : Beumann (wie Anm.  17), S.  792–857 (auch in  : ders., Ausgewählte Aufsätze, 1987, S. 49–124)  ; Reinhard Schneider, Krise und Auflösung des fränkischen Großreiches, in  : Das Ende der Weltreiche, hrsg. von A. Demandt, 1997, S. 47–60. 43 Busch (wie Anm. 18), S. 35–41  ; Ubl (wie Anm. 18), S. 86–107  ; Schieffer (wie Anm. 18), S. 139– 169. 44 Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker, 1990.

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gab. Erst eine geradezu unheimliche Serie von Todesfällen durch Krankheit und Unfall (ohne Gewaltanwendung durch Dritte) führte dann in wenigen Jahren dazu, dass ein Teilreich nach dem anderen Kaiser Karl III. anheimfiel, der mit der Normannenabwehr völlig überfordert war und Ende 887 selbst von unzufriedenen Kräften im Osten unter Führung seines illegitim geborenen Neffen Arnolf gestürzt wurde.45 Dass es dazu eines beiseitegeschobenen Karolingers bedurfte, zeigt noch einmal, wie sehr die Dynamik der politischen Desintegration von der jeweiligen dynastischen Situation determiniert war.46 Dass sich Arnolf, zunächst jedenfalls, bewusst auf das Ostfrankenreich beschränkte, machte 888 erst die Bühne frei für neue Könige, die nicht mehr in männlicher Linie von Karl dem Großen abstammten, sondern aus dem den Karolingern verbundenen Adel hervorgingen und sich eine regionale Machtbasis zu suchen hatten.47 Bis 890 formierten sich gewissermaßen aus wilder Wurzel vier weitere Königreiche von sehr unterschiedlichem Gewicht, nämlich Westfranken und Italien, wo sich rivalisierende Prätendenten bekämpften,48 sowie Hochburgund und Niederburgund.49 Arnolfs späterer Zug über die Alpen, der ihm 896 die Kaiserkrone einbrachte, blieb ebenso Episode wie der Vorstoß König Ludwigs von Niederburgund, der 901 in Rom Kaiser wurde, aber bald schon das Feld räumen musste, nachdem er von seinen Feinden in Italien besiegt und geblendet worden war.50 Da auch sein Widersacher Berengar scheiterte und 924 ermordet wurde, erlosch, von den Zeitgenossen kaum noch beachtet, 110 Jahre nach dem Tod des großen Karl das längst auf Italien beschränkte Kaisertum vollends.51 45 Simon MacLean, Kingship and Politics in the Late Ninth Century. Charles the Fat and the End of the Carolingian Empire, 2003. 46 Rudolf Schieffer, Kaiser Arnolf und die deutsche Geschichte, in  : Kaiser Arnolf. Das ostfränkische Reich am Ende des 9. Jahrhunderts, hrsg. von F. Fuchs/P. Schmid, 2002, S. 1–16. 47 Hans-Henning Kortüm, Multi reguli in Europa … excrevere. Das ostfränkische Reich und seine Nachbarn, in  : Fuchs/Schmid (wie Anm. 46), S. 68–88. 48 Olivier Guillot, Les étapes de l’accession d’Eudes au pouvoir royal, in  : Media in Francia … Recueil de mélanges offert à Karl Ferdinand Werner, 1989, S. 199–223  ; Eduard Hlawitschka, Kaiser Wido und das Westfrankenreich, in  : Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum fünfundsechzigsten Geburtstag, 1988, hrsg. von G. Althoff u. a., S. 187–198  ; Harald Krahwinkler, Friaul im Frühmittelalter. Geschichte einer Region vom Ende des fünften bis zum Ende des zehnten Jahrhunderts, 1992, S. 270–291. 49 Constance B. Bouchard, The Bosonids or Rising to Power in the Late Carolingian Age, in  : French Historical Studies 15 (1988), S. 407–431  ; Bernd Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819–1252), 2002, S. 72–81. 50 Herbert Zielinski, »Ludwig der Blinde, fränk. König und Kaiser«, in  : NDB 15 (1987), S. 331–334. 51 Harald Zimmermann, Imperatores Italiae, in  : Historische Forschungen für Walter Schlesinger, hrsg. von H. Beumann, 1974, S. 379–399.

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Zum Erscheinungsbild der Erosion des großfränkischen Reichsverbandes gehört, dass sich die Peripherie im ausgehenden 9.  Jahrhundert zunehmend verselbständigte. Südlich von Rom verloren die Karolinger ihren Einfluss an Byzantiner, Sarazenen und autochthone Fürsten.52 In Aquitanien, in der Bretagne und erst recht jenseits der Pyrenäen gingen lokale Machthaber ihre eigenen Wege53 und auch im Ostfrankenreich blieben Sachsen und Thüringen immer stärker sich selbst überlassen.54 Die Könige waren vollauf damit beschäftigt, die Macht über ihre Kerngebiete zu behaupten und sich nach den Normannen und den Sarazenen auch noch der Ungarn zu erwehren, die seit den 890er Jahren plündernd vom Osten her einbrachen.55 Vorbei waren die Zeiten, in denen sie durch Kapitularien das Verhalten ihrer Untertanen anzuleiten bestrebt gewesen waren und weiträumig besuchte Synoden richtungweisende Entscheidungen getroffen hatten. Allenthalben ist seit etwa 900 ein rapider Rückgang der Handschriften- und Urkundenproduktion, der Geschichtsschreibung und anderer Formen literarischen Schaffens, also des Schriftgebrauchs überhaupt, zu beobachten.56 IV. Der Weg zu neuen Einheiten

Die neue Integration, die nach diesem Tiefpunkt im weiteren Verlauf des 10. Jahrhunderts wieder zu stärkerer Bündelung der Kräfte führte, zielte nicht auf eine Wiederherstellung des Fränkischen Großreichs, aber auch nicht auf eine Rückkehr zur politischen Landkarte vor der Expansion der Karolinger. Sie war nicht von »nationalen« Regungen festgefügter ethnischer Verbände getragen, sondern von der Entschlusskraft einzelner Protagonisten, die sich in der Ausein­ andersetzung mit ihresgleichen durchzusetzen vermochten und langfristig das 52 Rudolf Schieffer, Die Politik der Karolinger in Süditalien und im Mittelmeerraum, in  : Southern Italy as Contact Area and Border Region during the Early Middle Ages, hrsg. von K. Wolf/K. Herbers, 2018, S. 65–78. 53 Karl Ferdinand Werner, Enquêtes sur les premiers temps du principat français (IXe-Xe siècles). Untersuchungen zur Frühzeit des französischen Fürstentums (9.–10. Jahrhundert), 2004. 54 Matthias Becher, Zwischen König und »Herzog«. Sachsen unter Kaiser Arnolf, in  : Fuchs/Schmid (wie Anm. 46), S. 89–121  ; Deutinger (wie Anm. 19), S. 369–377. 55 Rudolf Hiestand, Preßburg 907. Eine Wende in der Geschichte des ostfränkischen Reiches  ?, in  : ZBLG 57 (1994), S. 1–20  ; Maximilian Georg Kellner, Die Ungarneinfälle im Bild der Quellen bis 1150. Von der »Gens detestanda« zur »Gens ad fidem Christi conversa«, 1997. 56 Wilfried Hartmann, Kirche und Kirchenrecht um 900. Die Bedeutung der spätkarolingischen Zeit für Tradition und Innovation im kirchlichen Recht, 2008, S. 51–59.

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»Wirgefühl« ihrer Untertanen zu prägen verstanden.57 Das entsprach einem damals auch außerhalb des fränkischen Reichsbodens mehrfach zu beobachtenden Trend zu Einheiten von mittlerer Größe, die zumeist aus der standhaften Abwehr heidnischer Feinde und dem konsolidierenden Effekt der Christianisierung resultierten. Voran ging in England der 899 verstorbene Alfred der Große von Wessex, dem in der Konfrontation mit den eingedrungenen Dänen die erstmalige Etablierung einer angelsächsischen Gesamtmonarchie gelang.58 Um die Jahrtausendwende machte dann die mit der Christianisierung einhergehende Reichsbildung in Dänemark und Norwegen samt der normannischen Okkupation weiter Teile Englands den Weg frei für das die Nordsee umspannende Reich Knuts des Großen († 1035),59 und im Osten Europas waren es neugetaufte Herrscher, die umfassende politische Zusammenschlüsse durchsetzten  : Boleslaw I. Chrobry in Polen († 1025),60 Stephan I. der Heilige in Ungarn († 1038),61 Vladimir I. der Heilige in der Kiever Rus († 1015).62 Gleichzeitig erlebte auch das Oströmische Reich, nicht zuletzt infolge militärischer Expansion auf dem Balkan, unter Kaiser Basileios II. († 1025) den Zenit seines mittelbyzantinischen Zeitalters.63 In diesen Kontext der Formierung einer nachkarolingischen christlichen Staatenwelt gehört auch die vielerörterte Entstehung des Franken-, dann Römerreichs der Ottonen, das erst nach 1000 zögernd und informell als Reich der Deutschen in Erscheinung trat, sich politisch aber längst früher angebahnt h ­ atte.64 Dass sich die östliche Hälfte des Karlsreiches kraftvoller entwickeln würde als die westliche, war um 900 angesichts ihrer institutionellen Schwäche und des zivilisatorischen Rückstands kaum abzusehen gewesen. Ludwig das Kind, der letzte ostfränkische Karolinger,65 und sein Nachfolger Konrad I.66 standen mindestens ebenso wie der

57 Henryk Samsonowicz, Das lange 10. Jahrhundert. Über die Entstehung Europas, 2009  ; Das lange 10. Jahrhundert – struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Fragmentierung, äußerem Druck und innerer Krise, hrsg. von C. A. Kleinjung/S. Albrecht, 2014. 58 Simon Keynes, Alfred the Great and the Kingdom of the Anglo-Saxons, In  : A Companion to Alfred the Great, hrsg. von N. G. Discenza, 2015, S. 13–48. 59 Timothy Bolton, The Empire of Cnut the Great. Conquest and the Consolidation of Power in Northern Europe in the Early Eleventh Century, 2009. 60 Eduard Mühle, Die Piasten, 2011, S. 22–29. 61 György Györffy, King Saint Stephen of Hungary, 1994. 62 Christian Lübke, Das östliche Europa, 2004, S. 161–178. 63 Catherine J. Holmes, Basil II and the Governance of Empire (976–1025), 2005. 64 Joachim Ehlers, Die Entstehung des deutschen Reiches, 3. Aufl., 2010. 65 Thilo Offergeld, Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter, 2001, S. 518–641. 66 Konrad I. – Auf dem Weg zum »Deutschen Reich«  ?, hrsg. von H.-W. Goetz, 2006.

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Karolinger Karl der Einfältige im Westen67 vor dem Problem, sich an der Spitze ihrer Teilreiche gegen resolute regionale Amtsträger zu behaupten. Einige Zeit war durchaus offen, ob die karolingischen Teilreiche oder die zunehmend erstarkten »Mittelgewalten« der Herzöge auf die Dauer die Oberhand behalten würden.68 Auch die Königswahl Heinrichs I., eines dieser Herzöge, im Mai 91969 veränderte die Lage kaum, denn der nur von Franken und Sachsen erhobene König hatte sich zunächst mit den Herzögen in Schwaben und Bayern auseinanderzusetzen und musste die Zugehörigkeit Lotharingiens zum Westreich anerkennen. Eine Verschiebung der Gewichte trat erst ein, als Karl der Einfältige 922/23 den Machtkampf mit seinen inneren Widersachern verlor und Heinrich I. alsbald Lotharingien in Besitz nehmen konnte, also das Ostfrankenreich im maximalen Umfang von 880 wiederherstellte.70 Während die Großen Westfrankens, indem sie sich gegenseitig in Schach hielten, die Grundlagen der Zentralgewalt immer weiter schmälerten,71 gelang Heinrich eine stetige Konsolidierung seiner Herrschaft durch eine bedachtsame Bündnispolitik im Innern und durch militärische Erfolge nach außen gegen slawische Völker von der Ostsee bis nach Böhmen, vor allem aber gegen die Ungarn, die wirksam in die Schranken gewiesen wurden.72 Kurz vor seinem Tod war Heinrich I. in der Lage, 935 an der Westgrenze als Schlichter zwischen dem westfränkischen König und seinen Gegenspielern aufzutreten. 67 Joachim Ehlers, Die Anfänge der französischen Geschichte, in  : HZ 240 (1985), S. 1–44 (auch in  : ders., Ausgewählte Aufsätze, 1996, S. 237–273). 68 Matthias Becher, Rex, Dux und Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert, 1996  ; Karl Ferdinand Werner, Völker und Regna, in  : Beiträge zur mittelalterlichen Reichs- und Nationsbildung in Deutschland und Frankreich, hrsg. von C. Brühl/B. Schneidmüller,1997, S. 15–43  ; Roman Deutinger, »Königswahl« und Herzogserhebung Arnulfs von Bayern. Das Zeugnis der älteren Salzburger Annalen zum Jahre 920, in  : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 58 (2002), S. 17–68  ; Ludwig Holzfurtner, Gloriosus Dux. Studien zu Herzog Arnulf von Bayern (907–937), 2003. 69 Johannes Fried, Die Königserhebung Heinrichs I. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in  : Mittelalterforschung nach der Wende 1989, hrsg. von M. Borgolte, 1995, S. 267–318  ; Gerd Althoff, Geschichtsschreibung in einer oralen Gesellschaft. Das Beispiel des 10. Jahrhunderts, in  : Ottonische Neuanfänge, hrsg. von B. Schneidmüller/S. Weinfurter, 2001, S. 151–169 (auch in  : ders., Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, 2003, S. 105–125). 70 Heinrich Büttner, Heinrichs I. Südwest- und Westpolitik, 1964  ; Rolf Große, Vom Frankenreich zu den Ursprüngen der Nationalstaaten, 2005, S. 139 f. 71 Joachim Ehlers, Die Kapetinger, 2000, S. 22–26. 72 Gerd Althoff, Amicitiae und Pacta. Bündnis, Eignung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert, 1992  ; Wolfgang Giese, Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft, 2008.

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Sein Sohn Otto der Große, wiederholt vom Glück begünstigt,73 forcierte mit erkennbarer Bewusstheit die Integration des Ostfrankenreichs, indem er gegen den Rest seiner Familie die Individualsukzession durchsetzte,74 sich die Verfügungsmacht über die Herzogtümer sicherte und durch die Vergabe von Bischofs- und Abtswürden an Ortsfremde den weiträumigen Zusammenhalt der Reichskirche beförderte.75 Darüber hinaus richtete er seinen Blick auf die anderen Teile des zerfallenen Karlsreiches, als er 937 den jungen König von Burgund an seinen Hof holte und mehrfach in Westfranken aus überlegener Position in die dortigen Machtkämpfe eingriff.76 Folgenschwerer noch war sein Entschluss, 951 nach der Herrschaft in Ober- und Mittelitalien zu greifen, was auf Anhieb nicht gelang, aber 961/62 mit dem Zug nach Rom zum Erfolg führte.77 Dort wurde es ausdrücklich mit seinen Siegen über die Ungarn und andere »Barbaren« sowie seinen Verdiensten um die Ausbreitung des Christentums (nach Norden und Osten) begründet, dass ihm die Kaiserkrone zuteil wurde. Otto wird sie im stolzen Bewusstsein empfangen haben, dadurch ranggleich mit Karl dem Großen geworden zu sein, der einst das Sachsenvolk unterworfen und in die christliche Welt gezwungen hatte.78 Dass es nach jahrzehntelanger Unterbrechung wieder einen Kaiser des lateinischen Westens gab, krönte buchstäblich die neue, alpenübergreifende Machtkonzentration, die (Ost)Franken, Alemannen, Bayern, 73 Rudolf Schieffer, Der Platz Ottos des Großen in der Geschichte, in  : Schneidmüller/Weinfurter (wie Anm. 69), S. 17–35  ; Matthias Becher, Otto der Große. Kaiser und Reich. Eine Biographie, 2012. 74 Karl Schmid, Das Problem der »Unteilbarkeit des Reiches«, in  : Reich und Kirche vor dem Investiturstreit, hrsg. von K. Schmid, 1985, S. 1–15  ; Brühl (wie Anm. 44), S. 329–341  ; Thomas Zotz, Um 929. Wie der Typ des Allein-Herrschers (monarchus) durchgesetzt wurde, in  : Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hrsg. von B. Jussen, 2005, S. 90–105. 75 Albrecht Graf Finck von Finckenstein, Bischof und Reich. Untersuchungen zum Integrationsprozess des ottonisch-frühsalischen Reiches (919–1056), 1989  ; Tina Bode, König und Bischof in ottonischer Zeit. Herrschaftspraxis – Handlungsspielräume – Interaktionen, 2015. 76 Bernd Schneidmüller, Wahrnehmungsmuster und Verhaltensformen in den fränkischen Nachfolgestaaten, in  : Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter, hrsg. von in  : J. Ehlers, 2002, S. 263–302  ; Große (wie Anm. 70), S. 58–63. 77 Hagen Keller, Entscheidungssituationen und Lernprozesse in den »Anfängen der deutschen Geschichte«. Die Italien- und Kaiserpolitik Ottos des Großen, in  : Frühmittelalterliche Studien 33 (1999), S. 20–48. 78 Hagen Keller, Die Kaiserkrönung Ottos des Großen. Voraussetzungen, Ereignisse, Folgen, in  : Otto der Große, Magdeburg und Europa, Bd. 1  : Essays, hrsg. von M. Puhle, 2001, S. 461–480  ; Rudolf Schieffer, Otto Imperator – in der Mitte von 2000 Jahren Kaisertum, in  : Kaisertum im ersten Jahrtausend, hrsg. von H. Leppin/B. Schneidmüller/S. Weinfurter, 2012, S. 355–374.

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Sachsen und Lothringer fortan zu gemeinsamem Handeln zusammenführte. Sie ruhte freilich auf schmalerer Basis als vordem das Imperium Karls des Großen und blieb stets umgeben von anderen christlichen Reichen, die mit der Zeit den Entwicklungsrückstand aufholten und es ohne Kaisertum leichter hatten, eine nationale Identität zu finden.79

Das Frankenreich 843 nach der Teilung unter den Brüdern Kaiser Lothar I. und den Königen Ludwig dem Deutschen und Karl dem Kahlen.

79 Joachim Ehlers, Imperium und Nationsbildung im europäischen Vergleich, in  : Heilig – Römisch – Deutsch. Das Reich im mittelalterlichen Europa, hrsg. von B. Schneidmüller/S. Weinfurter, 2006, S. 101–118.

Caspar Ehlers

Die Bedeutung der Leges Barbarorum für den Föderalismus Rechtswirklichkeit, -transfer und -pluralität I. Einleitung II. Stamm und Recht 1. Die Forschungsdiskussion 2. Vor 800 entstandene Leges 3. Die raumbezogenen Kompilationen Karls des Großen 4. Rechtssysteme III. Raum im Recht IV. Leges Barbarorum, Stammesrecht oder Rechtsgewohnheiten? V. Weiterführende Fragen 1. Drei Leitfragen und vier daraus resultierende 2. Zwischenstand VI. Zusammenfassendes Ergebnis: Föderalismus im Frühmittelalter?

I. Einleitung

Im Folgenden soll es darum gehen, die Frage nach den Zusammenhängen von Identitätsbewusstsein sowie Raum und Recht in den Blick zu nehmen. Als Quellen sollen die spätantiken und frühmittelalterlichen Rechtstexte herangezogen werden, das Römische (bzw. Kanonische) Recht und die »Leges Barbarorum«, die sog. Stammesrechte der nichtrömischen Verbände, die ihre Reiche auf römischem Boden einrichteten.1 Es soll um die Interaktionen zwischen den »Leges 1 Die Vortragsfassung wurde weitestgehend beibehalten. Anstelle ausschweifender Anmerkungen sei auf das jüngst erschienene Buch von Karl Ubl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich, 2017, hingewiesen sowie auf die einschlägigen Artikel zu den jeweiligen im Text erwähnten Leges im HRG, hrsg. von A. Cordes u. a., 2. völlig überarbeitete und erweiterte Aufl. 2004 ff. in Einzellieferungen, inzwischen vollständig sind Bd.  1 (2008), Bd.  2 (2012) und Bd. 3 (2016), von Bd. 4 liegen die Lieferungen 25 bis 27 (2017–2018) vor. Zu den methodischen Ansätzen von Rechtsraum, Stamm und anderen raumbezogenen (rechts)historischen Aspekten, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, siehe Caspar Ehlers, Rechtsräume. Ordnungs-

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Barbarorum«, dem Römischen sowie dem Kanonischen Recht gehen, mithin um die dynamischen Prozesse im Zuge der Auflösung des Imperium Romanum und der Entstehung der »Barbarenreiche«. Gibt es Integrationsprozesse mittels normativer Ordnungen  ? II. Stamm und Recht 1. Die Forschungsdiskussion

In den vergangenen Jahrzehnten ist in der Forschung wiederholt darauf hingewiesen worden, dass »Stamm« verbunden mit einer germanischen Vorgeschichte weder als Kriterium zur Beschreibung der vor- und frühmittelalterlichen Gesellschaften tauglich noch als historisches oder ethnisches Phänomen ausreichend nachzuweisen sei. Dennoch erfreut sich der aus dem Geist des 19. und der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts herkommende Begriff einer unsterblich wirksamen Beliebtheit, wenn es darum geht, aus unterschiedlichen Motiven regionale Differenziertheiten zu beschreiben, die dann »räumlich« verstanden werden – aber nicht »ethnisch« rückgebunden werden können  ; vor allem, weil beide Begriffe – einerseits Volk bzw. Stamm und andererseits Raum – Hand in Hand verwendet werden, was aber nicht zulässig ist, entstehen verzerrte Bilder von der Vergangenheit. Denn der Begriff »Stammesgebiet« wird im Grunde als Synonym für »Siedlungsraum« oder zumindest »Einflussbereich« einer ethnischen Gruppe genommen und suggeriert so eine durch Verwandtschaft begründete Rechts- und Kulturgemeinschaft. Durch die Kategorisierung verbindender Elemente der Überlieferungen bzw. der Überreste, der schriftlichen Tradition sowie der aufgefundenen Gegenstände kann die Konstruktion zunächst von Personenverbänden gelingen, deren inhärente Kulturmerkmale ihre räumliche Ausdehnung ahnen lassen. Da sich stets Quellen beider Arten finden lassen, die Siedlungskontinuität aufzeigen oder nahelegen, ist es dann möglich, auch den Eindruck ethnischer Beständigkeit durch diachrone Interpretation herzustellen, ohne dabei die notwendigen Kriterien des Stammesbegriffes bestätigen zu können, die schon als Prämissen dienten, weshalb es sich letztlich um einen Zirkelschluss handelt. muster im Europa des frühen Mittelalters, 2016. Zudem werden die zentralen Überlegungen des hier gebotenen Textes vom Verfasser mit einem breiten Literaturverzeichnis im Rahmen des vom LOEWE-Projekt »Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktbeilegung« initiierten »Handbuch der Konfliktlösung in Europa«, hrsg. von D. v. Mayenburg/A. Seelentag, Berlin 2019 (im Druck) erscheinen.

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Obwohl es also aus Sicht der Geschichtswissenschaft keinen anwendbaren Stammesbegriff gibt, womit zugleich auch die Theorie von »den Germanen« jenseits der Sprachfamilie massiv in Frage gestellt ist, wird dessen Tauglichkeit weiterhin in der Rechtsgeschichte diskutiert. Er sei dem vom »Volk« vorzuziehen, hat Jürgen Weitzel (1944–2015) argumentiert, da für Rechtshistoriker die Frage, ob es Germanen gab oder nicht, von nachgeordneter Relevanz sei, denn Juristen interessierten nur die von jenen Völkern […] entwickelten Strukturen des Rechts,2 obwohl Peter Landau3 betont hat, man solle besser zu dem, auch nicht immer adäquaten, Terminus »Volk« zurückkehren. Karl Siegfried Bader (1905–1998) hatte schon recht früh im Vorfeld der mediävistischen Debatten der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts die Problematik umrissen,4 die der von Heinrich Brunner (1840–1915) am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Begriff »Volksrechte« mit sich bringt, der auf die »Staatlichkeit« der germanische Reiche abzielt. Eine dieses Problem entschärfende Verbindung von Recht und Stamm geht auf Rudolf Buchner (1908–1985) zurück. Die mit dem Germanenbegriff inhärenten Schwierigkeiten können an dieser Stelle ebenso wie die Entwicklung nationaler Deutungsansätze bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sowie die in den letzten Jahrzehnten entwickelten europäischen Perspektiven auf das Pro­ blem der »Volks- oder Stammesrechte« nicht nachgezeichnet werden. Verkürzend wird man festhalten können, dass stets das Niveau der Begriffe Volk und Stamm zu beachten ist, ob sie im ethnologisch-historischen Sinne verwendet und mit Begriffen wie Identität und Tradition bzw. mit der Suche nach den Faktoren der »Ethnogenese« verbunden werden oder ob mit einem nationalgeschichtlichen Ansatz versucht wird, eine Gleichung aufzumachen (Stamm = Volk, Volk = Reich). Schließlich kann mit Komposita aus Begriffen eine Forschungsterminologie erschaffen und diskutiert werden, die jedoch die Überprüfung anhand des Sprachgebrauches der Quellen bestehen müsste. Die sog. Volksrechte entstanden bei den föderierten »Stämmen« unter römischem Einfluss, denn eine nach eigenem Recht lebende gens war dem römischen Volksteil gleichgestellt, mithin war ein Recht für die Anerkennung zwingend erforderlich. Diese Leges wurden dann von den Franken weiterentwickelt und schließlich in Analogie zum römischen Verfahren auf die von ihnen unterworfe2 Jürgen Weitzel, Gericht, Verfahren, Recht, in  : Leges, Gentes, Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur, hrsg. von G. Dilcher/E.-M. Distler, 2006, S. 543–548, hier S. 546 f. 3 Peter Landau, Die Lex Thuringorum. Karls des Großen Gesetz für die Thüringer, in  : ZRG GA 118 (2001), S. 23–57, hier S. 26, Anm. 15. 4 Karl Siegfried Bader, Volk, Stamm, Territorium, in  : HZ 176 (1953), S. 449–478.

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nen »Stämme« übertragen. So ließ Karl der Große bei oder nach dem Aachener Hoftag 802/803 die Gesetze der Sachsen, Friesen, Thüringer und Hamaländer redigieren. Ob es sich bei diesen drei im Kern um ältere Rechtsgewohnheiten handelte, darf jedoch bezweifelt werden. Etwas anders liegen die Dinge bei den vorkarolingerzeitlichen Leges (s.  u. in der Chronologie). Einflüsse römischer Vorstellungen schlagen sich aber in beiden Gruppen nieder, und sei es nur die des geschriebenen Gesetzes, das allen nichtrömischen, »barbarischen«, eo ipso fremd war. Das aus der Verbindung von Personenverbänden und ihren Normen evozierte Verhältnis von Raum und Recht sollte für das frühere Mittelalter daher nie allein vom Raum aus definiert werden, sondern muss auch von dem individuellen Rechtsverständnis der Akteure ausgehen, die das für sie anzuwendende Recht in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen konnten. Hermann Nehlsen hat sich dafür ausgesprochen, die Verbindungen der Leges zu Volk (Brunner) und Stamm (Buchner) dadurch zu vermeiden, dass man zur Abgrenzung von römischem und kanonischem Recht den Begriff »Leges Barbarorum« verwenden solle, dem er keinen pejorativ klingenden Beiwert zumessen wollte.5 Daran schloss sich eine Diskussion an, die, kurz gefasst, dazu führte, im Grunde nur den Terminus Lex/Leges zu verwenden. Handelt es sich bei diesen Leges um ein naives Anfangsprodukt oder ein vulgares Endprodukt (Clausdieter Schott),6 lautet reduziert die Frage nach den Kontinuitäten oder den Anfängen der Volks- oder Stammesrechte vor dem Hintergrund des Römischen Rechts. Welche Rolle spielen staatsähnliche weltliche Institutionen dabei, welche die Kirche  ? Hermann Nehlsen hat dies für diejenigen »Stämme« untersucht, die sich auf dem Boden des ehemaligen Römischen Reiches angesiedelt hatten und deren Rechte eine Symbiose römischer und germanischer Vorstellungen transportierten,7 Arnold Angenendt hat jüngst die Rolle der Kirche als Vermittler der Tradition gesichtet.8 5 Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter. Germanisches und römisches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen, Bd. 1  : Ostgoten, Westgoten, Franken, Langobarden, 1972. Vgl. Gabriele von Olberg-Haverkate, Art. »Leges barbarorum«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 3, Sp. 690–692. 6 Clausdieter Schott, Der Stand der Leges-Forschung, in  : Frühmittelalterliche Studien 13 (1979), S. 29–55, hier S. 45. 7 Nehlsen (wie Anm. 5)  ; Gerhard Dilcher, Art. «Germanisches Recht«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 2, Sp. 241–252. 8 Arnold Angenendt, Die Kirche als Träger der Kontinuität, in  : Von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde, hrsg. von T. Kölzer, 2009, S. 101–141.

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Im Grunde ist herrschende Meinung der Forschung, zusammenfassend gesagt, dass diese Leges wohl nicht als Grundlage der Gerichtspraxis oder der Gesetzgebung gedient haben können, mithin wäre die Frage, wie effektiv sie waren (Nehlsen),9 negativ zu beantworten. Eng damit verknüpft ist die Frage nach der Beziehung zwischen einem König­tum »germanischer Prägung« und dem Recht, die Jürgen Weitzel als nicht ersichtlich10 einstuft und eher auf die römisch-rechtliche und jüdisch-christliche Vorstellung verweist, dass der König für Recht zu sorgen habe. Quellen für königliches Eingreifen in das Recht seien aus frühmittelalterlicher Zeit eigentlich nur die wenigen, Immobiliarprozesse ergänzenden Erzählungen sowie die placita, Formelsammlungen und Urkunden, die in solchen Fällen eine konsensuale Entscheidungsfindung der Gerichte in fränkischer Zeit nahezulegen scheinen. Unterstützt wird diese rechtshistorische Interpretation durch den Nachweis von mediävistischer Seite, dass ein »germanisches« Königtum eigentlich nicht existiert habe. So bleibt nach der Infragestellung der Begriffe Volk und Stamm in Verbindung mit spezifisch ethnisch wirkenden Rechtsvorstellungen noch der in der rechtshistorischen Praxis verbreitete Terminus Rechtsgewohnheiten zu erörtern. Dazu ist vor allem das einschlägige Themenheft der Zeitschrift »Rechtsgeschichte« des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte von 2010 mit zahlreichen Beiträgen, die jeweils den aktuellen Forschungsstand ihrer Argumentation unterfüttern, heranzuziehen.11 Ein wesentlicher Faktor bei dieser Diskussion stellt die Oralität dar. Auf den Raum im Sinne von »Geltungsbereich eines Gesetzes« wurde schon hingewiesen, was eine wesentliche Kategorie für die hier zu behandelnde Frage darstellt. Ausgangspunkt und überzeitliches Kriterium ist das Römische Reich. Es wirkt über seinen Untergang im Westen hinaus und bleibt im Osten länger bestehen. In Westeuropa schließen sich während einer »Übergangszeit« (»Völkerwanderung«) die »barbarischen« Reichsbildungen an. Deren bedeutendste sind das Frankenreich und seine Nachfolger, also Frankreich und Deutschland im zweiten Jahrtausend, aber auch die historischen Landschaften Spaniens, Italiens, Englands, Skandinaviens sowie Mittelosteuropas wären einzubeziehen.   9 Hermann Nehlsen, Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen Rechtsaufzeichnungen, in  : Recht und Schrift im Mittelalter, hrsg. von P. Classen, 1977, S. 449–502, hier S. 450. 10 Jürgen Weitzel, Art. »Königsgericht«, in  : HRG (wie Anm. 5), Sp. 41–50, hier Sp. 41. 11 Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 17 (2010)  ; vgl. Ehlers, Rechtsräume (wie Anm. 1), S. 32 f., mit weiteren Verweisen.

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Daneben sind die regionalen Entwicklungen auf der Ebene unter dem Königtum zu beachten. So werden in der »Lex Baiuvariorum« (Titel I–III) wie in der »Lex Alamannorum« hierarchische Abstufungen der Herzogs- und der Kirchengewalt vorgenommen, die in Diktion und Regelungsanliegen für die Provinzen eines Großreichs bestimmt sind.12 Die »Lex Ribuaria« entstand ebenfalls für eine räumlich begrenzte Gruppe innerhalb des Frankenreiches wie auch die vermutlich 802/803 auf einem Aachener Hoftag von Karl dem Großen erlassenen Rechte der Sachsen, Thüringer, Friesen und Hamaländer. Alle werden geläufig als »Stammesrechte« geführt. Da es »Leges Barbarorum« sowohl aus der Zeit vor dem Kaisertum Karls des Großen als auch nach seiner eben genannten Initiative gibt, woraus sich qualitative Unterschiede ableiten lassen, sei eine Chronologie mit Überlieferungsübersicht der »Leges Barbarorum«, der sog. Volks- und Stammesrechte, zwischengeschaltet.13 2. Vor 800 entstandene Leges

Das älteste jener gentilen Rechte ist das der Westgoten, das »Edictum Theoderici« von 459/61 sowie die »Lex Visigothorum« aus der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, die »Lex Romana Visigothorum« von 506 regelt die Rechtsverhältnisse für die im Westgotischen Reich lebenden Römer. Vergleichbares ist für die Burgunder festzustellen  : Die »Lex Gundobada« und die »Lex Romana Burgundionum«, letztere ebenfalls die personenbezogene Geltung des Römerrechts im Burgunderreich regelnd, entstanden um 517. Etwa zeitgleich entstand das vermutlich bekannteste »Stammesrecht« des Frühmittelalters, die »Lex Salica« der merowingischen Franken  : König Chlodwig erließ 507/511 die erste Fassung der »Lex Salica«, den sog. 65-Titel-Text.14 Aus der ersten Hälfte des 7.  Jahrhunderts stammt die »Lex Ribuaria« für die Rheinfranken  ; es gibt eine reichliche Überlieferung beider Leges bis zum 10. Jahrhundert.15 Etwa eineinhalb Jahrhunderte später begannen die Langobarden, ihr Recht festzuschreiben, das »Edictum Rothari« datiert aus dem Jahr 643. Vermutlich ein dem Personalitätsprinzip verhaftetes Recht, überdauerte es die fränkische 12 Harald Siems, Art. »Lex Baiuvariorum«, in  : HRG (wie Anm. 5), Sp. 869–878. 13 Nach Schott (wie Anm. 6), S. 32–43, und ders., Art. »Leges«, in  : LexMA, Bd. 5 (1991), Sp. 1802 f. 14 Ubl (wie Anm. 1), S. 53ff. 15 Zuletzt zur Lex Salica  : Ubl (wie Anm. 1).

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Eroberung am Ende des 8. Jahrhunderts. In diese Zeit datiert auch das Recht der Alemannen. Deren »Pactus Legis Alamannorum« vom Anfang des 7. Jahrhunderts sowie die um 724/30 entstandene »Lex Alamannorum«, eine Handschrift des »Pactus« und fünfzig der jüngeren karolingerzeitlichen Ausbaustufe sind erhalten. Clausdieter Schott weist jedoch auf die Möglichkeit hin, dass es sich bei der »Lex Alamannorum« um eine Fälschung aus dem Kloster Reichenau zugunsten der Stellung der Kirche innerhalb Schwabens handeln könne.16 Das jüngste in dieser Gruppe der frühen »Leges Barbarorum« ist das Recht der Bayern, deren »Lex Baiuvariorum« um 743/44 aus einer vielleicht älteren Vorstufe entstand.17 3. Die raumbezogenen Kompilationen Karls des Großen

Erst nach der Kaiserkrönung Karls des Großen in Rom am Weihnachtstag des Jahres 800 erließ der Frankenherrscher eine jüngere Gruppe von auf Raum und Gens gemünzten Gesetzen für die bislang nicht unter fränkischem Recht stehenden, aber inzwischen so gut es ging in das Frankenreich einbezogenen Bewohner der ostwärtigen Gebiete jenseits des Rheins. Unter Einbeziehung partieller originer Rechtsvorstellungen in fränkische Ordnungsmuster erblickten bei einem Hoftag in Aachen im Jahr 802 oder 803 die »Lex Chamavorum« für die Bevölkerung Hamalands (die heutigen Provinzen Overijssel und Gelderland), die »Lex Frisionum« für die ostwärts siedelnden Friesen sowie die »Lex Saxonum« und die »Lex Thuringorum« für die außerrömischen Gebiete zwischen Rhein/ Main und Elbe/Saale das Licht. Im Gegensatz zu der Überlieferung der ersten Gruppe, der frühmittelalterlichen Leges aus der Wende von der Spätantike zum Frühmittelalter, ist die der jüngeren Gruppe als äußerst spärlich anzusehen. Von der »Lex Saxonum« und der »Lex Chamavorum« sind zwei Textzeugen, von der »Lex Thuringorum« eine (allerdings verlorene) mittelalterliche Handschrift aus Fulda überliefert, die »Lex Frisionum« ist hingegen nur in einem frühneuzeitlichen Druck bezeugt. Diese sind, insgesamt gesehen, die einzigen Zeugnisse für Normen in den Gebieten außerhalb des Imperium Romanum bzw. des Fränkischen Reiches vor der Wende zum 9.  Jahrhundert. Alle Folgerungen beruhen 16 Clausdieter Schott, Art. »Lex Alamannorum«, in  : HRG (wie Anm. 5), Sp. 862–869. 17 Überliefert in 30 Handschriften vom 9.–16. Jahrhundert. Zuletzt wurde der Text ediert v. R. Deutinger  : Lex Baioariorum, hrsg. u. übers. v. R. Deutinger, 2017. Vgl. nun auch Felix Grollmann, Vom bayerischen Stammesrecht zur karolingischen Rechtsreform. Zur Integration Bayerns in das Frankenreich, 2018.

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mithin auf Expolation unter gelegentlicher Hinzuziehung römischer Quellen, wie beispielsweise der um das Jahr 98 entstandenen »Germania« des Tacitus († um 120), der jedoch über die Germanen berichtet wie Karl May (1842–1912) über die Apachen in Nordamerika oder die arabische Welt, da er selbst niemals dort gewesen war. Auf die Rechtslandschaften in Angelsachsen bzw. England im Frühmittelalter muss hier unter der Fragestellung nach einem »deutschen Föderalismus« nicht weiter eingegangen werden. Gleiches gilt für den skandinavischen Raum. Wäre es gerechtfertigt, im Sinne dieser Fragestellung von der jüngeren Gruppe der Leges als einer Vorform des Föderalismus auf späterem »deutschen Boden« zu sprechen  ? 4. Rechtssysteme

Bevor diese Frage aufgenommen werden kann, müssen noch andere Rechtsvorstellungen aufgerufen werden, die neben den beiden soeben dargestellten Gruppen zur Anwendung kamen. Allen voran wäre das auf dem Römischen Recht basierende Kirchenrecht zu nennen, das universale Geltung im orbis christianus beanspruchte. Über oder neben den Leges Barbarorum siedelte sich eine Frühform des Reichsrechtes an, das in Kapitularien, Konstitutionen etc. okkasionell aber mit sofortiger immerwährender Geltung als Ergebnis von Beratungen des Herrschers mit den Großen seines Reiches formuliert und verbreitet wird. Aber auch fallbezogene Entscheidungen der Könige, etwa das placitum oder die Entscheidungen des Königs- bzw. Hofgerichtes haben rechtsetzenden Charakter, wie auch konsensuale Entscheidungen mehrerer an einem Disput Beteiligter. Aus allen diesen vielfältigen Rechtsmustern, den älteren und jüngeren Leges, dem weiterhin geltenden Römischen Recht zumindest in der Vorstellung der Kirche sowie dem sich daraus entfaltenden Kirchenrecht und den entstehenden Rechtsvorstellungen eines auf Zentralisierung bedachten Königtums entsteht eine oszillierende Rechtslandschaft, die räumlich nicht unmittelbar zuzuordnen ist – weder für die Zeitgenossen noch für die retrospektive Forschung. Verschärft wird dieser Befund durch die Beharrungskräfte der außerhalb der verschriftlichten Normen agierenden Oberschicht, was mit dem rechtswissenschaftlichen Konventionsbegriff »Gewohnheitsrecht« bezeichnet wird, dessen Wirkung sich anscheinend meist außerhalb der schriftlichen Überlieferung im Rahmen der »Oralität des Rechts« bewegt haben dürfte. Der »Sachsenspiegel« wie auch der »Schwabenspiegel«, beide aus dem 13.  Jahrhundert, sind jedoch ein gutes Beispiel dafür, wie sich spät  – nämlich

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nach der Entstehung des sog. gelehrten Rechts an den frühen Universitäten Italiens wie Bologna – entstandenes, verschriftlichtes und nun auch raumbezogenes Recht unter Bezugnahme auf ältere (»archaische«) regionale Ordnungen verfestigen und über die mittelalterliche Zeit hinaus halten konnte. Im Grunde geht es bei der interdisziplinär geführten Forschungsdebatte zwischen Geschichts- und Rechtswissenschaft einerseits um die Frage nach dem abstrakten Gehalt von Normen, also einer juristischen Ratio gegen ein gruppenbezogenes Selbstverständnis, und andererseits um die langfristige Integrationsfähigkeit von Ordnungsvorstellungen in einer verfassungslosen Zeit. III. Raum im Recht

Nach der Erörterung dieser eher präliminaren Fragen und der Präsentation der »Leges Barbarorum« soll nun auf den Raumbezug dieser sog. Stammesrechte geblickt werden. Denn die Frage nach den personalen bzw. ethnischen Bezügen, der räumlichen Geltung und der gesellschaftlichen sowie der tatsächlichen Anwendung ist wesentlich für die Einschätzung der nach den Normen der Westgoten, Burgunder und Franken aus dem 6.  Jahrhundert niedergeschriebenen Rechte der Langobarden, Alemannen und Bayern. Die Langobarden erscheinen in ihrer Lex als eine bäuerliche Gesellschaft mit Höfen und Dörfern, Städte werden hingegen nicht erwähnt. Unklar ist, ob die Rechtsvorstellungen der Langobarden personenbezogen, ethnisch begründet oder auf ein Territorium bezogen sind. Falls die »Lex Alamannorum« keine Fälschung ist, entstand sie zwischen dem 6. und dem 8. Jahrhundert. Das Recht ist auf den Herzog konzentriert und dadurch auch auf die Menschen unter seiner Herrschaft. Schließlich ist die »Lex Baiuvariorum« eine zentrale Quelle für die Situation vor der fränkischen Eroberung im Jahre 788. Wie die »Lex Alamannorum« ist sie auf den Herzog fokussiert und zugleich ist sie wie die »Lex Langobardorum« auf eine bäuerlich, nicht städtisch geprägte Gesellschaft zugeschnitten. Nach diesen sechs vorfränkischen Leges zeigen die folgenden vier »Volksrechte« die Absicht Karls des Großen, eine Rechtsordnung in den von ihm eroberten Gebieten einzurichten. Daher sind sie ein Ergebnis seines Willens, jeden Teil seines Reiches in das fränkische Großreich zu integrieren. Die Bevölkerung von Hamaland erhielt die »Lex Francorum Chamavorum« als Versuch, die friesisch und sächsisch geprägten Gesellschaften jenes Raumes in die fränkischen Ordnungsvorstellungen einzubinden. Für die Friesen selbst wurde die

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»Lex Frisionum« erlassen, die zwölf Titel friesischer Herkunft enthält und als eine der wenigen Rechte auch einen Geltungsbereich definiert  : erstens das Land zwischen den Flüssen Vlie und Lauwers (friesisches Kernland, in etwa die heutige Provinz Friesland in den Niederlanden) sowie zweitens das Gebiet zwischen Lauwers und Weser (östliches Friesland, heute Niederlande und Deutschland) und drittens den geographischen Raum zwischen Vlie und Zwin (westliches Friesland, heute Niederlande und Belgien). Mit der »Lex Saxonum« bekamen die Sachsen zwischen Rhein und Elbe ein der älteren fränkischen »Lex Ribuaria« nahestehendes Gesetz, das lokale Vorstellungen mit fränkischen verband. Eine Kontinuität der »Lex Saxonum« bis zum Sachsenspiegel des 13. Jahrhunderts erscheint jedoch unwahrscheinlich. Für die Thüringer sollte schließlich die »Lex Thuringorum« gelten, bei der unklar ist, ob sie einen Personen- oder einen Raumbezug hatte. Sie zeigt darüber hinaus auch Einflüsse slawischer Rechtsvorstellungen. Wenn eine Fortdauer bestimmter »Leges Barbarorum« festgestellt werden kann, müsste es mehr als wahrscheinlich sein, dass eine verbindende Vorstellung von Raum, Bevölkerung und Recht hinter den einzelnen »Volksrechten« steht, mithin der Gedanke von Ethnizität. Die wichtigste Frage aber ist nach wie vor die von Hermann Nehlsen gestellte nach der Effektivität gegenüber der reinen Tradition,18 also die nach der tatsächlichen Anwendung abseits der schriftlichen Überlieferung der normativen Texte. Dennoch ist die Wirkung von Traditionen nicht zu unterschätzen, sowohl diejenige von »aktiven« wie von »retroaktiven«. IV. Leges Barbarorum, Stammesrecht oder Rechtsgewohnheiten?

Im Grunde wird daher die Forschung zu den frühmittelalterlichen Leges durch zwei entgegengesetzte Pole charakterisiert, die ihre eigenen Methoden mitbringen und sich, wie Harald Siems gezeigt hat,19 über die »Effektivität« der Leges nicht einigen konnten, weil schon dieser Begriff unklar war. Zwei Jahrzehnte später hat sich Siems nochmals dem Forschungsstand zugewandt und einen wohl heute noch mit kleinen Abweichungen gültigen Überblick geliefert, in dem er feststellt, dass eine Geschichte der Rechtswissenschaft für das frühe Mittelalter weitgehend ein Fehlen ihres Gegenstandes konstatieren müsse, und darüber hinaus

18 Nehlsen (wie Anm. 9). 19 Harald Siems, Studien zur Lex Frisionum, 1980.

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fragt, ob eine Suche nach den Rechtsbegriffen des Mittelalters förderlich sei.20 Diese beiden Bemerkungen sind charakteristisch für den Dialog der Rechtsgeschichte mit der historischen Forschung zu Tradition und Innovation, Integration und Transformation sowie zu »Konflikten« und ihrer Beilegung mittels elaborierter Rituale oder Spielregeln, wie sie seit Jahrzehnten führend von Gerd Althoff vertreten wird.21 Er bezieht sich jedoch meist auf spektakuläre Einzelfälle und bleibt den Beweis der Allgemeingültigkeit seiner Thesen für die Frage nach der Konfliktlösung in frühmittelalterlichen Gesellschaften über den Horizont der bedeutenden historiographischen Quellen hinaus schuldig. Denn diese haben ja vermutlich gerade deshalb über die aus Sicht ihrer Verfasser spektakuläre Inszenierung von Konfliktbeilegungen berichtet, weil sie außergewöhnlich gut dargeboten wurden, stets von überregionalem Interesse waren oder gar die christliche Welt als Ganzes betrafen. Die Rückbindung der einzigartigen Aufführung an bestehende Normen bzw. ihr normsetzender Charakter für den damals wie heute weniger eindrucksvollen juristischen Alltag im Sinne rechtshistorischer Forschung bleibt mithin ein Desiderat der europäischen Rechtsgeschichte. In diesen Zusammenhang gehören auch die rechtlichen Entscheidungen zur Vorbereitung einer Königswahl, bei denen vor allem die Frage nach dem Vorrang von Erb- oder Wahlrecht im Mittelpunkt stand, wie etwa bei der Nachfolgeregelung des söhnelos verstorbenen Kaisers Otto III. im Jahre 1002. Steffen Patzold hat anhand dieses Beispiels für die hier zu erörternde Frage nach dem eigentlichen Geltungsbereich von Recht Bemerkenswertes formuliert, indem er zunächst darauf hinwies, dass es einen gangbaren »Rechtsweg« nicht gegeben habe, dass in der Rechtswelt des Ottonenreiches Normen [nur, C. E.] in Form von Gewohnheiten existiert und dass einschlägige Sach- wie auch Verfahrensnormen gefehlt hätten.22 Kein Blick in ein Gesetzbuch, höchstens – meist orale und somit regionale – Kasuistik boten für die beteiligten Großen aus Welt und Kirche eine Möglichkeit, ihre Entscheidung zu legitimieren, sodass die dann getroffene Entscheidung in einzelnen Reichsteilen – den regna unter dem regnum – in inszenierter Form 20 Harald Siems, Die Entwicklung von Rechtsquellen zwischen Spätantike und Mittelalter, in  : Kölzer (wie Anm. 8), S. 245–285, hier S. 250. 21 Vgl. zuletzt Gerd Althoff, Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, 2015. 22 Steffen Patzold, Königserhebungen zwischen Erbrecht und Wahlrecht  ? Thronfolge und Rechtsmentalität um das Jahr 1000, in  : Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 58 (2002), S. 467–507, hier S. 502 f.; vgl. auch Simon Groth, In regnum successit. ›Karolinger‹ und ›Ottonen‹ oder das ›Ostfränkische Reich ‹  ?, 2017, S. 108-111.

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nach vorhergehenden Verhandlungen aber auch gewaltbereiten Auseinandersetzungen schließlich und beispielsweise im sog. Huldigungsumritt Heinrichs  II. wiederholt wurde,23 was eine vorbildgebende »Tradition« zumindest für Konrad II. und Heinrich III. eröffnete. Dass aber genau bei dieser Reise durch das Reich die Herzogtümer des Ostfränkisch-Deutschen Reiches ostentativ durchzogen wurden, beweist wiederum deren Bedeutung für die früh- und hochmittelalterliche Herrschaftspraxis. So kann zumindest in der Top-down-Perspektive die politische Relevanz der Regionen belegt werden, ohne dass freilich daraus Stämme oder Ethnien abzuleiten wären, was hier nicht erneut auszubreiten ist, auch wenn daraus Fragen abgeleitet werden können, die das Leitthema Föderalismus betreffen. V. Weiterführende Fragen

Einige der oben bereits angedeuteten Aspekte der Frage nach einem föderalistischen Bezug der sog. Stammesrechte umreißen die Kernprobleme oft nur in ihrer begriffs- oder forschungsgeschichtlichen Perspektive. Es muss aber in erster Linie die vorgeschaltete Problematik erkannt werden, dass die überlieferten Schriftquellen kaum tragfähige Informationen über die »tatsächliche« Anwendung stammes- oder volksrechtlicher Bestimmungen im Sinne der Gültigkeit kodifizierter Normen bieten. Wobei »kodifiziert« nicht heißt, dass sich die getroffenen Entscheidungen in den Vorgaben der Leges wiederfinden müssten, sondern dass deren »stammesbezogene« Anwendung notwendigerweise für die jeweilige Gesellschaft diachron nachweisbar sein sollte. Das aber ist wohl erst hinreichend erkennbar, wenn im hohen Mittelalter das Römische Recht an den frühen Universitäten Italiens in seiner gelehrten Form wiederersteht und sich von dort aus ausbreitet und die Kodifizierung die »Landrechte« hervorbringt. 1. Drei Leitfragen und vier daraus resultierende

Insgesamt gesehen dürften die folgenden drei Fragen einen aktuellen Konsens der rechtshistorischen Forschung charakterisieren  : Erstens  : Wo gilt welches Recht, in welchem Geltungsraum bei welcher institutionellen Zuständigkeit  ? Als beispielhafte Quelle sei dazu ein von Jürgen Weitzel für diese Fragestellung he23 Stefan Weinfurter, Heinrich II. (1002–1024). Herrscher am Ende der Zeiten, 1999, S. 50–58 mit einer Karte.

Die Bedeutung der Leges Barbarorum für den Föderalismus 

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rangezogenes Placitum Chlodwigs III. vom 5. Mai 693 zitiert  : ut quicquid lex loci vestri de tale causa edocit,24 aus dem sich ableiten lassen könnte, dass letztlich regionales Recht zur Anwendung kommen sollte. In den Leges der Friesen und Hamaländer werden zudem Angaben über die geographische Begrenzung der beiden Gültigkeitsbereiche geboten.25 Das stellt jedoch eine Ausnahme und nicht den Normalfall der hier behandelten Leges dar, was vermutlich als rationale Reaktion auf die enge Nachbarschaft jener recht kleinen Geltungsbereiche zu anderen Rechtsräumen Frankens, Sachsens sowie von Hamaland und Friesland selbst zu verstehen ist. Daran anschließend wäre die zweite Frage zu beantworten, für wen welches Recht anzuwenden ist, also die Frage nach der personenbezogenen Zuständigkeit  : Entscheidet die Zugehörigkeit zu einem Personenverband bzw. zu einer besonders gestellten Schicht über das anzuwendende Recht  ? Am Beispiel der Rechte der Westgoten und der Burgunder wurden zwei auf die unter deren Herrschaft lebenden Römer bezogenen Rechtsbücher schon genannt, die Raum- und Personenbezug vereinen. Noch am Ende des 12. Jahrhunderts stellte der bereits unter dem Einfluss des jungen gelehrten Rechts stehende langgestreckte Prozess gegen Heinrich den Löwen ein geeignetes Beispiel dar, um zu zeigen, dass vielerlei Rechte zur Anwendung kommen mussten, um die Person und ihre regionale Herkunft ebenso zu berücksichtigen wie übergeordnet anzuwendende Rechte, etwa das Reichs- oder Lehnrecht.26 Darüber hinaus war also bei diesem Prozess die Frage zu klären, für welche Prozessangelegenheiten welches Recht anzuwenden sei, Stammes-, Land- oder Lehnrecht, Kirchenrecht und so fort. Das ist unsere dritte Frage, die nach einem fallbezogenen Recht. Aus diesen drei Leitfragen ergeben sich unter behutsamer Annäherung an die Frage nach einem Föderalismus nachgeordnet vier weitere  : Wie werden die juristischen Schnittmengen mit mehreren »stammesfremden« Beteiligten wegen »stammesrechtlicher« Interferenzen behandelt  ? In welchem Verhältnis steht die kirchliche Rechtsordnung mit einem »Stammesräume« übergreifenden Ordnungsanspruch zu den interferierenden »Stammesrechten«  ? In welcher 24 Die Urkunden der Merowinger (Diplomata regum Francorum e stirpe Merovingica). Nach Vorarbeiten von Carlrichard Brühl (†) hrsg. von T. Kölzer unter Mitwirkung v. M. Hartmann/A. Stieldorf, 2 Bde., 2001, Bd. 1, Nr. 137 or., S. 346–348, Zitat S. 348  ; Weitzel (wie Anm. 10), Sp. 43f. 25 Zu beiden vgl. die Artikel von Heiner Lück in HRG (wie Anm. 5), Sp. 884–890. 26 Peter Landau, Gelehrtes Recht und deutsche Verfassungsgeschichte. Der Prozess Heinrich des Löwen und die Gelnhäuser Urkunde, in  : Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Bd. 2  : Öffentliches Recht, hrsg. von O. Condorelli, 2011, S. 39–60.

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Ordnung sind die weltlichen Bereiche der Gerichtsbarkeit zu verstehen  ? Und schließlich  : Gelten für die angewandten Normen juristisch hierarchische, fallspezifische Muster oder sich aus den Prozessangelegenheiten ableitende spezielle Zuständigkeiten  ? 2. Zwischenstand

Wohlgemerkt  : Diese drei Haupt- und vier Nebenfragen sollten und können wohl auch nicht an Einzelfällen und vor allem nicht nur auf einer zeitlichen Ebene und schon gar nicht rückwirkend beantwortet werden. Dafür gibt es genug Forschung aus den letzten zwei Jahrhunderten seit der »Historischen Rechtsschule« und der Entstehung einer »Verfassungsgeschichte« für das Früh- und Hochmittelalter. Retroaktiv erschaffene Traditionsmythen regionaler Rechtsentwicklungen trüben die Retrospektive auf die historische Entwicklung von Rechtsvorstellungen über die Entstehungszeit dieser Mythen hinaus in die Vergangenheit. Zu bezweifeln bleibt aber auch, dass das Problem der Konstituierung, Fortentwicklung und Geltung von Rechten mit Hilfe der ritualisierten oder öffentlich inszenierten Konfliktbeilegung in einzigartigen Situationen zu lösen sei, indem juristische Rechtswege zugunsten okkasioneller Entscheidungen nicht beachtet werden. Ist eine rückwirkende, auf diachrone Quellen gestützte »Kasuistik«, also eine einzelfallbezogene rechtshistorische Rekonstruktion der praktischen Seite sog. Stammesrechte, als Grundlage für eine im Frühmittelalter angewandte Rechtsprechung überhaupt soweit möglich, dass deren Geltung und Anwendung als normative Ordnung von spezifizierten Rechtsräumen mehr als vermutet werden kann  ? Im Grunde, so ist zusammenfassend festzustellen, spielen doch geographische Raumbeschreibungen in den »Leges Barbarorum« mit Ausnahme der »Lex Frisionum« und »Lex Francorum Chamavorum« keine Rolle. Diese Ausnahme erlaubt wegen der im Allgemeinen diversen gesellschaftlichen und ethnischen Topographie der frühmittelalterlichen Räume dennoch nicht, von raumbezogenen »Stammesrechten« zu sprechen, da der personale Bezug doch meist höher gewesen zu sein scheint als der räumliche. VI. Zusammenfassendes Ergebnis: Föderalismus im Frühmittelalter?

Welche Erkenntnisse des hier ausgebreiteten Forschungsstandes ließen sich für das Leitthema Föderalismus verwerten und welche würden dagegen sprechen  ?

Die Bedeutung der Leges Barbarorum für den Föderalismus 

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Ein starkes Argument wäre die akzeptierte personenbezogene Geltung der sog. Stammesrechte innerhalb eines Großraumes im Sinne einer Meso- und Makroebene. Als Beispiele dafür aus den Anfängen gentiler Rechtsbildungen könnten die in den Reichen der Burgunder und Westgoten neben deren eigenen Rechten erlassenen Leges für die im Reichsgebiet lebenden Römer herangezogen werden. Aber, kritisch hinterfragt, ist diese Akzeptanz eigener Normen innerhalb eines räumlichen Geltungsanspruches Ausdruck eines tatsächlichen Föderalismus oder nichts weniger und nichts mehr als die Anerkennung parallel existierender Gesellschaften mit hohem politischem Einfluss  ? Der übriggebliebene senatorische Adel im frühen Merowingerreich beispielsweise war für die Reichsbildung von hoher Bedeutung, man denke etwa an Gregor von Tours und andere dieser Gruppe entstammenden Bischöfe im ehemaligen Gallien. Ein weiterer Hinweis auf föderalistisch geprägte Vorstellungen wären die nach der Kaiserkrönung Karls des Großen erlassenen Rechtsbücher für die Friesen, Hamaländer, Sachsen und Thüringer, die allesamt an der fränkischen »Lex Salica« orientiert sind und nur besondere Regelungspraktiken in ausgewählt erscheinender Kasuistik einbeziehen, beispielsweise die soziale Abschichtung oder regional praktiziertes Erbrecht als nicht veränderbarer Faktor bei der Integration in das Frankenreich. Diese Maßnahme Karls könnte maßgeblich der Integration der verschiedenen Gruppen, oder Ethnien, in das Frankenreich gedient haben, wie es jüngst Karl Ubl formulierte.27 Ein gravierendes Problem für die Forschung ergibt sich vor allem daraus, dass es keine Überlieferung der Rechtspraxis der spätantik-frühmittelalterlichen Gentes vor ihrer Übernahme der Schriftlichkeit geben kann, woraus die naheliegende Frage resultiert, ob es verschriftlichte »orale Kontinuität« im Sinne eines überzeitlich geltendes Rechts gab oder ob erst die Einführung einer Kultur des Lesens und Schreibens im Zuge der fränkischen Expansion Auslöser war für die Niederschrift von Rechtsordnungen. Das zumindest legt das Vorwort zur »Lex Baiuvariorum« nahe, wo es heißt  : Nam lex a legendo vocata, quia scripta est,28 was nach Isidors Etymologie V/3 Lex est constitutio scripta29 formuliert ist und die schon vollzogene Integration in den christlichen Bildungshorizont belegt. Wäre demnach dieser christlich-fränkische Horizont ein Beweis für einen faktisch existierenden Föderalismus in dem »Westeuropa« dominierenden Frankenreich des 9.  Jahrhunderts  ? Ein auf Deutschland bezogenes Ergebnis ver27 Ubl (wie Anm. 1), S. 44.. 28 MGH LL 5.2, S. 201  ; Deutinger (wie Anm. 17), S. 103  ; Grollmann (wie Anm. 17), S. 354-380. 29 Vgl. Grollmann (wie Anm. 17), S. 357 mit weiteren Verweisen.

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bietet sich ja schon aus dessen politischer Nichtexistenz vor der Wende zum zweiten Jahrtausend. Im ostfränkisch-deutschen Teilreich würde dann der fränkische Föderalismus weiterhin bestanden haben, eine Integration verschiedener Ordnungsvorstellungen unter dem Gedanken der Fortdauer des mittels eines römischen Kontinuitätsgedankens legitimierten Reiches. Aber dies ist eine andere Geschichte.

Deutschland um 1000 mit seinen und angrenzenden Regionen.

Hans-Werner Goetz

Vom »Stamm« zum »Territorium«? Zur Genese, Struktur und Bedeutung der Großregionen (Stammesprovinzen und Herzogtümer) im Ostfränkischen Reich

I. Das Reich und seine Regionen: Entstehung und Forschungsstand II. Erster Aspekt: Die Existenz und Tradition der »Stammesprovinzen« III. Zweiter Aspekt: Klare Begrenzung (Limes) IV. Dritter Aspekt: Zunehmende begriffliche »Territorialisierung« V. Vierter Aspekt: Das Verhältnis von Herrschaftsraum und Herrschaftsrechten am Beispiel des Herzogtums VI. Fazit und Ausblick

I. Das Reich und seine Regionen: Entstehung und Forschungsstand

Hatte die frühere Geschichtswissenschaft in vornehmlich politisch-dynastischer Sichtweise noch weit bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts hinein den grundlegenden Wandel vom Fränkischen zum Deutschen Reich in der Königskrönung des »Sachsenherzogs« Heinrich I. besiegelt gesehen, so ist uns inzwischen seit langem bewusst, dass ein struktureller Wandel sich durchweg allmählich vollzieht. Viele Grundlagen des Deutschen Reichs im Mittelalter unter den Ottonen, Saliern und Staufern haben sich bereits im fränkischen Karolingerreich, vor allem im Verlauf des 9. Jahrhunderts, ausgebildet, dem deshalb hier unsere besondere Aufmerksamkeit gelten soll. Das gilt bekanntlich bereits für das sog. Ostfränkisch-Deutsche Reich selbst in seiner Ausdehnung und mit seinen Grenzen. Kaum ein Thema der mittelalterlichen deutschen Geschichte hat mehr Aufmerksamkeit und Diskussion erregt.1 Das Reich ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Aus der üblichen Teilungspraxis des Fränkischen Reichs der Merowinger ebenso wie der Karolinger kristallisierten sich seit den Brüderkriegen der Söhne Ludwigs des Frommen im Verlauf des 9. und frühen 1 Zur älteren (und großenteils veralteten) diesbezüglichen Forschung vgl., in kleiner Auswahl  : Die Entstehung des deutschen Reiches. Deutschland um 900. Ausgewählte Aufsätze aus den Jahren 1928–1954, hrsg. von Hellmut Kämpf, 1956.

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10.  Jahrhunderts im Westen und Osten mehr oder weniger stabile Teilreiche mit zunehmend festeren Strukturen heraus, aus denen am Ende Deutschland und Frankreich entstehen sollten. Ein festes »Geburtsdatum«, wie früher vielfach gesucht, gibt es nicht. Entlang den Reichsteilungen festgemacht, gab es seit dem Vertrag von Verdun 843 neben dem Ost- und dem Westfränkischen Reich noch ein Mittelreich (Kaiser Lothars  I. ), das sich von der Nordsee bis zum Süden des langobardischen Italien erstreckte und 855 noch einmal dreigeteilt wurde  ; der nördliche Teil (das Reich Lothars II. ) wurde 870 in Meersen (Lothringen, heute Provinz Limburg) unter Karl dem Kahlen im Westen und Ludwig dem Deutschen im Osten aufgeteilt  ; 880 in Ribemont bei Saint-Quentin (Region Hauts-de-France) wurden beide Teile dem Osten zugewiesen. 888 spaltete sich das unter Karl III. für wenige Jahre noch einmal vereinte Reich endgültig auf. Dabei blieb Lothringen am längsten umstritten  ; 911 eroberte es Karl der Einfältige, seit 923/925 gehörte es wieder zum Osten. Burgund blieb noch bis in das 11. Jahrhundert hinein ein eigenes Reich, und Italien war letztlich seit jeher ein eigenes langobardisches Reich geblieben, das von den Frankenkönigen, modern gesprochen, in Personalunion als eigenes Teilreich regiert wurde. Das Ergebnis erwuchs aus vielen Zufällen und war keineswegs das zwangsläufige Resultat der Existenz eines deutschen Volkes, wie man früher glaubte, sondern ist, wie die Ethnogenese- und Nationes-Forschungen nachdrücklich erweisen konnten, in umgekehrter Reihenfolge zu sehen  : Nationen und auch Völker formierten sich allmählich aus politischer Herrschaft (Reichen) und einem entsprechenden Zusammengehörigkeitsgefühl.2 Auf den Punkt gebracht ist Ethnogenese ein politischer Prozess, der zu einem Bewusstsein führt, sich einem Volk zugehörig zu fühlen.3 Und auch das war im Falle des Deutschen 2 Statt überbordender Literaturangaben sei auf die exzellente Zusammenfassung der Problematik von Joachim Ehlers, Die Entstehung des Deutschen Reiches, 3. Aufl. 2010 verwiesen. Unter Einbeziehung der Binnenstrukturen  : Carlrichard Brühl, Deutschland – Frankreich. Die Geburt zweier Völker, 1990. Zur früheren Zeit  : Regna and Gentes. The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World, hrsg. von H.-W. Goetz/J. Jarnut/W. Pohl, 2003. 3 Grundlegend, wenngleich seither vielfach modifiziert  : Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, 1961. In der Folge sind vor allem die Arbeiten der »Wiener Schule« um Herwig Wolfram und Walter Pohl zu nennen. Vgl. prägnant Walter Pohl, Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West  : Introduction, in  : Post-Roman Transitions. Christian and Barbarian Identities in the Early Medieval West, hrsg.v. W. Pohl/G. Heydemann, 2013, S. 1–46, hier S. 9  : It is now generally acknowledged that, quite to the contrary, peoples are not the agents of history, immutable in its course, but rather one of the most elusive and contradictory results of historical change.

Vom »Stamm« zum »Territorium«? 

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Reichs ein langer Prozess. Als »Reich« (regnum) längst seit dem 9. Jahrhundert existent, wurde es im Bewusstsein der Zeitgenossen »deutsch« erst zwei Jahrhunderte später als Folge dieser politischen Einheit.4 Im 9. und 10. Jahrhundert waren die Bewohner noch keine »Deutschen«, wurde dieses Reich noch nicht als ein gentiles betrachtet. Vor diesem Hintergrund einer allmählichen Herausbildung des Ostfränkischen Reichs und einer noch weit allmählicheren »Ethnogenese der Deutschen« ist das hier zu behandelnde Thema der internen Regionen zu sehen. Welche Rolle spielte – gemäß dem Tagungskonzept – das »Eigengewicht regionaler Besonderheiten« in diesem Reich  ? Die einschlägigen Verfassungsgeschichten haben dem Phänomen insgesamt recht wenig Beachtung geschenkt.5 Folgte man immer noch unserem schwierigen ideologischen Erbe, der sog. »Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte«, die mit den Vorstellungen im oder besser zur Zeit des nationalsozialistischen Deutschland eng verbunden ist – deren Anfänge jedoch weit früher liegen und die anschließend noch jahrzehntelang bestimmend weitergewirkt hat –, mit ihrer Lehre eines auf jeweils persönlichen Bindungen »germanischer« Wurzeln fußenden »Personenverbandsstaates« im Gegensatz zum modernen »Flächenstaat« (Theodor Mayer),6 dann dürfte den Regionen eigentlich wenig Gewicht beizumessen sein. Doch bemerkenswerterweise hat man damals eine Gebietsherrschaft gar nicht bestritten7 – andernfalls hätte man ja auch das »Deutsche Reich« nicht in seinem Umfang festlegen können. Seither hat die Geschichtswissenschaft verschiedene Wandlungen durchlaufen, und der sog. spatial turn hat den »Raum« sogar in den Fokus des Interesses gerückt. Hartnäckig gehalten hat sich aber die Auffassung, dass geschlossenere »Territorien« zumindest als politische Einheiten sich erst seit dem 12. Jahrhundert entwickelt 4 Grundlegend  : Eckhard Müller-Mertens, Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter, 1970. Den neuen Forschungsstand bestens zusammenfassend und auswertend  : Ehlers (wie Anm. 2), zu »deutsch«, S. 41 ff. Die frühen Belege von theodisk beziehen sich auf die Sprache und betreffen oft gerade nicht den (später) deutschen Raum. 5 Hans Kurt Schulze, Grundstrukturen der Verfassung, Bd.  3  : Kaiser und Reich, 1998, S.  96 ff., betont zwar die ethnische Vielfalt im Reich und ihre politische Wirksamkeit in den Herzögen, doch wird die Rolle der Regionen nicht näher ausgeführt. Vgl. aber ebd., S. 25 ff. zur politischen Organisation in Herzogtümern. 6 Die älteren Lehren sind zusammengestellt in der Aufsatzsammlung Herrschaft und Staat im Mittelalter, hrsg. von H. Kämpf, 1956. 7 Die Theorie ist konzis zusammengefasst bei Walter Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte, in  : HZ 176 (1953), S.  225–275, abgedr. in  : Kämpf (wie Anm. 6), S. 135–190, hier S. 178 ff.

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und dann das Spätmittelalter beherrscht hätten. Tatsächlich sind solche Territorien im frühen Mittelalter nur schwer greifbar, sodass es kaum möglich ist, (mit dem Tagungskonzept) nach der »Herrschaftsorganisation in den Territorien« zu fragen. Wir müssen daher andere Wege einschlagen. In einem kurzen Beitrag und im Längsschnitt eines Bandes, der 1500 Jahre in den Blick nimmt, kann das etwas detaillierter nur exemplarisch geschehen. Dazu seien vier Aspekte betrachtet und zu einem (noch provisorischen) Gesamtbild gebündelt  : –– erstens Namen und Existenz der Regionen im Reich anhand der sog. Stammesprovinzen  ; –– zweitens Grenzvorstellungen und Begrenzung dieser Gebiete  ; –– drittens die Begrifflichkeit im Hinblick auf Volks- und Gebietsbezeichnungen und –– viertens und hauptsächlich schließlich die regionalen Herrschaften in diesen Gebieten in Form der entstehenden Herzogtümer und das Problem des Verhältnisses von Herrschaftsraum und Herrschaftsrechten. II. Erster Aspekt: Die Existenz und Tradition der »Stammesprovinzen«

Prinzipiell lassen sich vier regionale Ebenen unterscheiden  : die Kontinente (wie Europa), die Reiche, die in der Regel nach dem herrschenden Volk benannt werden (regnum Francorum), die Provinzen (Herzogtümer, Fürstentümer) und auf der untersten Ebene Landschaften, Bezirke, Grafschaften, Gaue. Es ist nicht zu bezweifeln, dass das Ostfränkisch-Deutsche Reich, wie schon das Fränkische, sowohl in weltliche wie in geistliche Regionen unterteilt war, die jeweils einem Amtsträger unterstellt waren. Lässt man kleinräumige Komplexe wie Pfarreien, Dörfer mit ihren Gemarkungen und Städte außer Betracht, dann teilte sich das Reich kirchlicherseits in Kirchenprovinzen8 und Bistümer. Dabei blieb die Zuordnung der Bistümer seit der Wiederherstellung und Regelung der Kirchenprovinzen durch Karl den Großen, mit wenigen Ausnahmen,9 unstrittig, während die erzbischöflichen Rechte vage waren und sich auf Weniges beschränkten, wie 8 Zur Ausbildung der Kirchenprovinzen seit Karl dem Großen vgl. die Arbeit von Daniel Carlo Pangerl, Die Metropolitanverfassung des karolingischen Frankenreiches, 2011. 9 Eine der Streitfragen waren beispielsweise die Ansprüche des Erzbistums Köln auf das Bistum Bremen, das sich seinerseits in die Nachfolge des Erzbistums Hamburg stellte und Unabhängigkeit von Köln anstrebte, doch liegt hier ein sehr spezifischer Fall vor.

Vom »Stamm« zum »Territorium«? 

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die Einberufung von Provinzialsynoden oder die Weihe der Suffraganbischöfe. Weltlicherseits war das Reich auf einer unteren Ebene in Gaue und Grafschaften und auf einer oberen Ebene in die sog. Stammesprovinzen und späteren Herzogtümer unterteilt. Die kirchliche Gliederung mag hier auf sich beruhen. Festzuhalten bleibt aber, dass auch diese kirchlichen Einheiten nicht gänzlich unveränderlich waren, dass sie sich in das Reich eingliederten und insgesamt eine »Reichskirche« bildeten, über die der König herrschte, dass Bistümer (als Ganzes) auch in die Reichsteilungen des 9.  Jahrhunderts einbezogen wurden, dass die Kirchenprovinzen – vielleicht mit Ausnahme Bayerns – jedoch nirgends mit den sog. Stammesgebieten übereinstimmten. Die Existenz der kleinen weltlichen Bezirke, der (vermutlich älteren) »Gaue« (pagus), ist schon durch die ständige, darauf rekurrierende Lokalisierung von Orten in den Urkunden gesichert, während wir darüber hinaus wenig wissen. Wichtiger sind die Grafschaften (comitatus) als weltliche, fränkisch-karolingische Amtseinheiten,10 nach denen in Urkunden bekanntlich ebenfalls lokalisiert wird und die mit Gauen kongruent sein konnten, aber keineswegs übereinstimmen mussten. Die alte Lehre von »Gaugrafschaften« ist seit langem widerlegt. Trotz mancher Erblichkeiten war die Grafschaft prinzipiell, wie Königtum und Bistümer, eine überpersonale Einrichtung  : Amt und Befugnisse, so Roman Deutinger, überdauerten die Person.11 Mit zunehmender Eigenständigkeit der Grafen verloren diese im Verlauf des hohen Mittelalters immer mehr ihren Amtscharakter. Das geht zwar über den hier behandelten Zeitraum hinaus, zeigt aber an, dass sich die Funktion der Grafschaften in der Reichsstruktur langfristig änderte. Auch Gaue und Grafschaften lasse ich außen vor und konzentriere mich auf die für die Fragestellungen dieses Bandes besonders wichtigen »Großregionen«  : die »Stammesprovinzen« und Herzogtümer. Blickt man auf das Ottonische Reich voraus, dann bildeten die fünf Herzogtümer Sachsen, Franken (in ottonischer Hand), Bayern und Alemannien sowie Lothringen das regionale Subs10 Zu den karolingischen Grafschaften vgl. Hans Kurt Schulze, Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins, 1973. Zu Alemannien  : Michael Borgolte, Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit, 1984  ; ders., Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie, 1986  ; zu Lothringen  : Ulrich Nonn, Pagus und Comitatus in Niederlothringen. Untersuchungen zur politischen Raumgliederung im früheren Mittelalter, 1983. Zu den Grafen im 9.  Jahrhundert, deren Einsetzung vom König zwar selten bezeugt ist, die aber vom König kontrolliert wurden  : Roman Deutinger, Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit, 2006, S. 146–165. 11 Deutinger (wie Anm. 10), S. 164.

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trat des Reichs, und sie behielten ihre Bedeutung als regionale Reichseinheiten, wenngleich nicht ohne Veränderungen, über mehrere Jahrhunderte. Dem Namen nach repräsentieren sie – mit Ausnahme Lothringens – alte Völker, die bis in die römische Zeit zurückreichen und seit dem 4.  Jahrhundert, teilweise in Nachrichten schon über das 3. Jahrhundert, »Großvölker« in Gegenden bezeichnen, die zuvor von zahlreichen Kleinstämmen besiedelt waren und seither zum festen terminologischen Bestand zählten. Was sich hinter dieser »Neustrukturierung« verbirgt, ist keineswegs klar. Festzustellen bleibt aber zweierlei  : dass diese Völker in der Spätantike keine politischen Einheiten bildeten, sondern jeweils in kleineren Gruppen agierten, und dass sie nicht primär durch Einwanderung und Landnahme entstanden, sondern »irgendwie« aus verschiedenen Gruppen zusammenwuchsen oder von den römischen Quellen zusammengefasst worden sind. Auch wenn die Namen nicht römisch sind – am deutlichsten ist das an den Alemannen erkennbar –, ist es gut möglich, dass die Römer der Einfachheit halber die früheren Kleinstämme unter diese neuen Bezeichnungen subsumierten oder zumindest bestehende Namen übernahmen, überformten und umprägten  : Alemannen waren die Bewohner im Norden des Imperiums bzw. im Südwesten des heutigen Deutschland, Franken alle Bewohner beiderseits des Niederrheins, Sachsen diejenigen dahinter bis zur Nordseeküste. Hingegen ist weder ein kultischer noch ein politischer Zusammenhalt dieser Völker erkennbar. Die Franken sind politisch erst durch Chlodwig I. »geeint« worden, dessen Reich jedoch mindestens zur Hälfte, südlich der Loire, fast ausschließlich von »Romanen« besiedelt war, die aber auch nördlich der Loire die Mehrheit der Bevölkerung bildeten. Die Alemannen, zuvor unter Kleinkönigen, wurden noch von Chlodwig unterworfen und in seine Herrschaft integriert, die Bayern erlitten das gleiche Schicksal unter Chlodwigs Söhnen und Enkeln im (späteren) austrasischen Teilreich  ; beide wurden jetzt von Herzögen verwaltet, dem sog. älteren Stammesherzogtum – tatsächlich handelte es sich um ein fränkisches Amtsherzogtum –,12 das Karl der Große mit dem Sturz Tassilos III. 788 wieder abschaffte. Erst im Merowingerreich wurden diese Völker östlich des Rheins, die zuvor nicht unter einer

12 Die früher übliche Bezeichnung »Stammesherzogtum« ist daher nur vom Begriff her berechtigt, insofern die Herzogtümer nach »alten Völkern« benannt wurden, nicht aber nach der (älteren) Ansicht, dass darin die alten Völker unverändert weiterlebten. Felix Grollmann, Vom bayerischen Stammesrecht zur karolingischen Rechtsreform. Zur Integration Bayerns in das Frankenreich, 2018, S.  124, lehnt jetzt beide Begriffe ab und spricht neutral (für Bayern) von »intermediären Herrschaftsgewalten«, weicht damit aber auch einer Festlegung aus. Zumindest in den Anfängen wurden die Herzöge von den fränkischen Königen eingesetzt.

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Gesamtführung gestanden hatten,13 also zu politischen, jetzt aber abhängigen Einheiten im Rahmen des Frankenreichs und entwickelten vielleicht erst jetzt – das lässt sich letztlich nicht mehr nachprüfen – auch ein Identitätsgefühl und wurden erst dadurch wiederum zu »Traditionsgemeinschaften«. Karl unterwarf dann bekanntlich auch die  – bis dahin ebenso wenig geeinten  – Sachsen und integrierte sie in das Karolingerreich. Erkennbare regionale Einheiten mit einer regionalen Herrschaftsorganisation bildeten diese Großvölker mit spätantiken Namen also erst seit ihrer Eingliederung in das Frankenreich. Das deutet bereits auf Wandlungen in der politischen Organisation, während die alten Stammesnamen als Bezeichnungen regionaler Einheiten beibehalten wurden. Volkhafte Traditionen einfach abzustreiten wäre der Sache deshalb nicht angemessen, doch sind demgegenüber trotz der alten Namen zumindest drei entscheidende Einschränkungen zu machen. Zum einen gibt es im Ostfränkischen Reich neben den genannten späteren Herzogtümern noch weitere »Völker«, vor allem Thüringer, Hessen und Friesen, die in ganz ähnlichen Zusammenhängen erwähnt werden, später jedoch keine eigenen Herzogtümer ausbilden konnten. Zum andern zeigt der Fall Lothringen, wo früher Franken und Friesen wohnten, dass solche Provinzen nicht nur neu, sondern auch ohne jegliche Bindung an ein Volk geschaffen werden konnten  : Lothringen war (855) aus dem Teilreich Lothars II. als eines der drei Teilreiche des Mittelreichs von Verdun 843 erwachsen  : Nicht alle Herzogtümer trugen demnach Volksnamen. Es ist aber bezeichnend, dass dieses »nichtgentile«, aus einem künstlich geschaffenen Teilreich erwachsene Herzogtum in mittelalterlichen Quellen in keiner Weise anders bewertet oder behandelt wurde als die alten »Stammesregionen«. Es ist nicht minder bezeichnend, dass hier gewissermaßen eine umgekehrte Entwicklung einsetzte  : Wurden die alten »Stämme« immer mehr als Großregionen begriffen, so glich sich das von vornherein territorial konzipierte Lothringen den »gentilen Gemeinschaften« in den Bezeichnungen bald an, die Bewohner des regnum Hlotharii oder dann der Lotharingia wurden zu Lotharingienses, Lotharienses oder Lotharingii.14 Das »Volk« entwickelte sich hier aus der künstlich geschaffenen Region. 13 Dezidiert in diesem Sinn (aber strittig) bezüglich der Alemannen  : Dieter Geuenich, Die Geschichte der Alemannen, 1997, S. 72 f. 14 Zu Lotharingien in dieser Zeit vgl. ausführlich Jens Schneider, Auf der Suche nach dem verlorenen Reich. Lotharingien im 9. und 10. Jahrhundert, 2010  ; zur mehrfach behandelten Terminologie stellvertretend Hans-Werner Goetz, La perception de l’espace politico-géographique de la Francia Media dans l’historiographie médiévale, in  : De la Mer du Nord à la Méditerranée  : Francia Media, une région au coeur de l’Europe (c. 840-c. 1050). Actes du colloque international (Metz, Luxembourg, Trèves, 8–11 février 2006), hrsg. von M. Gaillard u. a., 2011, S. 111–129.

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Karl Ferdinand Werner, der – schon vor mir wie Carlrichard Brühl nach mir – den Begriff »Stammesherzogtum« strikt abgelehnt hat,15 sucht die Ursprünge der Herzogtümer daher nicht in den »deutschen Stämmen«,16 sondern in den karolingischen Teilreichen und stellt sie in eine Linie mit den »Fürstentümern« westfränkischen Stils.17 Letzteres ist bedenkenswert für den politischen Charakter der Regionen, löst aber nicht die Frage nach deren Tradition,18 während die Teilreichstheorie in dieser Allgemeinheit nicht haltbar ist  : Franken und Sachsen waren nie karolingische Teilreiche, Burgund wurde es erst nach dem Zerfall 888. Jede einseitig geradlinige Deutung der Herkunft dieser Provinzen scheitert an gewichtigen »Ausnahmen«, die tatsächlich gar keine sind. Drittens schließlich und hauptsächlich aber ist die Entwicklung im Spiegel der neueren Ethnogeneseforschung zu betrachten, der zufolge entgegen früheren Ansichten auch Völker historische, sich ständig wandelnde Gebilde sind. Schon die Völker der Wanderzeit waren danach tatsächlich Volksgemische aus verschiedenen ethnischen Gruppen um einen namengebenden Kern, die eine gewisse Stabilität erst durch die politische Führung erhielten – in der Regel ein Königtum, das sich aber auch über verschiedene »Ethnien« erstrecken konnte – und bei längerem Bestand daraus ein Identitätsbewusstsein entwickeln konnten. Wie schon betont, hatten die ostrheinischen Völker vor ihrer Unterwerfung keine einheitliche Führung ausgebildet. Da Ethnogenese ein ständig im Wandel begriffener Prozess ist,19 entwickelten diese Völker sich natürlich ebenfalls ständig ethnogenetisch weiter.20 Wir dürfen also nicht davon ausgehen, dass sich 15 Vgl. Hans-Werner Goetz, »Dux« und »Ducatus«. Begriffs- und verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung des sogenannten »jüngeren« Stammesherzogtums an der Wende vom neunten zum zehnten Jahrhundert, 1977  ; Brühl (wie Anm. 2), S. 303–329, das Ergebnis S. 329. 16 Zum Problem der »deutschen Stämme« in der Forschung vgl. Hans-Werner Goetz, Die »deutschen Stämme« als Forschungsproblem, in  : Zur Geschichte der Gleichung »germanisch–deutsch«. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hrsg. von H. Beck u. a., 2004, S. 229–253. 17 Vgl. Karl Ferdinand Werner, Les duchés »nationaux« d’Allemagne au IXe et au Xe siècle (1979), in  : ders., Vom Frankenreich zur Entfaltung Deutschlands und Frankreichs. Ursprünge – Strukturen – Beziehungen. Ausgewählte Beiträge, 1984, S.  311–328  ; ders., La genèse des duchés en France et en Allemagne (1981), in  : ebd. S. 278–310  ; ders., Von den »Regna« des Frankenreichs zu den »deutschen Landen«, in  : LiLi 24, Heft 94 (1994), S. 69–81. 18 Vgl. Matthias Becher, Volksbildung und Herzogtum in Sachsen während des 9. und 10. Jahrhunderts, in  : MIÖG 108 (2000), S. 67–84, hier S. 71  : So richtig dieser Ansatz [Werners] auch sein mag, ergänzend muß doch nach wie vor die gentile Komponente bei der Entstehung der Zwischengewalten beachtet werden. 19 Vgl. ausführlich zu Sachsen  : Matthias Becher, Rex, Dux und Gens. Untersuchungen zur Entstehung des sächsischen Herzogtums im 9. und 10. Jahrhundert, 1996. 20 Zur frühmittelalterlichen Exegese der Alemannen vgl. Thomas Zotz, Ethnogenese und Herzog-

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hinter der Namensgleichheit der ostfränkischen Stammesprovinzen dasselbe alte »Volkssubstrat« verbirgt, wie noch Hans Kurt Schulze meint.21 Vielmehr provoziert gerade die Entstehung der Herzogtümer als einer neuen politischen Führung einen entscheidenden ethnogenetischen Schub, worauf gleich noch näher einzugehen ist. Angesichts der gleichzeitigen allmählichen Entstehung eines deutschen Reichs hat Bernd Schneidmüller von der Vielfalt der Ethnogenesen im ostfränkischen Reich nebeneinander gesprochen.22 Wenn man seit längerem, um dem Eindruck allzu unzivilisierter Stammesstrukturen vorzubeugen, lieber von Völkern als von Stämmen spricht,23 so bleibt doch ergänzend darauf hinzuweisen, dass die mittellateinische Terminologie diesen Unterschied nicht kennt  : Gens ist Begriff für alle ethnischen Einheiten ganz gleich welcher Größenordnung. Mit gens, populus und natio kennt das Mittelalter zwar drei Begriffe, die – in entsprechendem Kontext – jedoch nahezu gleichbedeutend gebraucht werden.24 Im mittelalterlichen Verständnis ist gens demnach durchaus ein fester Begriff für ethnische Einheiten, die sich schon für Isidor von Sevilla und später Regino von Prüm durch Herkunft, Sitten, Sprache und Gesetze voneinander abgrenzten25  – und diese Kriterien begegnen einzeln mehrtum in Alemannien (9.–11. Jahrhundert), in  : MIÖG 108 (2000), S. 48–66  ; zu Sachsen vgl. Becher (wie Anm. 18), hier S. 72  : Denn gerade die Sachsen machten nach ihrer Eingliederung ins Frankenreich einschneidende Veränderungen durch, die man sich radikaler nicht vorstellen kann. 21 Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. 1, 1985, S. 29  : Das »jüngere Stammesherzogtum« zeuge von der Zähigkeit, mit der die Stämme an ihrer gentilen Tradition festhielten. 22 Bernd Schneidmüller, Völker – Stämme – Herzogtümer  ? Von der Vielfalt der Ethnogenesen im ostfränkischen Reich, in  : MIÖG 108 (2000), S. 31–47. 23 »Völker oder Stämme  ?« fragte Carlrichard Brühl (wie Anm.  2), S.  243–267 und blieb, von der mittelalterlichen Terminologie her, die Antwort zwangsläufig schuldig, weil diese mit dem Begriff gentes eben nicht entsprechend differenziert. 24 Zu Beispielen vgl. Hans-Werner Goetz, Gentes. Zur zeitgenössischen Terminologie und Wahrnehmung ostfränkischer Ethnogenese im 9. Jahrhundert, in  : MIÖG 108 (2000), S. 85–116, hier S.  100 f.; zum Sachverhalt  : Benedykt Zientara, Frühzeit der europäischen Nationen. Die Entstehung des Nationalbewußtseins im nachkarolingischen Europa, 1997  ; ders., Populus – Gens – Natio. Einige Probleme aus dem Bereich der ethnischen Terminologie des frühen Mittelalters, in  : Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hrsg. von O. Dann, 1986, S. 11–20  ; Hans-Dietrich Kahl, Einige Beobachtungen zum Sprachgebrauch von natio im mittelalterlichen Latein mit Ausblicken auf das neuhochdeutsche Fremdwort Nation, in  : Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, hrsg. von H. Beumann/W. Schröder, 1978, S. 63–108  ; Brühl (wie Anm. 2), S. 243 ff. Alle diese Autoren betonen zu Recht zugleich die Bedeutungsvielfalt der Begriffe. 25 Isidor von Sevilla, Etymologiae sive Origines 5,6 und 9,1 f., ed. Wallace M. Lindsay, 1911 (ND 2008), nennt (an verschiedenen Stellen) als Kriterien das ius gentium (ebd. 5,6), die Sprache (ebd. 9,1,1  : Initio autem quot gentes tot linguae fuerunt), Abstammung (ebd. 9,2,1  : Gens est multitudo ab

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fach auch in anderen Quellen.26 Daher ist das Mittelalter, wie Johannes Fried betont hat, von einem gentilen Denken geprägt.27 Selbst »ethnische Reinheit« spielte zumindest als Ideal eine Rolle, wenn Rudolf von Fulda glaubte, dass die sächsischen Adligen kaum Ehen mit anderen Völkern oder niedrigeren Ständen eingegangen seien und so ihren eigenen Volkscharakter bewahrt hätten.28 Das besagt allerdings zugleich, dass dieses Ideal nach Rudolfs Meinung anderwärts nicht der Fall war  ; es war für Rudolf folglich eher ein Merkmal der Sachsen als der gens an sich. Moderne Vorstellungen einer ständig im Fluss befindlichen Ethnogenese wurden von den mittelalterlichen Autoren selbstverständlich nicht wahrgenommen oder gar geteilt. Gentes sind in mittelalterlicher Vorstellung vielmehr selbstverständliche, voneinander geschiedene Einheiten, »Stämme« ebenso wie »Völker«, dazwischen machte man eben keinen Unterschied.29 Das gilt für das eigene ebenso wie für fremde Völker30 und ist unabhängig von ihrer Organisationsform  : Das »Volk« konnte von einem König oder Herzog geführt werden und wurde so zu einer politischen Institution  ; Sachsen und Wikinger bildeten uno principio orta sive ab alia natione secundum propriam collectionem distincta) und Gebräuche (ebd. 9,2,97  : Horum plurimae gentes variae armis, discolores habitu, linguis dissonae et origine vocabulorum incertae)  ; Regino von Prüm, Chronicon (bzw. in einem Widmungsbrief Reginos an Erzbischof Hatto von Mainz), ed. F. Kurze, MGH SS rer. Germ. 50, 1890, S. XX)  : diverse nationes populorum inter se discrepant genere moribus lingua legibus. Nach Isidor waren gens und Sprache allerdings nur anfangs, bis zur Babylonischen Sprachverwirrung, identisch  ; seither sprachen mehrere gentes dieselbe Sprache. Die Sprache ist daher auch im mittelalterlichen Verständnis nur bedingt ein gentiles Merkmal und eignet sich schlecht für eine Identitätsbildung. Vgl. dazu Hans-Werner Goetz, Lingua. Indizien und Grenzen einer Identität durch Sprache im frühen Mittelalter, in  : Sprache und Identität im frühen Mittelalter, hrsg. von W. Pohl/B. Zeller, 2012, S. 61–73. 26 Zu Belegen vgl. Goetz (wie Anm. 24), S. 96 ff. 27 Johannes Fried, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im früheren Mittelalter. Bemerkungen zur doppelten Theoriebindung des Historikers, in  : Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklärungsmuster, Regelungsmechanismen, hrsg. von J. Miethke/K. Schreiner, 1994, S. 73–104. Zur Kritik an Frieds Folgerungen, dass die Skandinavier keine Völker gewesen seien, vgl. Goetz (wie Anm. 16), S. 243 f. 28 Rudolf von Fulda, Translatio s. Alexandri 1, ed. B. Krusch, in  : Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Kl. 1933, S. 424  : Generis quoque ac nobilitatis suae providissimam curam habentes, nec facile ullis aliarum gentium vel sibi inferiorum coniugiis infecti, propriam et sinceram et tantum sui similem gentem facere conati sunt. Vgl. dazu und zu intergentilen Verbindungen Goetz (wie Anm. 24), S. 103 f. 29 Vgl. Brühl (wie Anm. 2), S. 244. Verfehlt ist allerdings sein Schluss (ebd., S. 260), dass Begriffsuntersuchungen deshalb nicht weiterführten. 30 Vgl. dazu Goetz (wie Anm. 24), S. 106 ff. Fremde Völker werden zwar von ihren Eigenschaften, zumal ihrer barbarischen Wildheit, her abqualifiziert, doch ihr Charakter als gens wird nicht bestritten.

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jedoch auch ohne politische Führung eine gens. Das mittelalterliche Verständnis aber ist zugrunde zu legen, wenn wir die Aussagen über die Rolle der Regionen recht verstehen wollen. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass auch die Völker im Ostfränkischen Reich als solche wahrgenommen und bezeichnet wurden. Und da man solche Völker im Mittelalter langzeitig weiterleben sah – so waren für mittelalterliche Autoren sowohl die Awaren um 800 wie die Ungarn ein Jahrhundert später vielfach immer noch »Hunnen«  ; Notker führt sogar den Awarenschatz in ungebrochener Kontinuität auf die (alten) Hunnen zurück31 –, ist es aus mittelalterlicher Sicht ebenso verständlich, dass auch die Volksnamen im Deutschen Reich unverändert beibehalten wurden.32 Der historischen Entwicklung entspricht das allerdings nicht  : Die Quellen spiegeln uns vielmehr eine langlebige Homogenität der Stämme vor, die so nicht gegeben ist. Dem ständigen Wandel der »Völker« steht eine erstaunliche Konstanz der Begriffe gegenüber.33 Wandlungen in der Struktur solcher Völker und Provinzen lassen sich daher nicht oder nur sehr langfristig an der Terminologie selbst, wohl aber an deren Bedeutungswandel festmachen, die begrifflich zwar an der alten Volksstruktur festhält, aber doch etwas anderes beinhalten kann. Franci (die Franken) wurden so schon seit der merowingischen Zeit allmählich zu den Bewohnern des ganzen Frankenreichs.34 Als Beispiel für mittelalterliches »gentiles Denken«35 und seine Implikationen sei die Nachricht der »Translatio Alexandri« Rudolfs von Fulda zur Einwanderung der Sachsen angeführt  : Das Sachsenvolk ist nach einer alten Überlieferung von den Angeln, den Bewohnern Britanniens, ausgewandert und nach der Fahrt über den Ozean mit dem Ziel und unter 31 Notker Balbulus, Gesta Karoli Magni imperatoris 2,1, ed. H. F. Haefele, MGH SS rer. Germ. n.s. 12, 2. Aufl. 1980, S. 49 f. 32 Dass gleichwohl auch im Mittelalter Wandlungen wahrgenommen wurden, betont Goetz (wie Anm. 24), S. 103 f. 33 So Hans-Werner Goetz, Zur Funktion und Anwendung von Volks-, Reichs- und Nationsbegriffen in der nordalpinen Geschichtsschreibung des 9. bis 11. Jahrhunderts, in  : ›Nationes‹, ›Gentes‹ und die Musik im Mittelalter, hrsg. von F. Hentschel/M. Winkelmüller, 2014, S. 1–30, hier S. 10. 34 Zur Wandlung des frühmittelalterlichen Frankenbegriffs vgl. Hans-Werner Goetz, Zur Wandlung des Frankennamens im Frühmittelalter, in  : Integration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter, hrsg. von W. Pohl/M. Diesenberger, 2002, S. 133–150  ; zur Wandlung des Francia-Begriffs Bernd Schneidmüller, Nomen patriae. Die Entstehung Frankreichs in der politisch-geographischen Terminologie (10.–13. Jahrhundert), 1987. 35 Vgl. Walter Pohl, Gentile Ordnungen, in  : Enzyklopädie des Mittelalters, hrsg. von G. Melville/M. Staub, Bd. 1, 2008, S. 171–175.

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dem Zwang, Wohnsitze zu suchen, an der Küste Germaniens an einem Ort namens Hadeln gelandet, in der Zeit, als der Frankenkönig Thiodrich im Kampf gegen seinen Schwager Irminfrid, den Fürsten der Thüringer, deren Land mit Feuer und Schwert grausam verwüstete.36

Der Text ist in mehrfacher Hinsicht interessant  : Er bezeugt neben der Vorstellung von Wanderung und Eroberung eben ein »Denken in Völkern«  : Die Sachsen sind schon von alters her ein Volk (gens), das aber sehr wohl seine Wohnsitze verlagern und ausdehnen kann, wobei die Sachsen hier nicht nach Britannien gezogen sind, sondern umgekehrt von dort kamen oder zurückkamen  ; ein »Germanentum« spielt dabei bezeichnenderweise überhaupt keine Rolle. Die Völker aber werden wiederum bestimmten Großregionen zugeordnet  : die Angeln Britannien, die Sachsen (nach der Landnahme) Germanien. Das »Volk« mag ein »Personenverband« sein, aber es bewohnt ein bestimmtes, klar abgegrenztes Gebiet, das nach ihm benannt wird, denn im Folgenden benennt der Autor die Nachbarn der Sachsen  : im Süden die Franken und Thüringer, im Norden die Normannen, im Osten die Abodriten und im Westen die Friesen.37 Das gentile Denken des frühen Mittelalters enthält also zugleich einen territorialen Aspekt, der sich auch zeigt, wenn in den »Fränkischen Reichsannalen« etwa vom Land (terra) des Volkes der Franken (gens Francorum) die Rede ist.38 Als Fazit dieses Abschnitts lässt sich daher festhalten, dass die Völker oder Stämme des Ostfränkischen Reichs in mittelalterlicher Vorstellung existieren und unter gleichem Namen weiterleben, aber auch bereits territorial aufgefasst werden. Über grundlegende Wandlungen darf das nicht hinwegtäuschen. Bevor ich auf solche zurückkomme, sei dieser territoriale Charakter einer »Regionalität« zunächst an zwei weiteren Aspekten näher beleuchtet.

36 Rudolf von Fulda (wie Anm. 28), S. 423  : Saxonum gens, sicut tradit antiquitas, ab Anglis Britanniae incolis egressa per Oceanum navigans Germaniae litibus studio et necessitate quaerendarum sectium appulsa est in loco, qui vocatur Hadulhoa, eo tempore, quo Thiotricus rex Francorum contra Irminfidum generem suum ducem Thuringorum dimicans terram eorum crudeliter ferro vastvait et igni. 37 Ebd.: A meridie quidem Francos habentes et partem Thuringorum, quos praecedens hostilis turbo non tetigit, et alveo fluminis Unstrotae dirimuntur. A septentrione vero Nordmannos, gentes ferocissimas. Ab ortu autem solis Obodritos, et ab occasu Frisos, a quibus sine intermissione vel foedere vel concertatione necessario finium suorum spacia tuebantur. 38 Annales regni Francorum a. 787, ed. F. Kurze, MGH SS rer. Germ. 6, 1895, S. 76, zum Bayernherzog Tassilo  : nisi in omnibus oboediens fuisset domno regi Carolo et filiis eius ac genti Francorum, ut ne forte sanguinis effusio provenisset vel lesio terrae illius.

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III. Zweiter Aspekt: Klare Begrenzung (Limes)

Im Rückgriff auf eine kürzlich erstellte Materialsammlung über Grenzvorstellungen in der Karolingerzeit39 lässt sich in unserem Zusammenhang fragen  : Wie begrenzt sind diese existenten Regionen überhaupt  ? Gegenüber Grenzen ist die Forschung im Hinblick auf das frühe Mittelalter bekanntlich sehr zurückhaltend  : Vor dem 11. Jahrhundert, so die gängige Meinung, habe es keine festen, linearen Grenzen, sondern nur breite »Grenzsäume« unbewohnten Ödlandes gegeben.40 Die Grenze sei eher Raum als Linie. Die Vorstellung von wenig festen Grenzen41 ist sogar auf Bistümer übertragen worden, die sich, so Florian Mazel, als fester Raum erst im hohen Mittelalter ausgebildet hätten  ; zuvor seien sie un espace plastique gewesen.42 Das Gleiche wird auch für die »Stammesgebiete« angenommen. Als oft zitierter Kronzeuge für eine solche unklare Grenze zwischen Franken und Sachsen gilt Einhard  : Die Grenze (termini) sei nur gelegentlich durch Wälder oder Gebirgszüge ganz klar erkennbar (certus limes) und verlaufe überwiegend in der Ebene. Für Einhard ist das ein Grund für die vielen Auseinandersetzungen.43 39 Hans-Werner Goetz, Limes, confinia, marca. Zur Wahrnehmung und Bedeutung von Grenzen in der Karolingerzeit, in  : Der Limes Saxoniae – Fiktion oder Realität  ?, hrsg. von O. Auge (im Druck). 40 Zur Zusammenfassung des Forschungsstandes vgl. etwa Andrea Stieldorf, Marken und Markgrafen. Studien zur Grenzsicherung durch die fränkisch-deutschen Herrscher, 2012, S. 7 ff.; Matthias Hardt, Linien und Säume, Zonen und Räume an der Ostgrenze des Reiches im frühen und hohen Mittelalter, in  : Grenze und Differenz im frühen Mittelalter, hrsg. von W. Pohl/H. Reimitz, 2000, S. 39–56, hier S. 39 f. Zweifel an diesen Lehren äußerten Reinhard Schneider, Lineare Grenzen – Vom frühen bis zum späten Mittelalter, in  : Grenzen und Grenzregionen. Frontières et régions frontalières. Borders and Border Regions, hrsg. von W. Haubrichs/R. Schneider, 1993, S. 51–68  ; Claudius Sieber-Lehmann, »Regna colore rubeo circumscripta«. Überlegungen zur Geschichte weltlicher Herrschaftsgrenzen im Mittelalter, in  : Grenzen und Raumvorstellungen (11.–20. Jh.). Frontières et conceptions de l’espace (11e–20e siècles), hrsg. von G. P. Marchal, 1996, S.  79–91, hier S. 79 ff.; Hans-Werner Goetz, Concepts of Realm and Fontiers from Late Antiquityx to the Early Middle Ages  : some Preliminary Remarks, in  : The Transformation of Frontiers. From Late Antiquity to the Carolingians, hrsg. von W. Pohl/I. Wood/H. Reimitz, 2001, S. 73–82. 41 Auch für den Süden Lothringens, so Jens Schneider, Raum und Grenze  : Vergleichende Überlegungen zur Entwicklung im mittelalterlichen Reich, in  : Die Zukunft der Kartographie. Neue und nicht so neue epistemologische Krisen, hrsg. von M. Picker/V. Maleval/F. Gabaude, 2013, S. 177–197, hier S. 190 f., habe es vor dem 13. Jahrhundert keine verbindlichen Grenzen gegeben. 42 Florian Mazel, L’évêque et le territoire. L’invention médiévale de l’espace (Ve-XIIIe siècle), 2016, Kapitel 3 (S. 159–235), das Zitat in der Überschrift S. 159. 43 Einhard, Vita Karoli Magni 7, ed. O. Holder-Egger, MGH SS rer. Germ. 25, 61911, S. 9  : termini videlicet nostri et illorum poene ubique in plano contigui, praeter pauca loca, in quibus vel silvae maiores vel montium iuga interiecta utrorumque agros certo limite disterminant.

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Dabei hat man in der Vorstellung von »Grenzsäumen« allerdings geflissentlich zweierlei übersehen  : Einhard bezweifelt keineswegs, dass es eine Grenze gibt  ; sie ist in der Ebene eben nur weniger klar »markiert«  ; und er spricht auch nicht von Ödland, sondern von Ackerland (agros)  ; von »unbewohnt« kann also keine Rede sein. Auch sonst ist von einem Grenzsaum tatsächlich nirgends die Rede, und das Grenzgebiet lag auch keineswegs verödet dar, sondern war kultiviert44 und mit Dörfern besiedelt.45 Wenn es gelegentlich heißt, eine Grenze sei ein certus limes gewesen,46 dann bedeutet das zwar, dass die Grenzen an anderen Stellen weniger sicher waren, aber Grenzen gab es überall  : Reichsgrenzen nach außen wie auch Binnengrenzen zwischen Bistümern und Grafschaften, bis hin zu Grundstücksgrenzen. Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche trafen sich 862 zu einer gemeinsamen Versammlung (placitum) in confinio zweier Grafschaften (Mosminse und Voncq)  ;47 Hinkmar von Reims ordnete ein Konzil an der Grenze der Diözesen an, damit auch viele Mitbischöfe und andere Kleriker und Laien teilnehmen konnten,48 und die Lage von Orten in bestimmten Grafschaften in Tausenden von Urkunden belegt, dass deren Gebiet fest abgegrenzt war. Auch die karolingischen Reichsteilungen beschrieben den Grenzverlauf sehr genau nach Bistümern, Grafschaften und Nachbarprovinzen.49 Kein Bruder sollte 44 Vgl. Lupus, Vita Wigberti abbatis Friteslariensis 13, ed. O. Holder-Egger, MGH SS 15/1, 1887, S. 41  : Effera Saxonum gens proprium transgressa limitem, in finitimorum se agros effuderat et indigenas non satis fidentes propriis viribus in oppidum cui Buriburg nomen est formidine sui conpulerat. 45 Vgl. Annales Bertiniani a. 839, ed. F. Grat/J. Vielliard/S. Clémencet, 1964, S. 33 f., zu Gesandten Ludwigs des Frommen, die nach Übergriffen der Sorben und Wilzen diesen einen Treueid abnehmen sollten  : dispositis quoque Saxonum aduersum Soraborum et Vultzorum incursiones, qui nuper quasdam ipsius marchae Saxonicae uillas incendio cremauerant. 46 So wird die Donau als limes certus zwischen Bayern und Awaren bezeichnet (Annales qui dicuntur Einhardi a. 791, S.  89), gab es seit jeher certi fines zwischen Franken und Bretonen (so die Sy­ node von Anjou 850, MGH Conc. 3  : Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843–859, ed. W. Hartmann, 1984, Nr. 20, S. 205  : Nec ignoras, quod certi fines ab exordio dominationis Francorum fuerunt), war die Ijssel für Hucbald von Saint-Amand, Vita Lebuini, ed. G. H. Pertz, MGH SS 2, 1829, S. 361, die sicherste und stärkte Grenze zwischen Franken und Sachsen (ut fieret velut quidam limes certissimus atque fortissimus in Francorum Saxonumque confinio). 47 Annales Bertiniani a. 862 (wie Anm. 45), S. 95  : Sicque condicentes placitum sui conuuentus in futuro mense octobrio in confinio Mosomagensis et Vonzensis comitatus, ab inuicem secesserunt. 48 Hinkmar von Reims, Opusculum LV capitulorum, c. 2, ed. R. Schieffer, MGH Conc. 4, Suppl. 2  : Die Streitschriften Hinkmars von Reims und Hinkmars von Laon 869–871, 2003, S.  153  : Sed quod tibi honestum fuerat et praecipiunt regulę, obtinere non potui, donec placitum, te propter pacis caritatisque custodiam conhibente, in confinio parrochiarum nostrarum condixi, quo quidam ex coepiscopis nostris et multi ecclesiastici et laicalis ordinis ac nobiles et mediocris conditionis viri convenerunt. 49 Vgl. etwa die Divisio regnorum von 806 (unter die Söhne Karls des Großen)  : MGH Capit. 1, ed. A. Boretius, 1883, Nr. 45, S. 126 ff.; vgl. auch Annales Bertiniani a. 837 (wie Anm. 45), S. 22 f.

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es wagen, über seine Grenzen hinaus in das Gebiet eines anderen einzudringen oder das Grenzland zu vermindern.50 Grenzschutz und Grenzregelungen51 bilden weitere Indizien. Das gilt auch für Stammesprovinzen und Herzogtümer  : Ständig werden die Provinzgrenzen, ob friedlich oder weniger friedlich, überschritten.52 Man kehrte in eigenes Gebiet zurück oder wurde daraus vertrieben.53 In den Sachsenkriegen fielen die Sachsen super confinia Francorum in fränkisches Gebiet ein, während sich die confiniales, die Bewohner dieses Grenzgebietes, in die Büraburg (Burg bei Fritzlar) flüchteten.54 Ludwig der Fromme verbot seinem gleichnamigen Sohn, ohne seine Erlaubnis die fines Baioariae zu betreten.55 Sicherlich verbirgt sich hinter dieser Wendung das Gebiet Bayern, aber dieses Gebiet setzt gera(= Nithard, Historiae 1,6, ed. E. Müller, MGH SS rer. Germ. 44, 1907, S. 8 f.), mit Angabe der Grenzgegenden (usque ad fines Ribuariorum totam Frisiam) und der Grenzgrafschaften. 880 teilten die westfränkischen Könige Ludwig und Karlmann das Reich ihres Vaters nach dem Rat der Fürsten certis limitibus untereinander auf  : so Ex sermone in tumulatione ss. Quintini, Victorici, Cassiani, ed. O. Holder-Egger, MGH SS 15/1, 1887, S. 272  : ibique [bei Amiens 880] principum consilio regnum certis limitibus inter se diviserunt. 50 Divisio regnorum c. 6, S. 128  : ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites invadere praesumat neque fraudulenter ingredi ad conturbandum regnum eius vel marcas minuendas. Allgemein  : Kapitulariensammlung des Ansegis 1,33, ed. G. Schmitz, MGH Capit. n.s. 1, 1996, S. 454  : Item in eodem de prohibenda avaritia, ut nullus alienos fines usurpet vel terminos patrum transcendat. 51 So ordnete Karl der Große 788 in Regensburg fines vel marcas Baioariorum (Annales regni Francorum a. 788, wie Anm. 38, S. 84), Ludwig der Fromme 839 marcas populosque Germanicos (Annales Bertiniani a. 839, wie Anm. 45, S. 27). 825 drängten die Bulgaren Ludwig den Frommen, de terminis ac finibus zwischen ihren Reichen zu entscheiden  ; vgl. Annales regni Francorum a. 825, S. 167  ; ebd. a. 826, S. 168  : rogans, ut sine morarum interpositione terminorum definitio fieret. 52 Vgl. etwa Annales Bertiniani a. 844 (wie Anm. 45), S. 47 f.: Nomenogius Britto eadem tempestate fines sibi suisque antecessoribus distributos insolenter egrediens, Cenomannos usque cuncta longe lateque populando, ignibus etiam plurima cremando, perueni, ubi audita Nordomannorum intra fines eius inruptione, redire compulsus est. 53 Als Pippin gegen Waifar nach Aquitanien zog, nannten die Fränkischen Reichsannalen a. 760–762, S. 18, 20, im Folgenden aquitanische Orte. Genannt sind die Orte Tedoad, Bourbon, Chantelle, Clermont, Bourges und Thouars. Einhard zog per Alamannorum fines bis nach Solothurn, Burgundionum oppidum (Einhard, Translatio et miracula ss. Marcellini et Petri 1,8, ed. G. Waitz, MGH SS 15/1, 1887, S. 243  ; Einhard, Translatio et miracula sanctorum Marcellini et Petri, ed. D. Drumm u. a., S. 58). 54 Annales regni Francorum a. 773 (wie Anm. 38), S. 36  : Ipsi vero Saxones exierunt cum magno exercitu super confinia Francorum, pervenerunt usque ad castrum, quod nominatur Buriaburg, attamen ipsi confiniales de hac causa solliciti, cumque hoc cernerent, castello sunt ingressi. 55 Annales Bertiniani a. 839 (wie Anm. 45), S. 33  : praecipiens ut fines Baioariae nullatenus egredi nisi sese iubente praesumeret  ; vgl. Nithard, Historiae 1,5 (wie Anm. 49), S. 8  : ac deinceps sine patris iussione fines Franciae ingredi non praesumeret.

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dezu Grenzen voraus, um es betreten zu können. Man könnte noch endlos viele Belege anführen. Reiche, Provinzen, Bistümer und Grafschaften waren in der Vorstellung der frühmittelalterlichen Zeitgenossen also sehr wohl gegeneinander abgegrenzt, und die Grenzen wurden nicht als vage Grenzsäume verstanden. Mittelalterliche Regionen waren gewiss nicht unveränderlich, aber sie galten in der Regel als fest umgrenzte Gebiete. IV. Dritter Aspekt: Zunehmende begriffliche »Territorialisierung«

Einer solchen »Regionalität« entspricht auch die Begrifflichkeit.56 Für alle Teile des Frankenreichs wie auch außerhalb des Frankenreichs verwendeten Chronisten sowohl Gentilnamen (Alamanni) als auch Gebietsnamen (Alamannia) letztlich unterschiedslos nebeneinander, aber aufeinander bezogen  : »Stamm« und »Stammesgebiet« bedeuteten letztlich dasselbe.57 So stellte Karl  III. nach den Fuldaer Annalen ein Heer aus verschiedenen Provinzen (diversis provintiis), nämlich aus (den Völkern der) Franken, Alemannen, Thüringer und Sachsen, auf.58 Die Saxones waren nicht mehr die (alten) Sachsen, sondern, so Matthias Becher, die Bewohner der Saxonia.59 Nach der Analyse von drei Chroniken des 9. Jahrhunderts (Abb. 1) verteilen sich Volks- und Gebietsbezeichnungen zahlenmäßig unterschiedlich. Betrachtet man das aber in der Entwicklung, so lässt sich im Verlauf des 9.  Jahrhunderts ein zunehmender Gebrauch der Territorialnamen, wenn man so will, eine »Territorialisierung« der Volksbezeichnungen, erkennen  : In den »Annales regni Francorum« überwiegen die Volksbegriffe deutlich, in den Fuldaer Annalen nur noch leicht, bei Regino bereits leicht die Territorialbegriffe. Das sind allerdings die Gesamtzahlen. Bei regionaler Differenzierung (Abb. 2) zeigt sich noch weit deutlicher, dass Volksbegriffe vor allem außerhalb, im Reich hingegen Gebietsnamen bevorzugt werden, und zwar vor allem für Westfranken und Italien. Für das Ostfränkisch-Deutsche Reich überwiegen anscheinend noch Gentilnamen, doch gilt das bei weiterer Differenzierung (Abb. 3) nur für die Franken bzw. das Fränkische Reich, die Sachsen (vor allem aber in den Fränkischen Reichsannalen 56 Dieser Abschnitt über die sich wandelnde Terminologie dieser Regionen fasst kurz frühere Überlegungen im Hinblick auf die hier verfolgte Zielrichtung zusammen  ; vgl. Goetz (wie Anm. 24)  ; ders., Zur Funktion (wie Anm. 33). 57 Vgl. die Belege bei Goetz (wie Anm. 24), S. 105, Anm. 126, 127. 58 Annales Fuldenses a. 882, ed. F. Kurze, MGH SS rer. Germ. 7, 1891, S. 98. 59 Becher (wie Anm. 19), S. 18, 29.

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Abb. 1: Verteilung der Volks- und Gebietsnamen in Ostfränkischen Chroniken.

Abb. 2: Regionale Verteilung der Volks- und Gebietsnamen in Ostfränkischen Chroniken.

vor der Eingliederung), Friesen und Thüringer, während bei den festen süddeutschen Provinzen Alemannien und Bayern (wie im Westen und in Italien) deutlich die Gebietsnamen überwiegen. Die Tendenz zu Gebietsnamen ist auch hier folglich sehr deutlich ausgeprägt. Welchen der beiden Begriffe man verwendet, hängt, wenngleich nicht völlig konsistent, aber auch vom Kontext ab  : Geht es um Raum, Aufenthalte, Reiseziele, Reiserouten oder geographische Lage, so wird der Gebietsname bevorzugt  ;

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Abb. 3: Verteilung der Volks- und Gebietsnamen auf die einzelnen Provinzen im Ostfränkischen Reich.

für Personen (Heer, Kriegführung, Versammlungen, politische Handlungen) überwiegt hingegen der Volksname  ; dabei kann aber durchaus von den optimates Saxoniae oder umgekehrt von der terra Saxonum die Rede sein  ; nur gens wird ausnahmslos personell verstanden. Den territorialen Bezug belegen zusätzlich Bezeichnungen wie terra, regio, fines, termini oder provincia, die sich zwanglos aber auch mit dem Volksnamen (im Genitiv Plural) verbinden können (wie terra Saxonum). Das gentile Denken wird, nach der Terminologie gemessen, also überlagert von politischen und geographisch-territorialen Wahrnehmungsmustern, die den damaligen Zeitgenossen oft vermutlich gar nicht bewusst waren. Ein Blick auf die nach der Mitte des 11. Jahrhunderts entstandene Chronik Hermanns von Reichenau (Abb. 4)60 zeigt, wenn dieses Beispiel repräsentativ ist, dass die Gebietsnamen insgesamt wie auch im Deutschen Reich (und in Italien) klar überwiegen, und zwar jetzt in sämtlichen Provinzen oder Herzogtümern des Reichs. Nur außerhalb des Reichs werden weiterhin Volksnamen, innerhalb hingegen deutlich Territorialnamen bevorzugt. Volks- und Gebietsbegriffe, so darf man als Ergebnis festhalten, sind den Autoren innerhalb wie außerhalb des Ostfränkischen Reiches selbstverständlich und werden nicht eigens reflektiert. Sie stehen, funktions- und kontextbezogen 60 Vgl. Goetz (wie Anm. 33), S. 20 ff. Ausgezählt wurden nur die »selbständigen« Passagen der Jahre 901 bis 1054, mit 302 Volks- oder Gebietsnamen für 39 Gemeinschaften.

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Abb. 4: Verteilung der Orts- und Gebietsnamen bei Hermann von Reichenau.

angewandt, nebeneinander und sind aufeinander bezogen. Deutlich erkennbar ist aber eine zunehmende Tendenz zu Territorialbegriffen. Man kann das durchaus als Indiz dafür werten, dass die Regionen als Räume immer stärker ins Bewusstsein rückten, die »Volksgebiete« zu Provinzen wurden. V. Vierter Aspekt: Das Verhältnis von Herrschaftsraum und Herrschaftsrechten am Beispiel des Herzogtums

Was waren das nun aber für Gebilde, die sich von alten Volksnamen ableiteten, aber zu Provinzen im Reich wurden, und wie waren sie organisiert  ? Für die ältere Forschung bildeten die »deutschen Stämme«, die fünf (späteren) Herzogtümer Franken, Lothringen, Sachsen, Bayern und Schwaben, das Substrat des Reichs  : Das deutsche Volk erwuchs auf der Grundlage von Stämmen, schrieb noch 1985 Hans Kurt Schulze in seiner Verfassungsgeschichte.61 Der Rechtshistoriker Karl Siegfried Bader machte die »Stämme« (1953) sogar dafür verantwortlich, dass eine regelrechte Staatlichkeit sich nicht im Reich, sondern zuerst in den Territorien ausbilden konnte.62 Aber was ist mit den Völkern, die in diesen Herzogtümern 61 Schulze (wie Anm. 21), S. 37. 62 Karl Siegfried Bader, Volk, Stamm, Territorium, in  : HZ 176 (1953), S.  449–477, wieder abgedruckt in  : Herrschaft und Staat (wie Anm. 6), S. 243–283. Ein einheitliches Handeln der Stämme

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aufgingen, aber keine Herzogtümer ausbilden konnten, wie Thüringer, Friesen und Hessen  ? Die Herzogtümer seien nicht aus Völkern, sondern aus regna, den karolingischen Teilreichen, hervorgegangen, meinte, wie schon erwähnt, Karl Ferdi­ nand Werner. Völker – Stämme – Herzogtümer  ?, fragt offener Bernd Schneidmüller.63 Die Frage bildet offenbar kein leicht oder einhellig zu lösendes Problem.64 Das Ostfränkische Reich, so viel ist sicher, ist nicht aus einem Zusammenschluss der »Stämme«, sondern  – Schritt für Schritt  – aus den Teilungen hervorgegangen. In diesem Rahmen aber bilden die Stammesprovinzen bereits vor der Herausbildung neuer Herzogtümer die wichtigste Binnengliederung  : Die anfangs neu zu bestimmenden Teilreiche wurden oft nicht nur geradezu durch die Aufzählung dieser Völker oder Provinzen beschrieben,65 sondern diese bildeten zudem durchweg einen wichtigen politischen Faktor in der Reichsverfassung der späten Karolingerzeit  : Die Quellen bezeugen sie als Heereseinheiten, da das Heer nach »Stämmen«, das heißt nach Bewohnern dieser Provinzen gegliedert war, als Teilnehmer an Reichstagen, nicht zuletzt bei Königswahlen, ja geradezu als »Handelnde«  : Die Normannen drangen auf die Sachsen ein,66 der König schickte die Thüringer und die Sachsen gegen die Mährer67 usw. Es versteht sich von selbst, dass damit nie das ganze Volk gemeint war, aber die Stämme sind die politischen Repräsentanten der Provinzen gewesen, die Herzöge später die Repräsentanten der (Stammes)Provinzen. Es ist bezeichnend, dass die Stammesgebiete zugleich als provincia, immer wieder aber auch als regna bezeichnet werden  : Das Reich setzte sich (wie bei Regino von Prüm) geradezu aus gentes hat dagegen vor allem Gerd Tellenbach, Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, 1939, besonders S. 1 ff., bezweifelt. 63 Schneidmüller (wie Anm. 22). 64 Zur Problematik vgl. Goetz (wie Anm. 27). Zum geschichtswissenschaftlichen Begriff vgl. Schulze (wie Anm. 21), der gegenüber ethnologischen Definitionen (gleiche Sprache und zivilisatorische Ausrüstung) zu Recht Selbstverständnis, Abstammungsgemeinschaft, politische Organisation und Entwicklung (Werden und Vergehen) hinzufügt (ebd. S. 11 ff.) und »Stamm« als Abstammungsgemeinschaft, als Sprach- und Kultur- und Traditionsgemeinschaft, als Siedlungsverband, als Rechts- und Friedensgemeinschaft und als politisch-organisatorischen Verband (ebd. S. 13) betrachtet (S. 14–39), dabei aber fast ausschließlich die Frühzeit in den Blick nimmt und nur gelegentlich die spätere Karolingerzeit einbezieht (vgl. vor allem im Hinblick auf die politische Organisation ebd. S. 25 ff.). 65 Vgl. etwa Annales Fuldenses a. 840 (wie Anm. 58), S. 31, zum Herrschaftsbereich Ludwigs des Deutschen  : orientales Francos, Alamannos, Saxones et Thuringios sibi fidelitatis iure confirmat  ; zusammen ist Ludwig rex orientalium Francorum (ebd. a. 850, S.  39). Bayern fehlt in der Aufstellung, weil Ludwig bereits vorher über Bayern herrschte. Vgl. auch ebd., Cont. Ratisbonensis a. 888, S. 116, zur Huldigung derselben »Stämme« gegenüber Arnulf. 66 So Annales Fuldenses a. 884 (wie Anm. 58), S. 100. 67 So ebd. a. 872, S. 75 f.

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et regna zusammen.68 Dem mittelalterlichen Verständnis war ein enger Zusammenhang von ethnischer (gens), politischer (regnum) und territorialer Perspektive (provincia) selbstverständlich. In diesem Sinn hatte auch der Einzelne eine doppelte Identität  : Er war zugleich Glied des regnum und fidelis seines Königs, zugleich aber Alamanne, Bayer oder Sachse etc.69 Politisch entscheidend blieben in zeitgenössischer Wahrnehmung allerdings König und Reich. Für die Reichsverfassung waren seit dem 10.  Jahrhundert die Herzogtümer zweifellos die wichtigsten regionalen Mächte.70 Erst in den Herzögen erhielten die »Stammesprovinzen« eine politische Organisation.71 Ist eine »ethnische Homogenität« durch die Ethnogeneseforschung auch weithin in Frage gestellt, so bleiben diese zu Herzogtümern werdenden »Stammesprovinzen«, wie die Begrifflichkeit gezeigt hat, doch ein Identitätsmerkmal. Dass sich der bestimmende gentile Charakter, wie das deutsche Volk zum Deutschen Reich, allerdings geradezu zwangsläufig in den Herzogtümern als politischen Einheiten niederschlagen musste, die daher als »Stammesherzogtümer« galten – worin sich Lothringen, wie schon betont, allerdings ganz und gar nicht einfügt –, wird man heute hingegen kaum mehr so klar annehmen dürfen, sondern auf die Genese dieser Herzogtümer blicken müssen  : Die Stammesprovinzen wuchsen, nicht ohne Wandlungen, in die Reichsverfassung hinein. Die sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts ausbildenden »Fürstentümer« – oder neutraler  : die neuen Herrschaftsgebilde – stützten sich jedoch nicht, jedenfalls nicht erkennbar, auf die »Stämme«,72 sondern verdankten ihren allmählichen Aufstieg einerseits zunächst königlicher Förderung, Ämtern (Grafschaften), nicht zuletzt als Markgrafen in Grenzgebieten in 68 Vgl. etwa Regino von Prüm, Chronicon a. 880 (wie Anm. 25), S. 116  : Die Karolingergenealogie erreichte in Karl dem Großen ihren Höhepunkt  : quousque in magno Carolo summum imperii fastigium non solum Francorum, verum etiam diversarum gentium regnorumque obtineret  ; ebd. a. 882, S. 119  : Unterstützung Karls III. ex diversis regnis et gentibus. 69 Das hat, teilweise gegen den damaligen Trend, bereits die Dissertation von Wolfgang Heßler, Die Anfänge des deutschen Nationalgefühls in der ostfränkischen Geschichtsschreibung des neunten Jahrhunderts, 1943 (ND 1965), aufgezeigt. 70 Zum Herzogtum vgl. Goetz (wie Anm. 15), mit ausführlicher Besprechung der älteren Literatur (ebd. S. 23–92)  ; seither Becher (wie Anm. 19)  ; Deutinger (wie Anm. 10), S. 187–217. 71 Vom Herzog zwischen König und »Stamm« spricht Helmut Maurer, Der Herzog von Schwaben. Grundlagen, Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer und staufischer Zeit, 1978, S. 129 (Überschrift). 72 Wieweit das Herzogtum als Raum, der Dukat als Provinz, noch mit einer früheren »Stammesbevölkerung« korrespondiert, ist schwer zu sagen und kaum mehr zu überprüfen. Schulze (wie Anm.  5), geht auf die Frage des Verhältnisses von Herzogtum und Stamm gar nicht mehr ein, obwohl er im ersten Band ausführlich den »Stammesverband« als eine Grundstruktur behandelt hat.

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Zeiten äußerer Bedrohungen73 und vor allem Ämterhäufungen, andererseits aber Eigenrechten – Besitz, Eigenklöstern und -kirchen,74 gelegentlich Burgen –, einer Verselbständigung der Herrschaft gegenüber dem Königtum, vor allem unter Ludwig dem Kind und Konrad I., und einer Machtausbreitung  : Überall gab es zunächst noch rivalisierende, teils vom König geförderte Geschlechter. Betrachtet man die in den Quellen bezeugten Herrschaftsrechte dieser »protoherzoglichen« Herrschaften in ihrer räumlichen Ausdehnung,75 dann stößt man deutlich auf Machtkonzentrationen, aber nirgends auch nur annähernd auf eine räumliche Kongruenz mit den Stammesprovinzen  : Einerseits umfassten sie nur Teile ihrer Provinz, andererseits gingen sie darüber hinaus. –– Die Rechte der bayerischen Luitpoldinger (Abb. 5) konzentrierten sich auf den Raum um Freising und den Nordgau/Donaugau (Donau-Altmühl-Raum) – rot – sowie im Süden das Mur-Drau-Gebiet in Kärnten – grün. –– Die Schwerpunkte der sächsischen Liudolfinger (Abb. 6) lagen in Ostsachsen-Thüringen (zwischen Oker, Aller und Bode  – rot, zwischen Leine und Innerste  – grün, im Friesenfeld (zwischen Gera, Unstrut, Ilm und Saale)  – blau –, mit weiteren Komitatsrechten im Eichsfeld und Südthüringgau  ; ihr Besitz entstammte dem Königsgut. –– Die Komitats- und Besitzrechte der alemannischen Hunfridinger oder Burchardinger (Abb. 7) konzentrierten sich deutlich auf den Thur- und Zürichgau zwischen Bodensee und Thur, bis zur Töss – rot –, mit weiteren Komplexen an der oberen Donau in Bertholdsbaar und Scherragau – grün –, in Rätien beiderseits des Rheins – blau –, an der Ill und im Hegau. 73 Vgl. Deutinger (wie Anm. 10), S. 206  : Alle duces im späten Karolingerreich waren Markgrafen. Zu den Marken und Markgrafschaften vgl. ausführlich Stieldorf (wie Anm. 40). 74 Die Liudolfinger gründeten Klöster in Brunshausen und Gandersheim, die Hunfridinger in Waldkirch (Reginlind), die Konradiner in Kettenbach/Gmünden und Wetzlar (Gebhard), in Weilburg (Konrad d. J.) und Limburg (Eberhards Sohn Konrad Kurzpold). Außerdem erhielten sie Reichs­ abteien  : die Liudolfinger Hersfeld, die Hunfridinger Pfäfers, St.  Felix und Regula bei Zürich sowie Einsiedeln, die Reginare Echternach, Stablo, St. Servatius bei Maastricht und St. Maximin bei Trier, die Konradiner St. Maximin und Oeren bei Trier sowie Kaiserswerth. 75 Methodisch müssen wir uns allerdings stets vor Augen halten, dass wir jeweils nur über punktuelle Zeugnisse (vor allem über Komitatsrechte und Besitztransaktionen in bestimmten Orten) verfügen, die nur einen Teil der Herrschaft enthüllen. Man darf nach diesem Befund gleichwohl davon ausgehen, dass weitere, quellenmäßig nicht erfassbare Herrschaftsrechte ebenso punktuell bzw. regional begrenzt bleiben. Die Zusammenstellung sollte aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Rechte jeweils auf verschiedene Mitglieder des Geschlechts verteilen und nur bei deren Einigkeit eine gewisse Einheit beanspruchen können.

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Luitpoldinger

Abb. 5: Herrschaftsrechte der bayerischen Luitpoldinger.

–– Die Reginare in Lothringen (Abb. 8) verfügten über konzentrierte Rechte an Maas und Ourthe – rot –, Mittelmosel – grün – und in den Ardennen. –– Die Konradiner in Franken (Abb. 9) schließlich besaßen Komitate zwischen Rhein, Ruhr und Wupper (Bonngau, Duisburggau, Keldachgau) – blau –, Komitats- und Besitzrechte im hessischen Lahngau  – rot  –, im Nahegau und Mayenfeldgau an der unteren Mosel – grün –, am Mittelrhein im Rheingau, zwischen Lahn und Kinzig  – orange  –, im Wormsfeld zwischen Main und Neckar  – violett  –, aber auch in Ostfranken (Gozfeld, Volkfeld, zwischen Main, Regnitz und Aisch) – braun –, im Nordosten bis zur Eder und Diemel – hellbraun –, im Eichsfeld sowie an der oberen Unstrut in Thüringen – schwarz. Alle diese Geschlechter verfügten demnach über mehrere, deutlich räumlich konzentrierte, jedoch auf verschiedene Gegenden verteilte Herrschaftskomplexe,76 die jedoch nirgends das ganze Herzogtum erfassten. Die Kumulation 76 Grafschafts- und Besitzrechte gehen oft aber auch auseinander, vor allem bei Liudolfingern und Reginaren  ; Klöster und – gelegentlich – Burgen liegen dagegen in den »Besitzlandschaften«.

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Abb. 6: Herrschaftsrechte der sächsischen Liudolfinger.

Abb. 7: Herrschaftsrechte der alemannischen Hunfridinger.

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Abb. 8: Herrschaftsrechte der lothringischen Reginare.

Abb. 9: Herrschaftsrechte der fränkischen Konradiner.

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von Grafschaften hatte zwar von vornherein einen territorialen Charakter, weist aber nicht oder nur teilweise eine räumliche Geschlossenheit auf. Eine Tendenz, entlegene Güter zugunsten dichterer Konzentration abzustreifen, ist aus den Traditionen nicht erkennbar  ;77 die Transaktionen weisen eher auf eine Besitz- als auf eine »Territorialpolitik«. Klarer zeichnet sich zwar eine Tendenz zur Erweiterung der Herrschaftsrechte auch in neuen Regionen, ab,78 die anscheinend jedoch nicht darauf abzielte, im ganzen Herzogtum Fuß zu fassen.79 Die Konradiner kumulierten gar Rechte in drei verschiedenen Stammesprovinzen, und wenn man sich den Umfang ihrer Rechte anschaut, erscheint ein Königtum Konrads I. alles andere als überraschend. Diese Fürsten sind daher eher als mächtige Herren (mit Anhang) denn als regelrecht vom Stammesadel erhobene »Stammesherzöge« anzusehen.80 Zu »Herzögen« wurden sie erst durch königliche Ernennung unter den Ottonen. Konrad I. suchte ihre Macht einzudämmen, Heinrich I. musste ihre Herrschaft – zwangsläufig – anerkennen und band sie als »Herzöge« an den König und in das Reich ein. Es spricht vieles dafür, dass damit erst jetzt auch eine Statthalterschaft über die Stammesprovinzen verbunden war, die sich im 9. Jahrhundert so noch nirgends nachweisen lässt.81 Otto der Große tat ein Weiteres, indem er die alten Fürstengeschlechter durch eigene Verwandte zu ersetzen suchte, die sich in der Folge aber als nicht weniger rebellisch erwiesen. Diese Herzöge fungierten als Stellvertreter des Königs. Die oder einige der neuen Fürsten wurden also zu Herzögen, die sich nach der Wahrnehmung der Quellen mit der Herrschaft über die »Stammesprovinzen« verbanden, deren Machtgrundlagen hingegen auch weiterhin wie beim Königtum auf bestimmte, mit den Herzogsdynastien wechselnde Kernlandschaften 77 Im Gegenteil findet ein Tausch oft in derselben Gegend statt. Zu Belegen vgl. Goetz, Définir l’espace politique  : la formation des duchés dans le royaume franc de l’est vers l’an 900, in  : Les élites et leurs espaces, hrsg. von Ph. Depreux/F. Bougard/R. Le Jan, 2007, S. 135–172, hier S. 164. 78 Am deutlichsten bei den Konradinern erkennbar, die nach Westen (Lothringen), Nordosten (Thüringen) und Südosten (Ostfranken) ausgriffen. 79 Auch die bezeugten Aufenthalte – von einem »Itinerar« kann man angesichts der dürftigen Überlieferung nicht reden – erstrecken sich auf das ganze Reich (Liudolfinger, Luitpoldinger und Hunfridinger sind in Franken, die beiden letzteren auch in Bayern nachweisbar). Zum Teil haben sie den König sogar eine längere Zeit begleitet, vgl. Belege bei Goetz, (wie Anm. 77), S. 158, Anm. 5. 80 Erhebungen zum dux (wie des Hunfridingers Burchard 917 nach der Hinrichtung Erchangers und Bertholds) sind im konkreten Zusammenhang einer gegen den König (Konrad I.) gerichteten (militärischen) Führungsposition zu sehen. 81 Letzteres betont Deutinger (wie Anm. 10), S. 206 ff.; zu den einzelnen Titelträgern im 9. Jahrhundert, ebd., S. 187–217.

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beschränkt blieben  :82 Ihre unmittelbare fürstliche Herrschaft und ihr Herzogtum als königliches Amt in den Provinzen gingen somit weit auseinander. Im Prinzip waren die Herzöge »Repräsentanten« des Königs, nicht des »Stammes«, in ihrer Region, die ihr Herzogtum aber ebenso im »Reich«, am Königshof‹ vertraten und hier gewiss zu den wichtigen Wortführern zählten. Dass sie nicht in allen Teilen der Provinz begütert waren oder Amtsrechte besaßen oder anwesend waren, widerlegt noch nicht in sich den Anspruch auf eine (gesamte) Provinzherrschaft. Auch die Könige besaßen nicht überall Königsgut und waren, wie wir längst wissen, nicht überall gleich häufig anwesend und manche Regionen betraten sie nie. Ähnliches ist sicherlich auch für die Regionalherrschaften anzunehmen. Der unmittelbaren Herrschaft waren, im Reich wie in den Provinzen, ohnehin weite Gebiete und ein Großteil der Menschen, wie in Immunitäten und Grundherrschaften, wenn nicht entzogen, so doch zumindest durch Zwischengewalten mediatisiert. Und wenn »Herrschaft«, wie heute so gern betont wird, »konsensuale« Herrschaft ist, dann trifft das auch auf den Herzog als »Repräsentanten« seiner Provinz zu. Konsens entspricht der mittelalterlichen Praxis, ebenso wie sein Pendant, der vermutlich ebenso häufige Dissens, nicht jedoch der mittelalterlichen Theorie, die oft so tut, als wären König und Herzöge Alleinherrscher. Dissens und »Ungehorsam« gab es auch im Inneren der Dukate, wie auch mit dem Herzog selbst, ebenso wie es (en masse) unbotmäßige Herzöge gegenüber dem König gab. Das Verhältnis von Amt (Herzogtum) und Region (»Stammesprovinz«) bleibt dabei eines der noch ungelösten Probleme. Welche »Amtsrechte« sich konkret mit dem Herzogsamt verbanden, bleibt im Einzelnen ebenfalls durchaus unklar, vergleichbar vielleicht mit den wenig üppigen Rechten der Erzbischöfe in ihren Kirchenprovinzen. Aus späterer Sicht ist es erhellend, was Adam von Bremen im Rückblick über den Sachsenherzog Hermann Billung schreibt, dem Otto I. während seines Italienzugs als Stellvertreter der Königsherrschaft (vicarius potestatis) den Dukat Sachsen in den den Barbaren benachbarten Gebieten und damit ein, so Adam, seit der Eroberung durch Karl den Großen unbesetztes bzw. vom König selbst bekleidetes Amt übertrug  : Er sollte für Recht und Gerechtigkeit sorgen (ad faciendam iusticiam) und das Land und vor allem die Grenzen vor den Barbaren (den Slawen) schützen.83 Mit der Gerichtsbarkeit und dem militärischen Schutz sind die beiden 82 Das hat am Beispiel Schwabens klar Maurer (wie Anm. 71) aufgezeigt. 83 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 2,8, ed. B. Schmeidler, MGH SS rer. Germ. 3. Aufl. 1917, S. 66  : Post haec cum rex victoriosissimus Otto ad liberandum sedem apostolicam vocaretur in Italiam, consilium fertur habuisse, quem post se vicarium potestatis ad faciendam

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wichtigsten Funktionen benannt, bekleidet der Herzog ein vom König besetztes Amt, das sich, wie aus dem Folgenden, einer Gesamtwürdigung Hermanns hervorgeht, auf die gesamte Provinz (Saxonia) bezog.84 VI. Fazit und Ausblick

Unter gezielter Einbeziehung der Fragen des Tagungs- und Bandkonzepts sei ein kurzes differenzierendes Resümee gezogen. Erstens  : Charakter und Bedeutung der Regionen in der Verfassung des prädeutschen Reichs sind nach wie vor noch klärungsbedürftig, weil die ältere Forschung die Bedeutung der »Stämme« eher vorausgesetzt als aufgewiesen hat, während die jüngere Forschung zwar den Räumen und Regionen, jedoch den früher ganz im Zentrum stehenden konkreten verfassungsgeschichtlichen Fragen kaum mehr Aufmerksamkeit widmet. Die Bedeutung personaler Bindungen, die von der älteren (sog. Neuen) Deutschen Verfassungsgeschichte betont und überbetont worden sind, soll keineswegs bestritten werden, aber sie unterlagen doch stets zugleich einer räumlichen Komponente. Wie Erzbistümer und Bis­ tümer sowie zunehmend Pfarreien in der kirchlichen Organisation, so bildeten Grafschaften und Stammesprovinzen tatsächlich ein zentrales Element der »Reichsverfassung« und übernahmen wichtige Funktionen im spätostkarolingischen und frühdeutschen Reich  : in militärischer Hinsicht bei der Aufstellung der Heereskontingente, die sich, dem Sprachgebrauch der Quellen zufolge, nach den »Stämmen« gliederten, sowie auf den Reichstagen, auf denen zwar die weltlichen und geistlichen Großen dominierten, die dem Wortlaut nach aber ebenfalls von den »Stämmen« repräsentiert wurden. Das Gleiche gilt für die Königswahlen, die ja auf solchen Versammlungen stattfanden und bei der seit ottonischer Zeit den Herzögen (neben den Bischöfen) zwar keine »verfassungsmäßig« festgelegte, doch zumindest eine tragende politische Rolle zukam. Zweitens   : Diese »Stammesprovinzen« trugen alte Volksnamen oder entwickelten wie die Lothringer neue, die sich gemäß den Prozessen der Ethnogenese jedoch ständig weiterentwickelten und gerade in dieser Zeit zu neuen Einheiten und dann zu den (»jüngeren«) Herzogtümern ausgestalteten, dabei iusticiam relinqueret in his partibus, quae barbaris confines sunt terminis. Nondum enim post tempore Karoli propter veteres illius gentis seditiones Saxonia ducem accepit nisi cesarem. Qua necessitate rex persuasus Hermanno primum tutelae vicem in Saxonia commisit. 84 Ebd. 2,9, S. 67  : Postquam vero ducatum Saxoniae meruit, iudicio et iusticia gubernavit provinciam.

