Dystopien der Gegenwart: Negative Zukunftsvisionen in ›postutopischer Zeit‹ [1 ed.] 9783737016148, 9783847116141

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Dystopien der Gegenwart: Negative Zukunftsvisionen in ›postutopischer Zeit‹ [1 ed.]
 9783737016148, 9783847116141

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 19

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Alexander Sperling

Dystopien der Gegenwart Negative Zukunftsvisionen in ›postutopischer Zeit‹

Mit 4 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2022 als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Alexander Sperling Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1614-8

Wie meinst ›Krise‹, Spatzl? Wie meinst ›Krise‹, Spatzl? Ja merkst du das denn nicht?! Merkst du nicht, in was wir da alle hineinschlittern? In was?! Aber das liegt doch förmlich in der Luft – ich sauge mir das doch nicht aus den Fingern, das spüren wir doch alle! Das kann man jetzt nicht mehr so einfach vom Tisch wischen. Jetzt, Spatzl, tu mir den einen Gefallen und sag mir was! Unser Tankstellenbesitzer, der Herr Röhrl, der weiß auch nicht mehr, wie’s weitergeht. Und seine ganze Familie nicht. Ein Tankstellenbesitzer! Der Röhrl! Der hat doch allerweil schon gejammert. Ja, aber anders! Nie so indirekt, so unbewusst, so unterschwellig. So ist’s überall! Überall hat man das Gefühl, als ob es auf einmal so… brüchig wird, so untergründig im ganzen Gefüge. Brüchig im Gefüge? Jaja, brüchig! Und wo du hinschaust bröckelt und bröselt und kriselt es. Also Spatzl, ich wüsst nicht, wo’s bei uns bröckelt und bröselt und kriselt. Ich glaub eher, dass du dich da in was hineinsteigerst! Neinnein! Also für sowas hab ich ein ganz untrügliches Gefühl! […] Aus: Monaco Franze, Folge 8 (Helmut Dietl, Patrick Süskind)

Inhalt

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Ein unheilvoller Boom? (Einleitung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Theoretische Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Vorgeschichte: Die Entwicklung der Utopie bis hin zur Entstehung der Dystopie als ›Anti-Utopie‹ . . . . . . . . . . 2.2 Die Dystopie aus Sicht der Utopieforschung . . . . . . . . . 2.3 Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Dystopie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Block I: Die Dystopie in ›postutopischer Zeit‹ . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Infinite Jest (David Foster Wallace, 1996): Die USA auf der Therapeutencouch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Corpus Delicti (Juli Zeh, 2009): Das eingeplante Scheitern der Freiheitspropaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Unterwerfung (Michel Houellebecq, 2015): Die Banalität und Vitalität der Ideologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Block II: Anti-Utopien des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Der Tag des Opritschniks (Vladimir Sorokin, 2006): Narrative Experimente mit hohem Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand . . . 3.1 Figurationsphase/Frühphase . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Erste Boomphase und Etablierung narrativer Schemata 3.3 Brache während der sog. ›Postmoderne‹ . . . . . . . . . 3.4 Die Dystopie nach 1990 (Forschungsstand) . . . . . . .

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Inhalt

4.2.2 The Circle (Dave Eggers, 2013): Irritation statt Identifikation. 4.3 Block III: Weitere verkaufsstarke Dystopien der Gegenwart . . . . 4.3.1 Die MaddAddam-Trilogie (Margaret Atwood, 2003/2009/2013): Mit selbstgemachtem Ökohumanismus gegen die Postdemokratie und ihre Folgen . . . . . . . . . . 4.3.2 Blackout – Morgen ist es zu spät (Marc Elsberg, 2012): Ein Bestseller nach Rezept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 QualityLand (Marc-Uwe Kling, 2017): Eine ›Summa Dystopia‹ und eine neue Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Block IV: Relevante Romane jenseits der Gattungsdefinition . . . 4.4.1 Never Let Me Go (Kazuo Ishiguro, 2005): Allegorische Wahrheit statt Extrapolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Die Abschaffung der Arten (Dietmar Dath, 2008): Träumereien von fortschreitendem Stillstand . . . . . . . . . 5. Die literarische Dystopie nach 1990 – eine Gattung bricht auf (Zusammenfassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Narrative Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Boom ohne Ende? Ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Weitere Ansatzmöglichkeiten einer ›Dystopieforschung‹ .

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6. Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Eine zukunftsnarratologische Gegenüberstellung von Videospiel, Film und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 V for Vendetta (James McTeigue, 2005): Traditionelles Paradigma mit neuen Ansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Fifteen Million Merits (Black Mirror, Charlie Brooker, 2011): Die neue Flüchtigkeit des Feindes . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung) 7.1 Die ›Risikogesellschaft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Der Beschleunigungsschub . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die saturierte, postutopische Gesellschaft . . . . . . . 7.4 Verändern, um zu erhalten (Fazit) . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis

AA: Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Roman. Suhrkamp. 1. Auflage. Frankfurt am Main 2008. BO: Marc Elsberg: Blackout. Morgen ist es zu spät. Roman. Blanvalet. 1. Auflage. München 2012. CD: Juli Zeh: Corpus Delicti. Ein Prozess. Schöffling & Co. 1. Auflage. Frankfurt am Main 2009. IJ: David Foster Wallace: Infinite Jest. A Novel. Abacus. An imprint of Little, Brown Book Group. London 2012 [1997].1 MA: Margaret Atwood: MaddAddam. A Novel. Talese. An imprint of Doubleday. 1. Auflage (USA). New York [u. a.] 2013. NE: George Orwell: Nineteen Eighty-Four. A Novel. Secker & Warburg. 1. Auflage. London 1949. NG: Kazuo Ishiguro: Never Let Me Go. Faber and Faber Limited. London, ohne Jahr [ursprünglich bei Knopf, 2005].2 OC: Margaret Atwood: Oryx and Crake. A Novel. Talese. An imprint of Doubleday. 1. Auflage (USA). New York [u. a.] 2003. QL: Marc-Uwe Kling: QualityLand. Roman. Helle Edition. Ullstein. 1. Auflage. Berlin 2017. TC: Dave Eggers: The Circle. A Novel. McSweeney’s Books and Alfred A. Knopf. 1. Auflage. San Francisco und Toronto 2013. TO: Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiepenheuer und Witsch. 1. Auflage. Köln 2008.

1 Zitiert wird hier bewusst nicht nach der Erstauflage, da der Autor nach deren Erscheinen noch einige Korrekturen vorgenommen hat, insbesondere was kleinere chronologische Inkongruenzen zwischen den verschiedenen Handlungsteilen angeht. Stattdessen liegt hier die Ausgabe von 2012 zugrunde, die mit der vergriffenen ersten Paperback-Edition von 1997 seitenidentisch ist, die als Ausgabe letzter Hand betrachtet werden kann. 2 Auch hier liegt eine signifikante Veränderung zwischen dem Erstdruck und den späteren Auflagen vor, die interpretatorisch bedeutsam ist (vgl. hierzu Gliederungspunkt 4.4.1). Zitiert wird daher auch hier nicht nach der Erstausgabe.

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Siglenverzeichnis

UN: Michel Houellebecq: Unterwerfung. Roman. Aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek. DuMont. Mit der Erstausgabe seitenidentische 2. Auflage. Köln 2016. YF: Margaret Atwood: Year of the Flood. A Novel. Bloomsbury. 1. Auflage (GB). London [u. a.] 2009.

1.

Ein unheilvoller Boom? (Einleitung)

Die Dystopie boomt – und zwar nahezu überall. Egal ob in der Literatur, im Kino, in der (Streaming)-Serie oder im Videospiel, die Gattung erlebt aktuell die erfolgreichsten und bewegtesten Jahrzehnte ihrer Geschichte: In der Kinokritik ist von einer »neue[n] Lust am Untergang« die Rede,3 in der Literaturkritik von »eine[r] wahre[n] Flut von dystopischen Romanen«.4 In der Rezension eines dystopischen Romans aus dem Jahr 2019 heißt es: »Ach, denkt man, wieder einmal eine Dystopie. Ein Genre, das die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in den vergangenen Jahren ausgiebig und nicht ohne Grund bearbeitet hat.«5 Damit ist die deutschsprachige Literatur- bzw. Kunstszene aber nicht alleine. Auch das Kulturmagazin The New Yorker diagnostiziert in der Überschrift eines umfangreichen Artikels »A Golden Age for Dystopian Fiction«.6 Tatsächlich ist das gegenwärtig große Interesse an der Dystopie nicht nur ein intermediales, sondern auch ein internationales Phänomen. Inzwischen hat der Boom der Dystopie solche Ausmaße angenommen, dass er in seiner Gesamtheit zum Gegenstand intensiver öffentlicher Debatten geworden ist. Da Dystopien seit jeher Texte sind, die sich kritisch mit dem Zustand von Gesellschaften beschäftigen, kommt dem gegenwärtigen Erfolg dieser Gattung aus

3 Das Zitat entstammt der Überschrift eines Artikels von Marc Rybicki für die Frankfurter Neue Presse vom 04. 07. 2015. Online abrufbar unter: https://www.fnp.de/kultur/neue-lust-unterga ng-10885275.html (letzter Abruf am 22. 09. 2020). 4 Das Zitat entstammt einem Artikel von Doris Kraus für Die Presse mit dem Titel Die Angst vor der Zukunft liest mit für Die Presse vom 25. 10. 2019. Online abrufbar unter: https://www.diepre sse.com/5712356/die-angst-vor-der-zukunft-liest-mit (letzter Abruf am 22. 09. 2020). 5 Das Zitat entstammt der Rezension Christoph Schröders für den SWR2 aus der Sendung vom 18. 08. 2019. Es handelt sich dabei um die Besprechung von Emma Braslavskys Roman Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten. Online abrufbar unter: https://www.swr.de/swr2/litera tur/av-o1144236-100.html (letzter Abruf am 22. 09. 2021). 6 Siehe Jill Lepores Artikel mit dem Titel A Golden Age for Dystopian Fiction. What to make of our new literature of radical pessimism, erschienen in The New Yorker vom 05. 06. 2017. Online abrufbar unter: https://www.newyorker.com/magazine/2017/06/05/a-golden-age-for-dystopi an-fiction (letzter Abruf am 17. 03. 2020).

