Edition als Wissenschaft: Festschrift für Hans Zeller 9783110946949, 9783484295025

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Edition als Wissenschaft: Festschrift für Hans Zeller
 9783110946949, 9783484295025

Table of contents :
Gruß an Hans Zeller
Fixierter Text – realisierter Text. Über eine vernachlässigte Aufgabe der Editionsphilologie
Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen
(Romanische) Philologie in Frankreich? Zu Geschichte und Problematik eines deutsch-französischen Wissenschaftstransfers im 19. Jahrhundert
„Paradise Lost“ und „Messias”. Ermittlung eines nicht ausgeführten Konzepts der Episode vom Weltgericht
Ideale und reale Bedingungen für Editionen und die geplante Fortführung der Herder-Briefausgabe
Edition und Kommentierung eines dienstlichen Briefes an Justus Möser
Der wohlfeile Goethe. Überlegungen zur textphilologischen Grundlegung von Leseausgaben
Die Heiterkeit der Kunst. Goethe variiert Schiller
Der Spruch als Text: Varianten einer alpinen Sage
Interpretation und Textgenese. Eichendorffs Gedichte „Götterdämmerung“
Titel literarischer Werke, historisch-kritisch betrachtet. Das Beispiel der Epen Annette von Droste-Hülshoffs
Grün oder blau? Zu C. F. Meyers poetischen Farben
Anmerkungen zu Conrad Ferdinand Meyers „Zwiegespräch“
„Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten
Anerkennung durch Aneignung? Ein Sonett Margarete Steffins, bearbeitet von Bertolt Brecht
Axiomata editorialia
Veröffentlichungen von Hans Zeller, zusammengestellt von Franziska Meister
Tabula gratulatoria

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B E I H E F T E

ZU

editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER

Band 2

Edition als Wissenschaft Festschrift für Hans Zeller Herausgegeben von Gunter Martens und Winfried Woesler

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Edition als Wissenschaft: Festschrift für Hans Zeller / hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Beihefte zu Editio ; Bd. 2) NE: Martens, Gunter [Hrsg.]; Zeller, Hans: Festschrift; Editio / Beihefte ISBN 3-484-29502-3

ISSN 0939-5946

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

Gruß an Hans Zeller

1

Klaus Kanzog Fixierter Text - realisierter Text Über eine vernachlässigte Aufgabe der Editionsphilologie

5

Siegfried Scheibe Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen

....

Michael Werner (Romanische) Philologie in Frankreich? Zu Geschichte und Problematik eines deutsch-französischen Wissenschaftstransfers im 19. Jahrhundert

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Elisabeth Höpker-Herberg „Paradise Lost" und „Messias" Ermittlung eines nicht ausgeführten Konzepts der Episode vom Weltgericht

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Günter Arnold Ideale und reale Bedingungen für Editionen und die geplante Fortführung der Herder-Briefausgabe Winfried Woesler Edition und Kommentierung eines dienstlichen Briefes an Justus Moser . . . Gunter Martens Der wohlfeile Goethe Überlegungen zur tcxtphilologischen Grundlegung von Leseausgaben Norbert Oellers Die Heiterkeit der Kunst Goethe variiert Schiller Roland Ris Der Spruch als Text: Varianten einer alpinen Sage

...

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VI

Inhalt

Karl Konrad

Polheim

Interpretation und Textgenese Eichendorffs Gedichte „Götterdämmerung"

124

Lothar Jordan

Titel literarischer Werke, historisch-kritisch betrachtet Das Beispiel der Epen Annette von Droste-Hülshoffs Helmut

142

Koopmann

Grün oder blau? Zu C. F. Meyers poetischen Farben Bernhard

Böschenstein

Anmerkungen zu Conrad Ferdinand Meyers „Zwiegespräch" Wolfram

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159

Groddeck

„Gedichte und Sprüche" Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten

169

Gerhard Seidel

Anerkennung durch Aneignung? Ein Sonett Margarete Steffins, bearbeitet von Bertolt Brecht D. E.

181

Sattler

Axiomata editorialia

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Veröffentlichungen von Hans Zeller, zusammengestellt von Franziska Meister

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Tabula gratulatoria

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Gruß an Hans Zeller

Die letzten „fünfzig Jahre neugermanistischer Edition" sind durch die E n t w i c k lung der früheren Textkritik und Editionsfec/mife zur eigenen Disziplin einer Editionswissenschaft gekennzeichnet. Von d e m rein technologischen Wissen, den Handlungsanleitungen und pragmatischen Festlegungen ging das Interesse m e h r u n d mehr hin zu den Fragen nach Gründen u n d Zielen, die recht eigentlich erst das Herausgebergeschäft, die praktische U m s e t z u n g von Editionsvorhaben, definieren. Diese gravierende Veränderung in der editorischen Szenerie ist o h n e den wegweisenden Beitrag Hans Zellers nicht zu denken. Er selbst hat zwar diesen , Paradigmen Wechsel' in einem Rückblick, dessen Titel wir zu Beginn zitierten, trefflich nachgezeichnet; 1 es gehört jedoch zu den charakteristischen Wesensmerkmalen dieses Wissenschaftlers, daß er in der Darstellung die eigene Rolle nur zwischen den Zeilen oder allerhöchstens in einzelnen A n m e r k u n g e n v e r n e h m b a r werden läßt. Gerade seine Ausgabe der Gedichte C o n r a d Ferdinand M e y e r s u n d seine i m m e r wieder neu einsetzende Reflexion des eigenen editorischen Tuns in einer Fülle von Aufsätzen u n d Artikeln waren es, die das Selbstverständnis der Editoren veränderten und d e m neuen Weg eine Richtung wiesen. Hier w a r die Edition nicht m e h r bloßer technischer Nachvollzug vorgegebener Regeln, nicht nur an überlieferte Daten gebundene Dienstleistung für andere, sondern selbständige wissenschaftliche Tätigkeit, die durch einen eigenen T h e o r i e r a h m e n b e g r ü n det und ausgewiesen wurde. In diesem Sinne ist bereits der frühe Aufsatz zu verstehen, den H a n s Zeller 1958 in der Zeitschrift „ E u p h o r i o n " veröffentlichte: 2 In der produktiv-kritischen Auseinandersetzung mit Friedrich Beißners Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe gibt er seinem Bedürfnis Ausdruck, in der apparativen Darstellung der Varianten d e m Leser zugleich die Möglichkeit einer Rekonstruktion des Zeugen an die H a n d zu geben. In dieser vielfach mißverstandenen Formulierung wird z u m ersten Mal das „Bedürfnis" des C.F.Meyer-Herausgebers faßbar, den Leser u n d Benutzer seiner

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In: editio 3, 1989, S. 1-27. Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen. In: Euphorion 52, 1958, S. 356-377. - Für den Nachweis der weiteren in diesem Vorwort erwähnten Arbeiten Hans Zellers sei generell auf die „Liste der Veröffentlichungen" am Ende dieses Bandes verwiesen.

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Gruß an Hans

Zeller

Ausgabe nicht der subjektiven Entscheidung des Editors auszuliefern, sondern sie selbst in der Mitteilung des „Befundes" zu begründen und überprüfbar zu machen. Diesen Ansatz, der Edition einen eigenständigen Begründungsrahmen zu geben, hat Hans Zeller in den nachfolgenden Jahren mit äußerster Konsequenz weitergeführt. Dabei definiert er die Wissenschaftlichkeit des editorischen Vorgehens vor allem in dreifacher Hinsicht: Zum ersten in der systematischen Durchdringung von „Edition und Interpretation". In der gleichnamigen Zürcher Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1965 macht er deutlich, daß in einer Edition beide Ebenen sich gegenseitig bedingen, daß es dem Herausgeber jedoch darum gehen müsse, diese gegenseitige Abhängigkeit durchschaubar und für den Leser greifbar zu machen. In der sorgfältigen Trennung von „Befund und Deutung" - so der Titel seines Beitrages im Sammelband „Texte und Varianten" - macht Hans Zeller deutlich, welchen Forderungen die praktische Einrichtung einer historisch-kritischen Ausgabe gehorchen muß, um den „schwarzschattenden Herausgeber" nicht hinter einem falschverstandenen Positivismus editorischer Dokumentation zu verbergen. Eine zweite Folgerung seiner wissenschaftlichen Auffassung ist die Ausbildung einer eigenen editorischen Terminologie. Gegen eine dezisionistische Begrifflichkeit setzt er ein System von Termini, die nicht aus der eigenen Herausgeberherrlichkeit gesetzt, sondern deren Unterscheidung und gegenseitige Beziehung konsequent aus der theoretischen Grundlegung abgeleitet werden. Hans Zellers Bemühungen um die Klärung von Begriffen wie „Textfehler", „Fassung", „Schicht" gehören in dieser Hinsicht zu den wesentlichen Leistungen moderner editionswissenschaftlicher Reflexion. Zugleich gibt gerade dieses Arbeiten an einer eigenen Fachterminologie einen dritten Aspekt seines Ansatzes, Edition als Wissenschaft zu definieren, zu erkennen: nämlich die Edition nicht von der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung abzukoppeln, sondern sie ihrerseits wiederum an einem übergeordneten Wissenschaftsmodell zu orientieren. Die dichotomische Ausrichtung seiner Terminologie, die Festlegung begrifflicher Unterscheidungen in einem System von Äquivalenz und Opposition, läßt den Anschluß an strukturalistische Modelle erkennen, die ihrerseits auf interdisziplinärer Ebene die Austauschbarkeit der auf dieser Grundlage gewonnenen Einsichten und Resultate gewährleisten. Gerade für die Einbeziehung editorischer Ergebnisse in die literaturwissenschaftliche und auch linguistische Arbeit ist diese Orientierung von hoher, dennoch bislang nur wenig genutzter Bedeutung. Neben dieser wissenschaftssystematischen Stellung seiner editionstheoretischen und -praktischen Arbeit steht gleichrangig seine befruchtende und oftmals herausfordernde Funktion im Dialog der Editoren. Im deutschen Sprachraum gibt es wohl keine moderne Edition, die sich nicht in irgendeiner Hinsicht auf die editionsphilologischen Ansätze Hans Zellers bezieht, keinen Editor, der nicht den 1971 erschienenen Sammelband „Texte und Varianten" kennt. Zeller hat stets bei neuen Editionen engagiert Stellung bezogen, mit seiner Meinung nicht nur nicht hinter dem Berg gehalten, sondern hat sich stets zu kollegialem Rat, den er mit der

Gruß an Hans Zeller

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ihm eigenen Freundlichkeit vorzubringen pflegte, verpflichtet gefühlt. Die staatliche Gliederung des deutschen Sprachraums und insbesondere die föderative Struktur der Bundesrepublik Deutschland haben die Bildung einer zentralen wissenschaftlichen Institution für deutschsprachige Editionen nicht zugelassen. Nicht zuletzt deswegen hat sich 1985 - mit Hans Zellers Mitwirkung — die internationale „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" gebildet. Aber vorher war Hans Zeller über zwei Jahrzehnte allein diese , Institution'; bis heute gehört er zu den wenigen Kollegen, die fast alles lesen, was die jüngeren Editoren vorbringen. Viele heute verantwortliche Herausgeber dürften über einen Briefwechsel mit ihm verfügen, eng maschinenbeschriebene Blätter, sorgfältig durchgesehen und oftmals dann mit fein zäsilierten handschriftlichen Zusätzen versehen. Er ist ein Wissenschaftler, der so dezidiert seine Meinung - Kritik und noch lieber sein Lob - mitteilt. Er liebt den schriftlichen wie auch den mündlichen Disput, ist von anderen Positionen nur mit ihm einleuchtenden Gründen zu überzeugen, zwingt aber gerade dadurch sein Gegenüber, seine Thesen und Einsichten noch genauer zu durchdenken, noch genauer zu formulieren. Dabei bleibt er als Schweizer immer liebenswürdig und gastfreundlich. In der Phase der deutschen Teilung versuchte er mit beiden Seiten den Kontakt zu halten und war unermüdlich bereit zu helfen, wenn die deutschen Editoren aus Ost und West allein nur schwer zueinander fanden; er brachte nicht nur sein umfassendes Fachwissen ein, sondern trug durch seine zahlreichen Referate stets gern dazu bei, aus bilateralen Treffen und Projekten „internationale" zu machen. Tatkräftig hat er sich für die Gründung der bereits erwähnten „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition" eingesetzt, mit der nun auch die organisatorische Basis für die Entwicklung der Editionswissenschaft als einer eigenständigen Disziplin gelegt wurde. Er leitet hier die „Kommission für Edition von Texten des 18., 19. und 20. Jahrhunderts". Doch nicht nur im deutschen Sprachraum hat der Editor Hans Zeller gewirkt: Er hat sowohl die anglo-amerikanische Editionswissenschaft aufmerksam verfolgt und durch die Konfrontation seines Ansatzes mit dem des , textual criticism' dort eine folgenreiche Diskussion ausgelöst, als auch an allen deutsch-französischen Editorenkolloquien seit 1977 aktiv teilgenommen. Wenn sich die Editoren heute nicht nur untereinander im deutschen Sprachraum, sondern auch mit denen anderer europäischer Staaten enger zusammenschließen, so hat an dieser erfreulichen Entwicklung Hans Zeller entscheidend mitgewirkt. Für diese vorbildliche Leistung des Editionswissenschaftlers Hans Zeller wollen Freunde, Kollegen und Schüler mit der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen ihren Dank zum Ausdruck bringen. Die einzelnen Untersuchungen sollen in den verschiedensten Feldern editorischer Tätigkeit vorführen, auf welch fruchtbaren Boden seine theoretische und praktische Editionsarbeit gefallen ist. In der Anwendung seiner Ergebnisse und im kritischen Weiterdenken von ihm ausgehender Anregungen soll die Tragweite seines editionswissenschaftlichen Ansät-

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Gruß an Hans Zeller

zes, die Herausforderung und motivierende Kraft seiner Tätigkeit vorgeführt werden. Die Herausgeber der vorliegenden Festschrift danken dem Hochschulrat und der Publikationskommission der Universität Freiburg/Schweiz für die großzügige Gewährung von Druckkostenzuschüssen; ein Dank gilt auch dem Max Niemeyer-Verlag, der sich bereit erklärte, den Sammelband in sein Programm aufzunehmen. Hamburg und Osnabrück im Oktober 1990 Gunter Martens, Winfried Woesler

Klaus Kanzog

Fixierter Text - realisierter Text Über eine vernachlässigte Aufgabe der Editionsphilologie

In der nun schon seit mehr als zwanzig Jahren geführten Diskussion über einen neuen Textbegriff hatte man vorwiegend literarische Werke im Blick, deren Textgenese man zu sichern versuchte. Bestimmte Textsorten, wie das Opernlibretto, das Hörspiel und das Drehbuch, wurden dabei nur als Randerscheinungen angesehen. Hatte man für ein Drama einen zuverlässigen Text konstituiert oder alternative Fassungen so aufbereitet, daß der Leser daraus seine Schlüsse ziehen konnte, dann gab man sich mit diesem Ergebnis zufrieden: der Text war fixiert. Was ein Regisseur daraus macht, ist nach wie vor seine Sache; eine vergleichende Edition von Bühnenbearbeitungen zu versuchen, liegt nicht im Interesse der Editoren, obgleich eine solche Edition die Rezeptionsgeschichte des betreffenden Dramas erhellen und heutigen Regisseuren als Orientierungshilfe dienen könnte. Dramensprache ist .gesprochene Sprache'; wir vergessen diese Textregel beim Lesen eines Dramas allzu schnell, aber die Schulmänner, die ihre Schüler Dramen ,mit verteilten Rollen' lesen ließen, nahmen sie ernst, und dort, wo Schultheater die Freude am Theaterspiel nutzen, um den Schüler auf lebendige Weise mit einem Drama vertraut zu machen, wird die Kluft zwischen dem fixierten und dem realisierten Text schnell überwunden. Daß daneben typische Lesedramen, die schon als solche konzipiert sind, eine eigene Textsorte bilden, und daß man sich Dramen meist nur lesend aneignen kann, weil sie auf dem Theater nicht zu sehen sind, ist eine andere Sache; von vielen Klassikeraufführungen des modernen .Regietheaters' freilich wird man oft nur mit Mühe zum .originalen' Text zurückfinden. Als Ernst Wendt im September 1979 seine Inszenierung von Heinrich von Kleists „Das Käthchen von Heilbronn" an den Münchner Kammerspielen vorbereitete, fragte er mich, welchen Rat ein „Editionswissenschaftler" einem Regisseur hinsichtlich der zu spielenden Fassung geben könnte. Ich empfahl 1 schlechten Gewissens, unbedingt eine kontaminierte Fassung herzustellen, und bekannte freimütig meinen Konflikt zwischen den Normen der Textkritik und den Erfordernissen des Theaters. Beziehen wir jene „Mißgriffe", die aus Kleists Absicht entsprangen, das Werk „für die Bühne passend zu machen", und die er im Sommer 1

In einem am 25. September 1979 im Werkraumtheater der Münchner Kammerspiele gehaltenen (unpublizierten) Vortrag.

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Klaus Kanzog

1811 in einem Brief an Marie von Kleist 2 beklagt, auf die Buchausgabe des „Käthchen v o n Heilbronn" (Berlin 1810), dann m u ß diese Fassung als problematisch angesehen werden. War sie bereits eine .Bühnenfassung' (gedacht für die Wiener U r a u f f ü h r u n g ) , zu der keine ,Lesefassung' überliefert ist? U n d sind die beiden im „Phöbus" 1808 gedruckten „Fragmente" Teile dieser .Lesefassung'? Kein Editor ist in der Lage, eine befriedigende Fassung herzustellen. Karl Siegens Versuch der Konstitution einer „auf Grund des ursprünglichen Plans neu für B ü h n e und Haus bearbeiteten Fassung" (1890) w u r d e von Erich Schmidt 3 unter B e r u f u n g auf die „Fassung letzter H a n d " als „Weinfälscherei" schroff abgewiesen, aber die von Kleist autorisierte Buchausgabe ist nur in der zeitlichen Abfolge (nicht intentional) eine „Fassung letzter H a n d " . Die Kleist-Editoren hätten nicht nur dem Theater, sondern auch der rezeptionsgeschichtlich orientierten Kleistforschung mit einer vergleichenden Edition der Bühnenbearbeitung des „Käthchen von Heilbronn" (in erster Linie Bearbeitungen Franz von Holbeins und Josef Schreyvogels) einen großen Dienst erweisen können; die Diskussion u m das von Helmut Sembdner vorgestellte Detmolder Soufflierbuch wäre dann von A n f a n g an anders verlaufen. 4 D a m i t sei nicht grundsätzlich die Forderung nach der Edition von Bühnenfassungen erhoben, sondern nur an die Fesseln erinnert, die sich die Editionswissenschaft selbst anlegt. Im Falle von Büchners „Woyzeck" wären ζ. B. bei einer vergleichenden Edition von B ü h n e n - und Lesefassungen des Werkes von vornherein jene Bühnenbearbeitungen auszuscheiden, die noch auf falschen bzw. nicht klar erkannten textkritischen Voraussetzungen beruhen. Die .Fixierung' des Textes durch Büchner gelangte (im Gegensatz zu Kleists „Käthchen von Heilbronn") zu keiner im Z u s a m menhang lesbaren bzw. spielbaren abgeschlossenen Fassung, doch d e r , Spielraum' für die Herstellung einer solchen Fassung ist relativ eng. Dies wird deutlich, wenn man die von Henri Poschmann 5 1984 vorgelegte „kombinierte Werkfassung" mit der „Lese- u n d Bühnenfassung" T h o m a s Michael Mayers 6 von 1990 vergleicht. Für Mayer sind die Szenenkomplexe Η 4 , 1 - 1 7 und Η 1,14-21 ein „zusammenhängendes und von Büchner in der Reihenfolge eindeutig festgelegtes Ganzes". Er 2

„Das Urteil der Menschen hat mich bisher viel zu sehr beherrscht; besonders das Käthchen von Heilbronn ist voll Spuren davon. Es war von Anfang herein eine ganz treffliche Erfindung, und nur die Absicht, es für die Bühne passend zu machen, hat mich zu Mißgriffen verführt, die ich jetzt beweinen m ö c h t e " (H. v. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. v. Helmut Sembdner. 2. Aufl. München 1961, S. 874).

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Vgl. Klaus Kanzog: Edition und Engagement. 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich v o n Kleists. Bd. 1. Berlin, N e w York 1979, S. 283. Vgl. hierzu die Rezension von Dirk Grathoff (Helmut Sembdner: Das Detmolder „Käthchen von Heilbronn". Eine unbekannte Bühnenfassung Heinrich von Kleists. Heidelberg 1981) in: KleistJahrbuch 1983, S. 205-214. Georg Büchner: Woyzeck. Nach den Handschriften neu hergestellt u. kommentiert v. Henri Poschmann. Leipzig 1984 (= Insel-Bücherei 1056). Georg Büchner: Woyzeck. Gezeichnet von Dino Battaglia. Altamira-Verlag, Berlin 1990, S. 23-44: Lese- und Bühnenfassung, den Bühnen gegenüber als Manuskript.

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Fixierter Text - realisierter Text

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n i m m t über die Verknüpfung dieser beiden Szenenkomplexe hinaus nur dort Kontaminationen vor, w o Büchner in der sog. „vorläufigen Reinschrift" Szenen fixiert, aber textlich noch nicht gefüllt hat: 7 am Ansatzpunkt Η 4 , 3 , , a u f g e f ü l l t ' mit Textelementen aus H 2 , 3 , Η 1,1, Η 2,5 u n d Η 1,2, sowie am Ansatzpunkt H 4 , 9 , , aufgefüllt' mit Η 2,7; die beiden von der Forschung kontrovers beurteilten Szenenentwürfe Η 3,1 und Η 3,2 hat Mayer als A n h a n g beigegeben u n d damit n u r zur Disposition gestellt. Auch angesichts der typographischen Kennzeichnung der kontaminierten Textelemente ist dies die philologisch .sauberste' Lösung. Poschmann hat sich dagegen interpretatorisch weiter vorgewagt. Auch er benutzt am Ansatzpunkt Η 4,3 die Szenen Η 2,3, Η 1,1, Η 2,5 u n d Η 1,2 (mit leicht abweichender Textkonstitution) zur .Auffüllung', ebenso H 2 , 7 zur . A u f f ü l l u n g ' v o n Η 4,9, aber er hat nicht nur Szenen umgestellt ( H 4 , 7 erst vor Η 4,10 u n d Η 1,18 erst nach Η 1,20), sondern auch die Szenenentwürfe Η 3,1 und Η 3,2 in die „ k o m binierte Werkfassung" integriert ( H 3 . 1 vor H 4 , 4 und H 3 , 2 vor Η 1,21). Im Hinblick auf die bestehenden Textkorrespondenzen Η 1,13/ H 4 , 1 3 , Η 1,11/ Η 4 , 1 5 und Η 1,12/ H 4 . 1 6 scheiden Η 1,13, Η 1,11 und Η 1,12 als .Spielmaterial' aus. Es bleiben zuletzt nur noch die in Η 4 nicht wieder aufgegriffenen Szenen Η 1,3 (Margreth allein) und Η 1,8 (Casernenhof), die Mayer konsequent ausscheidet, die Poschmann aber zu ,retten' versucht ( H l , 3 im Anschluß an die . A u f f ü l lung' für Η 4 . 3 . Η 1.8 nach Η4.13). Im Gegensatz zu den Bühnenbearbeitungen, die einen fixierten Text einem subjektiven Gestaltungswillen unterwerfen, ü b e r schreiten Mayer und Poschmann die Grenzen des überlieferten Materials nicht. 8 Die Subjektivität ist jedoch nur eine K o m p o n e n t e im U m g a n g mit d e m überlieferten Textmaterial, die andere K o m p o n e n t e ist die Funktionalität der einzelnen Textelemente, auf die eine Edition durchaus aufmerksam machen kann, w e n n sie zuvor ihr Ziel genau definiert hat. Ein besonders lohnendes Ziel ist das Sichtbarmachen der Differenz zwischen unterschiedlichen Medien bei der Realisation des gleichen Textes. Als Beispiel sei der Emil-Jannings-Film „Der zerbrochene K r u g " 9 aus dem Jahre 1937 gewählt; er setzte für die Verfilmung literarischer

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Vgl. hierzu Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. v. Gerhard Schmid. Wiesbaden 1981 und die Synopse der Fassungen in Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. Werner R. Lehmann. Bd. 1. H a m burg 1967, S. 337-406. Schon die 1967 von Werner R. Lehmann (siehe A n m . 7) vorgelegte „Lese- und Bühnenfassung" (S. 407-431) hält sich im Rahmen des überlieferten Materials und der sich hier abzeichnenden Grenzen. N e b e n den zwangsläufigen .Auffüllungen' von Η 4,3 und Η 4 , 9 setzt die neue Szenenkombination ( H 3 , l , Η 1,14, Η 1,15, Η 1,16, Η 1,17, Η 1,19, Η 1,20, Η 1,18, Η 1,21, Η 3 , 2 ) erst nach Η 4,17 ein. Der Vergleich mit den von Henri Poschmann und T h o m a s Michael Mayer hergestellten Fassungen bestätigt noch einmal die singuläre Bedeutung v o n Η 3,1 (Der H o f des Professors); diese Szene wird auch weiterhin zwischen den Szenen .vagabundieren'. Vgl. hierzu die Produktionsdaten in Klaus Kanzog (Hrsg.): Erzählstrukturen - Filmstrukturen. Erzählungen Heinrich von Kleists und ihre filmische Realisation. Berlin 1981, S. 161 f. Regie führte Gustav Ucicky, aber die „künstlerische Oberleitung" hatte Emil Jannings, der die Rolle des Adam spielte.

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Klaus Kanzog

Werke neue Maßstäbe und löste dabei das schwierige Problem der Transformation der Verssprache in den Film. Das Drehbuch schrieb Thea von Harbou, die den Kleisttext verkürzte und bearbeitete, um ihn , filmgerecht' zu machen. Beim Spielen vor der Kamera ergaben sich weitere Veränderungen, so daß eine doppelte Textvarianz zwischen dem Kleisttext und dem im Film gesprochenen Text und dem Drehbuch besteht. Diese Differenz hat Hans Mayer 1 0 in einer Synopse sichtbar gemacht. Ich wähle daraus die Verse 527-538 (Einstellung 102 und 103) und 769-780 (Einstellung 151-154), zwei Stellen mit unterschiedlichen Affektwerten; an der ersten Stelle spricht Adam heimlich mit Eve, um ihr Stillschweigen zu erzwingen, an der zweiten Stelle verhört Adam Frau Marthe, die berichtet, was Ruprecht ihr über den Hergang in Eves Kammer gesagt habe. Ich beschränke mich auf die Textwiedergabe, da alle weiteren Drehbuch-Details, die Beschreibungen des Filmbildes und die Angaben der Kamerapositionen für die Fragestellung sekundär sind. Der Drehbuchtext steht auf der linken, der im Film gesprochene Text, in dem Tilgungen durch eckige Klammern und neue Textelemente durch Kursivdruck kenntlich gemacht sind, auf der rechten Seite. Adam.

Adam. Hör' du, [bei Gott,] sei klug, [ich] das rat'

H ö r du, bei Gott, sei klug, ich rat' es dir.

[es] ich dir. Eve.

Eve.

Er Unverschämter! Adam.

Er, Unverschämter! Adam. In d e m Attest steht D e r N a m e jetzt, Frakturschrift, Ruprecht Tümpel. Hier trag' ich's fix und fertig in der Tasche! Hörst du es knackern, Evchen?

und send' ich's ab, Krepiert der Ruprecht in Ostindien, Ich weiß, an w e l c h e m Fieber nicht, war's

Hier In d e m Attest steht Der N a m e j e t z t , Frakturschrift, Ruprecht Tümpel. [Hier trag' ich's fix und fertig in der Tasche; 530 Hörst du es knackern, Evchen?] [Sieh, das kannst du, A u f meine Ehr', heut übers Jahr dir holen, Dir Trauerschürz' und Mieder zuzuschneiden, Wenn's heißt: der Ruprecht in Batavia] Und send' ich's ab, Krepiert' dein Ruprecht in Ostindien als Rekrut - ich weiß, an w e l c h e m Fieber nicht,

gelb, War's Scharlach o d e r war es faul.

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War's gelb, w a r ' s Scharlach, oder w a r e s faul.

Hans Mayer: Der zerbrochene Krug. Filmprotokoll aus dem Drehbuch von Thea von Harbou, der Filmbeschreibung des Emil-Jannings-Films und dem Lustspiel von Heinrich von Kleist als Synopse zusammengestellt. München 1987, S. 126/ 127 u. 160/ 161.

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Fixierter Text - realisierter

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Text

Walter. Sprecht nicht mit den Partei'n, Herr Richter Adam, Vor der Session.

Walter. Sprecht nicht mit den Partein, Herr Richter Adam, Vor der [Session] Verhandlung! Hier setzt Euch, und befragt sie.

Für die filmische Realisation bemerkenswert ist bereits die Einfügung des deiktischen „Hier" am Anfang der Rede Adams (V. 528). Es wurde dem getilgten V. 530 entnommen. Da es auf das derart hervorgehobene „Attest" ankommt, verträgt die Rede keine Amplifikationen, wie die Verse 530/ 531, die im Drehbuch noch vorgesehen waren. Die folgenden Amplifikationen in den Versen 532/ 534 fehlen auch im Drehbuch; das dort eingefügte neue Element „Und send' ich's ab" wird im Film aufgegriffen, um den Sachverhalt sofort klarzustellen: Adam versucht Eve zu erpressen; zur Klarstellung gehört auch das eingefügte Wort „Rekrut", das in Kleists „Zerbrochnem Krug" erst später (V. 1217 und 1976) vorkommt. Unklar bleibt jedoch die Bedeutung des Attestes. In Vers 1941 ist von einem „erlognen Krankheitszeugnis" die Rede, das Ruprecht vom Kriegsdienst befreien könnte. Hier aber soll die Absendung des Attestes die Verschiffung Ruprechts nach Ostindien zur Folge haben. 1 1 Daß das Wort „Verhandlung" an die Stelle des Wortes „Session" rückt, ist vielleicht der damals üblichen ,Deutschtümelei' zuzurechnen. Adam. Na? Frau Marthe.

Frau Marthe.

Er spricht, es hab' ein anderer den Krug

Er spricht, es hab' ein anderer den Krug

V o m Sims gestürzt — ein anderer, ich bitt' euch-

V o m Sims' gestürzt - ein anderer,

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Frau Marthe. - der vor ihm aus der Kammer nur entwichen, -

D e r vor i h m aus der Kammer nur entwichen; Adam. Ououh. Faule Fische.

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Eve erinnert Adam in V. 1215ff. daran, daß er den Leberecht „Geschickt nach Utrecht, vor die Kommission, / Mit dem Attest, die die Rekruten aushebt". Dadurch ergibt sich im Film ein nicht aufgelöster Widerspruch.

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Klaus

Kanzog

Frau M a r t h e . U n d ü b e r h ä u f t m i t S c h i m p f m i r da das

- U n d ü b e r h ä u f t m i t S c h i m p f m i r da das

Mädchen. Adam.

Mädchen. Adam.

O h ! Faule Fische, faule Fische!

[O!] faule Fische, Jaule Fische, faule Fische,

Hierauf?

Hierauf?

faul-

Frau M a r t h e .

Frau M a r t h e .

A u f dies W o r t Seh' ich das M ä d c h e n f r a g e n d an; die steht Gleich einer Leiche da. Ich sage: E v e - ! Sie setzt sich. Ist's ein anderer gewesen? F r a g ' ich. U n d : J o s e p h u n d M a r i e , r u f t sie,

A u f dies W o r t Seh' ich das M ä d c h e n f r a g e n d an; die steht Gleich einer Leiche da, ich sage: E v e ! -

Was d e n k t Ihr, M u t t e r , auch?

„Was d e n k t Ihr, M u t t e r , auch? - " [So

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[Sie setzt sich;] ist's ein anderer gewesen, [Frag'ich?] U n d „Joseph u n d M a r i a " , r u f t sie, sprich! Wer w a r ' s ? „Wer sonst", sagt sie, - u n d w e r auch

[ S t i m m e Frau M a r t h e s : ] - u n d s c h w ö r t m i r zu, daß er's g e w e s e n ist.

k ö n n t ' es anders?] U n d s c h w ö r t m i r zu, daß er's g e w e s e n ist.

An dieser Stelle ist die Affektverstärkung auffällig. Was bei Kleist („O! faule Fische-") nur als beiläufiger Ausdruck in die Rede eingefügt ist, wird vom Drehbuch stärker hervorgehoben, im Film jedoch noch potenziert. Adam gibt sich dadurch unbewußt als Betroffener zu erkennen; die Redeweise entspricht im übrigen ganz der starken Vitalität des Schauspielers Emil Jannings. Demgegenüber wird im Film die (im Drehbuch noch erhaltene) umständliche Redeweise von Frau Marthe syntaktisch ,entwirrt'. An die Stelle der für Frau Marthe charakteristischen penetranten Ausführlichkeit tritt die dramatische Rekapitulation des Verhörs, dem Eve durch Frau Marthe unterzogen worden war. Dadurch ist auf den ersten Blick sprachlich , typisch Kleistsches' verlorengegangen, aber es wurde auf andere Weise wiedergewonnen. Von hier aus fällt der Blick auf den Textstatus von Drehbüchern. Ihre Publikation ist, sofern ein Drehbuch filmisch realisiert wurde, nur im Zusammenhang mit dem Protokoll des betreffenden Films sinnvoll. Drehbücher sind lediglich aufnahmepraktische Anweisungen für Regisseur, Schauspieler und Kameramann sowie für die Einrichtung der Szene 12 und deshalb nur von konsultativem Wert, doch diese Konsultation möchte man nicht missen; sie kann, wie die beiden Beispiele zeigen, zu Erkenntnissen über die , medialen Brechungen' von Texten führen. Bei einem Opernlibretto weiß man von vornherein, daß der Text nur die Vorlage für die musikalische Realisation war. Viele Zuschauer haben während der 12

Vgl. Klaus Kanzog: Drehbuch. In: Sachwörterbuch des Fernsehens. Hrsg. v. Helmut Kreuzer. Göttingen 1982 (= Uni-Taschenbücher 1185), S. 48f.

780

Fixierter Text — realisierter

Text

11

Aufführung nur ein grobes Handlungsgerüst und einige Arienanfänge in Erinnerung; nachvollzogen werden Aktionen und Gelegenheiten sängerischer Entfaltung, und die Textverständlichkeit ist vielfach erschwert. Doch mit der Gluckschen Opernreform hatte das Wort in der Oper Eigenberechtigung erhalten, in der Romantik war es mit neuen Ausdruckswerten besetzt worden, und seit Wagner ist es ein wichtiger Faktor musikdramatischer Entfaltung. Daß die kritische LibrettoEdition mit den Untersuchungen der , Beziehungen zwischen Wort und Ton' nicht Schritt gehalten hat, soll hier nicht weiter erörtert werden. Im folgenden Beispiel geht es um das Problem des gesprochenen Textes in der Oper, demonstriert am 8. Auftritt des zweiten Aufzugs von Mozarts „Zauberflöte" mit dem Text von Emanuel Schikaneder. Besonders bei der „Zauberflöte" steht jeder Regisseur vor der Frage, wieviel Text er zwischen den , Musik- und Gesangsnummern' sprechen lassen will. Die Dialoge erwiesen sich in der langen Aufführungsgeschichte seit der Uraufführung des Werkes am 30. September 1791 am Κ. K. priv. Wiedner Theater in Wien immer wieder als zu lang, so daß sich bestimmte Kürzungskonventionen herausgebildet haben, die in Reclams Operntextbuch 1 3 Eingang fanden. Es lohnt sich, darüber hinaus die Praktiken an verschiedenen Opernhäusern miteinander zu vergleichen und in einer Synopse zusammenzufassen; nicht nur ,Opernfreunde', sondern auch Regisseure könnten daraus Nutzen ziehen. Im Laufe eines Opernlibretto-Seminars im Wintersemester 1973/74 traf es sich, daß in München zwei „Zauberflöten"-Inszenierungen, die der Bayerischen Staatsoper (Regie: Günther Rennert, Premiere: 14. Juli 1970) und die des Staatstheaters am Gärtnerplatz (Regie: Kurt Pscherer, Premiere: 16. November 1972), miteinander verglichen werden konnten; 1 4 in den Vergleich einbezogen wurde jene denkwürdige „Zauberflöten"-Inszenierung Walter Felsensteins in der Berliner Komischen Oper (Premiere: 19. Februar 1954), die für das Musiktheater neue Maßstäbe setzte. Die Aufführungen erwiesen sich schon hinsichtlich der verschiedenen Opernhaustypen als repräsentativ: Große Oper, Volksoper und Musiktheater verlangen jeweils eigene Aufführungsstile und folgedessen auch eine unterschiedliche Textbehandlung. Im 8. Auftritt des zweiten Aufzugs erscheint die Königin der Nacht, um ihre Tochter Pamina, die sich bereits im Herrschaftsbereich Sarastros befindet, nach dem Verbleib Taminos zu befragen. Auf die Nachricht, daß der von ihr zur Befreiung vorgesehene Tamino sich „den Eingeweihten gewidmet" habe, reagiert

13

14

Mozart: Die Zauberflöte. Oper in zwei Aufzügen. Dichtung von Emanuel Schikaneder. Vollständiges Buch hrsg. u. eingel. v. Georg Richard Kruse. Leipzig o. J. (= Reclams Universalbibliothek Nr. 2620). So auch in der Neubearbeitung von Wilhelm Zentner, Stuttgart 1951. Die Einsichtnahme in die Regiebücher wurde uns freundlicherweise von den Dramaturgen Klaus Schultz (Bayerische Staatsoper) und Dr. Peter Kertz (Staatstheater am Gärtnerplatz) gestattet. Der Text der „Zauberflöten"-Inszenierung beruht auf der Publikation von Götz Friedrich: „Die Zauberflöte" in der Inszenierung Walter Felsensteins an der Komischen Oper Berlin. Berlin 1958 (= Veröffentlichungen der Akademie der Schönen Künste), S. 210f.

12

Klaus Kanzog

sie mit Entsetzen, das sich steigert, als Pamina ihre Zuneigung zu Sarastro, den „weisen Männern" und Tamino als einen dieser Männer bekennt. Sie drängt Pamina einen Dolch auf, mit dem sie Sarastro töten soll. In den Dialog eingebettet ist die Geschichte des „siebenfachen Sonnenkreises", den sie nach dem Tode ihres Mannes Sarastro übergeben mußte, den sie ihm aber wieder entreißen will. Im Anschluß an diesen Dialog singt sie die Arie „Der Hölle Rache kocht in meinem H e r z e n . . . " (Nr. 14). In der folgenden Textsynopse 1 5 steht auf der linken Seite der Text Schikaneders, auf der rechten Seite die Textbearbeitung Felsensteins; auf der linken Seite kennzeichnet der Halbfettdruck jene Textelemente, die die Fassungen der Bayerischen Staatsoper und des Staatstheaters am Gärtnerplatz gemeinsam aufweisen, der Kursivdruck die darüber hinaus noch in der Fassung des Staatstheaters am Gärtnerplatz enthaltenen Sätze und die kleinere Type den nur in der Fassung der Bayerischen Staatsoper gesprochenen Text. Vorige. D I E K Ö N I G I N kommt unter Donner aus der mittleren Versenkung, und so, daß sie gerade von PAMINA ZU stehen kommt. KÖNIGIN

Zurücke!

KÖNIGIN

Zurück!

(erwacht) Ihr Götter! M O N O S T A T O S (prallt zurück) Oh weh! - das ist - wo ich nicht irre, die Göttin der Nacht, (steht ganz still)

PAMINA

PAMINA

PAMINA

PAMINA

Mutter! Mutter! meine Mutter! (Sie fällt ihr in die Arme.)

Mutter! (für sich) Mutter? (schleicht beiseite)

MONOSTATOS

Meine Mutter —

MONOSTATOS

Mutter? hm! das muß man von weitem belauschen. (schleicht ab) KÖNIGIN

Verdank es der Gewalt, mit der man dich mir entriß, daß ich noch deine Mutter mich nenne. - [Staatstheater am Gärtnerplatz eingefügt: Zurück!] Wo ist derJüng-

KÖNIGIN

Wo ist der Jüngling, den ich dir schickte?

ling, den ich an dich sandte? PAMINA

Ach Mutter, der ist der Welt und den Menschen auf ewig entzogen. -

15

PAMINA

Ach Mutter, der ist der Welt entzogen. -

Textgrundlage ist Wolfgang Amadeus Mozart: N e u e Ausgabe sämtlicher Werke, Ser. II, Werkgruppe 5, Bd. 19: Die Zauberflöte, vorgelegt v o n Gernot Gruber u. Alfred Orel. Basel, Paris, London 1970, S. 224.

Fixierter

Text - realisierter

13

Text KÖNIGIN

Wo ist er? PAMINA

Er hat sich den Eingeweihten

gewidmet.

KÖNIGIN

Den Eingeweihten? - Unglückliche nun bist du auf ewig mir entrissen. -

Bei den Eingeweihten. KÖNIGIN

Tochter,

PAMINA

Entrissen? - Οßiehen wir, liebe Mutter! Unter deinem Schutz trotz' ich jeder Gefahr. KÖNIGIN

Schutz? Liebes Kind, deine Mutter kann dich nicht mehr schützen. - Mit deines Vaters Tod ging meine Macht zu Grabe. PAMINA

Mein Vater KÖNIGIN

Übergab freiwillig den siebenfachen Sonnenkreis den Eingeweihten; diesen mächtigen Sonnenkreis trägt Sarastro auf seiner Brust [Staatstheater am Gärtnerplatz eingefügt: Ich muß ihn wiederhaben!] - Als ich ihn darüber beredete, so sprach er mit gefalteter Stirne: „Weib! meine letzte Stunde ist da - alle Schätze, so ich allein besaß, sind dein und deiner Tochter." „Der alles verzehrende Sonnenkreis", fiel ich hastig ihm in die Rede, - „ist den Geweihten bestimmt", antwortete er: „Sarastro w i r d ihn so männlich verwalten wie ich bisher. - U n d nun kein Wort weiter; forsche nicht nach Wesen, die dem weiblichen Geiste unbegreiflich sind. - Deine Pflicht ist, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen." PAMINA

Liebe Mutter, nach allem dem zu schließen, ist wohl auch der Jüngling auf i m mer für mich verloren. KÖNIGIN

Verloren, wenn du nicht, eh' die Sonne die Erde färbt, ihn durch diese unterirdischen Gewölbe zu fliehen beredest. - Der

Bei den Eingeweihten? - Dann bist du mir auf e w i g entrissen. PAMINA

Auf e w i g ? KÖNIGIN

Deine Mutter kann dich nicht mehr schützen. - Mit deines Vaters Tod ging meine Macht zu Grabe. PAMINA

Mein V a t e r . . . KÖNIGIN

D e i n V a t e r - übergab in seiner letzten Stunde den siebenfachen Sonnenkreis den Eingeweihten.

Alle Schätze sollten mir gehören. -

„Aber" - so sprach er - „den mächtigen Sonnenkreis wird Sarastro so verwalten w i e ich bisher. -

Deine Pflicht, Weib, ist es, dich und deine Tochter der Führung weiser Männer zu überlassen." PAMINA

Dann ist der Jüngling für mich verloren? KÖNIGIN

Wenn du ihn nicht zur Flucht überredest. -

14

Klaus

erste Schimmer des Tages entscheidet, ob er ganz dir oder den Eingeweihten gegeben sei. PAMINA

Liebe Mutter, dürft' ich den Jüngling als Eingeweihten denn nicht auch ebenso zärtlich lieben, wie ich ihn jetzt liebe? Mein Vater selbst war ja mit diesen weisen Männern verbunden; er sprachjederzeit mit Entzücken von ihnen, preiste ihre Güte - ihren Verstand - ihre Tugend. - Sarastro ist nicht weniger tugendhaft — KÖNIGIN

Was hör' ich! — Du, meine Tochter, könntest die schändlichen Gründe dieser Barbaren verteidigen? - So einen Mann lieben, der, mit meinem Todfeinde verbunden, mit jedem Augenblick mir meinen Sturz bereiten würde? - Siehst du hier diesen Stahl? - Er ist für Sarastro geschliffen. [Staatstheater am Gärtnerplatz eingefügt: Pamina: Mutter!!] - Du wirst ihn töten und den mächtigen Sonnenkreis mir überliefern. PAMINA

Aber liebste Mutter! KÖNIGIN

Kein Wort!

Kanzog

Der erste Schimmer des Tages entscheidet, ob er dir oder den Eingeweihten gehören wird. PAMINA

Warum darf ich ihn nicht auch als Eingeweihten lieben ? -

Mein Vater sprach jederzeit gut von diesen weisen Männern, pries ihren Verstand - ihre Tugend. Sarastro ist nicht weniger tugendhaft KÖNIGIN

Wasmeine Tochter könnte einen Mann lieben, der mit meinem Todfeind verbunden ist?Sieh diesen Stahl! - Er ist für Sarastro geschliffen.

Du wirst ihn töten und den mächtigen Sonnenkreis zurückerobern. PAMINA

Aber-Mutter! KÖNIGIN

Kein Wort!

Viele Opernbesucher werden an dieser Stelle vor allem auf das Gelingen der Koloraturarie warten und dem Dialog vielleicht keine besondere Beachtung schenken, aber dennoch eine plausible Handlungsführung verlangen. Die Minimalbedingungen für eine solche Handlungsführung sind bereits durch die halbfett gekennzeichneten Textelemente erfüllt. In der Bayerischen Staatsoper wurde die Szene allerdings auf den Kampf zwischen Tag und Nacht verkürzt. Wesentlich sind das Erscheinen der Königin, die Mordaufforderung und der Konflikt Paminas; die Handlung wird schnell , vorangetrieben' und dramatisch auf die Arie zugespitzt. Die Geschichte des „siebenfachen Sonnenkreises" würde die Handlung nur aufhalten; vorausgesetzt wird lediglich, daß dem Zuschauer Sarastro und die Königin der Nacht von Anfang an als Repräsentanten des Tages und der Nacht gegenwärtig sind. 1 6 16

U r s p r ü n g l i c h hatte m a n e r w o g e n , wenigstens einige Sätze aus d e m dazwischenliegenden Dialog sprechen zu lassen, diese Passage gekürzt u n d schließlich ganz v e r w o r f e n . Das w a r insofern

Fixierter Text — realisierter

Text

15

Im Staatstheater am Gärtnerplatz war man bemüht, das Verhalten der Königin der Nacht einsichtiger zu machen. Nach ihrem Schmerzgesang „Zum Leiden bin ich auserkoren" im 6. Auftritt des ersten Aufzugs (Rezitativ und Arie Nr. 4), mit dem sie Tamino zu rühren versuchte, muß jetzt ihr Stimmungsumschwung motiviert werden. Da nutzte man die Gelegenheit, das Verhältnis zwischen M u t ter und Tochter gefühlvoll zum Ausdruck zu bringen. An der ,Nahtstelle' zwischen der Geschichte des „siebenfachen Sonnenkreises" und dem harschen Mordauftrag war man nach der Eliminierung der gesamten Vorgeschichte gezwungen, einen Satz einzufügen, der dem Mordauftrag Nachdruck verleiht: „Ich muß ihn [=den Sonnenkreis] wiederhaben!" Diese Textfassung orientiert sich an Zuschauern, die auch in der Oper eine psychologisch nachvollziehbare Handlung verlangen. Monostatos, der seit dem vorigen Auftritt auf der Bühne ist und Pamina belauscht hat, äußert sich hier nicht. Felsenstein bot den meisten Text, griff allerdings mehrfach und sehr pointiert in Schikaneders Fassung ein. Dieses Textverhalten stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der „Rekonstruktion eines originalen Aufführungsstils", die jedoch keineswegs .historisch' gedacht war, sondern den „demokratischen Charakter der Sarastro-Welt" 17 zum Vorschein bringen wollte. Deshalb gab Felsenstein die , Vorgeschichte' der Handlung, des Zeitverlustes bis zum Beginn der Arie ungeachtet, in voller Länge wieder. In dieser , Vorgeschichte' spielt der Vater Paminas eine zentrale Rolle; im weiteren betont der Text die Polarität zwischen Mann und Frau. Freimaurerische Reizworte wie „Verstand" und „Tugend" fallen, und Pamina, die sich hier an ihren Vater erinnert, ist der Mutter bereits entfremdet. Extreme Äußerungen, darunter: „forsche nicht nach Wesen, die dem weiblichen Geiste unbegreifliche sind", wurden selbstverständlich eliminiert. Der Kampf zwischen Tag und Nacht ist in dieser Textkonstitution des Dialogs nur noch ein zugeordnetes Element. 1 8 Bedenkt man, wieviel handschriftliches Material für bedeutende Autoren und exemplarische Werke der Literaturgeschichte noch ungenutzt in den Archiven liegt und wieviele historisch-kritische Editionen noch erarbeitet werden müssen, dann sind Textkombinationen, die die Varianten zwischen „fixiertem" und „reali-

17

18

konsequent, als man davon ausging, daß die Frage der Königin nach dem Verbleib von Tamino sich erübrigt, denn ihre drei Damen (Nr. 12: Quintett „Wie? Wie? Wie? Ihr an diesem Schreckensort?") haben Tamino und Papageno längst ausfindig gemacht. So J. Weinert in seiner Rezension der Aufführung der „Zauberflöte" in der „Berliner Zeitung" vom 2. März 1954. Vgl. hierzu Walter Felsenstein: Die Königin der Nacht und ihr Kampf um den Sonnenkreis. In: W. Felsenstein u. Joachim Herz: Musiktheater. Beiträge zur Methodik und zu Inszenierungskonzeptionen. Hrsg. v. Stephan Stompor. Leipzig 1976, S. 190-196. - Felsensteins Fassung wurde 1956 von seinen beiden damaligen Assistenten Joachim Herz und Götz Friedrich überarbeitet. An der hier behandelten Stelle war neben zwei Textumstellungen nur die Reaktion auf die Mitteilung Paminas, daß Tamino bei den Eingeweihten sei, betroffen. Die Königin der Nacht fragt jetzt nicht mehr „Bei den Eingeweihten?", sondern wehrt die Mitteilung mit dem Ausruf „Nein!" ab (freundliche Mitteilung von Frau Ilse Kobän, Felsenstein-Archiv der Akademie der Künste Berlin).