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mehr und mehr als territoriale Einheiten, als »Provinzen« des Reichs betrachtet und zunehmend mit den territorialen Namen bezeichnet wurden. Ein »Eigengewicht regionaler Besonderheiten« (als eine wichtige Frage des Tagungskonzepts) hatten diese Gebiete in zeitgenössischer Vorstellung durchaus. Zwar sah da man Völker (gentes) durch Herkunft, Sprache, Sitten und Recht voneinander geschieden, doch spielte das, soweit ich sehe, keine Rolle in ihrer politischen Funktion im Gesamtreich, und auch das Recht schied die späteren Dukate nur teilweise voneinander  : So gibt es ein eigenes Friesenrecht, und die Lex Ribuaria ist nicht lothringisches Recht. Wieweit die alten »Volksrechte« (Leges) im 9. und 10. Jahrhundert bereits nivelliert wurden, ist strittig, doch wurden sie, nach dem Handschriftenbestand zu urteilen, zumindest weiter abgeschrieben.85 Im Ostfränkischen Reich des 9. Jahrhunderts, aber auch schon vorher, galten die Provinzen demnach als feste, voneinander abgegrenzte, regionale Einheiten, doch sie unterstanden keiner einheitlichen Herrschaft. Es gab allenfalls Ansprüche auf eine Vormachtstellung einzelner Geschlechter. Drittens  : Eine Herrschaftsorganisation der Regionen (ein weiterer Kernaspekt des Konzepts) und eine politische Führung werden letztlich erst in den Herzogtümern fassbar, die als königliche Ämter verstanden wurden. Die Herzöge wurden fortan vom König eingesetzt, auch wenn es dabei Rücksichten auf eine regionale Herkunft und Verwurzelung zu nehmen galt  ; dahinter stand nicht minder der Anspruch führender Familien auf die Herzogsherrschaft. Bereits die Fürsten des 9. wie auch die Herzöge des 10. und 11.  Jahrhunderts tendierten ihrerseits zu deutlichen Herrschaftszentren, die sich jedoch nirgends auch nur annähernd über die ganze Provinz erstreckten. Auch später gab es oft mehrere führende Familien, die Ansprüche auf das Herzogtum erhoben, wie die Zähringer der Stauferzeit in Schwaben. Über die tatsächlichen Herrschaftsrechte der Herzöge in ihren Provinzen und die innere Organisation der Herzogtümer 85 Auf das Problem ihrer Fortgeltung gehe ich hier nicht ein. Sie suchte Raymond Kottje, Zum Geltungsbereich der Lex Alamannorum, in  : Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10.  Jahrhundert, hrsg. von H. Beumann/W. Schröder, 1987, S.  359–377, anhand der handschriftlichen Überlieferung zu erweisen. Dagegen aber Clausdieter Schott, Zur Geltung der Lex Alamannorum, in  : Die historische Landschaft zwischen Lech und Vogesen, hrsg. von P. Fried/W.-D. Sick, 1988, S. 75–105. Differenziert Harald Siems, Textbearbeitung und Umgang mit Rechtstexten im Frühmittelalter. Zur Umgestaltung der Leges im Liber legum des Lupus, in  : Recht im frühmittelalterlichen Gallien. Spätantike Tradition und germanische Wertevorstellungen, hrsg. von ders./K. Nehlsen-von Stryk/D. Strauch, 1995, S. 29–72. Aufgrund der bayerischen Gesetzgebung konnte Grollmann (wie Anm.  12) kürzlich nun aufzeigen, dass die regionalen normativen Ordnungen der Zeit Karls des Großen zugleich der Integration Bayerns in das Fränkische Reich dienten.

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wissen wir  – über eine militärische Führung, Rechtsprechung und königliche Stellvertretung hinaus  – tatsächlich wenig. Der Herzog repräsentierte die Provinz, doch gingen Herzogtum und »Stammesadel« politisch durchaus nicht immer gleiche Wege. Viertens  : Eine gewisse Eigenständigkeit der Regionen und ihre Mitwirkung auf Versammlungen und Reichstagen bereits im 9. Jahrhundert und erst recht in der folgenden Herzogszeit ist insgesamt nicht zu bezweifeln. Eine solche Teilhabe am Reich als zarte Anfänge eines Föderalismus zu deuten erscheint allerdings anachronistisch, wenn man unter »Föderalismus« mit dem Duden das Streben nach Errichtung oder Erhaltung eines Bundesstaates mit weitgehender Eigenständigkeit der Einzelstaaten versteht oder den Begriff mit dem »Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte« folgendermaßen definiert  : Ein Gliederungsprinzip im staatlichen oder gesellschaftlichen Bereich, wonach ein zentraler Gesamtverband aus mehreren dezentralen/regionalen Teilverbänden be­steht u. mit diesen dergestalt verknüpft ist, dass beide Ebenen unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit ein mehrstufiges Organisationsgefüge bilden.86

Mag man diese – merklich modern geprägte – Definition in Ansätzen und unter epochengemäßer Anpassung des Begriffs vielleicht auch im frühen Mittelalter erkennen können, so fehlt hier doch die Grundlage für eine »verfassungsgemäße« Regelung der eigenständigen Mitwirkung an der Reichsherrschaft, zumal der König Herrscher in allen Provinzen blieb und die Herzöge in seinem Auftrag fungierten. Es fehlt vor allem eine festgelegte Organisationsform, ein »Bundesstaat« als institutioneller Ausdruck des politischen Föderalismus.87 Rechtlich war das nicht geregelt und natürlich gab es keine eigene »Kammer«, keinen »Bundesrat« oder ein entsprechendes Gremium, das ein gemeinsames Handeln gegenüber der königlichen »Zentrale« ermöglicht hätte, das vielmehr dem Einzelfall vorbehalten blieb. Die Herzogtümer haben sich nicht zu einem Reich zusammengeschlossen, sie wurden vielmehr, auf älteren Grundlagen, vom König geschaffen oder anerkannt. Sie waren auf den Reichsversammlungen vertreten, aber sie agierten gegenüber dem König nicht geschlossen, sondern jeweils einzeln. Sicherlich wurden die Könige auf Reichsversammlungen gewählt, doch geschah auch das nicht primär seitens der (anwesenden) Provinzvertreter. Die 86 So Hans-Peter Schneider, Art. »Föderalismus«, in  : HRG, 2. Aufl., Bd. 1, 2008, S. 1605–1607, hier S. 1605. 87 Ebd.

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Existenz und Mitwirkung der Regionen an sich aber war kein neues, »föderales«, sondern ein zeitgemäßes Verfassungselement, das längst vor der Ausbildung des Ostfränkisch-Deutschen Reiches vorhanden und wirksam war. »Endgültig« waren diese Territorien keineswegs. Herzogtümer wurden geteilt (Lothringen) oder abgespalten und damit neue Dukate geschaffen (Kärnten, später Steiermark und Österreich) und im hohen Mittelalter schließlich durch nichtherzogliche, aber herzogsgleiche Fürstentümer überlagert, aus denen sich die spätmittelalterlichen Territorien entwickeln sollten.

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Die Bedeutung des Krongutes für die Entwicklung der Herrschaftsräume I. Einführung II. Das Königsgut im Mittelalter, sein Bestand und seine Verwaltung 1. Die Herkunft des Königsguts 2. Kerngebiete des Königsguts von der fränkischen bis zur staufischen Zeit 3. Die Präsenz des Königs auf dem Königsgut 4. Wirtschaftliche Veränderung 5. Der Verlust des Königsguts durch Vergaben und Verpfändungen 6. Das Reich als Wahlreich 7. Königsgutsverwaltung in Frankreich und England III. Zusammenfassung

I. Einführung

Stellt man die Frage nach der föderativen Ordnung des deutschsprachigen Raums, gerät auch das Königsgut in den Blick. Und so soll in diesem Beitrag untersucht werden, inwieweit die Lage des Königsguts, dessen Bestand, dessen Bestandsveränderungen und dessen Verwaltung oder vielmehr dessen Verwaltungsdefizite die föderative Ordnung des deutschsprachigen Raums begünstigten und damit zugleich die Ausbildung eines zentralen Herrschaftszentrums verhinderten. Als Königsgut bezeichnet die Forschung den gesamten dem König zur Verfügung stehenden Besitz, der anders als das Hausgut nicht an den Allodialerben fiel, sondern an den nächsten neugewählten König und mithin von Dynastie zu Dynastie weitergegeben wurde.1 Dabei soll der Begriff »Königsgut« hier im engen Sinne verwendet werden, um die Vermögensgüter des Reichs zu bezeichnen, die unmittelbar in der Hand des Königs lagen. Das Königsgut im hier verwendeten Sinne ist daher nicht nur vom Hausgut der jeweiligen Königsfamilie abzugrenzen, sondern auch vom Reichskirchengut und dem Reichs-

1 Wolfgang Metz, Zur Erforschung des karolingischen Reichsgutes, 1971, S. 1.

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lehngut.2 Das Königsgut stellte gewissermaßen den materiellen Rückhalt des Königtums dar.3 Es bestand zum Teil aus einzelnen Höfen, überwiegend aber wohl aus größeren oder kleineren Grundherrschaften, Komplexen von Haupthöfen und dörflich strukturierten Nebenhöfen, Burgen, zugehörigen Berechtigungen  ; bisweilen gehörten auch repräsentative Gebäude, die Pfalzen4 und häufig auch umfangreiche Forstgebiete dazu, die der Jagd dienten.5 Umfang und Struktur des Königsguts sind im einzelnen noch immer nicht vollständig erforscht. Bekanntlich kannten weder das früh- noch das hochmittelalterliche Königtum eine Aktenführung. Nur vereinzelte Quellen geben lückenhaft Auskunft. Es sind neben dem »Capitulare de villis« (um 800), dem Urbar des rheinfränkischen Reichsguts aus Lorsch (9. Jahrhundert), dem Tafelgüterverzeichnis (1152) und der Abrechnung des Amtmanns Gerhard von Sinzig (1242) vor allem die Schenkungs- und Übertragungsurkunden, die von Königsgut berichten. Und es ist wahrscheinlich auch unnötig hervorzuheben, daß eine klare Trennung von Königs, Herzogs- und Hausgütern bis in das hohe Mittelalter hinein nicht immer möglich ist.6 Königsgut bedeutet nicht zwingend einen konsistenten Bezirk, vielmehr muß auch bei den größeren Königsgutskomplexen davon ausgegangen werden, daß sich dort auch nichtkönigliche Güter befanden.7 Eine umfassende und lückenlose Zusammenstellung des Königsguts ist also kaum zu leisten. Allerdings ist es der historischen Forschung gelungen, bestimmte Kern-

2 Steffen Schlinker, »Hausgut, dynastisch«, in  : HRG, Bd. II, 2. Aufl. 2012, Sp. 807–809  ; Dieter Hägermann, »Reichsgut«, in  : LexMA, Bd. VII, 1999, Sp. 620–622, 621  ; Elmar Wadle, Reichsgut und Königsherrschaft unter Lothar  III., 1969, S.  60 ff., 100 ff.; Georg Waitz, Verfassungsgeschichte, Bd. 4, 1861, S. 119 ff., 129 ff., Bd. 8, 1878, S. 240 ff., 244 ff.; Karl-Friedrich Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (ca. 1200–1437), 1979, S. 79, Anm. 65 spricht stattdessen von Reichskammergut. 3 Wolfgang Metz, Das karolingische Reichsgut. Eine verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1960, S. 9. 4 Zusammenfassend  : Orte der Herrschaft. Mittelalterliche Königspfalzen, hrsg. von C. Ehlers, 2002, mit einer Karte auf S. 33. 5 Thomas Zotz, Zur Grundherrschaft des Königs im Deutschen Reich vom 10. bis zum frühen 13. Jahrhundert, in  : Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, hrsg. von W. Rösener, 1995, S. 76–115  ; Karl Bosl, Pfalzen, Klöster und Forste in Bayern – Zur Organisation von Herzogs- und Königsgut in Bayern, in  : Beiträge zur bayerischen und deutschen Geschichte  : Hans Dachs zum Gedenken, 1966, S. 43–62, 44 ff.; Max Fastlinger, Karolingische Pfalzen in Altbayern, in  : Forschungen zur Geschichte Bayerns 12 (1904), S. 233–269, 238 ff. 6 Waitz (wie Anm. 2), Bd. 8, S. 244. 7 So zum Raum Düren-Vlatten  : Dieter Flach, Das Reichsgut im Düren-Vlattener Raum, in  : Rheinische Vierteljahrsblätter 52 (1988), S. 43–89, 44.

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gebiete des Königsguts auszumachen,8 auch wenn von der Karolinger- bis in die Stauferzeit durchaus Schwerpunktverlagerungen zu beobachten sind. II. Das Königsgut im Mittelalter, sein Bestand und seine Verwaltung 1. Die Herkunft des Königsguts

Das Königsgut am Rhein ging weitgehend auf die römischen Fiskalgüter zurück. Die merowingischen Könige übernahmen höchstwahrscheinlich die Römerkastelle am Rhein und an den Straßen von Köln und Mainz nach Trier sowie deren Infrastruktur und deren Versorgungseinrichtungen für Verpflegung und Waffenproduktion.9 So gelangten am Rhein Nymwegen, Xanten, Neuss, Köln, Deutz, Bonn, Remagen, Koblenz, Boppard, Bingen, Mainz, Kreuznach, Neumagen an der Mosel, die alte Kaiserstadt Trier, Bitburg in der Eifel sowie Zülpich in die Hände der fränkischen Könige. Die Kastelle mit den umliegenden Landgütern des Königs wurden als fiscus bezeichnet.10 Vermutlich gingen auch einige der großen privaten römischen Grundherrschaften in königliche Hände über,11 so zählte etwa Andernach schon in der Merowingerzeit zum Königsgut.12 Die großen Wälder standen dem König kraft des Waldregals zu und eröffneten ihm die Möglichkeit, Land durch Gründung neuer Klöster und Siedlungen zu kultivieren.13 So wurden beispielsweise bereits in der Merowingerzeit Stablo in den Ardennen und Prüm in der Eifel gegründet.14 Schon die merowingischen   8 Zusammenfassend etwa  : Werner Rösener, Ressourcen der deutschen Königsherrschaft im Hochmittelalter, in  : König, Reich und Fürsten im Mittelalter, hrsg. von O. Auge, 2017, S. 53–73, 54 ff.; ders., Königshof und Herrschaftsraum  : Norm und Praxis der Hof- und Reichsverwaltung im Karolingerreich, in  : Uomo e Spazio nell’ alto Medioevo, tom. 1, 2003, S. 443–478, 462 ff.; Metz (wie Anm. 1), S. 16  ; Hans Niese, Die Verwaltung des Reichsgutes im 13. Jahrhundert. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte, 1905.   9 Helene Wieruszowski, Reichsbesitz und Reichsrechte im Rheinland 500–1300, in  : Bonner Jahrbücher, Jahrbücher des Vereins von Altertumsfreunden im Rheinland 131 (1926), S.  114–153, 116 f. 10 Adriaan Verhulst, »Fiscus«, in  : HRG, Bd. IV, 1999, Sp. 502  ; Gerold Neusser, »Fiskus«, in  : HRG, Bd. I, 2. Aufl. 2008, Sp. 1585–1590, 1586. 11 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 120 f. 12 Ebd., S. 118. 13 Karl Bosl, Pfalzen und Forsten, in  : Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen, und archäologischen Erforschung, Bd.  I, hrsg. von H. Heimpel, 1963, S.  1–29  ; ders. (wie Anm.  5), S. 47  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 122, 126 f.; Capitulare de villis, c. 36, in  : MGH Capitula regum Francorum, I, S. 86. 14 H. Seibert, »Prüm«, in  : LexMA, Bd. VII, 1999, Sp. 290–291  ; Ph. George, »Stablo«, in  : LexMA,

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Könige übertrugen aber nicht nur bislang unkultiviertes Land, sondern auch Königsgut auf Bistümer und Abteien. Der Erzbischof von Köln erhielt auf diesem Weg Güter in Xanten, Neuss, Köln, Jülich und Bonn.15 Ebenso gründete aber auch der Hochadel Klöster und Stifter auf seinen Hausgütern. Gandersheim als Gründung der Liudolfinger galt später als reichsunmittelbar.16 2. Kerngebiete des Königsguts von der fränkischen bis zur staufischen Zeit

Als Kerngebiet königlicher Grundherrschaften im Osten des Frankenreichs fällt vor allem das Land des Nieder- und Mittelrheins ins Auge.17 ­Königsgut erstreckte sich von Tiel und Nymwegen in den heutigen Niederlanden18 über Kleve, Duisburg, Köln, Bonn, Sinzig,19 Remagen, Andernach, Koblenz20 und Boppard21 bis Ingelheim und Kreuznach. Es befand sich in der Gegend um Aachen,22 Düren und Vlatten,23 um Zülpich, Maastricht,24 Metz25 und um Kaiserslautern,26 im heutigen östlichen Belgien um Namur, Nivelles und Stablo, Bd. VII, 1999, Sp. 2163–2164  ; Erich Wisplinghoff, Untersuchungen zur Gründungsgeschichte des Klosters Prüm, in  : Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 17 (1991), S. 1–27  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 124 f. 15 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 125. 16 Die deutschen Königspfalzen, hrsg. von Max Planck Institut für Geschichte, Bd.  4, Göttingen 2001, S. 247 ff. 17 Metz (wie Anm. 3), S. 210  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 117 ff., 130 ff., 136. 18 Guido Rotthoff, Studien zur Geschichte des Reichsguts in Niederlothringen und Friesland während der sächsisch-salischen Kaiserzeit, 1953, S. 27 ff. 19 Ulrich Helbach, Das Reichsgut Sinzig, 1989  ; Metz (wie Anm.  1), S.  4  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 127. 20 Metz (wie Anm. 1), S. 3 f.; ders. (wie Anm. 3), S. 123. 21 Franz-Josef Heyen, Reichsgut im Rheinland. Die Geschichte des königlichen Fiskus Boppard, 1956, S. 141 ff., 150 f. 22 Dieter Flach, Das Reichsgut im Aachener Raum, in  : Rheinische Vierteljahrsblätter 51 (1987), S. 22–51  ; ders., Untersuchungen zur Verfassung und Verwaltung des Aachener Reichsgutes von der Karolingerzeit bis zur Mitte des 14.  Jahrhunderts, 1976  ; zum Pfalzkomplex siehe  : Ludwig Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, in  : Ehlers (wie Anm. 4), S. 131–181  ; Walter Kaemmerer, Die Aachener Pfalz Karls des Großen in Anlage und Überlieferung, Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1, hrsg. von H. Beumann, 1965, S. 322–348. 23 Zu Düren  : Flach (wie Anm. 7), S. 43–89  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 129. 24 Metz (wie Anm. 1), S. 39 f. 25 Ebd., S. 4. 26 Metz (wie Anm. 3), S. 211  ; Karl Glöckner, Das Reichsgut im Rhein-Maingebiet, in  : Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 18 (1934), S. 195–216, 197 ff.

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an der mittleren Mosel und in der Eifel um Trier, Echternach und Prüm,27 im Rhein-Main-Gebiet um Gernsheim zwischen Mainz und Worms,28 Nierstein,29 Frankfurt,30 Eschweiler,31 Tribur, Worms32 und in der Wetterau.33 Im östlichen Franken gab es Königshöfe bei Würzburg, Hallstadt und Forchheim,34 in Iphofen, Gollachhofen und in den drei Königshofen, die als Hauptorte des Grabfeld-, Tauber- und Badenachgaus gelten.35 An der Grenze Frankens zu Sachsen im heutigen Hessen sind Kaufungen, Fritzlar und Eschwege zu nennen.36 Bedeutende Pfalzbauten ließ Karl der Große in Aachen, Ingelheim und Nymwegen errichten.37 In Schwaben lag Königsgut am mittleren Neckar um Heilbronn38 und Lauf­ fen, weiter südlich am Neckar bei Rottweil, an der Donau bei Ulm und Neuburg,39 am Bodensee bei Bodman.40 In der Stauferzeit gehörte Wimpfen zum Königsgut.41 In Bayern konnte Karl der Große von den Agilolfingern umfangreiche Güter übernehmen.42 Regensburg war schon unter Herzog Tassilo, später unter Karl dem Großen und Ludwig dem Deutschen ein zentraler Ort und Herrschaftsmittelpunkt.43 Eine Pfalz gab es unter Kaiser Karl in Aibling, in (Alt-)Ötting wohl erst unter Ludwig dem Deutschen.44 Diese bayerischen Königsgüter blieben über das Ende der Karolingerzeit hinaus erhalten.45 27 Metz (wie Anm. 1), S. 2 ff. 28 Ausführlich zu den einzelnen Gütern  : Rudolf Kraft, Das Reichsgut im Wormsgau, 1934, S. 170 ff. 29 Ausführlich zu den einzelnen Gütern  : Kraft (wie Anm. 28), S. 175 ff. 30 Marianne Schalles-Fischer, Pfalz und Fiskus Frankfurt. Eine Untersuchung zur Verfassungsgeschichte des fränkisch-deutschen Königtums, 1969. 31 Metz (wie Anm. 1), S. 59 f. 32 Ausführlich zu den einzelnen Gütern  : Kraft (wie Anm. 28), S. 131 ff. 33 Glöckner (wie Anm. 26), S. 208  ; Metz (wie Anm. 1), S. 29. 34 Bosl (wie Anm. 5), S. 44  ; Metz (wie Anm. 1), S. 74. 35 Metz (wie Anm. 3), S. 107. 36 Metz (wie Anm. 1), S. 59 f. 37 Egon Boshof, Ottonen- und Salierzeit, in  : Rheinische Geschichte, Bd.  I/3  : Hohes Mittelalter, hrsg. von F. Petri/G. Droege, 1983, S. 53  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 128. 38 Metz (wie Anm. 3), S. 11 und die Karte auf S. 135. 39 Hans Dachs, Römerkastelle und frühmittelalterliches Herzogs- und Königsgut an der Donau, in  : Zur Geschichte der Bayern, hrsg. von K. Bosl, 1965, S. 44–84, 84. 40 Metz (wie Anm. 1), S. 65. 41 Walter Schlesinger, Pfalzen und Königshöfe in Württembergisch Franken, in  : Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch-Franken N.F. 53 (1969), S. 3–22, 3, 5 f., 12. 42 Metz (wie Anm. 3), S. 233. 43 Fastlinger (wie Anm. 5), S. 238 ff. 44 Ebd., S. 254 ff. 45 Metz (wie Anm. 3), S. 212 f.

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Umfangreiche Königsgüter lagen seit der ottonischen Zeit im östlichen Sachsen im größeren Umkreis des Harzes und im Gebiet östlich der Goldenen Aue mit den Pfalzen Werla,46 Grona, Memleben, Pöhlde, Tilleda47 und Merseburg.48 Im Westfälischen ist vor allem Dortmund zu erwähnen. Die Größe der einzelnen Güterkomplexe muß beträchtlich gewesen sein. Zum Königshof Grona bei Göttingen gehörte etwa Land im Umfang von 70 Hufen.49 Von der königlichen Grundherrschaft in Werla bei Goslar schenkte König Heinrich IV. der Hildesheimer Kirche sogar 200 Hufen und dennoch genügten die Ressourcen, um dem König auch noch im 12. Jahrhundert einen längeren Aufenthalt in Goslar zu ermöglichen.50 Das Königsgut erstreckte sich also über große Teile des Reichs. Es fällt jedoch auf, daß die Küstengebiete Norddeutschlands, Friesland, das westliche und nördliche Sachsen, das westliche Bayern und der österreichische Raum wenig Königsgut aufwiesen. Die Königshöfe und Pfalzen dienten vorrangig der materiellen Versorgung des Hofes und als lokale Stützpunkte für die Regierungstätigkeit.51 Dort verweilte der König auf seinen Reisen durch das Reich, empfing geistliche und weltliche Große, feierte die hohen kirchlichen Feste, hielt Gericht, nahm Rechtsakte vor und traf Anordnungen für die Feldzüge. Es wundert daher nicht, daß Königsgüter an den wichtigen Straßen zwischen Trier, Mainz und Frankfurt sowie vom Mittelrhein über Sinzig nach Köln zu finden waren.52 46 Wilhelm Berges, Zur Geschichte des Werla-Goslarer Reichsbezirks vom neunten bis zum elften Jahrhundert, in  : Bosl (wie Anm. 13), S. 113–157. 47 Werner Rösener, Sächsische Königshöfe im Spiegel des Tafelgüterverzeichnisses, in  : Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, Bd. 4  : Pfalzen – Reichsgut  – Königshöfe, hrsg. von L. Fenske, 1996, S.  288–307  ; Die deutschen Königspfalzen, hrsg. von Max Planck Institut für Geschichte, Bd.  2, 2000, S.  549 ff.; Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen, und archäologischen Erforschung, Bd.  II, hrsg. von H. Heimpel, 1965, mit mehreren Aufsätzen zu Werla, Grone, Pöhlde und Tilleda. 48 Angelika Lampen, Der Königshof Dortmund  – Von der Pfalz zur Reichsstadt, in  : Ehlers (wie Anm.  4), S.  183–215  ; Metz (wie Anm.  1), S.  54  ; Carlrichard Brühl, Fodrum, Gistum, Servitium Regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, 1968, S. 117  ; Hans Eberhardt, Das Krongut im nördlichen Thüringen von den Karolingern bis zum Ausgang des Mittelalters, in  : Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte, N.F. 37 (1943), S. 30–96, 43. 49 Rösener, Ressourcen (wie Anm. 8), S. 58. 50 Ebd., S. 59. 51 Boshof (wie Anm. 37), S. 50, 52. 52 Rudolf Schieffer, Die Zeit der späten Salier, in  : Rheinische Geschichte, Bd. I/3  : Hohes Mittelalter, hrsg. von F. Petri/G. Droege, 1983, S. 12–198, 150.

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Die soeben dargestellten Kernlandschaften blieben jedenfalls bis in die salische und teilweise bis in die Stauferzeit hinein erhalten.53 Allerdings sind Schwerpunktverlagerungen zu beobachten. Schon durch den Dynastiewechsel zu den sächsischen Ottonen mit der Königswahl Heinrichs  I. geriet die Gegend um Aachen und Düren an den Rand. Die vormals wichtige Straße zwischen Trier und Köln über Bitburg und Zülpich verlor ihre Bedeutung für den König, wenn auch die Rheinachse von Nymwegen bis Mainz auch in ottonischer Zeit wichtig blieb.54 Der Schwerpunkt königlicher Aufenthalte verlagerte sich allerdings in das östliche Sachsen nach Magdeburg, Quedlinburg, Memleben und Tilleda. Zugleich erlebte der Bestand des Königsguts Veränderungen. Der Erzbischof von Trier erhielt bereits von Ludwig dem Kind die Königspfalz in Trier, die dortige Münzstätte und Regalien.55 Seit der späten ottonischen Zeit ging beispielsweise rheinisches Königsgut durch Vergaben an die Grafschaften Kleve, Geldern und Jülich an das Erzstift Köln und die Pfalzgrafschaft bei Rhein über.56 Die Könige der ottonischen und salischen Dynastien übertrugen vor allem der Reichskirche in großem Umfang Königsgut, um es im Wege des servitium regis nutzbar zu machen.57 Nach der Vorstellung des Königs war Kirchengut immer noch Königsgut,58 das die Kirche für den König verwaltete und dessen Nutznießung ihm zugute kam. Einen eigenen Verwaltungsapparat mit besoldeten Amtsträgern hatte der König eben nicht. Dem weltlichen Adel ließ sich ein Gut kaum wieder entziehen, wenn oder solange Erben vorhanden waren, die ihre Ansprüche geltend machten. Eine effektive Verwaltung konnte daher in erster Linie durch die Kirche erfolgen. Die Kirche bildete insofern das Bollwerk gegen die an Macht gewinnenden weltlichen Feudalgewalten.59 Kaiser Otto  II gab etwa im Jahr 983 Erzbischof Willigis und der Mainzer Kirche Güter um Bingen bis hinauf nach Kaub und im Rheingau.60 Otto  III. schenkte im Jahr 996 dem Erzbistum Mainz ein großes Forstgebiet an Rhein 53 Metz (wie Anm. 1), S. 83. 54 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 135 f. 55 Ebd., S. 134. 56 Ebd., S. 137 f. 57 Thomas Vogtherr, Die Reichsabteien der Benediktiner und das Königtum im hohen Mittelalter (900–1125), 2000, S. 117 ff., 155 ff. mit vielen Beispielen  ; Boshof (wie Anm. 37), S. 54  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 138. 58 Hans-Jürgen Becker, »Kirchengut«, in  : HRG, Bd. II, 2. Aufl. 2012, Sp. 1796–1804, 1800  ; Waitz (wie Anm. 2), Bd. 4, S. 130 ff. 59 Boshof (wie Anm. 37), S. 54. 60 MGH, Diplomata Ottonis  II. et  III. diplomata, 1893, Nr.  306  ; Johann Friedrich Böhmer, EB Mainz Bd. 1, in  : RI Online, Nr. 718  ; Boshof (wie Anm. 37), S. 54.

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und Murg61 und Heinrich  V. die Hälfte der Burg Eppstein bei Frankfurt im Jahr 1124.62 Kaiser Heinrich II. schenkte Koblenz und das Stift St. Florin der Kirche von Trier.63 Das Bistum Lüttich64 sowie das Bistum Utrecht bedachten die Ottonen und Salier nach und nach mit Grafschaften, Klöstern und königlichen Gütern, so daß am Niederrhein das Königsgut fast vollständig in kirchliche Hände überging.65 Umfangreiche Güter übertrugen die Könige seit Konrad  I. auch an die Klöster.66 Auf dem Gebiet des Aachener Reichsguts wurden die Reichsabteien Kornelimünster und Burtscheid gegründet.67 Die Vergaben in der späten karolingischen und ottonischen Zeit an Klöster und Kirchen lassen sich nicht vollständig rekonstruieren, so daß unklar bleibt, ob die Empfänger tatsächlich Königsgut erhielten, ob der König Güter lediglich weitergab, die er selbst durch Erbschaft oder Einziehung erworben hatte, oder ob die Schenkung von Dritten vorgenommen wurde.68 Im 12.  Jahrhundert wurde von den Staufern der Bestand des Königsguts wieder erweitert, vor allem um Nürnberg, Eger, Altenburg und Frankfurt, die zu Königspfalzen ausgebaut wurden. Das Tafelgüterverzeichnis von 1152 listete noch 20 curiae in Sachsen auf, 21 in Rheinfranken, 12 in Bayern und 28 in der Lombardei.69 Bemerkenswert ist allerdings, daß die Zahl der Königshöfe im Raum Niederrhein, Maas und Ardennen von 43 Höfen im Jahr 888 auf 4 Höfe (Nymwegen, Aachen, Konzen und Düren) in der Mitte der 12.  Jahrhunderts schrumpfte, wenn auch das Tafelgüterverzeichnis aller Wahrscheinlichkeit nach keine vollständige Bestandsaufnahme darstellte.70 3. Die Präsenz des Königs auf dem Königsgut

Nimmt man die Präsenz des Königs auf dem Königsgut in den Blick, werden über die Jahrhunderte weitere Veränderungen deutlich  : Während die letzten Ka61 Johann Friedrich Böhmer, RI, Bd. II/3, 1956, Nr. 1213. 62 Johann Friedrich Böhmer, Regesten Heinrichs V., in  : RI Online Nr. 266. 63 Johann Friedrich Böhmer, RI, Bd. II/4, 1971, Nr. 1938 (Heinrich II. im Jahr 1018)  ; Boshof (wie Anm. 37), S. 54. 64 Ebd., Bd. II/4, 1971, Nr. 1692  ; Bd. III/2/3, 1984, Nr. 575. 65 Boshof (wie Anm. 37), S. 54. 66 Ausführlich dazu Vogtherr (wie Anm. 57), S. 118 ff. 67 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 140 f. 68 Für den Raum Düren  : Flach (wie Anm. 7), S. 43. 69 Rösener, Ressourcen (wie Anm. 8), S. 58  ; ausführlich zum Reichsgut während der Regierungszeit Lothars III. (von Supplingenburg) siehe Wadle (wie Anm. 2), S. 210 ff. 70 Flach, Reichsgut (wie Anm. 22), S. 22 f.

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rolinger im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert vor allem in Regensburg und Frankfurt Hof hielten, wurde unter den Ottonen das Land um den Harz, um Magdeburg und Memleben bevorzugter Aufenthaltsort der Könige, weiterhin blieben aber auch Frankfurt am Main, Worms und Regensburg von Bedeutung.71 Die Salier hielten sich ebenfalls häufig im Rhein-Main-Gebiet, aber auch in Goslar am Harz,72 in Nürnberg, Ulm und Zürich auf.73 Unter den Saliern setzte sich allerdings die Vernachlässigung des Raums zwischen den Ardennen, der Eifel und der Mosel fort. Heinrich IV. und Heinrich V. besuchten die Reichsklöster Stablo, Echternach und St. Maximin bei Trier kaum oder gar nicht mehr.74 In der späten ottonischen und in der salischen Zeit zeigte sich außerdem bereits ein Wandel in der Nutzung des Königsguts, weil die Könige nun eher in den Bischofsstädten und Reichsabteien Station machten, die im Zuge der ottonischen Reichskirchenpolitik in großem Umfang Reichsgut erhalten hatten.75 Der König zog die Nutzungen nunmehr nur noch mittelbar aus dem als Reichskirchengut verwalteten Königsgut. So besuchte etwa Heinrich  IV. die Bischofsstädte Mainz und Worms, Speyer und Köln, seltener auch Utrecht und Lüttich. Vor allem in der Stauferzeit rückte die Stadt als Handelsplatz, in der Waren gegen Geld umgetauscht werden konnten, erkennbar in den Vordergrund. Neue städtische Pfalzen entstanden in Ingelheim, Gelnhausen, Wimpfen, Hagenau, Lautern,76 Eger, Nürnberg, Altenburg,77 und Kaiserswerth.78

71 Schlesinger (wie Anm. 41), S. 4  ; allgemein zur Reisetätigkeit  : Rudolf Schieffer, Von Ort zu Ort. Aufgaben und Ergebnisse der Erforschung ambulanter Herrschaftspraxis, in  : Ehlers (wie Anm. 4), S. 11–23. 72 Sabine Wilke, Das Goslarer Reichsgebiet und seine Beziehungen zu den territorialen Nachbargewalten. Politische, verfassungs- und familiengeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Königtum und Landesherrschaft am Nordharz im Mittelalter, 1971. 73 Schlesinger (wie Anm. 41), S. 13  ; zu Bodman, Zürich, Konstanz, Reichenau, Rottweil, Paderborn, Trebur und Werla siehe Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen, und archäologischen Erforschung, Bd. III, hrsg. von H. Heimpel, 1979. 74 Schieffer (wie Anm. 52), S. 148. 75 Ebd., S.  147 ff., 151  ; Raymund Kottje, Zur Bedeutung der Bischofsstädte für Heinrich  IV., in  : Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 97/98, S.  131–157  ; Schlesinger (wie Anm.  41), S. 4, 12  ; Brühl (wie Anm. 48), S. 767  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 143, Anm. 4. 76 Volker Rödel, Der Lauterer Reichsgutskomplex  : Eine Zwischenbilanz, in  : Deutsche Königspfalzen. Beiträge zu ihrer historischen und archäologischen Erforschung, Bd. 4  : Pfalzen – Reichsgut – Königshöfe, hrsg. von L. Fenske, 1996, S. 409–445. 77 Die deutschen Königspfalzen (wie Anm. 47), S. 39 ff. 78 Rösener, Ressourcen (wie Anm.  8), S.  56, 65 f.; Schlesinger (wie Anm.  41), S.  14  ; Kraft (wie Anm. 28), S. 56 f.; Glöckner (wie Anm. 26), S. 204.

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In der Stauferzeit war das umfangreiche Königsgut im sächsisch-thüringischen Raum noch erhalten, geriet aber ebenso wie das bayerische Königsgut an den Rand. Tatsächlich zeigte sich nach dem Ende des salischen Hauses nur noch selten ein König im Norden. Die persönliche Präsenz des Königs schwand. Während die Salier noch den Norden mit dem Süden verbunden hatten und insbesondere Goslar und den Harzraum als eines ihrer Herrschaftszentren betrachtet hatten, kam Friedrich Barbarossa schon bei seinem Königsumritt im Jahr 1152 zwar ganz im Westen bis Utrecht und Deventer, im Norden aber nicht über die Linie Paderborn–Corvey–Goslar hinaus. Immerhin zeigt das Itinerar Friedrich Barbarossas häufige und regelmäßige Aufenthalte in Goslar zwischen 1152 und 1188 (elfmal), dreimal in Magdeburg, sechsmal in Merseburg.79 Zwischen Corvey und Goslar und weiter im Norden bis zur Elbe hatten sich die umfangreichen Eigengüter des sächsischen Hochadels, der Billunger, der Brunonen, der Northeimer und Supplingenburger ausgedehnt, die sich in der Mitte des 12.  Jahrhunderts zum größten Teil in der Hand Herzog Heinrichs des Löwen vereinigten. Im Osten gelangte Barbarossa nur bis Merseburg und Erfurt, er besuchte Regensburg, Augsburg und Ulm. In seinen letzten Regierungsjahren kam Barbarossa fast gar nicht mehr in den Norden, sondern konzentrierte seine Herrschaft auf den fränkischen Raum, vor allem auf Mainz, Worms und Würzburg sowie auf die Pfalzen in Frankfurt, Nürnberg80 und Ulm,81 also auf den Umkreis seines Hausguts.82 Daher entwickelte sich der sächsisch-norddeutsche Raum schon im späten 12. Jahrhundert trotz Kaiser Otto IV. zu einer – um Peter Moraw zu zitieren – königsfernen Landschaft83.84 Das gilt gleichermaßen für den niederrheinischen Raum und abgeschwächt sogar für den Raum um Aachen, Düren und Zülpich. Auch im nördlichen Thüringen waren die königlichen Güter im 14. Jahrhundert bis auf Nordhausen und einige kleinere Höfe verloren.85 79 Ferdinand Opll, Das Itinerar Friedrich Barbarossas (1152–1190), 1978, S. 123 (Allstedt und Altenburg), 127 (Eger), 132 (Goslar), 139 (Magdeburg), 141 (Merseburg), 143 (Nordhausen), 145 (Quedlinburg), 150 (Tilleda), 154 (Werla)  ; Eberhardt (wie Anm. 48), S. 59 ff., 64 f. 80 Wadle (wie Anm.  2), S.  78 ff.; Heinrich Dannenbauer, Die Entstehung des Territoriums der Reichsstadt Nürnberg, Stuttgart 1928. 81 Rösener, Ressourcen (wie Anm. 8), S. 68. 82 Thomas Zotz, Der Südwesten des Reiches auf dem Weg zur staufischen Königslandschaft, in  : Ehlers (wie Anm. 4), S. 85–105. 83 Peter Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in  : ders., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters, 1995, S. 293–320, 294. 84 Rösener, Ressourcen (wie Anm. 8), S. 68  ; Brühl (wie Anm. 48), S. 769. 85 Eberhardt (wie Anm. 48), S. 96.

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Aber auch in den Städten verringerte sich die Präsenz der Könige seit dem 13. Jahrhundert. Zwar erkannten die Städte den König noch als Stadtherrn an und entrichteten in der Regel weiterhin ihre Abgaben. Besuche der Könige in den Städten setzten sich fort, aber eine Pfalz unterhielten sie dort nicht mehr.86 Im 13. Jahrhundert wurde etwa die Frankfurter Pfalz aufgegeben, obwohl noch Friedrich  I., sein Sohn Heinrich  VI. und sein Enkel Friedrich  II. häufig nach Frankfurt kamen. Das gilt auch für spätere Könige, etwa Albrecht I., Ludwig IV. und Karl IV. Stattdessen wohnten die Könige seitdem bei Frankfurter Bürgern87 und nutzten auf diese Weise die Nähe zu den wirtschaftlich erfolgreichen Kaufleuten und Handwerkern. Der Verlust königlicher Präsenz in bestimmten Regionen ist auch in der Ausübung der königlichen Gerichtsbarkeit spürbar. Während sich kleinere und mittlere Adelige der Mittelrheinregion bei Konflikten häufig an den König oder an das Hofgericht wandten, nahm etwa der westfälische Adel die königliche Gerichtsbarkeit nicht in Anspruch.88 4. Wirtschaftliche Veränderungen

Zudem blieb die Bedeutung des Königsgutes naturgemäß nicht von wirtschaftlichen Veränderungen verschont. Die wirtschaftlichen Zentren verlagerten sich von den Landgütern zu den Städten. Geldwirtschaft löste die Naturalwirtschaft ab. Bereits die Staufer verzichteten teilweise auf die Eigenbewirtschaftung der Königsgüter und vergaben Königshöfe gegen die Leistung von Geldzahlungen.89 Auf Königsgut entwickelten sich reichsunmittelbare Städte, beispielsweise Aachen, Goslar, Nordhausen, Dortmund, Sinzig, Andernach, Boppard, Frankfurt, Nürnberg, Regensburg, Heilbronn, Schwäbisch Gmünd, Nördlingen, Augsburg, Ulm, Donauwörth, Colmar, Kaysersberg, Molsheim, Rosheim und Zürich. Seit dem 13. Jahrhundert stützten sich die Könige, auch Friedrich II., hauptsächlich auf die Wirtschaftskraft der Städte und deren Abgaben statt auf die Königs-

86 Schlesinger (wie Anm. 41), S. 15. 87 Wolfgang Metz, Forschungen zum Reichsgut im Rhein-Main-Gebiet, in  : Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde 7 (1971), S. 209–217, 210 f.; Die deutschen Königspfalzen, hrsg. vom Max Planck Institut für Geschichte, Bd. 1, 1983, S. 423 ff. 88 Masaki Taguchi, Königliche Gerichtsbarkeit und regionale Konfliktbeilegung im deutschen Spätmittelalter – Die Regierungszeit Ludwigs des Bayern (1314–1347), 2017, S. 139 ff., 249 ff., 337 ff., 355 f. 89 Rösener, Ressourcen (wie Anm. 8), S. 58 ff.; Eberhardt (wie Anm. 48), S. 63 f.

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güter mit ihrer vornehmlich landwirtschaftlichen Nutzung.90 Die Bedeutung des Königsguts war vermutlich auch aus finanziellen Gründen im Schwinden begriffen, während die Steuerkraft der auf Königsgut gegründeten Städte den Weg zu höheren Einnahmen eröffnete.91 Georg Droege hat beispielsweise darauf hingewiesen, daß sich im Hochstift Köln die Einkünfte aus den Domänen nur auf 2  Prozent der Gesamteinnahmen beliefen.92 So kam es verstärkt zu einer Mobilisierung des Bodens und im Wege einer Monetarisierung von Abgaben zur Entfaltung der Geldwirtschaft.93 Die Aufstellung des Amtmanns Gerhard von Sinzig aus dem Jahr 1242 zeigt wahrscheinlich deswegen vor allem Geldbeträge.94 In den reichsunmittelbaren Herrschaften läßt sich zeitgleich der Aufbau einer Finanzverwaltung beobachten.95 5. Der Verlust des Königsguts durch Vergaben und Verpfändungen

Die Verpfändung von Königsgut hatte schon sehr vereinzelt in der Barbarossa-Zeit mit zwei Pfandverschreibungen zugunsten des Erzbischofs von Trier und des Bischofs von Lüttich begonnen.96 Nach der Doppelwahl von 1198, während der Auseinandersetzungen zwischen den Staufern und Heinrich Raspe, vor allem aber im Interregnum erlitt das Königsgut erhebliche Einbußen durch Vergaben und Verpfändungen an die jeweiligen Anhänger.97 Durch den Zerfall königlicher Autorität behielten teils Reichsministeriale das von ihnen verwaltete Königsgut 90 Ebd., S. 62. 91 Hägermann (wie Anm. 2), Sp. 621. 92 Georg Droege, Die kurkölnischen Rheinzölle im Mittelalter, in  : Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, 168/169 (1967), S. 21–47. 93 Franz Petri, Territorienbildung und Territorialstaat des 14.  Jahrhunderts im Nordwestraum, in  : Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, Bd. I, hrsg. von H. Patze, 1970, S. 383–483, 478 sowie 448 f.; Das gilt auch für die Territorien wie das Beispiel des Erzstifts Köln zeigt  : Ludger Tewes, Die Amts- und Pfandpolitik der Erzbischöfe von Köln im Spätmittelalter (1306–1463), 1987, S. 8 ff., 141 ff., 224 ff. 94 MGH, Constitutiones, Bd. II, 1896, Nr. 338, S. 446 f.; sowie in  : Quellen zur deutschen Verfassungs, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis 1250, Bd. I, hrsg. von L. Weinrich, 1977, Nr. 129, S. 524 ff. 95 Dietmar Willoweit, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, hrsg. von K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh, 1983, S. 66–143, 112 ff.; Georg Droege, Die Ausbildung der mittelalterlichen territorialen Finanzverwaltung, in  : Patze (wie Anm. 93), S. 325–345. 96 RI, Bd. IV/2/3, 2001, Nr. 2217 (Lüttich ca. 1176)  ; Götz Landwehr, Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter, 1967, S. 7 f. 97 Landwehr (wie Anm. 96), S. 8 ff.

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in eigenen Händen, teils ging das Königsgut mit den Reichsministerialen in die Hände größerer lokaler Herrschaftsträger über, indem sich ihnen die Ministerialen anschlossen.98 Mit dem Verlust der politischen Macht der deutschen Könige im Norden verloren eben auch die Reichsministerialen ihren Rückhalt beim König.99 Die Pfandsummen beliefen sich, wie schon Götz Landwehr hervorgehoben hat, in einer Größenordnung, die eine Auslösung als beinahe unmöglich erscheinen ließ.100 Im großen Stil wurde Königsgut jedoch erst unter Rudolf von Habsburg, Adolf von Nassau, Ludwig IV., dem Bayern, deutsche Könige, und Karl IV. verpfändet.101 Nach den Berechnungen von Götz Landwehr entfallen etwa 65 Prozent aller Verpfändungsvorgänge und 70 Prozent des Wertes (seit 1197) auf das 14. Jahrhundert.102 Nach der Regierungszeit Karls IV. war nahezu das gesamte Königsgut vergeben.103 Betroffen waren in dieser Zeit vor allem die Gegenden, in denen Königsgut konzentriert vorhanden war, am mittleren Rhein, im Rhein-Main-Gebiet, um Aachen und Düren, in der Pfalz, in Obersachsen-Thüringen, in Franken, im Elsass und in Oberschwaben. Die Kataloge der Pfandobjekte, die Götz Landwehr aufgelistet hat, lassen unschwer erkennen, wie umfangreich das Königsgut noch im 14. Jahrhundert gewesen war.104 Seit Sigismund konnten nur noch süddeutsche Güter versetzt werden.105 Erst Friedrich III. nahm keine Verpfändungen mehr vor. Bekanntlich erfolgten die Verpfändungen, teils um die Unterstützung bei der Königswahl zu erhalten,106 teils zur Vergrößerung der eigenen Anhängerschaft nach der Königswahl.107 Ludwig  IV., der Bayer, und Karl  IV. setzten Königsgut allerdings auch unmittelbar im Interesse der eigenen Dynastie ein. So nahm Ludwig IV. Verpfändungen vor, um die Belehnung seines Sohnes mit der Mark Brandenburg abzusichern, mithin zur Vergrößerung des Wittelsbacher Herr-

 98 Andreas Christoph Schlunk, Königsmacht und Krongut. Die Machtgrundlage des deutschen Königtums im 13. Jahrhundert – und eine neue historische Methode, 1988, S. 196 ff.  99 Eberhardt (wie Anm. 48), S. 95. 100 Landwehr (wie Anm. 96), S. 12, 40 f. 101 Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, 1979, S. 151, 162 ff.; Landwehr (wie Anm. 96), S. 15 ff. 102 Götz Landwehr, Die rechtshistorische Einordnung der Reichpfandschaften, in  : Patze (wie Anm. 93), S. 97–116, 98 f. 103 Schubert (wie Anm. 101), S. 162. 104 Landwehr (wie Anm. 96), S. 21–32. 105 Ebd., S. 34 ff. 106 Ebd., S. 258 ff. 107 Ebd., S. 264 ff., 269 ff.

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schaftsgebietes.108 Und entsprechend vergab Karl IV. Königsgut in Schwaben als Pfand, um eine Landbrücke von Böhmen nach Frankfurt herzustellen.109 Diese Oberpfälzer Erwerbungen ordnete Karl IV. der böhmischen Krone zu. Und am Rhein versetzte er Königsgut zugunsten des Pfalzgrafen und des Erzbischofs von Trier, um die Königswahl seines Sohnes Wenzel durchzusetzen.110 Zeitgleich wurden durch Verpfändungen ländlicher Reichsgüter auch die großen Reichsgutskomplexe um St.  Gallen, im Elsass und im Nürnberger Raum aufgelöst.111 Zugunsten des Hauses Luxemburg und der böhmischen Krone vergab Karl IV. die Einkunftsquellen des Königs systematisch, um aufgrund materieller Notwendigkeiten die böhmische Thronfolge auch im Reich sicherzustellen  : Wie es Ernst Schubert ausgedrückt hat, sollte nur der böhmische König […] in der Lage sein, aus seinen Mitteln das Reich zu unterhalten.112 Eine vollständige Geschichte der Königsgüter kann – wie gesagt – hier nicht dargestellt werden. Nur beispielhaft sollen im Folgenden Bestandsveränderungen nachvollzogen werden. Als Nutznießer der Verpfändungen sind erstens die niederrheinischen Grafen zu nennen. Zülpich wurde schon von Pfalzgraf Konrad (gest. 1195) an den Grafen von Jülich zu Lehen vergeben.113 Düren erhielten die Jülicher Grafen 1241 und Sinzig 1295 als Pfand.114 An Jülich fielen auch Kaiserswerth, Boppard und der Reichswald von Monschau bis Kornelimünster.115 Nymwegen verpfändete Wilhelm von Holland 1247 an den Grafen von Geldern,116 und ein Jahr später die Königshöfe Rath und Mettmann an den Grafen von Berg.117 Rudolf von Habsburg versetzte Duisburg 1290 an den Grafen von Kleve,118 in dessen Händen sich zu Anfang des 14. Jahrhunderts auch der 108 Ebd., S. 267 f. 109 Schubert (wie Anm. 101), S. 163. 110 Ebd., S. 162. 111 Ebd., S. 155 ff. 112 Ebd., S. 163 f., 167 f. (Zitat S. 163) mit Hinweisen auf die spätmittelalterliche gelehrte Literatur in Anm. 96 und 100. 113 Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, hrsg. von T. Lacomblet, Bd. II, 1848, Nr. 27  ; Flach (wie Anm. 7), S. 46. 114 RI, Bd. VI/2, 1948, Nr. 566 (Sinzig)  ; Lacomblet (wie Anm. 113), Nr. 952  ; Flach (wie Anm. 7), S. 83 ff.; ders., Reichsgut (wie Anm. 22), S. 33 ff.; Landwehr (wie Anm. 96), S. 403, 441  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 152 f. 115 Johann Friedrich Böhmer, RI, Bd. VIII, 1877, Nr. 563  ; 7, Erg.-Heft 1, Nr. 3035  ; Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins, hrsg. von T. Lacomblet, Bd. III, 1853, Anm. 2 zu Nr. 306, S. 348  ; Petri (wie Anm. 93), S. 419, 461. 116 Lacomblet (wie Anm. 113), Nr. 317  ; Landwehr (wie Anm. 96), S. 425. 117 RI, Bd. V/1/2, 1881–1901, Nr. 4913  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 152. 118 Lacomblet (wie Anm. 113), Nr. 892  ; Landwehr (wie Anm. 96), S. 404 f.

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Reichswald von Kleve sowie Wesel, Dinslaken und Orsoy befanden.119 Duisburg fand im Jahr 1314 erneut Erwähnung, als Ludwig der Bayer es nunmehr dem Grafen von Berg verpfändete.120 Zweitens ging Königsgut am Rhein in die Hände der geistlichen Kurfürsten über. Der Erzbischof von Köln erwarb schon in ottonischer Zeit Kaiserswerth, Neuss, Deutz,121 Bonn, Andernach122 und Zülpich.123 Auch der Königshof Vlatten befand sich in der salischen Zeit in den Händen der Erzbischöfe von Köln, die über dessen Güter verfügten, einzelne Güter fielen wohl auch an das Damenstift Essen.124 Dortmund wurde von Karl IV. im Jahr 1346 der Kölner Kirche verpfändet.125 Der Erzbischof von Trier erhielt in ottonischer Zeit königliche Forsten im Moselgebiet sowie die Königsgüter Koblenz mit dem Stift St. Florin,126 im frühen 13.  Jahrhundert Boppard und Oberwesel127 und einen Teil des »Kröver Reichs«.128 Den Pfandbesitz an Cochem erwarb er 1294 von Adolf von Nassau.129 Albrecht I. vergab Cochem dem Trierer Erzbischof schließlich zu Lehen, weil angesichts der hohen Einlösungssumme an eine Wiedereinlösung kaum zu denken war. Bacharach am Rhein wurde im Jahr 1316 von Ludwig dem Bayern an das Erzstift verpfändet.130 Dagegen gelang es Mainz nicht, größere Gewinne aus seiner herausragenden Stellung zu ziehen.131 119 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 152. 120 RI, Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern, Heft 7, 2003, Nr. 8. 121 Böhmer (wie Anm. 61), Nr. 1366  ; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 139, Anm. 1. 122 Johann Friedrich Böhmer, RI, Bd. IV/2/2, Wien 1991, Nr. 1691 (Friedrich I. im Jahr 1167). 123 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 152  ; zur Kölner Territorialpolitik siehe  : Wilhelm Janssen, Geschichte des Erzbistums Köln, Bd. II  : Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter, 1191–1515, 1995, S. 212 ff.; Georg Droege, Lehnrecht und Landrecht am Niederrhein im 12. und 13. Jahrhundert, in  : Aus Geschichte und Landeskunde, Franz Steinbach zum 65. Geburtstag, hrsg. von M. Braubach/F. Petri/L. Weisgerber, 1960, S. 278 – 307. 124 Flach (wie Anm. 7), S. 49, 60. 125 RI, Bd. VIII, 1877, Nr. 269 = RI plus, Regesten Karl IV. (Diplome), Nr. 47, in  : RI Online, http:// www.regesta-imperii.de/regesten/20-6-0-karl-iv/nr/fd98f239-89a6-4ae1-986e-2ce3f723de31.html (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 126 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 139, Anm. 1. 127 MGH, Constitutiones, Bd. II, 1896, Nr. 338, S. 446 f.; Landwehr (wie Anm. 96), S. 398 f. 128 Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 153. 129 Johann Friedrich Böhmer, RI, Bd. VI/2, 1948, Nr. 413. 130 Richard Laufner, Die Ausbildung des Territorialstaates der Kurfürsten von Trier, in  : Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, Bd. II, hrsg. von H. Patze, 1971, S. 127–147, 130, 138 f.; Wieruszowski (wie Anm. 9), S. 153 f. 131 Alois Gerlich, Rheinische Kurfürsten im Gefüge der Reichspolitik des 14.  Jahrhunderts, in  : Patze (wie Anm. 130), S. 149–169, 152.

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Drittens profitierte besonders der Kurfürst von der Pfalz bis zum Ende des 15.  Jahrhunderts von den Verpfändungen und erhielt unter anderem Neckargemünd, Eberbach, Mosbach, Sinsheim, Weinsberg, Oppenheim, Ingelheim, Nierstein, Germersheim, Annweiler, den Trifels und Kaiserslautern als Pfand.132 Durch die Verpfändung der Landvogtei im Elsass im Jahr 1432 erhielt der Pfälzer Kurfürst überdies Herrschaftsrechte in den sog. Zehn-Städten Hagenau, Weißenburg, Rosheim, Oberehnheim, Schlettstadt, Kaysersberg, Türckheim, Colmar, Münster und Mühlhausen.133 Der Fiskus Alzey war schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts als salisches Erbe an den Pfalzgrafen Konrad gefallen, der ein Halbbruder Friedrich Barbarossas gewesen ist.134 Die Mobilisierung des Bodens läßt sich besonders anschaulich am Königsgut um Lautern (Kaiserslautern) demonstrieren. Zu Beginn des 13.  Jahrhunderts verpfändete Ludwig der Bayer das dortige Königsgut zunächst an König Johann von Böhmen, der es im Jahr 1332 an seinen Onkel, Erzbischof Balduin von Trier, übertrug.135 Zwar ging das Lauterer Königsgut im Jahr 1357 wieder in königliche Hände über, doch verpfändete es Karl IV. erneut, bis es schließlich in die Hände des Pfalzgrafen Ruprecht  I. gelangte.136 1375 wurde die Verpfändung wiederholt, und zwar zusammen mit Gütern aus Ingelheim, Nierstein und Oppenheim, um die Pfälzer Kurstimme bei der Königswahl Wenzels zu sichern.137 Nachdem Ruprecht  I. von der Pfalz im Jahr 1400 selbst zum König gewählt worden war, erneuerte er die Verpfändung zugunsten seines Sohnes Ludwig aufgrund von Ersatzansprüchen für Aufwendungen im Interesse des Reichs,138 so daß Lautern schließlich bei den Pfälzer Kurfürsten verblieb.

132 Landwehr (wie Anm. 102), S. 102 f.; Meinrad Schaab, Die Festigung der pfälzischen Territorialmacht im 14. Jahrhundert, in  : Patze (wie Anm. 130), S. 171–197, 175, 183  ; Wolfgang Reifenberg, Die kurpfälzische Reichspfandschaft Oppenheim, Gau-Odernheim, Ingelheim, 1375–1648, 1964. 133 Henry J. Cohn, Die Herrschaft in der Pfalz am Rhein im 15. Jahrhundert, aus dem Englischen übertragen von Hans-Helmut Görtz, 2013, S. 53 ff.; Schaab (wie Anm. 132), S. 184 f. sowie die Karte zwischen S. 180 und 181. 134 Schaab (wie Anm. 132), S. 172. 135 Kraft (wie Anm. 28), S. 56 f. 136 Götz Landwehr, Die Bedeutung der Reichs- und Territorialpfandschaften für den Aufbau des kurpfälzischen Territoriums, in  : Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 66 (1968), S. 155 ff.; Kraft (wie Anm. 28), S. 58  ; Zur Pfälzer Territorialpolitik siehe Cohn (wie Anm. 133), S. 39 ff. 137 Gerlich (wie Anm. 131), S. 156  ; Schaab (wie Anm. 132), S. 183 f.; Kraft (wie Anm. 28), S. 58. 138 Kraft (wie Anm. 28), S. 58.

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Den Besitz der Pfandgüter ließen sich die Kurfürsten in den Wahlkapitulationen reichsrechtlich absichern. Kaiser Karl V. versprach den Reichsfürsten in seiner Wahlkapitulation von 1517, sie im ungestörten Besitz ihrer Reichspfandschaften zu belassen.139 Diese Klausel blieb fester Bestandteil aller zukünftigen Wahlkapitulationen.140 Der Westfälische Friedensvertrag sah schließlich vor, dass eine Einlösung von Pfandschaften nur mit Zustimmung aller Reichsstände erfolgen dürfe.141 Königsgut ging aber auch an andere Reichsfürsten über. Beispielsweise geriet Eschwege 1264 in die Hände des Landgrafen von Hessen.142 Die Wettiner erhielten Altenburg, Chemnitz und Zwickau im Jahr 1311 als Pfand und ein Jahr später der König von Böhmen Eger.143 6. Das Reich als Wahlreich

So führte einerseits der Charakter des Reichs als Wahlreich dazu, daß Königsgut eingesetzt und vergeben wurde, um die Königswahl des Sohnes zu sichern. Andererseits führte der Charakter der Reichs als Wahlmonarchie dazu, daß der König nur ein geringes Interesse daran hatte, unter erheblichen Mühen die Reichs­ pfandschaften einzulösen.144 Und vermutlich fehlte überhaupt der Wille, wieder eine zentrale Königslandschaft aufzubauen. Schon Ernst Schubert hat beobachtet, daß die Pfandnahme von Königsgut für territoriale Gewalten […] zumeist Mittel zur Arrondierung ihrer Herrschaft war, […] diese Möglichkeit [aber] als Motiv für das Königtum [fehlte], [um] den verstreuten Besitz im Reich zu erhalten.145 Da eine Einlösung kaum mehr möglich erschien, wurden viele Pfandschaften auch in Reichslehen umgewandelt.146 Die Könige konzentrierten sich stattdessen mehr und mehr auf ihre Hausgüter sowie deren Vergrößerung und bemühten sich außerdem um eine Stärkung der königlichen Gerichtsbarkeit, wie sie im 15. Jahrhundert vor allem in der Zeit Friedrichs III. zu bemerken ist.147 139 Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. Aufl. 1913, Nr. 180, Art. 4 = Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792, 2015, hrsg. von W. Burgdorf, S. 23. 140 Zeumer (wie Anm. 139), S. 408, Anm. 1. 141 Ebd., Nr. 197, Art. V, § 26b. 142 Die deutschen Königspfalzen (wie Anm. 87), S. 126. 143 Landwehr (wie Anm. 96), S. 396 f., 406. 144 Schubert (wie Anm. 101), S. 161. 145 Ebd., S. 154 f. 146 Krieger (wie Anm. 2), S. 96. 147 Ralf Mitsch, Die Gerichts- und Schlichtungskommissionen Kaiser Friedrich III. und die Durch-

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7. Königsgutsverwaltung in Frankreich und England

Schließlich werden – insbesondere im Vergleich mit Frankreich und England – Defizite in der königlichen Administration des Königsguts deutlich. Die weite Verbreitung des Königsguts im Reich führte dazu, daß die Könige von Pfalz zu Pfalz und von Königshof zu Königshof zogen. So schien eine Zentralverwaltung entbehrlich zu sein oder wahrscheinlich fehlte es schlicht an der gedanklichen Voraussetzung dafür, eine Zentralverwaltung als sinnvoll zu erkennen. Demgegenüber war der König von Frankreich durch die großen Fürsten auf seine Krondomäne um Paris und Orléans beschränkt, so daß sich hier seit der Mitte des 12. Jahrhunderts notwendigerweise und fast von selbst eine Zentralverwaltung aufbaute.148 Anders als im Reich hatte auch die kirchliche Gastung in Frankreich keine nennenswerte Bedeutung.149 So gab es in Frankreich auch keinen Königsumritt durch das ganze Königreich, etwa in die Normandie, nach Aquitanien oder die Bretagne.150 Paris, wo sich der König am weitaus häufigsten aufhielt,151 wo sich die königliche Verwaltung konzentrierte und wo sich vor allem das als Parlement bezeichnete Hofgericht befand,152 wurde mehr oder weniger zwangsläufig zum Zentrum der Königsdomäne. Zudem gelang es in Frankreich – und das ist sicher ein wichtiger Aspekt –, die Königskrone erblich werden zu lassen.153 Das französische Königsgut in der Ile-de-France wurde auch vor Ort administrativ erfaßt. König Philipp August hatte zwischen 1184 und 1190 reisende Richter als Aufseher (bailli, im Süden sénéchal) bestimmt, die im Bereich der Krondomäne in Senlis, Vermandois, Amiens, Sens, Orléans, Bourges, Mâcon und Tour Gericht (assises) hielten154 und dreimal jährlich in Paris Rechenschaft setzung des herrscherlichen Jurisdiktionsanspruchs in der Verfassungswirklichkeit zwischen 1440 und 1493, in  : Das Reichskammergericht – Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527), hrsg. von B. Diestelkamp, 2003, S. 7–77, 7 f., 53, 66 ff., 76 f.; Hendrik Baumbach, Königliche Gerichtsbarkeit und Landfriedenssorge im deutschen Spätmittelalter. Eine Geschichte der Verfahren und Delegationsformen zur Konfliktbehandlung, 2017, S. 383 f. 148 Brühl (wie Anm. 48), S. 246, 252 f., 768  ; Zur Entwicklung der Krondomäne  : Jean Dhondt, Études sur la naissance des principautés territoriales en France (IXe–Xe siécle), 1948. 149 Brühl (wie Anm. 48), S. 254 ff. 150 Ebd., S. 251 f. 151 Joachim Ehlers, Geschichte Frankreichs im Mittelalter, 1987, S. 163 ff. 152 Ehlers (wie Anm. 151), S. 178 f. 153 Ebd., S. 122. 154 Robert Folz, Frankreich von der Mitte des 11. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, in  : Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 2, hrsg. von T. Schieder, 1987, S. 683–777, 721  ; Ehlers (wie Anm. 151), S. 179.

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über ihre Tätigkeit ablegen sollten. Die bailli stammten häufig aus dem niederen Adel oder dem städtischen Bürgertum, waren auf Widerruf bestellt und erhielten ein Gehalt. Neben der lokalen Gerichtsbarkeit bestand ihre Aufgabe darin, die Einkünfte aus den Regalien und die Abgaben der königlichen Domänen einzuziehen, die ihnen die praepositi, die eigentlichen Verwalter der Krondomänen, zu übergeben hatten. Als Philipp II. die Normandie erobert und später auch die Champagne durch Erbfall erworben hatte, übertrug er die bereits entwickelte und leistungsfähige Verwaltungsstruktur auf die neuerworbenen Gebiete.155 Demgegenüber verfügte  – wie es Karl-Friedrich Krieger formuliert hat  – der spätmittelalterliche deutsche König […] zu keinem Zeitpunkt über eine nennenswerte Zentralverwaltung […], die in der Lage gewesen wäre, die überall zerstreuten Reichs­einkünfte zu erfassen und für den König einzuziehen.156 Ähnliche Entwicklungen lassen sich in England beobachten. Anhand der Monetarisierung lehnsrechtlich geschuldeter Kriegsdienste im 12. und ­frühen 13.  Jahrhundert zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen dem Reich und England in der Verwaltungspraxis.157 Bekanntlich wurden in England im 12.  Jahrhundert königliche Gerichtshöfe und eine ständige Finanzverwaltung (exchequer) eingerichtet, die in Form der pipe rolls schriftliche Aufzeichnungen über Zahlungseingänge und Forderungen anfertigte.158 Das »Schildgeld«, das den ritterlichen Kriegsdienst ersetzte, gestattete den englischen Königen die Wirtschaftskraft ihrer Vasallen zu nutzen und die Lehensbeziehungen zu den Kronvasallen sowie zu den nachgeordneten Vasallen zu kontrollieren.159 Zu diesem Zweck wurden die Dienst- und Zahlungsansprüche der Krone adminis­ trativ erfaßt.160 Dagegen war die Höhe der Ablösungssumme für lehnrechtlich geschuldete Leistungen, das »Heergeld«, im Heiligen Römischen Reich das Ergebnis einer individuellen Verhandlung.161 Anders als in England mangelte es im Reich nicht nur an einer Aufzeichnung des Königsguts, sondern auch an einer Aufzeichnung der Reichslehen, der Lehnspflichten und der tatsächlich aus dem 155 Ehlers (wie Anm. 151), S. 179  ; Eric Bournazel, Le gouvernement Capétien au XIIe siécle 1108– 1180. Structures sociales et mutations institutionnelles, 1975. 156 Krieger (wie Anm. 2), S. 73. 157 Carsten Fischer, Schildgeld und Heersteuer. Eine vergleichende Studie zur Entwicklung lehnsrechtlicher Strukturen durch die Umwandlung vasallitischer Kriegsdienste in Geldabgaben im normannisch-frühangevinischen England und staufischen Reich, 2013, S. 41 ff., 112 ff., 135 ff. 158 Fischer (wie Anm. 157), S. 31 ff., 41 ff., 92 ff., 135 ff. 159 Ebd., S. 286. 160 Ebd., S. 112 ff. 161 Ebd., S. 241, 256.

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Lehnsverhältnis erbrachten Leistungen, und es fehlte an einer strukturierten reichseigenen Finanzverwaltung.162 III. Zusammenfassung

Um zur eingangs gestellten Frage zurückzukehren, möchte ich zusammenfassend folgende Punkte benennen, die aus dem Blickwinkel des Königsguts die föderative Struktur des deutschsprachigen Raums begünstigten. Erstens  : Das Königsgut zeichnete sich trotz einiger Kerngebiete angesichts der Größe des Reichs durch eine weite Verbreitung und damit durch eine Streulage aus. Territorien wurden dagegen durch eine Konzentration von Gütern und Herrschaftsrechten aufgebaut. Jedoch gerade dort, wo sich Königsgut in Kernregionen konzentrierte, befand sich der König in Konkurrenz zu den Kurfürsten, vor allem zu den vier rheinischen Kurfürsten, deren Ansprüche und Wünsche angesichts ihres Wahlrechts Berücksichtigung verlangten. Zweitens  : Die Vergabe und Verpfändung von Königsgut seit der Doppelwahl 1198 und vor allem im 14. Jahrhundert führte nach und nach zum weitgehenden Verlust des Königsguts. Die Politik Ludwigs  IV. und Karls  IV. förderte diese Entwicklung maßgeblich. Ein Grund dafür lag sicher im Charakter des Reichs als Wahlreich. Das Königsgut verlor seine Aufgabe als Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung königlicher Politik im Reich, vielmehr wurde es mehr und mehr zu einer mobilisierbaren Verfügungsmasse, um Anhänger zu belohnen oder zu gewinnen.163 Drittens  : Bedeutsam für das Schicksal des Königsguts war die Herkunft der königlichen Dynastien nach 1250 und deren Territorialpolitik zugunsten des eigenen Hausguts in Regionen, die häufig fern vom Königsgut lagen. An der Erhaltung einer zentralen Königslandschaft hatte das Königtum selbst nur ein geringes Interesse, weil die jeweiligen Hausgüter der regierenden Dynastie entweder geographisch zu weit entfernt lagen – das gilt jedenfalls für Albrecht von Österreich, für Ludwig den Bayern und eingeschränkt für Karl von Luxemburg – oder die Königsgüter eine willkommene Arrondierung des eigenen Hausgutes versprachen, wie bei Ruprecht von der Pfalz. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts stellte weniger das Königsgut als vielmehr das Hausgut des jeweils regierenden Königs dessen Machtgrundlage dar. Auch der König wurde auf der Grundlage 162 Ebd., S. 256, 259. 163 Schubert (wie Anm. 101), S. 154.

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seines Hausguts, seiner Grundherrschaften, Grafschaften, Regalien, Vogteien und Lehen zum Territorialherren. Angesichts der fehlenden Erblichkeit der Krone zielte das Interesse des Königs gerade in einer Zeit häufiger Dynastiewechsel weniger auf die Stärkung und Mehrung des Königsguts als vielmehr auf die Ausdehnung des eigenen Hausguts ab, das auf seinen Erben übergehen konnte. So gab Rudolf von Habsburg nach dem Sieg über König Ottokar von Böhmen die Herzogtümer Österreich und Steiermark seinen Söhnen zu Lehen. Auch der Erwerb der Mark Brandenburg durch die Wittelsbacher und später durch die Luxemburger gehört in diesen Zusammenhang. Viertens  : Nicht zu unterschätzen sind die Defizite der königlichen Verwaltung. Dem König fehlte es an Personal und somit an einer auch nur annähernd flächendeckenden Verwaltung.164 Es fehlte an einer administrativen Erfassung des Königsguts und jedenfalls auch an einer effektiven Verwaltung, zumal seit dem Interregnum vielfach die Beziehung zu den Reichsministerialen verlorengegangen war.165 Vermutlich verlor auch der finanzielle Ertrag der ländlichen Königsgüter an Bedeutung. Es fehlte aber auch an Bemühungen, das Königsgut langfristig ertragssteigernd zu nutzen. Die historische Forschung hat in den letzten Jahren an mehreren Beispielen zeigen können, daß es ohnehin nur selten ein planmäßiges Vorgehen im Prozeß des Herrschaftsausbaus gab.166 Anstelle einer langfristig ausgerichteten Politik dominierten spontane, aus dem Augenblick heraus getroffene Entscheidungen. Statt einen effektiven Verwaltungsapparat aufzubauen, wurden Königsgüter situationsabhängig als Verfügungsmasse genutzt. Es scheint für den König jedenfalls für den Augenblick günstiger gewesen zu sein, Königsgut an die bereits in der jeweiligen Region begüterten Anhänger zu vergeben, um sich deren Unterstützung zu versichern, als in Konkurrenz zu den regionalen Großen zu treten. Insofern konnte das Königsgut nicht zur Ausbildung eines königlichen Herrschaftsmittelpunkts dienen, sondern stärkte überwiegend als Verfügungsmasse die Territorialherrschaften des Reichs. Aus dem Königsgut entwickelte sich daher auf Dauer keine zentrale Königslandschaft. Das Königsgut ging in die 164 Peter Moraw, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches und ihre Rahmenbedingungen  ; Die Königliche Verwaltung im einzelnen  ; Die Kurfürsten, der Hoftag, der Reichstag und die Anfänge der Reichsverwaltung, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 95), S. 22–65  ; Krieger (wie Anm. 2), S. 95  ; Hans Thieme, Die Funktion der Regalien im Mittelalter, in  : ZRG GA 62 (1942), S. 57–88, 67. 165 Krieger (wie Anm. 2), S. 95, 115. 166 Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit, 2009, S. 41 f., 50.

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Hände partikularer Gewalten über oder erwarb als Reichsstadt eine gewisse Unabhängigkeit. In beiden Fällen wurde die territoriale Staatsbildung gefördert167 und zugleich die föderative Ordnung begünstigt.

Das Königsgut in fränkischer Zeit.

167 Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975  ; ders., Rezeption und Staatsbildung im Mittelalter, in  : Jus Commune Sonderheft 30 (1987), S.  19–44  ; ders., Spätmittelalterliche Staatsbildung im Vergleich. Zur Erforschung der deutschen hoch- und spätmittelalterlichen Territorialstrukturen, in  : Hochmittelalterliche Territorialstrukturen in Deutschland und Italien, hrsg. von G. Chittolini/D. Willoweit, 1996, S. 23–30  ; Steffen Schlinker, Fürstenamt und Rezeption, Reichsfürstenstand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter, 1999, S. 238 ff., 345 ff.; ders., »Landeshoheit«, in  : HRG, Bd. III, 2. Aufl. 2016, Sp. 438–445, 443 ff.; ders., Territorialisierung und Dezentralisierung königlicher Rechte im Spätmittelalter im Prozess der Territorialstaatsbildung, in  : Legitimation von Fürstendynastien in Polen und dem Reich. Ausbildung von fürstlichen Identitäten in den schriftlichen Quellen (12.–15. Jh.), hrsg. von G. Vercamer/E. Wlókiewicz, 2016, S. 71–94, 88 ff.

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Kaiser, Reich und Landesfürstentum – die Epoche Ludwigs des Bayern I. Einführung: Universalgewalt und Königswahl II. Das Herzogtum Bayern III. Ludwig IV. als Reichsoberhaupt IV. Dynastie und Hausmacht V. Regionalismus in der Epoche Ludwigs des Bayern

I. Einführung: Universalgewalt und Königswahl

Kaiser Ludwig der Bayer inszenierte sich beim Treffen mit König Eduard III. von England im September 1338 in Koblenz als Universalherrscher.1 Beim Hoftag am 5.  September thronte er, angetan mit goldgewirkten purpurnen Zeremonialgewändern und einer Stola, auf dem Haupt eine Mitrenkrone, in den Händen Szepter und Reichsapfel haltend, auf dem Vorplatz vor dem Kastorstift auf einem um 12 Fuß erhöhten Thron.2 Über ihn hielt der Vertreter des Herzogs von Brabant als Schwertträger ein gezücktes Schwert. Damit sollte die Funktion des Kaisers als oberster Richter und Wahrer des Friedens sinnfältig demonstriert werden. Etwas unterhalb des Kaisers, aber ebenfalls auf einer erhöhten Plattform saßen sowohl der englische König wie die in Koblenz anwesenden Kurfürsten, die ebenfalls sehr selbstbewußt das Reich vertraten. Seit dem Ausgang der Stauferzeit hatten die Königswähler mehrfach ausländische Monarchen oder Angehörige von Grafenhäusern zum Reichsoberhaupt gekürt. Sie favorisierten einen mindermächtigen König, offenbar hatten sie kein Interesse an einer starken Zentralgewalt, wie sie die Wahl eines der verbliebenen Herzöge bedeutet hätte. Dies zeigte schon das Scheitern des Welfen Herzog Heinrichs des Stolzen von Bayern und Sachsen ebenso wie es der Erfolg Herzog Ludwigs IV. von Bayern beweist, der ja zum Zeitpunkt seiner Wahl nur über einen Teil Bayerns gebot. Seine Königswahl war im Zeichen eines gehobenen Selbstbewußtseins der Kur1 Gerald Schwedler, Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen – Rituale – Wirkungen, 2008, S. 38–72. 2 Schwedler (wie Anm. 1), S. 50–59, hier S. 53–56 Beschreibung der Kleidung und Insignien.

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fürsten erfolgt, die auch im Zeremoniell in Koblenz eine herausragende Stelle einnahmen. Die Wähler hatten in ihrer Anzeige an den künftigen Papst formuliert  : Wir haben uns einmütig auf diesen Herrn Ludwig geeinigt und ihn, jeder von uns für sich, keiner hatte etwa eine abweichende Meinung, benannt zur Wahl als Römischen König, der späterhin zum Kaiser erhoben werden soll.3 Sie argumentieren dabei ausschließlich mit ihrem Wahlrecht, nicht mit einer Vertretung des ganzen Reiches oder bestimmter Regionen. Wir fragen bei dieser Tagung nach der »Organisation föderativer Verfassungsformen« im Römisch-Deutschen Reich. Mit dem Zurücktreten der Stämme aus dem Ostfränkischen Reich und der Etablierung des Reichsfürstenstandes in der Stauferzeit traten dem König nicht mehr die Herzöge, sondern die Fürsten kleiner gewordener territorialer Einheiten gegenüber. Das Wahlrecht des Königs hatte sich in der Stauferzeit auf die Kurfürsten konzentriert. Die Königswahl mußte im fürstlichen Konsens erfolgen, im Römisch-Deutschen Reich bildete die Willensbildung durch Wahl das eigentliche Fundament des Gemeinwesens.4 Die Kompetenzen des Reichsoberhaupts konzentrierten sich auf das Lehenswesen, die Friedenswahrung und die oberste Gerichtsbarkeit,5 sein unmittelbarer Einfluß war mit dem Schwinden des Reichsguts weitgehend auf die Reichskirche, die Grafen und Herren in den zentralen Reichslandschaften und die Reichsstädte reduziert worden.6 Das Reichsoberhaupt hatte in einem längeren Prozeß immer mehr Regalien an die Reichsfürsten abgeben müssen. Friedenswahrung und Gerichtsbarkeit gehörten aber unverändert zu den zentralen Aufgaben des Königs, die er für das ganze Römisch-Deutsche Reich beanspruchte. Der König sollte zwar den Frieden wahren, aber nicht in die reichsfürstlichen Territorien hineinregieren, deren Position durch das Statutum in favorem principum von 1231 entscheidend gefestigt worden war.7 Der König verzichtete damit auf den 3 MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd.  V  : 1313–1324, hrsg. von J. Schwalm, 1901–1913, Nr. 102/103, S. 98–103  ; Übersetzung  : Quellen zur Verfassungsgeschichte des Römisch-Deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250–1500), hrsg. von L. Weinrich, 1983, Nr.  80b, S.  258–265, hier S.  263  ; Abbildung  : Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser  ! Katalog zur bayerischen Landesausstellung 2014, hrsg. von P. Wolf, 2014, Nr. 2.6 A und B, S. 131. 4 Bernd Schneidmüller, Wir sind Kaiser – Ludwig IV. zwischen Gott und den Fürsten, in  : Wolf (wie Anm. 3), S. 27–32, hier S. 28 (ausführliche Fassung des Beitrags  : Bernd Schneidmüller, Kaiser Ludwig IV. Imperiale Herrschaft und reichsfürstlicher Konsens, in  : ZHF 40, 2013, S. 369–392). 5 Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451, Bd. 5  : Die Zeit Ludwigs des Bayern und Friedrichs des Schönen 1314 – 1347, bearb. von F. Battenberg, 1987. 6 Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, 1966, S.  1 sieht Lehnsherrschaft, Kirchenvogtei und Friedenswahrung als Kriterien der Königsgewalt. 7 1231 Mai 1  : MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. II  : 1198–1272, hrsg.

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Bau von Burgen, auf die Ausübung des Zoll-, Münz- und Geleitrechts, auf die Errichtung von Städten und Münzstätten in den reichsfürstlichen Territorien. Diese erscheinen jetzt als eigene Länder mit Landesherren an der Spitze. Nach dem Ausgang der Stauferzeit gingen die Machtgrundlage und damit der Einfluß des Königtums weiter zurück, während sich die Bedeutung der Reichsfürsten und besonders der Königswähler steigerte. Da das Reichsgut immer weiter verloren zu gehen drohte, wuchs der Stellenwert der Hausmacht für den jeweiligen König. Neben den Kurfürsten gab es weitere Reichsfürsten, von denen einzig Bayern noch in der Tradition eines frühmittelalterlichen Stammesherzogtums stand. Die Position der Reichsfürsten gewann auch dadurch an Bedeutung, daß ihre Fürstentümer erblich wurden, während der König jeweils aus einer Wahl hervorging. Für eine Untersuchung über den Föderalismus bietet sich das Verhältnis Bayerns zu einem übergeordneten Reich an. Für die Regierungszeit König und Kaiser Ludwigs  IV. genannt der Bayer fielen diese beiden Ebenen zusammen. Wir wollen uns dem Thema Föderalismus in seiner Epoche in einem Dreischritt nähern. Zunächst nehmen wir als Ausgangsbasis das Herzogtum Bayern in den Blick. Wie verändert sich ein Fürstentum, dessen Herzog König wird  ? Dann wenden wir uns der Reichspolitik Ludwigs des Bayern zu, wozu neben der Durchsetzung und Behauptung seiner Königsherrschaft besonders sein Romzug und verschiedene Landfrieden zu rechnen sind. Schließlich wird noch die Hausmachtpolitik, mit der er seine kaiserliche Position wie die Stellung des Reiches abzusichern versuchte, in den Blick zu nehmen sein. In der Persönlichkeit Ludwigs des Bayern läßt sich sowohl die Position eines Reichsfürsten wie auch eines Königs und Kaisers darstellen. II. Das Herzogtum Bayern

Betrachten wir zunächst Bayern als Ausgangspunkt der politischen Stellung Ludwigs des Bayern.8 Die Wahl eines Wittelsbachers zum König bildete ein Novum, nicht die eines bayerischen Herzogs. Bayerische Herrscher waren in von L. Weiland, 1896, Nr. 304, S. 418–420, Bestätigung durch Kaiser Friedrich II. 1232 Mai  : ebd., Nr. 171, S. 211–213. 8 Ludwig der Bayer als bayerischer Landesherr. Probleme und Stand der Forschung. Kolloquium des Lehrstuhls für Bayerische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, München 1997.

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der Karolinger- und Ottonenzeit zu Königen des Reiches, fränkische Könige in der Karolinger-, Ottonen- und Salierzeit zu Herzögen Bayerns geworden. Die Wittelsbacher regierten seit 1180 über ein verkleinertes Herzogtum Bayern, das aber die Traditionen des Stammes und seines Namens wahrte.9 Sie festigten ihre Position durch die konsequente Nutzung der Herrschaftselemente Burg, Vogtei und Vasallität sowie die Nähe zum staufischen Königshaus.10 Die Erblichkeit des Herzogtums in der Dynastie der Wittelsbacher war seit 1208 gesichert,11 die 1214 außerdem mit der Rheinpfalz belehnt wurden.12 Mehrere Regalien waren in die Hand des Herzogs übergegangen, darunter das Berg, Markt, Zoll- und Münzrecht. Außerdem verfügte der Herzog über das Geleitrecht und den Wildbann. Die Grafschaften waren wohl Afterlehen des Herzogs und entwickelten sich spätestens durch die Eigendynamik des Lehenswesens ausschließlich zu Lehen des Herzogs, die dieser auch einbehalten konnte.13 Die entscheidende Aufgabe des Herzogtums bildete die Landfriedenswahrung. Seit 1255 waren das Herzogtum Bayern und die Pfalzgrafschaft bei Rhein mannigfachen Teilungen in mehrere wittelsbachische Linien unterworfen, in deren Zuge die Rheinpfalz und die Kurwürde der von Ludwig dem Bayern begründeten Linie verloren gingen. Die Landesteilungen erfolgten nicht nach rationalen Verwaltungsgesichtspunkten, sondern nach der vergleichbaren Höhe der Einkünfte. Ludwig der Bayer wurde als Sohn Herzog Ludwigs des Strengen von Bayern-München und dessen dritter Gattin Mathilde von Österreich, einer Tochter König Rudolfs von Habsburg, wohl 1282 in München geboren.14 Aus der Teilung  9 Vgl. demnächst zusammenfassend  : Dieter J. Weiß, Territoriale Herrschaftsbildung und ihre Grenzen  : Bayern, in  : Handbuch Landesgeschichte, hrsg. von W. Freitag u. a., 2018, S.215-235. 10 Hubertus Seibert, Die entstehende »territoriale Ordnung« am Beispiel Bayerns (1115–1198), in  : Stauferreich im Wandel. Ordnungsvorstellungen und Politik in der Zeit Friedrich Barbarossas, hrsg. von S. Weinfurter, 2002, S. 254–287. 11 1208 November 15  : Monumenta Wittelsbacensia. Urkundenbuch zur Geschichte des Hauses Wittelsbach, hrsg. von F. M. Wittmann, 2 Bde., 1857/61, hier Bd. 1, Nr. 3, S. 9–11. 12 Vgl. Die Wittelsbacher am Rhein. Die Kurpfalz und Europa. Begleitband zur 2. Ausstellung der Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen, hrsg. von Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim, Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg durch A. Wieczorek u. a., Bd. 1 Mittelalter, 2013. 13 Ludwig Holzfurtner, Herzog oder König. Königliche Eingriffe in bayerische Grafschaften während des hohen Mittelalters, in  : Bayerische Geschichte. Landesgeschichte in Bayern. Festgabe für Alois Schmid zum 60. Geburtstag, hrsg. von K. Ackermann/H. Rumschöttel, Bd.  1, 2005, S. 289–304. 14 Waldemar Schlögl, Beiträge zur Jugendgeschichte Ludwigs des Bayern, in  : Deutsches Archiv 33 (1977), S. 182–199.

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von 1255 war außerdem das Teilherzogtum Bayern-Landshut, umfangreicher als das heutige Niederbayern, unter Herzog Heinrich XIII. hervorgegangen. Herzog Ludwig IV. mußte sich seinen Anteil an der Herrschaft über Oberbayern, zunächst mit dem Hauptsitz Ingolstadt, erst gegen seinen älteren Bruder Herzog Rudolf mit der Teilung von 1310 erkämpfen.15 Ludwig bemühte sich gleichzeitig, seinen Einfluß in Niederbayern auszubauen, wo der verstorbene Herzog Stephan I. 1310 zwei unmündige Söhne hinterlassen hatte. Gemeinsam mit dessen Bruder Herzog Otto  III., der den Titel eines Königs von Ungarn führte, übte Ludwig die Vormundschaft über sie und dann über Ottos Sohn aus. Damit verfügte Ludwig über die reichen Ressourcen Niederbayerns, was ihn zu einem eigenständigen politischen Faktor machte. Im Münchner Frieden vom 21. Juni 1313 söhnte er sich mit seinem Bruder Rudolf aus.16 In der Schlacht von Gammelsdorf siegte Ludwig am 9.  November 1313 über das österreichische Heer unter Herzog Friedrich dem Schönen und sicherte sich damit seine Stellung in Niederbayern.17 Ludwig IV. hatte damit zum Jahresende 1313 die faktische Oberherrschaft über Ober- und Niederbayern errungen. Die Aussöhnung mit seinem Bruder war aber nur von kurzer Dauer, schon bei der Frankfurter Königswahl von 1314 brach der Konflikt wieder offen auf, weil Pfalzgraf Rudolf ins Lager Friedrichs des Schönen von Österreich überging. Damit war offenkundig geworden, daß Ludwig seine Herrschaft über Bayern nur behaupten konnte, wenn er sich als König durchsetzen würde. In dreijähriger Auseinandersetzung gelang es ihm, seinen Bruder Rudolf aus der Mitherrschaft über Oberbayern zu verdrängen. Auch nach Beendigung der Vormundschaft über Niederbayern 1319 behielt Ludwig dort eine starke Stellung. Als Ziele von Ludwigs Politik in dieser ersten Phase benennt Heinz Angermeier die Vereinigung Bayerns und des wittelsbachischen Gesamthauses, für das er als eine Art Senior fungierte.18 Im Herzogtum Bayern selbst konnte der nunmehrige König Ludwig die innerwittelsbachischen Auseinandersetzungen beenden. Nach dem Tode seines 15 Hans Rall, Wittelsbacher Hausverträge des späten Mittelalters. Die haus- und staatsrechtlichen Urkunden der Wittelsbacher von 1310, 1329, 1392/93, 1410 und 1472, 1987, S. 120–155. 16 1313 Juni 21  : MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd. IV/2  : 1298–1313, hrsg. von J. Schwalm, 1909–1911, Nr. 1232, S. 1292 f. 17 Bernhard Lübbers, Briga enim principum, qui ex nulla causa sumpsit exordium. Die Schlacht bei Gammelsdorf am 9. November 1313. Historisches Geschehen und Nachwirkung, in  : Ludwig der Bayer (1314–1347). Reich und Herrschaft im Wandel, hrsg. von H. Seibert, 2014, S. 205–236. 18 Heinz Angermeier, Bayern in der Regierungszeit Ludwigs  IV. (1314–1347), in  : Handbuch der bayerischen Geschichte 2, begr. v. M. Spindler, hrsg. von A. Kraus, 2. Aufl. 1988, S. 149–195.

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Bruders blieben die Beziehungen zu dessen Erben zunächst gespannt. Immerhin schlossen sich dessen Söhne Rudolf  II. und Ruprecht I. im Jahr 1327 seinem Romzug an, was die Aussöhnung einleitete. Am 4. August 1329 erfolgte mit dem Hausvertrag von Pavia die Aufteilung der bayerischen und pfälzischen Lande unter die rudolfinische und die ludovizianische Linie des Hauses Bayern.19 Die Kurstimme der Wittelsbacher sollte künftig alternierend ausgeübt werden, wobei der Pfalzgraf bei der nächsten Wahl das Stimmrecht ausüben durfte. Für Ludwig den Bayern selbst brachte dieser Vertrag die Aussöhnung mit den Pfälzer Wittelsbachern und damit eine Festigung seines Königtums. Die Einheit der Dynastie und die wechselseitige Erbfolge blieben damit gewahrt. Alle wittelsbachischen Territorien galten nun als ein einheitliches Landfriedensgebiet. Mit dem Aussterben der niederbayerischen Linie 1340 fiel Niederbayern an Ludwig den Bayern, der darauf Ober- und Niederbayern in Personalunion vereinigte und ein Jahrhundert Spaltung beendete. Die Stellung als König und Kaiser stärkte die Herrschaft Ludwigs des Bayern als Herzog von Oberbayern, konnte er doch mit königlicher Autorität Gesetze erlassen. Als bayerischer Landesfürst mußte er sich aber mit den Inhabern von Herrschaftsrechten im Land arrangieren, weil er auf ihre Mitwirkung und auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen war. Dies geschah mit der Abmachung mit dem oberbayerischen Adels- und Städtebund 1315,20 bei Verhandlungen mit den nordgauischen Rittern 1321,21 mit der Privilegienbestätigung für den oberbayerischen Klerus 132222 und dem Hofmarkenprivileg 1329/3023 für die Klöster Oberbayerns.24 Mit der Verleihung der Niedergerichtsbarkeit an die oberbayerischen Klöster kassierte er stillschweigend die Hochgerichtsbarkeit und konnte die Reichsklöster in die Landsässigkeit nehmen. Außerdem erließ Ludwig der Bayer eine Reihe von Stadtrechtsprivilegien.25 19 Rall (wie Anm. 15), S. 41–174  ; Karl-Friedrich Krieger, Bayerisch-pfälzische Unionsbestrebungen vom Hausvertrag von Pavia (1329) bis zur wittelsbachischen Hausunion vom Jahre 1724, in  : ZHF 4 (1977), S. 385–413. 20 1315 Juli 10/19  : Altbayern vom Frühmittelalter bis 1800, Bd.  2 Altbayern von 1180 bis 1550, bearb. von K.-L. Ay (Bearb.), 1977, Nr. 450 f., S. 554–556. 21 1321 Mai 22  : Ay (wie Anm. 20), Nr. 257, S. 355. 22 1322 Dezember 19  : Ay (wie Anm. 20), Nr. 159, S. 268. 23 1329 Dezember 28 (Trienter Urkunde), 1330 April 23 (Hofmarkenprivileg)  : Ay (wie Anm. 20), Nr. 162 f., S. 269–271. 24 Wilhelm Volkert, Ludwig der Bayer. Dynastie und Landesherrschaft, in  : Ludwig der Bayer als bayerischer Landesherr (wie Anm. 8), S. 87–104, hier S. 101. 25 Heinrich Wanderwitz, Die Beziehungen König Ludwigs  IV. zu München in den Jahren 1314– 1319, in  : Oberbayerisches Archiv 107 (1982), S. 165–177  ; Pankraz Fried, Die Städtepolitik Kaiser

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Das oberbayerische Territorium festigte der Kaiser durch die Verkündung eines eigenen Oberbayerischen Landrechts, auch wenn dieses formal nach Vorstufen ab 1335 im Januar 1346 seine Söhne erließen.26 Das für Jahrhunderte gültige Landrecht schuf für Oberbayern einen einheitlichen Rechtsraum.27 Sein Zweck war die Vereinheitlichung der Gerichtspraxis und damit die Grundlage einer gleichförmigen Rechtsprechung. Es bedeutete eine Verschmelzung und Fortschreibung bestehender Rechtsordnungen. Durch die schriftliche Niederlegung des Rechts sollte die Landeseinheit gewahrt bleiben. Die Regelung des Landfriedens bildete wohl den wichtigsten Aspekt des gesamten Rechtsbuches.28 Die Wahrung des Landfriedens war also in die Hand des Territorialfürstentums übergegangen und wurde damit in Oberbayern zum Teil des Landrechts.29 Ludwig der Bayer betrachtete die wittelsbachischen Territorien wie die Kurstimme als Gesamtbesitz des Hauses. Im Jahr 1341 bestätigte er in einer Handfeste die Privilegien der niederbayerischen Stände und erklärte die Unteilbarkeit Bayerns.30 Auch wenn Ludwig genealogische Zufälle zu Hilfe kamen, so stärkte doch seine Position als Reichsoberhaupt wesentlich die Durchsetzung seiner Herrschaft im Herzogtum Bayern, das dafür freilich den Preis zu bezahlen hatte  : Die Reichsregierung musste im Wesentlichen mit den Ressourcen des Herzogtums bestritten werden.31 III. Ludwig IV. als Reichsoberhaupt

Die ersten Jahre der Königsherrschaft Ludwigs des Bayern waren durch ein Doppelkönigtum geprägt, weil sich die Kurfürsten nach dem Tode des Luxem­burgers

Ludwigs des Bayern, in  : Ludwig der Bayer als bayerischer Landesherr (wie Anm. 8), S. 105–114  ; Richard Bauer, München als Landeshauptstadt, in  : ebd., S. 115–121. 26 Heinz Lieberich, Ludwig der Bayer als Gesetzgeber, in  : ZRG GA 76 (1959), S. 173–245  ; Walter Jaroschka, Ludwig der Bayer als Landesgesetzgeber, in  : Ludwig der Bayer als bayerischer Landesherr (wie Anm. 8), S. 135–142. 27 Das Rechtsbuch Kaiser Ludwigs des Bayern von 1346, hrsg. von W. Volkert 2010. 28 Andreas Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4. Aufl. 2013, S. 160. 29 Angermeier (wie Anm. 6), S. 156–158. 30 1341 Januar 12/14  : Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) nach Archiven und Bibliotheken geordnet Heft 7  : Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken Ober- und Niederbayerns, bearb. von M. Menzel, 2003, Nr. 509 f., S. 218–221. 31 Alois Schmid, Ludwig der Bayer – Der Kaiser aus dem Hause Wittelsbach, in  : Wolf (wie Anm. 3), S. 19–26, hier S. 21.

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Heinrich VII. nicht auf einen Kandidaten hatten einigen können.32 Die Anhänger der Habsburger wählten am 19.  Oktober 1314 in Sachsenhausen Herzog Friedrich den Schönen von Österreich zum deutschen König. Die Luxemburger Parteigänger dagegen erkoren am 20. Oktober in Frankfurt Herzog Ludwig von Bayern zum König. Da der päpstliche Thron zu diesem Zeitpunkt vakant war, war auch von dieser Seite keine Entscheidungshilfe zu erwarten. Der Konflikt zwischen Habsburgern und Luxemburger bzw. nun Ludwig dem Bayern und ihren jeweiligen Thronkandidaten bestimmte die weitere Reichspolitik. Zunächst mußte Ludwig IV. sein Königtum gegen den »Gegenkönig« Friedrich von Österreich durchsetzen. Beide vermieden eine offene Feldschlacht und beschränkten das Kriegsgeschehen auf Plünderungsaktionen im gegnerischen Land.33 Zu einer Entscheidungsschlacht kam es erst am 28.  September 1322 bei der salzburgischen Stadt Mühldorf am Inn, bei der Friedrich der Schöne in Gefangenschaft geriet. Mit seinem Sieg sicherte Ludwig der Bayer sein Königtum und stärkte gleichzeitig seine Herrschaft über Bayern. Im Frühherbst lieferte ihm Herzog Leopold von Österreich die Reichsinsignien aus, was als Anerkennung seines Königtums zu werten ist. Doch eröffnete in dieser Phase Papst Johannes XXII. den Prozeß gegen Ludwig  IV., dem er schon zuvor die Anerkennung als König verweigert hatte und deshalb nur als den Bayern titulierte.34 König Ludwig intensivierte seine Bemühungen um eine Aussöhnung mit dem noch immer inhaftierten Friedrich dem Schönen und bot ihm in der Trausnitzer Sühne die Freilassung, die Mitherrschaft und die Königstitulatur an. Im Münchener Vertrag vom September 1325 verabredeten die Könige Ludwig und Friedrich eine Doppelregierung über das Reich.35 Alle Handlungen sollten gemeinsam in beider Namen erfolgen, eine regionale Teilung in unterschiedliche Einflußzonen war nicht vorgesehen. Der Tod Friedrichs des Schönen im Januar 1330 beendete das Doppelkönigtum. Seit dem Sieg von Mühldorf wurde die Legitimität der Königsherrschaft Ludwigs innerhalb des Reichs nicht mehr in Frage gestellt, doch erwuchs ihm 32 Hans-Dieter Homann, Kurkolleg und Königtum im Thronstreit von 1314–1330, 1974  ; Ernst Schubert, Königswahl und Königtum im spätmittelalterlichen Reich, in  : ZHF 4 (1977), S. 257– 338, zum Phänomen der Doppelwahlen im späten Mittelalter S. 298–306. 33 Heinz Thomas, Ludwig der Bayern (1282–1347). Kaiser und Ketzer, 1993, S. 65–67. 34 Carl Müller, Der Kampf Ludwigs des Bayern mit der römischen Kurie, 2 Bde., 1880. 35 1325 September 1–6  : MGH Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, Bd.  VI/1  : 1325–1330, hrsg. von J. Schwalm, 1914–1927, Nr. 101–106, S. 69–75  ; Gerald Schwedler, Bayern und Österreich auf dem Thron vereint. Das Prinzip der gesamten Hand als Verfassungsinnovation für das Doppelkönigtum von 1325, in  : Seibert (wie Anm. 17), S. 147–166.

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mit Papst Johannes XXII. in Avignon ein gefährlicher Gegner, der den Anspruch auf päpstliche Approbation der Königswahl steigerte und in Reichsitalien eine eigene Politik zu verfolgen suchte.36 Zur Absicherung seiner Position zog Ludwig IV. 1327 nach Italien und ließ sich unter freilich irregulären Umständen zum Kaiser krönen. Am 17. Januar 1328 empfing er in Rom in der Petersbasilika in herkömmlichen Formen, aber eben ohne Approbation des Papstes aus der Hand exkommunizierter Bischöfe die Kaiserkrone.37 Bei der Krönung gegen den Widerstand des Papstes handelte es sich um einen Traditionsbruch, der auch durch die zweite Krönung durch den von Ludwig eingesetzten Gegenpapst Nikolaus V. nicht saniert wurde. Für unsere Fragestellung nach dem Verhältnis von Zentralgewalt und regionalen Kräften haben wir aus diesen Jahren der Königsherrschaft keine Antwort erhalten, auch das Doppelkönigtum bietet keinen Ansatzpunkt dazu. Nach der Kaiserkrönung und der Rückkehr aus Italien gelang Ludwig dem Bayern eine Stabilisierung seiner Herrschaft, doch blieb das Verhältnis zum avignonesischen Papsttum weiter zerrüttet. Der entscheidende Streitpunkt war die Frage nach der Einsetzung des römisch-deutschen Königs und Kaisers, die in der Regierungszeit Ludwigs des Bayern wesentlich weiterentwickelt wurde. Auf dem Ständetag von Sachsenhausen (17. Mai 1338) faßte Ludwig seine Position vor Vertretern der Domkapitel, des Adels und der Städte gegenüber der Kurie zusammen.38 Er fand sich bereit, für seine Verfehlungen Buße zu tun, erklärte aber die Prozesse Johannes XXII. als gegen die Gewohnheiten des Römischen Reiches und damit auch der Germania gerichtet. Päpstliche Approbationsansprüche für den von den Kurfürsten gewählten König wies er zurück. Die Grundlagen seiner Herrschaft erläuterte er in einem von den gelehrten Franziskanern Wilhelm von Ockham und Bonagratia von Bergamo ausgearbeiteten Traktat in Form eines Mandats an alle Könige der Christenheit, an alle geistlichen und weltlichen Amtsträger und überhaupt an alle Christen mit den Anfangsworten Fidem catholicam […] profitentes.39 Gleichzeitig betonte er darin seine Rechtgläubigkeit.

36 Michael Menzel, Ludwig der Bayer. Der letzte Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum, in  : Die Herrscher Bayerns, hrsg. von A. Schmid/K. Weigand, 2. Aufl. 2006, S. 106–117. 37 Jörg Schwarz, Abkehr vom päpstlichen Krönungsanspruch. Die Kaiserkrönung Ludwigs des Bayern und der römische Adel, in  : Seibert (wie Anm. 17), S. 119–146. 38 Thomas (wie Anm. 33), S. 308 f. 39 Hans-Jürgen Becker, Das Mandat »Fidem catholicam« Ludwigs des Bayern von 1338, in  : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 26 (1970), S. 454–512 (Edition S. 493–512).

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Die Kurfürsten entwickelten angesichts der Auseinandersetzung des Papsttums mit Ludwig dem Bayern Regeln für die Königswahl. Auf Initiative Erzbischof Balduins von Trier trafen sie sich – ohne König Johann von Böhmen – im Juli 1338 in Rhense40 am linken Rheinufer und gingen ein Bündnis zum Schutze des Reiches und ihrer Rechte ein. Kaiser Ludwig wartete am gegenüberliegenden Flußufer in Lahnstein auf das Ergebnis. Der Kurverein von Rhense legte in einem Weistum fest, daß der von den Kurfürsten gewählte König zur Ausübung der Herrschaft über das Reich keiner päpstlichen Approbation bedürfe.41 Das Rhenser Weistum brachte, in den Worten von Bernd Schneidmüller, im entstehenden Dualismus von Kaiser und Reich die fürstliche Verantwortung für das Gemeinwesen zum Ausdruck.42 Von einem regionalen Bezug oder einer gleichmäßigen Verteilung der Kurstimmen über das Reich ist allerdings nicht die Rede. Darauf lud Kaiser Ludwig im August 1338 zu einem Hoftag nach Frankfurt, zu dem auch Vertreter der Städte erschienen. In der Deutschordenskirche zu Sachsenhausen ließ er nach der Ablegung des Glaubensbekenntnisses das Königswahlgesetz Licet iuris43 und das Mandat Fidem catholicam verkünden. Im Licet iuris beruft er sich auf Zeugnisse beider Rechte, nach denen die kaiserliche Würde unmittelbar auf Gott zurückzuführen sei. Gott habe den Menschen durch die Könige und Kaiser Recht und Gesetze erteilt. Der Kaiser werde allein durch die Wahl bestimmt und bedürfe keiner weiteren Bestätigung. Dazu wird dem Papst alle Gerichtsbarkeit in weltlichen Angelegenheiten, namentlich über den von Gott eingesetzten Kaiser, abgesprochen. Im September 1338 wurden die wesentlichen Bestimmungen des Rhenser Weistums und des Licet iuris, nun im Zusammenwirken von Kaiser und Wahlfürsten, beim eingangs geschilderten Hoftag von Koblenz nochmals verkündet.44 Für die Verfassungsentwicklung des Reiches bildeten diese die wohl wichtigsten Gesetze der Regierungszeit Ludwigs des Bayern, die unmittelbar zur Goldenen Bulle von 1356 führten. Das ausschließliche Wahlrecht der Kurfürsten ohne jede Einmischung von anderer Seite war damit festgeschrieben. 40 Zur Ausbildung von Rhense als Traditionsstätte und Versammlungsort der Kurfürsten vgl. Schubert (wie Anm. 32), S. 333–337. 41 1336 Juli 16  : Karl Zeumer, Ludwigs des Bayern Königswahlgesetz ›Licet iuris‹ vom 6.  August 1338, in  : Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 30 (1905), S. 85–112, hier Beilage, S. 110 f. 42 Schneidmüller (wie Anm. 4), S. 384. 43 1338 August 6  : Zeumer (wie Anm. 41)  ; Übersetzung  : Weinrich (wie Anm. 3), Nr. 89, S. 290–293. 44 1338 September 5  : Nova Alamanniae. Urkunden, Briefe und andere Quellen besonders zur deutschen Geschichte des 14. Jahrhunderts Bd. 1, hrsg. von E. E. Stengel, 1921, Nr. 556, S. 370–375.

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Damit können wir Vertreter des Reiches, die dessen Oberhaupt und damit die Zentralgewalt bestimmen, fassen, haben aber noch keine Antwort auf unsere Frage nach dem Einfluß regionaler Gewalten. Hier geraten nun die Landfrieden als Instrumente der Reichspolitik in unser Blickfeld.45 Die Landfriedenspolitik Ludwigs des Bayern, die nach der Erneuerung des Mainzer Reichslandfriedens von 1235 im Jahr 132346 nur noch einzelne Regionen erfaßte, setzte so recht erst nach seiner Rückkehr vom Romzug ein.47 Die regionale Umgrenzung war deshalb nötig geworden, weil das Reichsoberhaupt keine Möglichkeit mehr hatte, einen das ganze Reich erfassenden Frieden wirksam durchzusetzen. Ludwig der Bayer konzentrierte sich auf die Regionen, in denen sich das Königtum Einfluß hatte bewahren können, im wesentlichen auf die Lande um den mittleren Rhein,48 um Main und Donau. Am 4. Oktober 1330 erließ Kaiser Ludwig einen Friedensbund für Schwaben und Bayern, der allerdings nicht alle regionalen Mächte erfaßte.49 Im folgenden Jahr konnte dieser Bund noch erweitert werden.50 Erfolgreich waren die Landfriedensbemühungen in der Wetterau und am Mittelrhein, die auf Erzbischof Balduin von Trier als Administrator des Erzstifts Mainz zurückgingen.51 Im Jahr 1337 baute darauf der kaiserliche Landvogt in der Wetterau einen Landfrieden für diese Region und am Mittelrhein auf. Weitere Landfriedensbündnisse wurden im Elsass und in Franken abgeschlossen. Der Bund im Elsaß, dem zunächst neun Reichsstädte und später auch der Bischof von Straßburg angehörten, wurde 1338 begründet.52 In Franken kam es erst 45 Jakob Schwalm, Die Landfrieden in Deutschland unter Ludwig dem Baiern mit Urkunden-Beilagen, 1889  ; Hendrik Baumbach, Landfriede (Spätmittelalter), publiziert am 25.09.2015  ; in  : Historisches Lexikon Bayerns, http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Landfriede (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 46 1323 April 9  : MGH Const. V (wie Anm. 3), Nr. 735, S. 572 f.; Angermeier (wie Anm. 6), S. 98– 102. 47 Alle Angaben nach Thomas (wie Anm. 33), S. 232–236  ; Verzeichnis der fränkisch-bayerischen Landfrieden  : Quellen zur Geschichte der fränkisch-bayerischen Landfriedensorganisation im Spätmittelalter, bearb. von G. Pfeiffer, 1975. Grundlegend Angermeier (wie Anm. 6), S. 123–174. 48 Anfänge am Rhein ab 1317  : Angermeier (wie Anm. 6), S. 126–136. 49 1330 Oktober 4–29  : MGH Const. VI/1 (wie Anm. 35), Nr. 875 f., S. 727–730  ; Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) nach Archiven und Bibliotheken geordnet Heft 5  : Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken im Regierungsbezirk Schwaben (Bayern), bearb. von M. Menzel, 1995, Nr. 115, S. 51–53  ; Angermeier (wie Anm. 6), S. 164–167. 50 1331 November 20  : Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern 5 (wie Anm. 49), Nr. 150, S. 69–71. 51 Thomas (wie Anm. 33), S. 235. 52 1338 März 16  : Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) nach Archiven und Bibliotheken geordnet Heft 4  : Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken des Elsasses (Département Haut- und Bas-Rhin), bearb. von J. Wetzel, 1994, Nr. 150, S. 84.

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1340 zum Abschluß eines Landfriedens, dem die fränkischen Hochstifte und die Reichsstädte Nürnberg und Rothenburg mit den Söhnen des Kaisers angehörten.53 Als Hauptmann des fränkischen Bundes fungierte Herzog Stephan II. von Bayern, ein Sohn des Kaisers. Er schloß Oberbayern mit Hochstift und Reichsvogtei Augsburg, der Landvogtei Oberschwaben und den Reichsstädten Augsburg, Ulm, Memmingen, Kaufbeuren, Biberach, Nördlingen und Donauwörth zu einem Landfrieden zusammen.54 Während in Bayern die Friedbruchsverfolgung den herzoglichen Viztumen übertragen wurde, waren in Franken und Schwaben gemischte Kommissionen zuständig. Seinen Sohn Stephan II. setzte der Kaiser als Landfriedenshauptmann in Franken und Schwaben ein, dem er 1341 auch noch die Reichslandvogtei im Elsass übertrug.55 Durch diese Landfriedenspolitik wurden die Regionen in den königsnahen Landschaften gestärkt, Mittel- und Norddeutschland blieben davon aber unberührt.56 IV. Dynastie und Hausmacht

Die Wittelsbacher gehörten zu den Dynastien, die als principes imperii das Reich prägten und flächenübergreifende Rechts- und Ordnungssysteme57 aufbauten.58 Ludwig der Bayer nutzte seine Stellung als König konsequent, um sich eine ansehnliche Hausmacht zu erwerben und Territorien an sein Haus zu binden,59 aber wohl auch, um dadurch das Reich zu stärken. Dies setzte bereits nach der Schlacht von Mühldorf ein. Der König belehnte im Jahr 1323 seinen ältesten, damals erst siebenjährigen Sohn Ludwig  V. mit der Mark Brandenburg, die durch das Aussterben der Askanier vakant geworden war, und übertrug ihm auch Pommern.60 Diese Belehnung brachte dem Haus Bayern nicht nur eine weitere 53 1340 Juli 1  : Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) nach Archiven und Bibliotheken geordnet Heft 10  : Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken Mittel- und Oberfrankens, bearb. von M. Eisenzimmer, 2015, Nr. 366, S. 232–236  ; Pfeiffer (wie Anm. 47), Nr. 1, S. 28–30  ; Weinrich (wie Anm. 3), Nr. 90, S. 294–299. 54 Angermeier (wie Anm. 6), S. 168 f. 55 Ebd., S. 163. 56 Ebd., S. 173. 57 Volkert (wie Anm. 24), S. 88. 58 Vgl. Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorien in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, 1975 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 11). 59 Volkert (wie Anm. 24), S. 87–104. 60 Hans Patze, Die Wittelsbacher in der mittelalterlichen Politik Europas, in  : Das Haus Wittelsbach

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Kurstimme ein, sondern bot auch die Option einer Erweiterung seiner Macht in den Nordosten hinein. Ludwig IV. sicherte diesen Besitz durch ein Bündnis mit König Christoph II. von Dänemark, dessen Tochter mit dem jungen Markgrafen verlobt wurde. Durch Erbabreden mit dem Landgrafen von Thüringen wurde die Stoßrichtung von Ludwigs Territorialpolitik in Richtung Nordostdeutschland unterstrichen, was gegen die Luxemburger Interessen gerichtet war und Böhmen von verschiedenen Seiten zu umfassen drohte. Obwohl Kaiser Ludwig den Nordosten nicht persönlich besuchte, vertrat er doch sehr engagiert die Reichsinteressen in dieser Region. Dieses Engagement verdeutlicht auch Ludwigs enges Verhältnis zum Deutschen Orden und die Verleihung Litauens in einer Prunkurkunde an diesen Ritterorden.61 Im Jahr 1337 wurde auf dem linken Memelufer sogar eine »Bayernburg« errichtet, deren Standort dann mehrfach verlegt wurde. Ebenso war in dieser Gegend an die Einrichtung eines Erzbistums Bayern gedacht, beim Angriff gegen die Litauer sollte die Bayernfahne vorausgehen.62 Ludwig der Bayer übte seinen politischen Einfluß im Nordosten ohne persönliche Anwesenheit aus, was man als durchaus modernen Zug seiner Herrschaftspraxis bewerten kann.63 Gleichzeitig griff Ludwig IV. auch in den Nordwesten des Reiches aus. Im August 1323 heiratete er nach dem Tode seiner ersten Gemahlin die älteste Tochter des Grafen Wilhelm III. von Holland-Hennegau Margarete von Hennegau. Damit erwarb er die Anwartschaft auf dessen Grafschaften, durch weitere Eheschließungen wurde dieser Komplex abgesichert. Der Tod seines Schwagers Wilhelm  IV. von Holland-Hennegau ermöglichte Kaiser Ludwig dann, seine Gemahlin Margarete im Jahr 1346 mit den Grafschaften Holland, Seeland und Friesland zu belehnen, was den Wittelsbachern diese Reichslehen bis ins 15. Jahrhundert sicherte.64 Kaiser Ludwig richtete seine Interessen auch auf die Bayern unmittelbar benachbarten Länder. Nach der Aussöhnung mit den Habsburgern intensivierte er und die europäischen Dynastien, 1981, S.  33–79, hier S.  51–54  ; Michael Menzel, Die Wittelsbacher Hausmachterweiterungen in Brandenburg, Tirol und Holland, in  : Deutsches Archiv 61 (2005), S. 103–159, hier S. 107–127. 61 1337 November 15  : Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern (1314–1347) nach Archiven und Biblio­ theken geordnet Heft 8  : Die Urkunden aus den Archiven und Bibliotheken Österreichs, bearb. von J. Wetzel, 2008, Nr. 379, S. 182  ; Doris Bulach, Organisieren von Herrschaft im späten Mittelalter. Ludwig der Bayer und der Nordosten des Reiches, in  : Seibert (wie Anm. 17), S. 263–283, hier S. 271–275. 62 Patze (wie Anm. 60), S. 54 f.; Bulach (wie Anm. 61), S. 275–281. 63 Bulach (wie Anm. 61), S. 283. 64 Menzel (wie Anm. 60), S. 147–154.

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seine Bemühungen um Schwaben. In diesem Raum gelang es ihm, einzelne Besitzungen für sein Haus zu erwerben  : Burg und Reichsstadt Giengen,65 Gundelfingen und diverse Pfandschaften. Er verheiratete seinen Sohn Stephan II. mit Elisabeth von Sizilien, einer Tochter Friedrichs von Aragon (um 1272–1337), des Königs von Sizilien, und damit einer Nachfahrin der Staufer. Herzog Stephan hielt sich häufig in Schwaben auf, sodaß sich die Möglichkeit eines erneuerten Herzogtums abzeichnete, wofür auch das Engagement für die Landfriedenspolitik in diesem Raum spricht. Die Herrschaftsverhältnisse in Tirol und die verschiedenen Ansätze, das Erbe des letzten männlichen Meinhardiners zu erlangen, müssen hier nicht vorgestellt werden. Jedenfalls bot der Hinauswurf ihres luxemburgischen Gatten durch der Regentin von Tirol, die Gräfin Margarete von Tirol-Görz, dem Kaiser die Möglichkeit, in den Süden auszugreifen.66 Margarete Maultasch, die erst später diesen ungalanten Beinamen erhielt, konnte sich dabei auf den Tiroler Adel stützen, wohl auch auf das geheime Einvernehmen Ludwigs des Bayern. Die Tiroler schickten Abgesandte nach München und verabredeten die Eheschließung zwischen Gräfin Margarete und dem ältesten Sohn des Kaisers, Ludwig dem Brandenburger. Unter Vernachlässigung kirchenrechtlicher und politischer Probleme förderte Ludwig diesen Plan nachdrücklich, der Markgraf beschwor die Einhaltung der Landesrechte.67 Nach der Hochzeit erteilte der Kaiser im Februar 1342 seinem Sohn und der Gräfin Margarete die Belehnung mit Tirol.68 Damit waren ein Territorium des alten Stammesherzogtums an Bayern zurückgekommen und gleichzeitig die Wege nach Italien gesichert. Negativ wirkte sich allerdings der Bruch des Kirchenrechts durch die Ehe wie die Gegnerschaft der Luxemburger und auch der Habsburger aus. Ludwig der Bayer verfolgte eine das ganze Reich umspannende Hausmachtpolitik, wobei er bedenkenlos alle sich bietenden Chancen ergriff. Seine Vorgänger Albrecht I. und Heinrich VII. hatten noch formal auf ihre Hausmacht verzichtet und diese ihren Söhnen als Lehen übergeben, um zu verdeutlichen, daß der König vom Reichsgut leben solle.69 Ludwig der Bayer übertrug seinen Hausbesitz 1334 auf seine Söhne,70 bemühte sich aber nach wie vor um eine 65 Vgl. 1332 September 16  : Regesten Kaiser Ludwigs des Bayern 5 (wie Anm. 49), Nr. 167, S. 80. 66 Menzel (wie Anm. 60), S. 127–147. 67 Ebd., S. 144. 68 Ebd., S. 145. 69 Thomas (wie Anm. 33), S. 157 f. 70 1334 Juni 23  : Johann Friedrich Böhmer, Urkunden Kaiser Ludwigs des Baiern, König Friedrichs des Schönen und König Johanns von Böhmen. Nebst einer Auswahl der Briefe und Bullen der Päbste und anderer Urkunden in Auszügen, in  : RI, 1839, Nr. 1625, S. 101.

Kaiser, Reich und Landesfürstentum – die Epoche Ludwigs des Bayern 

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Erweiterung seiner Hausmacht, die er als Basis seiner Königsherrschaft nutzte. Durch seine mit großem Nachdruck betriebene Hausmachtpolitik isolierte sich Ludwig der Bayer aber und verspielte die Chance, das Königtum den Wittelsbachern erblich zu bewahren. V. Regionalismus in der Epoche Ludwigs des Bayern

Ludwig der Bayer nutzte seine Position als Reichsoberhaupt, um seine Herrschaft in Bayern zu festigen und eine das ganze Reich bis in den Nordosten und Nordwesten umspannende Hausmachtpolitik zu versuchen. Michael Menzel plädiert dafür, das Selbstverständnis des Königs, Sachwalter einer übergeordneten Integrationsinstanz zu sein, ernst zu nehmen.71 Die Kurfürsten zogen dagegen ihr Selbstbewußtsein aus ihrer Stellung als Königswähler. Die im Osten in Böhmen und im Südosten in Österreich eingewurzelten Dynastien der Luxemburger und Habsburger verfolgten ebenfalls eigene Interessen und bemühten sich zudem um die Gewinnung der Königskrone. Ein Zusammenwirken von Vertretern der verschiedenen Regionen des Reiches zu gemeinsamen Interessen oder ein Bewußtsein von Föderalismus wird kaum greifbar. Eine gewisse zeitgenössische Einteilung des Reiches nach Regionen wird an erster Stelle bei der Landfriedens­politik deutlich.72 Zum Abschluß wollen wir noch versuchen, einen Blick in staatstheoretische Schriften zu werfen. Nun wirkten am Hofe Ludwigs des Bayern mit Marsilius von Padua und Johannes von Jandun die wohl bedeutendsten Staatstheoretiker seiner Zeit, doch finden sich in ihren Werken keine Antworten auf unsere Fragen. Schon eher könnten wir dies bei einem aus dem Reich stammenden zeitgenössischen Staatstheoretiker erhoffen. Lupold von Bebenburg liefert in seinem Traktat »De iuribus regni et imperii« eine theoretisch vertiefte Grundlage73 für die Rhenser Erklärung.74 Lupold betont, daß der von den Kurfürsten zum 71 Menzel (wie Anm. 60), S. 157. 72 Andere Möglichkeiten bei Michael Menzel, Die Zeit der Entwürfe 1273–1347, 10. Aufl. 2012, S. 32–46. 73 Franz-Reiner Erkens, Herrscher- und Herrschaftsidee nach herrschaftstheoretischen Äußerungen des 14. Jahrhunderts, in  : Seibert (wie Anm. 17), S. 29–61, hier S. 49. 74 Politische Schriften des Lupold von Bebenburg, hrsg. von J. Miethke/C. Flüeler, 2004, hier Tractatus de iuribus regni et imperii, S. 233–409  ; Lupold von Bebenburg. De iuribus regni et imperii. Über die Rechte von Kaiser und Reich, hrsg. von J. Miethke, aus dem Lateinischen übersetzt v. A. Sauter, 2005.

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Römischen König Gewählte allein deshalb den Königstitel ohne päpstliche Approbation führen und die dem Reichsoberhaupt zustehenden Rechte ausüben könne.75 Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Föderalismus oder die Frage nach der Legitimität der Wahlfürsten findet aber nicht statt. Wenn wir nach Elementen des Föderalismus im Untersuchungszeitraum suchen, müssen wir offenbar in die politische Praxis schauen. Auch wenn Ludwig der Bayer als Kaiser Herzog von Bayern blieb und bei seinem Ausgreifen in das Reich bayerische Interessen vertrat und den Bayernnamen bis Litauen gelangen ließ, so spielte für seine Ikonographie der Adler eine stärkere Rolle als der Löwe.76 Bei der Begrüßung des englischen Königs Eduard III. in Koblenz hatte er diesem, wohl als Zeichen seiner eigenen kaiserlichen Macht, einen lebenden Adler überreichen lassen.77 Noch deutlicher soll die Adlersymbolik beim öffentlichen Hoftag in Koblenz geworden sein. Ein chronikalischer Eintrag im Stadtbuch berichtet, daß während der Kaiser am 5. September im Hof von St. Kastor thronte, ein Adler aus dem Osten auf ihn zugeflogen, über ihm in der Luft gekreist und schließlich weiter nach Westen geflogen sei : Eodem tempore, ipso imperatore sic sedente, grandis aquila venit ab oriente et parumper in aere repausavit super locum, ubi imperator sedebat, et statim direxit vias suas in occidentem.78

75 Lupold von Bebenburg (wie Anm. 74), v. a. Kap. 5, 6 und 8. 76 Alois Schmid, Das Motiv des Adlers bei Ludwig dem Bayern, in : Studien zur bayerischen Landesgeschichtsschreibung in Mittelalter und Neuzeit. Festgabe für Andreas Kraus zum 90. Geburtstag, hrsg. von A. Schmid/L. Holzfurtner, 2012, S. 151–183. 77 Schwedler (wie Anm. 1), S. 49. 78 Emil Schaus, Ein Koblenzer Ratsbuch aus dem 14. Jahrhundert, in : Rheinische Heimatblätter 5 (1928), S. 500–502, hier S. 501 ; Schmid (wie Anm. 76), S. 159.

Kaiser, Reich und Landesfürstentum – die Epoche Ludwigs des Bayern

KÖNIGREICH DÄNEMARK

(1324 Ludwig V. „der Brandenburger“ von Oberbayern und Margarete von Dänemark)

Lübeck

FRIESISCHE LANDE Oder

Bremen Elbe Weichsel

Weser

MARKGRAFSCHAFT BRANDENBURG

Brandenburg

GRAFSCHAFT SEELAND

Haag

GRAFSCHAFT HOLLAND KÖNIGREICH POLEN

Elbe

Goslar

(1345 Ludwig VI. „der Römer“ von Oberbayern und Kunigunde von Polen)

MARKGRAFSCHAFT LAUSITZ

Halberstadt

(zu Brandenburg)

Cottbus

Dortmund

Nordhausen

LAND BAUTZEN Maas

Mühlhausen

Rhein

(zu Böhmen)

Leipzig

Saale

Köln

Breslau (Wroclaw)

FÜRSTENTUM BRESL BRESLAU

Meißen

(zu Meißen)

Eisenach Werra

(1324 Otto IV IV. von Niederbayern Ricarda von Jülich)

LAND GÖLITZ (zu Böhmen)

LANDGRAFSCHAFT LANDGRAF SCHAFT TH THÜRINGEN NGEN

Jülich

GRAFSCHAFT LICH JÜLICH

Aachen

(zu Böhmen)

MARKGRAFSCHAFT GRAFSCHAFT MEISSEN

(1323 Mechthild von Oberbayern und Markgraf Friedrich II. von Meißen)

Erfurt

HERZOGTUM SCHLESIEN-SCHWEIDNITZ Schweidnitz (Świdnica)

Fulda

Mons (Bergen)

Wetzlar

GRAFSCHAFT HENNEGAU

Friedberg Elbe

Gelnhausen Frankfurtt Frankfur

FÜRSTENTUM TROPPAU-JÄGERNDORF TROPP -JÄGERNDORF TROPPAU

Prag

Schweinfurt

GRAFSCHAFT LUXEMBURG

(zu Böhmen)

Eger (Cheb)

(in Personalunion mit Böhmen)

Main Oppenheim Regnitz

PFAL PFALZGRA RAFSC FSCHAFT HAFT BEI RHEIN RHEIN PFALZGRAFSCHAFT

Luxemburg

Worms

Mosel Kaiserslautern

Heidelberg Speyer Virten (V (Verdun)

Nürnberg

Rothenburg

Oder

KÖNIGREICH BÖHMEN

OBERPFALZ

(1328 Heinrich XIV. „der Ältere“ von Niederbayern und Margarete von Böhmen)

Windsheim

Moldau

MARKGRAFSCHAFT MÄHREN

Amberg

(zu Böhmen)

Naab

Wimpfen Metz

Landau

Brünn (Brno)

Heilbronn

Rosheim

Regen

Altmühl

Weißenburg Regensburg

Bopfingen

Schwäbisch Gmünd

Neckar Weil der Stadt

Oberehnheim (Obernai)

Dinkelsbühl

Schwäbisch Hall

Weißenburg (Wissembourg)

Hagenau

Tull ull (Toul) (Toul)

Esslingen

Nördlingen Donauwörth

Straßburg Offenburg Of

Donau Landshut

Lech

Reutlingen

Ulm

Schlettstatt (Sélestat)

Türkheim

Biberach

Colmar Buchau

Pfullendorf Überlingen

Rheinfelden

Rhein

Ravensburg Rav ensburg

Schaffhausen

Basel

Konstanz

HABSBURGISCHE VORLANDE

Wangen im Allgäu

HERZOGTUM ÖSTERREICH

(1325 Elisabeth von Niederbayern und Herzog Otto von Österreich) (1328 Heinrich XV XV. „der Jüngere“ von Niederbayern und Anna von Österreich)

Memmingen

Wien

Isar

HERZOGTUM OBERBAYE BA RN BAYE OBERBAYERN

Leutkirch

Salzburg

Kempten

Buchhorn Lindau Iller

(zu Österreich)

St. Gallen

Zürich

Bisanz (Besançon)

Donau

München

Kaufbeuren

Mühlhausen

GRAFSCHAFT ORTENBURG ORTE OR TENB NBUR NB URG UR G

(Agnes von Niederbayern und Heinrich von Ortenburg)

Inn

(zu Österreich)

Rottweil

Münster

HERZ RZOG OGTUM HERZOGTUM NIEDERBAYE BA RN BAYE NIEDERBAYERN

(1339 Anna von Oberbayern und Johann II. von Niederbayern)

Augsburg

MARKGRAFSCHAFT BURGAU

Saar

HERZOGTUM STEIERMARK

Solothurn

(zu Österreich)

Inn

Doubs

Salzach

Innsbruck

GRAFSCHAFT TIROL

Bern

Graz

GRAFSCHAFT GÖRZ

Saône

(1321 Beatrix von Niederbayern und Graf Heinrich III. von Görz) Lienz Meran

Drau

Etsch Rhône

Die Machtbereiche der Luxemburger und Wittelsbacher um 1340. Bergamo

Novara

Vercelli

Mailand

Verona

Crema Pavia

Save

Etsch

Crimona

Po

Po Bobbio

Parma

Reggio Modena

Lucca

Arno

Tiber

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Landfrieden und föderative Ordnung I. Landfriedenswahrung als System kollektiver Sicherheit II. Der Schwäbische Bund als Scharnier der Verfassungsgeschichte III. Bund und Reich – Gemeinsame Herausforderungen der Landfriedenswahrung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

I. Landfriedenswahrung als System kollektiver Sicherheit

Die folgenden Ausführungen möchten eigentlich nur ein Argument entfalten  : Es waren gerade die spezifischen Regelungen zur Landfriedenswahrung im Reich, die föderative1 Verfassungsstrukturen erforderten und verfestigten. Sie entfalteten auch deshalb Nachhaltigkeit, weil Prinzipien föderativer Landfriedenswahrung auf verwandte »sicherheitsrelevante« Problemfelder wie soziale Unruhen, territoriale Expansion und schließlich auch die Konfessionsfrage ausgedehnt wurden.2 Die im Rahmen der Landfriedenswahrung im Reich strukturell bedingte Notwendigkeit, einen Status quo zu definieren und die Stände kollektiv für die Wahrung dieses Status quo in die Pflicht zu nehmen,3 wurde nicht nur 1 Der Begriff föderal wird im Folgenden dort gebraucht, wo auf staatliche Strukturen bzw. Einzelstaaten als Grundlage rekurriert werden kann. Für Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, zumal im Kontext des Alten Reiches, ist dies nicht gegeben, weshalb ich hierfür den Begriff föderativ, der auch nichtstaatliche Organisationsstrukturen adressieren kann, bevorzuge. 2 Für die nachfolgende Argumentation stütze ich mich auf folgende eigene Beiträge  : Horst Carl, Art. »Landfrieden«, in  : Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, 2008, Sp. 493–500  ; ders., Art. »Landfrieden«, in  : HRG, hrsg. von A. Cordes u. a., Bd. 3, 2. Aufl. 2014, Sp. 483–505  ; ders., Landfrieden als Konzept und Realität kollektiver Sicherheit im Heiligen Römischen Reich, in  : Frieden schaffen und sich verteidigen im Mittelalter. Faire la paix et se défendre à la fin du Moyen Âge, hrsg. von G. Naegle, 2012, S. 121–138  ; mit Reinhart Koselleck gibt es einen prominenten Ahnherrn der These, dass die Entwicklung des deutschen Föderalismus ihre historischen Wurzeln in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landfriedenseinungen und Bünden hat  : ders., Art. »Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat«, in  : Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, Bd. 1, 1972, S. 582–671. 3 Dass weniger die Schaffung eines »modernen« Zentralstaates als vielmehr die Reichstände zu einer Leistungsgemeinschaft zu verdichten das zentrale Problem der »Verdichtung« des Reiches um 1500 gewesen ist, hat Peter Moraw immer wieder betont  : ders., Versuch über die Entstehung des Reichstags, in  : Politische Ordnungen und soziale Kräfte im alten Reich, hrsg. von H. Weber, 1980,

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zum föderativen Gegengewicht gegen territoriale Expansion der Mächtigen im Reich, sondern zum fundamentalem Strukturmerkmal des Reiches. Beides bedingte sich wechselseitig  : Ein System kollektiver Sicherheit, das den Status quo favorisierte, schützte die Mindermächtigen und erhielt andererseits damit auch die Komplexität des Reiches aller wachsenden Dysfunktionalität zum Trotz aufrecht.4 Die föderativen Strukturelemente des Alten Reiches zählen folglich zu den Grundlagen der föderalen Entwicklung der späteren deutschen Geschichte. »Landfrieden« bezeichnet seit dem Mittelalter eine auf Gewaltverzicht gegründete, räumlich organisierte und in der Regel zeitlich befristete weltliche Friedensordnung.5 Frieden soll dabei im Wesentlichen dadurch erreicht und gewahrt werden, dass anstelle der Selbsthilfe (»Faustrecht«) zur Durchsetzung jeweiliger Rechtsansprüche oder zur Ahndung von Unrecht rechtliche Regelungen und entsprechende Gerichts- oder Schiedsinstanzen verbindlich gemacht werden. Im Unterschied zu den westeuropäischen Monarchien, die in England oder Frankreich ein weitgehendes Fehdeverbot und damit autoritativ den Landfrieden durchzusetzen vermochten, ließ sich im Heiligen Römischen Reich eine wirksame Landfriedensgesetzgebung allein aufgrund königlichen Gebots nicht erfolgreich realisieren. Seit dem 13.  Jahrhundert scheiterten entsprechende Aktivitäten des Königtums, auch wenn am Anspruch, dass die Wahrung des Landfriedens eine genuin königliche bzw. kaiserliche Aufgabe sei, festgehalten wurde. Gerade aufgrund der Aufrechterhaltung dieses Anspruches aber wurde die faktische Friedlosigkeit im Reich immer stärker als Versagen des Königtums in seiner zentralen Aufgabe wahrgenommen und kritisiert. Als Folge wurde zwangsläufig die Friedenswahrung dezentralisiert und regionalisiert, indem sich weltliche Herrschaftsträger – in der Regel befristet  – in Schwureinungen zusammenschlossen, um die interterritoriale Friedenswahrung selbst in die Hand zu nehmen. Landfriedenswahrung wurde deshalb im Reich in Form von Organisationen kollektiver Sicherheit realisiert.6 S. 1–36  ; ders., Art.»Reich I-III«, in  : Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, hrsg. von O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck, 1984, S. 423–456, hier  : S. 455 f. 4 Horst Carl, (Dés)ordres Fédéraux. Réflexions modernistes sur un concept controversé, in  : Francia 44 (2017), S. 123–135. 5 Hendrik Baumbach/Horst Carl, Was ist Landfrieden  ? Und was ist Gegenstand der Landfriedensforschung  ? In  : Landfrieden – epochenübergreifend. Neue Perspektiven der Landfriedensforschung auf Verfassung, Recht, Konflikt, hrsg. von H. Baumbach/H. Carl, 2018, S. 1–49  ; zur älteren Forschung vgl. Hans-Jürgen Becker, Landfrieden I, in  : LexMA, Bd. 5, 1991, Sp. 1657 f.; Ekkehard Kaufmann, Landfrieden  I (Landfriedensgesetzgebung), in  : HRG, Bd.  3, 1979, Sp.  1451–1465  ; Heinz Holzhauer, Landfrieden  II (Landfrieden und Landfriedensbruch), ebd., Sp.  1465–1485  ; Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, 1966. 6 Zur politikwissenschaftlichen Diskussion um die systematische und analytische Tragweite der

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An dieser Stelle also kommen die zahlreichen Einungen (»Schwurgenossenschaften«) im Reich ins Spiel, die das Spätmittelalter prägten. Sie seien hier nicht in extenso aufgefächert, sondern es sei nur daran erinnert, dass es spätestens seit Otto von Gierke eine deutsche verfassungsgeschichtliche Tradition gibt, diese Einungen zur dominierenden Organisationsform im spätmittelalterlichen Heiligen Reich zu stilisieren  – durchaus zeitweilig mit nationalistischen oder besser nationalliberalen Konnotationen.7 Dies ist schon deshalb wenig überzeugend, weil die Stadt als Schwureinung der Bürgergemeinde, Adelsgesellschaften oder Ritterorden, Städtebünde und schließlich auch beschworene Gemeinden, wie sie Peter Blickle zum Modell seiner Kommunalismusthese gemacht hat,8 keine Spezifika der Entwicklung im Reich im 14. und 15.  Jahrhundert waren. Doch sind Formen »konsensualer Herrschaft«9 im spätmittelalterlichen Reich besonders vielfältig und mit Blick auf die Entwicklung in der Frühen Neuzeit zukunftsweisend geworden. Zweifellos kompensierten solche Einungen  – seien es Adels- oder Städtebünde  – gerade im 15.  Jahrhundert strukturelle Schwächen einer noch wenig Kategorie kollektive Sicherheit vgl. Thomas Michael Menk, Gewalt für den Frieden. Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert, 1992. Historiographisch ist vor allem die Schweizer Eidgenossenschaft als bedeutendste Landfriedenseinung des Spätmittelalters mit Hilfe dieser Kategorie beschrieben worden  : William E. Rappard, Cinq siècles de sécurité collective (1291–1798), 1945  ; Andreas Würgler, »The League of Discordant Members« or how the old Swiss Confederation operated and how it managed to survive for so long, in  : The Republican Alternative. The Netherlands and Switzerland compared, hrsg. von A. Holenstein/T. Maissen, M. Prak, 2008, S. 29–50, hier S. 36  ; Volker Press wiederum hat den Schwäbischen Bund als bedeutendste Landfriedenseinung in der Geschichte des Reiches mit dieser Kategorie beschrieben  : ders., Die Bundespläne Karls V. und die Reichsverfassung, in  : ders., Das Alte Reich. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von J. Kunisch, unter Mitarbeit v. H. Carl u. a., 1997, S. 67–127, hier  : S. 70, 111  ; als »Sicherheitssysteme« beschreibt auch Maximilian Lanzinner die frühneuzeitlichen Bünde im Reich  : ders., Ein Sicherheitssystem zwischen Mittelalter und Neuzeit  : die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich, in  : Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation, hrsg. von C. Kampmann/U. Niggemann, 2013, S. 99–119. 7 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868–1913  ; zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung vgl. Otto Gerhard Oexle, Otto von Gierkes »Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft«. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation, in  : Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hrsg. von N. Hammerstein, 1988, S. 193–217. 8 Peter Blickle, Kommunalismus – Begriffsbildung in heuristischer Absicht, in  : Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa  : Ein struktureller Vergleich, hrsg. von ders., 1991, S. 5–38  ; ders., Kommunalismus, 2 Bde., 2000. 9 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in  : Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hrsg. von P.-J. Heinig u. a., 2000, S. 53–87.