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Ein unheilvoller Boom? (Einleitung)

soziologischer und politikwissenschaftlicher Sicht ein ganz anderer Stellenwert zu als beispielsweise dem ungefähr zeitgleich stattfindenden Fantasy-Boom.7

Die Dystopie in der öffentlichen Debatte So beschäftigen sich etwa die zahlreichen Feuilleton-Artikel, die sich mit der Konjunktur der Dystopie auseinandersetzen, nur in den seltensten Fällen mit der künstlerischen Bedeutung der Romane und Filme – und das, obwohl die Literatur- und Filmkritik doch eigentlich Kernbestandteil eines jeden Feuilletons ist. Zu drängend scheint die Frage zu sein, ob der gewaltige Erfolg der Gattung nicht Anlass zu ernsten soziopolitischen Sorgen sein sollte. Ist das große Interesse an Texten und Filmen, die einen gesellschaftlichen Verfall imaginieren, bereits Symptom eines solchen Verfallsprozesses? Werden die negativen Zukunftsentwürfe in ihrem geradezu massenhaften Auftreten und Konsum zu einer selffullfilling prophecy? In den letzten Jahren hat sich ein regelrechter ›Dystopie-Diskurs‹ gebildet, in dem diese Fragen in aller Regel bejaht werden. Im bereits erwähnten Artikel aus dem New Yorker etwa beschäftigt sich die Harvard-Historikerin Jill Lepore mit dem Erfolg der Gattung auf dem Buchmarkt; der Untertitel ihres vielbeachteten Artikels gibt dabei die interpretatorische Richtung vor: »What to make of our new literature of radical pessimism.«8 Auch im Text wird deutlich, dass sie die heutige dystopische Literatur – im Unterschied zu jener aus Huxleys und Orwells Zeiten – als destruktiv und defätistisch betrachtet: Utopians believe in progress; dystopians don’t. […] Radical pessimism is a dismal trend. […] Dystopia used to be a fiction of resistance; it’s become a fiction of submission, the fiction of an untrusting, lonely, and sullen twenty-first century, […] the fiction of helplessness and hopelessness. It cannot imagine a better future, and it doesn’t ask anyone to bother to make one. It nurses grievances and indulges resentments; it doesn’t call for courage; it finds that cowardice suffices. Its only admonition is: Despair more.9

Im deutschsprachigen Bereich schlägt Sigrid Löffler in die gleiche Kerbe, wenn sie Lepores Formulierung vom »Radikalpessimismus« bei ihrer Auseinander-

7 Vgl. z. B. die extrem erfolgreiche Verfilmung von The Lord of the Rings (2001–2003), den Romanbestseller Twilight (2005) oder die TV-Serien The Walking Dead (seit 2010) und Game of Thrones (2011–2019). 8 Siehe Jill Lepores Artikel mit dem Titel A Golden Age for Dystopian Fiction. What to make of our new literature of radical pessimism, erschienen in The New Yorker vom 05. 06. 2017. [Online-Link siehe oben]. 9 Siehe oben.

Die Dystopie in der öffentlichen Debatte

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setzung mit der Gattung wörtlich übernimmt.10 Auch in der Süddeutschen Zeitung wird ein umfangreicher Artikel zum Dystopie-Boom mit den Worten untertitelt: »Früher haben Künstler und Wissenschaftler optimistisch in die Zukunft geschaut. Heute ist die Dystopie zum Mainstream geworden und könnte sich zur selbsterfüllenden Prophezeiung entwickeln – dabei ginge es auch ganz anders«.11 Der Haupttitel dieses Beitrags lautet: »Das Ende ist nah«. War eingangs von einer »Flut« dystopischer Romane die Rede, so illustrieren diese Beispiele, wie verbreitet die Sorge ist, diese »Flut« sei durch ihre geballte Negativität bedrohlich und könnte ganze Gesellschaften unter sich begraben. Als besonders unheilvoll wird innerhalb dieses Dystopie-Diskurses der Umstand betrachtet, dass die Konjunktur der Dystopie überhaupt kein positives Gegengewicht erhält, da literarische Utopien schon seit Jahrzehnten kaum mehr publiziert werden. Über die Zukunft wird, so scheint es, entweder gar nicht nachgedacht, geschrieben und gesprochen oder nur mit umfassendem Pessimismus und vorauseilender Melancholie. Dieser gängigen, skeptischen Sicht auf die Dystopie wird in jüngster Zeit sogar innerhalb der Gattung Vorschub geleistet – ein kurioser, gattungsgeschichtlich betrachtet einmaliger Vorgang: [Sie] [w]aren über alte Gleise und an Tümpeln vorbeigelaufen durch eine Gegend, die für ironische Dystopie-Fotoshootings gemacht schien. Dystopie war das Ding der letzten Jahre gewesen. Alle hatten so eine tüchtige Endzeitangst. Angstgesetze wurden in Tagen verabschiedet. Gesetze gegen: Vermummung, Versammlung, Verhüllung, Hate Speech. Internetblockadengesetze, Kontoeinfrierungsgesetze. Aber all die liebevollen Versuche der Regierung, die Bevölkerung zu beruhigen, sie zu schützen, hatten nicht geholfen. Wie Ameisen, die aus ihrem Weiler, oder Stock, oder Bau, oder wie der Scheiß bei Ameisen hieß, gejagt wurden, waren die Menschen in Todesangst herumgerannt und hatten sich so gefürchtet. Vor multiresistenten Keimen, der Scharia, der Verweiblichung, dem Aufgeben alter Gewohnheiten, der Armut und nun – lebten sie immer noch.12

10 Ein entsprechender Beitrag Löfflers erschien am 15. 01. 2019 auf deutschlandfunkkultur.de. Darin heißt es unter anderem: »Es wimmelt [in der Gegenwartsliteratur] von Schreckensszenarien und von apokalyptischen Untergangsvisionen. Es herrscht Endzeitstimmung, Schwarzmalerei, Radikalpessimismus, wohin man schaut.« Der Beitrag ist online als Textversion verfügbar: https://www.deutschlandfunkkultur.de/literaturkritikerin-loeffler-zu-neu en-buechern-ueber.1270.de.html?dram:article_id=438353 (letzter Abruf am 21. 03. 2020). 11 Der Artikel von Nicolas Freund mit dem Titel Das Ende ist nah erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 05. 05. 2019 und ist online abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/kul tur/dystopie-mainstream-essay-1.4429322 (letzter Abruf am 21. 03. 2020). 12 Berg, GRM, S. 252.

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Ein unheilvoller Boom? (Einleitung)

Die hier zitierte Passage entstammt Sibylle Bergs Roman GRM. Brainfuck13 aus dem Jahr 2019. Auch bei GRM handelt es sich um eine Dystopie (siehe Gliederungspunkt 5.3), in deren Rahmen der aktuelle Boom der Dystopien nun aber selbst zum Ausgangspunkt einer weiteren dystopischen Extrapolation wird.14