16

Klaus Kanzog

siertem" Text sichtbar machen und ihre Interpretation erleichtern, zwar eine vernachlässigte, aber kaum eine vordringliche Aufgabe der Editionsphilologie; mancher mag sie überhaupt nur als „Allotria" ansehen. Aber in der Theater- und Filmpraxis, auf andere Weise auch in der Hörspielpraxis, könnten sie außerordentlich hilfreich sein. Jeder Editor läuft Gefahr, letztlich nur noch als Archivar angesehen zu werden; die Herausforderung, auch in der Aufführungspraxis eines Werkes zum Partner des Künstlers zu werden, sollte er annehmen.

Siegfried

Scheibe

Zur Darstellung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen

1 Die Diskussion um historisch-kritische Editionen hat in den letzten Jahrzehnten meist nur einen ihrer Teile betroffen: Das Variantenverzeichnis. Es ging in diesen Diskussionen um die anzuwendenden Methoden und Verfahrensweisen zur adäquaten Wiedergabe der anhand von Varianten gegenüber einem Bezugstext sichtbar werdenden Entwicklung eines Werkes, also um die Darstellung seiner dadurch faßbaren Genese. Friedrich Beißner hatte bereits 1937 den herkömmlichen Lesartenapparat aufgebrochen und eine Wiedergabe der Textveränderungen erprobt, die es gestatten sollte, die Entwicklung eines Werkes im Zusammenhang bequem nachzuvollziehen. 1 Es zeigte sich allerdings, besonders nach Übernahme dieser Verfahrensweise in die von ihm herausgegebene Hölderlin-Ausgabe, 2 daß Beißner nicht die reale Entwicklung eines Werkes nachzeichnete, sondern daß er nach der „idealen" Wiedergabe der Befunde strebte, denn in seiner Darstellungsweise ist nur die letzte Stufe eines Textes mit Sicherheit ablesbar, nicht aber die bei dessen Niederschrift entstandene Grundschicht im Zusammenhang und ebensowenig die durch Korrekturen veranlaßten Zwischenstufen. Erst Hans Zeller legte 1958 in seinem Beitrag „Zur gegenwärtigen Aufgabe der Editionstechnik. Ein Versuch, komplizierte Handschriften darzustellen" 3 ein weiterführendes Modell vor, das allen diesen Anforderungen gerecht wurde. Er bot mit diesem Beitrag zugleich den Anlaß zu einer folgenreichen Diskussion, die bis heute andauert und in deren Zusammenhang vielfältige Vorschläge zur Gestaltung des Variantenverzeichnisses unterbreitet wurden, die sowohl den Erfordernissen des zugrundeliegenden Materials wie den Wünschen der Benutzer nach einer „einfachen", schnell überschaubaren Darstellung der Varianten zu entsprechen suchten. Diese Diskussion erbrachte viele neue Einsichten und Erkenntnisse, ohne die die Herausbildung der Editionswissenschaft (Textologie) in ihrem heutigen Stand 1

2

3

Friedrich Beißner: Neue Wieland-Handschriften. Aufgefunden und mitgeteilt. In: Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Jg. 1937. Phil.-hist. Klasse Nr. 13 (Als Einzelausgabe: Berlin 1938). Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe [...] Hrsg. von Friedrich Beißner. Bd. 1 - 5 . Stuttgart 1943-61. In: Euphorion 52, 1958, S. 356-377.

18

Siegfried

Scheibe

nicht möglich gewesen wäre. Sie hatte aber auch Fehlentwicklungen zur Folge, auf die im Rückblick hingewiesen werden muß. Sie führte zu einer Fülle miteinander konkurrierender editorischer Darstellungsweisen, die zum Teil nicht aufeinander Bezug nahmen und die es dadurch den Benutzern nicht erleichterten, sondern oftmals erschwerten, das in den verschiedenen Editionen gespeicherte Material zu benutzen und aufeinander zu beziehen. Diese Fehlentwicklung ließe sich m. E. beseitigen, wenn ein neues Bezugssystem für die Variantendarstellung entwickelt würde, wenn also Grundmodelle für Editionen neuerer Autoren vorlägen, die die verschiedenen Verfahrensweisen generalisieren und damit sowohl leicht erlernbar wie leicht überprüfbar werden ließen. 4 Schwerwiegender scheint mir, daß in den letzten vierzig Jahren weitgehend nur über die Variantendarstellung nachgedacht wurde und daß man meinte, allein mit deren Veränderung und Verbesserung die genetische Funktion einer Edition zu erfüllen. Diese Einseitigkeit brachte es mit sich, daß die ebenso wichtigen weiteren Teile einer Edition (darunter Text, Textkonstitution, Überlieferung, zusammenfassende Darstellung der Entstehungsgeschichte und der zeitgenössischen Wirkungsgeschichte eines Werkes) weitgehend außerhalb der Betrachtung blieben und nicht analog weiterentwickelt wurden und daß man nicht beachtete, daß auch in diesen Teilen einer Edition die genetischen Probleme aufgegriffen, untersucht und dargestellt werden müssen, soll die Edition tatsächlich den Ansprüchen gerecht werden, die die neuen Methoden und Verfahrensweisen für die Wiedergabe der Varianten an sie stellen. Eine Edition ist nicht schon dann „modern" oder „genetisch", wenn ihr Variantenverzeichnis entsprechend angelegt ist, sie ist es vielmehr erst dann, wenn alle ihre Bestandteile diesen Anforderungen genügen. Es scheint mir deshalb dringend geboten, künftig auch diese Teile einer Edition zu untersuchen und neu zu gestalten, und zwar ebenfalls nach genetischen Grundprinzipien. Dabei sollte von vornherein danach gestrebt werden, sie möglichst gleichartig anzulegen, um ihren künftigen Benutzern zu gestatten, in verschiedenen Editionen an derselben Stelle und in der gleichen Form die entsprechenden Angaben finden, miteinander vergleichen und zueinander in Beziehung setzen zu können. Mein Beitrag versucht, einen Schritt in Richtung auf eine mögliche Vereinheitlichung der Angaben und der Darstellungsweisen zu gehen, die im Zusammenhang mit der Beschreibung der Überlieferung in historisch-kritischen Editionen notwendig sind. 5 Sie wurden in ihren Grundzügen bereits bei der Bearbeitung der

4

5

Vgl. dazu als Diskussionsangebot Siegfried Scheibe: Editorische Grundmodelle. (1. Textologische Grundbegriffe und Verfahrensweisen. 2. Modelle für die Gestaltung von Variantenverzeichnissen. 3.Modell eines Siglensystems.) In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe und Christel Laufer (Redaktion). Berlin 1991. Vgl. dazu auch Siegfried Scheibe: Von den textkritischen und genetischen Apparaten. In: Vom U m g a n g mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Von Siegfried Scheibe, Waltraud Hagen, Christel Laufer, Uta Motschmann. Berlin 1988, besonders S. 89-98.

Überlieferung

in historisch-kritischen

19

Editionen

Goethe-Akademie-Ausgabe Ende der 50er Jahre entwickelt und sind in den zu dieser Edition erschienenen Apparatbänden angewandt worden. 6 Durch die Einstellung dieser Edition im Jahre 1967 konnten sie aber nicht in dem Maße wirksam werden, wie sie es verdient hätten, so daß es nicht abwegig erscheint, erneut darauf hinzuweisen, sie in ihren Grundzügen zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen.

2 Die Beschreibung der Überlieferung hat m. E. drei grundlegende Forderungen zu erfüllen, die miteinander in Beziehung stehen: - Sie hat den betreffenden Zeugen so darzustellen, daß er jederzeit wiedererkannt und wiedergefunden werden kann. - Sie hat den betreffenden Zeugen so zu beschreiben, daß auch ohne seine direkte Kenntnis alle seine äußeren und inneren Merkmale und Eigenschaften (die sich sowohl aus dem Material wie aus dessen Benutzung durch den Autor ergeben) verfügbar sind. - Sie hat den betreffenden Zeugen so zu charakterisieren, daß seine eigene Entwicklung wie seine Beziehung zu anderen Zeugen (früheren und späteren) erkennbar sind. Sie beschreibt und analysiert also das grundlegende Material, das bei der Beschäftigung mit dem Werk beachtet werden muß, und erschließt es für alle weiteren Untersuchungen und Darstellungen. Dieses Material wird bei den einzelnen Zeugen punktuell beschrieben, d. h. es wird von dem betreffenden Zeugen abgeleitet, auch wenn es ihn mit den vorangehenden und den folgenden Zeugen verbindet, mit denen er in Beziehung steht. Im Abschnitt Überlieferung einer Edition kann nicht eine vollständige und zusammenfassende Entstehungsgeschichte des Werkes gegeben werden, denn für deren Darstellung sind auch Indizien zu berücksichtigen, die sich nicht aus den in einer Edition zu berücksichtigenden Zeugen ergeben, sondern die nur außerhalb dieser Zeugen (in Zeugnissen, Quellen usw.) zu finden sind. Dieser Abschnitt vermag allerdings einen Überblick über die Entwicklung des Werkes zu geben, soweit sich diese in den überlieferten oder mit Sicherheit zu erschließenden Zeugen spiegelt, und sie enthält Material, das die Grundlage für wichtige Teile der vollständigen Entstehungsgeschichte dieses Werkes bildet.

6

Angewandt in den Bänden „Epen", Bd. 2 (1963), „Die Wahlverwandtschaften", Bd. 2 (1963), „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit", Bd. 2 (1974), „Erzählungen", Bd. 2 (1975), „Schriften zur Literatur", Bd. 4 - 6 (1976-1978), die innerhalb der Edition von „Werken Goethes" der Berliner Akademie der Wissenschaften bzw. als Einzelbände erschienen. Bearbeiter dieser Bände waren Siegfried Scheibe, Helmut Praschek, Edith Nahler, Horst Nahler und Johanna Salomon, die zusammen mit Waltraud Hagen, Inge Jensen, Ilse-Marie Kümmel-Barth, Klaus Baumgärtner, Erich Mater u.a. diese Prinzipien erarbeitet haben.

20

Siegfried

Scheibe

Die Zeugenbeschreibung darf auch keine inhaltlich interpretierenden K o m mentare zu dem betreffenden Zeugen oder zu dem gesamten Werk geben; inhaltlich wichtige Indizien, etwa Intentionsänderungen des Werkes, die sich in dem betreffenden Zeugen erkennen lassen, sind hier nur hinsichtlich der Bewertung des Zeugen und der Bestimmung seiner Funktion im Entstehungsprozeß von Bedeutung.

3 Beschrieben und in ihrer Funktion sowie in ihrer Stellung innerhalb der Entstehungs- und Textgeschichte des Werkes bewertet werden folgende Zeugen zu einem Werk: - Alle aufzunehmenden Zeugen, also alle autorisierten Zeugen und deren Stellvertreter (Handschriften, Typoskripte, Drucke, Schallaufzeichnungen usw.). - Alle nicht überlieferten Zeugen zu einem Werk, soweit sie sich textkritisch erschließen lassen bzw. soweit Angaben darüber in Briefen und Tagebüchern des Autors und anderer Personen oder Beschreibungen in älteren Editionen sich eindeutig auf konkrete Zeugen beziehen lassen und eine (wenn auch eingeschränkte) Beschreibung zulassen. - Alle zeitgenössischen nicht autorisierten Zeugen, also Abschriften eines Werkes, deren Vorlage überliefert ist und die nicht vom Autor veranlaßt wurden, Zeugen mit Fassungen, die nicht vom Autor stammen oder in dessen Auftrag hergestellt wurden (etwa Theaterbearbeitungen oder Übersetzungen fremder Personen), Nachdrucke usw. Sind solche Zeugen bereits in allgemeinen Verzeichnissen der Handschriften und Drucke des Autors enthalten und dort bewertet, kann auf diese Zeugen im Abschnitt Überlieferung verzichtet werden; Verweise auf solche Verzeichnisse sind allerdings notwendig. Die Beschreibung dieser Zeugen sollte in chronologischer Abfolge erfolgen (nach der sich auch die Vergabe der Zahlenexponenten, die zu den Grundsiglen hinzutreten, richten muß). Handschriften (und Typoskripte), Drucke und weitere Zeugen sollten dabei nicht, wie oft üblich, in getrennten Gruppen beschrieben werden, sondern in ihrer chronologisch bedingten Reihenfolge, denn nur die konsequent historische Abfolge aller Zeugen gibt bereits im Abschnitt Überlieferung einen exakten Überblick über die durch Zeugen belegte Entstehungsgeschichte des Werkes; sie verläuft von der frühesten überlieferten Handschrift bis zum letzten autorisierten Druck unabhängig von den jeweiligen Zeugenarten. In diese chronologische Folge der überlieferten Zeugen werden an den entsprechenden Stellen die mit einer speziellen Grundsigle gekennzeichneten erschlossenen Zeugen sowie die nicht aufzunehmenden Zeugen eingefügt. Dieses Verfahren gestattet, die Zeugen in ihrer Entwicklung eindeutig aufeinander zu beziehen und die Entstehung des Werkes, soweit sie durch überlieferte und erschlossene Zeugen bestimmt wird,

Überlieferung

in historisch-kritischen

21

Editionen

leicht zu überblicken. Aus der Abfolge der Zeugen innerhalb der Überlieferung ergibt sich auch das allgemeine Schema für die Abfolge der Varianten i m Variantenverzeichnis. Undatierte Zeugen, f ü r die auch auf indirektem Wege kein Entstehungszeitraum festgelegt werden kann, sollten vor oder nach der Reihe der chronologisch anzuordnenden Zeugen beschrieben werden. Vor der chronologischen Reihe können etwa Schemata angeordnet werden, w e n n der betreffende A u t o r in der Regel am A n f a n g seiner Arbeitszeit an einem Werk derartige Texte anfertigte; solche Zeugen können an das Ende der Überlieferung gestellt werden, w e n n sie Texte enthalten, die nicht in das endgültige Werk a u f g e n o m m e n w o r d e n sind u n d die in der überlieferten Form nicht eindeutig auf bestimmte Werkteile zu beziehen sind. Liegen zahlreiche nicht datierbare Zeugen zu einem Werk vor, sollte zweckmäßigerweise mit einer Zwischenüberschrift innerhalb der Überlieferung auf diesen Tatbestand verwiesen werden, u m nicht eine chronologische Abfolge vorzutäuschen, die nicht besteht. Die E i n o r d n u n g solcher undatierbarer Zeugen m u ß bereits vor Vergabe der Siglen (besonders der Zahlenexponenten) festgelegt werden.

4 U m die Übersicht zu erleichtern, sollten die Zeugenbeschreibungen optisch gut gegliedert werden; gleichartige Angaben sollten dabei stets an der gleichen Stelle der Zeugenbeschreibungen wiedergegeben werden. Das gilt besonders für Fakten innerhalb des deskriptiven Teiles der Zeugenbeschreibungen. Auf die Unterschiede zwischen aufzunehmenden und nicht aufzunehmenden bzw. nicht überlieferten, aber erschlossenen Zeugen sollte durch Differenzierung der Schriftgröße hingewiesen werden (also normaler D r u c k - Petitdruck), u m diese Zeugen auch optisch in ihrer unterschiedlichen Bedeutung f ü r die vorliegende Edition zu k e n n zeichnen. Die Beschreibung jedes einzelnen Zeugen sollte aus zwei Teilen bestehen: - D e m deskriptiven Teil, der die archivalische bzw. bibliographische Beschreibung enthält, und - dem diskursiven Teil, der die textologische u n d entstehungsgeschichtliche Beschreibung sowie die textgeschichtliche u n d textkritische B e w e r t u n g enthält. Eine solche T r e n n u n g sollte vor allem aus praktischen E r w ä g u n g e n erfolgen, u m die sich aus den Zeugen ergebenden Fakten eindeutig von den Erörterungen des Editors über diese Fakten zu trennen. Die beiden Teile der Zeugenbeschreibung sollten auch im D r u c k voneinander abgehoben werden (etwa durch E i n r ü c k u n g des einen Teiles gegenüber dem anderen). Im folgenden wird aus Platzgründen n u r ein Grundmodell für die Beschreibung von Handschriften (sowie Typoskripten, bei denen das Verfahren mit dem bei

22

Siegfried

Scheibe

H a n d s c h r i f t e n ü b e r e i n s t i m m t ) gegeben. Für die deskriptive Beschreibung der D r u c k e sei auf v o r h a n d e n e bibliographische Modelle v e r w i e s e n , 7 f ü r Modelle zu komplizierten H a n d s c h r i f t e n , etwa k o m b i n i e r t e n H a n d s c h r i f t e n 8 oder H a n d schriften, deren Teile an verschiedenen Stellen überliefert s i n d , 9 auf vorliegende Modelle, die aus d e m Grundsätzlichen der folgenden A u s f ü h r u n g e n entwickelt wurden.

5 D e r deskriptive Teil der Handschriftenbeschreibung Abschnitten bestehen: D a t e n des Z e u g e n u n d B e s c h r e i b u n g des Z e u g e n .

sollte seinerseits stets aus zwei

A n Daten w e r d e n gegeben: 1.

Die Siglierung des Z e u g e n in der vorliegenden Edition.

2.

D e r O r t der A u f b e w a h r u n g des Z e u g e n u n d sein Besitzer.

3. Die Signatur des Z e u g e n , soweit eine solche v o r h a n d e n ist. Die A n g a b e der Signatur ist in einer historisch-kritischen Edition unerläßlich, da damit die H a n d s c h r i f t d u r c h ein zusätzliches K r i t e r i u m eindeutig b e s t i m m t wird. A u ß e r d e m w i r d m i t der A n g a b e der Signatur s o w o h l d e m Benutzer, der mit d e m Original arbeiten will, wie auch d e m Archiv, das den W ü n s c h e n seiner Benutzer schnell u n d eindeutig entsprechen kann, R e c h n u n g getragen. Hat die H a n d s c h r i f t nachweislich m e h r m a l s den Besitzer gewechselt, sollten, soweit möglich, die Vorbesitzer in chronologischer A b f o l g e angegeben w e r d e n . Das k a n n in vielen Fällen Aufschlüsse über die Art des Z e u g e n vermitteln, die f ü r die Geschichte des Z e u g e n u n d für seine B e w e r t u n g wichtig sein k ö n n e n (etwa Ü b e r l i e f e r u n g einer A b s c h r i f t im Nachlaß des durch den A u t o r damit B e s c h e n k ten). 1 0 7

8

9 10

Etwa: Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken. Eine deskriptive Bibliographie von Christiane Boghardt, Martin Boghardt und Rainer Schmidt. 2 Bde. Berlin, N e w York 1981 (Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. [...] Abteilung Addenda: III), Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Historisch-kritische Ausgabe, bearbeitet von Siegfried Scheibe. Bd. 2: Überlieferung, Variantenverzeichnis und Paralipomena. Berlin 1974, S. 189 ff. Ebenda, S. 19 ff. Abschrift wird als neutrale Bezeichnung für jede Kopie eines Textes nach einer gegebenen Vorlage vewendet. Die Unterscheidung zwischen „Abschrift" und „Reinschrift" (im Sinne von „sauberes, unkorrigiertes oder wenig korrigiertes Manuskript") ist problematisch, da in der Regel jede Abschrift zunächst als „sauberes Manuskript" ausgeführt wird und erst durch die (von vornherein

Überlieferung

in historisch-kritischen

Editionen

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4. Verweis auf die Stelle in einer früheren historisch-kritischen Edition oder einer anderen verbindlichen Ausgabe, in der der Zeuge behandelt wurde, mit Angabe der bisher verwendeten Sigle. Diese Querverbindungen zu früheren Ausgaben sind wichtig, da der Zeuge in der bisherigen Literatur nach dieser Ausgabe zitiert sein könnte; nur durch solche Hinweise ist es dem Benutzer möglich, auch die ältere Literatur zu diesem Themenkomplex ohne Mühe zu benutzen. 5. Hinweise auf Faksimiles des Zeugen oder einzelner seiner Teile. Mit diesen Hinweisen soll dem Benutzer die Möglichkeit gegeben werden, die Handschrift oder bestimmte ihrer Teile mittelbar selbst ansehen und die Beschreibung kontrollieren zu können (soweit Handschriftenreproduktionen solche Schlüsse zulassen), ohne in jedem Fall dafür das entsprechende Archiv aufsuchen zu müssen. Liegen mehrere Faksimiles der Handschrift vor, wird das neuere genannt, das meist am besten zugänglich ist; sind frühere Reproduktionen allerdings technisch besser, sollten sie zusätzlich angegeben werden. Liegt eine vollständige Reproduktion des Zeugen vor, können Hinweise auf Faksimiles einzelner seiner Teile entfallen. An Beschreibung wird gegeben: 1. Eine Beschreibung des Gesamtzustandes des Zeugen. Unter dem Gesamtzustand des Zeugen wird die äußere Beschaffenheit der Handschrift verstanden, also Angaben darüber, ob die Handschrift aus einzelnen Blättern, Bogen, einem Heft oder einem Faszikel usw. besteht. Dabei wird die Gesamtzahl der Blätter bzw. Bogen genannt (einschließlich der unbeschriebenen bzw. unvollständigen Blätter) und die Verteilung der Bogen in den einzelnen Lagen beschrieben. 11 Die Beschreibung des Gesamtzustandes des Zeugen geht dabei von der heute überlieferten Form der Handschrift aus; Schlußfolgerungen über einen früheren Zustand der Handschrift bleiben dem diskursiven Teil der Handschriftenbeschreibung vorbehalten. Die traditionellen Bezeichnungen der Papierformate (Folio, Quart, Oktav usw. bzw. D I N A 4 usw.) werden zur allgemeinen Kennzeichnung des Formates benutzt, dazu treten aber die genauen Abmessungen der Blätter in Millimetern, und zwar in der Abfolge: Breite χ Höhe des Blattes. Als Breite des Blattes sollte die Seite angesehen werden, zu der die Schriftzeilen parallel verlaufen. Ist das Blatt

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geplante oder auch nicht beabsichtigte) Eintragung von Korrekturen wieder „unsauber" wird. Für eine im „sauberen" Zustand verbliebene Abschrift sollte zweckmäßigerweise der Begriff „Abschrift" gebraucht und mit dem Zusatz „saubere Abschrift" der Zustand der Handschrift bezeichnet werden. Beispiel: Heft aus 21 Foliobgg in 10 Lagen, davon Lage 1 bis 3 und 5 bis 10 zu je 2 Bgg, Lage 4 zu 3 Bgg; dazu ungeheftet 2 Foliobgg in 1 Lage. - Folgende Abkürzungen werden benutzt: B1 / Bll: Blatt / Blätter; Bg / Bgg : Bogen (Singular und Plural); Rs: Rückseite; Vs: Vorderseite.

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von verschiedenen Seiten beschrieben, etwa von oben und von rechts, so richtet sich die Angabe der Blattbreite nach dem umfangreicheren Text. Bei der Beschreibung des Gesamtzustandes wird das Gebrauchsformat des Blattes, das Format also, in dem die Niederschrift des Textes erfolgte, und, soweit eindeutig erkennbar, auch das Grundformat des Papieres angegeben. Die Maßangaben sollten sich jedoch stets auf das Gebrauchsformat beziehen. 12 Treten bei verschiedenen Blättern des gleichen Papiers nur geringfügige Unterschiede der Maße auf (die durch die Papierherstellung bedingt sind), so wird das durchschnittliche Maß angegeben; auf die Varianz wird mit „ca" verwiesen. Diese einschränkende Angabe muß bei jeder einzelnen Maßangabe stehen. 13 Bestehen jedoch größere Abweichungen in den Maßen (sowohl zwischen den einzelnen Blättern einer Handschrift wie zwischen eingelegten oder eingeklebten Blättern und der Handschrift insgesamt sowie zwischen dem Umschlag und den Blättern der Handschrift), so werden die einzelnen Maße gesondert aufgeführt. 1 4 Ist ein Blatt schief beschnitten, so daß die Breite des Blattes von unten nach oben kleiner oder größer wird, so muß durch die Maßangabe darauf verwiesen werden. 1 5 Sind die Blätter nicht mehr mit dem Grundformat des Papieres identisch, sind sie also beschnitten, wird auf diese Tatsache stets hingewiesen; die beschnittenen Seiten werden gegebenenfalls einzeln aufgeführt. Weichen Blätter vom Rechteckformat ab, sind also Teile des Blattes abgerissen oder abgeschnitten, so werden die fehlenden Teile des Blattes ebenfalls mit ihren Maßen angegeben, um Rekonstruktionsversuche des Blattes, Untersuchungen über seine Entwicklung usw. zu ermöglichen. In diesen Fällen muß auch vermerkt werden, ob der Blattverlust vor oder nach dem Beschreiben eingetreten ist. 16 Ist an der linken oder rechten Seite des Blattes ein Rand gebrochen oder mit Bleistift markiert worden, der als Begrenzung des Schriftspiegels gedacht war, wird das vermerkt und die Randbreite in Millimetern angegeben. 17 Daraus kann oftmals die Funktion der Handschrift (Verwendung als Reinschrift) erschlossen werden. Ebenfalls sind horizontale oder vertikale Brechungen des Blattes anzugeben, da auch daran der Zweck der Handschrift erkennbar ist (halbseitige vertikale Brechung kann etwa bei Schemahandschriften oder ersten Entwürfen auftreten, bei denen ein Teil der Seite für Ergänzungen frei gelassen wurde; vertikale und 12 13

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Beispiel: 4 in Quart (192 χ 229 mm) gefaltete und ineinandergelegte Foliobll. Beispiel: ca 192 χ ca 229 m m gegenüber 192 χ ca 229 m m ; im zweiten Fall ist die erste Maßangabe konstant. Beispiel: 4 in Quart (ca 192 χ ca 228 mm) gefaltete und ineinandergelegte Foliobll [...]. U m diese Bll ein zu Quart (ca 192 χ ca 234 mm) geschnittener Foliobg. Beispiel: ca 95-108 χ 135 m m : das Blatt verbreitert sich von unten nach oben; ca 108-95 χ 135 m m : das Blatt wird von unten nach oben schmaler. - Entsprechend bei der Blatthöhe, deren Veränderung stets von links nach rechts angegeben werden sollte (95 χ ca 135-142 m m gegenüber 95 χ ca 142-135 mm). Beispiel: Obere Hälfte eines Foliobl (ca 204 χ ca 190 mm), von dem rechts oben vor dem Beschreiben ein Zettel (ca 80 χ ca 120 mm) abgerissen wurde. Beispiel: Randbrechung innen: ca 11 mm, außen: ca 25 m m .

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gleichzeitig horizontale Brechung könnte auf die Versendung als Brief oder in einem Brief hindeuten usw.). Enthält die Handschrift im Falz Heftspuren (war sie also früher geheftet, vielleicht sogar als Teil eines größeren Ganzen) oder finden sich Nadelstiche oder Spuren von Heftklammern auf der Handschrift (waren also andere Blätter der Handschrift angeheftet), so ist das anzugeben. Handelt es sich bei dem vorliegenden Zeugen um eine Sammelhandschrift, die Texte zu verschiedenen Werken enthält (dazu gehören auch Notizbücher), so wird allgemein der Gesamtzustand des Zeugen angegeben; detailliert beschrieben werden nur die Blätter, die den Text des behandelten Werkes enthalten. 18 2. Beschreibung des Papiers. Die Papierfarbe wird beschrieben, wobei, soweit möglich, die ursprüngliche Färbung des Papiers angegeben werden sollte (ζ. B. gelblich, weiß, grau, bläulich usw.). Dazu treten Angaben über die Oberfläche des Papiers (soweit sie vom Durchschnitt abweicht, ζ. B. rauh, rissig usw.) und über die Papierstärke (soweit sie vom Durchschnitt abweicht, ζ. B. Karton, Packpapier usw.). Auf die Vergilbung des Papiers wird hingewiesen. Wenn die erste oder letzte Seite einer Handschrift stärker vergilbt ist als die übrigen Seiten, wird das nicht besonders erwähnt, da es dem normalen Vergilbungs Vorgang entspricht. Dagegen wird auf die stärkere Vergilbung eines Blattes innerhalb der Handschrift verwiesen, da das Rückschlüsse auf die ursprüngliche Struktur der Handschrift zuläßt. 3. Beschreibung der Wasserzeichen. Die Beschreibung der Wasserzeichen ist ein wesentliches Kriterium zur Bestimmung des Papiers, darüber hinaus aber auch der Entstehungszeit der Handschrift. Falls nicht im Zusammenhang mit der Edition ein vollständiges Verzeichnis der Wasserzeichen in den von dem betreffenden Autor benutzten Papieren erarbeitet werden kann, wird folgendes Verfahren vorgeschlagen: Für jedes Blatt werden die Wasserzeichen (Zeichen und Gegenzeichen) beschrieben. 19 Da diese Beschreibung aber nicht von sich aus eindeutig ist und da sehr verschiedene Wasserzeichen unter derselben Beschreibung erfaßt werden müßten, empfiehlt sich die Numerierung der Wasserzeichen; diese N u m m e r sollte stets, wenn das vorliegende Wasserzeichen innerhalb der Ausgabe auftritt, verwendet werden. Da ständig Varianten der Wasserzeichen begegnen (etwa wegen der Verwendung zweier Formenpaare beim Schöpfen des Papiers oder wegen der Ersetzung der Formen bzw. der abgenutzten Drahtgeflechte für die Wasserzeichen), werden solche Varianten durch zusätzliche N u m m e r n gekennzeichnet, 20 so daß die Wasserzeichen in ihrer Varianz (die für die Bestimmung der Datierung wesentlich ist) erfaßt werden können. Auf die mit den 18

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Beispiel: Faszikel aus 10 Foliobgg, dazu eingelegt 11 Foliobgg, 1 Foliobl, 1 Quartbl und 1 Zettel. Aufschrift: Die Metamorphosen der Inseckten [...]. B113: Foliobl (210 χ ca 342 mm), hellgraues geripptes Ppaier [...]. Beispiel: Gekröntes Rautenkranzwappen / CAG. Zur Grundnummer „15" etwa: 15.1, 15.2, 15.3 usw.

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Wasserzeichen meist verbundene Rippung des Papiers, durch Rippen und Stege der Papierformen veranlaßt, sollte stets allgemein hingewiesen werden („geripptes Papier"); unterschiedliche Rippung bei gleichem Wasserzeichen wird, wie die Varianz des Wasserzeichens selbst, in der zusätzlichen Numerierung erfaßt. Zu dieser Beschreibung und Kennzeichnung der Wasserzeichen ist die Anfertigung von Kopien, zumindest von Pausen des Wasserzeichens erforderlich. Da für die meisten Autoren solche Verzeichnisse der Wasserzeichen fehlen, sollten die Kopien bzw. Pausen innerhalb der Edition veröffentlicht werden. Die Wasserzeichen werden in der jeweils gegebenen Form beschrieben, d. h. bei Papieren, auf denen nur ein Teil des Wasserzeichens erhalten ist, wird auf den Verlust hingewiesen und die vermutete Form des Wasserzeichens genannt. Das Gegenzeichen zum Wasserzeichen sollte auch dann erwähnt werden, wenn es auf dem vorliegenden (geteilten) Blatt fehlt. Das Fehlen von Wasserzeichen und das Fehlen der Rippung sollte in jedem Fall vermerkt werden. 4. Beschreibung der Zählung. Die auf den einzelnen Blättern oder Seiten einer Handschrift vorhandenen Zählungen werden gesondert aufgeführt und genau verzeichnet, auch wenn sie unrichtig oder lückenhaft sind. In komplizierten Fällen werden die verschiedenen Zählungen in Form einer Konkordanz nebeneinandergestellt. Ist die Zählung von unbekannten Schreibern ergänzt worden, erhalten diese keine Schreibersigle, sondern werden nur mit dem verwendeten Schreibmaterial bezeichnet, falls sie außer der Zählung keinen Text in die Handschrift eingetragen haben. Bei der Beschreibung des Inhalts einer Handschrift (s.u.) werden nicht die in dem Zeugen vorhandenen Zählungen benutzt, sondern es wird eine ideale Zählung eingeführt, in die auch Titelblätter, unvollständige Blätter sowie unbeschriebene Blätter einbezogen werden. 5. Angabe der Schreibersiglen und des Schreibmaterials. In diesem Abschnitt werden die verschiedenen Schreiber, die in dem betreffenden Zeugen geschrieben oder korrigiert haben, mit ihren Siglen (Schreibersiglen) vorgestellt. Die Siglen erhalten zusätzliche Materialexponenten, falls ein Schreiber nicht nur mit einem Material (ohne Differenzierung) gearbeitet hat. Die Materialart (Tinte, Bleistift usw.) und die Materialfarbe (rote Tinte, hellbraune Tinte, dunkelbraune Tinte, weicher Bleistift usw.) werden im Zusammenhang mit den Materialexponenten für den gesamten Zeugen beschrieben. Zu jeder Schreibersigle wird die von dem betreffenden Schreiber benutzte Schriftart (deutsche und lateinische Schrift) angegeben. 6. Beschreibung des Inhalts. Im letzten Abschnitt des deskriptiven Teils der Handschriftenbeschreibung wird der Inhalt der Handschriften blattweise fortschreitend beschrieben. Bei Hand-

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Schriften m i t längeren gleichartigen Partien (Text o h n e Lücken g e g e n ü b e r d e m Bezugstext, f o r t l a u f e n d geschriebener Text, Text v o m gleichen Schreiber m i t d e m gleichen Material geschrieben u s w . ) k ö n n e n m e h r e r e Blätter in der Beschreibung zusammengefaßt werden. Alle Inhaltsangaben der Z e u g e n w e r d e n auf die entsprechenden Seiten u n d Zeilen des Textbandes, also auf den Bezugstext, auf die Verszählung des Werkes b z w . auf die entsprechenden Paralipomena u n d deren Teile bezogen. Sind die Werke inhaltlich gegliedert, etwa durch A k t - u n d Szenenangaben bei D r a m e n , durch B u c h - u n d Kapiteleinteilung bei erzählender Prosa, d u r c h Einteilung in Gesänge bei E p e n u s w . , w i r d auf diese G l i e d e r u n g zusätzlich h i n g e w i e s e n . 2 1 N a c h den Stellenangaben steht die Sigle des b e t r e f f e n d e n G r u n d s c h i c h t s c h r e i bers, danach folgen die Siglen der K o r r e k t o r e n in chronologischer Folge oder, falls das nicht m ö g l i c h ist, in der Reihenfolge ihres A u f t r e t e n s in der H a n d s c h r i f t . Finden sich auf den Blättern zusätzliche B e m e r k u n g e n oder N o t i z e n , die nicht zu d e m b e t r e f f e n d e n Werk gehören, so ist deren Text bei der Inhaltsbeschreibung mitzuteilen. 2 2 H a n d e l t es sich dabei u m eindeutig zu datierende T e x t e (etwa R e c h n u n g e n , Theaterzettel, B r i e f e n t w ü r f e , jeweils m i t D a t u m s a n g a b e ) , so braucht n u r allgemein auf diese Texte hingewiesen zu w e r d e n . 2 3 Die Reihenfolge, in der die Beschreibungen des deskriptiven Teils der H a n d s c h r i f tenbeschreibung gegeben w e r d e n , sollte verbindlich sein; d a m i t w i r d g e w ä h r l e i stet, daß in der gesamten A u s g a b e gleichartige A n g a b e n stets an der gleichen Stelle zu finden sind.

6 Im diskursiven Teil der Zeugenbeschreibung sollen alle P r o b l e m e diskutiert w e r d e n , die sich aus der deskriptiven Beschreibung des Z e u g e n ergeben. Hier w e r d e n auch die für die E n t s t e h u n g u n d die B e w e r t u n g des Z e u g e n b e d e u t s a m e n Z e u g n i s s e a u f g e f ü h r t u n d textologisch interpretiert, s o w i e alle Schlußfolgerungen, die sich aus dem Z u s t a n d des Z e u g e n ergeben, dargestellt u n d bewiesen. Im einzelnen sollten i m diskursiven Teil der Z e u g e n b e s c h r e i b u n g bei j e d e m Z e u g e n folgendes behandelt w e r d e n : 1. A u s f ü h r u n g e n über A r t u n d textgeschichtliche F u n k t i o n des Z e u g e n . Von diesen A n g a b e n sollte die diskursive Z e u g e n b e s c h r e i b u n g ausgehen; diese A n g a b e n zu stützen sowie nach allen Seiten auszubauen u n d abzusichern, sind die 21

22 23

Beispiel: B1 1 Vs bis B1 7 V s rsp: Text S. 447,13-451,3 (5. Buch) (Schreibersigle mit Materialexponent) mit Korrekturen (Schreibersiglen mit Materialexponenten), danach Spatium etwa 3 Zeilen; B17 Rs unbeschrieben. Beispiel: Rs umgekehrt Briefanfang: Ew Durchl (Schreibersigle). Beispiel: Rs: Fragment einer Theaterabrechnung vom 22. Juli 1810.

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übrigen Punkte des diskursiven Teiles bestimmt. Bei Handschriften sind Ansatzpunkte zur Bestimmung ihrer textgeschichtlichen Funktion etwa: Exzerpt aus, E n t w u r f zu, erste Niederschrift von, Diktathandschrift zu, Abschrift von. Angaben, die sich nicht bis zur letzten Konsequenz beweisen lassen, sind als Vermutungen zu kennzeichnen. 2. Folgerungen aus dem Zustand des Zeugen. Hier sind alle Beobachtungen anzuführen, die sich aus dem Zustand des Zeugen (ζ. B . aus der Tatsache, daß ein Heft ungeheftete Bogen, Blätter mit Heftspuren, Beschädigungen des Zeugen usw. vorliegen), aus dem Schreibduktus des Grundschichtschreibers (Wechsel des Duktus, die auf Neuansatz deuten, Wechsel des Schreibmaterials, die auf zeitliche Unterbrechung hinweisen usw.), aus Zeichen und Vermerken (etwa aus Anstreichungen innerhalb der Handschrift usw.), aus der Verszählung (die v o m Autor oder von anderen Personen eingetragen sein kann; sollte sie nicht mit der Verszählung des Edierten Textes übereinstimmen, wird sie in Form einer Konkordanz zur endgültigen Zählung abgedruckt), aus originalen Datierungen ( z . B . aus Datierungen bestimmter Textpartien nach der Niederschrift oder der Korrektur; Datierungen des täglichen Arbeitspensums, die sich in der Handschrift finden, werden in Form einer Liste zusammengefaßt), aus Feststellungen der Abweichungen von vorangehenden Zeugen (etwa aus prinzipiellen Änderungen und Normierungen des Textes, aus Leitfehlern, die die A b hängigkeit exakt beweisen können usw.) und aus weiteren Indizien der Form und Anlage des jeweiligen Zeugen ergeben; sie sind hier textologisch zu interpretieren. In diesem Abschnitt werden auch die wichtigsten Hörfehler mitgeteilt, die die Handschrift zweifelsfrei als Diktat ausweisen. 3. Beweisführungen über den chronologischen und stemmatologischen Ort des Zeugen. Die sich aus dem Zustand des Zeugen ergebenden chronologischen Indizien werden zur exakten chronologischen Bestimmung des Zeugen diskutiert, wobei Zeugnisse des Autors oder anderer Personen über diesen Zeugen heranzuziehen sind. - Der stemmatologische Ort des Zeugen wird anhand von Leitfehlern, bestimmten textlichen Zusammenhängen oder Undeutlichkeiten, anhand von Eintragungen auf der Handschrift, anhand von Zeugnissen usw. bestimmt. In schwierigen Fällen sollten Stemmata, graphische Darstellungen usw. die Beweisführung verdeutlichen. 4. Beweisführung über die Abfolge handschriftlicher Korrekturschichten. Eine exakte Beweisführung über die relative Chronologie der Korrekturschichten kann nur dann erfolgen, wenn mit verschiedenem Schreibmaterial (oder von verschiedenen Händen) geschriebene Korrekturen sich überlagern und daraus Schlüsse über ihre Abfolge gezogen werden können. Die Abfolge der Eintragungen kann auch in solchen Fällen nur für die entsprechende Korrekturstelle eindeu-

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tig erschlossen werden; Rückschlüsse auf den gesamten Zeugen sollten nur mit großer Vorsicht erfolgen und als wahrscheinlich gekennzeichnet sein. Ergeben sich mehrere Möglichkeiten für die Überlagerung von Korrekturschichten, sind diese Möglichkeiten anzugeben und zu diskutieren. 5. Schlußfolgerungen über die verwendeten Schriftarten. Ist der betreffende Zeuge mit lateinischer Schrift geschrieben, obwohl der Schreiber sonst in der Regel deutsche Schrift benutzt (oder umgekehrt), sollten alle Kriterien diskutiert werden, die diesen Wechsel der Schriftart bedingt haben könnten. Ein solcher Wechsel der Schriftart kann auch für die Datierung des Zeugen wichtige Indizien liefern, die zu erörtern sind. Folgt der Schreiber allerdings dem konventionellen Gebrauch, innerhalb deutscher Schrift alle ihm als Fremdwörter bekannten oder erkennbaren Wörter mit lateinischer Schrift zu schreiben, braucht diese in dem betreffenden Zeugen erkennbare Regel nur generell mitgeteilt werden. Eventuelle Ausnahmen davon sollten angegeben und gegebenenfalls textologisch interpretiert werden. 6. Angaben über das Schicksal des Zeugen zur Lebenszeit des Autors. Hierbei ist besonders wichtig, welche anderen Personen den Zeugen benutzt, gekannt oder besessen haben. Das beginnt bei der Weitergabe des Zeugen durch den Autor an bestimmte Personen zum Zwecke der Korrektur (auch wenn keine Korrekturen eingetragen wurden!) oder zum Zwecke des Lesens. Besonders wichtig werden solche Belegungen, wenn der Autor die Handschrift verschenkte oder sie ihm abhanden kam, so daß er bei späteren Redaktionen des Werkes nicht mehr auf diesen Zeugen zurückgreifen konnte. In besonderen Fällen muß das Schicksal der Handschrift bis in die Gegenwart verfolgt werden, wenn vom heutigen Besitzer (oder dessen Vorfahren) aus auf derartige Fakten geschlossen werden kann. Die Behandlung dieser (und weiterer) Probleme im diskursiven Teil der Handschriftenbeschreibung kann nur dann erfolgen, wenn Indizien in der Handschrift, Belege in Zeugnissen usw. derartige Schlüsse zulassen. Darüber hinaus müssen weitere Probleme behandelt werden, die für den betreffenden Zeugen spezifisch sind. Auch sollten alle textgeschichtlichen Fragen, wie z.B. die Diskussion spezieller Literatur oder unrichtiger Angaben in früheren Editionen bzw. in bereits vorliegenden Beschreibungen und Analysen des Zeugen in der diskursiven Zeugenbeschreibung berücksichtigt werden. Sollten dabei längere Erörterungen, Polemiken oder Interpretationen textologischer Art erforderlich werden, die eine weitreichende Belegung und Beweisführung verlangen, sollte das zweckmäßigerweise außerhalb der Edition in gesonderten Aufsätzen erfolgen, auf die zu verweisen ist. Eine feste Regelung, in welcher Abfolge die einzelnen Punkte im diskursiven Teil der Handschriftenbeschreibung aufzuführen sind, läßt sich allerdings nicht geben;

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sie richtet sich nach dem vorliegenden Material und ist so einzurichten, daß die zur Begründung der im ersten Punkt aufgestellten Behauptungen sowie zur Bestimmung der Chronologie des Zeugen dienen kann.

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(Romanische) Philologie in Frankreich? Zu Geschichte und Problematik eines deutsch-französischen Wissenschaftstransfers im 19. Jahrhundert

Eine der Schwierigkeiten internationaler Kooperation auf dem Editionsgebiet liegt darin, daß so grundlegende, und vermeintlich unveränderbar festgeschriebene Begriffe wie etwa „Text", „Philologie", „Fassung", „Variante" usw. sich in den einzelnen Sprachen und Kulturen nicht genau entsprechen. Namentlich zwischen deutschen und französischen Editoren bzw. Philologen kommt es deshalb immer wieder zu MißVerständnissen. 1 Daß dem so ist, hängt mit der unterschiedlichen Geschichte der Begriffe in den einzelnen Nationalkulturen und mit der jeweils verschiedenen institutionellen Verortung und Funktionsweise von Wissenschaft zusammen. Im folgenden soll dies am Beispiel der neueren Philologie und ihres deutsch-französischen Schicksals erläutert werden. 2 Bei der Herausbildung der wissenschaftlichen Disziplinen im 19. Jahrhundert kam in Deutschland der Philologie bekanntlich eine besondere Rolle zu. Sowohl als Theorie der Interpretation geistiger Traditionen (Hermeneutik) wie auch als praktische Wissenschaft des Umgangs mit Texten (Textkritik) übte die Philologie eine Leitfunktion bei der Entwicklung der Geisteswissenschaften aus. Dazu kam, daß sie mit ihrer humanistischen, auf die Bildung des Menschen ausgerichteten Pädagogik bei der Humboldtschen Universitätsreform Pate gestanden und somit auch die institutionellen Formen von Wissenschaft und Lehre entscheidend geprägt hatte. In erster Linie ist hier natürlich an die klassische Philologie zu denken, deren Vorsprung im Konstitutionsprozeß der Geisteswissenschaften immer wieder betont wurde. 3 Aber auch den Neuphilologien (vor allem, wenn sie sich als Nationalphilologien konstituierten, deren Aufgabe unter anderem darin bestand,

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Der folgende Beitrag versteht sich als Fortführung der Ü b e r l e g u n g e n , die ich 1985 auf dem Osnabrücker Editorenkolloquium angestellt habe ( M . W . : Edition und Kulturtradition in Frankreich. Zu dem P r o b l e m des deutsch-französischen Dialogs auf dem Editionsgebiet. In: editio 1, 1987, S. 1 3 9 - 1 4 4 ) . Zugleich steht er im Z u s a m m e n h a n g mit einem größeren Forschungsprojekt zur Geschichte des deutsch-französischen Wissenschaftstransfers im Bereich der Geisteswissenschaften.

2

Für den Bereich der klassischen Philologie lieferte den grundlegenden Artikel zu diesem T h e m a Jean Bollack: M . de W . - M . (en France). Sur les limites de l'implantation d'une science. In: H e l m u t Flashar et al.: Wilamowitz nach 5 0 J a h r e n . Darmstadt 1985, S. 4 6 8 - 5 1 2 .

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Vgl. zuletzt Pierre Judet de la C o m b e : Philologie classique et legitimite. Quelques questions sur un „modele". In: M i c h e l Espagne, Michael Werner: Philologiques I. Contribution ä l'histoire des disciplines litteraires en France et en Allemagne au X I X e siecle. Paris 1990, S. 2 3 - 4 2 .

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die Nationalkultur historisch zu rekonstruieren und zu legitimieren) kam hier eine besondere Bedeutung zu, zumal sie sich ja in Methodologie und Begriffsinstrumentarium deutlich aus der klassischen Philologie ableiteten. 4 Eine weitere Besonderheit der deutschen Entwicklung liegt schließlich in der Bedeutung der Bildungsidee, die eben mit der Philologie aufs engste verknüpft war, aber bekanntlich auch mentalitätsgeschichtlich an der Konstitution des deutschen Bürgertums entscheidenden Anteil hatte. 5 In Frankreich dagegen war der Umgang mit Texten und literarischer Tradition zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch entscheidend von der rhetorisch-sozialen Kultur der „Lettres" bestimmt. Nach dem Modell des Jesuitenkollegs ging es im Literaturunterricht an den Gymnasien (Colleges royaux) und an der Universität primär um die Vermittlung der bestimmenden, aus den klassischen Schriftstellern des 17. Jahrhunderts abgeleiteten Sprach- und Stilnormen, die ihrerseits auf die klassischen lateinischen Autoren zurückgeführt wurden. Im französischen Konzept der „Lettres" bildeten (und bilden ζ. T. immer noch) wohlgemerkt humanistisch-klassische und französisch-moderne Literatur eine Einheit. (Noch heute wird in den Gymnasien Latein- und Französisch-Unterricht in der Regel von ein und demselben Lehrer erteilt). Damit entfiel für den Literaturunterricht die Verpflichtung zu einer auf die Nationalliteratur bezogenen kulturellen Legitimation: Das Modell der „Lettres" verstand sich universalistisch-übernational, wobei natürlich im nachhinein festzustellen ist, daß ihm ab dem 19. Jahrhundert auch eine nationale Identifikations- und Legitimationsfunktion zukam. Ein weiteres Spezifikum der französischen Situation bestand in der zentralen gesellschaftlichen Position der literarischen Kultur. Wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur hatte der Literatur selbst gegenüber einen schweren Stand und konnte sich letztlich nicht durchsetzen. Oder anders gesagt: Der historischen Relativierung des Objekts Literatur durch Wissenschaft stand im 19. Jahrhundert und auch danach die normschaffende und -tradierende Funktion von Literatur im Wege. Dies führte zum einen zu einer relativ scharfen Trennung zwischen sozialwissenschaftlicher und literarischer Kultur. 6 Bis heute werden die Spezialisten für

4

5

6

Vgl. hierzu Detlev Kopp, Nikolaus Wegmann: „Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie". Zur Karriere einer Wissenschaft um 1800 In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Voßkamp: Von der gelehrten zur disziplinaren Gemeinschaft. Sonderheft der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart 1987, S. 123-151, sowie zur Verbindung von klassischer und romanischer Philologie Karlheinz Stierle: Altertums wissenschaftliche Hermeneutik und die Entstehung der Neuphilologie. In: H. Flashar, K. Gründer, A. Horstmann: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert [1], Göttingen 1979, S. 260-288. Vgl. zuletzt zusammenfassend Margret Kraul: Bildung und Bürgerlichkeit. In: Jürgen Kocka: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. München 1988, Bd. III, S. 45-73. Vgl. Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München 1985.