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verdichteten Reichsverfassung oder nutzten regionale Freiräume, die sich aufgrund schwacher oder konkurrierender fürstlicher Herrschaften ergaben.10 Eine strikte Opposition zur Herrschaftspraxis der Mächtigeren lag gleichwohl nicht vor, denn die Übergänge von adeligen Einungen zur landständischen Repräsentation waren häufig fließend. Vielfach basierten die landständischen Repräsentationsformen in den Territorien des Reiches auf früheren Einungen des Adels. Im Reich selbst wiederum trugen Einungen entscheidend zur »Verdichtung« politischer Kommunikation im Reich bei.11 Das prominenteste und wichtigste Beispiel dafür ist die exklusive Kurfürsteneinung, die mit der Goldenen Bulle von 1356 zur tragenden Säule der politischen Ordnung des Reiches avancierte. Aber auch die anderen Einungen des Adels erlangten in der Folgezeit reichsrechtliche Legitimation  : Nachdem die Goldene Bulle 1356 zunächst mit Ausnahme der Kurfürsten andere Adelseinungen noch prinzipiell verboten hatte, weil sie nicht dem Landfrieden dienten  – was faktisch zweifellos seine Richtigkeit hatte  –, wurden im Gefolge der Appenzellerkriege 1406 erstmals Adelsbünde vom König legitimiert. 1422 wurde diese reichsrechtliche Legitimation dann mit einem Privileg König Sigismunds auf alle Adelseinungen ausgedehnt, soweit sie sich dem Schutz des Landfriedens verpflichteten. In der Realität blieb dies zwar häufig deklaratorisch, aber es entwickelte sich damit im Reich eine Tradition, Einungen – und gerade auch Adelseinungen – als reichsrechtlich legitimierte Form der organisierten Friedenswahrung und sicherung anzuerkennen.12 Unabhängig von der ständischen Zusammensetzung funktionierte ein Landfriedensbund als ein System kollektiver Sicherheit in Form einer Schwur­

10 Einen problemorientierten – und kritischen – Überblick bietet Peter Moraw, Die Funktion von Einungen und Bünden im spätmittelalterlichen Reich, in  : Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit, hrsg. von V. Press/D. Stievermann, 1995, S. 1–21  ; eine positivere Einschätzung der verfassungsgeschichtlichen Bedeutung im Rahmen des Reiches bei Diemar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 6. Aufl. 2009, S. 111–114. 11 Die sog. Reichsreform um 1500 und die Herausbildung der frühneuzeitlichen Reichsverfassung hat Peter Moraw als weitgehend nichtintentionalen Verdichtungsprozess auf den Begriff gebracht  : ders., Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, 1985. 12 Herbert Obenaus, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St.  Jörgenschild in Schwaben. Untersuchungen über Adel, Einung, Schiedsgericht und Fehde im fünfzehnten Jahrhundert, 1961  ; Horst Carl, Einungen und Bünde. Zur politischen Formierung des Reichsgrafenstandes im 15. und 16. Jahrhundert, in  : Grafen und Herren in Südwestdeutschland vom 12. bis ins 17. Jahrhundert, hrsg. von K. Andermann/C. Joos, 2006, S. 97–118.

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einung. Es war gleichsam eine »Verschwörung zum Frieden«,13 um das Fehdewesen14 überflüssig zu machen und Frieden zu schaffen. Erreicht werden sollte dies dadurch, dass sich alle Mitglieder per Eid auf Verfahren der Friedenssicherung nach innen wie nach außen verpflichteten. Für Konflikte der Mitglieder untereinander wurde eine Schiedsgerichtsbarkeit eingeführt, während der Bund nach außen die Verteidigung seiner Mitglieder in die Hand nahm. Um Geld für solche Kriegsleistungen zur Verfügung zu haben, erstreckte sich die Selbstverpflichtung der Einungsmitglieder auch auf die Finanzierung mittels Beiträgen. Schließlich organisierten die Bundesmitglieder regelmäßige Beratungs- und Entscheidungsgremien in Form eines Bundesrates mit Bundeshauptleuten an der Spitze sowie Bundesversammlungen der Mitglieder.15 Es ist nun weder schwer noch originell, die vielfältigen Bünde und Schwureinungen des Spätmittelalters als eine der Wurzeln der föderalen Entwicklung in Deutschland namhaft zu machen. Schon die Semantik – Bund/föderal – spricht da eine eindeutige Sprache. Und ebenso deutlich ist auch, dass diese Bünde im Zusammenhang und auf der Verfassungsgrundlage des Reiches und seiner immer komplexeren Struktur agierten. Dass dies freilich seit dem Spätmittelalter ein durchaus ambivalentes Verhältnis war, hat niemand anderes als Reinhart Koselleck betont  – in seinem Artikel »Bund« in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«, den er sich ganz bewusst reserviert hat  : Die geschichtlichen Etappen, die das Heilige Römische Reich […] durchlaufen hat, können nur verstanden werden, wenn die Bundes- und Einungsformen der Stände mit einbezogen werden. In gewisser Hinsicht lässt sich die Geschichte des Reiches nur erklären, wenn berücksichtigt wird, wie sehr Einungen, Föderationen und Allianzen das Reich zugleich ausgezehrt und erhalten haben.16

Allerdings lässt sich die Bedeutung dieser Bünde für die weitere deutsche Geschichte zumindest der Frühen Neuzeit nicht nur als Variable der Reichsgeschichte bzw. der Reichsverfassungsgeschichte deklinieren. Im Unterschied zu den westeuropäischen Monarchien, die Landfriedenswahrung und damit auch Staatsbildung in einer zentralistischen Variante realisierten, bleibt ja die Frage zu 13 Otto Gerhard Oexle, Friede durch Verschwörung, in  : Träger und Instrumentarien des Friedens im Hohen und Späten Mittelalter, hrsg. von J. Fried, 1996, S. 114–150. 14 Christine Reinle, Art. »Fehde«, in  : HRG, 2. Aufl. 2007, Sp. 1514–1525 15 Adolf Laufs, Emil Reiling, Art. »Schwäbischer Bund«, in  : HRG, Bd. 4, 1990, Sp. 1551–1557. 16 Koselleck (wie Anm. 2), S. 583.

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klären, inwieweit denn diese Einungen und Bünde ihre tendenziell anspruchsvollere Lösung des Friedens- und Sicherheitsproblems, bei dem viele Akteure organisiert und synchronisiert werden mussten, erfüllt haben.17 II. Der Schwäbische Bund als Scharnier der Verfassungsgeschichte

An dieser Stelle kommt der verfassungsgeschichtlich bedeutendste dieser Landfriedensbünde, der Schwäbische Bund, ins Spiel.18 Auf Initiative Kaiser Friedrichs  III. 1488 gegründet, sollte er zunächst die mindermächtigen Reichsunmittelbaren Schwabens (Adel und Reichsstädte) als habsburgisch-kaiserliche Klientel in Südwestdeutschland organisieren. Aber vom Reichsoberhaupt und dem Konzept einer »kaiserlichen« Organisation emanzipierte sich der Bund rasch, als noch 1488 auch Fürsten hinzustießen. Ab 1500 war dieser ständeübergreifende Landfriedensbund in drei Bänke der Fürsten, der Reichsstädte und des Adels gegliedert, mit einem ortsfesten Schiedsgericht und einem im Reich konkurrenzlosen Militäraufgebot. Sein Einzugsgebiet reichte schließlich in seiner letzten Einungsperiode (1522–1534) von der Kurpfalz bis nach Hessen, Franken und Bayern/Salzburg. Die Mindermächtigen allerdings blieben im Wesentlichen auf Schwaben, das eigentliche Kernland, beschränkt. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung des Bundes lässt sich auf mehreren Ebenen fassen  : 1. Die Tatsache, dass ein Stand 1488 sich – weil reichsunmittelbar – am Bund beteiligte, wurde im Südwesten des Reiches zum Rechtsargument, wenn die Reichsunmittelbarkeit bezweifelt wurde. Dies galt vor allem für den niederen Adel. Die Tatsache, dass dieser aufgrund seiner Mitgliedschaft im Bund erfolgreich seine Reichsunmittelbarkeit reklamierte und rechtsfest behauptete, lässt den Schwäbischen Bund sowohl als Resultat wie auch als Movens der territorialen Vielfalt vor allem im Südwesten des Reiches erscheinen. Damit 17 Horst Carl, Einungen und Bünde, in  : Lesebuch Altes Reich, hrsg. von S. Wendehorst/S. Westphal, 2006, S. 101–106. 18 Ernst Bock, Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen 1488–1534. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichsreform. Neudruck der Ausgabe von 1927 mit Vorrede des Verfassers, 1968  ; Adolf Laufs, Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit, 1968  ; Horst Carl, Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, 2000, S. 21– 148.

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gehört er aber auch ins Ursachengeflecht der Persistenz territorialer Vielfalt als Voraussetzung von Föderalität in Deutschland.19 2. Die verfassungsgeschichtliche Bedeutung des Bundes liegt auch darin, dass in den für die Ausgestaltung der Reichsverfassung wohl entscheidenden Jahre zwischen 1490 und 1500 Kernregionen des Reiches in Form eines traditionellen Landfriedensbundes organisiert wurden. Die Rolle des Schwäbischen Bundes für die Reformen des Wormser Reichstages ist von der älteren Forschung jedoch notorisch ignoriert worden. Die Parallelität mit den Problemen im Reich war dabei evident  : Auch beim Wormser Reichstag 1495 ging es darum, die überbordende Friedlosigkeit in den Griff zu bekommen und dazu die Reichsstände von den Fürsten bis hin zu den Reichsstädten in die Pflicht zu nehmen. Und auch in Worms musste dies einhergehen mit institutionellen Lösungen für eine zentrale Gerichtsbarkeit, die eine gewaltsame Selbsthilfe mittels Fehde obsolet machte, und für eine Finanzierung des Reiches, die die Mittel für Verteidigung und Kriegführung bereitstellte.20 Im Zentrum dieses Verfassungswandels stand folglich der sog. »Ewige Landfrieden«, und an diese Errungenschaft kristallisierten sich die anderen Verfassungslösungen Reichskammergericht und Reichstag an. Dieser »Ewige« – will heißen  : unbefristete – Landfrieden bedurfte der »Exekution«, oder wie es im Reichsabschied hieß, der Handhabung Friedens und Rechts. Bezeichnenderweise war diese Exekution des Landfriedens auch in den Beschlüssen des Wormser Reichstages 1495 dem Wortlaut nach als Einung, als Vereinbarung zwischen König und Ständen und nicht als königliche Setzung formuliert. Die Parallelen zwischen Schwäbischem Bund und den Errungenschaften des Wormser Reichstages von 1495 waren jedoch nicht nur institutionell und funktional. Wir können die Leitfiguren der ständischen Opposition gegen Maximilian identifizieren, weil Maximilian mehrfach im Nachhinein seinem Zorn über sie Luft machte und einige am liebsten aufs Schafott gebracht hätte. Die Personen, die er nannte – Kurfürst Berthold von Henneberg, Herzog Eberhard von Württemberg und Graf Haug von Werdenberg  –, gehörten zugleich auch dem Führungszirkel des Schwäbischen Bundes an,21 Haug von Werdenberg etwa war 1488 der eigentliche Spiritus Rector der Bundesgründung gewesen.

19 Carl (wie Anm. 18), S. 141, 411–414. 20 Ebd., S. 365–390. 21 Ebd., S. 78–80.

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Das »föderale« Argument ist also, dass der 1495 ausgestaltete Verfassungskompromiss zwischen Kaiser und Ständen Traditionen des spätmittelalterlichen Einungswesens aufnahm bzw. im hegelschen Sinne im Reich aufhob. Das Reich war kein Bund, keine Assoziation und ist es auch in der Frühen Neuzeit nicht geworden.22 Dem standen seine Verankerung im Lehenswesen und die Rolle des Kaisers entgegen. Aber es funktionierte, um überleben zu können, doch in wesentlichen Segmenten wie eine Einung der Stände. Es profitierte davon, dass Erfahrungen des Einungswesens in seiner avanciertesten Form – eben in Gestalt des Schwäbischen Bundes – übernommen, integriert und auch fortgeführt wurden. Der entscheidende Vorzug des Reiches und seiner Verfassung gegenüber den Landfriedensbünden ist dabei gewesen, dass das Reich prinzipiell wie der »Ewige Landfrieden« unbefristet war, die Bünde aber – bis auf den eidgenössischen23 – nur befristet. Auch deshalb ist nur in Gestalt der Eidgenossenschaft ein Landfriedensbund staatsbildend geworden. Für die Frage nach den föderalen Wurzeln in der deutschen Geschichte aber ist dies eben kein Gegenargument. Gerade die korporative Verfestigung und damit Dauerhaftigkeit genossenschaftlicher bzw. ständischer Elemente in der Reichsverfassung selbst prägte die Reichsverfassung bis 1806 institutionell und »mental« wesentlich mit, von der Gerichtsbarkeit bis hin zu den Reichskreisen. Und dies reicht allemal dafür aus, auch das Alte Reich für föderale Traditionen der deutschen Geschichte in Anspruch zu nehmen.

22 Deshalb steht die vorliegende Argumentation nicht in Opposition zu Karl Otmar von Aretin, der sich vehement dagegen ausgesprochen hat, das Reich der Frühen Neuzeit insgesamt als »Föderation« zu beschreiben  : ders., The Old Reich  : A Federation or Hierarchical System  ? In  : The Holy Roman Empire 1495–1806, hrsg. von R. J. W. Evans/M. Schlaich/P. H. Wilson, 2011, S. 27–42. Das Problem ist, dass eigentlich kein namhafter Vertreter der neueren Reichsgeschichte eine solch einseitige Position vertritt. Differenziert führt etwa Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, 2006, S. 116–120, die unterschiedlichen Ebenen der Reichsverfassung zusammen. Die wichtigsten neueren Versuche, die Verfassung des Alten Reiches begrifflich zu fassen, Georg Schmidts »Reichsstaat« mit komplementärer Staatlichkeit und Johannes Burkhardts »Doppelstaatlichkeit«, betonen den Mehr­ ebenencharakter der Verfassung des Alten Reiches. Vgl. Georg Schmidt  : Das frühneuzeitliche Reich – Komplementärer Staat und föderative Nation, in  : HZ 273 (2001), S. 371–400  ; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, 2006, S. 40– 45. 23 Zur Eidgenossenschaft als Landfriedenseinung grundlegend Peter Blickle, Friede und Verfassung. Voraussetzungen und Folgen der Eidgenossenschaft von 1291, in  : Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Bd. 1. 1991, S. 5–202.

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III. Bund und Reich – Gemeinsame Herausforderungen der Landfriedenswahrung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

Die Verflechtungen zwischen Bund und Reich lassen sich jedoch nicht nur an den strukturellen Parallelen und institutionellen Transfers im Kontext der sog. Reichsreform verdeutlichen, sie betreffen konkret auch die Praxis der Landfriedenswahrung. Hier war der Schwäbische Bund nicht nur ein Vorläufer von vergleichbaren Regelungen im Reich, er agierte auch vergleichsweise erfolgreich.24 Dies ist umso bemerkenswerter, als neben das Kernproblem der Fehde als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zwei neue Herausforderungen des Landfriedens traten  : die Untertanenunruhen und die Konfessionsproblematik. Beginnen wir den folgenden sehr knappen und summarischen Überblick mit dem Fehdewesen. Wenn man den Schwäbischen Bund daran misst, wie er denn seine eigentliche Aufgabe, die Wahrung bzw. Durchsetzung des Landfriedens gelöst hat, so hängt seine recht positive Einschätzung nicht zuletzt mit seinem teilweise spektakulären Vorgehen gegen den fehdeführenden Adel zusammen. Bei seiner Gründung 1488 galten nicht anders als beim »Ewigen Landfrieden« die allenthalben grassierenden Fehden als größte Herausforderung des Landfriedens. War aber der fehdeführende Adel zur Zeit der Bundesgründung 1488 noch Hauptverursacher der Friedlosigkeit im Reich, so erschien dieses Problem beim Auslaufen des Bundes 1534 weitgehend gelöst. Götz von Berlichingen, der aufgrund Goethes Drama bis heute populärste Vertreter dieser Gattung, fiel 1519 dem Bund in die Hände und wurde durch lebenslange Urfehde neutralisiert.25 Spektakulärer noch war der Strafzug des Bundes 1523 gegen die besonders berüchtigten und aktiven fränkischen Fehderitter, denen der Bund 23 Burgen brach  – und dem fränkischen Fehdeadel damit das Rückgrat.26 Dass 24 Peter Ritzmann, »Plackerey in teutschen Landen«. Untersuchungen zur Fehdetätigkeit des fränkischen Adels im frühen 16. Jahrhundert und ihrer Bekämpfung durch den Schwäbischen Bund und die Reichsstadt Nürnberg, insbesondere am Beispiel des Hans Thomas von Absberg und seiner Auseinandersetzungen mit den Grafen von Oettingen (1520–1531), Diss., 1995  ; Christine Reinle, Fehden und Fehdebekämpfung am Ende des Mittelalters. Überlegungen zum Auseinandertreten von »Frieden« und »Recht« in der politischen Praxis zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Absberg-Fehde, in  : ZHF 30 (2003), S. 355–388. 25 Helgard Ulmschneider, Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben der deutschen Renaissance, 1974, S. 106–132, 171–190. 26 Thomas Steinmetz, Conterfei etlicher Kriegshandlungen von 1523 bis in das 1527 Jar. Zu Burgendarstellungen über die »Absberger Fehde« oder den »Fränkischen Krieg«, in  : Beiträge zur Erforschung des Odenwaldes und seiner Randlandschaften 4 (1986), S. 365–386.

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der Bund hier selbst als Partei in einer Adelsfehde agierte, zeigt freilich, dass das Verhältnis eines Landfriedensbundes zur Fehde nicht zwangsläufig die Fehde als solche negierte.27 Aber entscheidend war, dass in den Auseinandersetzungen mit Götz von Berlichingen und den fränkischen Adeligen die schwäbischen Standesgenossen auf der Seite der Landfriedenseinung standen. Sie identifizierten sich deshalb gerade im Verbund mit den Reichsstädten mit einer Ordnungsmacht, die nicht anders als die Reichsgesetzgebung des »Ewigen Landfriedens« die Selbsthilfe der Fehde obsolet machte. Wenn der Schwäbische Bund jedoch überhaupt für eine politische Tat im kollektiven Gedächtnis der Deutschen haften geblieben ist, dann ist dies die Liquidation der aufständischen Bauern durch sein Heer 1525 unter Führung des Georg Truchsess von Waldburg.28 Dazu muss allerdings etwas weiter ausgeholt werden  : In das Schema eines traditionellen Landfriedensbundes, der Landfriedensbruch entweder bei kriminellen sog. »landschädlichen Leuten« oder eben bei adeligen Fehdegegnern verfolgt, ließen sich aufrührerische Untertanen nur schwer einordnen  ; sie fehlten deshalb auch noch im Kontext des »Ewigen Landfriedens« von 1495 als Problemgruppe, obwohl sich seit den 1470er Jahren die Untertanenunruhen im Reich häuften. Die Herrschenden konnten jedoch ihre Augen nicht vor den immer mehr um sich greifenden Unruhen als Herausforderung für die Friedenssicherung schließen und deshalb kam es 1500 erstmals zur Aufnahme eines gänzlich neuen Artikels in die Bundesordnung des Schwäbischen Bundes.29 Damit die Untertanen nicht gewaltsamen Aufruhr übten, wurde nunmehr deren Gemeinden die Möglichkeit eingeräumt, Klagen gegen ihre Herrschaften vor die Bundesversammlung zu bringen. Diese sollte dann mittels eines Schiedsverfahrens zwischen Herrschaft und Untertanen vermitteln. Die Tätigkeit des Bundes als Schiedsinstanz in Untertanenunruhen blieb durchaus nicht hypothetisch, die beiden bekanntesten Fälle Kempten (1492) und Ochsenhausen (1502) sind etwa von Peter Blickle erforscht worden.30 Am Ende der Auseinandersetzung stand jeweils ein vom Bund garantierter Schiedsvertrag, der den Untertanen in einem entscheidenden Punkt entgegenkam  : Er 27 Horst Carl, Landfriedenseinung und Standessolidarität – Der Schwäbische Bund und die »Raub­ ritter«, in  : Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, hrsg. von C. Roll, 1996, S. 471–492. 28 Peter Blickle, Der Bauernjörg. Feldherr im Bauernkrieg. Georg Truchsess von Waldburg 1488– 1531, 2015. 29 Carl (wie Anm. 18), S. 482–495. 30 Peter Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des Gemeinen Mannes in Oberdeutschland, 1973, S. 322–414.

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fixierte die Herrenrechte und machte deren Übertretung rechts- bzw. sanktionsfähig, sodass die Untertanen bei Verletzungen des garantierten Vertrages an den Bund appellieren und mit Rechtshilfe rechnen konnten. Es erscheint angesichts der Schlächtereien des Bauernkrieges paradox, wenn diese Kontinuitätslinie einer Verbesserung der Stellung der Untertanen durch die bündische Schiedsgerichtsbarkeit bis ins Jahr 1525 gezogen wird. Aber der Weingartner Vertrag, den der Truchsess Georg III. von Waldburg am 17. April 1525 mit den oberschwäbischen Bauern abschloss, gehört in diese Tradition bündischer Schiedstätigkeit. Nimmt man die Zusammensetzung des im Weingartner Vertrag für die Einzelklagen vorgesehenen Schiedsgerichtes, so wurde den Bauern nie ein günstigeres Schiedsgericht zugesprochen, denn dieses bestand nur aus Reichsstädtern, von denen die Bauern mit gutem Grund eine Entscheidung zu ihren Gunsten erhoffen konnten.31 Diese Regelung funktionierte allerdings nur im oberschwäbischen Kernland des Bundes, in dem es keine dominierenden fürstlichen Territorien gab. Schon in Württemberg und mehr noch in Franken ist der Bund im Sinne der Fürsten nur noch als militärische Ordnungsmacht tätig geworden. Wenn die oberschwäbischen Untertanen sich mit dem Weingartner Vertrag jedoch auf die grundlegenden Spielregeln der Landfriedenswahrung durch den Bund einließen, dann hatte dies langfristige Konsequenzen  : Der Rechtsweg schloss bewaffneten Widerstand aus, und das »göttliche Recht« bzw. die reformatorischen Forderungen waren im bündischen Schiedsverfahren nicht verhandelbar, wohl aber die Wahrung eines rechtlich gesicherten Status quo. Auf dieser Grundlage kam eine zutiefst konservative Einigung zustande, die die Bauern gegen eine Verschlechterung ihrer Rechtslage sicherte, zugleich aber auch dafür sorgt, dass Oberschwaben eine altgläubige Region blieb. Es ist dieses Erbe der Verrechtlichung sozialer Konflikte32 unter gleichzeitiger Wahrung des Status quo, das der Landfriedensbund über den Bauernkrieg hinweg an das Reich tradiert hat. Schließlich verweist auch die Problematik konfessioneller Auseinandersetzungen im 16.  Jahrhundert auf die konstitutive Bedeutung der Landfriedenswahrung für das Alte Reich. Bekanntlich versuchten Kaiser und Reich 1521, die 31 Carl (wie Anm. 18), S. 496 f. 32 Winfried Schulze, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in  : Der deutsche Bauernkrieg 1524–1526, hrsg. von H.-U. Wehler, 1975, S. 277–302, hat seine einflussreiche These der Verrechtlichung sozialer Konflikte als Charakteristikum der Rechtskultur des Alten Reiches vor allem an den Untertanenunruhen gegen Ende des 16. Jahrhunderts exemplifiziert. Die älteren Entwicklungen im Südwesten des Reiches, auf denen dieses Vorgehen beruhte, waren ihm offenbar nicht bekannt.

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reformatorische Bewegung als Landfriedensproblem zu interpretieren und mit den repressiven Mitteln des Landfriedensrechts – der Reichsacht – zu bekämpfen. Das Wormser Edikt aber, das Luther und seine Anhänger in die Reichsacht erklärte, funktionierte nicht.33 Doch das Landfriedensrecht beinhaltete auch noch andere Optionen, nämlich den Rechtsweg  : Ab 1524 – also noch bevor dies auf Reichsebene beim Reichskammergericht geschah  – klagten geistliche Fürsten vor Bundesversammlung und Bundesgericht des Schwäbischen Bundes gegen protestantische Mitstände aufgrund reformatorischer Eingriffe in ihre geistlichen Rechte.34 Die altgläubige Mehrheit der Bundesstände argumentierte dabei unter Berufung auf das positive Recht der Landfriedenseinung  : Der Bund beanspruche ja gar keine Entscheidung in der Religionsfrage, weil in einem solchen Landfriedensverfahren doch nur die Kontrahenten wieder auf den Rechtsweg gezwungen werden sollten und nicht vorab mit Gewalt einseitig Fakten schaffen dürften. In den juristischen Verfahrenskategorien des Landfriedensrechts war die religiöse Wahrheitsfrage demnach eine Angelegenheit, die zunächst ausgeklammert werden konnte, weil sie allenfalls in einem späteren Hauptverfahren zur Debatte stand. Aufgabe des Landfriedensbundes war es einzig und allein, Unfrieden und Unsicherheit bzw. Gewaltanwendung vorzubeugen. Dies aber bedeutete bereits, weltliche Friedenswahrung und religiöse Wahrheitsfrage voneinander zu trennen.35 Die Ersten, die nachhaltig die Regelungen des säkularen Landfriedens zur Beilegung der Religionsstreitigkeiten genutzt haben, sind allerdings einmal mehr die eigentlichen Landfriedensexperten, nämlich die Schweizer gewesen. Sie waren auch die Ersten in Europa, die mit einem veritablen Religionskrieg konfrontiert wurden zwischen den altgläubigen inneren Orten und den bereits reformierten Städteorten mit Zürich an der Spitze. Nach einem ersten vergeblichen Anlauf bedurfte es erst der eindeutigen Niederlage der Züricher und des Todes ihres Anführers Zwingli bei Kappel, damit die Kontrahenten 1531 die 33 Armin Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, S. 99–205. 34 Carl (wie Anm. 18), S. 414–422. In der ganz auf die Reichsgerichte fixierten rechtsgeschichtlichen Forschung ist dies nicht beachtet worden, vgl. etwa Bernhard Ruthmann, Religionsprozesse am Reichskammergericht, 1996. 35 Zur Bedeutung der Landfriedensproblematik für die Religionsprozesse liegt immerhin eine neuere Monographie vor  : Tobias Branz, Reformationsprozesse am Reichskammergericht. Zum Verhältnis von Religionsfriedens- und Landfriedensbruchtatbeständen und zur Anwendung der Tatbestände in reichskammergerichtlichen Reformationsprozessen, 2014. Dazu jetzt auch Baumbach/ Carl (wie Anm. 5), S. 23–26.

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gewaltsame Auseinandersetzung beendeten. Der Zweite Kappeler Landfrieden von 1531 war denn auch der erste Religionsfrieden  : Kern der Regelung war, dass die jeweiligen Orte über die Konfession der jeweiligen Untertanen bestimmten  ; nur wo dies nicht möglich war – etwa in den gemeinsam eroberten und regierten sog. Gemeinen Herrschaften –, wurden in Einzelfällen auch gemischtkonfessionelle Gemeinden oder Orte zugelassen. Es war also in Praxis und Logik eine typische Landfriedensregelung, weil Grundlage ja Territorien  – die Eidgenössischen Orte – waren.36 Und wenn ein Landfriedensbund darauf beruhte, dass die vertragschließenden Orte sich jeweils auch ihre Unversehrtheit garantierten und somit die föderative Vielfalt zu einer dauerhaften Ordnung machten, so wurde dies jetzt auf die Konfessionsentscheidungen übertragen. Der Kappeler Landfriede legte einen konfessionellen Status quo fest, der von den Beteiligten nur mehr auf gewaltfreiem Wege geändert werden sollte. Dieser Status quo aber wurde, wie es einer Landfriedenseinung entsprach, territorial definiert und auf die eidgenössischen Orte als Herrschaftsträger bezogen. Genauso funktionierte dann der Augsburger Religionsfrieden von 1555 im Reich, mit dem auch hier die Konsequenzen aus dem Schmalkaldischen Krieg, der wesentlich durch die Konfessionskonflikte provoziert worden war, gezogen wurden. Der Religionsfrieden propagierte Gewaltverzicht in Religionsfragen zwischen den Herrschaftsträgern und fixierte ihn dazu territorial  : Das berühmt-berüchtigte, nachträglich formulierte Cuius regio, eius religio, das den territorialen Obrigkeiten das Reformationsrecht zusprach, unterstrich ja nur, dass es sich letztlich wie bei den Eidgenossen um eine Landfriedensregelung handelte.37 Diese Logik markiert der Augsburger Reichsabschied von 1555 noch dadurch zusätzlich, dass sein Vertragstext zu drei Vierteln aus der neuen Reichsexekutionsordnung bestand, die nunmehr endgültig die Wahrung der Landfriedens im Reich in die Regie der Reichsstände bzw. der Reichskreise übertrug – also Landfrieden und föderative Ordnung explizit miteinander verknüpfte.38

36 Hans-Ulrich Bächtold, Art. »Landfriedensbünde«, in  : Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7 (2014), http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9807.php (letzter Zugriff  : 18.09.2018)  ; Thomas Maissen, Geschichte der Schweiz, 2. Aufl. 2010, S. 89–92  ; Daniela Hacke, Konfession und Kommunikation. Religiöse Koexistenz und Politik in der Alten Eidgenossenschaft. Die Grafschaft Baden 1531–1712, 2017. 37 Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, 2004  ; Olivier Christin, La paix de Religion. L’autonomisation de la raison politique au xvie siècle, 1997  ; David El Kenz, Claire Gantet, Guerres et paix de religion en Europe, xvie et xviie siècles, 2008, S. 54–60. 38 Willoweit (wie Anm. 10), S. 128–134.

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Das Argument, das ich zu entwickeln versucht habe, sei hier noch einmal auf den Punkt gebracht  : Die Wurzel der föderativen Verfassung des Heiligen Römischen Reiches liegt in der Landfriedenswahrung, mithin der Wahrung des inneren Friedens als zentraler Anforderung an Staatlichkeit. Erklärungsbedürftig ist gegenüber erfolgreichen Monarchien wie Frankreich oder England, in denen das Königtum diese Friedenswahrung zu leisten vermochte, wie es die Reichsstände geschafft haben, diese Friedenswahrung kollektiv wahrzunehmen. Das Argument ist  : Sie mussten dies 1495 nicht von Grund auf neu lernen, weil die Landfriedenseinungen ein Repertoire von Praktiken und Regelungen boten, die dann gleichsam ins Reich einwanderten bzw. in die Reichsverfassung integriert worden sind. Das Konzept des Landfriedens im Reich zielte folglich auf Mitarbeit der Reichsstände, es war keine hierarchische oder monarchische Veranstaltung, sondern determinierte das Reich als ein System der kollektiven Sicherheit. Deshalb mussten die Reichsstände in die Pflicht genommen werden, und deshalb war es folgerichtig, wenn nach 1512 die Reichskreise, in denen die regionalen genossenschaftlichen Strukturen des spätmittelalterlichen Reiches fortlebten, mit der Wahrung des Landfriedens betraut wurden. Mit der Reichsexekutionsordnung von 1555 wurde dies auf Dauer institutionalisiert und blieb bis zum Ende des Alten Reiches Grundlage der Landfriedenswahrung.39 Abschließend sei noch ein »hegelianischer« Ausblick gestattet. Die vorliegenden Ausführungen haben den Zusammenhang von Bund und Reich »an sich« präsentiert, doch ließe sich dies auch um die zeitgenössische Reflexion und damit das hegelianische »für sich« ergänzen – dann hätten wir die Wurzeln eines frühneuzeitlichen Föderalismus »an und für sich«. Die Idee, die Reichsgeschichte auf der Grundlage ihrer föderalen Perspektiven zu strukturieren und zu erzählen, hat nämlich durchaus prominente Protagonisten in der Historiographie der Aufklärung.40 So bezeichnete Justus Möser, einer der Wegbereiter eines aufgeklärten Nationaldiskurses der Deutschen, die Kategorie der »Konföderation« als einheitsstiftenden Leitfaden für eine vollständige Reichshistorie, die einzig und alleine in der Naturgeschichte seiner Vereinigung bestehen könne.41 Er konnte sich dabei auf einen bedeutenden Vorläufer beziehen – auf Gottfried Wilhelm Leibniz. Dieser hatte gleichfalls in seinen in den 1670er Jahren teilweise unter Pseudonym er39 Siegrid Westphal, Der Landfrieden am Ende  ? Die Diskussion über den Einfall von Friedrich II. in Kursachsen 1756, in  : Baumbach/Carl (wie Anm. 5), S. 255–280. 40 Zum Folgenden Carl (wie Anm. 4), S. 126 f., 133. 41 Justus Möser, Vorschlag zu einem neuen Plan der Reichsgeschichte (1768), zit. n.Koselleck (wie Anm. 2), S. 664.

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schienenen Schriften an die Tradition der Reichsreformversuche angeknüpft, die auf das Konzept eines Bundes setzten. Dass gerade bündische Organisationsformen für eine Reform des Reiches herhalten sollten, begründete Leibniz dabei historisch  : Marksteine der Reichsverfassungsgeschichte – die Goldene Bulle, die sog. Reichsreform, der Religionsfrieden, schließlich der Westfälische Frieden – seien mit föderativen Mitteln errungen worden.42 Nun gab es auch in der Frühen Neuzeit schon gleichsam geborene Föderalismusexperten  : Die Idee, die Geschichte des Reiches aus einer föderalen Warte zu schreiben, formulierte 1786  –nicht zufällig ein Schweizer  – der Historiker Johannes von Müller  – besonders prononciert. In seiner Schrift zum »Fürstenbund«, dem vielleicht bedeutendsten Beitrag zur späten Debatte um eine Reichsreform, heißt es  : Jede Verfassung, welche eine Erneuerung ihrer Kräfte nötig hat, findet sie am besten in der Natur ihres Grundsatzes […] Die Teutschen haben sich in allen Krisen durch Associationen geholfen […] Unschuldigere, der menschlichen Gesellschaft angemessenere, löblichere Maßregeln als Associationen für Freiheit und Frieden gibt es nicht. Sie sind gemeiniglich ungeschickt sich zu vergrößern  ; das verschiedene Interesse löst sie alsdann auf. Man sieht es an den Schweizern.43

42 Zu den Diskussionen um eine föderale Reichsreform im Gefolge von Leibniz vgl. Wolfgang Burg­ dorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, 1998. 43 Johannes von Müller, Darstellung des Fürstenbundes (Leipzig 1786), in  : ders., Sämtliche Werke, Teil 9, Tübingen 1811, S. 13–310, hier  : S. 100.

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Die Reichskreise als föderale und regionale Elemente der Reichsverfassung (1500–1806) I. Zirkulärer Auftakt II. Aufgaben der Reichskreise – ein föderales Plädoyer? III. Föderal und klein – Kreisstände nach Maß? IV. Das Kreisvotum der Kleinen Bayern V. Schlussgedanke

I. Zirkulärer Auftakt

Die Reichskreise als regionaler Unterbau des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zeichneten sich innerhalb der Staats- und Verfassungsorganisationen in der deutschen wie in der europäischen Geschichte durch eine sehr lange Lebenszeit und damit durch eine anhaltende Wirksamkeit aus. Zugleich wiesen sie, jedenfalls in ihrer Funktion Reichsangelegenheiten nach »unten« zu vermitteln und von den Kreisständen aus zu organisieren, eine föderale Organisationsstruktur auf. Ihre Mitglieder – die Kreisstände – verfügten unter dem gemeinsamen Dach der Kreisverfassung und kreisausschreibender Kanzleiführung über eine begrenzte Eigenständigkeit im Sinne vormoderner Staatlichkeit. Sie konnte und durfte sich allerdings zu keiner staatsrechtlichen Souveränität entwickeln.1 Föderal ist hier ferner nicht im Sinne geschlossener Föderationen zu verstehen, wobei im Kreis der Reichskreise allenfalls an die immer wieder, insbesondere aber nach dem Dreißigjährigen Krieg, ausgebildeten Kreisassoziationen2 zu denken wäre. Diese dienten übrigens nicht nur der militärischen 1 Roland Sturm, Föderalismus in Deutschland, 2001  ; ders., Raumkonzeption in Europa aus poltikwissenschaftlicher Sicht, in  : Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn. Tagung bei der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof, 3.– 5. September 2010, hrsg. von W. Wüst/M. Müller, 2011, S. 73–84  ; Regionen und Föderalismus. 50 Jahre Rheinland-Pfalz, hrsg. von M. Matheus, 1997. 2 Bernd Wunder, Die Erneuerung der Reichsexekutionsordnung und die Kreisassoziationen 1654– 1674, in  : Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 139 (1991), S. 494–502  ; ders., Die Kreis­ assoziationen 1672–1748, in  : Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 128 (1980), S. 167– 266  ; Karl Otmar von Aretin, Die verfassungsrechtliche Stellung der Kreisassoziationen nach 1648.

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Stärkung defensiver Kreis- und Reichsarmeen, sondern sie trugen vor allem auch eine sozialpolitische, seuchen- und krisenpräventive sowie wirtschaftsfördernde Bedeutung.3 Dietmar Willoweit hat auf die föderalen frühneuzeitlichen Verfassungsphänomene  – dabei auch auf die Reichskreise  – wiederholt hingewiesen und sie zugleich durch langjährige Forschungen erheblich differenziert und systematisiert.4 Johannes Burkhardt hat unter dem provokanten Titel »Wer hat Angst vor der ›Kleinstaaterei‹  ?« auf die Eigenarten des deutschen Föderalismus vor 1806 verwiesen.5 Peter Claus Hartmann fokussierte bereits 1997 anlässlich einer von Michael Mattheus organisierten Tagung »Regionen und Föderalismus« zum fünfzigjährigen Bestehen des Bundeslandes Rheinland-Pfalz die historische Rolle des Kurrheinischen und Oberrheinischen Reichskreises für die Ausgestaltung des Föderalismus‹ am Rhein.6 Georg Schmidt hat 1999 in programmatischer Absicht die Rechtsfigur des komplementären Reichs-Staates entworfen, in dem sich auch die Reichskreise als Grenzgänger zwischen Reich und Territorien wiederfanden.7 Der Entwurf konnte keineswegs eine faktische Selbstverständlichkeit sein, da der Historiker und Nationalstaatsdenker Heinrich August Winkler noch 2002 ohne Quellenkenntnis das Konstrukt doppelter Staatsformen im Alten Reich verantwortlich für den deutschen Sonderweg ins 21.  Jahrhundert machte. Er knüpft in der Erklärung des so plötzlich übersteigerten Nationalgefühls an die Polemik des

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Kolloquium im Institut für europäische Geschichte in Mainz, in  : Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 1974, S. 83–85. Rudolf Endres, Wirtschafts- und sozialpolitische Ansätze im Fränkischen Reichskreis, in  : Reichskreis und Territorium  : die Herrschaft über der Herrschaft  ? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, hrsg. von W. Wüst, 2000, S. 179–193. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Studienbuch, 7. erweiterte Aufl. 2013  ; ders., Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, 1975  ; ders., Reich und Staat. Eine deutsche Verfassungsgeschichte, Lizenzausgabe, 2013  ; ders., Landesstaatsrecht als Herrschaftsverfassung des 18. Jahrhunderts, in  : Rechtsgeschichte 19 (2011), S. 333–353.  Johannes Burkhardt, Wer hat Angst vor der »Kleinstaaterei«  ? Grundlagen und Perspektiven des deutschen Föderalismus, in  : Ereignis Weimar-Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, hrsg. von L. Ehrlich/G. Schmidt, 2008, S. 33–46. Peter Claus Hartmann, Regionen in der frühen Neuzeit. Der Kurrheinische und Oberrheinische Reichskreis, in  : Regionen und Föderalismus, hrsg. von M. Mattheus, 1997, S. 31–47. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495– 1806, 1999, S. 40–54.

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19. Jahrhunderts an, als der Publizist Johann Konrad Friedrich 1806 die Lage der Nation noch wie folgt eingeschätzt hatte  : Das Heilige Römische Reich war jetzt ein altes, baufälliges und morsches Gebäude, welches der erste Sturm zusammenstürzen musste, seine mehr als dreihundert Eigentümer [die meisten süddeutschen Territorien zählten dazu] – waren zum Teil gar komische und sonderbare Käuze, besonders die Duodezsouveränchen, von denen fast jeder in seinem Ländchen seine eigenen, oft sehr kostbaren Spielereien hatte. […] Jenes Fürstlein vergeudete die von seinen Untertanen erpressten Gelder mit ausländischen Mätressen, dieses Gräflein und Markgräflein hatte die Soldatenwut […], ein anderer brachte die Einkünfte seines Ländchens mit Theaterbauten, großen Opernvorstellungen und Theaterprinzessinnen durch, wieder ein anderer war ein wütender Nimrod8, stellte ewig Parforce-Jagden9 an, bei denen nicht nur das Wild, sondern auch die armen Teufel von Bauern par force gehetzt wurden.10

Es war also der Nachholbedarf fehlender Souveränität, der uns in die beiden Weltkriege führte. Der lange Schatten des Reiches endete nach Winkler in einer verunglückten Bilanz deutscher Geschichte, an dessen Anfang das Reich gestanden hatte.11 Kein Wunder, dass unter solchen Prämissen die Reichskreise unerwähnt blieben. Verfolgt man aktuelle Diskussionen um Föderales als Hemmschuh für nationalstaatliche und ökonomische Effizienz in Europa, so könnte man auch die Reichskreise für überflüssige Verfassungsinstitutionen halten. In einem Artikel der wirtschaftsliberalen österreichischen Tageszeitung »Die Presse« zum Thema »Föderalismus  ? Bitte mehr davon  !« in den Alpenländern hieß es am 28.  Juli 2013  :   8 Seit Jean Bodin (1530–1596) interpretierte man, unter Berufung auf antike Quellen, die altorientalische Helden- und Königsgestalt des Nimrod als despotischen und tyrannischen Herrscher in der Weltgeschichte.   9 Wolfgang Wüst, Jagen unter den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach  : Höfisches Spektakel, ökonomischer Vorteil oder herrschaftliches Kalkül  ?, in  : Jahrbuch für fränkische Landesgeschichte 68 (2008), S. 93–113. 10 Johann Konrad Friedrich, Denkwürdigkeiten oder Vierzig Jahre aus dem Leben eines Toten, 1978, Bd. 1, S. 68 f. 11 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1  : Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 7.  Aufl. 2010  ; ders., Der lange Schatten des Reiches. Eine Bilanz deutscher Geschichte, in  : Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 56 (2002), S. 221–233, bes. 222.

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Ja, ja, der Föderalismus. Der ist an und für sich schon ganz in Ordnung. Identitätsstiftend, weil Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie hingehören. Ein Kärntner ist eben kein Oberösterreicher und ein Bregenzer kein Kremser. Die regionale Artenvielfalt ist auch einer der Gründe, weshalb die Österreicher die Aufgabenteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ziemlich gut finden. Aber leider, so ist immer öfter zu hören, könne sich ein kleines Land wie Österreich den Föderalismus nicht mehr leisten. Neun Länder, 80 Bezirke und 2357 Gemeinden samt dazugehörenden Verwaltungseinheiten sind für einen Ministaat wie Österreich ein nicht mehr zu bezahlender Luxus. Schließlich gäbe es in Dänemark gerade einmal 98 Gemeinden und außerdem komme das benachbarte Bayern ja auch ohne Bundesländer aus (gerne unterschlagen werden die sieben Regierungsbezirke, die unseren Bundesländern schon recht nahe kommen. Zudem zählt Bayern 71 Landkreise und 2056 Gemeinden). Wer heute modern sein will, denkt in großen Einheiten, Kleinstaaterei ist längst zum Synonym für Kleingeisterei verkommen. Selbst in der Schweiz, dem zu Land gewordenen Föderalismus, finden sich wöchentlich Berichte über geplante Fusionen von Kantonen und Gemeinden. Weshalb es auch höchste Zeit sei, den sündteuren Föderalismus in Österreich zu korrigieren, respektive abzuschaffen.12

Waren – so gesehen – auch die Reichskreise Vorreiter der hier kritisierten mitteleuropäischen Kleinstaaterei und Kleingeisterei  ? Reichskreise begleiteten und bestimmten jedenfalls seit ihrer Gründung während des Augsburger Reichstags im Epochenjahr13 1500 über drei Jahrhunderte die Geschicke der Frühen Neuzeit. 1512 wurde ihre Zahl von sechs auf zehn erhöht. Während des Friedensreichstages von 155514 wurden die Kompetenzen erweitert, nachdem die Reichskreise ursprünglich nur zur Durchführung von Reichsexekutionen, zur Vollstreckung von Urteilen des Reichskammergerichts und zur Wahl der Gerichtsassessoren vorgesehen waren. Die Kreise fungierten lange  ; einige, wie der Fränkische Reichskreis, luden sogar noch nach der Nie12 »Föderalismus  ? Bitte mehr davon  !«, in  : »Die Presse« vom 28.7.2013  ; http://diepresse.com/home/ wirtschaft/economist/supermarkt/1435170/Foederalismus-Bitte-mehr-davon (letzter Zugriff  : 18.09. 2018). 13 Zur Unschärfe historischer Zäsurvorgaben vergleiche am Beispiel des Jahres 1806  : Wolfgang Wüst, 1806 und das Ende des Alten Reiches – ein Schicksals- und Wendejahr in regionaler Per­ spektive  ?, in  : Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag, hrsg. von M. Stadelmann/L. Antipow, 2011, S. 101–115. 14 Peter Claus Hartmann, Der Augsburger Reichstag von 1555 – ein Meilenstein für die Kompetenzerweiterung der Reichskreise, in  : Der Augsburger Religionsfriede 1555  : Ein Epochenereignis und seine regionale Verankerung, hrsg. von W. Wüst/G. Kreuzer/N. Schümann, 2005, S. 29–35.

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derlegung der Kaiserkrone durch Franz  II. am 6.  August 1806 zu letzten Sitzungen. Spätere Staatsgebilde mussten sich zeitlich stärker einschränken. Der Deutsche Bund existierte von 1815 bis 1866, das zweite deutsche Kaiserreich brachte es auf keine fünfzig Jahre, die Republik von Weimar ging nach vierzehn Jahren unter, das »Dritte Reich« nach zwölf, die DDR nach vierzig Jahren und die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihrem Gründungsjahr 1949 noch keine siebzig Jahre alt geworden.15 Die verfassungswirkliche Bedeutung der langlebigen Reichskreise fiel allerdings höchst unterschiedlich aus. In Süddeutschland, wo der föderale Grundsatz auch in den Länderverfassungen des 19. und 20.  Jahrhunderts fest verankert wurde und wo zuvor der territoriale Zuschnitt der meisten Reichsterritorien nicht allzu groß war, entwickelten die Reichskreise in Schwaben, in Franken, am Oberrhein und in Bayern zum Teil erstaunliche Aktivitäten. Der Schwäbische Kreistag konferierte beispielsweise als allgemeiner oder engerer Konvent sowie über Assoziationstage zwischen 1517 und 1804 mindestens 340  Mal.16 Ladungen erfolgten insbesondere auch in Krisen- und Revolutionsjahren, die adäquate zirkuläre Antworten erforderten. Vielversprechend lud das Kreisdirektorium in Konstanz und Stuttgart im Frühjahr 1789 die schwäbischen Kreisstände ins Ulmer Rathaus zum Konvent. In Nördlingen traf dieses Schreiben am 17. Mai ein  : Unsern gnädigen grus zuvor. Veste, fürsichtige, ehrsame und weise, liebe besondere. Da zu berath- und besorgung des kreises innerlichen angelegenheiten abermal erforderlich seyn will, eine allgemeine kreiß-versammlung abzuhalten  ; so haben wir für gut gefunden, solche auf den 23.ten Junii huius anni nach der reichs-stadt Ulm zu vertagen und dabeiliegende deliberanda aufzustellen.17

15 Winfried Becker, Das Heilige Römische Reich der Neuzeit in der Historiographie des 20. Jahrhunderts, vornehmlich in Süddeutschland, in  : Was vom Alten Reich blieb … Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von M. Asche/T. Nicklas/M. Stickler, 2011, S. 63–88, hier  : S. 63. 16 Wolfgang Wüst, Grenzüberschreitende Landesfriedenspolitik  : Maßnahmen gegen Bettler, Gauner und Vaganten, in  : Reichskreis und Territorium  : die Herrschaft über der Herrschaft  ? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise, hrsg. von W. Wüst, 2000, S.  153–178  ; Martin Fimpel, Reichsjustiz und Territorialstaat, Württemberg als Kommissar von Kaiser und Reich im Schwäbischen Kreis, 1648–1806, 1999, S. 593–596. 17 Staatsarchiv (=  StA) Augsburg, Reichsstadt Nördlingen, Münchner Bestand (=  MüB), Nr.  693, Schreiben vom 27.05.1789.

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In abnehmender Arbeitseffektivität folgten dann der Niederrheinisch-Westfälische, der Niedersächsische, der Kurrheinische, der Obersächsische, der Österreichische und schließlich der Burgundische Reichskreis. Die Erforschung der Reichskreise hat in den letzten Jahrzehnten deutlich an Fahrt aufgenommen, nachdem bereits vor dem Ende des Alten Reichs quellenbasierte Überblicksarbeiten erschienen waren. Dazu zählte beispielsweise Martin Zeillers 1660 in Ulm gedruckter »Tractatus de X circulis imperii Romano-Germanici, Oder Von den Zehen deß H. Römischen Teutschen Reichs Kraißen  : darinn nicht allein, welche Stände zu einem jeden derselben gehörig, Sondern auch die Vornemste und Bekanteste in solchen belegene Landschaften, Stätt […] mit eingebracht werden«.18 Udo Gittel,19 Peter Claus Hartmann,20 Nicola Humphreys,21 Ferdinand Magen,22 Michael Müller,23 Markus Nadler,24 Thomas Nicklas,25 Bernhard Sicken26 und Wolfgang Wüst27 sind einige der Autoren und Herausgeber, die in Monographien oder Tagungsbänden unsere Kreiskenntnisse erheblich vertieft und die Befunde regional fokussiert haben. Karl Otmar von Aretin,28 Johannes Burk-

18 Gedruckt  : Ulm (Georg Wild-Eysen) 1660. 19 Udo Gittel, Die Aktivitäten des Niedersächsischen Reichskreises in den Sektoren »Friedenssicherung« und »Policey«, 1996. 20 Peter Claus Hartmann, Der Bayerische Reichskreis (1500 bis 1803). Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches, 1997. 21 Nicola Humphreys, Der Fränkische Kreistag 1650–1740 in kommunikationsgeschichtlicher Perspektive, 2011. Der Dissertationstitel lautete noch  : Netzwerk Reichskreis. Studien zur politischen Kommunikation und zur medialen Außenwirkung der Fränkischen Kreisorganisation 1650–1740. 22 Ferdinand Magen, Reichsexekutive und regionale Selbstverwaltung im späten 18. Jahrhundert. Zu Funktion und Bedeutung der süd- und westdeutschen Reichskreise bei der Handelsregulierung im Reich aus Anlaß der Hungerkrise von 1770/72, 1992. 23 Michael Müller, Die Entwicklung des kurrheinischen Kreises in seiner Verbindung mit dem oberrheinischen Kreis im 18. Jahrhundert, 2008. 24 Markus Nadler  : Der Bayerische Reichskreis im europäischen Konflikt des Dreißigjährigen Krieges, in  : W. Wüst/M. Müller (wie Anm. 1), S. 303–315. 25 Thomas Nicklas, Macht oder Recht. Frühneuzeitliche Politik im Obersächsischen Reichskreis, 2002. 26 Bernhard Sicken, Der Fränkische Reichskreis. Seine Ämter und Einrichtungen im 18. Jahrhundert, 1970. 27 W. Wüst/M. Müller (wie Anm. 1). 28 Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, Bd.  1  : Föderalistische oder hierarchische Ordnung 1648–1684, 1993, S. 148–154.

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hardt,29 Axel Gotthard,30 Peter Claus Hartmann,31 Matthias Schnettger32 und Georg Schmidt33 stehen ferner für die nicht allzu zahlreichen Historiker, die stets auf die Bedeutung der Reichskreise im Zuge der Neubewertung der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte verweisen. Im zirkulären Überblick greift man zudem noch immer auf Winfried Dotzauers Pionierarbeiten zurück. Er legte 1989 und 1998 in zwei Auflagen einen sicher verdienstvollen, aber regional ebenso unausgewogenen wie quellenfernen Überblick zum »Eigenleben« der Reichskreise vor.34 II. Die Aufgaben der Reichskreise – ein föderales Plädoyer?

Die Schaffung dieser Reichskreise war eine überfällige Antwort auf die Ohnmacht von Reich und Ständen in Fragen der Landfriedenswahrung, der Kam29 Johannes Burkhardt, Verfassungsprofil und Leistungsbilanz des Immerwährenden Reichstags. Zur Evaluation einer frühmodernen Institution, in  : Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, hrsg. von H. Duchhardt/M. Schnettger, 1999, S. 151–183  ; Johannes Burkhardt, Wer hat Angst vor den Reichskreisen  ? Problemaufriss und Lösungsvorschlag, in  : W. Wüst/M. Müller (wie Anm. 1), S. 39–60  ; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, 10., völlig neu bearbeitete Aufl. 2006, insbesondere S. 122–132, 188–208. 30 Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, 4. Aufl. 2003, S. 25–28. 31 Peter Claus Hartmann, Die Reichskreise als Regionen des neuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Struktur, Bedeutung und Funktion, in  : Bavaria, Germania, Europa  : Geschichte auf Bayerisch. Katalogbuch zur Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte in Zusammenarbeit mit den Museen der Stadt Regensburg 18.  Mai bis 29.  Oktober 2000, hrsg. von M. Henker 2000, S.  40–45  ; ders., Regionen in der frühen Neuzeit. Der Kur­ rheinische und Oberrheinische Reichskreis, in  : M. Matheus (wie Anm. 1), S. 31–47  ; ders., Zur Bedeutung der Reichskreise für Kaiser und Reich im 18. Jahrhundert, in  : Landesgeschichte und Reichsgeschichte. Festschrift für Alois Gerlich zum 70. Geburtstag, hrsg. von W. Dotzauer, 1995, S. 305–319. 32 Matthias Schnettger, Reichsgeschichte als Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte, in  : Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung  : Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. von M. Hochedlinger/T. Winkelbauer, 2010, S. 229– 242. 33 Georg Schmidt, Neuerscheinungen zur Geschichte der Reichskreise, in  : ZHF 29 (2002), S. 425– 429. 34 Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (1500–1806), 1989  ; ders., Die deutschen Reichskreise (1383–1806). Geschichte und Aktenedition, 1998  ; ders., Schwäbischer und Fränkischer Reichskreis im 16. Jahrhundert, in  : Aufbruch in die Neuzeit. Das nördliche Württemberg im 16. Jahrhundert, hrsg. von P. Schiffer, 2012, S.  23–26  ; Ders, Reichskreise, Oberrheinischer Kreis, die Grafschaft Sponheim und der Kreuznacher Kreistag vom Januar 1649, in  : Landeskundliche Vierteljahrsblätter 45 (1999), S. 53–72.

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mergerichtsorganisation, der Steuer, Bettel,35 Armen- und Münzkontrolle, der Reichsarmeeaushebung, der Gesundheitsfürsorge – sie formierte sich durch die medizinische Policey36 mit Blick auf die Trinkwasserversorgung, dem Schutz vor Seuchen und der Pest  – sowie vieler anderer zentraler Punkte im frühmodernen Zivilisationsprozess. Manches war aber eher Anspruch als alltägliche Praxis. Das Gros der administrativen Tätigkeit lag seit dem 16.  Jahrhundert dann in der zunehmenden Kompetenz kanzleiführender Kreisstände. Diese verfügten in der Kombination mit ihrem territorialen Ämter- und Regierungssystem über neue raumordnende Steuerungsinstrumente. Für dringliche Aufgaben wie den regionalen und überregionalen Straßenbau, die Seuchen- und Verbrechensbekämpfung und die Zoll-, Münz- oder Handelspolitik waren  – gerade im territorial kleinräumigen Süddeutschland  – die Kreisstände vielfach zu »klein«, das Reichsganze aber viel zu »groß«, um praktikable Lösungen zu finden und durchzusetzen. Die Reichskreise hatten, wie im Falle Schwabens mit seinen bis zu vierzig geistlichen37 und sechzig weltlichen Kreisständen, nun genau die »richtige« Größe, um auf zentralen Problemfeldern frühneuzeitlicher Politik zu konsensfähigen Entscheidungen und einem halbwegs verlässlichen Vollzug zu kommen.38 Trotzdem spiegelten die Reichskreise offene Räume wider, die 35 Manfred Rudersdorf, »Das Glück der Bettler«. Justus Möser und die Welt der Armen. Mentalität und soziale Frage im Fürstbistum Osnabrück zwischen Aufklärung und Säkularisation, 1995. 36 Caren Möller, Medizinalpolizei. Die Theorie des staatlichen Gesundheitswesens im 18. und 19.  Jahrhundert, 2005, S.  29 f.; Torsten Grumbach, Kurmainzer Medicinalpolicey 1650–1803, 2006, S. 54–59. 37 Um die grenzüberschreitenden Verbindungen bis weit in die heutige Schweiz innerhalb der Kreisorganisation anzudeuten, seien hier für Schwaben einmal die geistlichen Kreisstände aufgelistet. Die Liste wurde erstellt nach  : Dotzauer (wie Anm. 34), S. 143. Sie zeigt den Stand vor 1648 an  : a) die Bischöfe von Augsburg, Konstanz und Chur  ; b) die Fürstäbte/-pröpste von Kempten, Reichenau, St. Gallen, Weingarten und Ellwangen  ; c) die Äbte von Salmannsweiler, Weißenau, St. Peter im Schwarzwald, Schaffhausen, Petershausen, Einsiedeln, Dissentis, Schussenried, Ochsenhausen, Marchtal, Isny, Ursberg, Gengenbach, Schuttern, St. Blasien, Maulbronn, Stein am Rhein, Kreuzlingen, Pfäffers, St. Johann im Turital, Roggenburg, Königsbronn, Elchingen, Münsterroth und Irsee  ; d) die Äbtissinnen von Lindau, Buchau, Gutenzell, Rottenmünster, Heggbach und Baindt  ; e) die Ordensballei Elsass und Burgund. 38 Vgl. zu den allgemeinen Aufgabenfeldern der Reichskreise  : Michael Müller/Wolfgang Wüst/Regina Hindelang, Eine Themeneinführung, in  : W. Wüst/M. Müller (wie Anm. 1), S. 11–21  ; Marina Heller, Kriminalitätsbekämpfung im Fränkischen Reichskreis  – Grenzüberschreitende Kooperation im Strafvollzug, in  : W. Wüst/M. Müller (wie Anm. 1), S. 413–442  ; Karl Härter, Die Reichskreise als transterritoriale Ordnungs- und Rechtsräume  : Ordnungsnormen, Sicherheitspolitik und Strafverfolgung, in  : W. Wüst/M. Müller (wie Anm. 1), S. 211–249.

Die Reichskreise als föderale und regionale Elemente der Reichsverfassung 

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grenzüberschreitend nach außen und nach innen korrespondierten. Ihr Interaktionsfeld zwischen dem Reichsregiment, den Reichsgerichten und einzelnen Reichsterritorien war an den Konsens der Kreisstände gebunden.39 Somit blieben die Kreise weniger kaiserliche Exekutivorgane als vielmehr supraterritoriale, zugleich auch regionale und föderale Teile der Reichsverfassung. Wie zentral, regional oder föderal das Hebelwerk der Reichskreise war, spiegelt sich – normativ und unmittelbar – in den eigenen Ordnungen wider. Die kreiseigene Ordnungspolitik spielte in Franken eine Schlüsselrolle, sollte doch der dortige Kreistag als einziger unter den zehn Reichskreisen auch eine eigene Policeyordnung verabschieden, die »verainte und verglichne Policey Ordnung« vom 12.  Mai 1572.40 In anderen Reichskreisen wurde zwar in diese Richtung ausgiebig debattiert, doch entschloss man sich entweder für eine Übernahme entsprechender Reichspoliceyordnungen41 oder eine Anlehnung an territoriale Ausführungen.42 In anderen Fällen verwies man auf die Gesetzgebungskompetenz des Reichstags oder anderer reichsständischer Beratungsformen.43 Föderale Konstruktionen ergaben sich aus der Erkenntnis, dass der Reichskreis beispielsweise die Kontrolle des Verbots der Gotteslästerei und des Fluchens (Von gottesschwüren vnd fluchen) dorthin delegierte, wo man täglich damit zu tun hatte. Der Kreis setzte auf das Prinzip der Subsidiarität. Er aktivierte die Pfarrer, die Hausvorstände und die Familien  : Ein jeder pfarrherr solle auch vff den cantzeln/ sein pfarruolck von dem gottslestern vnd schweren abzustehen/ ernstlich vnnd zum treulichsten vormanen/ vnd mit gemainen gebeten/ Gott den allmechtigen bitten helffen/ solch groß vbel der gottslesterung/ vnd schwürn/ von dem christlichen volck abzuwenden.// Die eltern vnd herrschafften sollen bey iren kindern vnd haußgesind/ solches gotslestern nicht gedulden/ sonder 39 Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit. Interdisziplinäres und internationales Symposion zum 100. Band der Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, Irsee 22.–24. November 2007, hrsg. von W. Wüst/G. Kreuzer/D. Petry, 2008. 40 Zur Edition der Ordnung vgl. Wolfgang Wüst, Die gute Policey im fränkischen Reichskreis. Ansätze zu einer überterritorialen Ordnungspolitik in der Frühmoderne. Edition der verainten und verglichnen Policey Ordnung von 1572, in  : Festschrift für Rudolf Endres zum 65. Geburtstag, hrsg. von C. Bühl/P. Fleischmann, 2000, S. 177–199. 41 Matthias Weber, Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition, 2002. 42 Gittel (wie Anm. 19), S. 241–252. 43 Helmut Neuhaus, Von Reichstag(en) zu Reichstag. Reichsständische Beratungsformen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in  : H. Duchhardt/M. Schnettger (wie Anm. 29), S. 135–149.

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mit gepürendem ernst abschaffen. Würde sich aber erfinden/ das die eltern vnd herrschafft/ solchs nachsehen vnnd nit straffen/ vnnd dessen die obrigkeit/ in glaubliche erfarung brechten/ gegen denselben/ solle von dessen obrigkait/ ernstliche leibstraff fürgenommen werden.44

In anderen Fragen fokussierte die Kreisordnung aber überregionale und zen­ trale Maßstäbe für sozialdisziplinierende Standards. Das traf beispielsweise für Einschränkungen allzu üppig garnierter Fest- oder Trauertage, wie Hochzeiten, Kirchweihen, Tauffeiern und Beerdigungen. Der Fränkische Kreis agierte, nachdem vill vnd vbrigs vnkostens/ welcher zu mercklichem nachtheil gemaines nutzs gereicht/ auff hochzeiten/ vnd was denselben anhengig entstanden war. 1572 hieß es  : Aber bey diese Kraiß stenden/ auffgerichten ordnung nach gelegenhait der örter vnd lande/ ein grosse vngleichheit/ mit haltung der heyrat/ hochzeittäge/ malhochzeiten/ vor vnd nachhochzeiten/ ladung der personen/ des schenckens vnd anderm sich ereugend/ vnd in disen jetzterzelten puncten/ ein gleichmessige anstellung von einem jeden stand beschehen soll.45

Ähnliches las man in den Abschnitten Von kindtauffen vnd kindschencken, Von kirchweihen oder Von gastungen.46 III. Föderal und klein – Kreisstände nach Maß?

In der Forschung besteht Konsens darin, dass die Reichskreise in ihrer föderalen Ausrichtung dort am besten funktionierten, wo sie für eine Vielzahl an kleinsten, kleinen und mittleren Reichsterritorien eine politische Plattform und ein Schutzschild gegen Mediatisierung und Fremdbestimmung bildeten. Nach den 1532 in Augsburg gedruckten umfassenden Kreismatrikeln Hernach volgend die Zehen Krayß/ wie vnd auff welliche art die inn das gantz Reych außgethaylt/ vnd im 1532. jar Roͤ m. Kay. Maye. hilff wider den Türcken zů geschickt haben. Auch welliche Staͤ nd in yeden Krayß geherend nach altem herkommen47 steuerten zum Schwä44 Wüst (wie Anm. 40), S. 193. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 194 ff. 47 Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) Z 230  ; National Széchényi Library Budapest, Röpl. 142.

Die Reichskreise als föderale und regionale Elemente der Reichsverfassung 

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bischen Reichskreis nicht weniger als 81 Kreisstände. In Spitzenzeiten waren es über 100 Kreisstände. In den Jahren vor dem Ausscheiden der Reichsprälaten aus dem Kreis lud man noch 88 Stände zu den dann meist in Ulm tagenden Kreiskonventen ein. Darunter befanden sich territoriale Winzlinge wie die Reichsstadt Pfullendorf48 – die Stadt brach erst 1950 die Marke von 3000 Einwohnern – oder die Reichsabteien von Baindt,49 Isny und Söflingen50. Letztere leisteten 1795, um auch die ökonomischen Unterschiede anzusprechen, jährlich 5  Gulden Kreissteuern, während das Herzogtum Württemberg 1400 und die Reichsstadt Ulm noch 370 Gulden einzahlten.51 Im Bayerischen Kreis zählten von den 21 Kreisständen der Stichjahre 1521/32 unter den Krummstabterritorien der Fürstbischof des Hochstifts Freising, der Fürstpropst von Berchtesgaden, die Äbte von Waldsassen, Rott am Inn, Kais(ers)heim und St. Emmeram sowie die Äbtissinnen vom Niedermünster und Obermünster in Regensburg zu den mindermächtigen Reichsherrschaften. Unter den weltlichen Kreisständen blieben die Landgrafen von Leuchtenberg – 1712 fiel die Grafschaft an Bayern zurück –, die Grafen von Haag, die Grafen von Ortenburg, die Freiherren zu Stauff und Ehrenfels, die Herren von Degenberg sowie die von Wolfstein als Freiherrn zu Sulzbürg-Pyrbaum ebenfalls territoriale Winzlinge. Der Reichskreis sicherte ihre föderale Existenz jedenfalls nur so lange, bis der Erb- und lehensrechtliche »Heimfall« ihrer Adelshäuser an die bayerischen Herzöge eintrat.52 Am Ende des 18. Jahrhunderts führten die Kurfürsten dann neun der zwölf Kreisstimmen. Der Fränkische Reichskreis, in dessen Gebiet die zwar vielfach kooperierenden, aber außerhalb der Kreisverfassung stehenden Kantone der Reichsritterschaft53 die regionale Szenerie beherrschten, kam im Stichjahr 1532 immerhin noch auf 24 Mitglieder. Und am Oberrhein – dazu zählten auch Stadt und Hochstift

48 Die Chroniken der Stadt Pfullendorf, hrsg. von J. Groner, 1982  ; Kasimir Walchner, Geschichte der Stadt Pfullendorf vom Jahre 916 bis 1811, 1825.  49 Ursula Riechert, Oberschwäbische Reichsklöster im Beziehungsgeflecht mit Königtum, Adel und Städten (12. bis 15. Jahrhundert). Dargestellt am Beispiel von Weingarten, Weißenau und Baindt, 1986.  50 Karl Suso Frank, Das Klarissenkloster Söflingen. Ein Beitrag zur franziskanischen Ordensgeschichte Süddeutschlands und zur Ulmer Kirchengeschichte, 1980. 51 Fritz Kallenberg, Spätzeit und Ende des Schwäbischen Kreises, in  : Jahrbuch für Geschichte der oberdeutschen Städte 14 (1968), S. 61–95. 52 Dotzauer (wie Anm. 34), S. 180–203. 53 Wolfgang Wüst, Ritterkreis und Reichskreis – Kooperationen für Franken, in  : Adelslandschaften – Korporationen, Kommunikation und aristokratischer Konsens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne. Tagung in Kloster Ettal. 16. bis 18. Februar 2017, hrsg. von W. Wüst, 2018 (im Druck).

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Fulda54  – wies die Matrikel von 1792 noch 58 Mitglieder aus, worunter sich auch die in ihrer Bedeutung stark variierenden Reichsstädte Frankfurt am Main, Friedberg, Speyer, Wetzlar und Worms befanden.55 IV. Das Kreisvotum der kleinen Bayern

Die verfassungsmäßige Bedeutung der Reichskreise soll nun primär nicht an ihren Aufgaben und Themen – in Kreisarchiven56 wurden hierzu seit 1512 ausdifferenzierte Register, die »Extracti actorum circularium«, geführt – gemessen werden. Uns interessieren vielmehr der Arbeitsstil im föderalen Kreisplenum,57 die früh- und vormoderne Redekultur, der Prozess der Konsensfindung in einer Ständegesellschaft, das konkrete Abstimmungsverhalten im regionalen Kreisstand, diplomatische Aktivitäten und die Führungsrolle ausschreibender Kreisstände. Häufiger als in nord- und ostdeutschen Reichskreisen wurden im Süden die Intentionen kleinerer Reichsstände zu Protokoll genommen. Das traf auch im Bayerischen Reichskreis zu, wo ein militärisch gerüsteter Kreisstand, das Herzogtum und mit Maximilian  I. der Kurstaat der Wittelsbacher, eine dominierende Rolle einnahm. Gab es dort so etwas wie eine autoritäre Meinungsführerschaft von wenigen im Konzert der vielen  ? Die Vermutung scheint nicht aus der Luft gegriffen, wenn wir in den Kreisprotokollen das Abstimmungsverhalten kleinerer Territorialmächte überprüfen. Es war auf Unabhängigkeit bedacht, bündelte doch das Haus Wittelsbach in den Konventen nach Gebietserwer54 In Auswahl  : Berthold Jäger, Das geistliche Fürstentum Fulda in der frühen Neuzeit  : Landesherrschaft, Landstände und fürstliche Verwaltung, 1986, ders., Das Hochstift Fulda vor der Säkularisation  : barocke Prägung, katholische Aufklärung, Abgesang geistlicher Herrschaft, in  : »Wachse hoch, Oranien  !«. Auf dem Weg zum ersten König der Niederlande. Wilhelm Friedrich Prinz von Oranien-Nassau als regierender deutscher Fürst 1802–1806. Fulda + Corvey + Dortmund + Weingarten, hrsg. von der Bürgerschaftlichen INITIATIVE, 2013, S. 35–72  ; Alexander Jendorff, »Dem Eisenhut dienen, aber unter dem Bischofshut wohnen«. Niederadel und Landesherrschaft im Hochstift Fulda und im Hessen der Frühen Neuzeit, in  : Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 62 (2012), S. 83–124. 55 Müller (wie Anm. 23). 56 HStA Stuttgart, C 9, Nr. 618, 619, 620, 621  : Extractus actorum circularium, gefertigt aus den Akten von 1512–1718 von Kreisregistrator Bardilin in 4 Bänden nach den einzelnen Schlagworten (unter Zitierung der tomi actorum und der Kreisakten). 57 Peter Claus Hartmann, Die Kreistage des Heiligen Römischen Reiches – Eine Vorform des Parlamentarismus  ? Das Beispiel des Bayerischen Reichskreises (1521–1793), in  : ZHF 19 (1992), S. 29–47  ; Wolfgang Wüst, Nutzlose Debatten  ? – Europäische Vorbilder  ? Die Konvente der süddeutschen Reichskreise als vormoderne Parlamente, in  : Bayern und Europa. Festschrift für Peter Claus Hartmann zum 65. Geburtstag, hrsg. von K. Amann u. a., 2005, S. 225–243.

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bungen gegen Ende des 18.  Jahrhunderts neun der insgesamt zwanzig Kreisstimmen. Die Sitzungsprotokolle sind hierzu überraschend aussagekräftig. Konformes Stimmverhalten galt in Bayern, wo eine Orientierung an den Vota des Direktoriums  – dort waren seit 1555 formal gleichberechtigt Salzburg58 und Bayern – vor allem am übermächtigen Haus Wittelsbach, nach dem bisherigen Forschungsstand durchaus auf der Tagesordnung stand. Wählen wir als Beispiel einen Kreiskonvent am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Im Wasserburger Kreiskonvent59 votierte im November 1648 das kleine Maxlrain, dessen Dynastie genau einhundert Jahre zuvor in den Reichsfreiherrenstand erhoben worden war, wie schon unzählige Male zuvor, wie Churbaÿrn. Auch die ehemalige Reichsgrafschaft Haag60 stimmte inn der haubtsach wie Churbaÿrn.61 Dies konnte nicht verwundern, war die Herrschaft doch nach dem Tod des letzten Grafen von Fraunberg im Jahr 1566 an Bayern gefallen. Rekatholisiert wurde die Grafschaft fortan zwar im Kreis noch als eigenständiges Reichslehen geführt, doch lag Haag im wittelsbachischen Bannkreis. Im Kreiskonvent ging es 1648 um Steuerzahlungen für die Sicherung des Friedens. Auch stand die Reform des am Kriegsende zerrütteten Reichsdefensionswesens an. Zur selben Zeit stimmte dort der Vertreter aus der Herrschaft Ehrenfels, die 1567 an die Pfalzgrafen gefallen war, wie Neuburg. Auch der Gesandte aus Wolfstein, das erst 1673 in den Reichsgrafenstand erhoben worden war, hatte zu dieser Zeit ganz andere Sorgen, als über eine eigenständige Kreispolitik nachzudenken. Der Wolfsteiner meinte in der Abstimmung, er seÿe instruiert dero principaln eüsserist erlittene ruin, vnnd daß sie kheins lebens mittel mehr, mit mehrerem anzuefüehren. Mehr derohalben ein lauters vnmögligkheit, wann mann sie vber daß, waß im friedenschluss begrieffen, grauieren würdte, hoffen, mann werdte ihre quotam auf eine assignation richten, vnnd conformierte sich mit denn maioribus.62 58 Peter Claus Hartmann, Zur Rolle Salzburgs als zweite Führungsmacht des bayerischen Reichskreises im 18. Jahrhundert, in  : Region – Territorium – Nationalstaat – Europa  : Beiträge zu einer europäischen Geschichtslandschaft. Festschrift für Ludwig Hammermayer zum 70. Geburtstag am 7. Oktober 1998, hrsg. von W. D. Gruner, 1998, S. 105–114. 59 Wasserburg am Inn. 60 Stephan M. Janker, Grafschaft Haag, 1996. 61 BayHStA, Kurbayern, Lit 2628/1, Kreistagsprotokoll Wasserburg  : Prothocolla, so auf dem in der churfürstl. statt Wasserburg den 23. nouembris 1648 biß den 15. monatstag aprilis anno 1649 continuierten churbayer. craÿß conuent zusamben getragen worden, hier  : »sessio II« vom 24.11.1648. 62 BayHStA, Kurbayern, Lit 2628/1, Kreistagsprotokoll Wasserburg von 1648/49.

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Schließlich meldete sich auch der Leuchtenberger Kreisvertreter, dessen Herrschaft mit der Residenzstadt Pfreimd zwei Jahre vorher als Reichslehen an Bayern gefallen war, zu Wort. Ohne Instruktion gab man bescheiden zu Protokoll  : Führte ingleichen die ruin selbiger landtgraffschafft ahn, vnnd daß vil lehen vnnd allodial güether dauonn wegkh genohmmen, khönnte derohalben nicht mehr nach der matricul angelegt werdten, sondern daferr, sie nit gahr verschonnt wolten sie doch hoffen, es werdte ihnen eine proportionierte moderation widerfahren, Inn der haubtsach seÿe er nit genuegsamb instruiert, wolle aber ihre Fürstl. Dhrt. [von Bayern] allermaßen er dessen beuelicht, hiruon gehorsamblich berichten.63

In der nämlichen Sitzung vernahm man aber auch anderes. Die Ausrichtung am Votum des kleinen Hochstifts Freising widersprach so ganz dem gewohnten Bild des Stimmenfangs durch das Kurfürstentum. So gab das territorial bescheidene Hochstift Regensburg an  : Zeige mit mehrerem ahn daß ehlendt vnnd ruin selbiges hochstüffts, die schwachheit vnnd leibs indisposition ihrer fürstl. Dhul. vnnd dieselbe khein lebens mittel heten, vberliefferte dem directorio ein verschlossenes schreiben vonn ihrer fürstl. Drhl., in welchem dero ehlendter zuestandt angefüehrt wurdte, batte selbiges zue beobachten. Inn der hauptsach [aber] wie Freising.

Und die Pfalz Neuburg orientierte sich an der Meinungsbildung Salzburgs und Freisings  : Referierte sich auf daß Salzburg. vnnd Freysing. votum, seÿe mit der soldatesca zur tractieren, kheinesweegs instruiert, die ruin der Pfalz Neuburg seÿe bekhannt, daß landt khöndte nichts praestieren, mann exequiere auch wie mann wolle, die vmbligente guarnisonen ligen ihnen noch auf dem hals, heten erst jüngsthin die vorstatt außgeblündert vnnd alles ruiniert, mann hete beÿ der regierung khaum, vnd mit grosser mühe zuesamben bringen khönnen, daß er abgesandte die spesa zur raiß haben mögen, sonsten vielleicht ein mehrere abordtnung geschehen wehre, recommendierte daß landt denn außschreibenten fürsten mit bitt, wo mann dessen beÿ dieser anlag nicht ganz verschonnen wolte, ie dannoch zue verhelffen, daß die guarnisonen auß denn vmbligenten pläzen geheiß mögen genohmmen werdten.64 63 BayHStA, Kurbayern, Lit 2628/1. 64 BayHStA, Kurbayern, Lit 2628/1, Kreistagsprotokoll Wasserburg 1648/49.

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V. Schlussgedanke

Frühmoderne Meinungsbildungsprozesse standen in den letzten Jahren wiederholt im Fokus interdisziplinärer Forschung. Dabei hat sich gezeigt, dass das Ende des Alten Reiches auch in einer zeitlich verlängerten Parlamentstradition keinesfalls die entscheidende Zäsur abgab, die dem Schlüsseljahr 1806 bisher zugedacht wurde.65 Beurteilen wir »vordemokratische« Entscheidungsforen aus der Quellensicht des 17. und 18., weniger des 19. Jahrhunderts, so kommt dem Anteil der Reichskreise bei der Bewertung von Ständekammern und parlamentarischen Frühformen sicher größere Bedeutung zu.

65 Bettina Braun, Das Reich blieb nicht stumm und kalt. Der Untergang des Alten Reiches in der Sicht der Zeitgenossen, in  : Epochenjahr 1806  ?  : Das Ende des Alten Reichs in zeitgenössischen Perspektiven und Deutungen, hrsg. von C. Roll/M. Schnettger, 2008, S. 7–29.

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Deutsche Freiheit statt Monarchisierung Die föderale Einheit im Alten Reich

I. Einführung II. Das reichsständische Mitregiment und die deutsche Freiheit III. Der Religionsfriede und die föderativ-freiheitliche Grundordnung IV. Westfälischer Frieden, Mehrebenenstaat und Freiheitsrechte V. Fazit

I. Einführung

Justus Möser, Osnabrücker Staatsmann, politischer Denker, Dichter und Publizist, gilt als konservativer Anwalt des Lokalen und der ständischen Gesellschaft.1 In seinem Trauerspiel »Arminius« formulierte er 1749 das deutsche Dilemma  : Der deutsche Freiheitsdrang blockiere die nationale und staatliche Einheit. Möser bekämpfte zeitlebens Despotismus und betonte die vertraglichen Grundlagen von Freiheit  ; Konföderationen standen für ihn am Beginn jeder staatlichen Entwicklung. Ein überzeugendes Konzept zur Beschreibung der föderativen Realität im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation fehlte ihm aber ebenso wie den Reichspublizisten, die Aristoteles und dessen Mischverfassungen favorisierten. Da diese seines Erachtens aber auch nicht passten, stufte Samuel Pufendorf das Alte Reich als irregulär und monstro simile ein.2 Johann Jacob Moser fand die eingängige Formel, dass Deutschland auf teutsch regiert werde.3 Das doppelte Regiment des Kaisers und der Reichsstände wurde nur selten in staatenbündischen oder bundesstaatlichen Konstruktionen beschrieben.4 Im 19.  Jahrhundert geriet das Alte Reich, weil es sich nicht zum Nati1 Vgl. auch zum Folgenden Georg Schmidt, Justus Mösers deutsche Republik, in  : Justus Möser im Kontext, hrsg. von M. Siemsen/T. Vogtherr, 2015, S. 3–20. 2 Samuel Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, übers. u. hrsg. von H. Denzer, 1994, S. 197 ff. 3 Johann Jacob Moser, Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt, 1766, S. 550. 4 Vgl. Yvonne Pfannenschmid, Ludolf Hugo (1632–1704). Früher Bundesstaatstheoretiker und Kurhannoverscher Staatsmann, 2005, S. 97–102, 177–201.

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onalstaat fortentwickelt hatte, in Verruf. Das Wilhelminische Kaiserreich, das 1871 aus dem Zusammenschluss deutscher Souveräne entstand, wies zwar Züge eines exekutiven Föderalismus auf,5 entsprach aber den zeitbedingten Vorstellungen eines souveränen und mächtigen Nationalstaates. Möser schien die spätere Marginalisierung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation geahnt zu haben. 1780 empfahl er, dessen Geschichte anders zu erzählen und nicht mehr mit Karl dem Großen oder Otto  I. zu beginnen, sondern mit dem Wormser Reichstag 1495. Die durch Usurpation an die Macht gekommenen Fürsten hätten dort ihre Stellung vertraglich legalisiert, sich mit dem Reichsoberhaupt verbunden, ein zentrales Gericht und wenig später auch Mittel zur Exekution geschaffen, um die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Reformation und Westfälischer Frieden hätten dann die fürstliche Stellung konsolidiert.6 Der Ewige Landfrieden, diese große und glückliche Konföderation, habe das Reich auf eine bessere Basis gestellt, weil jeder Landesherr in deren Schutz sicher habe regieren können. Wahlkapitulationen hätten darüber hinaus die Macht der Kaiser beschränkt und der Reichstag deren Einhaltung kontrolliert. Die Geschichtsschreibung müsse diese Veränderungen berücksichtigen und  : die ganze deutsche Geschichte von der Zeit des Maximilianischen Landfriedens an bis auf die gegenwärtige Stunde […] in eine einzige Darstellung bringen. Solange wir aber den Plan unserer Geschichte auf die eine oder andre Weise nicht zur Einheit erheben, wird dieselbe immer einer Schlange gleichen, die in hundert Stücke zerpeitscht, jeden Theil ihres Körpers der durch ein bisgen Haut mit dem andern zusammen hängt, mit sich fortschleppt.7

In der Phase, als der Reichs-Staat vom deutschen Dualismus zwischen Österreich und Preußen sowie den Souveränitätsbestrebungen der weltlichen Kurfürsten gelähmt wurde und nur noch in den Gebieten mindermächtiger Reichsstände funktionierte, forderte Möser seine historiographische Rettung. Er erinnerte an die föderative staatliche Einheit, die 1495 realisiert, später aber sukzessive zugunsten der Autonomie der Gliedstaaten verändert worden sei. Die Reichs5 Vgl. https://www.juraforum.de/lexikon/exekutivfoederalismus (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 6 Justus Möser, Osnabrückische Geschichte, Vorrede, in  : Justus Mösers Sämtliche Werke, hier Bd. XII/1, 1964, S. 39 f. 7 Justus Möser, Vorschlag zu einem neuen Plan der Reichsgeschichte, in  : Justus Mösers Sämtliche Werke, Bd. VII, 1954, S. 130–133  ; Zitate S. 131 f.

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stände hatten sich ursprünglich mit dem Reichsoberhaupt verbündet, um die staatlichen Defizite des Lehensverbandes zu überwinden, den inneren und äußeren Frieden zu wahren und das stabilisierte Reich gemeinsam zu regieren, ohne den Gliedern ihre Autonomie zu rauben oder Homogenität dort aufzuzwingen, wo sie die Dinge selber regeln konnten und wollten. Bei diesem Gründungsakt wurden keine Rechte übertragen, sondern mit Kaiser und Reich(sständen) entstand eine neue übergeordnete staatliche Ebene, die künftig mit deutlich mehr Nachdruck als zuvor der Kaiser das beanspruchen durfte, was später Souveränität oder heute »Kompetenz-Kompetenz« genannt wird, das Recht auf Normierung mit dem Anspruch auf Gehorsam. Die an sich geniale Lösung krankte aus Mösers Sicht nur daran, dass sich keine deutsche Nation im Sinne eines Staatsvolkes gebildet hatte. Seines Erachtens suchte Friedrich Carl von Moser den »deutschen Nationalgeist« vergeblich.8 Er sei weder bei den Fürsten noch bei Bürgern oder Bauern zu finden. Die Vorstellung einer föderativen Nation,9 die ihre Identität nicht exklusiv an ein politisches Gemeinwesen, eine Ethnie und ein Wertegefüge band, war Möser fremd. Die deutsche Pluralität war für ihn eine Folge der autonomen Stellung der Reichsstände und damit der deutschen Freiheit. Er legte damit die Spur, der später Georg Wilhelm Friedrich Hegel folgte, als er um 1800 den Trieb zur Freiheit dafür verantwortlich machte, dass Deutschland kein Staat mehr sei.10 Die Geschichtsschreibung reduzierte im 19. Jahrhundert die alte deutsche Freiheit auf die (reichs)ständische Libertät und machte diese für die staatliche Zersplitterung und die angebliche politische Ohnmacht des Alten Reiches verantwortlich. Die kleindeutschen Geschichtsbaumeister11 forderten einen einheitlichen und starken Nationalstaat unter preußischer Führung  – nie wieder sollten fremde Mächte auf deutschem Boden ihre Kriege austragen können. Im Zuge des nicht nur mit Blut und Eisen, sondern auch historiographisch erkämpften Bismarck-Reiches wurde die deutsche Freiheit zur freiwilligen Unterwerfung umkodiert und im Ersten Weltkrieg darüber hinaus gegen die westliche Zivilisation und Demokratie in Stellung gebracht.12 Diese Indienstnahme für den Obrigkeitsstaat konter  8 Justus Möser, Von dem deutschen Nationalgeiste, in  : Justus Mösers Sämtliche Werke, Bd.  III, 1986, S. 247–249.   9 Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von D. Langewiesche/G. Schmidt, 2000. 10 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Fragmente einer Kritik der Verfassung Deutschlands, in  : ders., Schriften und Entwürfe, hrsg. von M. Baum/R. Meist, 1998, hier S. 161 und passim. 11 Onno Klopp, Kleindeutsche Geschichtsbaumeister, 1863. 12 Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge von Adolf von Harnack u.  a., hrsg. von Bund deutscher

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karierte die Vorstellungen, die in der Frühen Neuzeit mit der deutschen Freiheit als Leitidee einer nichtmonarchischen, föderativ-freiheitlichen Verfassung und den von ihr ausgehenden Rechten für fast alle Deutschen verbunden waren. Im Folgenden wird deswegen erstens gezeigt, wie sich das reichsständische Mitregiment unter dem Schlagwort deutsche Freiheit etablierte und sich zweitens die föderativ-freiheitliche Grundordnung mit dem Augsburger Religionsfrieden festigte. Diese Ordnung wurde drittens mit dem Westfälischen Frieden in einem Grundgesetz festgeschrieben, das auch dem gemeinen Mann und seiner Frau weitreichende Freiheitsrechte garantierte. Im Fazit wird viertens die alte deutsche Freiheit als historischer Kern des deutschen Föderalismus gewürdigt. II. Das reichsständische Mitregiment und die deutsche Freiheit

Karl  IV. hatte 1356 die Goldene Bulle erlassen, um die Wahl des römischen Königs zu regeln. Maximilian I. verkündete 1495 den Ewigen Landfrieden ausdrücklich mit dem Rat der Kurfürsten und Reichsstände. Diese unterzeichneten die ebenfalls in Worms vereinbarte »Handhabung Friedens und Rechts« sowie die Ordnung des gemeinen Pfennigs. Ihnen wurden die periodische Einberufung des Reichstags und das Recht zugesichert, künftig über Krieg und Frieden mitzubestimmen. Die Regimentsordnung des Jahres 1500 und alle späteren Fundamentalgesetze haben Kaiser und Reichsstände – die Wahlkapitulationen nur die Kurfürsten – ausgehandelt und besiegelt. Fundamentalgesetze und Reichsabschiede besaßen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation die Form von Verträgen. Im Unterschied zu Einungen und Bündnissen galten sie für immer und banden nicht nur die Unterzeichner, sondern alle, die zum Reichs-Staat gehörten und von »Kaiser und Reich« zur Mitwirkung gezwungen werden konnten. Das waren um 1500 in erster Linie die oberdeutschen Stände und die Kurfürsten. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts konnte sich aber auch der deutsche Norden nicht länger entziehen.13 Aus dem Lehensreich war der Reichs-Staat hervorgegangen, ein freiheitlich-föderatives Kernreich, in dem das Gewaltmonopol Gelehrter und Künstler, 1917. Zum Kontext  : Hans Jörg Schmidt, »Die deutsche Freiheit«. Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins, 2010  ; Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und politische Ordnung, 2000, Kapitel »Die deutsche Idee der Freiheit«, S. 133– 157. 13 Vgl. Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, 1984.

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nach innen dezentral von den Reichskreisen ausgeübt wurde.14 Die Inhaber der Reichslehen in Oberitalien, in der Schweiz und in Burgund wollten zu diesem Heilig Reich und Teutsch Nation nicht mehr gehören,15 und sie konnten nicht zur Beteiligung gezwungen werden. Es erscheint müßig, darüber zu streiten, ob an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit ein neues Reich entstand oder das Lehensreich lediglich den veränderten politisch-staatlichen Umständen in Europa angepasst wurde. Entscheidend ist, dass die Reichsstände offiziell ein Mitregiment durchsetzten und gegen alle monarchischen Absichten der Kaiser behaupteten. Der dadurch grundgelegte komplementäre Reichs-Staat war ein Unikum. Die föderierten Stände hatten im engeren Sinn ja keine Rechte an den übergeordneten Verbund abgetreten, sondern sich vertraglich mit dem Kaiser auf eine neue gesamtstaatliche Ebene geeinigt. Nach dem Tod Kaiser Maximilians stand der formierte Reichs-Staat vor seiner ersten Bewährungsprobe. Der künftige Kaiser Karl V. versicherte vor seiner Wahl, die Teutsch nation bey irer freyhait zu handhaben. Er wollte damit signalisieren, die Regierungsform des Reiches zu beachten und diese nicht mit Hilfe der spanischen Macht zu monarchisieren. Die Kurfürsten zwangen ihm eine Wahlkapitulation auf. Für das Reich durfte der Kaiser nur mit Zustimmung der Reichsstände, notfalls der Kurfürsten handeln, keinen Reichstag außerhalb deutscher Nation ansetzen, die königlichen und des Reichs Ämter nur mit geborn Tewtschen besetzen, nicht in schwebende Rechtsverfahren eingreifen und nicht versuchen, das Königtum erblich zu machen oder Reichsgesetze mit eigenen Erlassen auszuhebeln.16 Damit waren die normativen Grundlagen des reichsständischen Mitregiments gegenüber dem Kaiser präzisiert, dessen Machtfülle universalmonarchische Vorstellungen provozierten. Die Einführung der Reformation wurde zur Probe aufs Exempel. Ulrich von Hutten lobte 1519 den jungen Kaiser panegyrisch als den widerbringer [der] teütschen freyheit. Dieser Begriff wurde zur Parole, obwohl die damit verbundene Erwartung ein uneingelöster Wechsel blieb. Der Reichsritter und Humanist ging davon aus, Karl V. werde mit seiner militärischen Macht Rom und die Welschen in die Schranken weisen. Er propagierte deswegen in enger 14 Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit, 1495– 1806, 1999, bes. S. 33–40. 15 Kaiser und Reich. Klassische Texte und Dokumente zur Verfassungsgeschichte des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation, hrsg. von A. Buschmann, 1984, S. 159. 16 Wolfgang Burgdorf (Bearb.), Die Wahlkapitulationen der römisch-deutschen Könige und Kaiser 1519–1792, 2015, S. 21–32.

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Anlehnung an die »Germanorum Libertas« des Tacitus die deutsche Freiheit als nationale Unabhängigkeit, und er schuf mit dem einst gegen die Römer siegreichen Cheruskerfürsten Arminius den dazu passenden deutschen Freiheitshelden.17 Da dieser verhindert hatte, dass ganz Germanien besetzt worden war, durfte Deutschland, das auch danach nie von einer fremden Macht oder dem eigenen Kaiser vollständig unterworfen worden war, auf seine ursprüngliche Freiheit stolz sein. Auch Martin Luther griff 1520 die »deutsche Freiheit« auf und machte sie zur nationalen Aufgabe.18 Während Hutten aber an einen Kriegszug gegen Rom dachte, zielte der Reformator lediglich auf die geistige Lösung vom Papsttum. Das Wormser Edikt, das 1521 alle kirchlichen Neuerungen verbot, war ein kaiserlicher Erlass mit stillschweigendem Einverständnis der Reichsstände. Diese Form war große Politik. Die Reichsstände gaben Karl V. das Gefühl, dass sein Wille geschehe, und sie vermieden, sich selbst durch eine offizielle Zustimmung zu binden. Die Folgen sind bekannt. Die Reformation breitete sich explosionsartig aus. Die »Sturmjahre« endeten mit dem Bauernkrieg und dem Speyrer Reichstag 1526. Erzherzog Ferdinand und die kaiserlichen Kommissare mussten dort dem von den Reichsständen erarbeiteten dilatorischen Formelkompromiss zustimmen, dass es jeder Reichsstand in Glaubensdingen so halten solle, wie er es gegen Gott und Kaiser hoffet und vertrauet zu verantworten.19 An der Kompetenz-Kompetenz der Ebene Kaiser und Reich in der Glaubensfrage gab es offensichtlich keine Zweifel, eine inhaltliche Verständigung war aber nicht mehr möglich. Der Reichstag als höchstes Entscheidungsgremium delegierte daher den Religionsbann an die einzelnen Reichsstände als Obrigkeiten ihrer Untertanen. Diese hafteten einzeln für ihr Tun und Lassen. Diese Kompetenzübertragung von der gesamtstaatlichen Ebene auf diejenige der Glieder bestätigte die föderative Einheit. Bei prinzipieller Zuständigkeit des Reichs-Staates wurde der christliche Glaube in seinen beiden Varianten nebeneinander legitimiert. Den Reichsständen ermöglichte der Religionsbann jedoch nicht nur, einen einheitlichen Glauben ihrer Untertanen festzulegen, sondern auch, die vielen 17 Georg Schmidt, Die Idee »deutsche Freiheit«. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches, in  : Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), hrsg. von ders. u. a., 2006, S. 159–189, hier S. 161 f. 18 Thomas Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 2014, S. 476 ff. 19 Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede […], Tl. 2, 1747, S. 274.; Armin Kohnle, Reichstag und Reformation. Kaiserliche und ständische Religionspolitik von den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, 2001, bes. S. 260–271.

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unklaren obrigkeitlichen Zuordnungen sukzessive zu bereinigen, denn nun musste ja verbindlich geklärt werden, wer wem zu gehorchen hatte. Landgraf Philipp von Hessen ergriff in den sog. Pack’schen Händeln als Erster die sich bietende Chance zur Abschließung und Abrundung des eigenen Territoriums. Der niedere Adel wurde landsässig oder geriet als Reichsritterschaft unter kaiserliche Kontrolle. Die geistlichen Immunitäten verschwanden in evangelischen Territorien und wurden auch in katholischen stärker als vorher von den weltlichen Fürsten kontrolliert. Bezeichnenderweise argumentierten die protestierenden Stände 1529 in Speyer nicht nur mit ihrem Gewissen, sondern auch verfahrensrechtlich gegen die neuerliche Inkraftsetzung des Wormser Edikts  : Die einhellige Entscheidung eines vorherigen Reichstages dürfe nicht durch einen bloßen Mehrheitsbeschluss aufgehoben werden.20 Karl V. forderte allerdings auf dem folgenden Augsburger Reichstag 1530 ultimativ und in monarchischer Manier die Rückkehr zum katholischen Glauben. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen orientierte sich an Luther und den Wittenberger Theologen, die an das biblische Gehorsamsgebot des Römerbriefes erinnerten und jeden Widerstand gegen den Kaiser als vorgesetzte Obrigkeit ablehnten. In dieser prekären Situation waren es Juristen, die das Evangelium retteten. Mit ihren Gutachten hebelten sie Luthers Gehorsamsforderungen aus und raubten überdies dem Kaiser die Illusion, dass im Reich sein Wille Gesetz sei. Sie machten insbesondere geltend, dass Karl  V. gegen die Reichsverfassung und seine Wahlkapitulation verstoßen habe. Als gewähltes Oberhaupt verfüge er im Unterschied zu den erbrechtlich legitimierten Ständen nur über eine gemessen gewalt. Gott habe auch ihnen das Schwert gegeben, ihre Obrigkeit leite sich nicht von der kaiserlichen ab, sondern sei eigenständig entstanden, und sie besäßen im Reichs-Staat das Mitregiment – und ist der Kaiser kein monarcha.21 Dieser Einwand gegen die monarchische Herrschaft des gewählten Kaisers war neu. Die originäre obrigkeitliche Gewalt der Reichsstände, die von den freien Germanen und von Gottes Gnaden hergeleitet wurde, ignorierte die Lehenshierarchie. Der Kaiser regierte demnach wie der Doge in Venedig das Reich nur als primus inter pares. Das hinter diesen Gutachten stehende Konzept eines aus autonomen Gliedern zusammengesetzten Reichs-Staates, der nur den selbstgegebenen Gesetzen unterworfen war, wurde nun mit dem Schlagwort 20 Die erweiterte Protestation vom 20. April 1529, in  : RTA. Jüngere Reihe, Bd. 7.2, 1935, Nr. 143, S. 1276 f. 21 Anonymes Gutachten, 1530, bei  : Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546, hrsg. von H. Scheible, 1982, S. 69–77, bes. S. 73–76.

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von der deutschen oder ständischen Freiheit begrifflich gefasst und diese nach und nach der Reichsverfassung eingeschrieben. Sie verwies auf eine vage germanisch-deutsche Freiheitskontinuität, die in den Verfassungsverträgen fixierte Machtteilung, freiwillige Steuerleistungen und den in den oberitalienischen Städten republikanisch akzentuierten römischen Libertas-Gedanken.22 Entsprechend diesen Vorgaben wurde nun wiederum Tacitus ins Deutsche übersetzt. Bei Jacob Micyllus heißt es  : Auch haben ire [die germanischen] könig nit aller ding freien gewalt und macht, daß sie thun möchten was sie wollten.23 1531 findet sich mit dem Saalfelder Bündnis erstmals im urkundlich-diplo­ matischen Kontext die neue Formel  : Die Königswahl Ferdinands habe zur verlezigung teutscher freiheit geführt.24 Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen erklärten 1539 die deutsche Nation zum freien Reich  : billig das freieste auf der Welt.25 Sie wiesen alle mit den Ständen nicht abgestimmten Ordnungsansprüche Karls V. zurück.26 Dies wiederholte sich, sobald die Stände monarchische Ambitionen der Kaiser witterten. Die deutsche Freiheit wurde zur überkonfessionellen, überständischen und überregionalen Basis eines als verbindlich angesehenen Regelwerks aus Grundgesetzen und einem dementsprechend interpretierten Herkommen, das den Föderalismus der Exekutiven regelte. Die Reichsstände verfügten damit über ein Muster, um den Reichs-Staat vom Willen des Kaisers zu lösen. Im Umfeld des Schmalkaldischen Kriegs lautete die überaus eingängige Parole »deutsche Freiheit« oder »hispanische Servitut«  – Mitbestimmung der Reichsstände und föderative Einheit oder monarchische bzw. despotische Alleinregierung des Kaisers.27 Der militärische Sieg Karls V. beendete jedoch die 22 Chaim Wirszubski, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, 1967. 23 Zit. n. Dietmar Willoweit, Von der alten deutschen Freiheit. Zur verfassungsgeschichtlichen Bedeutung der Tacitus-Rezeption, in  : Vom normativen Wandel des Politischen, hrsg. von E. V. Heyen, 1984, S. 17–42, hier S. 22. 24 Zit. n. Alfred Kohler, Antihabsburgische Politik in der Epoche Karls V. Die reichsständische Opposition gegen die Wahl Ferdinands I. zum römischen König und gegen die Anerkennung seines Königtums (1524–1534), 1982, S. 234. 25 Friedrich Hortleder, Der Römischen Keyser- und Königlichen Maiesteten, auch des Heiligen Römischen Reichs […] Handlungen und Ausschreiben […] von den Ursachen des Teutschen Kriegs Kaiser Carls des Fünfften […], Bde. 1 u. 2, 2. Aufl. 1645, hier Bd. 1, S. 954. 26 Art. »Republick«, in  : Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 31, Sp. 665. 27 Georg Schmidt, »Teutsche Libertät« oder »Hispanische Servitut«. Deutungsstrategien im Kampf um den evangelischen Glauben und die Reichsverfassung (1546–1552), in  : Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, hrsg. von L. Schorn-Schütte, 2005, S. 166–191.

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freiheitlich-föderative Deutung der Reichsverfassung nur kurzfristig. Der Kaiser scheiterte mit seinen monarchischen Plänen. Seine Pläne zu einem Doppelbund mit den beiden Brennpunkten Brüssel und Wien lehnten alle wichtigeren Reichsstände ab  ; sein Interim, eine kaiserliche Zwangsreligion für die Protestanten, scheiterte nach wenigen Jahren.28 Mit dem zündenden Argument, die Freiheit des Glaubens und der deutschen Nation zu verteidigen, fiel es Kurfürst Moritz von Sachsen 1552 leicht, den wegen seiner monarchischen Attitüden und der mitgeführten spanischen Soldaten inzwischen höchst unbeliebten Karl  V. aus Deutschland zu verdrängen. König Heinrich II. von Frankreich, der Bündnispartner des Kurfürsten, warb in deutscher Sprache offen mit der Parole Libertas, dem Freiheitshut und den beiden Dolchen, den gegen den Kaiser gerichteten Zeichen des Tyrannenmordes. III. Der Religionsfriede und die föderativ-freiheitliche Grundordnung

Der Religionsfrieden wurde 1555 als Teil des erneuerten Landfriedens von den Reichsständen und König Ferdinand einvernehmlich verabschiedet. Er bestätigte die Zuständigkeit des Reichs-Staates und den Religionsbann der Reichsstände,29 die mit Hilfe der Identität bietenden Konfession ihren Untertanenverband vereinheitlichten und festigten. Staatsrechtlich änderte sich nichts. Der Reichs-Staat, vertreten durch König Ferdinand und die Stände, war der oberste Gesetzgeber, der den einzelnen Reichsständen die Kompetenz übertrug, bis zur Beilegung des Religionszwiespaltes das katholische und das Augsburger Bekenntnis für ihren Untertanenverband verbindlich festzulegen und durchzusetzen. Sekten blieben verboten. Dort wo der Reichs-Staat, vertreten durch den Kaiser und die Reichsstände, nicht einigungsfähig war, delegierte er die Entscheidungskompetenz an die andere Ebene autonomer obrigkeitlicher Gewalt. Kaiser und Reich schlossen aber aus, dass die Reichsstände die Entscheidungsbefugnis an nachgeordnete Herrschaftsträger weitergaben. Ausnahmen vom Bekenntnisbann wie die reichsstädtische Parität oder den geistlichen Vorbehalt, der 28 Ders., Der Kampf um Kursachsen, Luthertum und Reichsverfassung (1546–1553) – ein deutscher Freiheitskrieg  ?, in  : Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst, hrsg. von V. Leppin u. a., 2006, S. 55–84  ; Horst Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600  : das Jahrhundert der Glaubensspaltung, 1991, S. 392–461  ; Volker Press, Die Bundespläne Karls V. und die Reichsverfassung, in  : Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von ders. 1997, S. 42–66. 29 Augsburger Reichsabschied 1555, § 15 vgl. Buschmann (wie Anm. 15), S. 224.

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die Geistlichen beim Konfessionswechsel zwang, ihre Herrschaft niederzulegen, regelte der Reichstag selbst und darüber gab es später Streit. Der Bekenntniszwang des Religionsfriedens – später als cuius regio, eius religio auf den Punkt gebracht – hebelte die für den Exekutivföderalismus ansonsten übliche Kontrolle von Herrschaft durch Herrschaft aus, denn er galt ohne Ausnahme auch für die Landstände. Als Ausweg für die Betroffenen, die ihr Gewissen nicht belasten und der Glaubensoption ihrer Obrigkeit nicht folgen wollten, wurde ein ebenso unbedingtes Abzugsrecht ohne zusätzliche Gebühren und unter fairem Umgang mit dem Vermögen als erstes allgemeines Grundrecht (fast) aller Deutschen reichsverfassungsrechtlich vereinbart.30 Das Emigrationsrecht stand nicht zur Disposition der Landesobrigkeiten und war vor den unabhängigen Reichsgerichten einklagbar. Die Untertanen, die nur über geringfügige politische Mitgestaltungsbefugnisse oberhalb der kommunalen Ebene verfügten, profitierten mit dem Abzugsrecht von der deutschen als einer politischen Freiheit. Sie besaßen zudem faktisch weitere allgemeine Freiheitsrechte. Dazu gehörte der ihnen 1526 zugesicherte freie Zugang zu den höchsten Gerichten, der nur noch für Inhaftierte beschränkte freie Zu- und Abzug, das alte Recht auf fremde Solddienste und die hohe Eigentumssicherheit.31 Die protestantischen Stände warfen Karl V. deshalb 1552 vor, er wolle mit weit überzogenen Steuerforderungen unsere alte löbliche Freyheit bei den Ständen, Städten und auch den armen Untertanen schwächen. Nikolaus Mameranus, ein Publizist in kaiserlichen Diensten, griff diesen Vorwurf auf und drehte den Spieß um. Karl V. wolle Deutschland nicht als sein aygentumb beherrschen. Die aufständischen Fürsten versuchten dagegen, die deutsche Nation in die libertet oder freyhait zu bringen, in der sich die französischen Untertanen befänden. Diese könnten über ihr Hab und Gut nur sagen, es ist des Königs und mein, denn der Herrscher könne ihnen jederzeit große Teile davon wegsteuern.32 Noch im 17. Jahrhundert wurde den Freiheitsparolen Ludwigs XIV., der als mächtiger Herrscher seinen Untertanen die volle Handlungsfreiheit garantieren könne, der deutsche Merksatz entgegengestellt  : Frantzösische gerechtigkeit ist ein stets wärender will, jederman des seinigen zu berauben.33 Dass dies nicht als 30 Martin Heckel, Deutsche Geschichte im konfessionellen Zeitalter, 1983, S. 48. 31 Vgl. Dietmar Willoweit, Dominium und Proprietas. Zur Entwicklung des Eigentumsbegriffs in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechtswissenschaft, in  : HJb 94 (1974), S. 131–156. 32 Schmidt (wie Anm. 17), S. 183, hier auch die Zitatnachweise. 33 Zit. n. Franz Bosbach, Der französische Erbfeind. Zu einem deutschen Feindbild im Zeitalter Ludwigs XIV., in  : Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. von ders., 1992, S. 117–139, Zitat S. 132.

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bloße Propaganda abgetan wurde, dafür hatten Gerichtsentscheidungen gesorgt. So verbot das Reichskammergericht Massenausweisungen von Kölner Protestanten, weil bei dem dann übergroßen Angebot die Betroffenen den Preis nicht erzielen könnten, der dem wahren Wert ihrer Güter entspreche.34 Die Münchner Hofräte erinnerten Herzog Maximilian nicht etwa an das Abzugsrecht, als dieser vor dem Dreißigjährigen Krieg die Aus- und Wiedereinreise seiner Untertanen verbieten wollte, sondern pauschal an die libertas Germanorum.35 Die konkreten überständischen, überkonfessionellen und überregionalen Freiheitsrechte, die keine Privilegien für Einzelne oder bestimmte Gruppen waren, zählten zu den Begleitern der deutschen Freiheit. Zusammenfassend urteilte Justus Lipsius 1573, dass andere Völker die Knechtschaft ertragen könnten  : Die Eigenschaft der Deutschen ist die Freiheit.36 Der italienische Publizist Traiano Boccalini warnte die europäischen Herrscher vor der deutschen Freiheit. Die Völker hätten sich Fürsten unterworfen, um dem unträglichen Dienstjoch des unbeständigen wilden Pöfels zu entgehen. Die Deutschen besäßen nun aber die unsterbliche Freiheit. Sie führten keine Kriege, um andere in Dienstbarkeit/davor ihnen selbst grauset/zu zwingen, sondern ließen alle nach ihrer Art frei leben. Welchen größeren Feind könne ein Fürst aber haben als einen, der ihm nach seinem Sieg die Freiheit schenken wolle.37 Bis zum Dreißigjährigen Krieg blieben der Religionsfrieden und das freiheitlich-föderative Gefüge des Reichs-Staates und der deutschen Nation trotz zahlreicher Belastungsproben in Takt. Der Kampf um Böhmen, die Achterklärung Kurfürst Friedrichs V. von der Pfalz sowie die Besetzung und Rekatholisierung der Pfalz durch Maximilian von Bayern und die Spanier mündeten jedoch in den deutschen Krieg, der mit dem Restitutionsedikt Ferdinands II. zusätzlichen konfessionellen Zündstoff erhielt.38 Wie einst Karl V. schien dieser Kaiser den Meister von Teutschland spielen zu wollen,39 um die Gegenreformation zu forcieren und der habsburgischen Universalmonarchie, der Hegemonie über den Kon34 Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555–1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse, 1996, S. 573. 35 Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern, 1573–1651, 1998, S. 301. 36 Zit. n. Alexander Schmidt, Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648), 2007, S. 99. 37 Traiano Boccalini, Politischer Probirstein auß Parnasso. Darauff der fürnemmsten Monarcheyen und Freyen Ständen in der gantzen Welt Regierungen gestrichen/und dern halt zusehen ist, übers. v. C. Besold, 1620, Zitate S. 91–95. 38 Georg Schmidt, Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, 2018. 39 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, 1992, S. 97.

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tinent, einen großen Schritt näherzukommen. Selbst katholische Stände vermuteten, dass vor allem Wallenstein autoritatem Caesaris et statum Monarchicum in Deutschland formieren wolle.40 Dänen, Schweden und Franzosen intervenierten, um die deutsche Freiheit wiederherzustellen, die sie als Garanten ihrer eigenen Sicherheit und Freiheit betrachteten. 1635, als der schwedische Siegeszug vorerst gestoppt war, verständigte sich der Kaiser mit Kurfürst Johann Georg von Sachsen auf den Prager Frieden, der eigentlich eine Reichseinung zum Krieg gegen die Schweden war. Die neuformierte kaiserliche oder des Reichs Armee, der alle Truppen der Reichsstände unterstellt werden sollten, eine enorme hohe Zwangssteuer und das reichsständische Bündnisverbot waren untrügliche Zeichen der monarchischen Pläne Ferdinands  II. Befürworter wie Gegner des Prager Friedens bemühten daraufhin die deutsche Freiheit. Erstere begründeten damit den nationalen Kampf gegen das »ausländische Dominat«  ; letztere beklagten den Verlust ihres Mitregiments. Laut Ludwig Camerarius, dem Leiter des Pfälzer Exilhofes in Den Haag, hatte der Prager Friede libertas Germanicae die gurgel fast abgestochen.41 Der päpstliche Legat Giuseppe di Zongo Ondedei berichtete aus Köln, der Kaiser, mit den Waffen in der Hand, verfügt über das Reich nach seinem Gefallen und gründet auf den Untergang der Fürsten und der Reichsstädte eine freie und unabhängige Monarchie.42 Ferdinand II. wollte die Zentralgewalt stärken, die Schweden besiegen und sich von der deutschen Freiheit befreien. Der innere Frieden blieb jedoch so lange eine Chimäre, so lange kein Konsens über dessen Inhalte erzielt wurde. Kaiser und Kurfürst Johann Georg gingen noch bis 1645 davon aus, dass in Münster und Osnabrück nur über den äußeren Frieden verhandelt werden dürfe, während der innere Friede mit den Prager Bestimmungen lediglich durchgesetzt werden müsse. Schweden, Franzosen und die meisten protestantischen Stände wollten das eine aber nicht länger von dem anderen trennen. Sie strebten die Rückkehr zur machtteilenden politischen Praxis des 16. Jahrhunderts an. Den Schlüssel zum Frieden und zur kollektiven Sicherheit in Mitteleuropa bildete die Wiederherstellung der deutschen Freiheit.

40 Hellmut Diwald, Wallenstein. Eine Biographie, 1987, S. 383. 41 Anton Ernstberger, Ludwig Camerarius und Lukas Friedrich Behaim. Ein politischer Briefwechsel über den Verfall des Reiches, 1961, S. 87. 42 Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 4, hrsg. von B. Roeck, 1996, S. 361.

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IV. Westfälischer Frieden, Mehrebenenstaat und Freiheitsrechte

Der schwedische Gesandte Johan Adler Salvius lud gegen den Willen Kaiser Ferdinands III. 1643 alle evangelischen Reichsstände ein, Gesandte zum Friedenskongress abzuordnen. Schweden und Frankreich wollten die Knechtschaft der Stände und den Entzug ihres Mitregiments nicht länger zulassen. Sie waren der Meinung, dass ihre Sicherheit auf der Freiheit der deutschen Stände beruhe.43 Dies wurde zum Leitmotiv der Verhandlungen über die Reichs- und Religionsverfassung. Die perpetua lex et pragmatica imperii sanctio, das Reichsgrundgesetz »Westfälischer Frieden«, verzichtete 1648 zwar auf den Kampfbegriff »deutsche Freiheit«, bestätigte aber die damit verbundenen Vorstellungen. Den Reichsständen wurde in diesem multilateralen Staatsvertrag zwar nicht die Souveränität, wohl aber das ius superioritatis, die Landesobrigkeit, ihre alten Rechte und das Mitregiment auf der Ebene des Reichs-Staats zugesichert. Sie erhielten das ihnen 1635 genommene Bündnisrecht unter sich und mit Auswärtigen zurück, das sie aber weder gegen den Frieden noch gegen Kaiser und Reich gebrauchen durften. In Angelegenheiten des Reiches sollte nichts geschehen, ohne daß die auf dem Reichstag versammelten Reichsstände freiwillig zugestimmt […] haben.44 Die Landeshoheit der Reichsstände endete nach wie vor dort, wo ihre politische Freiheit zur Mitbestimmung begann, wo sie mit dem Kaiser auf dem Reichstag übergreifende Regeln für den Reichs-Staat setzten, denen auch sie zu gehorchen hatten. Die Souveränität und die Kompetenz-Kompetenz lagen eindeutig auf dieser Ebene. Der Kaiser verlor 1648 keine Rechte, ohne seine Einwilligung gab es keine Reichsgesetze. Der Reichs-Staat wurde zu einem Mittelding zwischen Staatenbund und Bundesstaat. Dies unterschied ihn von föderalen Republiken wie der Eidgenossenschaft oder den Niederlanden. Mit dem Westfälischen Frieden erhielt das freiheitlich-föderative Gefüge komplementärer Mehrebenenstaatlichkeit ein multilateral bestätigtes Grundgesetz. Der Kaiser sowie die Kronen Frankreichs und Schwedens garantierten die Reichsverfassung und schufen zum Schutz der deutschen Freiheit ein kollektives Sicherheitssystem für Mitteleuropa, das der Staatsräson aller Beteiligten entsprach. Auch die Freiheit der Untertanen wurde nicht vergessen. Die Calvinisten, die sich in Deutschland Reformierte nannten, wurden 1648 zusammen mit den Katholiken und den Lutheranern reichsrechtlich anerkannt. Bei konfessionellen Streitigkeiten entschied fortan nicht mehr die Mehrheit auf dem Reichstag, sondern 43 Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 6. Aufl. 1972, S. 115, 176 f. 44 Art VIII § 2 IPO, Buschmann (wie Anm. 15), S. 339.

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Katholiken und Protestanten mussten sich verständigen. Darüber hinaus verzichteten die Reichsstände 1648 auf den Religionsbann, der als Ausnahme nur noch in den habsburgischen Erblanden galt. Die Landeskonfessionen wurden auf dem Stand von 1624 eingefroren, die damals geduldeten anderen Bekenntnisse genossen dauerhaften Bestandsschutz. Grundsätzlich mussten alle Angehörige einer im Reich erlaubten Konfession mit Nachsicht geduldet werden. Sie durften ihren Glauben leben, in ihren Häusern ihre Andachten halten, ihre Kinder entweder in Schulen der Nachbarterritorien oder von Privatlehrern unterrichten lassen und mussten nicht am offiziellen Gottesdienst teilnehmen. Das Diskriminierungsverbot untersagte auch den Ausschluss aus Kaufleutegesellschaften oder Zünften, Erbengemeinschaften, Spitälern oder von öffentlichen Begräbnissen. Diejenigen, deren Bekenntnis 1624 in dem betreffenden Territorium nicht geduldet worden war, durften zwar unter Wahrung einer Frist von zunächst fünf, später drei Jahren nach der ersten Ankündigung ausgewiesen werden, doch ihnen mussten Zeugnisse ihrer Geburt und Abkunft, ihres erlernten Berufes und ihres unbescholtenen Lebenswandels ausgestellt werden. Gebühren dafür waren ebenso untersagt wie obrigkeitliche Eingriffe in ihr Vermögen. Den Ausgewiesenen stand es frei, ihren Besitz zu veräußern oder ihn durch einheimische Verwalter bewirtschaften zu lassen. Zur Aufsicht über ihr Vermögen, zur Führung von Prozessen oder zur Eintreibung von Schulden durften sie jederzeit frei und ohne Geleitbrief zurückkehren.45 Verfassungsrechtlich garantierte Kriminalisierungs- und Diskriminierungsverbote waren ein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Im Sinn der bürgerlichen Freiheit von etwas wurde jeder Bürger und Untertan vor Ein- und Übergriffen der Obrigkeit, des Staates oder der Nachbarn geschützt. Um die Eigentumssicherheit zu wahren, musste das Recht der Freizügigkeit in einer Weise gestärkt werden, die auch heute noch verblüfft. Gottfried Wilhelm Leibniz unterstrich daher zu Recht, dass auch die Nichtherrschenden von der deutschen Freiheit profitierten, und er fragte  : Was ist edler als die Teutsche Freyheit  ?46 Montesquieu erinnerte Europa daran, dass die Freiheit und die Repräsentativverfassung in den Wäldern Germaniens entstanden seien.47 45 IPO Art V §§ 34–37, Buschmann (wie Anm. 15), S. 324 ff. 46 Gottfried Wilhelm Leibniz, Ermahnung an die Deutschen ihren Verstand und Sprache beßer zu üben […], in  : Staatslehre der Frühen Neuzeit, hrsg. von N. Hammerstein, 1995, S. 984–1009, hier S. 988–933, Zitat S. 987. Vgl. Georg Schmidt, Freisein unter Zwang  ? Die alte, die neue und die deutsche Freiheit, in  : Freiheit und Zwang, Studien zu ihrer Interdependenz von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. von D. Fulda u. a., 2018, S. 77–96, hier S. 79 f. 47 Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, übers. u. hrsg. von E. Forsthoff, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 228.

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Die Reichspublizistik und die moderne Geschichtsschreibung haben diese Freiheitsrechte, die zu den Vorläufern des Kanons der Grund- und Menschenrechte zählen, eher beiläufig zur Kenntnis genommen. Sie diskutierten vor allem die Reichsverfassung. Ludolf Hugo folgte 1661 dem Tübinger Juristen Christoph Besold, der schon 1614 zwischen Ober- und Unterstaaten getrennt hatte. Hugo betonte, dass es in Germanien nie Königreiche ohne Freiheit gegeben habe.48 Unseres Erachtens wird unser Reich von einer zwiefachen Regierung geleitet. Denn das gesamte Reich wird durch eine Herrschaft regiert, und auch die einzelnen Territorien, aus denen es zusammengesetzt ist, haben etliche eigene Fürsten oder Magistrate, Gerichte und Landtage, und insoweit ein besonderes, dem übergeordneten Reich untergeordnetes Staatswesen.49

Was vom Reich nicht geregelt sei, stehe zu ihrer freien Disposition. Ihre Territorialhoheit sei der Hoheitsgewalt, der summa potestas, des Reichs analog.50 Hugo deutete das Reich als eine freiheitlich-föderative Ordnung mit bundesstaatlichen Zügen. Dagegen wandte sich Samuel Pufendorf. Er hielt den Kaiser für den allseits anerkannten, wenn auch nicht allein regierenden Oberherrn. Da im Reich nicht alle Untertanen von einem gemeinsamen Willen beherrscht würden, widerspreche es den aristotelischen Kategorien und müsse als irregulär eingestuft werden. Weder der Kaiser, noch der Reichstag, noch die einzelnen Stände seien souverän. Pufendorf lehnte den üblichen Ausweg ab, die summa potestas dem Gemeinwesen zuzuweisen, deren Ausübung aber zu teilen. Er nannte das Reich ein Monstrum, für dessen Sicherheit die Nachbarn sorgen müssten. Diese könnten es nicht dulden – wie sich im Dreißigjährigen Krieg gezeigt habe –, dass einer von ihnen Deutschland unterwerfe. Sie müssten es verteidigen, denn ihnen allen sei daran gelegen, daß das Reich seine unförmige und zum Angriff unfähige Verfassung behalte.51 Die Publizisten und die Reichsstände verteidigten bis in die 1660er Jahre die deutsche Freiheit gegen den eigenen Kaiser. Dann wendete sich das Blatt, denn die Freiheit musste fortan vor den Angriffen der Türken und Ludwigs XIV. 48 Pfannenschmid (wie Anm. 4), S. 131. 49 Ludolf Hugo, Zur Rechtsstellung der Gebietsherrschaften in Deutschland, übers. v. Y. Pfannenschmid, 2005, S. 16. 50 Ebd., S. 37, S. 43 f. und 62 f.; Pfannenschmid (wie Anm. 4), S. 125, 127. 51 Pufendorf (wie Anm. 2), S. 197 ff., 217 ff.

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geschützt werden.52 Es blieb jedoch bei dem bewährten Muster  : Die deutsche Freiheit war der zu verteidigende Wert, der Despotismus – jetzt derjenige des französischen Königs – der zu bekämpfende Störfall, der ein friedliches Europa verhinderte. Dagegen sollten die Reichsfürsten zusammentreten, der Teutschen Freyheit unter die Arm greiffen, die unteutsche Frembdlinge aus dem Land jagen.53 Die Deutschen wollten angeblich lieber arme Sclaven ihrer Freyheit seyn/als unter eines Königs sanfften Guberno reiche Herren werden/die für keine Kriegs-völcker hinfüro zu sorgen hätten.54 Dieser hier unterstellte Freiheitswunsch blieb auch im 18. Jahrhundert lebendig. Für Friedrich Carl von Moser waren die Deutschen im Bunde und Schutz der Gesetze frei.55 Doch die Skepsis wuchs. Für den Kameralisten Johann Heinrich Gottlob von Justi galt  : In Deutschland, Hauptquelle und eigentlichem Wohnplatz der Freyheit der Völker ist diese Freyheit mit Stumpf und Stiel ausgerottet.56 Ausschlaggebend dafür war der Bedeutungsverlust des Reichs-Staates, der den fürstlichen Despotismus nicht mehr zügeln konnte. Johann Jacob Moser glaubte deswegen, dass die berühmte teutsche Freiheit, so sich auch auf den gemeinen Mann erstreckt hat, in vielen Orten nur noch auf dem Papier und in alten Urkunden vorhanden sei.57 Durch den deutschen Dualismus und das Souveränitätsstreben der kurfürstlichen Regierungen in Dresden, München oder Hannover verlor die deutsche Freiheit ihren das Verfassungsgleichgewicht zwischen Kaiser und Reichsständen steuernden Charakter. Der Mehrebenenstaat Reich funktionierte nur noch in den Gebieten der mindermächtigen Fürsten. Ihre Bemühungen, das alte, ihre Freiheit und Autonomie sichernde föderative Reichsgefüge zu retten, waren jedoch zum Scheitern verurteilt. Nach den Koalitionskriegen und dem Untergang des napoleonischen Reiches gehörte die Zukunft erst einmal dem Liberalismus und den Nationalstaaten.

52 Schmidt (wie Anm. 17), S. 179. 53 Nachdenkliches Gespräch welches Auff denietzigen verwirten Zustand im Heil. Römischen Reich absonderlich auff dessen Freyheit gerichtet […], 1673. Zit. n. J. Schumann, Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I., 2003, S. 148. 54 Eröffnete Frantzösische geheime Rahts-Stube […], 1673. Zit. n. Schmidt (wie Anm. 17), S. 179 f. 55 Friedrich Carl von Moser, Von dem deutschen Nationalgeist, ND 1976, S. 12. 56 Johann Heinrich Gottlob Justi, Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und andern vermeintlich Barbarischen Regierungen, in dreyerlei Büchern verfasset, 1762, S. 27. 57 Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit der Teutschen Reichsstände, 1773, S. 257.

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V. Fazit

Der Mehrebenenreichsstaat war kein Föderalism freier Staaten,58 kein Staatenbund im Sinne Kants, und auch kein auf die Zentrale hin orientierter Föderalismus wie bei den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Reichsstände traten keine Kompetenzen an den Reichs-Staat ab, als sie zusammen mit dem römischen König dieses politische Gemeinwesen kreierten und fortentwickelten  ; sie behoben lediglich die größten staatlichen Mängel des Lehensreiches für dessen deutsche und österreichische Zentrallandschaften. Die freien, weder von einer auswärtigen Macht noch vom eigenen Kaiser unterworfenen Deutschen lebten nach frühneuzeitlichen Vorstellungen in einem freien Reich bzw. in einer Republik, weil die mit autonomer obrigkeitlicher Gewalt ausgestatteten und erbrechtlich legitimierten Reichsstände als cives die Geschicke des Ganzen mitbestimmten und die Kaiser kontrollierten, die nur über begrenzte Herrschaftsrechte verfügten. Diese beharrten zwar auf ihrem Anspruch, monarchisch zu regieren, konnten dies in der Praxis aber außerhalb der Erblande nie verwirklichen. Es waren die Träger selbständiger obrigkeitlicher Gewalt, die das freiheitlich-föderative Reich und die föderative Nation formten, in der nicht nur ein Glaube, ein Wertesystem und eine Identität Zugehörigkeit ermöglichte. Die föderative Einheit des Reichs und der Nation in der Vielheit und Unterschiedlichkeit des Nebeneinanders zeichnete die deutsche Freiheit in der Frühen Neuzeit aus. Dort, wo keine Homogenisierung möglich war oder die Reichsstände die Ansprüche einzeln besser durchsetzen konnten, wurden Kompetenzen an diesen anderen Obrigkeitsstand oder an die von Kaiser und Reich geschaffenen Institutionen delegiert. Johann Stephan Pütter wiederholte 1754 Ludolf Hugo  : Das Reich bestehe aus mehrern besonderen, jedoch einer gemeinsamen höhern Gewalt noch untergeordneten Staaten.59 Dieser beschreibenden Analyse fehlte der Begriff des Freiheitlich-Föderativen, inhaltlich korrespondiert sie jedoch mit aktuellen Überlegungen zu föderativen Mehrebenensystemen. Die europäische Staatenwirklichkeit hat das alte Ideal des souveränen, geschlossenen und organisierten Nationalstaates  – ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet, eine Staatsregierung – längst hinter sich gelassen. Die Regierungen verhandeln auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlich legitimierten Partnern. Der Prozess 58 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in  : ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hrsg. von W. Weischedel, 1983, S. 193–251, Zitat S. 208. 59 Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürsten-Rechte, Tl. 1, 1777, S. 30 f.

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der Entscheidungsfindung verlief im Reichs-Staat ähnlich.60 Die deutsche Freiheit und das Mehrebenenregieren sorgten dafür, dass auch der Magistrat von Biberach oder die Herren von Reuß-Köstritz sich im Besitz eines kleinen Zipfels der Souveränität fühlen durften. Sie beeinflussten die Reichspolitik zwar wenig, doch die Möglichkeit einer Beteiligung sorgte bereits dafür, dass Reichstagsprotokolle und Erörterungen der Reichspublizisten nicht nur in den großen Zentren zugänglich waren. Das Fehlen kultureller Rückstandsgebiete war ein großer Gewinn der föderalen Organisation. Die deutsche Freiheit wird bis heute als ständische Libertät missverstanden. Sie war – so das Votum eines Politologen – antiliberal und antiindividualistisch sowie antizivilisatorisch und antidemokratisch.61 Der Historiker Johannes Süßmann hat ihr 2010 jegliche Relevanz für die Gegenwart abgesprochen.62 Damit werden die abwertenden Einschätzungen des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgeschrieben. Dass die politische Freiheit der Reichsstände damals als Zersplitterung und politische Ohnmacht (miss)verstanden wurde, hatte im Zeichen des mächtigen Nationalstaates eine gewisse Berechtigung, wirkt heute aber mehr als anachronistisch. Die heutige föderative Staatlichkeit und die politischen Mehrebenensysteme besitzen gemeinsame Strukturmerkmale mit dem Alten Reich. Dazu gehört die Kontrolle von Regierungen durch Regierungen oder das Aushandeln von politischen Entscheidungen. Für den Umgang mit einer geteilten Souveränität und einer nach oben und unten offenen bzw. zerfasernden Staatlichkeit bietet der freiheitlich-föderative Reichs-Staat, dessen Verfassung seit 1648 von außen völkerrechtlich garantiert war, einen historischen Horizont. Die Reichsstände waren wie andere semisouveräne Herrscher international anerkannte Akteure, aber keine Souveräne, denn sie durften nicht gegen die übergeordnete Ebene des Reiches agieren. Angesichts aktueller Diskussionen um ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten oder um größere nationale und regionale Autonomiewünsche von Schottland 60 Vgl. zusammenfassend Arthur Benz, Der moderne Staat. Grundlagen der politischen Analyse, 2001  ; Georg Schmidt, Das Alte Reich und die europäische Union  – ein Versuch, in  : Vorträge der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Akademie gemeinnütziger Wissenschaft zu Erfurt, hrsg. von M. Vielberg, 2013, S.  79–98  ; Heinhard Steiger, Geht das Zeitalter des souveränen Staates zu Ende  ?, in  : ders., Von der Staatengesellschaft zur Weltrepublik  ? Aufsätze zur Geschichte des Völkerrechts aus vierzig Jahren, 2009, S. 703–728. 61 Schmidt (wie Anm. 12), S. 560. 62 Johannes Süßmann, »Deutsche Freiheit« in der Frühen Neuzeit. Privileg oder Grundrecht  ?, in  : Freiheit und Unfreiheit. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Facetten eines zeitlosen Problems, hrsg. von K. Andermann/G. Zeilinger, 2010, S. 153–169, Zitat S. 169.

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bis Katalonien bildet das politische Mehrebenengefüge des Alten Reiches einen historischen Horizont, der wenigstens Anregungen für neue Überlegungen bieten könnte.

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Das Reich nach 1648 – der Süden.

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Das Reich nach 1648 – der Südosten.

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Geistliche Herrschaft im Alten Reich und ihr Beitrag zur Ausbildung von Regionalität I. Prolog II. Kritik der geistlichen Staaten III. Leistung der geistlichen Staaten IV. Regionalität geistlicher Prägung in deutschen Landschaften V. Reminiszenzen geistlicher Herrschaft

I. Prolog

Es war ein Angehöriger des Domkapitels zu Fulda, der Kapitular und Kammerpräsident Philipp Anton von Bibra (1750–1803),1 der in dem von ihm herausgegebenen aufgeklärten »Journal von und für Deutschland« 1786 die Preisfrage stellte, weshalb eigentlich die Staaten der geistlichen Reichsfürsten, obgleich sie doch Wahlstaaten seien und überdies größtenteils in den gesegnetesten Provinzen von ganz Deutschland lägen, nicht auch die weisesten und glücklichsten Regierungen hätten. Darüber hinaus begehrte er zu wissen, ob die Schuld an allfälligen Mängeln dieser Staaten bei den jeweiligen Regenten zu suchen sei oder bei der inneren Grundverfassung oder möglicherweise bei sonstigen Missständen in den prälatischen Territorien.2 II. Kritik der geistlichen Staaten

Die größte Aufmerksamkeit fand am Ende aber nicht etwa die tatsächlich preisgekrönte Antwortschrift des Staats- und Kirchenrechtlers Joseph von Sartori (1740–1812),3 sondern ein Traktat des Staatswissenschaftlers und Reichspubli1 Martin Stingl, Reichsfreiheit und Fürstendienst. Die Dienstbeziehungen der Bibra 1500 bis 1806, 1994, S. 238 f. 2 Peter Wende, Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, 1966, S. 9 f. 3 Joseph von Sartori, Statistische Abhandlung über die Mängel der Regierungsverfassung der geistlichen Wahlstaaten und von den Mitteln solchen abzuhelfen, 1787  ; zum Autor vgl. Johann Friedrich von Schulte, »Sartori, Joseph von«, in  : ADB, Bd. 30, 1890, S. 378.

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zisten Friedrich Karl Freiherrn Moser von Filseck (1723–1798),4 der den geistlichen Staaten ein durch Menschen-Satzungen mißstelltes Christenthum vorwarf und den Geist der Hierarchie [bemängelte], der in den catholischen Landen mit allgewaltigem Druck das Volk beherrscht, in solchen aber am wirksamsten ist, wo die Geistlichkeit an der Regierung des Staats nahen Anteil und unmittelbaren Einfluß oder das Land selbst einen geistlichen Herrn zum Regenten hat.5 Der Göttinger Historiker August Ludwig von Schlözer (1735–1809), nota bene ebenfalls ein profilierter Vertreter der deutschen Aufklärung, wollte gar ausgerechnet im Wahlfürstentum eine Ursache für die unglückliche Regierung in den geistlichen Staaten erkennen und sah dagegen in der Erblichkeit der Herrschaft in den weltlichen Fürstentümern eine Garantie für beständiges Streben nach Erfolg.6 Moser hielt überdies den für die geistlichen Länder charakteristischen Wahn von Verdienstlichkeit der guten Werke [für] kritikwürdig, weil er […] den Mangel einer zweckmäßigen und dauerhaften Armen- und Bettel-Policey offenbare und allen Arten von Müßiggängern und Bettlern Vorschub leiste.7 Zuletzt fasste der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler (1931–2014) die landläufigen Vorbehalte gegenüber den katholischen  – und das heißt natürlich in erster Linie gegenüber den geistlichen – Staaten in den 1980er Jahren noch einmal exemplarisch zusammen  : Sie seien politisch rückständig geblieben […], da ihnen eine gestraffte staatliche Verwaltung gefehlt habe und viele Kleriker als Drohnen durchgeschleppt worden seien, außerdem sei ökonomische, wissenschaftliche und kulturelle Rückständigkeit ein Merkmal dieser verkrusteten Gehäuse gewesen. Freilich konzedierte Wehler auch, die an sich schon schlimmen Verhältnisse in den geistlichen Herrschaften seien hernach gemeinhin noch übertrieben worden, weil die moderne Geschichtswissenschaft lange eine Domäne des protestantischen Bildungsbürgertums und der borussischen Schule gewesen sei.8 Wehler war selbst Protestant calvinistischer Provenienz  ; Sartori war Katholik  ; Moser und Schlözer waren Lutheraner, Moser pietistischer Prägung. 4 Friedrich Karl Frhr. von Moser, Über die Regierung der geistlichen Staaten in Deutschland, 1787  ; zum Autor vgl. Günter Christ, »Moser, Friedrich Carl Frhr. von«, in  : NDB, Bd. 18, 1997, S. 178– 181. 5 Von Moser (wie Anm. 4), S. 34, 36 f. 6 Zit. n. Wende (wie Anm. 2), S. 17 f.; zum Autor vgl. Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809), 2. Aufl. 2005. 7 Von Moser (wie Anm. 4), S. 39 f.; Friedrich Gruntram Schultheiß, Die geistlichen Staaten beim Ausgang des alten Reiches, 1895, S. 1–42. 8 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, 1987, S. 278–281  ; zum Autor vgl. Paul Nolte, Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse, 2015.

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III. Leistung der geistlichen Staaten

Man braucht sich nicht zum Apologeten geistlicher Herrschaft aufzuschwingen, um festzustellen, dass diese negativen Klischees sich zumeist leicht widerlegen oder doch wenigstens relativieren lassen. Denn ganz nüchtern betrachtet waren die geistlichen Staaten und Herrschaften des Alten Reiches  – ein Spezifikum der deutschen Verfassungsentwicklung, dessen Ursprünge in ottonischer und salischer Zeit zu suchen sind9 – aufs Ganze gesehen weder schlechter noch besser als die weltlichen.10 Anders als beispielsweise in den weltlichen Fürstentümern Hessen-Kassel, Pfalz-Zweibrücken oder Württemberg mit ihren vielgerühmten landständischen Verfassungen wurden in geistlichen Staaten keine Soldaten verkauft.11 Auch mit stehenden Heeren machten die prälatischen Territorien gewöhnlich nicht von sich reden, sieht man einmal ab von dem Münsteraner »Kanonenbischof« Christoph Bernhard von Galen (1606–1678).12 Von   9 Leo Santifaller, Zur Geschichte des Ottonisch-Salischen Reichskirchensystems, 2.  Aufl. 1964  ; Gerd Althoff/Hagen Keller, Lebensordnungen und Lebensformen, in  : Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd.  3  : Die Zeit der späten Karolinger und der Ottonen 888 bis 1024, 10.  Aufl. 2008, S.  364–372  ; Dietmar Willoweit, Reich und Staat. Eine kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 2013, S. 22–25  ; Barbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, 3. Aufl. 2007, S. 14–36. 10 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit  : Ludwig Hüttl, Geistlicher Fürst und geistliche Fürstentümer im Barock und Rokoko. Ein Beitrag ein Beitrag zur Strukturanalyse von Gesellschaft, Herrschaft, Politik und Kultur des alten Reiches, in  : ZBLG 37 (1974), S.  3–48  ; Peter Hersche, Intendierte Rückständigkeit. Zur Charakteristik des geistlichen Staates im Alten Reich, in  : Stände und Gesellschaft im Alten Reich, hrsg. von G. Schmidt, 1989, S. 133–149  ; Franz Quarthal, Unterm Krummstab ist’s gut leben. Prälaten, Mönche und Bauern im Zeitalter des Barock, in  : Politische Kulur in Oberschwaben, hrsg. von P. Blickle, 1993, S. 269–286  ; Kurt Andermann, Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches, in  : HZ 271 (2000), S. 593–619  ; Geistliche Staaten in Oberdeutschland im Rahmen der Reichsverfassung. Kultur, Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. Ansätze zu ihrer Neubewertung, hrsg. von W. Wüst, 2002  ; Geistliche Staaten im Nordwesten des Alten Reiches. Forschungen zum Problem frühmoderner Staatlichkeit, hrsg. von B. Braun/F. Göttmann/M. Ströhmer, 2003  ; Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches. Versuch einer Bilanz, hrsg. von K. Andermann, 2004  ; Säkularisationsprozesse im Alten Reich und in Italien. Voraussetzungen, Vergleiche, Folgen, hrsg. von C. Donati/H. Flachenecker, 2005  ; Geistliche Fürsten und Geistliche Staaten in der Spätphase des Alten Reiches, hrsg. von B. Braun/M. Menne/M. Ströhmer, 2008  ; Bettina Braun, Princeps et episcopus. Studien zur Funktion und zum Selbstverständnis der nordwestdeutschen Fürstbischöfe nach dem Westfälischen Frieden, 2013  ; Weltliche Herrschaft in geistlicher Hand. Die Germania Sacra im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von H. Röckelein/D. Schiersner, 2017. 11 Friedrich Kapp, Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika (1775 bis 1783), 1864. 12 Wilhelm Kohl, Christoph Bernhard von Galen. Politische Geschichte des Fürstbistums Münster 1650 bis 1678, 1964.