Positionierung innerhalb des ›Dystopie-Diskurses‹ Allerdings leidet der öffentliche Dystopie-Diskurs daran, dass die soziopolitischen Implikationen des Booms diskutiert werden, ohne zuvor die einzelnen Texte, aus denen er besteht, analysiert und diskutiert zu haben. Die vorliegende Arbeit unternimmt eine solche Analyse einzelner Texte und kommt zu ganz anderen Ergebnissen. Die Untersuchungen verschiedener zeitgenössischer Dystopien ergeben das Bild einer Gattung, in der (Selbst-) Ironie, Komik, Reflexion und konstruktive Kritik eine weit größere Rolle spielen als in der öffentlichen Debatte angenommen. Utopisches Denken etwa findet heute paradoxerweise gerade innerhalb von Dystopien ein bedeutendes Refugium. Schon hieran lässt sich erkennen, welch umfassenden Wandel die Gattung in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Die bis heute noch zu findende Gleichsetzung von ›Dystopien‹ und ›Anti-Utopien‹15 etwa ist angesichts dieses Umstandes als überholt anzusehen. Die literaturwissenschaftliche Hauptthese dieser Arbeit lautet daher, dass die Dystopie ab 1990 nicht nur einen kommerziellen Aufschwung, sondern in vielerlei Hinsicht auch einen signifikanten konzeptionellen Umbruch erlebt. So ist eine Abwendung vom ›prototypischen‹ Handlungsschema ebenso zu konstatieren wie der Übergang von einer überwiegend didaktischen zu einer stärker fra13 ›GRM‹ ist eine Zusammenziehung des Begriffs ›Grime‹, der einen Musikstil bezeichnet. Bergs Roman wird wie die Musikrichtung ausgesprochen. 14 Noch umfassender, aber eher ironisch als pessimistisch konnotiert, ist diese Hinwendung zum Selbstreflexiven auch in Marc-Uwe Klings satirischem Roman QualityLand von 2017 zu beobachten. Dort geht der gesamte dystopische Weltentwurf erst aus einer Reflexion über mehrere ältere dystopische Weltentwürfe hervor (vgl. 4.3.3). GRM und QualityLand binden ihre Zugehörigkeit zur boomenden Gattung also offensiv in die jeweilige Gesamtnarration ein. Die medienübergreifende Konjunktur der Gattung ist mittlerweile so augenfällig, dass sich die allerneuesten Dystopien offenbar gegen einen Rezeptionseindruck erwehren müssen, wie er in der eingangs zitierten Rezension zum Ausdruck kommt, wenn eben »wieder einmal eine Dystopie« besprochen wird (vgl. 5.3). Ähnlich wie die thematische Wendung hin zum Dilemma ›postutopischer‹ Gesellschaften nach 1990 scheint die jetzige Wende ins Selbstreflexive ein weiterer Versuch zu sein, die bisherige Relevanz der Dystopie in eine neue Phase der Gattungsgeschichte zu übertragen und sie dabei im besten Falle noch auszuweiten. Auch Sicht der vorliegenden Arbeit ist es erfreulich, diesen literarhistorisch bedeutsamen Übergang noch in die Darstellung aufnehmen zu können. 15 Vgl. etwa Hans-Edwin Friedrichs Artikel zur Utopie im Reallexikon: Friedrich, Utopie, S. 739.

Zum gesellschaftlichen Status von Zukunftsnarrationen

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gend-reflektierenden Haltung. Das Wesen der Gattung hat sich durch diese und viele weitere Veränderungen entscheidend gewandelt – eine ›heitere Dystopie‹ etwa stellt heute nicht mehr notwendigerweise einen Widerspruch in sich dar.16 Bei den meisten Teilnehmer:innen des Dystopie-Diskurses herrscht dagegen ein pauschalisierendes Konzept vor, wie sich in der Gesamtdeutung des Booms als einem ›radikalpessimistischen‹ Phänomen zeigt. Im Gegensatz dazu lautet die soziologische Hauptthese der Arbeit, dass die aktuelle »Flut« dystopischer Romane eher als konstruktives denn als destruktives gesellschaftliches Element zu betrachten ist. Am Ende dieser Einleitung wird genauer skizziert, welche Analyseergebnisse einen solchen Schluss nahelegen.

Zum gesellschaftlichen Status von Zukunftsnarrationen Vorab jedoch zwei grundlegende Gedanken zum gesellschaftlichen Status von Zukunftsnarrationen. Der erste ist allgemeiner Natur und lässt sich auf alle utopisch-dystopischen Werke in den verschiedenen Medien, aber auch in den verschiedenen historischen Epochen übertragen: Entgegen häufiger Fehlannahmen ist der eigentliche Zielpunkt von Zukunftsnarrationen nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart des jeweiligen Werks. Es geht den Zukunftstexten nicht primär darum, mit einem Zukunftsszenario ex post ›Recht zu behalten‹, sondern darum, die aktuell herrschenden Zustände durch einen fiktiven Gegenentwurf zu kritisieren.17 So lebt etwa das Zielpublikum von Edward Bellamys sozialistischer Utopie Looking Backward: 2000–1887 (erschienen 1888) eben nicht auf der Schwelle zum 21., sondern auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Und George Orwells 1949 erschienene Dystopie Nineteen Eighty-Four richtet sich nicht primär an Leser:innen der 1980er-Jahre, sondern an jene der Nachkriegszeit. So sind die Zukunftsszenarien, die in Utopien und Dystopien entfaltet werden, auch nur in den seltensten Fällen als Prognosen zu verstehen, obwohl sie häufig als solche rezipiert werden. Eine solche Rezeptionshaltung verkennt jedoch den eigentlichen Angelpunkt von Zukunftsnarrationen – die Kritik an den herrschenden Verhältnissen oder Tendenzen durch die Schaffung von alternativen Welten – und bringt deren Autor:innen in eine prophetische Rolle, der sie kaum gerecht werden können. Auch die zeitgenössische Dystopie ist hier keine Ausnahme; sie liefert uns weniger Erkenntnisse über die Zukunft als über die Ge16 Insofern erweist sich ausgerechnet eine der frühesten deutschsprachigen Dystopien, Arno Schmidts Roman Die Gelehrtenrepublik von 1957, als wichtiger Prätext der Gegenwartsdystopie. 17 Vgl. Seeber, Präventives statt konstruktives Handeln, S. 195.

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Ein unheilvoller Boom? (Einleitung)

genwart. Entsprechend ist auch eine wissenschaftliche Untersuchung der zeitgenössischen Dystopie nicht als Zukunftsforschung, sondern als Gegenwartsanalyse zu betrachten. Auf besonders augenfällige Weise lässt sich anhand aktueller Dystopien erkennen, welche Ängste, Befürchtungen, Sorgen, aber auch Hoffnungen momentan gesellschaftlich virulent sind. Der zweite Gedanke zum gesellschaftlichen Status von Zukunftsnarrationen betrifft dagegen ein aktuelles Phänomen. Es geht um die Art und Weise, mit der gegenwärtig auf die Zukunft und somit auch auf Utopien und Dystopien geblickt wird. Hier nämlich scheint sich, ausgelöst durch die bewegte politische Ereignisgeschichte der letzten Jahre, eine signifikante Verschiebung ereignet zu haben. Um den Auslöser dieser Verschiebung zu illustrieren, stelle man sich nur einmal eine filmische oder literarische Zukunftsnarration vor, die Ende 2009 (der relativ frisch gewählte Barack Obama hat gerade den Friedensnobelpreis erhalten) bezüglich der nächsten zehn Jahre folgendes imaginiert hätte: Einen Reaktorunfall in Japan, der die deutsche Bundesregierung dazu bringt, sich quasi über Nacht von der Atomkraft loszusagen; einen politischen Newcomer in Frankreich, der nicht nur Staatspräsident wird, sondern dabei auch beträchtliche Teile der bisherigen politischen Parteienlandschaft einfach hinwegfegt; ein Referendum, in dem sich das britische Volk mehrheitlich für einen Austritt aus der Europäischen Union ausspricht, dessen Umsetzung aber so langwierig, diffizil und kontrovers ist, dass es zur ernsten Gefahr für das gesamte politische System Großbritanniens und für die Existenz des Commonwealth wird; zwei Päpste, einen amtierenden und einen ›emeritierten‹, die in verschiedenen Medien kontrovers über ein mögliches Ende des Zölibats diskutieren; eine globale Flüchtlingsbewegung; einen US-Präsidenten als Nachfolger Obamas, unter dem das Weiße Haus innerhalb kürzester Zeit kaum mehr als eine seriöse Einrichtung betrachtet werden kann; eine einsetzende Epoche der ›Fake-News‹ und der Internetbots, der ›Facebook-Bubbles‹ und der ›Infowars‹; eine schwedische Jugendliche, die durch ihren Schulstreik eine globale (Jugend-)Protestbewegung auslöst, die in ihren Dimensionen durchaus mit den ›68ern‹ verglichen werden kann; und am Ende dieses schon nicht als ereignisarm zu bezeichnenden Jahrzehnts noch den Ausbruch einer globalen Pandemie. Eine solche Narration wäre zum Jahreswechsel 2009/2010 sicherlich als effekthascherisch und unplausibel aufgenommen worden und hätte sich mittlerweile dennoch als völlig zutreffend erwiesen. Diese bewegte Ereignisgeschichte hat den Boom der Dystopien sicherlich verstärkt: Wenn die Gegenwart aus den Fugen zu geraten scheint, dann richtet sich der Blick mit größerer Dringlichkeit auf Zukunftsnarrationen.18 Dabei gilt es 18 Dies scheint in einem gewissen Widerspruch zum vorherigen Gedanken zu stehen, bei dem gerade die kategoriale Trennung von Zukunftsnarration und Zukunft konstatiert wurde. Dabei handelte es sich jedoch um eine theoretische Konzeption, wie sie u. a. dieser Arbeit