(Romanische)

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Frankreich?

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Literatur an der Universität nicht nur den echten Naturwissenschaftlern, sondern auch den Sozialwissenschaftlern als „Litteraires", als literarisch-musische N i c h t wissenschaftler gegenübergestellt. Z u m andern w u r d e n innerhalb der „Lettres" die Fachleute, die sich dem Text wissenschaftlich zu nähern versuchten, als „Philologen" abqualifiziert. Damit entfiel in Frankreich der gesellschaftliche D r u c k zur Objektivierung u n d Professionalisierung literaturwissenschaftlicher Praxis. Die Vorgeschichte der E i n f ü h r u n g der Philologie nach Frankreich kann hier nicht im einzelnen beschrieben werden. Summarisch sei nur erwähnt, daß die Philologie ab der Restaurationszeit ein wachsendes Ansehen genoß, in Z u s a m menhang mit dem Interesse, auf das die deutsche Kultur in Frankreich allgemein stieß. In dieser Zeit, insbesondere während der Julimonarchie, bildete sich der Topos des deutschen Gelehrtentypus heraus, als dessen reinste Verkörperung eben der Philologe galt. 7 Seine B e w e r t u n g war damals noch durchaus ambivalent. A u f der einen Seite hielt m a n ihn für „savant", gründlich, belesen usw., m a n achtete sein enzyklopädisches Wissen, seine entsagungsvolle Gelehrsamkeit. Auf der anderen Seite jedoch machte man sich über seinen Mangel an gesellschaftlicher Sicherheit lustig, an rhetorisch-geschliffenem Wesen, an weltmännischen U m gangsformen und literarischem Geschmack. Selbstverständlich wäre hier zwischen den einzelnen Gruppen zu differenzieren: In der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek oder im College de France kam der „deutsche Philolog" eher zu Geltung und Ehren als in den Salons der Rive droite oder in den Gängen der Nationalversammlung. D o c h alles in allem ist festzustellen, daß das Prestige des deutschen Gelehrten generell anstieg, vor allem in den Kreisen der mit d e m Bildungssystem verbundenen Intelligenz. Victor Cousin etwa, in den vierziger Jahren Erziehungsminister und über mehrere J a h r zehnte hinweg die zentrale Figur des französischen Universitätswesens, trug ebenso wie Michelet, Quinet und Guizot zur Vermittlung dieses alles in allem positiven Bildes bei. Interessant ist in diesem Z u s a m m e n h a n g die Verlagerung des Interesses von der Philosophie zur Philologie. Cousin selbst war ja in beiden Fächern bewandert u n d führte eine umfangreiche Korrespondenz nicht nur mit deutschen Philosophen, sondern auch und gerade mit den Philologen. A n der Ecole N o r m a l e Superieure, der wichtigsten Institution zur Ausbildung einer Elite von Gymnasial- und Hochschullehrern, abonnierte sich die Bibliothek ab Ende der zwanziger Jahre auf die wichtigsten deutschen philologischen Zeitschriften. 8 Schließlich ist auf das Wirken zahlreicher immigrierter deutscher Philologen zu

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Vgl. Pierre Petitmengin: Deux tetes de pont de la philologie allemande en France : le „Thesaurus Linguae Graecae" et la „Bibliotheque des auteurs grecs" (1830-1867), in : Mayotte Bollack, Heinz Wismann: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert II, Göttingen 1983, S. 78-98. Laut freundlicher Mitteilung von Pierre Petitmengin. Noch in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gab die Bibiothek der Ecole Normale Superieure zwischen 50 und 60 % ihres Etats für den Ankauf deutscher Bücher aus.

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verweisen. Einer ganzen Reihe unter ihnen gelangen bedeutende Karrieren in Frankreich, namentlich am College de France. 9 Unter diesen Umständen erscheint es von der Sache her einleuchtend, daß sich, etwa ab der Jahrhundertmitte, Teile der Universitätselite nach Deutschland zu orientieren begannen, zumal in den philologischen Fächern. Alsbald zeichnete sich so etwas wie ein „deutsches Modell" ab. In der klassischen Philologie zeitigte dies unter anderem die Folge, daß die Entwicklung der Archäologie bedeutende Impulse erhielt, was alsbald zum Konflikt zwischen den „gelehrten" Archäologen und den „literarischen", der rhetorischen Tradition verpflichteten Schöngeistern und Interpreten führte. 1 0 A u f dem Gebiet der neueren Philologien kam die Entwicklung nur zögernd in Gang. Hier wirkte sich besonders nachteilig aus, daß an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten (Facultes des lettres) kein eigentlicher studentischer Lehrbetrieb herrschte. Die Funktion dieser Fakultäten erschöpfte sich bekanntlich in der A b nahme von Prüfungen (baccalaureat und licence) sowie im Abhalten öffentlicher Vorlesungen. U n d es gab in diesen Bereichen (von Fächern konnte man eigentlich noch nicht sprechen) auch kaum alternative Institutionen, in denen auch nur ansatzweise Forschungstätigkeiten nachgegangen wurde. 1 1 Immerhin empfand der auf dem 1852 am College de France eingerichteten Lehrstuhl für mittelalterliche französische Literatur tätige Paulin Paris Mitte der fünfziger Jahre das deutsch-französische Gefalle auf seinem Spezialgebiet genügend deutlich, um seinen Sohn Gaston Paris, der später zu einem der Begründer der romanischen Philologie in Frankreich werden sollte, 1856 nach dem Abitur für zwei Jahre zum Studium nach Deutschland zu schicken. In einem B r i e f des Vaters an den Göttinger Altphilologen Ernst Curtius, bei dem sich Gaston damals aufhielt, wird deutlich, daß er sich daraus Karrierevorteile für den Sohn versprach:

9

Angeführt seien hier kurz: Die Orientalisten Julius Mohl (1803-1876), seit 1845 Professor am College de France; Salomon M ü n k (1803-1867), ab 1864 Professor am College de France, Joseph Derenbourg (1811-1895), 1871 Mitglied der Academie des Inscriptions et Belles-Lettres, 1877 Professor an der Ecole Pratique des Hautes Etudes; Julius Oppert (1825-1905), 1874 Professor am College de France, 1881 Mitglied der Academie des Inscriptions et Belles-Lettres; die Altphilologen Karl-Benedikt Hase (1780-1864), Henri Weil (1818-1909), seit 1876 Professor an der Ecole N o r m a le Superieure, Louis Benloew (1818-1900), seit 1849 Professor an der Faculte de Lettres in Besan$on; die Neuphilologen Karl Hillebrand (1829-1884), seit 1863 Professor an der Fakultät von Douai, und Alexander Büchner (18), der jüngste Bruder Georgs, seit 1867 Professor für neuere Literatur an der Fakultät in Caen.

10

Das alles kann hier nur grob vereinfachend angedeutet werden. Vgl. Jean Bollack 1985, vgl. Anm.2. Die Ecole d'Athenes, in die jährlich die begabtesten altphilologischen Absolventen der Ecole Normale Superieure entsandt wurden, richtete sich nach ursprünglich romantisch-literarischem Programm ab 1870, unter dem Einfluß von Hellenisten wie Albert Dumont und Paul-Franfois Foucart, auf positive Archäologie aus.

11

Ausnahmen bildeten auch hier die Königliche bzw. Kaiserliche Bibliothek und in begrenztem U m f a n g die Ecole des Chartes, in der Paläographen und Archivare ausgebildet wurden.

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in

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Frankreich?

J e m e felicite b e a u c o u p d u p a r t i q u e j ' a i pris d e m e s e p a r e r d e lui [/'. e. G a s t o n Paris] p o u r lui faire c o n n a i t r e les h o m m e s les p l u s d i s t i n g u e s , les p l u s c o n s i d e r a b l e s d e 1 ' A l l e m a g n e . S o n äge m ü r se t r o u v e r a b i e n d e ces exercices d e sa j e u n e s s e . C e q u i n o u s m a n q u e ici, c'est la veritable c o n n a i s s a n c e d u m o u v e m e n t s c i e n t i f i q u e en d e h o r s d e la France, et c e u x q u i o n t p u se m e t t r e ä la h a u t e u r d e ce q u ' o n fait, ce q u ' o n p e n s e et ce q u ' o n ecrit en A l l e m a g n e , d o i v e n t a v o i r u n g r a n d a v a n t a g e s u r les m e i l l e u r s esprits d e n o t r e p a y s . 1 2 Paulin Paris, der selbst zeitlebens u n t e r d e m M a n g e l an d e u t s c h e n S p r a c h k e n n t n i s sen gelitten hatte, v e r s p ü r t e ein w a c h s e n d e s U n b e h a g e n angesichts des

immer

deutlicher w e r d e n d e n französischen Nachholbedarfs gerade auf d e m Gebiet der altfranzösischen Texte. D e m

sollte n u n gezielt der D e u t s c h l a n d a u f e n t h a l t

des

Sohnes abhelfen. E n t g e g e n d e r v o n i h m selbst v e r b r e i t e t e n L e g e n d e , er sei v o n F r i e d r i c h D i e z w ä h r e n d seines A u f e n t h a l t s in B o n n in die G r ü n d e d e r r o m a n i s c h e n

Philologie

e i n g e w e i h t w o r d e n , 1 3 h a t sich G a s t o n Paris erst einige J a h r e später, n a c h s e i n e m S t u d i u m an d e r E c o l e des C h a r t e s 1861/62, d a f ü r e n t s c h i e d e n , sich in der M i t t e l a l terphilologie zu spezialisieren. Z u s a m m e n m i t seinem Studienkollegen Paul M e y er, der elsässischer A b s t a m m u n g w a r u n d seine A u s b i l d u n g d u r c h einen A u f e n t h a l t in E n g l a n d a b g e r u n d e t h a t t e , w u r d e er a b d i e s e r Z e i t z u m

entscheidenden

P r o t a g o n i s t e n einer n e u e n r o m a n i s c h e n P h i l o l o g i e in F r a n k r e i c h . In e i n e m

pro-

g r a m m a t i s c h e n A r t i k e l aus d e m J a h r e 1864 w i e s er a u f die r a s a n t e F a c h e n t w i c k l u n g in D e u t s c h l a n d h i n u n d f o r d e r t e seine L a n d s l e u t e auf, die n ö t i g e n M a ß n a h m e n zu ergreifen, u m A n s c h l u ß zu dieser E n t w i c k l u n g zu

finden.14

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„Ich kann mich nur höchlichst dazu beglückwünschen, den Entschluß gefaßt zu haben, mich von ihm [Gaston Paris] zu trennen und ihn die Bekanntschaft der ausgezeichnetsten und bedeutendsten Männer Deutschlands machen zu lassen. In reifem Alter werden ihm diese in jungen Jahren vorgenommenen Übungen zugute kommen. Woran es uns hier fehlt, ist die wirkliche Kenntnis der wissenschaftlichen Bewegung außerhalb Frankreichs, und diejenigen, die es dahin bringen, auf der Höhe dessen zu sein, was man in Deutschland tut, denkt und schreibt, müssen einen erheblichen Vorteil gegenüber den besten Geistern unseres Landes haben" (Bibliotheque Nationale Paris, n. a. fr. 24464 [fonds Gaston Paris]. Vgl. zu Gaston Paris' Studium in Deutschland und seiner Bedeutung für die Entwicklung der romanischen Philologie in Frankreich Hans-Ulrich Gumbrecht: „ U n souffle d'Allemagne ayant passe". Friedrich Diez, Gaston Paris und die Genese der Nationalphilologien. In: Lili 14, 1984, Nr. 53/54 , S. 37-78, sowie Michael Werner: A propos des voyages de philologues fran^ais en Allemagne avant 1870. Le cas de Gaston Paris et de Michel Breal. In: Acta des Kolloquiums „Les echanges universitaires entre la France et 1'Allemagne" der Mission historique franiaise in Göttingen vom November 1988, im Druck.

13

Diese Legende findet sich in allen biographischen Rekonstruktionen bis hin zu Gumbrecht (s. vorige Anm.). Die Briefe des während des Bonner Aufenthalts 16- bis 17jährigen Paris an seinen Schulkameraden H. Durande (Paris, Bibliotheque Nationale, n. a. fr. 24464) zeigen indessen, daß er in erster Linie mit der Erlernung der deutschen Sprache beschäftigt war und mit Friedrich Diez zwar persönlichen, aber kaum fachlichen Kontakt hatte. Er studierte dort keineswegs Romanistik und wurde erst während der darauffolgenden Göttinger Zeit empfänglicher für die Lehrinhalte, dort allerdings eher in klassischer und mittelhochdeutscher Philologie. Gaston Paris: La philologie romane en Allemagne. In: Bibliotheque de l'Ecole des Chartes 25, 1864, S. 435-445.

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Die von G. Paris und P. Meyer im Rahmen dieser Bemühungen in die Wege geleiteten Unternehmungen, die Gründung der Zeitschriften „Revue critique" (1866) und „Romania" (1872), der Gesellschaft zur Herausgabe altfranzösischer Texte (1875), schließlich ihre Teilnahme an der allgemeinen französischen Diskussion zur Hochschulreform können hier nur kursorisch erwähnt werden. Von fachübergreifender Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch die Gründung der Ecole pratique des hautes etudes (E.P.H.E.) im Jahre 1868, an der Gaston Paris zusammen mit anderen Reformern wie dem Historiker Gabriel Monod erheblichen Anteil hatte. Hier sollten nach deutschem Muster, in Verbindung von Lehre und Forschung, hochqualifizierte Studenten wissenschaftlich ausgebildet werden. G. Paris stand dort ab 1886 der philologisch-historischen Sektion vor, in der deutsche Sprachkenntnisse bekanntlich obligatorisch waren. Bemerkenswerterweise handelte es sich bei dieser neuen Hochschule gerade nicht um eine Universität, sondern um eine in der Tradition der französischen Fachschulen (Ecoles speciales) stehende Einrichtung: Das Modell der deutschen Universität wurde nicht auf ihr französisches Pendant, die Fakultäten, übertragen, sondern in eine diesem Modell funktional entgegengesetzte Struktur überführt. Doch nicht nur die institutionelle Ausrichtung auf die „science allemande", die deutsche Wissenschaft, stieß auf Widerstände; auch die Einführung wissenschaftlicher Konzepte und Traditionen verlief naturgemäß keineswegs problemlos. Hinsichtlich der romanischen Philologie und des ihr zugrunde liegenden Begriffs der Romania lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Zunächst eine Zeit der Expansion, die sich ζ. B. an der Gründung von Fachzeitschriften ("Revue des langues romanes" 1870, „Romania" 1872, „Revue de philologie frangaise" 1887) und an der Einrichtung von - freilich vorerst nur außerplanmäßigen - Lehrstühlen ablesen läßt. 15 Dann eine Phase des Rückgangs, die in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg anhebt und bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts dauert. In vielem überschneidet sich diese Entwicklung mit der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Diskussion, die mit „Glanz und Elend des Positivismus" zu umschreiben wäre, wobei jedoch auch auf diesem Feld die Dinge nicht mit der deutschen Entwicklung unbedingt parallel verliefen, zumal insbesondere der Positivismus jeweils verschiedene Ausprägungen angenommen hatte. Darüber hinaus wurde die Akklimatisierung der Philologie naturgemäß von der politischen Ent15

In Lyon ein Lehrauftrag (cours complementaire, Sprache und Literatur des Mittelalters) ab 1876; 1881 in einen ordentlichen Lehrstuhl umgewandelt (Inhaber: L. Cledat); an der Sorbonne eine außerplanmäßige Professur (maitrise de conferences, französische Sprache und Literatur des Mittelalters) ab 1877; sie wurde 1882 in eine ordentliche Professur umgewandelt und mit Arsene Darmesteter, einem authentischen Romanisten besetzt; in Montpellier eine außerplanmäßige Professur (maitrise de conferences, romanische Sprachen) ab 1880; in Bordeaux 1892 ein von der Stadt finanzierter Lehrstuhl für Regionalsprachen in Südwestfrankreich. Diese Angaben präzisieren und korrigieren teilweise die früher von mir mitgeteilten Daten (Michael Werner: A propos de revolution historique des philologies modernes: l'exemple de la philologie romane en Allemagne et en France. In: Espagne/ Werner 1990,vgl. Anm.3, S. 159-183; dort S. 176, Anm. 46).

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wicklung überlagert, mit den Zäsuren des 1870/71er Krieges, der DeutschlandDiskussion im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg und schließlich des Weltkriegs selbst. Gaston Paris verstand sich zum einen immer als Repräsentant einer Philologie, die er als positive Wissenschaft eben den Belles-Lettres gegenüberstellte. Der Anspruch dieser Philologie war umfassend: Sie war einerseits dem Ethos von Wissenschaft und Forschung verpflichtet und stellte sich in den Dienst voraussetzungsloser Wahrheitssuche. Andererseits besaß sie auch wissenschaftlich einen extensiv-universalen Charakter. Sie umfaßte, gemäß dem Boeckhschen Modell, sowohl Sprachwissenschaft wie Textkritik und Hermeneutik. U n d sie beanspruchte für das Gebiet ihrer Kompetenz nicht nur die mittelalterliche, sondern auch die moderne französische Literatur. Eben als Philologe fühlte sich Paris dem Repräsentanten der schöngeistigen Literaturkritik gegenüber überlegen, verachtete er die Professoren für „französische Beredsamkeit". Zwei Faktoren stellten zunächst relativ günstige Voraussetzungen zur Implantierung der Philologie dar. Erstens konnten ihre Verfechter an die spezifische Tradition der humanistischen Gelehrsamkeit, der „Erudition", anknüpfen, die schon immer eine Art Gegenpol zur dominanten literarisch-rhetorischen Kultur dargestellt hatte. Gerade die Ecole des Chartes hatte sich damals als einer der Stützpunkte der „Erudition" konstituiert, und nicht umsonst waren sowohl G. Paris wie P. Meyer Absolventen dieser Institution. Als positive Wissenschaft von altfranzösischen und -provenzalischen Texten eröffnete die romanische Philologie den französischen Gelehrten ein weites Feld. Gerade im Bereich der mittelalterlichen Literatur galt es zunächst positive Fakten zu erheben: Manuskripte sammeln und ordnen, Quellen zugänglich machen, kritische Editionen herstellen, schließlich literarhistorische Tatsachen feststellen. In dieser Hinsicht führte die Einführung des philologischen Modells zu einer Stärkung und Belebung eigener französischer Traditionen, die gewissermaßen durch ein neues Wissenschaftsethos veredelt wurden. Der zweite günstige Umstand war die schon erwähnte, ab 1863 unter dem Minister Duruy einsetzende allgemeine Diskussion um die französische H o c h schulreform, die verstärkt die Aufmerksamkeit auf die „neuen" an den deutschen Universitäten aufblühenden Disziplinen lenkte und diese Öffnung nach außen in die interne Diskussion einbezog, wobei von entscheidender Bedeutung war, daß man von einer neuen Situation internationaler Konkurrenz ausging, in welcher die französischen Positionen stark bedroht erschienen. Damit bot sich den Vertretern der Philologie die Möglichkeit, auch außerhalb der Fachgrenzen liegende Argumente zur Förderung ihrer Fachinteressen zu entwickeln und gezielt einzusetzen. Diese alles in allem günstigen Voraussetzungen wurden nun allerdings durch eine Reihe von Widerständen aufgewogen, die sich — um es vorab zu sagen — letzten Endes als stärker erwiesen. Auch hier ist wieder zwischen fachinternen und außerfachlichen Faktoren zu unterscheiden.

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Fachintern erwies sich zunächst als Nachteil, daß sich die romanische Philologie - im Unterschied etwa zur Situation in Italien, wo die Nationalliteratur kontinuierlich vom Mittelalter in die Neuzeit fortgeschrieben wurde - in Frankreich vornehmlich auf mittelalterliche Texte beschränkte. Auf diesem Sektor herrschte zwar ein erheblicher Nachholbedarf, aber gerade diese besondere Dynamik schnitt die Philologie von der Beschäftigung mit neufranzösischen Texten weitgehend ab. 16 Diese Trennung zeitigte in der Zukunft weitreichende Folgen. Denn im Unterschied zu den deutschen Germanisten, die in „ihrem" Mittelalter eine Blütezeit der nationalen Literatur und Kultur verorteten, gelang es den französischen Romanisten nicht, der altfranzösischen Literatur einen auch nur entfernt vergleichbaren Platz im nationalkulturellen Kanon zuzuweisen. Gegenüber den klassischen Autoren des französischen 17. Jahrhunderts blieben die mittelalterlichen Texte hoffnungslos im Hintertreffen, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein vielfach als geschmacklos und barbarisch abgelehnt wurden. 1 7 Die Beschränkung der romanischen Philologie auf das Mittelalter bedeutete somit in Frankreich eine Art Ghettoisierung, eine Eingrenzung auf ein kulturell „minderwertiges" Territorium. Ein weiteres Problem bestand darin, daß sich das in Deutschland sowohl aus der vergleichenden Sprachwissenschaft wie aus dem Herderschen Organizismus entwickelte Konzept der Romania, d. h. einer Familie von zugleich in sich differenzierten, aber doch durch vielfältige Verwandtschaftsbeziehungen definierten Kulturfamilie, nur schwer den internen französischen Bedürfnissen anpassen ließ. Welche Rolle konnte Frankreich sinnvollerweise innerhalb dieser Familie für sich beanspruchen? Interessanterweise betonte der junge Gaston Paris in seinen Veröffentlichungen vor 1870, das Französische sei unter den romanischen Sprachen diejenige, die am meisten mit germanischen Anteilen untersetzt sei. 18 Nach dem Krieg waren derartige Äußerungen schlechterdings unmöglich, und so begnügte sich Paris in seinem einführenden Artikel zur ersten N u m m e r der „Romania" (deren Planungen wohlgemerkt ebenfalls auf die Zeit vor 1870 zurückgingen) 1872 damit, das Neben-, Mit- und Gegeneinander von germanischer und romanischer Kulturfamilie in Europa festzustellen und die Eigenständigkeit der romanischen Kulturen hervorzuheben. 1 9 Die innerfranzösische Problematik des RomaniaKonzepts zeigte sich des weiteren an der Art und Weise, wie es von den Vertretern 16

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Ausnahmen bildeten allerdings - aufgrund der besonderen Oberlieferungslage - ζ. B. die PascalPhilologie, in die sogar auch klassische Philologen eingriffen. Man vergleiche hierzu den von Gumbrecht (Anm. 12) zitierten Artikel von Ferdinand Brunetiere: L'erudition contemporaine et la litterature frangaise au moyen äge. In: Revue des deux mondes 1879, Bd. 111(1. Juni), S. 620-649. Vgl. insbesondere das Vorwort zu seiner Obersetzung der Einführung zu Diez' „Grammatik der romanischen Sprachen": Frederic Diez: Introduction ä la grammaire des langues romanes, traduit par Gaston Paris. Paris, Leipzig 1863. Gaston Paris: Romani, Romania, Lingua romana, Romancium. In: Romania 1, 1872, S. 1-22, dort insbesondere S. 19-22.

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der Okzitanistik bzw. der provenzalischen Literatur rezipiert wurde. Denn dort diente die romanische Philologie umgekehrt dazu, die provenzalischen Sprachen gegen den Hegemonieanspruch des Nordfranzösischen aufzuwerten und die zeitgenössischen Dezentralisierungsbestrebungen zu unterstützen. Charakteristischerweise spielte das Studium des Altfranzösischen und der romanischen Sprachen auch in der Ausbildung der „Professeurs de lettres", der Literaturlehrer an den Gymnasien praktisch keine Rolle. Bei der „Agregation des Lettres", der anspruchsvollsten zentralen Prüfung für Gymnasiallehrer in den Fächern Latein, Griechisch und Französisch, die funktional dem deutschen Staatsexamen entspricht, wurden niemals Kenntnisse in altfranzösischer Sprache und Literatur verlangt. 2 0 Erst die 1959 zusätzlich zur „Agregation des Lettres" geschaffene „Agregation des Lettres modernes" sah eine Prüfung in alt- bzw. mittelfranzösischer Sprache und Literatur vor. Bei den universitätsinternen Prüfungen, der „Licence-es-Lettres" und dem 1904 geschaffenen Fachdiplom („Diplome d'etudes superieures) wurden indessen schon frühzeitig fakultative Optionen in mittelalterlicher Literatur eingerichtet; doch blieb deren Rolle alles in allem marginal. D e m entsprechend fand die altfranzösische Literatur auch keinen Eingang in die Curricula der Gymnasien. Die Beschäftigung mit diesen Texten blieb Sache einer Handvoll Spezialisten. Unter den außerfachlichen Faktoren ist insbesondere auf die französische H o c h schulreform und ihre Verbindung zur allgemeinen Diskussion über deutsche Kultur und Wissenschaft zu verweisen. Das Verhältnis der französischen Reformer zur deutschen Universität war nach 1870 bekanntlich sehr ambivalent. 2 1 Da der preußisch-deutsche Sieg - nach Renans bekannter Formel - als ein Sieg der deutschen Wissenschaft gewertet wurde, galt es nunmehr die Deutschen auf ihrem eigensten Gebiet zu übertreffen. Dies bedeutete unter anderem, daß der deutschen Forschung sowohl die Funktion eines Modells wie auch die eines abschreckenden Beispiels der Perversion von Wissenschaft durch Politik zukam. 2 2 Demzufolge ging es bei den meisten Reformern darum, ein eigenes französisches Hochschulkonzept in Auseinandersetzung mit den deutschen Zuständen zu entwickeln. Offene positive Bezugnahme auf das deutsche Modell war dabei kaum möglich, ohne der Germanophilie verdächtigt zu werden und damit die Durchsetzung der eigenen Pläne zu gefährden. A m Ende der in mehreren Schüben stufenweise vorangetriebenen und sich über mehr als dreißig Jahre hinziehenden Reform, die zur Ablösung des von Napoleon zu Beginn des Jahrhunderts eingerichteten S y -

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Zur Ausbildung der Professeurs de lettres im 19. Jahrhundert vgl. Pierre Albertini: Le „Cursus studiorum" des professeurs de lettres au X I X e siecle. In: Histoire de l'education 45, 1990, S. 4 3 - 6 9 . Vgl. die immer noch grundlegende Studie von Claude Digeon: La crise allemande de la pensee franfaise. 1870-1914. Paris 1959. Vgl. George Weisz: T h e Emergence o f Modern Universities in France 1863-1914. Princeton 1983; Robert Fox, George Weisz: T h e Organization o f Science and Technology in France 1 8 0 8 - 1 9 1 4 . Cambridge 1980.

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stems führte, stand insbesondere die Vereinigung der zuvor getrennten Fakultäten zu Universitäten im alten Sinn und damit in Paris die Neubegründung der Sorbonne, die als „Nouvelle Sorbonne", als neue Sorbonne bezeichnet wurde. Diese Entwicklung verlief indessen nicht ohne Rückschläge und rief eine Reihe von Gegenbewegungen hervor, die sowohl die Institution selbst wie den der Institution innewohnenden „Geist" betrafen, den Imperativ „positiver" Wissenschaft und Forschung. Dabei richtete sich ein Großteil der Kritik auf die Sozialwissenschaften, insbesondere auf die von Emile Dürkheim verkörperte neue französische soziologische Schule. Dürkheim, der 1902 an die Sorbonne berufen worden war, galt den Verfechtern des traditionellen französischen Bildungssystems als der Inbegriff der neuen, fremden, imperialistischen Wissenschaft, die an der Universität Einzug gehalten habe und deren Siegeszug die Grundfesten der französischen, auf der klassisch-humanistischen Bildung beruhenden Kultur bedrohe. 2 3 Die zweite Zielscheibe dieser Kritik war charakteristischerweise eben die Philologie. In einem aufsehenerregenden, unter dem Pseudonym „Agathon" veröffentlichten Pamphlet 24 wandten sich Henri Massis und Alfred de Tarde nicht nur gegen die Durkheimsche Soziologie, sondern auch gegen die „Übergriffe" einer Philologie, die an der neuen Sorbonne - etwa in Gestalt des Literarhistorikers Gustave Lanson - das Szepter führe und in der sie den ganzen schädlichen Einfluß des deutschen Ungeistes auf das französische Geistesleben verkörpert sahen. Für Massis und Tarde bedeutete die Philologie den Gegenpol zur klassischen Allgemeinbildung der „Humanites", die Inkarnation der Tendenz zur Spezialisierung und Arbeitsteilung, die die französische, auf „allgemeine Ideen" ausgerichtete Kultur in ihrem innersten Wesen bedrohe. Fassungen vergleichen, Varianten studieren, ein Stemma erstellen, den Text konstituieren, Karteien anlegen und Bücher bzw. Wissen verzetteln, all diese philologischen Aktivitäten erschienen Massis und Tarde als Ausgeburten einer deutschen Wissenschaft, die im Troß der Truppen von 1871 die Institutionen des französischen Geistes zu erobern suchten. Laut Massis und Tarde haben die Propagandisten dieser Wissenschaft „Laboratorien für französische Philologie" eingerichtet, Werkstätten für „wissenschaftliche Verrichtungen", 25 in denen von einem Heer von Arbeitern kollektiv Texte seziert, Stemmas entworfen, kritische Editionen hergestellt und Bibliographien erarbeitet werden, zum Schaden echter geistiger, individueller Anstrengung, selbständiger Fähigkeit zum Nachdenken und - last but not least - des guten Stils. Sieht man

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Vgl. P. Lasserre: La doctrine officielle de l'Universite. Critique du haut enseignement de l'Etat. Defense et theorie des humanites classiques. Paris 1912. Agathon (i.e. Henri Massis et Alfred de Tarde): L'esprit de la nouvelle Sorbonne. Paris 1911. Das Pamphlet wird ausführlich analysiert bei Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München 1985. Vgl. auch Michel Espagne: La reference allemande dans la fondation d'une philologie frangaise. In: Espagne / Werner 1990, vgl. Anm.3, S. 135-158. „Laboratoires de philologie frangaise", „ateliers de manipulations scientifiques" (Agathon: L'esprit de la nouvelle Sorbonne, S. 36).

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einmal von der antideutschen Argumentation ab, deren Funktion vor allem darin bestand, die innerfranzösischen Gegner abzuqualifizieren, so zeigt sich im Zerrbild solcher Polemik nur zu deutlich, daß die Philologie zur Projektionsebene einer allgemeinen Kulturkritik geworden ist. Hier geht es nicht mehr so sehr u m die Auseinandersetzung mit der Philologie als einer spezifischen Geisteswissenschaft, sondern u m die Einschätzung der damals gegenwärtigen Kulturentwicklung. Hinter „ A g a t h o n s " Argumentation verbirgt sich die Furcht eines Teils der B i l dungselite vor kulturellem Niedergang und Identitätsverlust. Daß sich solche Kritik nun gerade an vorgeblichen Eigenheiten der „Philologie" festmachte, war allerdings kein Zufall. D e n n die Wortführer des Feldzugs gegen Philologen und Soziologen verstanden sich als die Sachwalter einer übergreifenden, humanistischen Kultur der Belles-Lettres, deren Vorherrschaft durch die historisierende Perspektive der Philologie in ihrem eigentlichen Wesen bedroht schien. „Toutes les tendances nouvelles que nous combattons s'unissent et se resument dans celle-ci: le mepris de la forme. O n a fait des mots ,rhetorique' ou ,Humanites' une sorte d ' i n j u r e . " 2 6 D a m i t wurde nun die Philologie in die seit der Revolution in Frankreich währende Diskussion u m das Bildungs- und U n t e r richtswesen einbezogen und übernahm darin den Part der angeblich kulturzersetzenden Tendenzen. Ganz im Gegensatz zur Ausgangssituation in Deutschland, w o man ihre spezifische Leistung darin gesehen hatte, zwischen dem Teil und dem Ganzen zu vermitteln, erschien sie den Vertretern der literarisch-rhetorischen Tradition in Frankreich als entscheidende Triebkraft einer geisttötenden Spezialisierung, die den B l i c k auf das Ganze verstelle und der Fähigkeit zur großen Synthese entgegenwirke. Selbst wenn diese Diskussion in m a n c h e m Parallelen zu der Philologiekritik aufweist, die in Deutschland damals durch das A u f k o m m e n der Geistesgeschichte eingeleitet wurde, so ist doch der grundlegende Unterschied festzuhalten, daß die Kritik in Deutschland von einer neuen Stufe historischer, gewissermaßen post-historistischer Reflexion aus erfolgte, während man in Frankreich gerade die historisierende Tendenz der Philologie in Frage stellte. Die Auseinandersetzung u m die Philologie blieb naturgemäß auch auf dem Gebiet der Editorik nicht ohne Folgen. J o s e p h Bedier, Schüler und Nachfolger von Gaston Paris auf dem Lehrstuhl für französische Literatur des Mittelalters am College de France, distanzierte sich zusehends von den Editionsmethoden seines Lehrers. Zunächst in einer Neuausgabe des Lai de l'ombre von Jean Renart (1913), dann in einem ausführlichen Artikel aus dem J a h r e 1 9 2 8 2 7 machte Bedier Zweifel an der Richtigkeit der von Paris nach Frankreich eingeführten und seither allgemein praktizierten Editorik laut, die er direkt auf Karl Lachmann zurückführte. 26

27

Agathon, S. 8 („Alle neue Tendenzen, die wir bekämpfen, lassen sich in der einen zusammenfassen: der Verachtung der Form. Begriffe wie ,Rhetorik* und .humanistisch-schöngeistige Disziplinen' hat man zu Schimpfwörtern gemacht."). Joseph Bedier: La tradition manuscrite du „Lai de T o m b r e " . Reflexions sur l'art d'editer les textes anciens. In: Romania 54, 1928, S. 1 6 1 - 1 9 6 und 3 2 1 - 3 5 6 .

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Ihm schien an den bisherigen Editonen insbesondere die Tatsache verdächtig, daß die Lachmannsche Methode zumindest bei altfranzösischen Texten in der Mehrzahl zu zweigliedrigen Stemmas führte, und er Schloß daraus, die Methode tue der historischen Vielfalt der Textüberlieferung offensichtlich Gewalt an. Bedier zufolge ist es trotz aller positivistischer Anstrengungen letztlich nicht möglich, aufgrund eines Vergleichs der vorhandenen Textzeugen mit den Mitteln der Emendation und der Konjektur einen Archetyp oder einen dem Original nahestehenden Text zu rekonstruieren. Darum zieht er nunmehr die entgegengesetzte Methode vor: unter den vorhandenen Handschriften die „beste" auszuwählen, sich bei der Textkonstitution möglichst nahe daran zu halten und Konjekturen auf ein striktes Minimum zu beschränken bzw. möglichst ganz in den Anhang zu verbannen. Entscheidendes Kriterium zur Auswahl des besten Zeugen sei letzten Endes der „Geschmack", 2 8 das literarische Werturteil des Editors, und nicht etwa der quasi mechanisch-mathematische textkritische Vergleich der Varianten. Damit greift Bedier wieder auf eine zentrale Kategorie der „Belles-Lettres" zurück, die nunmehr auch von den Editoren gegen die Philologie ins Feld geführt wurde. Bediers Abrechnung mit der Lachmannschen Editionsmethode blieb unter den französischen Philologen im großen und ganzen unwidersprochen, 2 9 und es gilt seitdem zumindest bei den Mediävisten als communis opinio, man habe den von Gaston Paris eingeschleppten, alles in allem doch allzu primitiven „Lachmannismus" in Frankreich überwunden. Daß die Dinge sich in Wirklichkeit erheblich komplexer verhalten und man auch auf diesem Sektor zwischen dem offiziellen Diskurs der Fachvertreter und der tatsächlichen wissenschaftlich-editorischen Praxis zu unterscheiden hat, liegt auf der Hand, kann aber hier im einzelnen nicht weiter verfolgt werden. N u r soviel sei im Rahmen dieser Überlegungen festgehalten, daß Bediers und seiner Nachfolger Konzessionen an die „Belles-Lettres" keineswegs die Kluft zwischen den Spezialisten mittelalterlicher Texte und den Vertretern der neueren französischen Literatur abzubauen vermochten. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Polen der Beschäftigung mit Literatur ist unter den Repräsentanten des Fachs nach wie vor stark ausgeprägt, zumal die Mediävisten an den Debatten zur theoretischen Erneuerung der Literaturkritik, der „critique litteraire", während der letzten Jahrzehnte ostentativ nicht teilnahmen. Denn in der Auseinandersetzung mit den Vertretern der neueren Literatur zogen und 26 29

Ebd., S. 356. Widerspruch erhob sich bezeichnenderweise bei einem Altgermanisten, der zu zeigen versuchte, daß die Mehrzahl zweigliedriger Stemmas eine statistisch aus der Textüberlieferung ableitbare und voraussehbare Tatsache sei (Jean Fourquet: Le paradoxe de Bedier. In: Melanges 1945. Bd. 2. Etudes de Lettres. Publications de la faculte de lettres de l'universite de Strasbourg. Paris 1946, S. 1-16). Interessanterweise wurde Bediers Abwendung von der Lachmannschen Textkritik heftig von den italienischen Romanisten kritisiert, die darin eine wissenschaftlich nicht haltbare Fehlentwicklung sahen. Vgl. hierzu zusammenfassend Sebastiano Timpanaro: Le genesi del metodo del Lachmann. 1. Aufl. Florenz 1963, 2. Aufl. Padua 1981, S. 41 und 123, sowie von französischer Seite vermittelnd Bernard Cerquiglini: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989, S.123.

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Frankreich?

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ziehen die Mittelalterphilologen die Position der „Erudition" vor, der traditionellen Gelehrsamkeit, und überlassen das Feld der schöngeistigen Interpretation wie auch die Theoriediskussion den Spezialisten für neuere Literatur. Ihre Stellung der Philologie gegenüber bleibt darum ambivalent: sie behaupten einerseits, die aus Deutschland importierte Methode hinter sich gelassen zu haben, verstehen sich aber andererseits als textkritisch und darum doch auch wieder philologisch arbeitende, von der rhetorisch-literarischen Tradition tendenziell ausgegrenzte „Gelehrte". So ist die neuere Philologie in Frankreich bis heute in das Spannungsverhältnis von „Erudition" und „Belles-Lettres" eingebunden, woraus auch verständlich wird, daß dem Terminus „Philologie" und dem dazu gehörigen Begriffsfeld unter den Fachleuten auch jetzt noch eine - j e nachdem negative oder positive - wertende Dimension anhaftet. Sie stellt entweder eine solide Tradition des gelehrten Umgangs mit literarischen Texten dar, auf die man sich beruft, wenn die Sache selbst, der Gegenstand interpretatorischer Anstrengung, in einer Suada rhetorisch brillanter Phrasen unterzugehen droht. Andererseits aber - und dies ist insgesamt die dominierende Position - wird sie als verstaubte, zuweilen skurrile, sich an Nebensächlichem aufhaltende Fachgelehrsamkeit abgetan, als Hantieren mit Stemmas und Varianten, das zwar eine Menge positiver Kenntnisse voraussetzt, dem aber der Blick auf die großen Zusammenhänge sowie die Fähigkeit zu mitreißender Formulierung abgehe. Wenn auch dem Konzept der romanischen Philologie mit Ausnahme des B e reichs der Okzitanisten in Frankreich kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, so ist doch festzustellen, daß die von ihm ausgelösten Diskussionen zumindest indirekt eine Reihe von bedeutenden Bewegungen in Gang gebracht haben. Dadurch daß es ins Zentrum einiger zentraler Debatten der französischen Kultur traf, unter denen hier die Auseinandersetzung zwischen „Erudition" und „Belles-Lettres" sowie die Frage einer nationalkulturellen Kontinuität vom Mittelalter in die N e u zeit aufgeführt wurden, diente es als Katalysator für wichtige innerfranzösische Entwicklungen und wurde, etwa in der Frage der Universitätsreform, zu einer spezifischen Projektionsebene im K a m p f zwischen Traditionalisten und Reformern. Gerade in dieser Hinsicht zeigt sich die heuristisch fruchtbare Interdependenz von tatsächlichem internationalem Wissenschaftstransfer und innerkulturellen Entwicklungen bzw. Krisen.

Elisabeth

Höpker-Herberg

„Paradise Lost" und „Messias" E r m i t t l u n g eines nicht ausgeführten K o n z e p t s der E p i s o d e v o m Weltgericht

Es ist kennzeichnend für die Genese des „Messias", daß Klopstock bei der Ausarbeitung des Textes der vorgesehenen, vom Stoff bestimmten oder auch nur logischen Textfolge häufig Vorgriff; 1 so im Frühjahr 1764, als er abschließende Arbeiten an den Gesängen X I - X V , deren Drucklegung drängte, 2 unterbrach und seine Aufmerksamkeit - unvermittelt, was die Genese des „Messias" betrifft - den lyrischen Stücken des zwanzigsten Gesangs zuwandte; 3 oder früher, 1750, als er eine Szene des Weltgerichts ausarbeitete, die erst gegen Ende des Epos einzuordnen war, später im neunzehnten Gesang piaziert und mit Gesang X V I - X X im letzten Band des „Messias" 1773 veröffentlicht wurde. 4 Nicht anders verfuhr er bei 1

D e n f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n liegen E r g e b n i s s e der „ M e s s i a s " - E d i t i o n der „ H a m b u r g e r K l o p s t o c k - A u s g a b e " ( H K A : Friedrich Gottlieb K l o p s t o c k . Werke u n d B r i e f e . Historisch-kritische A u s g a b e . B e g r ü n d e t v o n A d o l f B e c k , Karl L u d w i g Schneider u n d H e r m a n n T i e m a n n . H r s g . v o n Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Berlin 1974ff.) zu G r u n d e , u n d zwar aus d e m Kapitel „ W e r k g e s c h i c h t e . T e x t g e n e s e einzelner G e s ä n g e u n d E p i s o d e n " ( H K A , Werke IV: D e r M e s s i a s . H r s g . v o n E . H ö p k e r - H e r b e r g . B d . 3, noch nicht erschienen). T e x t s t e l l e n a n g a b e n z u m „ M e s s i a s " entsprechen der V e r s z ä h l u n g des edierten T e x t e s ( H K A , Werke IV, B d . 1/2, Berlin 1974) s o w i e der S y n o p s e u n d d e m Variantenverzeichnis ( H K A , W e r k e IV, B d . 4 / 5 , Berlin 1984/1986).

2

K l o p s t o c k arbeitete seit M i t t e M ä r z 1756 an diesen G e s ä n g e n ( v g l . H K A , A d d e n d a II: K l o p s t o c k s „ A r b e i t s t a g e b u c h " . H r s g . v o n K . H u r l e b u s c h . Berlin 1977, S . 4 5 , 4 2 ) . D i e A r b e i t w u r d e durch M e t a K l o p s t o c k s T o d i m N o v e m b e r 1758 u n t e r b r o c h e n ; i m H e r b s t 1763 w a r K l o p s t o c k wieder m i t den bis 1758 entstandenen A r b e i t s u n t e r l a g e n b e s c h ä f t i g t , wie aus e i n e m B r i e f v o n E . S c h m i d t h e r v o r geht ( H s . : Staats- u n d U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k H a m b u r g ) . D u r c h den Verleger w a r der dritte B a n d mit G e s a n g X I - X V , der 1768 in den D r u c k g i n g u n d 1769 erschien, bereits 1763 i m M e ß k a t a l o g für O s t e r n 1764 a n g e k ü n d i g t w o r d e n . ( V g l . L . S i c k m a n n : K l o p s t o c k u n d seine Verleger H e m m e r d e und B o d e . E i n B e i t r a g zur D r u c k g e s c h i c h t e v o n K l o p s t o c k s Werken m i t Einschluß der K o p e n h a g e ner A u f g a b e des „ M e s s i a s " . In: A r c h i v für Geschichte des B u c h w e s e n s III, 1961, Sp. 1529.)

3

Klnp'.UIL'k e n t w i c k e l t e ab F e b r u a r 1764 seine Verstheorie und erfand zunächst nciic Κ ΠΜΙΚ- Silbenm a ß e u n d S t r o p h e n f o r m e n i m D e u t s c h e n für O d e n s o w i e z u m „ T r i u m p h g e s a n g bey der H i m m e l f a h r t " i m z w a n z i g s t e n G e s a n g des „ M e s s i a s " . ( V g l . H . - H . H e l l m u t h : M e t r i s c h e E r f i n d u n g und metrische T h e o r i e bei K l o p s t o c k . (Studien u n d Q u e l l e n ?ur Versgeschichte. IV. M ü n c h e n 1973.) D i e G e n e s e der lyrischen S t ü c k e des z w a n z i g s t e n G e s a n g s erhielt also wesentliche I m p u l s e aus K l o p s t o c k s O d e n s c h a f f e n . ( V g l . K . H i l l i a r d : K l o p s t o c k in den J a h r e n 1764 bis 1770: M e t r i s c h e E r f i n d u n g u n d die W i e d e r g e b u r t der D i c h t u n g aus d e m Geiste des E i s l a u f s . In: J a h r b u c h der D e u t s c h e n Schillergesellschaft 33, 1989, S. 1 4 5 - 1 8 4 . )

4

D i e B e g n a d i g u n g des r e u i g e n Teufels A b b a d o n a i m Weltgericht, X I X 9 1 - 2 3 5 . D i e vorzeitige A u s a r b e i t u n g w u r d e mitveranlaßt durch die D i s k u s s i o n , die die erste F o l g e der A b b a d o n a - E p i s o d e , II 6 2 7 - 8 3 0 , in den erstveröffentlichten G e s ä n g e n des „ M e s s i a s " , I—III (vgl. A n m . 35), 1748 a u s g e l ö s t hatte.

Paradise Lost" und

„Messias"

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der Abfassung einzelner Darstellungen; auch sie entstanden oft ohne Rücksicht auf die spätere Textfolge in kleinen und kleinsten Abschnitten. 5 Der Episode vom Weltgericht widmete sich Klopstock Anfang 1751 für eine Zeit von mehr als zwei Jahren 6 und arbeitete „ein grosses Stück" 7 davon in unzusammenhängenden Teilen aus. Infolgedessen schließen mehrere Weltgerichtsszenen textgenetisch unmittelbar an den vierten und fünften Gesang an, welche im Januar 1751 für den Druck fertig geworden waren. 8 Von den so lange vor ihrer Veröffentlichung ausgearbeiteten Teilfassungen sind nicht alle in ihrer ursprünglichen Textgestalt überliefert; die vorhandenen 9 aber sind aufschlußreich, nicht zuletzt weil sie ursprüngliche Konzepte Klopstocks zu erkennen geben, die den publizierten Fassungen nicht mehr zu Grunde liegen und nur mit Hilfe von Varianten erschlossen werden können. Ein solcher Befund ist bei der Varianz von Vers XVIII 34 festzustellen - in der ursprünglichen Fassung besteht die Textstelle aus zwei Versen, XVIII34-34.1 H32. 1 0 Sie ist durch einen Brief vom 13. Juli 1751 überliefert, in dem Klopstock einen Ausschnitt der Einführung in die Episode vom Weltgericht, XVIII15-34, zitiert hat. 1 1 Über die Darstellung des Weltgerichts dachte Klopstock schon während seiner Portenser Schulzeit intensiv nach. Er erinnerte sich im Alter, daß ihn die Vorstellungen davon selbst im Schlaf beschäftigt hätten und daß das Bild der um Gnade für die Menschen flehenden Menschenmutter Eva, XIX 2-8, auf einen Traum zurückginge. 12 Wie er die endzeitliche Episode in das Epos integrieren wollte, erklärte Klopstock Bodmer bereits am 2. Dezember 1748: Das Weltgericht wird auf diese Weise in den Mfessias] eingetragen. Adam ist mit unter den auferstehenden Heiligen. Der wird sich beym Messias sehr genau nach den Schicksa-

5

6

7

8 9

10 11 12

Im „Arbeitstagebuch" finden sich Entstehungsvermerke zum zehnten und elften Gesang. Zur sprunghaften Ausarbeitung vgl. besonders die Einträge vom 15.2.-18.3.1756 (HKA, Addenda II, vgl. Anm. 2, S. 44/45). - Vgl. auch Meta Klopstock an S. Richardson, 6.5.1758 (Meta Klopstock geborene Moller. Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden. Hrsg. von H.Tiemann. Hamburg 1956, S. 663). Das geht aus Klopstocks Korrespondenzen hervor, vgl. Klopstock an Gleim, 13.1.1751 (HKA, Briefe II: 1751-1752. Hrsg. von R.Schmidt. Berlin 1985, Nr. 4,39/40); Klopstock an J.A.Cramer, 19.12.1752 (HKA, a.a.O., Nr. 183,19/20); Klopstock an Bodmer, 24.3.1753 (HKA, Briefe III: 1753-1758. Hrsg. von H.Riege und R.Schmidt. Berlin 1988, Nr. 3,133-135). Klopstock an Bodmer, 24.3.1753 (HKA, Briefe III, vgl. Anm. 6, Nr. 3,134). - Vgl. auch Klopstock an A.C.Ambrosius, 30. od. 31.10.1767 (HKA, Briefe V: 1767-1772. Hrsg. von K.Hurlebusch. Bd. 1. Berlin 1989, Nr. 26,19/20). Klopstock an Gleim, 13.1.1751 (HKA, Briefe II, vgl. Anm. 6, Nr. 4,39/40). XVIII15-34 H32, 722-845 H30, 619-638 D9; XIX 91-235 h34. Zu den Siglen und zur Varianz vgl. HKA, Werke IV, Bd. 5.2 (vgl. Anm. 1), S. 849-851, 884-898, 878-881, 905-926 (Variantenverzeichnis) und S. 1039,1043 (Übersicht über die Zeugen). HKA, Werke IV, Bd. 5.2, vgl. Anm. 1, S. 851. An Gleim (HKA, Briefe II, vgl. Anm. 6, Nr. 55,29-50). Vgl. Klopstock an Heimbach, 20.3.1800 (F.G.Klopstock. Sämmtliche sprachwissenschaftliche und ästhetische Schriften, nebst den übrigen bis jetzt noch ungesammelten Abhandlungen, Gedichten und Briefen. Hrsg. von A.L.Back und A.R.Spindler. Bd. 6. Leipzig 1830, S. 288).