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einer Rückständigkeit der Landesverwaltung kann zumindest in den Hoch- und Erzstiften keine Rede sein. Der Rationalisierungs- und Bürokratisierungsgrad entsprach dort im Herbst des Alten Reiches sehr wohl dem in weltlichen Territorien vergleichbarer Größe  ;13 auch das neue Instrument des Hof- und Staatskalenders kam in den geistlichen Staaten zur selben Zeit in Gebrauch wie in den weltlichen.14 Und die altertümliche Kameralwirtschaft in den Gebieten kleinerer Prälaten konnte, wie Armgard von Reden-Dohna sehr zu Recht meint, auch dazu beitragen, den circulus vitiosus von aufwendiger Modernisierung der Verwaltung und eines für die Wirtschaftskraft der Untertanen schädlichen Fiskalismus, wie er in den weltlichen Territorien so oft anzutreffen ist, zu vermeiden.15 Das bäuerliche Kreditwesen und die Waisenpflege waren in vielen geistlichen Herrschaften mustergültig organisiert,16 jedenfalls besser als in den allermeisten weltlichen. Mag auch konfessionelle Enge unter den Prälaten und in ihren Herrschaftsgebieten weitverbreitet gewesen sein, so sind darunter doch leuchtende Beispiele religiöser Toleranz zu finden. Friedrich Karl von Schönborn, Bischof zu Würzburg, sorgte nicht nur dafür, dass die Kitzinger Protestanten eine eigene Kirche erhielten, sondern unterstützte deren Bau auch finanziell aus seiner eigenen Schatulle.17 Sein Nachfolger Franz Ludwig von Erthal besuchte 1785 die lutherische Hauptkirche St. Kilian in der freien Reichsstadt Heilbronn und unterhielt sich auf das leutseligste mit dem dort tätigen evangelischen Pfarrer.18 Und der Speyrer Bischof August Philipp von Limburg-Styrum, ein zu seiner Zeit berüchtigter Autokrat und Sonderling, ließ Angehörige der protestantischen Minderheit in seiner Residenz Bruchsal mit Hofkutschen zum Sonntagsgottesdienst

13 Ulrich Zuber, Auf der Höhe der Zeit  ? Aspekte moderner Staatsbildung in geistlichen Territorien, in  : Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches (wie Anm. 10), S. 133–159  ; Wolfgang Wüst, Aufklärung im Fürstbistum Augsburg. Neuordnungsansätze für Verwaltung und Wirtschaft in Stadt- und Landämtern, in  : ZBLG 54 (1991), S. 219–237. 14 Volker Bauer, Repertorium territorialer Amtskalender und Amtshandbücher im Alten Reich. Adreß-, Hof-, Staatskalender und Staatshandbücher des 18. Jahrhunderts, Bd. 3  : Der Westen und Südwesten, 2002. 15 Armgard von Reden-Dohna, Die Zisterzienser im Schwäbischen Reichsprälaten-Kollegium, in  : Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 4 (1985), S. 51–58. 16 Andermann, Die geistlichen Staaten Südwestdeutschlands (wie Anm. 10), S. 164. 17 Erich Schneider, »Mit meinem Bauwesen und Meubliren avencire zimblich.« Die kunstgeschichtliche Leistung der geistlichen Staaten, in  : Die geistlichen Staaten am Ende des Alten Reiches (wie Anm. 10), S. 95–114, hier S. 108. 18 Max Braubach, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland (1784–1792), in  : HJb 54 (1934), S. 1–63, 178–220, hier S. 63.

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in weiter entfernte evangelische Kirchen bringen, damit sie die Predigt ihrer eigenen Konfession hören konnten.19 Was die Pflege von Kunst und Kultur betrifft, so genügt es, auf den großen Denkmalreichtum etwa Mainfrankens oder Oberschwabens, aber auch Fuldas zu verweisen, um eine diesbezügliche vermeintliche Rückständigkeit der geistlichen Herrschaften kurz und bündig zu widerlegen.20 Und was die wissenschaftliche Leistung der Klöster angeht, sei nur erinnert an die historisch-editorischen Arbeiten Martin Gerberts in St.  Blasien,21 an die Sternwarte in Ochsenhausen, an die Wetterbeobachtung in Ottobeuren oder an die in Ottobeuren und Kaisheim durchgeführten Experimente mit aerostatischen Maschinen. Zahlreiche Ordensleute waren Mitglieder wissenschaftlicher Akademien, nicht zuletzt jener in München. Dass die großartigen Bibliothekssäle der Klöster und Stifte heute zumeist leer stehen, ist eine traurige Folge des rücksichtslosen Ausverkaufs nach der Säkularisation, nicht aber einer defizitären Wissenschaft in der Zeit davor.22 Die badischen Kommissäre, die im Herbst 1802, noch bevor der Reichstag in Regensburg den Reichsdeputationshauptschluss verabschiedet hatte, die durch die Säkularisation angefallenen Gebiete bereisten und für ihren Fürsten die Huldigung der neuen Untertanen einnahmen, lobten einhellig, sowohl im Norden als auch im Süden, den mustergültigen Zustand der bis dahin geistlich regierten Herrschaften,23 und sie wussten, wovon sie redeten, denn die Markgrafschaft Baden war im ausgehenden 18. Jahrhundert selbst ein prosperierendes Land.24 Nicht von ungefähr hatte bereits Friedrich Karl von Moser konzediert  : Fehlt in den Regierungs-Verfassungen geistlicher Staaten vieles, das besser seyn könnte, so fehlt dagegen auch viel Schlechtes und Schlimmes, und ins Ganze genommen kann der Weydspruch  : unterm Krummstab ist gut wohnen, in Vergleichung mit den grösten weltlichen Staaten Deutschlands noch jezo als Lob und Wahrheit gelten.25

19 Otto B. Roegele, Bruchsal. Residenz im Herbst des Alten Reiches, in  : Residenzen. Aspekte hauptstädtischer Zentralität von der frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie, hrsg. von K. Andermann, 1992, S. 279–295, hier S. 291. 20 Schneider (wie Anm. 17). 21 Wolfgang Müller, »Gerbert, Martin«, in  : NDB, Bd. 6, 1964, S. 257 f. 22 Andermann, Die geistlichen Staaten Südwestdeutschlands (wie Anm. 10), S. 165 f. 23 Ebd., S. 160. 24 Hans-Peter Ullmann, Staatsschulden und Reformpolitik. Die Entstehung moderner öffentlicher Schulden in Bayern und Baden 1780 bis 1820, 2 Bde., 1986. 25 Von Moser (wie Anm. 4), S. 70 f.

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Peter Wende interpretiert dieses Zugeständnis nicht zuletzt als eine weitaus schärfere Verurteilung der weltlichen Erbfürstentümer, die er [Moser] aus eigener Erfahrung hinreichend gekannt und nur wenig geschätzt habe.26 So leisteten die geistlichen Staaten und Herrschaften des Alten Reiches nicht nur einen eigenständigen, sondern einen sehr wohl positiv zu bewertenden Beitrag zur Gestaltung der deutschen Kulturlandschaften sowie zur Herausbildung einer politischen Kultur im weiteren Sinn und damit ganz zweifellos auch einen originären Beitrag zur Ausbildung von Regionalität in Deutschland. IV. Regionalität geistlicher Prägung in deutschen Landschaften

Versteht man unter einer Region mit dem Duden ein durch bestimmte Merkmale […] in bestimmter Weise geprägtes, größeres Gebiet,27 dann ist  – jenseits der gegenwärtigen Verengung des Begriffs auf die Lebensmittelproduktion28 – unter Regionalität die aus solcher Prägung resultierende Eigenart der Landschaft und der in ihr lebenden Menschen zu begreifen. So gesehen ist Oberschwaben, was die Prägung durch geistliche Herrschaft betrifft, ein besonders augenfälliges Beispiel.29 Zu Zeiten des Alten Reiches war dieses Gebiet zwischen dem Schwarzwald im Westen, dem Lech im Osten, dem Bodensee im Süden und der Donau im Norden30 von geistlicher Herrschaft besonders stark durchsetzt. Heute ist es – man denke nur an die Oberschwäbische Barockstraße31 – bekannt für seinen Reichtum an großen und kleinen, vor allem barocken Kunstdenkmälern, für sein vielfältiges, in alten Traditionen wurzelndes religiöses Brauchtum und für seinen zutiefst katholischen Charakter. Trotz aller Einbußen und Verwerfungen in jüngster Zeit sind die in Oberschwaben gelegenen Wahlkreise für CDU und CSU noch immer eine sichere Nummer.32 All 26 Wende (wie Anm. 2), S. 43. 27 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Region#Bedeutung1 (letzter Zugriff  : 18.01.2018). 28 So das Ergebnis einer Google-Suche am 9. Januar 2018. 29 Politische Kultur in Oberschwaben, hrsg. von P. Blickle, 1993  ; Oberschwaben, hrsg. von H.-G. Wehling, 1995  ; Erinnerungsorte in Oberschwaben. Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis, hrsg. von R. Kießling/D. Schiersner, 2009. 30 Rolf Kießling/Dietmar Schiersner, Einführung, in   : Erinnerungsorte in Oberschwaben (wie Anm.  29), S.  11–23, hier S.  15  ; Franz Quarthal, Oberschwaben als Region des kulturellen Gedächtnisses, in  : Erinnerungsorte in Oberschwaben (wie Anm. 29), S. 27–60, hier S. 29. 31 Vgl. http://www.oberschwaben-tourismus.de/reisethemen/kultur-barock/oberschwaebische-barock strasse.html (letzter Zugriff  : 18.01.2018). 32 Vgl. https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/34_17_endguel

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das geht letztlich zurück auf die vielen kleineren und größeren reichsprälatischen Staatsgebilde, die sich dort seit dem Mittelalter entfalten konnten. Selbstverständlich darf man neben diesen Klöstern und Stiften sowie Ordenskommenden auch die großen Adelsfamilien Oberschwabens nicht vergessen,33 aber mit ihrer Nähe zum Kaiserhof in Wien verfestigten diese den regionalen Katholizismus nur zusätzlich, und die Reichsstädte der Region waren, abgesehen von dem ganz lutherischen Memmingen, um konfessionellen Ausgleich bemüht.34 Freilich profilierte sich die oberschwäbische Identität so recht erst, nachdem das katholische Gebiet westlich der Iller zu Beginn des 19. Jahrhunderts dem protestantischen Württemberg einverleibt worden war, an den fortan zu bewältigenden konfessionellen Gegensätzen. Mit den Worten Hans-Georg Wehlings  : Die eigene Identität entstand […] in und gegen Württemberg auf der Grundlage zweier unterschiedlicher politischer Kulturen.35 So sehr man im bayerischen Teil Oberschwabens den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen anfangs ebenfalls mit Skepsis begegnet sein mochte, so erwies sich doch dort die althergebrachte Katholizität von Dynastie und Staat als eine Gemeinsamkeit, die das Alte mit dem Neuen verband.36 In den an Württemberg gefallenen Gebieten gab es indes noch mehr Trennendes  : In Oberschwaben galt von alters her Anerbenrecht, wodurch dort ein ökonomisch vergleichsweise starkes Mittel- und Großbauerntum entstanden war,37 und auch die von den Klöstern im 18. Jahrhundert zur Steuerung des Bevölkerungswachstums betriebene Vereinödung gereichte den agrarischen und sozialen Strukturen in Oberschwaben ganz klar zum Vorteil.38 In Altwürttemberg hingegen dominierte aufgrund generationenlanger Realteilung ein vergleichsweise ärmliches Kleinbauerntum, das nicht selten darauf antiges_ergebnis.html (letzter Zugriff  : 18.01.2018). frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft Oberschwaben v. M. Hengerer/E. L. Kuhn 33 Adel im Wandel. Oberschwaben von der in Verbindung mit P. Blickle, 2 Bde., 2006. 34 Die Mediatisierung der oberschwäbischen Reichsstädte im europäischen Kontext, hrsg. von P. Blickle/A. Schmauder, 2003  ; Andrea Riotte, Diese so oft beseufzte Parität. Biberach 1649 bis 1825. Politik, Konfession, Alltag, 2017. 35 Hans-Georg Wehling, Oberschwaben oder Württemberger  ? Integrationsprobleme zweier politischer Kulturen, in  : Politische Kultur in Oberschwaben (wie Anm. 29), S. 287–307, hier S. 287. 36 Franz Quarthal, Oberschwaben als Region des kulturellen Gedächtnisses, in  : Erinnerungsorte in Oberschwaben (wie Anm. 29), S. 30 f. 37 Wehling (wie Anm. 35), S. 292–297. 38 Wolf-Dieter Sick, Die Vereinödung im nördlichen Bodenseegebiet, in  : Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 1951/52, S. 81–105  ; Hermann Grees, Sozialstruktur, Agrarreform, Vereinödung in Oberschwaben. Beispiele aus dem Gebiet des Klosters Ochsenhausen, in  : Alemannisches Jahrbuch 1989/90, S. 55–81.

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gewiesen war, sein Auskommen in Verbindung mit ländlichem Handwerk zu suchen.39 So war es denn kein Zufall, dass bis ins frühe 20. Jahrhundert alljährlich Tausende von »Schwabenkindern« bzw. »Hütekindern« aus Tirol, Vorarlberg, der Schweiz und Liechtenstein als Saisonarbeitskräfte ausgerechnet im wohlhabenden Oberschwaben Lohn und Brot fanden.40 Noch heute ist Oberschwaben – abgesehen von der Vernachlässigung durch die Deutsche Bahn – ein florierender Wirtschaftsraum, und von den Erträgen seiner Wirtschaft profitiert nicht zuletzt die 1996 gegründete »Gesellschaft Oberschwaben für Geschichte und Kultur e.  V.« mit Sitz in Ravensburg, die sich das Motto gegeben hat  : Eine Landschaft entdeckt ihre Lebenskraft neu, und deren satzungsgemäßer Zweck es ist, mit Vorträgen, Tagungen, Ausstellungen und sonstigen Veranstaltungen sowie mit einer hochkarätigen historisch-wissenschaftlichen Schriftenreihe beiderseits der baden-württembergisch-bayerischen Landesgrenze zur Entwicklung und Stärkung des oberschwäbischen Regionalbewusstseins beizutragen.41 Nicht annähernd so eindrucksvoll wie Oberschwaben im Süden ist das sogenannte Madonnenländchen im Norden Baden-Württembergs, das sich vom Hinteren Odenwald um Amorbach, Buchen und Walldürn über das Badische Bauland bis in den Taubergrund erstreckt.42 Die Stadt Buchen im Odenwald betreibt mit der Marke »Madonnenländchen« Tourismuswerbung.43 Auch hier handelt es sich um eine traditionell katholische Region, die vom späten Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches zum Kurerzstift Mainz gehörte44 und seit den Zeiten der Gegenreformation in Abgrenzung zu der großenteils lutherischen Odenwälder Reichsritterschaft,45 mit deren Dörfern die kurmainzischen Gebiete allenthalben im Gemenge lagen, seine Katholizität in zahllosen Hausmadonnen sowie religiösen Flur- und Kleindenkmalen demonstrativ einst und bis heute zur Schau stellt.46 Zu Zeiten der Weimarer Republik zeichne39 Wehling (wie Anm. 35), S. 292–297. 40 Otto Uhlig, Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, 5. Aufl. 2016. 41 Vgl. http://www.gesellschaft-oberschwaben.de/ (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 42 Wolfgang Seidenspinner, Die Erfindung des Madonnenländchens. Die kulturelle Regionalisierung des Badischen Frankenlandes zwischen Heimat und Nation, 2004. 43 Vgl. http://www.buchen.de/tourismus/sehenswuerdigkeiten/168-madonnenlaendchen.html (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 44 Wilhelm Störmer, Miltenberg. Die Ämter Amorbach und Miltenberg des Mainzer Oberstifts als Modelle geistlicher Territorialität und Herrschaftsintensivierung, 1979. 45 Helmut Neumaier, Reformation und Gegenreformation im Bauland unter besonderer Berücksichtigung der Ritterschaft, 1977. 46 Seidenspinner (wie Anm. 42), S. 15–20.

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ten die Gemeinden des Madonnenländchens sich durch hohe Wahlergebnisse zugunsten der Zentrumspartei aus, während in den benachbarten einst ritterschaftlichen und daher evangelischen Gemeinden eher die nationalen Parteien und nicht zuletzt die NSDAP viel Zuspruch fanden.47 Noch immer erzielen im Gebiet des eher strukturschwachen Madonnenländchens CDU und CSU überdurchschnittliche Wahlergebnisse,48 und bezeichnenderweise wurde das Kfz-Kennzeichen BCH des einstigen Landkreises Buchen im Odenwald ironisch gedeutet als besonders christliches (= katholisches) Hinterland.49 Desgleichen spielte in Mainfranken, ganz abgesehen von der massiven Entfaltung und künstlerischen Repräsentation bischöflich Würzburger und bischöflich Bamberger oder Kloster Ebracher Herrschaft die konfessionelle Abgrenzung gegenüber evangelischen Herrschaftsträgern und Territorien der Umgebung eine große Rolle und trug maßgeblich bei zu der bekannt vielfältigen kulturlandschaftlichen Prägung Frankens mit einem entsprechend differenzierten Regionalbewusstsein. Zu erinnern wäre überdies, schon wegen der vielsagenden Landschaftsnamen, an den Pfaffenwinkel im Süden Bayerns mit einem Dutzend Klöstern, darunter Ettal und Andechs, sowie der berühmten Wieskirche, oder an den Rupertiwinkel im Südosten Bayerns, der vom früheren 14. Jahrhundert bis zur Säkularisation zum Erzstift Salzburg gehörte und daher den Namen des Salzburger Bistumspatrons trägt. Der Landschaftsname »Gottesgarten« am Obermain nimmt auf die Klöster Langheim und Banz sowie auf die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen Bezug, und das sogenannte Stiftland in der Oberpfalz erinnert an das einstige Kloster Waldsassen. Namen geben Identität und sie spiegeln Regionalität. Im überwiegend protestantischen Norden und Nordosten Deutschlands kennt man, soweit ich sehe, entsprechende Landschaftsnamen nicht. Aber selbstverständlich gibt es auch dort Regionalität mit konfessioneller, auf einstiger geistlicher Herrschaft beruhender Prägung, so namentlich im Gebiet des einstigen Hochstifts Paderborn50 und im Münsterland.51 In Süddeutschland wäre Alt47 Der Neckar-Odenwald-Kreis (Kreisbeschreibungen des Landes Baden-Württemberg), bearb. von der Abteilung Landesbeschreibung des Generallandesarchivs Karlsruhe, hrsg. von der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Neckar-Odenwald-Kreis, 2 Bde., 1992, hier Bd. 1, S. 367 f., und passim. 48 Vgl. https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/34_17_endgueltiges_ergebnis.html (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 49 Neumaier (wie Anm. 45), S. 13. 50 Barbara Stambolis, Des Krummstabs langer Schatten. Das Hochstift Paderborn als Geschichtsund Gedächtnislandschaft, in  : Archivpflege in Westfalen-Lippe 61 (2004), S. 5–12. 51 Helmut Lahrkamp, Münster und das Münsterland nach dem Westfälischen Frieden bis zum Sturz Napoleons, 1999.

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württemberg mit seinem Pietismus wohl ein gutes Beispiel für religiös geprägte Regionalität unter den Bedingungen weltlicher Herrschaft.52 Zu guter Letzt darf hier aber ein mitteldeutsches Beispiel nicht fehlen  : das Eichsfeld, genauer das Obere Eichsfeld.53 Viele Jahrhunderte lang zum Kurerzstift Mainz gehörig, war in diesem Gebiet unter ritterschaftlichem Einfluss zunächst die Reformation sehr erfolgreich, aber vom späteren 16. bis ins frühe 17. Jahrhundert wurde in landesherrlichem Auftrag das Luthertum von den Jesuiten vollständig ausgelöscht. Fortan war das kurmainzische Eichsfeld ein etwas abseits stehender Fremdkörper in [einer] fast ganz evangelischen Umwelt.54 Als mit der Säkularisation das Gebiet 1803 an das zutiefst protestantische Preußen fiel und diese staatliche Zugehörigkeit 1815 vom Wiener Kongress bestätigt wurde, trat im Oberen Eichsfeld wohl ein ähnlicher Effekt ein wie im neuwürttembergischen Oberschwaben. So bewährte sich die schon seit vielen Generationen identitätsstiftende katholische Konfession einmal mehr als prägendes Merkmal der Eichsfelder Regionalität. Selbst zu Zeiten der DDR blieb das kirchliche Leben dort vergleichsweise intakt, und noch heute liegt die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger über dem Bundesdurchschnitt.55 Auch im Eichsfeld war zur Zeit der Weimarer Republik das Zentrum besonders stark,56 seit der Wiedervereinigung ist es die CDU, wenngleich mit der auch anderwärts zu beobachtenden abnehmenden Tendenz.57 V. Reminiszenzen geistlicher Herrschaft

Der Beitrag geistlicher Herrschaft zur Ausbildung von Regionalität in Deutschland ist vielfältig. In der Heraldik der deutschen Bundesländer hat geistlich geprägte Regionalität nur in drei Fällen einen Niederschlag gefunden, im Wappen von Rheinland-Pfalz gleich zweimal, mit dem Mainzer Rad und dem Trierer Kreuz, im Wappen des Saarlands ebenfalls mit dem Trier Kreuz und im großen 52 Eberhard Fritz, Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten, 2003. 53 Hans Tümmler, Das kurmainzische Thüringen, in  : Geschichte Thüringens, hrsg. von H. Patze/W. Schlesinger, Bd. 5,1,1, 1982, S. 573–589, hier S. 585–589. 54 Ebd., S. 586. 55 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Eichsfeld (letzter Zugriff  : 18.01.2018). 56 Vgl. http://www.verwaltungsgeschichte.de/heiligenstadt.html (letzter Zugriff  : 18.01.2018). 57 Vgl. https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2017/ergebnisse/bund-99/land-16/wahlkreis–189.html (letzter Zugriff  : 18.01.2018).

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Staatswappen von Bayern mit dem »fränkischen Rechen«, dem einstigen Wappen des von den Würzburger Bischöfen beanspruchten Herzogtums Franken. Der Bremer Schlüssel nimmt zwar Bezug auf das Peters-Patrozinium der einstigen Bremer Bischofskirche, steht freilich im Übrigen nicht für geistliche Herrschaft zur Zeit des Alten Reiches. Tatsächlich aber ist Regionalität geistlicher Prägung in Deutschland weitverbreitet und bereichert noch mehr als zweihundert Jahre nach der Säkularisation unsere Kulturlandschaften und unsere politische Kultur, gibt, wenn man so will, den gewachsenen föderalen Strukturen unseres Landes ihre besondere Note. Ganz so schlecht können die geistlichen Staaten auch deshalb nicht gewesen sein.

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Das Ende des Alten Reiches und Modelle der Neuordnung (1795–1813) I. Der zeitliche und institutionelle Rahmen II. Das Reich und das revolutionäre Frankreich (1791–1801) III. Phasen der Erosion und Zerfallsprodukte des Alten Reiches (1801– 1813) IV. Ordnungskonzepte bis zum Wiener Kongress (1813–1815)

I. Der zeitliche und institutionelle Rahmen

Verhandelt wird im Folgenden der gravierendste Einschnitt in die dezentrale – in der thematischen Fokussierung des vorliegenden Bandes  : föderative – Ordnung unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dem in der Frühen Neuzeit über dreihundert teilautonome Reichsstände angehörten.1 Am Ende des Betrachtungszeitraums dieses Beitrags bzw. am Anfang des auf dem Wiener Kongress installierten Deutschen Bundes2 waren es nicht einmal mehr vierzig politische Einheiten.3 Die Säkularisation  – präziser  : die sog. Herrschaftssäkularisation4  – hatte das Ende geistlicher Staatlichkeit gebracht  ; 1 Vgl. als lexikographischen Überblick in erweiterter Neuauflage Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2017. Als grundsätzliche Einführung in die Thematik vgl. Thomas Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in  : ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, 1986, S. 60–109. 2 Pars pro toto Peter Burg, Der Wiener Kongress. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem, 3. Aufl. 1993  ; Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, 2010. 3 Zum Umbruch um 1800 vgl. Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, 1986  ; James J. Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches. Deutschland seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution 1763 bis 1850, 1994  ; Michael Erbe, Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785–1830, 2004  ; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1  : Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 2000. 4 Zur Begrifflichkeit vgl. Winfried Müller, Herrschaftssäkularisation und Vermögenssäkularisation. Zwei Forschungsbegriffe auf dem Prüfstand, in  : Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß. Kirche – Theologie – Kultur – Staat, hrsg. von R. Decot, 2005, S. 93–107.

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über zwanzig Bischofsstaaten und mehr als vierzig Reichsabteien waren ihr zum Opfer gefallen. Wenn man es zugespitzt formulieren will, endete 1803 in den nach der Reformation bei der alten Kirche gebliebenen Teilen des Reichs5 mit dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25.  Februar 18036 das ottonisch-salische Reichskirchensystem bzw. die 1122 mit dem Wormser Konkordat begründete Ordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche.7 Im Vergleich zu dieser radikalen Applanierung geistlicher Staatlichkeit fiel der dem Begriff der Mediatisierung subsumierte Zugriff auf die weltlichen Reichsstände moderat aus. Zwar wurde in der Tradition der Revolutionspraxis im von Frankreich besetzten und seit dem Frieden von Lunéville 1801 auch völkerrechtlich in die französische Republik integrierten linksrheinischen Deutschland im juristischen Sinne bei der Aufhebung der weltlichen und geistlichen Herrschaftsrechte ebensowenig ein Unterschied gemacht wie bei der Enteignung der Vermögenswerte.8 Doch im rechtsrheinischen Deutschland blieb – auf die Gründe wird noch eingegangen  – der Zugriff auf weltliche Herrschaftsträger die Ausnahme.9 Zwar fielen der Mediatisierung über vierzig Reichsstädte zum Opfer  – ausgenommen blieben auch hier noch Augsburg, Bremen, Frankfurt, Hamburg, Lübeck und Nürnberg – und auch die seinerzeit noch existierenden fünf Reichsdörfer wurden aufgehoben. Die unter personaler reichsfürstlicher Landeshoheit stehenden Herrschaftsgebiete blieben 1803 indes von der Mediatisierung ausgenommen.10   5 Vgl. im Überblick Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, 7 Bde., hrsg. von A. Schindling/W. Ziegler, 1989–1997.   6 Vgl. Klaus Dieter Hömig, Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 und seine Bedeutung für Staat und Kirche, 1969  ; Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches, hrsg. von U. Hufeld, 2003  ; 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit, hrsg. von H. Klueting, 2005.   7 Vgl. Rudolf Lill, Die Säkularisation und die Auswirkungen des napoleonischen Konkordats in Deutschland, in  : Deutschland und Italien im Zeitalter Napoleons, hrsg. von A. von Reden-Dohna, 1979, S. 91–103.  8 Wolfgang Schieder/Alfred Kube, Säkularisation und Mediatisierung. Die Veräußerung der Nationalgüter im Rhein-Mosel-Departement 1803–1813, 1987, S. 7. Vergleichend zu den Vorgängen links und rechts des Rheins Winfried Müller, Die Säkularisation im links- und rechtsrheinischen Deutschland 1802/03, in  : Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 6  : Die Kirchenfinanzen, hrsg. von E. Gatz, 2000, S. 49–81.   9 Vgl. Winfried Müller, Die Säkularisation von 1803, in  : Handbuch der bayerischen Kirchengeschichte, Bd. 3, hrsg. von W. Brandmüller, 1991, S. 1–84  ; Alte Klöster, neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, Bd. 2  : Aufsätze, hrsg. von H. U. Rudolf, 2003. 10 Vgl. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815–1918, 2. Aufl. 1964.

Das Ende des Alten Reiches und Modelle der Neuordnung (1795–1813) 

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Der Rittersturm des Jahres 1803 zeigte freilich bereits die Brüchigkeit der in den Reichsdeputationshauptschluss aufgenommenen Bestandsgarantie für die Reichsritterschaften,11 von denen die meisten dann mit dem Ende des Alten Reiches 1806 mediatisiert wurden. Skizziert wurden soeben die Oberflächenphänomene, die sich mit den Begriffen Säkularisation und Mediatisierung verbinden. Dazu kam mit dem Ende des Alten Reiches, das markiert wird durch den Austritt der süddeutschen Staaten aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, ihren darauffolgenden Eintritt in den Rheinbund im Juli 1806 sowie durch die Niederlegung der Kaiserkrone durch Franz  II. am 6.  August 1806 der völlige Zusammenbruch der bis dahin gültigen politischen und rechtlichen Bindungen. Lehensrechtliche Ligaturen zwischen dem Reich und seinen Territorien waren aufgehoben, die Rechts­instanzen des Reichs waren ausgehebelt, binnenterritorial kam es zum Angriff auf die Landstände, in den Territorien der Vormoderne überkommene regionale Sondertraditionen wurden homogenisiert. Aus Sicht jener Territorien, die 1803 und 1806 überlebt hatten und mit der Säkularisations- und Mediatisierungsmasse arrondiert worden waren, könnte man also sagen  : So viel Souveränität wie zwischen den Jahren 1803/06 und 1813 war nie – trotz der Kuratel, unter die die Rheinbundstaaten teilweise von Napoleon gestellt waren.12 Und diese Autonomie war dann auch bei der Suche nach einer neuen Ordnung ein Faktor, den es zu berücksichtigen galt. Nach dem Zusammenbruch des Rheinbunds mussten vor allem die süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg gewissermaßen eingefangen, durch die Zusage der Souveränität für eine neue Ordnung gewonnen werden.

11 Vgl. William D. Godsey, Nobles and Nation in Central Europe. Free Imperial Knights in the Age of Revolution, 1750 to 1850, 2004  ; Volker Press, Reichsritterschaften, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1  : Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hrsg. von K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh, 1983, S. 679–689. 12 Vgl. Der Preis der neuen Kronen. Württemberg und Baden als Vasallen Napoleons. Der Rheinbund von 1806, hrsg. von D. Hohrath/C. Rehm, 2006  ; Napoleon und Bayern, hrsg. von M. Hamm/E. Brockhoff/V. Bräu, 2015  ; Winfried Müller, Das Ende des Alten Reiches und die deutschen Territorien. Sachsens Weg in den Rheinbund und zur Königskrone, in  : 200 Jahre Königreich Sachsen. Beiträge zur sächsischen Geschichte im napoleonischen Zeitalter, hrsg. von G. Martin/J. Vötsch/P. Wiegand, 2008, S. 54–68.

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II. Das Reich und das revolutionäre Frankreich (1791–1801)

Bei den einleitend kursorisch angesprochenen Etappen der Erosion und Auflösung des Alten Reiches und bei der Neusortierung von dessen Zerfallsprodukten spielten natürlich militärische und politische Zwänge eine außerordentliche Rolle  : Die ebenso schnelle wie radikale Erosion einer jahrhundertealten Raumordnung ist ohne die Expansion des revolutionären Frankreich und ohne den die gesamte europäische Szene beherrschenden Einfluss Napoleons nicht zu denken. Der andere wesentliche Aspekt sind dann in der Umbruchphase um 1800 entwickelte und diese verarbeitende neue Ordnungsvorstellungen  : Nach der Auflösung hergebrachter lehensrechtlicher Ligaturen musste die politische Landkarte neu vermessen werden. In rascher Folge wurden neue, teilweise nur ganz kurzlebige Ordnungskonzepte realisiert – stets begleitet von der Erfahrung des Krieges, von insgesamt fünf Koalitionskriegen, aber auch von den tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen der sog. Reformzeit. Die Zeit der Revolution war auch die einer entfesselten Zeit, eines extrem beschleunigten historischen Wandels. Die Gegenwart war nicht mehr als Gegenwart erfahrbar, sondern entlief ständig in die Zukunft und gab neue Perspektiven frei.13 Für diesen weit aufgefächerten Transformationsprozeß14 und die Suche nach einer neuen Raumordnung lassen sich drei Zeitphasen herausarbeiten. Für die erste Phase muss man in die frühen 1790er Jahre zurückgehen, als es um die Frage ging, wie sich Kaiser und Reich gegenüber der Revolution in Frankreich positionieren sollten. Dieses Problem stand im Zentrum eines Treffens zwischen Kaiser Leopold II. und dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. in Schloss Pillnitz bei Dresden im August 1791.15 Im Pillnitzer Fürstentreffen bündelten sich verschiedene Interessenlagen. Der Gedanke der fürstlichen Solidarität mit dem bedrängten französischen Königspaar spielte eine Rolle. Die in Pillnitz anwesenden französischen Emigranten, repräsentiert durch Charles de Bourbon, Graf von Artois, dem späteren französischen König Karl X. (1824–1830), 13 Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution  ! – Revolution der Zeit  ? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789–1848/49, 1999, S. 15. Zur Umbrucherfahrung Wolfgang Burgdorf, Ein Weltbild verliert seine Welt. Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806, 2009  ; Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten, hrsg. von A. V. Hartmann/M. Morawiec/P. Voss, 2000. 14 Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1  : Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, 1987, S. 35. 15 Vgl. Ulrich von Hehl, Das europäische Mächtesystem im Zeitalter der Französischen Revolution  : Das Pillnitzer Fürstentreffen von 1791, in  : G. Martin/J. Vötsch/P. Wiegand (wie Anm. 12), S. 26–36.

Das Ende des Alten Reiches und Modelle der Neuordnung (1795–1813) 

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drängten auf einen scharfen gegenrevolutionären Kurs. Dann war da die Furcht vor einem Überspringen des revolutionären Brandherds  : In Berlin grassierte jedenfalls unverkennbar die Revolutionsfurcht.16 Das Haus Habsburg hatte in den Österreichischen Niederlanden 1789 mit der sog. Brabanter Revolution und der ersten Gründung eines belgischen Staates Erfahrungen mit Widerstand und Revolte gesammelt.17 Kurzum  : Für die beiden deutschen Hauptmächte und auch für das 1791 lediglich in der Gastgeberrolle befindliche Sachsen, wo 1790 ein Bauernaufstand die Revolutionsfurcht befeuert hatte,18 war der Zeitpunkt gekommen, das seit dem Siebenjährigen Krieg19 virulente wechselseitige Misstrauen zurückzustellen. Resultat war die Pillnitzer Deklaration vom 27.  August 1791. Bekundet wurde mit ihr das Interesse an einer Wiederherstellung der vorrevolutionären monarchischen Rechte, und eine Mobilisierung österreichischer und preußischer Truppen wurde für den Fall einer einheitlichen Meinungsbildung unter den Großmächten in Aussicht gestellt. Von einer solchen war aufgrund der englischen Vorbehalte gegen ein militärisches Eingreifen indes nicht auszugehen. In der Literatur wird die Pillnitzer Erklärung deshalb vor allem als Drohgebärde20 gesehen. Gleichwohl genügte sie, um den furor gallicus auszulösen. Für die französische Kriegspartei, die von innenpolitischen Problemen ablenken und die Revolution auch in andere Länder tragen wollte, war sie ein Impuls für die Kriegserklärung an Österreich vom 20. April 1792. Sie leitete mit dem Ersten Koalitionskrieg jene fast 25 Jahre währende Serie von Kriegen ein, die auch den militärischen Ruhm und den politischen Aufstieg Napoleons begründen sollte. Darauf bezieht sich der angeblich 1812 oder 1813 gefallene Ausspruch Napoleons während eines Besuches in Pillnitz  : Hier bin ich geboren worden.21 16 Vgl. Lothar Kittstein, Politik im Zeitalter der Revolution. Untersuchungen zur preußischen Staatlichkeit 1792–1807, 2003, S. 33 ff. 17 Vgl. Janet L. Polasky, Revolution in Brussels 1787–1793, 1982  ; Johannes Koll. Die belgische Nation. Patriotismus und Nationalbewußtsein in den Südlichen Niederlanden im späten 18.  Jahrhundert, 2003. 18 Vgl. Siegfried Hoyer, Die Ideen der Französischen Revolution und der kursächsische Bauernaufstand 1790, in  : Neues Archiv für sächsische Geschichte 65 (1994), S. 61–76. 19 Vgl. Winfried Müller, Der Siebenjährige Krieg. Sachsen im Beziehungsgeflecht des Alten Reiches und der europäischen Großmächte, in  : Dresdner Hefte 68 19. Jg. (2001)  : Sachsen und Dresden im Siebenjährigen Krieg, S. 2–10. Zur preußisch-sächsischen Rivalität im Überblick Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft, hrsg. von F. Göse u. a., 2014. 20 Erbe (wie Anm. 3), S. 296. 21 Winfried Müller, »Hier bin ich geboren worden«. Napoleon und Sachsen, in  : Dresdner Hefte 103 28 Jg. (2010)  : Frankreich und Sachsen. Spurensuche in Dresden, S. 72–79.

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Im Ersten Koalitionskrieg mussten Österreich und Preußen, die im August 1792 in französisches Staatsgebiet eindrangen, bekanntlich rasch die Begrenztheit ihrer militärischen Mittel erkennen. Nach der Kanonade von Valmy – von Goethe wurde sie dreißig Jahre später zum Gründungsmythos einer neuen Epoche der Weltgeschichte erhoben – kam die Campagne in Frankreich22 zum Stehen. Wir sind damit in Phase 1 des gewaltigen territorialen Umschichtungsprozesses um 1800, denn umgekehrt begann nun der Vorstoß der französischen Revolutionsarmee in das linksrheinische Deutschland, dem die Flucht der geistlichen Kurfürsten korrespondierte  :23 Die Mainzer, Kölner und Trierer Kurfürsten-Erzbischöfe verließen 1792 bzw. 1794 ihre Residenzen, in Mainz wurde 1792/93 sogar die Republik ausgerufen. Diesem Vordringen Frankreichs bis zum Rhein folgte die sukzessive Preisgabe des linksrheinischen Reichsgebiets durch die beiden deutschen Hauptmächte. Die Richtung wies dabei der preußisch-französische Sonderfrieden von Basel vom 5. April 1795,24 mit dem Preußen aus der antifranzösischen Koalition ausschied. Mit Rücksicht auf das Ansehen der preußischen Regierung in einen öffentlichen und einen geheimen Teil zerfallend, bestimmte Ersterer, dass die am Niederrhein befindlichen linksrheinischen Besitzungen Preußens bis zu einem endgültigen Friedensschluss in den Händen Frankreichs bleiben sollten. Im Geheimabkommen wurde festgesetzt, dass Preußen für den Fall eines definitiven Verlustes entschädigt werden solle, und zwar rechts des Rheins. Dass es sich bei diesen Entschädigungen nur um die Territorien anderer Reichsstände, konkret der geistlichen Fürstentümer, handeln konnte, lag auf der Hand. Die Hoffnungen der bedrohten geistlichen Reichsstände ruhten somit auf Österreich, das seinerseits bald zur Verständigung mit Frankreich genötigt war und dabei gleichfalls seine eigenen dynastischen und territorialen Interessen über die des Reichs stellte. Mit dem Frieden von Campo Formio vom 17. Oktober 1797 verpflichtete sich Kaiser Franz II. in einem geheimen Artikel, auf die Abtretung eines Teils des linken Rheinufers an Frankreich hinzuwirken, und nahm damit gleichfalls die Aufhebung geistlicher Staaten rechts des Rheins in Kauf.25 Österreich lud dann zwar 1797 noch unter der Vorgabe, dass auf der Basis der Integrität von 22 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, hrsg. von R. Wild, 1986, S. 335–516. 23 Vgl. Müller (wie Anm. 8), S. 49–81. 24 Vgl. Max Plassmann, Die preußische Reichspolitik und der Friede von Basel 1795, in  : Jahrbuch Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg 4 (2001/2002), S. 132–154. 25 Vgl. Napoleonische Friedensverträge. Campo Formio 1797, Lunéville 1801, Amiens 1802, Pressburg 1805, Tilsit 1807, Wien-Schönbrunn 1809, hrsg. von P. Hersche, 2. Aufl. 1973.

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Reichsgebiet und -verfassung verhandelt werden sollte, zum Rastatter Reichsfriedenskongress ein. Auf diesem enthüllten die Bevollmächtigten Frankreichs den reichsständischen Gesandten im Januar 1798 die französische Forderung nach der Rheingrenze. Im März stimmte die Rastatter Reichsfriedensdeputation grundsätzlich der Preisgabe des linken Rheinufers zu. Zuvor hatte Frankreich den davon betroffenen weltlichen Reichsfürsten die beruhigende Zusage von Entschädigungen gegeben. Zu präzisierenden Vereinbarungen kam es infolge des Scheiterns des Rastatter Kongresses und des Ausbruchs des Zweiten Koalitionskrieges (1798–1801) nicht. An dessen für die antifranzösische Koalition wiederum unglücklichem Ausgang kam es mit dem am 9. Februar 1801 geschlossenen Frieden von Lunéville26 zur Festschreibung bereits gegebener Fakten  : Nun stimmte Kaiser Franz II. namens des Reiches der Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich zu. Mit dem Gesetz vom 9. März 1801 wurden die eroberten Gebiete völkerrechtlich anerkannter Bestandteil der französischen Republik, der in die vier Departements Rur mit der Hauptstadt Aachen, Saar mit der Hauptstadt Trier, Rhein-Mosel mit der Hauptstadt Koblenz und Donnersberg mit der Hauptstadt Mainz untergliedert wurde. Zugleich gelangte im vormals linksrheinischen Deutschland die französische Revolutionsgesetzgebung zur Anwendung, was unter anderem die ersatzlose Abschaffung aller Feudalrechte bedeutete. Zu diesen tiefgreifenden gesellschaftlichen und sozialen Konsequenzen27 kam mit dem Napoleonischen Konkordat von 1801 die kirchenorganisatorische Neuordnung  : Die linksrheinischen Diözesananteile der kanonisch ja noch bestehenden Germania sacra wurden organisatorisch und personalpolitisch fest in das französische Kirchensystem integriert.28 Mit dem Frieden von Lunéville hatte Frankreich ein zentrales Ziel erreicht  : den Rhein als die Grenze zu Deutschland. Die Rheingrenze, die sich an Flüssen und Bergen orientierende französische Raumgliederung in den linksrheinischen Departments – das verweist auf das zeitgenössisch vieldiskutierte Ordnungsmodell der natürlichen Grenzen. Dahinter stand die Vorstellung, dass von der physischen Beschaffenheit der Erdoberfläche politische Raumvorstellungen abgeleitet werden könnten und dass Berge und Flüsse Staatlichkeit prädisponierten und 26 Vgl. ebd.; Hermann Uhrig, Die Vereinbarkeit von Art. VII des Friedens von Lunéville mit der Reichsverfassung, Diss. Tübingen 2011, https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/ 10900/43756 (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 27 Vgl. zusammenfassend Müller (wie Anm.  8), S.  49–81  ; Michael Müller, Säkularisation und Grundbesitz. Zur Sozialgeschichte des Saar-Mosel-Raums 1794–1813, 1980  ; Schieder/Kube (wie Anm. 8). 28 Vgl. Lill (wie Anm. 7), S. 91–103.

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konturierten.29 Das bekannteste Beispiel für dieses Konzept, in dem die Natur zur normativen Instanz für Grenzziehungen wurde, ist zweifelsohne die Rheingrenze, die zugleich zeigt, wie anfällig das Modell der natürlichen Grenzen für politische Instrumentalisierung und Projektionen ist. Für die deutschen Raumtheoretiker der Sattelzeit war es mitnichten der Rhein, der die natürliche Grenze konturierte, sondern sie verlegten diese weiter westlich, in die Gebirgszüge von Jura, Vogesen und Ardennen, die Wasserscheide zum Rhein. Und dass Napoleon keineswegs gewillt war, am Rhein haltzumachen, ist bekannt. Er bestätigte hiermit die scharfsinnige Kritik des konservativen Publizisten Karl Ludwig von Haller, der feststellte, das System der natürlichen Grenzen ähnele dem Umgang von Kindern mit dem Horizont  : von Berg zu Berg, von Fluß zu Fluß, zuletzt alle vier Welttheile […]. Unbedingt natürliche Grenzen zu wollen, ist demnach so viel, als gar keine Grenzen zu wollen.30 III. Phasen der Erosion und Zerfallsprodukte des Alten Reiches (1801–1813)

Das Modell der natürlichen Grenzen entfaltete in der Umbruchphase um 1800 zwar zeitweise ganz erhebliche Attraktivität, praxisrelevant wurde es freilich nur bedingt, etwa bei der binnenstaatlichen Raumgliederung nach Flüssen. Die Konturierung der äußeren Grenzen war dann doch eine Sache der Macht- und Interessenpolitik, und in der mit dem Frieden von Lunéville ausgelösten Phase 2 der territorialen Revolution um 1800 begann der von religiösen und politischen Skrupeln unbeeinträchtigte Wettlauf um Entschädigungen für die linksrheini29 Vgl. Hans-Dietrich Schultz, »Natürliche Grenzen« als politisches Programm, in  : Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 1, hrsg. von C. Honegger/S. Hradil/F. Traxler, 1999, S. 328–343  ; Peter Sahlins, Natural Frontiers Revisited. France’s Boundaries since the Seventeenth Century, in  : American Historical Review 95 (1990), S. 1423–1451  ; Iris Schröder, Die Grenzen der Experten. Zur Bedeutung der Grenzen in deutsch-französischen Geographien des frühen 19. Jahrhunderts, in  : Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert, hrsg. von E. François/J. Seifarth/B. Struck, 2007, S. 267–292  ; Henrik Schwanitz, Von der Natur zu einer Nation bestimmt. Die Idee der »natürlichen Grenzen« im deutschen Frühnationalismus, in  : Zwischen Geschichte und Geographie, zwischen Raum und Zeit, hrsg. von W. Schenk/J.-E. Steinkrüger, 2015, S. 55–64. 30 Karl Ludwig von Haller, Was ist besser, Krieg oder Frieden mit den Franzosen. Nebst einigen Betrachtungen über die lezten vermuthlichen Friedens-Präliminarien, 1800, S. 41 f. Für den Hinweis danke ich Henrik Schwanitz, dessen Dissertation zum Thema der natürlichen Grenzen vor dem Abschluss steht.

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schen Verluste im rechtsrheinischen Deutschland. Im Artikel VII des Friedens hatte sich ja das Reich verpflichtet, jenen Erbfürsten – auf diesen Begriff wird es noch ankommen – die von ihren Besitzungen auf dem linken Rhein-Ufer entsetzet werden, eine Entschädigung zu geben, welche in dem gedachten teutschen Reiche selbst genommen werden müsse.31 Die Entschädigungsverhandlungen wurden von Kaiser Franz II. einer in Regensburg tagenden Reichsdeputation übertragen, die am 24. August 1802 erstmals zusammentrat. Dieser reichlich späte Zeitpunkt sagt bereits alles über deren Stellenwert. Zwischenzeitlich waren die auf Optimierung ihres Säkularisationsgewinns bedachten Reichsstände nämlich schon längst mit Frankreich in Einzelverhandlungen eingetreten, und Paris wurde zum Umschlagplatz bedeutender Bestechungsgelder.32 Preußen erhielt im Abkommen vom 23.  Mai 1802 seine Entschädigungsgebiete zugesprochen, die weit über die linksrheinischen Verluste hinausgingen  ; die schätzungsweise 2000  Quadratkilometer und 140.000 Menschen umfassenden linksrheinischen Verluste wurden mit der Zuweisung von ca. 12.000 Quadratkilometern und ca. 600.000 Menschen um ein Mehrfaches kompensiert. Gleichfalls im Mai 1802 hatten die württembergischen und bayerischen Gesandten in Paris Vorverträge über die ihren Regierungen zugedachten geistlichen Gebiete abgeschlossen. Die Regensburger Reichsdeputation war die nur mehr nachvollziehende Gewalt, deren Schlussdokument, der Reichsdeputationshauptschluss vom 25.  Februar 1803, die Tektonik des Reiches in seinen Grundfesten erschütterte. In der nördlichen Reichshälfte baute Preußen eine hegemoniale Stellung auf und aus  – eine Fokussierung, die einer faktisch seit den 1790er Jahren zu beobachtenden Entflechtung von südlich-habsburgischem und nördlich-preußischem Reichsteil folgte. Durch die Zugewinne Preußens 1803 wurde diese Politik fortgeschrieben. Parallel dazu wurde nun allerdings der habsburgische Einfluss im Süden des Reiches durch die mit französischer Unterstützung erfolgende territoriale Ausstattung und politische Aufwertung Bayerns, Württembergs und Badens immer fragwürdiger. Dem korrespondierte die habsburgische Distanzierung von einem erodierenden Reich, die in der Begründung eines österreichischen Kaisertums durch Franz  II im August 1804 kulminierte. Natürlich war das eine Reaktion darauf, dass sich Napoleon im Mai 1804 zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte – aber dass der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in Titelkonkurrenz zu sich selbst trat und ein österreichisches Erbkaisertum begründete, war eine das Ende des Alten 31 Text des Friedens von Lunéville im Internetportal »Westfälische Geschichte«, http://www.lwl.org. 32 Vgl. Müller (wie Anm. 9), S. 15 ff.

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Reiches fast schon vorwegnehmende Bankrotterklärung. Was folgte, war eine weitere vernichtende Niederlage des kaiserlichen Heeres gegen Napoleon 1805. Die süddeutschen Staaten hatten sich dabei den französischen Truppen angeschlossen und verabschiedeten sich alsbald auch offiziell vom Reich – nicht ohne noch einmal darauf hinzuweisen, wo aus ihrer Sicht der Keim für den Zerfall des Reiches lag  : 1795, mit dem Frieden von Basel, habe sich jene Absonderung des nördlichen und südlichen Deutschlands ereignet, die nothwendig alle Begriffe von gemeinschaftlichem Vaterlande und Interesse33 habe verschwinden lassen. So begründeten die süddeutschen Staaten ihren Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und den darauffolgenden Eintritt in den Rheinbund im Juli 1806. Der Anschluss an Napoleon brachte einen neuen Schub von Mediatisierungen. Im sog. Rittersturm hatten sich zwar Bayern und Württemberg bereits 1803 der meisten süddeutschen Reichsritterschaften bemächtigt, noch 1806 wurde dieser illegale Schritt durch die Rheinbundakte nachträglich legitimiert. Und gleichfalls noch 1806, im Dezember, wurde das zum Königreich erhobene Sachsen in den Rheinbund integriert. Vorausgegangen war die Niederlage Preußens und Sachsens in der Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806. Preußische Überlegungen zur Gründung eines Nördlichen Bundes bzw. Norddeutschen Reichsbundes, über die bereits Denkschriften und Konstitutionsentwürfe zwischen Berlin und Dresden ausgetauscht worden waren,34 wurden damit endgültig obsolet. Während Napoleon Sachsen nach dem Desaster von Jena und Auerstedt eine goldene Brücke baute, indem er sich als Befreier von der preußischen Unterdrückung empfahl und mit der Rangerhöhung lockte, wurde Preußen abgestraft  : Preußen und seine Hauptstadt Berlin wurden von französischen Truppen besetzt,35 König Friedrich Wilhelm  III. und seine Gemahlin mussten nach Ostpreußen fliehen und konnten erst 1809 nach Berlin zurückkehren. Gleichzeitig wurden die Zuweisungen des Reichsdeputationshauptschlusses zurückgenommen. Nicht zuletzt wurde der preußische Cottbuser Kreis 1807 Sachsen zugeschlagen, das überdies im Juli 1807 mit dem Frieden von Tilsit 33 Aus der Erklärung der Rheinbundstaaten über ihren Austritt aus dem Reich, in  : Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. von K. Zeumer, 1913, S. 537. 34 Vgl. Kittstein (wie Anm. 16), S. 293–354. Zur sächsischen Außenpolitik vgl. Dorit Petschel, Sächsische Außenpolitik unter Friedrich August I. Zwischen Rétablissement, Rheinbund und Restauration, 2000. 35 Vgl. Brendan Simms, The Impact of Napoleon. Prussian High Politics, Foreign Policy and The Crisis of the Executive, 1997  ; Kittstein (wie Anm. 16), S. 407 ff.; Die Franzosen in Berlin 1806– 1808, hrsg. von W. Giebel, 2006.

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das Herzogtum Warschau erhielt,36 das Napoleon aus den im Zuge der zweiten und dritten Teilung Polens an Preußen gefallenen Gebieten als Pufferstaat gegen Preußen, Österreich und Russland errichtet hatte.37 Die Jahre 1806/07 markieren also die Phase  3 der territorialen Revolution,38 für die folgende Zerfallsprodukte des Alten Reiches festgehalten werden können  : erstens das vormals linksrheinische Deutschland als völkerrechtlich anerkannter Bestandteil der französischen Republik  ; zweitens Preußen, nach Jena und Auerstedt bzw. dem Frieden von Tilsit ( Juli 1807) als ein von Frankreich besetzter Rumpfstaat  ; drittens das 1804 begründete Kaisertum Österreich, das 1805 mit dem Ende des Dritten Koalitionskrieges im Pressburger Frieden Tirol, Vorderösterreich und italienische Besitzungen wie Venetien verloren hatte und das 1809 nach dem Fünften Koalitionskrieg im Frieden von Schönbrunn weitere Verluste hinnehmen musste  : unter anderem die von Napoleon zu den Illyrischen Provinzen zusammengefassten Gebiete Dalmatiens und Istriens  ; Salzburg fiel an Bayern  ; viertens der Rheinbund, dessen Mitglieder als französische Satellitenstaaten fest ins napoleonische System eingebunden waren, also die süddeutschen Staaten vor allem, Sachsen, das von einem Bruder Napoleons regierte Königreich Westphalen39 mit seiner vormals kurhessischen Hauptstadt Kassel  ; fünftens schließlich ein Konglomerat unterschiedlicher Herrschaftsrechte unter Beteiligung nichtdeutscher Fürsten  : das Herzogtum Holstein, das von Dänemark regiert wurde, Schwedisch-Pommern, noch das ehemalige Kurfürstentum Hannover, nominell in der Personalunion mit England, faktisch seit 1803 Spielball Preußens und Frankreichs, dazu noch das Fürstentum Erfurt als eine unmittelbar Napoleon unterstellte französische Exklave40 im ansonsten rheinbündischen Raum Thüringen. 36 Vgl. Jarosław Czubaty, Księstwo Warszawskie (1807–1816), 2011. 37 Vgl. Rudolf Jenak, Das Königreich Sachsen und das Herzogtum Warschau  : Probleme einer politischen, staatsrechtlichen und ökonomischen Beziehung (1807–1813), in  : G. Martin/J. Vötsch/P. Wiegand (wie Anm. 12), S. 123–136. 38 Winfried Müller, Territoriale Revolution und Neuordnung zwischen der Erosion des Alten Reiches und dem Wiener Kongress, in  : 1815  : Europäische Friedensordnung – Mitteldeutsche Neuordnung. Die Neuordnung auf dem Wiener Kongress und ihre Folgen für den mitteldeutschen Raum, hrsg. von U. Höroldt/S. Pabstmann, 2017, S. 20–42. 39 Vgl. Regierungsakten des Königreichs Westphalen 1807–1813, hrsg. von K. Rob, 1992  ; Napoleon und das Königreich Westphalen. Herrschaftssystem und Modellstaatspolitik, hrsg. von A. Hedwig/K. Malettke/K. Murk, 2008  ; Modell und Wirklichkeit. Politik, Kultur und Gesellschaft im Großherzogtum Berg und im Königreich Westphalen, hrsg. von G. Dethlefs, 2008. 40 Vgl. Horst Moritz/Marina Moritz, Das Fürstentum Erfurt und die Herrschaft des Großen Kaisers. Leben und Sterben in bewegter Zeit (1806–1814), 2008.

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IV. Ordnungskonzepte bis zum Wiener Kongress (1813–1815)

Dies war die Konstellation, die bis zum Scheitern des napoleonischen Russlandfeldzugs 1812 bzw. bis zur endgültigen Niederlage des Imperators in der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813 stabil war. Dann wurde der die Jahre 1792 bis 1813 erfassende Film zumindest teilweise zurückgespult  : Das links­ rheinische Deutschland musste von Frankreich bereits mit dem am 31. Mai 1814 ratifizierten Frieden von Paris wieder preisgegeben werden. Das bedeutete zwar, dass Frankreichs Traum vom Rhein als der natürlichen Grenze zu Deutschland ausgeträumt war. Indem Frankreich selbst aber unangetastet blieb, war damit zugleich eine dann auch auf dem Wiener Kongress verfolgte Generallinie deutlich geworden  : Es ging den Siegermächten nicht um Abstrafung, sondern im Sinne des Gleichgewichtsdenkens sollte Frankreich als veritable europäische Macht erhalten bleiben und weiterhin eine wichtige Rolle spielen.41 Wenngleich Frankreich wieder in die Grenzen von 1792 verwiesen wurde, so trifft das Bild vom zurückgespulten Film indes nur einen Teil der Wahrheit. Insgesamt wurde nämlich nur sehr partiell zur Ausgangssituation zurückgekehrt. Vieles, was zwischen 1795 und 1806 geregelt worden war, hatte über 1812/13 und dann über 1815 hinaus Bestand. Die 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluss zugewiesenen Entschädigungen für die linksrheinischen Verluste bzw. die mit dem Ende des Alten Reiches zugewiesenen Mediatisierungen waren irreversibel. Die Landkarte des Alten Reiches mit ihren mehreren Hundert Reichsständen blieb auch über 1814/15 hinaus radikal applaniert. Diese territorialpolitischen Konsequenzen gilt es sich vor Augen zu halten, wenn man die gemeinhin mit dem Wiener Kongress verbundenen Schlüsselbegriffe wie Restauration oder Legitimitätsprinzip abruft. Fragt man nach den Profiteuren, so zeigt der Blick auf die politische Landkarte rasch, dass Preußen nicht nur mit der Provinz Westfalen, sondern auch mit dem geschlossen links des Rheins liegenden Gebiet der Rheinprovinz ausgestattet wurde. Auch Bayern, das sozusagen 5 Minuten vor 12 noch die Seiten gewechselt hatte und kurz vor der Leipziger Völkerschlacht ins Lager der antinapoleonischen Koalition eingetreten war, wurde links des Rheins ausgestattet – mit dem Rheinkreis bzw. der Pfalz oder Rheinpfalz. Die linksrheinischen Verluste, die Preußen und Bayern einmal zu beklagen gehabt hatten, waren schon damit mehr als kompensiert. Dazu kam aber noch ein zweiter Aspekt  : Die 1803 41 Vgl. Thierry Lentz, 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, 2014, S. 47 ff.; Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, 2016, S. 487–505.

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mit dem Reichsdeputationshauptschluss zugewiesenen Entschädigungen für die linksrheinischen Verluste bzw. die mit dem Ende des Alten Reiches zugewiesenen Mediatisierungen wurden gleichfalls einbehalten. Für Preußen bedeutete das konkret, dass die 1803 zugewiesenen und mit dem Frieden von Tilsit zwischenzeitlich aberkannten Gebiete erneut zuerkannt wurden  : die Provinz Westfalen, die ehemals kurmainzischen Gebiete um Erfurt, die westelbischen Gebiete mit Halle und Magdeburg – und dazu sollten auf dem Wiener Kongress noch Teile Sachsens kommen, das für sein Verharren an der Seite Napoleons abgestraft wurde.42 Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, sei noch ein Aspekt angesprochen, der – vor dem Hintergrund der Vehemenz der Konfessionskonflikte und -kriege der Vormoderne ist das doch erstaunlich – seit 1803 eher beiläufig behandelt wurde  : Die im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation weithin gegebene Identität von Staats- und Konfessionsgrenze gehörte der Vergangenheit an. Vielmehr mussten  – man denke an die protestantischen neubayerischen und die katholischen altbayerischen Gebiete oder an das protestantische Preußen und seine katholische Rheinprovinz – historische Regionen mit unterschiedlichen konfessionskulturellen Prägungen und Traditionen unter dem Dach eines Staates homogenisiert werden.43 Unter dem Druck der Ereignisse und vorbereitet zweifelsohne durch die Toleranzdiskussion des 18. Jahrhunderts setzte der bürokratische Staat des frühen 19.  Jahrhunderts auf diese Weise eine binnenstaatliche Interkonfessionalität durch. Konfessionsdifferenz und Konfessionskonkurrenz waren also kein interterritoriales Problem mehr, sondern wurden vom zwischenstaatlichen zum Binnenproblem,44 wobei die konfessionelle Homogenität einzelner Landesteile noch sehr lange erhalten blieb.45 Im Grunde brachte hier erst der Zustrom der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg eine Applanierung der Konfessionslandschaften. Gleichwohl  : Die Tatsache, dass sich seit dem Ende des Alten Reiches konfessionell eindeutig geprägte und zu42 Vgl. Reiner Marcowitz, Finis Saxoniae  ? Frankreich und die sächsisch-polnische Frage auf dem Wiener Kongress 1814/1815, in  : Neues Archiv für Sächsische Geschichte 68 (1997), S. 157–184  ; Isabella Blank, Der bestrafte König  ? Die Sächsische Frage 1813–1815, Diss. Heidelberg 2013, S.  100, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/15630/1/Der bestrafte König_Dissertation Blank.pdf (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 43 Zu den historischen Abläufen im Überblick Müller (wie Anm. 8), S. 49–81. 44 Vgl. hierzu Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970  : ein zweites konfessionelles Zeitalter, hrsg. von O. Blaschke, 2002. 45 Vgl. Region und Nation. Katholizismus im Europa des 19. und 20.  Jahrhunderts, hrsg. von U. Altermatt/F. Metzger, 2007.

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vor politisch autonome Regionen unter dem Dach eines konfessionell pluralen Staates arrangieren, dass sich die Kirchen in Staaten orientieren und behaupten mussten, die nicht mehr nur auf eine Konfession festgelegt waren, das dürfte im 19. Jahrhundert entscheidend zu einer Neuakzentuierung des Konfessionalismus beigetragen haben, die in der Forschung das Schlagwort von der Zweiten Konfessionalisierung zeitigte.46 Ein weiterer Gesichtspunkt, der gleichfalls das Verhältnis von Staat und Kirche berührt, betrifft die Konzepte hinter den geschilderten tiefgreifenden Umschichtungs- und Neuordnungsplänen. Natürlich kann man hier sagen, es sei die schiere Machtpolitik gewesen, die die Konkursmasse des Alten Reiches sortierte. Ungeachtet dessen hatten die Umschichtungen bzw. die Tatsache, dass es die geistlichen Reichsstände und die Reichsstädte traf, aber doch auch eine innere Logik. Diese führt noch einmal zurück zum Frieden von Lunéville 1801, in dem ja von den Erbfürsten die Rede war,47 die für ihre linksrheinischen Verluste entschädigt werden sollten. Damit war klar, dass nur weltliche Fürsten, die ihre Herrschaft in dynastischer Erbfolge weitergaben, entschädigungsberechtigt waren – nicht aber die geistlichen Fürsten, die als Bischöfe ja formell vom jeweiligen Domkapitel gewählt wurden, mithin als Wahlfürsten galten. Aus der Tatsache, dass dem kirchlichen Amtsinhaber keine individuelle Verfügungsgewalt über das als Korporationseigentum geltende Kirchengut, sondern nur ein befristetes Nutzungsrecht zustand, wurde abgeleitet, das Aufsichts- und Dispositionsrecht, das dominium eminens, liege in letzter Instanz beim Staat. Dazu kam die Denkfigur der necessitas, mit der die Zulässigkeit von  – indirekt ja wieder dem Kirchenschutz zugute kommenden – Kirchengutseinziehungen aus Notsituationen des weltlichen Staates abgeleitet wurde.48 Und an denen fehlte es an der Wende vom 18. zum 19.  Jahrhundert nun wahrlich nicht. So ließ es sich begründen, dass Herrschafts- und Vermögenssäkularisation gleichermaßen griffen  : Herrschaftssäkularisation als Verlust der Reichsunmittelbarkeit, der Mediatisierung und In46 Vgl. Olaf Blaschke, Das 19. Jahrhundert  : Ein Zweites Konfessionelles Zeitalter, in  : Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 38–75  ; Anthony J. Steinhoff, Ein zweites konfessionelles Zeitalter  ? Nachdenken über die Religion im langen 19. Jahrhundert, in  : Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 549–570  ; Winfried Müller, Nach der Aufklärung – die These vom 19. Jahrhundert als zweitem konfessionellen Zeitalter, in  : Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. von U. Rosseaux/G. Poppe, 2012, S. 221–232. Vgl. auch Religion im Kaiserreich. Milieus, Mentalitäten, Krisen, hrsg. von O. Blaschke/F.-M. Kuhlemann, 1996, S. 193–232. 47 Siehe oben, wie Anm. 31. 48 Zur Säkularisationsdiskussion des 18. und 19.  Jahrhunderts vgl. Säkularisierung und Säkularisation vor 1800, hrsg. von A. Rauscher, 1976  ; Säkularisation und Säkularisierung im 19. Jahrhundert, hrsg. von A. Langner, 1978  ; Müller (wie Anm. 9), S. 1–29.

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tegration geistlicher Territorien in weltliche Staaten auf der einen Seite und auf der anderen als unmittelbare Folge der völker- und staatsrechtlichen Annexion die Einziehung des bischöflichen und domkapitelischen Besitzes durch weltliche Landesherren.49 Davon wiederum leitet sich aufgrund eingebauter Schutzklauseln für den Erhalt der Domkirchen und der Pfarrvermögend das bis auf den heutigen Tag gültige System der Staatsleistungen an die Kirchen ab.50 Diese unterschiedliche Wahrnehmung von Korporationen und physischen Personen setzte sich im Übrigen bei den Mediatisierungen fort. Bei den Reichsstädten handelte es sich wie bei den geistlichen Staaten gleichfalls nicht um »physische Personen«, sondern um Korporationen. Soll heißen   : Auch hier konnte die Differenzierung in Individual- und Korporationseigentum greifen und der Mediatisierung konnte eine Verstaatlichung des kommunalen Vermögens durch die neuen Landes- und Stadtherren folgen. Hingegen wurden die kleinen Adelsherrschaften der Reichsritterschaft zwar mediatisiert und größeren Territorialeinheiten zugeschlagen, allerdings wurde der mediatisierte Reichsadel nicht enteignet und gewissermaßen als Trostpflaster für den Verlust der Landeshoheit wurde dem ehemals reichsständischen Adel das Prädikat »Standesherren« verliehen und die Ebenbürtigkeit mit regierenden Dynastien verbrieft.51 Die Achtung der Rechte physischer Personen und weltlicher Familien wurde auf dem Wiener Kongress insofern fortgeschrieben, als dort das Legitimitätsprinzip, verstanden als das Recht der alten Dynastien, eine gewichtige Rolle spielte. Gerade die sächsisch-polnische Frage war hierbei der Ansatzpunkt, mit dem sich Frankreichs Außenminister Talleyrand als Hüter des Legitimitätsprinzips, als uneigennütziger Vertreter der Mindermächte und als Wahrer des europäischen Gleichgewichts profilierte. Um Preußens und Russlands Ansprüche auf Sachsen und Polen zu vereiteln, gab Talleyrand die Devise aus, selbst ein Souverän, dessen Land erobert worden sei, bleibe Herrscher über sein Land, solange er nicht offiziell auf seine Rechte verzichtet habe. Und als trotzdem eine Totalannexion Sachsens zur Debatte stand, sollte dieser der Ruch der Fürstenenteignung genommen werden und es wurde erwogen, Friedrich August in Italien mit Anteilen des vormaligen Kirchenstaats zu entschädigen.52 Das lag noch ganz auf der 49 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1  : Reform und Restauration 1789 bis 1830, 1957, S. 54. 50 Vgl. Winfried Müller, Staatsleistungen an die katholische Kirche in Bayern, in  : Gatz (wie Anm. 8), S. 108–126. 51 Vgl. Gollwitzer (wie Anm. 10). 52 Vgl. Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress, 2013, S. 86. Zur sächsisch-polnischen Frage vgl. auch Anm. 42.

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vormodernen Linie etwa des Reichsdeputationshauptschlusses, als eben Fürsten entschädigt und von einem Territorium zum nächsten verschoben wurden. Die Ordnungsvorstellungen des Wiener Kongresses gingen von der Dynastie aus – allerdings in dem Rahmen, der 1806/07, am Ende der in diesem Beitrag vorgestellten dritten Phase des Erosions- und Umschichtungsprozesses, vorgefunden wurde. Nur wer es bis 1806/07 geschafft hatte, die unsicheren Zeitläufte einigermaßen unversehrt zu überstehen, durfte sich auf dem Wiener Kongress berechtigte Hoffnungen auf seine weitere Existenz machen.53

Deutschland nach dem Reichsdeputationshauptschluss (RDH) 1803.

53 Vgl. hierzu insbesondere auch Michael Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress, 1996.

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Deutschland in der Zeit Napoleons 1812.

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Reinhard Stauber

Föderative Staatlichkeit in der Mitte Europas Zur Entstehung des Deutschen Bundes

I. Ein »Staatenverein« für Deutschland II. Hegemonie der großen Mächte? III. Die »Mindermächtigen« IV. Napoleons Rückkehr und ihre Auswirkungen V. Die Deutsche Bundesakte und ihre Möglichkeiten VI. Föderative Ordnungen im Vergleich VII. Föderalismus und Konföderation VIII. Das Grundmuster föderativer Staatlichkeit in der deutschen Geschichte

Die Anerkennung der souveränen Stellung der Einzelstaaten und des territorialen Status quo des Jahres 1805 gehörten zu den zentralen, unhinterfragten Grundsätzen der politischen Entscheider, als in der antinapoleonischen Allianz ab dem Spätjahr 1813 über die anstehende Neuordnung Mitteleuropas beraten wurde. Im Gegensatz zur national inspirierten Rhetorik etwa der Proklamation von Kalisch, die die Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches evozierte, finden wir im eigentlichen Gründungsdokument der Allianz gegen Frankreich, den Teplitzer Verträgen vom September 1813, die absolute Unabhängigkeit der Einzelstaaten (l’indépendance entière & absolue des Etats intermédiaires) in aller Deutlichkeit verankert.1 Besonders Klemens Wenzel von Metternich, der leitende Minister der habsburgischen Monarchie, setzte sich für eine Politik ein, die von der weitestgehenden Anerkennung des territorialen […] Status quo ausging.2 Im Zuge der letzten Versuche im Februar 1814, mit Napoleon noch zu einer Verhandlungslösung zu kommen, schrieb er im Benehmen mit seinen Kollegen aus Russland, Großbritannien und Preußen jene Kombination von Fürstensouveränität und 1 Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1  : Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, hrsg. v. E. R. Huber, 1978, Nr. 28 (Kalisch)  ; Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Bd. 1/1  : Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813–1815, bearb. von E. Treichel, 2000, Nr. 5 (Teplitz). 2 Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, 2011, S. 266  ; vgl. Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, 2016, S. 451 f, 516–518.

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Föderativprinzip politisch fest (l’Allemagne composée de princes souverains uni par un lien fédératif qui assure […] l’indépendance de l’Allemagne),3 die für den Pariser Frieden und den Wiener Kongress richtungsweisend werden sollte. Ebenso präsent war dieser Grundsatz in der Politik Preußens spätestens seit dem Allianzvertrag von Bartenstein mit Russland 1807, der für die Neugestaltung des deutschen Raumes die Herstellung einer konstitutionellen Föderation im engen Benehmen zwischen Preußen und Österreich vorsah.4 Mit dem Vertrag von Ried (8. Oktober 1813), der Bayern gegen die Zusage vollständiger Souveränität (la Souveraineté pleine et entière), Unabhängigkeit (l’indépendance entière et absolue) und Garantie des territorialen Besitzstandes aus dem Bündnis mit Frankreich löste,5 setzte Metternich, sehr zum Unwillen des Freiherrn Karl vom und zum Stein, das entscheidende strategische Signal, die deutsche Staatenordnung mit dem Status von 1803/05 – also nach der Säkularisation, aber vor den vernichtenden Siegen Napoleons  – anzuerkennen, ebenso das Prinzip respektierter Ebenbürtigkeit6 unter diesen Staaten. Taktisch ging es Metternich in der Situation des Spätjahrs 1813 um ein Zeichen an möglichst viele Staaten des auseinanderbrechenden Rheinbundes, dem Beispiel Bayerns zu folgen. Dies gelang für Württemberg mit dem Vertrag von Fulda (2. November 1813) und für eine ganze Reihe weiterer Staaten mit den Frankfurter Assoziationsverträgen (14. November bis 7. Dezember 1813)  ; hier fand sich die Zusage staatsrechtlicher Souveränität allerdings an unterschiedlich formulierte Verpflichtungen gebunden, ein noch auszuarbeitendes Rahmenwerk für die Neuordnung Deutschlands anzuerkennen.7 Die summarische Bestätigung des Föderativprinzips bei Gründung der Quadrupelallianz Anfang März 1818 führte schließlich zur lapidaren Minimalformel des Art. 6 des Ersten Friedens von Paris Les Etats de l’Allemagne seront indépendans et unis par un lien fédératif.8 3 August Fournier, Der Congress von Châtillon. Die Politik im Kriege von 1814. Eine historische Studie, 1900, S. 307. 4 Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde  ? Das Bündnis in Europa 1714–1914, 2010, S. 185 f. 5 Vertrag von Ried in  : Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 7, S. 44 f. 6 Siemann (wie Anm. 2), S. 435 f  ; vgl. Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 14, S. 91. 7 Vertrag von Fulda in Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 9, hier S. 63. Der Beitrittsvertrag Hessen-Darmstadts zum Teplitzer Bündnis (Frankfurt/Main, 23.  November 1813) formuliert in Art. 4  : Son Altesse Royale s’engage à se conformer […] en général aux arrangements qu’exigera l’ordre des choses qui sera définitivement établi pour le maintien de l’indépendance de l’Allemagne (ebd., Nr. 10, S. 66). Vgl. dazu Michael Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Alten Reich bis Weimar (1495–1934), 2008, S. 296. 8 Treichel, Quellen (wie Anm.  1), Nr.  27, S.  158. Wertung bei Reinhart Koselleck, Bund, Bünd-

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I. Ein »Staatenverein« für Deutschland

Unter diesen Voraussetzungen, so folgerte Wilhelm von Humboldt, damals preußischer Gesandter in Wien, noch vor Jahresende 1813, könne von einem Gesamtstaat und einem restaurierten Kaisertum keine Rede sein. Als Band für das Ganze könne man bloß einen Staatenverein, einen Bund bilden, unkündbar und auf ewige Zeiten.9 Humboldt entwarf gleichzeitig einen ersten Plan für die Ausgestaltung eines solchen interstaatlichen Vertragssystems – so wird man lien fédératif im gegebenen Kontext wohl am besten übersetzen. Grundlage wie Bedingung des wie auch immer ausgestalteten Systems war ihm dabei engstmögliche politische Koordination zwischen Berlin und Wien. Grundlage der zahlreichen nun folgenden Entwürfe aus Berlin war – und blieb noch lange – das Modell einer doppelten Hegemonie Österreichs und Preußens über den Bund, das auf der Basis eines Systems mehrerer Kreise und militärischer Kontrolle des Südens bzw. Nordens, getrennt an der Mainlinie, aufruhen sollte. Abgestufte Mitspracherechte sollten in diesem Modell lediglich zwei oder drei weitere Einzelstaaten zugestanden werden. In einer pointierten Debatte mit Friedrich Gentz bekannte Humboldt sich ausdrücklich zu dieser hegemonialen Konzeption als Grundlage für ein funktionsfähiges Vertragssystems  ; im April 1814 bezeichnete er es erstmals als Ligue Germanique, Deutscher Bund.10 Humboldt plante, eng abgestimmt zwischen Berlin und Wien, über den Sommer 1814 einen acte constitutionnel de la Ligue Germanique auszuarbeiten und gleich zu Beginn des nach Wien einberufenen europäischen Kongresses genehmigen zu lassen.11 Doch dieses Vorhaben sollte sich als unrealistisch erweisen. Als Indikatoren für das Maß an Staatlichkeit, das dem Bundessystem nach diesen frühen Plänen hätte zukommen sollen, können die Ausgestaltung von Institutionen wie das Bundesgericht oder die Dichte der Homogenitätsvorgaben12 für die innere Ordnung der Mitgliedstaaten herangezogen werden. Beim Bundesgericht stellte sich die Frage, ob es nur als Schiedsinstanz unter den Bundesgliedern fungieren oder auch für Rekurse einzelstaatlicher Untertanen zuständig sein sollte. Die Rahmenvorgaben sahen etwa die Einrichtung von Landständen oder einen Katalog grundlegender Individualrechte für alle Untertanen vor. Die nis, Föderalismus, Bundesstaat, in  : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, 1972, S. 583–671, 656. 9 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 12, S. 76, 80. Vgl. Gall (wie Anm. 2), S. 267–271. 10 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 13, S. 88 f  ; Nr. 16, S. 95–98  ; Nr. 22, S. 123 (Zitat). 11 Ebd., Nr. 28, S. 169 (London, Juni 1814). 12 Kotulla (wie Anm. 7), S. 339.

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»41 Artikel« des leitenden Ministers Preußens, Karl August von Hardenberg, enthielten bereits in ihrer ersten Fassung von Anfang Juli 1814 eine eindrucksvolle Liste möglicher staatenübergreifender Gesetze und nützliche[r] Einrichtungen […] zum Wohl des Ganzen, als z.B. ein allgemeines Gesetzbuch, ein gleiches Münzwesen, eine zweckmäßige Regulierung der Zölle, des Postwesens, Erleichterung des Handels usw.13 Als besonders heikles Problem erwies sich der Status, der den zwischen 1803 und 1806 mediatisierten Fürsten, Grafen und Herren zukommen sollte, denn hier ging es direkt um Souveränität und territoriale Integrität der Profiteure der Mediatisierung, also der Fürsten der großen Rheinbundstaaten. Der Freiherr vom Stein trieb seit langem hohen rhetorischen Aufwand, um die wilde […] Neuerungssucht und die tolle […] Aufgeblasenheit der ehemaligen Rheinbundfürsten zu geißeln.14 Fast zwei Jahre lang drehten sich die Debatten, bis in die letzten Momente vor der Verabschiedung der Deutschen Bundesakte, um das Ob und Wie der Vertretung der Mediatisierten in den Bundesgremien und den Schwellenwert der Bevölkerungszahl für die Vertretung per Virilstimme. So war es auch alles andere als zufällig, dass Streit über die ausdrückliche Nennung der »Souveränität« als Attribut der Mitgliedstaaten entstand und phasenweise Ersatzbegriffe wie »Landeshoheit« oder »wesentliche Regierungsrechte« in den Entwürfen auftauchten. Stein, der als in Nassau selbst betroffener Mediatisierter den sultanism der Rheinbundfürsten zum Feindbild erhoben hatte,15 notierte dazu im Juli 1814  : Man muß ausdrücklich bestimmen, daß die Souveraenitaet in Deutschland keine unbegrenzte, sondern eine durch Gesetze beschränkte sey.16 II. Hegemonie der großen Mächte?

Das letzte der preußischen Bundesmodelle, wie es in Gestalt der zweiten Fassung der »41 Artikel« Hardenbergs Anfang September 1814 in Wien vorlag, lief faktisch immer noch auf ein Protektorat der beiden Großmächte17 hinaus, militärische Dominanz eingeschlossen. Ausdrücklich schrieb Hardenberg noch einmal an Metternich, ihren beiden Staaten stehe im Bund la voix décisive zu, allen 13 Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/15, hrsg. von K. Müller, 1986, Nr. 65, S. 318 f (Art. 39). 14 Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, 2007, S. 292 f. 15 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 32, S. 190. 16 Ebd. 17 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), S. LII.

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anderen Mitgliedsstaaten nur Konsultationsrechte.18 Metternichs Experten in der Wiener Staatskanzlei sahen in den »41 Artikeln« vor allem ein Vehikel des preußischen Expansionswillens und arbeiteten sie gründlich um zu einem knapper und allgemeiner gehaltenen Rahmenplan19 ohne konkrete Festlegungen in den strittigen Punkten. Über diese nunmehr »Zwölf Artikel« vom 14. Oktober 181420 wurde zu Beginn des Wiener Kongresses in einem eigens eingesetzten Ausschuss verhandelt, in dem neben Österreich und Preußen noch Großbritannien (für Hannover), Bayern und Württemberg vertreten waren. Die Zuziehung der beiden süddeutschen Königreiche brachte, wie absehbar, jede Menge an Konfliktpunkten zum Vorschein  : um das Stimmengewicht der Mittelstaaten, die Vertretung der Mediatisierten in der Bundesversammlung, die Rechte des Bundesgerichts, die abschließende Aufzählung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und um das Recht der Mitglieder, selbständig Bündnisse zu schließen und über Krieg und Frieden zu entscheiden. Als sich Kompromisse in Richtung Abschwächung möglicher Eingriffsrechte des Bundes und Verzicht auf Besserstellung der Mediatisierten abzeichneten, wurden die Verhandlungen von Metternich am 19.  November plötzlich für unterbrochen erklärt. Der Grund für diesen Abbruch lag nicht in den Verhandlungen selbst, so komplex sich diese, nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen ungelösten Gebietsfragen, auch gestaltet hatten. Der eigentliche Grund waren die zunehmenden Spannungen zwischen Wien und Berlin wegen der Ansprüche Russlands auf Polen und Preußens auf Sachsen. Darüber zerbrach die diplomatische Zweckallianz der beiden deutschen Großmächte und der Kongress geriet um die Jahreswende 1814/15 an den Rand des Scheiterns. Gleichwohl hatten Bayern und Württemberg wichtige Erfolge gegen das Konzept der Doppelhegemonie im Bund verzeichnen können. Offiziell sollten die Beratungen über die Bundesakte erst sechs Monate später fortgesetzt werden und unter völlig veränderten Vorzeichen zu einer staatenbündisch statt einer hegemonial geprägten Lösung führen.21

18 Ebd., Nr. 41, S. 229. Vgl. Enno E. Kraehe, Metternich’s German Policy, Bd. 2  : The Congress of Vienna, 1814–1815, 1983, S. 100–114. 19 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), S. LIX. 20 Müller, Quellen (wie Anm. 13), Nr. 7. 21 Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, 2014, S. 63–65, 78–90, 175–182  ; Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, 2014, S. 82–107  ; aus der Sicht Bayerns Karl Otmar von Aretin, Bayerns Weg zum souveränen Staat. Landstände und konstitutionelle Monarchie 1714–1818, 1976, S. 158–170.

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III. Die »Mindermächtigen«

Der Ausschluss aller anderen deutschen Fürsten, vom Großherzog von Baden abwärts, der verbliebenen Freien Städte und der vormals reichsunmittelbaren Souveräne von den Verhandlungen des comité chargé de délibérer sur les bases de la future constitution germanique22 führte Mitte Oktober 1814 zu zahlreichen Protesten und zur formellen Konstituierung einer Mächtegruppe, die sich selbst als die Mindermächtigen bezeichnete. Viele von ihnen gehörten zu den Unterzeichnern der Frankfurter Verträge und verlangten nun, unter Verweis auf gleiche Rechte aller künftigen Bundesglieder, ihre Beteiligung an den Beratungen über die künftige Verfaßung und Vereinigung des gemeinschaftlichen Vaterlandes.23 Auch die Mediatisierten, bislang vor allem als Hebel der Berliner Politik zur Schwächung der Ansprüche der Mittelstaaten genutzt, hatten im »Verein der Standesherren« eine eigene Interessenvertretung konstituiert und verlangten die Zurückgabe ihres väterlichen Erbes und der unveräußerlichen Rechte ihrer Häuser24 sowie die Zuziehung zu den Verfassungsberatungen. Während des Kongresses kamen aus beiden Gruppen viele Vorschläge zur Gestaltung der, wie der Bremer Senator Johann Smidt es nannte, Nationaleinheit Deutschlands,25 die sich stark an die Strukturen des Alten Reichs anlehnten und wiederholt die Wiederherstellung des habsburgischen Kaisertums anregten. Dafür bestanden in der politischen Konzeption auch eines Metternich freilich keinerlei Realisierungschancen. Freilich zeigte sich schon seit Dezember 1814, dass neue Lösungsansätze auf eine Interessenallianz der Wiener Politik mit den Staaten des Dritten Deutschland und eine stärkere Gewichtung des föderativen Prinzips hinausliefen. Metternich gab die Richtung dann öffentlich im Februar 1815 vor, als er, auf eine Note der »Mindermächtigen« reagierend, gewohnt vorsichtig von der nötigen Zusammenwirkung aller deutschen Stände sprach.26 22 Selbstbezeichnung aus dem Protokoll der ersten Sitzung am 14. Oktober 1814 (Le Congrès de Vienne et les traités de 1815. Précédé et suivi des actes diplomatiques qui s’y rattachent. Avec une introduction historique par M. Capefigue hrsg. von Comte d’Angeberg [Leonard Jakób Borejko Chodźko], 1863/64, S. 289). 23 In der sog. Kaisernote vom 16.  November 1814, vgl. Treichel, Quellen (wie Anm.  1), Nr.  128, S. 779 f.; zur Thematik grundlegend Michael Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress, 1996, zur »Kaisernote« hier S. 111–149. 24 Zit. n. Treichel, Quellen (wie Anm. 1), S. XCI. 25 Ebd., Nr. 121, S. 757. 26 Ebd., Nr. 183, S. 1114. Vgl. Brian E. Vick, The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon, 2014, S. 19.

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IV. Napoleons Rückkehr und ihre Auswirkungen

Zum entscheidenden Einschnitt wurden dann die Entwicklungen im März 1815 mit Napoleons Rückkehr von Elba nach Paris und der Restitution seiner Kaiserherrschaft. Nach der Erneuerung der Quadrupelallianz am 25. März traten für die Alliierten die militärisch-logistischen Notwendigkeiten eines koordinierten Vorgehens gegen Frankreich in den Vordergrund. Dies gab den Mittel- und Kleinstaaten einen politischen Hebel in die Hand, mit dem bis dato niemand hatte rechnen können  : Für das rasche Angebot, am Krieg gegen Napoleon mit Geld und Truppen mitzuwirken, erhielten sie innerhalb einer Woche die Zusage, am Abschluss einer »Deutschen Bundesakte« mitarbeiten zu können. Diese müsse sich allerdings, so Hardenberg und Humboldt, auf eine Rahmenlösung, die wesentlichsten Grundlagen, beschränken und könne erst in ruhigeren Zeiten nähere Ausführung erlangen.27 Vorerst blieb wegen der sich überstürzenden Ereignisse unklar, ob in Wien überhaupt ausreichend Zeit zur Verfügung stehen würde, um die stagnierenden Verhandlungen über einen Bundesvertrag abzuschließen. Noch einmal wurden im April mehrere ebenso detaillierte wie divergierende Bundesprojekte in Umlauf gesetzt. Humboldt dachte immer noch an Details wie Kreise  ; Metternich dagegen, in stetem Kontakt mit dem Vertreter Bayerns, ließ an zwei Entwürfen arbeiten, die ausgesprochen provisorische Züge trugen und die Fertigstellung zur Aufgabe der ersten Bundesversammlung erklärten. Erst Mitte Mai, nach der Lösung aller mit Sachsen zusammenhängenden Probleme, wurde die deutsche Verfassungsfrage als letztes der großen Themen des Kongresses neu aufgenommen. Der am 23. Mai 1815 vorgelegte, zwischen Österreich, Preußen, Hannover und Bayern abgestimmte »Entwurf einer deutschen Bundesakte« entsprach Metternichs Konzeption eines überwiegend staatenbündischen Systems.28 Die Erarbeitung von Grundgesetze[n] des Bundes und aller Maßnahmen zur Förderung gemeinsame[r] Wohlfahrt – erwähnt sind unter anderem Pressefreiheit, Urheberrechte, Freiheit des Handels sowie Rechte der Unterthanen der deutschen Bundesstaaten und der großen Konfessionsgruppen einschließlich der Bekenner […] des jüdischen Glaubens  – fanden sich nun tatsächlich auf die erste Bundesversammlung verschoben, deren Zusammenkunft für September 1815 geplant war.29 27 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 207, S. 1230. Vgl. Kraehe (wie Anm. 18), S. 327–365. 28 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), S. CXXI f. 29 Ebd., Nr. 228 (vor allem die Art. 7 und 14–17).

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Dieser Entwurf war Grundlage für die letzte Verhandlungsrunde in Wien überhaupt, die nur zweieinhalb Wochen dauerte, bis zum 10.  Juni, acht Tage vor der Schlacht von Waterloo. Neben dem exklusiven Kreis der fünf Mächte der »Ersten Konferenzen« nahmen nun auch Vertreter Sachsens, Badens, Hessen-Darmstadts, Luxemburgs, Holsteins sowie eine Deputation der »Mindermächtigen« teil. Der Zusage von Ende März entsprechend wurden die Besprechungen ab der dritten Sitzung am 29. Mai für sämtliche künftige Mitglieder geöffnet. Es fehlten Württemberg und später auch Baden, deren Gesandte irrigerweise annahmen, auf diese Weise den Abschluss der Bundesakte überhaupt verhindern zu können. In München dachte Montgelas zwar ähnlich, doch verhandelte sein Vertreter Aloys von Rechberg eigenständig und ohne Instruktionen weiter und konnte auf diese Weise die Interessen Bayerns mit hohem Erfolg im Spiel halten.30 Als die schon gewohnten Grundsatzdiskussionen gleich in der zweiten Sitzung am 26. Mai neu ausbrachen, empfahl Hardenberg eine ultimative Beendigung der Debatte. Doch Metternich bemühte sich mit Geduld, Geschick und hohem persönlichen Einsatz um eine für alle künftigen Bundesmitglieder vertretbare Konsenslösung.31 Rechberg, der den Beitritt Bayerns buchstäblich bis zur letzten Minute (8. Juni) in der Schwebe hielt und halten musste, war der eigentliche Gewinner dieser hektischen letzten Phase. Er setzte die explizite Nennung des Prädikats »souverän« für die fürstlichen Bundesglieder und ihr Recht auf – eine leicht eingeschränkte – Bündnisfreiheit durch. Die sehr allgemein gehaltenen Zusagen an die beiden großen Kirchen wurden gestrichen, die Bundesgerichtsbarkeit zu einer freiwilligen Schiedsinstanz herabgestuft. In seiner Bilanz betonte Rechberg auch seine erfolgreiche Blockade jedes Versuchs, die Stellung der Mediatisierten auch nur symbolisch aufzuwerten, etwa durch zusätzliche Kuriatstimmen im Plenum, und hob die faktische Machtlosigkeit eben dieser Plenarform der Bundesversammlung hervor, da sie keine Grundsatzentscheidung gegen die Interessen eines Einzelmitglieds treffen könne.32 Auf städtische Initiative ging ein ebenfalls in letzter Minute eingebrachter Formelkompromiss 30 Hundt (wie Anm. 23), S. 268–272  ; Eberhard Weis, Montgelas, Bd. 2  : Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799–1838, 2005, S. 734–741  ; Wolfgang Quint, Souveränitätsbegriff und Souveränitätspolitik in Bayern. Von der Mitte des 17. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1971, S. 352–368  ; Stauber (wie Anm. 21), S. 188–194. 31 Stauber (wie Anm. 21), S. 191. Vgl. Siemann (wie Anm. 2), S. 499–502, 516–518, der Metternich als Gründungsvater des Deutschen Bundes bezeichnet (S. 516). 32 Vgl. Rechbergs großen Bericht aus Wien vom 11. Juni 1815, gedruckt u. a. bei Müller, Quellen (wie Anm. 13), Nr. 90. Detailliert dazu Quint (wie Anm. 30), S. 368–392.

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zurück, der die Gewährung von Bürgerrechten an Personen jüdischen Glaubens den Einzelstaaten überließ.33 Die Deutsche Bundesakte (DBA), paraphiert am 8. und signiert am 10. Juni 1815 von den Vertretern von 38 Souveränen des deutschen Raumes,34 war deutlich geprägt von Vorläufigkeit, Unfertigkeit und vom Zeitdruck ihres Zustandekommens. Neben Protest und Gleichgültigkeit (immer noch besser, einen unvollkommenen Bund einzugehen als gar keinen, so Ernst Friedrich Graf zu Münster aus Hannover)35 stieß sie aber auch, gerade in den Erwartungen der kleineren und mittleren Staaten, auf verhalten positive Einschätzungen. Die Selbsterhaltung der kleineren Staaten, die weitere Ausbildung des Bundes und auch die Befriedigung der öffentlichen Stimmung im Sinne einer allgemein ausgesprochenen Nazionalität finden sich hier angesprochen.36 Art. 10 DBA schrieb den Auftrag an den ersten Bundestag fest, Grundgesetze und die organische Einrichtung des Bundes im Hinblick auf seine auswärtigen, militärischen und inneren Verhältnisse zu erarbeiten.37 Die schwierigste Verfahrenshürde dabei stellte die sowohl für das Plenum als auch für die vorbereitende Engere Versammlung vorgeschriebene Einstimmigkeit in Grundsatzfragen dar (Art. 7 DBA), was funktional auf ein potentielle[s] Vetorecht38 für jedes einzelne Bundesmitglied hinauslief. V. Die Deutsche Bundesakte und ihre Möglichkeiten

Es ist trotzdem lohnend, die Bundesakte nicht als Endpunkt, sondern als Zwischenschritt zu betrachten, als möglichen Ausgangspunkt der Entwicklung einer Bundesverfassung und einer entsprechenden Institutionalisierung.39 Die überwiegende und bis heute nachwirkende Geschichte negativer Urteile über den Deutschen Bund40 sollte nicht den Blick auf die Möglichkeit verstellen, die Jahre 1816 bis 1819 als kurze, aber intensiv genutzte Phase eigener Dignität zu interpretieren, 33 Kotulla (wie Anm. 7), S. 354. 34 Neuester Abdruck (mit Hinweisen auf die zahlreichen älteren Drucke) in Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 250. 35 Vgl. Gruner (wie Anm. 21), S. 190 f. 36 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 263, S. 1578  ; Nr. 261, S. 1558  ; Müller, Quellen (wie Anm. 13), Nr. 90, S. 414, 37 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Nr. 250, S. 1512. 38 Koselleck (wie Anm. 8), S. 657. 39 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), Bd. 1/2  : Organisation und innere Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1815–1819, 2016, S. V. 40 Dazu vgl. Jürgen Müller, Der Deutsche Bund 1815–1866, 2006, S. 51–61.

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in der eine Entwicklung des Bundes möglich schien, wie anhand der 2016 erschienenen Quellensammlung von Eckhart Treichel nunmehr detailliert nachvollzogen werden kann.41 Den Rahmen für eine mögliche[…] Innenpolitik des Bundes42 spannten die beiden Achsen Rechtsvereinheitlichung und Wirtschaftsintegration auf, und die Verhandlungen und Debatten in Frankfurt von Ende 1816 bis Mitte 1819 kreisten um eine ganze Reihe einschlägiger Themen  : die Ausgestaltung der Bundesschiedsinstanz, die Einrichtung interterritorialer Gerichte dritter Instanz, die Gewährung einzelstaatlicher Verfassungen, Handels- und Zollpolitik, Pressefreiheit, Urheberrechte, einheitliche Gestaltung von Wehrpflicht und Auswanderungsfreiheit und sogar um die Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips in Grundsatzfragen. Auf europäischer Ebene freilich sollte und durfte der Deutsche Bund, da nicht […] Bundesstaat, sondern […] Staatenbund, kein handlungsfähiger Akteur sein, um den beiden deutschen Großmächten keine Konkurrenz zu machen. In Übereinstimmung mit Metternich formulierte Hardenberg 1817  : In alle und jede europäische politische Verhältniße, Deutschland, in seiner Gesamtheit, als eine neue Macht einzuführen, solches kann nicht in den Absichten Österreichs und Preußens liegen.43 Vom Deutschen Bund als einer in ihren äußern Verhältnissen […] in politischer Einheit verbundene[n] Gesammt-Macht, wie in Art. 2 der Wiener Schlussakte von 1820 postuliert,44 konnte demnach keine Rede sein. Der dezidierte Kurswechsel der beiden deutschen Führungsmächte und die Beschlüsse der Konferenzen von Karlsbad und Wien 1819/20 schnitten die Entwicklungsmöglichkeiten des Bundes im Zeichen einer konservativen Entwicklungsblockade ab,45 was aber nicht von vorneherein in einem mangelnden Entwicklungspotential der Bundesverfassung angelegt war. Es gab keine zwingende Logik, die von 1815 direkt zum Status von 1820 geführt und den Bund als Repressionsinstrument diskreditiert hätte, sondern dies ging auf eine rücksichtslos durchgesetzte politische Kursentscheidung Metternichs und Hardenbergs zurück. Deutlich wird das daran, dass in den Bundesstaaten des Vormärz, außer im Bereich der Sicherheitsfragen, ein breites Spektrum eigenständiger Innenpolitik denkbar blieb,46 das auch die modernen Repräsentativverfassungen der 41 Siehe Anm. 39. 42 Treichel, Quellen (wie Anm. 1), S. CXXXIII. 43 Treichel, Quellen (wie Anm. 39), Nr. 120, S. 560. 44 Huber, Dokumente (wie Anm. 1), Nr. 31, S. 91. 45 Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, 4. Aufl. 2004, S. 61. 46 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Studienbuch, 7. Aufl. 2013, § 30 Rn. 4.

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süddeutschen Staaten abdeckte. Im monarchischen Konstitutionalismus, der die Vormärzzeit prägte, standen postrevolutionäre Stabilisierungsleistung des Staates und beginnende Öffnung des politischen Lebens eng verbunden nebeneinander.47 Die Rechtsnatur des Bundes und seine politische Umsetzung des vorgeschriebenen lien fédératif sind nicht einfach zu bewerten. Was die Bundesakte nicht war und aufgrund des Ausgangskonsenses aller Entscheider auch nicht sein konnte, war die Verfassung eines werdenden nationalen Staatswesens. Die aktuelle Forschung spricht von einem dürre[n] Organisationsstatut oder einem rudimentär[en] […] Rahmenvertrag,48 der jenen Staatenverein umriss, der nach Humboldts Einschätzung in der Situation von 1813 die einzige realistische Möglichkeit für eine Einigung Mitteleuropas war. Bundesstaatliche Elemente sind im Rechtstext von 1815 nur in Andeutung zu erkennen, etwa in den in Aussicht genommenen staatenübergreifenden Grundgesetze[n] (Art. 10) oder im Austrittsverbot des Art.  1. Selbst Letzteres findet sich nur indirekt ausgesprochen, indem ein beständiger Bund gegründet wurde  ; von der Unauflöslichkeit des Bundes war erst 1820 explizit die Rede. Das entsprechende Dokument, die »Wiener Schlussakte«, sprach als konservative Neuinterpretation49 der Bundesakte ausdrücklich von einem völkerrechtlichen Verein selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten mit wechselseitigen gleichen Vertrags-Rechten und Vertrags-Obliegenheiten  ;50 einziges Homogenitätskriterium war nun das monarchische Prinzip. Primärer Träger der Souveränität blieben die (ab 1817) 37 Fürsten und 4 städtischen Magistrate, wenngleich Metternich dem immer wieder die Forderung nach Anerkennung der Eigenstaatlichkeit Bayerns vortragenden Fürsten Wrede im Oktober 1814 spitz entgegengehalten hatte, jeder multilateraler Bund verlange grundsätzlich ein gewisses Ausmaß an Souveränitätsverzicht – das sei im Fall des Rheinbundes ja nicht anders gewesen.51 Dabei ist festzuhalten, dass sich die Begrifflichkeit um die Bundestypen »Staatenbund« und »Bundesstaat« zwischen 1800 und 1820 nur zögernd klärte. Als zentrales Kriterium zur Unterscheidung schälte sich in der politisch-juristi47 Volker Sellin, Das Jahrhundert der Restaurationen. 1814 bis 1906, 2014, S. 7–14, 55–73. Vgl. Markus J. Prutsch, Making sense of constitutional monarchism in post-Napoleonic France and Germany, 2013. 48 Müller (wie Anm. 40), S. 6 bzw. Kotulla (wie Anm. 7), S. 327. 49 Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, 2010, S. 195. 50 Huber, Dokumente (wie Anm. 1), Nr. 31, S. 91. Vgl. Willoweit (wie Anm. 46), §30 Rn. 4–8  ; Kotulla (wie Anm. 7), S. 327–330. 51 Quint (wie Anm. 30), S. 300.

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schen Literatur die Zweckbindung heraus. Eine Föderation, ein Staatenbund oder -verein war demnach immer nur auf bestimmte Zwecke bezogen  ; eine Union, ein Bundesstaat schuf eine neue, gemeinsame Staatsgewalt. Wilhelm von Humboldt verschränkte in seiner Analyse der Bundesakte vom September 1816 beide Begriffe politisch ineinander, indem er festhielt, Österreich wolle nur einen Staatenbund als maximalen Einheitsbegriff zugestehen. Zwar sei der Deutsche Bund seiner Bestimmung und seiner politischen Rolle nach ein wirklicher Staatenbund, aber zu Erreichung seines zentralen Zwecks, der Gewährleistung äußerer und innerer Sicherheit, bestünden doch Einheit und ein Zusammenhang […], welche ihn […] zu einem Bundesstaate machen.52 Den in Wien beschlossenen Kompromiss beschrieb Humboldt mit den resignierenden Worten, es sei unmöglich [gewesen], nichts, und unmöglich [gewesen], das Rechte zu tun.53 VI. Föderative Ordnungen im Vergleich

Ein positives Strukturmerkmal der politischen Lösung, die in Wien für die staatliche Reorganisation Mitteleuropas zustande gekommen war, stellte die enge Verflechtung des Deutschen Bundes mit der Friedensordnung für Europa durch ein sorgfältig überlegtes und von den Großmächten sanktioniertes Vertragssystem dar, das defensiv, den Status quo wahrend und konfliktdämpfend wirkte.54 Des weiteren ging die Konstruktion des Bundes konform mit jenem Prinzip, das Dieter Langewiesche als das föderative […] Grundmuster der deutschen Geschichte55 bezeichnet hat. Für einen Strukturvergleich politisch-föderaler Ordnungen als Mehrebenensysteme mit dauerhaft geteilten Regierungsrechten, wie er hier freilich nur in wenigen Stichworten geleistet werden kann, bieten sich ähnlich strukturierte zeitgenössische Staatenverbindungen an, wie sie die USA auf Basis der Konföderationsartikel von 1777 bis 1787 oder die Schweizer Eidgenossenschaft mit dem Bundesvertrag von 1815 bis 1848 darstellten. Die Articles of Confederation and Perpetual Union, während des Unabhängigkeitskrieges beschlossen auf dem Zweiten Kontinentalkongress am 15.  November 1777 (ergänzt am 9. Juli 1778, in Kraft 1. März 1781),56 waren der erste 52 Koselleck (wie Anm. 8), S. 655–659, 662–664, Zitat S. 658  ; vgl. Gall (wie Anm. 2), S. 299–302. 53 Koselleck (wie Anm. 8), S. 656. 54 Stauber (wie Anm. 21), S. 202  ; vgl. Gruner (wie Anm. 21), S. 13–28. 55 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, 2000, S. 69. 56 Constitutions of the World from the late 18th Century to the Middle of the 19th Century, hrsg.

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gemeinsame Versuch, unter den vormals britischen Kolonien an der Ostküste Nordamerikas jenen Widerspruch von einem Volk in vielen Staaten politisch handhabbar zu machen, der für die »United States« bis heute ein grundlegendes Problem darstellt. Die federal union der dreizehn Staaten, von denen sich die Mehrzahl bereits einzelstaatliche Verfassungen gegeben hatte, definierte in Art. 2 der Diskussionsvorlage vom 12. Juli 1776 als Bundeszweck eine firm League of Friendship zur Sicherung der Freiheit und Unabhängigkeit der Einzelstaaten.57 Der Vorschlag von John Dickinson, Delegiertem aus Pennsylvania, die Einzelstaaten zu one Body politic zusammenzuschließen, wurde als zu weitgehend verworfen.58 Das Modell der losen Staatenverbindung, bereits im 17. Jahrhundert diskutiert, war 1707 vom schottischen Publizisten James Hodges als confederate or federal union den englischen Vorschlägen der union of parliaments zwischen England und Schottland (von ihm als incorporating union bezeichnet) entgegengesetzt worden und wurde in den Debatten von 1776/77 neu aufgegriffen.59 Nach dem 1777 beschlossenen Dokument behielt jeder Staat Souveränität und Unabhängigkeit und alle Rechte, die nicht ausdrücklich dem Kongress (the United States in Congress assembled  ; Art.  2) übertragen wurden. In dieser Institution des Kongresses, der von Delegierten der einzelstaatlichen Legislativversammlungen beschickt wurde, lag der entscheidende Unterschied zum Deutschen Bund. Der Kongress entschied nach Art. 9 exklusiv (und mit Zwei­ drittelmehrheit) über Krieg und Frieden, die Ratifizierung von Verträgen, die Anerkennung einzelstaatlicher Bündnisse oder die Entsendung von Botschafvon Horst Dippel, America, Bd. 1/1  : Constitutional Documents of the United States of America 1776–1860, National Constitutions/State constitutions Alabama–Frankland, 2006, S. 19–35. 57 Art. 2  : The said Colonies unite themselves so as never to be divided by any Act whatever, and hereby severally enter into a firm League of Friendship with each other, for their common Defence, the Security of their Liberties, and their mutual and general Welfare, binding the said Colonies to assist one another against all Force offered to or attacks made upon them or any of them, on Account of Religion, Sovereign­ ­ty, Trade, or any other Pretence whatever ( Journals of the Continental Congress, 1774–1789, hrsg. von W. C. Ford, Bd. 5  : June 5-Oct. 8, 1776, 1906, S. 546 f.). 58 Letters of Delegates to Congress, hrsg. von P. H. Smith, Bd. 4  : May 16-August 15, 1776, 1979, S. 233  ; vgl. Benjamin E. Park, American nationalisms. Imagining union in the age of revolutions, 1783–1833, 2018, S. 32 f. 59 Alison L. LaCroix, The ideological origins of American federalism, 2010, S.  20–29  ; Thomas ­Fröschl, Staatenbund und Völkerrecht in der Gründungsphase der Vereinigten Staaten  : Die Verfassungsordnung der »Articles of Confederation«, 1776–1789, in  : Verfassung und Völkerrecht in der Verfassungsgeschichte  : Interdependenzen zwischen internationaler Ordnung und Verfassungsordnung, hrsg. von G. Schneider/T. Simon, 2015, S.  37–63, hier S.  39–42  ; Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit. Grossbritannien, die USA, Frankreich, Deutschland und die Schweiz, 3. Aufl. 2013, S. 102–106.

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tern und fungierte auch als Schiedsinstanz bei Streitigkeiten zwischen den Staaten. Raison d’être der noch rudimentären Confederacy von 1777 (Art. 1) war das gemeinsame politisch-militärische Auftreten nach außen in Zeiten aktiver Kriegführung mit dem Mutterland. Obwohl (in den Termini Hodges’) sicher mehr federal union als incorporating union, etablierten die Articles an entirely new level of government,60 der gleichwohl dem kolonialen Ideal des self-government auf lokaler Ebene ausreichend Raum beließ.61 Die Generalrevision dieser ersten US-Verfassung durch die convention von 1787 (mittels eines eigentlich verfassungswidrigen Verfahrens) führte zur ebenso umstrittenen wie grundlegenden Neufassung im Sinne des heutigen federal government, also einer Stärkung der zentralstaatlichen Kompetenzen bei grundsätzlich fortbestehendem (und im 10.  Amendment von 1791 garantiertem) Kompetenzvorbehalt zugunsten der Einzelstaaten.62 Der Bundesvertrag der XXII souveränen Cantone der Schweiz, in Kraft gesetzt am 7. August 1815,63 war das Ergebnis diplomatischen Drucks und schließlich einer gezielten Intervention der großen Mächte Europas in einer Situation bürgerkriegsähnlicher Unruhen in der Schweizer Eidgenossenschaft. Die wichtigsten Streitpunkte unter den Kantonen, die sich um die Rücknahme von Reformen aus der Zeit der Helvetik und der Mediation drehten, wurden auf dem Wiener Kongress in einer eigenen Kommission verhandelt und im März 1815 durch einen Schiedsspruch der Acht Mächte entschieden. Diese Form der Außensteuerung, möglich und nötig gleichermaßen aufgrund der gravierenden Konflikte unter den Schweizer Orten, war der weitreichendste gemeinsame Eingriff der Großmächte in die inneren Angelegenheiten eines europäischen Staatswesens 1814/15  ; den politischen Hebel dafür bot die von allen Kantonen angestrebte Garantie politischer Neutralität für die Gesamtschweiz. Auch für die Suisse entière war bereits im Vorfeld des Wiener Kongresses die Einrichtung eines corps fédératif angeordnet worden.64 Wie in den USA die Konföderationsartikel von 1777 geriet auch in der Schweiz die ältere, stark föderale Vertragsordnung von 60 LaCroix (wie Anm. 59), S. 126–131, Zitat S. 128. 61 Besonders betont in der Darstellung von Merrill Jensen, The Articles of Confederation. An Interpretation of the Social-Constitutional History of the American Revolution 1774–1781, 4. Aufl. 1962. 62 Jürgen Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl. Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787–1791, 1988, S. 21–35  ; Christian G. Fritz, American sovereigns. The People and America’s Constitutional Tradition before the Civil War, 2008, S. 131–141. 63 Text bei Kley (wie Anm. 59), S. 466–469. 64 Zit. n. Kley (wie Anm. 59), S. 271. Details bei Stauber (wie Anm. 21), S. 137–151.

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1814 rasch in Vergessenheit  ; politische Referenz dort ist die stärker zentralisierende »Bundesverfassung« von 1848, die, in Form der großen Revision von 1999, bis heute Gültigkeit besitzt.65 Der Bundesvertrag von 1814 konstituierte einen ausgesprochen lockeren Staatenbund, dessen Zweckbestimmung gemäß Art. 1 (Freyheit, Unabhängigkeit und Sicherheit nach außen, Handhabung der Ruhe und Ordnung im Innern) inhaltlich mit der deutschen und der nordamerikanischen Konföderation übereinstimmt. Die Bundesversammlung (»Tagsatzung«) war, wie ihr Pendant in Frankfurt am Main, eine Zusammenkunft weisungsgebundener Gesandter. Allerdings waren alle 22 Cantone gleich stimmberechtigt und der Versammlung waren nach Art. 8 mehrere substantielle Aufgaben übertragen wie der Abschluss von Friedens- und Bündnisverträgen (mit Dreiviertelmehrheit). Die Aufstellung eines Bundesheers (Contingent) von 33.000 Mann und dessen Finanzierung aus Zolleinnahmen fielen ebenfalls in die Kompetenz des Bundes (Art. 2, 3). Die institutionelle Ausstattung des Bundes blieb mit Einrichtung eines im Turnus wechselnden Vororts und einer aus zwei Personen bestehenden »Eidgenössischen Kanzley« (Art. 10) minimal. Der deutliche Akzent des Bundeszwecks auf Bestandsgarantie und Sicherheit führte, wie im deutschen Fall, zum Verbot interkantonaler Bündnisse gegen den Bund und zur Etablierung einer Schiedsinstanz (Art. 6, 5). Dagegen galt in der Eidgenossenschaft von vorneherein Handels- und Zollfreiheit unter den Kantonen (Art. 11). VII. Föderalismus und Konföderation

Sowohl diese Beispiele als auch die Befunde der Begriffsgeschichte weisen auf eine wichtige Grundidee hin, die aus den spätestens mit Pufendorf beginnenden Debatten über Staatenverbindungen sowie aus den großen Friedensplänen der Frühen Neuzeit ins 19.  Jahrhundert übernommen wurde  : Der zentrale Legitimationszweck von Staatenverbindungen lag in der Wahrung von Frieden nach innen und außen, was durch eine permanente Ratsinstitution mit Schiedskompetenzen zu sichern war, so fraglich deren Durchsetzungschancen auch sein mochten. Kant sprach 1795 vom Föderalism freier Staaten (womit er republikanisch verfasste Staaten meinte) als Grundlage des Völkerrechts und vom Friedensbund als Verkörperung der Idee der Föderalität und holte damit den Föderalismusbegriff aus den romanischen Sprachen, wo sein Verwendungskontext deutlich pe65 Kley (wie Anm. 59), v. a. S. 270–276.

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jorativ besetzt war, in die politische Philosophie deutscher Sprache herüber, wo er aber nur langsam an Boden gewann.66 Der Begriff Konföderation fand seinen Weg nach Europa sachlich wie terminologisch über die umfassenden begrifflichen Klärungsprozesse im Britischen Empire des 18. Jahrhunderts  ; der erste Band von Samuel Johnsons »Dictionary of the English Language« verortete 1755 Confederacy im Wortfeld von Union, league oder contract. Die Idee des Zusammenschlusses verschiedener Elemente zu bestimmten vorgegebenen Zwecken dominierte den Wortgebrauch von da an deutlich  ; der Rheinbund bezeichnete sich in seiner Gründungsurkunde von 1806 selbst als confédération particulière.67 Als Bewegungsbegriffe politischer Dynamik differenzierten sich im deutschsprachigen Raum die Bedeutungsgehalte von »Staatenbund« und »Bundesstaat« zwischen 1800 und 1820 nur langsam aus. Im Lauf des Vormärz dann nahm die Publizistik des liberalen Lagers eine zunehmend antithetischen Zuspitzung zwischen dem »Staatenbund« und dem immer stärker positiv aufgeladenen »Bundesstaat« vor, als dessen Prototyp Karl Theodor Welcker in den 1830er Jahren konkret die USA in der Form von 1789 apostrophierte. Die Prägung des ausschlaggebenden Unterscheidungsmusters lag wieder im Regelungsanspruch und dessen Reichweite  : Die »Union« (Bundesstaat) schaffe eine neue, gemeinsame Staatsgewalt, die »Föderation« (Staatenbund) vereine sich nur zu bestimmten Zwecken, zuoberst der Sicherung von Frieden und Sicherheit.68 In Mitteleuropa entstanden mit dem Foedus civitatum germanicarum und der Confoederatio Helvetica 1814/15 jedenfalls Staatenbünde mit gewissen bundesstaatlichen Elementen, aber rudimentären Institutionen und unzureichender Exekutive – in beiden Fällen ein politisches Ganzes eigener Art, wie der österreichische Statistiker Franz Raffelsperger 1844 schrieb.69 Beide Politikräume stehen damit für eine besondere Traditionslinie föderativer Staatlichkeit auf dem europäischen Kontinent, die bis in unsere Gegenwart weiterwirkt  ; historisch gesehen könnte 66 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hrsg. von R. Malter, 2008, S. 16, 18 f.; vgl. Koselleck (wie Anm. 8), S.636–639. 67 Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, Teil 2  : Von Maximilian I. bis 1806  ; Anhang, hrsg. von K. Zeumer, 2. Aufl. 2013, Nr. 214, S. 532  ; Fröschl (wie Anm. 59), S. 24–35. 68 Vgl. Koselleck (wie Anm. 8), S. 649–652, 662–664, vor allem den kontrastiven Kriterienkatalog S. 652. 69 Zit. n. Fröschl (wie Anm. 59), S. 38 f.; vgl. Willoweit (wie Anm. 46), § 30 Rn. 4–8, sowie Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, 1988, S. 65–68.

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man deren Analyse durchaus unter die provozierende Leitfrage stellen  : Wieviel Staatlichkeit verträgt der Föderalismus  ?70 Zum föderativen Grundmuster der deutschen Geschichte und seiner Funktion als Geschichtsbrücke in der politischen Organisation Mitteleuropas folgen noch einige abschließende Überlegungen.71 VIII. Das Grundmuster föderativer Staatlichkeit in der deutschen Geschichte

Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der maßgeblichen Entscheider beim Wiener Kongress waren nicht geprägt vom nationalen Zentralisierungsschub französischer Provenienz, sondern vom Typus föderativer Staatlichkeit, zu denen die composite monarchies der Frühen Neuzeit ebenso gehörten wie die multiple kingdoms der Kongresszeit, Großbritannien-Irland (1801) und Schweden-Norwegen (1814). Auch in den großen Imperien Europas, zu deren Charakteristika Multinationalität und zusammengesetzte, abgestufte Staatlichkeit gehörten, fand sich die Organisationsform der föderativen Staatlichkeit ins 19.  Jahrhundert transformiert.72 Für die politische Generation der Wiener Akteure waren Formen nationaler Einigkeit keineswegs deckungsgleich mit nationalstaatlicher Einheit. Dynastische oder imperiale Einigungspolitik musste die Autonomie einzelner Bestandteile nicht notwendigerweise unifizierend überformen. In multipolaren Staatswesen konnten mehrfache, abgestufte Loyalitäten zwischen Region, Einzelstaat und Zentrum existieren. In den zeitgenössischen Debatten um die Ausgestaltung des Deutschen Bundes wird dieses vorstaatliche Zusammengehörigkeitsgefühl als Aufrechterhaltung einer allgemein ausgesprochenen Nazionalität oder als Band der Nationalität auf den Begriff gebracht  ;73 die neuere Forschung versucht dasselbe 70 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871, 1995, S. 315. 71 Vgl. oben Anm. 55  ; das Bild von der Geschichtsbrücke bei Dieter Langewiesche, Historische Reflexionen zum Föderalismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel seit dem 19. Jahrhundert, in  : Handbuch Föderalismus. Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in  Deutschland, Europa und der Welt, Bd.  1  :  Grundlagen des Föderalismus und der deutsche Bundesstaat, hrsg. von I. Härtel, 2012, S. 129–143, hier 131. 72 John H. Elliott, A Europe of Composite Monarchies, in  : Past & Present 137 (1992), S. 48–71  ; David Armitage, The Ideological Origins of the British Empire, 2000, S. 22, 60  ; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. 2009, S. 606. 73 Müller, Quellen (wie Anm. 13), Nr. 90, S. 414 (aus Rechbergs Bericht an den bayerischen König vom 11. Juni 1815)  ; Treichel, Quellen (wie Anm. 39), Nr. 42, S. 176 (aus der Eröffnungsansprache des österreichischen Präsidialgesandten Johann Rudolf von Buol-Schauenstein bei der ersten

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mit Formeln wie föderativer Nationalismus, Nationalität im Staat oder multinational nationality.74 Einige Staatsrechtler hatten es schon zur Rheinbundzeit unternommen, einzelstaatliche Souveränität und staatenbündische Struktur zusammenzudenken. So war etwa für Wilhelm Joseph Behr aus Würzburg der föderative Verband – er sprach, wie Kant, vom Völkerbund – gerade auch Garant dafür, dass alle Mitglieder ihre Souveränitätsrechte gegenseitig anerkannten und so das Prinzip […] eines auf die Gleichheit aller gebauten freyen Föderalismus verwirklichten. Eine zentrale politische Oberhoheit konnte in einem solchen Systema civitatum foederatarum, wie Johann Ludwig Klüber in Heidelberg es nannte, nicht bestehen, lediglich eine politische Social- oder CollegialGewalt.75 Regionale Loyalität und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer deutschen Nationalität stellten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen Widerspruch dar. Nie staatlich geeint gewesen zu sein war in Mitteleuropa quasi der Normalfall. Insofern war das föderalistische Prinzip der Deutschen Bundesakte, im Ersten Pariser Frieden 1814 ausdrücklich vorgeschrieben, präformiert durch die pluralen Strukturen des Alten Reichs und des Rheinbundes. Das föderative Grundmuster des Deutschen Bundes korrespondierte mit der kooperativen Struktur der Wiener Friedensordnung für Europa und war mit dieser eng verflochten. Korrespondierende Prinzipien waren  : ordnungspolitische Offenheit durch Verzicht auf zentral vorgegebene Verfassungsmuster, Akzeptanz (zunächst noch) politischer Vielfalt und das Bekenntnis zu einem Raum gemeinsamer politischer Verantwortung. Umgekehrt beinhaltete dies aber auch auf der Ebene des Deutschen Bundes wie des europäischen Staatensystems eine engmaschige Kontrolle durch eine kleine Gruppe hegemonialer Staaten, die sich selbst ganz deutlich die Führungsrolle als Hauptmächte zuschrieben und die, wie Gentz 1819 pointiert formulierte, eine Art von föderativer Diktatur ausübten, die sie in Gestalt von Interventionen in Drittstaaten auch bald praktizierten.76 Bundesversammlung in Frankfurt am Main, 5. November 1816). 74 Langewiesche (wie Anm. 55), S. 55  ; Siemann (wie Anm. 2), S. 519  ; Vick (wie Anm. 26), S. 284– 288, Zitat S. 287. 75 Wilhelm Joseph Behr, Das teutsche Reich und der rheinische Bund. Eine publicistisch-politische Parallele, 1808, S. 46  ; Johann Ludwig Klüber, Staatsrecht des Rheinbundes, 1808, S. 4, 120. Vgl. Gerhard Schuck, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik, 1994, S. 290–303. 76 Gentz zitiert nach Koselleck (wie Anm. 8), S. 639. Zum Problem der Intervention vgl. Reinhard Stauber, The Reorganization of Europe in 1815 as a »Subject of Domestic Policy«, in  : Decades of Reconstruction. Postwar Societies, State-Building, and International Relations from the Seven Years’ War to the Cold War, hrsg. von U. Planert/J. N. Retallack, 2017, S. 85–102, hier S. 87–99  ;

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Konföderationen bzw. föderative Staatenverbünde konstituieren für ihre Einwohner einen doppelten Loyalitätsraum, zur kleineren und zur größeren Einheit. Im Fall des Deutschen Bundes waren – im Gegensatz zu den angesprochenen Beispielen der USA und der Schweiz – diese beiden Loyalitätsstränge äußerst ungleich ausgeprägt. Die großen Einzelstaaten arbeiteten seit der Rheinbundzeit konsequent auf ihre Konstituierung als höchstes Objekt der Loyalität ihrer Einwohner/Untertanen/Staatsbürger hin. Der Deutsche Bund dagegen setzte sich aus Kollektiven, nicht aus Individuen zusammen und für ihn galt, was Klüber 1808 über den Rheinbund geschrieben hatte  : Der Bund habe als solcher, kein Gebiet  ; nur die Bundesfürsten sind mit souverainem Staatsgebiete versehen.77 Nirgends, auch nicht bei der Förderung wirtschaftlicher Kooperation oder auf dem wichtigen Feld der Symbolpolitik, nicht einmal in fiskalischer Hinsicht trat der Bund in unmittelbare Beziehung zur Bevölkerung. Außerdem stellten sich die beiden deutschen Führungsmächte ab 1819 immer deutlicher in Gegensatz zur Ordnungsidee der Nation und den damit beim liberalen Bürgertum verbundenen Wünschen nach politischer Teilhabe. So konnte der Deutsche Bund letztlich nicht nachhaltig zur politischen Nationsbildung in Deutschland beitragen. Wenn man aber im abstrakten Begriff des »Föderalismus« einen Systembaukasten zur dauerhaften Teilung politischer Autorität und ihrer Verteilung auf mehrere Träger und Ebenen sieht, eine Art Bauplan, der auf Assoziation, Koordination, Gleichgewicht setzt und die fortdauernde Wirkkraft kleiner staatlicher Räume78 befördert  – dann hat der Bund einen entscheidenden Strukturakzent für das politische Grundmuster der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert gesetzt, bis hin zur Präambel des Grundgesetzes mit ihrer Gleichsetzung von Deutsche[m] Volk und den Deutschen in den Ländern. Damals wie heute garantiert das föderative Prinzip ein nicht konfliktfreies, aber friedliches Miteinander, schafft Schutzräume für kleinere Gebiete, räumt der Entwicklung einer dezentralisierten politischen Kultur weite Freiräume ein und wirkt der potentiellen Machtarroganz einer einzigen Entscheidungszentrale entgegen.

Miroslav Šedivý, Crisis among the great powers. The Concert of Europe and the Eastern Question, 2017, S. 6 f., 22 f. 77 Klüber (wie Anm. 75), S. 123. 78 Dieter Langewiesche, Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa, 2008, S. 196.

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Der Deutsche Bund 1815–1866.

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Die Ausdehnung Preußens bis 1866.

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Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863 I. Einführung II. Die Sicherheitsfunktion des Bundes für Deutschland und Europa III. Die Bundesinnenpolitik IV. Gesellschaftliche Prozesse seit 1800 in Deutschland V. Österreichs Sonderentwicklung VI. Initiativen zur Bundesreform vor 1863 VII. Vorbereitung und Verlauf des Fürstentages von 1863 VIII. Die Reformakte: Analyse und kontrafaktische Überlegungen IX. Reformentwurf und Fürstentag in der öffentlichen Meinung X. Kritisches Resümee

I. Einführung

Nach langen Phasen des Vergessens oder der Verachtung ist der Deutsche Bund in den letzten Jahrzehnten zum Gegenstand intensiverer Forschung geworden, die seine Existenz und sein Wirken als offene Chance und nicht ex post aus der Perspektive seines Endes untersucht.1 Hierbei haben sich zwei unterschiedliche Akzente der Fragestellung herausgebildet, je nachdem man nach einer Chance für Mitteleuropa2 im übernationalen Sinn oder nach der Chance einer föderati1 Letzte knappe Gesamtdarstellung mit Lit. und Bewertungen von Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund. 1815–1866, 2012. Zur europäischen Funktion Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871, 3.  Aufl. 2010. Für die nachrevolutionäre Epoche des Bundes Jürgen Müller, Deutscher Bund und deutsche Nation 1848–1866, 2005. In der Historischen Kommission der bay. Akademie der Wissenschaften läuft seit den 1990er Jahren das Editionsprojekt  : Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, bisher 6 Bde. in 3 Abt., 1997– 2017  ; zuletzt Jürgen Müller (Bearb.), Abtl. 3, Bd.  4  : 1863–1866. Dazu auch Eckardt Treichel/ Jürgen Müller, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Ein Forschungsprojekt der Historischen Kommission, in  : Jahrbuch der Historischen Forschung, Berichtsjahr 2000, 2001, S. 27–36. 2 Hierzu Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, in  : Österreichische Geschichte 1804–1914, hrsg. von H. Wolfram, 1997. Ferner ders., Föderalismus als Problem der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts (1815–1871), in  : Der Staat 16 (1977), S. 215–228  ; Österreich und die deutsche

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ven deutschen Nation3 fragt. Im Folgenden soll diesen Fragen auf zwei Ebenen nachgegangen werden  : Zum einen geht es um die europäische Funktion des Bundes einschließlich der innerbündischen Machtkonstellationen, zum anderen um die Bundesinnenpolitik im Sinne einer ausbaufähigen Staatlichkeit. Alle vier Aspekte bzw. Ebenen bündeln sich im österreichischen Reformvorschlag von 1863, weshalb ich ihn als Parabel für das Gesamtproblem »Deutscher Bund« vorstellen und ungeachtet seines Scheiterns die kontrafaktische Frage stellen möchte, welche Chancen dieses Projekt bei einvernehmlicher Zustimmung aller Mitgliedstaaten hätte haben können. Zwei problemorientierte Längsschnitte zur Außen- und Machtpolitik und zur Bundesinnenpolitik mögen als Einstieg dienen. II. Die Sicherheitsfunktion des Bundes für Deutschland und Europa

Die Wiener Kongressakte von 1815 verzahnte den Deutschen Bund als passiven Ordnungsfaktor im Zentrum Europas mit den Gleichgewichtsinteressen der Großmächte, fähig zur Selbstverteidigung, aber unfähig zu jeder nach außen gerichteten Machtpolitik. Die Bundesakte als Teil der Kongressakte vereinigte die souveränen deutschen Einzelstaaten unter dem Prinzip formaler Gleichheit auf der Grundlage des Rechts und mit dem Gebot der Friedenswahrung und der konsensbasierten Solidarität. Größe und Souveränitätsansprüche der Staaten waren aber sehr ungleich ausgeprägt, gipfelnd in der Sonderstellung seiner beiden Großmächte, die sich außerhalb des Bundes volle Handlungsfreiheit vorbehielten.4 Der Bund entwickelte zwar eine elaborierte Kriegsverfassung,5 zu einem Auftreten als Gesamtmacht auf der europäischen Bühne ist er aber vor 1848 nicht herausgefordert worden. Frage im 19. und 20.  Jahrhundert, hrsg. von H. Lutz/H. Rumpler, 1982  ; Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, hrsg. von H. Rumpler, 1990, darin auch Einleitung Rumplers, S. 9–19. 3 Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von D. Langewiesche/G. Schmidt, 1999. Problemaufriss bereits bei  : Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsgegenstand und Forschungsperspektiven, in  : Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190–136. Vgl. auch den Titel von Müller (wie Anm. 1). 4 Zum Wiener Kongress zuletzt Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, 2014. Vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band  : Föderative Staatlichkeit in der Mitte Europas. Zur Entstehung des Deutschen Bundes. 5 Jürgen Angelow, Von Wien nach Königgrätz. Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewicht 1815–1866, 1996.

Der österreichische Reformplan für den Deutschen Bund von 1863 

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Die revolutionären Ereignisse von 1848/49 offenbarten jedoch die spezifischen Schwächen der Großmachtposition Österreichs, die seine Schutzbedürftigkeit im europäischen Horizont erheblich ansteigen ließ und Schwarzenberg zu dem Versuch einer österreichischen Hegemonialpolitik im Bund in Allianz mit den Mittelstaaten veranlasste. In dieser Allianz konnte er 1850 mit russischer Deckung das preußische Projekt eines engeren kleindeutschen Bundesstaates im erweiterten Doppelbund torpedieren. Er scheiterte jedoch mit seinem Plan einer Aufnahme der Gesamtmonarchie in den Bund, die dessen Beistandsverpflichtung auf Ungarn, Galizien und vor allem Italien ausgedehnt hätte.6 Der österreichisch-preußische Dualismus, der von Metternich noch eingehegt worden war, bestimmte seit 1849 die deutschlandpolitische Szene. Das geflügelte Wort vom »Kampf um die Vorherrschaft« in Deutschland7 bedarf jedoch einer Differenzierung. Betrachtet man das Verhältnis der deutschen Staaten als Dreiecksverhältnis zwischen Österreich, Preußen und dem »Dritten Deutschland«, der sog. Trias, so besaß aus Gründen der Geographie nur Preußen die Chance einer Hegemonie über die Trias, nicht aber Österreich. Deshalb bedurfte die Trias zur Wahrung der staatlichen Autonomie der Existenz des Bundes und damit des österreichischen Rückhalts. Die Trias war aber dank interner Rivalitäten zu entschiedenem gemeinsamem Handeln zumeist nicht in der Lage.8 Österreich wiederum bedurfte ebenfalls des Rückhalts am Bund  ; militärisch aber war es dabei in erster Linie auf die Unterstützung durch Preußen angewiesen. Die Trias hatte daher kaum Chancen, die beiden Großmächte auf 6 Der bekannte Gang der Ereignisse bis zur Olmützer Punktation und den Dresdner Konferenzen konzis bei Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, 1999, S. 53–61. Zur europäischen Perspektive Anselm Doering-Manteuffel, Der Ordnungszwang des Staatensystems  : Zu den Mitteleuropa-Konzepten in der österreichisch-preußischen Rivalität 1849–1851, in  : Die Herausforderung des europäischen Staatensystems, hrsg. von A. M. Birke/G. Heydemann, 1989, S. 119–140. Zur europäischen Perspektive auch Reiner Marcowitz, Der deutsche Dualismus und die europäische Pentarchie  : Die Stellung der Großmächte zur Dresdener Konferenz 1850/51, in  : Die Dresdner Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, hrsg. von J. Flöter/G. Wartenberg, 2002, S. 129–158. 7 So der bekannte ältere Titel von Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866, 2 Bde., 1897, 1898  ; hier Bd. 1. 8 Peter Burg, Die Triaspolitik im Deutschen Bund. Das Problem einer partnerschaftlichen Mitwirkung und eigenständigen Entwicklung des Dritten Deutschland, in  : Rumpler (wie Anm. 2), S. 136–161  ; Norbert Wehner, Die deutschen Mittelstaaten auf dem Frankfurter Fürstentag 1863, 1993  ; darin Kap. 2  : Das Problem, S. 8–51. Zu Bayern Hubert Glaser, Zwischen Großmächten und Mittelstaaten. Über einige Konstanten der deutschen Politik Bayerns in der Ära von der Pforten, in  : Lutz/Rumpler (wie Anm. 2), S. 140–188. Vgl. jetzt auch Katharina Weigand, Königlich-bayerische Träume von einem Dritten Deutschland, in diesem Band.

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einvernehmliches Handeln zu verpflichten, wenn Preußen sich dem verweigerte. Von 1850 bis 1866 schwankte Österreich in Krisenlagen daher ständig zwischen einer Separatverständigung mit Preußen und dem Versuch, Preußens Einlenken mit Hilfe der Trias zu erzwingen, was seine Vertrauenswürdigkeit im Lager des Dritten Deutschland nicht beförderte. Am Krimkrieg, Italienischen Krieg und Schleswig-Holstein-Konflikt kann man das studieren. Preußens Tendenz seit 1849, sich machtpolitisch vom Bund zu emanzipieren, fand mit Bismarcks Ernennung 1862 seinen Höhepunkt und führte zur kriegerischen Gründung eines kleindeutschen Machtstaates. Sein hegemonialer Bundesstaat ließ für eine echte Föderation gleichberechtigter Staaten keinen Raum. III. Die Bundesinnenpolitik

Die Gründung des Deutschen Bundes stand durchaus nicht unter reaktionären Vorzeichen. Ihre nationale Grundidee hob ihn über einen völkerrechtlichen Verband hinaus  ; in ihren bundesstaatlichen Elementen enthielt seine Verfassung Ansätze zur Förderung einer rechtlichen und wirtschaftlichen Integration. Konkrete Schritte dazu wurden in den ersten Jahren vergeblich versucht, dann aber seit den Karlsbader Beschlüssen überlagert durch die antirevolutionäre Repressionspolitik seiner beiden Großmächte, auf die sich die bundespolitischen Aktivitäten in folgenschwerer Weise verengten. Insgesamt versagte der Bund vor der Aufgabe, neben der Sicherheitsfunktion eine Wohlfahrtsfunktion zu entwickeln, die imstande gewesen wäre, die dynamischen Kräfte des aufkommenden Bürgertums frühzeitig durch konstruktive Impulse mit seiner Existenz zu versöhnen. Dies ermöglichte Preußen eine Doppelstrategie, die ihm mit der Gründung des Zollvereins ein wichtiges separates Feld hegemonialer Politik eröffnete.9 IV. Gesellschaftliche Prozesse seit 1800 in Deutschland

Wenden wir uns noch kurz der Frage zu, wie weit unterhalb der Regierungsebene eine gesellschaftliche Akzeptanz des Reformprojekts von 1863 denkbar war, so9 Dazu Hans-Werner Hahn, Mitteleuropäische Wirtschaftsordnung in der Epoche des Deutschen Bundes, in  : Rumpler (wie Anm. 2), S. 186–214  ; allgemein ders., Geschichte des Deutschen Zollvereins, 1984  ; Der deutsche Zollverein. Ökonomie und Nation im 19. Jahrhundert, hrsg. von ders., 2012.

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weit von einer deutschen Gesellschaft die Rede sein konnte. In prozessgeschichtlicher Perspektive müssen selbstverständlich die dominanten sozioökonomischen und ideologischen Grundvorgänge des Jahrhunderts in Rechnung gestellt werden, wozu prominent die seit dem aufgeklärten Absolutismus eingeleitete und im Zeitalter Napoleons vorangetriebene Modernisierung gehört. Später trat die vorsichtige Zulassung parlamentarischer Partizipation hinzu. Diese Prozesse vollzogen sich in Deutschland in den 1815 konsolidierten Einzelstaaten. Dabei soll die besondere Situation Österreichs zunächst unberücksichtigt bleiben. Im engeren Deutschland waren die Staaten das Feld der Innenpolitik, des Partizipations- und Reformverlangens der bürgerlichen Schichten und ihrer Interessenpolitik. All dies blieb auch so nach den vergeblichen Verfassungsbemühungen der Paulskirche. Nationale Prozesse einer horizontalen Integration begannen am frühesten im Bildungsbürgertum und waren hier auch am ehesten nationalistisch konnotiert. Die Universitäten mit ihren gesamtnationalen akademischen Netzen waren hierbei ein wichtiges Ferment. Das Wirtschaftsbürgertum zog im Sinne praktischer Interessen nach, sobald seine Belange nur noch auf nationaler Ebene verhandelt werden konnten. An der kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Verbandsbildung und Kongressbewegung kann man das studieren.10 Nach Phasen starker Überwachung und Gängelung in Vormärz und nachrevolutionärem Jahrzehnt erfuhren diese Prozesse in der sog. Neuen Ära einen neuen Schub und die Politisierung nahm zu. Dies betrifft vor allem die aufblühenden Turn-, Gesangs- und Schützenvereine mit ihren nationalen Festen, aber auch das politische Vereinswesen vorab auf liberaler Seite formierte sich. Auf diese liberale, national orientierte Bewegung mit der zugehörigen Presse fokussiert sich traditionell die Historiographie. Von ideologischer Homogenität wie organisatorischer Schlagkraft konnte freilich keine Rede sein, und auch die landsmannschaftlichen Vorbehalte waren groß.11 Auch entwickelten sich selbstverständlich konservative Gegenbewegungen auf nationaler Ebene und erst recht sind partikularstaatliche Besonderheiten zu beachten. Die auf den kleindeutsch-preußischen Nationalstaat abzielenden Kräfte waren nicht dominant.12 10 Aus der Fülle der Literatur jetzt am prägnantesten  : Handbuch der Deutschen Geschichte.begr. v. B. Gebhardt, Bd. 14  : Reformen, Restauration und Revolution 1806–1849/49, 2010 (behandelt Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur auf einzelstaatlicher wie nationaler Ebene). 11 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18.  Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, dt. 1983, hier. Kap. II u. III, S. 61–143. 12 Zur Vereins- und Verbandsbildung ab 1859  : Shlomo Na’aman, Der Deutsche Nationalverein. Die politische Konstituierung des deutschen Bürgertums 1859–1867, 1987  ; Andreas Biefang, Politi-

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V. Österreichs Sonderentwicklung

Mit den Reformen Maria Theresias und vor allem Josephs II. war die alte »monarchische Union von Ständestaaten« wenigstens in ihren deutsch-böhmischen Erbländern zentralbürokratisch überformt worden und auch modernisierende Impulse waren ähnlich bedeutsam wie in Deutschland. Mit dem Ende des Alten Reiches und der Gründung des Rheinbundes bestand zu Deutschland nurmehr ein Außenverhältnis. Mit dem Deutschen Bund kehrte Österreich gewissermaßen nach Deutschland zurück, freilich nur nach Art einer Außensteuerung. Im Inneren wurden dagegen die Reformprozesse weitgehend abgebrochen und die Eigenständigkeit Österreichs bis 1848 durch systematische Abschottung gegenüber Deutschland verteidigt.13 So blieb es im ökonomischen Bereich mit dem unter Joseph II. eingeführten rigorosen Protektionismus bei einer folgenreichen Abkehr. Die Schutzzollpolitik bestimmte die Unternehmenskultur auch des deutschen Wirtschaftsbürgertums und konterkarierte alle Bemühungen der österreichischen Regierungen um Eintritt in den Deutschen Zollverein bis zum Ende des Deutschen Bundes.14 Auch das deutsch-österreichische Bildungsbürgertum entwickelte eine Tendenz zur mentalen und lebensweltlichen Absonderung, die langfristig zur Ausprägung eines besonderen Österreichertums führte. So ging vor allem von der Reichshauptstadt Wien eine große soziokulturelle Anziehungskraft aus.15 Zugleich erforderte die administrative Modernisierung eine Alphabetisierung auch der Unterschichten, und dies konnte schulisch nur in den Volkssprachen aller Nationalitäten erfolgen. Die damit einhergehende Sensibilisierung sches Bürgertum 1857–1868. Nationale Organisationen und Eliten, 1994 (behandelt Volkswirtekongress, Nationalverein, Handelstag, Abgeordnetentag)  ; Willy Real, Der Deutsche Reformverein. Großdeutsche Stimmen und Kräfte zwischen Villafranca und Königgrätz, 1966. 13 Dieter Langewiesche  : Deutschland und Österreich. Nationswerdung und Staatsbildung in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert, in  : GWU 42 (1991), S. 754–766  ; überarb. wieder in ders., Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, 2000, S. 172–189. Rechtfertigende Behandlung des Gesamtkomplexes bei Rumpler (wie Anm. 2), S. 200–214. 14 Klaus Koch, Österreich und der Deutsche Zollverein 1848–1871, in  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.VI  : Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Teil 1/VIII  : Die außenwirtschaftlichen Beziehungen der Monarchie (1848–1871), hrsg. von Ad. Wandruszka/P. Urbanitsch, 1989, S. 537–560. 15 Hierzu Langewiesche (wie Anm. 12)  ; vgl. allgemein auch Ernst Bruckmüller, Nation Österreich. Sozialhistorische Aspekte ihrer Entwicklung, 1984  ; näher an unserer Epoche ders.: Ein »deutsches« Bürgertum  ?, in  : Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 343–354 . Zur Wiener Biedermeier-Kultur Rumpler (wie Anm. 2), S. 216–227.