Zum gesellschaftlichen Status von Zukunftsnarrationen

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jedoch erstens zu beachten, dass es sich hierbei zwar um eine Verstärkung, nicht aber um den initialen Auslöser der aktuellen Konjunkturphase handelt. Die Anfänge des Dystopie-Booms reichen in ihren frühesten Ausläufern weiter zurück, nämlich bis in die späten 1990er-Jahre. So scheint ursprünglich vor allem eine allgemeine Re-Politisierungstendenz innerhalb der Kunstszene – Stichwort: »Irony is over«19 – den Boden für das deutlich verstärkte Interesse an den Dystopien bereitet zu haben (vgl. 3.4).20 Zweitens erleben angesichts der als turbulent empfundenen Gegenwart auch die älteren Dystopien einen unerwarteten Aufschwung. Nachdem beispielsweise das Konzept der ›alternative facts‹ 2017 zur quasi offiziellen Position der USRegierung geworden war, war George Orwells Klassiker Nineteen Eighty-Four innerhalb kürzester Zeit vergriffen und musste eilig neu aufgelegt werden.21 Viele Beobachter fühlten sich offenbar an die dort vorkommenden, paradoxen Parteislogans »WAR IS PEACE / FREEDOM IS SLAVERY / IGNORANCE IS STRENGTH« (NE 8, Großschreibung im Original) und den Beruf des Protagonisten Winston Smith erinnert; bekanntlich arbeitet er als eine Art Historienaktualisierer, der die Weltgeschichte immer der aktuellen politischen Lage anzupassen hat. In dem Maße, in dem sich unsere Lebenswelt in den letzten Jahren auf kaum vorhersehbare Weise gewandelt hat, hat sich auch die Grenze des realistischerweise Vorstellbaren verschoben. Als David Foster Wallace in seinem monumentalen Werk Infinite Jest von 1996 einen ehemaligen Schnulzensänger namens Johnny Gentle als kommenden US-Präsidenten erfand, der das Weiße Haus in ein Tollhaus verwandelt und dessen gesamte politische Agenda von dem Ziel dominiert wird, radioaktiv verseuchten Müll loszuwerden, da war dies eindeutig als Satire zu verstehen, als ein kritischer, frecher Kommentar auf die USA des ausgehenden 20. Jahrhunderts ohne den Hintergedanken auf eine tatsächliche Realisierung solcher Zustände in absehbarer Zukunft. Heute dagegen wird In-

zugrundeliegt, während es bei dem Aspekt hier um eine populäre Rezeptionshaltung geht, in der eine solch scharfe Trennung oft unterbleibt. In der literarischen Praxis leben die Dystopien zweifellos sowohl von einem gesellschaftlichen Bedarf an Gegenwartskritik als auch von einem genuinen Interesse an möglichen ›Zukünften‹. 19 Ursprünglich aus dem Songtext des Liedes The Day After The Revolution der britischen Popband Pulp aus dem Jahr 1998. 20 Speziell mit Blick auf die deutschsprachige Literaturlandschaft hat u. a. Sabrina Wagner diese Re-Politisierung exemplarisch herausgearbeitet: Sabrina Wagner: Aufklärer der Gegenwart. Politische Autorschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts; Juli Zeh, Ilija Trojanow, Uwe Tellkamp. Göttingen 2015. 21 Vgl. hierzu etwa den Artikel aus dem Focus vom 26. 01. 2017 mit dem Titel Trump katapultiert George Orwells »1984« zurück in die Bestsellerlisten. Online abrufbar unter: https://www.fo cus.de/kultur/buecher/neusprech-und-doppeldenk-trump-beschert-george-orwell-ein-com eback_id_6550537.html (letzter Abruf am 01. 10. 2021).

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finite Jest als zentraler Roman der Ära Trump betrachtet,22 was aus chronologischen Gründen natürlich widersprüchlich, abgesehen davon aber erstaunlich passend ist, wie die Analyse des Textes zeigen wird (vgl. 4.1.1). So geht es vielen Zukunftsnarrationen: Was früher als übertrieben galt, wird heute teilweise als realistisches oder gar als konservatives Szenario wahrgenommen. Auch diese Ausweitung des Vorstellbaren trägt damit gegenwärtig zum gestiegenen allgemeinen Interesse an älteren und neueren Dystopien bei.

Geschichte der Gattung Durch diese umfassende Konjunktur rückt die gesamte Gattungsgeschichte stärker in den Fokus der Öffentlichkeit. Kenntnisse von dieser sind jedoch, mehr noch als etwa bei der literarischen Utopie, selbst in literaturwissenschaftlichen Kreisen in der Regel nur schlaglichtartig vorhanden. Weitgehend unbekannt sind vor allem die Umstände um die Entstehung und die sich anschließende Formationsphase der Dystopie: Nach ersten Vorläufertexten, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen,23 entstanden warnend-extrapolierende Zukunftsnarrationen vermehrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bildeten ab diesem Zeitpunkt allmählich eine zusammengehörende Textgruppe. Es handelte sich dabei um eine Gegenströmung zu den damals äußerst wirkmächtigen literarischen Utopien wie dem bereits erwähnten Roman Looking Backward von Edward Bellamy. In diesen literarischen Utopien wurden insbesondere die marxistischen Theorien durch ihre narrative Umwandlung auch für weniger gebildete Schichten greifbar gemacht, sodass diese Romane einen wesentlichen Beitrag zur Propagierung der marxistischen Lehre leisteten. Diesen Ansatz drehten die ersten Dystopien um, indem sie die problematischen Aspekte des Marxismus (und anderer Gesellschaftsutopien) extrapolierten und dadurch warnende Zukunftsentwürfe als Gegenbilder schufen.24 In diesem anti-utopischen Kontext stehen auch die drei ›klassischen‹ Dystopien, Yevgeny Zamyatins We25 (1921/1924), Aldous Huxleys Brave New World (1932) und George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949). Etwa mit Huxley, spätestens aber mit Orwell lässt sich ein Ende der Entstehungs- und Frühphase der 22 Duncan White behauptet im Telegraph vom 01. 02. 2016 gar, David Foster Wallace habe durch Infinite Jest die Zukunft vorhergesagt. Online abrufbar unter: https://www.telegraph.co.uk /books/authors/the-5-impressive-ways-david-foster-wallaces-infinite-jest-predic/ (letzter Abruf am 26. 11. 2018). 23 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 298–299. 24 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 330–332. 25 Der ursprünglich russische Romantext mit dem Titel Мы erschien zunächst 1921 auf Englisch.

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Gattung erkennen. In der Nachkriegszeit erlebt die Dystopie dann, beginnend mit Orwell, ihre erste Boomphase, in der weitere ›Prototypen‹ wie Player Piano (Kurt Vonnegut, 1952), Fahrenheit 451 (Ray Bradbury, 1953) und eine Fülle weiterer bedeutender Texte entstehen. Mit Blick auf die deutschsprachige Literatur ist hier vor allem Arno Schmidts Roman Die Gelehrtenrepublik von 1957 erwähnenswert. In den 1970er- und 1980er-Jahren nimmt die Bedeutung der Dystopie dann (außer im Bereich der Jugendliteratur) stark ab; zu engagiert und didaktisch waren die dystopischen Texte in dieser von postmoderner Ironie und »radikaler Pluralität«26 geprägten Phase. Einen noch tieferen Einschnitt in der Gattungsgeschichte stellt der Untergang der Sowjetunion ab 1989 dar, da nun der Sozialismus als Systemalternative (der ursprüngliche Erzfeind der Dystopie) und ein Krieg der Atommächte USA und UdSSR (die größte Bedrohung der letzten Jahrzehnte) als potentielle Themen weitestgehend wegfielen. Angesichts dieser veränderten politischen Ausgangssituation ist es sehr überraschend, dass die Gattung in der Folge nicht noch weiter an Bedeutung eingebüßt hat, sondern dass im Gegenteil ab den späten 1990erJahren eine zweite Boomphase einsetzt, die bis heute anhält und die durch ihre umfassende Intermedialität die erste, überwiegend literarisch geprägte Hochphase noch weit in den Schatten stellt. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die Geschichte der Dystopie für die bewegten Jahre von 1990 bis heute fortzuschreiben und dabei auch den Gründen für diesen zweiten Boom nachzugehen.

Forschungssituation Auch die Forschungssituation spiegelt den massiven Bruch wider, den die politische Zäsur um 1990 für die Dystopie darstellt. Während die Gattung zumindest von Huxleys Brave New World bis in die 1980er-Jahre hinein recht ausgiebig untersucht wurde, ist die Zeit davor und danach noch massiv untererforscht. Zumindest was die Frühphase angeht, hat Gregory Claeys allerdings jüngst in seinem umfassenden Werk Dystopia. A Natural History (2016) wichtige Pionierarbeit geleistet. Die Dystopien von 1950 bis 2015 behandelt er darin jedoch zusammen als die bislang letzte Entwicklungsstufe, was für das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit eine zu grobe Kategorisierung darstellt und auch abgesehen davon fragwürdig ist. Zentral für die Erforschung der Dystopie ist neben Claeys auch Lyman Tower Sargent, der seit Jahrzehnten die utopisch-dystopischen Texte in ihrer Gesamt-

26 Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 4.