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len seines G e s c h l e c h t s e r k u n d i g e n , u a u f sein A n h a l t e n ein G e s i c h t v o m W e l t g e r i c h t e sehen.13 Dieses K o n z e p t scheint in d e n 1773 e r s t v e r ö f f e n t l i c h t e n E i n g a n g s v e r s e n ,

XVIII

1 - 1 4 A 3 - e i n e f r ü h e r e F a s s u n g l i e g t n i c h t v o r —, z i e m l i c h g e n a u e i n g e h a l t e n : A d a m sank zu d e n F ü ß e n des M i t t l e r s nieder, u n d fleht' i h m : H a b ' ich G n a d e v o r dir g e f u n d e n ; so laß, ο Messias, E i n i g e B l i c k e m i c h t h u n in die F o l g e n deiner V e r s ö h n u n g . A d a m , i m W e l t g e r i c h t e v o l l e n d ' ich es Alles. E n t f e r n e D i c h in j e n e S c h a t t e n d e r C e d e r n . D u sollst v o n der T a g e L e t z t e m d o r t d e r m i l d e r e n S c h i m m e r einige sehen. A d a m g i e n g in die Schatten der C e d e r n , u n d S c h l u m m e r , w i e e h m a l s In d e m r u h i g e n S c h o o ß e des Paradieses, befiel ihn, U n d er sah ein Gesicht.

( X V I I I 1 - 9 A3)

Seine V i s i o n e n w i r d A d a m d e n E n g e l n u n d a u f e r w e c k t e n H e i l i g e n , die bis z u r Himmelfahrt auf d e m Berg Tabor u m den auferstandenen Messias

versammelt

sind, e r z ä h l e n ( X V I I I 9 - 1 4 ) . D i e Szenen, die er schaut, sind n u r A u s s c h n i t t e des l a n g w ä h r e n d e n l e t z t e n G e r i c h t s ; sie w e r d e n u n t e r b r o c h e n v o n u n d e u t l i c h e n , n i c h t zu klärenden W a h r n e h m u n g e n : 1 4 J e z o w a r d m e i n Gesicht zu d u n k e l n Gestalten, die

fliehend

K a m e n , u n d fliehend v e r s c h w a n d e n . N u n h ö r t ' ich D o n n e r , n u n H a r f e n Jezt die S t i m m e d e r R u f e r a m T h r o n ; d o c h der S t i m m e G e d a n k e n K ö n n t ' ich n i c h t fassen: [ . . . ] E n d l i c h w a r e n v o r m i r die b e w ö l k t e n E r s c h e i n u n g e n alle W e g g e s u n k e n , u n d sieh, ich sähe w i e d e r Gesichte. F ü r das K o n z e p t der Visionen A d a m s enthält M i l t o n s

( X V I I I 4 7 7 - 4 9 2 A3) „Paradise Lost"15

eine

V o r g a b e : 1 6 U n m i t t e l b a r b e v o r A d a m E d e n verlassen m u ß , w e r d e n i h m in B i l d e r n

13

14 15

16

An Bodmer, 2.12.1748 (HKA, Briefe I: 1738-1750. Hrsg. von H.Gronemeyer. Berlin 1979, Nr. 19,166-170). Vgl. außer der zitierten Textstelle die ähnlich lautende XVIII 707-721 sowie XIX 236-239. John Milton. Paradise Lost. Book XI. XII. - Klopstock kannte Miltons Epos nur durch Obersetzungen; ein nachhaltiger Eindruck ging von Bodmers Obersetzung aus - soweit zu sehen ist, der von 1742; vgl. Johann Miltons Episches Gedichte von dem verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerischen Obersetzung von 1742. (Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) Stuttgart 1965. Z u m Vergleich wird diese Übersetzung herangezogen und nicht das Original, das Klopstock nie gelesen hat. Darauf wies zuerst R.Boxberger hin (Klopstock's Werke. Th.4. Der Messias. Hrsg. von R. Boxberger.Th.4. Berlin [1879], S. 53), später u.a. R.Hamel (Klopstocks Werke. T.2. Der Messias. Hrsg. von R.Hamel. Bd. 2. (Deutsche National-Litteratur. 46.) Berlin [1884ff.], S. 342) sowie F.Muncker (F.M.: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888, S. 123). G.Kaiser wendet sich aus interpretatorischen Gründen dagegen, daß Klopstocks Darstellung „fälschlich „ mit derjenigen Miltons „in Parallele gesetzt worden ist" (G.K.: Klopstock. Religion und Dichtung. 2. Aufl. Kronberg/Ts. 1975, S. 232), wodurch die Feststellung einer , Vorgabe' Miltons indessen nicht widerlegt ist.

,Paradise Lost" und

„Messias"

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und Szenen die künftigen Geschicke des von ihm abstammenden Menschengeschlechts bis zur Sündflut gezeigt. 1 7 Über die folgenden Zeiten wird er durch Erzählung belehrt und am Ende mit der Aussicht getröstet, daß die Sünde, derentwegen er Eden verlassen muß und die bis zum Ende der Zeit fortgezeugt wird, auf der Erde gesühnt werde durch die Heilstat, 1 8 die der Messias einst im Himmel beschloß, als Satan sich Eden näherte und Gott die Unabwendbarkeit des Sündenfalls der ersten Menschen erkannte. 1 9 Diese Heilstat, „der sündigen M e n schen Erlösung" (Messias, 11), steht nun - in Klopstocks Epos - unmittelbar vor ihrer Vollendung, und Adam, zur Ewigkeit umgeschaffen und mit einem unsterblichen Leib bekleidet, 2 0 soll wieder Zukünftiges schauen, diesmal im Ausblick auf die endzeitlichen Geschicke seines Geschlechts, die von Milton nur gestreift, nicht aber geschildert werden, weil sie für den sterblichen Adam unfaßlich sind: „Was weiter hinaus ist, ist lauter Abgrund, ist Ewigkeit, derer Ende kein Auge sehen kan", sagt Miltons Adam; „ich habe nun der Wissenschaft satt bekommen, mehr könnte dieser irdische Cörper nicht fassen". 2 1 A u f die enge Verknüpfung des „Messias" mit „Paradise L o s t " an dieser Stelle weist Klopstock nur durch das unauffällige „wie ehmals/ In dem ruhigen Schooße des Paradieses" ( X V I I I 7/8) hin. Derart unscheinbare, aber bedeutungsvolle A n spielungen auf Schilderungen Miltons kommen in den ersten Gesängen des „Messias" öfter vor, beispielsweise in Form der Rückbesinnung des betenden Messias, 184-137, auf Gespräche im Himmel, die von Milton breit ausgeführt sind, 2 2 „damals,/ Da wir die Reihe der Zeiten durchschauten" und als „wir damals,/ D u mein Vater, und ich, und der Geist die Erlösung beschlossen" (I 8 7 - 9 1 A l ) ; oder bei der Einführung des Teufels Abbadona als früheren Freund Seraph Abdiels, der „am Tage des Aufruhrs,/ Nach dem Messias, im Himmel die größtenThaten vollführte" (II 6 3 3 - 6 3 6 A l ) , welche beim Rezipienten als bekannt durch Milton und „Paradise L o s t " 2 3 vorausgesetzt werden. Georg Friedrich Meier postulierte in seiner „Beurtheilung" des „Messias" von 1752, daß, wer Abbadonas Reminiszenz an den sieghaften Messias im Himmel angesichts des leidenden in Gethsemane, V 6 0 8 - 6 1 5 , „recht" zu verstehen wünsche, „der muß Miltons verlohrnes Paradies gelesen haben." 2 4 Die Schilderung der Visionen vom Weltgericht hat Klopstock Adam in den Mund gelegt; so war es offensichtlich immer vorgesehen, denn eine Niederschrift des „Gerichts über die bösen Könige", X V I I I 7 2 2 - 8 4 5 , von 1751 trägt den erläu-

17 18 19 20 21 22 23 24

Miltons Episches Gedichte, vgl. A n m . 15, S. 5 1 5 - 5 4 1 . Miltons Episches Gedichte, vgl. A n m . 15, S. 5 6 1 - 5 6 4 . B o o k III. - Miltons Episches Gedichte, vgl. A n m . 15, S. 117-119. Vgl. Messias, X I 2 3 7 - 2 4 0 . Miltons Episches Gedichte, vgl. A n m . 15, S. 568/569. Miltons Episches Gedichte, vgl. A n m . 15, S. 1 1 0 - 1 2 2 . Paradise Lost. B o o k V. - Miltons Episches Gedichte, vgl. A n m . 15, S. 2 4 8 - 2 5 3 . G . F . M e i e r . Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Z w e y t e s Stück. Halle 1752, S. 150.

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ternden Zusatz: „Adam, der das Gesicht gesehen hat, redet". 2 5 Der Dichter faßt in Worte, was ihm die heilige Muse durch Adams Visionen vom Weltgericht vorstellt - „jenen furchtbaren Tag, den die Sionitin / Jetzo stammelnd besingt", heißt es in einer Ode von 1751.26 Diese Vermittlung entspricht ebenfalls Klopstocks ursprünglichem Konzept, wie der Textvergleich der frühen und der späteren Fassungen des Abschnitts XVIII 15-29 zeigt. 27 Gleichwohl muß Klopstock bis 1751 den Rahmen der Weltgerichtsszenen abweichend von den überlieferten Fassungen gestaltet oder konzipiert haben; anders ist die Variante XVIII 34-34.1 H32 nicht erklärbar. Das ganze Textstück, XVIII 15-34, enthält die Rechenschaft des Berichterstatters, wie ihm die heilige Muse Adams Visionen vermittelt habe. Die „Prophetinn" oder „Sionitinn" sei ihm „am Tage des Herrn" erschienen: U n d sie sang mir Adams Gesicht.

(XVIII20)

Er gewahrte zunächst Zeichen des Schreckens und großer Erschütterung an ihr, dann aber ergriff Begeisterung sie: [...] mit hundert Flügeln geflügelt, mit Schwingen des Sturmes, Stiegen die Erstgebohrnen der Seele, die wahrsten Gedanken Auf zu Gott. (XVIII27-29 A3)

In diesen Versen wie auch in den anschließenden, die des Dichters Betroffenheit im Gefühl seiner Endlichkeit ausdrücken, XVIII 30-32, gibt es zwischen der ursprünglichen und den späteren Fassungen zwar Abweichungen des Textes; doch erst bei dem Eingeständnis, dem Dichter sei durch die Muse nur ein Bruchteil der vollen Erkenntnis zuteil geworden und davon könne wiederum nur ein Bruchteil zu Wort kommen, sind die gedruckten Fassungen nicht nur um einen Vers verkürzt, sondern auch im Konzept modifiziert: [... ] was ich vermag, das will ich euch singen. Tausend Gedanken erflog mein Geist nicht; zu tausenden fehlt mir Stimm' und Gesang; und tausendmal tausend verbarg sie dem Hörer. (XVIII32-34 A3)

Der durch diese Verse ersetzte Text der ursprünglichen Fassung bezieht sich bei einer ähnlichen Staffelung der vermittelten, der vermittelbaren und der verborgenen endzeitlichen Erkenntnis auf einen weiteren Geber und einen weiteren Empfänger von „Gedanken". Zwischen diesen beiden und nicht zwischen dem Dichter und der heiligen Muse ist die Grenze des nicht vermittelten Wissens um die letzten Dinge gezogen: 25

26

27

Zu H30. - Hs.: Das Gleimhaus Halberstadt. - Vgl. HKA, Briefe II, vgl. Anrn. 6, S. 328: Abschnitt „Überlieferung" zu Nr. 54. F.G.Klopstocks Oden. Hrsg. von F. Muncker und J.Pawel. Bd. 1. Stuttgart 1889, S. 88/89: „Friedrich der Fünfte. An Bernstorff, und Moltke." Das Zitat S. 89. HKA, Werke IV, vgl. Anm. 1, Bd. 5.2, S. 849-851.

,Paradise Lost" und

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„Messias"

Tausend Gedanken erflog mein Geist nicht. Zu Tausenden fehlt mir Stimm' und Gesang, sie mit Namen zu nennen! Und Tausendmal Tausend Sind dem Seraph auf Tabor von dem, der seyn wird, verborgen. (XVIII 3 2 - 3 4 . 1 H32)

Über den „Seraph auf Tabor" und seine Funktion geben die überlieferten Fassungen der Einführung in das Weltgericht keinen Aufschluß. Der, „der seyn wird", ist durch den biblischen Ursprung und den Gebrauch dieser Bezeichnung im „Messias" 28 für Gott - Vater, Sohn und Geist - gedeutet; zieht man das Bodmer 1748 mitgeteilte Konzept hinzu, so steht die Bezeichnung hier für den Messias. Man darf „auf Tabor" wohl als einfache topographische Bestimmung nehmen; dem ursprünglichen Konzept nach hätte der Seraph sich also auf dem Berg befunden, auf dem Jesus nach der Tradition als Gottes Sohn verklärt wurde 2 9 und der im „Messias" dem vom Tod auferstandenen Christus bis zur Himmelfahrt als „Thron auf der Erd" (XVI16) dient, wo er ein erstes Gericht hält. Er ist umgeben von Engeln, von den Seelen jüngst Verstorbener und den bereits zum ewigen Leben erweckten Vätern und Heiligen, darunter Adam und Eva; sie alle werden mit dem Messias zum Thron Gottes im Himmel aufsteigen. Auf Tabor werden dem Seraph Einsichten zuteil, so ist aus Vers XVIII 34.1 H32 zu verstehen, deren Maß und Grenzen Christus selbst bestimmt. Dieser Umriß des ursprünglichen Konzepts deckt sich weitgehend mit den Bedingungen, unter denen Adam „ehmals" im Paradiese Zukünftiges schaute: Nach dem Sündenfall der ersten Menschen, so schildert es Milton im elften Buch, wird Erzengel Michael von Gott beauftragt, Adam und Eva aus Eden zu vertreiben; doch vorher, so befiehlt Gott, „eröffne dem Adam, was in den künftigen Tagen gesehen soll". 30 Der Anweisung folgend, „stiegen beyde", Michael und Adam, „auf den Berg, göttliche Gesichter zu sehen. Es war ein Berg in dem Paradiese, der höchste" 3 1 - so wie „vor allen Bergen Judäa's Tabor hervorragt" (Messias, IV 718). Michael präpariert Adams Augen; der sinkt, bevor er die Augen zum Schauen zukünftiger Geschehnisse öffnet, in Schlaf 32 - wie auf Tabor (Messias, XVIII 7/8). Michael ergänzt, erläutert oder erörtert die Visionen in fortlaufendem Gespräch mit Adam — was schwerlich im „Messias" vorstellbar ist — und bereitet ihn mit Ratschlägen für ein richtiges Verhalten in der ihm künftig zugewiesenen außerparadiesischen Welt vor. 3 3 Indessen schaut und redet Michael wie der „Seraph auf Tabor" (Messias, XVIII 34.1 H32) - nicht aus eigener

28 29 30 31 32 33

Vgl. z.B. Messias, 1246. Z u m biblischen Ursprung vgl. Off. 1,4; 4,8; 6,5sowie2.Mos. 3,14. Matth. 17,1-6. Miltons Episches Gedichte, vgl. Anm. 15, S. 500/501. Miltons Episches Gedichte, vgl. Anm. 15, S. 515. Miltons Episches Gedichte, vgl. Anm. 15, S. 517/518. Miltons Episches Gedichte, vgl. Anm. 15, S. 519-541.

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Erkenntnis; vielmehr wies Gott ihn an, Adam Zukünftiges so weit zu eröffnen, „wie ich dich durch meinen Geist erleuchten werde." 3 4 Die Variante von XVIII 34-34.1 H32 gibt zu erkennen, daß sich Klopstock bis mindestens 1751 der Vorgabe Miltons enger anschließen und den Rahmen der Visionen Adams in genauerer Analogie zu Miltons Darstellung gestalten wollte, als es später geschah. Als er die Episode vom Weltgericht endgültig ausarbeitete, bestand dieses Konzept nicht mehr; der terminus ad quem liegt im Jahr 1772, als Klopstock den „Messias" textlich abschloß, die Modifikation des Konzepts mag sich aber wesentlich früher ergeben haben. Das nicht anders als durch die eine Variante bezeugte Konzept für den Eingang der Weltgerichtsepisode von 1751 bestätigt das anfänglich programmatische Bemühen Klopstocks um eine Verknüpfung seines Epos mit „Paradise Lost", das insbesondere die ersten beiden, zuerst 1748 gedruckten Gesänge des „Messias" 35 zeigen und das später nicht mehr zur Geltung kommt, auch von Klopstock nie mehr geltend gemacht worden ist. Nur einmal hat er seine diesbezügliche Absicht begründet, 1747, innerhalb der frühesten überlieferten Niederschrift einer Teilfassung des zweiten Gesangs, II 1-16/55-351/618-830 H2. 3 6 Der Zeuge enthält mit einer Textlücke - die Höllendarstellung, II 274-830. Klopstock überbrückte die Textlücke im Manuskript durch eine Inhaltsangabe des an dieser Stelle vorgesehenen Textes, II 352-617: Hier folgen noch einige Charaktere der gefallenen Engel [...] Femer fehlt hier die Rede Satans, in welcher er seine Vorstellungen die er sich vom Messias macht, u seinen Entschlus, ihn zu tödten, eröfnet. Dies ist noch nicht ausgearbeitet

Zugleich machte Klopstock Bodmer, dem wegweisenden Dichtungstheoretiker, für den das Manuskript bestimmt war, seine Zielsetzung bekannt: Hier folgen noch einige Charaktere der gefallenen Engel, die, wie etwa Homer die Sagen von Göttern angenommen, aus Milton genommen werden. Dies geschieht hauptsächlich deswegen, damit nach u nach, so zu reden, eine christliche Mythologie eingefürt werde.

Den gleichen Zweck dürfte Klopstock bei der Übernahme einiger Engel Miltons und ihrer Funktionen im ersten sowie dritten Gesang verfolgt haben, 3 7 und in diesem Zusammenhang ist auch sein Konzept zu sehen, bei der Tradierung der

34 35

36 37

Miltons Episches Gedichte, vgl. Anm. 15, S. 501. Der Messias. In: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. Bd. 4. St. 4/5. Bremen und Leipzig 1748, S. 243-378. - Vgl. F. G. Klopstock: Der Messias. Gesang I—III. Text des Erstdrucks von 1748. Studienausgabe. Hrsg. von E.Höpker-Herberg. Stuttgart (Reclam, U B Nr. 721) 1986. HKA, Werke IV, vgl. Anm. 1, Bd. 4, S. 132-292. - Hs.: Zentralbibliothek Zürich. Uriel und Gabriel sowie in der Fassung von 1748 der Schutzgeist, I 202.1-7 A l ; im dritten Gesang Raphael und Ithuriel und die übrigen Schutzengel der Menschen. Vgl. Messias, Gesang I—III, vgl. Anm. 35, S. 211-221: Register.

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,Paradise Lost" und „Messias"

Visionen Adams mit dem „Seraph a u f T a b o r " die Funktion des Erzengels Michael aufzunehmen. Aus dem Wortlaut der zitierten Erklärung kann geschlossen werden, daß Klopstock nicht unbeeinflußt war von Georg Friedrich Meiers 1746 erschienenen „Untersuchung der Frage: O b in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen?" 3 8 Meier kam unter anderem zu dem Ergebnis, daß m a n a u f eine v e r n ü n f t i g e u n d m ä n n l i c h e A r t d e n A l t e n n a c h f o l g t , nicht w e n n m a n den M a r s , die V e n u s , den A p o l l o u . s . w . in e i n e m e p i s c h e n G e d i c h t e a u f f ü h r e t , s o n d e r n [ . . . ] die E n g e l u n d T e u f e l a u f t r e t e n läßt. T a s s o , M i l t o n u n d V o l t a i r e h a b e n einen A n f a n g d a z u g e m a c h t . U n d s o l l t e n sie a u c h nicht d u r c h g e h e n d s u n t a d e l h a f t in d i e s e m S t ü c k e seyn, s o h a b e n sie d o c h die B a h n g e b r o c h e n , u n d es k o m m t n u r d a r a u f an, daß j e m a n d , w e n n ich s o reden soll, eine C h r i s t l i c h e M y t h o l o g i e ,

eine C h r i s t l i c h e G ö t t e r l e h r e ,

einführe, die a u s g e a r b e i t e t g e n u g , u n d d e m j e n i g e n g e m ä ß ist, w a s ich g e s a g t h a b e . 3 9

Die gleichen Kriterien wandte Meier zwei Jahre später zum Lob der Messiade an, so sehr fand er seine Erwartung 1748 durch Klopstock erfüllt. 4 0 Klopstock unterzog sich der speziellen Aufgabe bei Ausarbeitung der Höllendarstellung in einer beachtenswerten Abfolge. Wie das Überlieferungsmaterial ausweist, hat er zuerst Miltons Pandämonium um zwei extreme und einander entgegengesetzte Teufel erweitert, Adramelech, „der Satans Charakter zu übersteigen drohet", 4 1 und den reuevollen Abbadona. Abbadonas Geschichte in Klopstocks Höllendarstellung verläuft wie die des standhaften Seraphen Abdiel in Miltons Darstellung von Satans Aufruhr im Himmel, und am Ende führt Klopstock den gefallenen Seraph zu der Seligkeit seines ungefallenen Freundes zurück. So hat Klopstock mit der Erfindung Abbadonas durchaus „auf Miltons Grund gebauet"; 4 2 trotzdem stellte er sich gerade hiermit ganz entschieden außerhalb von „Paradise L o s t " , 4 3 denn Abbadonas Geschichte bekundet die unorthodoxe, Milton ganz fernliegende Uberzeugung Klopstocks, die Ewigkeit der Höllenstrafen sei nicht anzunehmen. 4 4

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42 43 44

In: Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache. St. 15. Greifswald 1746, S. 179-200. Meier 1746, vgl. Anm. 38, S. 197/198. G.F.Meier. Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück. Zweyte Aufl. Halle 1752, S. 10. - Vgl. auch E. Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G.F.Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911, S. 193. Bodmer an Gleim, 12.9.1747 (Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hrsg. von Wilhelm Körte. Zürich 1804, S. 66). Bodmer an L.Zellweger, 31.5.1747 (Hs.: Zentralbibliothek Zürich). Siehe auch Kaiser 1975, vgl. Anm. 16, S. 63. Vgl. die späten Stellungnahmen Klopstocks im Brief an C . F . C r a m e r vom 11.1.1791 (Briefe von und an Klopstock. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Hrsg. von M.Lappenberg. Braunschweig 1867, S. 337) und im Gespräch mit Böttiger ( C . A . B . : Klopstock, im Sommer 1795. Ein Bruchstück aus meinem Tagebuche. In: Minerva 6, 1814, S. 345).

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Erst nachdem er mit den Erfindungen Adramelechs und Abbadonas gegenüber Vorgaben Miltons frei geschaltet hatte, verfaßte Klopstock die fulminante Rede Satans, II 428-617, die, trotz verschiedener wichtiger Rückgriffe auf „Paradise Lost", 4 5 weitgehend unabhängig behandelt werden konnte; zuletzt schrieb er die „Charaktere der gefallenen Engel, die [ . . . ] aus Milton genommen" sind, II 352-415. Die relative Chronologie der drei Teilfassungen weist Klopstocks programmatisches Interesse an der Fundierung einer christlichen Mythologie durch unmittelbare Übernahmen aus „Paradise Lost" als nachrangig aus; nach 1751 verliert es sich und ist schließlich nur noch in verstreuten Materialien und in einem textgenetischen Detail wie der Variante XVIII 34.1 H32 aufbewahrt.

Rückgriffe auf die Veranlassung des Aufruhrs im Himmel, II 555-557, den drei Tage dauernden Kampf der Engel, II 428-430, und dessen siegreiche Beendigung durch den Messias, II 569-571, die Milton ausfuhrlich dargestellt hat, vgl. Miltons Episches Gedichte, vgl. Anm. 15, S. 235-238, 254-296 und 296-298.

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Ideale und reale Bedingungen für Editionen und die geplante Fortführung der Herder-Briefausgabe

Ist es möglich und empfehlenswert, eine Normierung der Form zu praktizieren ohne Rücksicht auf ihren jeweiligen Inhalt? Diese provokatorische Fragestellung führt sich selbst ad absurdum, doch mit der in letzter Zeit zu beobachtenden Tendenz der Textologie, sich als eine selbständige Wissenschaft zu begreifen, könnte vielleicht die Gefahr entstehen, über allen dankenswerten Normierungsvorschlägen, 1 die ja eine methodische Hilfe für die Editoren sein sollen, die Spezifik der einzelnen Editionen zu vergessen. Eine von der ,reinen' Textologie angestrebte Normierung der Editionstypen stände im Widerspruch zu den geschichtlich gewachsenen Besonderheiten und spezifischen Entstehungsbedingungen der Editionen. Das gilt insbesondere für historisch-kritische Gesamtausgaben, deren Erarbeitung sich notwendigerweise über große Zeiträume erstreckt und große materielle Voraussetzungen erfordert.Ihr Erscheinungsbild ist Ausdruck ihres historischen Wachstums. Nicht allein die von Editor und Verleger für eine Ausgabe als verbindliche N o r m vereinbarten Editionsgrundsätze sind der Ausgangspunkt, sondern auch eine vorgefundene Tradition, Vorbilder oder Muster, finanzielle, technische und nicht zuletzt personelle Möglichkeiten, oft genug auch Zufälle. Der jeweilige Forschungsstand ist abhängig von Hochschulpolitik und Wissenschaftsorganisation, Traditionsbewußtsein und Erbepflege. Normierungsvorschläge erwecken zumindest den Anschein, einen Idealzustand als gegeben vorauszusetzen. Wenn die vorgefundenen Bedingungen und die daraus resultierenden Entwicklungen keinem editorischen Idealzustand entsprechen, muß um der Sache willen versucht werden, das Beste daraus zu machen, anstatt sich bei bloßer Kritik aufzuhalten. Der Idealzustand bei Beginn der editorischen Erschließung eines Briefceuvres würde m. E. in der Erfüllung folgender Voraussetzungen bestehen: 1) Die Fundorte aller überlieferten handschriftlichen Quellen sind bekannt und stehen uneingeschränkter Benutzung offen. Private Eigentümer melden sich auf Umfragen in Fachzeitschriften. Zwischen Herausgeber und Besitzern der Briefe gibt es verläßliche Kooperationsbeziehungen. Der Herausgeber bzw. Bearbeiter 1

Vgl. Bernd Rüdiger: Vorschläge für die Gestaltung von Editionen neuzeitlicher Quellen. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 14,1987, S. 336-346; Winfried Woesler: Vorschläge fur eine N o r mierung von Briefeditionen. In: editio 2,1988, S. 8-18.

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der Edition ist nicht durch Restriktionen eines totalitären Regimes oder durch Geldmangel oder aus beiden Gründen verhindert, auf Reisen die Originale selbst zu transkribieren und an Ort und Stelle nach weiteren Materialien zu suchen. 2) Sowohl für die Leitung als auch für die Mitarbeit an der Ausgabe stehen Spezialisten zur Verfügung, die sich nicht nur durch umfassende und tiefgründige Kenntnisse über den in Rede stehenden Autor und seine Zeit für diese Aufgabe qualifizieren, sondern auch Erfahrung in editorischer Arbeit haben. Eine umfassende geistesgeschichtliche Bildung und die Beherrschung alter und neuerer Sprachen nach den jeweiligen Erfordernissen müßte als Selbstverständlichkeit gelten. 3) Von Anfang an kann für Text- und Registererarbeitung die moderne Computertechnik eingesetzt werden, was in der Folge viele mechanische Arbeitsgänge überflüssig macht und das Erscheinen der Ausgabe beschleunigt. Wie verhält es sich aber demgegenüber in der Realität? Der Verfasser dieser Zeilen kann nur von seinen eigenen Erfahrungen ausgehen, möchte diese gewiß nicht unzulässig verallgemeinern, ist aber fest überzeugt, daß sie anderen Editoren nicht ganz unbekannt sein werden: Zu 1) Die Fundorte aller überlieferten Quellen sind durchaus nicht bekannt. Wo sie von früher bekannt waren, sind infolge des II. Weltkrieges nicht nur große Verluste eingetreten, sondern auch Standortverlagerungen in Form von - der Öffentlichkeit verschwiegener - Kriegsbeute in Ost und West. Wenn der Forschung davon etwas bekannt wird, ist es meist das Verdienst einzelner mutiger Journalisten oder Gelehrter, nicht der zuständigen staatlichen Dienststellen, die solche ,heiße Eisen' nicht gern berühren. 2 Suchmeldungen in Zeitschriften finden in den seltensten Fällen irgendeine Resonanz. Private Besitzer von Handschriften bleiben meist anonym und sind nur selten großzügig genug, der Forschung Kopien ihrer Cimelien zur Verfügung zu stellen, da diese als - ihren Besitzer oft wechselnde - Kapitalanlagen durch eine Veröffentlichung an Wert verlieren und bei der nächsten Autographenauktion weniger Gewinn erzielen. Auf sachdienliche Zusammenarbeit läßt sich am ehesten bei staatlichen Bibliotheken und Archiven hoffen und auch hier nicht mit Selbstverständlichkeit, weil jede Institution zunächst primär an ihren eigenen Projekten interessiert ist. Die Bereitstellung finanzieller Mittel ist sicher in allen Ländern von Fall zu Fall unterschiedlich; die 2

Die Bemühungen zur Erarbeitung von Band 9 der Herder-Briefe mit den Nachträgen, Ergänzungen und Korrekturen aus dem in der Krakauer Universitätsbibliothek überlieferten Grüssauer Depot der Preußischen Staatsbibliothek sind nur durch Informationen polnischer Kollegen angeregt worden. Anfragen an die vorgesetzte staatliche Dienststelle im Ministerium für Kultur nach der Existenz der Handschriften in Krakow wurden mit dem Bescheid abgetan, es handle sich wohl um „grundlose Gerüchte, verleumderische Hetze des Klassenfeindes gegen ein sozialistisches Bruderland"; wenn etwas daran wäre, würden sich „die Genossen in der Regierung" zu gegebener Zeit selbst darum kümmern. Der verantwortliche Besitzer, die Leitung der Deutschen Staatsbibliothek Unter den Linden, hatte wider besseres Wissen Anfang der sechziger Jahre erklären müssen, das Grüssauer Depot sei infolge von Kriegshandlungen verbrannt. Vgl. die wegen der ministeriellen Zensur vorsichtige Formulierung des Sachverhalts in Herder-Briefe, Bd. 7, S. 20.

Ideale und reale Bedingungen für

Editionen

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politischen Restriktionen, die an falscher Stelle vorgewandten Sparmaßnahmen und ein administrativ-bürokratisches Genehmigungswesen für Auslandsdienstreisen und Publikationen im Ausland 3 haben die wissenschaftliche Editions- und Forschungsarbeit in den Ländern des ehemals ,real existierenden Sozialismus' mehr als erschwert, so daß die trotz dieser beabsichtigten Behinderungen auf manchen Gebieten vollbrachten Leistungen erstaunlich sind. Zu 2) Der personelle Einsatz an Editionen steht in engem Zusammenhang mit vorhandenen Forschungskapazitäten und wissenschaftsorganisatorischen Entscheidungen. Die Begründung und Leitung einer historisch-kritischen Edition durch einen ausgewiesenen Spezialisten sollte sich normalerweise von selbst verstehen. Im Falle der Herder-Briefausgabe aber fand eine Art Stafettenübergabe statt; der als vielseitig gebildeter und weitblickender Wissenschaftsorganisator in Weimar ohne Nachfolger gebliebene, inzwischen selbst verstorbene Leiter der Editionen, Karl-Heinz Hahn, riskierte es, die verantwortungsvolle Aufgabe nach dem Tode Wilhelm Dobbeks im Jahre 1971 einem Neuling in der Herder-Forschung zu übertragen. Auch die editorischen Fertigkeiten mußten in der Praxis der editorischen Arbeit selbst erworben werden, weil zu dieser Zeit die Textologie im germanistischen Universitätsstudium der D D R überhaupt noch nicht existierte. Das rasche Erscheinungstempo der Textbände - es gab noch keine Gesamtausgabe der Briefe Herders, und die Texte sollten möglichst schnell der Forschung zugänglich gemacht werden - und die überwiegend positive Resonanz in der internationalen Fachwelt rechtfertigen vielleicht a posteriori die erwähnte personelle Entscheidung. 4 Freilich war durch das erst allmähliche Hineinwachsen des Bearbeiters in die Materie der bewußte Verzicht auf eine mit der Edition der Texte gleichzeitige Kommentierung bedingt (nach dem Vorbild der Briefe Goethes in der Weimarer Ausgabe), was nur bei wenigen Briefen zu Fehldatierungen und bei einigen kaum lesbaren Stellen der Handschriften zu Errata führte, sich im Grunde heute aber als Vorteil erweist. 5 Denn bei der gravierenden Vernachlässigung geistesgeschichtlichen, christlichen und klassisch-humanistischen (antiken) Bildungsgutes, das als ein dem Bildungsstandard der herrschenden (Arbeiter-)Klasse' nicht zuträglicher, reaktionärer bürgerlicher Ballast verfemt war (kein Latein und Griechisch in den nivellierenden Schulen!), hätten ζ. B. Erläuterungen, die der vorge-

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Für die Veröffentlichung des Briefkommentars über die Seelenwanderungslehre in editio 2 und die meiner Beiträge zu den „Bückeburger Gesprächen über Herder" 1988 und zum 5. Internationalen Hamann-Kolloquium 1988 war die persönliche Genehmigung des damaligen stellvertretenden Kulturministers Klaus Höpcke erforderlich. Ein Blick in die Quellenverzeichnisse der meisten Titel der seit 1977 erschienenen Herder-Literatur zeigt, daß die kontinuierlich der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Brieftexte auch ohne Register und Kommentare schon in breitem Maße von der internationalen Forschung genutzt worden sind. Eine sicher zeitaufwendige Untersuchung würde als Folgeerscheinung der Edition wahrscheinlich eine zunehmende Differenzierung des Herder-Bildes ergeben. Die Textbände enthalten im Anhang jeweils nur Anmerkungen zur Überlieferung und Datierung der Briefe, Angaben zu den Gegenbriefen und textologische Mitteilungen.

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faßten Meinung von Herders weitgehendem Materialismus und angeblich verborgenen atheistischen Tendenzen widersprachen, möglicherweise nicht ohne Schwierigkeiten die Scylla und Charybdis einer fachlich völlig inkompetenten Inland-Druckgenehmigungsstelle im Kulturministerium passiert. Wo mit riesigem Zeit-, Kosten- und Personalaufwand eine vielbändige Literaturgeschichte (unter der Oberleitung Hans-Günther Thalheims) nach vorgefaßten ideologischen Richtlinien und dem Auswahlprinzip der .revolutionären Leistungen der Volksmassen' in Auftrag gegeben wurde, die sich im praktischen Gebrauch als eine kapitale Fehlinvestition erwiesen hat, 6 da mußte man auch bei Editionen mit Zugeständnissen an die sozialistische Erbetheorie rechnen, die sich mit einem Alleinvertretungsanspruch nur der progressiven Traditionen des deutschen Volkes zu bemächtigen suchte, um einer angemaßten Herrschaft die Weihe einer tief in der Vergangenheit wurzelnden Legitimität zu verschaffen. 7 Die „ideologische Ü b e r w ö l b u n g " 8 der wissenschaftlichen Arbeit durch die Erbetheorie haben gerade in bezug auf Herder mehrere in der B R D erschienene Untersuchungen dargelegt, worin - etwas vergröbernd, aber im Prinzip richtig - die Feststellung getroffen wird: Das kulturelle Erbe Herders galt u. a. als politische Legitimation für die Existenz des Sozialismus in der D D R . Unter Berufung auf Herders Humanismus wurde ein revolutionärer Umwälzungsprozeß mit dem Ziel einer sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung in Gang gesetzt. Man fühlte sich gewissermaßen als , Vollstrecker' der bürgerlichen Klassiker und somit auch Herders. 9

In der Öffentlichkeit haben Literaturwissenschaftler und Editoren diese Auffassung unter Umständen auch dann vertreten, wenn sie ihrer Überzeugung widersprach, da nur sie die Bereitstellung von Subventionen für eine Tätigkeit rechtfertigte, die in einer prinzipiell intelligenzfeindlichen Mangelgesellschaft mit vorherrschenden vulgärmaterialistischen Tendenzen von breiten Kreisen als überflüs-

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Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. v o m Kollektiv für Literaturgeschichte. Berlin 1 9 6 1 - 1 9 8 3 . I m V o r w o r t des 1. Bandes (1963), S. V, der bemerkenswerte Satz: „ N a c h d e m die Bourgeoisie jedes Recht veräußert hat, Sachwalter der deutschen Nation zu sein, n i m m t die deutsche Arbeiterklasse als berufener Wahrer und Fortsetzer der besten kulturellen Traditionen das ganze E r b e in ihre O b h u t , um es nach kritischer Aneignung zum Fundament schöpferischer Entwicklungen zu m a c h e n . "

7

V g l . : Die S E D und das kulturelle Erbe. Orientierungen, Errungenschaften, Probleme. Autorenkollektiv der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D . Berlin 1986. - Schon die Titel einschlägiger Veröffentlichungen sind sehr aussagekräftig: z . B . Manfred Buhr, Gerd Irrlitz: D e r Anspruch der Vernunft. D i e klassische bürgerliche deutsche Philosophie als theoretische Quelle des Marxismus. Berlin 1968; Wolfgang Förster: Gesellschaftslehren der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie. Studien zur Vorgeschichte des historischen Materialismus. Berlin 1983.

8

Michael Z a r e m b a : J o h a n n Gottfried Herders humanitäres N a t i o n s - und Volksverständnis. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Berlin (West) 1985 (Studien zur deutschen Vergangenheit und Gegenwart. B d . 1), S. 62.

9

Bernhard B e c k e r : Herder-Rezeption in Deutschland. Eine ideologiekritische Untersuchung. St. Ingbert 1987 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft. B d . 14), S. 209.

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Editionen

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sige .Hobbyforschung' oder ,Glasperlenspiel' angesehen wurde. Für eine sachlich begründete gcistes- und ideengeschichtliche Erschließung des philologisch gesicherten Quellenmaterials ist jetzt eine günstigere Zeit angebrochen, vor allem für die erforderliche wissenschaftliche Kooperation mit Theologen, aber auch für die eigene Horizonterweiterung durch unbegrenzte persönliche wissenschaftliche Kontakte und den leichteren Zugang zur Forschungsliteratur nach Jahrzehnten unproduktiver marxistischer Gleichschaltung, skurriler polizeilicher Ü b e r w a chung und geistiger Bevormundung. Zu 3) Bei der geradezu sprichwörtlichen Rückständigkeit der D D R im Bereich der Technik erübrigt sich der Hinweis, daß die Editionen bei fehlenden Mitteln unter gewissermaßen ,steinzeitlichen' Bedingungen erarbeitet werden mußten. Erst jetzt, nachdem im Laufe vieler Jahre umfangreiche Zettelkataloge angelegt worden sind, k o m m t - für viele Arbeiten zu spät - moderne B ü r o - und C o m p u tertechnik nur zögerlich zum Einsatz. N o c h ist der Ausstattungsgrad der Institutionen mit dieser Technik geringfügig, und nur wenige Mitarbeiter sind bisher hinreichend mit ihr vertraut, so daß also noch die traditionellen Arbeitsmethoden überwiegen. Der Vergleich der idealen Voraussetzungen für eine historisch-kritische G e samtausgabe mit den tatsächlichen Entstehungsbedingungen einer derselben, die hier pars pro toto steht, zeigt, daß den Normierungsbestrebungen in der Praxis Grenzen gesetzt sind. 1 0 U m das unter den jeweils gegebenen Bedingungen M a c h bare zu realisieren, soll im folgenden auf die wichtigsten Monita der wissenschaftlichen Welt an der Herder-Briefausgabe eingegangen werden und auf die laufenden Arbeiten zu ihrer Fortführung, die seit langem geplant und bis ins Detail vorbereitet worden sind. Der wichtigste Einwand in den Rezensionen 1 1 betrifft das Fehlen des K o m m e n tars; von der Notwendigkeit dieser Entscheidung ist oben im Zusammenhang mit den Entstehungsbedingungen die Rede gewesen. Ein schon in den Editionsgrundsätzen im 1. Band angekündigter Registerband ist in Vorbereitung. Er wird ein äußerst detailliertes, nach entstehungsgeschichtlichen Prinzipien untergliedertes Spezialregister .Herders Werke' (Erwähnungen in den Briefen) und im Hauptteil ein kommentierendes Register .Personen und ihre Werke' enthalten, ferner die Register .Periodica und Anonyma', .Namen aus Mythologie und Sagenwelt', ,Bibelstellen' sowie .Geographische Namen' (Städte wie ζ. B . R o m untergliedert nach ihren Behörden, Institutionen, Baudenkmälern, Museen und anonymen Kunstwerken). Da der Versuch, ein Sachregister anzulegen, auf eine Art Wortindex hinauslief, wozu jedoch damals die technischen Voraussetzungen nicht gege10

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Es ist hier nur von den entstehungsgeschichtlichen Bedingungen einer Edition die Rede gewesen. Einwände gegen Normierungsversuche würden sich aber auch aus der inneren Spezifik i m CEuvre der verschiedenen Autoren ergeben, was hier nicht näher ausgeführt werden kann. Vgl. E . J . E n g e l in: Philosophy and H i s t o r y 12, 1979, N r . 1, S. 24; 13,1980, N r . 2, S. 146; 15, 1982, N r . 1, S. 13.

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ben waren, ist beabsichtigt, ein knappes Sach- und Begriffsregister (als Schlagwort-, nicht Stichwortregister) erst im Anschluß an die Kommentarbände zu erarbeiten, die unter Zuhilfenahme des Personen- und Werkregisters die literaturgeschichtlichen, philosophiegeschichtlichen, ästhetischen und theologischen Probleme sowie biographische und kulturgeschichtliche Bezüge erhellen und Platz bieten sollen für umfangreichere bibliographische Erläuterungen, 1 2 Übersetzungen und Verifizierung von Zitaten. Verweise in den einzelnen Registern sollen den künftigen Kommentar weitgehend entlasten, wie das auch jetzt schon in den Briefbänden durch die Anmerkungen zur Datierung der von Herder nicht datierten Briefe geschieht. 13 So wird man im Personenregister ζ. B. von „Calabresischer Legationsrath" auf „Gerning, Johann Isaak" verwiesen werden oder von „Tarsus in Cilicien, Erzbischof von" auf „Dalberg, Karl Theodor Anton Maria von" oder von ungenauen Buchtiteln auf korrekte und auf die Verfasser. Das kommentierende Register soll, wo es möglich ist, von der erfaßten Textstelle zur Erläuterung führen und umgekehrt sämtliche (auch indirekte) Erwähnungen von gesuchten Personen, Werken usw. in den Briefen nachweisen. Für die Sachkommentare bleiben dann nur solche Erläuterungen nachzutragen, die ausführlicherer Formulierung bedürfen, als im Register möglich ist, oder für die man kein eindeutiges Lemma aus dem Brieftext heraus bilden kann. Mit der dargelegten Konzeption des Registerbandes wird versucht, den Wünschen und dringlichen Bitten der wissenschaftlichen Benutzer, der Historiker mehrerer Disziplinen, nach inhaltlicher Erschließung der Briefe möglichst schnell Rechnung zu tragen und damit wertvolles wissenschafts- und kulturgeschichtliches Quellenmaterial, das sich kontinuierlich über das ganze letzte Drittel des 18. Jahrhunderts erstreckt, der Nutzung durch die Forschung zugänglich zu machen. 1 4 Der zweitwichtigste Einwand verschiedener Rezensenten 15 betraf den U m stand, daß die Herder-Briefausgabe nicht als Edition des Briefwechsels angelegt

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So können ζ. B. die zahlreichen Gedichte Gleims, die in den Brieftexten Bd. 7, Nr. 308, 315, 318 oder Bd. 8, Nr. 174 nur mit ihren N u m m e r n innerhalb des jeweiligen Gedichtzyklus angeführt sind, nicht im Register, sondern höchstens im Zeilenkommentar nach ihren Überschriften bzw. Initien aufgeführt werden, was angesichts der Seltenheit der im Selbstverlag erschienenen Sammlungen Gleims m. E. notwendig ist. Ober meine aufwendigen Bemühungen, mehrere hundert Stadtbillette Herders und Karolines aus Weimar an Karl August Böttiger zu datieren, sagte mir Hans Eberhardt, der sehr versierte frühere Direktor des Staatsarchivs Weimar, das sei gewissermaßen der Versuch, ein Leben zu rekonstruieren. An dieser Stelle sei ausdrücklich auf die umfassendsten und gründlichsten Rezensionen hingewiesen, die dem Bearbeiter bekannt geworden sind: Conrad Grau (Berlin) in: Deutsche Literaturzeitung für Kritik der internationalen Wissenschaft 103, 1982, H. 6, Sp. 482-485; 110, 1989, H. 9, Sp. 680-683, und Eberhard Pältz (Jena) in: Theologische Literaturzeitung. Monatsschrift für das gesamte Gebiet der Theologie und Religionswissenschaft 106, 1981, Nr. 8, Sp. 545-552; 114, 1989, Nr. 6, Sp. 401-414. Beiden Rezensenten danke ich herzlich für ihre anerkennenden und anregenden Ausführungen. C.Grau, 1982, vgl. Anm. 14, Sp. 484; E.J.Engel, vgl. Anm. 11, 12 ,1979, S. 24; 15,1982, S. 13.

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Editionen

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ist, d.h. nicht auch die Briefe an Herder enthält (vgl. z.B. die Schiller-Nationalausgabe oder die Ausgaben des Hamann- oder Mendelssohn-Briefwechsels). Der damals schon hochbetagte Wilhelm Dobbek hatte seine Vorarbeiten bewußt auf die Briefe Herders beschränkt, und auch nach seinem Tod bestanden weder Anlässe noch Voraussetzungen, von dieser Konzeption abzuweichen. Wie die editorische Vorbemerkung zu Band 9 und die Anmerkungen, insbesondere die Nachträge S. 797-830, verdeutlichen, war die damalige Entscheidung richtig. Die Wiederauffindung von weit über 1500 handschriftlich überlieferten, großenteils undatierten Briefen und Billetten an Johann Gottfried und Karoline Herder von etwa 340 verschiedenen Absendern hätte eine fertig gedruckt vorliegende Briefwechselausgabe vollends zur Makulatur gemacht, während für die wiederaufgefundenen Briefe Herders der eine Nachtragsband genügt, um die Benutzbarkeit auch der zuvor erschienenen Bände noch zu gewährleisten. Noch mehrere andere objektive Gründe ließen den Gedanken einer Briefwechselausgabe gar nicht erst aufkommen: neben dem damals unklaren Überlieferungsbefund - die meisten Briefe an Herder galten ja als Kriegsverluste - die dennoch relativ große Zahl der an verschiedenen Standorten aufbewahrten handschriftlichen Quellen 16 wie auch der bereits von Heinrich Düntzer, Otto Hoffmann, Hans Schauer, Eduard Berend, Walther Ziesemer und Arthur Henkel u. a. veröffentlichten Briefe an Herder (ich schätze die Anzahl aller handschriftlich und gedruckt überlieferten Gegenbriefe, inklusive der in Krakow aufbewahrten, auf mindestens 2500, während die Ausgabe bisher 2772 Briefe von Johann Gottfried und Karoline Herder umfaßt), der Umfang vieler dieser Briefe, die meist länger sind als die entsprechenden Bezugsbriefe Herders (z.B. Hamanns oder Johann Georg Müllers Briefe), ihre unterschiedliche inhaltliche Relevanz, die kaum einen ungekürzten Abdruck der meisten rechtfertigen würde, ferner die fehlende personelle und materielle Kapazität, insbesondere hinsichtlich der bekannten Engpässe im zentralistisch verplanten Papier- und Satzkontingent, aber auch die berechtigte Frage der Verleger nach den potentiellen Käufern einer so kostspieligen Produktion. Eher denkbar wäre eine Ausgabe der Gegenbriefe in Regestform, aber auch hier würde sich - ausgehend von den verlegerischen Erfahrungen mit Regestausgaben — dieselbe Frage stellen. Die Kritiker haben unbedingt recht, die die Kenntnis der Gegenbriefe als wichtigste Prämisse für das Verstehen der Briefe Herders betrachten; deswegen wurden in letzter Zeit auch einige interessante ungedruckte Briefe an Herder aus dem Krakauer Depositum der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek separat veröffent-

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Die Hauptfundorte sind nach Krakow die Staatsbibliothek Berlin (Ost und West): Briefe Gleim, Hamann, Knebel, August von Sachsen-Gotha; das Gleimhaus Halberstadt: Briefe Gleim; die Stadtbibliothek Schaffhausen: Briefe von Johann Georg Müller; das GoetheSchiller-Archiv Weimar: Briefe von Karoline Flachsland, Lavater, Zimmermann und einzelne anderen Korrespondenten.

von von und von

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Arnold

licht. 17 Im allgemeinen ist jedoch auf die in den Anmerkungen der Briefbände genau bezeichneten Druckorte der Gegenbriefe zu verweisen. Was daraus für die Erläuterung der Briefe Herders selbst unabdingbar ist, wird in den künftigen Sachkommentaren auszugsweise oder deskriptiv wiedergegeben werden, wenn auch nicht so ausführlich wie der probeweise kommentierte philosophische Diskurs mit Mendelssohn. 1 8 Es versteht sich von selbst, daß auch der Inhalt aller handschriftlich überlieferten Briefe an Herder mit zur Kommentierung herangezogen wird, wie es z.T. schon für die Ermittlungen zum Register geschehen ist. Ein letzter, weniger relevanter Einwand der Kritik bezog sich auf die Aufnahme der Briefe Karoline Herders an verschiedenen Stellen des jeweiligen Bandes, die angeblich zur Verwirrung des Benutzers führen würde. 1 9 Dazu ist zu sagen, daß in den Vorarbeiten Dobbeks nur wenige Briefe Karolines enthalten waren, daß jedoch folgende Feststellung Hans Schauers eine andere Verfahrensweise nahelegte: Die Briefe, die von Caroline in größerer Anzahl, als man glauben sollte, erhalten sind, schrieb sie zu einem guten Teil in Herders Auftrag und aus Herders Gedanken heraus. In eine Sammlung seiner Briefe müßten viele von ihrer Hand mit aufgenommen werden. 2 0

In den Anhang der Bände 3 - 8 (und dementsprechend in die Nachträge in Bd. 9) aber wurden weitere Briefe Karolines aufgenommen, die inhaltlich wichtige Ergänzungen bringen. Im Unterschied zu den im Hauptteil eingereihten Briefen, die Karoline expressis verbis oder auf Grund einzelner inhaltlicher Bezüge im Auftrag Herders schrieb, enthalten sie völlig eigenverantwortliche Aussagen, z.T. ohne sein Wissen, wie ζ. B. die Forderung an die Herzogin Luise, der Herzog möge sein Versprechen halten und die Ausbildung der Söhne Herders finanzieren, oder die Bitte um ein Darlehen an Johann Georg Müller. Karolines Briefe sind in ihrer Unmittelbarkeit wertvolle Quellen besonders in Hinsicht auf die Spiegelung der großen Politik und auf das Alltagsleben kleinbürgerlicher Intellektueller in einem deutschen Kleinstaat des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. In wenigen Jahren wird nach Abschluß der noch ausstehenden Register und Kommentare ein für die Erforschung der Wissenschafts- und Kulturgeschichte der europäischen Aufklärung bedeutsames Briefoeuvre philologisch erschlossen vorliegen, dessen Edition unter relativ ungünstigen Bedingungen zustande gekommen ist. Besonders das Schicksal der in Band 9 enthaltenen Quellen verdeutlicht, 17

Günter Arnold: Briefe literarhistorischen Inhalts aus Herders Nachlaß. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 10,1987, S. 274-323; Folge 11,1988, S. 255-313; derselbe: Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. In: Impulse. Folge 13,1990, S. 264-318. 18 Günter Arnold: Versuch eines Kommentars zu Herder-Briefe, Band I, Nr. 58. In: editio 2, 1988, S. 19-34. 19 E.J.Engel, vgl. Anm. 11, 17, 1984, S. 117. 20 p e t e r v o n Gebhardt/Hans Schauer: Johann Gottfried Herder, seine Vorfahren und seine Nachkommen. 1. Teil. Leipzig 1930 (Beiträge zur deutschen Familiengeschichte, Bd. 11), S. 49.