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für Sprachenfragen verband sich zugleich mit den Erweckungsbewegungen des Sprachnationalismus und der Wiederentdeckung der (älteren) Autonomie der nichtdeutschen Kronländer.16 Hieraus entwickelte sich der für die Habsburgermonarchie charakteristische Nationalitätenhader, der sich bereits im Vormärz ankündigte17 und in der Revolution vehement aufbrach, vor allem im deutsch-tschechischen Verhältnis. Der Versuch einer einvernehmlichen föderalistischen Lösung im Kremsierer Verfassungsentwurf verfiel der Nichtbeachtung.18 Der Übergang zum Neoabsolutismus deckelte zwar vorerst jegliche politische Betätigung, sorgte aber gleichzeitig für eine sprachliche Germanisierung im zentralistischen Verwaltungsaufbau.19 Mit dem Übergang zur konstitutionellen Monarchie brachen die Konflikte erneut auf. Die Gesamtstaatsverfassung von 1861 orientierte den Föderalismus ihrer Repräsentativkörperschaften auf engster soziopolitischer Basis an den historischen Kronländern  ; die Nationalitäten kamen darin systemisch nicht vor.20 Faktisch bevorzugten sie namentlich in Böhmen die Deutschen, was zum tschechischen Boykott der Reichsratsbeschickung führte.21 Die Ungarn verhielten sich aus anderen Gründen ebenso, obwohl 1861 die Konstruktion eines »engeren« und »weiteren« Reichsrates die Trennung von 1867 im Grunde schon vorbereitete.22 Die Tschechen lehnten zudem die Bundeszugehörigkeit der böhmischen Länder seit 1848 vehement ab. Aber auch die deutsch-liberale Verfassungspartei, die seit 1861 das Parlament beherrschte, fokussierte ihr Interesse 16 Ausführlich beschrieben bei Brückmüller (wie Anm. 15), S. 107–129. 17 Daher negativ konnotiert bei Rumpler (wie Anm. 2)  : Die Büchse der Pandora, S. 154–214. 18 Zum Ganzen jetzt  : Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 14), Bd. VII/1 u. 2  : Verfassung und Parlamentarismus, 2000. Darin VII/1 zum Kremsierer Verfassungsentwurf  : Wilhelm Brauneder, S. 106– 120  ; Andreas Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg, 1995. 19 Die Habsburgermonarchie (wie Anm. 14), Bd. III/1 u. 2  : Die Völker des Reiches  ; hier Teil 1/II B  : Berthold Sutter, Die politische und rechtliche Stellung der Deutschen […], S. 154–339, darin die Identifizierung des Neoabsolutismus mit dem deutschen Hegemonialstreben, S. 178–181. Umfassende Analyse des Sprachenrechts von Gerald Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 3  : die Völker des Reiches Teil 2, hrsg. von A. Wandruszka/P. Urbanitsch, S. 975–1206, zum Neoabsolutismus S. 999–1002. 20 Zum Februarpatent Brauneder (wie Anm.  18), S.  151–163  ; ferner Andreas Gottsmann (wie Anm. 18), IV/B 3  : Der konstitutionelle Reichsrat 1861 bis 1865, S. 622–634. 21 Habsburgermonarchie (wie Anm. 18)  ; hier Bd, VII/2  : Die regionalen Vertretungskörperschaften, darin Otto Urban, Der Böhmische Landtag, S. 1991–2055, tschechischer Boykott des Reichsrats, S. 2008 u. 2028 f. 22 Op. cit. Bd. VII,1, Abschn. III  : László Péter, Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, darin  : Das Ringen um die Rückkehr zur Verfassung  ; zum Boykott S. 300–311.

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auf den habsburgischen Gesamtstaat und hatte, wie wir noch sehen werden, ein überwiegend negatives Verhältnis zu dem Reformplan von 1863. VI. Initiativen zur Bundesreform vor 1863

Nun zurück zu den Plänen zur Reform des Deutschen Bundes nach 1849. Als Gegenkonzept zur preußischen Union entwickelten die Mittelstaaten zusammen mit Wien 1850 ein Konzept, das mit den Elementen Bundesdirektorium und Volksvertretung den deutschen Reformwünschen Rechnung trug und hierin bereits auf das Projekt von 1863 vorausweist, mit den Elementen Gesamteintritt der Monarchie samt Zollunion jedoch eine vollkommen neue Dimension der Struktur Mitteleuropas im Blick hatte. Die wirtschaftspolitischen Pläne des österreichischen Ministers Karl Ludwig von Bruck eröffneten dabei den Mittelstaaten die Möglichkeit, den Zollverein aufzubrechen. Die Punktation von Olmütz wies den Weg zur Behandlung dieses Programms auf den Dresdner Konferenzen (Dezember 1850 bis Mai 1851), doch Preußen entzog sich den Vereinbarungen wieder und ließ das Projekt ins Leere laufen.23 Die schlichte Rückkehr zum Bund war gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit und für die mittelstaatlichen Politiker ein Desaster  ; sie bot außerdem dem neoabsolutistischen Österreich und einem konservativ gewendeten Preußen eine Plattform für die Rückkehr zu einer gemeinsamen Reaktionspolitik im metternichschen Stil. Die preußische Wirtschaftsbürokratie griff dabei jedoch die alte Doppelstrategie wieder auf und betrieb erfolgreich die weitere Immunisierung des Zollvereins gegen den Zugriff des Bundes und Österreichs.24 Die Frage einer Bundesreform kam jedoch nicht mehr zum Stillstand. Sie stand auch unter dem Druck der Öffentlichkeit, die sich mit Anbruch der sog. Neuen Ära neue Freiräume gewann. Auf Regierungsebene waren es die Mittelstaaten und hier vor allem einzelne engagierte Politiker, prominent der sächsische Minister Friedrich Ferdinand von Beust, die den Bund voranbringen wollten, zunächst mit Initiativen zu gemeinsamen Institutionen und Gesetzen zur Rechtsvereinheitlichung, dann abermals zur Reform des Bundes im Ganzen. 23 Zu den machtpolitischen Aspekten s. oben  : Text mit Anm. 4. Zu den Reformaspekten der Bundesinnenpolitik  : knappe Darstellung bei Müller (wie Anm.  1), S.  55–68 mit Verweis auf den Dokumentenband Quellen und Darstellungen (wie Anm. 1), Bd. III/1. Dazu der Tagungsband Flöter/Wartenberg (wie Anm. 6). 24 Ausführliche ereignisgeschichtliche Darstellung bei Müller (wie Anm. 1), S. 69–148.

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Die jüngere Forschung hat eine Fülle derartiger, zumeist vergeblicher Aktivitäten aufgearbeitet.25 Bei den Plänen zur Reform des Bundes als Ganzen hielt sich das neoabsolutistische Österreich zurück und kam erst aus der Deckung, als mit der Februarverfassung von 1861 erstmals die parlamentarischen Voraussetzungen bestanden. Seit Ende 1861 begannen die Auseinandersetzungen mit Preußen zu eskalieren. So grub Außenminister Bernstorff 1861 das Radowitz’sche Projekt des engeren und weiteren Bundes von 1849/50 wieder aus. Österreich und die ihm verbundenen Mittelstaaten konterten mit scharfen identischen Noten, die an das Scheitern jener Initiative in Olmütz verwiesen. Komplementär dazu wurde Österreich nunmehr dazu gedrängt, zusammen mit der Trias seinerseits in die Offensive zu gehen. Anlass dazu bot ein Bundesbeschluss vom Februar 1862 zur Einführung einer gemeinsamen Zivil- und Kriminalgesetzgebung, wofür erfolgreich verabschiedete Kommissionsentwürfe vorlagen. Zu deren Einführung und zur Behandlung weiterer Entwürfe sollte nunmehr ad hoc eine Delegiertenversammlung aus den Einzelstaatsparlamenten mit Beschlusskompetenz einberufen werden. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieses Pilotprojekts, das von den Protagonisten auch als solches verstanden wurde, provozierte die Angelegenheit in den Kabinetten wie in der Öffentlichkeit ein großes Echo, das auch dadurch angeheizt wurde, als der inzwischen amtierende Bismarck mit Bundesbruch und Krieg drohte. Das Menetekel vom Ende des Deutschen Bundes ließ viele Regierungen vom Delegiertenprojekt Abstand nehmen, sodass Österreich und seine Freunde im Januar 1863 in Frankfurt eine zwar knappe (7   : 9), aber peinliche Abstimmungsniederlage hinnehmen mussten.26 Dies beflügelte den Ballhausplatz freilich umso mehr, ein umfassendes Projekt zur Bundesreform vorzubereiten und jetzt auch damit hervorzutreten. Die aktuelle Situation in Preußen mit seinem unter Bismarck verschärften Verfassungskonflikt und seiner Isolierung im aktuellen Polenkonflikt (Alvensleven’sche Konvention) hatte gerade auch im preußenfreundlichen Liberalismus ein negatives Echo erzeugt. Dies schien die Initiative zusätzlich zu begünstigen, weil ein reaktionäres und isoliertes Preußen leichter zu überspielen war als ein liberal regiertes. 25 Hier liegt das Hauptgewicht der aus den Quellen erarbeiteten Studien von Müller (wie Anm. 1), Teil B  : Nationales Recht, S. 389–564. Zu Beust Jonas Flöter, Beust und die Reform des Deutschen Bundes 1850–1866, 2001. 26 Ereignisgeschichtliche Darstellung dieser Vorgänge bei Müller (wie Anm. 1), S. 327–348. Zum parallelen Ringen um den Zollverein, ausgelöst durch Preußens Handelsvertrag mit Frankreich von 1862, das den Kampf gegen Preußen erschwerte, vgl. den letzten Abschnitt (öffentliche Meinung).

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VII. Vorbereitung und Verlauf des Frankfurter Fürstentages von 1863

Eine ältere detaillierte ereignisgeschichtliche Schilderung der Vorgeschichte und Vorbereitung des Fürstentages sowie ihres Verlaufs bis zu den nachfolgenden Nürnberger Konferenzen bietet nach wir vor Heinrich Ritter von Srbik in seiner »Deutschen Einheit«.27 Ernst Rudolf Huber behandelt Verlauf und Inhalt in seiner »Verfassungsgeschichte« ebenso knapp wie zuletzt Jürgen Müller.28 Unverzichtbar sind die dazugehörigen Quelleneditionen.29 Noch bevor die Staatskanzlei in der Reformfrage aktiv wurde, versuchten schon ab 1861 Außenstehende dazu Impulse zu geben. Den Anfang machte Julius Fröbel, der als Paulskirchen-Linker in die USA emigriert und 1857 in die Heimat zurückgekehrt war. Hier wandelte er sich zum glühenden Anhänger einer österreichischen Leitung des Deutschen Bundes mit einem erblichen deutschen Kaisertum aus dem Hause Habsburg, Bundesexekutive und Parlament. In Wien fand er damit kaum Zugang  ; die Staatskanzlei nutzte aber sein journalistisches Talent zur Propagierung der Bundesreform und veranlasste ihn zu führender Mitwirkung bei der Gründung des Reformvereins.30 Größeren Einfluss in Wien gewannen zwei Chefs der Verwaltung des Hauses Thurn und Taxis, mit dem die habsburgische Dynastie traditionell eng verbunden war.31 Ernst Frh. von Dörnberg und Franz Joseph Frh. von Gruben hatten als Emissäre des Hauses direkten Zugang zu Kaiser Franz Joseph und bauten eine enge Verbindung 27 Heinrich Ritter von Srbik, Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit vom Heiligen Reich bis Königgrätz, Bd.1 u. 2, Bd. 3 u. 4  : Deutsche Einheit. Idee und Wirklichkeit von Villafranca bis Königgrätz, zuletzt 1940–1942, hier Bd. 3, S. 413–433, Bd. 4, S. 1–77. Mit Blick auf die Mittelstaaten (jedoch nicht auf diese beschränkt) zuletzt Norbert Wehner (wie Anm. 8). 28 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 2. Aufl. 1978, S. 420–435  ; Müller (wie Anm. 1), S. 348–360  ; ders. in  : Quellen (wie Anm. 29), Einleitung, S. XXIII–XXXVI. 29 Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1849–1866, hrsg. von H. v. Srbik/O. Schmid, Bd. 1–5, 1934–1938, ND 1967, hier Bde. 2 u. 3  ; Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2  : Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, hrsg. von E. R. Huber/G. Granier, 1964 u. ö.; Zum Fürstentag jetzt die maßgebliche Edition in der Serie  : Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes (wie Anm. 1), Abtl. III/Bd. 4, Vom Frankfurter Fürstentag bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, bearb. von J. Müller, 2017. 30 Paul Wentzcke, Art. »Fröbel, Julius« in  : NDB, Bd. 5, 1961, S. 644–646. Die jüngere Literatur zu Fröbel befasst sich vorrangig mit seinen Schriften im Umfeld der Revolution und des amerikanischen Exils. Umfassender Wilhelm Mommsen, Julius Fröbel. Wirrnis und Weitsicht, in  : HZ 181 (1956), S. 497–532, zum Fürstentag S. 516–521. Der Reformverein wird später ausführlich behandelt. 31 Zum Folgenden auch Siegfried Grillmeyer, Habsburgs Diener in Post und Politik. Das Haus Thurn und Taxis zwischen 1745 und 1867, 2005, hier S. 459–476, 513–519.

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zum Leiter des deutschen Referates der Staatskanzlei, Ludwig Frh. von Biegeleben auf. Ihre Denkschriften und Entwürfe32 zielten zunächst ebenfalls auf die – vorläufig verdeckte – Wiedererrichtung eines habsburgischen Kaisertums in Deutschland. Biegeleben33 wurde zum wichtigsten Motor des Reformprojekts. Der klerikal-katholische Hesse stand seit 1850 im Dienst der Staatskanzlei und stieg hier zum Leiter der deutschen Abteilung auf. Das Recht zum unmittelbaren Vortrag beim Kaiser ermöglichte ihm eine eigenständige Politik. Er trat glühend für Österreichs Führungsstellung im Bund ein und hasste Preußen und seine zerstörerische Politik, dabei in Fehleinschätzung der beiderseitigen Machtmittel. Als Kenner des Bundesrechts und hervorragender Jurist war er in der Lage, die oft verschwommenen historisierenden Ideen Grubens in einen präzis formulierten und bundesrechtlich haltbaren Reformentwurf zu verwandeln. Dieser Entwurf wurde schließlich der Fürstenversammlung am 17. August 1863 in Frankfurt vorgelegt  ; er soll mit seinen neuen Institutionen Direktorium und Bundesrat, Versammlung der Bundesabgeordneten, Fürstenversammlung und Bundesgericht später in systematischem Zusammenhang vorgestellt werden. Die Vorbereitung des Fürstentages war zwar taktisch begründbar, aber nicht besonders glücklich. Biegelebens Entwürfe waren zwar nicht an Außenminister Rechberg vorbei dem Kaiser vorgelegt worden  – schließlich musste dies stets über den Ressortchef geschehen, der damit eingebunden blieb. Doch hielt Rechberg nicht sehr viel von der Initiative, der er bei dem erwartbaren Widerstand Preußens keine Chancen einräumte. Er beteiligte sich nicht aktiv daran  ; seine Präferenz galt der Verständigung mit der anderen Großmacht.34 Im Gegensatz dazu wurde Staatsminister Schmerling35 lange Zeit hindurch überhaupt nicht über das Projekt informiert und nur über seinen Adlatus Fröbel über die Vorgänge unterrichtet. Dabei war er – mit seiner Vergangenheit als Amtsträger in Frankfurt 1848/49 und »liberaler« Hoffnungsträger der großdeutschen Bewegung – dringend an dem Ganzen interessiert. Der Kaiser, der seinen herrischen Minister mitunter schwer ertrug, konnte sich jederzeit hinter Ressortzuständig32 Srbik/Schmid, ( wie Anm. 29), Bd. 3, Nr. 1113, 1114, 1162, 1171. 33 Wegen der Auswertung des Familienarchivs immer noch wichtig die Biographie von Rüdiger Frh. v. Biegeleben, Ludwig von Biegeleben. Ein Vorkämpfer des großdeutschen Gedankens, 1930. 34 Zu Bernhard Graf von Rechberg und Rothenlöwen zuletzt der Artikel von Peter Urbanitsch in  : NDB, Bd. 21, 2003, S. 230 f. (mit Lit.) 35 Zu Anton Ritter von Schmerling zuletzt der Artikel von Helmut Rumpler in  : NDB, Bd. 23, 2007, S. 132–134 (mit. Lit.)  ; Der Vater der Verfassung. Aus den Denkwürdigkeiten Anton Ritter von Schmerlings, hrsg. von L. Höbelt, 1993 (= Teildruck der Denkwürdigkeiten, die im HHStA Wien im Nachlass Schmerling-Bienerth liegen), hier S. 231–246 (stark personalisiert).

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keiten verschanzen  ; er nahm daher am Ende auch nur Rechberg und Biegeleben nach Frankfurt mit. Vor Beginn der Aktion wurde die Schlussredaktion des Entwurfs immerhin vom Kaiser, von Rechberg, Schmerling und Biegeleben gemeinsam vollzogen und auch das Vorgehen bei der Einladung nach Frankfurt gemeinsam verabredet. Für dieses Vorgehen war wiederum Biegeleben der Hauptverantwortliche. Der Entwurf wurde geheim gehalten, und vorbereitende Ministerkonferenzen wurden vermieden, um das Ganze nicht vorzeitig zu zerreden und den Gegnern keine offenen Flanken zu bieten. Die Idee, ausschließlich die Fürsten persönlich mit dem Projekt zu befassen, bedeutete eine neuerliche Betonung des Monarchischen Prinzips36 und stand zu diesem Zeitpunkt quer zu den konstitutionellen Forderungen des Bürgertums. Insbesondere Franz Joseph, der selbst zum semikonstitutionellen Februarpatent ein distanziertes Verhältnis hatte, wollte damit ein Zeichen setzen, aber auch die übrigen Monarchen – zumeist konservativ – folgten ihm darin. Lediglich Großherzog Friedrich von Baden vertrat auf dem Fürstentag entschieden den Konstitutionalismus. Zugleich sollten die Fürsten überrumpelt werden  ; nicht einmal die treuen Anhänger wurden vorab über allgemeine Andeutungen hinaus informiert. Dabei sollte speziell der preußische König einer Sonderbehandlung unterworfen werden. Biegeleben rechnete nicht damit, dass König Wilhelm erscheinen würde. Deshalb musste seine Unterrichtung und Einladung zeitlich knapp gehalten werden, um rechtzeitige preußische Gegenaktionen zu verhindern. Dahinter stand der Entschluss, in jedem Fall eine Verabschiedung der Reformakte herbeizuführen, den neuen Bund danach mit den Anschlusswilligen zu formieren, Preußen politisch-moralisch zu isolieren und so zum nachträglichen Beitritt zu zwingen.37 Zu einer persönlichen Unterredung mit König Wilhelm die Franz Joseph wünschte und von der er eine Annahme der Einladung erhoffte, ergab sich die Gelegenheit Anfang Juli 1863 anlässlich eines Kuraufenthalts des Königs in Karlsbad. In Wien befand man jedoch, dass ein solches Treffen für den Erfolg der Überrumpelungsstrategie zu früh sei, und überredete den Kaiser zu einer Verschiebung auf die Nachkur Wilhelms in Gastein. Hier wurde er Anfang August endlich in dynastischen Vieraugengesprächen über die Grundzüge des Projekts unterrichtet und machte Einwände, die konstitutionell korrekt waren 36 Zu den bekannten Bestimmungen der Wiener Schlussakte von 1820, mit der die Verfassungspolitik der deutschen Staaten eingegrenzt werden sollte, zuerst Huber (wie Anm. 28), Bd. 1, 1957 u. ö., S. 651–657. 37 Dazu Srbik (wie Anm. 27), Bd. 4, S. 33–46.

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und darüber hinaus preußischen Präferenzen entsprachen  : Vorgängige Ministerbesprechungen und danach erst Fürstenversammlung, dualistische statt vielköpfiger Besetzung des Direktoriums, Vorbehalte gegen ein Bundesparlament überhaupt.38 Bismarck, der am Ort zugegen war, konnte vorerst keine Ablehnung der Teilnahme erreichen. Franz Joseph war optimistisch, ihn in Frankfurt zu sehen. Nur wenig später und kurz nach der Abreise Franz Josephs wurde dem König dann die auf den 31. Juli datierte Einladung zum 16. August überbracht.39 Angesichts dieses hinterhältigen Verfahrens hatte Bismarck jetzt leichtes Spiel, seinen Herrn zur Absage zu veranlassen, und ein Ausweg war in Wien durch die gleichzeitige Einladung aller Übrigen verbaut worden. Fast alle Bundesfürsten erschienen, auch die Preußenfreunde aus Karlsruhe, Weimar und Coburg  ; der einzig Gewichtige unter den Fehlenden war der dänische König, der mit dem Bund Schleswig-Holsteins wegen im Konflikt war. Der König der Niederlande schickte für Luxemburg einen Prinzen. Manche, wie die Könige von Sachsen und Württemberg,40 begrüßten die Einladung freudig, andere, wie vor allem der bayerische König, waren jedoch verstimmt wegen des österreichischen Verfahrens. Alle waren bereits vor der Reise nach Frankfurt vom preußischen Fernbleiben unterrichtet und daher zumeist skeptisch, dass ein Erfolg des Ganzen zu erwarten war.41 Diese Skepsis beherrschte auch die erste Zusammenkunft, sodass der Kaiser sich bestimmen ließ, König Johann von Sachsen mit einer nochmaligen Kollektiveinladung an den preußischen König nach Baden-Baden zu schicken, wo Wilhelm sich inzwischen im Kreise seiner Verwandten aufhielt. Dieser Akt erzeugte nochmals eine schwere Krise, da er von der weiblichen Verwandtschaft bedrängt worden und auch jetzt von Johanns Erscheinen beeindruckt war. Bismarck musste sogar mit seinem Rücktritt drohen, um ihn von einer Reise abzuhalten.42 Während der Sitzungspause hatten sich die Fürsten der Mittelstaaten vertraulich über das Vorgehen beraten. Fast alle waren wenig geneigt, sich auf eine inhaltliche Verhandlung der Reformakte einzulassen  ; sie wollten nach einer Feststellung der Hauptgrundsätze alles Weitere Ministerkonferenzen überlassen und 38 Dazu Promemoria vom 3.  August, Antwort Wilhelms v. 3./4.  August und Rückantwort Franz Josephs v. 6. August bei Müller, Quellen (wie Anm. 29), Dok. 33–36, S. 186–200. 39 Wortlaut bei ebd., Dok. 32, S. 185 f. 40 König Wilhelm von Württemberg, alt und krank, schickte seinen Sohn, den Kronprinzen Karl. 41 Die Reaktionen minutiös bei Wehner (wie Anm. 8), S. 104–147. 42 Die Baden-Badener Szenen wurden vielfach beschrieben, nicht zuletzt von Bismarck selbst. Vgl. etwa Hans Joachim Schoeps, Der Weg ins Deutsche Kaiserreich, 1970, S. 69–71.

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möglichst bald wieder von Frankfurt abreisen. Großherzog Friedrich von Baden verband damit zusätzlich konstitutionell motivierte Einwände, wonach die Fürsten nur durch verantwortliche Minister handeln konnten, die die Ergebnisse zur Ratifikation vor den Kammern zu vertreten hatten  ; damit blieb er freilich isoliert. Franz Joseph bekundete jedoch seine Entschlossenheit, in Frankfurt Beschlüsse herbeizuführen. Zum Auftakt der eigentlichen Verhandlungen nach König Johanns Rückkehr präsentierte die österreichische Delegation ein Promemoria, mit dem wieder einmal eine Überrumpelung versucht wurde  : Die präsentierten Hauptartikel sollten en bloc angenommen und keine Änderungsanträge gestellt werden  ; nach Zustimmung war sogleich eine Ministerkonferenz für die Detailfragen anzuberaumen, wobei die Minister die Grundsätze nicht weiter anfechten durften. Die dadurch ausgelöste Empörung war beachtlich und veranlasste den Badener, die Überweisung der Reformakte an die Bundesversammlung als dem rechtlich immer noch zuständigen Bundesorgan anzuregen. Unter großem Einsatz gelang es König Johann, einen Kompromiss durchzusetzen, wonach die Hauptpunkte einer freien Beratung mit Beschlussfassung unterworfen werden sollten.43 Mit dem Einstieg in diese Beratungen setzte zum ersten Komplex ein konfliktgeladenes Gezerre um Zusammensetzung und Beschickungsmodus des Direktoriums ein. An dieser wichtigsten neuen Institution wollten alle in irgendeiner Weise beteiligt sein, wobei die Frage der Rangordnung empfindliche dynastische Statuskonflikte freisetzte. In wechselnden Koalitionen wurde eine Vielzahl von Modellen diskutiert, die hier nicht besprochen werden können. Am Ende war es wieder König Johann, dessen Kompromissvorschlag im Benehmen mit dem Kaiser sich durchsetzte. Im Ergebnis erhöhte sich die Zahl der Direktoren von fünf auf sechs und der Rotationsmodus wurde vereinfacht, blieb aber kompliziert genug.44 Das Profil der Behörde soll später in systematischem Zusammenhang besprochen werden  ; die Art des Streites erweist aber bereits hier spezifische Schwächen einer freien Verhandlung unter den souveränitäts43 Dazu Wehner (wie Anm. 8), S. 189–201. Text des Promemorias v. 21. August bei Müller, Quellen (wie Anm. 29), Dok. 57, S. 274–276  ; österr. Entwurf der Reformakte, dat. 17. August, Dok. 48, S.  239–259. Die Politik Badens (des Großherzogs und Roggenbachs mit Robert v. Mohls und Julius Jollys Zuarbeit) ist ausführlich beschrieben bei Lothar Gall, Der Liberalismus als regierende Partei. Das Großherzogtum Baden zwischen Restauration und Reichsgründung, 1968, S. 234–242. 44 Müller, Quellen (wie Anm. 29), Sitzungsprotokolle Nr. 4 u. 5 vom 24. u. 25. August, S. 300 ff. u. 320 f.; dazu zahlreiche Anlagen, S. 313–330. Hergang bei Wehner (wie Anm. 8), S. 202–227, dazu Übersicht im Quellenanhang S. 429–443 (Wortlaut der verschiedenen Modelle einer Zusammensetzung und Namen der Urheber).

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bewussten Oberhäuptern selbst. In der Frage der Leitung des Direktoriums gab es eine sehr ernste Debatte über die Frage, ob nicht doch die zweite Großmacht über das Alternat in die Führung eingebunden werden sollte. Nicht nur die Preußenfreunde plädierten für diese Lösung. Doch auf die Erklärung des Kaisers hin, dass er niemals das traditionelle Vorrecht seines Hauses preisgeben werde, wurde diese Erwägung später mehrheitlich (mit 17   : 10 Stimmen) abgewiesen.45 Die Einrichtung des Bundesrates mit seinen Funktionen wurde in der Fürstenversammlung fast ohne Diskussion genehmigt. Lediglich Großherzog Friedrich trat nachdrücklich für seine Aufwertung als Organ zur Instruierung des Direktoriums ein, was jedoch nach einem entsprechenden Votum des Kaisers abgelehnt wurde.46 Starke Divergenzen ergaben sich bei den Fragen der äußeren Sicherheit des Bundes (Art.  8 des Entwurfs). Die Kompetenz zur Aktion lag hier nunmehr beim Direktorium, das jedoch an die Zustimmung des Bundesrates gebunden war. Bei Angriffen auf das Bundesgebiet trat wie im bisherigen Bundesrecht der Verteidigungsfall automatisch ein. Bei einer den Bund gefährdenden »Störung des europäischen Gleichgewichts« sollte das Direktorium jedoch jetzt ebenfalls militärische Maßnahmen vorbereiten. Bei Angriffen auf nichtbundeszugehöriges Gebiet eines Bundesmitglieds war die Zustimmung des Bundesrates mit nur einfacher Mehrheit vorgesehen. Dasselbe sollte für die Teilnahme des Bundes an europäischen Kriegen allgemein gelten.47 Abermals wurde die Opposition von Großherzog Friedrich angeführt, der bereits mit der einleitend (Art. 1 des Entwurfs) genannten Ausdehnung des Bundeszwecks auf die Machtstellung Deutschlands nach außen die rein defensive Natur des Bundes gesprengt sah. Die daraus sich ergebende Teilnahme an allgemeinen europäischen Kriegen, gar mit dem Verweis auf eine Gefährdung des europäischen Gleichgewichts, beschwor 45 Behandlung bei Wehner (wie Anm. 8), S. 227–234, überwiegend auf der Basis privater Quellen. So auch die Ausarbeitung Biegelebens vom 30. August, worin Artikel 5 (Vorsitz Österreich) als beschlossen aufgeführt, die Aufregung darüber unter den Fürsten als Täuschungsversuch, die neue Note an alle mit einer Richtigstellung. Die beiden Noten bei Müller, Quellen (wie Anm. 29) nicht aufgenommen. Dafür die Frage auf der Tagesordnung der 10. (letzten) Sitzung, wo Franz Josephs Erklärung zu jenem Abstimmungsergebnis führte, das für ihn entschied. Protokoll v. 1. September, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 416–419. 46 Müller, Quellen (wie Anm. 29), Protokoll der 4. Sitzung v. 24. August, S. 306  ; dazu Separatvotum Badens, S. 318 ff. Dazu Näheres im Rahmen des Zuarbeitens von Robert v. Mohl  ; zu Mohl vgl. auch Anm. 67. 47 Hierzu das Sitzungsprotokoll Nr. 5 v. 25. August, dazu die Anlage 5 mit dem Votum Friedrichs sowie weitere kleinere Anlagen von Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg und Oldenburg mit ähnlicher Tendenz, in  : Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 322 f., dann S. 331–335.

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Risiken für die Mittel- und Kleinstaaten, die solche Händel gar nichts angingen. Auch wollte er die Teilnahme des Bundes an Kriegen wegen außerbündischer Besitzungen auf die Bestimmung von Art. 47 der Wiener Schlussakte zurückgeführt wissen, wonach Gefahr für das Bundesgebiet konstatiert werden musste. Zumindest eine Zweidrittelmehrheit des Bundesrates sei erforderlich. Gegen dessen Mitentscheidung in allen Fragen von Krieg und Frieden wehrte Franz Joseph sich vehement, doch willigte er angesichts der Opposition in eine Komiteeberatung ein. Diese erreichte unter Leitung König Johanns, der den Kaiser unterstützt hatte, die Rückführung auf die defensiven Natur des Bundes  : Streichung der Formel vom europäischen Gleichgewicht und jeder Kriegsteilnahme, wenn keine Gefährdung der Sicherheit des Bundes vorlag, jedoch Ermöglichung einer Bundeshilfe für Österreich bei einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.48 Auch in Fragen der inneren Sicherheit sollte das herkömmliche Interventionsrecht des Bundes zugunsten erweiterter Ermessensspielräume des nunmehr zuständigen Direktoriums gestärkt werden. Gegen solche Beeinträchtigungen der einzelstaatlichen Souveränität wehrte sich die Fürstenversammlung mehrheitlich unter Führung des Badeners, sodass die Wiederherstellung der alten Bestimmungen der Wiener Schlussakte durchgesetzt wurde.49 Mit der Einrichtung einer Versammlung der Bundesabgeordneten und der Bestimmungen über ihre Befugnisse (Art.  16–22 des Entwurfs) sollte den öffentlichen Forderungen nach einer Konstitutionalisierung des Bundes nachgekommen und eine Volksvertretung geschaffen werden. Der Entwurf sah ein Delegiertenparlament vor und dabei sollte es nach Meinung der überwältigenden Mehrheit der Fürsten auch bleiben  : Der Großherzog von Baden blieb mit seinem Antrag, vom Delegiertenparlament zu direkter Wahl der Volksvertreter überzugehen, ebenso isoliert wie mit dem Vorschlag, die Versammlung jährlich und nicht nur alle drei Jahre einzuberufen  ; doch blieb die Bestimmung, außerordentliche Versammlungen einberufen zu können, erhalten.50 Im Übrigen waren 48 Bericht Kg. Johanns über das Komitee und Beschluss der Versammlung in  : Sitzungsprotokoll Nr. 7 vom 27. August, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 370 f. Zum Ganzen auch Wehner (wie Anm. 8), S. 234–237. 49 Sitzungsprotokoll Nr. 6 vom 26. August, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 349–350  ; dazu die Einsprüche von Baden, S. 357–359, sowie weiterer kleiner Länder, S. 359–361. Zitat der WSA, Artikel 25–28 bei Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 357 f.; nach Huber, Dokumente (wie Anm. 29), Bd. 1, S. 94. Vgl. auch Wehner (wie Anm. 8), S. 237–240. 50 Sitzungsprotokoll Nr. 5 vom 25. August, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 323–326  ; dazu Erklärung Badens zu Artikel 16, S. 338. Herzog Ernst v. Coburg wollte die Abgeordneten in Deutschland direkt gewählt, aus Österreich delegiert wissen (!), S. 339 ff.

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die Befugnisse der  – immerhin mit Entscheidungs- und nicht nur Beratungsrecht ausgestatteten – Versammlung nur schwach ausgestaltet. Im Budgetrecht (Art. 14) wurde ihre Position mit der Annahme des Antrags, eine der »Lückentheorie« nachempfundene Beschränkung der Ausgabenbewilligung einzuführen, sogar zusätzlich geschwächt  : Sollte keine Zustimmung zum Budgetentwurf des Direktoriums zustande kommen, so sollte der letzte Haushalt bis auf Weiteres fortgelten.51 Immerhin wurde ein Antrag des konservativen Großherzogs von Mecklenburg-Schwerin, das Budgetrecht der Abgeordneten auf bloße Beratung zu reduzieren, mit großer Mehrheit abgelehnt.52 Hingegen führte bei der Erörterung der Gesetzgebung das Problem der Verfassungsänderung und – darin eingeschlossen – des Rechts zur Schaffung neuer Bundeseinrichtungen und zur Ausdehnung der Bundesgesetzgebung auf Materien bisheriger Einzelstaatsgesetzgebung erneut zu heftigen Kontroversen  : Ging es hier doch um Fragen einzelstaatlicher Souveränität und damit um das Grundprinzip eines Staatenbundes überhaupt. Der österreichische Entwurf53 hatte hohe Hürden aufgebaut  : Verfassungsänderungen sollten nur mit Zustimmung des Bundesrates mit 17 von 21 Stimmen und von vier Fünftel der Abgeordnetenversammlung möglich sein. Dies genügte aber den konservativen souveränitätsbewussten Fürsten nicht. Auch die Bundesakte von 1815 sah hierfür Einstimmigkeit vor  ; dabei sollte es bleiben. Selbst Kaiser Franz Joseph wollte die darin liegende Blockade zeitgemäßer Weiterentwicklung für die Zukunft überwinden. Doch beugte er sich dem Mehrheitsbeschluss eines zur Vermittlung eingesetzten Komitees, um überhaupt einen Abschluss zu ermöglichen, und seinem Vorbild folgten dann alle bis auf den Großherzog von Baden.54 51 Antrag Ghzg. v. Oldenburg sowie mehrheitlich grundsätzliche Zustimmung  : Müller, Quellen (wie Anm. 29), Sitzungsprotokoll Nr. 5 vom 25. August, S. 323  ; dazu Antrag Oldenburg, S. 337  ; Neufassung des Textes, S. 336  ; abschließende Genehmigung (alle außer Baden) in  : Sitzungsprotokoll Nr. 9 vom 29. August, S. 399. Der Hintergrund der jüngsten bzw. gegenwärtigen Budgetkrisen in Kurhessen und v. a. Preußen ist deutlich. 52 Sitzungsprotokoll Nr. 6 vom 26. August, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 351 f. In einem zugehörigen Promemoria, das bei Müller nicht abgedruckt ist, widerriet der Mecklenburger grundsätzlich der Konstitutionalisierung des Bundes durch ein Parlament, gar mit Mehrheitsentscheidungen. Hierzu Wehner (wie Anm. 8), S. 253 f. (Die beiden Mecklenburg hatten bekanntlich nur eine altständische Verfassung.) 53 Zum Direktorium Artikel 11, zur Abgeordnetenversammlung Artikel 20, Müller, op. cit., S. 244 und S. 248 f. In den Diskussionen der Fürstenversammlung wurden beide Artikel zusammengezogen. 54 Dazu die Sitzungsprotokolle Nr. 5, 6, 7, 8 und 9 vom 25. bis 29. August, in  : Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 326 f., 351 f., 371–375, 381 f., 396–399  ; dazu der Antrag des Komitees mit Motiven, S. 402 f.

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Das neue Institut der Fürstenversammlung (Art. 23–25 des Entwurfs),55 die alle drei Jahre im Zusammenhang mit der Abgeordnetenversammlung zusammentreten und die Gesetzesbeschlüsse ratifizieren sollte, unterlag abermals der heftigen Kritik Großherzog Friedrichs aus den schon bekannten Gründen  : Im konstitutionellen System konnten die Fürsten ohne Gegenzeichnung von Ministern gar nicht handeln. Grotesk wurde daher das Ganze durch die Bestimmung, dass die Fürsten von Agnaten vertreten werden konnten, die überhaupt keine Herrschaftskompetenz hatten. Dasselbe galt für die Einbeziehung von Standesherren. Da die Fürstenversammlung im Übrigen keine substantiellen Aufgaben haben sollte, plädierte der Badener für völlige Streichung im Entwurf. Dieser Antrag wurde später abgewiesen  ; vorerst bissen sich die Fürsten jedoch an der Frage der Standesherren fest, die sogleich für heftige Kontroversen sorgte.56 Die Bestimmungen der Bundesakte (Art. 6) waren nicht ohne Gefahren für die einzelstaatliche Souveränität. Insbesondere das von der Existenz zahlreicher Standesherren und von ständigen Konflikten mit ihnen betroffene Württemberg sträubte sich heftig gegen ihre Aufwertung. Auf der anderen Seite bemühte sich besonders der Kaiser (wegen Thurn und Taxis  ?) um ihre Einbeziehung in die Reform. Zudem wurde die Frage der Standesherren mit der Rolle des künftigen Bundesgerichts (Art. 28–36, hier Art. 28) verwoben. Schließlich gelang es, die Bedenken der Einzelstaaten mit der Bestimmung zu zerstreuen, dass deren bis 1863 in Geltung befindliche Gesetzgebung vom Bundesgericht nicht angefochten werden durfte. Auf diese Weise konnte der Bestand einer Fürstenversammlung (gegen die Stimme Badens) abgesegnet werden  ; weitere Probleme einer Mitgliedschaft von Standesherren wurden den nachfolgenden Ministerkonferenzen überwiesen.57 Über die Bestimmungen zur neuen Bundesgerichtsbarkeit, 55 Erste umfassende und zugleich kontroverse Aussprache darüber nach Sitzungsprotokoll Nr. 6 vom 26. August, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 353–355  ; dazu die Erklärung Friedrichs von Baden als Anlage 14, S.  366–368. Prinz Heinrich der Niederlande (für Luxemburg) wollte die Fürstenversammlung durch den erweiterten Bundesrat als Bundesversammlung bisherigen Umfangs ersetzen  : Erklärung als Anlage 15, S.  368 ff. Dies in der 7. Sitzung vom 27.  August  ; Protokoll, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 370–377, hier S. 375 f. verworfen. 56 Die Frage der Standesherren bildete den Hauptgegenstand zur Fürstenversammlung in der 6. Sitzung (vgl. Anm. 55). Ihre Berücksichtigung in einem Oberhaus der Abgeordnetenversammlung wurde mit großer Mehrheit verworfen. Danach Sitzungsprotokoll Nr. 7 vom 27. August, vgl. Müller, Quellen (wie Anm. 29), 370–377, hier S. 375)  : Vertagung bis nach der Behandlung des Bundesgerichts. Die besonderen Probleme Württembergs werden behandelt bei Wehner (wie Anm. 8), S. 270–272. 57 Zum Ganzen das Sitzungsprotokoll Nr. 8 vom 28. August Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 382– 385.

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die gegenüber den frühen vergeblichen Bemühungen einen wesentlichen Fortschritt darstellte, wurde freilich nicht mehr gründlich debattiert. Franz Joseph hatte es inzwischen eilig, den Fürstentag zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Hierzu verteilte die österreichische Delegation vor der neunten Sitzung ein Promemoria, nach welchem die Fürsten ihre Vorbehalte und Widersprüche zu Einzelfragen zurückstellen und den Reformentwurf als Ganzes annehmen und auch für sich als bindend erklären sollten.58 Dazu war eine Mehrheit bereit, doch protestierte eine Minderheit, an der Spitze abermals Großherzog Friedrich, heftig gegen die Zumutung von Vorbehaltslosigkeit und Bindung. In der Tat war die Reichweite der Bindung ein Problem, da sie die Bereitschaft einschließen konnte, mit Österreich einen Sonderbund auch ohne Preußen einzugehen, was nach Art.  11 der Bundesakte unzulässig war. Auch konnte Friedrich darauf verweisen, dass Verfassungsänderungen jedenfalls bislang bundesrechtlich die Einstimmigkeit der Mitglieder verlangte. Dieses Problem verwob sich freilich mit der Frage, wie Preußen zu Verhandlungen über die Reformakte einzuladen sei. Die Gegner der Reformakte verlangten, dass die bleibenden Vorbehalte in die Gesamtabstimmung aufzunehmen seien. Mit Recht wand Franz Joseph ein, dass sich bei diesem Verfahren und bei Fehlen jeder bindenden Verpflichtung die Konferenz zu einem unverbindlichen Meinungsaustausch degradiere. Ein Vermittlungsvorschlag sah daher vor, mit der Annahme des Entwurfs die Bindungsverpflichtung zeitlich bis zur Aufnahme der Folgeverhandlungen zu begrenzen. Mit seiner Bereitschaft, eine Abschwächung dieser Verpflichtung hinzunehmen, machte Franz Joseph den Weg zu einem Kompromiss frei.59 Die Schlussabstimmungen über die Reformakte und über die Zusendung an Preußen ergab eine überwältigende Mehrheit für Österreich  ; nur Großherzog Friedrich von Baden stimmte entschieden dagegen und verweigerte jede weitere Beteiligung  ; die Herrscher von Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar und Waldeck lehnten nur abgeschwächt und mit der Bereitschaft zu weiterer Zusammenarbeit ab. Prinz Heinrich von Oranien als Vertreter 58 Text des Promemorias vom 28. August bei ebd., S. 408–410. 59 Zum Ganzen die Sitzungsprotokolle Nr.  9 und 10 vom 29.  August und 1.  September, Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 395–402, 416–426  ; dazu ein Bericht des zur Erarbeitung eines Kompromisses eingesetzten Komitees mit Varianten einer Erklärung an Preußen, S. 437 f.; ferner mehrere Anlagen mit der Formulierung spezieller Vorbehalte, darunter eine längere Grundsatz-Erklärung Friedrichs v. Baden zu seiner Ablehnung des Entwurfs, S.  426–436. Zum Verständnis der kontroversen Diskussionen ist in Ergänzung zur blassen Protokollführung von Biegeleben die Darstellung von Wehner (wie Anm. 8), S. 280–306 heranzuziehen, da hier zusätzliche interne Berichte und private Quellen benutzt werden.

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seines Königs für Luxemburg behielt sich alle Freiheit der Entscheidung vor.60 Das kollektive Begleitschreiben zur Übersendung der Reformakte an Preußen erklärte die Bereitschaft der unterzeichnenden Fürsten und Vertreter der freien Städte, die künftige Verfassung Deutschlands nach Maßgabe der hier gefassten Beschlüsse, so viel an ihnen liegt, zu vollenden und ins Leben zu führen und zu diesem Zwecke mit den hier nicht vertretenen Bundesfürsten, insbesondere dem Könige von Preußen, eine allseitige Verständigung auf dem Grunde jener Beschlüsse anzustreben.61 Bismarck ließ seinen König den Reformvorschlag Ende September ablehnen. Vor dem Beginn weiterer Verhandlungen sollten drei Vorbedingungen erfüllt werden  : das Veto gegen jeden Bundeskrieg, der nicht die Sicherung des Bundesgebietes selbst betraf, Österreichs und Preußens Parität im Vorsitz und in der Leitung der Bundesangelegenheiten, eine direkt gewählte Volksvertretung mit größeren Befugnissen als vorgesehen anstelle des Delegiertenparlaments.62 In der Zwischenzeit hatte innerhalb der Mittelstaaten und zwischen ihnen und Österreich ein lebhafter Gedankenaustausch stattgefunden, wie man mit Preußen im Gespräch bleiben oder es unter Druck setzen könne. Besonders Beust wagte sich weit vor mit Ideen über die Einschaltung der einzelstaatlichen Kammern, der provisorischen Realisierung eines Direktoriums und eines partiellen Delegiertenparlaments, was alles auf wenig Gegenliebe stieß.63 Die preußischen »Präjudizialpunkte« führten alle in einmütiger Ablehnung zusammen, wenn auch intern mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Punkte. Wien schlug vor, zur Beantwortung der preußischen Zurückweisung wie schon 1862 gegen Bernstorff identische Noten abzufassen. Hierüber und zur Frage, mit welchen weiteren Schritten das Reformprojekt zu verwirklichen sei, sollten Ministerkonferenzen abgehalten werden, die dann Ende Oktober in Nürnberg zustande kamen. Hier traf sich nurmehr eine Minderheit der am Fürstentag versammelten Staaten, nämlich die Königreiche und einige Kleinstaaten. Rechberg und Biegeleben traten nunmehr mit dem schon vorbereiteten Projekt eines Sonderbundes hervor, aber niemand mochte das Wagnis eingehen, auf diese Weise den  – höchst unwahrscheinlichen  – späteren Anschluss Preußens zu erzwingen. Auch an identischen Noten mochte man sich gar nicht bzw. nur 60 Sitzungsprotokoll Nr. 10 (wie Anm. 59), S. 422–423. 61 Wortlaut mit Unterschriften als Anlage 14 zu Protokoll Nr. 10 bei Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 438 f. 62 Schreiben Kg. Wilhelms an K. Franz Joseph, 22.  September 1863, in  : Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 471 f. 63 Die einzelstaatlichen Positionen, darunter insbes. Beust, bei Wehner (wie Anm. 8), S. 329–349.

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dann einlassen, wenn sich die in Nürnberg Abwesenden beteiligen würden, was ebenfalls zurückgewiesen wurde. So kam man überein, dass jede der anwesenden Regierungen die Ablehnung der preußischen Präjudizialpunkte eigenständig vornehmen sollte. Dies geschah in den nächsten Wochen, wobei Bismarck höchst unterschiedliche Akzentsetzungen wahrnehmen konnte, die ihm zeigten, dass keine feste Front gegen Preußen bestand.64 Auf der europäischen Bühne hatten sich zu dieser Zeit Bismarck und Rechberg bereits auf ein gemeinsames Vorgehen im Schleswig-Holstein-Konflikt verständigt, der die Frage der Bundesreform auch in der Öffentlichkeit vollkommen überlagerte und dazu beitrug, dass das Projekt versandete. VIII. Die Reformakte: Analyse und kontrafaktische Erwägungen

Betrachten wir jetzt den Reformentwurf losgelöst von den Umständen seines Scheiterns. Dabei sollen seine Erfolgschancen auf Grundlage der Unterstellung abgeschätzt werden, dass mit Preußen ein Kompromiss über die Präjudizialpunkte gefunden und der Entwurf – wie bundesrechtlich zwingend – einstimmig verabschiedet worden wäre. Die Analyse seiner einzelnen Elemente soll daher in einer Verschränkung mit kontrafaktischen Erwägungen vorangehen. Die Akte65 suchte den Staatenbund auf der Grundlage seiner bisherigen Verfassung weiterzuentwickeln und ihm durch die Ausweitung seines Zwecks und seiner Institutionen ein Element »nationaler« Integration einzufügen. Neben die Ausweitung des traditionellen Sicherheitszwecks hin zur »Machtstellung Deutschlands nach außen« trat jetzt die Wohlfahrt »der deutschen Nation« durch eine darauf bezogene Bundesgesetzgebung sowie durch die Förderung einzelstaatlicher Parallelgesetzgebung von Bundeswegen. Der alte »Bundestag« (Engerer Rat) blieb mit einer Verstärkung von 17 auf 21 Stimmen66 als Bundesrat erhalten. Darüber wölbte sich ein Bundesdirektorium als kollektiver Träger der Bundeszentralgewalt. Seine sechs Mitglieder bestanden aus den ständigen Bevollmächtigten der Monarchen Österreichs, Preußens und Bayerns, jährlich wechselnden Vertretern der Könige von Sachsen, Hannover und Württemberg, 64 Ebd. (wie Anm. 8), S. 352–392. Zur Frage identischer Noten bei Müller, Quellen (wie Anm. 29), folgende Dokumente  : Zirkulardepesche Rechbergs vom 8.  Oktober, S.  511–518, Bericht Platen-Hallermunds an Kg. Georg über die Nürnberger Sitzungen, 24. Oktober, S. 535–541. 65 Druck bei Huber, Dokumente (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 124–136  ; jetzt auch bei Müller, Quellen (wie Anm. 29), S. 439–456, dort auch Hinweis auf die zeitgenössischen Veröffentlichungen. 66 Österreich und Preußen sollten jetzt je drei Stimmen führen.

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einem alle drei Jahre zu wählenden Vertreter der mittleren und einem der kleinen Fürstentümer und der Freien Städte. In beiden Gremien übte Österreich bei Stellvertretung durch Preußen den Vorsitz  ; für die Beschlussfassung galt die einfache Mehrheit, für bestimmte, später zu erörternde Fälle im Bundesrat auch die qualifizierte Mehrheit. Zur Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung und Budgetfestsetzung mit Zustimmungsrecht war eine Abgeordnetenversammlung vorgesehen, die alle drei Jahre zusammenzutreten hatte  ; sie bestand aus 302 Delegierten der Einzellandtage, wobei auf die bundeszugehörigen Territorien Österreichs und Preußens mit je 75 knapp die Hälfte entfiel  ; die übrigen Länder folgten in grober Abstufung nach ihrer Größe. Komplementär zum Parlament sollte gleichzeitig eine Fürstenversammlung tagen, die die Bundesgesetze sanktionierte und die Vorstellungen und Beschwerden der Abgeordnetenversammlung behandelte. Schließlich sollte ein Bundesgerichtshof geschaffen werden. Das Bundesdirektorium hatte die vollziehende Gewalt des Bundes inne. Das hieß im Außenverhältnis  : völkerrechtliche Vertretung, passives und aktives Gesandtschaftsrecht sowie Kriegserklärungen des Bundes, dann (zusammen mit dem Bundesrat) Abschluss von Verträgen und Friedensschluss. Im Binnenverhältnis hatte das Direktorium die ausschließliche Verfügung über die Bundesexekution nach Maßgabe der alten Bundesexekutions- und -interventionsordnung  ; im Militärwesen oblag ihm die Durchführung der weiter geltenden Bundeskriegsverfassung. Zur Erfüllung seiner Aufgaben sollte das Direktorium sich zur bestehenden Militärkommission weitere Kommissionen für Inneres, Justiz, Finanzen, Handel und Verkehr unterstellen, also den Nukleus einer ressortgegliederten Bundesverwaltung schaffen. Preußen forderte wie schon 1851 die paritätische Bundesleitung. Hiergegen wehrte sich, wie wir sahen, Österreich nach wie vor vehement, obwohl zugleich stets betont wurde, dass es sich bei dem traditionellen Ehrenrecht lediglich um Geschäftsführung ohne eigentliche Macht handele. Ein Ausweg wäre vielleicht gewesen, Preußen mit der Leitung des Bundesrates zu betrauen, was allerdings dessen Aufwertung erfordert hätte. Ein solcher Schritt war angesichts dieses nach der Reformakte sehr schwachen Gremiums ohnehin geboten, wenn die gesamte Konstruktion in sich schlüssig und haltbar sein sollte. Schließlich repräsentierte der Bundesrat mit seinen Viril- und Kuriatstimmen weit eher als das Direktorium die deutschen Staaten in ihrer Gesamtheit und wäre berufen gewesen, das Direktorium effektiv zu kontrollieren. Hierzu hätte, nach einem Vorschlag Robert von Mohls,67 das Direktorium seine Instruktionen vom Bun67 Der bekannte Heidelberger Staatsrechtler war 1861–1866 badischer Bundestagsgesandter und

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desrat erhalten müssen und nicht wie vorgesehen seine Mitglieder direkt von den beteiligten Regierungen. Nach der Reformakte wären die entscheidenden Machtbefugnisse auf das Direktorium übergegangen. Allein das Direktorium handhabte den inneren Notstand, also jenen Bereich, der seit 1819/20 stets als die Hauptfunktion des Bundes gegolten hatte.68 In der Außenpolitik war die Kompetenz des Direktoriums in gewissen Fragen an die Zustimmung des Bundesrates gebunden  : Verträge bedurften der Ratifikation mit einfacher Mehrheit, Friedensschlüsse der Zustimmung mit Zweidrittelmehrheit. Entsprechend der Bundeskriegsverfassung trat bei Angriff auf das Bundesgebiet der Kriegszustand unmittelbar ein, in diesem Fall lag die Handlungsvollmacht beim Direktorium. Bei Kriegen außerhalb des Bundes sowie speziell zum Schutz nichtbundeszugehöriger Besitzungen von Mitgliedern hing der Ermessensspielraum der Kriegsverfassung nunmehr an der Zustimmung des Bundesrats mit Zweidrittelmehrheit. Diese Regelung ersetzte die bundesrechtliche Bestimmung nach Artikel 47 der Wiener Schlussakte, wonach eine Beistandspflicht des Bundes dann gegeben war, wenn – gemäß der Feststellung einer Mehrheit des Bundestages – eine Gefahr auch für das Bundesgebiet bestand. Das neue Verfahren war ein Produkt der Erfahrungen, die Österreich im italienischen Krieg von 1859 mit dem Hinauszögern der preußischen Militärhilfe gemacht hatte, das damals eine Sprengung der Kriegsverfassung des Bundes zugunsten Preußens anstrebte.69 Auch 1863 forderte Preußen in den Präjudizialpunkten ein Vetorecht für den Fall, dass das Bundesgebiet selbst nicht angegriffen würde, faktisch also, dass es zugunsten einer Unterstützung Österreichs in seinen bundesfremden Provinzen mit Hilfe der Mittelstaaten überstimmt werden könnte. Nachvollziehbar daran ist immerhin, dass Preußen militärisch dabei die Hauptlast der Hilfe hätte tragen müssen. Mit dem Veto sprengte es jedoch den föderativen Grundgedanken des Deutschen hatte Großerzog Friedrichs Auftreten in der Fürstenversammlung mit seiner Expertise gestützt (vgl. Anm. 43). Unmittelbar nach deren Abschluss veröffentlichte er (anonym)  : Rechtliche und politische Erörterungen über die Bundesreformakte, 1863, zum Bundesrat S. 35, 42 f. Zu Mohl immer noch Erich Angermann, Robert von Mohl 1799–1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, 1962  ; darin S. 87–91 kritisch zum österreichischen Projekt, sehr scharf aber auch gegen Bismarck (besoffener Corpsbursch, brutale Konfliktpolitik), und später, passim, kritisch zu 1866 und 1870/71. 68 Die Befugnisse hierzu waren durch die Fürstenversammlung wieder auf die Bestimmungen der Wiener Schlussakte (Artikel 25–28) zurückgestutzt worden  : Hilfeersuchen bzw. Zustimmung der Regierungen (vgl. Anm. 49). 69 Dieser vielfach behandelte Komplex kann hier nicht noch einmal nachvollzogen werden. Zu den Folgen für die Bundesreformdiskussion zuletzt Müller (wie Anm. 1), S. 276–347 passim.

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Bundes grundsätzlich. Im Rahmen der bundesrechtlichen Verfahren hätte Preußen nunmehr seine Position vertreten müssen und für eine Weigerung werben können. Bei der Hürde einer Zweidrittelmehrheit wäre es ihm zweifellos gelungen, einen positiven Beschluss zu verhindern, also im Bundesrat zu den 3 eigenen 5 weitere von 21 Stimmen auf seine Seite zu ziehen. So war es Bismarck als Bundesgesandten im Krimkrieg 1854/55 immerhin gelungen, am Ende die österreichischen Forderungen nach Bundesgefolgschaft abzuwehren und eine Neutralitätserklärung durchzusetzen. Im italienischen Krieg von 1859 war die Gesamtsituation für Preußen zweifellos brisanter  ; 1863 jedoch war der letztverbliebene Fall der Besitz Venetiens mit dem Festungsviereck, was nach dem Verlust der Lombardei und der Sekundogenituren kaum noch zu halten war. Im Vorfeld des Krieges von 1866 wurde diese Provinz, freilich in einem völlig neuen Kontext, ja auch zur Disposition gestellt. Ein weiterer möglicher Brennpunkt österreichischer Interessenkonflikte, der Balkan, soll hier nicht behandelt werden  ; wie schon im Krimkrieg berührte er das Bundesinteresse nicht.70 Vom deutschen Volk verlangte der Bestand des Deutschen Bundes schon immer die Anerkennung des von der geschichtlichen Situation her erzwungenen Verzichts auf den nationalen Machtstaat. Als Kompensation bot der Reformentwurf nunmehr erstmals den fortschritts- und integrationsorientierten gesellschaftlichen Kräften die Anerkennung der nationalen Wohlfahrt als Bundeszweck sowie eine Ausweitung der Bundesgesetzgebung unter Mitentscheidung einer Vertretungskörperschaft nach dem Modell der konstitutionellen Monarchie. Deren Konstruktion als Delegiertenparlament entsprach übrigens dem soeben in Österreich eingeführten Modell des Februarpatents. Ein unitarisches, auf unmittelbarer Volkswahl beruhendes Parlament war mit der staatenbündischen Struktur des Bundes kaum vereinbar, für das auch in seinen bundeszugehörigen Teilen multiethnische Österreich war es untragbar. Positiv gewendet entsprach das Delegiertenparlament sehr wohl der staatenbündischen Bundesstruktur  ; es vermittelte in der Person der Abgeordneten die partikularstaatlichen Interessen mit den Gesamtinteressen. Zugleich sollte mit dieser Konstruktion eine Brücke zur fortgeltenden Legislativkompetenz der Einzellandtage geschlagen werden. Der Grundsatz der Weisungsfreiheit sollte aus den Delegierten echte Abgeordnete machen. Die Forderung des dritten preußischen »Präjudizialpunkts« nach einem unmittelbar vom Volk gewählten Parlament war für Bismarck zu diesem Zeitpunkt ein rein taktischer populistischer Ablehnungsgrund, der allerdings be70 Auch der Zweibund von 1879 diente für Bismarck bekanntlich dem Zweck, Österreich-Ungarn defensiv zu schützen und zugleich zu fesseln, also von Konflikten mit Russland abzuhalten.

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reits auf seine spätere Indienstnahme der kleindeutschen Nationalbewegung vorausweist. Sie wurde in der Fürstenversammlung fast einhellig abgelehnt, schon wegen der Unvereinbarkeit mit den Wahlrechten der einzelstaatlichen Kammern, aber vor allem wegen der impliziten Tendenz, damit vom Staatenbund zum Bundesstaat voranzuschreiten. Der Großherzog von Baden forderte, wie wir sahen, vehement direkte Wahlen. Sein Ratgeber von Mohl hatte dazu ein eher ambivalentes Verhältnis und bot eigenartige Kompromissvorschläge an.71 Insgesamt war die Konstruktion des Reformentwurfs freilich darauf angelegt, die Entwicklung parlamentarischer Macht zu verhindern. Das beginnt schon mit dem dreijährigen Rhythmus der Einberufung. Die Forderung, ein Drittel der Delegierten den jeweils Ersten Kammern zu entnehmen, eröffnete den dahinter stehenden Regierungen große Einflussmöglichkeiten, da dort auch ernannte Mitglieder saßen. Das Budgetrecht blieb durch die Einfügung der Lückentheorie nach preußischem Muster zahnlos. Vor allem blieb die legislative Kompetenz des Bundes eng begrenzt. Sie orientierte sich sehr stark an den bisherigen Bundesaktivitäten, beispielsweise im Presse- und Vereinswesen. Wichtige Materien wie die klassischen Rechtskodifikationen fehlten  ; die wirtschaftspolitischen Kompetenzen blieben vage. Das waren von vornherein gravierende Defizite. Klassisches parlamentarisches Leben im Sinne politischer Profilierung hätte sich kaum entfaltet, und dies dürfte auch so gewollt worden sein. Eine Ausweitung der legislativen Parlamentsarbeit war zweifellos geboten. Dazu wären Änderungen der neuen Bundesakte erforderlich gewesen, und dies hatte die Fürstenversammlung mit dem Erfordernis der Einstimmigkeit bis zur faktischen Unmöglichkeit verschärft. Nun sah der verabschiedete Entwurf vor, dass das Direktorium mit Zustimmung des Bundesrates über den Dreijahresrhythmus hinaus auch Sondersitzungen anberaumen konnte. Daraus hätte man eine fallweise itio in partes analog dem weiteren und engeren Reichsrat in Wien entwickeln, also die nichtösterreichischen Abgeordneten zur Behandlung genuin deutscher Fragen einberufen können. Eine derartige partielle Differenzierung hätte dem Bundesverhältnis im Ganzen insofern kaum geschadet, als die Einberufung auch außer71 Einerseits befand er, Delegierung verhindere gleichzeitigen Wahlkampf in allen Staaten mit der unerwünschten Entfesselung politischer Leidenschaften  : Man dürfe die Wahlen nicht den Demokraten überlassen. Andererseits sah er die delegierten Abgeordneten in ungünstiger Zwischenstellung zwischen Landespolitik und Bundespolitik, zumal wenn sie dabei in unterschiedlichen Oppositionskonstellationen standen. (Offensichtlich ging Mohl von klassischer parlamentarischer Arbeit mit Fraktionsbildung aus.) So wünschte er dann an anderer Stelle für den Bund ein Zweikammerparlament (Abgeordnetenhaus und Staatenhaus) und Direktwahlen für das Erstere, wobei für Österreich ein besonderes Wahlverfahren einzuführen sei. Mohl (wie Anm. 67), S. 54–70.

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ordentlicher Versammlungen in der Hand von Direktorium und Bundesrat blieb. Der parallel zur Bundesversammlung einzuberufende Fürstentag blieb dem Reformentwurf erhalten – trotz aller vom konstitutionellen Standpunkt erhobenen berechtigten Einwände.72 Wahrscheinlich wäre  – so Ernst Rudolf Huber  – aus dieser Versammlung ein lediglich festlich-dekoratives Element geworden.73 Insgesamt wäre mit dieser komplizierten mehrgliedrigen Bundeskonstruktion ein relativ fragiles Gebilde entstanden, das der sorgsamen Pflege durch die beteiligten Regierungen unter Verzicht auf solche Rivalitäten erfordert hätte, die die Grundlagen des Bundes in Frage gestellt hätten. Legt man die Erfahrung aus den Debatten der Fürstenversammlung mit dem dort erkennbaren gesteigerten Souveränitätsbewusstsein als Maßstab an, so kann die Prognose nicht eben günstig ausfallen.74 IX. Reformentwurf und Fürstentag in der öffentlichen Meinung

Der Fürstentag und sein Ergebnis wurden in der politisierten Öffentlichkeit lebhaft kommentiert. Als erste Vereinigung wurde der Deutsche Abgeordnetentag75 damit konfrontiert. Die Zeitgleichheit der Tagung (21.–22.  August) konnte bei der Planung ein Jahr zuvor nicht vorhergesehen werden. Die Debatten zum Reformentwurf mussten zudem berücksichtigen, dass der Fürstentag sich noch mitten in seiner Arbeit befand. Dieser Aufgabe unterzog sich der Heidelberger Historiker Ludwig Häusser76 als Leiter, der ein Vertrauter Großherzog Friedrichs war und darauf achtete, dass dessen Auftreten am Fürstentag nicht durch allzu schroffe Manifestationen belastet wurde. Die Mitglieder des Abgeordnetentages, durch Einladung ausgewählte aktuelle und ehemalige Abgeordnete ohne förmliche Beauftragung, waren durchweg Liberale, aber nicht immer Mitglieder des Nationalvereins. Aus dieser Situation ergab sich eine partiell durch72 Zur Kritik Friedrichs von Baden vgl. oben Anm.  55. Noch schärfer sein Mentor Mohl (wie Anm. 67), S. 47–53. 73 Huber, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 28), Bd. 3, 1978, S. 431. 74 Dazu die Schlussbemerkungen am Ende dieser Abhandlung. 75 Entstehung und Profil des Abgeordnetentages bei Biefang (wie Anm.  12), S.  221–247. Den zweiten Abgeordnetentag behandelt ausführlich ebd., S. 280–287  ; ferner Wehner (wie Anm. 8), S. 393–403. 76 Häusser gehörte wie Georg Gottfried Gervinus, Robert v. Mohl und Julius Jolly zur liberalen Professorengruppe der Universität Heidelberg  ; zum weiteren Umfeld zählten der in Heidelberg im Ruhestand lebende Karl Theodor Welcker, ferner Publizisten wie August Ludwig v. Rochau oder Karl Mathy.

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aus kontroverse Diskussion, die von Häussers Vorgabe intoniert wurde, bei aller Kritik doch auch den Fürsten entgegenzukommen. Unter den Opponenten tat sich besonders der alte Karl Theodor Welcker hervor, der mit anderen kompromisslos an der Paulskirchenverfassung festhalten wollte. Gegen solchen Dogmatismus wandten sich neben süddeutschen Liberalen ( Julius v. Hölder/Stuttgart, Joseph Völk/Augsburg) auch Fortschrittler wie Hermann Schulze-Delitzsch. Häusser brachte am Ende seinen Resolutionsentwurf einstimmig durch unter der Devise, man möge die Fürsten nicht einfach zurückweisen und ihr Ergebnis abwarten. Die Resolution bewertete Österreichs Initiative als Zeugnis für die Reformbedürftigkeit des Bundes, hielt aber am Recht des deutschen Volkes auf eine seiner würdige Verfassung fest, was von weiterem Entgegenkommen der Fürsten abhänge. Volle Befriedigung könne nur eine bundesstaatliche Einheit, wie sie rechtlich 1849 zustande gekommen sei, bieten, doch sei der Abgeordnetentag angesichts der aktuellen innen- und außenpolitischen Krisen nicht in der Lage, sich zu Österreichs Entwurf lediglich verneinend zu verhalten. Im Einzelnen seien gegenüber der Akte ein gewähltes Parlament, die Gleichberechtigung beider Großmächte und statt eines einseitigen Vorgehens der Regierungen die Zustimmung einer Nationalversammlung erforderlich.77 Nationalverein und Reformverein versammelten sich erst im Oktober 1863 und positionierten sich eindeutiger. Der Nationalverein war mit seiner Propagierung eines preußisch geführten Bundesstaates seit der Berufung Bismarcks und der Verschärfung des Verfassungskonflikts in Schwierigkeiten geraten, denen er sich schon im Oktober 1862 dadurch entzog, dass er die Frage eines Oberhauptes offenhalten wollte und die Parole »Freiheit vor Einheit« in den Vordergrund schob. In jedem Fall wurde 1863 die Reformakte abgelehnt. Jedoch war es während der Vorbereitung eines Resolutionsentwurfs auch hier, wie beim Abgeordnetentag, zu Diskussionen darüber gekommen, ob man nicht einen Weg zur Verständigung mit den Fürsten offenhalten und Prinzipienreiterei vermeiden sollte. Eine Verständigung Österreichs und Preußens böte immerhin die Aussicht auf schrittweise Verbesserung in Richtung auf eine bundesstaatliche Verfassung. Bei der Schlussabstimmung setzte sich jedoch die überwältigende Mehrheit durch  : keine Verhandlungen mit den Fürsten, keine Abschlagszahlungen.78 Die Resolution stellte fest, 77 Druck der Resolution bei Huber, Dokumente (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 122 f. Sie zeigt, dass der Abgeordnetentag bei aller Konzilianz im Kern doch auf dem Bundesstaat mit direkt gewähltem Parlament bestand. 78 Zur Tagung des Nationalvereins Biefang (wie Anm. 12), S. 294–296  ; auch Wehner (wie Anm. 8), S. 408–410.

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die Reformakte genüge in keiner Weise den Ansprüchen der Nation auf Einheit und Freiheit  ; sie verstärke den Einfluss Österreichs und den Partikularismus der Königreiche auf Kosten Preußens, gefährde sogar die freiheitliche Entwicklung in den Einzelstaaten und biete mit ihrer Souveränitätsgarantie keinen Weg zum Bundesstaat. Nicht minder ungeeignet seien die preußischen Gegenvorschläge, wenn sie von einer solchen Regierung überhaupt ernst gemeint sein könnten. Am Rechtsboden der Nation, der Reichsverfassung und des Entscheidungsrechts eines frei gewählten Parlaments sei festzuhalten.79 Im Gegensatz dazu erblickte der Deutsche Reformverein80 in der Reformakte auf seiner Jahresversammlung vom 28.  Oktober 1863 eine geeignete Grundlage als Bundesverfassung. Inhaltlich hatte man sich schon 1862 – anlässlich des von Österreich am Bund lancierten Delegiertenprojekts – mit der Notwendigkeit einer Bundesreform mit einer nationalen Vertretung beschäftigt, wobei damals noch heftige Auseinandersetzungen über die Repräsentation (direkte Wahl versus Delegation) stattgefunden hatten.81 Nunmehr, 1863, stellte man sich – manche resignierend – auf den Boden der beschlossenen Reformakte, verlangte jedoch Verbesserungen  : Wiederherstellung des unverkürzten Budgetrechts sowie des Mehrheitsprinzips für Verfassungsänderungen, eine zwei- statt dreijährige Versammlungsperiode für die Abgeordnetenversammlung. So wurde die Resolution einstimmig verabschiedet.82 Auch in den Einzelstaaten wurden die Reaktionen der politisierten Öffentlichkeit in hohem Maße von Nationalverein und Reformverein bestimmt, wobei dem Nationalverein mit den ihm verbundenen Fortschrittsparteien seine straffere Organisation zugutekam. Im Preußen des Verfassungskonflikts wurden Bismarcks Konfliktkurs wie auch sein Verfahren gegenüber dem Fürstentag von den Konservativen und ihrer Presse selbstverständlich unterstützt. Die Fortschrittler unterlagen dem Druck der Presseordonnanzen vom Juli 1863 mit ihren Zensurbestimmungen, doch wurde dies durch den Import der »Wochenschrift« des Nationalvereins etwas kompensiert. Bismarck hatte sich von seinen gegen die Fürstenversammlung gerichteten Forderungen, insbesondere nach direkten Wahlen, innenpolitische Effekte erhofft und das Abgeordnetenhaus im September auflösen lassen, jedoch bei den Wahlen eine neuerliche Niederlage erfahren. Die Fortschrittspartei, die die Bundesreform selbstverständlich ablehnte, erklärte 79 Text bei Huber, Dokumente (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 137 f. 80 Zur Gründung und Mitgliederwerbung vgl. Real (wie Anm. 12), S. 25–48, zur Bildung von Lokalvereinen S. 77–117. 81 Zur Versammlung von 1862 vgl. Real (wie Anm. 12), S. 38–48. 82 Zur Versammlung von 1863 vgl. Real (wie Anm. 12), S. 162–170  ; auch Wehner (wie Anm. 8), S. 410–414. Text der Resolution bei Huber, Dokumente (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 138.

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nunmehr die Beseitigung des Regimes Bismarck zum vorrangigen Ziel.83 Auf der anderen Seite hatte der Reformverein nicht einmal im katholischen Rheinpreußen eine Chance zur Lokalvereinsgründung  ; die führenden Politiker versagten sich aus Furcht vor Repressalien jeder Beteiligung, obwohl dort die großdeutschen Sympathien stark waren.84 Auch sonst spielte in der Frage »Großdeutsch« versus »Kleindeutsch« die konfessionelle Differenz eine erhebliche Rolle, so insbesondere im zu zwei Dritteln katholischen Baden, wo die liberale Regierung sich anschickte, den Kulturkampf zu eröffnen und damit die Formierung des politischen Katholizismus zu provozieren. Vor allem im Süden waren daher die Aktivitäten des Reformvereins lebhaft. Die liberalen Honoratioren favorisierten, zumeist ohne dem Nationalverein anzugehören, mit der Regierung die preußische Lösung des Bundesstaates nach der Entmachtung Bismarcks.85 Auch in Württemberg gedieh der Reformverein im katholischen Landesteil, wo sich ebenfalls Konfession und großdeutscher Gedanke verbanden.86 Bei den Liberalen, die sich mit den Demokraten 1859 zur »Fortschrittspartei« formiert hatten, waren die Vorbehalte zum Nationalverein wegen seines propreußischen Kurses zunächst groß und schwanden vor 1864 auch niemals gänzlich. Die Bundesreformpolitik Österreichs wurde dann freilich abgelehnt. Erst die Abspaltung der radikalen und preußenfeindlichen Demokraten machte in der »Deutschen Partei« den Weg zur Anerkennung der kleindeutschen Lösung frei, wobei die Zollvereinsfrage eine erhebliche Rolle spielte.87 Auch im Wirtschaftsbürgertum Sachsens überwog die Sorge um den Erhalt des Zollvereins  ; davon wurde die Parlamentspolitik der Altliberalen bestimmt. Der Reformverein blieb auf schmale adelige Kreise beschränkt. Die Demokraten und Linksliberalen, auch vom Nationalverein, entfalteten lebhafte, aber organi83 Zu den Verhältnissen in Preußen insgesamt Schoeps (wie Anm. 42), Kapitel II  : Der Frankfurter Fürstentag und die öffentliche Meinung in Preußen, S. 57–87  ; zur Reaktion der Konservativen und Liberalen in Preußen S.  69–78. Zur Verknüpfung von Verfassungskonflikt und nationaler Politik bei den Fortschrittlern Heinrich August Winkler, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei 1861–1866, 1964, S. 16– 33 passim, zum deutschen Dualismus speziell S. 67–90 (Der Fürstentag wird nicht erwähnt). 84 Real (wie Anm. 12), S. 81–83. 85 Zum Reformverein ebd., S.  109–112. Die badische Innenpolitik ausführlich bei Gall (wie Anm. 43), S. 171–203  ; zur öffentlichen Unterstützung des Auftretens Großherzog Friedrichs auf dem Fürstentag durch die Liberalen, S. 241 f. 86 Zum Reformverein Real (wie Anm. 12), S. 104–109. 87 Zur liberalen Parteientwicklung, auch mit Blick auf die deutsche Frage, Hartwig Brandt, Parlamentarismus in Württemberg 1819–1870, 1987, S. 689–708.

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satorisch unkoordinierte Aktivitäten. Der Fürstentag spielte bei allen Diskussionen kaum eine Rolle.88 Anders war die Situation im Königreich Hannover, wo der Nationalverein dank der Aktivitäten Rudolf von Bennigsens und Johannes Miquels eine starke Position hatte. Beide waren Mitbegründer des Vereins, wobei Bennigsen als sein Vorsitzender und zugleich Führer der liberalen Opposition in der Ständeversammlung das kleindeutsche Programm trotz zeitweiliger taktischer Zurückhaltung nicht aus den Augen verlor.89 Auf konservativer Seite stellte sich ihm seit 1862 der vom König geförderte »Georgs-Verein« entgegen, der sich rasch in den Großdeutschen Verein verwandelte und in der Verbindung von partikularistisch-dynastischer Tradition mit großdeutschen Zielen im ganzen Land eine große Anhängerschaft fand und erhebliche Aktivitäten entwickelte.90 In Bayern waren die Voraussetzungen für die Gründung von Reformvereinen günstig. Die Führer der parlamentarischen »Mittelpartei«, Gustav von Lerchenfeld und Friedrich Graf von Hegnenberg-Dux, gründeten 1862 in Frankfurt den Reformverein, während zusätzlich der Staatsrechtler Ludwig Weis einen Münchner Verein bildete. Weitere bayerische Vereine folgten  ; unter ihnen war besonders der Würzburger mit großer Anhängerschaft aktiv. Der Münchner und die oberbayerischen Vereine nahmen aber bald eine Sonderentwicklung, da sie sich in Distanzierung von Frankfurt vorrangig mit innerbayerischen Themen befassten und den traditionellen Partikularismus pflegten. Mit dem Scheitern des österreichischen Reformprojektes verloren sich hier die Aktivitäten insgesamt. Der Nationalverein hatte neben der Münchner Presse seine Stütze vor allem im protestantischen Franken. Die erst 1863 gegründete bayerische Fortschrittspartei war wie der Nationalverein durch die Berufung Bismarcks stark verunsichert und hielt sich bei aller Ablehnung der österreichischen Reformvorschläge in der deutschen Führungsfrage lange zurück  ; die teils großdeutschen Pfälzer Demokraten hielten sich ohnehin abseits.91 88 Knapp Real (wie Anm. 12), S. 83–86. Andreas Neemann, Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50–1866, 2000. Darin zum Zollverein S. 414–429  ; kleindeutsche Nationalbewegung und Bundesreformbestrebungen, S. 446–455  ; politische Organisationen, S. 456–464. 89 Die ältere Literatur zu den Hannoveranern Bennigsen und Miquel stellt mehr auf ihre Rolle im Nationalverein als im Kgr. Hannover ab. Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker, 2 Bde. 1910  ; zum Fürstentag Bd. 1, S. 597–612. Wilhelm Mommsen, Johannes Miquel, Bd. 1 (1828–1866), 1928 (mehr nicht ersch.)  ; zum Fürstentag S. 597–612. Beide Arbeiten wegen des umfangreichen Abdrucks von Briefzeugnissen noch immer wichtig. 90 Ausführlich Real (wie Anm. 12), S. 88–95. 91 Zu Bayern ausführlich Real (wie Anm.  12), S.  99–104, S.  142. Zum Fortschritt in Bayern immer noch sehr detailliert und nuanciert Theodor Schieder, Die kleindeutsche Partei in Bayern,

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In Österreich hatte der Reformverein, der doch zu seiner Verteidigung gegründet wurde, nur wenige Anhänger. Zugleich lehnten die »Unionisten« und die großösterreichische Fraktion der den Reichsrat dominierenden liberalen Verfassungspartei den Reformentwurf ab, da er mit der – am Gesamtstaat einschließlich Ungarns festhaltenden  – Februarverfassung nicht in Einklang zu bringen sei.92 Hingegen standen ihre steirischen »Autonomisten« dem Großdeutschtum aufgeschlossener gegenüber, auch langfristig.93 Erneut erweist sich daran, dass die Reforminitiative von Kaiser und Regierung die entscheidenden politischen Kräfte des Reiches nicht hinter sich versammeln konnte. X. Kritisches Resümee

Der Streifzug durch die öffentliche Meinung mit ihren Parteien hat die ganze Vielfalt der unterschiedlichen Einstellungen zur Frage großdeutsch oder kleindeutsch gezeigt, wobei durchaus ein landsmannschaftlich vermitteltes föderatives Nationalgefühl zur Geltung kam. Maßgebend für einen Erfolg der Reformakte von 1863 war aber ausschließlich die Haltung der Fürsten und ihrer Regierungen. Wäre die österreichische Reformakte unter Preußens Beteiligung erfolgreich umzusetzen gewesen  ? Die Struktur der politischen Kräfte im Bund wäre dabei selbstverständlich nicht verändert worden. Wie schon 1851 zeigte sich 1863 abermals, dass das Bestreben Franz Josephs, die österreichische Führung im Bund mit Hilfe der Mittelstaaten zu sichern und damit den Bund machtpolitisch in die österreichischen Sicherheitsbedürfnisse einzubinden, nicht gelang. Eine Bundeshilfe wäre bei der Konstruktion der Führungsorgane  – wie wir sahen  – auch ohne Vetorecht nur äußerst schwer zu erreichen gewesen, wenn Preußen bremste. Im Grunde war diese Konstellation vom Krimkrieg bis zum Zweibund konstant. Nun waren gerade auch innerhalb Österreichs selbst – wie wir sahen – die bundespolitischen Bemühungen des Kaisers durch die maßgeblichen politischen Kräfte nicht gedeckt. Die Integrationsbedürfnisse Österreichs und Deutschlands verhielten sich eben komplementär zueinander. Freilich ist auch innerösterreichisch eine erfolgreiche 1936, hier die Übersicht »Vorgeschichte und Anfänge«, S. 1–40  ; zu Zollverein und Reformfrage S. 26–37. 92 Gustav Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, 8 Bde., Ndr. 1972 ff., hier Bd. 1, S. 147 f. 93 Berthold Sutter, Die politische und rechtliche Stellung der Deutschen in Österreich 1848 bis 1918, in  : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. III/1  : Die Völker des Reiches, 1980, S. 154–339, hier S. 184–188.

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politische Integration des Vielvölkerreiches während seines Bestandes niemals gelungen. Die historiographisch beschworene Chance für Mitteleuropa jagt meines Ermessens einem Phantom nach. Bezogen auf Deutschland bedarf das Bild einer »föderativen Nation« jedoch ebenfalls der Korrektur, da die Maximen von »Föderalismus« und »Partikularismus« unter den Prämissen des »monarchischen Prinzips« aufs Engste verschränkt waren. Auch die Reformakte von 1863 war auf Souveränitätswahrung und enge Begrenzung der neuen Bundeskompetenzen, erst recht der parlamentarischen Partizipation angelegt. Das Auftreten der Monarchen in Frankfurt kann einen Eindruck von ihrem Selbstverständnis als Souveräne vermitteln. Im hegemonialen Bundesstaat von 1867/71 war diese Souveränität zwar zugunsten des preußischen Königs gebrochen  ; die enge Verknüpfung von Reichsleitung und der Regierung des 1866 übermäßig vergrößerten preußischen Staates verbietet es jedoch erst recht, von einer echten Föderation zu sprechen. Immerhin wurde mit dem Reichstag eine Institution nationaler Partizipation geschaffen. Aber erst die Beseitigung der Monarchen eröffnete die Chance einer von der Nation getragenen Föderation, die freilich erst 1949/90 mit der Schaffung näherungsweise gleichgewichtiger Länder vollendet wurde. Der Begriff und das historiographische Konzept einer »föderativen Nation« sollte für das 19. Jahrhundert, um das es in diesem Beitrag geht, doch wohl diese »Nation« – in partizipatorischer Absicht – einschließen.

Der Deutsche Fürstentag 1863 in Frankfurt am Main.

Jana Osterkamp

Föderale Ideen in der Habsburgermonarchie und die imperiale Vielfalt der Nationen und Territorien (1848–1867) I. Einführung II. Föderativprogramm aus dem Umkreis der Wiener Regierung 1848/49 (Sommaruga) III. Historisch-staatsrechtliche Pläne des Kremsierer Reichstags IV. Ethnoföderalismus des Slawenkongresses und František Palacký V. Verwaltungsföderalismus der Bach-Ära VI. Fazit und Ausblick

I. Einführung

Die Eliten der Habsburgermonarchie entfalteten unter dem Eindruck der Märzrevolution von 1848 und der neueingeforderten, auf die Nation(en) gegründeten Staatslegitimation ein weites Spektrum föderalen Denkens. In seiner typologischen Vielfalt war es europaweit einzigartig. Föderale Ideen aus der Habsburgermonarchie bezogen sich dabei in vielfacher Weise auf den Deutschen Bund. Gleichzeitig stellte die Epoche zwischen dem Revolutionsjahr 1848 und dem Zerfall des Deutschen Bundes 1866 für Wien eine höchst prekäre Zeit kriegerischer Auseinandersetzungen dar, deren räumliche Folgen föderale Ideengeber berücksichtigen mussten. Die durch die Revolution von 1848 ausgelösten Bürger- und Separationskriege in Ungarn und Lombardo-Venetien hatten die Sicherheit und Stabilität des Kaisertums ebenso nachhaltig gefährdet wie der sog. Preußisch-Österreichische Krieg von 1866. Die Föderalismusgeschichte Mitteleuropas für die Jahre 1848 bis 1867 wird meist von ihrem Ende her erzählt. Nach 1871 etablierte sich Deutschland als ein asymmetrischer, unter preußischem Einfluss stehender Bundesstaat, als ein Nationalstaat also, an dessen Gründung die Frankfurter Paulskirche 1848 noch gescheitert war. Auch für das Habsburgerreich datiert die territoriale, staatliche und politische Konsolidierung erst auf die Zeit nach 1866 und 1867. Die territoriale Konsolidierung ging dabei mittelbar auf den Verlust der Hegemonialstellung im Deutschen Bund zurück. Die von Preußen initiierte Auflösung des Deutschen

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Bundes im Jahr 1866 führte für die österreichischen Kronländer, die auch zum Rechtsraum des Deutschen Bundes gehörten, zu einer eindeutigeren, ausschließlichen Zugehörigkeit zum Rechtsterritorium der Habsburgermonarchie. Die staatliche Konsolidierung durch den sog. österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 beendete das neoabsolutistische Herrschaftsexperiment der Bach-Ära, das auf politische Steuerung durch eine einheitliche zentrale Verwaltung ohne Parlamente gesetzt hatte. Es entstand nun zwischen Österreich und Ungarn eine institutionelle Kakophonie von Reichs- und Landesparlamenten, Reichs- und Landesverwaltungen, österreichischer und ungarischer Regierung, gemeinsamen Ministern und dem Herrscher an der Spitze. Die politische Konsolidierung kann durch den Beginn der konstitutionellen Ära im Jahr 1867 bezeichnet werden, die den Ausbau eines Interventions- und Leistungsstaates im Zusammenspiel mit den legislativen und administrativen Körperschaften der beiden Reichshälften Österreich und Ungarn, der Kronländer, Bezirke und Kreise vorantrieb. Die Föderalismusgeschichte zollte der nach 1867 und 1871 zweigleisigen Staatswerdung Deutschlands und Österreich-Ungarns in der retrospektiven Beschreibung auch der 1850er und 1860er Jahre ihren Tribut. Die deutsche Historiographie betrachtete den Deutschen Bund lange Zeit als »Notbehelf« auf dem Weg zum Nationalstaat.1 Diese der borussischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verpflichtete Sichtweise relativierten und korrigierten in jüngster Zeit europäische und stärker auf die Einzelstaaten abstellende Perspek­tiven. Ein wichtiges historiographisches Leitbild blieb jedoch nach wie vor die »föderative Nation« bzw. der Nationalstaat.2 Die Geschichtsschreibung zur Habsburgermonarchie nahm demgegenüber typisch imperiale Probleme des Neoabsolutismus in den Blick  : die Staatsreformen zum einheitlichen Verwaltungsstaat als »antiföderale« Entwicklung, den infrastrukturellen Staatsausbau im Reich und in den Ländern, den umstrittenen Elitenwechsel vom Adel zum Bürgertum im Kampf um staatsrechtlich-föderale Besitzstände sowie die Politisierung von sprachlichen, konfessionellen und national-ethnischen Gemeinschaften, die langfristig eine Föderalisierung in der österreichischen Reichshälfte beförderten.3 Den Erzählhorizont bildet in diesem Fall keine habsburgische »Nation«, sondern die Vielfalt des Empire. 1 Überblick hierzu und zum Folgenden Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, 2012, S. 108–115. 2 Vgl. Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von D. Langewiesche/G. Schwab, 2000. 3 Georg Seiderer, Österreichs Neugestaltung. Verfassungspolitik und Verwaltungsreform im öster­ reichischen Neoabsolutismus unter Alexander Bach 1849–1859, 2015   ; Der österreichische

Föderale Ideen in der Habsburgermonarchie 

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Die föderalen Ideen nach 1848 dienen im Folgenden als ein Brennglas, um die divergierenden Entwicklungslinien von Empire, Nation(en) und der verflochtenen Territorialität von Deutschem Bund und Habsburgermonarchie zu bündeln. Die getroffene Auswahl von ideengebenden Institutionen und Denkern bildet die vier wichtigsten Typen föderalen Denkens in der Habsburgermonarchie ab  : großräumige Bundesvorstellungen, historisch-staatsrechtlicher Föderalismus, Nationalitätenbundesstaatlichkeit sowie Verwaltungsföderalismus. Gleichzeitig werden Interessenlagen deutlich, die hinter föderalen Ideen standen. Sicherheit, Machterhalt und nationale Selbstbestimmung konkurrierten um die Legitimierung föderaler Staatlichkeit ebenso wie Liberale und Konservative, Deutschösterreicher und Slawen um langfristigen politischen Einfluss. II. Föderativprogramm aus dem Umkreis der Wiener Regierung von 1848/49 (Sommaruga)

In der Frankfurter Paulskirche war die sog. großdeutsche oder kleindeutsche Ordnung eines zukünftigen deutschen Nationalstaats Gegenstand einer der umstrittensten parlamentarischen Kontroversen.4 Diese gipfelte in der Frage, ob das Kaisertum Österreich – dies betraf gleichermaßen allerdings auch Preußen – nur mit seinen zum Deutschen Bund gehörigen Provinzen einem deutschen Nationalstaat beitreten solle oder ob Österreich gänzlich von der Staatsgründung ausgeschlossen und stattdessen mit einem konföderativen, völkerrechtlichen oder dynastischen Band an ein neues Deutschland gebunden werden solle. Hinter diesen Kontroversen verbarg sich eine ungeklärte Sprecherrolle des Frankfurter Verfassungsparlaments. Viele Abgeordnete wollten aus der Machtvollkommenheit eines konstituierenden Parlaments heraus auch über die Neuordnung Österreichs entscheiden können, zumindest aber über dessen zum

Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, hrsg. von H.-H. Brandt, 2014  ; Helmut Rumpler, Der österreichische Neoabso­ lutismus als Herrschafts- und Modernisierungssystem, in  : Die Habsburgermonarchie und die Slowaken 1849–1867, hrsg. von D. Kováč/A. Suppan/E. Hrabovec, 2001, S. 9–21  ; Pieter Judson, The Habsburg Empire. A New History, 2016. 4 Dazu, Günter Wollstein, Das »Großdeutschland« der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, 1977  ; Wilhelm Schüßler, Die nationale Politik der österreichischen Abgeordneten im Frankfurter Parlament, 1913  ; Hans Günter Telle, Das österreichische Problem im Frankfurter Parlament im Sommer und Herbst 1848, 1933.

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Deutschen Bund gehörige Territorien.5 Dagegen äußerte die Wiener Regierung ebenso kategorisch einen Zustimmungsvorbehalt zu allen das Kaisertum Österreich betreffenden Fragen.6 Wegen der nur teilweisen räumlichen Überschneidung von Deutschem Bund und Kaisertum Österreich bestanden für die Habsburgermonarchie im langen Jahr 1848 zwei Konstituanten mit einem untereinander ungeklärten Verhältnis, das Paulskirchenparlament und der Kremsierer Reichstag. Die liberale, nach den Wiener Märzunruhen 1848 neuberufene Wiener Regierung unter Ministerpräsident Franz von Pillersdorf hatte einerseits die Wahlen zum Frankfurter Parlament zugelassen.7 Andererseits oktroyierte sie am 25.  April eine Verfassung für das Kaisertum Österreich, allerdings ohne die ungarischen Länder (Pillersdorf ’sche Verfassung). Die Aprilverfassung befriedete die revolutionären Massen auf den Wiener Straßen, in der Universität und den Fabriken jedoch nicht. Am 16.  Mai 1848 wurde die Aprilverfassung für provisorisch erklärt und faktisch zurückgenommen, die Regierung berief nun ebenfalls einen constitutionellen Reichstag ohne Zensus ein.8 Beide verfassunggebenden Organe unterschieden sich erheblich voneinander. Im Kremsierer Reichstag war die bürgerliche und mit einem Viertel der Abgeordneten auch die bäuerliche Bevölkerung stark, die Aristokratie bis auf den polnischen Adel jedoch wenig repräsentiert.9 Das Frankfurter Parlament als Pendant galt hingegen als »Honoratiorenparlament« der »Bildungs, Geld- und Titelpatrizier« mit einem Überhang an Juristen, Akademikern, Adligen und nur 5 Die Stellung Böhmens war dabei umstritten und geht auf ältere Kontroversen um die böhmische Kur zurück, umfassend dazu Alexander Begert, Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens, 2003. 6 Wollstein (wie Anm. 4), S. 268. 7 Der Wahlmodus folgte den Vorgaben des Bundestags auf Grundlage der Pfarrbezirke. Ministerrat vom 14. April 1848, in  : Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867, Abteilung I  : Die Ministerien des Revolutionsjahres 1848 (20. März 1848 – 21. November 1848), bearb. von T. Kletečka, 1996, Nr. 12. 8 Allerhöchstes Patent vom 25. April 1848 »Verfassungs-Urkunde des österreichischen Kaiserstaates« (Pillersdorfsche Verfassung)  ; Proclamation vom 16. May 1848 Erklärung des ersten Reichstages als einen constituirenden nur mit einer Kammer und angeordnete Abänderung der früheren Wahlordnung. Dazu Thomas Stockinger, Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise), 2012, S. 378–392. 9 Jiří Kořalka, Revolutionen in der Habsburgermonarchie, in  : Europa 1848. Revolution und Reform, hrsg. von D. Dowe/H.-G. Haupt/D. Langewiesche, 1998, S. 197–230, hier S. 208. Detailliert am Beispiel Niederösterreichs Stockinger (wie Anm. 8), S. 747–771.

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einem einzigen Bauern.10 Einen wesentlichen Unterschied stellte auch die nationale Zusammensetzung dar, weil in Frankfurt aufgrund der Wahlboykotte in Böhmen nach Palackýs berühmtem Absagebrief kaum tschechische Vertreter saßen. Die multiethnische Zusammensetzung des Kremsierer Reichstags, in dem außer den Gebieten der ungarischen Krone und Lombardo-Venetiens11 alle Länder und Nationalitäten des Kaisertums vertreten waren, brachte es hingegen mit sich, dass deutschnationale Loyalitäten nicht nur als solche in ihren Bezügen zu Deutschem Bund, Österreich oder einzelnen Ländern ausgehandelt, sondern in der parlamentarischen Debatte und den Ausschüssen mit andersnationalen Loyalitäten vermittelt und vereinbart werden mussten. Das Nebeneinander von Frankfurt und Kremsier symbolisiert die Schwierigkeit, über die zukünftige Staatsform im Raum Mitteleuropa zu entscheiden, da die Grenzen des Deutschen Bundes nicht mit den Grenzen seiner Mitgliedstaaten deckungsgleich waren. Der mehrstufige Rechtsraum, der sich über den Deutschen Bund, über die nichtdeutschen Provinzen Preußens und über die nicht zum Deutschen Bund gehörigen Provinzen des Kaisertums Österreich legte, erschwerte die Rechtfertigung und Gestaltung einer gemeinsamen Verfassung, zumal unter dem revolutionären Banner des Nationalstaats. Gerade in Kremsier, aber auch in Frankfurt wurde deutlich, wie unscharf  – gemessen an der Wirklichkeit  – »Nation« als Legitimationsgrundlage für den Staatsaufbau war. Im Vormärz hatten die Landesherren versucht, ihre Bevölkerung zu einer bayrischen, hessischen oder württembergischen Staatsnation zu erziehen, nach 1848 konkurrierte die teutsche Gesinnung für einen Gesamtstaat um den ersten Rang nationaler Loyalitäten.12 In der sog. Oktoberdebatte in der Paulskirche eskalierte der Konflikt um die zukünftige Staatsform. Die geplanten, später abgeschwächten Verfassungsartikel §§ 2 und 3 postulierten, dass jene Staaten des Deutschen Bunds mit nichtdeutschen Ländern keinen gemeinsamen Staat mit den deutschen Ländern bilden,

10 Aufschlüsselung der Zusammensetzung bei Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848–49, 2 Bde., 1930, hier Bd. 2, S. 11–13  ; Wolfram Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 zwischen demokratischem Liberalismus und konservativer Reform. Die Bedeutung der Juristendominanz in den Verfassungsverhandlungen des Paulskirchenparlaments, 1976. 11 Italienische Delegierte kamen ausschließlich aus Triest, Dalmatien und Tirol, vgl. Brigitte Mazohl-Wallnig, Il governo austriaco durante il biennio rivoluzionario, in  : La »primavera liberale« nella terraferma veneta 1848–49, hrsg. von A. Lazzaretto Zanolo, 2000, S. 21–34, hier S. 25. 12 Instruktiv Gruner (wie Anm. 1), S. 33 f.

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sondern nur im Wege der Personalunion untereinander verbunden sein sollten.13 Das Verbot traf Gesamtösterreich mit seinen galizischen, ungarischen und italienischen Besitzungen ebenso wie Gesamtpreußen mit Ost- und Westpreußen sowie Posen (Poznań). Unter dem Eindruck dieser Debatte erschien im Winter 1848 die Streitschrift des jungen Wiener Politikers und Juristen Franz von Sommaruga, der als Abgeordneter für den böhmischen Wahlkreis Eger an der Paulskirche teilnahm und dort lange »großdeutsche« Positionen verfochten hatte.14 Sommaruga war schon vor 1848 in liberalen Vereinen tätig gewesen sowie Gründungsmitglied und Präsident des unter Liberalen inoffiziellen politischen Zentrums, des Wiener Juridisch-Politischen Lesevereins.15 In den 1850er Jahren wurde er ein führender Ministerialbeamter im Justiz- und Finanzministerium und gehörte damit zu jenem Beamtenstab Österreichs während des Neoabsolutismus, die die 1848 gescheiterten Reformen nun administrativ »von oben« umsetzten.16 Sommarugas Schrift »Österreichs Zukunft und dessen Stellung in Deutschland« (1848) ist deswegen bemerkenswert, weil er sich an einem Föderalismus versuchte, der die Territorien von Deutschem Bund und Habsburgermonarchie unter dem Staatsziel Sicherheit, Verteidigungsfähigkeit und Administrierbarkeit sowie unter dem Paradigma des »Nationalstaats« harmonisch zusammenführte. Er ging von seinen früheren »großdeutschen« Vorstellungen ab und stellte sich nun gegen diesen lieb gewordenen Wunsch.17 Sommaruga selbst bezeichnete seine föderale Idee als Kühnheit.18 Sie ist im Zusammenhang mit zeitgleichen Vorstößen der Wiener Regierung Bruck-Schwarzenberg zu sehen, welche in je13 Diese Bestimmung wurde für die endgültige Verfassung abgeschwächt, wo es allerdings immer noch in § 2 der Verfassung des deutschen Reiches vom 28. März 1849 (Paulskirchenverfassung) heißt  : Hat ein deutsches Land mit einem nichtdeutschen Lande dasselbe Staatsoberhaupt, so soll das deutsche Land eine von dem nichtdeutschen Lande getrennte eigene Verfassung, Regierung und Verwaltung haben. In die Regierung und Verwaltung des deutschen Landes dürfen nur deutsche Staatsbürger berufen werden. 14 Art. »Sommaruga, Franz Freiherr«, in  : Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich. Enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und in seinen Kronländern gelebt haben, Bd. 35, 1877, S. 284–286. 15 Hans Peter Hye, Art. »Sommaruga Franz Ser. Vincenz Emanuel Frh. von«, in  : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 12, 2005, S. 411 f.; Wilhelm Brauneder, Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840–1990, 1992. 16 Dazu Waltraud Heindl, Josephinische Mandarine. Bürokratie und Beamte in Österreich, Bd. 2  : 1848–1914, 2013. 17 Franz von Sommaruga, Österreichs Zukunft und dessen Stellung in Deutschland, 1848, S. 39. 18 Von Sommaruga (wie Anm. 17), S. 38.

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ner Zeit die Idee eines »Siebzigmillionenreichs« unter österreichischer Hegemonie vertrat, in der Paulskirche jedoch keine Zustimmung erntete.19 Wien verfolgte diesen Plan sowohl im Plenum der Frankfurter Nationalversammlung als auch – am Parlament vorbei – in Geheimverhandlungen mit Preußen.20 Unter die Männer, denen die Abfassung einer solchen Verfassung anvertraut werden konnte, zählte der österreichische Ministerrat auch Sommaruga.21 Das »Siebzigmillionenreich« scheiterte sowohl in der Paulskirche als auch an Preußen, das nur eine unabhängige Stellung Österreichs als eng verbundener Staat wollte, also nicht einmal eine Konföderation.22 In diesem Winter 1848 brachte Sommaruga seine Vorstellungen ins Spiel. Seine Kehrtwende vom »Großdeutschen« zu einem großräumigen Föderalisten vollzogen viele österreichische Abgeordnete, als die drohende Zerrüttung und Destabilisierung des Kaiserstaats durch den Abfall Ungarns und Lombardo-Venetiens offenbar wurden. Das Ergebnis war ein mehrstufiger Föderalismus mit mehreren »national« kodierten Territorien. Sommaruga entwarf ein offenes föderales Staatenhaus, das Raum für die »deutsche Nation« und Raum für die Nationen des Habsburgerreichs bot. Für die großräumigste föderale Ebene verband Sommaruga alle Länder des Deutschen Bundes mit Gesamtösterreich. Eine »kleindeutsche« Neuordnung mit einem gänzlichen Ausschluss Österreichs stand bis zum Jahresende 1848 damals ohnehin nicht zur Debatte.23 Sommaruga sprach sich deutlicher als andere Paulskirchenabgeordnete auch gegen eine bloße Konföderation von zwei souveränen Staaten aus.24 Teil dieser großräumigen Föderation war eine föderalisierte Habsburgermonarchie. Auch die Habsburgermonarchie baute Sommaruga aus Großräumen auf. Er setzte damit einen bewussten Kontrapunkt gegen den kleinteiligen territorialen Flickenteppich der habsburgischen Kronländer, deren Vertretungsorgane, die Ständetage, im Vormärz und in der Revolution wieder zu neuem Leben er-

19 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871, 1995, S. 386. 20 Ministerrat vom 12. Dezember 1848, in  : Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848– 1867, Abteilung II  : Das Ministerium Schwarzenberg, Bd. 1 (5. Dezember 1848 – 7. Jänner 1850), bearb. von T. Kletečka, 2002, Nr. 2. 21 Ministerrat vom 12. Dezember 1848, in  : Protokolle (wie Anm. 20), Nr. 2. 22 Verlesen im Ministerrat vom 25. Dezember 1848, in  : Protokolle (wie Anm. 20), Nr. 7. 23 Wollstein (wie Anm. 4), S. 281. 24 Die Idee einer Konföderation vertraten im Ministerrat Krauß und Stadion, Ministerrat vom 26. Dezember 1848, in  : Protokolle (wie Anm. 20), Nr. 8.

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wacht waren.25 Er schlug einen inneren Staatsaufbau mit fünf sprachlich-national bestimmten Territorien vor. Diese fünf Ländergruppen umfassten erstens alle Länder des Deutschen Bundes in Österreich, zweitens Galizien, drittens Lombardo-Venetien, viertens Ungarn mit den »Slovacken« sowie fünftens »Illyrien« mit Kroatien-Slawonien, Dalmatien, der Militärgrenze und der serbischen Woiwodina.26 Anders als ähnliche Raumvorstellungen Metternichs,27 die auf eine Verwaltungsgliederung nach großen Sprachgruppen zielten, sah Sommaruga für die Habsburgermonarchie ein legislatives Zweikammersystem nach nordamerikanischem und schweizerischem Vorbild vor.28 Die Staatsverwaltung war mit fünf Reichsministerien für Außenpolitik, Verteidigung, Finanzen, Handel und Infrastruktur stark zentralisiert, aber der Legislative gegenüber verantwortlich. Neben den »vereinigten Landtagen« der Ländergruppen errichtete Sommaruga unterhalb der fünfteiligen großräumigen Territorialeinteilung weitere Landtage. Sommarugas Projekt berief sich mit revolutionärem Aplomb auf die Nationsidee, allerdings waren seine föderal abgebildeten Nationen »von oben« gesetzt und konstruiert  : Deutsche, Italiener, Ungarn, Nordslawen und Südslawen. Für die Zeit der 1840er Jahre ist allerdings kennzeichnend, dass diese »Nationen« unscharfe Grenzen aufwiesen. Landeskinder der deutschsprachigen Kronländer Österreichs hatten ebenso mehrstufige Loyalitäten gegenüber Kommune, Region, Land und Staat wie nichtdeutschsprachige Einwohner.29 Tiroler pflegten neben der deutschen Nations- eine katholische Landesidentität, die Nordslawen verstanden sich als »Slawen«, aber auch Böhmen, Mährer, Schlesier, Polen und Ruthenen, die Ungarn als Magyaren und Székler, aber auch gegebenenfalls Siebenbürger. Solche tatsächlichen Zugehörigkeiten spielten für Sommaruga kaum eine Rolle. Vor allem dachte er nicht an eine prinzipielle Gleichberechtigung der Nationalitäten. Er verwies auf ihren unterschiedlichen politischen Reifegrad und hielt an einer Hegemonie der reiferen Völker fest. Letztlich rechtfertigte Sommaruga Föderalismus nicht über die Vielfalt der Nationen, sondern in der frühneuzeitlichen Tradition der foederationes über die 25 Überblick bei Peter Burian, Die Nationalitäten in »Cisleithanien« und das Wahlrecht der Märzrevolution 1848/49, 1962. 26 Von Sommaruga (wie Anm. 17), S. 4. 27 Clemens Metternich, Organisation der Central-Verwaltung in Österreich. Vortrag vom 27. Oktober 1817, in  : Aus Metternich´s nachgelassenen Papieren. Bd. 3, hrsg. von R. Metternich-Winneburg, 1880–1884, S. 62–74  ; dazu Arthur G. Haas, Metternich. Reorganization and Nationality 1813–1818. A Story of Foresight and Frustration in the Rebuilding of the Austrian Empire, 1963. 28 Von Sommaruga (wie Anm. 17), S. 12 f. 29 Dazu Gruner (wie Anm. 1), S. 33 f.

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Schaffung von Sicherheit nach innen und außen sowie – in modernerer Absicht – über Handels- und Wirtschaftsinteressen.30 III. Historisch-staatsrechtliche Pläne des Kremsierer Reichstags

Im Kremsierer Reichstag, dem verfassunggebenden Parlament für das Kaisertum Österreich, waren die föderalen Ideengeber durch ihr Mandat in zweifacher Weise beschränkt. Föderalismusvorstellungen, die den Deutschen Bund betrafen, fanden sich hier nicht und die Einbeziehung der abtrünnigen italienischen und ungarischen Provinzen in einen zukünftigen Verfassungsstaat stellte bis zuletzt ein großes legitimatorisches Problem dar. Während Sommarugas Binnenföderalisierung auf fünf großräumige Territorien zielte, einschließlich der deutschen, ungarischen und italienischen Länder, einigte sich der Verfassungsausschuss in Kremsier nach zähem Ringen auf vierzehn historische Kronländer als entscheidende politische Einheit – ohne Ungarn und Lombardo-Venetien. Zuvor hatte sich der Verfassungsausschuss in Kremsier an den konkurrierenden Modellen von zentralisiertem Verwaltungsstaat, Nationalitätenbundesstaat sowie Kronländerföderalismus abgearbeitet.31 Das revolutionäre Paradigma des Nationalstaats schien einen Nationalitätenbundesstaat nahezulegen, wie ihn František Palacký vertrat. Dagegen wandten sich jedoch wichtige Ausschussmitglieder wie Eduard Cavalcabo oder Josef Alexander Helfert  : Glaube man in den Provinzen die Nationen voneinander abgrenzen zu müssen, so beweise man, daß auch in der Monarchie die verschiedenen Nationen nicht neben einander leben könnten.32 Akzeptierte man den nützlichen Schutzmantel des Empire für die Kronländer und die Nationalitäten, so konnte man dem Nationalstaatsprinzip 30 An einer fehlenden Wertschätzung für handelspolitische Interessen war der Deutsche Bund u. a. gescheitert, Reinhart Koselleck, Art. »Bund (Bündnis, Föderalismus, Bundestaat)«, in  : Geschichtliche Grundbegriffe Tlbd. 1. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von O. Brunner u. a., 2004, S. 582–671, hier S. 659–662. Zur Legitimation von Föderationen vgl. auch, Thomas Fröschl, Confoederationes, uniones, ligae, Bünde, in  : Föderationsmodelle und Unionsstrukturen  : über Staatenverbindungen in der frühen Neuzeit vom 15. zum 18. Jahrhundert, hrsg. von ders., 1994, S. 21–44, hier S. 39. 31 Vgl. Anton Springer, Protokolle des Verfassungsausschusses im Österreichischen Reichstage 1848–1849, 1885. 32 Eduard Cavalcabo am 25. Januar 1849, in  : Protokolle des Verfassungsausschusses im Österreichischen Reichstage 1848–1849, Anton Springer, 1885, S. 37. Auch Helfert fürchtete, ein Nationalitätenbundesstaat werde zum Zerfall in Nationalstaaten führen, Josef Alexander Helfert, Oesterreich und die Nationalitäten. Ein offenes Wort an Herrn Frz. Palacky, 1850, S. 28.

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nicht bedenkenlos folgen. Auch die begriffliche, zumal territoriale Unschärfe der nationalen Zugehörigkeiten war den Anwesenden nur allzu bewusst, wenn sie auf die multiethnischen Regionen wie die Bukowina, Siebenbürgen, die serbische Woiwodschaft, aber auch auf das zumindest utraquistische Böhmen, Mähren und Schlesien verwiesen.33 Auch Palacký selbst gab zu, dass »Nationalität« als politischer Begriff im Bewusstsein des Volks noch nicht verankert sei.34 Die Abschaffung historischer Kronländer wurde zudem als ein Vermächtnis Metternichs gebrandmarkt, der alles provinziale […] Leben unterdrückt habe.35 Damit entfiel auch das Modell eines Verwaltungszentralismus. Am Ende der Kremsierer Verhandlungen stand ein zentralistisch-historischer Kronländerföderalismus nach dem Entwurf des Deutschmährers Kajetan Mayer. Der Kremsierer Konstitutionsentwurf für die Habsburgermonarchie, der noch eine Tür für Ungarn und Lombardo-Venetien offenhielt, wurde vor dem Plenum des Reichstags nicht mehr verhandelt. Kaiserliche Truppen lösten das Verfassungsparlament in der Nacht vor der angesetzten Verhandlung gewaltsam auf.36 Stattdessen verkündete der kurz zuvor inaugurierte österreichische Kaiser Franz Joseph von seinem Rückzugsquartier in Olmütz eine oktroyierte Verfassung (Olmützer Verfassung).37 Von der Regierung Schwarzenberg in Anlehnung an Vorschläge des Reichstags erarbeitet, wies die Olmützer Verfassung zahlreiche Parallelen zum Kremsierer Verfassungsentwurf auf und übernahm insbesondere den historischen Kronländerföderalismus.38 Die Kronländer bildeten die Grundlage des neuen Staatsaufbaus. Im Unterschied zur vormärzlichen Ordnung waren die Bukowina, Görz-Gradisca, Istrien 33 Im Reichstag war versucht worden, eine Karte nach den nationalen Grenzen zu zeichnen, abwertend Helfert (wie Anm. 32), S. 18, 21. 34 Vgl. František Palacký, Union, – Nicht Centralisation, noch Föderation [1849], in ders., Gedenkblätter. Auswahl von Denkschriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren. Als Beitrag zur Zeitgeschichte, 1874, S. 206–214, hier S. 212. 35 Kajetan Mayer am 25. Januar 1849, in  : Anton Springer, Protokolle des Verfassungsausschusses im Österreichischen Reichstage 1848–1849, 1885, S. 42. 36 Vgl. auch das Kaiserliche Manifest vom 4.  März 1849 über die Auflösung des Reichstags von Kremsier, Nr. 149/1849 RGBl. 37 Kaiserliches Patent vom 4. März 1849 über die Reichsverfassung, Nr. 150/1849 RGBl. 38 Andreas Gottsmann, Der Reichstag von Kremsier und die Regierung Schwarzenberg. Die Verfassungsdiskussion des Jahres 1848 im Spannungsfeld zwischen Reaktion und nationaler Frage, 1995  ; Josef Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches. Bd. 1  : Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861. 2. Teil  : Exkurse und Anmerkungen, 1920, S. 86–100.

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mit Triest, Kroatien-Slawonien mit dem Küstenland, die Woiwodschaft Serbien, Krain und Salzburg nun selbständige Kronländer.39 Die Kronländer trugen altbewährte dynastische Namen und Titel und unterschieden sich in Königreiche, Herzogtümer, Grafschaften und Markgrafschaften. Symbolisch wurde damit eine vormoderne Hierarchie der Territorien fortgeschrieben. Verfassungsrechtlich allerdings war ihre »Selbständigkeit« bzw. »Autonomie« auf gleiche Weise durch die Konstitution begrenzt und garantiert.40 Das Eigengewicht der Kronländer unterstrich formal zudem der Umstand, dass die Kronländer ihre Kompetenzen »souverän« über die Landesverfassungen festlegen sollten. Faktisch allerdings wurde dafür bei der Regierung eine Kommission eingesetzt, die sich mit den Landtagen abstimmen musste. Ein wesentlicher Charakter der Verfassung war die Komplementarität von Kronländergleichheit und Nationalitätengleichheit. Die Volksstämme, Nationalitäten bzw. Völker waren ebenfalls gleichberechtigt und hatten das Recht, ihre Nationalität und Sprache zu bewahren und zu pflegen.41 Die »Nationalitäten« waren nicht mit den Landesnationen identisch, sondern meinten die anerkannten Sprachgemeinschaften. In der Folge ergriff der Staat beeindruckende Maßnahmen, um den zehn anerkannten Landessprachen gerecht zu werden.42 Die Landes- und Reichsgesetze erschienen in allen Landessprachen, in Galizien beispielsweise neben dem Polnischen auch in kyrillischer Schrift und ruthenischer Sprache.43 Das Imperium stellte seinen Nationalitäten damit einen wichtigen Baustein für die weitere Nationswerdung zur Verfügung  : die Förderung und Institutionalisierung der jeweiligen Hochsprache. Die einzelnen Mitglieder dieser Sprach- und Volksgruppen verband als drittes Element der Gleichberechtigungsordnung ein allgemeines Reichsbürgerrecht  : Kremsier sprach von einer Volks-, Olmütz von einer Rechtsgemeinschaft. Beide Verfassungen fielen an dieser Stelle deutlich auseinander, und die Differenz verdeutlicht das Scheitern der revolutionären Demokratisierungsbemühungen. Die 39 §§ 1 und 4 Kaiserliches Patent vom 4. März 1849 über die Reichsverfassung, Nr. 150/1849 RGBl. 40 § 4 Reichsverfassung, Nr. 150/1849 RGBl.; § 5 Kremsierer Verfassungsentwurf. Der Kremsierer Entwurf erwähnte die volle Gleichberechtigung der Kronländer ausdrücklich. Vgl. auch Gerald Stourzh, Länderautonomie und Gesamtstaat in Österreich 1848–1918, in  : ders., Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, 2011, S. 37–67, hier S. 46. 41 § 5 Reichsverfassung, Nr. 150/1849 RGBl.  42 Hannelore Burger  : Sprachenrecht und Sprachgerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918, 1995. 43 Svjatoslav Pacholkiv, Emanzipation durch Bildung. Entwicklung und gesellschaftliche Rolle der ukrainischen Intelligenz im habsburgischen Galizien 1890–1914, 2002, S. 71.

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oktroyierte Märzverfassung kannte keine Bezeichnung für alle Reichsbürger als »Volk«, sie nannte nur einzelne Völker und ein gemeinsames Reichsbürgerrecht.44 Trotz dieser Verneinung einer Legitimation durch das »Volk« stellte die gemeinsame Reichsbürgerschaft ein wichtiges Signum politischer Zugehörigkeit dar.45 Mit dem Ausgleich von 1867 wurden dann nicht nur die zwei Reichshälften Österreich und Ungarn, sondern auch zwei Staatsbürgergesellschaften geschaffen. Die gemeinsame Staatsbürgerschaft von 1849 sicherte den Reichsbürgern hingegen gleiche Rechte im Reich, aber auch in allen Kronländern zu. Die Grundrechte, die in Kremsier allerdings üppiger ausgefallen waren als aus der Hand des Kaisers, garantierten weitergehende Gleichheiten.46 Diese grundsätzlich föderal-symmetrisch angelegten Verfassungsordnungen von Kremsier und Olmütz revolutionierten den früheren imperial-asymmetrischen Staatsaufbau. Die vormärzliche Herrschaftsordnung hatte einzelne Provinzen und Bevölkerungsgruppen noch in einer ungleichen Weise über Sonderrechte, Privilegien sowie besondere Pflichten an das imperiale Zentrum gebunden. Die Gleichberechtigungsordnung der Kremsierer und Olmützer Märzverfassungen wies auf einen Föderalismus voraus, der eine Gleichberechtigung der Territorien mit einer gesellschaftlichen Gleichberechtigung verband. Während der Verfassungsausschuss des Kremsierer Reichstags wegen des Kriegszustands mit Ungarn und dem österreichischen Italien die Verfassung ohne ungarische, kroatische und lombardo-venetianische Repräsentanten entwarf, bezog der Olmützer Oktroi die ungarischen und italienischen Länder ausdrücklich in einen einheitlich föderalen Staatsaufbau ein. Die verfassungsrechtliche und wirtschaftliche Absonderung der ungarischen Länder, die durch ein eigenes Rechtsregime, über einen durch eine Zolllinie getrennten Wirtschaftsraum und zahlreiche andere Sonderrechte gekennzeichnet war, sollte hierbei ein Ende haben. 44 § 23 Reichsverfassung, Nr. 150/1849 RGBl. Vgl. zu diesem Unterschied auch Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, 2014, S. 63. Das Ausführungsgesetz zur Reichsbürgerschaft wurde allerdings nicht erlassen. 45 Dieter Gosewinkel, Staatsbürgerschaft als politische Zugehörigkeit. Eine Grundlinie europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert, in  : Staatsbürgerschaft und Teilhabe. Bürgerliche, politische und soziale Rechte im östlichen Europa, hrsg. von K. Boeckh u.  a., 2014, S.  15–34, hier S.  17. Siehe auch Hannelore Burger, Passwesen und Staatsbürgerschaft, in  : Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867, hrsg. von W. Heindl-Langer/E. Saurer, 2000, S. 3–172, hier S. 161–167. 46 §  1 Abs.  3 Kremsierer Entwurf, Anhang »Grundrechte«  ; Kaiserliches Patent über die Grundrechte.

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Ziel der oktroyierten Märzverfassung war ein Föderalstaat der historischen Kronländer unter Einschluss Ungarns und der italienischen Provinzen, um die vormoderne Vielfalt politisch unverbundener Territorien in eine politische Einheit zu überführen. Bei der Verfassungsdebatte im Ministerrat hielt Justiz- und Innenminister Alexander von Bach mit Blick auf Ungarn fest  : Ist die Einheit der Monarchie ein Postulat, so wird sie sich erringen lassen. […] Privilegierte Nationen kann es nicht geben, sonst würden sich auch die anderen Provinzen, selbst die Deutschen, trennen wollen.47 Angesichts einer harschen Militärverwaltung in Lombardo-Venetien und den ungarischen Ländern gelang dieses Vorhaben einer territorialen Konsolidierung und einheitlichen Durchstaatlichung in den Folgejahren jedoch gerade nicht auf dem Verfassungswege, sondern nur mit Zwang. Im neoabsolutistischen Verwaltungsstaat wurden die in Olmütz versprochenen Legislativkörperschaften der Länder vielfach nicht eingerichtet. Seit den 1860er Jahren und einer nachholenden Parlamentarisierung wurde dieser historische Kronländerföderalismus für den Staatsaufbau der Habsburgermonarchie allerdings prägend. IV. Ethnoföderalismus des Slawenkongresses und František Palacký

Neben den beiden gewählten Verfassungsparlamenten in Frankfurt und Kremsier nahm im Juni 1848 noch eine dritte Institution das Mandat zur Verfassunggebung für sich in Anspruch. Zwischen dem 2. und 12. Juni 1848 versammelte sich in Prag für zwei Sommerwochen der Slawenkongress.48 Dies war eine Zusammenkunft von 340 politischen und konfessionellen Vertretern verschiedener slawischer Nationalitäten, mehrheitlich von Tschechen, Mährern und Slowaken, gefolgt von den Polen und Ruthenen sowie Kroaten, Serben und Slovenen.49 Der Slawenkongress trat mit fünf Verhandlungsfragen an, die zuvor über Zeitungen und Flugblätter verbreitet worden waren  :

47 Ministerrat vom 20. Februar 1849, in  : Protokolle (wie Anm. 20), Nr. 20. 48 Eine Beteiligung lehnten etwa demokratisch gesinnte Exilpolen ab, die nicht Slawen, sondern nur Polen mit einem eigenen Zentralstaat sein wollten, Václav Žáček, Čechové a poláci roku 1848. Studie k novodobým politickým stykům česko-polským (Tschechen und Polen im Jahr 1848. Studie zu den neuzeitlichen tschechisch-polnischen politischen Beziehungen), Bd. 2, 1948, S. 96. 49 Zur konkreten Zusammensetzung vgl. die Aufstellung nach Namen und Herkunft bei Václav Žáček, Slovanský sjezd v Praze roku 1848. Sbírka dokumentů (Der Slawenkongress in Prag 1848. Dokumentensammlung), 1958, S. 544–561.

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1. Brüder, seid ihr für den Abschluss eines slawischen Bundes zu gegenseitigem Schutz und in welcher Weise  ? 2. Unter welchen Bedingungen fordern wir die Errichtung eines österreichischen Bundesstaats  ? 3. Welche sind eure Wünsche für die außer-österreichischen Slawen und auf welche Weise lassen sich slawische Wissenschaft und Kunst heben  ? 4. Sollen die Beschlüsse des Frankfurter Parlaments Rechtsgültigkeit haben und wenn ja, für welche Teile des slawischen Österreich  ? 5. Und auf welche Weise soll von uns dagegen Protest eingelegt werden  ?50

Unmissverständlich stellte sich der Slawenkongress damit in den Denkhorizont František Palackýs, der an Frankfurt in seinem Absagebrief geschrieben hatte, ein deutscher Nationalstaat könne nicht den Anspruch auf die Zustimmung und die Eingliederung der Slawen erheben.51 Der Slawenkongress nun sprach sich für eine Föderalisierung der Habsburgermonarchie zu einem Bund gleichberechtigter Nationen aus. Auf diese Weise sollte die Nation der Slawen die volle staatliche Anerkennung und Stellung erringen.52 Ähnlich wie in Sommarugas großräumigen Föderalismusvorstellungen wurde Nation zweideutig verwendet und einerseits auf eine größere Sprachgruppe, die Slawen, sowie andererseits auf die verschiedenen Sprachnationalitäten Tschechen, Polen, Slowenen und andere bezogen. Angesichts von Straßenunruhen in Prag wurde der Kongress vorzeitig aufgelöst. Ein vorab noch eilig verabschiedetes Manifest, die »Proklamation der ersten Slavenversammlung in Prag an die Völker Europas«, beschwor mit sprechenden Bildern von Knechtung, Freiheits- und Friedenssehnsucht der Slawen eine Opferrolle gegenüber Germanen und Romanen, die es nun – im glücklichen Augenblick der revolutionären Gelegenheit – zu überwinden gelte.53 Allerdings fand weder der panslawistische Unionsgedanke von Michail A. Bakunin mehrheitlich 50 Vgl. »Program Sjezdu slovanského (Programm des Slawenkongresses)« des Provisorischen Ausschussses vom 27.  Mai 1848, abgedr. in  : Jan M. Černý, Boj za právo. Sborník aktů politických u věcech státu a národa českého od roku 1848 (Kampf ums Recht. Sammlung politischer Aktenstücke zu Angelegenheiten des tschechischen Staats und der Nation seit 1848), Bd. 1, 1893, S. 256–262 (Übersetzung durch die Autorin). 51 František Palacký, Oesterreichs Staatsidee, 1866, S. 79–86. 52 »Proklamation der ersten Slavenversammlung in Prag an die Völker Europas« vom 12. Juni 1848, abgedr. in  : Jan Peter Jordan, Aktenmäßiger Bericht über die Verhandlungen des ersten Slawenkongresses in Prag, 1848, S. 34–39, hier S. 37. 53 Diese Selbstbeschreibung ist auf Herders Charakterisierung der Slawen zurückführen, vgl. Holm Sundhaussen, Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, 1973, S. 50–58, siehe aber auch S. 179 f.

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Zustimmung, der über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinausging,54 noch setzten sich jene Ideen durch, die Grenzen des österreichischen Kaisertums in russischer55 oder polnischer Richtung auszudehnen.56 Das Raumdenken des Slawenkongresses war mit Ausnahme der Polen »austroslavisch«.57 Die Protagonisten von Prag bewegten sich in den vertrauten Bahnen des historischen Staatsrechts des Kaisertums Österreich. Dies hing nicht zuletzt mit den Errungenschaften für Böhmen im Frühjahr 1848 zusammen, als der Böhmische Ständetag vom Kaiser unter Berufung auf das historische Staatsrecht weitgehende Zugeständnisse für eine eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz erhalten hatte.58 Auch die vollkommene Gleichstellung der böhmischen Sprache mit der deutschen in Verwaltung und Unterricht sowie die freie Religionsausübung für Katholiken, Protestanten und Juden wurde garantiert.59 Diese Privilegierung Böhmens wollten sich die Tschechen durch eine Föderalisierung der Habsburgermonarchie nicht mehr beschneiden lassen. So kam es, dass auch 54 Bakunin postulierte den Zusammenschluss aller slawischen Völker zu einem »Slawischen Rat«, gleichzeitig sollten die slawischen »Nationen« je für sich ebenfalls unabhängig sein und zwischen ihnen der Geist der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen, vgl. den polnischen Entwurf »Podstawy zasadnicze nowej polityki slowianskiej« (Grundprinzipien einer neuen Slawenpolitik), abgedr. in  : Žáček (wie Anm. 49), S. 83–386. 55 Im offiziellen Russland hatte man sich am Vorabend der Revolution gegen die »slawische Idee« gewandt Olga V. Pavlenko, Die »slavische Frage«. Im Kontext der russisch-österreichischen Beziehungen während der Revolution 1848/49, in  : Der Prager Slavenkongress 1848, hrsg. von A. Moritsch, 2000, S. 19–38, hier S. 28 f. und S. 33–35. 56 In der polnisch-russinischen Sektion war strittig, ob ein neues Polen sich dem Kaisertum Österreich anschließen oder, umgekehrt, ob Galizien ein Teil des neuen Polens werden solle, Žáček (wie Anm. 48), S. 158–166. 57 Dies entsprach der Einladungspraxis, zum Kongress wurden Slawen aus Österreich als Mitglieder, außerösterreichische Slawen hingegen als Gäste geladen, vgl. Žáček (wie Anm. 48), S. 58–71. Als Überblickswerk vgl. Andreas Moritsch, Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas, 1996. 58 Allerhöchstes Kabinettsschreiben an Pillersdorf vom 8. April 1848, Erläuterung und Abdruck bei Karl Hugelmann, Das kaiserliche Kabinettschreiben vom 8. April 1848 und das Ministerium Pillersdorf, in  : Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 15–16 (1916–1917), S. 492–512. Zur Vorgeschichte im Vormärz detailliert Hans Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, Bd. 2  : Böhmen, 1920. 59 Daraufhin kam es zu antisemitischen Ausschreitungen, Jiří Štaif, Obezřetná elita. Česká společnost mezi tradicí a revolucí 1830–1851 (Die umsichtige Elite. Die tschechische Gesellschaft zwischen Tradition und Revolution 1830–1851), 2005, S. 202, die mehrere Wochen dauerten, vgl. nur den Bericht über den Prager 1. Mai in Franz Joseph Schopf, Wahre und ausführliche Darstellung der am 11. März 1848 zur Erlangung einer constitutionellen Regierungs-Verfassung in der königlichen Hauptstadt Prag begonnenen Volks-Bewegung, 1848, S. 37–40.

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für die anderen slawischen Nationalitäten die Rechtsstellung Böhmens Ankerund Vergleichspunkt für ihre Forderungen wurde.60 Mährer61 und Galizier des polnischen und ruthenischen Stammes verlangten in der Schlusspetition dieselben Rechte wie ihre Stammesgenossen, die Böhmen.62 Für die Föderalismusgeschichte liegt das Verdienst des Prager Slawenkongresses in der frühen Herausbildung einer Staatsidee, die historisches Staatsrecht und nationale Gleichberechtigung verband. Kremsier und Olmütz nahmen diesen Gedanken später auf. Der Appell an die europäische Öffentlichkeit, der nationalen Gleichberechtigung auch für alle Nationen gleichberechtigt Geltung zu geben, beanspruchte territoriale Selbstbestimmung für die Slawen, ohne die nicht­ slawischen Bewohner in den entsprechenden Territorien auszuschließen. Der Slawenkongress nahm die revolutionäre Gleichheitsidee ernst und wandte sich selbstbewusst gegen eine politische Hegemonie der Deutschen in Mitteleuropa, die mit der Rede von kultureller Reife bemäntelt wurde. Viele Abgeordnete in der Paulskirche, wohl nicht zuletzt, weil so wenig slawische Abgeordnete unter ihnen waren, missverstanden dies als gefährlichen Pfad in eine slawische Hegemonie. Die Rhetorik von einer »slawischen Gefahr«63 in Deutschland, Ungarn und Italien, aber selbst im sympathisierenden Frankreich schürte Ängste vor einem Machtverlust der alten europäischen Eliten. Politisch stand sie im Dienst einer Bewahrung des völkerrechtlichen Status quo, der die slawischen Nationalitäten im europäischen »Mächtekonzert« auf die Plätze der zweiten Geigen verwies. 60 Ein Teil der tschechischen Abgeordneten zeigte sich überzeugt, dass Böhmen »die einzige slavische Macht in Österreich darstelle«, dazu Jiří Pokorný, Der Prager Slavenkongress und die Tschechen, in  : Moritsch, (wie Anm 55), S. 63–70, hier 67. 61 Der mährische Landtag hatte sich wenige Wochen zuvor geweigert, einer Vereinigung Mährens mit Böhmen zuzustimmen, dazu Jindřich Dvořák, Moravské sněmování roku 1848–49. Na padesátiletou památku novodobého sněmu a zrušení roboty na Moravě, jakož i nastoupení císaře a krále Františka Josefa I. na trůn (Die mährische Landtagsbewegung 1848–49. Zur fünfzigjährigen Erinnerung des neuzeitlichen Landtags und der Abschaffung der Robot in Mähren sowie zur Thronbesteigung des Kaisers und Königs Franz Joseph  I.), 1898, S.  24. Er entwickelte im Vergleich zu anderen Landtagen eine beachtliche Tätigkeit, »Darstellung der dem Ministerium des Innern offiziell bekanntgewordenen Verhandlungen der Provinziallandtage«, HHStA LA ÖRT 1848/1849 K. K. 85 »Anträge, Beschlüsse«, hier fol. S. 62. 62 Zum Folgenden »Petition des Slaven-Congresses in Prag an Seine k.k. Majestät« vom 12. Juni 1848, abgedruckt in  : Žáček (wie Anm. 49), S. 370–375. 63 Zum emotionshistorischen Zusammenhang und zum Fortleben der Angst vor der »slawischen Gefahr« oder »Panslawismus« in der deutschen Politik, vgl. Patrick Bormann, Furcht und Angst als Faktoren deutscher Weltpolitik 1897–1914, in  : Angst in den Internationalen Beziehungen, hrsg. von ders./T. Freiberger/J. Michel 2010, S. 71–90, hier S. 75–79. Diese Rhetorik findet sich auch später noch, siehe Schüßler (wie Anm. 4), S. 5.

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Der Slawenkongress war eine wichtige Stimme im vielstimmigen Konzert föderaler Kompositionen der Jahre 1848 und 1849. Seine Verhandlungen zeigten sowohl die innovative Kraft und begriffliche Mehrdeutigkeit, die mitteleuropäische Raumordnung von den Nationen her zu denken, als auch die Prägekraft historischer Territorial- und Staatszusammenhänge selbst für radikale Denker. Die Idee eines Nationalitätenbundesstaats war auf dem Slawenkongress bereits angelegt. In den Folgemonaten arbeitete einer der wichtigsten Köpfe des Slawenkongresses, František Palacký, diesen Gedanken weiter aus und brachte ihn im Kremsierer Verfassungsausschuss ein. An Palackýs Ideengebäude schlossen später austrosozialdemokratische Denker wie Karl Renner und Otto Bauer an. Im zeitgenössischen, in den Verfassungsparlamenten tobenden Streit über einen Vorrang von Reich oder Ländern stärkte Palacký die Selbständigkeit der Länder. In seinen Verfassungsentwürfen traten die Länder von ihrer Selbständigkeit und Autonomie nur dasjenige an die Centralgewalt ab, was zum Bestande eines im Innern kräftigen und nach Aussen mächtigen Gesammtstaats oder Reichs unumgänglich erforderlich ist.64 Gleichzeitig war die Souveränität in der Totalität des Reichs verankert, nicht bei den einzelnen Ländern.65 Reichsrecht genoss Geltungsvorrang vor Landesrecht.66 Diese Klarheit wurde in der späteren österreichischen Verfassung nicht erreicht, die Bundes- und Landesrecht als gleichrangig behandelte.67 Nach der klassischen verfassungsrechtlichen Unterscheidung zwischen Bundesstaat und Staatenbund anhand des Kriteriums der Souveränität lag demnach eine Mischform mit Tendenz zum Bundesstaat vor, die auf dem Gedanken der Subsidiarität aufbaute. Den Subsidiaritätsgedanken im Verhältnis zwischen Reich und Ländern legitimierte Palacký ausdrücklich mit einem naturrechtlichen Verständnis von Selbstregierung.68 Letztlich hielt Palacký die 64 Dazu zählte er insbesondere Außenpolitik, Finanzen, Verteidigung, Handel und öffentliche Arbeiten, vgl. František Palacký, »Erster Entwurf einer Constitution von Oesterreich (Monat September 1848)«, abgedr. in  : ders., Gedenkblätter. Auswahl von Denkschriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren. Als Beitrag zur Zeitgeschichte, 1874, S. 169–176, hier S. 170 f. 65 § 37, Palacký (wie Anm. 64), S. 170. Dazu auch »Denkschrift der böhmischen Abgeordneten über die von ihnen auf dem constituierenden Reichstage zu Wien und Kremsier befolgten politischen Grundsätze« (21. März 1849), abgedr. in Palacký (wie Anm. 64), S. 189–205, hier S. 193. 66 Palacký (wie Anm. 64), S. 176. 67 Ewald Wiederin, Bundesrecht und Landesrecht. Zugleich ein Beitrag zu Strukturproblemen der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung in Österreich und in Deutschland, 1995  ; Stourzh (wie Anm. 40), S. 51. 68 Er bezeichnete die Länderregierungsgewalt in § 2 b als Folge des Rechts auf Selbstregierung, vgl. František Palacký, Druhý návrh říšské ústavy (leden 1849) (Zweiter Entwurf einer Reichsverfassung Januar 1849), in  : Spisy drobné (Kleine Schriften). Bd. 1  : Spisy a řeči z oboru politiky. (Schrif-

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juristisch heißdiskutierte Frage nach dem Letztursprung föderaler Gewalt aber für unerheblich. Er hob das Erfordernis von Kooperation und gegenseitiger Loyalität für das Funktionieren eines föderalen Organismus hervor, letztlich sei Discretion und guter Wille […] von beiden Seiten unerlässlich.69 Im Rahmen dieser ausgewogenen föderalen Komposition mit vergleichsweise starken Gliedstaaten sollte das Reich über Belange von gesamtstaatlichem Interesse, insbesondere über Äußeres, Militär, Finanzen, Infrastruktur, Handel und Wirtschaft sowie Zivil- und Strafrecht entscheiden. Den Ländern standen die Bereiche Landespolizei, Rechtsprechung und Gerichtsverwaltung, Bildung, Kunst und Wissenschaft, Wohlfahrt und Fürsorge, Landwirtschaft und Indus­ trie sowie Finanzen, Infrastruktur und Kommunen zu.70 Für die territoriale Ausgestaltung der föderalen Binnenordnung zeigte sich Palacký als eigenständiger politischer Kopf, als neuer Konstrukteur71 und griff für die föderalen Landesgrenzen auf nationale Zugehörigkeiten zurück. In Palackýs Nationalitätenbundesstaat verfügten acht »Nationen« über politische Territorien  : Deutschösterreicher, Böhmen, Polen, Illyrer, Italiener, Südslawen, Magyaren und Walachen. Anders als auf dem Slawenkongress orientierte sich der Begriff der Nation hier nicht an den »Slawen«, sondern an verschiedenen Sprachgruppen. Die acht zugehörigen Territorien durchschnitten in Böhmen, Mähren, Schlesien, Ungarn, Siebenbürgen und Tirol historische Grenzen. Dieser Verfassungsentwurf für einen Nationalitätenbundesstaat war, so der Historiker später, mit der Revolution verbunden und wurde überhaupt nur durch die vorangehenden, ungeheuren Stürme ermöglicht, er habe versucht, sie zu benützen und zum allgemeinen Besten zu verwerthen.72 Palacký war sich bewusst, dass die acht »Landesnationen« nicht die gesamte Vielfalt der Sprachnationen im Kaisertum abbildeten. Die Ruthenen beispielsweise tauchten nicht auf, die der Slawenkongress gerade erst zum ersten Mal als eigenständige Nation und nicht nur als einen konfessionell andersartigen ten und Reden aus dem politischen Bereich), hrsg. von B. Rieger, 1898, S. 69–74, hier S. 69. 69 Statt »Föderation« wollte er von »Union« sprechen. Vgl. Palacký (wie Anm.  34), S.  210. Ähnlich – mit einer Neuauflage des Bundesbegriffs – Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund – Bundesstaat-Schemas, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 129 (2004), S. 81–120. 70 Palacký (wie Anm. 68), S. 70. 71 Jako samostatná politická hlava, jako nový konstruktér. Bohuš Rieger, Ústava dle Frant. Palackého v l. 1848–49 (Die Verfassung nach Palacký in den Jahren 1848–49), in  : Památník na oslavu stých narozenin Františka Palackého, 1898, S. 602–645, hier S. 611. 72 Národ vom 20. April 1865, übers. abgedr. in  : Palacký (wie Anm. 51), S. 36.