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heit untersucht und zu katalogisieren versucht.27 Mit Claeys und Sargent sind die wichtigsten Forscher auf dem Gebiet der Dystopie bezeichnenderweise Historiker bzw. Politikwissenschaftler, was auf ein weiteres Forschungsproblem hinweist: Die Interdisziplinarität, die die Utopieforschung seit jeher prägt, hat sich auf die Erforschung der Dystopie übertragen. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht erweist sich dieser Umstand – obgleich damit auch wichtige Bereicherungen einhergehen – eher als Hemmnis, da es der Literaturwissenschaft noch nicht gelungen ist, eigene gattungsspezifische Konzeptionen und Theorien zu etablieren, die eine methodisch einwandfreie Untersuchung der literarischen Dystopien ermöglichen. So gibt es bislang nicht einmal eine gängige Definition der Dystopie, die ohne Rückgriff auf eine ›Autorintention‹ auskommt.28 Zudem werden bis heute Konzepte der Utopieforschung auf die Dystopie – die als Utopie mit negativem Vorzeichen betrachtet wird – spiegelverkehrt angewendet.29 Gerade die Gegenwartsdystopie, die keine Anti-Utopie mehr ist, kann mit diesem Instrumentarium jedoch nicht angemessen analysiert werden. Um ihr gerecht zu werden, muss die Dystopie stärker als bisher als eine eigenständige Textsorte anerkannt und behandelt werden. Es ist geradezu grotesk, dass die Dystopie in der Forschung immer noch als Anhängsel der Utopie mitbehandelt wird,30 während in der literarischen Praxis die Utopie nur noch überlebensfähig ist, weil sie mitunter in die dystopischen Narrationen integriert wird. Eine eigenständige, literaturwissenschaftliche ›Dystopieforschung‹ gibt es bislang also gerade hinsichtlich einer theoretisch-konzeptionellen Basis nicht. 27 Sein Projekt Utopian Literature in English: An Annotated Bibliography from 1516 to the Present ist digital verfügbar und wird laufend aktualisiert. Online abrufbar unter: https://open publishing.psu.edu/utopia/home (letzter Abruf am 21. 09. 2021). 28 Die aktuell gängigste Definition stammt von Sargent und lautet: [A dystopia is] a non-existent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as considerably worse than the society in which that reader lived. (Sargent, Three Faces, S. 10). 29 Ein Vergleich von Sargents Utopie- und Dystopiedefinition macht diese Herangehensweise beispielhaft deutlich. Eine Utopie definiert Sargent folgendermaßen: [A utopia is] a nonexistent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as considerably better than the society in which that reader lived. (Sargent, Three Faces, S. 9). 30 So wird beispielsweise auch bei Sargents Definitionsansätzen die Utopiedefinition der Dystopiedefinition wie selbstverständlich vorangestellt. Mehr noch: Der Definitionsaufbau ist bei Sargent erkennbar auf die Utopie (in der Tradition von Thomas Morus’ Utopia) zugeschnitten und wird dann – anhand eines simplen Vorzeichenwechsels – auch auf die Dystopie angewendet. Diese angenommene, nicht hinterfragte Analogie zwischen Utopie und Dystopie bestimmt auch in der internationalen Forschung bis heute den Blick auf die Dystopie: »Dystopia is not so much the opposite of utopia as its shadow. It emerged in the wake of utopia and has followed it ever since.«, stellt Krishan Kumar noch 2013 fest (Kumar, Utopia’s shadow, S. 19). In dieselbe Kerbe schlägt Fátima Vieira: »Literary dystopia utilizes the narrative devices of literary utopia« (Vieira, The concept of utopia, S. 17).

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Das ist freilich nicht primär der interdisziplinären Utopieforschung, sondern vor allen Dingen der Literaturwissenschaft selbst vorzuwerfen, die die Dystopie lange Zeit abschätzig als ›Genre-Literatur‹ mit einem starken Hang zu didaktischer Schwarz-Weiß-Zeichnung betrachtet hat.31 Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit legen nahe, dass eine solche Einschätzung insbesondere hinsichtlich der Gegenwartsdystopie überholt ist, dass also die Gattung aktuell nicht nur einen quantitativen Aufschwung erlebt. Es bedarf daher längst einer umfassenden und methodisch eigenständigen literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der (Gegenwarts-)Dystopie. Vor allem in drei Monographien wird bislang versucht, dieses Forschungsdesiderat zu beseitigen. Einmal handelt es sich dabei um die Dissertation von Elena Zeißler mit dem Titel Dunkle Welten. Die Dystopie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert aus dem Jahr 2008. Zeißlers Verdienst ist es, die Öffnung der Gattung für ›postmoderne‹ narrative Strategien anhand einiger Beispiele erstmals detailliert aufgezeigt zu haben. Alleine schon aufgrund des relativ frühen Erscheinungsjahrs steht ihr allerdings aus heutiger Perspektive nur eine begrenzte Auswahl an relevanten Texten als Untersuchungsbasis zur Verfügung. Verschärft wird dieser Umstand durch ihre Einschränkung auf Romane aus dem britischen Commonwealth. Auch nimmt sie noch keine Differenzierung zwischen Dystopien und Anti-Utopien vor, ebenso wie eine Unterscheidung zwischen allegorisch-dystopischen und extrapolierenden Dystopien bei der Korpusbildung unterbleibt. Aufgrund dieser Probleme stellt ihre Arbeit noch keine befriedigende Auseinandersetzung mit der Gegenwartsdystopie dar, obwohl dort bereits wichtige Impulse enthalten sind. Bei der zweiten Monographie handelt es sich um die Dissertation von Susanna Layh mit dem Titel Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie, die 2014 erschien. Layh unterscheidet darin bereits zwischen Dystopien und Anti-Utopien.32 Ausgehend von Zeißlers Erkenntnissen zur Beeinflussung der Gattung durch die Postmoderne geht es Layh primär um die sogenannte ›kritische Dystopie‹, also um die Integration utopischen Denkens in einzelne Dystopien. Diese ›kritischen Dystopien‹ präsentiert sie als die bislang letzte Evolutionsstufe der Gattung. Wie die vorliegende Arbeit insbesondere bei der Interpretation des Romans Corpus Delicti 31 Siehe beispielweise Vieiras Beschreibung der Dystopie in The Cambridge Companion to utopian literature: But although the images of the future put forward in dystopias may lead the reader to despair, the main aim of this sub-genre is didactic and moralistic: images of the future are put forward as real possibilities because the utopist wants to frighten the reader […]. (Vieira, The concept of utopia, S. 17). Vieira bezieht sich hier auf die Dystopie allgemein. Alle Elemente dieser Darstellung werden mit Blick auf die Gegenwartsdystopie in der vorliegenden Arbeit zumindest teilweise verworfen. 32 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 27.

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(der auch in Layhs Textkorpus enthalten ist) argumentieren wird, entgehen ihr dabei jedoch wesentliche thematische und narrative Spezifika der Gegenwartsdystopie, die weit über die bloße Integration utopischer Elemente hinausgehen. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit überschneiden sich daher sogar stärker mit Zeißlers älterer Darstellung als mit Layhs Studie. Beiden Untersuchungen ist zudem gemein, dass sie sich nicht ausreichend von den Dystopie-Konzeptionen der interdisziplinären Utopieforschung lösen und somit keine wirklich tragfähige theoretische Basis für ihren literaturwissenschaftlichen Ansatz haben. So finden beispielsweise beide Arbeiten keinen Definitionsansatz für die Dystopie, der sich von der Einbeziehung einer ›Autorintention‹ entscheidend freimachen würde (vgl. 2.3). Auch lassen in beiden Fällen bereits die Titel Dunkle Welten bzw. Finstere neue Welten erahnen, dass das gängige Konzept der Dystopie als pessimistische, sorgenvoll-triste Gattung dort nicht grundlegend hinterfragt wird. Inhaltlich differenzierter und aktueller ist die 2021 erschienene Dissertation Annika Gonnermanns mit dem Titel Absent Rebels: Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction. Gonnermann arbeitet darin bereits wichtige Aspekte heraus, durch die sich die Dystopie der Gegenwart von der Dystopie der Nachkriegszeit inhaltlich unterscheidet. Die Ersetzung des Staates durch Großkonzerne als die primären Aggressoren oder das fehlende Aufbegehren durch die Hauptfiguren ist hierbei vor allem zu nennen. Die vorliegende Arbeit wird sich mit Gonnermanns Befunden auseinandersetzen, diese weiter ausdifferenzieren und an mehreren Stellen auch in Frage stellen (vgl. 5.1). Andere inhaltliche Aspekte, die in der vorliegenden Arbeit als zentral herausgearbeitet werden – wie etwa die konstruktive Seite der Gegenwartsdystopie –, kann Gonnermann anhand ihrer Textbasis nicht erkennen (vgl. 3.4). Was die konzeptionelle Arbeit am Begriff ›Dystopie‹ angeht, greift ihre Arbeit weitestgehend auf jene bereits bestehenden Ansätze zurück, die hier bereits problematisiert wurden. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Erforschung der Gegenwartsdystopie einerseits noch notwendigerweise lückenhaft ist, weil es sich um ein relativ junges Phänomen handelt. Andererseits erschließen die wenigen Studien, die sich bislang mit dem Thema auseinandersetzen, die Gattung aus methodisch-theoretischen oder inhaltlichen Gründen nur bedingt.