Ideale und reale Bedingungen

fiir

Editionen

61

wie sehr die angeblich ideologieindifferente Editionsphilologie unter Umständen von der realpolitischen zeitgeschichtlichen Entwicklung abhängen kann. Es zeigt sich, daß pragmatische äußere und inhaltlich-immanente Erwägungen für das Fortschreiten einer Edition mit der Zeit', um den Titel einer Herderschen Schulrede zu adaptieren, wichtiger sein können als willkürlich festgelegte theoretische Normen, die mithin selbst einer .Palingenesie' unterworfen werden müssen in einer Zeit und bei einem Gegenstand, „in denen also γενεσις Alles ist. " 2 1

21

Herders Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 5, S. 380.

Winfried

Woesler

Edition und Kommentierung eines dienstlichen Briefes an Justus Moser

Im Frühjahr 1990 tauchte in einem Antiquariatskatalog ein Schreiben der Osnabrücker Regierung an Justus Moser vom 20.8.1774 auf. 1 Dessen Text soll hier ediert und zugleich die Frage aufgeworfen werden, ob amtliche bzw. dienstliche oder berufliche Schreiben an oder von literarisch interessanten Personen in gleicher Weise ediert werden können bzw. sollten wie private Schreiben. Daß es grundsätzlich möglich ist, jeden Brief im eigentlichen Sinne nach den gleichen Editionsprinzipien zu veröffentlichen, steht außer Frage; aber ist dies auch sinnvoll? Ein amtliches Schreiben steht erstens in einer historischen politischen Verwaltungsordnung und -praxis, die in Grundelementen bekannt sein oder vom Editor erläutert werden muß, wenn spätere Leser dies Schreiben verstehen sollen. Es muß zweitens auch etwas über Position und Funktion von Absender und Empfänger bekannt sein. Schließlich muß drittens der Gegenstand und seine Problematik, ζ. B. in einem Rechtsstreit die unterschiedliche Auffassung der Parteien, bekannt sein. Während Werk und Biographie eines neueren , kanonisierten' Dichters durchweg so erforscht sind, daß das Verständnis eines neugefundenen Briefes vom Kommentator leicht vermittelt werden kann, ist es offensichtlich, daß dies bei der Edition und dem Kommentieren eines einzelnen zufällig aufgetauchten amtlichen Schreibens, das aus einem Verwaltungsvorgang oder einem politischen Zusammenhang gelöst wurde, kaum auf wenigen Seiten geleistet werden kann. So sozialgeschichtlich interessant natürlich die Durchleuchtung und Dokumentation der gesellschaftlichen Position und des öffentlichen Wirkens eines Autors ist, so bleibt doch die Frage, ob sich z.B. der Aufwand lohnt, einen inzwischen völlig vergessenen, ziemlich bedeutungslosen geschichtlichen Vorgang im Nachhinein wieder aufzurollen, nur weil der Adressat oder Absender eines Schreibens einen Platz in der deutschen Literaturgeschichte einnimmt. Auch die äußeren Voraussetzungen der Edition unterscheiden sich. Im Gegensatz zum privaten Briefwechsel eines Autors sind Zeugnisse seiner amtlichen Tätigkeit oft besser belegt. Fehlen bei einem Autor im privaten Bereich nicht selten die Gegenbriefe, kann man bei einem amtlichen Schriftwechsel viel häufiger 1

Antiquariatskatalog H.T. Wenner, Osnabrück, Nr. 365: Orts- und Landeskunde. Nr. 1699.

Darin

Brief an Justus

Moser

63

darauf vertrauen, daß er, falls der Aktenvorgang überhaupt noch im Archiv vorhanden, vollständig ist. Denn eine Behörde pflegt ja von jedem ausgehenden Schreiben eine Kopie zu behalten, so daß selbst ein Verlust des Originals leicht ersetzt werden kann. Die Vollständigkeit des Aktenvorgangs, zu dem Briefe, Gegenbriefe, Stellungnahmen, Dokumente, Erlasse, Vermerke usw. gehören, ist seit je gerade Voraussetzung dafür gewesen, zwischen den Parteien in der Sache selbst schließlich zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen. Die einzelnen Aktenstücke, oft nach Sachgesichtspunkten und chronologisch geordnet und registriert, erlauben nicht nur Prüfung der Vollständigkeit, sondern dem späteren Benutzer bis ins Detail auch Einblick in den Ablauf. Die Kommentierung des einzelnen Schriftstücks erfolgt daher am besten in einem Bericht zur Aktenlage, auf den stark vorgeprägten - Wortlaut der Schriftstücke kommt es dabei im Gegensatz zum poetischen Text nicht an, häufig genügen Regesten. Es wäre daher unangemessen, aus einem Aktenvorgang lediglich die Schreiben eines literarisch bekannten Autors herauszulösen, ohne wenigstens einen Überblick über den sachlichen Zusammenhang zu geben. Auch im Falle des aufgefundenen Schreibens an Moser hat sich der zugehörige Aktenvorgang im Staatsarchiv Osnabrück erhalten. 2 Dem nicht mit Osnabrücker Verhältnissen Vertrauten muß kurz außer Mosers Position die verfassungsrechtliche Konstruktion des Fürstbistums Osnabrück nach dem Westfälischen Frieden, die sogenannte Alternativsukzession, vorgestellt werden. Danach wechselte die Regierung jeweils zwischen einem katholischen und einem evangelischen aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg stammenden Fürstbischof. Für die Dauer der Regierung eines protestantischen Fürstbischofs hatte der Kölner Erzbischof als Metropolitan die Aufsicht über das katholische Kirchen- und Schulwesen. Unter einem katholischen Fürstbischof war das evangelische Konsistorium Träger der protestantischen Kirchengewalt. König Georg III. von England (1738-1820) ließ nach dem Tod des katholischen Fürstbischofs Clemens August von Bayern (1700-1761) 1764 seinen halbjährigen Sohn Friedrich von York (1763-1827) zum Nachfolger wählen. Während dessen Minderjährigkeit erlangte Moser, der schon 1764 zum Konsulenten der Osnabrücker Regierung ernannt worden war, eine herausragende Stellung in der Osnabrücker Politik, zumal die ihm vorgesetzten Geheimen Räte als Landfremde zumeist mit den einheimischen Rechten nicht vertraut waren. Besondere Sensibilität verlangte immer die Behandlung der öffentlichen Gegenstände, die jene Konfession betrafen, die nicht die Regierungsspitze stellte. U m einen solchen Fall handelt es sich hier. 2

Staatsarchiv Osnabrück, Rep. 110 II. Nr. 934, Vol. I: Die wegen desJesuiten-Collegii zu Osnabrück in Absicht der durch die päpstliche Bulle vom 21. Juli 1773 geschehene Aufhebung dieses Ordens zu machende Maßregeln. 1773-1775. - Herrn Martin Siemsen verdanke ich das Auffinden dieses Konvoluts und freundliche Unterstützung.

64

Winfried Woesler

Der Brief an Moser trägt in der oberen rechten Ecke - nicht von Mosers Hand den unterschlängelten Vermerk „Jesuiten". Dieses Stich wort weist auf den Vorgang. Hintergrund des Schreibens an Moser sind die Folgen der Aufhebung des Jesuitenordens durch das Breve DOMINUS AC und die Ausführungsbeschlüsse des Breve GRAVISSIMIS EX CAUSIS, die Papst Clemens XIV. am 21. Juli 1773 erlassen hatte. 3 In Osnabrück wurde für die Durchführung des Auflösungsbeschlusses eine Kommission gebildet, der von Kurkölner Seite der Generalvikar Carl von Vogelius sowie der Osnabrücker Domkapitular Franz Salesius von Weichs und als Vertreter des Domkapitels Carl Philipp von Spies (f 30. August 1774) bzw. dessen Nachfolger Ludwig Hermann von Hake angehörten. Die Interessen des Fürstbistums Osnabrück, das damals - wie gesagt - in protestantischer Alternativsukzession von Georg III. von England regiert wurde, vertrat Justus Moser. Diese Kommission sollte alle sich aus der Auflösung des Ordens für Osnabrück ergebenden Probleme verhandeln, z.B. was mit dem Eigentum der Jesuiten in Osnabrück zu geschehen habe und auf welche Weise die entlassenen Lehrer am Gymnasium Carolinum versorgt werden könnten. Von beiden Seiten wurden jedoch nicht mit der Sache direkt in Verbindung stehende Punkte mit den Verhandlungen verknüpft. Die strittigen Fragen des Simultaneums zu Schledehausen 4 und der Nebenschulen 5 des Fürstbistums brachte der Kölner Erzbischof Maximilian Friedrich in die Diskussion, auf die rechtliche Absicherung des Konsistoriums Augustanae Confessionis bestand die fürstbischöfliche Regierung bzw. Georg III. Die Verhandlungen verliefen ergebnislos. Das Domkapitel brachte die Angelegenheit 1778 vor den Reichshofrat. Aus dem Aktenkonvolut seien, um den näheren Hintergrund des Schreibens an Moser zu erhellen, einige bisher unpublizierte, in Kopie vorliegende Schriftstücke ediert, und zwar zunächst eines von Georg III., ausgefertigt von der deutschen Kanzlei in London, deren Leiter zu der Zeit Johann Friedrich Carl von Alversleben (1714-1795) war. GEORG der Dritte

etc

Räthe und liebe Getreue. Gleichwie euer Bericht vom 19"" PBAETERITI in mehrern ergeben hat, was mit den METROPOLITANISCIICTI 3

4

5

COMMISSARIIS

bisher verhandelt

worden

ist,

um

In den beiden Schriftstücken v o m 24. Juli 1774 und 14. August 1774 ist nicht von „Breve" die Rede, sondern von „Bulle". Simultaneum: Vertrag über die gemeinsame N u t z u n g einer kirchlichen Einrichtung (ζ. B. Kirche, Kirchhof, Schule) durch verschiedene christliche Konfessionen. Zur speziellen Situation in Schledehausen, s. die Aufsätze von Theodor Penners und Manfred Rudersdorf, in: Schelenburg - Kirchspiel - Landgemeinde. 900 Jahre Schledehausen. Hrsg. von Klaus J. Bade, Horst-Rüdiger Jarck, Anton Schindling. Bissendorf 1990. Nebenschulen: widerrechtlich in katholischen bzw. evangelischen Kirchspielen errichtete Schulen fur Angehörige der jeweils anderen Konfession.

65

Brief an Justus Moser

in Absicht auf das aufzuhebende dortige Jesuiter COLLEGIUM ZU einem, dem bischöfl. gemäßen Zweck zu gelangen; als haben Wir auch weiter daraus ersehen, weßen gedachte COMMISSARII sich erkläret haben, und worauf es bey der mit ihnen fortzusetzenden COMMUNICATION nunmehro ankommt. Es erhellet nun aus dem Verlauf der Sache so viel, daß es dem Domcapitul sowohl als dem METROPOLITANO nur darum zu thun sey, daß die Abschaffung der Jesuiten dortigen Orts zu Stande komme, und daß sobald als solches erfolget seyn wird, es hiernächst an Ausflüchten den diesseitigen Absichten und Forderungen, ein Genüge zu leisten, nichtfehlen werde. Wie aber diese Forderungen, in der Maaße als sie von dem Rath Moser, dessen Geschicklichkeit und Diensteifer für das bischöfliche INTERESSE Wir bey dieser abermahligen Gelegenheit mit gnädigstem Wohlgefallen bemerket haben, den COMISSARIIS eröffnet worden, in der Billigkeit gegründet, und solchergestalt beschaffen sind, daß man solche bey dermahliger Gelegenheit durchzusetzen wohl hoffen kan, und sich damit AD SEPARATUM verweisen, und durch leere Vertröstungen vom Zweck abfuhren zu lassen, nicht nöthig hat; Als genehmigen Wir auch daß auf dem eingeschlagenen Wege von euch fortgefahren, und die weitere Unterhandlung über die Verwendung der von den Jesuiten bisher beseßenen Güter und über die diesseitigen Forderungen und Anträge PARI PASSUfortgesetzet, mithin der auf die Güter der Jesuiten gelegte Arrest nicht eher, als bis nach ausgemachter Sache, aufgehobenwerde. Wir etc. & JAMES den Iff-MAY 1774. INTERESSE

GEORGER V.

ALVENSLEBEN

An die Regierung zu Osnabrück Moser hat dem Willen Georg III. entsprechend im Juni 1774 den Kurkölnischen Kommissaren vorgetragen, und diese haben am 18.6.1774 dem Erzbischof Maximilian Friedrich von Königsegg schriftlich Bericht erstattet, wie aus folgendem Schreiben des Kölner Erzbischofs an die Kommissare zu ersehen ist, das in A b schrift im genannten Konvolut des Staatsarchivs erhalten ist. Von Gottes Gnaden Maximilian Friedrich etc etc. Würdige und Hochgelehrter, auch Wohlgeboh(r)ner, liebe Andächtige. Mit nicht weniger Befremdung haben Wir aus eurem untertänigste« Bericht vom 18.' nachstvorigen Monats ersehen, was fur einen Antrag euch der Rath und Geheimer RegierungsREFERENDARius MOESER mündlich gethan habe, ihr habt ganz recht eine CONFERENTZ darüber

bis zu Unserer

schlagen.

Obwohlen

Geschäfte

verknüpft

daß

nicht ansehen

Wir euch aufgegeben

würdige Domcapittel

weiteren gnädigsten

Wir nun den ganzen hätten,

können,

Antrag,

vorzunehmen,

ausge-

als mit dem euch anvertraueten

Entschließung,

Jesuiten

so habt ihr der dortigen Regierung

mit dem ausdrücklichen

nichts erhebliches

dabey

Vorbehalt,

zu

wann

zu erinneren hat, in Ansehung des

erklären,

das

dortige

SIMULTA-

66

Winfried Woesler

NEI zu Schledehausen und der Nebenschulen, in Unterhandlung zu treten, ihr habt demnach besagter Regierung zugleich mündlich zueröfnen, auf was Art ihr auf diese beyde Punckte iNSTRumet seyd, undfalls dieselbe sich hierauf einzulaßen weigerlich stellen sollte, mit der Verkündigung der Bullen zu verfahren; und sobald das Dom Capittel seine Meinung mit der Unserigen vereiniget haben wird, besagter Regierung zu verstehen zu geben, daß Uns nicht angemuthet werden könnte, die Festsetzung und Berichtigung dieser beyden Punckten, worüber man sich in der Folge vergleichen kan, abzuwarten, und die Verkündigung der Bullen, und die so nöthige Haus und Schul Einrichtung des künftigen PAULINER COLLEGII bis dahin zuverschieben, und würden Wir lieber alles anwenden, um Unser Ziel zuerreichen. Verbleiben euch übrigens mit Gnaden wohlgewogen. Münster den 24.s,e" fulius 1774. MAX. Fried. Churfürst. v. CTV.

BELDERBUSCH.

C.C. An die Churfürstl.

CoMMissARien

das ExjESUirengeschäft

zu Osnabrück

Behren.

betr.

Die Kommissare wiederum haben Moser am 12.8.1774 von dem Schreiben des Erzbischofs in Kenntnis gesetzt und es ihm für eine Abschrift zur Verfügung gestellt. Diese oben publizierte Abschrift schickte Moser am 14.8.1774 mit folgendem Begleitschreiben an die Regierung des Fürstbistums Osnabrück: Hochwohlgebohrne etc. Es ist mir vorgestern von dem erzbischöflichen Herrn COMMISSARIIS (sie!) diejenigen Eröfnung mündlich geschehen, wozu dieselben mittelst des mir freundschafftlich zur Abschrifft erlaubten Anschlusses von S: Churfürstl. Gnaden von Cölln AUTHORiSiRet worden. Dem zufolge sollen dieselbe, wenn das Domcapittel kein erhebliches Bedencken dabey findet, wegen des SIMULTANEI ZU Schledehausen, und der Neben-schulen in Unterhandlung treten, und sich über die Art und Weise, wie diese beyden Punckte festzusetzen, erklären, folglich die diesseitige Einlaßung darauf erwarten, bey deren Ermangelung aber mit der Verkündigung der Bulle verfahren. Die Meinung des Herrn Erzbischofes gehet also dahin, diese beyden Punckte von den übrigen, und insbesondre dem CONSISTORIAL-Punckt solchergestalt zu trennen, daß jene vor — und dieser nach — Verkündigung der Bulle verhandelt werden soll; und ich vernehme äußerlich, daß von dem Erzbischöflichem COMMISSARIUS darauf auch bey dem Domcapittel angetragen, und von diesem an die abwesenden Mitglieder geschrieben sey. Wenn ich mein unterthäniges Gutachten zugleich hierüber eröfnen darf: so glaube ich nicht, daß es eben nöthig sey, gegen diese Einleitung IN PKJELIMINARIBUS ZU PROTESTiRen, und sich vor der Conferenz zu bedingen, daß man sich nicht anders, als auf alle Punckte, ohne Zertrennung einlaßen wolle. Dieses kann füglicher bey der Conferenz selbst, und nach Anlaß der Umstände geschehen, besonders da die Verkündigung der Bulle, nach dem DIRECTORIO des Königl. MINISTERIO eben keinen wesentlichen Abschnitt in den Unter-

67

Brief an Justus Moser

Handlungen machen wird, wenn man solche, so bald von deren Aufhaltung mehr zu ziehen ist, ohne davon Nachricht zu nehmen, geschehen, die Verwendung der den Jesuiten zuständig gewesenen derungen nur PASSI PASSUfortgehen

Güter mit den dießeitigen

ist derselbe durch die vorläufige

dieselben, dem mit allerhöchstderoselben

sich jener

Aeußerung,

Bewilligung

einzuführenden

SUB ARRESTO bleibt, wenn auch die Verkündigung geschieht: abzuhandelenden

Gegenstände

war

Güter FACTO anmaßen

daß Ihro Königl.

Majestät

neuer INSTITUTO ZU

gute kommen laßen wollen, sattsam beruhigt; und da alles solchergestalt den Conferenzien

über

Gegenfor-

die Verkündigung der Bulle verschoben,

daß man, nachdem solche geschehen,

mögte. Hierüber

Vortheil

läßt.

Die Ursachen, warum der Herr Erzbischof die Besorgnis,

kein

und die Tractaten

IN STATU QUO ET

so kann die Trennung der bey

nicht einmahl zur Bemerckung

kommen.

Ich werde indeßen ohne Ew. etc nähere INSTRUCTION weiter nicht fortschreiten,

und will

mir diese, gegen die Zeit, daß die Antwort von den Abwesenden Domcappittel

eingelaufen,

Conferenzien

mit beywohnen

Mit vollkommenster

CAPITULARIBUS bey dem

mithin dieses im Stande seyn wird, seinen DEPUTATUM den zu laßen, unterthänig

Verehrung

erbitten.

beharrend Ew. etc. unterthäniger

Diener Moser.

Osnabrück, den 14. 'August

1774.

Darauf folgte das Schreiben der Regierung (Reskript, behändigte Ausfertigung) an Moser v o m 20.8.1774, das Anlaß dieses editorischen Beitrages ist. Unsere freundliche Hochgelahrter,

Willfahrung zuvor,

Ehrnvester

sonders günstiger und guter

Freund!

Wir haben aus Eurem coMMissARischen Berichte vom 14'"' d. M.1 ersehen, was die in der Jesuiter

Angelegenheit

angeordneten

Ertzbischöflich

Gefolg eines RESCRIPTI von ihrem Herrn Eurer Meinung

nach die Absicht

Cöllnische

CoMMiTTENTen3,

COMMISSARII2 Euch, eröffnet haben,

des Herrn" METROPOLITAN/4 wegen

und

in

wohin

Trennung

der

verschiedenen zur Unterhandlung gebrachten Punckte gerichtet ist. Gleichwie

S: Königl.

MAJESTÄT3 unser allergnädigster

Herr Ihro Allerhöchste

meinung unter dem lCfcn May uns ausdrücklich dahin eröffnet haben6, lung über die Verwendung der von den Jesuiten diesseitigen

Forderungen

und Anträge

bisher beseßenen

daß die

WillensUnterhand-

Güter und über die

nicht anders als PARI PASSU7 fortgesetzt

werden

sollen, und euch ferner nicht unbekannt ist, daß der Punckt des CONSISTORII AUGUST ANAE CONFESSIONIS 8

da die Jesuiter allemahl

mit der gegenwärtigen

Unterhandlung

als das, von dem catholischen

gerechnet

sind: also können

mehr als alle andern CONNEX

Theil für jenes geforderte,

wir fur

sey,

AEQUIVALENT9

uns nicht darin gehehlen10,

daß

dieser

68

Winfried Woesler

Hauptpunckt bey den Unterhandlungenb zurück gesetzt, oder überhaupt ein Punckt ohne den andern abgethan werde. Ihr könnet demnach zwar erwarten, wohin die Anträge der METROPOLirischen COMMISSARien bey der nächsten CONFERENTZ1 1 gehen werden. Sofern aber selbige auf eine Trennung der verschiedenen Gegenstände dieser Unterhandlung abziehlen, habet Ihr dagegen zu eröffnen, daß Ihr nicht ermächtiget wäret, Euch über einen und den andern Punckt besonders einzulaßen, sondern vielmehr von Sr Königl. Majestät erwartet werde, daß die Unterhandlung über die Verwendung der von den Jesuiten bisher beseßenen Güter mit den diesseitigen Forderungen und Anträgen zugleich berichtiget werden müße, mithin über jene etwas verbindliches eher nicht verabredet werden könne, bis diese zugleich abgethan werden. Wir erwarten über den Erfolg Euren Bericht und bleiben Euch zu freundlicher Willfahrung gefließen12. Osnabrück, den 20en August 1774. Zur Regierung des Hochstifts Osnabrück verordnete Geheimte Räthe. vEnde.13 JWRiedeselzE.14 An den Rath Moser. Voigt.15

Überlieferung Privatbesitz; 1 Doppelblatt, 315 χ 400 (= 4 Seiten; 315 χ 200), 2χ quer-, 2x längsgefaltet; handgeschöpftes Papier, gerippt, gelblich/vergilbt, stark, Kanten glatt, S. 3/4: rechte Kante infolge Siegelausriß beschädigt, S. 4: Papierprägesiegel, Fürstbischöfliches Wappen mit Versalienschriftzug „Osnabr Regierung"; Wz: a) C & Η H o n i g , Antiqua-Versalien, doppelstrichig, b) Hollandia/Pro Patria, 16 Steglinien, Wz a) zwischen 2. und 8. Steglinie, Wz b) zwischen 11. und 15. Steglinie; 4 Seiten beschrieben, Voigt, braune Tinte, S. 1: frd. H d . , braune Tinte (Registraturvermerk), S. 2: v. Ende, JWRiedeselzE., braune Tinte (Unterschriften); S. 1/2: Brieftext, S. 3: unbeschrieben, S. 4: Adresse.

Adresse Dem Ehrnvesten Hochgelahrten Unserm günstig guten Freunde JUSTUS MOSER,

Hochfürstl.

Osnabrückschen Rathe, (darunter ein Schnörkel) Der Brief w u r d e innerhalb Osnabrücks vielleicht durch Boten überbracht.

Brief an Justus

Moser

69

Mitteilungen z u m Text a

Herrn] η vielleicht korrigiert Unterhandlungen] en später hinzugefügt

b

Einzelstellenerläuterungen 1 2 3 4

5 6

siehe Textabdruck S. 66 f. Carl von Vogelius, Franz Salesius v o n Weichs COMMITTENT] der Beauftragende, Bevollmächtigende METROPOLITAN] Maximilian Friedrich Graf von Königsegg, Erzbischof v o n Köln und Münster 1761-1784 König Georg III. v o n Großbrittanien (1738-1820; Regierungszeit: 1760-1820) siehe Textabdruck S. 64 f.

7

PARI PASSU]

8

CONSISTORIUM AUGUSTANAE CONFESSIONIS ] siehe M a x Bär: Abriß einer Verwaltungsgeschichte des Regierungsbezirks O s n a b r ü c k . Hannover, Leipzig 1901: „Die Errichtung eines Konsistoriums w a r den Evangelischen durch die I m m e r w ä h r e n d e Kapitulation gestattet w o r d e n . Das Konsistorium war unter einem katholischen Bischöfe der Träger der protestantischen Kirchengewalt und daher politisch n o t h w e n d i g e Institution, ein wesentlicher Theil der Verfassung. So selbstverständlich diese n o t h w e n d i g e Einrichtung war, so w u r d e sie doch an ein den Katholiken zu bewilligendes Aequivalent geknüpft, da eine solche Behörde in d e m der A b g r e n z u n g der Rechte und des Besitzstandes beider Konfessionen zu G r u n d e gelegten N o r m a l j a h r e 1624 nicht bestanden hatte. Die Festlegung des Aequivalents w u r d e später die Quelle vieler Streitigkeiten" (S. 28). „Das Konsistorium war f ü r die rein geistlichen Angelegenheiten und für die Ehesachen der Evangelischen zuständig. Es hatte alle Streitigkeiten in Bezug auf die A u s f ü h r u n g des Gottesdienstes zu entscheiden und die Vokation, Examination und O r d i n a t i o n der Kirchen- und Schuldiener v o r z u n e h m e n . Die Küster- und Schulbedingungen besetzte es selbständig; die Versetzung der Pfarrstellen erfolgte durch Präsentation an den Landesherrn. Das Konsistorium hatte die Oberaufsicht über die Kirchen- und Schulen u n d die Verwaltung ihrer Güter und war die Disziplinarbehörde f ü r Geistliche, Küster u n d Lehrer" (S. 29). Das Konsistorium besaß die Eigenschaft einer Justizbehörde, der auch eingeschränkte Gerichtsbarkeit zustand.

9

10 11 12 13 14

15

gleichrangig

AEQUIVALENT ] s i e h e A n m . 8

gehehlen ] einwilligen, zustimmen Die nächste Konferenz fand am 6. September 1774 statt. geßießen ] part, zu „fleißen", „sich fleißen"; hier: eifrig b e m ü h t Gotthelf Dietrich v o n E n d e (1725-1798), 1764-1782 Regierungsrat in O s n a b r ü c k Johann Wilhelm v o n Riedesel zu Eisenbach (1712-1782), 1772-1780 Regierungsrat in Osnabrück Konrad Wilhelm v o n Voigt, Geheimer Sekretär der Regierung

D e m germanistischen Editor wird bei der Wiedergabe des Briefes aufgefallen sein, daß nach vielfach geübter Praxis der Historiker Kleinbuchstaben als Exponenten

70

Winfried

Woesler

auf „Mitteilungen zum Text", Ziffern als Exponenten auf den Kommentar hinweisen. Beim Druck literarischer Texte und damit auch von Autorenbriefen sollte der ästhethische Eindruck nicht durch diakritische Zeichen, Siglen usw. gestört werden. Bei der Wiedergabe eines historischen Dokuments ist dieser Aspekt weniger wichtig. Die Exponenten im edierten Text erlauben auch, was hier nicht vorgeführt werden konnte, die Annotationen unmittelbar mit dem edierten Text - unten auf der Seite oder am Ende - abzudrucken, wobei auf Lemmataangaben und einen positiven Apparat platzsparend verzichtet werden kann. Die Wiedergabe des Wortlauts wäre, abgesehen von Demonstrationszwecken, nicht so wichtig, nützlicher kann meist ein klar und knapp gefaßtes Regest sein. Bei Dokumenten, wie dem vorgelegten, interessiert die Formulierung weniger als die Sache. Denn Formulierungen sind oft vorgegeben und lassen der Individualität des Funktionsträgers nur eingeschränkten Spielraum. Beim vorliegenden Brief der geheimen Räte von Riedesel und von Ende ist zudem keineswegs sicher, daß sie den Text selbst verfaßt haben. Es ist durchaus denkbar, daß Moser selbst diesen Brief an ihn bzw. an sich formuliert hat, denn er wirkt so, als könne er den Vertretern der anderen Seite vorgelegt werden, wie diese ja auch einen Brief ihres Auftraggebers Moser zur Abschrift überließen. Wollte man unter literarischer Perspektive Mosers amtliche Briefe edieren, gehörten ja eigentlich alle von ihm verfaßten dazu. Ebenso kann es andererseits sein, daß amtliche Briefe von Moser unterzeichnet sind, die ein Sekretär verfaßt hat. Es führt kein anderer Weg aus dem Dilemma als dieser: die Funktion allein entscheidet, und so ist ein von Moser verfaßter, aber von v. Riedesel unterzeichneter Brief einer Riedesels bzw. der Osnabrückischen Regierung und ein von Moser nicht verfaßtes, aber unterschriebenes Schriftstück ein Schriftstück Mosers. Dies zeigt, wie wichtig es ist, amtliche - und dasselbe gilt für dienstliche und berufliche - Schriftstücke grundsätzlich vom literarischen Werk einschließlich der privaten Briefe editorisch zu separieren. Während das, was sich an Schriftstücken in einem amtlichen Aktenkonvolut befindet, von der Individualität des Amtsinhabers weitestgehend gelöst betrachtet werden kann, macht den Reiz der Literatur, einschließlich vieler Privatbriefe von Autoren, ja gerade die Originalität, d. h. einerseits die trotz aller Zeitgebundenheit individuelle Seins-, Menschen- und Selbsterfahrung und andererseits die literarisch bewußte sprachliche Gestaltung aus. N u n ist freilich die Unterscheidung zwischen privaten und amtlichen oder beruflichen Schreiben nicht immer leicht. 6 Hinzu kommt, daß in einzelnen Jahrhunderten die Grenzen unterschiedlich verliefen. Im 18. Jh. konnte Berufliches und Literarisches noch leichter in einem Schreiben verbunden werden. So richtig es war, bei der Möser-Briefausgabe, die nach 6

Irmtraut Schmid hat in ihrem Aufsatz „Was ist ein Brief? Zur Begriffsbestimmung des Terminus .Brief als Bezeichnung einer quellenkundlichen Gattung" (in: editio 2, 1988, S. 1-7) Kriterien entwickelt. Z u m Problem der Abgrenzung amtlicher Schreiben von der privaten Korrespondenz Goethes vgl. ebenfalls Irmtraut Schmid: Aus der Arbeit der Regestausgabe „Briefe an Goethe". In: ZfdPh 105, 1986, Sonderheft, S. 136-148.

Brief an Justus

Moser

71

der ersten Auflage 1939 durch Beins und Pleister nun voraussichtlich im nächsten Jahr von William Sheldon neu besorgt erscheinen wird, sich auf die private Korrespondenz zu beschränken, so schwierig dürfte in manchem Einzelfall die Entscheidung gewesen sein. Sicherlich befinden sich darüberhinaus unter den aberhunderten von amtlichen Schriftstücken Mosers auch solche mit literarisch interessanten Passagen. Wünschenswert ist es, allmählich einen Überblick über den gesamten amtlichen Nachlaß zu gewinnen. Für die nächsten Jahre erscheint jedoch lediglich realisierbar, wie im vorliegenden Fall, exemplarisch den einen oder anderen Brief herauszuziehen und zu kommentieren, damit so im Laufe der Zeit ein immer wirklichkeitsnäheres Bild dieses politisch tätigen Aufklärers entsteht.

Gunter

Martens

Der wohlfeile Goethe Überlegungen zur textphilologischen Grundlegung von Leseausgaben

Vorbemerkung Gegenstand textphilologischer Reflexion ist traditionell die historisch-kritische Ausgabe. Sie steht im Zentrum des Interesses editorischer Bemühungen, für sie werden mit großem Einsatz Modelle entwickelt und theoretisch begründet; ihre Einrichtung und praktische Umsetzung ist das unerschöpfliche Thema von Kongressen und Aufsatzsammlungen. 1 Doch der immense Aufwand an Entwicklungsarbeit, an Zeit und nicht zuletzt an Kosten, den die Planung und Durchführung einer historisch-kritischen Ausgabe erfordert, steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Verbreitung. In nur kleinen Auflagen können die teuren Bände einer solchen Edition abgesetzt werden; mehr und mehr sind die öffentlichen Bibliotheken die einzigen Abnehmer. Der gemeine Leser hingegen kennt seine Autoren aus einer wohlfeilen Taschenbuchausgabe, und selbst der Wissenschaftler kann sich kaum einmal den Luxus einer eigenen wissenschaftlichen Edition leisten und muß in seinem Bücherbord nach den erschwinglicheren Studienausgaben oder den reinen Lesetexten greifen. Doch genau diese Ausgaben sind bislang nur selten in den Kreis editionstheoretischer Überlegungen einbezogen worden; 2 ihre Bearbeitung findet nicht die Weihen wissenschaftlicher Tätigkeit und erfährt schon gar nicht die Förderung öffentlicher Institutionen.

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Auch die bislang erschienenen 3 Bände des Internationalen Jahrbuchs für Editionswissenschaft „editio", in denen fast ausschließlich Probleme historisch-kritischer Ausgaben diskutiert werden, belegen eindrucksvoll diese Schwerpunktbildung gegenwärtiger editorischer Reflexion: kein einziger Beitrag ist Editionen gewidmet, die unterhalb der Ebene der repräsentativen wissenschaftlichen Ausgaben angesiedelt sind. Mir sind aus jüngerer Zeit nur vier Aufsätze bekannt, die textphilologische Fragen der Studien- und Leseausgaben eingehender behandeln: Klaus Briegleb: Der Editor als Autor. Fünf Thesen zur Auswahlphilologie; Herbert G.Göpfert: Edition aus der Sicht des Verlages. Beide Aufsätze in: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 91-116 bzw. 273-283; Norbert Oellers: Angleichung, Normalisierung, Restitution. Die Editio hybrida als Schicksal der deutschen Klassiker? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101, 1982, Sonderheft „Probleme neugermanistischer Edition", S. 29-42; Hans-Joachim Simm: Zur soziologischen und editionsphilologischen Stellung sogenannter Leseund Studienausgaben deutscher Klassiker. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, hrsg. von Georg Stötzel. Teil 2: Ältere deutsche Literatur. Neuere deutsche Literatur. Berlin, N e w York 1985, S. 369-384.

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Theoretisch hat nun die herausragende Stellung der historisch-kritischen Ausgabe innerhalb der Editionswissenschaft durchaus ihre Berechtigung. Das „Baukastenprinzip", das Hans Zeller in seinem Aufsatz „Für eine historische Edition" entwickelte, 3 setzt diesen Ausgabetypus an die hierarchisch höchste Position. Danach erstellt die historisch-kritische Edition - zumindest in der Textherstellung und in den Beigaben des Apparates - die Grundlage für alle weiteren Ausgaben. Die Studienausgabe übernimmt aus ihr den edierten Text, bietet eine Auswahl aus dem Apparat und fügt zum Kommentar - wenn er denn überhaupt Bestandteil einer historisch-kritischen Edition ist — schnell veralternde Abschnitte (ζ. B. deutende Hinweise, Literaturangaben) hinzu. Auch die Leseausgabe benutzt „wenn möglich" 4 die Textvorgabe der maßgebenden Edition und kann darüberhinaus Auszüge aus dem Kommentar der Studienausgabe bieten. Das Ideal sei dann die Übernahme des Satzes, der für den edierten Text in der historisch-kritischen Ausgabe einmal erarbeitet wurde, in alle von ihr abzuleitenden Studien- und Leseausgaben. Dieses Editionsmodell, das nach Hans Zeller sowohl im Ausland wie auch in anderen Disziplinen bereits praktiziert wird, demonstriert eindrucksvoll die Bedeutung, die der historisch-kritischen Textherstellung zukommen kann. Funktioniert es, so hätte sich dann in der Tat der hohe Aufwand an geistiger Kraft und Kosten, der in jeder historisch-kritischen Ausgabe steckt, gelohnt; die kritischen Fragen, die Ulrich Ott 1989 im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft an diesen Ausgaben-Typus stellte, 5 wären weitgehend gegenstandslos. Doch wie sieht die Praxis aus? Für viele, ja sogar die weitaus meisten Autoren, deren Texte viel gelesen werden, liegen keine historisch-kritischen Ausgaben vor. Aber auch hier haben die Leser Anspruch auf einen authentischen Text. Wird er von den gängigen Leseausgaben erfüllt? Und wie sieht es in den Fällen aus, in denen ein historisch-kritisch erarbeiteter Text vorliegt? Nehmen die Leseausgaben diese Vorgabe auf und in welcher Weise? Liest der Leser in ihnen tatsächlich Texte, die in dieser Gestalt vom Autor stammen? Im folgenden werde ich mich vor allem der letzten Frage näher zuwenden und zunächst am Beispiel der zur Zeit greifbaren Taschenbuchausgaben zu Goethes „Leiden des jungen Werthers" untersuchen, wie Herausgeber und Verlag bei der Textherstellung und den kommentierenden Beigaben verfahren. In einem Schlußteil sollen dann Konsequenzen für die Herstellung von preiswerten Lesetexten zur Diskussion gestellt werden.

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In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven, vgl. Anm. 2, S. 305-323. Hans Zeller, vgl. Anm. 3, S. 321. - Für den „Bereich der Schule" und in „Texten für Fremdsprachige" konzidiert Hans Zeller „reduzierte Ansprüche" und nimmt „gewisse Transformationen in Kauf'. (S. 315) Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. In: Bd. 23, 1989, S. 3-6.

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T a s c h e n b u c h a u s g a b e n zu Goethes „Leiden des j u n g e n W e r t h e r s "

1.1 Die Textgestalt Schon beim Schreiben des Titels „Leiden des jungen Werthers" beginne ich zu stocken. Wie heißt es denn nun wirklich, dieses „erste Stück der deutschen Literatur, das Weltruhm erlangen konnte"? 6 Der Band, aus dessen kundigem Nachwort von Hans-Wolfjäger ich soeben zitierte, benennt den Band „Die Leiden des jungen Werthers". Und in gleicher Weise verfahrt der Textband in Reclams Universal-Bibliothek (RUB). 7 Die 5 anderen Taschenbücher, die ich zu meiner Untersuchung herangezogen habe, 8 tragen hingegen den Titel „Die Leiden des jungen Werther". Welcher der beiden Varianten stammt von Goethe, welche sollten wir benutzen, wenn wir den Roman zitieren? Konsultieren wir also die historisch-kritische Ausgabe, die wie keine andere darauf Antwort geben sollte, die sog. Weimarer Ausgabe (WA), deren 19.Band, bearbeitet von Bernhard Seuffert, den „Werther" enthält. 9 Genau auf diesen Band der für die GoethePhilologie heute noch unentbehrlichen Ausgabe verweist auch der Reclam-Verlag als Vorlage des Textabdrucks - freilich nicht in dem bereits zitierten gelb broschierten Textheft (in ihm findet sich weder ein Hinweis auf die Fassung, die hier abgedruckt ist, noch eine Angabe der Druckvorlage), sondern in dem gesondert erschienenen, grün eingeschlagenen Heft der „Erläuterungen und Dokumente", und zwar recht versteckt in den Wort- und Sacherläuterungen als Anmerkung zum Titel: „Der Text der Ausgabe in Reclams Universal-Bibliothek bringt das Werk

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Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Goethe, Erläuterungen und bibliographischen Hinweisen von Hans-Wolf Jäger. 4. Aufl. [München] 1989 (Goldmann Klassiker mit Erläuterungen 7540), S. 113. Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Mit einem Nachwort von Ernst Beutler. Stuttgart 1985 (RUB 67). Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Mit einem Essay von Georg Lukäcs. Nachwort von Jörn Göres. Mit zeitgenössischen Illustrationen von Daniel Nikolaus Chodowiecki und anderen. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1978 (insel taschenbuch 25). [Johann Wolfgang] Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Hrsg. von Erich Trunz. 7. Aufl. München 1985 (dtν klassik 2048). Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Mit einem Kommentar des Autors aus dem Jahre 1814. Zürich 1986 (detebe 21 366). Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Textausgabe mit Materialien. Ausgewählt und eingeleitet von Doris Banz. Stuttgart 1979 (Editionen für den Literaturunterricht. Klettbuch 3519). Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. [Heftbearbeitung: U w e Lehmann.] Husum o.J. (Hamburger Lesehefte 115). Der Auswahl liegt das Angebot einer Hamburger Sortimentbuchhandlung zugrunde. In der vormaligen D D R erschienene Taschenbücher wurden deshalb nicht berücksichtigt. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 19: Die Leiden des jungen Werther - Briefe aus der Schweiz. Bearbeiter: Bernhard Seuffert und Eduard von der Hellen. Redaktor: Erich Schmidt. Weimar 1899.

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ebenfalls in der Zweitfassung und folgt der Weimarer Ausgabe." 1 0 Dort ist aber genau das, wonach wir fragten, das Genetiv-s des Eigennamens weggefallen; das Werk wird in der WA unter dem Titel „Die Leiden des jungen Werther" geführt. Und so lautet denn auch - abweichend vom Bezugstext, der hier erklärt werden soll - das Lemma, das als vorgebliches Zitat aus dem gelben Textband im grünen Heft aufgegriffen und folgendermaßen erläutert wird: Die Leiden des jungen Werther: D e r Titel der E r s t a u s g a b e , die i m J a h r e 1774 v o m Verleger W e y g a n d in Leipzig veranstaltet w u r d e , lautet „ D i e Leiden des j u n g e n W e r t h e r s " . Z u m f ü n f z i g j ä h r i g e n J u b i l ä u m des Erstdruckes, 1824, g a b derselbe Verlag eine v o n G o e t h e sorgfältig b e t r e u t e A u s g a b e heraus, deren Titel auf die G e n e t i v e n d u n g des N a m e n s verzichtet. D i e s c h w a c h e Flexion „ d e s j u n g e n W e r t h e r " e n t s p r i c h t d e m späteren S p r a c h gebrauch des D i c h t e r s u n d w u r d e daher f ü r die zweite Fassung des R o m a n s v o n 1787 v o n der historisch-kritischen E d i t i o n , der W e i m a r e r A u s g a b e , ü b e r n o m m e n . 1 1

Es ist schon kurios, hier wird eine Abweichung von der „Erstausgabe" 12 aufwendig begründet, die zwar im Titel der „Erläuterungen und Dokumente" erscheint, im Text des gelben Reclambandes jedoch gar nicht zu finden ist. Diese Unentschiedenheit zwischen „Werthers" im Textband und „Werther" in den zugehörigen „Erläuterungen" spiegelt die Problematik der Textherstellung, vor der sich jeder Herausgeber dieses Romans gestellt sieht. Mit Recht kann Erich Trunz feststellen: „Textgeschichtlich gehört diese [ 2 . ] Fassung zu den schwierigsten Werken, die es gibt." 1 3 Ein Blick in die Textgeschichte, die B. Seuffert in der Weimarer Ausgabe mit größter Akribie referiert, 14 vermag diese Schwierigkeiten zu erklären. Halten wir zumindest die wichtigsten Stationen kurz fest. Nach einer - zumindest Goethe zufolge - sehr kurzen Entstehungszeit k o m m t der Roman zur Michaelismesse 1774 bei der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig heraus. Dieser Erstdruck wurde mit wenig Sorgfalt hergestellt. Einzelne Druckfehler werden in einem beigegebenen Verzeichnis korrigiert, viele bleiben unbemerkt. Weygand druckt den Text - zumeist ohne den Dichter zu informieren mehrfach nach. 1775 kommt es allerdings im selben Verlag zu einer „Zweyten ächten Auflage". Goethe stellt jeweils dem „Ersten" und dem „Zweyten Theil" vierzeilige Eingangsverse voran, die seine Mitwirkung an dieser Neuausgabe dokumentieren, scheint sich jedoch nicht weitergehend um die erneute Drucklegung des Romans gekümmert zu haben. Einzelne Korrekturen der Erstauflage 10

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Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Erläuterungen und Dokumente. Hrsg. von Kurt Rothmann. Revidierte Ausgabe. Stuttgart 1987 (RUB 8113), S. 4. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Anm. 40. Daß damit zugleich eine Veränderung gegenüber dem Text der überarbeiteten Fassung von 1787 und aller ihr nachfolgenden Drucke zu Lebzeiten Goethes - angesprochen ist, wird aus dem zitierten Text kaum ersichtlich. Werther, dtv, vgl. Anm. 8, S. 212. Vgl. Anm. 9, S. 309-351.

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stammen offensichtlich vom Verleger selbst, der dazu noch einmal das Originalmanuskript zu Rate zog. Den großen Erfolg des Romans und die dadurch ausgelöste Nachfrage machten sich zahlreiche Nachdrucker zunutze, so vor allem der Berliner Verleger Christian Friedrich Himburg, der 1775 eine von ihm selbst bearbeitete, von Goethe jedoch in keiner Weise autorisierte Fassung herausbrachte, in der er den Text dem Geschmack des Berliner Lesers anzupassen suchte. Als Goethe zu Beginn der achtziger Jahre sich anschickte, eine erste von ihm selbst besorgte Sammlung seiner Werke vorzubereiten, entschloß er sich, den Werther-Roman tiefgreifend umzuarbeiten. Er ließ sich zu diesem Zweck eine sorgfältige Abschrift der früheren Fassung anfertigen, der als Vorlage freilich nicht einer der autorisierten Drucke bei Weygand diente, sondern ausgerechnet die korrupte Gestalt des Himburger Nachdrucks 15 - eine Entscheidung, die nun eine Fülle der Probleme, vor die sich jeder Herausgeber einer kritischen Werther-Edition gestellt sieht, nach sich zog. Denn wenn auch Goethe diese Abschrift 16 - mit Hilfe Herders — intensiv bearbeitete, die Briefe z.T. neu anordnete, neue Passagen hinzufügte und durchgehend bis in die Orthographie und Interpunktion hinein durchkorrigierte, so blieben doch viele der gravierenden Texteingriffe Himburgs stehen, teils weil sie seinem eigenen veränderten Sprachempfinden entsprachen, teils aber auch, weil er - und seine Helfer - sie schlicht übersahen. So bleibt denn für jeden heutigen Herausgeber eine erhebliche Unsicherheit, welche der Himburgschen Änderungen Goethes ausdrückliche Billigung fanden und welche nur durch Zufall in die spätere Textgeschichte eingingen. Und dennoch: In der gesamten Textüberlieferung zum „Werther" bleibt Η der Textzeuge mit dem größten Autorisationsgrad. Schon Seuffert stellte in seinem Nachbericht fest: „ [ . . . ] der Text von Η besitzt, abgesehen von den aus der Vorlage übernommenen Fehlern, den höchsten Anspruch auf Echtheit und dauernde Geltung. " 1 7 Η diente als Vorlage für den Druck in Goethes Schriften (S), in deren ersten Band, verlegt 1787 von Georg Joachim Göschen in Leipzig, die überarbeitete Fassung 18 des „Werther" erschien, und wurde damit Grundlage für die weitere autorisierte Textüberlieferung. U m die weiteren Drucke hat sich Goethe in den Einzelheiten sehr wenig gekümmert. Er überließ es seinen Schrei-

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Und zwar benutzte er offenbar die 1779 erschienene dritte Auflage der Himburgschen Bearbeitung, den „nachlässigsten aller Nachdrucke", wie B. Seuffert bemerkt. (WA Bd. 19, vgl. Anm. 9, S. 327.) Diese vollständig erhaltene und heute im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar verwahrte Abschrift bezeichne ich im folgenden - der WA entsprechend - als H. WA Bd. 19, vgl. Anm. 9, S. 334. In der Forschung, in Kommentaren und Drucknachweisen wird sie zumeist als „Zweite Fassung" angesprochen - eine durchaus mißverständliche Benennung, da im engeren editionsphilologischen Sinn bereits die „zweyte ächte Auflage" aus dem Jahre 1775 eine „zweite Fassung" innerhalb der Überlieferung des Gesamttextes darstellt. Ich werde daher im folgenden stattdessen von der überarbeiteten Textfassung aus dem Jahr 1787 oder abgekürzt von der „Bearbeitung von 1787" sprechen.