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Zweig der polnischen Nation anerkannt hatte. Auch die jüdische Bevölkerung wurde nicht gesondert in diesem Ethnoföderalismus berücksichtigt. Wie Petitionen zeigen, standen die Juden Österreichs einer föderalen Grenzziehung unter ethnisch-nationalen Gesichtspunkten mehr als skeptisch gegenüber. Um die Ungerechtigkeiten des Nationalitätenbundesstaates auszugleichen, zu denen es gerade in ethnisch gemischten Gebieten kommen musste, hielt Palacký nach nationalem Prinzip zusätzlich eine ergänzende Kreiseinteilung für möglich. Seine Kritiker warnten vor diesem Modell, das Palacký auch nach dem Scheitern der Kremsierer Reichsverfassung vertrat. Josef Alexander Helfert befürchtete eine allgemeine Völkerwanderung […,] bis sich alle Stammesverwandten in abgeschlossenen Gebieten und ohne Beimischung von anderen Nationalen neben einander zurecht gesetzt haben.73 Der Nationalitätenbundesstaat in der Ausgestaltung von Palacký kehrte die bisherigen föderalen Ordnungsgewichte zwischen Nation und Territorium um. Traditionellerweise schnitten die rechtlich-politischen Territorien aus der Gesamtbevölkerung die »Landesnationen«, also Böhmen, Mährer oder Tiroler, aus. Nun formten ethnisch-sprachliche Nationalitäten wie Tschechen, Polen oder Italiener aus dem imperialen Großraum föderale Landesterritorien. Im Kremsierer Verfassungsausschuss wurde der Nationalitätenbundesstaat intensiv diskutiert und etwa einer Trennung Tirols in ein Deutsch- und ein Welschtirol zugestimmt. Letztlich setzte sich – wie bereits erwähnt – mit dem Märzoktroi 1849 der historische Kronländerföderalismus durch, der dem traditionellen Ordnungsprimat der Territorien vor den Sprachgruppen folgte. V. Verwaltungsföderalismus der Bach-Ära

Am 31. Dezember 1851 hob der Kaiser die oktroyierte Märzverfassung und die mittlerweile erlassenen Landesverfassungen mit den sog. Sylvesterpatenten auf. Das Herrschaftsideal des Neoabsolutismus war nun ein Verwaltungsstaat mit einer starken Zentralmacht und regionalen Untereinheiten.74 Gesellschaftliche Partizipation durch legislative Repräsentativkörperschaften wurde zurückgedrängt. Es wäre dennoch zu kurz gegriffen, den neoabsolutistischen Verwaltungsstaat als Absage an eine regional ausdifferenzierte Herrschaft zu verstehen. Im 73 Helfert (wie Anm. 32), S. 19. 74 Seiderer (wie Anm. 3)  ; John Deak, Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, 2015, S. 99–135  ; Heindl (wie Anm. 16).

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Folgenden soll daher der Begriff des Verwaltungsföderalismus eingeführt werden. Gerade in einem Herrschaftssystem wie dem neoabsolutistischen, das politische Steuerung über die Institutionen der Verwaltung und Exekutive betrieb, ist dies lohnend. Die Perspektivierung über den Begriff des Verwaltungsföderalismus macht regionale Handlungsspielräume und regionale Gestaltungsmacht über die regionale Verwaltung sichtbar, in einer Zeit, als legislative Handlungsspielräume nicht bestanden. Rechtlicher Anknüpfungspunkt für diesen Blickwinkel sind die umständlich benannten »Grundsätze für organische Einrichtungen«, die gemeinsam mit den Sylvesterpatenten verabschiedet wurden.75 Die Grundsätze beschränkten institutionell die »absolute Macht« der Krone, die sich der Kaiser mit der Aufhebung der Verfassung zurückerobert hatte. Der Titel »organische Einrichtungen« war zweideutig. Organisch meinte einmal »organisationell«, kann aber andererseits als Anspielung auf die seit dem Vormärz in Regierungskreisen populäre organische Staatslehre verstanden werden. Wesentliches Element der organischen Staatslehre war Subsidiarität und ein Staatsaufbau von unten  : Höhere Herrschaftsebenen sollten nur dann politische Angelegenheiten entscheiden, wenn die unteren Ebenen dazu nicht in der Lage waren.76 Die neoabsolutistische Herrschaftsgliederung unterschied vier Ebenen  : Kronländer, Kreise, Bezirke, Gemeinden. Die Kronländer wurden nach 1851 imperiale Verwaltungsterritorien, nachdem landständisch-partizipative Rechte auf Eis gelegt worden waren. Die oberste Entscheidungsebene bildeten die Statthalterei und der Statthalter bzw. der Landeschef. Statthalter als mächtige Landesverwalter übernahmen »leitend« alle Landesangelegenheiten sowie von den Wiener Zentralbehörden »persönlich« zugewiesene Geschäfte.77 Zwischen der Wiener Zentralverwaltung und der Landesverwaltung hatten die Statthalter eine unbestrittene Schlüsselfunktion, selbst dann noch, als sie nach 1852 ihre ursprünglich vorgesehene Rolle als administrative Vizekönige in den Ländern verloren.78 Sie 75 Beilage »Grundsätze für organische Einrichtungen in den Kronländern des österreichischen Kaiserstaates« zum Kaiserlichen Patent vom 31. Dezember 1851, RGBl. 2/1852, sog. Sylvesterpatente. 76 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als Organismus. Zur staatstheoretisch-verfassungspolitischen Diskussion im frühen Konstitutionalismus, in  : ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 263–272, hier S. 271. 77 Über solche »persönlichen« Zuweisungen wurden die Statthalter durch kaiserliche Handschreiben instruiert, vgl. Andreas Gottsmann, Venetien 1859–1866. Österreichische Verwaltung und nationale Opposition, 2005, S. 26. ­ 78 Sie wurden nun stärker in die nicht mehr monokratisch, sondern kollegial geführten Statthaltereien eingebunden, vgl. Seiderer (wie Anm. 3), S. 200 f.; Heindl (wie Anm. 16), S. 51 f.; vgl. auch das Kapitel 4 bei Brigitte Mazohl, Österreichischer Verwaltungsstaat und administrative Eliten im Königreich Lombardo-Venetien 1815–1859, 1993, S. 281–382.

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sind der institutionelle Anknüpfungspunkt, um von Verwaltungsföderalismus zu sprechen. Im weiten Feld der Landespolizei blieb den Statthaltern persönlich das Instrumentarium für eine notfalls repressive Revolutionsprophylaxe vorbehalten.79 Mitunter wurden den Statthaltern länderspezifische Aufgaben zugewiesen, beispielsweise wurde den Statthaltern für das Kronland Ungarn gesetzlich aufgetragen, grundsätzliche Fragen über das Verhältniß der Kirche zum Staate, oder über die Stellung der Confessionen unter sich zu regeln.80 Die außergewöhnliche Stellung der Statthalter verdeutlicht auch die Loyalitätsrahmung  : Während die Statthalter ihren Eid der k. k. Apostolischen Majestät leisteten, versprachen die Vorsteher der Kreise und Komitate ihre Treue dem Statthalter.81 Gegenüber der Machtfülle der Statthaltereien waren die Kreisbehörden als leitende, überwachende und vollziehende Mittelsbehörde mehr Verwaltungsdenn Gestaltungsbehörde. Ihnen oblag beispielsweise die Aufgabe, die überall im Reich in den 1850er Jahren aus dem Boden gestampften Infrastrukturbauten (Brücken, Straßen, Wasserbauten) zwischen Gemeinden und Bezirken zu koordinieren.82 Diese Kreise als Mittelbehörden sollte es nur in größeren Kronländern geben. In Kärnten, Krain, Salzburg, Schlesien und der Bukowina wurden sie daher nicht eingerichtet.83 Größere Gestaltungsmacht genossen wiederum die Bezirke, die das Erbe der Patrimonialherrschaften antraten.84 Diese erhielten insbesondere die Kompe79 Zur Wiedereinführung der Kollegialverfassung in den Statthaltereien gab es eine kontroverse Diskussion, vgl. Seiderer (wie Anm. 3), S. 190–216, insbesondere S. 206. 80 §  22 der Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 19.  Januar 1853, RGBl.  Nr.  9/1853. Ungarn war von der Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Protestanten zu Beginn der 1850er Jahre ausgenommen gewesen, Thomas Kletecka/Anatol Schmied-Kowarzik, Einleitung, in  : ÖMR II/2  : Das Ministerium Schwarzenberg (8. Jänner 1850 – 30. April 1850), S. IX–XXIX, hier XXV. 81 § 8 der Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 19. Januar 1853, RGBl. Nr. 9/1853 und der Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 23. Januar 1853, Beilage C, RGBl. Nr. 10/1853. 82 § 1 der Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 23. Januar 1853, Beilage B, RGBl. Nr. 10/1853. Einen minutiösen Überblick über den Straßen- und Brückenausbau gibt Carl Czoernig, Österreichs Neugestaltung 1848–1858, 1858, S. 328–334. 83 Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 19. Januar 1853, Abs. 5, RGBl. Nr. 10/1853. 84 Zur Praxis der gemischten Bezirksämter, deren Wahrnehmung und Verfahrensausübung vgl. Seiderer (wie Anm. 3), S. 216–247  ; zum Herrschaftsanspruch des Adels auf die Bezirke siehe Ralph Melville, Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, 1998, S. 272 f.

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tenz, für die vielfältigen Angelegenheiten der Polizei, für die Förderung des Gemeinwohls, die Armenpflege, aber auch für die Errichtung von Brücken und Straßen zu sorgen.85 Im Reich wurden insgesamt fast 1500 Bezirke errichtet, die jeweils etwa 10.000 bis 20.000 Einwohner umfassten.86 Verwaltung und Staat rückten näher an die Bürger heran.87 Die Gemeinden waren das freieste politische Element der »Grundsätze«  : Nur hier war Partizipation durch beschränkte Wahlen garantiert. Gleichzeitig stellte die Durchstaatlichung der Gemeinden in den 1850er Jahren alles andere als eine Selbstverständlichkeit dar.88 Das Einfügen der Gemeinde als kleinsten Baustein in das Staatsgefüge brachte größte Verwerfungen mit sich. Die Kommunen bildeten den Kampfschauplatz, auf dem sich die Fronten von liberalen Vertretern einer Durchstaatlichung sowie adeligen Repräsentanten eines patrimonialen »self-government« formierten.89 Anders als in Preußen sah die Gemeindegesetzgebung in Österreich keinen Unterschied zwischen Land- und Stadtgemeinden vor.90 Dies widersprach den Gepflogenheiten adliger Lokalherrschaft.91 Die Wiener Zentralstellen richteten sich letztendlich an der Effektivität kleinerer Verwaltungsräume aus. Dennoch brauchte die kommunale Territorialisierung noch geraume Zeit, um ganz verwirklicht zu werden. Der seiner öffentlichen Herrschaftsfunktion entledigte Gutsbesitz trat noch lange weiterhin neben den Ortsgemeinden in Fragen der Ortspolizei, aber auch in Schul-, Straßen- und Stiftungsangelegenheiten sowie der Armenfürsorge auf.92 85 §§ 23, 28, 39 der Verordnung der Minister des Innern, der Justiz und der Finanzen vom 23. Januar 1853, Beilage A, RGBl. Nr. 10/1853. 86 Deak (wie Anm. 74), S. 121. 87 Heindl (wie Anm. 16), S. 52. 88 Lothar Gall, Gemeinde und Staat in der politischen Theorie des frühen 19. Jahrhunderts, in  : Theorien kommunaler Ordnung in Europa, hrsg. von P. Blickle, 1996, S. 63–74  ; Josef Redlich, Das Wesen der österreichischen Kommunalverfassung, 1910, S. 17. 89 Zur »staatsfreien« oder »staatsfeindlichen« Gemeinde vgl. Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, 2. Aufl. 1969, S. 372–403 (zu Gneist), S. 445–452 (von Stein)  ; Redlich (wie Anm. 88), S. 52, 56, 59. Die starke Position des Adels machte das Vorbild Englands in der Habsburgermonarchie attraktiv, Tatjana Tönsmeyer, Adelige Moderne. Großgrundbesitz und ländliche Gesellschaft in England und Böhmen 1848– 1918, 2012, S. 278. 90 Nur für ausgewählte Orte wurden Städtestatute erlassen, vgl. Redlich (wie Anm. 88), S. 17, 24 f., 38–51. 91 Heindl, Die Protokolle des Österreichischen Ministerrats 1848–1867, Abteilung II  : Das Ministerium Schwarzenberg. Teilband 1  : 5. Dezember 1848 bis 7. Jänner 1850, Wien 2005, S. 114–116. 92 Jiří Klabouch, Die Gemeindeselbstverwaltung in Österreich 1848–1918, 1968, S. 51  ; Milan Hlavačka  : Zlatý věk české samosprávy. Samospráva a její vliv na hospodářský, sociální a intelektuální

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Der Verwaltungsaufbau in den 1850er Jahren schuf die Grundlage für ein mehrstufiges Herrschaftssystem, das das Ende der Habsburgermonarchie vielfach überdauerte.93 In den 1860er Jahren wurden auf den Ebenen der Kronländer, Kreise, Bezirke und Gemeinden Repräsentativkörperschaften eingerichtet, die nicht zuletzt auf der Länderebene legislative Befugnisse hatten. Mit dieser gewaltenteiligen Ergänzung des Bach’schen Verwaltungsstaats mutierte der Verwaltungsföderalismus des Neoabsolutismus mit wenigen Ergänzungen seit den 1860er Jahren zum für die Habsburgermonarchie typischen Kronländerföderalismus. VI. Fazit und Ausblick

Die föderale Ideenwelt für die Habsburgermonarchie unterschied sich typologisch von den für den Deutschen Bund bzw. ein neues »Teutschland« diskutierten Föderalismusideen. Föderalismusideen für die Habsburgermonarchie bildeten die großräumige, historische, multiethnische und multikonfessionelle Vielfalt eines Empire ab. Die vier Grundtypen föderalen Denkens für die Neugestaltung eines Reichs wurden später auch im Russländischen Reich diskutiert  : großräumige Bundesordnungen wie Dualismus oder Trialismus, historische Grundierung in einem Kronländerföderalismus, Nationalitätenbundesstaatlichkeit oder regionale Vielfalt politischer Steuerung durch einen Verwaltungsföderalismus.94 Gleichzeitig unterschieden sich die historischen Bedingungen für die an der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit des Habsburgerreichs entwickelten Föderalismusideen nur wenig von jenen, mit denen auch die Vordenker einer Föderalisierung Deutschlands rechneten  : Territorialisierung, Nationalisierung und Konstitutionalisierung. Großräumig-föderale Ideen wie der konföderative Dualismus eines »Siebzigmillionenreichs« mit großräumigen Untereinheiten waren der Versuch einer stärkeren »Durchstaatlichung« und Territorialisierung »von oben«, der den territorialen Flickenteppich der Reichsterritorien konsolidierte. Der historische rozvoj Čech 1862–1913 (Die goldene Ära der böhmischen Selbstverwaltung. Selbstverwaltung und ihr Einfluss auf die wirtschaftliche, soziale und intellektuelle Entwicklung Böhmens 1862– 1913), 2006, S. 13 f. 93 Waltraud Heindl, Verwaltungseliten im Neoabsolutismus. Professionelles und politisches Profil vor dem Horizont der Modernisierung, in  : Brandt (wie Anm. 3), 2014, S. 145–157, hier S. 146. 94 Mark von Hagen, Federalisms and Pan-Movements. Re-Imagining Empire, in  : Russian Empire. Space, People, Power 1700–1930, hrsg. von ders./Ja. Burbank/A. V. Remnev, 2007, S. 494–510.

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Kronländerföderalismus hingegen war Ausdruck von gesellschaftlichen, staatsrechtlich-politisch unterfütterten Landeszugehörigkeiten, die seit dem Vormärz sowohl in den deutschen als auch in den österreichischen Territorien gestärkt worden waren. Wichtigstes Konkurrenzmodell zu diesem auf Geschichte und politischer Landesnation gegründeten Föderalismusmodell war der Nationalitätenbundesstaat, der das revolutionäre Schlagwort einer Staatslegitimation durch die Nation in einer pluralen Weise ernst nahm. Die Praxis eines Verwaltungsföderalismus verdeutlichte demgegenüber, dass politische Steuerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht vordergründig in der Hand der Parlamente lag, sondern im Wesentlichen Verwaltungstätigkeit und in diesem Fall eine auf die regionalen Besonderheiten abgestimmte Verwaltungstätigkeit war. Viele dieser Bedingungen der späteren, nach 1866 in Deutschland und dem Kaisertum Österreich zweigleisig verlaufenden Föderalisierung waren im Revolutionsjahr von 1848 noch gar nicht gegeben. Dazu zählt die Territorialisierung des Staats im Sinne einer eindeutigen Übereinstimmung von Staatsgewalt, Staatsgebiet und Bevölkerung, denn die Verfassungswirklichkeit der Reichsterritorien im Deutschen Bund und der Habsburgermonarchie war stattdessen völker- und verfassungsrechtlich mehrstufig. Dazu zählte aber auch eine Gewaltenteilung, die allgemeine politische Fragen der parlamentarischen Aushandlung und Entscheidung mehreren regionalen Ebenen zuwies  ; stattdessen waren bis 1866 mit Ausnahme einiger frühkonstitutioneller Reichsterritorien hierfür regional vielfältige Verwaltungsinstitutionen zuständig. Nicht zuletzt fehlte es an einer eindeutigen Antwort auf die Frage, wer die »Nation« eigentlich sei – eine historisch-politische, eine kulturelle oder eine sprachliche Gemeinschaft  ? Für die Föderalismusgeschichte in der Mitte Europas ist es daher unabdingbar, einen offenen Entwicklungshorizont zugrunde zu legen und nicht mehr den heuristischen Zielpunkt eines gewaltenteiligen, territorial saturierten Nationalstaats.

Föderale Ideen in der Habsburgermonarchie 

Die Ausdehnung des Habsburgerreichs seit 1683.

Die Nationalitäten Österreich-Ungarns.

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Katharina Weigand

Königlich-bayerische Träume von einem Dritten Deutschland

Nicht allzu häufig hat sich für Bayern die Möglichkeit eröffnet, an der wirklich großen Politik, auf europäischer Ebene, teilzuhaben.1 Und wenn es dazu kam, wenn seine Herrscher versuchten, sich mit den europäischen Mächten zu messen, dann waren die Folgen für Bayern nicht immer die glücklichsten. Man denke nur an das Kaisertum Ludwigs des Bayern,2 an die Ambitionen des Kurfürsten Max Emanuel3 oder an die bitter erkaufte Kaiserwürde des Kurfürsten Karl Albrecht.4 Anders stellte sich die Situation an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dar, als es Bayern gelang – seit 1805 an der Seite Napoleons und seit 1813 wieder an der Seite der Alliierten  –, diese kriegerischen Jahre nicht nur einigermaßen zu überstehen, sondern aus dem besagten doppelten Bündniswechsel erheblichen Gewinn zu ziehen, wobei für beide Bündniswechsel der bayerische Minister Maximilian von Montgelas5 verantwortlich war. Folgende Stichworte müssen in diesem Zusammenhang genügen  : Königskrone, ein nicht unbeträchtlicher territorialer Zuwachs sowie die volle Souveränität des bayerischen Staates.6 1 Vgl. hierzu die einschlägigen Beiträge in  : Bayern – mitten in Europa. Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, hrsg. von A. Schmid/K. Weigand, 2005. 2 Vgl. Michael Menzel, Ludwig der Bayer. Der letzte Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum, in  : Die Herrscher Bayerns. 25 historische Portraits von Tassilo  III. bis Ludwig  III., hrsg. von A. Schmid/K. Weigand, 2. Aufl. 2006, S. 106–117 und die dort angegebene Literatur. Vgl. auch Ludwig der Bayer. Wir sind Kaiser  ! Katalog zur Bayerischen Landesausstellung 2014, hrsg. von P. Wolf u. a., .2014. 3 Vgl. Marcus Junkelmann, Herrschaftsrepräsentation und Selbststilisierung, in  : Schmid/Weigand (wie Anm. 2), S. 231–249 und die dort angegebene Literatur. 4 Vgl. Egon Johannes Greipl, Karl Albrecht  : Der zweite wittelsbachische Kaiser, in  : Schmid/Weigand (wie Anm. 2), S. 250–263 und die dort angegebene Literatur. 5 Vgl. Eberhard Weis, Montgelas, Bd.  1  : Zwischen Revolution und Reform 1759–1799, 2.  Aufl. 1988  ; ders., Montgelas, Bd. 2  : Der Architekt des modernen bayerischen Staates 1799–1838, 2005. 6 Im Überblick vgl. hierzu Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max  I. (1799–1825), in  : Handbuch der bayerischen Geschichte, begr. v. M. Spindler, Bd. IV  : Das Neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, Teilbd. 1  : Staat und Politik, hrsg. von A. Schmid, 2. Aufl. 2003, S. 3–126.

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Mit dem Abschluß des Wiener Kongresses konnte die bis dahin erreichte Position dauerhaft vertraglich abgesichert werden. Bayern war nun derjenige Staat im Deutschen Bund, der nach den beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen gleichsam den dritten Platz einnahm.7 Das bayerische Staatsgebiet war etwa viermal so groß wie das württembergische und fünfmal so groß wie das badische bzw. das sächsische. Allerdings war die Kluft, die Bayern von Preußen und Österreich trennte, erheblich  : 1816 war das preußische Staatsgebiet dreimal so groß wie das bayerische. Vollständig zufrieden war man in Bayern mit den Ergebnissen des Wiener Kongresses freilich nicht. Einerseits war es nicht gelungen, eine Landverbindung zwischen dem rechts- und dem linksrheinischen Bayern zu erhalten, was nur auf Kosten des Großherzogtums Baden möglich gewesen wäre. Andererseits muß selbst Ludwig I.,8 der alles andere als ein großer Außenpolitiker war, den Stachel gespürt haben, daß Bayern eigentlich zu noch Größerem berufen sei, daß Bayern eine zumindest Preußen ebenbürtige Stellung gebühre. Und so zielte das griechische Abenteuer Ludwigs I., als er seinem zweitgeborenen Sohn Otto zu einem auf die Dauer kaum haltbaren Thron von Gnaden der europäischen Großmächte verhalf,9 unter anderem genau in diese Richtung. Auf diese Weise sollte die Stellung Bayerns im Kreis der Mächte mit Hilfe einer wittelsbachischen Sekundogenitur aufgewertet werden. Doch kehren wir zum Deutschen Bund zurück. Nach den napoleonischen Jahren waren zuerst einmal alle deutschen Staaten daran interessiert, Ruhe und Frieden in der Mitte Europas einkehren zu lassen – im Innern und hinsichtlich der Beziehungen der Staaten untereinander. Und genau dies leistete die Konstruktion des Deutschen Bundes,10 nämlich gegenseitige Hilfestellung sowohl bei revolutionären Unruhen innerhalb der deutschen Staaten als auch bei Angriffen von außen. Gerade die mittleren und kleineren deutschen Staaten, denen die militärische Potenz zur wirksamen Selbstverteidigung fehlte, waren die Profiteure dieser Regelungen  ; und zu diesen Profiteuren gehörte auch Bayern. Aus diesem Grund war für Ludwig I., den glühenden Verehrer alles   7 Vgl. Michael Doeberl, Bayern und Deutschland im 19. Jahrhundert, 1917.   8 Vgl. mit Bezug auf die Regierungszeit Ludwigs  I. Heinz Gollwitzer, Ludwig  I. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, 2. Aufl. 1987, S. 287–298. Zu Ludwig I. vgl. allgemein diese grandiose Biographie   9 Vgl. Katharina Weigand, Griechenland. Otto auf dem griechischen Thron – eine Fehlspekulation König Ludwigs I.?  ; in  : Schmid/Weigand (wie Anm. 1), S. 320–338. 10 Vgl. die einschlägigen Beiträge in  : Deutscher Bund und deutsche Frage 1815–1866, hrsg. von H. Rumpler, 1990  ; Jürgen Angelow, Der Deutsche Bund, 2003.

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Deutschen,11 der Deutsche Bund die beste aller denkbaren Möglichkeiten, wie Deutschland verfaßt sein könnte  : Man war irgendwie zusammen, man würde sich in Notfällen gegenseitig unterstützen und trotzdem konnte jedes einzelne Mitglied seine Eigenstaatlichkeit bewahren. Der Erhalt der Eigenstaatlichkeit aber stellte gerade für die bayerischen Könige – so unterschiedlich ihre sonstigen politischen Ambitionen gewesen sein mögen – die unverrückbare Maxime für ihr herrscherliches Handeln dar  !12 Bis zur Revolution von 1848 war der Deutsche Bund auch tatsächlich in der Lage, die ihm gestellten Aufgaben zu erfüllen. Doch nach 1848 sollte alles anders werden, Europa kam in vielerlei Hinsicht in Bewegung. Der Nationalismus erwies sich als ein Faktor, der immer größere Teile der Bevölkerung der europäischen wie der deutschen Staaten in seinen Bann schlug und den die Regierungen bei ihrer Politik von nun an berücksichtigen mußten – sei es als zu bekämpfender Feind, sei es als ein Mittel, das man zum Erreichen ganz anderer Ziele einsetzen konnte.13 Mit dem System des Deutschen Bundes – zumindest in seiner überkommenen Form – waren die nationalen Forderungen, Pläne und schließlich Beschlüsse der Paulskirchenabgeordneten jedenfalls nicht vereinbar. Diese strebten mehrheitlich danach, das defensiv ausgerichtete Verteidigungssystem der souveränen deutschen Einzelstaaten durch einen von einem preußischen Erbkaiser geführten, also kleindeutschen Nationalstaat zu ersetzen. Das aber hätte die Mediatisierung der deutschen Mittel- und Kleinstaaten bedeutet. Bayern wiederum war nicht gewillt, eine der wichtigsten Maximen der eigenen Politik, den Erhalt der 1806 erreichten staatlichen Souveränität, einfach aufzugeben.14 Hinzu kam noch, daß nun angesichts der nationalen Forderungen der Dualismus der beiden deutschen Großmächte offen aufbrechen sollte. Die dreifache Frage war also, ob 11 Vgl. hierzu Walter Schmitz, Der Deutscheste der Deutschen … – Ludwig I. und die nationale Bewegung, in  : »Vorwärts, vorwärts sollst du schauen …«. Geschichte, Politik und Kunst unter Ludwig I.. Aufsätze, hrsg. von J. Erichsen/U. Puschner, 1986, S. 125–152. Um zu verstehen, wie komplex bei Ludwig I. freilich das Verhältnis zwischen deutschem und bayerischem Nationalbewußtsein war, vgl. Hans-Michael Körner, Staat und Geschichte im Königreich Bayern 1806–1918, 1992, S. 251–272. 12 Vgl. Hans-Michael Körner, Geschichte des Königreichs Bayern, 2006, vor allem S.  32–39 und passim. 13 Hinsichtlich der deutschen Staaten vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, 2. Aufl. 1984, S. 595–803 sowie ders., Deutsche Geschichte 1866– 1918, Bd. 2  : Machtstaat vor der Demokratie, 1992, S. 11–84. 14 Vgl. Michael Doeberl, Bayern und die Deutsche Frage in der Epoche des Frankfurter Parlaments, 1922.

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weiterhin Österreich die den Deutschen Bund dominierende Macht sein würde oder ob Österreich und Preußen sich auf Parität verständigen könnten oder ob es Preußen gelingen würde, die neue deutsche Vormacht zu werden. Aus bayerischer Perspektive war es daher nur folgerichtig, daß der neue bayerische König, Max II.,15 nicht nur alle in Frankfurt auf den Weg gebrachten Reichseinigungspläne brüsk zurückwies, sondern gleichermaßen verhindern wollte, daß der Deutsche Bund aufgrund der machtpolitischen Ambitionen Österreichs und Preußens auseinanderbrach.16 Da man freilich weder die manifest gewordenen Forderungen nach einem unitaristischen deutschen Nationalstaat noch die österreichisch-preußischen Rivalitäten vergessen machen konnte, hoffte man in München darauf, mit Hilfe einer moderaten Reform des Deutschen Bundes, die die souveränen Rechte vor allem Bayerns nicht allzu sehr beeinträchtigen würde, allen diesen Gefahren die Spitze zu nehmen. In diesem Zusammenhang kommen nun die bayerischen Triaspläne17 der 1850er und 1860er Jahre, die königlich-bayerischen Träume von einem Dritten Deutschland ins Spiel. Natürlich existierte dieses Dritte Deutschland damals längst, bestehend aus den deutschen Mittel- und Kleinstaaten, von Bayern und Hannover bis zu Hessen-Darmstadt und Mecklenburg-Schwerin, von Württemberg und Sachsen bis zu den Hansestädten und den thüringischen Staaten usw.18 Die Frage war aber nun, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ob sich dieses Dritte Deutschland zusammenschließen und auf eine gemeinsame Agenda 15 Zu Max II. gibt es nichts, was auch nur im Ansatz mit der Ludwig I. -Biographie von Gollwitzer vergleichbar wäre. Vgl. daher lediglich den Sammelband König Maximilian  II. von Bayern 1848–1864, hrsg. vom Haus der Bayerischen Geschichte, 1988. 16 Vgl. Karl-Joseph Hummel, König Maximilian II. und die Revolution 1848/49 in Bayern, in  : König Maximilian II. (wie Anm. 15), S. 91–99. 17 Zu den frühen bayerischen Triasplänen nach 1815 vgl. Karl Otmar Freiherr von Aretin, Der Triasgedanke in Bayern nach 1815, in  : Bayerische Symphonie, Bd. 1  : Land und Volk, Geschichte und Staat, hrsg. von H. Schindler, 1967, S. 404–414  ; Wolf D. Gruner, Die deutschen Einzelstaaten und der Deutsche Bund. Zum Problem der »nationalen« Integration in der Frühgeschichte des Deutschen Bundes am Beispiel Bayerns und der süddeutschen Staaten, in  : Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayerischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, Bd. III  : Vom Vormärz bis zur Gegenwart, 1984, S. 19–36. 18 Vgl. Peter Burg, Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein, 1989  ; ders.: Die Triaspolitik im Deutschen Bund. Das Problem einer partnerschaftlichen Mitwirkung und eigenständigen Entwicklung des Dritten Deutschland, in  : Rumpler (wie Anm. 10), S. 136–161  ; Theodor Schieder, Die mittleren Staaten im System der großen Mächte, in  : HZ 232 (1981), S. 583–604  ; Karl Bosl, Das »Dritte Deutschland« und die Lösung der Deutschen Frage im 19. Jahrhundert. Souveränität – Defensivsystem – Aggressivität. Das bayerische Beispiel, in  : Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 11 (1970), S. 20–33.

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würde verständigen können, um so einen wenngleich Österreich und Preußen nicht ebenbürtigen, aber doch die beiden Großmächte in Schach haltenden Machtfaktor zu bilden. Das Ziel der bayerischen Außenpolitik ab 1848/49 war – wie bereits mehrfach erwähnt – weiterhin und an erster Stelle  : der Erhalt der bayerischen Eigenstaatlichkeit, der Erhalt der souveränen Rechte der in Bayern regierenden Dynastie. Um dies zu erreichen, mußte, so die Münchner Sicht, der Deutsche Bund erhalten bleiben, auch wenn man einsah, daß gewisse Reformen wohl unumgänglich sein würden. Das Mittel, und wirklich nur das Mittel, zum Erhalt des Deutschen Bundes aber war, in der Einschätzung König Max’  II. und seines Außenministers Ludwig Freiherr von der Pfordten,19 die sog. Triaspolitik – wobei man ­vielleicht besser von der Triasidee, dem Triasprojekt sprechen sollte als von konkreter Triaspolitik. Denn letztendlich gelang es Bayern ja faktisch nie, seine diesbezüglichen Pläne umzusetzen. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang außerdem, daß es sich bei der so bezeichneten Triasidee20 nicht um einen starren, fest ausgearbeiteten Plan handelte. Stattdessen wurde das Triasprojekt immer wieder den veränderten politischen Rahmenbedingungen zwischen 1848/49 und 1864/66 angepaßt.21 Eine griffige Definition dessen, was man unter bayerischer Triaspolitik zu verstehen habe, jenseits der manchmal irritierenden Fülle und Unübersichtlichkeit diverser Einzelaktionen, findet man bei Hubert Glaser  :

19 Vgl. Eugen Franz, Ludwig Freiherr von der Pfordten, 1938  ; Wilhelm Volkert, Pfordten, Ludwig Carl Heinrich Frhr. v. der, in  : NDB, Bd. 20, 2001, S. 359 f. 20 Zur bayerischen Triasidee, zur bayerischen Triaspolitik ab 1848/49 vgl. Hubert Glaser, Zwischen Großmächten und Mittelstaaten. Über einige Konstanten der deutschen Politik Bayerns in der Ära von der Pfordten, in  : Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, hrsg. von H. Lutz/H. Rumpler, 1982, S. 140–188  ; Ina Ulrike Paul, Die bayerische Trias-Politik in der Regierungszeit König Maximilians II., in  : König Maximilian II. (wie Anm. 15), S. 115–129  ; vgl. auch Otto Brandt, Mittelstaatliche Politik im Deutschen Bund nach der Revolution von 1848, in  : ZBLG 2 (1929), S. 299–318. 21 Vgl. Wilhelm Volkert, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in  : Spindler (wie Anm. 6), S. 235–317, hier S. 272–282  ; Hans Rall, Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in  : Spindler (wie Anm. 6), 1974, S. 224–282, hier S. 238–243 und S. 246–251  ; Andreas Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 1983, S. 504–532  ; Michael Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns, Bd. III  : Vom Regierungsantritt König Ludwigs I. bis zum Tode König Ludwigs II. mit einem Ausblick auf die innere Entwicklung Bayerns unter dem Prinzregenten Luitpold, hrsg. von M. Spindler, 1931, S. 194–280.

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Sinn der Triaspolitik war, das Dritte Deutschland im deutschen und zugleich im bayerischen Interesse zu einen, dem deutschen Dualismus gegenüber eine dritte, vermittelnde Position aufzubauen. Sie war ein Versuch Bayerns, deutsche Politik zu treiben von den Prämissen des bayerischen Staatsinteresses her.22

Hinzuzufügen ist freilich noch, daß Bayern ein festeres, gar ein festgeschriebenes Bündnis mit den anderen Mittelmächten vermeiden wollte, da ein solches nur mit Kompromissen von seiten Bayerns und mit dem Verlust der politischen Beweglichkeit zu erreichen war.23 Zu Anfang war die bayerische Triaspolitik eine Antwort auf die nationalen Forderungen des Paulskirchenparlaments. Das bayerische Gegenprojekt, der »Entwurf von Grundzügen einer nationalen Deutschen Bundesverfassung«,24 wohl aus der Feder von Wilhelm von Doenniges,25 sah eine Nationalversammlung mit zwei Kammern, einem Volks- und einem Staatenhaus vor. Außerdem war ein Reichstag projektiert, der im Grunde wie der bisherige Frankfurter Bundestag organisiert sein sollte. Die Krönung des bayerischen Reformvorschlags aber bestand aus einem notfalls fünf- (mit Hannover und Sachsen), besser aber nur dreiköpfigen Direktorium für den reformierten Deutschen Bund. Dieses Direktorium wiederum sollte aus Österreich, Preußen und  – als Vertreter des Dritten Deutschland  – Bayern bestehen, wobei besagte drei Mächte entweder gemeinsam oder abwechselnd die Geschäfte übernehmen sollten. Unübersehbar ist, daß diese Reform  – wäre sie umgesetzt worden  – einen Deutschen Bund ohne hegemoniale Führungsspitze nach sich gezogen hätte. Die Reaktion der Abgeordneten der Paulskirche war freilich eindeutig, sie bestand in der Reichsverfassung vom 28.  März 1849, mit der der erbliche Kaisertitel für das Haus Hohenzollern, die Einigung Deutschlands in der kleindeutschen Variante ohne Österreich sowie die Mediatisierung der Mittel- und Kleinstaaten beschlossen wurde. Mit dem anschließenden Scheitern der Paulskirche und der Auflösung 22 Glaser (wie Anm. 20), S. 161. 23 Bei Kraus (wie Anm. 21), S. 506 heißt es in diesem Zusammenhang  : Max II. wollte nur eine stete Verständigung über Bundesfragen durch Korrespondenzen und mündliche Besprechungen der Minister, also Verständigung von Fall zu Fall, freilich unter Vorantritt Bayerns. 24 Vgl. Paul (wie Anm. 20), S. 118 f. 25 Zu Doenniges allgemein vgl. Katharina Weigand, Ein intelligentes, aber intrigantes »Nordlicht«. Der königliche Berater Wilhelm von Doenniges (1814–1872), in  : »Dem Geist alle Tore öffnen«. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft, hrsg. von U. Leutheusser/H. Nöth, 2009, S.  44–54. Zu Doenniges als Berater des bayerischen Königs in außenpolitischen Belangen vgl. Eugen Franz, Wilhelm von Doenniges und König Max II. in der Deutschen Frage, in  : ZBLG 2 (1929), S. 445–476.

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dieses ersten nationalen deutschen Parlaments war fraglich, ob es solcher Reformpläne, wie der bayerischen, überhaupt bedurfte. Doch schon nach kurzer Zeit sollte sich Bayern erneut mit der Gefahr einer Auflösung des Deutschen Bundes und einer Mediatisierung der deutschen Mittel- und Kleinstaaten konfrontiert sehen  : Die Pläne des preußischen Außenministers Joseph Maria von Radowitz zielten 1850, bei teilweiser Anlehnung an die Beschlüsse der Paulskirche, auf die Herbeiführung einer kleindeutsch-preußischen Hegemonie in Deutschland. Österreich, und zwar das gesamte Gebiet der Habsburgermonarchie, sollte nur noch in einem sog. weiteren Bund mit dem preußisch dominierten Deutschland verbunden sein. Diese Pläne konnten freilich nicht ohne die Zustimmung Österreichs und auch Bayerns umgesetzt werden, während sich Sachsen und Hannover dem preußischen Projekt, der sog. Erfurter Union,26 bereits mehr oder weniger unterworfen hatten. Sowohl der österreichische Ministerpräsident Felix Fürst zu Schwarzenberg als auch Ludwig von der Pfordten, seit dem 18. April 1849 bayerischer Außenminister, lehnten Radowitz’ Pläne kategorisch ab. Während Österreich schließlich einfach den Frankfurter Bundestag wiedereröffnete und sich damit auch durchsetzen konnte, wartete Bayern 1850 mit einem veränderten Plan auf, wie der Deutsche Bund zu reformieren sei.27 Basierend auf einer Übereinkunft der Könige von Hannover, Württemberg, Sachsen und eben Bayern, schlug von der Pfordten nun vor, ein siebenköpfiges Direktorium28 an der Spitze des Bundes zu platzieren, sodann die nichtdeutschen Teile Österreichs in den Bund aufzunehmen und diesen gesamten neuen Deutschen Bund in ein einheitliches Zollgebiet29 umzuwandeln. Bayern sollte 1850 freilich eine Erfahrung machen, die zu einer erheblichen Ernüchterung führen mußte, ob den Triasplänen überhaupt ein Erfolg beschieden sein könne. Denn Österreich schickte Bayern in Verbindung mit dem kur26 Zu Radowitz’ Unionsplänen und den bayerischen Reaktionen vgl. Michael Doeberl, Bayern und Deutschland. Bayern und das preußische Unionsprojekt, München, 1926. Zu den Unionsplänen allgemein vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II  : Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, 1960, S. 885–888. 27 Vgl. Paul (wie Anm. 20), S. 119 f. 28 Das Direktorium wäre gebildet worden von Österreich, Preußen, Bayern, Hannover, Württemberg, Sachsen und Hessen. 29 Zu den Kämpfen um den Beitritt Österreichs zum Zollverein, die seit der Revolution von 1848 mit den Plänen für eine Reform des Deutschen Bundes ständig eng verknüpft waren, vgl. die einschlägigen Kapitel in  : Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins, 1984  ; vgl. auch Michael Doeberl, Bayern und die wirtschaftliche Einigung Deutschlands, 1915.

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hessischen Verfassungsstreit30 1850 zuerst regelrecht vor, um eine gewisse militärische Drohkulisse gegenüber Preußen aufzubauen. Anschließend aber fegte Wien die geschilderten neuerlichen Reformpläne Bayerns und der Mittelstaaten kommentarlos vom Tisch, nachdem der preußische König, Friedrich Wilhelm  IV., mit der Olmützer Punktation vom 29.  November 185031 nachgegeben und den Radowitz’schen Plan zurückgezogen hatte. Bayern mußte sich von Österreich also regelrecht übergangen und mißbraucht fühlen. Darüber hinaus begegneten fortan die Mittelstaaten aufgrund der bayerischen Militäraktion in Kurhessen dem Königreich Bayern mit einem nicht zu unterschätzenden Mißtrauen. Sie mußten sich fragen, wie weit Bayern auf Kosten der anderen Mittelund Kleinstaaten unter Umständen gehen würde, wenn sich für München die Chance ergab, die bayerische Machtposition innerhalb des Deutschen Bundes in Zusammenarbeit mit einer der deutschen Großmächte zu erweitern. Mit der Olmützer Punktation und der zuletzt auch von Preußen anerkannten Wiedereröffnung des Deutschen Bundes war im Grunde die zweite Phase, in der Bayern unter Zuhilfenahme seiner Triasidee eine Veränderung des Bundes hatte herbeiführen wollen, ohne Ergebnis zu Ende gegangen. Für die Jahre von 1851 bis 1859 könnte man nun von einer dritten Phase sprechen, von einer Phase, die weiterhin – zumindest von seiten der Mittelmächte – geprägt war von einem Ringen um eine Bundesreform, die den Kern der Existenz des Bundes retten sollte. Doch erneut blieben die bayerischen und mittelstaatlichen Vorstöße erfolglos, unter anderem weil Preußen den Zollverein weiterhin mit großer Virtuosität als Hebel benutzte, um Österreich zumindest auf dem Feld der Wirtschaft und des Handels aus Deutschland auszuschließen und weil zwischen den Mittelmächten keine wirkliche Verständigung auf ein gemeinsam getragenes Reformkonzept zu erreichen war. Dazu kamen noch internationale Krisen  – der Krimkrieg32 (1854–1856) sowie der Italienische Krieg33 (1859)  –, die vor allem Bayern 30 Vgl. Doeberl (wie Anm. 21), S. 250–253  ; Huber (wie Anm. 26), S. 908–915. 31 Vgl. Huber (wie Anm. 26), S. 915–922  ; Paul (wie Anm. 20), S. 120 f. 32 Vgl. Paul W. Schroeder, Austria, Great Britain, and the Crimean War. The Destruction of the European Concert, Ithaca, 1972  ; Bernhard Unckel, Österreich und der Krimkrieg. Studien zur Politik der Donaumonarchie in den Jahren 1852–1856, 1969. Zum Einfluß des Krimkrieges auf die Politik der deutschen Staaten vgl. einführend Harm-Hinrich Brandt, Deutsche Geschichte 1850–1870. Entscheidung über die Nation, 1999, S. 65–71  ; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III  : Bismarck und das Reich, 1963, S. 224–247. 33 Vgl. Arnold Blumberg, A carefully planned accident  : The Italian War of 1859, 1990  ; Frank J. Coppa, The Origins of the Italian Wars of Independence, 1992. Zum Einfluß des Italienischen Krieges auf die Politik der deutschen Staaten vgl. einführend Brandt (wie Anm. 32), S. 71–78.; Huber (wie Anm. 32), S. 253–265.

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drastisch vor Augen führen mußten, daß die beiden deutschen Großmächte längst entschlossen waren, den Deutschen Bund  – konträr zu seinem eigentlichen Auftrag, also der Friedenssicherung in der Mitte Europas – möglichst für die eigenen, auf Machtausdehnung ausgerichteten Ziele zu instrumentalisieren. Der bayerischen Triasidee konnte gerade dann kein Erfolg beschieden sein, wenn es München nicht gelang, die anderen Mittelstaaten hinter sich zu scharen. Vor allem bei der Frage, wie sich der Deutsche Bund angesichts des österreichisch-russischen Konflikts während des Krimkrieges verhalten sollte, zeigte sich die Unvereinbarkeit vor allem des sächsischen und des bayerischen Konzepts.34 Strittig war, ob das Dritte Deutschland einem von Österreich und Preußen im April 1854 abgeschlossenen Schutz- und Trutzbündnis beitreten solle, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Mittelmächte von diesem Bündnis erst nach dessen Abschluß überhaupt Kenntnis erlangt hatten. Von der Pfordten lud daraufhin – in Absprache mit Württemberg und Hannover – zur Beratung nach Bamberg35 ein und plädierte für folgendes Vorgehen  : Die Mittelmächte sollten sich dafür stark machen, besagtem Bündnis den Charakter eines Neutralitätsbündnisses zu Erhaltung des Friedens zu verleihen, woraufhin die Entscheidung über den Beitritt des Dritten Deutschland freilich dem Bundestag in Frankfurt überlassen sein sollte. Von der Pfordten wollte auf diese Weise ganz offensichtlich Österreich und Preußen vor Augen führen, daß sie letztendlich keine Politik, auch nicht außerhalb des Bundes, ohne den Deutschen Bund treiben könnten. Der sächsische Minister Friedrich Ferdinand Graf von Beust hoffte dagegen, die Mittelmächte in Bamberg davon überzeugen zu können, nun doch noch eine echte Koalition, eine Art Bündnis der deutschen Mittelmächte herbeizuführen, um deren Gewicht gegenüber den beiden Großmächten zu erhöhen. Da Bayern bei diesen Gesprächen Ende Mai 1854 aber zudem seine ganz eigenen Interessen ins Spiel brachte, sich konkret um Garantien für die Sicherung der Herrschaft des Hauses Wittelsbach in Griechenland bemühte, kam es erneut zu keiner Einigung. Die Mehrheit der deutschen Mittelstaaten war schließlich gewillt, dem österreichisch-preußischen Bündnis beizutreten. Zuletzt aber verhinderte Bismarck als preußischer Gesandter am Bundestag, daß der Deutsche 34 Vgl. Paul (wie Anm.  20), S.  123. Zu den Dresdner Konferenzen der Mittelmächte vgl. auch Jonas Flöter, Die Dresdener Konferenz 1850/51. Föderalisierung des Deutschen Bundes versus Machtinteressen der Einzelstaaten, 2002  ; Doeberl (wie Anm. 21), S. 255–262  ; Huber (wie Anm. 26), S. 923–926  ; Wilhelm Mößle, Bayern auf den Dresdner Konferenzen 1850/51, 1972. 35 Vgl. Paul (wie Anm.  20), S.  123 f.; Walther Peter Fuchs, Die deutschen Mittelstaaten und die Bundesreform 1853–1860, 1934, S. 12–53.

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Bund zugunsten Österreichs in den Krimkrieg eintrat, wie es der österreichische Außenminister Karl Ferdinand von Buol-Schauenstein angestrebt hatte.36 Den Mittelstaaten wurde auf diese Weise erneut vor Augen geführt, welchen marginalen Machtfaktor sie für die Großmächte darstellten. Es war und ist unübersehbar, daß Österreich und Preußen das Dritte Deutschland lediglich bei Bedarf für die eigenen Interessen einspannten, ja instrumentalisierten, anschließend aber auch rasch wieder ignorierten. In den folgenden Jahren sollten die deutschen Mittelmächte weitere Erfahrungen dieser Art machen. Der Italienische Krieg 1859 bedeutete – bezogen auf den Deutschen Bund  – ein erneutes Ringen von Österreich und Preußen um die Vorherrschaft. So war Preußen zu militärischer Hilfe für die Habsburgermonarchie nur dann bereit, wenn es dafür den alleinigen Oberbefehl über die Bundestruppen zugestanden bekommen hätte. Wien aber verzichtete in dieser Situation lieber auf die italienischen Sekundogenituren Toskana und Modena, weil es Preußen einen derartigen Machtzuwachs in Deutschland nicht zugestehen wollte. Gleichzeitig aber erwies sich die völlige Ohnmacht des Deutschen Bundes, der – wenn nur eine der deutschen Großmächte sich verweigerte – nicht in der Lage war, selbst ins Geschehen einzugreifen. Darüber hinaus zeigte sich bei den Würzburger Konferenzen37 der Jahre 1859, 1860 und 1864, als das Dritte Deutschland noch einmal versuchte, einerseits eigene Impulse für einen Umbau des Deutschen Bundes zu setzen und andererseits eine engere, aber gleichzeitig für alle Mittelmächte erträgliche Form des Zusammenschlusses zu finden, zum wiederholten Male, wie unterschiedlich sich die politischen Ziele darstellten und wie groß das gegenseitige Mißtrauen längst geworden war.38 Man konnte und wollte sich nicht zusammenraufen, die Stärkung der Macht des Dritten Deutschland wurde auf diese Weise abermals verhindert. Mit dem Frankfurter Fürstentag Ende August 1863 gerieten die bayerischen Triaspläne endgültig ins Abseits.39 Nach dem mit der Olmützer Punktation ge36 Vgl. Kraus (wie Anm. 21), S. 513  ; Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, 4. Aufl 1980, S. 161 ff. 37 Vgl. Paul (wie Anm. 20), S. 124 ff.; Wolf D. Gruner, Die Würzburger Konferenzen der Mittelstaaten in den Jahren 1859–1861 und die Bestrebungen zur Reform des Deutschen Bundes, in  : ZBLG 36 (1973), S. 181–253  ; Fuchs (wie Anm. 35), S. 123–169  ; Doeberl (wie Anm. 21), S. 268 ff. 38 Vor allem Bayern schlug Mißtrauen entgegen, da man einerseits in München wie selbstverständlich davon ausging, die Führungsmacht des Dritten Deutschland zu sein. Andererseits wurde Bayern zugetraut, die möglichen Bündnispartner in einem Dritten Deutschland unter Umständen zu verraten, sobald ein solcher Verrat Bayern territoriale Vorteile einbringen würde. Vgl. hierzu Glaser (wie Anm. 20), S. 155–158. 39 Vgl. Kraus (wie Anm. 21), S. 515 ff.

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scheiterten preußischen Versuch, den Deutschen Bund nach eigenen Vorstellungen und Interessen zu verändern, hoffte nun Wien, zum Zuge zu kommen. Weil sich jedoch der preußische König Wilhelm I. auf massives Drängen Bismarcks hin der fürstlichen Zusammenkunft in Frankfurt entzog, wurde Österreichs Vorstoß vereitelt. So kam es nicht – wie Kaiser Franz Joseph erhofft hatte – zur Errichtung eines großdeutschen, von Wien dominierten Machtblocks in der Mitte Europas, der dem Deutschen Bund ein fünfköpfiges Fürstendirektorium, eine Art von Nationalversammlung mit einem Unterhaus aus Delegierten der einzelstaatlichen Landtage sowie einem Oberhaus, besetzt mit Fürsten und Vertretern der Freien Städte, und zudem ein Bundesgericht bescheren sollte, das die Einheit des gesamten Bundes zu sichern gehabt hätte.40 Den bayerischen Reformwünschen und -hoffnungen kam ein solches österreichisches Projekt freilich in keiner Weise entgegen. Denn aus Münchner Sicht mußte bei der Reform des Deutschen Bundes ja unbedingt verhindert werden, daß eine der deutschen Großmächte, Österreich oder Preußen, ein wirkliches Übergewicht im Bund besäße. Eines war König Max II., wie seinen Ministern, inzwischen jedoch mehr als klar geworden, daß nämlich Wien und Berlin kein Interesse an einem defensiv ausgerichteten Deutschen Bund mehr hatten, sondern gewillt waren, diesen bei passender Gelegenheit ihren jeweils eigenen machtpolitischen Interessen dienstbar zu machen bzw. zu opfern. Der damit längst von beiden Seiten drohenden Mediatisierung glaubte Bayern nur noch auf eine Weise entkommen zu können, indem es gelang, ein derartiges Übergewicht einer der beiden deutschen Großmächte doch noch auf irgendeine Weise zu verhindern. Daß damit den Mittelmächten eine außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe zufiel, nämlich einen ausbalancierten, nicht zum Ausbruch kommenden Dualismus zwischen Österreich und Preußen aufrechtzuerhalten, das dürfte den bayerischen Ministern und ihrem Monarchen bewußt gewesen sein. Inwieweit man allerdings die hierfür nötigen eigenen Kräfte und Ressourcen41 sowie die der anderen Mittelstaaten – die sich ja nicht einmal unter bayerischer Führung vereinen ließen – realistisch genug einschätzte, das ist nach wie vor eine offene Frage. Ein letztes Mal regte sich bei den Mittelmächten der Wille, die Zukunft des Deutschen Bundes mitzubestimmen, als man sich nach dem preußisch-österrei40 Vgl. Huber (wie Anm. 32), S. 420–435  ; Brandt (wie Anm. 32), S. 140–146. 41 In wirtschaftlicher Hinsicht vgl. hierzu die einschlägigen Kapitel in  : Dirk Götschmann, Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, 2010. In militärischer Hinsicht vgl. Andreas Kraus, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825–1848), in  : Spindler (wie Anm. 6), S. 126–234, hier S. 178 ff.

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chischen Sieg über Dänemark 1864 dafür einsetzte, die Herzogtümer Schleswig und Holstein nicht einfach den beiden deutschen Großmächten als Verteilungsmasse zu überlassen. Stattdessen befürwortete das Dritte Deutschland die Erbfolge von Herzog Friedrich  VIII. von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg.42 Außerdem ergingen aus München und aus Frankfurt, wo Ludwig von der Pfordten inzwischen das Amt des bayerischen Delegierten am Bundestag übernommen hatte, Warnungen an Österreich, denen zufolge Preußen nur an einem ersten preußischen Gebietszuwachs im Norden Deutschlands interessiert war.43 Doch da Österreich nicht auf diese Warnungen hörte, hatte Bayern, hatten noch weniger die Mittelmächte gemeinsam zuletzt keinerlei Chance, mit ihren Vorschlägen durchzudringen. Mit der Konvention von Gastein44 im August 1865, mit der Schleswig und Holstein unter den beiden deutschen Großmächten regelrecht aufgeteilt wurde, waren jegliche realistische Hoffnungen auf ein Gelingen des bayerischen Triasprojekts an ihr Ende gekommen. Die offensichtlichen wie mutmaßlichen Gründe für dieses Scheitern gilt es am Ende noch einmal knapp zusammenzufassen. Mit dem Auftrag ausgestattet, unbedingt die bayerische Eigenstaatlichkeit zu retten und zu bewahren, zielte von der Pfordtens Konzept darauf, den Deutschen Bund – möglichst gemeinsam mit den anderen Mittelmächten – zu erhalten, aber doch so umzugestalten, daß der Dualismus Österreichs und Preußens, der nicht mehr aus der Welt zu schaffen war, zumindest dauerhaft ausbalanciert im Gleichgewicht gehalten werden konnte. Diese ausbalancierte Zwietracht zwischen Österreich und Preußen sollte also im System des Dualismus, in einer geräumigen Nische, die Existenz der Mittelstaaten […] sichern.45 Der bayerische Außenminister hielt gerade Bayern machtpolitisch offensichtlich für stark genug, die Aufgabe, Österreich und Preußen in Balance zu halten, zu meistern. Darauf weist zumindest jene Einschätzung hin, die von der Pfordten 1856 König Max II. in einer Denkschrift unterbreitete  : Demnach existierten im Bund zwei Klassen von Staaten, nämlich solche, durch die der Bund besteht, und […] solche, die nur durch den Bund bestehen, wobei von der Pfordten Bayern der ersten der beiden genannten Klassen zuordnete.46 Daher war es für ihn nur folgerichtig, wenn er für den Fall, daß der Deutsche Bund nicht zu retten sei, anfügte  : 42 Vgl. Volkert (wie Anm. 21), S. 294 f. 43 Vgl. Kraus (wie Anm. 21), S. 517. 44 Vgl. Huber (wie Anm. 32), S. 503–59. 45 Glaser (wie Anm. 20), S. 177. 46 Zit. nach ebd., S. 160 f.

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Diejenigen Staaten, deren Existenz nicht im Bunde ruht, sondern durch die der Bund besteht, werden […] die Kristallisationspunkte, an welche die Trümmer derjenigen Staaten sich anschließen müssen, deren Existenz jetzt nur auf dem Bund ruht und mit diesem zerschellen wird.47

Nach dem Italienischen Krieg präzisierte von der Pfordten diese Gedanken weiter, indem er jetzt davon ausging, dass beim Erlöschen des Bundes Norddeutschland an Preußen, Südwestdeutschland aber an Bayern fallen werde  : Die Trias ist wahrscheinlich die Zukunft Deutschlands, aber nur so, daß der Norden an Preußen, der Südwesten an Bayern fällt, und die ersten Anfänge dieser Zukunft werden sich wohl im Jahr 1864 zeigen, wo über die Erneuerung oder Auflösung des Zollvereins verhandelt werden muß.48

Der Historiker ist angesichts derartiger Zukunftsprognosen geneigt, eine Fehl­ einschätzung, ja eine gehörige Selbstüberschätzung zu diagnostizieren. Denn tatsächlich erschien das Königreich Bayern den anderen Mittelmächten zwar groß genug, um ihm Expansionspläne unterstellen zu dürfen. Doch im Blickwinkel der deutschen Großmächte war Bayern wiederum viel zu klein, um wirklich politisch berücksichtigt, politisch ernst genommen zu werden. In diesem Zusammenhang muß man Bayern, seinem Monarchen und seinen Ministern darüber hinaus bescheinigen, daß sie den Faktor Macht nicht ernst genug genommen haben. Hinsichtlich der militärischen Stärke, mehr noch hinsichtlich der Qualität der Ausbildung sowie der Ausrüstung der Armee sah es in Bayern düster aus. Aber auch bezüglich der Bevölkerungszahl, der wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen konnte Bayern nicht wirklich mit den deutschen Großmächten konkurrieren. Die innenpolitischen Verhältnisse, das Budgetrecht des eher auf Sparsamkeit achtenden bayerischen Landtags hätten zudem wohl alle Pläne, gerade die genannten militärischen Mängel auszugleichen, vereitelt. Doch derartige Zielsetzungen wurden in München nicht einmal ernsthaft erwogen. Mindestens ebenso fatal wirkten sich die ganz unterschiedlichen Interessen der deutschen Mittelmächte49 auf die bayerische Triasidee aus, wobei noch hinzuzufügen ist, daß Bayern diese Divergenzen offensichtlich völlig unterschätzte. 47 Ebd., S. 161. 48 Ebd., S. 182. 49 Baden wollte das eigene Territorium ungeschmälert behalten, während Bayern – auf Kosten Ba-

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Entscheidend war, daß es der bayerischen Politik nicht gelang und wohl auch nicht gelingen konnte, das bayerische Staatsinteresse und das Interesse der anderen deutschen Mittelmächte oder das Interesse der deutschen Großmächte oder der Mächte der europäischen Pentarchie oder wenigstens die Zielsetzungen potenter sozialer Gruppen innerhalb des Deutschen Bundes miteinander zu synchronisieren.50

Zu beobachten ist darüber hinaus, daß sich Bayern, wenn es sich von den Großmächten wieder einmal benutzt fühlte, noch stärker auf seine bayerischen Sonderinteressen zurückziehen zu müssen glaubte. Und da von der Pfordten davon überzeugt war, im Notfall könne Bayern auch ohne den Deutschen Bund in Europa überleben, entfiel für ihn die Notwendigkeit, die bayerische Politik stärker den Wünschen der anderen Mittelmächte anzupassen. Letztendlich aber verlangte Max  II. von seinen Außenministern51 die Qua­ dratur des Kreises  : Denn sie sollten ja dafür sorgen, daß die seit 1848 drängende Reform des Deutschen Bundes bewerkstelligt, außerdem daß eine Antwort auf die Forderungen nach einer deutschen Nation gefunden wurde, jedoch auf eine solche Art und Weise, bei der die Eigenstaatlichkeit des Königreichs und die Souveränität des bayerischen Monarchen nicht wirklich angetastet wurden. Alternativen zum Triasprojekt gab es in München nicht. Freiwillige Selbstunterwerfung unter wen auch immer war für die bayerischen Könige völlig undenkbar, zumindest bis zu den bitteren Erfahrungen von 1866 und 1870/71, als sich schließlich auch die letzten Hoffnungen, isoliert in Europa überleben zu können, in Luft auflösen sollten. Den von Bayern gezeigten Willen, die eigene Souveränität – am besten mit Hilfe des Deutschen Bundes – zu retten, wird man sicherlich als völlig legitim dens – auf eine Landverbindung zwischen dem links- und dem rechtsrheinischen Bayern hoffte. Die wirtschaftlichen Interessen der norddeutschen Mittel- und Kleinstaaten wiederum waren auf Preußen ausgerichtet, die bayerischen – zumindest die altbayerischen – dagegen auf Österreich. In vielen deutschen Staaten herrschte – anders als in Bayern – eher eine antigroßdeutsche Stimmung vor und Württemberg war bereit, alles zu tun, um eine alleinige bayerische Dominanz unter den deutschen Klein- und Mittelstaaten zu verhindern. Bayern dagegen erschwerte es die eigene Integrationsproblematik, sich eindeutig nur an Preußen oder an Österreich anzulehnen. Denn die neubayerischen Teile des Königreichs waren eher propreußisch, die altbayerischen Teile dagegen eindeutig proösterreichisch gestimmt. 50 Glaser (wie Anm. 20), S. 162. 51 Außenminister unter Max  II. waren  : Otto Graf von Bray-Steinburg (29.April 1848  – 18.  April 1849), Ludwig Freiherr von der Pfordten (18. April 1849 – 1. Mai 1859), Karl Freiherr von Schrenck von Notzing (1. Mai 1859 – 4. Oktober 1864). Alle drei Außenminister waren darauf verpflichtet, die bayerische Eigenstaatlichkeit zu retten.

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beurteilen. Doch in der Mitte des 19. Jahrhunderts mußte freilich ein jeder Staat, der derartige Ziele verfolgte, vor allem über die realen Machtmittel verfügen, um seine Ziele zu erreichen  ; er mußte es nicht nur wollen, er mußte es auch können  !

Karikatur aus dem Münchner »Punsch« zur bayerischen »Trias-Politik«.

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Die Bundesstaaten im Deutschen Reich Kompetenzen und politische Realität

I. Deutsche Staatlichkeit in den neuen Staatenverbindungen 1. Die deutschen Staaten im Deutschen Bund 2. Die politische Programmatik der deutschen Staaten zur Zeit der Reichsgründung 3. Die Rechtsnatur der Bundesstaaten im Verständnis der Zeitgenossen II. Die Reichskompetenzen und ihre politische Umsetzung 1. Die Zuständigkeit des Reiches nach der Verfassung von 1867/71 und die Reichsgesetzgebung 2. Die Politikfelder im Reiche in der Wahrnehmung der Wissenschaft III. Die Verwaltungspraxis der Bundesstaaten 1. Die Staatsaufgaben der Bundesstaaten aus der Sicht der Wissenschaft 2. Das »Verhältnis des Bürgerlichen Gesetzbuches zu den Landesgesetzen« nach dem EGBGB 3. Landespolitik im Spiegel der Gesetz- und Verordnungsblätter 4. Das Zeugnis der Haushaltspläne

I. Deutsche Staatlichkeit in den neuen Staatenverbindungen 1. Die deutschen Staaten im Deutschen Bund

Die souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands, die sich laut Präambel der Deutschen Bundesakte vom 8.  Juni 1815 in einer festen und dauerhaften Verbindung zu einem beständigen Bunde vereinigten,1 schränkten ihre souveränen Rechte bekanntlich so gravierend ein, dass die staatstheoretische Klassifizierung des Deutschen Bundes zwischen den Typen »Staatenbund« und »Bundesstaat«

1 Günter Dürig/Walter Rudolf, Texte zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1996, S. 11.

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immer schwer gefallen ist.2 Die zwingenden bundesrechtlichen Vorgaben hinsichtlich des Rechtsstatus der Untertanen3, über Krieg und sicherheitsrechtliche Fragen4 und der Ausschluss des Rechts, diesen Bund zu verlassen,5 bis hin zur Bindung an den Geist der Bundesacte,6 haben die im Übrigen weitgehende politische Handlungsfreiheit der deutschen Regierungen fast vergessen lassen. Diese aber waren – von den freien Städten abgesehen – ein Instrument der Selbstregierung des Monarchen. Zwischen ihm und dem von ihm berufenen Ministerium konnten sich unterschiedliche politische Dialoge und Machtverteilungen herausbilden, die mit den schon existierenden landständischen Kammern, soweit Gesetze zu erlassen waren, abgestimmt werden mussten. Die Grundlage dieses Verfassungssystems bildete noch lange die in der Aufklärung herrschende Überzeugung, richtige Politik sei das Ergebnis eines auf intensiver Beratung beruhenden Erkenntnisprozesses, nicht etwa Spiegelbild widerstreitender Interessen oder gar unterschiedlicher sozialer Zukunftsvisionen. Waren daher im Rahmen des Deutschen Bundes die außen- und sicherheitspolitischen Spielräume auch begrenzt, so trug jede deutsche Regierung doch die ganze Verantwortung für die Erhaltung und Entwicklung ihres Landes.7 Diese der staatlichen Allzuständigkeit entsprechende Situation zog den Ausbau der im Laufe des 19. Jahrhunderts für notwendig gehaltenen Behördenstrukturen nach sich, auf die der Deutsche Bund fast völlig verzichtet hatte und nach diesem Vorbild auch das Deutsche Reich verzichten sollte. 2. Die politische Programmatik der deutschen Staaten zur Zeit der Reichsgründung

Da Politik noch nicht als Handeln gemäß unterschiedlichen oder gar beliebigen Alternativen verstanden wurde, sondern als Konsequenz einer verbindlich gedachten Vernunft, also rationaler Überlegung und Planung, war nach den 2 Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 7. Aufl. 2013, § 30 Rn. 4 und ausführlich der Beitrag von Reinhard Stauber in diesem Band. 3 Art.  XIV DBA  : Rechtsstellung der Standesherren und ehemaligen Reichsritter  ; Art.  XVI  : Gleichheit der christlichen Konfessionen  ; Art.XVIII  : weitgehende Freizügigkeit aller Deutschen. 4 Art. XI DBA  ; Art. XIX, XXV ff., Art. LVII WSA. 5 Art. V WSA. 6 Art. IV WSA. 7 Ausführlich dazu Rolf Grawert, Gesetzgebung im Wirkungszusammenhang konstitutioneller Regierung, in  : Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung, 1984, S. 113–160.

Die Bundesstaaten im Deutschen Reich  

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Vorstellungen sowohl der Wissenschaft wie auch der hohen Beamtenschaft ein relativ fixes politisches Programm zu befolgen, um die Aufgaben des Staates zu erfüllen. Das »Deutsche Staatsrecht« des hannoverschen Amtsassessors Georg August Grotefend von 1869 kann dafür als exemplarisches Zeugnis dienen,8 weil sich noch später publizierte Werke zum Staatsrecht einzelner Bundesstaaten auf denselben Gleisen bewegten.9 Grotefend begreift die legitimen, Existenz und Freiheit des Menschen respektierenden Aktivitäten des Staates als Recht der Staatsgewalt.10 Dazu gehören außer den Rechten am Rechtsleben mit Gesetzgebung und Rechtsschutz11 auch das Recht auf dem Gebiet des Gemeinwohls und das Polizeirecht. Zum Gemeinwohl gehört die Fürsorge für die sittliche und geistige Bildung ebenso wie die Zuständigkeit für das materielle Wohlergehen mit der Sorge für das Medizinal- und Armenwesen.12 Aber auch die Pflege der Indus­ trie mit Landwirtschaft, Gewerbe und Zollwesen sowie der Verkehrsanstalten mit Schifffahrt, Straßen, Eisenbahnen, Post und Telegraphie sowie Maßen und Gewichten gehört zum Gemeinwohl. Mit dem Recht der Polizei kümmert sich der Staat um die politische, sowohl sittliche wie gesellschaftliche Ordnung, die durch das menschliche Verhalten gestört sein kann.13 Deshalb ist Sitten, Armen, Vagabunden- und Fremdenpolizei nötig. Unmittelbar gefährdet werden aber kann die Ordnung durch politische Parteien, Vereine und Presseerzeugnisse. Ein Kosmos der Wohlanständigkeit ist das Ziel dieses politischen Denkens, von der traditionellen Innenpolitik motiviert, die Innovationen der Zeit wohl aufnehmend, aber doch in der Überzeugung, sie mit polizeilichen Mitteln bändigen zu können. Obwohl im 19. Jahrhundert der »engere«, auf die Gefahrenabwehr beschränkte Polizeibegriff vorzudringen scheint,14 dominiert noch das wohlfahrtsstaatliche Denken einer vergangenen Epoche.15 Der engere Polizei  8 G. A. Grotefend, Das Deutsche Staatsrecht der Gegenwart, 1869. Zu Grotefend Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd. 1800–1914, 1992, S. 326 f.   9 Vgl. Abschnitt III 1. 10 Grotefend (wie Anm. 8), S. 30 ff. 11 Ebd., S. 67 ff. 12 Ebd., S. 105 ff. 13 Ebd., S. 185 ff. 14 So etwa Hans Boldt/Michael Stolleis, in  : Handbuch des Polizeirechts, hrsg. von E. Denninger/F. Rachor, 5. Aufl. 2012, S. 10 Rn. 21  : Wohlfahrtsaufgaben seien nun zweitrangig, dem Hauptzweck, der öffentlichen Sicherheit untergeordnet gewesen. Vgl. aber die folgende Anmerkung. 15 Stolleis (wie Anm.  8), S.  248  : Die Beschränkung des Polizeizwecks auf die Gefahrenabwehr hat die Praxis (nicht) wirklich geprägt, ferner ebd. S. 239 ff., 244 ff. u. passim  ; ähnlich Wolfgang Rüfner, Die Verwaltungstätigkeit unter Restauration und Konstitution, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh, Bd. II, 1983, S. 470 f.; Dietmar

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begriff war ein Lieblingskind der Liberalen,16 so wie seine Präsenz in § 10 II 17 des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts fasziniert hat.17 Tatsächlich aber gab es während des 19. Jahrhunderts bis zum Kreuzbergurteil vom 14. Juni 188218 keine signifikante rechtsgeschichtliche Zäsur, welche die Unterscheidung einer Epoche des wohlfahrtsstaatlichen Polizeiverständnisses von einer solchen des engeren Polizeibegriffs gestatten würde. Es dürfte diese Kontinuität gerade unter den Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus gewesen sein, die wenig später den Übergang zum Interventions- und Sozialstaat bahnte. 3. Die Rechtsnatur der Bundesstaaten im Verständnis der Zeitgenossen

Die eigene Staatlichkeit der Bundesstaaten im Deutschen Reich – die von der rechtlichen Beurteilung des Deutschen Reiches zu unterscheiden ist19  – stand außer Frage.20 Der historische Gründungsakt des Gesamtstaates durch die Vereinigung der deutschen Staaten unter aktiver Teilnahme ihrer Staatsoberhäupter konnte niemals einen Zweifel an der fortdauernden Rechtssubjektivität der Bundesstaaten aufkommen lassen. Allerdings war nun über die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich zu reden. Paul Laband, der scharfsinnigste Analytiker des 1867/1871 geschaffenen Verfassungsrechts, unterschied einerseits die dem Reiche zustehende Gesetzgebung von ihrer den Einzelstaaten anvertrauten Durchführung als Aufgabe der Selbstverwaltung, andererseits aber diese der Reichsaufsicht unterworfene Tätigkeit von solchen öffentlich-rechtlichen Funktionen, in denen die Bundesstaaten weder der Gesetzgebung noch der Oberaufsicht des Reiches unterworfen sind.21 Dieses den Einzelstaaten verbliebene Gebiet staatlicher Tätigkeit und Macht durch Selbstgesetzgebung begriff Laband als Autonomie. Bei dieser handele es sich im juristischen Sinne immer um eine gesetzgebende Gewalt, jedoch ohne die Eigenschaft der Souveränität  : Autonomie als ein juristisch relevanter Begriff, setzt daher eine nicht souveräne, öffentlich rechtliche Gewalt voraus, Willoweit, Verfassung und politische Praxis im Königreich Bayern. Von der obrigkeitlichen Policey zur sozialstaatlichen Intervention, in  : ZNR (i. E.). 16 Vgl. dazu Stolleis (wie Anm. 8), wie in der vorigen Anmerkung. 17 Vgl. dazu ausführlich Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre, 1983, S. 274 ff. 18 Albrecht Cordes, »Kreuzberg-Urteil«, in  : HRG, Bd. III, 2. Aufl., Sp. 230–232. 19 Ausführlich dazu Werner Frotscher, »Deutsches Reich (1871–1918)«, in  : HRG, Bd.  I, 2.  Aufl., Sp. 1012–1027, 1015. 20 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, 1. Aufl., 1876, S. 70 ff. 21 Ebd., S. 102 ff., 104.

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der die Befugnis zusteht, kraft eigenen Rechts, nicht auf Grund bloßer Delegation, verbindliche Rechtsnormen aufzustellen.22 Nicht anders hat noch am Ende der Monarchie Gerhard Anschütz im Anschluss an Georg Meyer das Deutsche Reich als einen Bund der deutschen Einzelstaaten bezeichnet, deren nicht abgeleiteter, sondern auf eigenem Recht beruhender Staatscharakter zwar der Souveränität entbehre. Doch stünden ihnen nicht bloß Verwaltungsbefugnisse, sondern auch gesetzgeberische Funktionen zu, einschließlich des jeweiligen Verfassungsrechts,23 in der Sache also das, was Laband Autonomie nannte. Dabei war im Rahmen eines solchen Konzepts dieser Rechtsstatus der Bundesstaaten keineswegs durch die monarchische Staatsform bedingt. Der Monarch galt nicht als Beherrscher, sondern als Organ des Staates,24 somit nach Maßgabe der Landesverfassung in die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben eingebunden. Die im Zeitalter der Monarchie entstandene Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder blieb auch in Zukunft fest im Selbstverständnis der deutschen Staatlichkeit verankert. II. Die Reichskompetenzen und ihre politische Umsetzung 1. Die Zuständigkeit des Reiches nach der Verfassung von 1867/71 und die Reichsgesetzgebung

Das 1867 durch die Errichtung des Norddeutschen Bundes und 1871 durch die Schaffung einer Kaiserwürde begründete Deutsche Reich mit eigenem Herrschaftsapparat sollte sich trotz seiner verfassungsrechtlichen Merkwürdigkeiten als das zukunftsweisende Konzept des deutschen Föderalismus erweisen. Denn die damals getroffenen Entscheidungen über das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen prägen über alle politischen Veränderungen hinweg bis heute das Gesicht dieses Landes.25 Es lohnt sich daher, kurz bei der Betrachtung der Reichskompetenzen in Art.  4 der Reichsverfassung zu verweilen. Das Urbild des modernen Bundesstaates hat die nordamerikanische Verfassung von 1787 gestaltet. Von ihr übernahmen die Väter der Paulskirchenverfassung den Gedanken, mit einem Katalog enumerativ aufgelisteter einzelner Kompetenzen 22 Ebd., S. 105 f. 23 Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl. 1919, S. 224 ff. 24 Ebd., S. 271. 25 Reinhart Mußgnug, Die Ausführung der Reichsgesetze durch die Länder und die Reichsaufsicht, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh, Bd. III, 1984, S. 186–206  ; Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1990, S. 173.

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den Einfluss des Gesamtstaates von vornherein begrenzen.26 Die Bismarck’sche Reichsverfassung folgte diesem Vorbild. Danach waren dem Reich die Außenbeziehungen anvertraut,27 im Innern einzelne politische Kontrollbedürfnisse,28 vor allem die Regelung reichsweiter raumübergreifender Verhältnisse29 einschließlich des Gewerberechts30 und die zentralen Elemente der Rechtsordnung.31 Als 1869 mit der Gewerbeordnung das Prinzip der Gewerbefreiheit für das norddeutsche Bundes- und dann das ganze Reichsgebiet in Kraft trat, war diese Idee längst allgegenwärtig und in vielen deutschen Staaten schon geltendes Recht.32 Sie entsprach dem liberalen Zeitgeist, galt aber ebenso nicht ohne Grund als ein den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr förderndes Element, das der Reichskompetenz zu unterwerfen war. Die in der Gewerbeordnung auch enthaltenen Vorschriften über viele genehmigungspflichtige Gewerbe und Anlagen trafen jedoch Regelungen, die die politischen Spielräume der deutschen Bundesstaaten nicht unerheblich einschränkten. Und es sollte sich schon bald zeigen, dass dem so zurückhaltend wirkenden Katalog der Reichskompetenzen auch sonst eine ungeahnte Dynamik innewohnte, zumal gemäß Art. 78 der Reichsverfassung jedes Reichsgesetz »verfassungsdurchbrechend« den Verfassungstext ändern konnte. Dass dennoch im Prinzip die Bundesstaaten für alle dem Reich nicht ausdrücklich zugewiesenen Materien zuständig blieben und auch so lange im Bereich der Reichskompetenzen tätig sein durften, wie ein Reichsgesetz nicht erlassen worden war, erwies sich zwar als ein gewisser Schutz der Bundesstaatlichkeit, konnte die fortschreitende Unitarisierung des Reiches aber nicht verhindern.33 26 Frotscher (wie Anm.19), Sp., 1015. 27 Staatsbürgerrecht, Passwesen und Fremdenpolizei (Z.  1), Kolonien und Auswanderung (Z.  1), Außenhandel und Schifffahrt (Z. 7), Zoll (Z. 2), Militärwesen und Kriegsmarine (Z. 14). 28 Presse und Vereine betreffend (Z. 16). 29 Freizügigkeit (Z. 1), Handel (Z. 2), Maße, Münze und Gewichte (Z. 3), das Bankwesen (Z. 4), die Immaterialgüterrechte (Z. 5 und 6), die Eisenbahnen (Z. 8), die Land- und Wasserstraßen (Z. 8), Flößerei und die innerstaatliche, mehrere Bundesstaaten berührende Schifffahrt (Z. 9), Post und Telegraphie (Z. 10). 30 Regelungen für den Gewerbebetrieb und das Versicherungswesen (Z. 1), die zu diesem Umfeld gehörende Medizinal- und Veterinärpolizei (Z. 15). 31 Strafrecht (Z. 13) und Vollstreckung (Z. 11), das Urkundenwesen (Z. 12) und seit der Verfassungsergänzung von 1873 die Vereinheitlichung des bürgerlichen und des Verfahrensrechts (Z. 13). Vgl. auch Michael Stolleis, »Innere Reichsgründung« durch Rechtsvereinheitlichung (1992), in  : ders., Konstitution und Intervention. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts im 19. Jahrhundert, 2001, S. 195–225. 32 Willoweit (wie Anm. 2), § 33 Rn. 8. 33 Zu den Kompetenzabgrenzungen und ihrer Entwicklung ausführlich Heiko Holste, Der deutsche

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Eine komplette Durchsicht der Jahrgänge des Reichsgesetzblatts von 1871 bis zum Kriegsausbruch und seinen besonderen Bedingungen seit 1914 verbietet sich für eine begrenzte Studie wie die hier versuchte. Sie ist für einen ersten Überblick auch unnötig, weil die Zeitgenossen noch bemüht waren, die Reichsgesetzgebung als ein dauerhaftes Ganzes zu begreifen, das sich zwischen zwei ganzleinernde Buchdeckel mit dem eingestanzten kaiserlichen Wappen pressen ließ. So das von Praktikern herausgegebene führende, zweibändige »Reichsgesetzbuch für Industrie, Handel und Gewerbe«, das der preußische Verfassungsrechtler Conrad Bornhak mit dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 verglich und 1903 schon in 37. Auflage erschien.34 In der Gliederung dieses Werkes sind die Reichskompetenzen in groben Zügen noch wiederzuerkennen. Sie lassen nun aber mit einer Fülle von Gesetzen, Verordnungen und Bekanntmachungen erkennen, welches Potential an politischer Gestaltungsmacht sich aus ihnen zu entwickeln vermochte. Das war vermutlich zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung noch kaum zu ahnen, abgesehen vielleicht vom Umfang der Justizgesetze, die den ganzen zweiten Band des Werkes füllen. Und auch das Handelsrecht mit seinem eigenen Gesetzbuch, der Wechselordnung und den Gesetzen für die neu erfundene GmbH und die Genossenschaften hält sich weitgehend an das bekannte Modell der Kodifikation. Doch unter dem Dach der meisten Reichskompetenzen sind nun so zahlreiche Regelungen zusammenzufassen  – vom Reichstag verabschiedete Gesetze wie auch Verordnungen der Reichsleitung –, dass exemplarisch einige statistische Hinweise genügen dürfen, um diese Aufblähung der Normenkomplexe und die mit ihnen verbundene Geburt des modernen Interventionsstaates zu belegen.35 Unter der Rubrik »Zoll, Steuer- und Stempelgesetze« waren von den Herausgebern schon über dreißig Titel zusammenzufassen. Der zunehmend wichtiger gewordene Schutz des geistigen Eigentums hatte zu über zwanzig Gesetzen und internationalen Übereinkommen geführt. Vor allem aber das Gewerberecht ließ sich nicht mehr in der richtungweisenden Gewerbeordnung allein einfangen. Annähernd fünfzig weitere Bekanntmachungen, Gesetze und Verordnungen waren notwendig geBundesstaat im Wandel (1867–1933), 2002, S. 160 ff.; Rudolf Morsey, Die öffentlichen Aufgaben und die Gliederung der Kompetenzen zwischen Norddeutschem Bund, Reich und Bundesstaaten (1867–1914), in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25), S. 128–137, 165. 34 Unter dem Titel »Neues Deutsches Reichsgesetzbuch. Die vollständigste Sammlung nebst Verordnungen und Ausführungsbestimmungen«, Bd. I–II, 1903, S. I mit dem »Einleitenden Wort« von Conrad Bornhak. Nachträge erschienen fortlaufend in den folgenden Jahren. 35 Michael Stolleis, Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, in  : ZNR 11 (1989), S. 129–147  ; Miloš Vec, »Interventionsstaat«, in  : HRG, Bd. II, 2. Aufl., Sp. 1279–1283.

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worden, um der Dynamik des Wirtschaftslebens gerecht zu werden.36 Und dabei hatten die Herausgeber mit dem Rubrum »Sozialpolitische Gesetze« eine neue, so in der Reichsverfassung nicht vorkommende Kategorie einführen müssen, der sie die nach der kaiserlichen Botschaft von 1881 erlassenen Gesetze zur Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung sowie viele zugehörige Regelungen zuordneten.37 Außerordentlicher Regelungsbedarf von höchster innenpolitischer Relevanz hatte sich auf der Ebene des Reiches etabliert. Die Verwaltung allerdings auch der sich aus der Reichsgesetzgebung ergebenden Aufgaben blieb Sache der Bundesstaaten. Zwar expandierte die Reichsverwaltung mit einer ansehnlichen Reihe oberster Reichsbehörden. Dazu zählten nicht nur die »Ämter« mit zunehmend ministeriellem Zuschnitt wie die für Auswärtiges, Post, Justiz, Finanzen, Inneres, dann auch für die Eisenbahnen und die Kolonien, sondern auch Kommissionen und Ämter für Auswanderung, Statistik, Gesundheit und andere, die das Versicherungswesen beaufsichtigten, nicht zu vergessen die Reichsjustiz.38 Doch verbleibende Gestaltungsspielräume der bundesstaatlichen Verwaltungen waren gegeben und konnten eine erhebliche Bedeutung haben, wie zum Beispiel bei der Umsetzung der Sozialistengesetzgebung39 oder beim reichsweiten Phänomen des Kulturkampfes festzustellen.40 2. Die Politikfelder im Reiche in der Wahrnehmung der Wissenschaft

Die politische Entwicklung des Reiches begleitete aufmerksam eine wache Wissenschaft auf hohem Niveau, deren führende Vertreter bis heute hohes Ansehen genießen. Das gegen Ende der Friedenszeit von einem exklusiven Autorenkreis verfasste »Handbuch der Politik« zeigt deutlich, wie selbstverständlich politi36 Alle diese Materien lassen sich in dem folgenden Beitrag im Zusammenhang studieren  : Karl Heinrich Kaufhold, Übergreifende Aufgaben des Reiches und der Bundesstaaten, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25), S. 207–250 mit den Kapiteln Gewerberecht und Gewerbewesen  ; Handel, Märkte, Börsen  ; Währungs-, Bank- und Versicherungswesen  ; Wettbewerb, gewerblicher Rechtsschutz und Kartelle  ; Arbeitsverhältnisse, Arbeitsschutz und Gewerbeaufsicht  ; Maß- und Gewichtswesen. 37 Holste (wie Anm. 33), S. 167 f.; Hansjoachim Henning, Aufbau der Sozialverwaltung  ; in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25), S. 275–310. 38 Einen vollständigen Überblick bietet Rudolf Morsey, Die Erfüllung von Aufgaben des Norddeutschen Bundes und des Reiches durch Behörden des Bundes und des Reiches, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25), S. 138–186. 39 Mußgnug (wie Anm. 25), S. 188. 40 Christoph Link, Die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25), S. 528–559  ; Holste (wie Anm. 33), S. 170.

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sche Themen als reichsweit einheitlich zu behandelnde Materien begriffen wurden.41 Durchgehend werden in diesem Werk die einzelnen Politikbereiche ohne Rücksicht darauf behandelt, ob und in welchem Umfang sie der Kompetenz des Reiches oder der Bundesstaaten unterworfen sind. Es dürfte nicht zuletzt das heisse Wettringen der Nationen gewesen sein, das den Blick auf das ganze Staatsvolk lenkte und innerstaatliche Unterscheidungen anachronistisch erscheinen ließ.42 Aus diesem Grunde wohl ließen die Herausgeber in einem Grundsatzartikel in Ablehnung der reinen liberalen Lehre das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft zur Staatsnotwendigkeit erklären.43 Für den Alltag galten zahlreiche innerstaatliche Handelsbeschränkungen zum Schutz von Konsumenten und Konkurrenten als unverzichtbar, zum Beispiel auch mit Hilfe einer Sonderbesteuerung der neuen Warenhäuser.44 Die Tradition wohlfahrtsstaatlichen Denkens konnte sich noch ungehemmt von verfassungsgerichtlicher Kontrolle entfalten. Deutlich ist die faktische Zunahme der Reichskompetenzen auf solchen Gebieten zu beobachten, auf denen die Wirtschaft selbst mit der Konzentration ihrer Akteure gesamtstaatliche Reaktionen auslöste, wie im Bankenwesen45 und durch die Bildung von Kartellen.46 Anderen Problemen war die Tendenz oder sogar der Zwang zu nationalen Lösungen gleichsam immanent, zum Beispiel bei der Verbesserung des Arbeitsschutzrechts47 oder bei der Durchsetzung des Impfzwangs.48 Die Reihe solcher Beispiele ließe sich fortsetzen. An Grenzen stieß dieser Wille zur Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse im Bundesstaat offenbar dann, wenn sich die Politik mit unterschiedlichen mentalen wie auch sozialen Gegebenheiten konfrontiert sah. So konnte das Ringen um eine allgemein verbindliche Sozialmoral in der Epoche des Bismarckreiches nicht mehr zu einvernehmlichen Ergebnissen führen. Das Konkubinat etwa war nur noch in einigen Bundesstaaten strafbar. Liberale und eher restriktive Auffassungen 41 Handbuch der Politik, hrsg. von P. Laband u. a., Bd. 1–2, 1912/13. Auch dazu lohnt ein Vergleich mit Kaufhold (wie Anm. 36), S. 207–250. 42 Friedrich Zahn, »Das Deutsche Volk in seinen sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen«, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. II, S. 405–441, 438. Der Autor war Direktor des bayerischen statistischen Landesamts. 43 W. Wygodzinski, »Staat und Wirtschaft«, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. I, S. 107–111, 108. 44 Bernhard Harms, »Handel«, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. II, S. 291–308, 295 ff., 299. 45 Riesser, Die Banken-Konzentration in Deutschland, ihre Vorteile und Gefahren, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. II, S. 331–339. 46 Robert Liefmann, »Die Konzentration in der Montanindustrie«, in  : Handbuch (wie Anm.  41), Bd. II, S. 365–368  ; ders., »Gesetzgebungspolitik gegenüber Kartellen und Trusts«, ebd., S. 372–378. 47 H. Köppe, »Das Arbeiterschutzrecht«, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. II, S. 379–387. 48 Franz Dochow, »Gesundheitspolizei«, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. II, S. 537–542.

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finden sich bei ein und demselben Autor nebeneinander, Ausdruck einer unentschiedenen Situation und einer Epoche des Übergangs.49 III. Die Verwaltungspraxis der Bundesstaaten 1. Die Staatsaufgaben der Bundesstaaten aus der Sicht der Wissenschaft

Auch nach der Gründung des Deutschen Reiches sind zahlreiche Darstellungen des Staatsrechts der zugehörigen Bundesstaaten veröffentlicht worden. Sie interessieren hier nur insoweit, als sie Beschreibungen der Staatsaufgaben enthalten, was durchaus nicht immer der Fall ist.50 Soweit sie aber Auskunft darüber geben, ist ihre Herkunft aus dem Fundus des traditionellen politischen Denkens festzustellen,51 jedoch auch eine zunehmende Ausdifferenzierung und Systematisierung der Politikfelder. So unterscheidet der bekannte Heidelberger Staatsrechtler Hermann von Schulze-Gaevernitz im Rahmen der inneren Verwaltung Preußens 1888 die Sorge des Staates für die persönliche Entwickelung seiner Angehörigen, womit das Sanitäts- und Medizinalwesen gemeint war, von der Sorge des Staates für die geistige Entwickelung seiner Angehörigen, zu dem alle Stufen des schon zusammenfassend so genannten Bildungswesens von der Volksschule bis zur Universität gehörten, die hier erwähnte Sittenpolizei eingeschlossen.52 Die Sorge des Staates für die wirthschaftliche Förderung seiner Angehörigen konzentrierte sich nach diesem Autor einerseits auf das Verkehrswesen, andererseits auf die Sorge des Staates für die Urproduktion, also Land- und Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei sowie den Bergbau.53 Bei der Polizei ist noch immer neben der Sicherheits- die Wohlfahrtspolizei erwähnenswert.54 Nur wenige Jahre später folgte der 49 Karl von Lilienthal, »Sittlichkeitspolizei«, in  : Handbuch (wie Anm. 41), Bd. II, S. 532–536. 50 So z. B. nicht in den Werken von Joseph von Pözl, Lehrbuch des Bayerischen Verfassungsrechts, 5. Auf., 1877, der außer den Institutionen von den »Regierungsrechten« nur Gesetzgebung, Justiz, Kirchenhoheit, Finanz- und Militärgewalt sowie am Rande die Polizeigewalt zur Sprache bringt  ; ähnlich oder noch wortkarger in Hinblick auf die vom Staat wahrzunehmenden Aufgaben H. G. Opitz, Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, Bd.1–2, 1884–1887  ; Fritz Stier-Somlo, Preußisches Staatsrecht, 1.–2. Teil, 1906  ; Otto Mayer, Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, 1909. Diese Zurückhaltung entspricht offenbar der beginnenden Unterscheidung von Staats- und Verwaltungsrecht. 51 Vgl. Abschnitt I, 2. 52 Hermann von Schulze-Gaevernitz, Das Preußische Staatsrecht, 2. Bd., 1. Lfg., 2.  Aufl. 1888, S. 329 ff., 336 ff. 53 Ebd., S. 369 ff., 410 ff. 54 Von Schulze-Gaevernitz (wie Anm. 52), S. 306 ff.

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Würzburger Staatsrechtler Karl von Stengel für Preußen zwar weiterhin der Einteilung in die Verwaltungszweige in Bezug auf das physische Leben, das wirtschaftliche Leben und das geistige Leben.55 Aber zur Verwaltung des physischen Lebens gehörte nun außer dem Armen- und Gesundheitswesen auch die Arbeiterversicherung mit ihren verschiedenen Zweigen, zur Wirtschaftsverwaltung auch das Bankwesen und ein Kapitel über den Staat und die arbeitenden Klassen, zur Verwaltung des geistigen Lebens auch die Förderung der allgemeinen Bildung. Obwohl die über das Traditionsgut deutscher Verwaltungen hinausgehenden neuen Gesichtspunkte überwiegend von der Reichsgesetzgebung angeregt worden sind, fanden sie nicht ohne Grund Platz im Staatsrecht eines deutschen Bundesstaates. Denn das Gesetzgebungsrecht des Reiches sei zwar weit bemessen und das Reich habe davon in ausgedehntem Umfange bereits Gebrauch gemacht, ließ sich eine Stimme aus Sachsen vernehmen und fuhr fort  : Doch von den beiden Gewalten der Legislative und der Exekutive sei das Gesetzgebungsrecht dasjenige, welches das Bewußtsein von der Souveränität des Staates in Volk und Regierung weit weniger unterhält und nährt als die Ausübung der vollziehenden Gewalt […]. Diese tritt bei der gesamten Leitung des Staates durch die Ausführung der Gesetze […] und die thatsächliche Handhabung derselben in der Praxis fast täglich und stündlich an den Unterthan heran.56

Und die vollziehende Gewalt lag eben fast ausschließlich in den Händen der von den Bundesstaaten in ihren Dienst genommenen Beamten. Diese hatten ihre Sozialisation noch im Glauben an die Vernunft der vom Monarchen vertretenen Politik erfahren und galten fortschrittlich denkenden Zeitgenossen daher als »obrigkeitsstaatlich« infiziert. Doch zum Gesamtbild dieser Epoche gehört auch, dass nicht nur die Verfassungstexte der meisten Bundesstaaten schon Grundrechtskataloge kannten, sondern auch mehrere Autoren schon begonnen hatten, die Rechte der Staatsangehörigen57 oder die Rechte der Preußen58 als integralen Teil in das Staatsrecht der Bundesstaaten einzubeziehen.

55 Karl Frhr. von Stengel, Das Staatsrecht des Königreichs Preußen, 1894, S. 408 ff., 447 ff., 525 ff. Weniger prinzipiell als pragmatisch stellt Conrad Bornhak, Grundriß des Verwaltungsrechts in Preußen und dem Deutschen Reiche, 2. Aufl. 1909, S. 110 ff. die einzelnen Materien der Verwaltung vor. 56 Opitz (wie Anm. 50), Bd. 1, S. 42 f. 57 Pözl (wie Anm. 50), S. 79 ff. 58 Eduard Hubrich, Preußisches Staatsrecht, 1909, S. 153 ff.

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2. Das »Verhältnis des Bürgerlichen Gesetzbuches zu den Landesgesetzen« nach dem Einführungsgesetz zum BGB

Es gibt noch einen weiteren Einstieg in unsere Fragestellung. Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches am 1. Januar 1900 erwies es sich als notwendig, eine detaillierte Abgrenzung zu jenen Materien vorzunehmen, die im Gesetzbuch nicht geregelt wurden, sondern der Zuständigkeit der Länder anvertraut bleiben sollten. Das geschah im Einführungsgesetz zum BGB mit juristisch wenig interessanten und daher heute kaum noch beachteten Vorschriften. Zwar beziehen sie sich überwiegend nur auf privatrechtliche Themen. Rechtshistorisch befragt, erteilen sie jedoch Auskünfte, als deren Hintergrund sich so etwas wie ein Weltbild jener Epoche abzeichnet. Die bisher gewonnenen Eindrücke bestätigt die Vorsicht, welche die nun reichsweite Zivilgesetzgebung dem weiterhin in Geltung bleibenden Landesrecht angedeihen ließ. Unter der oben zitierten Überschrift seines dritten Abschnitts ließ das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuches nur auf den ersten Blick ganz heterogene Materien von der Reichsgesetzgebung unberührt. Während das Bürgerliche Gesetzbuch dem modernen Rechtsverkehr dienen sollte, stehen im Vordergrund des Einführungsgesetzes Rechtsverhältnisse, die das Erbe der Vergangenheit bewahren wollen. So in den Art. 57 bis 59 EGBGB für den hohen und niederen Adel und ab Art. 63 bis 74 EGBGB sowie weiteren Bestimmungen durch den Schutz herkömmlicher Rechtsinstitute und Regelungen des ländlichen Raumes. Man muss das einmal Revue passieren lassen, um den Sinn im Hintergrund zu erkennen. Es geht da um Erbpacht- und Anerbenrechte, Wasser, Deich- und Sielrecht, Berg- und Abbaurechte, Jagd und Fischerei samt dem Ersatz des Wildschadens, um Bereiche, die man noch den Regalien zurechnete, wie die Bernsteingewinnung und die Nutzung des Meeresufers, um Zwangs- und Bannrechte sowie Realgewerbeberechtigungen, etwa von Apotheken und Abdeckereien, um Waldgenossenschaften und Religionsgesellschaften, um Gesinderecht und Altenteilsverträge, um den feld- und forstpolizeilichen Schutz von Grundstücken, um die Enteignung, um die Ablösung alter Grundstücksbelastungen und Gemeinheitsteilungen, Einzelfragen der Grundstücksbelastung, Nachbarrecht, Kirchen- und Schulbaulasten, Kirchenstühle und Grabstellen.59 Auch 59 Art. 63 bis 74, 83, 84, 95, 96, 107, 109, 113, 114, 115 bis 120, 122 bis 124, 132 und 133 EGBGB. Moderne Textausgaben und Kommentierungen des BGB enthalten das EGBGB nicht mehr oder nur noch in Auszügen. Einen vollständigen Überblick mit der auslegenden Rechtsprechung aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewähren daher nur ältere Kommentierungen, z. B. Soergel, Bürgerliches

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das Beamtenrecht kommt hier vor,60 als Regelung einer im Laufe des 19. Jahrhunderts fest etablierten, neuen, standesgleichen Personengruppe. Flankiert hat der Gesetzgeber diesen Schutz der geschilderten, vor allem auf dem flachen Lande wichtigen Rechtsverhältnisse durch die Aufrechterhaltung altrechtlicher Belastungen, die der Eintragung in das Grundbuch nicht bedurften, es sei denn, der Landesgesetzgeber ordnete dies an.61 Bayern zum Beispiel hat ein solches Gesetz niemals erlassen, sodass dort bis zum heutigen Tage an Liegenschaften nicht im Grundbuch eingetragene Rechte Dritter bestehen können. Doch hat die Expansion der Reichskompetenzen auch im Katalog der für unberührt erklärten Rechtsgebiete ihre Spuren hinterlassen – frühzeitig im Versicherungswesen und im Verlagsrecht,62 bald nach dem Ersten Weltkrieg auch durch Reichsgesetze im Bereich der damals so genannten Jugendwohlfahrt.63 Dieser nicht ganz vollständige Überblick über das den Bundesstaaten belassene Recht zeigt, dass der einst heftige Widerstand gegen die Erstreckung der Reichszuständigkeit auf den gesamten Bereich des Bürgerlichen Rechts64 in gewisser Weise Früchte getragen hatte. Das vertraute Umfeld des Landesrechts sollte erhalten bleiben. 3. Landespolitik im Spiegel der Gesetz- und Verordnungsblätter

Dennoch zieht die ausufernde Handhabung und Ausweitung der Reichskompetenzen notwendigerweise die Frage nach sich, welche politischen Gestaltungsspielräume den deutschen Bundesstaaten noch überlassen waren  – abgesehen von ihrer Mitwirkung im Bundesrat als dem zentralen Regierungsgremium des Reiches.65 Um einen zuverlässigen Eindruck von der ihnen verbliebenen Staatlichkeit zu gewinnen, stehen – außer aufwendigen Archivstudien – umfangreiche gedruckte und bisher kaum ausgewertete Materialien zur Verfügung. Das sind in erster Linie die Gesetz- und Verordnungsblätter der Bundesstaaten, in denen sich die Aktivitäten der Landtage und Landesministerien in der Zeit von 1871 bis 1914 widerspiegelten. Nicht nur die rechtsstaatliche, im 19. Jahrhundert schon selbstverständliche Forderung, staatliche Normen gleich welchen ChaGesetzbuch nebst Einführungsgesetz, Bd. IV, 8. Aufl. 1955. 60 Art. 77 bis 81. EGBGB. 61 Art. 184, 187 EGBGB. 62 Art. 75, 76 EGBGB. 63 Art. 134 bis 136 EGBGB. 64 Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. 2006, S. 319 f. 65 Willoweit (wie Anm. 2), § 34 Rn. 13, § 35 Rn. 7.

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rakters seien als Bedingung ihrer Wirksamkeit zu veröffentlichen, verlieh den dafür geschaffenen Publikationsorganen ein besonderes Gewicht. Es bestand die schiere Notwendigkeit, die zunehmende Komplexität des gesellschaftlichen Lebens und ihre Steuerung durch die Staatsverwaltung mit ihren einzelnen Aktivitäten schriftlich festzuhalten und landesweit bekannt zu machen. Schon das Themenspektrum ist von erheblicher Aussagekraft. Mehr noch verraten die veröffentlichten Haushaltspläne und ähnliche Zahlenwerke. Dabei handelt es sich ja keineswegs nur um normative Programme, deren Realitätsbezug zweifelhaft geblieben sein könnte. Die Fülle der daraus zu gewinnenden Erkenntnisse ist in einem Referat nicht aufzufangen. Doch »Probebohrungen« in Preußen und Bayern reichen aus, um gewisse Hypothesen über das verbliebene politische Profil der Bundesstaaten im Deutschen Reich zu wagen. Das exemplarische Studium dieser bisher kaum genutzten Quellen muss in Preußen beginnen, weil die Hegemonialmacht des Deutschen Reiches mutmaßlich die den Bundesstaaten verbliebenen Zuständigkeiten optimal nutzen konnte. Erschlossen ist die »Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten« für die Jahre 1884 bis 1913 durch ein sorgfältig redigiertes Register.66 Die davor liegenden Jahre seit der Reichsgründung sind nur über die einzelnen Jahrgänge zugänglich. Diese zeigen zunächst, was von diesem Quellentypus zu erwarten ist und welche stillschweigenden Voraussetzungen mitzudenken sind. Dazu gehört die Tatsache, dass die deutschen Staaten, als sie in den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich eintraten, bereits jeweils über eine komplette Rechtsordnung verfügten, deren Aushöhlung durch die Reichsgesetzgebung erst allmählich und schrittweise begann. Daher unterrichtet die preußische Gesetzessammlung seit 1871 gerade in ihren älteren Ausgaben weniger über die schon seit langem bestehende Normalität des preußischen Landesrechts als über die innovativen Entwicklungsschübe der Landespolitik, während deren Charakterisierung insgesamt erst mit dem Rückblick von 1914 aus möglich ist. Womit der preußische Staat schon zum Zeitpunkt der Reichsgründung und noch lange danach intensiv beschäftigt gewesen ist, war der Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur, und zwar sowohl der Eisenbahnen wie der Chausseen und auch der Wasserstraßen.67 An der Finanzierung dieser Maßnahmen hatten sich auch die kommunalen Körperschaften beteiligt, deren Ver66 Hauptregister zur Preußischen Gesetzsammlung von 1884–1913, Berlin 1914. 67 Für die statistischen Beobachtungen der Jahre 1871 bis 1883 habe ich auf Einzelnachweise verzichtet, weil sich die festgestellten Tendenzen weiterhin auch anhand des 1884 einsetzenden Registers nachvollziehen lassen. Vgl. dazu die folgenden Anmerkungen.

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schuldung der Staat ebenso genehmigen musste wie die in diesem Zusammenhang oft notwendig werdenden Enteignungen. Auch der Ausbau der Großstädte und zumal des Großraums Berlin schlug sich in diversen Erlassen nieder. Neben diesem, viele Jahre ganz eindeutigen Schwerpunkt der preußischen Innenpolitik verdienen die kontinuierlich vorangetriebenen ländlichen Meliorationen und dafür gegründeten Genossenschaften Erwähnung, wie auch überhaupt verschiedene Maßnahmen und auch Gesetze im Bereich der Landwirtschaft, Fischerei und Jagd. Daneben fällt die Vermehrung der Brandversicherungen und die Genehmigung von Bankstatuten auf, während sonstige Gewerbezweige nur noch selten in Erscheinung treten, wohl eine Folge der dafür von Anbeginn etablierten Reichskompetenz. In bescheidenem Umfang forderte das Armenwesen, das traditionell den Kommunen anvertraut war, die Aktivität des preußischen Gesetzgebers heraus. Und ebenso scheint der Unterrichtsbetrieb an Schulen und Hochschulen noch in unauffälligen Bahnen zu verlaufen. Einen gewissen Raum beanspruchten natürlich normative Regelungen für Verwaltung und Justiz, Staatshaushalt, Staatsschulden und Beamte. Sie stellen gleichsam das Betriebssystem des Staates dar, das vom Reich nicht ersetzt wurde und daher nicht nur für die Landesgesetzgebung, sondern auch für den Vollzug der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten seine Bedeutung stets behalten hat. Die Direktiven für die Staatsverwaltung nehmen auch in der durch das erwähnte Register erfassten Zeit seit 1884 viel Raum ein. Für das Königtum ist eine eigene, kreative Rolle, die es bis zur Jahrhundertmitte noch spielen konnte, nur noch selten festzustellen.68 Es tritt noch mit verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Formalakten in Erscheinung, wie der Einberufung und Auflösung des Landtags, und sonst häufig mit ohnehin notwendigen Ernennungen und Bestätigungen sowie bei der Auflösung von Gemeindevertretungen oder bei der Änderung von Gemeindegrenzen – Vorgängen also, die wohl von einer allerhöchsten Autorität gedeckt sein sollten.69 Umso häufiger wurden Vorschriften über die Zuständigkeit der Ministerien70 und für die regionalen Behörden erlassen, also

68 Vgl. aber Bernhard Mann, Zwischen Hegemonie und Partikularismus. Bemerkungen zum Verhältnis von Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen 1867–1918, in  : Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1948 bis zur Gegenwart, hrsg. von G. A. Ritter, 1983, S. 76–89, 86. 69 Hauptregister (wie Anm. 66), S. 476–480. 70 Ebd., S. 575–582.

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für die Oberpräsidenten,71 Regierungspräsidenten72 und Landräte,73 für die Gerichte mit der Anpassung der Gerichtsorganisation an die Reichgesetzgebung,74 für die Gemeinden75 und sonstigen Landesbehörden. Von selbst versteht sich der Erlass der Ausführungsgesetze zur Reichsgesetzgebung.76 Gesellschaftlich relevante Politikfelder sind weiterhin in erster Linie die Eisenbahnanlagen, ihr Betrieb und die dafür notwendigen Enteignungen,77 der Chausseebau mit denselben Begleiterscheinungen samt der Erhebung von Chausseegeldern,78 Regelungen für Deichverbände79 und Wassergenossenschaften80. Auch das Wachstum der Städte81 und die Aktivitäten der Staatsbauverwaltung82 haben ihre Spuren hinterlassen, dagegen nur in geringem Umfang das in dieser Epoche so wichtig genommene Militärwesen. Nur Enteignungen für die Zwecke der Armee wurden im Gesetzblatt bekanntgemacht.83 Andere »moderne« Themen, wie die Aktiengesellschaften,84 die Banken85 oder die Unfallversicherung86 begegnen im preußischen Gesetzblatt viel seltener. Dagegen beanspruchen relativ viel Raum die seit jeher mit dem preußischen Staatswesen verbundenen Verhältnisse, wie die Gesetzgebung für die evangelische, in geringerem Maße auch für die katholische Kirche,87 für die »Landschaften«, also ritterschaftlichen Kreditvereine,88 das Schulwesen,89 die polizeilichen Materien90 für Bergbau,91 Jagd92 und Fische71 Ebd., S. 616–619. 72 Ebd., S. 689–694, Provinzen  : S. 668–675. 73 Ebd., S. 523–525. 74 Ebd., S. 351–355, 19–22, Verwaltungsgerichte  : S. 846–849, 621 f. 75 Ebd., S. 339–347, Kreise  : S. 499–508. 76 Ebd., S. 40. 77 Ebd., S. 212–283  : rund 1700 Regelungen  ! 78 Ebd., S. 115–162  : über 350 Einzelakte mit oft mehreren Projekten. 79 Ebd., S. 172–181  : 278 Einzelfälle. 80 Ebd., S. 870–931  : über 1900 Einzelfälle  ! Zum Wassergesetz S. 932–935. 81 Ebd., S. 784–786. 82 Ebd., S. 775–777. 83 Die preußische Armee war Teil des »Reichsheeres« und daher im Reichshaushalt etatisiert, vgl. u. Anm. 110. 84 Hauptregister (wie Anm. 66), S. 9. 85 Ebd., S. 45. 86 Ebd., S. 829 f. 87 Ebd., S. 461–470 88 Ebd., S. 526–532. 89 Ebd., S. 753–755, Lehrer  : S. 540 f. 90 Ebd., S. 654–658. 91 Ebd., zugehörige Stichworte S. 59–65. 92 Ebd., S. 436–438.

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rei93. Weitere Stichworte, die uns schon aus den Gesetzblättern aus dem ersten Jahrzehnt nach der Reichsgründung bekannt sind, wie das Armenwesen oder die Meliorationen ließen sich hinzufügen. Die Regierung auch des größten Bundesstaates richtete im Deutschen Reich ihr Augenmerk offensichtlich ganz überwiegend auf die Verwaltung und Pflege des überkommenen Besitzstandes und das damit verbundene traditionale Wertesystem. Eine große Ausnahme bildete nur der geradezu rasante Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur. Ein kurzer Blick auf die bayerische Gesetzgebung bestätigt und ergänzt das bisher gewonnene Bild. Im frühen 20.  Jahrhundert, als die für die folgenden Jahrzehnte maßgebenden Strukturen des Staates entstanden, war das Königreich Bayern weiterhin intensiv mit dem Ausbau seiner Verwaltung beschäftigt und auch die Eisenbahn blieb ein hervorragendes politisches Thema, nun nicht mehr wegen der Erweiterung des Schienennetzes, sondern in Hinblick auf die Aufgaben des laufenden Betriebes. Im Übrigen beginnen sich auch sonst vielfältige Aufsichtsbedürfnisse des Staates abzuzeichnen, einerseits in Kontinuität mit dem paternalistischen Selbstverständnis der Monarchie, andererseits in Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Gesellschaft. Außer der Behandlung alter Probleme, wie der Abwehr von Viehseuchen, mussten Regeln für viele neue Produkte und Techniken gefunden werden, die letztlich auch dann, wenn sie reichsweit zu beachten waren, doch die Verwaltungen der Einzelstaaten beschäftigten. Das »Bayerische Gesetz- und Verordnungsblatt«, dem solche Informationen zu entnehmen sind,94 gewährt aber auch Einblick in Hintergrundfragen finanzpolitischer Art. Nicht anders als in Preußen mussten sich viele Kommunen verschulden, um die offenbar rasch anwachsenden Aufgaben zu bewältigen. Und auch die staatlichen Genehmigungen der von den Banken oft in Umlauf gebrachten Schuldverschreibungen auf den Inhaber deuten auf einen Kapitalbedarf hin, der sich durch die Einlagen allein nicht befriedigen ließ. 4. Das Zeugnis der Haushaltspläne

Einen genaueren Einblick in die Verwaltungspraxis sollten Quellen gewähren, denen der finanzielle Aufwand für die einzelnen Zweige der vom Staate betriebenen Politik zu entnehmen ist. Das preußische Gesetzblatt publizierte jedes Jahr den Staatshaushalt der Monarchie. Auch für diese Möglichkeit, aussagekräftige Kenntnisse über die Tätigkeit des Staates zu gewinnen, gilt, dass 93 Ebd., S. 311 f. 94 Durchgesehen wurden die Jahrgänge 1901, 1903, 1905, 1910, 1913.

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eine monographische Analyse angemessen wäre. Immerhin geben die Haushaltspläne auch schon Auskunft auf unsere Fragen, wenn sie nur exemplarisch herangezogen und nicht umfassend finanzpolitisch und finanzwissenschaftlich analysiert werden. Denn sie weisen eine gewisse Gleichförmigkeit ohne dramatische Veränderungen auf. Es kann daher für unsere Zwecke genügen, den Staatshaushalt im Abstand von fünf Jahren unter die Lupe zu nehmen. Allerdings hat man ihn seit den 1880er Jahren nur in gestraffter Form publiziert, worunter die Vergleichbarkeit der Details leidet. Während sich die Etats der Jahre 1875 und 1880 im Gesetzblatt auf nicht weniger als 60 Seiten ausbreiteten, benötigten die späteren preußischen Budgets nur noch jeweils 16 Seiten. Daher empfiehlt es sich, den Blick zunächst auf das ausführlichere Zahlenwerk der älteren Zeit zu richten.95 Der Gesamtetat des preußischen Staates belief sich im Jahre 1875 auf 694,5  Millionen Mark.96 Sehen wir uns zunächst kurz die Einnahmen an, die über die Staatstätigkeit viel weniger auszusagen scheinen als die Ausgaben, dann können wir eine erste, aus moderner Sicht jedenfalls verblüffende Beobachtung festhalten. 365  Millionen oder 52  Prozent seiner Einnahmen gewann Preußen damals aus Eigenbetrieben, nämlich aus Domänen und Forsten 79,5 Millionen,97 aus Bergbau, Hütten- und Salinenbetrieben 114 Millionen und noch mehr, nämlich 172  Millionen Mark aus dem Betrieb der Eisenbahnen.98 Und alle diese Unternehmenszweige arbeiteten, wie der Vergleich mit den für sie ausgegebenen Beträgen zeigen wird, jedenfalls per Saldo mit Gewinn. Würde man die Gewinne aus der Preußischen Bank mit 8 Millionen, aus der Lotterie mit 4 Millionen und zahlreiche Nebeneinnahmen hinzurechnen, wäre der selbst erwirtschaftete Ertrag des Staates noch höher. Demgegenüber betrugen die Einnahmen aus direkten Steuern nur 147,7 Millionen Mark oder 21,1 Prozent und die aus indirekten Steuern sogar nur 46,1 Millionen oder 6,6 Prozent des Budgets.99 1880 hatten 95 Vgl. zu den einzelnen Ministerien in der Deutschen Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25), unter dem mehrere Beiträge erfassenden Rubrum »Die Entwicklung der Verwaltung in den Bundesstaaten« den Beitrag von Wolfgang Rüfner, Preußen, S. 678–714. 96 Gesetz-Sammlung für die Königlich Preußischen Staaten 1875, S.  105–164. Die nach dem Komma aufgeführten Hunderttausend sind jeweils auf- oder abgerundet. 97 Gesetz-Sammlung 1875, S. 105. Sie gehörten zum Ressort des Finanzministeriums und umfassten auch zugehörige Kapitaleinkünfte und kleinere Nebeneinnahmen. Der größte Teil dieser Einkünfte diente durch Anweisung an den Kronfideikommiss-Fond dem Unterhalt des Königshauses. 98 Gesetz-Sammlung 1875, S. 110 ff. Die Einkünfte aus den staatlichen Industrien und Eisenbahnen ressortierten im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. 99 Ebd., S. 106 f.

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sich diese Relationen nur wenig verändert.100 Bei einem Haushaltsvolumen von jetzt 799  Millionen Mark beliefen sich die Einnahmen aus allen Eigenbetrieben auf 371,5 Millionen oder weiterhin auf 46 Prozent, die direkten Steuern auf 161,5 Millionen oder 20 Prozent, während die indirekten Steuern nunmehr schon 93,7 Millionen oder 11,7 Prozent der gesamte Staatseinnahmen erbrachten. Dieser Befund ruft in Erinnerung, dass die für das Finanzgebaren des Staates bis weit in das 19. Jahrhundert maßgebende Kameralwissenschaft die Steuern nur als einen subsidiären Beitrag zur Bestreitung der Staatskosten begriff, die im Wesentlichen aus den Erträgen der Domänen und Regalien gedeckt werden sollten.101 Daher sah sich der Staat zum Unternehmer im Bergbau und nun auch für die Eisenverhüttung und den Betrieb der Eisenbahnen berufen. Das Interesse der Politik hatte sich aus der Perspektive der deutschen Einzelstaaten weiterhin vorrangig auf die Ressourcen des eigenen Landes zu richten. Sie waren nach der Erfahrung vieler Generationen die Grundlage des allgemeinen Wohlstandes gewesen und sollten es auch im Zeitalter moderner Technik bleiben. Die in den Gesetzblättern festzustellenden landespolitischen Schwerpunkte entsprechen also weitgehend auch dem fiskalischen Denken der Zeitgenossen. Noch 1910 erzielte Preußen 64  Prozent seiner Einnahmen aus den Erträgen seiner Eigenbetriebe, in absoluten Zahlen jetzt viel mehr, nämlich 2,5 Milliarden bei einem Gesamtetat von 3,9 Milliarden Mark. Die Steuereinnahmen waren zwar auf rund 640 Millionen gestiegen, machten jetzt aber nur noch einen Anteil von 16,4 Prozent aus.102 Die Ausgaben spiegeln dieses Verständnis der von den Bundesstaaten betriebenen Politik exakt wider. Sie dienten 1875 zu einem großen Teil, nämlich mit rund 45  Prozent dazu, die erwähnten Einkünfte aus den staatlichen Eigenbetrieben mit ihrem sehr zahlreichen Personal zu erwirtschaften.103 1910 muss der Staat über 2 Milliarden oder 53,7 Prozent seiner Gesamteinnahmen dafür aufwenden. In beiden Jahren – und stets in den dazwischen liegenden Etats im Abstand von fünf Jahren  – warfen die Eigenbetriebe im Ganzen gesehen Gewinne ab. Der daneben gering erscheinende, aber doch auch auffallende zweitgrößte Ausgabenposten deckte 1875 mit rund 52 Millionen Mark oder 7 Prozent des Etats die Kosten des Chaussee- und Eisenbahnbaues ab. Unter den 100 Gesetz-Sammlung 1880, S. 93–156. 101 Hermann Schulz, Das System und die Prinzipien der Einkünfte im werdenden Staat der Neuzeit, dargestellt anhand der kameralwissenschaftlichen Literatur (1600–1835), 1982, insbes. S. 334. 102 Preußische Gesetzessammlung (so ihr jetziger Name) 1910, S. 77–93. 103 Gesetz-Sammlung 1875, S. 117 ff.

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übrigen Zweigen der Leistungsverwaltung darf das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten mit seinem Aufwand für die Universitäten, Gymnasien und Elementarschulen, für Kunst und Wissenschaft unser besonderes Interesse beanspruchen. Der Anteil dieser Kosten an den Gesamtausgaben in Höhe von über 29 Millionen Mark oder gut 4 Prozent im Jahre 1875 steigerte sich mit wachsenden Staatseinnahmen im Jahre 1880 auf 40 Millionen Mark oder 5 Prozent des Budgets,104 1885 auf 46 Millionen, aber nur 3,9 Prozent des Budgets,105 1890 sprunghaft auf 86 Millionen,106 1895 auf 101 Millionen,107 1900 auf 132  Millionen,108 1905 auf 156 Millionen,109 was Anteilen am Staatshaushalt zwischen 5,3 Prozent und 5,8 Prozent entsprach. 1910 aber ist auf dem Gebiet von Unterricht und Wissenschaft nochmals eine sprunghafte Steigerung auf 375  Millionen Mark oder 9,6  Prozent des Gesamtetats festzustellen. Hinzu kamen jeweils Ausgaben für landwirtschaftliche und tierärztliche Lehranstalten, die sich seit 1875 von 1,2 Millionen bis 1900 auf 2,8 Millionen erhöhten, 1905 mit der Errichtung von tierärztlichen Hochschulen auf 5,6 Millionen Mark stiegen und 1910 mit 9,2 Millionen zu Buche schlugen. Bedeutende Beträge flossen auch stets in die Förderung der Landwirtschaft, in Meliorationen und ähnliche Aufgaben. Soziale Zwecke im engeren Sinne dagegen, wie Kosten für Armenanstalten, spielten noch eine geringe Rolle. Denn das Armenwesen war weiterhin eine kommunale Aufgabe, die im Staatshaushalt wenig Spuren hinterließ.110 104 Ebd. 1880, S. 95–156. 105 Ebd. 1885, S. 74–89. 106 Ebd. 1890, S. 104–119. 107 Ebd. 1895, S. 50–65. 108 Ebd. 1900, S. 58–73 109 Ebd. 1905, S. 152–167. 110 Nur am Rande ist festzuhalten, dass die Kosten für die preußische Armee das Reich zu tragen hatte. Die Ausgaben für das Reichsheer machten 1875 mit 406,5  Millionen Mark 86  Prizent des Reichshaushalts in Höhe von 474,2 Millionen aus, vgl. Reichs-Gesetzblatt 1875, S. 325–376. Bis 1910 waren die Kosten für das Militär auf über 1115 Millionen Mark gestiegen, verschlangen aber vom Reichshaushalt in Höhe von jetzt 2663  Millionen nur noch 41,9  Prozent, vgl. Reichs-Gesetzblatt 1910, S. 525–557. Denn neben dem Reichheer war es vor allem die Post- und Telegraphenverwaltung des Reiches, die Kosten in Höhe von 624 Millionen Mark verursachte und auch die anderen Zweige der Reichsverwaltung wiesen ein deutliches Wachstum auf. Die Finanzierung der vom Reich zu tätigen Ausgaben hinterlässt einen fragilen Eindruck. Neben den Zöllen, den Matrikularbeiträgen der Bundesstaaten und der wichtigen Einnahmequelle aus postalischen Diensten spielen Steuern auf Rübenzucker, Salz oder Tabak von Anbeginn eine wichtige Rolle  ; bis 1910 kam noch die Besteuerung von Schaumweinen, Branntwein, Zündwaren, Spielkarten und ähnlichen Produkten hinzu.

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Zeigte also unser flüchtiger Blick auf die Politikfelder des größten deutschen Bundesstaates einerseits deren bewahrende, sozusagen »konservative« Zielsetzung, so entpuppt sich die Bildungs- und Wissenschaftspolitik als ein Gebiet, auf dem sie sich dynamisch entfalten konnten – vermutlich zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung 1867 so nicht vorhergesehen. Es waren zweifellos die Herausforderungen des wissenschaftlichen Fortschritts, die auch in den mittleren Rängen der Gesellschaft einen Druck zum Ausbau des Schulwesens, der Fachschulen, der technischen und Realschulen insbesondere, erzeugten. Und dafür besaßen die Bundesstaaten die genuine Kompetenz – soweit nicht das Reichsoberhaupt durch eigenwillige Entscheidungen eingriff, wie Kaiser Wilhelm  II. als König von Preußen mit der Verleihung des Promotionsrechts an die Technische Hochschule Charlottenburg, was andere deutsche Regierungen zur Nachfolge zwang.111 Der bayerische Etat bietet, soweit er vollständig veröffentlicht wurde, ein ähnliches Bild.112 Im Jahre 1904 zum Beispiel bezog der Staatshaushalt aus Eigenbetrieben 296  Millionen Mark oder 67  Prozent seiner Einnahmen, deren Erwirtschaftung einen Aufwand von 221  Millionen oder 50  Prozent der Einnahmen erforderte, woraus sich ein Plus von 75 Millionen ergab. Die Ausgaben für Erziehung beliefen sich, ähnlich wie zu dieser Zeit in Preußen, auf 5,9  Prozent des Budgets, hier 26  Millionen Mark.113 Die bayerische Verwaltung veröffentlichte außerdem jedes Jahr ausführliche Übersichten über die in allen Regierungsbezirken ( den sog. »Kreisen«) ausgegebenen Beträge. An ihnen ist die Breite des politischen Engagements im Schulwesen und für wohltätige Einrichtungen abzulesen. An der Spitze einer solchen Liste – zum Beispiel für Oberbayern im Jahre 1901114  – stehen die Personalkosten für das Lehrpersonal, einschließlich der Zuschüsse für bedürftige Praktikanten und Zahlungen an Hinterbliebene. Gewerbliche und Landwirtschaftsschulen kommen hier gleichfalls vor, ebenso wie zahlreiche Förderungsmaßnahmen für den ländlichen Raum bis hin zur Unterstützung der Bienenzucht. Es folgen dann viele Positionen, die schon die Aufgaben des modernen Sozialstaates erkennen lassen, wie Ausgaben 111 Wolfgang König, Die Technikerbewegung und das Promotionsrecht der Technischen Hochschulen, in  : Karl Schwarz (Hg.), 1799-1999. Von der Baukademie zur Technischen Universität Berlin, 2000, S. 123-129, 128. 112 Wilhelm Volkert, Bayern, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 25 ), S. 714–733. 113 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1904, S. 12–16. 114 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern 1901, S. 258–273. Die Liste für das dünner besiedelte Unterfranken zum Beispiel fiel ebd. S. 352–362 weniger umfangreich aus, enthält aber die gleichen oder ganz ähnliche Verwendungen der staatlichen Mittel.

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für Taubstummen- und Blindenanstalten, Krankenhäuser, für verwahrloste und verlassene Kinder, für Suppenanstalten, an Vereine mit vielfältigen sozialen Zielen, zum Beispiel für Obdachlose, Lehrlinge, Arbeiterinnen. Es scheinen nicht zuletzt Initiativen aus der Gesellschaft gewesen zu sein, die diese Ausweitung der staatlichen Fürsorge über den traditionellen Rahmen der kommunalen Armenhilfe hinaus bewirkten. Nicht nur das Bildungswesen, auch die Sozialfürsorge im weitesten Sinne bot den Bundesstaaten verfassungsrechtlich legitime, aber auch zukunftsweisende politische Tätigkeitsfelder. Das änderte am Zuschnitt ihrer Kompetenzen insgesamt als der für die Bewahrung und den Schutz der ererbten Gesellschaftsstrukturen verantwortlichen Staaten nichts – Staaten also im traditionellen Sinne des Wortes, denen der neuentstandene Interventionscharakter der Staatlichkeit im Grunde noch fremd war. Doch gerade dieser »Konservativismus« der Bundesstaaten erleichterte das Einleben im neuen Nationalstaat. Die Eindrücke der hier mitgeteilten Nachforschungen vertragen sich gut mit der These von Dieter Langewiesche, es habe der föderative Nationalismus wesentlich dazu beigetragen, daß der neue Nationalstaat in der deutschen Gesellschaft breit und schnell akzeptiert wurde. Man wuchs in den Nationalstaat hinein, indem man sich als Föderalist oder Regionalist bekannte.115

115 Dieter Langewiesche, Föderalismus und Zentralismus im deutschen Kaiserreich  : Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur  – eine Skizze, in  : Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, hrsg. von O. Janz/P. Schiera/H. Siegrist, 2000, S. 79–90, 89.

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Das Deutsche Reich 1871–1919.

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Föderalismus in der Weimarer Republik I. Der Ausgangspunkt II. Pragmatischer Unitarismus, pragmatischer Föderalismus III. Erste Reichskonferenz am 25. November 1918 IV. Der Allgemeine Rätekongress im Dezember 1918 V. Fürstenbund 1871, Staatenbund 1919? VI. Zweite Reichskonferenz am 25. Januar 1919 VII. Vorläufige Verfassung vom 10. Februar 1919 VIII. Hugo Preuß: Kompromissvorschläge zum Preußenproblem IX. »Reich und Länder« in der Weimarer Verfassung X. Neugliederung des Reichsgebiets XI. Reichsexekution XII. Reichsreformbestrebungen XIII. Verfassungsnorm und Verfassungspraxis: Der Reichsrat XIV. Fazit

I. Der Ausgangspunkt

Föderalismus ist keine deutsche Unart, sondern eine deutsche Eigenart, hat Theodor Heuss einmal bemerkt. Die vorhergehenden Beiträge behandeln die epochenspezifischen Exempel von der fränkischen Geschichte bis zum Ende des Bismarckreiches 1918. Seit Alexis de Tocquevilles »Ancien Régime et la Révolution« wissen wir, dass selbst eine ebenso radikale wie fundamentale Revolution wie die Französische von 1789 langfristige Entwicklungen und Kontinuitäten nicht ausschließt, die den Bruch überdauern und den Zäsurcharakter relativieren. Das war bei der deutschen Revolution 1918/19 nicht anders, was insbesondere in der am Ende des Kaiserreichs sich verstärkenden Parlamentarisierung und in der Umformung und Kontinuität des deutschen Parteiwesens (Gerhard  A. Ritter) deutlich wird. Von einer improvisierten Demokratie, wie das Theodor Eschenburg sah, kann also nur begrenzt die Rede sein. Doch ganz so selbstverständlich war es nicht, dass der Föderalismus die Revolution überdauerte. Welche Möglichkeiten existierten also im Hinblick auf die föderative Tradition der deutschen Geschichte während und nach der Revolution, sofern sie

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damals diskutiert wurden  ? Kurz gesagt  : Die politischen Entscheidungsträger debattierten alle denkbaren Varianten, das heißt erstens die Abschaffung des föderativen Charakters zugunsten eines unitarischen Reichsaufbaus, zweitens die Verschärfung des Föderalismus zum Partikularismus oder gar die Auflösung des Reiches, drittens die modifizierende Beibehaltung einer föderativen Struktur und schließlich viertens die Auflösung des bisherigen Hegemonialstaates Preußen. Den Ausschlag gaben jedoch nicht konzeptionelle Überlegungen der Staatsrechtler, sondern die Machtverhältnisse, die verschiedentlich zu Paradoxien führten. Die Entscheidung zwischen diesen Alternativen fiel in drei Etappen, zunächst während der revolutionären Übergangsphase vom 9.  November 1918 bis zum Zusammentritt der am 19.  Januar gewählten konstituierenden Nationalversammlung am 6. Februar, dann mit der dort beschlossenen Übergangsverfassung vom 10. Februar und schließlich in den eigentlichen Verfassungsberatungen der in Weimar tagenden Nationalversammlung bis Ende Juli 1919. Beteiligt waren zunächst die revolutionären Organe im Reich und in den Einzelstaaten sowie die Parteien. Was wollten die revolutionären Kräfte in der Umbruchsphase 1918/19  ? Mit der Programmatik der Parteien müssen wir uns nicht lange aufhalten  : Beide die Revolutionsregierung – den sog. Rat der Volksbeauftragten – bildenden Parteien, die SPD und die USPD sowie die in Berlin für einige Wochen im November und Dezember 1918 mächtigen »Revolutionären Obleute« und andere radikale linkssozialistische Kräfte waren unitarisch orientiert. In der nach den Wahlen auf der Basis der Übergangsverfassung am 13. Februar 1919 gebildeten Reichsregierung des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann waren zwei der drei sog. Weimarer Parteien, SPD und DDP, programmatisch Unitarier. Nur die katholische Zentrumspartei hielt am Föderalismus fest, zumal diese Partei ausgeprägte regionale Schwerpunkte besaß und in anderen Regionen überhaupt nicht vertreten war. Ihr sich am 12. November 1918 abspaltender bayerischer Flügel, die BVP, war ohnehin dezidiert föderalistisch, in Teilen sogar partikularistisch.1 Die Mehrheit für eine unitarische Lösung unterlag also keinem Zweifel. Doch war die ideologische Programmatik der SPD das eine und die Pragmatik 1 Vgl. zur Übergangsphase und zu den Parteien insges. mit weiterer Literatur  : Horst Möller, Die Weimarer Republik. Demokratie in der Krise, 11. erw. u. aktualisierte Aufl. 2018. Prägnanter Abriss der Verfassungsgeschichte vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik bei Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. erw. Aufl. 2005, III. Teil, 3. Kapitel, 4. Teil, 1. Kapitel (jetzt 6. Aufl. 2009). – Nach Abschluss des vorliegenden Textes erschien  : Jörg-Detlef Kühne, Die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung, 2018.

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der Macht das andere. Und wie fragte der Philosoph Max Scheler so treffend, als man ihn auf den Widerspruch seiner ethischen Maximen und seines praktischen Verhaltens hinwies  : Geht etwa der Wegweiser da hin, wohin er zeigt  ? II. Programmatischer Unitarismus, pragmatischer Föderalismus

Warum besaß der faktische Föderalismus gegenüber dem programmatischen Unitarismus 1918/19 trotz der Mehrheitsverhältnisse dennoch Chancen  ? Ein entscheidender Grund liegt darin, dass die Revolution 1918 eine Revolution in den Einzelstaaten gewesen war, was sich allein schon daran zeigt, dass sie in Bayern bereits am 7. November ausbrach, zwei Tage früher als in Preußen und der Reichshauptstadt Berlin. Die Folge waren vergleichsweise eigenständige Revolutionsregierungen in den Einzelstaaten, in einigen fanden bereits im November Landtagswahlen statt, was linkssozialistische Revolutionäre als »konterrevolutionär« verurteilten. Der Berliner »Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte« hatte am 10. November sogar zwei Revolutionsregierungen ernannt, die des Reiches und die Preußens, um die preußische Verwaltung und Polizei möglichst schnell der Revolutionsregierung unterstellen zu können.2 Diese neue preußische Regierung ersuchte daraufhin nur wenige Tage später, am 14.  November, die Bevollmächtigten zum Bundesrat, ihre Tätigkeit bis auf Weiteres fortzusetzen. Diese Doppelung präfigurierte den späteren preußisch-deutschen Dualismus. Die stärkste politische Persönlichkeit der Revolution war einer der beiden Vorsitzenden der Regierung der Volksbeauftragten des Reiches, Friedrich Ebert, den die Nationalversammlung am 11. Februar 1919 zum vorläufigen Reichspräsidenten wählte. Schon vor Ausbruch der Revolution war der SPD-Vorsitzende Ebert die politisch führende Persönlichkeit, zumal ihn der letzte kaiserliche Reichskanzler Prinz Max von Baden zu seinem Nachfolger ernannt hatte. Dieser Akt war zwar nicht verfassungskonform, stärkte jedoch Eberts Autorität. Schon am 14. November 1918 berief er den liberalen Berliner Staatsrechtslehrer Hugo Preuß zum Staatssekretär des Innern und beauftragte ihn mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs. Der unitarisch orientierte Preuß hielt die bestehende territoriale Struktur mit einem übergroßen, zwei Drittel des Reichsterritoriums und drei Fünftel der Reichsbevölkerung umfassenden Preußen künftig für untragbar. Außerdem rumorte es in einzelnen Provinzen Preußens, die zum nicht geringen Teil »beu2 Horst Möller, Parlamentarismus in Preußen 1919–1932, 1985, S. 44 ff.

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tepreußisch« waren. Dabei ging es nur ausnahmsweise und sehr begrenzt um Separatismus, zum Beispiel im Rheinland. Vielmehr spielte der Wunsch nach Autonomie gegenüber Preußen innerhalb des Reichsverbandes in verschiedenen Provinzen eine Rolle. In der Provinz Hannover beispielsweise, die bis zur Annexion durch Preußen 1866 ein selbständiges Königreich gewesen war, existierte sogar eine eigene Partei, die für eine Trennung eintrat, die Deutsch-Hannoversche Partei. III. Die erste Reichskonferenz am 25. November 1918

Wie unübersichtlich die Situation war, ergibt sich allein schon daraus, dass der unitarisch orientierte USPD-Vorsitzende und mit Ebert Kovorsitzende der Regierung der Volksbeauftragten, Hugo Haase, selbst den Vorschlag einer Reichskonferenz der Ministerpräsidenten machte, die am 25. November 1918 in Berlin stattfand. Dabei musste auch Haase klar sein, dass die versammelten deutschen Ministerpräsidenten das Eigengewicht ihrer Länder stärken würden  : Sie fanden in der Reichskonferenz das erste gemeinsame Sprachrohr während der Revolution.3 Trotzdem bekräftigte Friedrich Ebert in der Eröffnungsrede der Reichskonferenz seinen grundsätzlichen, demokratisch tadellosen verfassungsrechtlichen Vorbehalt, indem er erklärte  : Die endgültige Regelung über das Zusammenwirken der Einzelstaaten mit dem Reiche muß der konstituierenden Nationalversammlung vorbehalten werden […]. Bis dahin wird ein Provisorium für das Zusammenwirken der Einzelstaaten mit der Reichsleitung geschaffen werden müssen. Aufgabe der Reichskonferenz sei, dieses Provisorium zu besprechen.4 Allerdings ließ diese Formulierung durchaus eine föderative Gestaltung der neuen Republik zu. Und man kann hinzufügen  : Die beabsichtigte provisorische Regelung gewann neben der Tradition und der Existenz von einzelstaatlichen Regierungen ein Eigengewicht. Mehrere Ländervertreter machten deutlich, dass ihre Regierungen keine Regelungen durch irgendein Dekret der gegenwärtigen Zentralregierung akzeptieren würden. Scharfe Kritik übten einige Ländervertreter an Preußen  : Man werde keinesfalls die bisherige preußische Diktatur nun in anderer Gestalt akzeptieren.5 3 Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19. Eingel. v. E. Matthias, bearb. von S.  Miller/H. Pott­hoff, 1969, Bd. I, S. 110 und 124 über die Durchführung. 4 Ebd., S. 154. 5 Ebd., S. 188. So der provisorische badische Innenminister Ludwig Haas.

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Der im Prinzip unitarisch orientierte Bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner erklärte, den Separatismus und Partikularismus werde man nur durch eine gegebene Selbstbestimmung der Gliedstaaten überwinden […]. Die Einzelstaaten müßten alle beieinander bleiben und die vereinigten Staaten von Deutschland schaffen, einschließlich von Deutsch-Österreich.6 Eisner ging es also nicht darum, das Reich aufzulösen, sondern mit Hilfe des Föderalismus seine linkssozialistischen Ziele gegen die konsequent demokratische Politik des Sozialdemokraten Ebert durchzusetzen bzw. Druck auf ihn auszuüben. Das von Eisner ausdrücklich bekräftigte Ziel einer Vereinigung mit Deutsch-Österreich, das später von den beiden Nationalversammlungen in Weimar bzw. Wien feierlich erklärt wurde, bedeutete eine Vorentscheidung  : Die Realisierung wäre nur in einem föderativen Staatsaufbau möglich gewesen, hätte doch Österreich nur als Einzelstaat bzw. Bundesland Teil des Reiches werden können.7 Verhindert wurde diese Integration erst in den Friedensverträgen von Versailles bzw. Saint Germain im Juni bzw. September 1919 durch die Siegermächte, während der Verfassungsberatungen wurde diese Option jedoch offen gehalten. Auf der Reichskonferenz setzten sich Friedrich Ebert und seine Anhänger in zwei wesentlichen Punkten durch, zum einen der möglichst baldigen Wahl zur Nationalversammlung, zum anderen mit dem Beschluss  : Alle deutschen Stämme (!) stehen geschlossen zur deutschen Republik. Sie verpflichten sich, entschieden im Sinne der Reichseinheit zu wirken und separatistische Bestrebungen zu bekämpfen.8 Die schärfste Kritik der Linkssozialisten auf der Reichskonferenz vom 25. November lautete, man werde sich die revolutionären Errungenschaften nicht durch die Regierung der Volksbeauftragten kaputtmachen lassen. Diese Abrechnung zielte auf Friedrich Ebert und die mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten, weil USPD und andere linkssozialistische Gruppen keine schnelle Wahl wollten, um erst durch die Revolution Fakten zu schaffen  : Unter anderem sollte eine konsequente Sozialisierung durchgeführt und ein Rätesystem installiert werden. IV. Der Allgemeine Rätekongress im Dezember 1918

Über diese Frage sollte der Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands entscheiden, der vom 16. bis 21.  Dezember 1918 stattfand, 6 Ebd., S. 179. 7 Ebd., S. 169. So Ministerpräsident Ulrich (Hessen). 8 Ebd. S. 199.