Korpusbildung und Methodik Damit nun zur Herangehensweise dieser Arbeit und zwar zunächst zur Korpusbildung. Eine Beschränkung des Textkorpus auf einzelne Nationalliteraturen, wenngleich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Dystopien nicht unüblich, findet in der vorliegenden Arbeit nicht statt, da eine solche die

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grenzüberschreitenden Aspekte der Gegenwartsdystopie ignorieren würde.33 Bereits in den einzelnen Romankonzeptionen ist ein internationaler Ansatz teilweise offensichtlich – im Falle von Blackout etwa ist das gesamte, miteinander verbundene Stromnetz Europas von Sabotageattacken betroffen. Doch auch wenn sich das Szenario einer zeitgenössischen Dystopie auf die Gesellschaft eines klar zu umgrenzenden Nationalstaats beschränkt, sind die dabei verhandelten Themen doch in einem hohen Maße übertragbar. Zukunftsentwürfe, die aktuelle Trends einer bestimmten westlichen Gesellschaft extrapolieren, sind in der Regel zumindest auch in den anderen Ländern des Westens von Interesse, weil die meisten dieser Trends dort in ähnlicher Weise zu beobachten sind. Dieser ›Westen‹34 wird in der vorliegenden Arbeit somit zwar nicht als ein homogener, aber doch als eng verwobener Kulturraum betrachtet – und der gegenwärtige Boom der Dystopien als spezifisches Phänomen dieses Kulturraums. Dass im Folgenden (fast) alle analysierten Werke dieser ›westlichen‹ Welt entstammen, ist daher keinesfalls als implizite Befürwortung eines kruden Okzidentialismus zu verstehen, sondern beruht auf inhaltlichen Gründen. Was die ›westlichen‹ Gesellschaften nämlich gemein haben und sie von anderen Kulturkreisen unterscheidet, ist, dass sie schon vor mehreren Jahrzehnten stabile Wohlstands- oder gar Überflussgesellschaften hervorgebracht haben. Gerade dieser langanhaltende und historisch einzigartige Wohlstand weiter Bevölkerungsschichten scheint eine große Rolle bei der Erlahmung der utopischen Energien in diesen Gesellschaften zu spielen (vgl. 7.3). Tatsächlich entfaltet utopisches Denken in anderen Kulturkreisen weiterhin sein großes politisches Potential.35 Wie sich im Laufe der Textanalysen immer wieder erweisen wird, ist es dagegen gerade das Fehlen solch antriebs- und orientierungsspendender Utopien, das heute in den ›westlichen‹ Dystopien häufig problematisiert wird. Weil also der Status des utopischen und damit auch des dystopischen Denkens 33 Um eine möglichst allumfassende Lesbarkeit der Arbeit zu erreichen, sind alle fremdsprachigen Texte, außer englischsprachige, in ihren jeweiligen deutschen Übersetzungen zitiert. Im Falle des russischsprachigen Romans konnte dabei leider nicht kontrolliert werden, ob die Übersetzung dem Originaltext gerecht wird. Es erschien für den Horizont der Arbeit dennoch gewinnbringend, den Text mit einzubeziehen. 34 Cum grano salis sind damit hier die Länder Europas, die übrigen G7-Staaten, sowie Australien gemeint. Aus nachvollziehbaren Gründen hat der Postkolonialismus in den letzten Jahrzehnten eine einseitige Fokussierung in den Geisteswissenschaften auf diesen ›westlichen‹ Kulturraum kritisiert. Für die vorliegende Arbeit war eine solche aufgrund der anderen gesellschaftlichen Ausgangssituationen in ›nichtwestlichen‹ Kulturkreisen dennoch unverzichtbar. Eine Beschäftigung mit der Rolle von Utopien und Dystopien in anderen Kulturkreisen wäre sicherlich ebenso relevant, müsste aber von anderen Prämissen ausgehen. 35 Man vergleiche etwa, welche immense Bedeutung dem sogenannten ›Chinesischen Traum‹ in der Volksrepublik China aktuell zukommt. Zum einhundertsten Geburtstag der Volksrepublik, also im Jahr 2049, will China die führenden Industriestaaten (mindestens) eingeholt und für Wohlstand in seiner gesamten Bevölkerung gesorgt haben.

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innerhalb und außerhalb des ›Westens‹ so unterschiedlich ist, wird die hier untersuchte Gegenwartsdystopie zwar als transnationales, nicht aber als globales Phänomen betrachtet. Die Zusammensetzung des Textkorpus trägt diesen Überlegungen Rechnung. Ebenso verkürzt wie eine Betrachtung des Booms als rein nationales wäre seine Betrachtung als rein literarisches Phänomen. Ein intermedialer Ausblick soll daher den Untersuchungsgegenstand auch in dieser primär literaturwissenschaftlichen Arbeit in einem breiteren Kontext beleuchten und der Frage nachgehen, welche der in den Textanalysen herausgearbeiteten Ergebnisse intermedial übertragbar sind. Die Romane und Filme, die in das Korpus der Arbeit aufgenommen wurden, sind natürlich quantitativ zu wenige, um als Basis für eine abgeschlossene Darstellung der Gegenwartsdystopie dienen zu können. Allerdings hat die Verbreitung der Gattung in den letzten Jahrzehnten solche Ausmaße angenommen, dass nicht nur eine vollumfängliche Analyse aller zugehörigen Texte, sondern bereits eine vollumfängliche Sichtung oder bibliographische Erfassung dieser unmöglich geworden ist – worauf sowohl Sargent als auch Claeys nachdrücklich verweisen.36 Daher erscheint es besser, sich dem relevanten, aber untererforschten Phänomen der Gegenwartsdystopie zumindest ausschnittsweise zu nähern, als vor der Textmasse von vorneherein zu kapitulieren. Die Texte, anhand derer die vorliegende Arbeit zu ihren Ergebnissen kommt, sind zudem alles andere als ›Durchschnittsdystopien‹, die eine Art von repräsentativer Erhebung als Ersatz für die unmögliche lückenlose Erfassung gestatten würden. Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass etwa Lepores These eines die Gegenwartsdystopie durchdringenden ›Radikalpessimismus‹ nicht zuletzt auch auf eine andere Textauswahl zurückzuführen sein könnte.37 Anders als Lepore, die sich nur auf englischsprachige Texte der Jahre 2016 und 2017 36 Gregory Claeys beschreibt in seiner tonangebenden Natural History der Dystopie das Feld der literarischen Neuerscheinungen als so groß, dass selbst der gröbste Kategorisierungsversuch der Gegenwartsdystopie kaum mehr möglich ist (vgl. Claeys, Dystopia, S. 447). Auch der Einleitung Sargents zu seiner umfassenden Bibliographie der utopisch-dystopischen Gattung im englischsprachigen Raum kann die Schwierigkeit einer solchen Unternehmung entnommen werden. Die Einleitung ist online abrufbar unter: https://openpublishing.psu.edu/ut opia/content/introduction (letzter Abruf am 21. 09. 2021). 37 Lepore bezieht sich auf die Romane NK3 (Michael Tolkin, 2017), American War (Omar El Akkad, 2017), Underground Airlines (Ben H. Winters, 2016), The Book of Joan (Lidia Yuknavitch, 2017) und Walkaway (Cory Doctorow, 2017). Lepore wählt also einen sehr kleinen Zeitabschnitt und betrachtet die zu diesem Zeitpunkt gerade neu erschienenen Texte. Die vorliegende Arbeit versammelt dagegen Texte aus gut zwei Jahrzehnten. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass sich die Gattung durch diesen zweiten Ansatz in größerer Vielfalt zeigt. Umso problematischer erscheint jedoch Lepores Versuch, allgemeingültige Aussagen über eine ganze Gattung aus der bloßen Lektüre von sechs fast synchron erschienenen und allgemein kaum bekannten Romanen zu gewinnen.

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bezieht, versucht diese Arbeit jedoch, ein möglichst vielfältiges Textkorpus hinsichtlich geographischer, chronologischer und thematisch-konzeptioneller Gesichtspunkte zusammenzustellen. Dennoch stehen im Folgenden natürlich alle Thesen über ›die‹ Dystopie der Gegenwart unter dem Vorbehalt eines – bei weitem – nicht vollständig in die Arbeit integrierten Untersuchungsfeldes. Mit Blick auf die thematisch-konzeptionellen Gesichtspunkte der untersuchten Romane unterscheidet die vorliegende Arbeit vier Kategorien: Erstens Dystopien, die kritisch auf die Erlahmung gesellschaftlich wirksamer utopischer Energien reagieren und in denen gerade das Fehlen gesellschaftlicher Leitutopien zum Ausgangspunkt einer dystopischen Extrapolation wird; zweitens Dystopien, die kontrastierend dazu als Anti-Utopien interpretiert werden können, die also noch eher ›klassisch‹ den Umschlag einer Gesellschaftsutopie in ihr Gegenteil zu zeigen versuchen; drittens (weitere) Dystopien, die durch ihren Verkaufserfolg das Gesicht der Gattung in der Öffentlichkeit mitgeprägt haben; viertens Romane, deren gesellschaftliche Gegenentwürfe nicht (nur) auf der Extrapolation realer Trends beruhen und die daher keine Dystopien im engeren Sinne darstellen (vgl. 2.3), die aufgrund ihrer Konzeption oder Thematik aber dennoch im Gattungskontext bedeutsam sind. Diese vier Grobkategorien werden durch die Korpusbildung abgedeckt, wobei immer zu bedenken bleibt, dass es sich hier nicht um ganz trennscharfe Einteilungen handelt. Methodisch macht es sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe, literaturwissenschaftliche Prinzipien (wie etwa die Interpretation von Texten unabhängig von einer möglichen ›Autorintention‹) auf die Theorie der Dystopie erstmals durchgängig anzuwenden. Die so erarbeitete Theorie der Gattung wird dann als allgemeine Basis für die Einzelanalysen herangezogen. Daneben soll jedoch auch je nach Text der Frage nachgegangen werden, welche konkreten Trends der realen Welt in den Romanen jeweils aufgegriffen und extrapolierend umgeformt werden; komplementär hierzu auch, durch welche narrativen Mittel die Dystopien eine Wirkung auf den öffentlichen Diskurs zu entfalten suchen. Eng mit dieser Herangehensweise verbunden ist ein zweiter methodischer Ansatz: Die vorliegende Arbeit ist nicht nur als historisch-einordnende Darstellung, sondern – und mit einer gewissen Emphase – auch als gesellschaftswissenschaftliche Analyse konzipiert. Wer von der Literaturwissenschaft gesellschaftliche Relevanz einfordert, der fordert prinzipiell wohl nicht zu viel. In diesem Sinne liegen Relevanz und Reiz der vorliegenden Arbeit hoffentlich auch darin, über den Blick auf die Literatur eine Perspektive auf unsere Gegenwart insgesamt geboten zu bekommen. Die häufige Integration philosophischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Theoriekonzeptionen in die einzelnen Kapitel soll dieser Zielsetzung entsprechen. Wenn die sich daraus ergebende Darstellung dann auch für andere, nicht-literaturwissenschaftliche Fächer von