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bern und Sekretären, den Wiederabdruck des Romans in den später bei Cotta in Stuttgart und Tübingen erschienenen Sammelausgaben zu überwachen: im 11.Band der „Werke" (A) aus dem Jahre 1808, im 12. Band der „Werke" (B) aus dem Jahre 1817 und schließlich im 16.Band der „Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand", die wiederum in zwei Taschenausgaben (1828; C j und C2) und in die Oktavausgabe (1830; C) zu differenzieren ist. Diese „Ausgabe letzter Hand", die früher für die Textgestaltung als maßgebend angesehen wurde, hat Goethe wohl in der Auswahl und Anordnung seiner Texte genau geplant; die Ausführung im einzelnen, die Herstellung der Druckvorlage und die Drucküberwachung, überließ er gerade im Falle des „Werther" jedoch weitgehend Carl Wilhelm Göttling, den er mit der abschließenden Redaktion seiner letzten Werkausgabe betraute. 1 9 Göttling glättete und vereinheitlichte nicht nur an vielen Stellen den Text, sondern normierte durchgehend nach starren Regeln Orthographie und Interpunktion. Obwohl von Goethe autorisiert bieten die Drucke S - C einen Text, der zunehmend durch die Eingriffe von Setzern und Korrektoren überfremdet wird. Aus diesem Grund erhält die vollständig überlieferte Druckvorlage Η des Jahres 1787 für die Textkonstitution eine herausgehobene Sonderstellung; der „Werther" in der Bearbeitung vonl787 stellt geradezu ein Musterbeispiel für Siegfried Scheibes Bestimmung dar: D e r Edierte T e x t b e r u h t [ . . . ] auf der vollständig überlieferten D r u c k v o r l ä g e z u m autorisierten E r s t d r u c k [ . . . ] unter der Voraussetzung, daß der A u t o r n a c h w e i s l i c h keine K o r r e k t u r b o g e n gesehen b z w . korrigiert h a t . 2 0

Wenn jedoch Erich Trunz in seiner Hamburger Ausgabe meint: Die W e i m a r e r A u s g a b e e r w a r b sich ein bleibendes Verdienst, i n d e m sie i h r e m D r u c k erstmalig die H a n d s c h r i f t (H) z u g r u n d e legte, die eindeutigen H i m b u r g s c h e n Fehler u n d Willkürlichkeiten a u s m e r z t e u n d in einem g r o ß e n Lesartenapparat alle Varianten m i t t e i l te 2 1 ,

so ist diese Feststellung in mehrfacher Weise unzutreffend. Z u m einen galt auch für den „Werther" der „Grundsatz" der Weimarer Ausgabe, der von Bernhard Suphan im Vorbericht des ersten Bandes mit folgenden Worten festgehalten wurde: [... ] bei Allem, was Gestalt und Erscheinung der Ausgabe im Großen wie im Einzelnen betrifft, soll befolgt werden, was uns als Goethes selbstwillige Verfügung bekannt ist. [ . . . ] F ü r d e n D r u c k der W e r k e hat er selbst die N o r m g e g e b e n in der Ausgabe letzter Hand. Sie ist sein Vermächtnis. E r hat m i t g r ö ß t e r U m s i c h t , m i t einer Sorgfalt w i e bei keiner f r ü h e r e n ,

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Zur Bedeutung Göttlings als Redaktor der „Ausgabe letzter Hand" vgl. die Darstellung Ernst Grumachs in seinen „Prolegomena zu einer Goethe-Ausgabe" (in: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von E.Grumach. Berlin 1959, S. 1-34, hier vor allem S. 15ff.). S. Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten, vgl. Anm. 2, S. 1-44, hier S. 38f. Werther, dtv, vgl. Anm. 8, S. 212f.

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sich um die Reinheit und Vollkommenheit dieser Ausgabe selbst bemüht. [... ] Nur aus zwingenden Gründen soll von der Lesart C abgegangen werden; die Änderungen, die auf Grund der Handschriften und der älteren Drucke oder auf Grund selbständiger Kritik vorgenommen werden, müssen sich als nothwendige ausweisen. [... ] In dem gleichen Sinne ist C maßgebend für Orthographie und Interpunction. Nicht eine sklavische Wiederholung, nicht ein bloßer Neudruck von C ist es, worauf es in dieser Beziehung ankommt, nicht das Zufallige und Willkürliche soll fortgepflanzt werden. Fehlerhaftes wird berichtigt, Schwankungen und Unebenmäßigkeiten der Schreibung, die trotz Göttlings philologischer Sorgfalt, namentlich in den ersten Theilen, sich vorfinden, werden thunlichst beseitigt [ . . . ] . Maßgeblich ist bei schwankender Schreibung die Statistik; wo diese kein klares Ergebniß liefert, [... ] wird der im heutigen Gebrauch üblichen Form der Vorzug gegeben. 22

Diese Sätze haben selbstverständlich auch für die Textkonstitution des „Werther" im 19. Band der WA ihre unumstößliche Geltung; selbst wenn B.Seuffert - mehr als andere Redaktoren dieser Edition - bereits die Notwendigkeit sah, in die Textgestalt von C einzugreifen und vor allem auf die überlieferte Druckvorlage Η für die Ausgabe von 1787 zurückzugreifen, blieb auch für ihn C die Grundlage der Textwiedergabe; Η war lediglich die „Grundlage" der „Berichtigung des C-Textes". 2 3 Zum anderen ist aber auch der Hinweis von E.Trunz, Seuffert stelle in seinem „großen Lesartenapparat alle Varianten" dar, ein Irrtum. „Orthographisches, das dem Ohre nicht vernehmbar ist", bleibt in der Variantendarstellung der WA ebenso unberücksichtigt wie die „für Sinn und Rhythmik werthlosen Kommata". Und resümierend bemerkt Seuffert: Eiserne Consequenz in der Auswahl der mitgetheilten Lesarten ist nicht beabsichtigt, es musste dem Gefühle des aus der Überfülle schöpfenden Herausgebers überlassen bleiben, was ihm beachtenswerth zu sein schien. 24

Ich bin an dieser Stelle noch einmal etwas ausführlicher auf die Problematik der Weimarer Ausgabe eingegangen, weil sie - trotz der schon frühzeitig einsetzenden Kritik - gerade für die Konstitution von Goethetexten in Studien- und Leseausgaben vielfach noch als kanonisch gilt. Der Ruf nach einer neuen historisch-kritischen Goethe-Gesamtausgabe ist bislang nur in Ansätzen eingelöst worden. Das leider abgebrochene Projekt der Akademie-Ausgabe hat für den „Werther" zumindest eine neue Textgrundlage erbracht: Seit 1954 liegt - von Erna Merker bearbeitet — der Textband mit einer synoptischen Gegenüberstellung der „Ersten

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WA, vgl. Anm. 9, Band 1. Weimar 1887, S. X I X ff. - Hervorhebungen von B.Suphan. WA, vgl. Anm. 9, Band 19, S. 351 (Hervorhebung von mir). WA, vgl. Anm. 9, Band 19, S. 352. - Neben der unübersichtlichen Anlage des Apparates, die allein im Hinblick auf die Quantität noch als „groß" bezeichnet werden kann, ist dieses Aus wahlprinzip der Hauptgrund dafür, daß nach der WA frühere Fassungen des „Werther" nicht vollständig rekonstruiert werden können.

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und Zweiten Fassung" vor. 2 5 Nach den von S. Scheibe mitgeteilten Grundsätzen 26 folgt der Abdruck der „Ersten Fassung" der Erstausgabe von 1774, derjenige der Bearbeitung von 1787 der Handschrift H. Kommen wir nunmehr zur Beantwortung der oben gestellten Frage nach dem Titel zurück, so finden wir in der Akademie-Ausgabe (AA) eine Überraschung: Die Bearbeitung von 1787 trägt dort die Überschrift „Leiden des jungen Werthers" - also nicht nur mit der Konservierung des - heute nicht mehr gebräuchlichen - Genetiv-s beim Eigennamen, 2 7 sondern - und das scheint mir nun sehr viel bedeutsamer - unter Fortfall des einleitenden bestimmten Artikels. Konsultieren wir den Apparat der WA, so finden wir, daß in genau dieser Gestalt der Roman seit 1787 in allen bei Göschen und bei Cotta erschienenen Drucken - einschließlich also der Ausgabe letzter Hand - betitelt wurde. Eine Ausnahme bilden die auch weiterhin bei Weygand erscheinenden Neudrucke, von denen allein die aus Anlaß des 50jährigen Druckjubiläums vorgelegte „Neue Ausgabe, von dem Dichter selbst eingeleitet" (Leipzig 1824) die Billigung Goethes findet. Aber abgesehen von dem einleitenden Gedicht („Noch einmal wagts Du, vielbeweinter Schatten [...]"), das er anstelle einer Vorrede für diese Jubiläumsausgabe beisteuert, hat Goethe nicht weiter in den Text eingegriffen. Schon in der WA erkannte Seuffert, daß diese Ausgabe einen für die Textkonstitution wertlosen Mischtext aus dem Erstdruck und der Bearbeitung von 1787 bietet. 28 So kann denn auch die von Weygand bewahrte Titelgestalt 29 der in seinem Verlag erschienenen Erstausgabe kein Argument sein für eine Übernahme in den Text der Bearbeitung von 1787.30 Wenn Reclam in seinem Textband - anders als in den „Erläuterungen und Dokumenten" vermerkt - das Genetiv-s bewahrt, so ist das bereits ein Fingerzeig darauf, daß nicht die Weimarer-Ausgabe als Druckvorlage diente. Eine genauere

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Werke Goethes [in Einzelbänden]. Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Die Leiden des jungen Werthers. Bearbeitet von E.Merker. Berlin 1954. Der zugehörige Apparatband ist nicht mehr erschienen. Vgl. Anm. 20. Selbst wenn in der Vorrede („Was ich von der Geschichte des armen Werthers [ . . . ] " ) in den späteren Drucken ab Α das Genetiv-s wegfällt, so berechtigt dieser Befund in keiner Weise den Herausgeber, den Titel danach zu normieren: Z u m einen wissen wir nicht, in wieweit diese Änderung auf Goethe zurückgeht, zum anderen bleibt ungewiß, ob nicht Goethe trotzdem bei der gewohnten Fassung des Titels bleiben wollte, und zum dritten gehört die Änderung nicht zur Textschicht der für den Druck maßgebenden Handschrift H. Dazu führt B.Seuffert aus: „Der Text des Romans ruht zweifellos auf dem [... ] Weygandschen Mischdrucke von 1787 und wird dadurch nicht wertvoller, das seine ersten Bogen [... ] in Goethes Haus durchgegangen wurden." (WA, Bd. 19, vgl. Anm. 9, S. 342.) Der Titel lautet in der 1824 erschienenen Ausgabe - unter Fortfall des Genetiv-s - „Die Leiden des jungen Werther". Das gilt dann auch für die Tatsache, daß der einleitende bestimmte Artikel bereits seit 1777 in den Himburgschen Nachdrucken fortgefallen ist. Gerade bei der exponierten Stellung des Titels müssen wir davon ausgehen, daß Goethe diesen Eingriff Himburgs keinesfalls übersehen haben dürfte, so daß wir auch hier eine nachträgliche Autorisierung durch den Dichter annehmen müssen.

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Ü b e r p r ü f u n g bestätigt d e n n auch, w a s s c h o n der A b d r u c k eines N a c h w o r t s v o n E r n s t B e u t l e r nahelegt: D e r Text folgt - o f f e n b a r o h n e w e i t e r e n E i n g r i f f - d e m W o r t l a u t der v o n Beutler h e r a u s g e g e b e n e n u n d i m A r t e m i s - V e r l a g erschienenen „ G e d e n k a u s g a b e " , 3 1 einer der zahlreichen (und d u r c h einen N a c h d r u c k bei d t v weit verbreiteten) G o e t h e - S t u d i e n a u s g a b e n n a c h d e m 2. Weltkrieg. So richten sich die F r a g e n , die sich angesichts der T e x t g e s t a l t u n g der R U B e r g e b e n , zugleich auch an diese E d i t i o n . D e n n der Vergleich m i t der historisch-kritischen A u s g a b e des A k a d e m i e - V e r l a g e s ergibt recht w e i t g e h e n d e A b w e i c h u n g e n v o n d e m d o r t k o n stituierten T e x t . Sehen w i r u n s zunächst ein Beispiel aus d e m 2 . B u c h an: 1 Gegen eilfe fragte Werther seinen 2 Bedienten, ob wohl Albert zurück 3 gekommen sey? Der Bediente sagte: 4 ja, er habe dessen Pferd dahin führen 5 sehen. Daraufgibt ihm der Herr ein 6 offnes Zettelchen des Inhalts:

Gegen Eilfe fragte Werther seinen Bedienten, ob wohl Albert zurückgekommen sei? Der Bediente sagte: ja, er habe dessen Pferd dahin führen sehen. Drauf gibt ihm der Herr ein offenes Zettelchen des Inhalts:

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„Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen leihen? Leben Sie recht wohl!"

Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden Reise Ihre Pistolen leihen? Leben Sie recht wohl!

10 Die liebe Frau hatte die letzte Nacht 11 wenig geschlafen, was sie 12 gefürchtet hatte, war entschieden, 13 auf eine Weise entschieden, die sie 14 weder ahnden noch fürchten konnte; 15 ihr sonst so rein und leicht 16 fließendes Blut war in einer 17 fieberhaften Empörung, tausenderley 18 Empfindungen zerrütteten das 19 schöne Herz. War es das Feuer von 20 Werthers Umarmungen, das sie in 21 ihrem Busen fühlte? war es Unwille 22 über seine Verwegenheit? war es 23 eine unmuthige Vergleichung ihres 24 gegenwärtigen Zustandes mit jenen 25 Tagen ganz unbefangener freyer 26 Unschuld und sorglosen Zutrauens an 27 sich selbst? Wie sollte sie ihrem 28 Manne entgegen gehen? wie ihm eine 31

Die liebe Frau hatte die letzte Nacht wenig geschlafen; was sie gefürchtet hatte, war entschieden, auf eine Weise entschieden, die sie weder ahnen noch fürchten konnte. Ihr sonst so rein und leicht fließendes Blut war in einer fieberhaften Empörung, tausenderlei Empfindungen zerrütteten das schöne Herz. War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie in ihrem Busen fühlte? War es Unwille über seine Verwegenheit? War es eine unmutige Vergleichung ihres gegenwärtigen Zustandes mit jenen Tagen ganz unbefangener freier Unschuld und sorglosen Zutrauens an sich selbst? Wie sollte sie ihrem Manne entgegengehen? Wie ihm eine

Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 4: Der junge Goethe. Einführung und Textüberwachung von Ernst Beutler. Zürich 1953. S. 382-511: Die Leiden des jungen Werthers. 1783/1786 [Zweite Fassung], - Die einzige Abweichung, die mir auffiel, ist die Position des Vorworts Goethes; sie steht, wie in fast allen Taschenbuchausgaben, vor dem „Ersten Buch", während die Gedenkausgabe - wie alle Drucke der Goethe-Zeit - sie an den Anfang des ersten Buches stellt.

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Scene bekennen, die sie so gut gestehen durfte und die sie sich doch zu gestehen nicht getraute. 32

Szene bekennen, die sie so gut gestehen durfte und die sie sich doch zu gestehen nicht getraute? 33

Die Tendenz der Veränderungen, die der Taschenbuchtext (rechte Spalte) gegenüber der ursprünglichen Fassung in Η (linke Spalte) vornimmt, ist eindeutig: Der Text wird in Interpunktion und Orthographie stark den heute geltenden Regeln angeglichen. Abgesehen von der Wahrung des Lautstandes in „Eilfe" (Z.l) entspricht die Textgestalt der N o r m des aktuellen Duden: th und y werden werden durch t und i ersetzt, Wörter wie „zurück gekommen" (Z.2f.) zusammengeschrieben, der Text des „Zettels" (Z.7-9) durch Anführungszeichen herausgehoben und die Kleinschreibung nach Fragezeichen (Z.21-28) verändert. Sind das alles Belanglosigkeiten? Wird nicht gerade im letzten Fall deutlich, wie die Normierung Unterschiede (z.B. die einen Neuansatz markierende Großschreibung in Z.27) nivelliert und den sich gleichsam überstürzenden Fragen die Schärfe nimmt? Noch deutlicher wird die Tragweite eines solchen sinnverändernden Eingriffs in die Interpunktion, wenn in der berühmten Wenn-Periode des Briefs vom 10. Mai (1771) vor dem „und" durchgehend das Komma getilgt wird: Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege und näher an der Erde tausend mannichfaltige Gräschen mir merkwürdig werden; wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen [ . . . ] . 3 4

Die Kommata vor dem „und", die nicht unseren heutigen Interpunktionsregeln entsprechen, haben in diesem Abschnitt eine bedeutsame Funktion, indem sie inmitten des weiten Satzbogens jedes einzelne Bild für sich stehen lassen, Einschnitte im Sprachfluß markieren und dem Sprecher/Leser zugleich Sprechpausen signalisieren. Gerade die Sensibilität, die immer wieder Goethe der Zeichensetzung gegenüber zeigt, die ihn 1815 sogar andererseits dazu führt, bei seinem Verleger die „falsche Interpunction", die sich eingeschlichen habe, die „Anhäufung der Commaten, wodurch ein einfacher Satz entzwey geschnitten wird", zu monieren, 35 muß dem Herausgeber Apell genug sein, ,regelwidrig' erscheinende Interpunktion zu respektieren und in der weiteren Überlieferung zu bewahren. Und das gilt insbesondere, wenn sie in einem Zeugen überliefert ist, der von Goethe so sorgfältig durchgesehen wurde, wie die Vorlage Η zum Druck der überarbeiteten Fassung 1787.

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AA, vgl. Anm. 25, S. 148 und 150 RUB, vgl. Anm. 7, S. 139. - In diesem Abdruck sind außerdem die Leerzeilen vor und nach dem Text des „Zettelchen" weggefallen. AA, vgl. Anm. 25, S. 5. Brief an Cotta vom 6.12.1815, zit. nach E.Grumach: Prolegomena, vgl. Anm. 18, S. 20.

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In der Tendenz der Angleichung und Normalisierung war die Weimarer Ausgabe dem Herausgeber der Artemis-Ausgabe auf halbem Wege bereits entgegengekommen. Entsprechend den im 1. Band der WA aufgestellten Richtlinien sah es auch B.Seuffert als seine Aufgabe an, „Ungleichheiten" zu verbessern und „ U n ebenheiten" zu regulieren. 36 Mit dieser Begründung löste schon die WA alle Abkürzungen auf und vereinheitlichte die Datumsangaben. Statt „am 20. Dec." lesen wir „Am 20. December.". Die Ausgaben bei Artemis/Reclam lassen dann auch noch den Punkt hinter der Datumsangabe weg und passen den Monatsnamen der heutigen Schreibweise an. Doch auch hier wäre zu fragen, ob nicht die ganze Inkonsequenz der Wertherschen Datumsangaben - die Verkürzungen, das Weglassen und Wiederholen von Jahreszahlen wie auch der Wechsel von „Am" und „Den" 3 7 - mit zur Charakteristik des Briefschreibers Werther gehört. Es zeigt sich, daß die Annäherung an den modernen Leser in diesen viel benutzten Lese- und Studienausgaben mit der Abwendung von der Eigenart des Goetheschen Textes erkauft wird. Und diese Beobachtung gilt in fast gleicher Weise von den vier Taschenbuchausgaben, die ihre Textgestalt von der Hamburger Goethe-Ausgabe ableiten. Die Hamburger Ausgabe (HA) 38 gehört - gerade auch im Hochschulbereich zu den verbreitetsten Goethe-Editionen: Diese bequem zu nutzende, in der Kommentierung und in den Beigaben höchst verdienstvolle Aufbereitung des Goetheschen CEuvres zeigt sich in der Textgestaltung des „Werther" freilich als höchst zweifelhafte Autorität. 3 9 Abgedruckt wird hier allein der Text der Bearbeitung aus dem Jahre 1787, u.zw. unter dem Titel „Die Leiden des jungen Werther": Im Abschnitt „Zur Textgestalt des Werther" wird der Fortfall des Genetiv-s - wir kennen die Argumentation bereits aus Reclams „Erläuterungen und Dokumenten" 4 0 - mit dem (unzutreffenden) Verweis auf die Jubiläumsausgabe von 1824 begründet; die Konjektur „Die" wird hingegen keiner Erwähnung wert befunden. 4 1 Den durchaus informativen Ausführungen von Erich Trunz kann der Leser

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W A , vgl. A n m . 9, Bd. 19, S. 351. So wird schon in der W A - gegen Η und alle D r u c k e nach Η - i m 1. Buch „den 8. Julius." in „ A m 8. Julius." geändert. Goethes Werke. H a m b u r g e r Ausgabe in 14 Bänden. H r s g . v o n Erich T r u n z . Bd. 6: R o m a n e u n d Novellen I. Textkritisch durchgesehen v o n E . T r u n z . K o m m e n t i e r t v o n E . T r u n z und Benno v o n Wiese. 10. neubearbeitete Aufl. M ü n c h e n 1981. Darin: S. 7 - 1 2 4 , 517-605 u n d 757-766: Die Leiden des j u n g e n Werther; textidentischer Wiederabdruck in: Werther, dtv, vgl. A n m . 8. Die hier vorgetragene Kritik an der Textgestalt der H A gilt nicht für alle Bände dieser Edition; so bieten etwa die B ä n d e 9 u n d 10 einen höchst beachtenswerten (von L. Blumenthal bearbeiteten) kritischen Text der Schrift „ D i c h t u n g u n d Wahrheit". - Z u r Kritik des Textabdrucks der „Wahlv e r w a n d t s c h a f t e n " in der H A vgl. N . O e l l e r s : Angleichung [ . . . ] , vgl. A n m . 2, 36ff. Die oben zitierte B e g r ü n d u n g i m grünen Reclamband orientiert sich bis in die Einzelformulierung hinein a m Rechenschaftsbericht der H A . Es erscheint völlig unverständlich, wie T r u n z in seinem Rechenschaftsbericht behaupten konnte: „ D e r Titel der meisten Ausgaben zu Goethes Zeit lautet: Die Leiden des jungen Werthers". (HA S. 603)

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zwar wichtige Einzelheiten zur Text- und Druckgeschichte des Romans entnehmen, eine hinreichende Klärung und Rechtfertigung der Textgestalt in der H A wird er jedoch vergebens suchen. Zweifel an dem Verfahren, den edierten Text der WA mit Lesarten späterer Goethe-Ausgaben zu kontaminieren und darüberhinaus durchgehend zu modernisieren, scheinen dem Herausgeber in der Zeit seit der 1. Auflage (1951) selber gekommen zu sein. Seit der 10. Aufl. rückt er einen Hinweis auf den „sorgfältigen Parallel-Druck beider Fassungen" in der AkademieAusgabe ein. Und offensichtlich nicht unbeeindruckt von dem dort abgedruckten Text ventiliert er, ob nicht für uns, die „wir heute den , Werther' aus historischem Abstand lesen", historische Wortformen wie „ahnden" und „Ahndung" besser zu belassen seien. Doch er schlägt sich schnell solche ketzerischen Gedanken wieder aus dem Kopf, und wir müssen erfahren: da aber in der Erstausgabe des vorliegenden Bandes die Formen der Ausg. I. Hand und der Weim. Ausg. gedruckt sind, sind diese auch in der vorliegenden Auflage beibehalten. 42

Aus Gründen der verlegerischen Kalkulation muß der Leser der H A — und damit zugleich die Benutzer der am weitesten verbreiteten Lesetexte - auf die Einsichten der modernen Textphilologie verzichten. Es ist schon paradox: Die Studienausgabe, die doch - nach Hans Zeller - den Vorzug der schnelleren Anpassung an den jeweiligen Wissenschaftsstand aufweisen sollte, stellt sich in unserem Fall als konservativer heraus als die historisch-kritische Edition: Sie bleibt trotz besserer Einsicht bei der einmal erstellten Textgestalt, und sollte diese sich nachträglich als noch so obsolet herausstellen. 43 Schon der Blick auf den Reclam-Text vermochte zu zeigen, wie fragwürdig sich der normierende und normalisierende Eingriff in einem Roman wie den „Werther" erweist. Norbert Oellers und Hans Zeller 44 haben mit schlagenden Argumenten zeigen können, daß eine noch so ,behutsam' vorgenommene Angleichung literarischer Texte an den heutigen Sprachstandard den Zugang zur historischen Bedeutung des Werkes verstellt, daß für das Verständnis wesentliche Dimensionen im Prozeß einer solchen Modernisierung verloren gehen müssen. Die Normalisierung in der HA beginnt sogleich bei der Stellung des Vorworts „Was ich von der Geschichte des armen Werthers [ . . . ] " : In Η und in allen Η 42 43

44

HA, vgl. Anm. 38, S. 603. Es zeichnet sich ab, daß die vielfach obsolete Textgestalt der HA selbst noch die Goethe-Rezeption des elektronischen Zeitalters bestimmen wird: Die Hamburger Ausgabe wurde nämlich als Grundlage der angekündigten „Werke" Goethes in der neuen „Elektronischen Bibliothek zur deutschen Literatur" gewählt (herausgegeben von Randall L. Jones, Helmut Schanze, Steven P. Sondrup. Tübingen 1991ff.). Der Verlag kündigt dieses zweifellos folgenreiche Unternehmen an mit dem Hinweis: „Bei der Wahl der Referenzedition wird auf Verfügbarkeit und Textqualität[!] geachtet." Auf Disketten gespeichert wird die HA also noch viele Lesergenerationen begleiten. N.Oellers: Angleichung [ . . . ] , vgl. Anm. 2; H.Zeller: Für eine historische Edition, vgl. Anm. 3, und vor allem jetzt: H.Z.: Was nützt die Modernisierung der historischen Orthographie in unsern Klassiker-Ausgaben. In: editio 4, 1990, S. 44-56. (Dort auch weitere Literaturhinweise zum Thema der Modernisierung.)

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folgenden autorisierten Drucken (entsprechend auch in WA und AA) findet sich der Text zu Beginn des „Ersten Buches", 4 5 die HA - und darin folgen ihr mit Ausnahme des Goldmann-Textes alle mir bekannten Taschenbuchausgaben stellt ihn vor das „Erste Buch". Warum? Korrektur einer Inkonsequenz Goethes? Und wenn es eine ist, welches Recht haben wir, hier einzugreifen? Wer sagt uns denn, daß diese Position vom Autor nicht mit einer bestimmten Bedeutungsabsicht verbunden wurde? Folgenreich ist die Ergänzung von Anführungszeichen: Gewiß finden sie sich auch schon in der Textgestalt, wie wir sie aus Η und den späteren Drucken kennen; aber äußerst sparsam verwendet und vor allem: nicht einer festen Regel gehorchend. Die HA setzt demgegenüber jede wörtliche Rede, jedes Zitat eines Briefes oder eines Zettels in Anführungszeichen. Was Werther selbst am Gesandten so scharf kritisierte, galt der HA offensichtlich als Richtschnur des Texteingriffs: Ich arbeite gern leicht weg, und wie es steht so steht es: da ist er [der Gesandte] im Stande, mir einen Aufsatz zurück zu geben und zu sagen: er ist gut, aber sehen Sie ihn durch, man findet immer ein besseres Wort, eine reinere Partikel. Da möchte ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindwörtchen darf außenbleiben, und von allen Inversionen die mir manchmal entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Perioden nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts drin. 4 6

Pedantisch korrigiert die HA auch in diesem Abschnitt die Zeichensetzung: Der Aussageblock „wie es steht so steht es" wird in zwei Kola zerteilt, und der nachfolgende Doppelpunkt durch das logisch richtigere Semikolon ersetzt; mit der Ergänzung eines e wird das fremdanmutende „Bindwörtchen" an den heutigen Sprachgebrauch angeglichen (so auch in WA), und offensichtlich paßte dem Herausgeber die Form „Period" aus dem Erstdruck besser als die ab 1787 von Goethe bevorzugte Flexion „Perioden", obwohl er im Kommentar selber anmerkt: „beides in der Sprache des 18. Jahrhunderts korrekt". 4 7 Vor allem setzt er jedoch die wörtliche Rede des Gesandten - entgegen der Überlieferung - in Anführungszeichen und fügt, damit der Leser ganz sicher geht, hinter „Partikel" einen Gedankenstrich hinzu. Gerade die , konsequente' Ergänzung von Anführungszeichen zeigt, zu welchen grotesken Auswüchsen die Normierung führen muß. Denn einerseits sieht sich Trunz veranlaßt, die im Bericht des „Herausgebers an den Leser" mitgeteilten Briefe in Gänze als zitierte Rede zu kennzeichnen - und man fragt sich, ob dann nicht gleich alle Briefe des Romans, die der .Herausgeber' „mit Fleiß gesammelt" seinem Leser vorlegt, in Anführungszeichen gesetzt werden sollten - andererseits stößt er geradezu zwangsläufig aufjene Stellen, in denen Werther die Rede an sich 45

46 47

Schon im Erstdruck (1774) leitete der Text nicht den Roman insgesamt, sondern dessen „Ersten Theil" ein. AA, vgl. Anm. 25, S. 73. HA, vgl. Anm. 38, S. 581.

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selbst richtet: „Da du glücklich warst! rief ich aus, schnell vor mich hin nach der Stadt zu gehend, da dir es wohl war, wie einem Fisch im Wasser!" 48 Trunz hat sich entschieden, an dieser Stelle nun keine die Rede kennzeichnenden Zeichen zu setzen. Diese Entscheidung ist folgenreich, erhebt sie doch - im Kontext der sonst so regelhaften Zeichensetzung — diese Partien zum inneren Monolog: immerhin ein recht weitgehender deutender und, wie ich meine, ahistorischer Eingriff in die überlieferte Textstruktur. Diese Studienausgabe wurde für die meisten der hier untersuchten Taschenbücher zum Muster: dtv übernimmt - samt dem Kommentarteil- sogleich den gesamten Satz der HA; aber auch „detebe", das „Klettbuch" und das „Hamburger Leseheft" 49 folgen - den jeweils nur knapp gegebenen Hinweisen zufolge - der Trunzschen Textgestalt, teilweise wiederum mit weiteren Eingriffen: So etwa wird in dem „Leseheft" kräftig weiter normiert und nicht nur, wie die Textrechtfertigung vorgibt, „zwischen wörtlicher Rede und redaktionellen Zusatz [... ] ein die wörtliche Rede schließender Punkt durch ein Komma ersetzt", sondern darüberhinaus die Anrede „Du" durchgehend groß geschrieben, Elisionen des e wie in „Jahrszeit" rückgängig gemacht usf. Klett vertreibt heute noch einen Nachdruck der 7. Auflage der HA einschließlich jener recht ärgerlichen Druckfehler, die erst in der Überarbeitung des Jahres 1981 (10. Aufl.) aus der HA eliminiert wurden. Und Diogenes, der in seiner detebe-Reihe den Satz der HA ohne weitere Angabe der hier abgedruckten Fassung fotomechanisch wiedergibt, stellt dem Nachdruck auch noch die von Trunz erstellte „Inhaltsübersicht" voran. Sie faßt Gruppen von Briefen mit interpretierenden Hinweisen zusammen (so ζ. B. zu den „Briefen vom 10. Oktober - 6. Dezember 1772: Ossian - N u r noch Empfindung und Leidenschaft — Dauernde Selbstmordgedanken — Der irre Blumensucher im Winter Tod und religiöse Existenz") 50 : durchaus anfechtbare Deutungen und Akzentsetzungen, die in der HA freilich ausdrücklich funktional auf die Kommentierung in dieser Edition bezogen sind. 5 1 Aus diesem Zusammenhang gerissen und unmittelbar vor den Romantext gestellt, erhalten diese Hinweise im Taschenbuch die Dignität des Dichterworts, werden sie für den Leser zu einem höchst problematischen Leitfaden des eigenen Textverständnisses. Bleibt uns ein kurzer Blick auf zwei weitere Taschenbücher, deren Textgestalt nicht auf die H A zurückgeht. Was die Grundlage des Werther-Abdrucks im inseltaschenbuch 52 ist, wird der Leser in dem schön aufgemachten Bändchen freilich vergebens suchen. Zu den zahlreichen Illustrierungen und Faksimiles gibt dieses 48 49 50 51

52

AA, vgl. Anm. 25, S. 110. Zu den näheren Angaben der vier angeführten Taschenbücher vgl. Anm. 8. HA, vgl. Anm. 38, S. 778. „In der Inhalts-Übersicht formuliertejeder Kommentator die Stichworte zu den von ihm behandelten Werken." (HA, vgl. Anm. 38, S. 778) Vgl. Anm. 8.

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Taschenbuch nach allen Regeln der Kunst genaue Bildnachweise; das Fragment des in Weimar verwahrten Werther-Manuskriptes wird nachgebildet und die Titelblätter des Erstdrucks sowie der „Zweyten ächten Auflage" sind wiedergegeben. Daß der Leser jedoch keinen der hierdurch angezeigten Texte vor sich hat, sondern die Bearbeitung aus dem Jahre 1787, kann er dem Band nicht entnehmen. Und erst recht bleibt der Verlag jede weitere Auskunft über Druckvorlage und vorgenommene Eingriffe schuldig. Aber genau die gibt es hier - teilweise noch weitergehend als in den bislang vorgestellten Texten — wiederum in großem Ausmaß: Natürlich werden auch hier alle für den modernen Leser anstößigen Schreibungen normiert, alle Abkürzungen aufgelöst und Inkonsequenzen des Briefschreibers Werther beseitigt; hier stört kein Apostroph mehr, hier wird selbst in die sonst zumeist sorgsam bewahrte Lautstruktur eingegriffen („ergötzt" statt „ergetzt"); immerhin bleibt zu erwähnen, daß die Interpunktion sich mehr am Original orientiert als in der HA. Die Taschenbuchausgabe des Goldmann-Verlages endlich bietet als einzige den Text des Erstdrucks, u.zw. - laut Impressum - die „Vollständige Ausgabe der ersten Fassung der ,Leiden des jungen Werthers'(1774)". Wenn allerdings der Leser glaubt, wenigstens in dieser Ausgabe - die ihren Text programmatisch als historisches „Zeugnis einer bürgerlichen Generation vor zweihundert Jahren" versteht 5 3 - den originalen Wortlaut des Drucks aus dem Jahre 1774 vorzufinden, so hat er sich auch hier wiederum getäuscht: Noch weniger als die bislang besprochenen Leseausgaben spart dieses Taschenbuch mit Texteingriffen; aufjeder Seite finden sich an die dreißig Abweichungen gegenüber dem Erstdruck. Man mag es noch hinnehmen, daß Ergänzungen und Korrekturen aus der „zweyten ächten Auflage" von 1775 mit eingearbeitet werden, obwohl der dadurch entstehende Mischtext nicht unproblematisch ist; gravierender ist freilich, daß durch die Fülle der Eingriffe diesem Zeugnis des frühen Goethe die Eigenart und historische Patina genommen wird. Die impulsive Zeichensetzung wird nicht etwa .behutsam', sondern mit eiserner Konsequenz den Regeln der modernen Interpunktion unterworfen, selbstverständlich alle altertümlichen Schreibungen normiert, und darüberhinaus nun alle Dialekteinfärbungen eliminiert. Da lesen wir „das bißchen Ü b e l " statt „das Bisgen Uebel", das „verfallne Cabinetgen", „das sein Lieblingspläzgen war und auch mein's ist" wird zum „Kabinettchen", „das sein Lieblingsplätzchen war und auch meins ist" usf. Wer für diese rigorose Modernisierung des ursprünglichen Romantextes verantwortlich ist, wie sie begründet wird und welchen Vorlagen sie folgt, erfahren wir aus dieser Ausgabe, die in ihrem durchaus lesenswertem Nachwort gerade das Anstößige der „regionalen Sprechweise", die Unebenheiten und Inkonsequenzen als spezifische Aussage hervorhebt, nicht. Wenn Hans-Wolf Jäger zu vollem Recht konstatiert: „Werther praktiziert sehr bewußt eine Ausdrucksweise, die der öffentlich genehmigten Diktion wider53

Werther, Goldmann Klassiker, vgl.Anm. 6, S. 127.

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spricht", 54 so ist von diesem, in Schreibweise und Zeichensetzung unmittelbar ablesbaren Protest am derzeit gültigen Regelkanon in dem „Goldmann Klassiker" nur noch wenig Übriggeblieben - sehr schade, denn eine authentische Leseausgabe der Erstfassung hätte heute, gerade auch als Ergänzung und Korrektur der HA, die auf die Mitteilung von Varianten aus der frühen Fassung bewußt verzichtet, eine wichtige Funktion zu erfüllen. 1.2 Die Kommentarteile Nur einen knappen Blick wollen wir auf die weiteren Informationen werfen, die dem Leser in den Taschenbuchausgaben des „Werther" geboten werden. Sie wären gewiß einer eigenen ausführlichen Untersuchung wert; da sie jedoch auch ihrerseits noch einmal das Problem der Textkonstitution beleuchten, wollen wir sie an dieser Stelle nicht ganz übergehen. Mit Recht ist die Hamburger Ausgabe wegen ihrer Kommentarteile gelobt worden und gerade in dieser Hinsicht zum vielfach imitierten Muster moderner Studienausgabe geworden. Das Nachwort von Erich Trunz, seine Anmerkungen, die Beigabe von „Quellen und Daten zur Geschichte" des Romans sind seit der Erstauilage (1951) in den späteren Ausgaben weitgehend unverändert nachgedruckt worden. Es spricht für den Rang dieses Literaturwissenschaftlers, daß er zur Abfassungszeit des Anhangs seiner Werther-Ausgabe weit über die damals verbreiteten Umgangsweisen mit Literatur hinausging und mit einer Vielfalt von Belegen und Hinweisen gerade auch die historische Dimension des Romans zugänglich machte. Das macht seinen Kommentar auch heute noch lesenswert, wenn auch eine gewisse Einseitigkeit seiner Deutungsperspektive nicht zu übersehen ist. N i m m t man jedoch sein Nachwort und seine Anmerkungen als ein Interpretationsangebot, das durch die (in den verschiedenen Neuauflagen stets aktualisierten) Literaturangaben auch um abweichende Positionen ergänzt wird, so ist die ungekürzte Übernahme in das dtv-Taschenbuch vorbehaltslos zu begrüßen. So bietet diese Leseausgabe nicht nur eine Fülle von Verständnishilfen, sondern wird für Schüler und Studenten zu einem mit großer Sorgfalt zusammengestellten Arbeitsinstrument. Bedauerlich bleibt dabei, daß Trunz auf die Mitteilung von Varianten aus dem Erstdruck verzichtet, stattdessen werden jedoch auf zwei Seiten abweichende Lesungen (die eben keine Varianten im textphilologischen Sinn darstellen!) aus Goetheeditionen der letzten hundert Jahre verzeichnet. Reclams „Dokumente und Erläuterungen" suchen sich in mehrfacher Hinsicht vom dominierenden Muster der HA zu befreien. Während die Anmerkungen in der HA auf Zusammenhänge verweisen und Deutungsmöglichkeiten markieren, beschränkt sich Reclam auf Wort- und Sacherläuterungen im engeren Sinn, um 54

Werther, Goldmann Klassiker, vgl. Aran. 6, S. 121.

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dem Leser vor allem die historische Dimension des Textes zu erschließen. Daneben werden aber auch bereits an dieser Stelle zeitgenössische Zeugnisse, Briefe und auch Parallelstellen angeführt. Insgesamt ist das Netz der erläuterten Stellen aus dem Romantext sehr viel enger als bei dtv. Ausführlicher werden vor allem auch die Varianten aus dem Erstdruck (in originaler Schreibung!) angeführt. Auch das Angebot an Zeugnissen und Dokumenten zu den „historisch-biographischen Grundlagen", zur „Entstehungsgeschichte" und zur „Wirkungsgeschichte" ist reichhaltiger und in der Auswahl durchaus überzeugend. Vor allem werden hier dem Leser ohne Retuschen die historische Schreibung und die regelwidrige' Zeichensetzung zugemutet, wenn nicht aus Ausgaben - wie der HA — zitiert wird, die selbst schon Normalisierungen und Modernisierungen vorgenommen haben. Etwas dünn ist die Auswahl der „Texte zur Diskussion" geraten; hier hätte der Herausgeber vielleicht doch ausführlicher die unterschiedlichen Verständnisweisen der Werther-Deutungen vorführen können. Dafür entschädigen wiederum die Literaturhinweise, die gerade zu den unterschiedlichen Interpretationsansätzen eine Fülle von Titeln bieten. Alle anderen Taschenbuchausgaben bieten weniger als die beiden vorher behandelten Lesetexte. Beachtenswert ist immerhin die recht reichhaltige Materialzusammenstellung im Klettbuch, die auf eine vielfältige Verständnishilfe im Schulunterricht ausgerichtet ist. Wenn auch hier immer wieder das Muster der HA durchscheint, sucht die Ausweitung der Sammlung von Dokumenten in die Gegenwart hinein durchaus eigene Wege. Daß dabei auf Wort- und Sacherläuterungen verzichtet wird, fördert freilich kaum die Nutzbarkeit im Literaturunterricht. Insel und Diogenes beschränken sich in den Beigaben auf einen „Kommentar des Autors" (detebe) bzw. auf den Abdruck eines Aufsatzes von Georg Lukäcs aus dem Jahre 1936 und die Wiedergabe eines Vortrages, den Jörn Göres 1972 anläßlich der Eröffnung der Werther-Ausstellung im Goethe-Museum in Düsseldorf hielt (insel). Das sind schöne und zum Teil im intellektuellen Zuschnitt sehr anspruchsvolle Äußerungen zum Roman, nur fragt man sich, ob dem Leser bei diesen Beigaben nicht auch der unverschnittene authentische Text Goethes hätte zugemutet werden können.

2 Folgerungen für die Textkonstitution in Leseausgaben Der Durchgang durch die Taschenbuchausgaben zu Goethes „Werther" zeigte insbesondere im Bereich der Textkonstitution Mißstände auf, die für einen Großteil der heute greifbaren Lesetexte gilt. Während mit mehr oder minder großem Aufwand dem Leser Beigaben und Anhänge aufbereitet werden, scheint der Dichtertext zumeist keiner sorgfältigen Herstellung wert. Namhafte Literaturwissenschaftler und Essayisten werden für Vor- und Nachworte angeworben, für die Erstellung von Kommentaren und Materialsammlungen keine Kosten gespart,

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nur für die Konstitution eines zuverlässigen Textes scheut man sich - mit wenigen Ausnahmen - vor größeren Investitionen. Zumeist wird es dem Verlagslektor überlassen, den Dichtertext lesergerecht zu bearbeiten, oder man übernimmt ungeprüft eine wohlfeile Vorlage. Da nützt denn auch die Verleger-Ausrede wenig, ein Verlag könne sich den hohen Aufwand einer historisch-kritischen Textkonstitution nicht leisten. Es liegt auf der Hand, daß ein Privatverlag, der im Interesse der Leser seine LeseAusgaben so preiswert wie möglich anbieten muß, nicht die Mittel investieren kann, die für ausgedehnte Textvergleiche, Handschriftenforschung mit Archivreisen und dgl.nötig sind, daß, kurz gesagt, ein Privatverlag für eine Lese-Ausgabe nicht all die vielfaltigen Vorarbeiten veranlassen und tragen kann, die für eine historisch-kritische Ausgabe unerläßlich wären. 5 5

Ich bin fern davon, an jede Ausgabe die Maßstäbe einer historisch-kritischen Edition ansetzen zu wollen, ich wehre mich jedoch dagegen, daß die zitierten Darlegungen Herbert G. Göpferts als Lizenz für verlegerische Sorglosigkeit in der Textherstellung verstanden werden. Schon das Argument, „Lese-Ausgaben so preiswert wie möglich anbieten zu müssen", ist durchaus zu hinterfragen; ist nicht dem Leser mit der Zuverlässigkeit des Textes mehr gedient als mit möglichst günstigen Buchpreisen? Gilt es nicht, eine Reihe von Grundforderungen einzuhalten, die zumeist gar keiner höheren Investitionen bedürfen? Schließen wir also unsere Überlegungen mit dem Versuch ab, einen solchen Katalog von durchaus realisierbaren Forderungen an die Erstellung von Leseausgaben zusammenzutragen. Einzelne Beispiele jüngst erschienener Taschenbuchausgaben haben eindrucksvoll vorgeführt, daß die Umsetzung solcher Forderungen keineswegs in den Bereich der Utopie gehört. Der erste und vielleicht wichtigste Punkt dieses Katalogs ist die Wahl des Herausgebers. Er sollte in Fragen der Textphilologie soweit kundig sein, daß er die Grundregeln der Textherstellung beherrscht und die vorgegebenen Hilfsmittel zu nutzen weiß. Bei dem Durchgang der Werther-Ausgaben ergab sich der traurige Befund, daß offensichtlich keiner der Herausgeber das bis heute nicht ersetzte Instrument der Weimarer Goethe-Ausgabe angemessen zu nutzen wußte. Für eine Erklärung dieses Mißstandes kann die zitierte Verleger-Ausrede nicht mehr herhalten: Die stärkere Beachtung der Editionsphilologie an deutschsprachigen Universitäten und die Intensivierung dieses Wissenschaftszweiges in Kolloquien und internationalen Tagungen haben jedoch für den Verleger ein bislang kaum genutztes Reservoir an Editionskundigen bereitgestellt. Der Rückgriff auf diesen Kreis versierter Editoren dürfte kaum kostspieliger sein als die in den Taschenbuchreihen vorgenommene Herausgeberwahl.

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Herbert G.Göpfert, vgl. Anm. 2, S. 277.

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Im Falle des Vorliegens einer historisch-kritischen Ausgabe ist für die Erstellung einer Leseausgabe bindend auf sie zurückzugreifen. Es ist einfach nicht einzusehen, daß im Falle des „Werthers" weiterhin auf die Texte unkritischer Studienausgaben rekurriert wird, wenn ein so vorzüglich erarbeiteter Text wie der der AkademieAusgabe vorliegt. Allerdings kann dieser Rückgriff nicht blindlings erfolgen, sondern muß die vorliegenden Ergebnisse der Editionskritik mit berücksichtigen. Die Textkonstitution der WA hat sich heute als vielfach revisionsbedürftig erwiesen. Notwendige Veränderungen sollten jedoch stets an der vorliegenden historischen kritischen Edition selbst ansetzen und nicht an einer von ihr bereits abgeleiteten oder auf anderer zweifelhafter Grundlage erstellten Studienausgabe. Wenn keine kritische Edition vorliegt, kann diesem Mangel gewiß nicht durch die Leseausgabe abgeholfen werden. Aber die Forderung, nach einer einheitlichen und möglichst zuverlässigen Druckvorlage den Text einzurichten, scheint mir nicht unrealistisch. Auch hier muß der editorische Sachverstand des Herausgebers die Auswahl des - zumeist im autorisierten Druck vorliegenden - Zeugen und die letztendliche Entscheidung leiten. Der Textbearbeiter muß die Überlieferung so weit kennen, daß er die Kontrolle und Mitarbeit des Autors zu beurteilen weiß. Hier scheint mir der Aufwand, in Grenzen auch Verlags- und Literaturarchive zu konsultieren, nicht zu hoch zu greifen und das Portemonnaie des Lesers nicht allzu sehr zu belasten. Soweit das Werk bereits zu Lebzeiten des Autors publiziert wurde, wird ohnehin der Rückgriff auf den Erstdruck in den meisten Fällen eine verantwortbare Lösung bieten. Eingriffe in die so gewonnene Textgrundlage sollten selbst bei Leseausgaben so sparsam wie nur irgend möglich erfolgen. Selbstverständlich sind eindeutig zu ermittelnde Textfehler zu korrigieren, je nach Zuschnitt der Ausgabe sollten solche Veränderungen der Vorlage kurz belegt werden. Mischtexte sind dabei grundsätzlich auszuschließen. Lesetexte sind aber auch nicht der rechte Platz, Irrtümer des Autors, Inkonsequenzen und Regelwidrigkeiten zu beseitigen. Dafür geben die Anmerkungen, Worterläuterungen oder auch die Nachworte hinreichende Gelegenheit. Und hier scheint mir denn auch der geeignete Ort zu sein, etwas über die Eigentümlichkeit der historischen Orthographie und Interpunktion zu sagen. Ich möchte mich auf den rigorosen Standpunkt stellen, daß auch in reinen Leseausgaben die historische Schreibweise und Zeichensetzung beibehalten werden sollte. Zu schwer wiegen die Argumente, wie sie von Hans Zeller, Norbert Oellers und anderen vorgetragen wurden. Irritationen des Lesers, vor allem auch des Schülers, können durch entsprechende Einführungen und Erläuterungen unschwer aufgefangen werden. Schließlich gehört zu jeder Leseausgabe eine Angabe der Textgrundlage und ein kurzer Rechenschaftsbericht. Was selbst bei insel für den Nachweis der beiden abgedruckten Essays zum Werther selbstverständlich ist, muß doch erst recht für den zentralen Text einer Leseausgabe gelten! Abgesehen davon, daß in vielen Taschenbuchausgaben sich die Unterschiede zwischen Studien- und Leseausgabe

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verwischen und schon aus diesem Grund die Forderung des Druckvorlagennachweises zu erfüllen sein wird, geht es hier um die Befriedigung eines legitimen Informationsbedürfnisses des Lesers. Für die Fortführung der Grundforderungen im Bereich der Beigaben und der Kommentarteile wäre je nach Benutzerkreis eine Differenzierung einzuführen, die an dieser Stelle nicht mehr zu leisten ist. N u r so viel sei angemerkt: Der Aufwand, einen wohlklingenden Namen für das Nachwort zu gewinnen, bringt für den Leser zumeist sehr wenig. Hier könnte der Verleger sein Taschenbuch - ganz im Sinne Göpferts - preisgünstiger anbieten oder eben diese Kosten in die sorgfältige Erstellung des Lesetextes oder in diesen Text wirksam erschließende Kommentierungen und Materialsammlungen investieren. Ein vollständig erstelltes Variantenverzeichnis gehört zweifellos nicht zu den Aufgaben einer Leseausgabe, aber der Verlag sollte sich überlegen, ob nicht der Abdruck von Ausschnitten aus abweichenden Fassungen oder sogar die beispielhafte Dokumentierung einer Textstelle mit allen überlieferten Textstufen - vom ersten Stichwort, über den anschließend ausgeführten Entwurf bis hin zu den Überarbeitungen einer Reinschrift - dem Leser eine bessere Verständnishilfe an die Hand geben kann als manche hoch ansetzende Interpretation im Nachwort. 5 6 Die Erstellung einer Leseausgabe bleibt eine Herausforderung - für den Verleger wie auch für den Herausgeber. Der anerkannte Editor dürfte sich niemals für zu schade halten, in die Gefilde der Taschenbuch-Ausgaben ,herabzusteigen'. Ihm erwächst hier oftmals eine verantwortungsvollere Aufgabe als in der Erstellung einer historisch-kritischen Edition. Er sollte seinen Sachverstand auch diesem Arbeitsfeld zur Verfügung stellen und damit diesem Bereich der Literaturvermittlung den Geruch der , Unwissenschaftlichkeit' nehmen. U n d der Verleger sollte seinerseits die Taschenbuch-Ausgabe nicht allein als willkommene Möglichkeit des schnell verdienten Geldes ansehen, sondern auch hier die ihm auferlegte Verantwortung wahren. In diesem Sinne sollten wir mehr als bislang bereit sein, eine so verstandene Herausforderung des editorischen Gewerbes ernstzunehmen.