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auf dem sich Friedrich Ebert und die sozialdemokratische Mehrheit in allen wesentlichen Fragen gegen die Linke durchsetzte. Die Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung wurde auf den 19. Januar 1919 festgesetzt. Auch auf diesem Allgemeinen Rätekongress wurde über den Föderalismus debattiert. Redner der USPD erklärten, ein bundesstaatliches System gefährde die einheitliche sozialistische Republik.9 Der Austritt der USPD aus der Regierung der Volksbeauftragten am 29. Dezember 1918 vereinfachte das Procedere, weil nun nur die SPD im Reich und in Preußen allein die Revolutionsregierungen bildeten und beide unter der Dominanz von Ebert eng kooperierten. V. Fürstenbund 1871, Staatenbund 1919?

Gelegentlich wurden in der öffentlichen Debatte sogar staatsrechtliche Argumente ins Feld geführt, die eine fortbestehende Reichseinheit in Frage stellten  : Mit dem Sturz der einzelstaatlichen Monarchien sei auch die Grundlage für den Fürstenbund von 1871 entfallen.10 Folglich seien die Einzelstaaten völkerrechtlich souverän geworden, könnten sich also für oder gegen die Reichseinheit entscheiden.11 Gegen solche Interpretationen wandte sich entschieden Hugo Preuß. In seiner Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3. Januar 1919 erklärte er  : Das neue Reich kann selbstverständlich kein Bund der Fürsten und einzelstaatlichen Regierungen sein  ; aber es kann ebensowenig aus einem Bunde der bisherigen Einzelstaaten in ihrer neuen Gestalt als Freistaaten hervorgehen […]. Das Erste und Entscheidende für die politische Lebensform sei vielmehr das Dasein dieses deutschen Volkes selbst als eine geschichtlich gegebene politische Einheit, es gebe keine preußische, bayerische, lippische Nation, sondern nur eine deutsche Nation.12   9 Allgemeiner Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands vom 16. bis 21.  Dezember 1918 im Abgeordnetenhause zu Berlin. Stenographische Berichte, 1919, Sp. 310. 10 Vgl. Präambel der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.  April 1871, in  : Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrsg. von E. R. Huber, Bd. 2 Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1918, S. 290 sowie die die Grundlage bildende Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867, Präambel, vgl. ebd., S. 227. 11 Zum »extremen Föderalismus« Eisners vgl. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V., 1978, S. 1025 ff. sowie zum Problem der Identität des Reiches in staatsrechtlicher Hinsicht vgl. Bd. VI., 1981, S. 24 ff. Vgl. im übrigen  : Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerrats­ protokolle und Dokumente. Eingel. u. bearb. von F. J. Bauer unter Verwendung vonVorarbeiten v. D. Albrecht, 1987. 12 Hugo Preuss, Denkschrift zum Entwurf des allgemeinen Teils der Reichsverfassung vom 3.  Ja-

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VI. Zweite Reichskonferenz am 25. Januar 1919

Auf der zweiten Reichskonferenz am 25.  Januar 1919 kündigte Ebert an, die Berliner Revolutionsregierung werde künftig eine engere Fühlung zwischen der Reichsleitung und den Vertretern der Freistaaten in allen politisch wichtigen Fragen der Reichspolitik herbeiführen.13 Inzwischen hatten sich die Länderregierungen aber so fest etabliert und waren teilweise bereits durch Landtagswahlen legitimiert, dass sie Eberts wiederholten Hinweis auf die Entscheidungsbefugnis der Nationalversammlung zurückwiesen. Inzwischen galt dies auch für die preußische Regierung. Der preußische Justizminister Wolfgang Heine betonte einen Tag vor der am 26. Januar stattfindenden Wahl zur Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung  : Wäre die Revolution von einer Zentralstelle ausgegangen, die […] ein einheitliches deutsches Gefühl vorgefunden hätte, so wäre es möglich gewesen, zu einem zentralisierten Deutschland zu kommen. Aber die Revolution hat als Reihe lokaler Revolutionen begonnen, und wir sollen nur das zusammenfassen, was sich da von selbst gestaltet hat.14

VII. Vorläufige Verfassung vom 10. Februar 1919

Als am 10. Februar 1919 die konstituierende Nationalversammlung das »Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt« beschloss, wurde die tatsächliche Entwicklung nun auch verfassungsrechtlich bestätigt, die Vorläufigkeit dieser Übergangsverfassung änderte nichts daran, dass damit das Prinzip einer föderativen Ordnung nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. In den §§ 2 und 3 wurde ein Staatenausschuss als Vertreter der deutschen Freistaaten festgeschrieben, dem ein Zustimmungs- bzw. Verweigerungsrecht von Vorlagen der Reichsregierung an die Nationalversammlung zustand, § 4 Abs. 2 bestimmte, dass Reichsgesetze durch Übereinstimmung zwischen der Nationalversammlung und dem Staatenausschusse zustande kommen. Konnte es für diese Regelung in der endgültigen Vernuar 1919, in  : ders., Staat, Recht und Freiheit, 1926, ND mit einem Geleitwort v. T. Heuss, 1964, S. 368–394, hier S. 370 f. 13 Unter Freistaat wurde nichts anderes als Republik verstanden, was Hugo Preuß später in der Nationalversammlung nochmals bekräftigte. 14 Aufzeichnung der Besprechung vom 25. Januar 1919, zit. n. Möller (wie Anm. 1), S. 164.

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fassung noch Modifikationen geben, so nicht in Bezug auf den § 4 Abs. 1, in dem es hieß  : Die künftige Reichsverfassung wird von der Nationalversammlung verabschiedet. Es kann jedoch der Gebietsstand der Freistaaten nur mit ihrer Zustimmung geändert werden.15 Damit hatten sich die einzelstaatlichen Regierungen durchgesetzt, ohne dass die Reichseinheit in Frage gestellt wurde. Es kam also nun nicht mehr auf das »Ob«, sondern nur noch das »Wie« an. Theoretisch blieb die Frage offen, ob der künftige Föderalismus ohne den Freistaat Preußen oder mit Sonderregelungen für ihn gestaltet werden konnte. VIII. Hugo Preuß: Kompromissvorschläge zum Preußenproblem

Hugo Preuß erkannte bald, dass er sich mit einer radikalen unitarischen Lösung nicht durchsetzen würde, zumal Preußen seit der Landtagswahl und der demokratischen Legitimierung einer Regierung der Weimarer Koalition seinerseits mit Verfassungsberatungen begann und sich bald zu einer sozialdemokratisch geführten Bastion entwickelte. Schnell wurde klar, dass die preußische SPD diese Machtposition nicht aufgeben würde, zumal seit dem 25. März 1919 mit Otto Braun eine der stärksten Persönlichkeiten der Weimarer Sozialdemokratie an der Spitze stand, der seinen vergleichsweise schwachen Vorgänger Paul Hirsch als Ministerpräsident ablöste. In seinem abgeänderten Entwurf verzichtete Hugo Preuß auf die ursprüngliche Konzeption eines dezentralisierten Einheitsstaates und akzeptierte die föderative Struktur des Reiches.16 Doch blieben noch immer verschiedene Varianten für die Lösung des Preußenproblems offen, zumal der § 11 seines Entwurfs eingehendere Neugliederungen zuließ  : erstens die Erklärung Preußens zum Reichsland ohne eine eigene Staatsregierung und ohne eigenes Parlament sowie zweitens die Auflösung in seine Provinzen, denen ein ausschließlich administrativer Selbstverwaltungscharakter zugewiesen werden sollte, was im Übrigen der verbreiteten »Los-von-Preußen«-Bewegung entgegengekommen wäre. Auch korrespondierte eine solche Lösung mit den wissenschaftlichen Interessen von Preuß, hatte er sich doch in verschiedenen Veröffentlichungen mit der kommunalen Selbstverwaltung und ihrem Verhältnis zu Gebietskörperschaften und Staat befasst.

15 Text in  : Huber (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 89 f. 16 Regierung der Volksbeauftragten (wie Anm. 3), Bd. II, I. Abschnitt, S. 249 ff.

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Schon sein modifizierter Entwurf enthielt durch eine Verstärkung der Reichskompetenzen eine Schwächung der Einzelstaaten, die tatsächlich nun mit dem Begriff Bundesstaaten besser benannt sind. Hinzu kam, dass er das Staatenhaus nicht als Vertreter der Landesregierungen, sondern der Landtage konstruierte (§ 26 bzw. in modifizierter Zählung § 32) und schließlich vorsah, dass kein Freistaat mehr als ein Drittel aller Abgeordneten des Staatenhauses stellen dürfte, wodurch die preußische Vertretung als einzige nicht der tatsächlichen Größe des Freistaates entsprochen hätte (§ 27 bzw. § 33). Das sozialdemokratisch geführte preußische Staatsministerium, weitere Länderregierungen, die mit einer Auflösung Preußens auch um ihre Existenz bzw. Länderrechte fürchteten, schließlich der föderalistische Flügel in der Nationalversammlung, angeführt von der Zentrumspartei, die in beiden Berliner Regierungen Koalitionspartner war, trugen zur Rettung Preußens bei, hatte doch der Vorsitzende der Zentrumsfraktion, Adolf Gröber, bereits in seiner Grundsatzrede in der Weimarer Nationalversammlung am 13. Februar 1919 erklärt  : Wir wollen die demokratische Republik auf föderativer Grundlage.17 IX. »Reich und Länder« in der Weimarer Verfassung

In der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 191918 ist der 1. Abschnitt des 1. Hauptteils »Reich und Länder«19 gewidmet, im ersten Satz des Art. 2 WV heißt es  : Das Reichsgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Das in diesem Abschnitt definierte Verhältnis der Länder zum Reich zeigt zweifelsfrei  : Anders als im Bismarckreich handelte es sich nun nicht mehr um Einzelstaaten und einen Bund der Einzelstaaten, sondern einen Bundesstaat mit verstärkter Bundesgewalt und vergrößerten Kompetenzen. In seinem nachgelassenen Kommentar »Reich und Länder« hat Hugo Preuß diesen Sachverhalt klar formuliert  :

17 Die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, Bd. I–IX, hrsg. von E. Heilfron, o. J., hier Bd. I, S. 121. 18 Text in  : Huber (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 129 ff. 19 Grundlegend  : Hugo Preuß, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars zur Verfassung des Deutschen Reiches. Aus dem Nachlaß des Verfassers hrsg. von G. Anschütz, 1928  ; Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis von Gerhard Anschütz, 4. Bearbeitung, 14. Aufl. 1933, insbes. 1,4. und 5. Abschnitt  ; materialreichste Darstellung Huber (wie Anm. 11), Bd. VI, insbes. Kap. III, IX § 27, Kap. XVII  ; problemorientierte moderne Darstellung  : Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, insbes. S. 224–271.

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Die neue Reichsverfassung geht im Gegensatz zur alten nicht von der bündischen Vereinigung der Einzelstaaten aus, sondern vom einheitlichen Gemeinwillen des deutschen Reichsvolks  : Für sie handelt es sich um die Organisation des nationalen Staates, nicht um die Abtretung von Befugnissen bisher ›souveräner‹ Staaten, an eine unter starkem hegemonialen Einfluß stehende Gemeinschaft.20

Ganz offensichtlich verstand Preuß trotz der für ihn schmerzlichen ­Kompromisse die neue Verfassungsordnung als Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands. Die Länder behielten ihre Zuständigkeit in der Kulturpolitik, inklusive Schulund Hochschulwesen, in der Polizeiverwaltung, in Landwirtschaft und Forsten, in Teilen der Wirtschaftsverwaltung mit dem Bauwesen, sofern nicht Kommunen zuständig waren, schließlich besaßen sie Verwaltungshoheit in ihren inneren Angelegenheiten und übten eine umfangreiche Auftragsverwaltung für das Reich aus. Art. 6 der Weimarer Reichsverfassung (WV) führt die Materien auf, für die das Reich die ausschließliche Gesetzgebung erhielt, darunter die Auswärtigen Beziehungen, das Wehrwesen, das Staatsangehörigkeitsrecht, das Münzwesen, das Post- und Fernmeldewesen, das Zollrecht. Art.  7 WV nennt weitere Gesetzgebungsmaterien des Reiches, die es in Anspruch nehmen konnte, aber nicht musste. Dabei bleibt die Methode gegenüber der Bismarck-Verfassung unverändert, da auch in der Weimarer Verfassung die Zuständigkeiten des Reiches aufgezählt werden und sich die der Länder stillschweigend e contrario ergeben.21 Im Zweifelsfall spricht die Vermutung […] für die Kompetenz der Gliedstaaten, wie Gerhard Anschütz bemerkte. Reservatrechte wie in der Verfassung von 1871 enthält die Weimarer Verfassung nicht mehr. Dem Reich stand ferner die Möglichkeit zu, durch Gesetzgebung dem Bedürfnis nach einheitlichen Vorschriften nachzukommen. In einzelnen Rechtsmaterien kam dem Reich daher ein Einspruchsrecht zu, beispielsweise gegen die Erhebungsart von Landesabgaben im Falle von Doppelbesteuerung. In allen Gesetzgebungsmaterien außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeit des Reiches besaßen die Länder das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit das Reich seine Kompetenz nicht in Anspruch nahm (Art. 12 WV). Art. 13 WV bestimmte  : Reichsrecht bricht Landesrecht. Für den Fall von Streitigkeiten über die Frage, ob Landesgesetze mit dem Reichsrecht vereinbar seien, konnten die zuständigen Reichs- bzw. Landesbehörden den Staatsgerichtshof für das Deut20 Preuß (wie Anm. 19), S. 109. 21 Ebd., S. 114.

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sche Reich anrufen. Reichsgesetze wurden von den Landesbehörden ausgeführt, soweit sie nicht etwas anderes bestimmten.22 Diese Regelungen der Art. 14 und 15 WV besaßen insbesondere für den Freistaat Preußen23 besonderes Gewicht, weil dieses Land nach wie vor die umfangreichste und am besten ausgebaute Verwaltung besaß, was sich durch die Personalunion im Reich und im Hegemonialstaat bis zum Ende der Monarchie fortgesetzt hatte. Die Erzberger’sche Finanzreform24 seit September 1919 verkehrte die bisherige Finanzierung in ihr Gegenteil  : War im Bismarckreich das Reich »Kostgänger der Länder« gewesen, so nun  – von begrenzten Landessteuern abgesehen – die Länder Kostgänger des Reiches. Am Ende der Republik verschärfte sich das Problem noch, weil das Reich aufgrund der Dietramszeller Notverordnung25 des Reichspräsidenten die Länder 1931 ermächtigte, die Landeshaushalte ohne gesetzesförmigen Landtagsbeschluss in Kraft zu setzen. Damit wurde der Länderparlamentarismus ausgehöhlt. Wesentlich, wenn auch selbstverständlich war der Art. 17 WV, der die Gleichheit der demokratischen und parlamentarischen Verfassungsordnung von Reich und Ländern regelte  : Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben. Die Volksvertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung.

Diese Bestimmungen sollten die auf Reichsebene seit dem 28.  Oktober 1918 erfolgte Parlamentarisierung für die Länder ebenso zwingend vorschreiben wie das Reichstagswahlrecht und natürlich verhindern, dass innerhalb der Weimarer Republik einzelne Länder die Monarchie wieder einführen könnten. Allerdings ließ der Parlamentarismus unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten zu. So gab es in einigen Ländern Staatsoberhäupter, in den meisten jedoch nicht. Einen grundsätzlichen Unterschied zur Reichsverfassung bildete 22 Vgl. dazu Reinhard Mußgnug, Die Ausführung der Reichsgesetze durch die Länder und die Reichsaufsicht, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh, Bd. 4, 1985, S. 330–348. 23 Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 22), XIII. Kapitel – Die Verwaltung in den Ländern des Reiches, u. a. Horst Möller, Preußen, S. 540–557. 24 Vgl. zusammenfassend Karl M. Hettlage, Die Finanzverwaltung, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte (wie Anm. 22), Bd. 4, S. 177–200, hier insbes. S. 177 f. 25 Möller (wie Anm. 2), S. 446 ff.

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die preußische Lösung ohne Staatsoberhaupt, weil sie dessen Kompetenzen auf andere Verfassungsorgane übertragen musste. Diese Verfassungsstruktur wurde allerdings erst nach längerem Ringen und nicht zuletzt aus machtpolitischen Gründen realisiert. Da es insbesondere die SPD-Führung auf Reichsebene, vor allem Friedrich Ebert, für problematisch hielt, wenn in Berlin zwei Staatsoberhäupter nebeneinander amtierten, verzichtete die Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung entgegen der ursprünglichen Konzeption in Preußen schließlich auf einen eigenen Staatspräsidenten. Dies erwies sich als Glücksfall für das politische System Preußens. Der sich auf Reichsebene, insbesondere unter der Präsidentschaft Hindenburgs entwickelnde Semiparlamentarismus (Karl Dietrich Bracher) mit dem Dualismus von präsidentiellem und parlamentarischem System entfiel in Preußen  : Der Ministerpräsident und der Landtag wurden demgegenüber gestärkt. Der Landtag wählte den Regierungschef und band damit den Amtsantritt und nicht nur die Amtsführung von vornherein an eine parlamentarische Mehrheit. Präsidialkabinette ohne parlamentarische Basis wie im Reich seit 1930 bzw. verschärft seit 1932 waren damit ausgeschlossen. Aus dem Weimarer Föderalismus entwickelten sich also zwei Grundformen des Parlamentarismus, von denen das politische System der Länder, insbesondere Preußens, die konsequentere und stabilere Variante darstellte. Insofern wies die preußische Lösung auf das Grundgesetz von 1949 voraus, indem dort die Kompetenzen des Bundespräsidenten drastisch reduziert wurden.26 X. Neugliederung des Reichsgebiets

Gemäß Art.  18 WV blieb eine Neugliederung des Reichsgebiets auch nach Verabschiedung der Verfassung möglich, hierin hatte Preuß noch gewisse Hoffnungen gesetzt, zumal das territoriale und demographische Ungleichgewicht nur zu offensichtlich war  : Im Jahr 1921 zählte Preußen auf zwei Drittel des Reichsterritoriums fast 38 Millionen Einwohner, das bevölkerungsmäßig zweitgrößte Land Bayern etwa 7,1 Millionen, das an dritter Stelle folgende Sachsen ca. 4,6  Millionen, Württemberg 2,5, Baden 2,2  Millionen, alle anderen lagen unter 2 Millionen, darunter allein acht Länder mit weniger als einer halben Million Einwohnern, Schaumburg-Lippe wies mit etwas über 46.000 die geringste Einwohnerzahl auf. Gebietsänderungen bzw. Neugliederungen erforderten die 26 Ebd., S. 151 ff., 577 ff.

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Zustimmung der betreffenden Länder, in diesem Fall genügte ein einfaches Reichsgesetz. Ohne ihre Zustimmung bedurfte es allerdings eines verfassungsändernden Reichsgesetzes, also einer Zweidrittelmehrheit. Jedoch musste in jedem Fall der Wille der Bevölkerung durch Abstimmung festgestellt werden. Bei diesem Artikel handelte es sich um einen in letzter Minute, am 31.  Juli 1919 zustande gekommenen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Positionen im Verfassungsausschuss, in der Reichsregierung und dem preußischen Staatsministerium.27 Tatsächlich handelte es sich beim Art.  18 WV um eine der umstrittensten Regelungen der Weimarer Reichsverfassung. Die heftigen Kontroversen belegen, wie ablehnend ein Teil der Nationalversammlung der Fortexistenz Preußens gegenüberstand, zumindest aber in der nun gewählten Form als selbständiges Bundesland. Preuß und andere beurteilten das neue Preußen partiell als »gefährlicher« als das monarchische, da es nun ein demokratisches legitimiertes Parlament und eine durch den Landtag gewählte und ihm verantwortliche Regierung habe. Im Reichsministerium des Innern wurde eigens eine Zentralstelle für die Gliederung des Deutschen Reiches eingesetzt. Doch scheiterten die beiden Fälle, in denen versucht wurde, ohne Zustimmung der beteiligten Landesregierung durch einfaches Reichsgesetz mit Volksabstimmung eine Gebietsänderung herbeizuführen. Beide Initiativen betrafen preußische Provinzen (Oberschlesien und Hannover). Einige Neugliederungen erfolgten auf der Basis des Art. 18 WV. So wurde durch Reichsgesetz vom 30.  April 1920 das Land Thüringen begründet, aufgrund eines weiteren Reichsgesetzes vom 30. März 1928 kam es zu einem Gebietsaustausch zwischen den Ländern Sachsen und Thüringen. Nachdem sich durch Gesetz vom 24.  März 1922 Pyrmont an Preußen angeschlossen hatte, folgte mit Reichsgesetz vom 7. Dezember 1928 auch Waldeck diesem Beispiel.28 Der so umkämpfte Art. 18 WV gewann also insgesamt nur eine begrenzte praktische Bedeutung, die gegen den Freistaat Preußen gerichtete Speerspitze blieb stumpf.

27 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336. Anlagen zu den stenographischen Berichten Nr. 391. Bericht des (8.) Verfassungsausschuss, 1920, S. 429 ff.; Anschütz, Kommentar (wie Anm. 19), Art. 18, S. 143ff. 28 Vgl. Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. unveränderte Aufl. 1964, S. 137 f.

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XI. Reichsexekution

Eine Disziplinierung des Reiches gegen die Länder ermöglichte im Konfliktfall der Art. 48, Abs. 1 WV. Er ermächtigte den Reichspräsidenten, ein Land, das die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt […,] dazu, mit Hilfe der bewaffneten Macht anzuhalten. Dieser Absatz des Art.  48 WV, zu dem das beabsichtigte Ausführungsgesetz nie erlassen wurde, erlaubte die sog. Reichsexekution und gelangte dreimal zur Anwendung, in zwei Fällen durch Reichspräsident Ebert auf Wunsch der Regierung Stresemann in der schweren Krise der Weimarer Republik 1923 gegen die beiden Länder Sachsen und Thüringen. Sie wurden von einer Koalition der in diesen Ländern besonders linksorientiert agierenden SPD mit der KPD regiert. Die ebenso begründete Reichsexekution gegen das ins verfassungsfeindliche rechte Lager abdriftenden Bayern unterblieb, unter anderem weil nicht klar war, ob die Reichswehr gegen ihren bayerischen Teil einsatzbereit war. Außerdem schien es zweifelhaft, ob das Reich aufgrund der aus der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets resultierenden schweren Krise, der Hyperinflation sowie separatistischen Tendenzen überhaupt die notwendigen Mittel haben würde, eine dritte Reichsexekution durchzuführen. Wegen dieses unterschiedlichen Vorgehens gegen Links- und Rechtsextreme verließ die SPD die Regierung Stresemann und ließ damit die Koalition platzen. Da relativ schnell seit der Jahreswende 1923/24 Lösungen gefunden und eine Stabilisierung des Reiches gelang, erwiesen sich die Probleme der Reichsexekution als kurzzeitig29 und belasteten das Reich-Länder-Verhältnis nicht nachhaltig. Anders verhielt es sich mit der Reichsexekution, die Reichspräsident von Hindenburg auf Drängen der Minderheitsregierung des Reichskanzlers Franz von Papen am 20. Juli 1932 gegen die preußische Minderheitsregierung der Weimarer Koalition unter Führung Otto Brauns anordnete.30 Unter dem Vorwand, die Regierung könne die Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleisten, wurde sie amtsenthoben und durch überwiegend deutschnationale Reichskommissare ersetzt. Tatsächlich handelte es sich um einen Vorwand, um die demokratische Regierung Braun loszuwerden und die preußische Machtbastion mit der großen Verwaltung und einer Polizeistärke von 100 000 Mann in die Hand zu bekommen. Tatsächlich keine rechtmäßige Reichsexekution, sondern ein verfassungswidriger politisch motivierter Staatsstreich, bedeutete dieser Gewaltakt 29 Vgl. Huber, (wie Anm 11), Bd. VII, S. 307–329, 373–389. 30 Vgl. Möller (wie Anm. 2), S. 570 ff., dort auch weitere Literatur.

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den Anfang vom Ende der Weimarer Republik. Die Klage der abgesetzten preußischen Regierung vor dem Staatsgerichtshof führte am 25. Oktober 1932 zu einem zwiespältigen Urteil, das ebenso politisch motiviert war  : Der Staatsgerichtshof setzte zwar die Regierung wieder ein, wollte aber den Reichspräsidenten nicht desavouieren und teilte faktisch die Macht. Allerdings sehen einige juristische Kommentatoren und auch schon Carl ­Schmitt, der Prozessvertreter des Reiches vor dem Staatsgerichtshof, den sog. »Preußenschlag« im Kontext der Reichsreformbestrebungen und Papens Bemü­ hungen […] um die Lösung der preußischen Frage, wie es Ernst Rudolf Huber beschönigend formuliert. Dieses Urteil verschleiert jedoch die tatsächlich ausschlaggebende politische Motivation Papens, Hindenburgs und ihrer Entourage.31 Zutreffend hat Otto Kirchheimer den hochpolitischen Charakter dieser Reichsexekution betont und Hans Nawiasky bemerkte  : Sie sei nicht allein durch Formfehler charakterisiert, vielmehr hätten die rechtlich unerlässlichen Voraussetzungen für eine Reichsexekution gegen Preußen gefehlt.32 XII. Reichsreformbestrebungen

Unbestreitbar ging diesem Staatsstreich eine lange Debatte über die Notwendigkeit einer Reichsreform33 voraus, die 1928 zur Einsetzung einer Reich-Länder-Kommission führte und auch einen privaten »Bund zur Erneuerung des Reiches« auf den Plan rief. Wenngleich ihm mit Konrad Adenauer auch ein führender Zentrumspolitiker und mit Gustav Noske ein Sozialdemokrat angehörten, stammte die Mehrheit doch aus dem konservativen politischen Spektrum, darunter auch Gegner der Weimarer Demokratie. Eine zentrale Überlegung, die alle Länder, vor allem die kleineren, betraf, richtete sich auf überschneidende bzw. konkurrierende Zuständigkeiten und Kosteneinsparungen durch Wegfall 31 Vgl. Huber (wie Anm. 11), Bd. VII, S. 1005–1047. 32 Otto Kirchheimer, Die Verfassungslehre des Preußen-Konflikts, in  : ders., Funktionen des Staats und der Verfassung, S. 42–61, hier 48 ff. 33 Informativ und mit zahlreichen Dokumenten versehen ist das Buch des früheren Bevollmächtigten des Freistaats Preußen zum Reichsrat und späteren Politikwissenschaftlers Arnold Brecht  : Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preussens, 1949, engl. Original 1945. Grundlegend außer der großen Zahl weiterer zeitgenössischer Schriften  : Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. I, 1963. Später erschienen zwei weitere materialreiche, aber thematisch stark ausgeweitete Bände, die die Jahre 1930–1933 behandeln  : 1987 bzw. 1992. Vgl. auch Ludwig Biewer, Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik, 1980.

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von Landtagen, Landesregierungen und Landesverwaltungen, die selbst der Reichsratsbevollmächtigte Preußens, Arnold Brecht, als berechtigt ansah.34 Ein offensichtliches Problem bildete schon damals der Finanzausgleich zwischen größeren und kleineren Ländern, zwischen dem Reich und den Ländern.35 Doch darüber hinaus ging es zahlreichen Anhängern der Reichsreform um Preußen, beispielsweise mit dem Ziel, den Freistaat Preußen dem Reich als Reichsland zu unterstellen und dadurch das Reich zu stärken. Das galt insbesondere für den »Bund zur Erneuerung des Reiches«, der im ersten Leitsatz 1928 feststellte, das unorganische Nebeneinander von Reichstag und Reichsregierung auf der einen Seite, Preußischem Landtag und preußischer Regierung mit ihrer Zuständigkeit für zwei Drittel des Reiches auf der anderen Seite [ist] unerträglich geworden.36 Im Gründungsaufruf des Bundes hieß es  : In der Stunde der Gefahr kann es keine andere Lösung geben als Stärkung des Reiches.37 Neben den verfassungsrechtlichen Zielen von Hugo Preuß spielten aber schon in diesen Fällen stets politische Motive eine Rolle. Nicht wenigen Verfechtern dieser Art von Reichsreform war die preußische Machtbasis von SPD, DDP und ihre Koalition mit der Zentrumspartei ein Dorn im Auge. Keiner dieser Pläne wurde realisiert, doch zeigten sie alle, welche Legitimationsdefizite die Weimarer Verfassung in den Augen starker politischer Kräfte aufwies. Kaum einige Jahre praktiziert, wurde die bestehende Verfassungsordnung durch ständig aktualisierte fundamentale Reformpläne delegitimiert. Gerade weil sie keine Mehrheit fanden, war der »Preußenschlag« Papens aber umso offensichtlicher ein Gewaltakt, zumal er im Reichstag selbst nur etwa zehn Prozent der Abgeordneten hinter sich hatte und nur vom – kurzzeitigen – Vertrauen des Reichspräsidenten abhing. Nichts legitimierte gerade einen Reichskanzler mit so minimaler politischer Basis zu einer derart grundlegenden und gewaltsamen vermeintlichen Verfassungsreform. Auch sein Plan, den Reichsrat als Stütze der Reichsregierung zu stärken, scheiterte, weil die Ländervertreter seine

34 Verfassungsausschuß der Länderkonferenz. Beratungsunterlagen, hrsg. von Reichsministerium des Innern, Berlin 1929, S. 305–342. 35 Vgl. das Gutachten von Johannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, 1932. 36 Bund zur Erneuerung des Reiches, Reich und Länder, Berlin 1928, S.7. 37 Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung in der Gegenwart, hrsg. u. bearb. von H. Michaelis/E. Schraepler unter Mitwirkung v. G. Scheel, o. J., Bd. VII, S. 115. Zu den Mitgliedern  : Huber (wie Anm. 11), Bd. VII, S. 672 f.

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Reichskommissare nicht als rechtmäßige Vertreter Preußens anerkannten und so den »Preußenschlag« als Schlag gegen den Föderalismus ansahen.38 XIII. Verfassungsnorm und Verfassungspraxis: Der Reichsrat

Wie funktionierte der Weimarer Föderalismus in der verfassungspraktischen Normalität, dominierten die Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, um mit Heinrich Triepel39 zu reden  ? Schwächte die Existenz Preußens oder die der anderen Länder das Reich  ? War Preußen nicht ohnehin durch spezifische Regelungen geschwächt  ? Welche Bedeutung hatte die konstruktive Mitwirkung der Länder an der Reichspolitik  ? Zur Vertretung der Länder bei Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs wurde nach Art. 60 ein Reichsrat40 gebildet, in dem jedes Land mindestens eine Stimme hatte, bei größeren Ländern entfiel auf 1  Million Einwohner jeweils eine Stimme, die im Reichsrat durch Regierungsmitglieder oder reichsratsbevollmächtigte Spitzenbeamte geführt wurden. Preußen hätte demzufolge drei Fünftel der Reichsratsstimmen haben müssen, also eine überwältigende Mehrheit. Gerade das aber sollte nach dem Willen der Nationalversammlung ausgeschlossen werden und so kam zum Preußenkompromiss eine doppelte Benachteiligung, bestimmte doch Art. 61 Abs. 1 WV, kein Land dürfe über mehr als zwei Fünftel der Stimmen im Reichsrat verfügen. Zur Reduzierung um ein Fünftel kam aber noch eine weitere Schwächung, da gemäß Art. 63 die Hälfte der preußischen Stimmen nicht wie bei den anderen Ländern von der Regierung entsandt und instruiert wurde, sondern von den preußischen Provinzen. Sie hatten zum Teil andere politische Mehrheiten als der Landtag und die preußischen Koalitionsregierungen, das verbliebene preußische Zweifünftel wurde also verschiedentlich, wenn auch selten, gesplittet abgegeben. Um solchen Dissens der preußischen Vertreter und die Schwächung des Landes zu vermeiden, hatte das 38 Zusammenfassung und Literatur bei Horst Möller, Preußen von 1917 bis 1947  : Weimarer Republik, Preußen und der Nationalsozialismus, in  : Handbuch der Preussischen Geschichte, hrsg. von W. Neugebauer, Bd. III, 2001, S. 149–316, hier S. 169–171, 298–308. 39 Heinrich Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, 1923, ND 1965. 40 Bis heute liegt keine eingehende und umfassende geschichtswissenschaftliche Untersuchung des Reichsrats vor, in den einschlägigen Darstellungen der Weimarer Verfassung wird er meist relativ knapp behandelt, erheblich eingehender sind die zeitgenössischen juristischen Werke, mit reichen Literaturangaben  : Carl Bilfinger, Der Reichsrat, in  : Handbuch des deutschen Staatsrechts, hrsg. von G. Anschütz/R. Thoma, Bd. I, 1930, S. 545–577.

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Preußische Staatsministerium im Landtag ein Ausführungsgesetz beschließen lassen, das eine vorherige Absprache vorsah.41 Im Ergebnis wurde die preußische Reichsratsvertretung, auch wenn sie mit Abstand die stärkste eines Landes war, erheblich benachteiligt, wenn auch nicht entrechtet, wie es Otto Braun sah.42 Nach dem Urteil von Arnold Brecht blieb trotzdem der Einfluss Preußens im Reichsrat und damit auf die Reichspolitik sehr groß.43 Der Reichsrat – dessen Vorsitz ein Mitglied der Reichsregierung innehatte – musste über die Führung der Reichsgeschäfte auf dem Laufenden gehalten werden. Vor allem aber besaß er Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung, einschließlich des Reichshaushalts, der als Gesetz beschlossen werden musste. Wie schon in der Übergangsverfassung bedurfte die Einbringung von Gesetzesvorlagen der Reichsregierung der Zustimmung des Reichsrats. Verweigerte er diese Zustimmung, konnte die Reichsregierung die Vorlage trotzdem im Reichstag einbringen, musste diesem aber die abweichende Auffassung des Reichsrats darlegen (Art.  69 WV). Der Reichsrat konnte auch seinerseits Gesetzesvorlagen beschließen, doch galt hier das umgekehrte Verfahren  : War die Reichsregierung nicht einverstanden, musste sie den Gesetzentwurf trotzdem einbringen, jedoch ihre Ablehnungsgründe dem Reichstag erläutern. Handelte es sich bei den genannten Regelungen um Verfahrensfragen, so beim Art. 74 WV um ein materielles Recht  : Dem Reichsrat stand ein Einspruchsrecht gegen vom Reichstag beschlossene Gesetze zu. Wenn nach nochmaliger Vorlage keine Übereinstimmung zustande kam, konnte der Reichspräsident einen Volksentscheid anordnen. Verzichtete er darauf, galt das Gesetz als nicht zustande gekommen. Der Reichstag konnte sich dagegen nur mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit durchsetzen, dann hatte der Reichspräsident es entweder zu verkünden oder einen Volksentscheid anzuordnen. Insgesamt besaßen also die Länder erheblichen Einfluss auf die Reichsgesetzgebung, zumal angesichts der generell schwierigen Mehrheitsbildung im Reichstag eine Zweidrittelmehrheit nur schwer erreichbar war.44 Allerdings handelte es sich weder um ein absolutes Vetorecht des Reichsrats noch um ein bloß suspensives. Nach der Verfassungsnorm war der Reichsrat im Prozess der Gesetzgebung verglichen mit dem Reichstag das deutlich schwächere Verfas41 Möller (wie Anm. 38), S. 243, 265 f.; Möller (wie Anm. 2), S. 497 ff. 42 Otto Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem  ?, 1927. 43 Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen – Zweite Hälfte 1927–1967, 1967, S. 34. 44 Vgl. insgesamt Karl Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens, 1923.

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sungsorgan  – ein fakultativ zuständiges Nebenorgan der Reichsgesetzgebung, wie es Gerhard Anschütz ausgedrückt hat.45 In der Verfassungspraxis aber kamen zwei politisch wesentliche Kompensationen hinzu  : zum einen die ­Schwäche aller Reichsregierungen und die Fragilität der Koalitionen, zum anderen der wechselseitige Einfluss der Koalitionsbildungen im Reich und in Preußen. Zwar waren diese keineswegs immer gleichgerichtet, doch in der Regel über die Zen­ trumspartei verbunden  : Sie gehörte fast allen Regierungen an und neigte von Fall zu Fall dazu, ihre beiden Flügel so auszutarieren, dass sie eine Mitte-­LinksKoalition in Preußen gelegentlich mit einer Mitte-Rechts-Koalition auf Reichs­ ebene verband. Im ersten Jahrfünft der Weimarer Verfassungsordnung ergriff der Reichsrat selten die Gesetzesinitiative, in der Regel begnügte er sich damit, die Reichsregierung um die Vorlage eines Gesetzesentwurfs zu einer bestimmten Materie zu ersuchen. Meist wirkte der Reichsrat in konstruktiver inhaltlicher Weise mit, die keine parteipolitische oder gegen die Reichsinteressen erkennbare Motivation zeigte. Insgesamt entwickelte sich das politische Gewicht des Reichsrats bei der Führung der Reichsgeschäfte in der Verfassungspraxis stärker als ursprünglich angenommen, zumal er sich nicht auf periodische Sitzungen beschränkte, sondern als Körperschaft im Prinzip permanent tagte. In Zeiten rasch wechselnder Reichsregierungen verkörperte der Reichsrat ein Stück Kontinuität, zumal sich durch die Reichsratsbevollmächtigten eher ein kollegialer Beamtenkörper als ein koalitionspolitisch oder parteipolitisch geprägter Ministerrat verschiedener Landesregierungen entwickelte. Zwar kam es gelegentlich zu Reibungen mit der Reichsregierung, nicht aber zu Konflikten. Doppelvorlagen waren selten, häufiger ergaben sich Divergenzen in Bezug auf die Finanzpolitik. In schwierigen Situationen traten in der Regel die Ministerpräsidenten selbst im Reichsrat zusammen und stärkten normalerweise die Reichsregierung, worin sich ein gouvernementaler esprit de corps manifestierte.46 Fritz Poetzsch-Heffter nannte den Reichsrat sogar ein unitarisches Sammelbecken, das die Reichsgewalt stärkte.47 Auch in der folgenden Legislaturperiode bis 1928 bzw. bis 1930 änderte sich an dieser Entwicklung grundsätzlich nichts, doch gab es einige wenige Fälle, in denen der Reichsrat Einspruch gemäß Art. 74 WV eingelegt hat, womit er sich dreimal durchsetzte und einmal den Einspruch zurückzog. In einigen weiteren 45 Anschütz, Weimarer Verfassung (wie Anm. 19), S. 394. 46 Vorstehendes nach F. Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der WV, in  : Jb.d.ö.R. XIII (1925), S. 199–204. 47 Ebd., S. 209.

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Fällen versagte der Reichsrat seine Zustimmung und setzte sich einmal durch, in zwei Fällen erreichte der Reichstag eine Zweidrittelmehrheit, wobei jeweils das Gesetz über den Reichshaushalt die Kontroverse ausgelöst hatte. Streitigkeiten ergaben sich vereinzelt zwischen Reich und Ländern, vertreten in der Regel durch den Reichsminister des Innern, über die Auslegung einzelner Verfassungsbestimmungen durch Landesregierungen. In solchen Fällen forderte der Reichs­ innenminister die Landesregierung zur Überprüfung auf. Insgesamt unterliegt es trotz der eindeutigen Stärkung der Reichskompetenzen keinem Zweifel, dass der Föderalismus in der Weimarer Republik erhebliche politische Bedeutung behielt. Erst zur Zeit der Präsidialregierungen im Reich ab 1930 wurde er geschwächt, paradoxerweise zugleich mit dem Parlamentarismus, in Preußen allerdings erst deutlich später, als die Weimarer Koalition bei der Landtagswahl am 24. April 1932 ihre Mehrheit verlor. Doch hätte das Preußische Staatsministerium nur durch eine hauchdünne Obstruktionsmehrheit von NSDAP und KPD gestürzt werden können. Um ein solch bloß negatives Votum auszuschließen, hatte der vorhergehende Landtag eine Geschäftsordnungsänderung beschlossen, die auf eine Art konstruktives Misstrauensvotum hinauslief und damit nach der verlorenen Landtagswahl die Regierung als geschäftsführende Regierung sicherte  : Auf ein einfaches Misstrauensvotum hätten sich NSDAP und KPD verständigen können, nicht aber auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Ministerpräsidentenwahl. Maßgeblich für den Bedeutungsverlust des Föderalismus seit Beginn der 1930er Jahre, insbesondere seit 1932, waren zunächst die Schwächung der Landesregierungen durch Obstruktionsmehrheiten in vielen Landtagen sowie das ausufernde Notverordnungswesen mit der Stärkung des Reichspräsidenten. Die zahlreichen Notverordnungen zur Amtszeit Friedrich Eberts erwecken im Vergleich zur Amtszeit Hindenburgs einen falschen Eindruck, da ihre Zahl 1922/23 nur deshalb so hoch war, weil aufgrund der galoppierenden Inflation oftmals so schnell wie möglich gehandelt werden musste, beispielsweise bei der Erhöhung von Beamtengehältern, die andernfalls schon ein, zwei Tage später wertlos gewesen wären. XIV. Fazit

Hat der Föderalismus, hat die Fortexistenz Preußens die Weimarer Republik wirklich belastet  ? So sehr diese Fragen diskutiert worden sind, so oft dies behauptet worden ist, gravierende Belege gibt es für diese Thesen nicht. Vielmehr

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funktionierte die Mitwirkung der Länder an der Reichspolitik über den Reichsrat sowie ihre Landespolitik von Ausnahmen abgesehen gut, ohne die Weimarer Demokratie zu gefährden. Die insgesamt nur wenigen politisch gravierenden Streitfälle zwischen Reich und Ländern wurden erst 1932 durch den »Preußenschlag« zur schweren Belastung des politischen Systems, die Belastung wurzelte aber keineswegs in der föderativen Struktur des Reiches. Die Krise des Jahres 1923 entstand in den drei beteiligten Ländern zwar auf dem Boden des Föderalismus, doch war er nicht die Ursache. Schließlich konnten die Probleme in allen drei Ländern innerhalb weniger Monate gelöst werden, in zwei Fällen mit Hilfe der Reichsexekution, die bewies, dass das Reich im Ernstfall die notwendigen Mittel besaß. Keines der gravierenden Probleme der Weimarer Demokratie erwuchs aus dem Föderalismus  : –– nicht die schweren finanziellen Probleme mit der Inflation, die zweifelsfrei eine Folge des Ersten Weltkriegs und der Kriegsfinanzierung auf Kredit waren sowie aus den anderen wirtschaftlichen Folgen des Weltkriegs und der Reparationsproblematik des Versailler Vertrags erwuchsen  ; –– nicht die territorialen Verluste, die aus Kriegsniederlage und Friedensvertrag hervorgingen  ; –– nicht das Legitimationsdefizit der Weimarer Republik, das aus der Kriegsniederlage und einem mehrfachen Systemwechsel einschließlich dem der Staatsform entstand  ; –– nicht die inkonsequente semiparlamentarische Verfassung  ; –– nicht der Bruch der Großen Koalition 1930  ; –– nicht die fatalen Wahlergebnisse auf Reichsebene seit September 1930 aufgrund des katastrophalen Fehlers, auf dem Höhepunkt der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise überflüssige Neuwahlen anzusetzen  ; –– nicht die personellen Probleme eines nicht verfassungskonformen Reichspräsidenten von Hindenburg  ; –– nicht die gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprobleme usw. Keiner dieser Belastungsfaktoren der Weimarer Demokratie ist auf den Föderalismus zurückzuführen. Und die Schwäche vieler Reichsregierungen resultierte keineswegs aus der Stärke der preußischen Regierung. Vielmehr unterstützte die Regierung Braun in den Jahren 1930 bis 1932 immer wieder trotz zum Teil erheblicher Meinungsverschiedenheiten die Reichsregierung Brüning. Da Braun und der preußische SPD-Fraktionsvorsitzende Ernst Heilmann zugleich Reichs-

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tagsabgeordnete waren, konnten sie direkt in die SPD-Fraktion hineinwirken, während der Vorsitzende der preußischen Zentrumsfraktion Joseph Hess als Mittelsmann zu Brüning wirkte.48 Einen gravierenden Differenzpunkt bildete der Republikschutz, weil sich Brüning mit Rücksicht auf den Reichspräsidenten schwer tat, die konsequente preußische Politik, unter anderem ihr SA-Verbot, zu unterstützen, und Papen schließlich im Juni 1932 das preußische Verbot aufhob. Im Rückblick erstaunt es, welch gravierende Fehlperzeption es war, alle Bestrebungen der Reichsreform im falschen Sektor zu beginnen. Am Föderalismus ist die Weimarer Republik nicht gescheitert, an Preußens Stabilität hingegen hätte sie eher genesen können. Die einzige Phase der deutschen Geschichte, die keine Form des Föderalismus kannte, war die nationalsozialistische Diktatur, die erste Etappe der dann umfassenden Gleichschaltung bildete der von Papen vorbereitete, von Hindenburg genehmigte Staatsstreich gegen die rechtmäßige preußische Regierung vom 20. Juli 1932.

Das Deutsche Reich 1919–1937.

48 Vgl. Möller (wie Anm. 2), S. 552 ff. u. ö.

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Unitarisierende und partikulare Kräfte im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland I. Einleitung II. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des föderalen Prinzips III. Gesellschaft, Politik und Bundesstaat in den 1950er und 1960er Jahren IV. Unitarisierung durch Politikverflechtung: 1966 bis Mitte der 1970er Jahre V. Regionalisierung im kooperativen Föderalismus: Die 1980er Jahre VI. Deutsche Einheit und Europäische Integration: Regionalisierung durch Europäisierung  VII. Föderalismusreformen und die Persistenz der Politikverflechtung: Die Entwicklung des Bundesstaats seit 2000 VIII. Schlussfolgerungen

I. Einleitung

Jeder Föderation unterliegt unitarisierenden und partikularen Kräften. Sie äußern sich in der Dynamik der Machtverteilung zwischen Bund und Gliedstaaten, die Stabilität gewährleistet, wenn die Kräfte auf eine Balance hinwirken, die die föderale Ordnung aber auch destabilisieren können, wenn eine Kraft überwiegt. Für die Bundesrepublik Deutschland hat man oft ein Vorherrschen unitarisierender Kräfte behauptet. In der vergleichenden Föderalismusforschung charakterisierte man den deutschen Bundesstaat als vergleichsweise stark zentralisiert oder vertikal verflochten.1 Die Verfassung und Politik sei auf die Einheit der Rechtsordnung und Lebensverhältnisse hin ausgerichtet, während sie der regionalen Vielfalt nur wenig Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt habe.

1 Thomas O. Hueglin/Alan Fenna, Comparative Federalism, 2. Aufl. 2015, S. 148 ff.; David McKay, Designing Europa. Comparative Lessons from Federal Experience, 2001, S. 87 ff.; Ronald Watts, Comparing Federal Systems, 2008, S. 35.

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Vereinzelt ist die Einordnung Deutschlands als Bundesstaat sogar in Frage gestellt worden.2 Tatsächlich zeichnet sich die Geschichte des deutschen Bundesstaates durch ein Spannungsverhältnis zwischen vereinheitlichenden und differenzierenden Prozessen aus. Man kann diese auf die Geschichte des Föderalismus in Deutschland zurückführen, in deren Verlauf sich ein seit dem 16.  Jahrhundert ausgeprägter Entwicklungspfad einer Konföderation3 mit dem im 19.  Jahrhundert vorherrschenden Bestreben, einen Nationalstaat zu bilden, verbanden. Beide Entwicklungsstränge und die damit verbundene Staatstradition spiegeln sich in der Verfassung des Bundesstaats wider, die 1949 im Grundgesetz verankert wurde. Auch sie ist geprägt durch unitarisierend und differenzierend wirkende Kräfte, die teils in der Institutionenordnung, teils in den Interaktionen von Akteuren, teils in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und teils in der politischen Kultur angelegt sind.4 Um die Dynamik des Föderalismus angemessen zu verstehen und die Wirklichkeit des Bundesstaates zu begreifen, bedarf es daher einer Analyse, die nicht nur die Regeln der Verfassungsordnung und Verfassungsänderungen in den Blick nimmt. Vielmehr ist ein Bundesstaat als ein politisches Handlungsfeld zu betrachten, in dem ein ständiges Ringen um Macht stattfindet,5 sowohl zwischen Regierungen und Verwaltungen des Bundes und der Länder als auch zwischen Parteien und Parlamenten. Die Strukturen und Prozesse einer Föderation werden auch durch wirtschaftliche und soziale Entwicklungen beeinflusst, die Aufgaben- und Ressourcenverteilungen beeinflussen.6 Die politischen Reaktionen auf diese Veränderungen, seien es Reformen oder veränderte Praktiken, hängen von vorherrschenden Leitvorstellungen über die angemessene Ausgestaltung des Föderalismus ab, die sich im Zeitverlauf verändern. Die Beharrungskraft der Institutionen und deren Reform und Wandel, die Dynamik der Machtverhältnisse in den ständigen Bund-Länder-Beziehungen sowie reale ökonomische Entwicklungen und in der öffentlichen Meinungsbildung erzeugte 2 Heidrun Abromeit, Der verkappte Einheitsstaat, 1992  ; Kenneth C. Wheare, Federal Government, 4. Aufl. 1963, S. 29. 3 Dazu Joachim Whaley, Germany and the Holy Roman Empire, 2 Bde., 2011  ; Georg Schmitt, Geschichte des Alten Reichs. Staat und Nation in der frühen Neuzeit 1495–1806, 1999. 4 Vgl. Federal Dynamics  : Continuity, Change, and the Varieties of Federalism, hrsg. von A. Benz/J. Broschek, 2013. 5 William Riker, Federalism. Origins, Operation, Significance, 1964. 6 Jan Erk, Explaining Federalism. State, society and congruence in Austria, Belgium, Canada, Germany and Switzerland, 2008.

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Ordnungsvorstellungen stellen also die Kräfte dar, die den Wandel im Bundesstaat bewirken.7 In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland förderten diese Kräfte zu unterschiedlichen Zeiten eher eine Unitarisierung oder eine Differenzierung bzw. Partikularisierung. In den folgenden Abschnitten will ich diese Veränderungen in groben Zügen darstellen und erklären.8 Wie deutlich werden sollte, lässt sich nicht einfach eine durchgehende Tendenz in die eine oder andere Richtung feststellen. In der jüngeren Geschichte des deutschen Föderalismus zeigt sich eher ein Zusammenwirken von Kräften, die gleichgerichtete oder gegenläufige Prozesse auslösten, was insgesamt zu einem hohen Maß an Stabilität der bundesstaatlichen Ordnung führte. Diese Stabilität äußert sich vor allem in der Verfassung des Bundesstaates, seinen Institutionen sowie den im Verfassungs- und Institutionenrahmen entstandenen Mustern der Bund-Länder-Beziehungen, die sich insgesamt nur wenig wandelten. Dabei veränderten sich die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft deutlich, genauso wie die normativen Vorstellungen darüber, was einen modernen Föderalismus ausmacht. Dies wirft die Frage auf, ob die Verfassung und die politische Praxis des deutschen Bundesstaates unter diesen Bedingungen noch funktionieren. Diese Frage stellt sich vor allem, weil mehrfache Korrekturen an der föderalen Verfassung diese durch detaillierte Regeln, die deren notwendiger Elastizität Grenzen setzen, zunehmend verfestigten. II. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des föderalen Prinzips

Blickt man zurück auf die Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, so werden bereits in dieser Zeit unitarisierende wie partikulare Kräfte erkennbar. Nach dem Willen der westlichen Alliierten sollte in Deutschland ein Staat mit einer handlungsfähigen und demokratisch legitimierten Regierung entste7 Arthur Benz/Jörg Broschek, Conclusion. Theorizing federal dynamics, in  : Federal Dynamics, hrsg. von dies., 2013, S. 366 ff. 8 Zur Geschichte des Föderalismus in der Bundesrepublik  : Arthur Benz, Der deutsche Föderalismus, in  : 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von T. Ellwein/E. Holtmann, 1999, S. 135– 153  ; Albert Funk, Föderalismus in Deutschland. Von den Anfängen bis heute, 2008, S.  186 ff.; Heiderose Kilper/Roland Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1996  ; Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 7.  Aufl. 1997, S. 54 ff.; Wolfgang Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich, 1991.

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hen, allerdings als Staat, in dem die politische Macht durch Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern begrenzt werden sollte. Die Aufgabe der Ausarbeitung einer Verfassung übertrugen die Besatzungsmächte am 1. Juli 1948 auf die Ministerpräsidenten der Länder, die das Verfahren beschlossen und auch die Beratungen beeinflussten. Im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der vom 10. bis 23.  August 1948 tagte, war jedes Land mit einem Bevollmächtigten vertreten, was sich in den Ergebnissen der Beratungen darin niederschlug, dass den Ländern ein starkes Gewicht zugesprochen wurde.9 Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates wurden dann zwar formal von den Landtagen gewählt, faktisch aber von den Parteiführungen in den Ländern benannt. Sie handelten tatsächlich weniger als Landesvertreter denn als Vertreter der Parteien. Im Laufe der Verfassungsberatungen (8. September 1948 bis 10. Mai 1949) konnten die Parteiführer den Einfluss der Ministerpräsidenten zurückdrängen, doch sich ihm nie ganz entziehen.10 Die so entstandene Machtverteilung schlug sich in der Arbeit des Parlamentarischen Rates, in den Inhalten und Kontroversen nieder. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte war unstrittig, dass mit dem Grundgesetz wieder eine föderale Ordnung geschaffen werden sollte, umstritten war allerdings unter allen Beteiligten die Ausgestaltung des Föderalismus. Während die Sozialdemokraten einen eher zentralisierten Bundesstaat befürworteten, wollten die christlich-demokratischen Parteien die Länder stärken. Starke föderale Bestrebungen gingen von den süddeutschen Landesregierungen aus, weniger von den norddeutschen Regierungen. Am Ende einigten sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates auf Kompromisse,11 etwa einen Bundesrat mit begrenzten Kompetenzen statt eines Senats, oder eine bundeseinheitliche Steuergesetzgebung, während die Steuerverwaltung den Ländern übertragen wurde. Das Grundgesetz revidierte die zentralistischen Tendenzen der Weimarer Reichsverfassung. Es übernahm das Modell eines kooperativen Föderalismus, das sich auf eine lange Entwicklungsgeschichte zurückführen lässt.12 Die besondere Ausgestaltung des Bundesstaates lässt sich aber auch mit dem Zusammenwirken unitarisierender und partikularer Kräfte erklären, die in der Gründungsphase der Bundesrepublik vor allem in den politischen Machtverhältnissen angelegt waren. 9 Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, 1998, S. 29 ff. 10 Ebd., S. 183. 11 Peter Graf von Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands, 2000, S. 91. 12 Gerhard Lehmbruch, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland  : Pfadabhängigkeit und Wandel, in  : Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, hrsg. von A. Benz/G. Lehmbruch, 2002, S. 53 ff.

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Der mit dem Grundgesetz gegründete westdeutsche Staat stützte sich auf die Länder, die bereits 1946 über demokratisch legitimierte Regierungen und funktionsfähige Verwaltungen verfügten. Er verdankt seine Entstehung der im Juni 1947 begonnenen Zusammenarbeit der Landesregierungen in der Ministerpräsidentenkonferenz. Schon diese verstand sich jedoch als Sprachrohr für die Deutschen,13 also als einheitstiftende Organisation. Schon frühzeitig erkennbar war die besondere Rolle, die Bayern im deutschen Bundesstaat spielen sollte, dessen Politik eine anhaltende partikularisierende Kraft bildete. Man darf aber auch nicht ignorieren, dass der bayerische Landtag zwar mit Mehrheit das Grundgesetz ablehnte, anschließend aber dessen Geltung anerkannte. Die Verfassungsberatungen wurden maßgeblich geprägt durch Vertreter der Parteien, die sich in diesem Zusammenhang zu länderübergreifenden Organisationen entwickelten. Das föderal integrierte Parteiensystem, das die Politik im deutschen Bundesstaat prägen sollte, entstand also bereits während der Ausarbeitung des Grundgesetzes. Zur Gründungsphase der Bundesrepublik gehört auch die Debatte über den territorialen Zuschnitt der Länder, in der es seinerzeit weniger um die unterschiedliche Wirtschaftskraft als vielmehr um die unterschiedlichen Größenverhältnisse und die historisch gewachsene Identität der Länder ging. Die Westalliierten beauftragten die Ministerpräsidenten, sich mit dieser Problematik zu befassen, und das zweite Frankfurter Dokument kündigte eine Gebietsreform an. Letztlich gelang diese aber nur im Südwesten, als sich die drei dort bestehenden Länder 1952 zum Land Baden-Württemberg zusammenschlossen.14 Die anderen Länder blieben in den Grenzen, die in der Besatzungszeit gezogen worden waren, bestehen. Man kann deren Heterogenität als eine Ursache für den Partikularismus erkennen, der sich später in einzelnen Politikbereichen zeigte. Dieser wurde aber nie so stark, dass er die Zusammenarbeit der Regierungen behindert hätte. III. Gesellschaft, Politik und Bundesstaat in den 1950er und 1960er Jahren

War die Ausgestaltung des föderalen Prinzips ein Kernanliegen der westlichen Besatzungsmächte und der deutschen Nachkriegspolitik, so verlor diese Leitidee 13 Reinhold Maier, Ministerpräsident von Württemberg-Baden, zit. n. Feldkamp (wie Anm.  9), S. 20  ; vgl. auch Adolf M. Birke, Nation ohne Haus, Deutschland 1945–1961, 1989, S. 170. 14 Birgit Wilhelm, Das Land Baden-Württemberg. Entstehungsgeschichte  – Verfassungsrecht  – Verfassungspolitik, 2007.

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der Verfassung in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Verabschiedung des Grundgesetzes an Bedeutung, weil der Föderalismus in der Öffentlichkeit wenig Anerkennung erfuhr15 und in der Politik eher unitarisierend wirkende Kräfte überwogen. Dies wurde damals kaum kritisiert. Manche meinten, die bundesstaatliche Ordnung sei eine Fiktion geworden, wie etwa Werner Weber, der den Föderalismus des Grundgesetzes als Atavismus16 bezeichnete. Andere wollten in der Unitarisierung und Kooperation zwischen Bund und Ländern Merkmale eines modernen Bundesstaates erkennen, der die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive verstärke, anstatt beide Gewalten zwischen Ebenen zu teilen. So schrieb Konrad Hesse in seiner begriffsprägenden Abhandlung »Der unitarische Bundesstaat« im Jahre 1962  : Das, was das Wesen heutiger bundesstaatlicher Ordnung ausmacht, liegt indessen nicht mehr im Bereich föderalistischer Gedanken  ; der Föderalismus als integrierendes Prinzip hat im nationalen Rahmen die Bedeutung einer geschichtlichen Kraft verloren. Und so hat sich der Charakter der heutigen bundesstaatlichen Ordnung grundsätzlich verändert. Aus der Zuordnung einer Mehrzahl von Gliedstaaten in ihrer mannigfaltigen Individualität ist mehr und mehr eine Zuordnung gesamtstaatlicher Kräfte, namentlich der im engeren Sinne politischen und der administrativen Kräfte geworden. Die vertikale Gewaltenteilung hat sich in wachsendem Maße in eine neue Form der horizontalen Gewaltenteilung verwandelt.17

Dass der Föderalismus als Organisationsprinzip, das die Vielfalt der regionalen Bevölkerungsgruppen und ihrer Kulturen zum Ausdruck bringt, als überholt betrachtet wurde, lag zunächst an den gesellschaftlichen Umbrüchen in der Kriegsund Nachkriegszeit. Flüchtlingsströme veränderten die Zusammensetzung der regionalen Bevölkerung.18 Der Beginn des Medienzeitalters, zunächst geprägt durch den technisch ausgereiften Rundfunk,19 später die Verbreitung des Telefons sowie des zwar regional gegliederten, aber bundesweit ausstrahlenden Fernsehens erweiterten den Orientierungshorizont der Menschen. Verbände und Parteien waren zwar regional untergliedert, wurden von der Wählerschaft aber als bundesweite Organisationen der politischen Interessenvermittlung und 15 Norbert Grube, Nähe und Distanz  : Föderale Einstellungen der Bevölkerung in 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland, in  : Jahrbuch des Föderalismus, Bd. 10 (2009), S. 151 ff. 16 Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 1951, S. 96. 17 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat 1962, S. 31 f.. 18 Kielmannsegg (wie Anm. 11), S. 393 ff. 19 Ebd., S. 426.

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Willensbildung wahrgenommen. Die regionale Differenzierung des Parteiensystems verschwand im Laufe der ersten beiden Legislaturperioden des Deutschen Bundestages.20 In den ersten Nachkriegsjahrzehnten übernahm der Staat neue Aufgaben, die überwiegend dem Bund übertragen wurden.21 Dessen Kompetenzen wuchsen besonders infolge des Ausbaus des Sozialstaates. Die Sozialversicherungen wurden nach dem Krieg – entsprechend dem unter Bismarck eingeführten Organisationsmodell  – als besondere Selbstverwaltungen weitergeführt. Die Länderregierungen können zwar aufgrund des Zustimmungsrechts des Bundesrates auf die Gesetzgebung einwirken, ebenso sind Ländervertreter in den Organen der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen vertreten. Im Unterschied zu anderen Aufgabenbereichen, in denen die Länder Gesetze des Bundes in eigener Zuständigkeit vollziehen, ist ihr Einfluss in der Sozialversicherung aber vergleichsweise gering.22 In anderen Bereichen begründete man Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, um gleichwertige Lebensbedingungen oder die Rechts- und Wirtschaftseinheit im Bundesgebiet herzustellen, während die Länder für den Vollzug der Gesetze zuständig blieben. Die infolge des Wirtschaftsaufschwungs zunehmenden Steuereinnahmen begünstigten vor allem den Bund, der seine Haushaltsüberschüsse nutzte, wirtschaftsschwache Länder durch Finanzhilfen zu unterstützen. Die Finanzverfassungsreformen in den Jahren 1955 und 1969 sowie zwischenzeitliche Anpassungen der Finanzverteilung reduzierten zwar das fiskalische Ungleichgewicht zwischen Bund und Ländern, aber sie bewirkten, dass die Finanzpolitik in Form von Gemeinschaftssteuern und Mischfinanzierungen verflochten wurde.23 Eine andere Form der Verflechtung ergab sich aus der wachsenden Macht des Bundesrates. Schon im Parlamentarischen Rat erkannten Ländervertreter, dass der Anteil der Gesetze, die eine Zustimmung des Bundesrates erforderten, in dem Maße ansteigen würde, in dem der Bund die Gesetzgebung an sich ziehen würde.24 1958 setzten sich die Landesregierungen mit ihrer Auffassung durch, dass Bundesgesetze, die Regelungen zum Verwaltungsvollzug in den Ländern

20 Ulrich von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2010, S. 50 ff. 21 Hans Meyer, Föderalismusreform  : Wie reformfähig ist unser System  ?, 2008, S. 7 ff. 22 Vgl. auch Philip Manow, Germany  : Cooperative federalism and the overgrazing of the fiscal commons, in  : Federalism and Welfare State, hrsg. von H. Obinger/S. Leibfried/F. G. Castles, 2005, S. 244 ff. 23 Renzsch (wie Anm. 8), S. 75 ff. 24 Funk (wie Anm. 8), S. 203.

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enthielten, als Ganze der Zustimmung im Bundesrat bedürfen.25 Auf diese Weise kompensierten sie ihren Machtverlust durch die Zentralisierung der Gesetzgebung. Im Ergebnis förderten sie damit aber die Unitarisierung. Der Zwang zur Kooperation beschränkte zwar die Macht des Bundes, verringerte aber auch die in der Gesetzgebung ohnehin geringe Autonomie der Landespolitik. Und er verhinderte regional differenzierte Entscheidungen durch die Landesparlamente. Unitarisierend wirkte auch die Praxis der Zusammenarbeit zwischen den Ländern, die bereits vor Gründung der Bundesrepublik begann. Im Unterschied zur »Politikverflechtung« zwischen Bund und Ländern, also den durch das Grundgesetz geregelten Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes, an denen die Länder im Bundesrat mitentscheiden konnten, und den Landesaufgaben, an denen der Bund zu beteiligen ist (den 1969 eingeführten Gemeinschaftsaufgaben), arbeiteten die Exekutiven der Länder in Westdeutschland schon seit 1948 freiwillig zusammen.26 In den verschiedenen Konferenzen der Regierungschefs und Fachminister sowie zahlreichen Beamtengremien koordinierten sie den Vollzug von Gesetzen, für den die Länder nach wie vor vorwiegend zuständig sind. Diese Praxis verstärkte sich in den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik. Zwar konnten Länder auf diese Weise verhindern, dass der Bund eine Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben erlangen konnte, zwar trug der fachliche Erfahrungsaustausch zwischen Beamten der Länder zweifellos zur Verbesserung der Verwaltungspraxis bei, nicht selten führte die Länderkoordination aber auch zur starken Vereinheitlichung von Verwaltungsvorschriften oder zu bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelungen.27 Es ist allerdings zu betonen, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen, die Verfassungsänderungen und die Herausbildung von dichten Interaktionsbeziehungen zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern nicht mit einer Zentralisierung des deutschen Bundesstaates gleichzusetzen sind. Peter Katzenstein hat das deutsche Regierungssystem als eine Kombination aus einer zentralisierten Organisation der Gesellschaft in Parteien und Verbänden und dezentralisierten, föderalen Organisation des Staates charakterisiert, eine Kombination, die sich im 19.  Jahrhundert, der Zeit der Industrialisierung und des Aufstiegs des Nationalstaats bildete.28 Diese Konfiguration verfestigte sich in 25 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 1958. 26 Die Kultusministerkonferenz der Länder trat am 19. und 20. Februar 1948 zum ersten Mal zusammen. 27 Wolfgang Seibel, Verwaltung verstehen, 2016, S. 179 ff. 28 Peter Katzenstein, The Semi-Sovereign State, 1987, S. 15.

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den 1950er und 1960er Jahren, weil sich Parteien und Verbände zunehmend bundespolitischen Themen zuwandten, während der Bundesgesetzgeber und die Bundesregierung in vielen Aufgabenfeldern, für die sie die Verantwortung übernahmen, auf die Zustimmung der Landesregierungen oder die Unterstützung durch die Landesverwaltungen angewiesen waren. Partikulare Kräfte, die insbesondere von den Exekutiven der Länder ausgingen, waren daher im Bundesstaat nicht verschwunden, sondern nur in den kooperativen Bundesstaat integriert. Kooperation zwischen Bund und Gliedstaaten findet immer in einem Spannungsverhältnis von Interessen und Macht statt, das kein Gleichgewicht der Kräfte garantiert, sondern stets dem Wandel ausgesetzt ist. Beides, sowohl die Integration unitarisierender und partikularer Kräfte als auch die anhaltenden Spannungen zwischen ihnen, zeigte sich in den folgenden Perioden der Geschichte des deutschen Bundesstaates. IV. Unitarisierung durch Politikverflechtung: 1966 bis Mitte der 1970er Jahre

Unter der Vorherrschaft der Christdemokraten im Bund und der »Kanzlerdemokratie«,29 die sich im ersten Jahrzehnt, während der Regierung unter Konrad Adenauer (1949–1961) ausformte, entwickelte sich die enge Kooperation zwischen Bund und Ländern, an der auch sozialdemokratisch geführte Landesregierungen mitwirkten. Die Große Koalition, die zwischen 1966 und 1969 die Bundesregierung stellte, baute diese Zusammenarbeit weiter aus. Erstens vollendete sie mit ihrer überwältigenden Mehrheit im Bundestag und Bundesrat die Entwicklung des Finanzverbunds zwischen Bund und Ländern und verankerte die Gemeinschaftsaufgaben im Grundgesetz. Zweitens führte sie in verschiedenen Politikbereichen eine integrierte Planung der jeweiligen Aufgaben ein, die eine Beteiligung der Länder erforderte. Drittens wurden die Regierungen in dieser Zeit mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die den Bund und alle Länder gleichermaßen betrafen und zu einem koordinierten Vorgehen veranlassten. In dieser Zeit verstärkten sich Unitarisierung und Politikverflechtung gegenseitig. Die bereits erwähnte Reform der Finanzverfassung, die am 23.  April vom Bundestag und am 9.  Mai 1969 vom Bundesrat verabschiedet wurde und am 1. Januar 1970 in Kraft trat, machte die Steuerpolitik zu einer zentralen Säule des kooperativen Bundesstaates. Bund und Länder finanzieren ihre Ausgaben 29 Karlheinz Niclauß, Kanzlerdemokratie, 3. Aufl. 2015, S. 63 ff.

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seither zu einem beträchtlichen Teil aus der Einkommen-, Körperschafts- und Mehrwertsteuer, die durch Bundesgesetze geregelt und deren Aufkommen zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden. Letzteres bedeutet, dass Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, während die Verwaltung dieser Steuern bei den Ländern blieb und im Auftrag des Bundes und unter dessen Fachaufsicht erfolgt. Über einen wichtigen Teil der öffentlichen Finanzen – die Gemeinschaftssteuern machen durchgehend etwa zwei Drittel des Steueraufkommens aus – wird seither in Formen der Politikverflechtung entschieden. Der Begriff Politikverflechtung kam einige Jahre nach der Finanzverfassungsreform auf. Mit ihm bezeichnete die Wissenschaft eine neue Qualität des kooperativen Bundesstaates.30 Er erfasste die Tatsache, dass Bund und Länder nicht nur freiwillig zusammenarbeiten, Informationen austauschen oder unverbindliche Vereinbarungen treffen, sondern Aufgaben gemeinsam erfüllen und damit auch gemeinsame Zuständigkeiten ausüben. Dazu ist die Gesetzgebung des Bundes zu rechnen, sofern Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrats bedürfen und somit Landesregierungen über sie mitbestimmen  ; dazu zählt auch die Mitwirkung des Bundes an der Verwaltung der Länder, zumal Weisungen im Rahmen der Fachaufsicht fast immer durch Vereinbarungen ersetzt werden  ; dazu gehören auch die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a GG, die im Zuge der 1969 verabschiedeten Verfassungsreform eingeführt wurden. Unter der sozialliberalen Regierung, die nach ihrem Amtsantritt am 22. Oktober 1969 den unter der Großen Koalition eingeleiteten Richtungswechsel der Politik vollenden wollte, setzte sich die Vorstellung durch, der Staat könne durch eine »aktive Politik«31 und durch mittel- oder langfristige Planung die Gesellschaft verändern oder Krisen vorbeugen. Auf Letzteres zielte die mittelfristige Finanzplanung, die sich an der Wirtschaftstheorie des Keynesianismus orientierte und die im Finanzplanungsrat zwischen Bund und Ländern koordiniert werden sollte. Gesellschaftsverändernde Ziele verfolgte die Bildungsplanung, die nach Art. 91b GG als eine fakultative Gemeinschaftsaufgabe geregelt wurde. Die Enquetekommission für Verfassungsreform, die der Deutsche Bundestag am 22. Februar 1973 eingesetzt hatte, schlug in ihrem im Dezember 1976 veröffentlichten Bericht unter anderem eine gemeinsame Rahmenplanung von Bund und Ländern für 30 Politikverflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, hrsg. von der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1975  ; Fritz W. Scharpf/Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976. 31 Renate Mayntz/Fritz Scharpf, Kriterien, Voraussetzungen und Einschränkungen aktiver Politik, in  : Planungsorganisation, hrsg. von dies., 1973, S. 115 ff.

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Aufgaben vor, die für die Entwicklung des Bundesgebiets bedeutsam sind.32 Damit beabsichtigte die Kommission, die Kooperation zwischen Bund und Ländern für weitere Aufgaben zu ermöglichen, zusätzlich zu denjenigen, die bisher im Grundgesetz dafür vorgesehen waren, ohne sie aber einer Kooperationspflicht zu unterwerfen. Diese Überlegungen stießen auf vielfältige Kritik, weshalb sie letztlich, wie die anderen Vorschläge der Kommission, nicht in einem verfassungsändernden Gesetz umgesetzt wurden. Ebenso wie die Verfassungsreform scheiterte ein erneuter Anlauf zu einer Neugliederung der Länder, zu der 1973 eine Sachverständigenkommission Vorschläge vorlegte.33 In Volksentscheiden, die 1970 in Baden und 1975 in Gebieten der Länder Rheinland-Pfalz und Niedersachsen durchgeführt wurden, lehnte die Mehrheit derer, die ihre Stimme abgaben, eine Änderung der Landesgrenzen ab. Diese Reformüberlegungen und die intensive Bund-Länder-Kooperation in den Gemeinschaftsaufgaben und verschiedenen Planungsgremien stellten Reaktionen der Politik auf gesellschaftliche Umbrüche dar. Die deutsche Wirtschaft geriet 1966 in eine erste Rezession, die Regionen unterschiedlich erfasste und nicht zuletzt im Zonenrandgebiet des geteilten Deutschlands deutliche Spuren hinterließ. Langfristige Auswirkungen hatte der Strukturwandel von der Indus­ trie- zur Dienstleistungsgesellschaft, in dessen Folge vor allem die Montanindustrie im Ruhrgebiet und im Saarland in eine anhaltende Krise geriet. Gleichzeitig kam das Bildungswesen unter Reformdruck, der die zuständigen Länder vor beträchtliche Herausforderungen stellte.34 Der Überwindung der Rezession, der Strukturwandel der Wirtschaft und die Bildungsexpansion wurden als gesamtgesellschaftliche Aufgaben wahrgenommen, weshalb eine verbesserte Kooperation von Bund und Ländern gefordert wurde. Ferner stellte sich die Frage, ob der bestehende Gebietszuschnitt der Länder gewährleiste, dass diese gleichermaßen wirtschaftlich leistungsfähig sind, um die anstehenden Aufgaben zu erfüllen. Diese Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben. Wenige Jahre nach dem Regierungswechsel erlahmte die Reformeuphorie. Auch die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern funktionierte nicht so, 32 Bericht der Enquete-Kommission »Verfassungsreform« des Deutschen Bundestags, BT-Drs. 7/5925  ; S. 151, online  : http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/07/059/0705924.pdf (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 33 Vorschläge zur Neugliederung des Bundesgebiets gemäß Art. 29 des Grundgesetzes  : Materialien zum Bericht der Sachverständigenkommission, hrsg. von Bundesministerium des Innern, 1973. 34 Entscheidende Impulse für die Reformdiskussion gingen von dem Philosophen Georg Picht und dem Soziologen Ralf Dahrendorf aus  ; vgl. Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, 1964  ; Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, 1965.

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wie sich das die Protagonisten eines kooperativen Föderalismus vorgestellt hatten. Einerseits erschwerten unterschiedliche wirtschaftliche Interessen der Länder oder finanzpolitische Konflikte zwischen Bundes- und Landesregierungen eine Einigung über die strukturpolitische Rahmenplanung sowie eine Koordination der mittelfristigen Finanzplanungen. Andererseits bewirkte die parteipolitische Konfrontation zwischen den Sozialdemokraten und den Christdemokraten, die sich in den 1970er Jahren nicht nur in parlamentarischen Debatten, sondern auch im Verhältnis von Bundestag und Bundesrat äußerte, dass die Gesetzgebung im Bund blockadeanfällig wurde und sich die Gestaltungsspielräume der Bundesregierung verringerten. Gerhard Lehmbruch hat die Spannung zwischen Parteienwettbewerb und kooperativem Bundesstaat mit der Reibung von Erdplatten verglichen, die Anpassungen verhinderten und sich dann immer wieder in Krisen entlüden.35 Andere sahen die Politikverflechtung als Ursache von Politikblockaden. Exemplarisch zeigten sich diese in der gemeinsamen Bildungsplanung, die zwar 1973 vereinbart wurde, deren Umsetzung aber sowohl durch Bund-Länder-Konflikte als auch durch die Parteienkonfrontation blockiert und 1982 schließlich aufgegeben wurde. Doch Blockaden blieben Ausnahmen. Dass die Politikverflechtung in den meisten Bereichen und insbesondere in der Gesetzgebung funktionierte und weder die Gesetzgebung noch das Regieren lähmte, war dem integrierten Parteiensystem zuzuschreiben, das wie ein »Scharnier« die Ebenen des Staates verband und Anpassungsspielräume ermöglichte.36 Zwar trafen in Bund-Länder-Verhandlungen Mitglieder von Regierungen aufeinander, die konkurrierenden Parteien angehörten, aber nicht selten verfolgten Vertreter, die unterschiedlichen Parteien angehörten, die gleichen Ziele, weil sie als Repräsentanten des Bundes oder eines Landes handelten, und ebenso konnten Interessenkonflikte zwischen Gebietskörperschaften durch Vertreter der gleichen Partei ausgetragen werden. Diese Überlagerung der Konfliktlinien verhinderte eine Konfrontation entgegengesetzter Positionen und erleichterte es den Regierungen, in Verhandlungen eine Einigung zu erreichen. Jedoch begrenzten die Verhandlungszwänge unter diesen Bedingungen die Handlungsspielräume von Bund und Ländern, die sich nur auf Kompromisse einigen konnten und keine weitreichenden Veränderungen bewirkten. Eine aktive Politik war so nicht möglich, wohl aber eine

35 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976. 36 Uwe Leonardy, Parteien im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland. Scharniere zwischen Staat und Politik, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 32 (2002), S. 180 ff.

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inkrementelle »Politik des mittleren Weges«,37 die von einem einmal eingeschlagenen Pfad nur wenig abwich. Dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die seit der ersten Ölpreiskrise im Jahre 1973 durch anhaltende Stagnation bei relativ hoher Inflation gekennzeichnet waren, die politischen Gestaltungsspielräume von Bund, Ländern und Gemeinden verengte, dass also institutionelle und gesellschaftliche Faktoren zusammenwirkten, ist bei der Erklärung dieser Entwicklungsphase des deutschen Bundesstaats zu berücksichtigen. V. Regionalisierung im kooperativen Föderalismus: Die 1980er Jahre

Die 1980er Jahre begannen mit einer langsamen wirtschaftlichen Erholung, aber auch mit der politischen Krise der sozialliberalen Regierung im Bund, die schließlich 1982 zu dem von der FDP erzwungenen Regierungswechsel führte. Dieser politische Wechsel hatte allerdings kaum Konsequenzen für die Verfassungs- und Institutionenordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch veränderte sich der Bundesstaat in dieser Zeit infolge einer Dezentralisierung, die darauf zurückzuführen ist, dass partikulare Kräfte die Oberhand gewannen. Obgleich die föderale Verfassung bis zur deutschen Einheit nur wenig geändert wurde, wandelte sich der Diskurs über den deutschen Bundesstaat. Politikverflechtung wurde jetzt zu einem eindeutig negativ konnotierten Begriff, Dezentralisierung und Regionalisierung wurden zu neuen Leitideen. Die Kritik an der Verflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern, an der vielfältigen Zusammenarbeit der Länder und insbesondere an den intransparenten Verwaltungsnetzwerken begann schon früher, sie wurde durch kritische politikwissenschaftliche Untersuchungen38 bestärkt. Nach dem Regierungswechsel von 1982 verbreitete sie sich dann auch in der Politik und Öffentlichkeit. Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl folgte einer gemäßigt neoliberalen Politik, welche sich ausgehend von Großbritannien und den USA in westlichen Staaten verbreitete. Sie lehnte staatliche Planung ab, befürwortete die Privatisierung öffentlicher Aufgaben und beabsichtigte eine Dezentralisierung und Entflechtung der Kompetenzen im Bundesstaat. Letzteres gelang weniger durch Verfassungsänderungen als vielmehr dadurch, dass sich der Bund in der 37 Manfred G. Schmidt, Germany  : The Grand Coalition State, in  : Comparative European Politics, hrsg. von J. M. Colomer, 2008, S. 58 ff. 38 Scharpf/Reissert/Schnabel (wie Anm. 30)  ; Politikverflechtung II. Kritik und Berichte aus der Praxis, hrsg. von F. W. Scharpf/B. Reissert/F. Schnabel, 1977  ; Lehmbruch (wie Anm. 35).

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Wirtschafts, Sozial- und Bildungspolitik aus der Planung und Koordinierung zurückzog und den Ländern Handlungsspielräume überließ, die diese nutzten, um eigene Programme zu entwickeln. In den 1980er Jahren überwand die deutsche Wirtschaft die Schwächeperiode nach den beiden Ölpreiskrisen in den Jahren 1973 und 1979. Die christlich-liberale Bundesregierung gab die Nachfragestimulierung durch öffentliche Investitionen, wie sie der Keynesianismus forderte, auf und verließ sich weitgehend auf die Geldpolitik der Bundesbank. Gegen Ende des Jahrzehnts griffen die Landesregierungen Ideen der »neuen ökonomischen Geographie« auf, wonach die Politik ein endogenes Wachstum in Regionen unterstützen müsse, um die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in den globalen Märkten zu gewährleisten. Die neue regionale Strukturpolitik sollte nicht nur Finanzhilfen einsetzen, sondern die gesamten Produktionsbedingungen der Unternehmen verbessern, wozu neben der materiellen Infrastruktur auch die Ausbildung von Fachkräften, die wirtschaftsnahe Forschung, eine effektive Verwaltung sowie erforderliche Dienstleistungsbetriebe gerechnet wurden.39 Die Länder organisierten Regionalkonferenzen, in denen »relevante gesellschaftliche Gruppen« strukturpolitische Konzepte entwickelten, die in Kooperation zwischen öffentlichen Verwaltungen, privaten Unternehmen und Verbänden umgesetzt wurden. Des Weiteren engagierten sich Landesregierungen stärker in der Beschäftigungsförderung40 und legten damit den Grundstein für die spätere Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit. In der Sozialpolitik bemühte sich der Bund darum, die Leistungen der Sozialversicherungen zu konsolidieren und ihre Finanzierung langfristig zu sichern, während die Länder und Gemeinden die sozialen Dienste als Politikfeld entdeckten.41 Regionalisierung war aber nicht nur die Leitidee der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sie wurde auch zu einem Prinzip, das die Europäische Integration prägen sollte. Diese erfuhr neue Impulse, nach zwei Jahrzehnten der institutionellen Stagnation,42 in denen die EWG zwar neue Mitglieder gewann, aber vor 39 Regionale Modernisierungspolitk  : Nationale und internationale Perspektiven, hrsg. von U. Bullmann, 1997  ; Die Regionalisierung der Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen, hrsg. von R. G. Heinze/H. Voelzkow, 1997. 40 Susanne Blancke, Politikinnovationen im Schatten des Bundes. Policy-Innovationen und Diffusionen im Föderalismus und die Arbeitsmarktpolitik der Bundesländer, 2004. 41 Ursula Münch, Sozialpolitik im Föderalismus. Zur Dynamik der Aufgabenverteilung im sozialen Bundesstaat, 1997. 42 Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle. Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in  : Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S. 323 ff.

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allem wegen ihrer Subventionen in der Landwirtschaft kritisiert wurde. Mitte der 1980er Jahre gab die Europäische Kommission den Anstoß für die Verwirklichung des einheitlichen Marktes und mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 wurden die Grundlagen dafür gelegt. Die Kommission erkannte aber, dass sich in einem freien Markt, in dem die nationalen und regionalen Regierungen auf Regulierung verzichten mussten, die räumlichen Disparitäten zwischen Wachstumszentren und wirtschaftsschwachen Gebieten vergrößern würden. Deswegen reformierte sie die 1975 mit der Einrichtung des Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung begonnene regionale Strukturpolitik. Die Mittel, deren Umfang im Zuge des Beitritts Griechenlands (1981) sowie Spaniens und Portugals (1986) erhöht wurde, sollten auf Regionen mit niedriger Wirtschaftskraft verteilt und dann von den zuständigen Regierungen und Verwaltungen nach Programmen eingesetzt werden, die unter Beteiligung der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialpartner erarbeitet werden sollten.43 Diese Politik entsprach der »regionalisierten Strukturpolitik«, die fast zeitgleich von den größeren deutschen Ländern eingeführt wurde. Hiervon ausgehend erlangten die Länder ihre spätere Stellung im »Europa der Regionen«. Der seit dem Vertrag von Maastricht (1992) als EU titulierte Staatenverbund44 beruht auf Verträgen, die es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen, wie sie ihre interne Organisation regeln, aber die Politik der EU betrifft die Regionen bzw. Gliedstaaten regionalisierter oder föderaler Staaten. Die deutschen Länder kritisierten, dass sie sich gegen europäisches Recht, das ihre Kompetenzen beschränkt, nicht wehren könnten. In Zusammenarbeit mit Regionen aus anderen europäischen Staaten erreichten sie es, dass sie an der europäischen Politik beteiligt werden. Entsprechende Änderungen der europäischen Verträge und des Grundgesetzes wurden allerdings erst nach 1990 beschlossen. Die faktische Dezentralisierung der Politik im deutschen Bundesstaat wurde nicht durch Verfassungsreformen abgesichert, unterstützt wurde sie aber durch eine Wiederentdeckung regionaler Kulturen. Die Länder förderten diese Entwicklung mit symbolischer Politik, etwa Hinweisen auf Landesgrenzen an Autobahnen oder Maßnahmen, die die regionale Identität fördern sollten. Die re43 Liesbet Hooghe, Cohesion policy and European Integration, 1996. 44 Der Begriff Staatenverbund wurde vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Vertrag von Maastricht geprägt, um den besonderen Charakter der politischen Union zu bezeichnen. Die europäische Integration sei so weit fortgeschritten, dass die EU stärker zusammengewachsen sei als ein Staatenbund, der auf die Zustimmung aller Mitglieder angewiesen ist. Sie sei aber noch kein Bundesstaat, weil sie über keine eigenständige Staatsgewalt verfüge  ; BVerfG 89, 155 ff.

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gionale Kulturpolitik erwies sich für die Länder aber als ein zweischneidiges Schwert. Landsmannschaftliche Verbundenheit, wie der Begriff der regionalen Identität in Art. 29 GG in altertümlicher Ausdrucksweise bezeichnet wird, entstand in Deutschland nicht in den Ländern, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebildet wurden und noch heute bestehen, sondern in Teilräumen wie Baden, Franken, der Pfalz, dem Rheinland oder Westfalen.45 Auf historisch gewachsene Identität konnten sich daher eher Regionen berufen, die unterhalb der Länderebene als Räume der Regionalplanung und der regionalen Strukturpolitik entstanden. Die politische Kultur des Regionalismus verdrängte zwar die vorherrschende Orientierung an der Gleichheit der Lebensverhältnisse und am Ziel der Rechts- und Wirtschaftseinheit, aber sie trug letztlich ohne institutionelle Absicherung wenig zu einer Stärkung der Länder im Bundesstaat bei. VI. Deutsche Einheit und Europäische Integration: Regionalisierung durch Europäisierung

Die Wiedervereinigung Deutschlands veränderte per se die föderative Ordnung, weil der Bundesstaat seither nicht nur aus mehr Ländern bestand, sondern auch die Heterogenität der Länder zunahm. Neben einem erheblichen Wirtschaftsgefälle zeigte sich dies auch in der Sozialstruktur der Bevölkerung und in der politischen Kultur, nicht zuletzt auch im Wählerverhalten. Allerdings muss betont werden, dass man nicht einfach von einem Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ausgehen darf, genauso wie es verfehlt wäre anzunehmen, dass die Heterogenität der Länder im Zeitverlauf verschwinden würde. In den knapp drei Jahrzehnten nach der Vereinigung hat sich im unitarischen Bundesstaat mehr Vielfalt entwickelt. Gleichwohl sind die unitarisierenden Kräfte keinesfalls schwächer geworden. Das Aufeinandertreffen unitarisierender und partikularer Kräfte erschwerte Versuche, den Föderalismus durch Dezentralisierung und Abbau der Politikverflechtung zu stärken. Partikulare Tendenzen entwickelten sich vor allem in den wirtschaftsstarken süddeutschen Ländern, unitarisierende Bestrebungen zeigten sich darin, dass in Politik und Gesellschaft die Bereitschaft gering war, der gewachsenen Heterogenität im Bundesstaat durch mehr Differenzierung der öffentlichen Leistungen zu begegnen.

45 Renate Mayntz, Föderalismus und die Gesellschaft der Gegenwart, in  : Die Reformfähigkeit von Industriegesellschaften, hrsg. von K. Bentele/B. Reissert/R. Schettkat, 1995, S. 131 ff.

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Das Wechselspiel von unitarisierenden und partikularen Kräften zeigte sich bereits im Vereinigungsprozess. Als im November 1989 das kommunistische Regime in der DDR zusammenbrach und die Regierung der DDR geschlossen zurücktrat, wurden die Länder wieder gegründet, durch ein Ländereinführungsgesetz, das am 22. Juni 1990 von der im März frei gewählten Volkskammer beschlossen wurde. Sie waren es, die am 9. November 1989 nach Art. 23 GG (in der damals geltenden Fassung) der Bundesrepublik beitraten. Zwar verbarg sich dahinter auch eine Strategie zu vermeiden, die Deutsche Einheit nach Art. 146 zu vollziehen mit der Folge, dass das Grundgesetz durch eine neue Verfassung hätte abgelöst werden müssen. Doch viele Beobachter erwarteten damals, dass die besondere Rolle der Länder im Vereinigungsprozess den Föderalismus in Deutschland beleben würde. Tatsächlich erfolgte der Aufbau demokratischer, rechtsstaatlicher und administrativer Strukturen in den sog. neuen Ländern mit maßgeblicher Unterstützung der westdeutschen Länder. Der Institutionentransfer46 stärkte also zwischenzeitlich den »horizontalen Föderalismus«. Auf der anderen Seite wurden die wichtigsten Entscheidungen im Vereinigungsprozess von der Bundesregierung getroffen, während die Länder erst an deren Umsetzung in konkrete Maßnahmen beteiligt waren. Gerhard Lehmbruch sprach daher von einer ausgeprägten Zentralisierung,47 die die politische Strategie zur Verwirklichung der Deutschen Einheit verursacht habe. Diese Zentralisierung wurde dadurch perpetuiert, dass der Bund sich in erheblichem Maße beim »Aufbau Ost« engagierte und die finanziellen Lasten der Vereinigung trug. Die Länder widersetzten sich einer Übernahme von Finanzlasten und da der Bund bei der verfassungsrechtlichen Regelung der Deutschen Einheit auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen war, musste er diese überwiegend allein tragen. Dadurch kam es zu einem folgenschweren Konstruktionsfehler des Einigungsvertrags  – so Jens Altemeier48  –, weil alle Stufen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, also Steuerzerlegung, Umsatzsteuerverteilung, Länderfinanzausgleich und Bundesergänzungszuweisungen, zunächst nicht auf die neuen Länder angewandt wurden, sondern diese vielmehr aus dem »Fonds Deutsche Einheit« unterstützt wurden, der teils durch den Solidarzuschlag auf die Ein46 Gerhard Lehmbruch, Institutionentransfer. Zur politischen Logik der Verwaltungsintegration in Deutschland, in  : Verwaltungsreform und Verwaltungspolitik im Prozeß der deutschen Einigung, hrsg. von W. Seibel u.a, 1993, 41 ff. 47 Gerhard Lehmbruch, Die deutsche Vereinigung  : Strukturen und Strategien, in  : Politische Vierteljahresschrift 32 (1991), S 585 ff. 48 Jens Altemeier, Föderale Finanzbeziehungen unter Anpassungsdruck. Verteilungskonflikte in der Verhandlungsdemokratie, 1999, S. 86.

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kommensteuer, teils durch Kredite finanziert wurde.49 Die Defizite, die dem Bund damit aufgebürdet wurden, hatten Folgen, die bis in die zweite Föderalismusreform in den Jahren 2007 bis 2009 fortwirkten. Schon diese Tatsachen sprachen gegen die Vermutung, die Wiedervereinigung habe eine Chance für Verfassungsreformen und eine »Re-Föderalisierung«50 des deutschen Staates eröffnet. Die Reform des Grundgesetzes, die 1992 eingeleitet wurde, führte zu wenigen Änderungen in der Kompetenzverteilung.51 Als bedeutsam erwiesen sich allerdings zwei neue Regelungen des 42. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 15. November 1994. Zum einen wurde Art. 72 Abs. 2 GG dahingehend geändert, dass der Bund nicht mehr nur ein Bedürfnis, sondern ein Erfordernis für eine bundeseinheitliche Regelung begründen muss, wenn er die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz in Anspruch nehmen will. Zum anderen wurde das Bundesverfassungsgericht verpflichtet, auf Antrag über Streitigkeiten zu entscheiden, die die Interpretation dieser Regelung betreffen. Ab dem Jahr 2000 hat das Gericht dann in der Tat in mehreren Materien dem Bund die Zuständigkeit abgesprochen, was wiederum den Bund veranlasste, in der ersten Föderalismusreform auf eine Neuregelung der Gesetzgebungskompetenzen zu drängen. Mit einer weiteren Revision des Grundgesetzes wurden 1992 auch die Beteiligungsrechte der Landesregierungen an der europäischen Politik verfassungs­ rechtlich verbrieft. Faktisch galt schon davor, zunächst als gängige Praxis und später durch Gesetz festgelegt, die Regel, dass die Bundesregierung den Bundes­rat informierte, wenn im Ministerrat Verordnungen oder Richtlinien zur Entschei­dung anstanden.52 Die Landesregierungen konnte dann eine Stellungnahme beschließen. Dieses »Bundesratsverfahren« ist nunmehr in Art. 23 GG geregelt ebenso wie die Möglichkeit, dass Vertreter der Länder im Minis49 Roland Czada, Der Kampf um die Finanzierung der deutschen Einheit, 1991  ; Wolfgang Renzsch, Budgetäre Anpassung statt institutionellen Wandels. Zur finanziellen Bewältigung der Lasten des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik, in  : Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland, hrsg. von H. Wollmann, 1986, S. 49 ff. 50 Hartmut Klatt, Zur Notwendigkeit einer Reföderalisierung Gesamtdeutschlands, in  : Politische Studien 42 (1991), S.  355 ff.; Hartmut Klatt, German Unification and the Federal System, in  : German Politics 1 (1992), S. 12 ff. 51 Charlie Jeffery, The Non-Reform of the German Federal System after Unification, in  : West European Politics 18 (1995), S. 252 ff.; Rainer-Olaf Schultze, Statt Subsidiarität und Entscheidungsautonomie – Politikverflechtung und kein Ende  : Der deutsche Föderalismus nach der Vereinigung, in  : Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 225 ff. 52 Günter Jaspert, Die Beteiligung des Bundesrates an der Europäischen Integration, in  : Bundesländer und Europäische Integration, hrsg. von S. Magiera/D. Merten, 1988, S. 87 ff.

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terrat für die Bundesrepublik die Verhandlungsführung übernehmen, was allerdings selten genutzt wurde. In der Zeit, als die Europäische Integration mit den Verträgen von Maastricht (1992) und Amsterdam (1999) deutlich vertieft wurde, erlangten die Idee eines »Europas der Regionen« sowie das Subsidiaritätsprinzip erheblichen Einfluss auf die Änderungen des europäischen Vertragsrechts.53 In diesem wurde der »Ausschuss der Regionen und kommunalen Gebietskörperschaften« verankert, in den jedes Land der Bundesrepublik einen Vertreter entsendet. In Fragen, die die Machtverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten oder die regionale Strukturpolitik betreffen, hat die beratende Stimme des Ausschusses Gewicht,54 Interessen einzelner Regionen können hier aber kaum durchgesetzt werden. Um ihre eigenen Ziele zu verfolgen, richteten die Länder ab 1985 eigene Landesvertretungen in Brüssel ein und 1992 gründeten sie die Konferenz der Europaminister der Länder, die oft zusammen mit dem zuständigen Bundesminister berät, zudem nutzten sie das Bundesratsverfahren.55 Die Entwicklung eines europäischen Mehrebenensystems beruhte auf der »Mobilisierung der Regionen« gegen die zentralisierende Tendenz des Integrationsprozesses.56 Doch bedeutet dies nicht, dass dadurch die partikularen Kräfte im deutschen Bundesstaat maßgeblich gestärkt worden wären, zumal nach der Jahrtausendwende sich auch in der EU die unitarisierenden Marktmechanismen durchsetzten. VII. Föderalismusreformen und die Persistenz der Politikverflechtung: Die Entwicklung des Bundesstaats seit 2000

Nicht nur im europäischen Kontext, sondern auch im deutschen Bundesstaat führten die Bemühungen um eine Regionalisierung seit der Jahrtausendwende letztlich eher zu einer Unitarisierung. Hatte in den beiden Jahrzehnten davor die Idee der Regionalisierung oder eines »neuen Regionalismus« Anklang gefunden, nach der die Europäisierung und Globalisierung zu einer neuen Konstruktion von subnationalen Räumen führen müsse,57 so konzentrierte sich die Föderalis53 Die Politik der dritten Ebene  : Regionen im Europa der Union, hrsg. von U. Bullmann, 1994. 54 Simona Piattoni/Justus Schönlau, Shaping EU Policy from Below. EU Democracy and the Committee of the Regions, 2015. 55 Arthur Benz, Regionen als Machtfaktor in Europa  ; in  : Verwaltungsarchiv 97 (1993), S. 328 ff. 56 Liesbet Hooghe/Gary Marks, Multilevel Governance and European Integration, 2001. 57 Michael Keating, The New Regionalism in Western Europe  : Territorial Restructuring and Political Change, 1998.

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muspolitik in Deutschland nun wieder auf die tatsächlichen oder vermeintlichen Probleme des kooperativen Bundesstaates. Die Länder forderten eine grundlegende Reform der föderalen Ordnung, die die Politikverflechtung zurückführen und Kompetenzen dezentralisieren sollte. Besondere Bedeutung erlangte in diesem Zusammenhang der »Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente«, der am 31.  März 2003 in Lübeck stattfand.58 Die Forderungen der Länder gründeten sich nicht nur auf das Subsidiaritätsprinzip, das besonders innerhalb der CDU und CSU betont wurde, sondern auch auf die ökonomische Theorie des Fiskalföderalismus, die seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend die Diskussionen beeinflusste.59 Ihr zufolge sollte der Wettbewerb zwischen den Ländern gefördert werden, um mehr Effizienz bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben zu erreichen. Diese Ideen trafen vor allem in den wirtschaftsstarken süddeutschen Ländern auf spürbare Resonanz, besonders in Bayern.60 2003 schließlich begann der Prozess, der später als Föderalismusreform I bezeichnet wurde. Bundestag und Bundesrat beschlossen im Oktober dieses Jahres, eine gemeinsame Kommission einzusetzen, die Vorschläge für eine Reform ausarbeiten sollte. Dass es dazu kam, lag auch daran, dass die Bundesregierung, die von den Sozialdemokraten und Grünen gestellt wurde, ihre Reformen in den Bereichen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik durch die Bundesratsmehrheit behindert sah. Angesichts dieser Interessenlage zeichnete sich ab, dass sich Bund und Länder auf ein Tauschgeschäft einigen könnten  : Der Bund sollte dazu Gesetzgebungskompetenzen an die Länder abgeben, die ihrerseits auf Zustimmungsrechte des Bundesrats verzichten sollten.61 Diese Lösung erwies sich aber als schwieriger, als es zunächst schien. Die Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat beendete im Dezember 2004 ihre Arbeit, ohne einen Vorschlag für die Gesetzgebung vorzulegen.62 58 Föderalismuskonvent der Landesparlamente, Dokumentation, hrsg. von Präsident des schleswig-holsteinischen Landtags, 2003, http://starweb.hessen.de/cache/laender/Luebeck2003_foederalismus-konvent.pdf (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 59 Heribert Schatz/Robert Chr. van Ooyen/Sascha Werthes, Wettbewerbsföderalismus. Aufstieg und Fall eines politischen Streitbegriffs, 2000. 60 Daniel Ziblatt, Recasting German Federalism  ? The Politics of Fiscal Decentralisation in Post-Unification Germany, in  : Politische Vierteljahresschrift 43 (2002), S. 624 ff. 61 Arthur Benz, Föderalismusreform in der »Entflechtungsfalle«, in  : Jahrbuch des Föderalismus 8 (2008), S. 180 ff. 62 Die Beratungen und Ergebnisse sind dokumentiert in  : Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, hrsg. von Bundestag/ Bundesrat, 2005.

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Die Schwierigkeiten, eine Einigung zu erzielen, lassen sich darauf zurückführen, dass sich in den Ländern der Partikularismus verstärkt hatte. Im vereinigten Deutschland divergierten die Interessen der Länder stärker als in der »alten« Bundesrepublik, weil die Finanzkraftunterschiede größer waren. Verstärkt wurden diese Divergenzen durch unterschiedliche parteipolitische Konstellationen, die sich schon unmittelbar nach der Wiedervereinigung abzeichneten und sich im weiteren Verlauf verfestigten. Mit der PDS kam in Ostdeutschland eine neue Partei auf, die – seit 2007 unter der Bezeichnung »Die Linke« – das Spektrum der Parteien, die in Parlamenten des Bundes oder der Länder vertreten sind, auf sechs erweiterte. Diese Partei fand bei Bundes- und Landtagswahlen in den ostdeutschen Ländern starken Zuspruch bei der Wählerschaft, während sie im Westen auf weniger Resonanz stieß. Hier wiederum gewannen die Grünen und die FDP bei den meisten Wahlen einen höheren Stimmenanteil als im Osten. Mit anderen Worten, die Parteiensysteme in den Ländern differierten, und das vormals integrierte bundesdeutsche Parteiensystem veränderte sich in einem Prozess der Regionalisierung. Außer der regionalen Variation der Parteikonstellationen in den Ländern äußerte sich diese Entwicklung auch darin, dass die Parteiführungen in den Ländern des Öfteren eine von der Bundespartei abweichende Politik verfolgten. Klaus Detterbeck und Wolfgang Renzsch beobachten gar eine Tendenz zu einer verstärkten politischen Autonomie der Landesverbände der Parteien in Bezug auf ihre elektoralen Strategien, ihre sachpolitischen Orientierungen und die Wahl ihrer Koalitionspartner.63 Diese größere Vielfalt der Landespolitik hatte in den Verhandlungen über die Föderalismusreform zur Folge, dass die Länder zwar eine geschlossene Interessengemeinschaft gegen die Bundesseite bildeten, sie aber tatsächlich in wichtigen Fragen unterschiedliche Auffassungen vertraten. Insbesondere die süddeutschen Länder kämpften für eine weitreichende Dezentralisierung, die von den Ländern, die finanziell auf Zuweisungen des Bundes angewiesen waren, als Weg in den Wettbewerb der Länder betrachtet wurden. Und diesen Wettbewerb fürchteten sie, weil sie sich in einer schlechten Ausgangsposition sahen. Die Vertreter des Bundestags in der Kommission – und die nur beratend mitwirkende Bundesregierung – wiederum waren zwar bereit, Kompetenzen abzugeben, aber in einzelnen Politikbereichen waren sich die Abgeordneten aus unterschied63 Klaus Detterbeck/Wolfgang Renzsch  : Symmetrien und Asymmetrien im bundesstaatlichen Parteienwettbewerb, in  : Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, hrsg. von U. Jun/M. Haas/O. Niedermayer, 2008, S. 52  ; vgl. auch Klaus Detterbeck, The Role of Party and Coalition Politics in Federal Reform, in  : Regional and Federal Studies 25 (2016), S. 645 ff.

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lichen Fraktionen nicht einig. Gleichwohl drängte die Bundesregierung unter dem Eindruck von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts auf eine Regelung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen und machte in diesem Zusammenhang Zugeständnisse an die Länder. Der Kompromiss, der am Ende erarbeitet wurde, wurde von den Ländern als nicht ausreichend abgelehnt, und auch die Bundesseite war nicht zufrieden, weshalb die Kommission in ihrer letzten Sitzung im Dezember 2004 keinen Beschluss fasste.64 Erst im Herbst 2005, nach der Neuwahl des Bundestages, fanden im Rahmen der Verhandlungen über die Bildung einer Großen Koalition wieder Gespräche statt, in denen die in der Föderalismuskommission verbliebenen Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt werden konnten. Die Reform, die mit der Verfassungsänderung von 2006 abgeschlossen wurde, stärkte die Gesetzgebungsrechte der Länder, und sie schwächte die Mitentscheidungsrechte des Bundesrats in der Bundesgesetzgebung. Allerdings blieb die Reform hinter den Erwartungen aller Beteiligten zurück und die Verfassungsänderungen erwiesen sich in der praktischen Politik als weniger weitreichend, als dies in öffentlichen Äußerungen von Politikern dargestellt ­wurde.65 Nicht viel anders endeten die weiteren Reformen des Bundesstaates, wenngleich sie in anderen Verfahren und unter anderen Bedingungen zustande kamen.66 Nachdem die in der ersten Föderalismusreform beschlossenen Verfassungsänderungen, die am 1. September 2006 in Kraft traten, die Finanzverfassung kaum verändert hatten, setzten Bundestag und Bundesrat im Dezember 2006 eine weitere Kommission ein, die sich mit diesem Thema befassen sollte. Doch in den Beratungen, die von März 2008 bis März 2009 dauerten, wurden wiederum wichtige Materien wie die Steuergesetzgebung und der Finanzausgleich nach kontroversen Beratungen ausgeklammert.67 Am Ende ging es fast nur noch um die Begrenzung der Staatsverschuldung. Dabei reagierte die Kommission auf 64 Benz (wie Anm. 61)  ; Fritz W. Scharpf, Föderalismusreform. Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle  ?, 2009, S. 59. ff. 65 Arthur Benz, From Joint-decision Traps to Over-regulated Federalism  – Adverse Effects of a Successful Constitutional Reform, in  : German Politics 17 (2008), S. 440 ff.; Marcus Höreth, Gescheitert oder doch erfolgreich  ? Über die kontroverse Beurteilung der ersten Stufe der Föderalismusreform, in  : Jahrbuch des Föderalismus 8 (2008), S. 139 ff.; German Federalism in Transition, hrsg. von C. Moore/W. Jacoby/A. B. Gunlicks, 2008  ; Scharpf (wie Anm. 64), S. 117 ff. 66 Arthur Benz/Jared Sonnicksen, Advancing backwards  : Why institutional reform of German federalism reinforced joint decision-making, in  : Publius. The Journal of Federalism 48 (2018), S. 134 ff. 67 Vgl. Die gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Die Beratungen und ihre Ergebnisse, hrsg. von Bundestag/ Bundesrat, 2010.

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ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das in seiner Entscheidung über eine Klage des Landes Berlin gegen die Bundesregierung vom Gesetzgeber forderte, Vorkehrungen gegen Haushaltsnotlagen der Länder zu treffen.68 Die Beratungen standen ab September 2008 ferner unter dem Eindruck der signifikant gestiegenen Staatsverschuldung infolge der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Die Kommission einigte sich schließlich auf eine neue verfassungsrechtliche Regelung zur Begrenzung der Neuverschuldung, die als »Schuldenbremse« bekannt wurde. Zugleich schlug sie vor, einen Stabilitätsrat einzurichten, der die Haushaltsplanung von Bund und Ländern überwachen sollte. Die entsprechenden Verfassungs- und Gesetzesänderungen traten am 1. August 2009 in Kraft, wobei die Vorschrift eines ausgeglichenen Haushalts für die Länder erst ab 2020 verbindlich wird. Abgesehen von weiteren Gemeinschaftsaufgaben, die den Ländern eine Zusammenarbeit bei der Informationstechnologie und bei Leistungsvergleichen in der Verwaltung erlauben sollte,69 erbrachte die Reform keine weiteren Veränderungen der institutionellen Strukturen des Bundesstaats. Der Finanzausgleich, dessen Regelung bis Ende 2019 befristet war, wurde erst in der dritten Reform erneuert, die nicht in einer Kommission von Bundestag und Bundesrat, sondern in der Exekutive, das heißt in den Konferenzen der Finanzminister und Regierungschefs des Bundes und der Länder ausgehandelt wurde.70 Nach jahrelangen zähen Verhandlungen einigten sich die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin im Dezember 2016 auf ein Tauschgeschäft. Zunächst legten die Länder einen Vorschlag für einen neuen Finanzausgleich vor, der den Bund mit jährlich etwa 10 Milliarden Euro belastete. In den weiteren Verhandlungen erreichte die Bundesregierung als Gegenleistung der Länder Zugeständnisse bei Verwaltungszuständigkeiten. Der Bund verfügt durch die Änderung des Grundgesetzes vom 13. Juli 2017 nunmehr über erweiterte Kontrollrechte in der Steuerverwaltung und beim Einsatz von Bundesmitteln durch die Länder. Zudem erhielt er die Zuständigkeit für die Regelung eines bundeseinheitlichen Onlineportals der Verwaltungen sowie für die Verwaltung der Fernstraßen.71 Letztlich zeigte sich auch hier die Schwäche der Länder, die di68 Urteil des BVerfG vom Oktober 2006, 2 BvF 3/03, http://www.bverfg.de/e/fs20061019_2bvf000303. html (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 69 Margrit Seckelmann, Renaissance der Gemeinschaftsaufgaben in der Föderalismusreform II  ?  ; in  : Die Öffentliche Verwaltung 62 (2009), S. 747 ff. 70 Rolf Bösinger, Auf dem Weg zu einer Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen, in  : Verhandlungen zum Finanzausgleich, hrsg. von M. Junkernheinrich u. a., 2016, S. 11 ff. 71 Arthur Benz, Staatsorganisation, Föderalismusentwicklung und kommunale Selbstverwaltung  : neue Herausforderungen, eingeschränkte Leistungsfähigkeit, horizontaler und vertikaler Koordi-

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vergierende Interessen verfolgten. Zwar konnten sie sich untereinander auf eine Änderung des Finanzausgleichs einigen, aber nur weil ihre Lösung im Vergleich zur geltenden Regelung kein Land schlechter stellt. Die Kosten dieser Einigung übernahm der Bund, der ein eigenes Interesse an einem Gesetzesbeschluss hatte, der aber durch seine Konzession bei den Finanzen Gegenleistungen in der Kompetenzverteilung durchsetzen konnte. Eine Reform der föderalen Ordnung muss zwischen Bund und Ländern ausgehandelt werden, um die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat sicherzustellen. Sowohl die beiden Föderalismuskommissionen als auch die Konferenzen der Regierungschefs bzw. der Finanzminister stellten spezifische Formen der Politikverflechtung dar, die durch die Regeln der Verfassungsänderung erforderlich sind. In diesen Verhandlungssystemen erweist sich der Partikularismus für die Länder als nachteilig, weil er ihre Verhandlungsmacht gegenüber dem Bund beeinträchtigt. Statt einer Stärkung des Föderalismus durch Dezentralisierung, die noch in der ersten Reform erreicht wurde – mit maßgeblicher Unterstützung durch eine länderfreundliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts72  –, bewirkten die folgenden Reformen letztlich eher das Gegenteil dessen, was beabsichtigt oder versprochen worden war. Die unitarisierenden Kräfte haben letztlich obsiegt. VIII. Schlussfolgerungen

Der deutsche Bundesstaat scheint sich heute mehr denn je in Richtung Zentralisierung und Unitarisierung zu entwickeln. Es scheint also, dass diejenigen Recht behalten haben, die schon immer behaupteten, hinter der föderalen Fassade des Grundgesetzes verberge sich in Wirklichkeit ein Einheitsstaat.73 Genauso scheint sich zu bestätigen, dass sich der Bundesstaat in der »Politikverflechtungsfalle« befindet, weil die Politikverflechtung nicht abgebaut, sondern auf weitere Politikbereiche ausgedehnt wurde.74

nationsbedarf, in  : Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 15 (2017), S. 395 ff., Wolfgang Renzsch, Vom »brüderlichen« zum »väterlichen« Föderalismus  : Zur Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ab 2020, in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 48 (2017), S. 764 ff. 72 Fritz W. Scharpf, Recht und Politik in der Reform des Föderalismus, in  : Politik und Recht, hrsg. von M. Becker/R. Zimmerling, 2006, S. 307 ff. 73 Abromeit (wie Anm. 2). 74 Scharpf (wie Anm. 64).

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Diese Zustandsbeschreibungen mögen die heutige Lage des Föderalismus in Deutschland angemessen beschreiben. Man darf allerdings nicht übersehen, dass im deutschen Bundesstaat immer unitarisierende und partikulare, föderalisierende Kräfte am Werk waren. Im internationalen Vergleich verfügen die deutschen Länder über relativ wenig Gesetzgebungskompetenzen, aber sie können über den Bundesrat und diverse Bund-Länder-Gremien einen erheblichen Einfluss auf die Bundespolitik ausüben.75 Im modernen Staat darf auch nicht unterschätzt werden, dass die Länder über weitreichende Verwaltungszuständigkeiten verfügen, auf die der Bund in vielen Bereichen angewiesen ist, um seine Gesetze in konkrete Herrschaft umzusetzen. Die Landesregierungen wiederum gewinnen durch ihre Verwaltung fundiertes Fachwissen, das es ihnen erlaubt, in bundes- und europapolitischen Entscheidungsprozessen mitzusprechen. Im vorherrschenden Föderalismusverständnis, das auch die Reformen der vergangenen Jahrzehnte und die öffentlichen Diskussionen prägte, werden diese Aufgabenverflechtungen nicht reflektiert, weil man sich darauf beschränkt, eine Trennung der Zuständigkeiten zu fordern in der Hoffnung, dass dadurch die Länder mehr Autonomie gewinnen. So sinnvoll Letzteres ist, so notwendig ist es jedoch auch, effektive und demokratische Formen der Koordination zwischen Bund und Ländern und zwischen Ländern zu suchen. Diese fundamentale Herausforderung wird durch die pauschale Kritik am kooperativen Föderalismus verdeckt. Ebenso erfasst das herrschende Föderalismusverständnis nicht das Zusammenwirken von unitarisierenden und partikularen Kräften und die daraus resultierende Dynamik. Vielmehr scheint die Politik im deutschen Bundesstaat dazu zu tendieren, diese Dynamik zu kontrollieren und durch Verfassungsrecht einzudämmen, sei es beabsichtigt oder unabsichtlich. Jedenfalls ist festzustellen, dass die jüngsten Reformen zu einer detaillierten verfassungsrechtlichen Regulierung der föderalen Ordnung geführt haben. Diese verliert infolgedessen zunehmend ihre Flexibilität, weil Anpassungen der Kompetenzausübung an veränderte Aufgaben formale Verfassungsänderungen erfordern und politische Konflikte zwischen Bund und Ländern vielfach als Kompetenzstreitigkeiten vor das Bundesverfassungsgericht gebracht und dann als Rechtsfragen behandelt werden.

75 Hueglin/Fenna (wie Anm. 1), S. 135 ff. und 205 ff.

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Die alliierten Besatzungszonen und die Länder Deutschlands 1945–1949/52. Gründung Baden-Württembergs 1952.

Unitarisierende und partikulare Kräfte 

Die Bezirke der DDR seit 1952.

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Der Bundesstaat des Grundgesetzes I. Einführung II. Die Entscheidung für den Bundesstaat 1. Bundesstaatlichkeit unter schwierigen Voraussetzungen 2. Das Ringen um den Bundesstaat 3. Das Einheitswollen im Föderativsystem III. Die Unitarisierung des Bundesstaates IV. Politikverflechtung im kooperativen Bundesstaat V. Der Bundesstaat in Europa VI. Renaissance des Föderalismus

I. Einführung

Varietas delectat – die Vielfalt erfreut, so steht es bei Cicero geschrieben.1 Während dies für die sich quer durch Deutschland bietende gastronomische Vielfalt gelten mag, scheint den Deutschen die Freude an der föderalen Vielfalt abhanden gekommen zu sein. Gerade ob der langen Verfassungstradition des deutschen Föderalismus verwundert es doch, wie sehr noch immer mit einem Kernstück deutscher Verfassungs-DNA gefremdelt wird. Deutsche Bundesstaatlichkeit – so scheint es heute – wird von uns Deutschen weniger erlebt als erlitten, zum Föderalismus haben wir ein eher distanziertes Verhältnis. Man kommt beim Anblick der vielen bunten Fähnchen und Wappen um ein wohlig-warmes Gefühl zwar nicht umhin, fragt sich allerdings allzu bald, ob sich das Positive des Föderalismus darin erschöpft. Das Unbehagen mit dem Bundesstaat kann dem Bürger noch nicht einmal übelgenommen werden, erfährt man doch beim Blick in nur Monate zurückliegende Wahlprogramme, Sondierungspapiere und Talksendungen, woran dieser nicht alles schuld sei  : an zu wenigen und zu schlecht ausgestatteten Polizisten, am Versagen im Fall Anis Amri, an Dieselfahrverboten, schlechten PISA-Ergebnissen und, nicht zu vergessen, an kaputten Schultoilet1 Der Verfasser ist Inhaber einer Professur für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg. Mein Dank gilt Herrn Andreas Fuchs, M.A. für vielfältige Anregungen und Gespräche sowie für die Unterstützung bei der Abfassung des Beitrags.

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ten  ; die Sündenliste des deutschen Föderalismus, sie scheint lang.2 Gleichzeitig ist auch der Durchblick im Tohuwabohu deutscher Bundesstaatlichkeit abhandengekommen. Niemand weiß mehr, wer für was zuständig ist, niemand weiß mehr, wer auf welcher Ebene der Staatlichkeit für welche Aufgabe zu wählen ist. Nun ertönt die ein Kompetenzwirrwarr des Bundesstaates beklagende Jeremiade nicht erst seit gestern – im föderalen Gebälk der Bundesrepublik knirscht es schon seit deren Bestehen. Gleichwohl ist der Föderalismus kein Atavismus vergangener Tage, mit dem man seit Beginn hätte unverändert leben müssen  : An keiner anderen Grundentscheidung unserer Verfassung wurde so viel herumgefuhrwerkt wie an der des Bundesstaates, mit keiner anderen Grundentscheidung ist man dennoch ähnlich unglücklich. Die kurzfristig nach der Verabschiedung einer Reform eintretende politische Zufriedenheit weicht meist schnell der Sicherheit, dass der Reformen damit nicht genug sein wird  ; wohl auch, weil man sich in den wirklich großen Fragen bisher nur selten einig werden konnte. Der deutsche Föderalismus – so hat es Heribert Prantl einmal formuliert – sei wie eine aufgeplatzte Weißwurst  : Es werde immer neuer Reformsenf darübergestrichen in der Hoffnung, man könne den Riss verdecken. Den Deckel des nächsten Glases Senf hatte man in beiden Sondierungsgesprächen der Regierungsbildung vorsichtig angelockert, vermochte man doch das Beklagen der erzwungenen Untätigkeit des Bundes im Bildungsföderalismus zu vernehmen. Das, obwohl dem Bund vor noch nicht einmal einem Jahr durch Einfügung des Art. 104c GG erst die Möglichkeit eingeräumt worden war, finanzschwache Kommunen im Bereich ihrer Bildungsinfrastruktur zu unterstützen. Egal wie oft und wie viel reformiert wurde, es schien und scheint nie genug. Hinter dieser Unzufriedenheit mit dem Erreichten steckt der schon 1962 von Konrad Hesse in seiner gleichnamigen Schrift formulierte Befund vom unitarischen Bundesstaat. Es zeigt sich der beständige Drang zur Zentralisierung in einer Ordnung, in der der Föderalismus als integrierendes Prinzip die Bedeutung einer geschichtswirksamen Kraft3 verloren zu haben scheint, oder  : der deutsche Föderalismus weniger als Vielfalt in der Einheit denn als Vielfältigkeit der Möglichkeiten, die Einheit herbeizuführen. Wenn also für die Föderalismusreform von 2017 auch Norbert Lammert den Weg in den Einheitsstaat4 geebnet sah, 2 Dies ist insoweit keine Entwicklung allein der letzten Jahre – vgl. hierzu die »Mängelliste« bei Uwe Berlit, Verfassungsrechtliche Perspektiven des Föderalismus, in  : Föderalismus – Hält er noch was er verspricht  ? Seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch im Lichte ausländischer Erfahrungen, hrsg. von H. H. v. Arnim/G. Fischer/S. Fisch, 2000, S. 63 (64). 3 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 31 f. 4 So Norbert Lammert im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 1. Juni 2017,

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so ist er nicht der Erste, aber auch nicht der Einzige, der um die Zukunft des deutschen Föderalismus bangt. Es drängt sich damit die Frage auf, wie viel von einem Föderalismus deutscher Herkunft und deutscher Prägung5 nach fast siebzig Jahren Staatspraxis noch verblieben ist. Ist die Bundesrepublik noch ein wahrer Bundesstaat oder klammern wir nur noch an seiner Semantik wie an einem unter Denkmalschutz stehenden Etikett  ? Aus Sicht des vom Föderalismus überzeugten Staatsrechtlers lässt ein kurzer Blick in den Verfassungstext des Grundgesetzes zunächst aufatmen. Das Grundgesetz stellt in Art. 20 Abs. 1 GG in bemerkenswerter Redundanz fest, dass es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um einen Bundesstaat handelt. Gleichzeitig versichert ein Blick in Art.  79 Abs.  3 GG, dass die Gliederung des Bundes in Länder sowie die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung jedweder Änderung entrückt sind.6 Auch im Übrigen hallt ein steter Chor vom Bund und den Ländern durch das Grundgesetz, dem dieses rund die Hälfte seines Verfassungstextes widmet, kurzum  : Der Bundesstaat sitzt fest im verfassungsrechtlichen Sattel – eigentlich. Die allgemeine Lebenserfahrung hingegen weiß  : Je häufiger etwas beschworen wird, desto schlechter ist es für gewöhnlich darum bestellt. Dass der Bundesstaat allen verfassungsrechtlichen Schwüren zum Trotz unter einem steten Rechtfertigungsdrang steht, fußt zum einen auf seiner existenten Alternative. Anders als für die Demokratie oder die Republik – der Rückhalt für eine Diktatur hält sich ebenso in Grenzen, wie dies für Remonarchisierungsträume jedenfalls außerhalb Bayerns der Fall scheint – steht mit dem Zentralstaat ein gangbarer und auch in Europa gelebter Gegenentwurf zum Bundesstaat zur Verfügung. Vor dessen Maßstab hat sich der Bundesstaat immer aufs Neue vergleichen zu lassen und muss sich beweisen.7 Zum anderen war die Entscheidung des Grundgesetzes für den Bundesstaat aller Verfassungstradition zum Trotz keine selbstverständliche Folge der Geschichte. http://www.rnd-news.de/Exklusive-News/Meldungen/Aeltere-News/Lammert-Regelungen-zur-Neuordnung-der-Bund-Laender-Finanzen-sind-indiskutabel (letzter Zugriff  : 18.09.2018). 5 Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in  : Handbuch des Staatsrechts, hrsg. von J. Isensee/P. Kirchhof, Band VI, 3. Aufl. 2008, § 126 Rn. 1. 6 Eine bemerkenswerte Redundanz ergibt sich auch hier insoweit, als die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze – und so auch der Föderalismus – ohnehin von der Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst sind. 7 Zu dem durch Alternativen wachsenden Legitimationsdruck siehe nur Josef Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 248 (248 f.)  ; ders. (wie Anm. 5), § 126 Rn. 322 ff.

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II. Die Entscheidung für den Bundesstaat 1. Bundesstaatlichkeit unter schwierigen Voraussetzungen

Der deutsche Föderalismus stand nach 1945 vor durchaus schwierigen Voraussetzungen, hatte er doch in der jüngeren Geschichte deutscher Verfassungstradition ein eher durchwachsenes Leben geführt. Noch im Bismarckreich der souveränen Fürstentümer war der Föderalismus trotz aller Machtverschiebungen fest eingeplantes Kalkül, ein Bollwerk der verbliebenen monarchischen Souveränität gegen die nationaldemokratischen und parlamentarischen Bestrebungen.8 Stärker werdende Zentripetalkräfte ließen Deutschland – zunächst noch obrigkeitlich den kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten des Ersten Weltkrieges, später der sozialliberalen Reformdogmatik der Weimarer Geburt geschuldet  – den Weg des Föderalismus zugunsten fortschreitender Unitarisierungstendenzen verlassen, die schließlich im gleichgeschalteten Einheits- und Führerstaat des nationalsozialistischen Terrors kulminierten  ; die langanhaltende Geschichte deutschen Föderalismus war damit vorerst beendet.9 Der Föderalismus hatte aber auch mit einer territorialen Hypothek zu kämpfen  : Anders als die Demokratie, der Rechts- oder der Sozialstaat, die abseits ihrer konstitutionellen Niederschrift schon ihres ethisch-moralischen Gehalts wegen Gültigkeit verlangen, wohnt dem Bundesstaat für sich genommen keine normative Kraft inne. Der Bundesstaat ist nicht Ausgangspunkt, sondern Konsequenz territorial begrenzter kulturell, sozial- oder wirtschaftsstruktureller Gegebenheiten  ; er ist, dem ihn tragenden Boden entrissen, materiell substanzlos.10 Auf ein   8 Zum Föderalismus in der Reichsverfassung von 1867/1871 vgl. nur Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band II, 1992, S. 92 ff.; Erich Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917, S. 21 ff.; Stefan Oeter, Integration und Subsidiarität im Bundesstaatsrecht, 1998, S. 29 ff.; Christoph Möllers, Der parlamentarische Bundesstaat – Das vergessene Spannungsverhältnis von Parlament, Demokratie und Bundesstaat, in  : Föderalismus – Auflösung oder Zukunft der Staatlichkeit  ?, hrsg. vo.n J. Aulehner u. a., 1997, S. 81 (82 ff.)  ; Siegfried Weichlein, Föderalismus und Bundesstaat zwischen dem Alten Reich und der Bundesrepublik Deutschland, in  : Handbuch Föderalismus, hrsg. von I. Härtel, Band I, 2012, § 3 Rn. 28.   9 Zum Einfluss des Ersten Weltkriegs vgl. nur Oeter (wie Anm. 8), S. 53 f. Zum Föderalismus in der Weimarer Republik instruktiv Stefan Fisch, Von der Föderation der Fürsten zum Bundesrat des Grundgesetzes, in  : Föderalismus – Hält er noch was er verspricht  ? (wie Anm. 2), S. 29 (34 f.)  ; Oeter (wie Anm. 8), S. 53 ff.; Hans Schneider, Die Reichsverfassung vom 11. August 1919, in  : Handbuch des Staatsrechts hrsg. von J. Isensee/P. Kirchhof, Band I, 3. Aufl. 2003, § 5 Rn. 23 ff. Für den Umbau des Föderalismus unter nationalsozialistischer Herrschaft vgl. Rolf Grawert, Die nationalsozialistische Herrschaft, in  : ebd., § 6 Rn. 11 ff.; Oeter (wie Anm. 8), S. 87 ff. 10 Zur Frage der Verwachsung des radizierten Staatstypus »Bundesstaat« nur Isensee (wie Anm. 7), S. 248 (259).

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solch historisch gewachsenes Staatsbewusstsein und eine Staatstradition konnten sich nach 1945 jedoch höchstens noch die beiden Hansestädte und Bayern berufen. Im Übrigen hatte der Parlamentarische Rat mit den vorgefundenen Fragmenten Vorlieb nehmen müssen  ;11 von den unter alliierter Ägide weniger originär als originell 12 zusammengesetzten Provisorien zeugen noch heute die Bindestrichstaaten. Von den Plänen, der wiederaufzubauende deutsche Staat solle erneut ein föderaler werden, zeigte sich das Nachkriegsdeutschland daher durchaus gespalten. Selbst das Versagen des Weimarer Verfassungssystems und die Schreckensherrschaft des »Dritten Reiches« hatten nichts daran geändert, dass der Föderalismus nicht wenigen als Rezidiv des bereits überwunden Geglaubten galt, als bösartige Marotte von Querköpfigen […], die der Einheit des Ganzen widerstreben.13 Die als kollektive Schicksalsgemeinschaft empfundene Not der Kriegsfolgen tat ihr Übriges, kurzum  : Um ein föderales Deutschland schien es schlecht bestellt. 2. Das Ringen um den Bundesstaat

Anders gekommen war es am Ende trotzdem. Wohl auch deshalb hält sich noch heute die Mär von der deutschen Bundesstaatlichkeit als Oktroi der Besatzungsmächte, das dem Parlamentarischen Rat in der Hoffnung in den Entwurf diktiert wurde, ein föderales Deutschland werde seine Kräfte in inneren Reibungen aufzehren.14 Aus ihrer Präferenz für ein bündisch gegliedertes Deutschland hatten 11 Vgl. Konrad Hesse (wie Anm. 3), S. 12  ; Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 60  ; von Provisorien spricht Michael Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit 1945–1949, in  : Handbuch des Staatsrechts (wie Anm. 9), § 7 Rn. 3  ; Susanne Greulich, Länderneugliederung und Grundgesetz – Entwicklungsgeschichte und Diskussion der Länderneugliederungsoptionen nach dem Grundgesetz, 1995, S. 24 ff. 12 So Theodor Heuss in der dritten Sitzung des parlamentarischen Rates  : Ich will niemand zu nahe treten, aber manche dieser Staaten sind weniger originär als originell in der Art, wie sie geworden sind. Nun den Status einer richtigen Staatlichkeit in diesen, bald hätte ich gesagt, Sauzustand der deutschen Länderverordnung hineinzulegen, bitte, das wollen wir uns eigentlich schenken. Wenn wir hier von den Landtagen gewählt worden sind, so sind die Landtage im Augenblick Behelfsheime der deutschen Existenz überhaupt. Im stenographischen Protokoll finden sich hierzu  : Lebhafte Zurufe  : Sehr gut  ! Und Heiterkeit, Parlamentarischer Rat, Plenum, 3. Sitzung vom 9. September 1948, Stenographische Berichte, S. 41. 13 Diese Haltung beklagt Wilhelm Röpke, Föderalismus – national und international, in  : Neue Zürcher Zeitung vom 24. Mai 1949. Zum Zeitgeist siehe sonst auch Helmut Lindemann, Das antiquierte Grundgesetz, 1966, S. 576 oder die Darstellung bei Franz W. Jerusalem, Zentralismus und Föderalismus, in  : Festschrift für Wilhelm Laforet, hrsg. von A. Süsterhenn u. a., 1952, S. 37 (39). 14 So äußert sich beispielsweise der frühere preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff, der

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die Alliierten  – und unter ihnen zuvorderst Frankreich  – zwar nie einen Hehl gemacht.15 Der Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit erfolgte aber ohnehin von unten nach oben, über Kommunal- und Kreisverwaltungen zu den Länderverwaltungen  ; der Bundesstaat war nicht weniger als die konsequente Folge.16 Vor allem aber bestand unter den deutschen politischen Parteien schon vor Zusammentreten des Parlamentarischen Rates wohl auch von Realismus geprägte Einigkeit darüber, dass ein neugeordnetes Deutschland nicht die Gestalt des von den Nationalsozialisten geschaffenen zentralistischen Einheitsstaates behalten konnte.17 Streit 1949 auf der ersten Sitzung des Finanzausschusses der Ministerpräsidenten resümiert  : Wir stehen vor einem Grundgesetz, das nicht aus unserem freien Willen seine Fassung erhalten hat, sondern das uns gerade in diesem Punkt [der Bundesstaatlichkeit, Anm.  des Verf.] von der Besatzungsmacht aufgezwungen wurde, zit. n. Thomas Aders, Die Utopie vom Staat über den Parteien  – Biographische Annäherungen an Herrmann Höpker-Aschoff, 1944, S. 277  ; Die SPD verwahrte sich auf ihrer gemeinsamen Konferenz vom 28./29. Juni 1948 gegen jedwede Versuche, Deutschland verfassungsrechtliche Konstruktionen aufzuzwingen, vgl. Michael G. M. Antoni, Sozialdemokratie und Grundgesetz, Band I  : Verfassungspolitische Vorstellungen der SPD von den Anfängen bis zur Konstituierung des Parlamentarischen Rates 1948, 1991, S. 187 f. Ähnliche Anwürfe finden sich auch bei Hans Peter Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950. Differenzierter hingegen Wilhelm Grewe, Das Grundgesetz – Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland II, Deutsche Rechts-Zeitschrift 1949, S.  313–317. Siehe auch Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 58 f.; Willi Geiger, Mißverständnisse um den Föderalismus – Vortrag gehalten vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 24. Januar 1962, 1962, S. 1. 15 Entsprechende Vorgaben finden sich beispielsweise im Frankfurter Dokument I, das den Ministerpräsidenten der Länder von den Militärgouverneuren am 1. Juli 1948 übereicht wurde, abgedruckt im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band I, Einleitung, S.  40 ff. oder im Memorandum der alliierten Militärgouverneure vom 2.  März 1949, abgedruckt im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Band I, Einleitung, S. 106 ff. Allgemein zur Rolle der alliierten Besatzungsmächte im verfassungsgebenden Prozess Deutschlands vgl. nur Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in  : Handbuch des Staatsrechts (wie Anm. 9), § 8  ; im Bezug auf den Bundesstaat insbesondere auch Oeter (wie Anm. 8), S. 96 ff. 16 Vgl. hierzu Georg-Christoph von Unruh, Die Lage der deutschen Verwaltung zwischen 1945 und 1949, in  : Deutsche Verwaltungsgeschichte, hrsg. von ders./K. G. A. Jeserich/H. Pohl, Band V, 1987, S. 70 ff.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht – Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 2. Aufl. 2001, S. 111 f.; Siegfried Weichlein (wie Anm. 8), § 3 Rn. 46. 17 Vgl. hierzu Klaus Kröger, Die Entstehung des Grundgesetzes, in  : Neue Juristische Wochenschrift 1989, S.  1318 (1320)  ; Isensee (wie Anm.  7), S.  248 (253)  ; Mußgnug (wie Anm.  15), §  8 Rn. 52  ; Bernd Grzeszick, in  : Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von T. Maunz/G. Dürig, 81. Aufl. 2017, Art.  20 GG  – Die Grundlagen des Bundesstaates, Rn. 10  ; Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S. 69 ff.; Rudolf Morsey, Verfassungsschöpfung unter Besatzungsherrschaft, in  : Die Öffentliche Verwaltung 1989, S. 471 (473).

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herrschte weniger über den Bundesstaat an sich, sehr wohl hingegen über den Grad von dessen Dezentralisierung.18 Der politische Dissens in der Verfassungsfrage ist maßgeblich vom Konflikt der Unitaristen und Föderalisten geprägt und lässt sich hierin im Wesentlichen auf zwei Kardinalpunkte reduzieren  : Erstens wurde die Geburtsstunde der Initiative für die Neuordnung Deutschlands von einem Zuständigkeitsstreit dominiert. Nachdem die Besatzungsmächte der Bildung von Parteien und deren politischer Betätigung mit zu erwartender Skepsis gegenüberstanden,19 hatten zunächst die Länderexekutiven versucht, das politische Machtvakuum auch entgegen ihrer jeweiligen Parteienaffinität in der Verfassungsfrage für sich zu nutzen.20 So präsentierte 1946 die Bayerische Staatsregierung einen schon fast staatenbündischen Entwurf, der die Bundesregierung als Kollegialorgan aus Vertretern der Landesregierungen und einen Bundestag aus Delegierten der Landtage zusammengesetzt vorsah.21 Der Entwurf überstand jedoch noch nicht einmal die Verständigung im Länderrat, und auch andere Versuche der Länder, das politische Heft des Handelns in der Hand zu behalten – so beispielsweise die Münchner Ministerpräsidentenkonferenz im Juni 194722 –, scheiterten letztlich an den an Momentum gewinnenden Parteien, die eine derartige Länderzentrierung strikt ablehnten.23 Zweitens war damit die Beteiligung der Länder im zukünftigen Föderalstaat unausweichlich in den Mittelpunkt des verfassungspolitischen Diskurses gerückt. Die Demarkationslinie der politischen Auseinandersetzung verlief nicht immer entlang der Parteigrenzen, sondern oftmals durch diese hindurch. Noch vergleichsweise unisono sah die Sozialdemokratie unter Kurt Schumacher in Anknüpfung an ihre zentralistische Tradition die Chance gekommen, Deutschland nach dem Vorbild der französischen republique une et indivisible ein überwiegend 18 Siehe nur Walter Strauß, Zu den Problemen des deutschen Föderalismus, in  : Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht – Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, hrsg. von O. Bachof u. a., 1955, S. 116  ; Olle Nymann, Der westdeutsche Föderalismus, 1960, S. 188 f. 19 Zum Neuaufbau der politischen Parteien nach 1945 vgl. nur Marie Elise Foelz-Schroeter, Föderalistische Politik und nationale Repräsentation 1945–1947, 1974, S. 40 ff. 20 Vgl. ebd., S. 43 ff. 21 So der Entwurf des Verfassungsreferenten der Bayerischen Staatskanzlei, Friedrich Glum, von 1946, abgedruckt bei  : ders., Der künftige deutsche Bundesstaat, 1948, S. 31 ff. 22 Zur Ministerpräsidentenkonferenz am 5. und 6. Juni 1947 vgl. nur Foelz-Schroeter (wie Anm. 19), S. 103 ff.; Thomas Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945–1949, 1983, S. 275 ff. 23 Vgl. hierzu Foelz-Schroeter (wie Anm. 19), S. 129 ff.; Eschenburg (wie Anm. 22), S. 279 f.; Oeter (wie Anm. 8), S. 103 ff.

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unitarisch geprägtes Antlitz zu geben.24 Die Entwürfe aus sozialdemokratischer Feder konnten die frappierende Ähnlichkeit mit einem dezentralisierten Einheitsstaat Weimarer Prägung25 jedenfalls nicht verleugnen. Unitarische bis antiföderalistische Tendenzen und gedankliche Anknüpfungen an das Reichsreformerbe fanden sich jedoch auch bei der FDP26 sowie bei den norddeutschen Landesverbänden der CDU, hier indes mit eher nationalkonservativen Anklängen.27 Zahlenmäßig unterlegener Widerstand gegen die Unitarisierungsfront leisteten – wenig überraschend – die bayerische CSU, die in der Frage ebenso wenig geeint war wie die CDU, deren west- und süddeutsche Landesverbände den norddeutschen Verbänden schon ihres der katholischen Soziallehre entspringenden Erbes des Subsidiaritätsgedankens wegen nicht folgen wollten.28 Der von den Ländern für August 1948 mit dem Ziel der Bindung des Parlamentarischen Rates eingesetzte Herrenchiemseer Verfassungskonvent war damit schon gescheitert, bevor er überhaupt begonnen hatte. Der betont föderale Entwurf entfaltete im Parlamentarischen Rat sodann zwar keine politische und erst recht nicht juristische Bindungswirkung,29 hatte aber mit zwei Kernfragen den Finger in die verfassungspolitische Wunde gelegt  :30 Erstens  : Welcher Natur und mit welchen Befugnissen sollte eine mögliche zweite Gesetzgebungs24 Vgl. hierzu Antoni (wie Anm. 14), S. 69 ff., 106 f., 130, 157 ff.; Weichlein (wie Anm. 8), § 3 Rn. 47  ; Oeter (wie Anm. 8), S. 103 ff. 25 So kommentiert Werner Sörgel, Konsensus und Interessen, 1969, S. 58 ff. die auf dem Nürnberger Parteitag 1947 entstandenen »Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik«, abgedruckt bei Antoni (wie Anm. 14), S. 106. 26 So beispielsweise der frühere preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff, der sich schon in der Weimarer Republik als Unitarier hervorgetan hatte, vgl. nur seine Schrift »Deutscher Einheitsstaat – Ein Beitrag zur Rationalisierung der Verwaltung« von 1928  ; zu seinem späteren Eingangsreferat zur bundesdeutschen Finanzverfassung für den Finanzausschuss vgl. Aders, (wie anm. 14), S. 236 ff. Ähnlich zeigen sich auch die Richtlinien für die künftige Verfassung der FDP der britischen Besatzungszone vom 27. August 1947, abgedruckt bei Frank R. Pfetsch, Verfassungspolitik der Nachkriegszeit, 1985, S. 103 ff. Allgemein zur FDP in der Frage der Bundesstaatlichkeit eines neuen Deutschlands Karl Heinz Lamberty, Die Stellung der Liberalen zum föderativen Staatsaufbau in der Entstehungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, 1981. 27 Vgl. hierzu Kröger (wie Anm. 17), S. 1318 (1322 ff.)  ; Oeter (wie Anm. 8), S. 107 ff.; Eschenburg (wie Anm. 22), S. 193 f. 28 Vgl. Oeter (wie Anm. 8), S. 107  ; Johannes Volker Wagner, Einleitung, in  : Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, hrsg. für den Deutschen Bundestag v. K. G. Wernicke und für das Bundesarchiv v. H. Booms, Band I, 1975, S. LIV f. 29 Vgl. Oeter (wie Anm. 8), S. 116. 30 Ein Abdruck des Entwurfes des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee findet sich in  : Der parlamentarische Rat 1948–1949. Akten und Protokolle, hrsg. für den Deutschen Bundestag v. K. G. Wernicke und für das Bundesarchiv v. H. Booms, Band II, 1981, S. 579 ff.