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Interesse sein sollte, so würde es sich dabei keinesfalls nur um einen angenehmen Nebeneffekt handeln. Als Seitenaspekt zur Arbeitsmethode sei an dieser Stelle zudem noch einmal auf die bis heute bestehende Aktualität der ›prototypischen‹ Dystopien verwiesen. Diese Feststellung ist insbesondere bezüglich Orwells Roman Nineteen Eighty-Four wichtig. Es handelt sich hierbei um den Gattungs-Prototyp schlechthin, von dem sich die zeitgenössischen Vertreter jedoch teilweise vehement abgrenzen. Auch die vorliegende Arbeit betrachtet Orwells Klassiker scheinbar kritisch, wenn er exemplarisch für die Dystopie älterer Prägung angeführt wird. Dies beruht jedoch keineswegs auf einer prinzipiellen Geringschätzung des Textes, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass nur auf diese Weise prägnant herausgearbeitet werden kann, auf welche narrativen Probleme der älteren Dystopien die hier untersuchten Romane reagieren.

Aufbau der Arbeit In Kapitel 2 sollen die bislang fehlenden theoretischen Grundlagen für eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Dystopie geschaffen werden. Hierzu wird zunächst der anti-utopische Ursprung der Dystopie nachgezeichnet, sodass deutlich wird, wo die bis heute teilweise zu findende Gleichsetzung der beiden Begriffe herrührt. Nach einer Auseinandersetzung mit aktuell gängigen Dystopie-Definitionen, die aus verschiedenen Gründen für eine literaturwissenschaftliche Arbeit allenfalls Anregungen sein können, wird eine eigenständige Definition der Dystopie entwickelt. Entscheidend bei allen Dystopie-Definitionen ist, an welcher Instanz die überwiegende Negativität des fiktiven Weltentwurfs – im Unterschied zum positiven Entwurf der Utopie – festgemacht wird. Die hier vorgeschlagene Definition ersetzt dabei die Autorintention durch die Textintention. Zudem unterscheidet sie zwischen Dystopien im engeren Sinne und sonstigen dystopischen Texten. Unter ersteren werden hier Texte verstanden, die bestehende, problematische Trends extrapolierend verlängern und somit ein kritisches Zukunftsszenario erschaffen (wie etwa Orwells Nineteen Eighty-Four), unter zweiteren dagegen Texte, die allegorisch-kritische Gegenwelten imaginieren und wegen bestimmter Eigenschaften keine Zukunftsszenarien sind (wie etwa Orwells Text Animal Farm, in dem Tiere die sprechenden Akteure sind). Diese Unterscheidung wird mit der Differenzierung von dystopischen und antiutopischen Texten in Verbindung gebracht. Auf diese Weise ergibt sich ein neuer Kategorisierungsvorschlag, der zur Beilegung der begrifflichen Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ›dystopischen‹ Texten beitragen soll.

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Neben der Einführung und Erarbeitung weiterer Grundbegriffe und Konzeptualisierungen wird im Kapitel 2 der allgemeinen gesellschaftlichen Funktion von Dystopien nachgegangen. Wie bereits zur Zeit der Ursprünge der Gattung, beim Kampf gegen prosozialistische literarische Utopien, scheint die Hauptaufgabe der Dystopie nach wie vor die Konkretisierung ansonsten abstrakter Gefährdungen mithilfe narrativer Umformungen zu sein. Insgesamt soll also im Kapitel 2 nicht nur eine theoretische Basis für die vorliegende Arbeit geschaffen, sondern auch der Versuch unternommen werden, erste Ansätze für eine eigenständige, von der Utopieforschung endlich unabhängigere ›Dystopieforschung‹ zu etablieren. Kapitel 3 befasst sich zunächst eingehender mit der Geschichte der Dystopie im engeren Sinne. Diese Gattungsgeschichte wird in verschiedene Phasen eingeteilt, die hinsichtlich ihrer allgemeinen Tendenzen und einzelner zentraler Werke vorgestellt werden. Im Zuge dieser Darstellung wird bereits die Zeit nach 1990 in den Blick genommen, allerdings nur in Form einer Aufarbeitung des bisherigen Forschungsstandes – also ohne die Ergebnisse dieser Arbeit zu integrieren. Der bisherige Forschungsstand bezüglich der literarischen Gegenwartsdystopie wird also an dieser späten, aber dafür im Gesamtkontext passenden Stelle präsentiert. Aufbauend auf dieser überblicksartigen literarhistorischen Darstellung wird in Kapitel 3 auch ein narratives Profil der Gattung erarbeitet. Dabei handelt es sich insbesondere um die Beschreibung des prototypischen Handlungsschemas der ›traditionellen‹ Dystopie. So entsteht gewissermaßen ein narrativer Idealtypus der Dystopie im engeren Sinne, der aber natürlich selbst in den prägendsten Texten wie Nineteen Eighty-Four nie vollständig realisiert wird. Dieser Idealtypus bezieht sich vor allem auf die erste Boomphase der Gattung während der Nachkriegszeit, und es wird anhand der nachfolgenden Textanalysen geprüft werden, welche Bedeutung dieser für die Dystopien der Gegenwart noch hat. An diese theoretischen und literarhistorischen Vorarbeiten schließt Kapitel 4, das Kernstück der Arbeit, an. Hier werden zehn Romane einer Analyse unterzogen. Die Texte sind thematisch in die vier bereits beschriebenen Grobkategorien unterteilt und innerhalb dieser chronologisch sortiert. Jeder der vier Blöcke wird mit einigen theoretischen Vorüberlegungen eingeleitet. Der in der nahen Zukunft angesiedelte Roman Infinite Jest (1996) verhandelt eine Vielzahl an Einzelthemen, wobei verschiedene Formen von Sucht und Suchtmitteln den Text leitmotivisch durchziehen. In dieser Arbeit wird der monumentale Roman erstmals umfassend als Dystopie untersucht; die fehlende Resilienz der Romanfiguren gegenüber schädlichen Verlockungen wird dabei als Symptom einer allgemeinen Orientierungs- und Ziellosigkeit interpretiert, die sich sowohl auf nationaler, als auch auf individueller Ebene immer wieder im Text zeigt. In mancherlei Hinsicht erweist sich dieser eigentlich kaum kategori-

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sierbare Roman daher doch als typische Dystopie, da er vor einer Epoche umfassenden soziopolitischen Zerfalls – ausgelöst durch Saturiertheit und Antriebslosigkeit – warnt. Juli Zehs Text Corpus Delicti (2009) kann als eine ›Präventionsdystopie‹ bezeichnet werden, in der ein maßloses Sicherheitsbedürfnis zur weitgehenden Aufgabe individueller Freiheitsrechte geführt hat. Die Analyse des Textes wird aufzeigen, dass diese Überhöhung körperlicher Unversehrtheit einem ideologischen Defizit der Zukunftsgesellschaft entspringt, sodass eine allgemeine Zielund Utopielosigkeit auch hier der dystopischen Entwicklung als Kernübel zugrunde liegt. In diese erste Textgruppe, in der ein ideologisches bzw. utopisches Defizit als Grundproblem hinter den verschiedentlich sich äußernden Krisen- und Verfallssymptomen steht, fügt sich auch Michel Houellebecqs Zukunftstext Unterwerfung (2015) ein, in dem Frankreich zu einem muslimisch geprägten Staat wird. Letztlich ist es nämlich nicht die expansive Stärke des Islam, die vom Roman porträtiert wird, sondern erneut das Versagen des ›aufgeklärten‹ und (zumindest nominell) entideologisierten Westens, der nicht mehr in der Lage ist, seinen Bürgern noch attraktive und gemeinschaftsstiftende Sinnangebote zu machen. Vladimir Sorokins Roman Der Tag des Opritschniks (2006) ist strukturell dagegen noch eine typische Anti-Utopie, auch wenn die Erzählweise des Textes entschieden modern ist; er eröffnet daher den zweiten Textblock. Aus neo-zaristischen Tendenzen in Russland, die insbesondere seit Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins als utopische Idealvorstellungen verstärkt aufleben, wird hier ein dystopischer Zukunftsstaat geformt, in dem futuristische Technologien mit prämodernen Herrschaftspraktiken auf oft groteske Weise verbunden sind. Auch The Circle (2013) ist eine Anti-Utopie – allerdings wird hier keine politische bzw. staatliche Utopie mehr zum Ausgangspunkt eines dystopischen Weltentwurfs herangezogen, sondern die Risiken der Digitalutopien aus dem Silicon Valley zu einem Big-Brother-Staat 2.0 gebündelt. In Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie (2003/2009/2013), die den dritten Textblock eröffnet, ist ebenfalls ein auffälliges Fehlen der staatlich-politischen Sphäre zu konstatieren. Große Konzerne halten hier die faktische Macht in Händen und formen eine brutale Zwei-Klassen-Gesellschaft zu ihren Gunsten. Gerade das vollständige Fehlen der genuin politischen Sphäre – die wegen ihres imaginierten Bedeutungsverfalls hier schlichtweg nicht länger von Interesse ist – macht diese primär unterhaltende Trilogie zugleich zu einem hoch politischen Text. Marc Elsbergs Roman Blackout – Morgen ist es zu spät (2012) imaginiert einen flächendeckenden, europaweiten Stromausfall; in Form eines populären Thrillers wird hier auf die Möglichkeit eines plötzlichen zivilisatorischen Zusam-