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Eine in jeder Hinsicht vorbildliche Leseausgabe hat Hans-Georg Kemper für die Dichtungen und Briefe Georg Trakls in Reclams Universal-Bibliothek vorgelegt. (Werke. Entwürfe. Briefe. Stuttgart 1984 [RUB 8251].) Sie bietet neben den Texten in der Textgestalt der historisch-kritischen Gesamtausgabe (Dichtungen und Briefe, hrsg. von Waither Killy und Hans Szklenar. Salzburg 1969) - Gedichte aus der Zeit vor 1912, sowie abweichende Fassungen und Briefe allerdings nur in Auswahl - zu 7 Gedichten die überlieferten Entwürfe einschließlich aller Varianten. Ein informativer editorischer Nachbericht und gut erschließende Register gehören ebenso zu dieser mustergültigen Leseausgabe wie eine sorgfältig zusammengestellte Bibliographie und ein perspektivenreiches Nachwort.

Norbert

Oellers

Die Heiterkeit der Kunst Goethe variiert Schiller

Die Situation war, so läßt sich denken, ziemlich gespannt: Als Schiller am Freitag, dem 12. Oktober 1798, kurz nach 21 Uhr das Weimarer Schauspielhaus verließ, war er verdrossen und nachdenklich zugleich. Er hatte vorher gewußt, daß zur „Eröffnung des neuen Theaters" 1 nicht allein sein „Prolog" zum „Wallenstein" vom Hofschauspieler Heinrich Vohs gesprochen und der erste Teil der Triologie („Wallensteins Lager") aufgeführt wurden, sondern daß er vor der Pause auch noch das beim Publikum beliebte Kotzebue-Stück „Die Corsen" werde ansehen müssen. Die „Lager"-Aufführung konnte sich sehen lassen, 2 „Die Corsen" riefen weder Nachdenken noch Verdrossenheit hervor. Doch dem „Prolog" war Gewalt angetan worden: Es fehlten zwölf Verse der .eingereichten' Fassung, zwei neue waren hinzugefügt worden, vor allem aber gab es etliche Varianten im einzelnen, die nicht nur als .Schönheitsreparaturen' anzusehen waren, sondern auch gegen die ursprüngliche Intention des Dichters gerichtet zu sein schienen. - Auf dem Nachhauseweg fragte Schiller den Theaterdirektor (der sich längst an den schwäbischen Tonfall des Freundes gewöhnt hatte), wer die Eingriffe veranlaßt und besorgt habe, und Goethe antwortete (auf hessisch, was Schiller aber nicht wahrnahm), er habe, in aller Eile, etwas nachzubessern versucht, mit Rücksicht auf das Publikum. Schiller blieb nachdenklich, seine Verdrossenheit schwand; es gab keinen Disput. Er blieb noch zwei Tage in Weimar. Am 14. Oktober ging er nach Jena zurück, wohin ihm Goethe am selben Tag folgte. Jeder war hauptsächlich des anderen wegen mal hier, mal dort. Wahrscheinlicher ist dies: Nachdem Schiller am 11. Oktober 1798 in Weimar eingetroffen war, um an der Generalprobe von „Wallensteins Lager" teilzunehmen, eröffnete ihm Goethe, daß er den „Prolog", dessen Vorzüglichkeit nicht genug zu rühmen sei, an einigen Stellen geändert habe, nicht aus poetischen Gründen, sondern um den Text für die Zuhörer etwas faßlicher zu machen, vor allem in Hinblick auf das sich anschließende Bühnengeschehen. Schiller war's 1

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Weimarischer Theaterzettel v o m 12. Oktober 1798: „Eröffnung des neuen Theaters. / Prolog / Gesprochen v o n Vohs, / Wallensteins Lager. / Ein Vorspiel [... ] ." Vgl. dazu die Berichte Böttigers (im Novemberheft 1798 des „Journals des Luxus und der Moden") und Goethes (in der Beilage zur „Allgemeinen Zeitung" v o m 7. N o v e m b e r 1798), abgedruckt in: Oscar Fambach: Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit. [...] Berlin 1957, S. 4 0 1 - 4 0 6 und 408-424.

Goethe variiert

Schiller

93

zufrieden, und auch am nächsten Abend empfand er keine Spur von Verdruß; die Autorität des Theaterdirektors war für ihn nicht zweifelhaft. Doch es scheint gewiß: Goethe glaubte, die Verse nicht nur für die Zuhörer, sondern auch für die Leser verbessert zu haben. Vermutlich wünschte er, der Text solle auch so gedruckt werden, wie er gesprochen worden war. Aber Schiller teilte seine Ansicht nicht, erfüllte ihm nicht den Wunsch: Als der „Wallenstein" im Juni 1800 erschien, war der „Prolog" gegenüber der Fassung, die Schiller am 4. Oktober 1798 an Goethe geschickt und zur gleichen Zeit - zur Veröffentlichung im „Musen-Almanach für das Jahr 1799" - in Druck gegeben hatte, nahezu unverändert. 3 Es kann ausgeschlossen werden, daß Schiller deshalb bei der Originalversion blieb, weil er sich nicht mit fremden Federn schmücken wollte. Es war längst Brauch, daß Goethe in Texte Schillers hineinschrieb und dieser die Eingriffe dankbar akzeptierte. Die Einigkeit ging so weit, daß Goethe, als er 1828/29 seinen Briefwechsel mit Schiller herausgab, nicht anstand, eigene Varianten in Schillerschen Versen als dessen Eigentum auszugeben. 4 Dem Erstdruck des „Prologs" zu „ Wallensteins Lager" hatte Schiller (als er noch nicht wußte, daß die Angabe nicht korrekt war) hinzugefügt: „Gesprochen bei Wiedereröffnung der Schaubühne in Weimar im October 1798". Fast zwei Jahre später (in der Buchausgabe der ,,Wallenstein"-Trilogie) wurde dieselbe Erklärung gedruckt - wider besseres Wissen ihres Autors. Was hatte Goethe mit dem „Prolog" gemacht? Im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar hat sich die Fassung des „Prologs" erhalten, die Goethe am 12. Oktober 1798 (und wahrscheinlich auch bei den zahlreichen Aufführungen, die folgten) sprechen ließ. Die Handschrift stammt aus dem Nachlaß Christian Gottlob Voigts und trägt die Überschrift „Prolog, von Schiller". Im folgenden werden die bedeutenden' Varianten Goethes (nicht die bloßen Augenvarianten und die unerheblichen Interpunktionsabweichungen) zur ursprünglichen Fassung, wie sie im Erstdruck überliefert ist, durch Kursivdruck hervorgehoben.

3

4

Eine einzige Variante ist buchenswert: „Mit w a r m e m Trieb und Eifer [...] „ (V.14) heißt es 1800; dagegen im Erstdruck: „Mit w a r m e n Trieb und Eifer [...]". Seinem B r i e f v o m 22. Januar 1 7 9 6 an Goethe Schloß Schiller z w e i Distichen an, v o n denen eins in den „ M u s e n - A l m a n a c h f ü r das Jahr 1797" a u f g e n o m m e n w u r d e . D e r Text dieses Distichons lautet in der Schillerschen Fassung: A n einen g e w i ß e n moralischen Dichter Ja, der M e n s c h ist ein elender Wicht, ich weiß - doch das w o l l t ich Eben vergessen und kam, ach w i e gereut michs! zu dir. Goethe ,korrigierte' i m ersten Vers „elender" zu „ärmlicher". M i t dieser Variante k a m das Distichon nicht nur in den A l m a n a c h , sondern 1 8 2 8 auch in den Erstdruck des Schiller/GoetheBriefwechsels. Das zweite (nicht in den A l m a n a c h a u f g e n o m m e n e ) Distichon („Jakob der K a n t i a ner") w u r d e v o n Goethe noch entschiedener , umgearbeitet' und erschien ebenfalls in der neuen Fassung i m Briefwechsel - als Text Schillers.

94 Schillers „Prolog"

Norbert Oellers (Erstdruck)

D e r scherzenden, der ernsten M a s k e Spiel

Die überlieferte Fassung des gesprochenen Textes D e r scherzenden, der ernsten M a s k e Spiel

D e m ihr so o f t ein willig O h r u n d A u g e

d e m ihr so o f t ein willig O h r u n d A u g e

Geliehn, die weiche Seele hingegeben,

geliehen, die weiche Seele hingegeben

Vereinigt uns aufs neu in diesem Saal -

vereinigt uns a u f s neu in diesem Saal -

5 U n d sieh! er hat sich neu v e r j ü n g t , ihn hat

U n d sieh! - er hat sich neu v e r j ü n g t , ihn hat

Die Kunst z u m heitern Tempel ausgeschmückt

die K u n s t z u m heitern Tempel ausgeschmückt,

U n d ein h a r m o n i s c h h o h e r Geist spricht uns

u n d ein h a r m o n i s c h hoher Geist spricht uns

Aus dieser edeln Säulenordnung an,

aus dieser edlen Säulenordnung an,

U n d regt den Sinn zu festlichen Gefühlen.

u n d regt d e n Sinn zu festlichen Gefühlen.

10 U n d doch ist dieß der alte Schauplatz noch,

U n d doch ist dies der alte Schauplatz noch,

Die Wiege m a n c h e r j u g e n d l i c h e n Kräfte,

die Wiege m a n c h e r jugendlichen Kräfte,

Die L a u f b a h n manches wachsenden Talents.

die L a u f b a h n manches wachsenden Talents.

Wir sind die Alten noch, die sich v o r euch,

Wir sind die alten noch, die sich v o r euch,

Mit w a r m e n Trieb u n d Eifer ausgebildet.

mit wahrem Trieb u n d Eifer ausgebildet.

15 Ein edler Meister stand auf diesem Platz,

Ein edler Meister stand auf diesem Platz

E u c h in die heitern H ö h e n seiner Kunst

euch in die heitern H ö h e n seiner Kunst

D u r c h seinen Schöpfergenius entzückend.

durch seinen Schöpfergenius, entzückend.

O ! m ö g e dieses R a u m e s neue W ü r d e

O ! m ö g e dieses R a u m e s neue W ü r d e

Die Würdigsten in unsre Mitte ziehn,

die w ü r d i g s t e n in unsre Mitte ziehn,

20 U n d eine H o f f n u n g , die w i r lang gehegt,

u n d eine H o f n u n g die w i r lang gehegt

Sich uns in glänzender E r f ü l l u n g zeigen.

sich uns in glänzender E r f ü l l u n g zeigen.

Ein großes M u s t e r weckt N a c h e i f e r u n g

Ein großes M u s t e r weckt N a c h e i f e r u n g

U n d giebt d e m Urtheil höhere Gesetze.

u n d giebt d e m Urtheil höhere Gesetze.

So stehe dieser Kreis die neue B ü h n e 25 Als Z e u g e n des vollendeten Talents.

So stehe dieser Kreiß, die neue B ü h n e als Z e u g e n des vollendeten Talents.

Wo m ö c h t er auch die Kräfte lieber prüfen,

Wo m ö c h t ' er auch die Kräfte lieber prüfen

D e n alten R u h m erfrischen u n d verjüngen,

den alten R u h m erfrischen u n d verjüngen,

Als hier v o r einem auserles'nen Kreis,

als hier, v o r einem auserlesnen Kreiß,

D e r r ü h r b a r j e d e m Zauberschlag der Kunst

der r ü h r b a r j e d e m Zauberschlag der Kunst,

30 Mit leisbeweglichem Gefühl den Geist

mit leisbeweglichem Gefühl den Geist

In seiner flüchtigsten Erscheinung hascht?

in seiner flüchtigsten Erscheinung hascht?

D e n n schnell u n d spurlos geht des M i m e n Kunst

D e n n schnell u n d spurlos geht die Schauspielkunst

Die w u n d e r b a r e , an d e m Sinn v o r ü b e r ,

die w u n d e r b a r e , an d e m Sinn v o r ü b e r ,

Wenn das Gebild des Meiseis, der Gesang

w e n n das Gebild des Meiseis, der Gesang

35 Des Dichters nach Jahrtausenden n o c h leben,

des Dichters, nach Jahrtausenden n o c h leben.

Hier stirbt der Z a u b e r mit d e m Künstler ab,

Hier, stirbt der Z a u b e r mit d e m Künstler ab,

U n d wie der Klang verhallet in d e m O h r ,

u n d wie der Hall verklinget in d e m O h r ,

Verrauscht des Augenblicks geschwinde S c h ö p f u n g ,

verrauscht des Augenblicks geschwinde Schöpfung

U n d ihren R u h m b e w a h r t kein daurend Werk.

u n d ihren R u h m b e w a h r t kein daurend Werk.

40 Schwer ist die K u n s t , vergänglich ist ihr Preiß,

Schwer ist die Kunst, vergänglich ist ihr Preiß;

D e m M i m e n flicht die N a c h w e l t keine Kränze,

Wir hoffen von der Nachwelt keine Kränze,

D r u m m u ß er geitzen m i t der G e g e n w a r t ,

wir müssen geizen m i t der G e g e n w a r t ,

D e n Augenblick, der sein ist, ganz erfüllen,

den Augenblick der unser ist, erfiillen,

M u ß seiner M i t w e l t mächtig sich versichern,

dergegenwärt'gen Mitwelt uns versichern

45 U n d im G e f ü h l der w ü r d i g s t e n u n d besten

u n d im G e f ü h l der Würdigsten u n d Besten

Ein lebend D e n k m a l sich erbaun - So n i m m t er

ein lebend D e n k m a l uns erbauen. So nehmen

Sich seines N a h m e n s E w i g k e i t voraus,

wir unsers N a m e n s Ewigkeit voraus.

D e n n w e r den Besten seiner Zeit g e n u g

D e n n w e r den Besten seiner Zeit genug

Gethan, der hat gelebt f ü r alle Zeiten.

gethan der hat gelebt für alle Zeiten.

95

Goethe variiert Schiller 50 Die neue Aera, die der K u n s t Thaliens

Bey der Epoche, die der K u n s t Thaliens

A u f dieser B ü h n e heut beginnt, m a c h t auch

auf dieser B ü h n e heut erscheint, wird auch

Dem Dichter k ü h n , die alte B a h n verlassend,

der Dichter k ü h n , die alte Spur verlassend,

Euch aus des Bürgerlebens e n g e m Kreis,

euch aus des Bürgerlebens enger Sphäre

A u f einen h ö h e r n Schauplatz zu versetzen,

auf einen h ö h e r n Schauplatz zu versetzen,

55 N i c h t u n w e r t h des erhabenen M o m e n t s

nicht u n w e r t h des erhabenen M o m e n t s

D e r Zeit, in d e m w i r strebend uns b e w e g e n .

der Zeit, in d e m w i r strebend uns b e w e g e n .

D e n n n u r der g r o ß e G e g e n s t a n d v e r m a g

D e n n n u r der g r o ß e Gegenstand v e r m a g

D e n tiefen G r u n d der Menschheit aufzuregen,

den tiefen G r u n d der Menschheit a u f z u r e g e n .

Im engen Kreis verengert sich der Sinn,

Im engen Kreiß verengert sich der Sinn,

60 Es wächst der M a i s c h m i t seinen g r ö ß e r n Z w e c k e n .

es wächst der M e n s c h m i t seinen höhern Z w e c k e n .

U n d jetzt an des J a h r h u n d e r t s e r n s t e m E n d e

U n d jetzt an des J a h r h u n d e r t s e r n s t e m E n d e ,

Wo selbst die Wirklichkeit zur D i c h t u n g w i r d ,

w o selbst die Wirklichkeit zur D i c h t u n g w i r d ,

Wo wir den K a m p f gewaltiger N a t u r e n

w o w i r den K a m p f gewaltiger N a t u r e n

U m ein b e d e u t e n d Ziel v o r A u g e n sehn,

u m ein b e d e u t e n d Ziel v o r A u g e n sehn,

65 U n d u m der Menschheit g r o ß e Gegenstände

u n d u m der Menschheit g r o ß e Gegenstände,

U m Herrschaft u n d u m Freiheit w i r d g e r u n g e n ,

u m H e r r s c h a f t u n d u m Freyheit w i r d g e r u n g e n ;

Jetzt darf die K u n s t auf ihrer Scharteribühne

Jetzt darf die K u n s t auf ihrer S c h a t t e n b ü h n e

Auch h ö h e r n Flug versuchen, j a sie m u ß ,

auch h ö h e r n Flug versuchen, j a sie m u ß ,

Soll nicht des Lebens B ü h n e sie beschämen.

soll nicht des Lebens B ü h n e sie b e s c h ä m e n .

70 Zerfallen sehen w i r in diesen T a g e n

Zerfallen sehen w i r in diesen Tagen,

Die alte feste F o r m , die einst v o r h u n d e r t

die alte feste F o r m , die vor einhundert

U n d f ü n f z i g J a h r e n ein w i l l k o m m n e r Friede

u n d fiinfzig J a h r e n ein w i l l k o m m n e r Friede

E u r o p e n s Reichen gab, die theure Frucht

E u r o p e n s Staaten g a b - die theure Frucht

Von dreißig j a m m e r v o l l e n Kriegesjahren.

v o n dreyßig j a m m e r v o l l e n Kriegesjahren.

75 N o c h einmal laßt des Dichters Phantasie

N o c h einmal lasst des Dichters Phantasie

Die düstre Zeit an euch v o r ü b e r f ü h r e n ,

die düstre Zeit an euch v o r ü b e r f ü h r e n ,

U n d blicket f r o h e r in die G e g e n w a r t

u n d blickt gelassen in die G e g e n w a r t

U n d in der Z u k u n f t h o f n u n g s r e i c h e Ferne.

u n d in der Z u k u n f t H o f f n u n g s r e i c h e Ferne.

In jenes Krieges M i t t e stellt euch jetzt

In jenes Krieges Mitte stellt euch jetzt

80 D e r Dichter. Sechzehn Jahre der V e r w ü s t u n g ,

der Dichter. Sechzehn Jahre der V e r w ü s t u n g ,

Des Raubs, des Elends sind dahingeflohn,

des R a u b s und Elends sind dahin geflohn,

In trüben Massen gähret n o c h die Welt,

in t r ü b e n Massen gähret noch die Welt

U n d keine F r i e d e n s h o f n u n g strahlt v o n fern.

und keines Friedens Hofnung strahlt v o n ferne,

Ein T u m m e l p l a t z v o n Waffen ist das Reich,

ein T u m m e l p l a t z v o n Waffen ist das Reich,

85 Verödet sind die Städte, M a g d e b u r g Ist Schutt, G e w e r b u n d Kunstfleiß liegen nieder,

verödet sind die Städte, M a g d e b u r g ist Schutt, G e w e r b u n d Kunstfleiß liegen nieder,

D e r B ü r g e r gilt nichts m e h r , der Krieger alles,

der B ü r g e r gilt nichts m e h r , der Krieger alles,

Straflose Frechheit spricht den Sitten H o h n ,

straflose Frechheit spricht den Sitten H o h n

U n d rohe H o r d e n lagern sich, verwildert

u n d r o h e H o r d e n lagern sich, verwildert

90 Im langen Krieg, auf d e m verheerten Boden.

im langen Krieg, auf den verheerten B o d e n .

Auf diesem finstern Z e i t g r u n d mahlet sich

A u f diesem finstern Z e i t g r u n d mahlet sich

Ein U n t e r n e h m e n k ü h n e n U e b e r m u t h s

ein U n t e r n e h m e n , k ü h n e n U e b e r m u t h s

U n d ein v e r w e g e n e r C h a r a k t e r ab.

U n d ein v e r w e g e n e r Character ab. Brauch' ich ihn erst zu nennen?

Ihr kennet ihn - den Schöpfer k ü h n e r Heere, 95 D e s Lagers A b g o t t , u n d der Länder Geissei,

Wallenstein!

Ihr kennet ihn - den Schöpfer k ü h n e r H e e r e des Lagers A b g o t t u n d der Länder Geißel,

Die Stütze u n d den Schrecken seines Kaisers,

die Stütze u n d den Schrecken seines Kaisers,

Des Glückes abentheuerlichen Sohn,

des Glückes abentheuerlichen Sohn,

96 D e r v o n der Zeiten Gunst e m p o r g e t r a g e n , D e r Ehren höchste Staffeln rasch erstieg, 100 U n d ungesättigt i m m e r weiter strebend, D e r u n b e z ä h m t e n Ehrsucht O p f e r fiel.

Norbert Oellers der v o n der Zeiten G u n s t e m p o r g e t r a g e n der Ehren höchste Staffeln rasch erstieg u n d ungesättigt, i m m e r weiter strebend, der u n b e z ä h m t e n Ehrsucht O p f e r , fiel.

Von der Partheyen Gunst u n d H a ß verwirrt Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte, D o c h euren A u g e n soll ihn jetzt die Kunst, 105 A u c h e u r e m Herzen, menschlich näher bringen. D e n n jedes Aeußerste f ü h r t sie, die alles Begrenzt u n d bindet, zur N a t u r zurück, Sie sieht den M e n s c h e n in des Lebens D r a n g U n d wälzt die g r ö ß r e Hälfte seiner Schuld 110 D e n unglückseligen Gestirnen zu. N i c h t E r ists, der auf dieser B ü h n e heut

Doch ists nicht Wallenstein, der euren Augen heut

Erscheinen wird. D o c h in den k ü h n e n Schaaren,

erscheinen w i r d ; N u r in den k ü h n e n Schaaren

Die sein Befehl gewaltig lenkt, sein Geist

die sein Befehl gewaltig lenkt, sein Geist

Beseelt, wird euch sein Schattenbild begegnen,

2beseelt, w i r d euch sein Schattenbild begegnen

115 Bis ihn die scheue M u s e selbst v o r euch Z u stellen w a g t in lebender Gestalt,

bis ihn die scheue M u s e selbst v o r euch zu stellen w a g t in lebender Gestalt. Erst lernt sie kennen seines Heeres Macht! -

D e n n seine M a c h t ist's, die sein H e r z verführt,

D e n n diese M a c h t ist's die sein Herz verfuhrt,

Sein Lager n u r erkläret sein Verbrechen.

sein Lager n u r erklärt euch sein Verbrechen.

D a r u m verzeiht d e m Dichter, w e n n er euch 120 N i c h t raschen Schritts m i t E i n e m mal ans Ziel

D a r u m verzeiht d e m Dichter, w e n n er euch nicht raschen Schritts, mit einemmal ans Ziel

D e r H a n d l u n g reißt, den g r o ß e n Gegenstand

der H a n d l u n g reißt; den g r o ß e n Gegenstand

In einer Reihe v o n G e m ä h l d e n n u r

in einer Reihe v o n Gemälden n u r

Vor euren A u g e n abzurollen w a g t .

v o r euren A u g e n abzurollen wagt.

Das heutge Spiel g e w i n n e euer O h r 125 U n d euer H e r z den u n g e w o h n t e n Tönen,

Das h e u t ' g e Spiel gewinn' erst euer O h r und euer H e r z den u n g e w o h n t e n T ö n e n ;

In j e n e n Z e i t r a u m f ü h r es euch zurück,

in j e n e n Z e i t r a u m f ü h r es euch zurück

Auf j e n e f r e m d e kriegerische B ü h n e ,

auf j e n e f r e m d e kriegerische B ü h n e

Die unser Held mit seinen T h a t e n bald

die unser H e l d mit seinen T h a t e n bald

Erfüllen w i r d .

erfüllen w i r d .

130 U n d w e n n die M u s e heut

U n d w e n n die M u s e heut,

Des Tanzes freie G ö t t i n n u n d Gesangs

des Tactes, des Gesanges frohe

Ihr altes deutsches Recht, des Reimes Spiel,

ihr altes deutsches Recht, des Reimes Spiel,

Göttin,

Bescheiden wieder fodert - tadelts nicht!

bescheiden wieder fordert, tadelt's nicht;

Ja danket ihr's, daß sie das düstre Bild

Ja, danket ihr daß sie das düstre Bild

135 D e r Wahrheit in das heitre Reich der Kunst

der Wirklichkeit mit bunten Farben schmückt.

Hinüberspielt, die T ä u s c h u n g , die sie schafft Aufrichtig selbst zerstört u n d ihren Schein Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt, Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.

Ernst ist das Leben, heiter sey die Kunst!

Goethes zahlreiche Eingriffe in den SchillerschenText sind von unterschiedlichem Gewicht. Einige sind unerheblich und könnten wohl gar auf das Konto des Schreibers gehen: „Geliehn" (V. 3) und „fern" (V. 83) sind - aus metrischen Gründen - sicher korrekter als „geliehen" und „ferne", die Veränderungen von

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„edeln" (V. 8) zu „edlen" und „fodert" (V. 133) zu „fordert", j a auch die von „keine Friedenshoffnung" (V. 83) zu „keines Friedens Hofnung" brauchen nur konstatiert, können aber schwerlich interpretiert werden; und daß die Zeitbestimmung „mit Einem mal" (V. 120) etwas nachdrücklicher (pointierter) erscheint als „mit einemmal", verändert den Text (seine ,Bedeutung') so wenig, daß nur die Lust an Spekulationen dieser Variante ein (unangemessenes) Gewicht geben könnte. Auch die Goethesche Variante „des Raubs und Elends" (zu „Des Raubs, des Elends"; V. 81) kann noch zu den Belanglosigkeiten gerechnet werden, obwohl die Schillersche Version ,offener' ist als die Goethes, der andere Kriegs-Schrecklichkeiten als Raub und Elend nicht zu kennen scheint. (Hinter „Des Raubs, des Elends" läßt sich mühelos ein „etc." denken, nicht aber hinter „des Raubs und Elends".) Über die Qualität anderer Veränderungen des Textes, die Goethe für wichtig, wenn nicht sogar für notwendig hielt, mag sich das Nachdenken lohnen; wenigstens erscheinen die Fragen, warum Goethe eingegriffen hat und warum Schiller die Veränderungen nicht übernommen hat, interessant genug, um Antworten zu versuchen. Die Behandlung der , Fälle' soll im folgenden v o m Einfachen über das Problematische zum Schwierigen ^Grundsätzlichen') fortschreiten; dabei wird der Komplex „Ergänzungen und Streichungen" in die Mitte der Bemerkungen gerückt. Daß Goethe die Flüchtigkeit der Schauspieler-Kunst („des Mimen Kunst" [V. 32]) auf die „Schauspielkunst" erweiterte, kann schwerlich in der Absicht begründet sein, die Zahl der Fremdwörter im „Prolog" zu verringern; vielmehr war ihm als Theaterdirektor wohl daran gelegen, auch die übrigen an einer Theateraufführung beteiligten .Künstler' (Regisseure, Bühnenbildner, Musiker) ins Ganze dieser ,transitorischen' Kunst einzufügen; das mag verständlich sein, entsprach aber nicht Schillers Intention, der j a eben nicht die Schauspielkunst (,als solche') meinte, sondern den einzelnen Mimen, dessen Kunst aufhört, wenn er nicht mehr auf der Bühne steht. Es ging ihm um „die Kunst" (sc. des Mimen), über die in den Versen 4 0 - 4 9 Näheres ausgeführt wird, das Goethe nicht übernehmen wollte: Der nichtbetonte Artikel („die" [V. 40]) kann sicher nicht bedeuten, daß jede Kunst als zukunftlos behauptet wird (die Unterstreichung des Wortes ist vermutlich aus Versehen unterblieben); denn die folgenden Verse beschäftigen sich j a speziell mit dem Los der Schauspielkunst - und wieder nicht nur mit der Mimen-Kunst. Wenn der Schauspieler Vohs in der ersten Person Pluralis spricht, dann meint er nicht allein sich und seine Schauspieler-Kollegen, sondern alle für die Schauspielkunst Tätigen. Da Goethe das Subjekt („der M i m e " ) verwandelt (zu „wir"), ist er zu mancherlei grammatischen und damit auch sprachlichen und damit auch inhaltlichen Änderungen des Schillerschen Textes genötigt, die nicht immer recht befriedigen können: Mit „der gegenwärt'gen Mitwelt" (V. 44) werden Hörer und Leser nur einverstanden sein, wenn sie die Möglichkeit einer vergangenen und einer zukünftigen Mitwelt einräumen. Daß auf die Nachwelt keine Hoffnung gesetzt

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Norbert

Oellers

wird (vgl. V. 41), läßt offen, ob die Nachwelt überhaupt noch Kränze flechten könnte (oder gar sollte); in diesem Punkt ist Schillers Ansicht eindeutig — als Voraussetzung der sich anschließenden Erklärungen, die im Kontext des Goetheschen Vordersatzes etwas ,schief werden. „Und wie der Klang verhallet in dem O h r " (V. 37): daß diese Formulierung, die Schiller wahrscheinlich nicht nur aus lautlichen Gründen (Klang/verhallet) für gelungen hielt, aus sachlichen Gründen verbesserungsbedürftig erscheinen kann (das Ohr ist so klein, daß es schwerlich in ihm ,hallen' kann!), wird den meisten Lesern erst durch die Goethesche Variante („und wie der Hall verklinget in dem Ohr"), für die vielleicht die größere .Korrektheit' sprechen mag, deutlich. Aber es ist ja wohl gemeint: der Mensch hört, wie der Klang verhallt; daß er hört, wie der Hall (das Echo des Klangs) verklingt, rückt ihn in eine Distanz zum U r s p r ü n g l i chen' (zum Klang), die auch Goethe kaum für angemessen hat halten können. Wollte er, der Dichter, beckmesserisch genau sein? Schiller tat gut daran, die Goethesche Variante nicht zu seiner eigenen zu machen. Ähnlich verhält es sich mit den wirklich .bedeutenden' Umformulierungen der Verse 50-53. Gewiß ist die „neue Aera" etwas zu .bombastisch', aber da sie sich eindeutig als Charakterisierung des neuen Weimarer Hoftheaters verstehen läßt, kaum verdächtig. Goethe hingegen spricht von einer (natürlich nicht „neuen"!) Epoche (griech. εποχή: Konstellation, Halte-, Wendepunkt), die der Schauspielkunst „erscheint" - als sei sie ein Geschenk ,von oben' (vom Hof, vom Direktor), ein wahrhaft phantastisches (griech. φάντασμα: Erscheinung; Wunder). Der Dichter wird dagegen kleiner gemacht: er .wandelt' nicht mehr auf einer „Bahn", sondern , verfolgt' eine „Spur"; und das Publikum bildet nicht mehr einen bürgerlichen „Kreis", der durch die Kunst durchbrochen (erweitert) werden soll, sondern bewegt sich in bürgerlicher „Sphäre", aus der es „auf einen höhern Schauplatz zu versetzen" ist. (Daß die Bühne von Schiller als „Kreis" bezeichnet wurde [vgl. V. 24] und ebenso das Theaterpublikum [vgl. V. 29] und daß ein „enger Kreis" [vgl. V. 59] bedenklich sei, rief selbstverständlich nicht Goethes Kritik hervor.) Schiller wußte, warum er bei seiner Fassung der Verse 50-53 blieb. Für die Schillersche Zeitbestimmung „einst vor hundert / Und fünfzig Jahren" (V. 70-71) spricht das Metrum, für die Goethesche Variante „vor einhundert / und fünfzig Jahren" die Tilgung der (überflüssigen, wenn nicht gar irreführenden) Vokabel „einst" - nicht mehr. (Die Verse wären mühelos durch jeden Stadtschreiber und Literaturfreund besser ,in Ordnung' zu bringen; sie.) Mit der Änderung von „Reichen" (V. 73) in „Staaten" korrigierte Goethe einen von Schiller unscharf formulierten historischen Sachverhalt. Der Historiker nahm's aber nicht ernst. Mit Rücksicht auf das Publikum, das am 12. Oktober 1798ja nur den ersten Teil der „Wallenstein"-Trilogie sehen konnte, hielt Goethe eine geringfügige Änderung des Schillerschen Textes für angebracht, die davon zeugt, daß er mehr auf dieses Publikum fixiert war als auf den Text des „Prologs": „Das heutge Spiel gewinne euer O h r " (V. 124) verbesserte' er, wie er glaubte, zu „Das heut'ge Spiel

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gewinn' erst euer O h r " - als spräche Schiller nicht (wie er es tat) von „Wallensteins Lager" als integralem Teil des ganzen Dramas, sondern meine mit den „ungewohnten Tönen" (V. 125) nur die des Vorspiels (die Knittelverse vielleicht?). Wenn „erst" aber verstanden werden sollte als „erst einmal" o.a., dann hätte das Publikum genaueren Bescheid bekommen müssen. O b sich „rohe Horden" auf „dem" oder „den" Boden lagern (vgl. V. 89-90), ist nur scheinbar eine difference negligeable: Sie sind schon dort, sagt Schiller; sie bewegen sich dahin, entscheidet Goethe — gegen das Stück, das er doch kannte. In anderen Eingriffen Goethes offenbart sich sein Dissens zur Schillerschen Intention viel deutlicher als in den bisher beschriebenen; nicht in den Ergänzungen, sondern in den Streichungen und in den Varianten .wesentlicher' Formulierungen Schillers. Goethes Zugaben sind nicht sonderlich gewichtig und lassen sich als Verständnishilfen für die um Deutlichkeit besorgten Zuschauer/Zuhörer verbuchen: „Brauch' ich ihn erst zu nennen? Wallenstein!" (nach V. 93) sagt jedem, der es noch nicht gemerkt hat, daß von dem die Rede ist, der im Titel des Stücks genannt ist. Und der zweite Zusatz: „Erst lernt sie kennen seines Heeres Macht!" (nach V. 116) macht darauf aufmerksam, daß von den Folgen dieser Macht noch einiges zu erwarten ist - zu späterer Zeit am selben Ort. (Folgerichtig heißt es in Vers 117 „diese Macht" statt „seine Macht" und in Vers 118 „erklärt euch" statt „erkläret".) Vohs durfte die Verse 102-110 und die Verse 136—138 nicht sprechen. Es ist sicher nicht abwegig, Goethes (gegenüber Schiller geäußerte?) Begründung für diese Entscheidung in der Rücksichtnahme auf das Theaterpublikum anzunehmen: dieses wäre mit der versifizierten Kunstphilosophie Schillers schwerlich zurechtgekommen. Was heißt das: die Kunst „begrenzt und bindet" alles, führt „jedes Aeußerste" „zur Natur zurück"? U n d : sie „wälzt die größre Hälfte seiner [sc. des Menschen] Schuld den unglückseligen Gestirnen zu"? Sie ist wie Natur, mißt ihre .Gegenstände' nach dem Maß der Natur und stellt dadurch alle Extreme (Verbrechen, Hybris, Schuld) als un-mäßig vor (zur Unterhaltung und zur Belehrung). Das Äußerste ist immer Unnatur, die sich von außen (von ,oben' und von ,unten') in die Geschichte eindrängt - ein rätselhaftes Ärgernis, für das der Verstand keine befriedigende Erklärung liefern kann. Der Künstler vermittelt eine Ahnung des Geheimnisses, indem er den Grund der Verirrungen wenigstens benennt: unglückselige Gestirne, Schicksal, und gleichzeitig andeutet, wie sich die Wirkung des Übernatürlichen im Menschen breitmacht. Schiller hatte, als er so allgemein über die Kunst sprach, die Wallenstein-Figur vor Augen (auch die Wendung von den „unglückseligen Gestirnen" spricht dafür), aber für Goethe konnte das nicht überzeugend sein. (Immer diese allgemeinen Sentenzen, die sich aus einem speziellen Fall herleiteten.) Hinzu kam, daß ihm das Problem des Dämonischen nicht mit so leichter Hand lösbar erschien, wie es Schiller mit Hilfe der Kunst zu lösen versprach.

100

Norbert

Oellers

Goethe mißtraute Schillers Kunst-Radikalismus, der von der Gewißheit der Realisierbarkeit vollendeter (reiner, absoluter) Kunst - in fernen Zeiten und vielleicht in anderen Weltgegenden - bestimmt war. Daß die Kunst „die Täuschung, die sie schafft / Aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein / Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt" (V. 136-138), mußte dem ,normalen' Theaterbesucher ziemlich unverständlich bleiben; also hatte der Direktor allen Grund, diese Verse nicht sprechen zu lassen. Er wird sie mit Vergnügen gestrichen haben; denn er konnte nicht glauben, daß Schillers Sätze richtig seien. Die Trennung zwischen Schein und Wahrheit war für Goethe unhaltbar. Hatte er selbst nicht gerade erst (im selben Jahr, 1798) darüber öffentlich gehandelt, daß die Kunst nicht wahr scheinen dürfe, sondern durch den Schein des Wahren ausgezeichnet sein solle?5 Die Kritik wurde Goethe durch eine Fehl-Formulierung Schillers erleichtert: denn die „Wahrheit", die in Vers 135 benannt wird, ist arg auf den Hund gekommen als düstre Wirklichkeit der schrecklichen Geschichte des dreißigjährigen Krieges. Goethe machte deshalb einen neuen Vers: die „Wahrheit" wurde korrekt zur „Wirklichkeit" und das problematische „heitre Reich der Kunst" wurde durch „bunte Farben" ersetzt. (Zuviel des Heiteren für Goethe: in den Versen 6 und 16 hatte er es durchgehen lassen, und im Schlußvers durfte es ja auf keinen Fall fehlen.) - Warum Schiller den Vers 135 (wenigstens für den „Wallenstein"-Druck im Jahr 1800) nicht verbessert hat (leicht hätte sich ja statt „Der Wahrheit in das" sagen lassen „Der Wirklichkeit ins"), ist unerfindlich. Die auffallendsten Eingriffe Goethes in den Schillerschen „Prolog" sind natürlich die Streichungen; sie lassen sich verstehen, und Goethe wird sie dem Freund wohl auch - mit dem Publikum-Argument - begreiflich gemacht haben. Anders verhält es sich mit einigen Varianten einzelner Wörter und Wendungen, die an die Substanz der , Aussagen' Schillers gehen - teils verständlich, teils unverständlich. Der vortragende Schauspieler läßt sich und seinesgleichen „warmen Trieb und Eifer" (V. 14) attestieren. Glaubte Goethe, Schiller habe sich verschrieben? Er machte aus „warmen" (oder „warmem") flugs (?) „wahrem" und verkehrte dadurch den ursprünglichen Sinn des Gesagten. Schiller wollte eben nicht nur loben, daß sich die Schauspieler durch Trieb und Eifer (großen oder .wahren') ausgezeichnet hatten, sondern daß sie mit dem Herzen, daß sie ,warm' bei ihrer Sache gewesen waren. Goethe ersetzte ein Qualitätsmerkmal durch eine Quantitätsangabe; vielleicht fand er die Anerkennung des „warmen Triebs" zu sonderbar. - In einem andern Fall hat Goethe, sehr zu Unrecht, eine quantitative Bestimmung Schillers in eine qualitative geändert, indem er aus den „größern Zwecken", mit denen der Mensch wachse, „höhere Zwecke" (vgl. V. 60) machte; er glaubte wohl, Schiller meine, nur dann wachse der Mensch, wenn er hohe (edle) Zwecke verfolge. Doch ist - vor allem im Wallenstein-Zusammenhang - die Formulie5

Vgl. den Aufsatz „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke". (Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 13. Zürich 1954, S. 175-181, bes. S. 176.)

Goethe

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Schiller

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r u n g eindeutig anders zu verstehen: Gleichgültig, o b h ö h e r oder niedriger - die Z w e c k e m ü s s e n stark (groß) sein, d a m i t der M e n s c h w a c h s e n k a n n , z u m G u t e n oder Bösen. Z w a r nicht unverständlich, aber Schillers u n m i ß v e r s t ä n d l i c h e n O p t i m i s m u s , a u f h e b e n d ' ist die U m f o r m u l i e r u n g der A u f f o r d e r u n g ans P u b l i k u m , es solle „froher in die G e g e n w a r t " blicken (vgl. V. 77). G o e t h e setzte an die Stelle des K o m p a r a t i v s ein Positiv anderer Qualität: „gelassen" zu blicken, schien i h m passend. D a m i t w i r d aber auch der f o l g e n d e Vers, w e n n nicht unlogisch, so d o c h bedenklich - als gäbe es keinen G r u n d , sich über Z u k u n f t s h o f f n u n g e n zu f r e u e n . W ä h r e n d die Variante des Verses 111 auf Goethes Bestreben, in den K ö p f e n der Z u h ö r e r den N a m e n Wallenstein festzusetzen, z u r ü c k g e h t , ist der A u s t a u s c h v o n „ D o c h " d u r c h „ N u r " i m folgenden Vers ein nicht so unerheblicher E i n g r i f f , daß er nicht das Einverständnis des „ P r o l o g " - D i c h t e r s e r f o r d e r t hätte. D e n n Schiller versprach d e m P u b l i k u m , daß es trotz Wallensteins physischer A b w e s e n h e i t auf seine Kosten k o m m e n w e r d e , w ä h r e n d G o e t h e n u r einen Ersatz versprach - als Vorgeschmack auf das n o c h K o m m e n d e . Die Repräsentanz des F e l d h e r r n d u r c h die „ k ü h n e n Schaaren" (V. 112) w i r d im einen Fall f ü r interessanter u n d wichtiger ausgegeben als im andern. A u c h dies ist eine Interpretation Goethes zu U n g u n s t e n des „Wallenstein"-Dichters. Die U m s c h r e i b u n g des Verses 131 erscheint nicht glücklich: Sicher lassen sich die M u s e n des Tanzes u n d des Gesangs nicht wie selbstverständlich als identisch, als eine „freie G ö t t i n n " (Polyhymnia?) behandeln, aber der Versuch, die G ö t t i n des Gesangs (Terpsichore?) auch als G ö t t i n „des Tactes" eindeutig zu m a c h e n , w i r k t als hilfloser Lösungsversuch des durch Schiller entstandenen P r o b l e m s . (Auch hier ließe sich m ü h e l o s eine bessere Version finden.) D o c h heikler ist G o e t h e s E n t s c h e i d u n g , das der M u s e z u g e s p r o c h e n e A t t r i b u t ,frei' in , f r o h ' zu v e r k e h r e n . D a ß alle M u s e n (auch M e l p o m e n e ) frei sind, w a r auch G o e t h e nicht fraglich; insofern k o n n t e i h m Schillers F o r m u l i e r u n g nicht u n k o r r e k t erscheinen, aber sie w a r i h m offenbar nicht hinreichend präzise. M i t der Vokabel , f r o h ' griff er auf eben j e n e B e s t i m m u n g zurück, die er kurz z u v o r als w ü n s c h e n s w e r t e M e n s c h e n - E i g e n schaft (vgl. V. 77) v e r w o r f e n hatte; sie k o m m t jetzt der G ö t t i n zu. D e n b e d e u t e n d s t e n E i n g r i f f in den „ P r o l o g " n a h m G o e t h e i m letzten Vers vor. Schillers B e h a u p t u n g : „heiter ist die K u n s t " wollte er nicht z u s t i m m e n ; sie „sey" es, schränkte er ein - u n d vergriff sich d a m i t an des Freundes K u n s t - I d e e , als h a b e er diese nie kennengelernt. Sicher läßt sich auch eine , h a r m l o s e ' D e u t u n g der Variante geben: Weil das P u b l i k u m a n n e h m e n m o c h t e , daß Schiller, w e n n er im „ P r o l o g " v o n K u n s t sprach, (auch) die der „Wallenstein"-Tragödie meinte, in der es ja v o n Entsetzlichkeiten w i m m e l t , w ä r e i h m k a u m verständlich g e w o r d e n , welchen K u n s t - S i n n Schiller w o h l mit seiner F o r m u l i e r u n g i m K o p f gehabt haben könnte. „Wallenstein" ist wahrlich kein heiteres D r a m a , v i e l m e h r sehr ernst - w i e das Leben; u n d Hegels Urteil ist j a so a b w e g i g nicht: „ D e r u n m i t t e l b a r e E i n d r u c k nach der Lesung Wallenstein's ist trauriges V e r s t u m m e n über den Fall eines

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Norbert

Oellers

mächtigen Menschen, unter einem schweigenden und tauben Schicksal. Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodicee." 6 Indes: Konnte Goethe tatsächlich das Publikum darauf aufmerksam machen wollen, daß „Wallenstein" , ernst' (wenn nicht gar , entsetzlich') sei, obwohl doch die Kunst , heiter' sein solle? Das Drama ist also gar nicht - Kunst? Ein solcher Affront war, so ist zu vermuten, nicht Goethes Absicht. Daß Schiller die Heiterkeit der Kunst propagierte, entsprach durchaus seiner Überzeugung vom ,Wesen' der .wahren' Kunst, über das er sich besonders in den Jahren 1795 und 1796 öffentlich und privat (etwa in den Abhandlungen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen" und „Ueber naive und sentimentalische Dichtung" sowie im Brief an Humboldt vom 29. und 30. November 1795) mit aller Deutlichkeit geäußert hatte: Sie ist „eine Tochter der Freyheit", 7 in ihr ist „aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale [...] aufgehoben", 8 in ihr ist „alles Sterbliche ausgelöscht", 9 etc. Das heißt freilich: Solange die Dichter sterblich sind, gebunden an die Wirklichkeit (das ernste Leben) ihrer Welt, werden sie die Schatten nicht los, die den Himmel verdunkeln, dessen Heiterkeit die der Kunst ist. Der Himmel kann nicht auf der Erde erscheinen, aber er kann in der Kunst scheinen — auch in der (notwendig) unvollkommenen, wenn es dem Künstler, dem „Sohn seiner Zeit", der seinen „Stoff [ ... ] von der Gegenwart nehmen" muß, gelingt, „die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens [zu] entlehnen." 1 0 Sicher ist dies: Schiller kam es nicht in den Sinn, das Tragische als heiter auszugeben, auch wollte er nicht den „Wallenstein" als heiteres Kunstwerk angesehen wissen, sondern nur das, was an dem Drama Kunst sei, als heiter reklamieren: die poetische Form, die sich dem Stoff,entzieht'. 1 1 Die Kunst - das ist für Schiller nun einmal die äußerste, die vollendete Kunst, die ganz geglückte (sentimentalische) Kunst am Ende der Zeiten, die nur noch ist, aber nichts mehr bedeutet. Davon geht etwas ein in jedes wahre, wenn auch unvollkommene Kunstwerk, wenn es diese Charakterisierung verdient, als schöner (heiterer) Schein. Schillers apodiktische Kunstauffassung, nichts als Theorie, war, so scheint es, Goethe höchst verdrießlich - unpraktisch. Zwar war ihm kaum fraglich, daß Kunst heiter sein solle, aber er verwarf den Absolutheitsanspruch Schillers, daß sie es sein müsse, und er stand nicht an, auch nicht-heitere Kunst gelten zu lassen. („Wallenstein" war ihm zwar ein Kunstwerk, aber kein heiteres.) Der Grund für 6 7 8 9 10 11

Hegel's Werke. Bd. 17. Berlin 1835, S. 411. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar 1962, S. 311. Ebd. S. 472. Ebd. Bd. 28. Weimar 1969, S. 120. Ebd. Bd. 20, S. 333. Vgl. ebd., S. 370.

Goethe variiert

Schiller

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die Differenz der beiden Dichter ist einfach zu bestimmen: Goethe akzeptierte nicht den prinzipiellen Unterschied zwischen ,Stoff und ,Form', ihm waren .heitere' g e g e n s t ä n d e ' die Bedingung heiterer Kunst, er konnte nicht glauben, daß es die schöne Form ,als solche' gebe, die einen unschönen Stoff - im Sinne Schillers - annihiliere. Er mußte Schillers Postulat als Affront gegen seine Schönheitslehre auffassen, nach der die wahre Kunst nur „aus innig verbundenem Ernst und Spiel [ . . . ] entspringen" könne 1 2 und die sorgfaltige Beobachtung der Natur zu den Grundvoraussetzungen künstlerischer Produktion gehöre. Mit aller D e u t lichkeit hat sich Goethe von Schillers Zweiweltenlehre mit dem Dictum abgesetzt: „Natur und Idee läßt sich nicht trennen, ohne daß die Kunst so wie das Leben zerstört werde." 1 3 „Heiter" ist (bekanntlich) ein Lieblingswort Goethes, das er vornehmlich für Naturerscheinungen gebraucht hat: für das Sonnenlicht, ein Tal, einen Garten. Auch Häuser und Wohnungen sind heiter; auch Menschen und Gesellschaften und Stimmungen. Heiteres Leben kann überall sein. Die heitere Kunst ist ein Abglanz heiterer, empirisch erfahrbarer Erscheinungen, nicht ein Ideal, dem keine Wirklichkeit korrespondiert. Indem Goethe den letzten Vers des „ Wallenstein"-Prologs variierte, erleichterte er vielleicht dem Publikum dessen Verständnis; doch wichtiger mag ihm gewesen sein, daß dieses Verständnis nicht mit seiner eigenen Kunst-Auffassung in Widerspruch geriet. Für die Nachwelt ist am wichtigsten, bestätigt zu finden, daß die „Differenz", von der Goethe einmal sagte, daß sie zwischen ihm und Schiller in poetischer Hinsicht bestanden habe (als „zarte Differenz" 14 ), in poetologischer Hinsicht beträchtlich war; nicht nur 1798. Schiller blieb dabei: „heiter ist die Kunst." Doppelte Heiterkeit der einen uneinigen deutschen Klassik.