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kammer ausgestattet sein  ? Und zweitens  : Wie sollte die Finanzverfassung des künftigen Bundesstaates gestaltet werden  ? Die Vorstellungen hinsichtlich einer zweiten Kammer waren schnell in den beiden Optionen eines Bundesrates oder eines direkt gewählten Senates amerikanischer Couleur kondensiert, die Verhandlungen dafür umso mehr festgefahren  : Während SPD und FDP am Senatsmodell festhielten, musste die CDU/CSU erst mühsam und recht brüchig mit der gemeinsamen Linie des Bundesratsmodells Frieden schließen.31 Ähnlich starr zeigte sich auch das Geschehen in der Frage der neuen Finanzverfassung  : Die Vorschläge des Herrenchiemseer Verfassungskonvents waren schnell verworfen32 und die Fronten zwischen einer unitarischen SPD und FDP einerseits sowie einer eher föderalen CDU/CSU und DP andererseits auch hier verhärtet. Ein politischer Konsens schien zunächst nahe, als sich auch in Teilen der CDU/CSU-Fraktion Sympathien für eine von Robert Lehr erarbeitete Kompromisslösung eines Bundesrats-Senats-Kompositums auszubreiten schien. Dass wir dieses heute jedoch nicht im Grundgesetz finden, ist dem legendären konspirativen Treffen im Bonner Hotel Königshof am 26.  Oktober 1948 geschuldet.33 Da der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) die Felle des von ihm favorisierten »reinen« Bundesratsmodells davonschwimmen sah, versuchte er einem Kompromiss durch föderative Nägel mit Köpfen zuvorzukommen  : Beim Abendessen mit dem nordrhein-westfälischen Innenminister und stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Walter Menzel bot er  – so will es die Legende – das Tauschgeschäft »Bundesrat gegen unitarische Finanzverfassung« an, Menzel akzeptierte.34 Allem Toben der übergangenen CDU/ 31 Der nicht bindende Fraktionsbeschluss der CDU/CSU erging auf der Sitzung vom 23. September 1948 mit knapper Mehrheit von 15   : 13 Stimmen, vgl. hierzu  : Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat  – Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, bearb. von R. Salzmann, 1981, S.  27, 30. Ausführlich hierzu Oeter (wie Anm. 8), S. 127 ff. 32 So auch Hermann Höpker-Aschoff in seinem Eingangsreferat für den Finanzausschuss, hierzu Aders (wie Anm. 14), S. 236 ff.; zur Finanzverfassung im Parlamentarischen Rat vgl. ferner Oeter (wie Anm. 8), S. 131 ff. 33 Vgl. hierzu Fisch (wie Anm. 9), S. 29 (38)  ; Rudolf Morsey, Die Entstehung des Bundesrates im Parlamentarischen Rat, in  : Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft – Beiträge zum 25-jährigen Bestehen des Bundesrates, hrsg. von Deutschen Bundesrat, 1974, S.  63 (71)  ; ferner auch Dieter Düding, Föderalismus contra Unitarismus  – Der Föderalismusstreit im Parlamentarischen Rat (1948/49) und die Rolle des NRW-Innenministers Walter Menzel bei der Entstehung der bundesstaatliche Ordnung, in  : Der schwierige Weg zur Demokratie, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfahlen, 1990, S. 235–249  ; Aders (wie Anm. 14), S. 255 f.; Oeter (wie Anm. 8), S. 133 ff. 34 Der »Forschungsstand« in der Frage, ob und welche Gegenleistungen von Ehard versprochen wurden, ist nicht einheitlich, vgl. hierzu die Nachweise bei Oeter (wie Anm. 8), S. 129, Anm. 201.

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CSU-Fraktion zum Trotz35 fand der Bundesrat damit Einzug in das Grundgesetz, nicht jedoch die unitarische Finanzverfassung der SPD.36 Diese war auf den letzten Metern dem Widerstand der alliierten Militärgouverneure zum Opfer gefallen und musste einer abgeschwächten Fassung mit dennoch unitarischen Zügen weichen.37 Das Ergebnis eines jahrelangen Ringens um den Föderalismus war zwar ein Bundesstaat, der indes in einem Sammelsurium von Kompromissen den unitarischen Tendenzen der Mehrheit nachgeben musste  : Der Bundesrat war nun zwar aus Vertretern der Landesregierungen zusammengesetzt, aber  – soweit hatte Hans Ehard der SPD und Walter Menzel nachgeben müssen  – dem Bundestag nicht gleichberechtigt gegenübergestellt  ; von dieser Beschränkung des Bundesratsmodells zeugt noch heute die Unterscheidung von Zustimmungs- und Einspruchsgesetzen. Bei den Gesetzgebungsbefugnissen hatte man sich auf das umfassende Ausdeklinieren eines Katalogs in den Art. 70 ff. des Grundgesetzes geeinigt, der den Ländern die grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz, dem Bund indes weitreichende ausschließliche, konkurrierende und  – inzwischen wieder aus der Verfassung getilgte – Rahmengesetzgebungskompetenzen zugestand. Die Verwaltungshoheit der Länder war zwar grundsätzlich festgeschrieben, dem Einfluss des Bundes aber durch die Möglichkeit der Majorisierung einzelner Länder im Bundesrat nicht entzogen. Die finanzpolitische Autonomie der Länder war dem Bund wiederum fast gänzlich geopfert worden  ; die alleinige Bundesfinanzverwaltung wurde nur mit alliierter Rückendeckung noch in letzter Sekunde verhindert.38

35 Konrad Adenauer lässt sich in der Fraktionssitzung vom 28. Oktober 1948 mit der Frage zitieren, wie man für ein Linsengericht die wirksame Sicherung des Föderalismus verkaufen konnte, vgl. ders., in  : Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat (wie Anm. 31), S. 92. 36 Die Bundesratslösung war auch maßgeblich durch das Aide-mémoire der alliierten Militärgouverneure vom 22. November 1948 gestützt worden, vgl. hierzu Richard Ley, Föderalismus-Diskussion innerhalb der CDU/CSU, 1978, S. 108. 37 Diese hatten ihrer Ablehnung der unitarischen Finanzverfassung in dem Aide-mémoire vom 22.  November 1948 sowie dem Memorandum zum Grundgesetz vom 2.  März 1949 Ausdruck verliehen, vgl. hierzu auch Oeter (wie Anm. 8), S. 134 ff.; Aders (wie Anm. 14), S. 257, 261 ff.; Ley (wie Anm. 36), S. 108 f.; Morsey (wie Anm. 17), S. 471 (478). 38 Der von den Alliierten im Rahmen ihrer Intervention erarbeitete Vorschlag, der u. a. auch die alleinige Bundesfinanzverwaltung verwarf, findet sich abgedruckt bei Klaus-Berto von Doemming/ Rudolf Werner Füßlein/Werner Matz, Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in  : Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwatt, N. F. 1 (1951), S. 1 (784 ff.)

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3. Das Einheitswollen im Föderativsystem

Ernstlich zufrieden zeigte sich über diesen Hybridbundesstaat niemand  : Den Föderalisten war der Bundesstaat deutlich zu unitarisch, den Unitaristen noch zu föderal. Dass in diesem labilen Föderalismus39 Anhänger beider Denkschulen versuchen würden, die Republik im Rahmen der Spielräume des Grundgesetzes nach ihrer staatsorganisatorischen Façon umzubauen, war ebenso absehbar wie der Ausgang dieses Widerstreits. Für deutsches Denken, so beschrieb es 1952 Franz W. Jerusalem, ist der zentralistische Staat die normale Staatsform. Er erscheint einfach, durchsichtig in seinem Aufbau, wirksam durch die Kulminierung aller Funktionen in einem, wenn auch nur gedachten Mittelpunkt, billig in bezug auf die Mittel, die für den staatlichen Aufbau benötigt werden. Im Gegensatz dazu erscheint der föderalistische Staat kompliziert, schwerfällig in der Art der Durchführung der staatlichen Aufgaben, teuer. Vor allem scheint er dem Prinzip der Gleichheit, das als eines der wichtigsten Verfassungsprinzipien gilt, zu widersprechen, wenn auf einer Unzahl von Gebieten wegen deren Selbstständigkeit der eingeordneten Gemeinwesen eine durchgehende Rechtseinheit fehlt.40

Mit seiner Einschätzung sollte Jerusalem Recht behalten, sein Befund war jedenfalls in der Sache gedeckt  : 1952 sprach sich die demoskopisch ermittelte Mehrheit der Bundesbürger für die Abschaffung der Länder zugunsten eines Einheitsstaates aus,41 die Zahl der überzeugten Föderalisten in der deutschen Bundes- und Landespolitik war hingegen überschaubar.42 Während föderalistische Bestrebungen nur kurzzeitig Aufwind erhielten, hatte sich der Bundesstaat neben der Denunziation als Oktroi der Alliierten43 39 So formuliert dies 1961 Hans Ehard, Das Verhältnis von Bund und Ländern und der Bundesrat, Bayerische Veraltungsblätter 1961, S. 1 (1). 40 Jerusalem (wie Anm. 13), S. 37 (39). Ähnlich artikuliert diesen Befund Geiger (wie Anm. 14), S. 8. 41 49 Prozent der 1952 von Demoskopie Allensbach befragten Deutschen befanden die Idee, die Landtage und Landesregierungen zugunsten eines aus Bonn gelenkten Einheitsstaates abzuschaffen, für »sehr gut«, 5 Prozent signalisierten zurückhaltende Zustimmung, 21 Prozent lehnten dies ab und 25 Prozent enthielten sich einer eigenen Auffassung. Die Ergebnisse auch im Zeitverlauf finden sich abgedruckt bei Herbert Schneider, Ministerpräsidenten – Profil eines politischen Amtes im deutschen Föderalismus, 2001, S. 26. 42 Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Parlamentarischen Rat Anton Pfeiffer (CSU) taxierte die Zahl der Föderalisten in der noch am ehesten föderalen Unionsfraktion auf nur 16 Abgeordnete, zitiert bei Peter Jakob Kock, Bayerns Weg in die Bundesrepublik, 1983, S. 286 ff. 43 Vgl. hierzu die Nachweise in Anm. 14.

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schon bald als Atavismus44 bezeichnen lassen müssen, als hypertrophe Apparateaufblähung, die die sachgerechte Wahrnehmung staatlicher Aufgaben behindere.45 Auch in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre fand die Bundesstaatskritik reichlich Zuspruch. Die Länder als Staaten wurden in die Sphäre des Fiktiven46 gerückt, als bloße Selbstverwaltungskörperschaften, denen trotz ausgedehnter Autonomie keine Staatsqualität zukommen könne.47 Überhaupt schien die Frage nach der Quelle der Staatsgewalt von Bund und Ländern die Staatsrechtslehre zu beschäftigen. Heftig gestritten wurde so um die Frage, ob den Ländern originäre Staatsgewalt zukomme48 oder diese nur vom Bund als Oberstaat abgeleitet sei.49 Dass das vorherrschende Paradigma eines Als-ob-Föderalismus50 schon bald von der staatsrechtlichen auf die politische Sphäre überschwappen würde, war genauso zu erwarten. Als Vorreiter zeigte sich dabei beispielsweise der erste Bundesminister der Justiz, Thomas Dehler (FDP), der dem Bundesrat gleich jegliche Zuständigkeit auf dem Gebiet der allgemeinen Politik absprach  ; ihm seien allgemeine Äußerungen oder öffentliche Diskussionen über die Regierungspolitik untersagt.51 Ähnlich Dramaturgisches spielte sich auch bei der Taxierung der Rolle des Bundesrates in der Außenpolitik sowie der Frage der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen ab. Der Ärger der Unitaristen über die von Föderalisten und Alliierten versagte Einheit hatte sich Luft verschafft.

44 Vgl. Werner Weber, Fiktionen und Gefahren des westdeutschen Föderalismus, in  : Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, hrsg. von W. Weber, 1951, S. 65 (96). 45 Ebd. S. 65 (86). 46 Die Qualifizierung des bloß fiktiven Charakter des föderativen Aufbaus findet sich bei Weber (wie Anm. 44), S. 65 (70). 47 Vgl. Werner Weber, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz, 1949, S.  13, der indes auf Carlo Schmid, Die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, in  : Die Öffentliche Verwaltung 1949, S. 204 verweist. 48 Vgl. insoweit beispielsweise Hans Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, S. 39. 49 So beispielsweise Otto Koellreuter, Deutsches Staatsrecht, 1953, S.  137 ff. Ferner auch der Justizminister des Landes Hessen, Georg August Zinn, Der Bund und die Länder, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 36 (1949), S. 291 (295 f.). Vgl. allgemein zum Diskurs der Staatsrechtslehre über den Bundesstaat nur Oeter (wie Anm. 8), S. 145 ff. 50 So Oeter (wie Anm. 8), S. 149. 51 Eine entsprechende Wiedergabe findet sich bei Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953, 1984, S. 303 sowie bei Hans Lechner, Zur Entwicklung der Rechtsstellung des Bundesrates, in  : Die Öffentliche Verwaltung 1952, S. 417 (418). Zum Positionskampf zwischen Thomas Dehler und dem Bundesrat vgl. ferner Oeter (wie Anm. 8), S. 158.

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III. Die Unitarisierung des Bundesstaates

Dieses Streben nach der Einheit des Ganzen war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Unstreitig – so stellte dies Konrad Hesse 1962 in seiner paradigmatischen Schrift zum unitarischen Bundesstat fest – war mit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Egalisierung in Deutschland auch ein Impuls der staatlichen Unitarisierung gesetzt worden  : Eine sachliche Unitarisierung, so Hesse, sei nicht mehr als eine Erscheinung, die aus der Notwendigkeit der Zeit resultiert  ; sie aufhalten zu wollen, würde letztlich ein vergebliches Unterfangen sein und die normative Kraft der Verfassung in äußerste Gefahr bringen.52 Der Gedanke des objektiven Weltgeistes als rechtsschöpferische Kraft53 erfreute sich durchaus verfassungsrechtlicher Beliebtheit. Als Einfallstor des unitarischen Faktums, dem sich das Verfassungsrecht zu fügen habe,54 stellte sich schon bald der Leitgedanke der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse heraus, der die Spannungslage von Einheit und Vielfalt prägen sollte.55 Dieser war im Grundgesetz zwar durchaus angelegt, keineswegs jedoch als eine bisweilen zum Verfassungsgebot hochstilisierte Maxime.56 Soweit die Begründung oder Legitimation dieses Prinzips überhaupt für nötig gehalten wurde, verwies man neben den funktionalen Notwendigkeiten der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor allem auf den Sozialstaat, der in der Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nur seine egalisierende Ergänzung gefunden habe57 und 52 Hesse (wie Anm. 3), S. 21. 53 Oeter (wie Anm. 8), S. 535. 54 So Peter Selmer, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, in  : Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 52 (1993), S. 10 (22). 55 Vgl. hierzu ebd., S. 10 (19 f.). 56 Vgl. Arnold Köttgen, Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigene Verwaltung, in  : Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 3 (1954), S. 67 (71)  ; Harald Hohmann, Der Verfassungsgrundsatz der Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, in  : Die Öffentliche Verwaltung 1991, S. 191 ff.; Ferdinand Kirchhof, Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschland, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 52 (1993), S. 71 (83 f.)  ; Joachim Wieland, Einen und Teilen – Grundsätze der Finanzverfassung des vereinten Deutschlands, in  : Deutsche Verwaltungsblätter 1992, S. 1181 (1182, 1192)  ; Dieter Carl, Kompetenz und Pflicht des Bundes zur Unterstützung strukturschwacher Regionen, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 114 (1989), S. 450 (463 ff.)  ; Erwin Teufel, Föderalismus in Deutschland – Vortrag anlässlich der Eröffnung des Wintersemester 1998/99 am 17.  November 1998, hrsg. von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1998, S. 15. Zur Renaissance des Gedankens im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung vgl. nur die weiteren Nachweise bei Oeter (wie Anm. 8), S. 536, Anm. 21. 57 Siehe auszugsweise nur Hans Pagenkopf, Der Finanzausgleich im Bundesstaat, 1981, S.  157 f.;

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eine weitgehende sachliche Unitarisierung gebiete.58 Weitgehend einig war man sich jedenfalls, dass die unzureichend aufgeklärte Wortkombination59 des sozialen Bundesstaates in Art.  20 Abs.  1 GG jedenfalls ein rechtsverbindliches Gebot zur Wahrung eines Mindeststandards für wesentliche Lebensverhältnisse statuieren könne.60 Der unitarische Sozialstaat, so formulierte es Peter Selmer, überwältigte mühelos die bundesstaatliche Differenzierungskomponente.61 Auch der Rechtsstaat wurde mit Erfolg als eine die Unitarisierung induzierende Kraft bemüht – das Bundesverfassungsgericht werde dem Grundgesetz später den Grundsatz der Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung entnehmen und der Feststellung Konrad Hesses, der soziale Rechtsstaat verlange nach Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit,62 verbindlichen Charakter verleihen.63 Entscheidend war jedoch  – und dahingehend ist auch Konrad Hesses Warnung vor den Gefahren für die normative Kraft der Verfassung zu verstehen –, dass man auch die Bevölkerung als Anhänger eines unitarischen Lebensgefühls vermutete.64 Mit dem Verlust des Rückhalts der Bürger für den Föderalismus ähnlich auch Herbert Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in  : Probleme des Finanzausgleichs I, hrsg. von W. Dreißig, 1978, S. 135 (147 f.)  ; Paul Feuchte, Die bundesstaatliche Zusammenarbeit in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 98 (1973), S. 473 (480). Siehe auch die Darstellung bei Sigrid Boysen, Gleichheit im Bundesstaat, 2005, S. 275 ff. 58 Vgl. das Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland der Kommission für die Finanzreform (sog. Troeger-Kommission), 1966, Tz. 74  ; Hesse (wie Anm. 3), S. 13, 32  ; Peter Badura, Auftrag und Grenzen der Verwaltung im sozialen Rechtsstaat, in  : Die Öffentliche Verwaltung 1968, S. 446 (455)  ; Peter Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen 1968, S. 12  ; Arnold Köttgen, Der soziale Bundesstaat, in  : Neue Wege der Fürsorge  : Rechtsgrundlagen, Arbeitsformen und Lebensbilder – Festgabe für Hans Muthesius, hrsg. von H. Aichinger, 1960, S. 19 (23, 29)  ; Martin Bullinger, Die Zuständigkeit der Länder zur Gesetzgebung, in  : Die Öffentliche Verwaltung, S. 761 (762). 59 So Selmer (wie Anm. 544), S. 25  ; ähnlich auch Isensee (wie Anm. 5), § 126 Rn. 270. 60 Vgl. hierzu die Nachweise bei Oeter (wie Anm. 8), S. 539, Anm. 39. 61 Selmer (wie Anm. 54), S. 10 (20). Ähnliches findet sich auch bei Walter Schmitt Glaeser, Rechtspolitik unter dem Grundgesetz, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 107 (1982), S. 337 (355), der den Föderalismus als augenscheinliches Opfer der Dominanz des Sozialstaates wähnt. 62 Hesse (wie Anm. 3), S. 13. 63 Vgl. insoweit BVerfGE 98, 83 (97) – Landesabfallabgaben  ; 98, 106 (118 f.) – Kommunale Verpackungssteuer  ; 98, 265 (301) – Bayerisches Schwangerenhilfeergänzungsgesetz. 64 So nimmt dies auch Hans Ehard, Die geistigen Grundlagen des Föderalismus  – Vortrag gehalten am 3. Juni 1954 im Rahmen einer Vortragsreihe der Universität München, hrsg. von der Bayerischen Staatskanzlei, 1968, S. 17 an. Vgl. ferner Selmer (wie Anm. 4), S. 20  ; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in  : Politik als gelebte Verfassung – Festschrift für Friedrich Schäfer, hrsg. von J. Jekewitz u. a., 1980, S. 182 (194)

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war auch dessen politische Machtbasis erodiert und damit waren die bundespolitischen Unitarisierungsinteressen auf den Plan gerufen. Konsequenterweise vollzog sich die Unitarisierung des Bundesstaates zuvorderst im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen, hatte die Zauberformel der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse doch in Art.  72 Abs.  2 GG wortwörtlich in die Kompetenzordnung des Grundgesetzes Einzug gehalten. Das Bonner Grundgesetz ging dabei grundsätzlich von der in Art.  70 Abs.  1 GG festgeschriebenen Gesetzgebungszuständigkeit der Länder aus, soweit ein Gegenstand nicht enumerativ dem Bund übertragen worden war. Neben der ausschließlichen wurde dem Bundesgesetzgeber auch eine konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis eingeräumt, zu dessen Gebrauch ihn Art. 72 Abs. 2 GG nur autorisiert, soweit der Bedarf für eine einheitliche Regelung besteht. Tatsächlich lag das Übergewicht der Gesetzgebung jedoch schon bei Annahme des Grundgesetzes beim Bund. Wie ernst es dem Parlamentarischen Rat mit der restriktiven Auslegung der Befugnisse zugunsten der Residualkompetenz der Länder war, konnte man schon an Art. 125 GG ablesen, der jeglichem vorkonstitutionellem Recht auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung auch ohne Bedürfnisprüfung Gültigkeit verlieh, solange es nur die Entnazifizierung überstanden hatte.65 Von den unter Vorbehalt der Bedürfnisklausel stehenden Kompetenztiteln der konkurrierenden Gesetzgebung machte der Bund in der Folge in einem Ausmaß Gebrauch, dass Roman Herzog diese Phase später furor teutonicus legislativus66 taufen würde. Mit Vorschub des Bundesverfassungsgerichts, das die Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG als nicht-justiziable Frage des gesetzgeberischen Ermessens des Bundes qualifiziert hatte,67 war die von den alliierten Militärgouverneuren im Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz ursprünglich vorgegebene restriktive Auslegung über Bord geworfen.68 Mittels teleologisch extensiver Auslegung und – wo das nicht half – dem Auffinden ungeschriebener Gesetzgebungskompetenzen kraft Sachzusammenhang oder kraft macht eine auf die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse drängende Erwartungshaltung der Bürger aus. 65 Vgl. hierzu Fritz W. Scharpf, Föderalismusreform – Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle, 2009, S. 19. 66 Roman Herzog, Der Einfluss des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes seit 1949, in  : Der Bundesrat (wie Anm. 33), S. 235 (243 f.). 67 BVerfGE 2, 213 (224 f.) – Straffreiheitsgesetz. 68 Vgl. hierzu Ziffer 7 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure der britischen, französischen und amerikanischen Besatzungszone zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949, abgedruckt im Amtsblatt der Militärregierung – Deutschland (Britische Zone), Ausgabe Nr. 35, 10. September 1949, Teil 2B, S. 29 f.

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Natur der Sache verdrängte der Bund nach und nach die Länder aus der konkurrierenden Gesetzgebung – im Ergebnis hatte der Bund sie alleinig besetzt.69 Ähnlich deutlich ließ sich eine Kompetenzaushöhlung auf dem zu Beginn noch in Art.  75 GG bestehenden Gebiet der Rahmengesetzgebung beobachten. Die Wahrnehmung der Kompetenztitel war systembedingt vor allem dort zum Zuge gekommen, wo es einer bundeseinheitlichen Regelung am wenigsten bedurft hätte. Gleichzeitig reizte der Bund auch dort die ihm übertragene Kompetenz weitreichend aus  ; etwas oberlehrerhaft musste das Bundesverfassungsgericht so im Urteil zur Juniorprofessur darauf hinweisen, dass ein Rahmen schon definitorisch nur dann gegeben sei, wenn er prinzipiell auf die Ergänzung durch Landesnormen angelegt sei.70 Von der intrinsischen Ausweitung der vorhandenen Normen abgesehen hatte der Bund auch – wenngleich mit Zustimmung des Bundesrates – ihm zuvor nicht zustehende Titel der Kompetenzsystematik an sich gezogen. Hierunter zählten unter anderem die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für die Besoldung und Versorgung der Landesbediensteten (Art.  74a GG), Regelungsbefugnisse im Bereich der Gefahrenabwehr  – so beispielsweise die Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a und 24 GG) – oder die oben bereits erwähnte Rahmenkompetenz für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens (Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a GG).71 Eine wichtigere als eigentlich angelegte Rolle ließ sich der Bund auch in der Steueraufkommensverteilung des Grundgesetzes angedeihen  ; die Erforderlichkeit dazu – dies vermag nun kaum mehr zu überraschen – war mit der Unhaltbarkeit eines Zustands der unterschiedlichen Besteuerung in den Bundesländern72 und dem Bedürfnis der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse73 begründet worden. 69 Scharpf (wie Anm. 655), S. 19  ; Martin Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen im Bundesstaat, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 96 (1971), S. 237–285  ; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999, Tz. 236. Die Kompetenzen kraft Natur der Sache und kraft Sachzusammenhang waren – anders als die Bedürfnisklausel – lange Gegenstand einer eher restriktiven Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht, vgl. insoweit nur BVerfGE 3, 407 – Baugutachten  ; weiterführend auch Gunter Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971, S. 28 f.; Hans-Jürgen Wipfelder, Die Theoreme »Natur der Sache« und »Sachzusammenhang« als verfassungsrechtliche Zuordnungsbegriffe, in  : Deutsche Verwaltungsblätter 1982, S. 477 (480 ff.). 70 BVerfGE111, 226 (249) Juniorprofessur. 71 Vgl. hierzu nur Scharpf (wie Anm. 65), S. 21. 72 Vgl. hierzu den Regierungsentwurf, BT-Drs. 2/480, S.  62  ; ferner auch Karl M. Hettlage, Die Finanzverfassung im Rahmen der Staatsverfassung, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 14 (1956), S. 2 (21 f.). 73 Siehe hierzu die Nachweise bei Wolfgang Renzsch, Finanzverfassung und Finanzausgleich, 1991, S. 136. Vgl. ferner zur Finanzreform von 1995 nur Oeter (wie Anm. 8), S. 181 ff.

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Die Gesetzgebungswut des Bundes ließ jedoch nicht nur das legislative Federkleid der Länder gerupft zurück, sondern gewann auch maßgeblichen Einfluss auf die Verwaltungsspielräume der Länder. Im Bundesstaat des Grundgesetzes – so ist es der Regelfall – werden die Bundesgesetze nicht durch den Bund selbst, sondern von den Ländern ausgeführt. Mit zunehmender bundesrechtlicher Regelungsdichte nahmen indes gleichsam auch die Handlungsspielräume der Länder ab. Dies galt nicht allein für das materielle Recht  ; auch das Organisations- und Verfahrensrecht ihrer Verwaltungen war den Ländern immer mehr entglitten. Das Selbstverwaltungsrecht der Landesverwaltungen im landeseigenen Vollzug aus Art.  84 Abs.  1 GG hatte sich mit der Inanspruchnahme der Möglichkeit des Bundes, mit Zustimmung des Bundesrates verfahrensrechtliche Regeln zu treffen (zuvor Art. 85 Abs. 1 S. 1 2. Halbsatz GG, mittlerweile Art. 85 Abs. 2 GG), fast in Luft aufgelöst  ; auch von der sich mit Zustimmung des Bundesrates ergebenden Möglichkeit der Einzelweisungen nach Art. 84 Abs. 5 GG hatte der Bund umfangreich Gebrauch gemacht.74 In der Bundesauftragsverwaltung war der materielle Gesetzgebungsüberhang des Bundes ebenso bemerkbar. Die Kombination aus einer weitgehenden finanziellen Trägerschaft von Leistungsgesetzen und der Einfügung eines neuen Art. 104a GG, der für diesen Fall die Bundesauftragsverwaltung verfügt, hatte dem Bund über Art. 85 Abs. 3 GG auch ein Weisungsrecht über die Landesbehörden zukommen lassen.75 Für den Bereich der bundesunmittelbaren Verwaltung hatte die Unitarisierung die Gestalt einer Vielzahl neugeschaffener Bundesoberbehörden angenommen  – sehr viel mehr, als der VIII. Abschnitt des Grundgesetzes dies hätte vermuten lassen. Dort, wo die verfassungsrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, versuchte der Bund sich durch parakonstitutionelle Bundeseinflüsse76 Ingerenz zu verschaffen. Dahingehende Versuche zeigten sich beispielsweise in Gestalt der Koordination des Verwaltungsvollzugs mittels Rundschreiben des Bundes, die die Einhaltung von Richtlinien für die Ausübung des Verwaltungsermessens nahelegten. Ein weiteres Beispiel war die Zurverfügungstellung zweckgebundener Bundeszuschüsse für Landesaufgaben, deren Vergabe mit der Einhaltung von

74 Vgl. hierzu Hesse (wie Anm. 3), S. 18  ; Boysen (wie Anm. 57), S. 71 ff.; Kirsten Schmalenbach, Föderalismus und Unitarismus in der Bundesrepublik Deutschland – Die Reform des Grundgesetzes von 1994, 1998, S. 20 ff. 75 Vgl. Boysen (wie Anm. 577), S. 72  ; Bullinger (wie Anm. 588), S. 761 (766). 76 So Köttgen (wie Anm. 56), S. 67 (89 f., 142 f.).

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Bundesrichtlinien verbunden war.77 Die Unterwanderung des Verwaltungsmonopols der Länder78 durch den Bund war damit komplettiert.79 Als endgültige Mediatisierung der Länderverwaltung entpuppte sich schließlich die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Diese war zwar mit Ausnahme der grundgesetzlich ohnehin vorgesehenen Bundesgerichte eine Domäne der Länder geblieben  – weniger als Justizhoheit denn als Justizverwaltungshoheit  ; den materiellen Anteil hatte der omnipräsente Bundesgesetzgeber bereits für sich beansprucht.80 Die fortschreitende Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte81 bis hin zur vollen Nachprüfbarkeit von unbestimmten Rechtsbegriffen hatte die Länder zu bloßen Ausführungsorganen des Bundesgesetzgebers degradiert.82 Der Unitarisierungsspielraum des Bundes war damit weitgehend erschöpft, die Unitarisierung des Bundesstaates damit aber noch nicht abgeschlossen. Den letzten Sargnagel der Länderautonomie setzten die Länder in Eigenregie. So erheiternd sich zunächst die mancherorts vertretene staatsrechtliche Auffassung liest, der Verfassung sei ein Gebot der vertraglichen Koordination des Länderverhaltens dort, wo die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse es gebiete, der Bund jedoch keine Zuständigkeit besitze, zu entnehmen,83 war eben dies der letzte Akt der Zentralisierung. Den Unkenrufen nach der Vereinheitlichung auch ihrer letzten Residualkompetenzen waren die Länder mit der Einrichtung der Kultusministerkonferenz noch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes zuvor77 Vgl. Hesse (wie Anm. 3), S. 18. Zur Verwendung von bundeseinheitlichen Richtlinien siehe ferner Wolfgang Bouska, Zur Verfassungsmäßigkeit von bundeseinheitlichen Richtlinien, in  : Neue Juristische Wochenschrift 1962, S. 620 ff.; zum Einsatz zweckgebundener Bundeszuschüsse vergleiche nur Wilhelm Henle, Die Förderung von Landesaufgaben aus Bundesmitteln, in  : Gemeinschaftsaufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden  – Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 11 (1961), S. 63–78. 78 Köttgen (wie Anm. 56), S. 67 (82). 79 Instruktiv zur Unitarisierung der Verwaltung im Bundesstaat  : Boysen (wie Anm.  57), S.  71 ff.; Hesse (wie Anm. 3), S. 16 ff.; Köttgen (wie Anm. 56), S. 67–147  ; ders., Das Verwaltungsverfahren als Gegenstand der Bundesgesetzgebung, in  : Die Öffentliche Verwaltung 1952, S. 422–425. 80 Hesse (wie Anm. 3), S. 16. 81 Hierzu nur Günter Püttner, Handlungsspielräume der Verwaltung und Kontrolldichte des gerichtlichen Rechtsschutzes, in  : Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle – Göttinger Symposium, hrsg. von V. Götz/H. H. Klein/C. Starck, 1985, S. 131 (133 f.). 82 Vgl. hierzu Boysen (wie Anm. 57), S. 73  ; Oeter (wie Anm. 8), S. 429 ff.; Bullinger (wie Anm. 58), S. 761 (766)  ; ders., Das Ermessen der öffentlichen Verwaltung – Entwicklung, Funktionen, Gerichtskontrolle, Juristenzeitung 1984, S. 1001–1009. 83 So Rolf Groß, Kooperativer Föderalismus und Grundgesetz, in  : Deutsche Verwaltungsblätter 1969, S. 93 (96).

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gekommen. In der Hoffnung, eine gegenseitige Koordination der Länderpolitik würde Unitarisierungsdebatten verstummen lassen, war eine Litanei von Fachministerkonferenzen, Kommissionen, Fachbruderschaften auf Ministerialverwaltungsebene und Verwaltungsabkommen selbst dort entstanden, wo den Ländern sonst der Rest autonomer Gestaltungsmöglichkeit verblieben wäre.84 Allein bis 1960 erblickten so 339 Staatsverträge und Verwaltungsabkommen85 sowie über 500 Beschlüsse der Kultusministerkonferenz der Trizone sowie der ständigen Konferenz der Kultusminister86 das Licht der Welt. Ähnliches ist auch für Teile der Landesgesetzgebung festzustellen. So lesen sich die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder im Wortlaut fast gleich, für das Polizei- und Ordnungsrecht gilt jedenfalls materiell Ähnliches. Konnten sich die Länder in der Frage der Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz noch auf die Übermacht des Bundes im deutschen Föderalismus berufen, um die Aushöhlung ihrer Kompetenzen zu begründen, zeigte nicht zuletzt die Selbstgleichschaltung87 der Länder, dass die Unitarisierung inmitten des Bundesstaates angekommen war. IV. Politikverflechtung im kooperativen Bundesstaat

Viele der hier skizzierten Einzelheiten der Unitarisierung des Bundesstaates sind mittlerweile wieder Schall und Rauch – auf der Dauerbaustelle des deutschen Föderalismus gilt morgen nicht, was gestern noch war. Die stete Reform deutscher Bundesstaatlichkeit von den Anfängen der Unitarisierung in den 1950er Jahren bis in die Gegenwart nachzuzeichnen würde Bände füllen  ; ich möchte es daher bei einer Rekapitulation der zentralen Entwicklungslinien belassen  : Die Vereinheitlichung im deutschen Föderativstaat setzte sich mit der Virulenz der Leitgedanken der Rechtseinheit und Einheitlichkeit der Lebensver84 Vgl. hierzu Oeter (wie Anm.  8), S.  415  ; Kisker (wie Anm.  69), S.  49 ff.; Hesse (wie Anm.  3), S.  19  ; Karlheinz Neunreither, Der Bundesrat zwischen Politik und Verwaltung, 1959, S.  105  ; Hans Schneider, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 19 (1961), S.  1–85  ; Hans-Jürgen Papier, Reformstau durch Föderalismus, in  : Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa, hrsg. von D. Merten, 2007, S. 123 (125 f.)  ; Sabine Kropp, Kooperativer Föderalismus und Politikverflechtung, 2010, S. 134 ff. 85 Vgl. Schneider (wie Anm. 844), S. 1 (36 ff.). 86 Vgl. ebd., S. 1 (34). 87 So Peter Lerche, Zustimmungsgesetze, in  : Vierzig Jahre Bundesrat, hrsg. vom Bundesrat, 1989, S. 183 (188).

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hältnisse unwidersprochen bis in die 1970er Jahre fort.88 Erst dann hatte man ob der mit der Unitarisierung erzielten Resultate begonnen, die fortschreitende Zentralisierung ernstlich in Frage zu stellen, und der Föderalismus erlebte ein Aufflackern am verfassungsrechtlichen Firmament.89 Befeuert wurde die Debatte über die Neuordnung des deutschen Bundesstaates von der Wiedervereinigung Deutschlands und der Gewissheit, dass diese die Strukturprobleme des deutschen Föderalismus noch verschärfen könnte.90 So hatten insbesondere Landtage91 und Ministerpräsidenten92 der Länder gefordert, endlich der Erosion des Föderalismus Einhalt93 zu gebieten. Die Reform des Grundgesetzes von 1994 hatte mit diesen Forderungen indes wenig gemein. Selbst der Minimalkompromiss der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat stieß auf unitarisches Unbehagen  : Zu groß sei die Gefahr von Rechtszersplit88 Derartige Anklänge fanden sich auch noch in der am 8. Oktober 1970 eingesetzten Enquêtekommission Verfassungsreform, vgl. hierzu Oeter (wie Anm. 8), S. 304 ff. 89 Als Wortführer dieser Bewegung tritt zuvorderst Fritz W. Scharpf mit dem Konzept der Politikverflechtung in Erscheinung, vgl. hierzu dessen Beiträge  : Komplexität als Schranke der politischen Planung, in  : Gesellschaftlicher Wandel und Innovation – Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Mannheim (Sonderheft 4/1972 der Politischen Vierteljahresschrift), 1972, S. 168–192.; ders., Politische Probleme eines Planungsverbundes zwischen Bund und Ländern, in  : Recht und Politik 8 (1972), S.  102–106  ; ders./Bernd Reissert/Fritz Schnabel, Politikverflechtung – Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976. Ferner auch Klaus König, Funktionen und Folgen der Politikverflechtung, in  : Politikverflechtung II  – Kritik und Berichte aus der Praxis, hrsg. von F. W. Scharpf/B. Reissert/F. Schnabel, 1977, S. 75–86  ; Manfred Bulling, Die unnötige Politikverflechtung, in  : ebd., S. 104–116  ; Helmut Klatt, Reform und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland – Stärkung der Länder als Modernisierungskonzept, in  : APuZ 28 (1986), S. 3–21. 90 Vgl. insoweit Hans-Peter Schneider, Die bundesstaatliche Ordnung im vereinigten Deutschland, Neue Juristische Wochenschrift 1991, S. 2448–2455  ; Volker Kröning, Kernfragen der Verfassungsreform – Plädoyer für eine Konzentration auf das Wesentliche, in  : ZRP 24 (1991), S. 161–166  ; Hasso Hofmann, Zur Verfassungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Staatswissenschaften und Staatspraxis 6 (1995), S. 155–181. 91 Siehe auszugsweise den Gemeinsamen Beschluss der Konferenz der Landtagspräsidenten von 1978, abgedruckt bei Walter Rudolf, Wende im Bundesstaat  ?, in  : Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat – Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 343 (349 f.)  ; eine Bekräftigung der Forderung erfolgte durch erneuten Beschluss auf der Konferenz vom 14. Januar 1983, abgedruckt in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 14 (1983), S. 357–361. 92 Vgl. so beispielsweise den gemeinsamen Beschluss der Ministerpräsidenten vom 5. Juli 1990, abgedruckt in  : Zeitschrift für Parlamentsfragen 21 (1990), S. 461–463. Ferner auch Schneider (wie Anm. 90), S. 2448 (2454). 93 So der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) in der 238. Sitzung des Bundestages vom 30. Juni 1994, Plenarprotokoll 12/238 vom 30. Juni 1994, S. 20982 B (20984 B).

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terung und dem Verlust der Handlungsfähigkeit des Gesamtstaates94 dieser Verschiebung der Statik des Grundgesetzes95. Erst der Vermittlungsausschuss ließ das Änderungsgesetz im zweiten Anlauf Bundestag und Bundesrat passieren.96 In der Reform hatte man sich unter anderem darauf verständigt, die Ära der nicht justiziablen Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu beenden und an deren Stelle die verfassungsgerichtlich nachprüfbare97 Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu setzen  ; die Uhr der Ausbreitung des Bundes in der konkurrierenden Gesetzgebung wurde damit jedoch nicht zurückgedreht.98 Weitere große Schritte nahm die Entwicklung mit der – so hatte sie Edmund Stoiber getauft – Mutter aller Reformen, der Föderalismusreform I von 2006,99 die die Gesetzgebungszuständigkeiten neuzuordnen suchte, sowie der Föderalismusreform  II von 2009, die sich im Spiegel der Finanz- und Staatsschuldenkrise insbesondere durch die Einführung einer Schuldenobergrenze einen Namen gemacht hat.100 So sehr  94 Siehe dahingehend die Äußerungen in der 238. Sitzung des Bundestages vom 30.  Juni 1994 und insbesondere die Äußerungen der Abgeordneten Margret Funke-Schmitt-Rink, Plenarprotokoll 12/238 vom 30. Juni 1994, S. 20988B–20989C  ; ferner auch der Mitarbeiter der CDU/ CSU-Fraktion Rüdiger Sannwald, Die Reform der Gesetzgebungskompetenzen und des Gesetzgebungsverfahrens nach den Beschlüssen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, in  : Zeitschrift für Gesetzgebung 9 (1994), S. 134–145. Instruktiv zur Gemeinsamen Verfassungskommission auch Oeter (wie Anm. 8), S. 363 ff.  95 Wilhelm Hennis, Auf dem Weg in eine ganz andere Republik – Die geplante Verfassungsreform verschiebt die Statik des Grundgesetzes, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 48 vom 26. Februar 1993, S. 35.  96 Siehe hierzu die Ausführungen bei Oeter (wie Anm. 8), S. 370 ff.  97 Vgl. hierzu insbesondere die Einfügung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a als Unterfall der abstrakten Normenkontrolle, der jeglichen Zweifel darüber, ob die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse der verfassungsgerichtlichen Nachprüfbarkeit unterliegt, auszuräumen beabsichtigte, vgl. hierzu den Abschlussbericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat vom 5.  November 1993, BT-Drs. 12/6000, S.  33. Siehe ferner Friedrich Adolf Jahn, Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes, Deutsche Verwaltungsblätter 1994, 177 (180)  ; Christian Starck, Die Bundesstaatlichkeit und die Gemeinsame Verfassungskommission, in  : Vertrauen in den Rechtsstaat – Beiträge zur Deutschen Einheit im Recht – Festschrift für Walter Remmers, hrsg. von J. Goydke u. a., 1994, S. 159 (163).  98 So auch Oeter (wie Anm. 8), S. 371.  99 Siehe nur die kurze Darstellung der wichtigsten Veränderungen im Rahmen der Föderalismusreform I bei Reimut Zohlnhöfer, Die Problemlösungsfähigkeit des deutschen Föderalismus nach den Reformen der Großen Koalition, in  : Föderalismus als Verfassungsrealität – Deutschland und Kanada im Vergleich, hrsg. von A.-G. Gagnon/R. Sturm, 2011, 193 (194 f.). Ausführlicher hierzu Christoph Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, in  : Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2006, S. 1209–1216. 100 Zur Föderalismusreform II von 2009 siehe nur Peter Selmer, Die Föderalismusreform II – Ein

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man sich einer allzu pauschalisierenden Bewertung von Jahrzehnten deutscher Reformpolitik enthalten sollte, so muss doch gesagt sein, dass sie den Trend zu einem zentralistischer werdenden Staat nicht aufgehalten und erst recht nicht umgekehrt haben. Das letzte Kapitel dieser Reformgeschichte des Bundesstaates, die eingangs bereits erwähnte Föderalismusreform  III des vergangenen Jahres, ist nicht weniger als das Paradigma dieser Entwicklung  : Keine andere Reform hat so deutlich gemacht, wie die moderne Unitarisierung im Bundesstaat vonstattengeht. In Jahrzehnten deutscher Staatspraxis hat der Bund die Spielart deutscher Föderalpolitik perfektioniert, Lösungen weniger in einem Kompromiss als in einem Deal herbeizuführen. Was zunächst wie ein und dasselbe klingt, macht in der Praxis einen weitreichenden Unterschied. Im Deal geht es nicht darum, zwei Interessen in der gleichen Sache zum Ausgleich zu bringen, sondern das Interesse des einen zulasten des anderen durchzusetzen und diesen dafür mit einem Aliud zu kompensieren. In der Föderalismusreform  III ließ sich der Bund von den Ländern weitergehende Kompetenzen versprechen, so beispielsweise die zentrale Autobahngesellschaft des Bundes, den Ausbau der Kompetenzen des Stabilitätsrates sowie die des Bundes in der Steuerverwaltung, die Kontrollrechte des Bundesfinanzhofes bei der Mischfinanzierung, ferner die Möglichkeit der Gemeindesteuerkraftzuweisungen und der Bildungsinfrastrukturförderung. Überall sollte der Bund die Möglichkeit erhalten, ein bisschen mehr als zuvor mitzuregieren. Das Kompensationsaliud war in diesem Fall der schnöde Mammon  : Der Bund hatte den Ländern im Gegenzug angeboten, die schon lange bestehenden Querelen zwischen Geber- und Nehmerländern im Länderfinanzausgleich mittels der Berliner Geldschatulle zu beenden  ; der Länderfinanzausgleich wird zum Bundesfinanzausgleich. Die Länder willigten ein – Deal  ! Die Föderalismusreform III ist aber auch in anderer Hinsicht ein Sinnbild für einen Bundesstaat, in dem es eine saubere Trennlinie zwischen Aufgaben und Kompetenzen des Bundes und solchen der Länder nicht mehr zu geben scheint. Dafür zeichnet nicht ausschließlich, jedoch maßgeblich die skizzierte finanzielle Bemächtigung des Bundes in der Finanzverfassung des Grundgesetzes verantwortlich. Über eine Vielzahl von Reformen hatte der Bund das im Grundgesetz auf Drängen der Föderalisten im Wesentlichen angelegte Trennsystem

verfassungsrechtliches monstrum simile, in  : Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2009, 1255– 1262  ; André W. Heinemann, Föderalismusreform  II  – Ergebnisse und Reformbedarf, in  : Verwaltung und Management 15 (2009), S. 136–145.

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der Steueraufkommensverteilung aufgeweicht.101 Die finanzschwachen Länder hatte sich der Bund mit Hilfe der Fondswirtschaft, Finanzhilfen und Bundesbeteiligung, stellenweise mit der Androhung von deren Entzug,102 fiskalisch gefügig gemacht, aber auch die finanzstarken Länder waren auf den Bund angewiesen,103 war ihm durch das Grundgesetz doch die konkurrierende Gesetzgebung auch für die ausschließlich den Ländern zufließenden Steuern zugewiesen worden. Am Ende einer jahrzehntelangen Aneinanderreihung von Reformen war der Großteil der Steuern in dem Bund und den Ländern gemeinsam zustehende »Verbundsteuern« umgewandelt worden. Mit den Ländern am Tropf des Bundes war die Mitfinanzierung der Länderaufgaben durch den Bund formalisiert und von der Zustimmung des Bundesrates oder von einer gemeinsamen Planung von Bund und Ländern abhängig.104 Dem nicht genug hatte sich ein Bereich der parakonstitutionellen Mischfinanzierung herausgebildet, in dem überwiegend im Kulturbereich Ländereinrichtungen von gesamtstaatlicher Bedeutung mit Bundesmitteln finanziert wurden.105 Als krönenden Abschluss präsentierten sich die Gemeinschaftsaufgaben, mit denen – so sagt es schon der Wortlaut – die Trennung von Aufgaben des Bundes und der Länder gleich völlig aufgegeben wurde.106 Der Albtraum finanzverfassungsrechtlicher Interdependenzen war geboren. Freilich hat das Durcheinander der deutschen Kompetenzordnung nicht allein fiskalische Gründe  ; nicht immer haben sich die Länder Kompetenzen bloß durch die finanzverfassungsrechtlichen Versuchungen des Bundes abkaufen lassen. Die zweite Währung der Verflechtung hieß Mitbestimmung. Bei der Hochzonung von Gesetzgebungszuständigkeiten von den Ländern auf den Bund – sei 101 Vgl. zur Entwicklung der Unitarisierung und Verflechtung im Rahmen der Finanzverfassung Scharpf (wie Anm. 65), S. 23 ff.; Boysen (wie Anm. 57), S. 75  ; Kropp (wie Anm. 84), S. 90 ff. 102 Vgl. Oeter (wie Anm. 8), S. 274 f.; Renzsch (wie Anm. 73), S. 180. 103 Dies war allerdings auch auf den horizontalen Finanzausgleich zurückzuführen, vgl. insbesondere zu den Verhandlungen über das Finanzausgleichsgesetz von 1957 und 1958 als Paradebeispiel dessen nur Renzsch (wie Anm. 733), S. 183 ff. 104 Vgl. hierzu Scharpf (wie Anm. 65), S. 22 ff. 105 Zur Mischfinanzierung siehe Peter M. Huber, Deutschland in der Föderalismusfalle  ? 2003, S. 10 f. Als verfassungsrechtliche Grauzone betitelte dies Siegfried Heinke, Die Staats- und Finanzverfassung der Bundesrepublik in ihrem Widerstreit zur Verfassungswirklichkeit, in  : Finanzwissenschaft und Finanzpolitik – Erwin Schoettle von Freunden und Kollegen gewidmet, hrsg. von F. Schäfer, 1964, S. 49 ff. 106 Vgl. zu den Gemeinschaftsaufgaben und der Finanzverfassung nur Huber (wie Anm.  105), S. 9 f.; Scharpf (wie Anm. 65), S. 25 f.; Oeter (wie Anm. 8), S. 282 ff., 292 ff., 456 ff.; Boysen (wie Anm. 57), S. 79 ff.

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es willfährig durch verfassungsrechtliche Übertragung von Kompetenztiteln, sei es durch das Fehlen nennenswerter Gegenwehr gegen eine extensive Rechtssetzung – waren die Länder jedoch nicht leer ausgegangen. Das do ut des  ! der Länder war mit der Einräumung von Mitwirkungsrechten an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes entschädigt worden.107 Leidtragende dieser Entwicklung waren damit nicht einmal die Länder als solche, auch wenn sie mit der Übertragung auf den Bund ihre autonome Entscheidung aufgegeben und sich dem Risiko der Majorisierung im Bundesrat ausgesetzt hatten. Die größten Verlierer waren vielmehr die Landesparlamente  : Mit dem Übergang der Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern auf den Bund waren die Einflussmöglichkeiten auch von den Landesparlamenten auf den Bundesrat und damit de facto auf die Landesregierungen übergegangen  ;108 der Bundesrat war fast zu der zweiten Kammer geworden, die Walter Menzel dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard 1948 noch versagt hatte.109 Dieser Umbau von einem Selbstbestimmungsföderalismus zu einem Mitbestimmungsföderalismus kam den Landesregierungen nicht einmal unrecht. Zum einen war damit die bundespolitische Sichtbarkeit der Landespolitiker gestärkt, zum anderen zogen sie die Verhandlungen innerhalb ihrer vertikalen Ressort-Kumpanei110 im Bundesrat ohnehin der mühsamen Auseinandersetzung mit Landtagsabgeordneten und Landräten vor.111 Der deutsche Bundesstaat, so resümiert dies Peter Lerche, ist zu 107 Siehe hierzu nur Scharpf (wie Anm. 65), S 56 ff.; Huber (wie Anm. 1055)  ; Oeter (wie Anm. 8), S. 264 ff. 108 Vgl. hierzu Joachim Link, Haben die deutschen Landesparlamente noch eine Zukunft  ?, in  : Die deutsche Krankheit – Organisierte Unverantwortlichkeit  ? Beiträge auf der 7. Speyrer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, hrsg. von H. H. v. Arnim, 2005, S. 65–72  ; Christoph Grimm, Landesparlamente im Mehrebenensystem, in  : Merten (wie Anm. 84), S. 185–200  ; Hans-Jürgen Papier, Bewährung und Reform der bundesstaatlichen Ordnung, 2011, S. 12 ff.; Hans Herbert von Arnim, Das föderative System in Deutschland – Motor oder Hemmschuh notwendiger politischer Reformen  ?, in  : Föderalismus – Hält er noch was er verspricht  ? (wie Anm. 2), S. 19 (22 f.)  ; Hartmut Klatt, Die Rolle der Parlamente im föderativen Entscheidungsprozess, in  : Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 3 (1989), S. 119–156. 109 Vom Bundesrat als nun maßgeblichen Faktor der Gesetzgebung des Bundes sprach 1962 schon Hesse (wie Anm. 33), S. 22. 110 Frido Wagener, System einer integrierten Entwicklungsplanung im Bund, in den Ländern und Gemeinden, in  : Politikverflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, 1975, S.  129 (134)  ; später indes etwas relativierend in ders., Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in  : Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 37 (1979), S. 215 (238, Anm. 73). 111 Zu diesem Befund siehe nur Scharpf (wie Anm. 65), S. 57.

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einem solchen der reisenden und treffenden Ministerialbürokratie geworden,112 die Landtage hingegen, so der frühere baden-württembergische Wirtschaftsminister Walter Döring, auf Landkreisqualität dezimiert.113 Diese Entwicklung zum Exekutivföderalismus114 sollte im Bund jedoch auch nur so lange gut gehen, wie sich die Regierungsmehrheit und die Bundesratsmehrheit inhaltlich einig werden konnten. Dass sich Bundesrat und Bundestag der parteipolitischen Divergenz wegen später in einer Blockadehaltung gegenüberstanden, war letztlich Auslöser der Föderalismusreform I gewesen  ;115 geändert hat sich an der politischen Möglichkeit hierzu trotzdem wenig. Addiert man zu dieser Entwicklung noch die bereits erwähnte Selbstkoordination der Länder auf den Bereichen ihrer höchsteigenen Zuständigkeiten und die Vereinheitlichung der ihnen verbliebenen Verwaltung, so war der Dualismus von Bund und Ländern einem Verbundföderalismus, die Kompetenzzuteilung im Bundesstaat einem unüberschaubaren Durcheinander gewichen. Damit war das etabliert, was Fritz Scharpf die Politikverflechtung im kooperativen Bundesstaat,116 andere hingegen etwas böswillig ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit117 genannt haben. Der Befund ist in der Sache nicht falsch  : In einem Bundesstaat, in dem jeder für alles zuständig ist, ist die politische Verantwortlichkeit abhandengekommen. Es ist Symptom dieser Ordnung, dass der Wähler längst den Überblick darüber verloren hat, welche Körperschaft welchen Lebensbereich gestaltet und wer für welche Fehlentwicklungen einzustehen hat. In der Bundespolitik wählt er daher liberal, im Land konservativ und auf kommunaler Ebene ökologisch. In seinem Dilemma scheint ihm nur die Weisheit geblieben zu sein  : von allem etwas wird schon nicht schaden.

112 Peter Lerche, Prinzipien des deutschen Föderalismus, in  : Deutschland und sein Grundgesetz, hrsg. von P. Kirchhof, 1993, S. 79 (88). 113 Walter Döring, Wie die Krise des Föderalismus überwunden werden kann, hrsg. vom Landesverband der FDP in Baden-Württemberg, Stuttgart 1998, S. 3. 114 Fritz Ossenbühl, Föderalismus und Regionalismus in Europa  – Landesbericht Bundesrepu­ blik Deutschland, in  : Föderalismus und Regionalismus in Europa, hrsg. von F. Ossenbühl, 1990, S. 147–165. 115 Siehe hierzu nur Scharpf (wie Anm. 65), S. 69 ff. 116 Zum Begriff des kooperativen Bundesstaats vgl. nur das Gutachten über die Finanzreform (wie Anm. 58), Tz. 73 ff. 117 Siehe hierzu schon den Titel des Beitrags von Hans Meyer, Die deutsche Krankheit  : Organisierte Unverantwortlichkeit  ?, in  : Die deutsche Krankheit (wie Anm. 108), S. 9–22.

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V. Der Bundesstaat in Europa

Nicht, dass der Verwirrung damit schon genug wäre, ist über ein entscheidendes Phänomen der Verflechtung im Bundesstaat noch gar nicht gesprochen worden  : die europäische Integration. Die europäische Integrationsgeschichte bis hin zur Europäischen Union, die in Teilen heute selbst Ähnlichkeiten mit einem föderalen Gebilde aufweist,118 hat sich im Bundesstaat in zweierlei Hinsicht ausgewirkt  : Zum einen hat sie die mit der Unitarisierung und Kooperation im Bundesstaat begonnene Aushöhlung der Länderkompetenzen fortgeführt. Dabei war die europäische Integration gerade zu Beginn ganz offensichtlich zulasten der Länder vorangeschritten. Mit Abschluss von Verträgen auf europäischer Ebene, die auf die bundesstaatliche Kompetenzverteilung keine Rücksicht nahmen, hatte die federführende Bundesregierung die Möglichkeit erhalten, in die Kompetenzbereiche der Länder hineinzuregieren.119 Der Bundesrat war darauf verwiesen, Regelungen höchstens zeitlich zu verzögern. Dass in der europäischen Integration größer auf die Belange des deutschen Bundesstaates Rücksicht genommen würde, war ohnehin nicht zu erwarten. Unter den Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft war nur Belgien noch föderal geprägt  ; die Strapazen der Abstimmung von Bund und Ländern waren bei den übrigen Staaten längst zur querelle allemande verkommen.120 Mit der Ratifikation der Europäischen Akte und des Vertrags von Maastricht hatten sich die Länder Einflussmöglichkeiten ausbedungen, mittels derer sie eine allzu weitgehende Abwanderung der Zuständigkeiten auf die europäische Ebene zu verhindern hofften.121 Diese defensive Strategie, die in der Einfügung

118 Siehe hierzu Ute Wachendorfer-Schmidt, Politikverflechtung im vereinigten Deutschland, 2003, S. 121  ; Wolfgang Wessels, Staat und (westeuropäische) Integration – die Fusionstheorie, in  : Die Integration Europas, hrsg. von Michael Kreile, 1992, S. 36 (40). Ferner die Ausführungen hierzu bei Kropp (wie Anm.  84), S.  158 f. sowie der Diskussionsbeitrag von Hans-Jürgen Papier auf der Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung zum Thema »Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa« vom 16. bis 18. März 2005, abgedruckt in  : Merten (wie Anm. 84), S. 140. 119 So Scharpf (wie Anm. 65), S. 62. 120 Isensee (wie Anm. 7), S. 248 (259). So stellt dies für die Praxis auch Kay Hailbronner, Die deutschen Bundesländer in der EG, Juristenzeitung 1990, 149 (149) fest. 121 Vgl. hierzu Rudolf Hrbek, Doppelte Politikverflechtung  : Deutscher Föderalismus und europäische Integration – die deutschen Länder im EG-Entscheidungsprozess, in  : Die deutschen Länder und die europäischen Gemeinschaften, hrsg. von R. Hrbek/U. Thaysen, 1987, 17–36. Ferner Scharpf (wie Anm. 65), S. 61 ff.

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des später als Europa-Behinderungsartikel122 diffamierten Art.  23 GG gipfelte, sollte jedoch nicht aufgehen – dazu waren insbesondere die Kräfte der ökonomischen Integration zu groß. Spätestens mit den hinzugewonnenen institutionellen Möglichkeiten der Union, so beispielsweise der Majorisierung der Bundesregierung im Rat der Europäischen Union, war das von den Ländern als scharfes Schwert erdachte Konzept ihrer Beteiligung vollends stumpf geworden.123 Ihre Begründung fand die Integration über Länder und Staaten hinweg, ich darf mich insoweit erneut wiederholen, in der Notwendigkeit europäischer Lösungen für europäische Probleme.124 Ein ähnliches Déjà-vu zeigte sich auch für die Landtage  : Die Mitwirkung in der europäischen Integration vollzog und vollzieht sich nach Art. 23 Abs. 2, 4 bis 6 GG durch den Bundesrat  ; ähnlich wie in der Bundesgesetzgebung wurden die Länder mittels des Bundesratsföderalismus mediatisiert.125 Soweit ihnen noch die Implementierung von Unionsrecht obliegt, lassen die Richtlinien oftmals keinen nennenswerten Gestaltungsspielraum übrig.126 Zum anderen hat die Integration die im kooperativen Bundesstaat bestehende Politikverflechtung um eine weitere Ebene erweitert und damit zusätzlich verkompliziert. Die fortschreitende Ausdehnung des europäischen Gedankens auf dem Weg zur ever closer union hat kaum eine Länderzuständigkeit von unionsrechtlicher Überlagerung verschont,127 für den Bund gilt dies heute in ähnli122 So Thomas Oppermann/Claus Dieter Classen, Die EG vor der Europäische Union, in  : Neue Juristische Wochenschrift 1993, S. 5 (12). 123 Hierzu Kropp (wie Anm. 84), S. 156. Zu den Defiziten und Technikalitäten der Beteiligung des Bundesrates siehe auch Peter M. Huber, Die Europatauglichkeit des Grundgesetzes, in  : Merten (wie Anm. 84), S. 210 (218). 124 Vgl. Scharpf (wie Anm. 65), S. 63. 125 Siehe hierzu Josef Isensee, Der Bundesstaat – Bestand und Entwicklung, in  : Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hrsg. von P. Badura/H. Dreier, Band II  : Klärung und Fortbildung des Verfassungsrechts, S.  719 (763 ff.)  ; Elisabeth Wohland, Bundestag, Bundesrat und Landesparlamente im europäischen Integrationsprozess – Zur Auslegung von Art. 23 Grundgesetz unter der Berücksichtigung des Verfassungsvertrags von Europa und des Vertrags von Lissabon, 2008, S. 140 ff. 126 Christoph Grimm, Landesparlamente im Mehrebenensystem – Rede anlässlich der 73. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung »Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa« am 18.  März 2004, hrsg. von d. Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, 2005, S. 3  ; Wohland (wie Anm. 125), S. 141. 127 Grimm (wie Anm.  126), S.  3 sieht die Länder auf ein bloßes Abschreiben der europarechtlichen Vorgaben beschränkt. Vgl. hierzu ferner Dietmar O. Reich, Zum Einfluß der Europäischen Gemeinschaft auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, in  : Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2001, S. 1–18  ; Hans-Peter Donoth, Die Bundesländer in der Europäischen

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chem Maße. Während die Gesetzgebung ferner in beachtlichem Maße auf die europäische Ebene abgewandert ist, liegt der Vollzug aus der länderblinden128 europäischen Perspektive bei den Mitgliedstaaten. Im Bundesstaat Deutschland übernehmen die Länder nicht nur den Vollzug des Bundesrechts, sie – und in Teilen auch die Kommunen  – implementieren und vollziehen nun auch europäische Verordnungen und Richtlinien  ; die Auflösungserscheinungen deutscher Kompetenzverteilung scheinen damit perfekt. VI. Renaissance des Föderalismus

Was ist vom deutschen Föderalismus noch geblieben  ? Zu nennen ist zunächst die Erkenntnis, dass die entscheidende Grundvermutung des Verfassungsrechts zugunsten der Zuständigkeit der Länder ad absurdum geführt ist. Was den Ländern in eigener Zuständigkeit verblieben ist, wird oft auf die übliche Formel Kultur, Kommune und Polizei verkürzt und heute – das hat nicht zuletzt die Föderalismusreform  III gezeigt  – gibt nicht einmal das mehr der Wahrheit die Ehre. Es hat daher eine besondere Tragik oder Komik, das liegt im Auge des Betrachters, wenn nach Dekaden der fortschreitenden Zentralisierung deutscher Staatsgewalt noch immer dem Föderalismus die Rolle des großen Blockierers der deutschen Staatsorganisation zugedacht wird. Ferner geblieben ist die Erkenntnis, dass sich der Bundesstaat in einem Netz der Interdependenzen verflochten hat. Über mögliche Therapien des diagnostizierten Befundes werden andernorts schon seit Jahren Bücher gefüllt,129 geänUnion – Die bundesstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland bei der Verwirklichung der Europäischen Union – eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des neugefaßten Art. 23 GG, 1996, S. 40 ff.; Wohland (wie Anm. 125), S. 138  ; Kropp (wie Anm. 84), S. 155  ; Thomas Oppermann, Das Bund-Länder-Verhältnis im europäischen Einigungsprozess, in  : Das Bund-Länder-Verhältnis im europäischen Einigungsprozeß  – Gedenkveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. für Bundespräsident a.D. Prof. Dr. Karl Carstens am 5. November 1992 in Bonn, 1992, S. 7 (10 ff.). 128 Hans Peter Ipsen, Als Bundesstaat in der Gemeinschaft, in  : Probleme des Europäischen Rechts – Festschrift für Walter Hallstein zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von E. v. Caemmerer/H.-J. Schlochauer/E. Steindorff, 1966, S. 248 (256). Siehe außerdem Isensee (wie Anm. 1255), S. 719 (753 f.). 129 Vergleiche hierzu Huber (wie Anm.  105), S.  19 ff.; Papier (wie Anm.  844), S.  129 ff.; Edzard Schmidt-Jortzig, Entflechtung bundesstaatlicher Verantwortung im Bereich der Gesetzgebung, in  : Merten (wie Anm. 84), S. 147–158  ; Hans-Günter Henneke, Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach Art. 70 ff. und Art. 83 ff. – Effizienzsteigerung durch Aufgabenoptimie-

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dert hat sich bisher wenig. Dem Bund könnte insoweit zugute gehalten werden, dass eine fortschreitende Zentralisierung die Verflechtung kontinuierlich reduziert, nicht jedoch – und darauf käme es eigentlich an – in einer Weise, die die herrschende Unlust am Föderalismus zu kurieren vermag. Was nicht mehr begriffen werden kann, das ist nicht mehr, so sagt es Hegel.130 Josef Isensee übersetzt dies für den Bundesstaat, wenn er feststellt, dass dieser sich für jede Generation neu begreiflich zu machen habe.131 Erfolg haben wird diese Bemühung nur, wenn wir einen Weg finden, mit dem Föderalismus Frieden zu schließen  ; der Föderalismus funktioniert nur mit Föderalisten. Dabei wäre dies in aller Sinne  : Vom derzeit, so mag man dies manchmal sagen, als Feiertagsfolklore praktizierten Bundesstaat, der zum politischen Hochamt so schnell hervorgeholt wird, wie er im tagespolitischen Geschäft wieder in der Schublade verschwindet, ist es nur ein kurzer Weg zu der Frage, ob man sich dessen nicht gänzlich entledigen sollte. Das Grundgesetz hat die Bundesrepublik jedoch in guten wie in schlechten Tagen mit dem Bundesstaat vermählt. Die Speerspitze der Unitarisierung  – sie könnte nicht nur die Sub­ stanz der Bundesstaatlichkeit, sondern unsere Grundordnung als solche in Frage stellen. Für eine Renaissance des Föderalismus gäbe es dabei gute Gründe  : Zum einen hat unser Bundesstaat uns ungleich den Entwicklungen in anderen Staaten Europas bisher von separatistischen Bestrebungen einzelner Regionen bewahrt. Dies gilt – lässt man das immerwährende und nicht ganz ernst gemeinte Rumoren in Bayern beiseite  – trotz eines auch in Deutschland vorhandenen Reichtumsgefälles. Zum anderen hat die fortschreitende Europäisierung von Staat und Gesellschaft das Bedürfnis der Bürger nach Nähe wieder größer werden lassen  : Wenn der Wunsch nach Heimatverbundenheit und Bürgernähe wieder zum Gegenstand staatlicher Reformen wird, so könnte der Föderalismus mit seiner politischen Integrationskraft eine Renaissance erleben.

rung, in  : Der deutsche Föderalismus 2020 – Die bundesstaatliche Kompetenz- und Finanzverteilung im Spiegel der Föderalismusreform I und II, hrsg. von R. T. Baus/H. Scheller/R. Hrbek, 2009, S. 126–143  ; Link (wie Anm. 108), S. 70 ff. 130 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Verfassung Deutschlands (1800–1801), in  : ders., Werke 1, frühere Schriften, 1971, S. 450 (460). 131 Isensee (wie Anm. 5), § 126 Rn. 7  ; ähnlich auch Papier (wie Anm. 108), S. 30.

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Wer hat Angst vor Autonomie? Rückblick auf die regionale Eigenständigkeit als Dauermerkmal deutscher Geschichte Und dann kommen sie immer mit ihrer Autonomie. Der Satz stammt von einem durchaus mächtigen Staatssekretär in einem der größeren Bundesministerien, geäußert in einem Hintergrundgespräch mit Hauptstadtkorrespondenten, es ist schon einige Jahre her. Zu den Aufgaben solcher Staatssekretäre gehört es in der bundesrepublikanischen Form des Bundesstaates mit der hohen Verflechtung der Ebenen, sich ständig mit den Ministern und Staatssekretärskollegen in den Ländern zu treffen, zu vereinbaren, zu koordinieren, auseinanderzusetzen, zu streiten. Man kann den Seufzer verstehen, denn kooperativer Föderalismus ist ein mühsames Geschäft. Für die andere Seite allerdings auch. Den regelmäßigen Zumutungen der Zentralgewalt setzen die Länderleute ihre grundgesetzlich garantierte, in der Verfassungswirklichkeit aber ständig bedrohte Eigenständigkeit im Rahmen des Bundesstaates entgegen. Dann kommen sie eben mit ihrer Autonomie.1 Wie weit sie sich diese einschränken lassen, ist ihre Entscheidung, doch stehen die Verantwortlichen in den Ländern, Politiker wie Spitzenbeamte, seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten unter einem öffentlichen Rechtfertigungsdruck  : Ihre Autonomie, die ja im demokratischen Zeitalter vor allem die Autonomie der Landesvölker ist, wird mit deutlichen Zweifeln belegt. Deutschland ist ein Bundesstaat, in dem die Bürger mit dem Grundprinzip der eigenen politischen Ordnung ein bisschen fremdeln  ; was auch daran liegt, dass die politische Elite seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für einige Jahrzehnte von der bürgerlichen Nationalbewegung und ihrer Partei, den Nationalliberalen, dominiert wurde. Das prägte mit beträchtlicher Langzeitwirkung, die für die politische Bildung entscheidenden Universitätsfächer  – vor allem die Geschichtswissenschaft. So wurden Generationen deutscher Studenten und dann auch Studentinnen ausgesprochen unitarisch geprägt für ihre Aufgaben in der Verwaltung, in den Schu1 Der folgende Text ist von den Beiträgen der Fuldaer Tagung angeregt worden und basiert auf meiner für einen breiteren Leserkreis geschriebenen Überblicksdarstellung  : Albert Funk, Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, 2010.

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len, in vielfältigen Organisationen des gesellschaftlichen Lebens, in den Medien. Einheit und Einheitlichkeit haben seither einen großen Stellenwert im Denken der politischen Klasse. Im politischen Leben Deutschlands herrscht der »unitarische Imperativ«.2 Rechtseinheit ist ein Wert an sich, und was die Autonomie der Länder betrifft, so soll sie sich gern in der Verwaltung austoben, natürlich in einem möglichst engen Korsett von Bundesvorgaben, aber bitte nicht in der Gesetzgebung. Der Bund macht die Gesetze, die Länder machen die Verwaltung – der Merksatz aus der Juristenausbildung ist bekannt, ganz grundgesetzkonform ist er nicht. Autonomie ist ein wichtiges Merkmal jeder föderalen Ordnung, man könnte auch sagen  : der wesentliche Kernbegriff. Und daher eignet er sich auch gut als Leitschnur bei der Suche nach den Gründen und Urgründen des Föderalismus in Deutschland und seiner jahrhundertelangen Existenz. Zugespitzt könnte man sagen  : In dem eingangs zitierten Satz des Staatssekretärs steckt im Grunde genommen die gesamte deutsche Verfassungsgeschichte. Trotz aller Anfechtungen gerade seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben föderale Strukturen die deutsche Geschichte bestimmt, worauf nicht zuletzt Reinhart Koselleck immer wieder hingewiesen hat. Föderale Lösungen bieten den Vorteil, sich auf ein Mindestmaß an gemeinsamem Recht und gemeinsamer Politik zu einigen, das es erlaubt, ein Höchstmaß an Autonomie der Teilhaber zu sichern, schrieb er einmal.3 Der aktuelle Zustand des deutschen Bundesstaates, mindestens aber die Debatte über ihn, wirkt bisweilen wie das Gegenteil  : Ein Höchstmaß an Gemeinsamem ist das Ideal, ein Mindestmaß an Autonomie das Ergebnis. Das Wort Autonomie stammt bekanntlich aus dem Griechischen. Gemeint war damit die Freiheit einer jeden Polis, eines jeden Stadtstaats und seiner Bürger, nach eigenem Recht und eigenen Gesetzen leben zu können und sich nicht anderen Staaten beugen zu müssen. Jede Polis achtete eifersüchtig darauf, ihre Autonomie zu wahren. In den vielen Bünden, welche die griechische Staatenwelt prägte, galt stets eine Art Autonomievorbehalt  – die »Eigenstaatlichkeit«, der Vorrang der »Eigengesetzlichkeit« durfte nicht übermäßig eingeschränkt werden, eine Vorkehrung, die wohl auch deswegen nötig erschien, weil in den griechischen Symmachien, Kriegs- und Verteidigungsbündnissen mit einer führenden 2 Siehe Albert Funk, Der unitarische Imperativ. Anmerkungen zum »unpopulären« deutschen Föderalismus und seiner historischen Verankerung, in  : Jahrbuch des Föderalismus 13 (2013), S. 216– 228. 3 Reinhart Koselleck, Diesseits des Nationalstaats. Föderale Strukturen der deutschen Geschichte, in  : ders., Begriffsgeschichten, 2006, S. 503.

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Hegemonialmacht, eben diese Unterordnung beständig drohte. Und das bedeutete auch eine Einschränkung der inneren Freiheit. Etwas anders gestaltete sich die zweite Form griechischer Bünde, Koinon genannt, in denen die Mitglieder eher gleichberechtigt waren und in denen auch eine übergeordnete Gesetzgebung und Rechtsprechung durch Bundesversammlungen möglich war, mithin ein Eingriff in die Autonomie, aber eben durch das dabei wohl angewendete Konsensprinzip akzeptabel. Autonomie ist nicht ins Lateinische übernommen worden, die Umschreibung lautete potestas vivendi suis legibus, also die Fähigkeit, nach eigenen Gesetzen zu leben. Der Begriff dürfte sich daher in mittelalterlichen Quellen oder Texten der Frühen Neuzeit kaum finden. Erst im 17. Jahrhundert taucht Autonomie in diesem Sinne in der politischen Sprache wieder auf. Das Phänomen freilich, sich selbst regieren zu wollen, sich selbst Gesetze zu geben, nach eigenem Recht leben zu können, eigenständig zu sein, ist in allen Zeiten und Regionen vorhanden. Dabei sollte man sich davor hüten, den heute häufig positiv konnotierten Begriff der Autonomie auch durchgängig so zu verstehen  : Autonomieverlangen und -beharren ist ein durchaus janusgesichtiges Phänomen. Es kann defensiv wie offensiv gehandhabt werden, es ist an sich schon mit Streit behaftet, und die Folgen können zu weiteren Querelen führen. Autonomiestreben kann einen Bund stärken, es kann ihn aber auch schwächen und sogar zersprengen. Die Verfechter von Autonomie sind regelmäßig die regionalen Herrschaftsträger, von den Adeligen und Stadteliten des aristokratisch geprägten Mittelalters bis zu den Parlamenten und Regierungen in demokratischen Zeiten. Für das Entstehen und Bestehen föderaler Ordnungen ist der Autonomievorbehalt bis heute entscheidend. Föderalismus ist der Versuch, innerhalb einer aus Teilen bestehenden Einheit zwischen unitarischen und partikularischen Bestrebungen und Erfordernissen einen Ausgleich zu schaffen, im Mittelalter im Rahmen der vielfältigen Welt der Einungen und Bünde, in der Neuzeit im Rahmen der mehr oder weniger institutionalisierten Doppelstaatlichkeit von Bund und Einzelstaaten. Das Verlangen und das Beharren auf Autonomie verbinden sich zunächst vor allem mit den partikularischen Interessen. Im modernen demokratischen Bundesstaat mit seiner eigenständig legitimierten gesamtstaatlichen Ebene kommt dieser aber ebenfalls Autonomie zu, weil die notwendige Verschränkung beider Ebenen nicht zu einer Blockierung von Politik führen darf. Es kommt somit auf die Balance von Verflechtung und Trennung an, ein Merkmal föderaler Ordnungen, seit es sie gibt. Partikularismus steht seit dem 19. Jahrhundert auf der Liste der politischen Unwörter, weil der Unitarismus sich damals – nimmt man das Vokabular seiner

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Verfechter  : gebieterisch und machtvoll – seinen Weg bahnte. Freilich ist Partikularismus an sich nichts Schlimmes, die kleindeutsche Nationalbewegung und die ihr zuarbeitende Geschichtsschreibung jener Jahre machten jedoch einen Popanz daraus, der bis heute nachwirkt. Irmline Veit-Brause hat Partikularismus in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« definiert als Mentalität und Wertvorstellung von sozialen oder politischen Gruppen, die der Verteidigung der Selbständigkeit, Unabhängigkeit und der Sonderinteressen der Teile den Vorrang gegenüber den Gesamtinteressen einräumen, jedoch nur selten zur tatsächlichen Loslösung bereit sind.4 Es sind mithin jene, die immer mit ihrer Autonomie kommen. Über weite Strecken der deutschen Geschichte waren Partikularismus und Autonomiestreben – man kann die Begriffe in eins setzen – prägende Kräfte, die nicht kategorisch verunglimpft werden müssen, weil sie nicht in ein unitarisches Geschichtsbild passen und einheitsstaatliche Vorstellungen stören. Man muss sie einfach nehmen als das, was sie sind  : historische Tatsachen mit Vor- und Nachteilen. Was die Sicht auf die deutsche Geschichte allerdings erheblich belastet hat, war die im 19. Jahrhundert beginnende Ineinssetzung von Partikularismus und Föderalismus aus dem politischen Streben heraus, den homogenisierten Nationalstaat, um nochmals Koselleck zu zitieren,5 und die absolute Volkseinheit zu erreichen, ein Weg, auf dem der Föderalismus als Hindernis erschien, weshalb er überwunden und beseitigt werden sollte. Bis heute ist der föderale Blickwinkel auf die deutsche Geschichte in vielen Darstellungen keineswegs vorherrschend. Eine Stichprobe  : In den »Epochen deutscher Staatlichkeit« von Rudolf Weber-Fas, einer bekannten Darstellung der Verfassungsgeschichte, die auch für eine breitere Leserschaft geschrieben ist, wird das Stichwort Föderalismus im Register einmal aufgeführt, und zwar mit dem Verweis auf Seite 201  : Abschaffung im Dritten Reich. Wie der Föderalismus angeschafft wurde, lässt sich in dem Buch nicht wirklich verfolgen.6 Macht man sich auf die Suche nach Autonomie in der deutschen Verfassungsgeschichte, wird man früh fündig. In einer Auseinandersetzung mit der älteren Geschichtsschreibung über die Situation im frühen Mittelalter, als das Königtum angeblich einer unbeherrschten Adelsmacht gegenüberstand, schreibt Walter Pohl  : Wenn die Aristokratie vor allem an der Stärkung der eigenen Macht auf 4 Irmline Veit-Brause, Partikularismus, in  : Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 735–766, 735. 5 Koselleck (wie Anm. 3). 6 Rudolf Weber-Fas, Epochen deutscher Staatlichkeit. Vom Reich der Franken bis zur Bundesrepublik, 2006.

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Kosten der staatlichen Gemeinschaft interessiert war, fragt man sich, warum das Reich nicht in autonome Einzelherrschaften zerfiel.7 Aber vielleicht war es ja auch so  : Es gab diese autonomen Einzelherrschaften, aber eben nicht den Zerfall, und die Frage wäre eher, was den mittelalterlichen Hochadel, zu dem ja immer auch die Könige gehörten, dazu brachte, eben diesen Zerfall zu vermeiden und das Reich als politische Ordnung zu erhalten. Das Ostfränkische Reich war ein Vielvölkerkonglomerat, und diese Völker hatten ihr eigenes Recht, wenn auch durch karolingische Gesetzgebung geprägt. Sie waren autonom  : Franken, Sachsen, Bayern, Schwaben oder Alemannen, möglicherweise die Thüringer als separate »Unterabteilung«, die Friesen. Regionale Autonomie war daher eines der Merkmale des Ostfränkisch-Deutschen Reiches, eines »Regnum«, das wiederum kleinere »Regna« kannte. Diese, später als »deutsche Lande« bezeichnet, vermehrten sich bekanntlich im Lauf des Mittelalters, weitgehend durch politisch motivierte Spaltungen. Spätere Kataloge der politischen Regionen machen das deutlich, etwa eine Auflistung aus der Regierungszeit Karls IV., wo im Jahr 1377 hinzukamen  : Westfalen, womit der Westteil des alten Sachsen gemeint war, Hessen, das Elsass und »am Rhein«, wo das mittelrheinische Gebiet der vier Kurfürstentümer Pfalz, Mainz, Trier und Köln auftauchte. Ein halbes Jahrhundert später nannte eine Urkunde König Sigismunds zusätzlich die Wetterau, also das Gebiet zwischen Frankfurt am Main und Fulda, und die Mark Meißen, Jülich und Geldern sowie einige heute niederländische Gebiete. Den österreichischen Herrschaftskomplex der Habsburger muss man sich hinzudenken. All diese »Lande«, ältere und neuere, entsprechen Landfriedensregionen. Den Landfrieden zu organisieren galt als wichtigste Aufgabe des Königs, doch war das reichsweit unmöglich  : zu groß der gesamte Raum, zu vielfältig die spezifischen regionalen Interessen und zu sehr von einem Autonomiedenken durchwirkt die politische Kultur des Reiches. Träger dieses Autonomiestrebens war vor allem die regional führende Adelsschicht, nicht zuletzt die Reichsaristokratie der Fürsten. Wobei der Autonomievorbehalt der Reichsstädte und freien Städte als Faktor nicht übersehen werden darf, ihm fällt in der deutschen Föderalismusgeschichte eine nicht unwesentliche Rolle zu. Gerade das städtische Autonomiebegehren gegenüber den Landesfürsten ist ein wichtiges Merkmal der Verfassungsentwicklung des Spätmittelalters, denn nicht zuletzt die auf Autonomieerhalt achtende Form der Städtebünde trug zur föderalen Weiterentwicklung und zum Beginn der Doppelstaatlichkeit 7 Walter Pohl, Staat und Herrschaft im Frühmittelalter  : Überlegungen zum Forschungsstand, in  : Staat im frühen Mittelalter, hrsg. von S. Airlie u. a., 2006, S. 33.

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in der Reichsreform von 1495 bei. Im Hochadel des Reiches herrschte ein fortwährender Machtkampf um Herrschaft in den Regionen, mittelalterliche Verfassungsgeschichte war so durch den Versuch geprägt, diesen Machtkampf zu kanalisieren. Der Kern dieses Vorhaben war die Herstellung des Landfriedens. Diese Landfrieden wurden im mittelalterlichen Reich meist durch Einungen organisiert, also genossenschaftlich-föderal, und zwar häufig, wenn auch nicht immer, im Rahmen der Lande, also der »Autonomieräume«, in denen eine Zusammenfassung der divergierenden Interessen möglich war. In diesem Zusammenhang muss man auch das ausgeprägte Landesbewusstsein sehen, das es im Mittelalter gab und das es bis heute in gewandelter Form gibt, ebenfalls Ausdruck eines regionalen Autonomiewillens, der sich nicht von ungefähr vor allem in Franken, Schwaben und Westfalen zeigte, wo das Herzogtum nicht zur Landesherrschaft geführt hatte und die vielen Herrschaftsträger ihren Rechtsraum als »Handlungsgemeinschaft« verteidigten.8 Diese »Autonomieräume« bildeten dann auch nach 1500 jene Reichskreise, die ein beträchtliches Eigenleben entwickelten. In anderen Regionen hatten sich dagegen im Spätmittelalter die größeren Landesherrschaften durchgesetzt, die in der Lage waren, Landfrieden herrschaftlich, wenn auch im Verein mit den Landständen, durchzusetzen. Hier waren nun neue autonome Gebilde entstanden, die Territorialstaaten der Landesfürsten. Mit dem Ausbau von Landesherrschaft durch Hochadelige seit dem hohen Mittelalter und dem damit verbundenen aristokratischen Autonomiedenken könnte das Entstehen des »Reichsfürstenstandes« zu erklären sein, jener Gruppe von »Großen« um die Könige, die wiederum in aller Regel aus dieser Gruppe gewählt wurden, zunächst von vielen Fürsten, später dann von den Kurfürsten. Sie bildeten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit das Reich. Auf den Begriff konsensuale Herrschaft hat Bernd Schneidmüller9 dieses aristokratische Regierungsmodell auf Reichsebene gebracht, von Steffen Patzold dahingehend ergänzt, dass man einen kompetitiven Unterbau10 sehen müsse. Denn es ging   8 Siehe dazu  : Spätmittelalterliches Landesbewusstsein in Deutschland, hrsg. von M. Werner, 2005.   9 Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in  : Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. von P. J. Heinig, 2000. 10 Steffen Patzold, Konsens und Konkurrenz. Überlegungen zu einem aktuellen Forschungskonzept der Mediävistik, in  : Frühmittelalterliche Studien, Bd. 41., 2007. Siehe dazu auch Jürgen Dendorfer, Autorität auf Gegenseitigkeit  – Fürstliche Partizipation im Reich des 13.  Jahrhunderts, in  : Autorität und Akzeptanz. Das Reich im Europa des 13. Jahrhunderts, hrsg. von H. Seibert u. a., 2013.

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tatsächlich weniger um harmonisches gemeinschaftliches Regieren des Gemeinwesens als um Konfliktaustrag und Machtbegrenzung, aber auch um die eigenen territorialpolitischen Ziele und damit um die Sicherung der Autonomie. Was die Könige aus ihrer Rolle als Primus inter Pares machten, vor allem bei der Friedenswahrung, lag an ihnen. Doch sie hatten stets, und das in zunehmendem Maß, das Mit- und Gegeneinander der mitregierenden »Fürstengenossen« einzukalkulieren. Diese Runde war das Reich, eine Reichsfürstengenossenschaft, wie Ernst Schubert es formulierte, oder sogar eine ständische Einung, wie Heinrich Mitteis es gesehen hat  – freilich nicht so sehr auf antizentraler Basis,11 wie er meinte, denn dieser Herrschaftsverbund oder Wirkverbund – so Schneidmüller – war tatsächlich die Zentralgewalt des Reiches, wenn man so will ein Fürstenbund mit königlicher Spitze. Institutionell verlief die Entwicklung von den lockeren Hoftagen zu den Reichstagen mit ihrer festen Form und Mitgliedschaft, die 1495 mit der Reichsreform ins politische Leben traten. Man kann diesen Reichstag als reine Ständeversammlung betrachten, doch war er eben auch eine Art »Länderkammer«. Denn in ihr saßen die Reichsfürsten vor allem in ihrer Eigenschaft als Landesherren, als die kleinen Könige mit ihren mehr oder weniger großen und mehr oder weniger verfestigten, in jedem Fall aber autonomen Territorialstaaten  ; und eben die Vertreter der auf Autonomie bedachten Städte. In den Regionen, in denen sich keine dominierende Landesherrschaft gebildet hatte (Schwaben, Franken, Westfalen), ersetzten die Reichskreise den Mangel an großräumiger früher Staatlichkeit. Diese drei Reichskreise zumindest, in Fortsetzung der Landfriedenseinungen, hatten eigene Legislativ- und Exekutivfunktionen, sie waren keineswegs unselbständige »Provinzen«. Damit war die föderale Doppelstaatlichkeit erreicht. Denn neben den Reichstag trat eine obere Gerichtsbarkeit mit dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat in Wien. Es gab auch Exekutivbehörden des Reiches, wenn auch keine echte Regierung – das blieb im Zweifelsfall dem König und Kaiser als Aufgabe, wobei sich damals jene Verfassungstradition ausbildete, dass das Umsetzen von Reichsgesetzgebung und von Reichsgerichtsurteilen grundsätzlich Ländersache sei  ; und zwar autonom. So entstand jener aus Staaten zusammengesetzte Staat, wie die Reichsjuristen des 18.  Jahrhunderts es formulierten, da es den Begriff Bundesstaat noch nicht gab. Als solchen bezeichnete 1816 der Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren den Deutschen Bund, der heute gern als Staatenbund bezeich11 Heinrich Mitteis, Der Staat des hohen Mittelalters, 1962, S.257.

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net wird. Aber es war kein Bund souveräner Staaten, jedenfalls galt das nicht für die Fürstentümer zwischen Habsburg und Preußen, das sog. Dritte Deutschland. Es war, wenn man so will, die Autonomiezone in einem Gebilde, das durch die Doppelhegemonie der beiden Großmächte gekennzeichnet war. Diese bestimmte nun die Geschichte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Sie hatte sich schon im 18.  Jahrhundert angebahnt, als Friedrich  II. der habsburgischen Hegemonie seine Großmachtansprüche entgegensetzte  ; weshalb er am Ende, Ironie der Geschichte, sich ausgerechnet in jenen Fürstenbundplan einmischte, mit dem eine Reihe von mindermächtigen, aber autonomieorientierten Fürsten eine Reform der Reichsverfassung im föderalen Sinne anstrebten. Den universalmonarchischen Absichten Karls V. hatten schon die Fürsten des 16. Jahrhunderts ihren Autonomiewillen entgegengesetzt, sie pochten auch später auf ihre »deutsche Libertät« im Ringen mit den habsburgischen Kaisern und deren (universal)monarchischen und damit autonomiefeindlichen Bemühungen. »Deutsche Freiheit« lässt sich als Synonym für Autonomie lesen. Und aus der Sicht der Landesherren war diese in einer Monarchie natürlich bedroht  – sie selbst sahen das Reich als eine Aristokratie. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges war es das deutsche Go-In bei den Friedensverhandlungen in Osnabrück, wie Johannes Burkhardt das Einrücken der Reichsglieder bis hin zu Reichskreisdelegationen aus Franken und Schwaben nennt, das zur Wiederherstellung der autonomiefreundlichen Reichsverfassung im Westfälischen Frieden führte, die die habsburgischen Herrscher in Wien zu kippen versucht hatten.12 Im Grunde lässt sich die gesamte deutsche Verfassungsgeschichte zwischen 1500 und 1900 als Föderalismus unter dem Vorzeichen hegemonialer Bestrebungen sehen, mal stärker und aggressiver, mal moderater und zurückhaltender. Hegemoniebestrebungen, selbst die »wohlwollenden«, ziehen aber stets den Versuch nach sich, Autonomiewillen als Kontrapunkt zu setzen, und so lassen sich die Verfassungsverhältnisse auch noch im Deutschen Bund und im kleindeutschen Kaiserreich lesen. Im einen Fall stand das Dritte Deutschland gegen Wien und Berlin, oder auch umgekehrt  : Die Großmächte versuchten, die politisch meist weniger reaktionären Mittelstaaten auf Linie zu bringen, mit einem gewissen Erfolg, aber keineswegs auf ganzer Linie.13 Und die preußische Hegemonie nach 1871 stachelte den Autonomiewillen nicht zuletzt der süddeutschen Staaten an. Jedenfalls scheint es so gewesen zu sein, dass nach einer Phase der Hin12 Johannes Burkhardt, Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, 2018, S. 213 ff. 13 Ein neueres Bild zeichnet Wolf D. Gruner, Der Deutsche Bund 1815–1866, 2012.

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nahme nach der »Reichsgründung« und dem Versuch, sich den Verhältnissen in Berlin anzupassen, in den Mittelstaaten sich eine Art Autonomierenaissance ereignete, abzulesen etwa an den demokratisierenden Wahlrechtsreformen in Baden, Württemberg, Bayern, Hessen und Oldenburg, an Veränderungen in den Lehrplänen, die zum Beispiel in Bayern wieder etwas »entunitarisiert« wurden. Auch das Parteiensystem des Kaiserreichs – ein Indikator dafür, wie weit es mit dem regionalen Autonomiewillen in einer Zeit der Demokratisierung stand  – spricht dafür, dass Deutschland trotz aller Einheits- und Einheitlichkeitsbemühungen noch recht partikularisch verfasst war. Es war mindestens so regional wie national ausgerichtet.14 Freilich prägte schon länger die unitarische Wirkung der Entwicklung hin zu größeren Wirtschaftsräumen auch die Gesetzgebung und Verfassungspolitik, die stetig wachsende Arbeitsteilung in einer Industriegesellschaft, die schon zum Zollverein geführt hatte und ganz am Ende des Deutschen Bundes zu einer Vereinheitlichung im Handelsrecht. Die »Eigengesetzlichkeit« auf dem Feld der wirtschaftlichen Regulierung schwand dahin. Das galt erst recht in der Weimarer Republik. Aber selbst in diese traten die Deutschen, trotz des massiven Zentralisierungsschubs durch die Kriegswirtschaft, mit ihren partikularischen Neigungen, die das Projekt eines Einheitsstaats scheitern ließen, in dem den Ländern vom Verfassungsarchitekten Hugo Preuß ursprünglich nur noch die Rolle von »potenzierten Selbstverwaltungskörpern« zugedacht gewesen war. Preuß, der die Einzelstaaten des Kaiserreichs als seltsames Gewimmel von Staatssurrogaten wahrgenommen hatte, musste erkennen, dass der Autonomiewille in dem Gewimmel stärker war als der von ihm verspürte Drang nach mehr staatlicher Einheit.15 So war auch die Republik ein Bundesstaat, allerdings einer mit deutlich unitarischen Zügen. In der Bundesrepublik sollte es nach 1949 ein bisschen anders sein. Im Parlamentarischen Rat hatten die Vertreter der schon bestehenden Länder eine stärkere Position als in der Weimarer Nationalversammlung. Aber es dominierte doch ein Grundzug von Einheit und Einheitlichkeit,16 das Dogma der Rechtseinheit prägte die Debatten damals und tut es bis heute. Der neukonzipierte Bundesrat, parlamentarischer als seine Vorgänger, war angesichts 14 Siehe dazu insgesamt Dieter Langewiesche, Föderalismus und Unitarisierung  – Grundmuster deutscher Geschichte im 19. und 20.Jahrhundert, in  : Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Bd. 4, hrsg. von H. Schwarzmaier u. a., 2003, S.1–21. 15 Hugo Preuß, Politik und Gesellschaft im Kaiserreich, hg. v. Lothar Albertin u. a., 2007, S.443. 16 Der Wille zur Einheit und Einheitlichkeit gilt geradezu als mentale Obsession der westlichen Moderne, so Wolfgang Reinhard, Aufstieg und Niedergang des modernen Staates, in  : Zeitschrift für Staatsund Europawissenschaften 1 (2007), S. 17 f.

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dessen als Unitarisierungsbremse und als Autonomieschutz gedacht. Doch der unitarische Bundesstaat, den der spätere Verfassungsrichter Konrad Hesse schon bald proklamierte, war gedanklich nicht weit entfernt vom Preuß-Modell, nur eben jetzt dem Zeitgeist und den Erkenntnissen der Sozialwissenschaften entsprechend technokratisch begründet  : Staatliche Planungs- und Lenkungsaufgaben und der Sozialstaat verlangten nach Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit und »sachlicher Unitarisierung«, wobei auch bei Hesse das Wort gebieterisch die Dringlichkeit verdeutlichen sollte.17 Dieses Bundesstaatsmodell, das später ergänzt wurde um die vielfältigen Formen der Bund-Länder-Kooperation, der Mischfinanzierungen und Gemeinschaftsaufgaben, ist nicht eben autonomiefreundlich  – letztlich in zweifacher Hinsicht. Denn der Verlust an Eigenständigkeit der Länder war kein Gewinn für den Bund, sondern führte in die schon bald erkannte »Politikverflechtungsfalle«.18 Zwar kam der föderale Betrieb damit nicht zum Erliegen, aber er wurde immer mehr zu einer bisweilen mühsamen Veranstaltung der Exekutiven – ein bürokratischer Föderalismus statt eines demokratischen Föderalismus, in dem die Parlamente Träger des Autonomiebegehrens sind. Die großen Verlierer waren die Landtage, deren Bedeutungsverlust allerdings schon im Kaiserreich begonnen hatte und die sich gegen die Entwicklung auch kaum wehrten. In der Föderalismuskommission, die nach 2003 versuchte, eine gewisse Entflechtung zustande zu bringen, saßen zwar einige Landtagsvertreter, aber es war eine Kommission von Bundestag und Bundesrat. Immerhin waren die Ministerpräsidenten jener Jahre darauf aus, ihren Spielraum zu stärken, im Rahmen eines »Gestaltungsföderalismus«. Doch die Bundesseite konnte dem nicht viel abgewinnen. Als sich einige eher harmlose Zugeständnisse an die Länder abzeichneten, wozu neben einem Ende der unproduktiven Kooperation im Bildungsbereich auch ein Abweichungsrecht der Länder in einigen Gesetzgebungsfeldern zählte, fuhr Bundeskanzler Gerhard Schröder, immerhin zuvor Ministerpräsident in Niedersachsen, dazwischen und mahnte, man dürfe den Bundesstaat nicht zum Staatenbund machen  ; intern war in der Koalition gar von separatistischen Tendenzen einiger Länder die Rede.19 In Hintergrundgesprächen malte die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries die Gefahr der Rechtszersplitterung an die 17 Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 13. 18 Vom »Erfinder« dieses Begriffs  : Fritz W. Scharpf, Föderalismusreform. Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle  ?, 2009. 19 Günter Bannas, Warnung vor einem Staatenbund, in der Frankfurter Allgemeinen vom 2.10.2004, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/foederalismusdebatte-warnung-vor-einem-staaten bund-1197050.html (letzter Zugriff  : 18.09.2018).

Wer hat Angst vor Autonomie? 

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Wand, und in der Kommission mitarbeitende Bundestagsabgeordnete erinnerten beiläufig an den angeblich unseligen Einfluss der Alliierten im Parlamentarischen Rat. Die 2006 beschlossene sachte Trennung in der Bildungspolitik wurde schnell mit dem »Begriff« Kooperationsverbot belegt. Bald machten Bundesregierung und Bundestag den Ländern dieses »Zukunftsthema« streitig, von dem man sich auch für Wahlkämpfe einen gewissen Wert versprach. Der Autonomiewille in den Ländern ließ nach  : Die Nachfolger der reformerischen Riege der Ministerpräsidenten mischten 2017 wie auch schon 2013 kräftig bei den Koalitionsverhandlungen im Bund mit, schon zuvor hatte sich das Bund-Länder-Miteinander wieder auf eine Art »Verabredungsföderalismus« der Exekutiven hin entwickelt, teils wegen der Finanzausgleichsverhandlungen, teils wegen der Flüchtlingskrise, teils wegen der Stimmenverhältnisse im Bundesrat. Das entscheidende Regierungsgremium der Republik wurden die immer wieder gern als »Gipfel« bezeichneten Zusammenkünfte der Bundesregierung mit der Ministerpräsidentenkonferenz.20 Wenn man so will  : »konsensuale Herrschaft mit kompetitivem Unterbau«, wobei der moderne Bundesstaat natürlich eine weitaus schlagkräftigere Zentralgewalt besitzt als das vormoderne Reich, in dem die Landesfürsten sich selbst regierten. Zum föderalen Bewusstsein aber gehört immer ein Autonomiebewusstsein, sonst kann eine bundesstaatliche Ordnung nicht funktionieren, sonst entwickelt sie sich zu einem nur noch dezentralisierten Einheitsstaat. Der Autonomievorbehalt ist ein Kern jeder Bundesverfassung, was im Grundgesetz immerhin dadurch zum Ausdruck kommt, dass ein grundsätzlicher Gesetzgebungsvorrang der Länder postuliert wird. Dass dieser Vorrang nicht der Verfassungswirklichkeit entspricht, liegt an der Dominanz des unitarischen Denkens. In dem Zusammenhang mag eine Einschätzung des polnischen Historikers Feliks Tych zum Nachdenken anregen. In einer Diskussion zu einem Vortrag Kosellecks im Deutschen Historischen Institut in Warschau sagte er 1997, er habe den Eindruck, dass das föderalistische Bewusstsein in Deutschland zunächst durch den Ersten Weltkrieg nivelliert wurde und dann später, in einem bedeutend höheren Grade, durch die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, völlig gebrochen wurde. Der gegenwärtige deutsche Föderalismus nach 1945 scheint mir

20 Dazu Albert Funk, Demokratie und Föderalismus. Kooperationsüberschuss und Mangel an Autonomie, oder  : Die anderen machen es auch so, in  : GWP 67 Nr. 1 (2018), S. 107–116.

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[Tych] eine Art positiver demokratischer Manipulation zu sein, in mancher Hinsicht das Ergebnis einer radikalen historischen Absage.21

Das mag überbetont sein. Aber der auch im 21. Jahrhundert stark auf Einheit und Einheitlichkeit und weniger auf Autonomie hin orientierte deutsche Föderalismus ist zweifellos ein Ergebnis historischer Entwicklung  ; was nicht heißt, dass damit der Endpunkt einer Entwicklung erreicht ist. Für die Klärung der Frage, wie föderal die deutsche Verfassungsgeschichte nun insgesamt wirklich verlaufen ist, kann die Suche nach dem heute etwas verkümmerten regionalen Autonomiewillen allerdings durchaus hilfreich sein. Denn Föderalismusgeschichte ist immer auch Autonomiegeschichte.

21 Reinhart Koselleck, Föderale Strukturen und Nationsbildung in Deutschland, Warschau 2001, S. 32.

Verzeichnis der Abbildungen Schieffer  : Das Frankenreich 843... aus  : G. Droysen, Allgemeiner Historischer Handatlas, 1886, S. 21. Ehlers  : Deutschland um 1000…, aus  : Droysen (s.o.), S. 22/23. Goetz  : Grafiken und Karten des Autors. Schlinker  : Das Königsgut in fränkischer Zeit, aus  : Wolfgang Metz, Das karolingische Reichsgut, 1960, S. 135. Weiß  : Die Machtbereiche der Luxemburger und Wittelsbacher, von  : Andreas Th. Jell, Haus der bayerischen Geschichte, Gestaltung  : graficde´sign pürstinger, Salzburg www. hdbg.eu/karten/karten/detail/id/168 (letzter Zugriff 14.12.2018). Carl  : Die Mitglieder des Schwäbischen Bundes – Karte des Autors Wüst  : Die Reichskreise, aus  : Karl v. Spruner/Theodor Menke, Handatlas für die Geschichte des Mittelalters und der neueren Zeit, 1880, Nr. 43. Schmidt  : Das Reich nach 1648 – der Norden, aus  : Spruner/Menke (s.o.) Nr. 45. Schmidt  : Das Reich nach 1648 – der Süden (s.o. zu Nr. 45). Schmidt  ; Das Reich nach 1648 – der Südosten (s.o. zu Nr. 45). Andermann  : Die Konfessionen im Deutschen Reich um 1900, aus  : Karl Haussi/Hermann Mulert, Atlas zur Kirchengeschichte, 1937. Müller  : Das Reich nach dem Reichsdeputationshauptschluss 1803, aus  : Spruner/Menke (s. o.) Nr. 48a. Müller  : Deutschland in der Zeit Napoleons 1812, aus  : Droysen (s. o.) S. 49. Stauber  : Der Deutsche Bund…, aus  : Spruner/Menke (s. o.) Nr. 49. Stauber  : Die Ausdehnung Preußens bis 1866, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 939. Brandt  : Der deutsche Fürstentag 1863 in Frankfurt am Main, aus  : Süddeutsche Zeitung Photo = [email protected] Osterkamp  : Die Ausdehnung des Habsburgerreiches seit 1683, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, Ploetz S. 909. Osterkamp  : Die Nationalitäten Österreich-Ungarns, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 985. Weigand  : Karikatur aus dem Münchner »Punsch«, 17. Bd. v. 24.1.1864, Nr. 4, www.digi. ub.uni-heidelberg.de/diglit/muenchner_punsch 1864/0033 (letzter Zugriff 13.11.2018). Willoweit  : Das Deutsche Reich 1871/1919, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 942.

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Verzeichnis der Abbildungen

Möller  : Das Deutsche Reich 1920/1937, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 960. Benz  : Die alliierten Besatzungszonen…, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 1451. Benz  : Die Bezirke der DDR seit 1952, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 1470. Schwarz  : Die Bundesrepublik Deutschland seit 1990, aus  : Der große Ploetz, 35. völlig neu bearb. Ausgabe, Göttingen  : Vandenhoeck & Ruprecht 2008 © Ploetz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, S. 1479.

Register der Länder, Regionen, Herrschaften, Herrschaftsmittelpunkte und geographischen Räume Aachen 94, 95, 97, 98, 100, 101, 103, 203 Aibling 95 Alemannien 32, 63, 75 Aller 80 Alpen 28 Altenburg 98, 99, 107 Altötting 95 Alzey 106 Amiens 108 Amorbach 192 Andechs, Kloster 193 Andernach 93, 94, 101, 105 Annweiler 106 Aquitanien 31, 32, 38, 108 Ardennen 81, 98, 99, 204 Augsburg 100, 101, 124, 198 Augsburg, Hochstift 124 Austrien 29, 31, 64, s.a. Ostfränkisches Reich Bacharach 105 Baden 189, 348, 369, 374 Baden, Großherzogtum 199, 205, 220, 222, 250, 252, 265, 298 Baden-Württemberg 363 Badenachgau 95 Baindt 157 Balkan 39 Bamberg, Hochstift 193 Banz, Kloster 193 Bauland 192 Bayern 23, 30 – 32, 40, 63, 73, 75, 77, 95, 96, 98, 100, 113, 115 – 117, 119, 120, 123 – 126, 157, 159, 178, 191, 193, 195, 199, 205 – 209, 216, 219, 221, 222, 225, 249, 257, 266, 297 – 300, 302 – 304, 308 – 310, 326, 329, 333, 348, 350, 363, 389, 391, 393, 415 Bayern-Landshut 117

Bayern-München 116 Bayern/Salzburg 136 Belgien 201, 412 Berchtesgaden, Fürstpropstei 157 Berg, Grafschaft 104, 105 Berlin 339, 381 Bertholdsbaar 80 Biberach 124, 180 Bingen 93, 97 Bitburg 93, 97 Bode 80 Bodensee 80, 95 Böhmen 104, 107, 125, 127, 173, 243, 275, 285, 286, 288 Bonn 93, 94, 105 Bonngau 81 Boppard 93, 94, 101, 104, 105 Bourges 108 Brabant 201 Brandenburg, Mark 111, 124 Bremen 195, 198, 220, 391 Bretagne 38, 108 Britannien 69, 70 Bruchsal 188 Brüssel 171 Buchen 192, 193 Bukowina 280, 291 Büraburg 73 Burgund 29, 41, 48, 57, 60, 66, 167, s.a. Hochburgund, Niederburgund Burtscheid 98 Charlottenburg 333 Chemnitz 107 Cochem 105 Colmar 101, 106 Corvey 100

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Register der Länder, Regionen, Herrschaften

Cottbus 206 Dalmatien 207, 278 Dänemark 39, 207, 249 DDR, s. Deutsche Demokratische Republik Degenberg, Herrschaft 157 Deutsche Demokratische Republik 151, 194, 375 Deutscher Bund 22, 23, 151, 197, 217, 218, 221, 223, 224, 226, 227, 231 – 233, 237, 238, 240, 242, 244 – 246, 260, 271 – 275, 278, 279, 293, 294, 298, 299, 301, 302, 305 – 308, 310, 313, 314 Deutsches Reich 1869/71 17, 23, 151, 164, 314, 316, 317, 322, 326, 345, 347, 390 Deutsches Reich (Mittelalter), s. Heiliges Römisches Reich deutscher Nation Deutschland (Auswahl) 17, 22, 23, 25, 26, 36, 60, 148, 163, 165, 168, 177, 178, 185, 218, 233, 239, 241, 242, 257, 267, 268, 299, 346, 360, 361, 374, 390 Deutschland, s.a. Weimarer Republik, »Drittes Reich« Deutschland, Bundesrepublik 17, 24, 25, 151, 359, 389 Deutschland, Drittes 220, 239, 240, 300, 302, 305, 306, 308 Deutschland, linksrheinisches 198 Deutschland, rechtsrheinisches 198 Deutsch-Österreich 341 Deutz 93, 105 Deventer 100 Diemel 81 Dinslaken 105 Donau 80, 95, 123 Donau-Altmühl-Raum 80 Donauwörth 101, 124 Donnersberg, Departement, Hauptstadt Mainz 203 Dortmund 96, 101, 105 »Drittes Reich« 17, 24, 151, 391 Duisburg 94, 104, 105 Duisburggau 81 Düren 94, 97, 98, 100, 103, 104 Eberbach 106

Ebrach, Kloster 193 Echternach 95, 99 Eder 81 EG 412 Eger 98, 99, 107 Ehrenfels, Herrschaft 159 Eichsfeld 80, 81, 194 Eifel 95, 99 Elba 221 Elbe 28, 100 Elbe/Saale 49 Elsass 103, 104, 106, 123, 124 England 39, 47, 50, 108, 109, 132, 144, 207, 227, 230 ; s. a. Großbritannien Eppstein 98 Erfurt 100, 209 Erfurt, Fürstentum 207 Eschwege 95, 107 Eschweiler 95 Essen, Hochstift 105 Ettal, Kloster 193 EU 373, 377, 412, 413 Europa 24, 28, 33, 39, 62, 149, 176, 224, 226, 228, 230 – 232, 238, 294, 298, 305, 307, 310, 377, 415 EWG 372 Forchheim 95 Franken 21, 39, 55, 63, 66, 71, 74, 77, 81, 95, 100, 103, 123, 124, 136, 139, 141, 155, 193, 195, 266, 374 Frankenreich 19, 27, 28, 31 – 33, 38, 39, 42, 47 – 49, 51, 57, 59, 62, 65, 74 Frankfurt am Main 95, 96, 98 – 101, 104, 158, 198, 421 Frankreich 22, 36, 47, 60, 108, 132, 144, 174, 175, 198, 200, 202, 203, 207, 208, 215, 216, 221, 286, 392 Freising 80 Freising, Hochstift 157, 160 Friedberg 158 Friesenfeld 80 Friesland 52, 55, 96, 125 Fritzlar 95 Fulda 189 Fulda, Hochstift 158, 185

Register der Länder, Regionen, Herrschaften 

Galizien 239, 276, 278, 281 Gallien 27, 57 Gandersheim 94 Gelderland 49 Geldern, Grafschaft 97, 104 Gelnhausen 99 Gera 80 Germanien 70, 168, 176, 177 Germersheim 106 Gernsheim 95 Giengen 126 Goldene Aue 96 Gollachhofen 95 Görz-Gradisca 280 Goslar 96, 99 – 101 Gottesgarten 193 Gozfeld 81 Grabfeldgau 95 Griechenland 373 Grona 96 Großbritannien 215, 219, 371, 392 ; s. a. England Großbritannien-Irland 231 Gundelfingen 126 Haag, Grafschaft 157, 159 Habsburgerreich 23, 201, 205, 215, 243, 244, 246, 271 – 274, 285, 293, s.a. Österreich Hadeln 70 Hagenau 99, 106 Halle 209 Hallstadt 95 Hamaland 49, 51, 55 Hamburg 198, 391 Hannover 219, 221, 303, 349 Hannover, Königreich 223, 257, 266, 300, 302, 305 Hannover, Kurfürstentum 178, 207 Hannover, preußische Provinz 340 Harz 21, 96, 99 Harzraum 100 Hauts-de-France 60 Hegau 80 Heilbronn 95, 101, 188 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 20,

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22, 39, 59, 61, 67, 69, 76, 79, 85, 109, 114, 121, 132, 144, 147, 163, 164, 166, 197, 205, 232 Hessen 136 Hessen-Darmstadt 222, 300 Hessen-Kassel 187 Hessen, Kurfürstentum 304 Hessen, Landgrafschaft 107 Hildesheim, Hochstift 96 Hochburgund 37 Holland, Grafschaft 125 Holstein 222, 308 Holstein, Herzogtum 207 Ile-de-France 108 Ill 80 Iller 191 Illyrien 278 Ilm 80 Ingelheim 94, 95, 99, 106 Ingolstadt 117 Iphofen 95 Isny 157 Istrien 207, 280 Italien 17, 31, 32, 36, 37, 41, 47, 51, 54, 60, 74, 76, 121, 126, 207, 211, 239, 240, 259, 260, 276, 279, 282, 283, 286 Jülich 94 Jülich, Grafschaft 97, 104 Jura 204 Kaiserslautern 94, 99, 106 Kaiserswerth 99, 104, 105 Kaisheim 157, 189 Kärnten 80, 89, 291 Kassel 207 Kaub 97 Kaufbeuren 124 Kaufungen 95 Kaysersberg 101, 106 Keldachgau 81 Kempten 140 Kiever Rus 39 Kirchenstaat 211 Kitzingen 188 Kleve 94, 105

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Register der Länder, Regionen, Herrschaften

Kleve, Grafschaft 97, 104 Koblenz 93, 94, 98, 105, 203 Köln 93, 94, 96, 97, 99, 173 Köln, Erzstift 94, 97, 102, 105, 202 Köln/Mainz/Trier 93 Königshofen 95 Konstanz 151 Konzen 98 Kornelimünster 98, 104 Krain 281, 291 Kreuznach 93, 94 Kroatien-Slawonien 278, 281 Kröver Reich 105 Kurpfalz 106, 136, 173, s.a. Pfalzgrafschaft bei Rhein Lahngau 81 Lahn/Kinzig 81 Langheim, Kloster 193 Langobardisches Reich 30, 60 Lauffen 95 Lauwers/Weser 52 Leine/Innerste 80 Leuchtenberg, Landgrafschaft 157, 160 Liechtenstein 192 Litauen 125, 128 Loire 20, 64 Loire/Rhein 29 Lombardei 98, 260 Lombardo-Venetien 271, 275, 277 – 280, 283 Lothringen 20, 36, 40, 60, 63 – 65, 77, 81, 89 Lübeck 198 Lüttich 99 Lüttich, Hochstift 98, 102 Luxemburg 222, 249, 256 Maas 81, 98 Maastricht 94 Mâcon 108 Madonnenländchen 192 Magdeburg 97, 99, 100, 209 Mähren 288 Main 21, 123, 217, 421 Mainfranken 189, 193 Main/Neckar 81 Main/Regnitz/Aisch 81

Mainz 93, 95 – 97, 99, 100, 202, 203 Mainz, Erzstift 97, 123, 192, 194, 202 Maxlrain, Herrschaft 159 Mayenfeldgau 81 Mecklenburg-Schwerin 255, 300 Memel 125 Memleben 96, 97, 99 Memmingen 124 Merseburg 96, 100 Mettmann 104 Metz 94 Militärgrenze (Grenzgebiete des Habsburgerreiches gegenüber dem Osmanischen Reich) 278 Mitteldeutschland 124 Mitteleuropa 28, 175, 215, 225, 226, 230 – 232, 237, 244, 268, 271, 275 Mittelosteuropa 47 Mittelrhein 81, 94, 101, 123 Modena 306 Molsheim 101 Monschau 104 Mosbach 106 Mosel 21, 81, 95, 99 Mosminse 72 Mühlhausen 106 Münster 106 Münsterland 193 Mur-Drau-Gebiet 80 Murg 98 Nahegau 81 Namur 94 Nassau 218 Neckar 95 Neckargemünd 106 Neumagen 93 Neuss 93, 94, 105 Neustrien 29, s.a. Westfränkisches Reich Niederbayern 117, 118 Niederburgund 37 Niederlande 175, 249 Niederlande, österreichische 201 Niedermünster, Regensburg 157 Niederrhein 20, 64, 94, 98 Niedersachsen 369

Register der Länder, Regionen, Herrschaften 

Nierstein 95, 106 Nivelles 94 Nordamerika 227, 278 Norddeutscher Bund 317, 326 Norddeutschland 96, 124, 193, 309, 362, 394 Nordgau/Donaugau 80 Nordhausen 100, 101 Nördlingen 101, 124, 151 Nordostdeutschland 125, 193 Nordsee 39, 60, 64 Normandie 108, 109 Norwegen 39 Nürnberg 98 – 101, 104, 124, 198 Nymwegen 93 – 95, 97, 98, 104 Oberbayern 117 – 119, 124, 333 Oberehnheim 106 Oberitalien 167 Obermünster, Regensburg 157 Oberpfalz 104 Obersachsen-Thüringen 103 Oberschlesien 349 Oberschwaben 103, 124, 141, 189 – 192, 194 Oberwesel 105 Ochsenhausen 140, 189 Odenwald 192 Oker 80 Oppenheim 106 Orléans 108 Orsoy 105 Ortenburg, Grafschaft 157 Ostdeutschland 374, 379 Österreich 89, 96, 111, 120, 127, 150, 164, 201, 202, 207, 216, 217, 219, 221, 226, 239, 241, 242, 244, 245, 247, 252, 255 – 260, 263 – 265, 267, 272 – 279, 282, 285, 298, 300 – 303, 305 – 308, 341, s.a. Habsburgerreich Österreich-Ungarn 272 Ostfranken 81 Ostfränkisches Reich 20, 37 – 41, 54, 58, 59, 61, 62, 65, 67, 69, 70, 74, 76, 78, 87, 89 Ostpreußen 206, 276 Oströmisches Reich 39 Ostsachsen-Thüringen 80 Ostsee/Böhmen 40 Ottobeuren 189

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Ourthe 81 Overijssel 49 Paderborn–Corvey–Goslar 100 Paderborn, Hochstift 193 Paris 108, 221 Pfaffenwinkel 193 Pfalz 374 Pfalzgrafschaft bei Rhein 97, 104, 116, s.a. Kurpfalz Pfalz-Neuburg, Herzogtum 159, 160 Pfalz-Zweibrücken 187 Pfullendorf 157 Pöhlde 96 Polen 39, 207, 211, 219, 245 Pommern 124 Portugal 373 Posen (Poznan) 276 Preußen 22 – 25, 164, 194, 201, 202, 205 – 209, 211, 215 – 219, 221, 239, 240, 244, 245, 247 – 249, 255 – 260, 263, 264, 267, 271, 273, 275, 277, 292, 298, 300 – 302, 304, 306 – 309, 322, 323, 326, 329, 331, 338 – 340, 344, 345, 348 – 353, 355, 356, 358 Preußen, Provinzen 339, 353 Prüm 93, 95 Pyrenäen 28, 38 Pyrmont 349 Quedlinburg 97 Rath 104 Rätien 80 Regensburg 95, 99 – 101, 157 Regensburg, Hochstift 160 Reichenau 49 Reichsbund, Norddeutscher 206 Reichskreis, Bayerischer 151, 157, 158 Reichskreis, Burgundischer 152 Reichskreis, Fränkischer 150, 151, 156, 157 Reichskreis, Kurrheinischer 148, 152 Reichskreis, Niederrheinisch-Westfälischer 152 Reichskreis, Niedersächsischer 152 Reichskreis, Oberrheinischer 148, 151, 157 Reichskreis, Obersächsischer 152 Reichskreis, Österreichischer 152

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Register der Länder, Regionen, Herrschaften

Reichskreis, Schwäbischer 151, 154, 157 Reichsritterschaft 19, 157, 169, 192, 199, 206 Remagen 93, 94 Reuß-Köstritz, Herrschaft 180 Rhein 21, 27, 49, 64, 80, 93, 97, 104, 105, 202, 203, 208 Rheinbund 22, 199, 206, 207, 216, 218, 225, 230, 232, 233, 242 Rhein/Elbe 52 Rheinfranken 98 Rheingau 81, 97 Rheinland 340, 374 Rheinland-Pfalz 194, 369 Rhein/Main 49 Rhein-Main-Gebiet 95, 99, 103 Rhein-Mosel, Departement, Hauptstadt Koblenz 203 Rheinpfalz 103, 116, 208 Rheinprovinz 208 Rhein/Ruhr/Wupper 81 Rom 41 Römisches Reich 20, 21, 43, 44, 46, 47, 49, 93 Rosheim 101, 106 Rothenburg o.d. Tauber 124 Rott am Inn 157 Ruhrgebiet 350, 369 Rupertiwinkel 193 Rur, Departement, Hauptstadt Aachen 203 Russland 207, 211, 215, 219 Saale 80 Saar, Departement, Hauptstadt Trier 203 Saarland 194, 369 Sachsen 30, 31, 38, 51, 55, 63, 66, 71, 74, 77, 85, 95, 96, 98, 100, 178, 201, 206, 207, 209, 211, 219, 222, 249, 257, 265, 300, 302, 303, 305, 323, 348 – 350 Sachsen-Weimar 255 Salzburg, Erzstift 159, 160, 193, 207 Salzburg, Herzogtum 281, 291 Schaumburg-Lippe 348 Scherragau 80 Schlesien 288, 291 Schleswig 308 Schleswig-Holstein 240, 249, 257 Schlettstadt 106

Schottland 227 Schwaben 40, 77, 87, 95, 104, 123, 124, 126, 136 Schwäbischer Bund 21 Schwäbisch Gmünd 101 Schweden 174, 175 Schweden-Norwegen 231 Schwedisch-Pommern 207 Schweiz 138, 143, 167, 175, 192, 226, 228, 229, 233, 278 Seeland, Grafschaft 125 Senlis 108 Sens 108 Siebenbürgen 280, 288 Sinsheim 106 Sinzig 94, 96, 101, 104 Skandinavien 47, 50 Slowaken 278 Söflingen 157 Sowjetische Besatzungszone 25 Spanien 47, 373 Speyer 99, 158 Speyer, Hochstift 188 Stablo 93, 94, 99 Stauff und Ehrenfels, Herrschaft 157 St. Blasien 189 Steiermark 89, 111 St. Emmeran, Regensburg 157 St. Florin, Stift, Koblenz 98, 105 St. Gallen 104 St. Maximin bei Trier 99 Stuttgart 151 Süddeutschland 151, 154, 193, 362, 379, 394 Südthüringgau 80 Südwestdeutschland 136, 309, 363 Sulzbürg-Pyrbaum, Herrschaft 157 Taubergau 95 Taubergrund 192 Thur 80 Thurgau 80 Thüringen 32, 38, 81, 100, 207, 300, 349, 350 Thüringen, Landgrafschaft 125 Tiel 94 Tilleda 96, 97 Tirol 126, 192, 207, 288, 289

Register der Länder, Regionen, Herrschaften 

Toskana 306 Töss 80 Tour 108 Tribur 95 Trier 93, 95 – 97 Trier, Erzstift 97, 102, 104, 105, 202 Triest 281 Trifels 106 Türckheim 106 Ulm 99 – 101, 124, 152, 157 Ungarn 39, 239, 267, 271, 272, 274 – 280, 282, 283, 286, 288, 291 Union, preußische 244 Unstrut 80, 81 USA 226 – 228, 230, 233, 317, 371, 392 Utrecht 99, 100 Utrecht, Hochstift 98 Venedig 169 Venetien 207, 260 Vermandois 108 Vierzehnheiligen 193 Vlatten 94, 105 Vlie/Lauwers 52 Vlie/Zwin 52 Vogesen 204 Volkfeld 81 Voncq 72 Vorarlberg 192 Vorderösterreich 207 Waldeck 255, 349

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Waldsassen, Kloster 157, 193 Walldürn 192 Warschau, Herzogtum 207 Weimarer Republik 24, 151, 192, 194 Weinsberg 106 Weißenburg 106 Werla 96 Wesel 105 Westdeutschland 25, 363, 366, 374, 394 Westeuropa 17, 47, 57 Westfalen 21, 96, 101, 207 – 209, 374 Westfränkisches Reich 21, 36, 37, 40, 41, 60, 74 Westgotisches Reich 48, 57 Westpreußen 276 Wetterau 95, 123, 421 Wetzlar 158 Wien 171 Wimpfen 95, 99 Woiwodina 278, 280, 281 Worms 95, 99, 100, 158 Wormsfeld 81 Württemberg 141, 157, 187, 191, 194, 199, 205, 206, 216, 219, 222, 249, 254, 257, 265, 300, 303, 305, 348 Würzburg 95, 100 Würzburg, Hochstift 188, 193, 195 Xanten 93, 94 Zülpich 93, 94, 97, 100, 104, 105 Zürich 99, 101, 142 Zürichgau 80 Zwickau 107

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Register der Völkerschaften Abodriten 70 Alemannen 30, 41, 49, 51, 64, 74, 79 Angeln 69, 70 Aquitanier 30 Awaren 69 Badener 23 Bayern 23, 41, 49, 51, 64, 79, 342 Böhmen 278, 286, 288, 289 Burgunder 20, 30, 48, 51, 55 Byzantiner 38 Dänen 39, 174 Deutsche 61, 79, 145, 167, 173, 179, 233, 243, 278, 283, 286, 303 Deutschösterreicher 273, 288 Franken 20, 23, 29, 34, 40, 41, 45, 48, 51, 64, 65, 69, 70, 74 Franzosen 174 Friesen 20, 30, 46, 48, 49, 51, 55, 57, 65, 70, 75, 78 Galizier 286 Germanen 20, 45, 50, 61, 70, 169, 284 Hamaländer 46, 48, 55, 57 Hessen 65, 78 Hunnen 69 Illyrer 288 Italiener 278, 288, 289 Juden 289 Kroaten 283 Kurpfälzer 23 Langobarden 30, 48, 51 Lipper 342 Lothringer 42 Magyaren 278, 288 Mährer 78, 278, 283, 286, 289 Nordslawen 278

Normannen 35, 37 – 39, 70, 78 Österreicher 242 Ostfranken 20, 41 Pfälzer 266 Polen 278, 283 – 285, 288, 289 Preußen 23, 342 Rheinfranken 48 Rheinländer 23 Romanen 20, 27, 30, 45, 64, 284 Römer 48, 55, 57 Ruthenen 278, 283, 288 Sachsen 20, 23, 40, 42, 46, 48, 52, 57, 64, 65, 68 – 70, 74, 78, 79 Sarazenen 35, 38 Schlesier 278 Schweden 174 Schweizer 142 Serben 283 Siebenbürger 278 Slawen 23, 40, 52, 85, 273, 278, 283, 284, 286, 288 Slowaken 283 Slowenen 283, 284 Südslawen 278, 288 Székler 278 Thüringer 30, 46, 48, 52, 57, 65, 70, 74, 75, 78 Tiroler 278, 289 Tschechen 243, 275, 283 – 285, 289 Türken 177 Ungarn 38, 40, 41, 69, 243, 278 Walachen 288 Westfranken 20 Westgoten 48, 51, 55 Wikinger 68 Württemberger 23

Personenregister Adam von Bremen 85 Adenauer, Konrad 351, 367 Adler Salvius, Johann 175 Adolf von Nassau 103, 105 Agobard von Lyon 30 Albrecht I., deutscher König 101, 105, 110, 126 Alfred der Große von Wessex 39 Alvensleben, Gustav von 245 Amri, Anis 387 Anschütz, Gerhard 317, 346, 355 Arminius 168 Arnolf, fränkischer König und Kaiser 37 Arnulf, s. Arnolf Bach, Alexander von 272, 283, 293 Baden, Max von 339 Bakunin, Michail A. 284 Balduin von Trier 106, 122, 123 Basileios II. 39 Bauer, Otto 287 Behr, Wilhelm Joseph 232 Bennigsen, Rudolf von 266 Berengar I. 37 Bernstorff, Albrecht von 245, 256 Berthold von Henneberg 137 Besold, Christoph 177 Beust, Friedrich Ferdinand von 244, 256, 305 Bibra, Philipp Anton von 185 Biegeleben, Ludwig von 247, 248, 256 Billung, Hermann 85, 86 Bismarck, Otto von 23, 165, 240, 245, 249, 256, 257, 260, 263 – 265, 305, 307, 318, 365 Boccalini, Traiano 173 Boleslaw I. Chrobry 39 Bonagratia von Bergamo 121 Bornhak, Conrad 319 Braun, Otto 344, 350, 354, 357 Brecht, Arnold 352, 354 Bruck, Karl Ludwig von 244, 276 Brüning, Heinrich 357, 358

Buol-Schauenstein, Karl Ferdinand von 306 Camerarius, Ludwig 174 Cavalcabo, Eduard 279 Chlodwig I. 27, 29, 48, 64 Chlodwig III. 55 Christoph II., König von Dänemark 125 Cicero, Marcus Tullius 387 de Bourbon, Charles, Graf von Artois 200 Dehler, Thomas 398 de Tocqueville, Alexis 337 Dickinson, John 227 di Zongo Ondedei, Giuseppe 174 Doenniges, Wilhelm von 302 Döring, Walter 411 Dörnberg, Ernst von 246 Eberhard, Herzog von Württemberg 137 Ebert, Friedrich 339 – 343, 348, 350, 356 Eduard III., König von England 113 Ehard, Hans 395, 396, 410 Einhard, Biograph Karls des Großen 71 Eisner, Kurt 341 Elisabeth von Sizilien 126 Ernst Friedrich, Graf zu Münster 223 Erthal, Franz Ludwig von 188 Erzberger, Matthias 347 Eschenburg, Theodor 337 Ferdinand, Erzherzog 168 Ferdinand I., deutscher König und römischer Kaiser 170, 171 Ferdinand II., deutscher König und römischer Kaiser 173, 174 Ferdinand III., deutscher König und römischer Kaiser 175 Franz II., deutscher König und römischer Kaiser 151, 199, 202, 203, 205

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Personenregister

Franz Joseph, Kaiser von Österreich 246, 248 – 250, 253, 255, 267, 280, 307 Fredegar 29 Friedrich, Großherzog von Baden 248, 250 – 255, 261, 262 Friedrich, Johann Konrad 149 Friedrich August, König von Sachsen 211 Friedrich der Schöne 117, 120 Friedrich Franz II., Großherzog von Mecklenburg 253 Friedrich I., deutscher König und römischer Kaiser 20, 100, 101 Friedrich II., deutscher König und römischer Kaiser 101 Friedrich III., deutscher König und römischer Kaiser 103, 107 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 173 Friedrich VIII., Herzog von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg 308 Friedrich von Aragon, König von Sizilien 126 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 200 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 206 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 304 Fröbel, Julius 246, 247 Galen, Christoph Bernhard von 187 Gentz, Friedrich 217 Georg III., Truchsess von Waldburg-Zeil 140, 141 Gerbert, Martin 189 Gerhard von Sinzig 92, 102 Gerold, Schwager Karls des Großen 32 Goethe, Johann Wolfgang von 202 Götz von Berlichingen 139, 140 Gregor von Tours 29, 57 Gröber, Adolf 345 Grotefend, Georg August 315 Gruben, Franz Joseph von 246, 247 Haase, Hugo 340 Haller, Karl Ludwig von 204 Hardenberg, Karl August von 218, 221, 222, 224 Haug von Werdenberg 137 Häusser, Ludwig 262, 263 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 423

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 165, 415 Hegnenberg-Dux, Friedrich von 266 Heilmann, Ernst 357 Heine, Wolfgang 343 Heinrich der Löwe, Herzog von Bayern und Sachsen 55, 100 Heinrich der Stolze, Herzog von Bayern und Sachsen 113 Heinrich I., deutscher König 40, 59, 84, 97 Heinrich II., deutscher König und römischer Kaiser 54, 98, 171 Heinrich III., deutscher König und römischer Kaiser 54 Heinrich IV., deutscher König und römischer Kaiser 96, 99 Heinrich Raspe IV., deutscher König 102 Heinrich V., deutscher König und römischer Kaiser 98, 99 Heinrich VI., deutscher König und römischer Kaiser 101 Heinrich VII., deutscher König und römischer Kaiser 120, 126 Heinrich von Oranien 255 Heinrich XIII., Herzog von Bayern-Landshut 117 Helfert, Josef Alexander von 279, 289 Hermann von Reichenau 76 Herzog, Roman 401 Hess, Joseph 358 Hesse, Konrad 364, 388, 399, 400, 426 Heuss, Theodor 337 Hindenburg, Paul von 348, 350, 351, 356 – 358 Hinkmar von Reims 72 Hirsch, Paul 344 Hodges, James 227, 228 Hölder, Julius von 263 Hugo, Ludolf 177, 179 Humboldt, Wilhelm von 217, 221, 225, 226 Hutten, Ulrich von 167, 168 Irminfried, Fürst der Thüringer 70 Isidor von Sevilla 57, 67 Jerusalem, Franz W. 397 Johann, König von Böhmen 106, 122 Johann, König von Sachsen 249, 250, 252

Personenregister 

Johannes von Jandun 127 Johannes XXII., Papst 120, 121 Johann Friedrich, Kurfürst von Sachsen 169, 170 Johann Georg, Kurfürst von Sachsen 174 Johnson, Samuel 230 Joseph II., deutscher König und römischer Kaiser 242 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 178 Kant, Immanuel 179, 229, 232 Karl, Sohn Karls des Großen 33 Karl Albrecht, Kurfürst von Bayern, deutscher König und römischer Kaiser 297 Karl der Einfältige, König von Westfranken 40, 60 Karl der Große 28, 30 – 34, 37, 41, 46, 48, 51, 57, 62, 64, 85, 95, 164 Karl II., der Kahle, König von Westfranken und römischer Kaiser 36, 60, 72 Karl III., König von Ostfranken und römischer Kaiser 37, 60, 74 Karl IV., deutscher König und römischer Kaiser 101, 103 – 106, 110, 166 Karlmann, Bruder Karls des Großen 32, 34 Karlmann, Hausmeier 32 Karl V., deutscher König und römischer Kaiser 107, 167 – 170, 172, 173 Kirchheimer, Otto 351 Klüber, Johann Ludwig 232, 233 Knut der Große 39 Kohl, Helmut 371 Konrad, Pfalzgraf 104, 106 Konrad I., König von Ostfranken 39, 80, 84, 98 Konrad II., deutscher König und römischer Kaiser 54 Laband, Paul 316, 317 Lammert, Norbert 388 Lehr, Robert 395 Leibniz, Gottfried Wilhelm 144, 145, 176 Leopold, Herzog von Österreich 120 Leopold II., deutscher König und römischer Kaiser 200 Lerche, Peter 410 Lerchenfeld, Gustav von 266

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Limburg-Styrum, August Philipp von 188 Lipsius, Justus 173 Lothar I., fränkischer König und römischer Kaiser 34, 36, 60 Lothar II., fränkischer König 36, 60, 65 Ludwig das Kind, ostfränkischer König 39, 80 Ludwig der Blinde, römischer Kaiser 37 Ludwig der Brandenburger, Herzog von Bayern, Markgraf von Brandenburg 124, 126 Ludwig der Deutsche, ostfränkischer König 36, 60, 72, 95 Ludwig der Fromme, fränkischer König und römischer Kaiser 30, 32 – 36, 59, 73 Ludwig der Stammler, fränkischer König 36 Ludwig der Strenge, Herzog von Bayern-München 116 Ludwig I., König von Bayern 298 Ludwig III., Pfalzgraf 106 Ludwig IV. der Bayer, deutscher König und römischer Kaiser 101, 103, 105, 106, 110, 113, 115 – 119, 121 – 125, 127, 297 Ludwig XIV., König von Frankreich 172, 177 Lupold von Bebenburg 127 Luther, Martin 142, 168, 169 Mameranus, Nikolaus 172 Margarete von Hennegau 125 Margarete von Tirol-Görz gen. Maultasch 126 Maria Theresia 242 Marsilius von Padua 127 Mathilde von Österreich 116 Max Emanuel, Kurfürst von Bayern 297 Max II., König von Bayern 300, 301, 307, 308, 310 Maximilian, Herzog und Kurfürst von Bayern 173 Maximilian I., deutscher König und römischer Kaiser 137, 158, 166, 167, 173 Mayer, Kajetan 280 Menzel, Walter 395, 396, 410 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 215, 216, 218, 220 – 222, 224, 225, 239, 278, 280 Meyer, Georg 317 Micyllus, Jacob 170 Miquel, Johannes 266 Mohl, Robert von 258, 261

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Personenregister

Montesquieu 176 Montgelas, Maximilian von 222, 297 Moritz, Kurfürst von Sachsen 171 Moser, Friedrich Carl von 165, 178, 186, 189 Moser, Johann Jacob 163, 178 Möser, Justus 144, 163 – 165 Müller, Johannes von 145 Napoleon Bonaparte 22, 199 – 201, 205 – 207, 209, 216, 221, 241, 297 Nawiasky, Hans 351 Nikolaus V. 121 Noske, Gustav 351 Notker der Stammler 69 Otto, König von Griechenland 298 Otto I., deutscher König und römischer Kaiser 41, 84, 85, 164 Otto II., deutscher König und römischer Kaiser 97 Otto III., deutscher König und römischer Kaiser 53, 97 Otto III., Herzog von Niederbayern, König von Ungarn 117 Otto IV., deutscher König und römischer Kaiser 100 Ottokar, König von Böhmen 111 Palacky, Frantisek 275, 279, 280, 284, 287 – 289 Papen, Franz von 350, 351, 358 Pfordten, Ludwig von der 301, 303, 305, 308 Philipp, Landgraf von Hessen 169, 170 Philipp August, König von Frankreich 108 Philipp II., König von Frankreich 109 Pillersdorf, Franz von 274 Pippin, Hausmeier 32 Pippin, Sohn Karls des Großen 30, 32, 33 Pippin III., fränkischer König 36 Poetzsch-Heffter, Fritz 355 Preuß, Hugo 339, 342, 344, 345, 349, 352, 425 Pufendorf, Samuel 163, 177, 229 Pütter, Johann Stephan 179 Radowitz, Joseph Maria von 245, 303 Raffelsperger, Franz 230 Rechberg, Aloys von 222, 247, 248, 256

Regino von Prüm 67, 74, 78 Renner, Karl 287 Rudolf I., Herzog von Oberbayern, Pfalzgraf 117 Rudolf II., Pfalzgraf 118 Rudolf von Fulda 68, 69 Rudolf von Habsburg, deutscher König 103, 104, 111, 116 Ruprecht I., Pfalzgraf 118 Ruprecht III., Pfalzgraf und deutscher König 106, 110 Salvius, s. Adler Salvius, Johann Sartori, Joseph von 185, 186 Scheidemann, Philipp 338 Scheler, Max 339 Schlözer, August Ludwig von 186 Schmerling, Anton von 247, 248 Schmitt, Carl 351 Schönborn, Friedrich Karl von 188 Schröder, Gerhard 426 Schulze-Delitzsch, Hermann 263 Schulze-Gaevernitz, Hermann von 322 Schumacher, Kurt 393 Schwarzenberg, Felix zu 239, 276, 280, 303 Selmer, Peter 400 Sigismund, König von Ungarn, römischer Kaiser 103, 134, 421 Smidt, Johann 220 Sommaruga, Franz von 276 – 279 Stein, Karl vom und zum 216, 218 Stengel, Karl von 323 Stephan I., Herzog von Bayern 117 Stephan II., Herzog von Bayern 124, 126 Stephan I., König von Ungarn 39 Stoiber, Edmund 407 Stresemann, Gustav 350 Tacitus 50, 168, 170 Talleyrand, Charles-Maurice 211 Tassilo, Herzog von Bayern 64, 95 Theoderich 70 Triepel, Heinrich 353 Vladimir I. von Kiew 39 Völk, Joseph 263

Personenregister 

Wallenstein, Albrecht von 174 Weis, Ludwig 266 Welcker, Karl Theodor 230, 263 Wenzel, deutscher König 104, 106 Wilhelm I., König von Preußen 248, 249, 307 Wilhelm II., König von Preußen und deutscher Kaiser 333 Wilhelm III., Graf von Holland-Hennegau 125 Wilhelm VI., Graf von Holland-Hennegau 125

Wilhelm von Holland, deutscher König 104 Wilhelm von Ockham 121 Willigis, Erzbischof von Mainz 97 Wrede, Karl Philipp von 225 Zeiller, Martin 152 Zwingli, Huldrych 142 Zypries, Brigitte 426

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