12 13 14

Aus dem Aufsatz „Der Sammler und die Seinigen". (Goethe: Gedenkausgabe [ . . . ]. Bd. 13, S. 319.) Aus den „Maximen und Reflexionen". (Goethe: Gedenkausgabe [ . . . ]. Bd. 9. Zürich 1949, S. 634.) Ebd. S. 529.

Roland Ris

Der Spruch als Text: Varianten in einer alpinen Sage

1. Einleitung Literaturwissenschaft, die ihre beiden Pole Edition und Interpretation gleichermaßen ernst nimmt, hat sich längst von dem Bild des monolithisch dastehenden ausgeführten Textes, um den herum Vorfassungen und Varianten gleichsam als unfertige Bruchstücke liegen, gelöst und mit ihrer Vorstellung von „Textdynamik" auch dem, was sich vor und neben dem in die Leseausgaben übergegangenen Text befindet, vollwertigen Textcharakter zuerkannt. 1 Der Text wird so zu einer nur noch durch die Urheberschaft seines Autors zusammengehaltenen fließenden Einheit, dessen Aufteilung in einzelne isolierbare Stücke schon Interpretation voraussetzt. Solange wir es mit individuellen Schöpfungen zu tun haben, sind immerhin die Grenzpunkte gesetzt, innerhalb deren Texte näher zusammengerückt werden können. Verschiedene Fassungen eines Autors bilden unter sich ein engeres Beziehungsgeflecht als irgendeine dieser Fassungen mit der von einem andern Autor übernommenen Vorlage. Unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten wird so die Autorintention für die Konstitution des Textes konstitutiv: Sein Umgang mit detj von ihm in Betracht gezogenen Varianten ist für ihn grundsätzlich begründbar, so daß auch der Leser interpretierend versuchen darf, hinter die subjektive Intention, die eine Veränderung bewirkt hat, zu kommen. Gegenüber solchen auf ein einzelnes Subjekt rückbeziehbaren Variantentexten bilden nun die üblicherweise unter dem Gattungsbegriff der „Volkspoesie" zusammengefaßten Textsorten Varianten aus, die sich nicht auf ein einheitliches Textfeld, über dem als letzte Instanz der Autor steht, zurückführen lassen. Volkslieder, Märchen, Sagen, Sprichwörter, Witze usw. haben zwar einen individuellen Schöpfer, doch ist uns dieser in weitaus den meisten Fällen nicht bekannt. Insofern wir mit schriftlichen Zeugnissen arbeiten, kennen wir nur die Sammler und Kompilatoren, die freilich oft zugleich bewußt als Autoren auftraten, die über die mündliche oder schriftliche Überlieferung frei verfügten und so neue Texte schufen, die in dieselben Rezeptionskanäle Eingang fanden wie solche der sogenannt hohen Literatur. Sie dürfen folglich auch nicht mit der „oral poetry" der schriftlosen Völker oder der schriftlosen Bevölkerungsklassen gleichgesetzt werden. 1

Siehe dazu G. Martens 1971.

Der Spruch als Text

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Die „Literarizität" einzelner Gattungen der „Volkspoesie" von den „Volksliedersammlungen" des Sturm und Drang und der Romantik über die „Kunstmärchen" und die als Gebrauchsliteratur verfertigten „Legenden" ist längst erkannt. In den in der Regel mit einem einmaligen und lokalisierten Geschehen verbundenen Sagen dagegen sieht man vorwiegend Manifestationen eines kollektiven Bewußtseins, das äußere Geschehnisse oder inneres Erleben typologisch verarbeitet. 2 Entsprechend gilt das Interesse der Forschung immer noch vorwiegend den transportierten Inhalten und kaum der sprachlich-literarischen Form, in der diese individuell zur Darstellung gebracht wurden und damit Textcharakter gewonnen haben. Verschiedene Wiedergaben desselben Stoffes stehen sensu stricto unter sich nur in einem Motivzusammenhang; von einem textuellen kann man erst sprechen, wenn anzunehmen ist, daß ein bestimmter schriftlicher oder mündlicher Text eines Erzählers auf einen andern so gewirkt hat, daß dieser bewußt bestimmte seiner Elemente übernommen, andere hingegen verändert hat. Damit nähern wir uns etwas der Dynamik, wie sie zwischen den verschiedenen Fassungen eines literarischen Textes besteht, besonders weil man vom Herausgeber einer Sagensammlung annehmen kann, daß er wie der Autor eines literarischen Werkes die für ihn „beste" Fassung publizieren will, ob es nun die authentischste ist oder diejenige, die seinen Absichten am meisten entgegenkommt. 3 Überblickt man nun ein größeres Korpus von Sagen, so fällt auf, daß es neben Stoffen, die auch in gedrängtester Regestenform erzählt werden können, solche gibt, die nach einer sprachlich vermittelten und damit schon literarisierten Texttradierung gleichsam verlangen, weil in ihnen die Sprache selbst Inhalt ist: Es kann sich um ätiologische Sagen mit Namenetymologien, um solche mit historischen Zitaten oder um solche mit Sprüchen und Sprichwörtern oder mit Sätzen aus einer andern als der für die Erzählung gebrauchten Sprachausprägung handeln. Solche Elemente werden in der Regel nicht einfach inhaltlich rezipiert, sondern als Textelemente, die man in den eigenen Text übernimmt, verändert oder ausläßt, wenn sie der intendierten Rezeption durch den Leser (oder Zuhörer) nicht förderlich sind.

2. Die Spruchvarianten in der Sage von den geschenkten Kohlen als Modell für eine textuell vermittelte Überlieferung Ausgehend von den obigen Überlegungen möchte ich im folgenden ein in langer Zeit gesammeltes und, wie ich hoffe, recht vollständiges Korpus von verschiedenen Fassungen einer Sage untersuchen, von denen bisher nur ein kleiner Teil von 2 3

Vgl. Fr. Ranke (1925) 1971, L. Röhrich 1966 und H. Bausinger 1980, S. 179-195. Hintergrundinfomationen für die Motivation der wichtigsten schweizerischen Sagensammler liefern die einzelnen Beiträge in R. Schenda / H. ten Doornkaat 1988, auf die wir hier pauschal verweisen.

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Roland Ris

P. Zinsli 4 unter motivgeschichtlichen Gesichtspunkten zusammengestellt worden ist. E s handelt sich u m die Sage, die uns im frühesten schweizerischen Zeugnis, in der „Einfalten Delineation" des Bündners Nicolaus Sererhard aus dem Jahr 1742 (gedruckt erst 1872), in der folgenden F o r m aus Furna G R 5 überliefert ist: Item ein rechte Frau habe einmal einer Wilden in der Geburt beystehen müssen, da habe sie zur Recompens dem äußerlichen Ansehen nach etliche Kohlen in den Schooß bekommen. Als sie nun nacher Hauß kommen, habe sie nicht Kohlen, sondern Goldstücke gehabt. (III, S. 32) 6

D a s M o t i v der als Entschädigung für geleistete Hebammendienste von einem Z w e r g , einem Erdmännchen oder einer Fee geschenkten Kohlen oder Laubblätter, die sich dann in G o l d verwandeln, ist weit über den Alpenraum hinaus verbreitet 7 und wird oft mit andern Zwergensagen verknüpft. Seine Variationen systematisch zu untersuchen, wäre ein reizvolles volkskundliches Thema, doch kann dies hier nicht meine A u f g a b e sein. Vielmehr soll es nun im folgenden darum gehen zu zeigen, wie in dieses nackte Erzählgerüst ein Spruch als Textelement hineinkommt und zum eigentlichen Angelpunkt der meisten späteren Fassungen wird. Wir versuchen zunächst, die verschiedenen Überlieferungsstränge nach dem Leitverb zu gliedern. 2.1. T y p zerstreuen

D e r Berner Johann R u d o l f Wyß bringt 1817 in seiner „Reise in das Berner Oberland" die folgende Fassung aus dem Pfaffenloch bei Gutbrunnen (Rümligen BE): Einmal kamen ein paar Zwerglein eilig her und riefen eine Frau des Hauses zu Hülfe bey der Geburt eines Kindes in dem Berge drin. Als die Geschichte aber vorüber war, so gaben sie der Frau zum Lohn eine große Schürze voll schwarzer Kohlen. In Aerger ging das Weib nach Haus und ließ zu Boden fallen so viel nur wollte, denn lieber hätt' es alles weggeworfen, wenn es nicht ein wenig sich gefürchtet hätte. Die Zwerglein aber riefen hinten nach: j e mehr du zerstreust, j e mehr du's bereust! Da kam die Frau nach Haus und warf den Rest von ihrer Bürde zornig auf den Küchentisch. Doch sieh, es war nun löthig eitel blankes Gold! Sie lief mit Hast, um das Verlorne wieder aufzuheben; aber da war nichts und wieder nichts am Boden aufzufinden. (II, S. 414)

4 5 6 7

P. Zinsli 1986, S. 119-120 u n d A n m . S. 459. Wir setzen im folgenden zu den einzelnen Örtlichkeiten die gebräuchlichen K a n t o n s a b k ü r z u n g e n . D a n a c h M . Staege 1928, 37f. Vgl. J . B o k e / G . Polvka I, 1913, S. 367 (mit Verweisen auf Gebr. G r i m m , D e u t s c h e Sagen N r . 41, 49, 65, 68f., 305 u n d weiterer Lit.); M . Lüthi 1943, S. 44; St. T h o m p s o n II 1956 D 475.1.1 (coals to gold), III F 342.1 (Fairy gold), F 451.5.1.4 ( D w a r f s ' gold) mit dänischen, russischen, französischen Belegen; R. Beitl i m K o m m e n t a r z u j . F. Vonbun 1889 (1980), S. 287; Atlas der Schweiz. Volkskunde, K a r t e II 252 mit K o m m e n t a r II S. 691.

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Der Spruch als Text

W y ß ' Fassung mit dem auch isoliert als Sprichwort gebrauchten 8 Spruch „Je mehr du zerstreust, j e mehr du's bereust" wird zur direkten Quelle der poetischen Bearbeitung Chr. Wältis in seinen „Blumen aus den Alpen" 1841 (S. 94), des großen populären schweizerischen Sagenbuches von C . Kohlrusch 1854 (S. 24, Nr. 4 V ) und der „Alpensagen" T h . Vernalekens 1858 (S. 174, N r . 133). 9 Direkt oder indirekt strahlt aber sein Vorbild auch auf andere Fassungen aus, deren Sammler bezeugen, sie hätten sie aus dem Volksmund geschöpft und die jedenfalls Wyß nicht als Quelle erwähnen 1 0 Auch S. Singer zitiert in seinem bedeutenden Aufsatz über die Zwergensagen der Schweiz 1912 (S. 45) den Spruch in der Wyßschen Form und verleiht ihr damit paradigmatische Geltung.

2.2.

Typen mit zett-,

zatt-

2.2.1. Untertyp zetten, zetteln,

zettern

Der Typus begegnet in unserem Material zuerst bei E . Meier 1852 in einer Fassung aus dem schwäbischen Oberndorf: „Wie minder ihr zettelt,/ Wie mehr ihr hättet" (S. 60, Nr. 67) 1 1 und bei L. Bechstein 1853 in einer solchen aus Geislingen (Rauhe Alp, Schwaben): „Je mehr du verzettelescht, / J e mehr du hernach bettelescht" (S. 758, Nr. 933). 1 2 Anzuschließen sind die vorarlbergische Fassung aus Tschagguns (Montavon) bei F. J . Vonbun 1847: 1 3 „Wia meh as da verzötarist, o m sa minder host" (S. 5 ) , 1 4 und A. Büchli (1958-1966) 1989 aus Obersaxen G R : „Wiä meh as düu zeeterisch, wiä weniger as d hescht!"(II, S. 304). 2.2.2. Untertyp zattern,

verzatter(l)n

Die früheste Fassung bringt T h . Vernaleken 1858 aus Ins B E : „Je mehr du zatterst, desto minder hast du!" (S. 188, N r . 136,4). Es folgen J . Lempen 1860 aus dem 8

Vgl. J. Eiselein, Die Sprichwörter und Sinnreden des deutschen Volks, Freiburg 1840, S. 620: „je mer du zerstreust, / so mer du bereust; / je mer du verzettest, / so minder du hätest." (zit. nach D W b . 25, 2574; vgl. auch K. F. W. Wander 5, 1867, S. 566).

9

Unbedeutende orthographische Abweichungen wie Groß- oder Kleinschreibung, ß- oder ssSchreibung, je nach der Einbettung im Text wechselnde Schlußinterpunktion, Zeilensprung u. ä. sind hier und in allen folgenden Stellenangaben aus Platzgründen nicht speziell aufgeführt.

10

E. L. Rochholz 1856, I S. 330: Zitat in den A n m . ; J. J. R o m a n g 1866, S. 45; H. Herzog 1871, S. 4 6 (Grindelwald B E ) ; J. F. Moser 1922, S. 77; Fr. Moser 1924, S. 19 (Guggisberg B E ) ; Η. Wahlen 1941, S. 13 N r . 7 (Röthenbach B E ) .

11

Danach ungenau E. L. Rochholz 1856, I S. 330: „zettet". Danach E. L. Rochholz 1856, I S. 330: , J e mehr du verzettlest, j e mehr du hernach bettlest." Nach dem Vorwort von R. Beitl in der Neuausg. von F. J . Vonbun 1889 (1980), trug die 1. Aufl. 1847 das M o t t o Ma schwetzt, wie eim der Schnabel g'wachsen isch; sie war also stark mundartlich gehalten. (Die 2. Aufl. von 1850, die als Quelle für Rochholz ebenfalls möglich wäre, war auch R. Beitl nicht zugänglich.)

12 13

14

Zitiert nach E. Rochholz 1856, I S. 330; vgl. Vonbun 1980 (nach 1889), S. 134, N r . 163: „Wie mehr als du verzöterst, umso minder hast."

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Obersimmental B E : „Wie mie du zattrist, wie minder du hattist" mit der beigegebenen Übersetzung J e mehr du verstreust, j e weniger du hast' (S. 32); E. L. Rochholz 1862 aus U r i : 1 5 „Je mehr daß du verzatterist, / J e weniger du hattist!" (S. 114, N r . 9); 1 6 A. Lütolf 1865 aus Großgruobis-Balm (Waldisbalm bei Vitznau L U ) : „Wie meh daß zatterist / We minder daß hatterist" (S. 477, N r . 438); 1 7 V. Bühler 1879 aus Avers GR: „Je m dass d' zatterst, j e minder dass d' hettest!" (S. 22); H. Hartmann aus dem Berner Oberland (Meiringen?) 1910: „Je mehr du zatterst, / J e minder du hast" (S. 57); J . Müller 1912 aus Uri: „was dü verzatterisch [zerstreuest], / das dü verhatterisch [Verlust erleidest]" (S. 23); G. Küeffer 1913 aus Lenk B E : „Je mehr du zatterst, / Wie minder du hattest" (S. 79, N r . 5); E. Balmer 1923 aus dem Gebiet um Guggisberg B E : „Je mehr du zatterscht, j e minder du hascht" (S. 199); M . Sooder 1929 aus Rohrbach B E : „Je mehr das d' verzatterscht, /Je minger das d hascht" (S. 89); H. Michel 1937 aus Stechelberg B E im Lauterbrunnental: „Je mehr du verzatterst, / J e minder du hattest! / J e mehr du verstreust, / J e mehr du bereust!" (S. 148) 18 - mit Addition der Wyßschen Formel oder U m g e staltung des eigenständig überlieferten Sprichwortes 1 9 —; J . Müller 1945 mit verschiedenen Fassungen aus Uri: „Was dü verzatterisch, / Das dü verhatterisch" (S. 201, Nr. 1329, aus Unterschächen), „Wie mehr dü verzatterlisch, / Wie minder dü hatterlisch" (ib.), „Wie meh as d'verzatterisch, / Wie minder as d'hatterisch" (S. 201, N r . 1330, aus Isenthal), „Wie mehr dü verzatterisch,/ Wie weniger dü hatterisch" (S. 202, N r . 1331, aus dem Urnerboden); M. Sooder 1964 aus Habkern B E : „Wie meh du zatterst, / wie minder du hattest" (S. 81, Nr. 17), 2 0 „Je men du zattersch, j e minder du hattischd" (S. 139, N r . 46, Mundartfassung von M. Sooder); H. Steinegger 1981-1985 aus dem Kt. Schwyz: „We mee du verzatterisch, we weniger du hesch" (II S. 148, aus Muotathal, nach der unveröffentlichten Sagensammlung von J . Müller), „We mee as du verzatterisch, we weniger as du hattisch!" (II S. 149, wie oben), „Je mehr Du verzatherest, j e weniger Du hast" (IV S. 155, aus dem Bezirk Einsiedeln 21 ). 2.2.3. Untertyp

*zatten,

*verzatten

Der erste Beleg begegnet uns in einer Aufzeichnung von Pfarrer R. Gerwer 1865 aus Grindelwald B E : „Je mehr Du zatt'st, / J e minder D u hast. (Je mehr D u 15 16 17

18 19 20

21

Nach einer Aufzeichnung von Arnold Zschokke aus Aarau. Danach ungenauer Verweis bei O . Henne-Am Rhyn 1874, S. 202, Nr. 393. Nach C . Odermatt mit Verweis auf Cysat Coll. C f. 247b. Danach O . Henne-Am Rhyn 1874, S. 202, Nr. 393; A. B l u m 1921, S. 34: „Wie meh daß zatterist (verlierst oder sääest) we minder daß hatterist"; A. B l u m folgt H. Steinegger 1983, III S. 73). Danach L. Imesch 1981, S. 104. Vgl. A n m . 8. Fassung von Pfarrer August Eduard Waithard 1855 (mit unzutreffendem Verweis auf J . R. Wyß, Idyllen). Nach H . Spiess 1984, S. 23.

Der Spruch als Text

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zerstreust, je mehr Du bereust.)" (S. LXIV). 2 2 Es folgen J. J. Jenzer 1869 aus dem Amt Schwarzenburg BE: „Je mehr aß de zattest (zerstreust) je weniger de hattest!" (S. 191); M. Tscheinen / P. J. Ruppen 1872 aus Zermatt VS: „Meh zat - minder hat" (S. 164, Nr. 56); Walliser Sagen 1907: „Wie mehr du zat, je weniger du hat!" (II, S. 56, Nr. 45, aus Oberems VS im Turtmanntal); 2 3 H. Hartmann 1910 aus dem Berner Oberland (Meiringen?): „Je mehr du zatt'st / Je minder du hast!" (S. 56); J. Jegerlehner 1913 aus dem Oberwallis: „Je mehr du zatt, / je weniger du hatt!" (S. 190, Nr. 85, aus Wyler im Lötschental), „Wie mehr du zatt, / je weniger du hatt! „(S. 248, Nr. 2, aus Unterbäch, Ginanztal); E. Friedli 1927aus Saanen BE: „Je mehr du zattist, / Je weniger du hattist" (S. 472); M. Lauber 1938 aus dem Frutigtal BE: „Je mehr du verzattischt, / je minder du hattischt!" (S. 659); 24 M. Sooder 1943 aus dem Haslital BE: Je meer düü zätsch, / je minder düü hätsch! (S. 105 aus Brienzwiler); 25 J. Müller 1945 aus Uri: „Wie meh as d'verzattisch, / Wie weniger as d'hattisch" (S. 200, Nr. 1328 aus Isenthal), „Wie meh as d'verzottisch, / wie weniger as d'hoscht!" (S. 201, Nr. 1330 aus dem Maderanertal); Atlas der Schweiz. Volkskunde, Komm. II S. 691: „je mehr as verzottisch, je weniger as hottisch" (aus Isenthal UR); K. Lehner 1963 aus Zermatt VS: „Mehr zaht, / minder hat" (S. 28); H. Bandli 1965 aus Safien: „Je mee du zerzattscht, me minder du hascht" (S. 19); J. Guntern 1978 aus dem Oberwallis: „Wie meh daß zattscht, / wie weniger daß d hascht!" (S. 757, Nr. 1983 aus Bellwald); 26 R. Rubi 1981 aus Grindelwald BE: „Wie mehr dass d'zattst, / Wie minder hast!"(S. 55). Angeschlossen werden können hier die Formen auf zast, zascht u. ä., die sich durch Assimiliation aus zat(t)scht erklären lassen: G. Theobald 1862 aus Graubünden: „Je mehr zerzasst (zerstreust), je minder du hast" (S. 372, aus Safien, Valätscheralp); 27 A. Büchli (1958-1966) 1989 aus Graubünden: „Wiä meh d' zärzscht, / Wiä mindär d' hascht" (I, S. 507, aus Molinis); 28 M. Waibel 1985 aus Macugnaga Italien: „VII me daß dü zascht, vll mnder daß d hascht" (S. 153, N r . 263), 29 „Wi me das zascht, wi mnder das hascht" (S. 154, Nr. 264), „Vll me daß dü zascht, vll

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Danach mit kleinen A b w e i c h u n g e n E. Friedli 1908, S. 570: „Wie m e h r daß d'zattst, / Wie m i n d e r hast!" (Grindelwald BE); Η. H a r t m a n n 1910, S. 56: „Je m e h r du zatt'st / Je m i n d e r du hast!" (Berner Oberland); G. Reist 1932, S. 19: „Wie m e h daß d ' zattst, / Wie m i n d e r hast!" (Grindelwald B E ) . Danach J. Jegerlehner 1913, S. 2, N r . 2: „Wie m e h r du zatt (streust), / j e w e n i g e r d u hatt!" (mit u n z u t r e f f e n d e m Verweis auf M . Tscheinen / P. J. R u p p e n 1872, S. 164) u n d Jegerlehner 1916, S. 102. So auch M . Lauber 1940, S. 2. (Die Ausgabe v o n 1968, S. 186, bringt in K l a m m e r n die Ü b e r s e t z u n g .zerstreust'). Vgl. 2. Aufl. 1984, S. 97 und Glossar S. 224: zätsch ,du verstreust'. Identisch m i t j . G u n t e r n 1963, S. 342, N r . 365, vgl. die Ü b e r s e t z u n g S. 361: „Je m e h r du zerstreust, desto w e n i g e r hast du!". Vgl. F. J. V o n b u n 1862, S. 52: „je m e h r zerzas'st (zerstreust) j e m i n d e r d ' h a s t . " D a n a c h D . Jecklin 1874,1 S. 21: „Je m e h r zerzaß't (zerstreust), j e m i n d e r d ' h a s t . " So auch in: Walservolch 1974: „Je m e e du zerzascht, j e m i n d e r du hascht!" (S. 59, v o n H . Bandli, Safien); vgl. oben zerzattscht in der früheren Fassung v o n H . Bandli 1965! Vgl. Ü b e r s e t z u n g : ,Je m e h r du zettest, desto w e n i g e r hast du' (ib.).

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mnder daß d hascht, vll me daß dü zascht, vll mnder daß d hascht" (S. 154, Nr. 265). 2.3. T y p säen Dieser Typus zeigt sich nur im Wallis und in den Walserkolonien: K. Lehner 1963 aus Zermatt: „Mehr saat, minder hat. Jetzt verstund sie: J e mehr du säast, j e minder du hast'" (S. 74); E. Gerstner-Hirzel 1970 aus B o s c o - G u r i n T I : „wi mea äs du sääscht, wi mendar as du hascht" (S. 173, Nr. 30); 3 O J. Guntern 1978 aus Agam V S : „Je meh daß du sääscht, j e weniger daß d hascht" (S. 758, N r . 1983); 3 1 T. Tomamichel 1982 aus B o s c o G u r i n T I : „Was tüascht saaja, hascht alls wänigar" (S. 78); E. Jordan 1985 aus Simplon D o r f V S : „Ja, wie mee dast saascht, wie weenigär dast haascht!" (S. 125). 2.4. T y p lassen Die Umschreibung mit lassen k o m m t nur in zwei zeitlich nahe zusammenhängenden Sagensammlungen vor: G. Fient 1897aus Furna G R : „Je mehr daß'd lascht, / j e minder d'hascht" (S. 193), und A. Ithen 1898 aus Walchwil Z G : „Je mehr du fallen lässt, desto weniger wirst du haben" (S. 3). 2.5. Vereinzelte Typen In die Nähe der bisher angeführten Typen mit Verben aus dem semantischen Bereich .zerstreuen, säen, fallen lassen' sind die folgenden vereinzelten Belege zu stellen: T h . Vernaleken 1858 aus Churwalden G R : „Je meh zerstrast, / J e minder d'hast" (S. 216, Nr. 150); 3 2 O . Henne-Am Rhyn 1874 aus Pfäfers: „je meh daß d'verzappst, j e minder daß d'habst!" (S. 202, Nr. 394); 3 3 J. Kuoni 1903 aus Pfäfers SG: „Je mehr du verwirfst, j e minder du hast" (S. 102, Nr. 2 1 0 ) . 3 4 Anschließen läßt sich die frankoprovenzalische Fassung aus Panex (Creux d'Enfer) oberhalb Aigle V D bei A. Ceresole 1885: „Me t'en perdrai, main t'en arai. (,plus tu en perdras, moins tuen auras'.)" ( S . 8 4 ) . 3 5 30

31 32

33 34 35

Vgl. E. Gerstner-Hirzel 1979, S. 59, Nr. 114: „Wie mea äs du sääscht, wi mendar dass du hascht"; S. 59, Nr. 115: „Wi mea du sääscht, wi wenigar du hascht [...] J e mehr du säst, desto weniger du hast'". Ebendort weitere Nachweise über die Verbreitung der Sage. Ebenso O . Henne-Am Rhyn 1874, S. 202, Nr. 393; vgl. die Anm. ib.: „Dasselbe geschah ob Vättis beim „Drakenloche" und mit demselben Rufe des wilden Männlis, nach Niki. Senn im Werdenbergischen [...]." Danach (1879, 2. Aufl., S. 337) A. Senti 1974, 177. Vgl. die Abwandlung des Motivs (Blätter) S. 160, Nr. 289. Die übrigen mir bekannten französischsprachigen Fassungen überliefern den Spruch nicht; vgl. J . Jegerlehner 1909, S. 124, Nr. 23; Cl. Berard 1925, S. 221.

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Isoliert ist die negative W e n d u n g nicht behalten bei E . L. R o c h h o l z 1856 aus d e m Aargau): „Je m i n d e r as b ' h e b s c h , / Je m i n d e r as hesch" (I S. 266, N r . 182), „Je m i n d e r as b ' h e b s c h : / J e m i n d e r as hesch. / J e m i n g e r as bseh'sch: / j e m i n g e r as hesch" (I S. 330, aus Erlinsbach). 3 6 2.6. Verbale U m s c h r e i b u n g e n N u r in sehr w e n i g e n Beispielen w i r d der Inhalt des Z w e r g e n s p r u c h e s u m s c h r i e ben: H . Z s c h o k k e 1842: „Verachte die G a b e n der U n t e r i r d i s c h e n nicht!" (S. 113); H . K o c h 1938 aus d e m Kt. Z u g : „[...] bis endlich ein ernstes M a h n w o r t an ihr O h r klang, daß sie auf die k o s t b a r e n K o h l e n besser aufpassen m ö g e . " (S. 128); A . Büchli (1958-1966) 1989 aus Furna G R : [ A m Schluß sagt die Fängga, die Frau des wilden M a n n e s , der Frau, die ihr geholfen hat:] „Schi hätti schä [die Kohlen] halt m e h schetzn söllän u n d besser Soorg han t ö r f e n zuänän."(I, S. 221).

2.7. Fehlen des Spruches U n s e r e Ü b e r s i c h t über die schweizerischen Fassungen des Z w e r g e n s p r u c h e s bliebe unvollständig, w e n n w i r nicht auch die Z e r o - V a r i a n t e berücksichtigen w ü r den, d. h. das Fehlen des Spruches. Wir stellen zunächst die Stellen z u s a m m e n , o h n e einer Interpretation vorzugreifen: F. O t t e 1840, S. 2 4 - 2 6 ; 3 7 E. L. R o c h h o l z 1856, I S. 277f. u n d 311f. (aus d e m Aargau); T h . Vernaleken 1858, S. 183, N r . 134 (aus d e m E m m e n t a l BE), S. 216, N r . 150,4 (aus Safien GR); A . J a h n 1865, S. 69 ( E m m e n t a l BE); Α. Lütolf 1865, S. 52f., N r . 18d (aus Hergiswil N W ) ; 3 8 O . H e n n e - A m R h y n 1874, S. 202, N r . 393 (Fassung aus Furna GR); H . G . L e n g g e n h a g e r 1874, S. 67 (aus Tenniken BL); 3 9 F. J. V o n b u n (1889) 1980, S. 58, N r . 11 (aus Hittisberg, Bregenzerwald); J. K u o n i 1903, S. 89, N r . 190 (aus Vilters SG); Walliser Sagen 1907, II S. 52f., N r . 41 (aus Saas-Fee); H . Z a h l e r 1911, S. 14 (aus Schangnau, E m m e n t a l BE); W. M a n z 1924, S. 236 (aus d e m Sarganserland SG); 4 0 A. Büchli (1958-1966) 1989, II S. 209 (aus Surrein), 4 1 II S. 726 (aus Safien); G. Kolly 1965, S. 54 (aus Plenefy, St. Silvester FR); A. Senti 1974, S. 177; 42 M . Waibel 1985, S. 155f., N r . 266 u. 267, aus 36 37

38

39

40 41 42

Vgl. die ähnliche Sage ib. I S. 1 8 4 - 1 8 6 , N r . 184. A u s W a l c h w i l Z G (poetische B e a r b e i t u n g „ D i e H e b a m m e " ; A n m . S. 82: H i n w e i s a u f H . Z s c h o k k e , Classische Stellen der S c h w e i z 1836, S. 113); d a n a c h die P r o s a f a s s u n g v o n S. G o l o w i n 1970, 68f. Vgl. d e n H i n w e i s a u f F a s s u n g e n aus G r a u b ü n d e n ( B ü n d n e r Volksblatt 2, J g . 1830, S. 384) u n d aus d e m L u z e r n b i e t ( H e n n e ' s S c h w e i z e r b l ä t t e r , St. Gallen 1833, II 185); d a n a c h J. Z i h l m a n n 1989, S. 141. Vgl. S. 11 u n d 56. D a n a c h P. Suter / E. S t r ü b i n 1976, S. 246, N r . 610 ( g e k ü r z t , vgl. A n m . S. 248), u n d w o h l a u c h die F a s s u n g aus T h ü r n e n S. 250, N r . 620e (vgl. A n m . S. 253). Verweis a u f j . K u o n i 1903, S. 338, N r . 210. Aus d e m Rätoromanischen übersetzte hochdeutsche Fassung. Vgl. A . Senti, ib.: „ D e n V ä t t n e r G e w ä h r s l e u t e n ist die B e g e b e n h e i t n i c h t b e k a n n t . In P f ä f e r s erzählt Frau Paulina S c h w i t t e r - E g g e r d e n Vorfall o h n e W a r n u n g der W i l d e n . "

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Macugnaga Oberitalien); Sagen der Schweiz: Solothurn 1987, S. 209-210 (aus Rieden im Guldental). 4 3

3.

Versuch einer Interpretation

3.1. Die Formel von J. R. Wyß Überblicken wir unser in der größtmöglichen K o m p r i m i e r u n g präsentiertes M a terial, so könnte es zunächst scheinen, als ob die sich aus ihm ergebenden Probleme auf einer recht oberflächlichen Ebene, der rein semantischen, anzusiedeln wären: Das am frühesten (beij. R. Wyß 1817) bezeugte Verb zerstreuen scheint einfach in den späteren Fassungen durch geläufige Synonyme wie zetteln, verzattern und säen ersetzt w o r d e n zu sein. Diese bequeme Erklärung wird aber sofort hinfällig, wenn wir den Wyßschen Grundtypus etwas genauer prüfen. Die Belege stammen ausschließlich aus d e m Kanton Bern; kein einziger aus dem meist viel konservativeren Wallis oder den Walserkolonien in Graubünden und südlich des M o n t e Rosa. Sogar innerhalb des Kantons Bern zeigt sich eine Konzentration auf das Mittelland, w o g e g e n das Berner Oberland den zett-/zatt-Typ aus allen Tälern reichlich bezeugt. In der Fassung aus Grindelwald von R. Gerwer 1865 wird aber dieser T y p („Je mehr D u zatt'st, / Je minder D u hast") bezeichnenderweise mit dem Wyßschen Spruch „Je mehr D u zerstreust, j e m e h r D u bereust" (ungenau) übersetzt, was deutlich beweist, daß der Sammler die Wyßsche Formel sehr wohl kannte, daß sie aber in Grindelwald noch nicht eingebürgert war. D a f ü r spricht auch ihr Fehlen in den späteren, sich nicht direkt auf Gerwer berufenden Fassungen aus Grindelwald von G. Reist 1932 und R. Rubi 1981, die den zatt-Typ als autochthon ausweisen. 4 4 Auch H. Michel bezeugt 1937 für das benachbarte Lauterbrunnental die im zweiten Teil interpretierende Doppelformel „Je mehr du verzatterst, / Je minder du hattest! / Je mehr du verstreust, / Je m e h r du bereust!", die möglicherweise auf R. Gerwer zurückgeht. Ganz offensichtlich hat sich also die Wyßsche Formel mit dem eindringlichen bereuen ausgebreitet, was sich leicht durch die Beliebtheit seiner „Reise in das Berner Oberland" erklärt. Dafür, daß sie eine j ü n g e r e Entwicklung sein muß, möglicherweise aus moralisierender Absicht von W y ß selbst „gedichtet" worden ist, spricht neben der glatten Form des Reimes zerstreust: bereust auch, daß sie gegenüber den verschiedenen zatt-Typen jüngeres, rein hochdeutsches Wortgut verwendet. 4 5 Von diesem Befund aus wird auch das isolierte zerstrast in einer 43 44

45

N a c h Solothurner Wochenblatt 1911, N r . 51, S. 410. Dagegen spricht nicht das V o r k o m m e n der wyßschen Formel in der weiteren Grindelwalder Fassung v o n H . H e r z o g 1871 (vgl. A n m . 10), der sich auf eine handschriftliche S a m m l u n g von Pfarrer Ernst B ü ß stützt. Vgl. Id. 6, 1888, w o bereuen als „ w o h l allg. bekannt, aber nicht als m a . [mundartlich] e m p f u n d e n " charakterisiert wird. A u c h zerstreuen weist n u r die nhd. B e d e u t u n g auf, vgl. Id. 11, 2461.

Der Spruch als Text

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Fassung aus Churwalden GR, die uns Th. Vernaleken 1858 und nach ihm O. Henne-Am Rhyn 1874 überliefert, fragwürdig. Vergleicht man diese Fassung mit den übrigen Fassungen aus Graubünden mit hast als zweitem Reimwort, so sieht man, daß diese an Stelle des lautlich nicht zu zerstreuen passenden 46 zerstrast das ähnliche zerzaßt aufweisen, wozu als Reimwort hast steht. Daß sowohl G. Theobald 1862 wie J. F. Vonbun 1862 ihr zerzaßt in Klammer mit zerstreust übersetzen, kann ein Indiz dafür sein, daß das Wyßsche zerstreust schon weitherum als ,lectio facilior' bekannt war. Es hätte so durchaus auch bei Th. Vernaleken 1858 die kontaminierte Form zerstrast auslösen können.

3.2. Typologie der Formen mit dem Verbum haben Die Besprechung des zuerst bezeugten Wyßschen Typus hat uns also dazu geführt, daß wir ihn für jünger erklären müssen als die später überlieferten Typen. Zugleich wurde uns schon anhand von zwei lautgesetzlich in keiner Weise befriedigend erklärbaren kontaminierten ersten Formen schon deutlich, daß wir in unseren nächsten Schritten vom zweiten, mit einer Form des Verbums haben gebildeten Reimwort auszugehen haben. In der Tat verschwindet das Wyßsche bereuen — zu dem es auch keine synonymen Parallelen gibt - völlig gegenüber der überwältigenden Zahl von Belegen mit Formen und Ableitungen des Verbums haben. Wir stellen zunächst die einfachen Verbformen zu Gruppen zusammen und verweisen zu jedem Typus auf die als erstes Reim wort möglichen Vorderglieder. In unserer Materialzusammenstellung sind die genauen Belege dann leicht zu eruieren, so daß wir hier auf eine generelle nochmalige Anführung aller Belege verzichten und uns auf die wichtigsten Leitformen beschränken dürfen.

3.2.1. Formen der 2. P. Sg. Ind. Präs. a) hdt. hast (hascht in älterer alemannischer Aussprache) Hast begegnet zuerst in den oben besprochenen Fassungen aus Graubünden von Th. Vernaleken mit dem Reimwort zerstrast von G. Theobald 1862 und F. J. Vonbun 1862 mit dem Reimwort zerzaßt. Dann folgen R. Gerwer 1865 aus Grindelwald BE (zatt'st:); G. Fient 1897 aus dem Prättigau GR (lascht:); H. Hartmann 1910 aus dem Berner Oberland (zatterst:); A. Büchli 1958-1966) 1989 aus Molinis GR (zärzscht:); E. Gerstner-Hirzel 1970 aus Bosco-Gurin TI (säascht: hascht). b) n h d . habst

O. Henne-Am Rhyn 1874 aus Pfäfers SG (verzappst:). 46

Trotz Id. 11, 2461!

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c) schwzdt. hesch E . L. R o c h h o l z 1856 aus dem Aargau (b'hebsch:).

3 . 2 . 2 . F o r m e n der 2. P. Sg. Ind. Prät.: hattest,

hattist

D i e Reihe beginnt hier mit dem Beleg J . Lempen 1860 aus dem Obersimmental B E („Wie mie du zattrist, wie minder du hattist") und führt dann über die schriftsprachenähere Fassung von E . L. Rochholz 1862 aus U r i (verzatterist:) zu J . J . Jenzer 1869 aus dem A m t Schwarzenburg B E (zattest: hattest), G. Küeffer 1913 aus Lenk B E (zatterst: hattest), E . Friedli 1927 aus Saanen B E (zattist: hattist), H . Michel 1937 aus dem Lauterbrunnental B E (verzatterst: hattest), M . Lauber 1938 aus dem Frutigtal B E (verzattischt: hattischt), J . Müller 1945 aus Isenthal U R , (verzattisch: hattisch), M . Sooder 1964 aus Habkern B E (zatterst: hattest; zattersch: hattischd), bis zu H. Steinegger 1 9 8 1 - 1 9 8 5 aus Muothatal S Z (verzatterisch: hattisch).

3 . 2 . 3 . F o r m e n der 2. P. Sg. K o n j . Prät.: hättest Eindeutig ist hier nur die schwäbische Fassung bei E . Meier 1852 (zettelt: hättet), wogegen V. Bühler 1879 aus Davos (Je m dass d' zatterst, j e minder dass d' hettest!) möglicherweise auch eine indikativische Deutung zuläßt. 4 7 Ähnliches gälte auch für M . Sooder 1943 aus Brienzwiler B E (Je meer düü zätsch, j e minder düü hätsch!).

3 . 2 . 4 . hat 2. P. Sg.? D e r erste Fassung von M . Tscheinen / P. J . Ruppen 1872 (Meh zat - minder hat) ist grammatikalisch kaum erklärbar. Schon die Fassung in den Walliser Sagen 1907 weist mit dem Personalpronomen du dagegen eindeutig auf eine 2. Sg. („Wie mehr du zat, j e weniger du hat!"), und dies gilt auch für die spätere Walliser Überlieferung bei J . Jegerlehner 1913 und für die beiden Fassungen bei K . Lehner 1963 aus Zermatt, w o die in den T e x t integrierte Übersetzung „ [ . . . ] j e minder du hast" eine eindeutige Zuordnung erlaubt.

3.3. Rekonstruktion der Urfassung Überblicken wir das Material, so fällt sofort auf, daß die indikativischen Präteritalf o r m hattist einmal sehr früh schon belegt ist - im bisher unbekannten Zeugnis von J . Lempen 1860 aus dem Simmental und bei J . J . Jenzer 1869 aus dem Schwarzenburgerland - und daß sie zum andern konzentriert im B e r n e r Oberland (wozu man 47

Vgl. zu diesem komplizierten Problem einstweilen W. Hodler 1969, S. 484.514 und H. Paul 1982, S. 227f.

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auch das gebirgige Schwarzenburgerland rechnen darf) und vereinzelt in der Innerschweiz, in den Kantonen Uri und Schwyz, vorkommt, also in den Gebieten, die zusammen mit dem Wallis und den Walserkolonien von der Dialektologie längst als die konservativsten erkannt worden sind. Für das ganze Berner Oberland, das Schwarzenburgerland und - allerdings vereinzelt — auch für die Innerschweiz gibt es nun genügend evidente Zeugnisse 48 dafür, daß das indikativische Präteritum im 19. Jahrhundert noch verbreitet und sogar zu Beginn unseres Jahrhunderts noch reliktweise in der Mundart gebraucht wurde. Wir dürfen daher annehmen, daß die Form hattist der gesprochenen Sprache angehörte, w o f ü r gerade in den ältesten und zuverlässigsten Belegen auch der Umstand spricht, daß die übrigen Teile des Spruchs mundartlich überliefert sind, auch wenn die Sage selbst in hochdeutscher Form erzählt wird, wie es in den schweizerischen Sagensammlungen bis in unser Jahrhundert hinein die Regel war. Wenn nun hattist dem Archetypus des Spruches angehören mußte, stellt sich als nächstes die Frage, wie dann der ganze Spruch gelautet hat. In der Fassung, die E. Friedli 1937 aus Saanen im Berner Oberland mitteilt, hat sie sich meines Erachtens genau 49 bewahrt: „Je mehr du zattist, / Je minder du hattist". 5 0 Zattist ist Präteritalform zum alem. Verbum zetten 5 1 .verstreuen' mit durchaus lautgesetzlichen, im Mittelhochdeutschen gut bezeugten 52 sogenanntem Rückumlaut. Der Schwund des indikativischen Präteritums im Schweizerdeutschen führte zu einem sukzessiven Abbau des Formenbestandes; am Schluß blieben gemeinhin die Formen was und hatti der Verben sein und haben als Relikte übrig. Das erklärt nun auch, warum die Form zattist als erste nicht mehr verstanden wurde und folglich umgedeutet werden mußte.

3.4. Umdeutungen Nachdem das Präteritum zattist nicht mehr verstanden wurden, lag es nahe, es präsentisch umzudeuten, was inhaltlich insofern keine Schwierigkeiten machte, als ja die Ermahnung des Zwerges in einzelnen Fassungen genau in dem Moment erfolgt, wo die Frau die Kohlen wirklich aus ihrer Schürze verstreut. So ist die

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Weit m e h r als J. Bleiker 1969, S. 138f., und R. J ö r g 1976 in ihrer die ältere Kanzleisprache sehr gründlich analysierenden Arbeit zusammenstellen. [Eine entsprechende Darstellung hat Verf. in Arbeit. ] Die F o r m mr mit erhaltenem -r (gegen n o r m a l s c h w z d t . m) ist im Berner O b e r l a n d a u t o c h t h o n , vgl. Id. 4, 362. Sie findet sich mit der E r w e i t e r u n g verzattisch(t) auch bei M . Lauber 1938 aus d e m Frutigtal B E u n d bei J. Müller 1945 aus Isenthal U R . Vgl. F. J. Stalder 1812, II S. 469 (zetten, zetteln)· D W b . 31, 823f. u n d 806 (zerzetten) sowie 821 f. (zetteln) u n d 25, 2 5 7 2 - 2 5 7 7 (verzetten). Vgl. M . Lexer, M h d . W b . 3, 1099. Erhalten in der Walserkolonie Gressoney, vgl. P. Z ü r r e r 1982, 252 (s. v. tsette): „ds hei isch tsats ,das H e u ist gezettet'".

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Roland Ris

F o r m zattist/zatt'st/zascht53 sicher in all den meist späteren Fassungen des Spruches präsentisch aufzufassen, w o sie mit der eindeutig präsentischen F o r m hast des V e r b u m s haben k o m b i n i e r t wird. D e r a-Vokalismus des neugebildeten V e r b u m s w u r d e dabei s o w o h l v o n substantivischen B i l d u n g e n w i e Zatte54 wie auch durch das abgeleitete V e r b u m zattern gestützt. Befriedigender w a r es freilich, statt der N e u b i l d u n g zatten das abgeleitete Verb (ver-)zattern55 einzusetzen, das F. J. Stalder schon 1812 f ü r den K a n t o n B e r n bezeugt (II, S. 465). Tatsächlich finden w i r das Verb n u n v o r allem in Fassungen aus d e m K a n t o n Bern, daneben vereinzelt auch in solchen aus der Innerschweiz (Luzern, U r i , Schwyz), w a s genau der Verbreitung der hattist-Formen entspricht, so daß m a n a n n e h m e n darf, daß w e g e n dieser doppelten Parallele die betreffenden innerschweizerischen Fassungen in einem alten Z u s a m m e n h a n g m i t denen des benachbarten B e r n e r Oberlandes stehen. A u s g e h e n d v o n unserer A u s g a n g s f o r m (A) zattist: hattist entwickelt sich also eine F o r m (B) zatt(e)rist: hattist. Diese F o r m ist n u n z w a r i m ersten Glied semantisch fest verankert, d o c h w i r d sie als ganze w i e d e r u m instabil, weil eine präsentische F o r m mit einer präteritalen v e r b u n d e n w i r d . D a spielt n u n die Analogie in u m g e k e h r t e r F o r m : aus d e m unverständlichen hattist w i r d das w o h l ebenso unverständliche, aber den reinen R e i m 5 6 wieder herstellende u n d präsentisch verstehbare hatterist, u n d wir haben die schon v o n A . Lütolf 1865 aus d e m K a n t o n Luzern bezeugte F o r m (C) zatt(e)rist: hatt(e)rist, die uns später bei J. M ü l l e r 1912 u n d 1945 in verschiedenen Fassungen aus U r i begegnet, darunter zwei m i t j e mit ν er- präfigierten Verben u n d eine m i t der nach der Verbalableitung verzatterlisch gebildeten F o r m hatterlisch, die sich semantisch k a u m n o c h m i t d e m Verb haben verbindet: (D) (ver-)zatterlisch: hatterlisch.

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So M . Waibel 1985, S. 241 für zascht aus Macugnaga. D a der betreffende Bd. des Id. noch aussteht, sei beispielshalber verwiesen auf E. Friedli 1908, S. 288 (Zatte f. in Grindelwald BE), Ο . v. Greyerz / R. Bietenhard 1981, S. 354 (Zatte f., Zatter n. im Berndt.), G. K. Stähli 1976, S. 86 (Zattetä f. in Flums SG), M . Schmid / G. Issler 1982, S. 202 (Zatt m . in Davos). Vgl. D W b . 31, 824 s. v. zettern. Vgl. Id. 2, 1767: „Das W [ o r t ] scheint n u r des Reimes w e g e n u n d nach Analogie des andern gebildet

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Eine andere Möglichkeit, die indikativische Präteritalform hattist wieder verständlich zu machen, war, daß man sie morphologisch zu einem Konjunktiv II machte. Freilich scheint mir die hier in Frage kommende Fassung von V. Bühler 1879 aus Avers GR (zatterst: hettest) mit dem dem Walserdeutschen ganz fremden Verb zattern zweifelhaft zu sein. Der skizzierte Entwicklungsstrang ging primär von den (thematischen) Vollformen zattisch(t): hattisch(t) aus. N u n begegnen aber im Schweizerdeutschen auch apokopierte Formen des — heute voll konjunktivisch umgedeuteten — Präteritums. Tatsächlich weist nun unser Korpus in zatt'st bei R. Gerwer 1865 und Nachfolgern aus Grindelwald eine Verbform auf, die man als apokopiertes indikativisches Präteritum verstehen kann. Die dadurch sich ergebende Form (A') zatt'st: *hatt'st scheint aber instabil gewesen zu sein; die apokopierte Form hatt'st läßt sich als Indikativ jedenfalls nicht belegen. Damit lag es nahe, sie lautlich zu vereinfachen und mit der üblichen Form des Ind. Präs. hast zu verbinden (B') zatt'st: hast, eine Lösung, die insbesondere in den Fällen auf der Hand lag, in denen durch den Kontext eine präsentische Interpretation der Form zatt'st nahe lag. Von dieser gut belegten Zwischenstufe ist dann nur noch ein Schritt zu den oben schon in anderem Zusammenhang behandelten bündnerischen Formen mit zerzaßt: (C') (zer-)zaßt: hast. Zwischen den hier linear dargestellten Entwicklungen sind natürlich Kreuzungen möglich, besonders dort, wo sie für den selben geographischen Raum bezeugt sind. So konnte das unverständliche zatt'st zu zatterst umgedeutet werden, woraus dann der unreine Reim zatterst: hast resultiert, den wir bei Hartmann 1910 und anderswo finden; noch andere Kombinationen bringt J. Müller 1945 aus Uri (verzottisch:

hoscht).

Noch nicht gelöst ist das Problem der z