Aufbau der Arbeit

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menbruchs hingewiesen, sodass sich die Machart des Textes zwar gravierend von den meisten anderen hier analysierten Romanen unterscheidet, zugleich aber ein gängiges Themenfeld der Gattung bedient wird. Satirisch und doch mit ernstem Unterton verhandelt Marc-Uwe Klings QualityLand (2017) die potentiellen Gefahren, die sich aus der Entwicklung immer leistungsstärkerer Computer-Algorithmen und künstlicher Intelligenzen ergeben. Im Kontext dieser Arbeit ist der Roman vor allem relevant, weil seine dystopische Extrapolation explizit auf einer Analyse älterer Dystopien basiert. Der Beginn einer selbstreflexiven Phase innerhalb der Gattung – vgl. die Ausführungen zu GRM oben – kann an diesem Roman daher exemplarisch aufgezeigt werden. Mit der Warnung, dass die ethisch-moralische Entwicklung der Menschheit mit der rasanten naturwissenschaftlichen Entwicklung womöglich nicht mithalten kann, bedient Kazuo Ishiguros Never Let Me Go (2005) einen klassischen Topos der Gattung. Allerdings ist die Handlung des Romans in der Vergangenheit situiert, weswegen dieser Roman den vierten Textblock eröffnet, der sich mit Texten beschäftigt, die selbst nicht als Dystopien im engeren Sinne kategorisiert werden können, die im Kontext der Gattung aber dennoch von Bedeutung sind. So werden anhand der ungewöhnlichen zeitlichen Situierung des Weltentwurfs von Never Let Me Go narrative Unterschiede zwischen Dystopien im engeren Sinne und sonstigen dystopischen Texten herausgearbeitet. Es wird dabei die These vertreten, dass der spezifische Warncharakter von Dystopien im engeren Sinne einer zusätzlichen metaphorischen bzw. allegorischen Bedeutungsaufladung strukturell entgegensteht. Auch Dietmar Daths Roman Die Abschaffung der Arten (2008) wird hier nicht als Dystopie (oder Utopie) interpretiert, sondern als eine Art Meta-Utopie, in der anhand gleich mehrerer Welt- und Gesellschaftsentwürfe der Frage nachgegangen wird, ob ein ›aufgeklärter Utopismus‹ den historisch häufig zu beobachtenden Umschlag von Utopien in Dystopien verhindern könnte. Obwohl selbst keine Dystopie, schließt dieser Text somit direkt an zentrale Themen an, die insbesondere in den Romanen des ersten Textblocks verhandelt werden. Eine Bündelung der Einzelergebnisse findet in Kapitel 5 statt. Dabei wird zwischen den Themen, die die Dystopien der Gegenwart vorzugsweise verhandeln, und ihren narrativen Mechanismen unterschieden. In beiden Bereichen fällt der Umbruch auf, der sich innerhalb der Gattung ab den 1990er-Jahren vollzogen hat; die Verschiebungen im inhaltlichen und im narrativen Bereich stehen dabei in starker Wechselwirkung zueinander. Während die Dystopie der Nachkriegszeit noch in aller Entschiedenheit und meist auch Eindeutigkeit vor Totalitarismus oder einem Atomkrieg warnte, fragt die Gegenwartsdystopie tendenziell vorsichtiger und nachdenklicher, ob der westliche Liberalismus nicht auch an sich selbst zugrunde gehen könnte. Für eine solch diffizile Suche nach

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Ein unheilvoller Boom? (Einleitung)

morschen Stellen innerhalb der demokratischen, liberalen Gesellschaften ist das prototypische Handlungsschema von Dystopien, das sich Mitte des 20. Jahrhunderts sukzessive herausgebildet hat, jedoch weder konzipiert noch geeignet. Dass sich die Gegenwartsdystopie im Zuge ihres inhaltlichen Wandels auch narrativ öffnet, scheint daher nur konsequent zu sein. Der veränderte Blick auf den westlichen Liberalismus, der somit nicht mehr nur das Schützenswerte, sondern durch seine rationalistischen, kapitalistischen und utilitaristischen Züge nun zugleich das Bedrohliche ist, markiert thematisch den Übergang von der Nachkriegsdystopie zur zeitgenössischen Dystopie. Nach der Ergebniszusammenfassung beschäftigt sich ein chronologischer Ausblick mit den allerneuesten Entwicklungen der Gattung, die über das Textkorpus noch hinausgehen, und stellt Thesen zu möglichen weiteren Verschiebungen innerhalb des utopisch-dystopischen Textfeldes auf. Zum Abschluss des Kapitels 5, also am Ende der ausschließlichen Auseinandersetzung mit der literarischen Dystopie, werden mögliche Anknüpfungspunkte für eine weitere literaturwissenschaftliche Erforschung der Gattung skizziert. In Kapitel 6 wird der aktuelle Dystopie-Boom exkursartig aus einer größeren Perspektive betrachtet; die Kernfrage ist hier, welche der vorigen Ergebnisse intermedial übertragbar sind. Dazu werden zunächst einige allgemeine Überlegungen angestellt, inwiefern die jeweiligen Medienarten geeignet sind, zum Träger von Zukunftsnarrationen zu werden. Anschließend werden ein dystopischer Kinofilm, V for Vendetta (2005), und eine Episode der Streaming-Serie Black Mirror (2011) weitestgehend analog zu den Romananalysen untersucht. Zumindest für diese beiden Fälle kann dabei eine hohe intermediale Übertragbarkeit der vorherigen Analyseergebnisse exemplarisch aufgezeigt werden. Während V for Vendetta jedoch einen klassischen Topos der Gattung – den Kampf gegen den totalitären Staat – mit innovativen narrativen Mitteln verbindet, zielt die untersuchte Episode von Black Mirror auch inhaltlich ins Zentrum dessen, was die vorliegende Arbeit als entscheidenden Aspekt der Dystopie des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet hat: Die Aufhebung einer Perspektive, die den westlichen Liberalismus nur als potentielles Opfer illiberaler, undemokratischer Tendenzen betrachtet und stattdessen verstärkt strukturelle Probleme und Gefahren innerhalb der herrschenden westlichen Gesellschaftsordnung aufzuzeigen versucht. Abschließend geht Kapitel 7 der in den Feuilletons häufig gestellten Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen und Implikationen des Dystopie-Booms nach. Dazu werden die Ergebnisse der Arbeit mit thematisch relevanten soziologischen Theorien in Verbindung gebracht. Der immense gegenwärtige Erfolg der Gattung wird hier als Reaktion auf ein Gefühl gesamtgesellschaftlichen Kontrollverlustes gedeutet. Dieses Gefühl speist sich primär, so die Argumentation, aus einem wachsenden Bewusstsein für die versteckten Gefährdungen im

Kernthesen

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sogenannten ›Anthropozän‹, aus einem Unbehagen über den lebensweltlichen Beschleunigungsschub in den letzten Jahrzehnten und aus dem Erlahmen utopisch-konstruktiver Energien in den westlichen Gesellschaften. Entscheidend scheint dabei zu sein, dass sich diese Aspekte gegenseitig verstärken. Diese soziologischen Überlegungen werden auf die Ergebnisse der Text- und Filmanalysen bezogen und so auf ihr Potential überprüft, den internationalen und intermedialen Boom der Gattung erklären zu können. Die historische Grundfunktion der Dystopie, durch die narrative Konkretisierung ansonsten rein abstrakter Gefährdungen für zusätzliche gesellschaftliche Orientierung zu sorgen, wird dabei als auch heute noch entscheidende Eigenschaft der Dystopie betrachtet. Insofern liegt es nahe, den aktuellen Boom als einen gesellschaftlichen Versuch zu interpretieren, über ein höheres Maß an gegenwarts- und zukunftsbezogener Orientierung und Reflexion eine Wiedererlangung von Kontrolle erreichen zu wollen.

Kernthesen Erlahmung utopischer Energien: Die Dystopie, die ursprünglich als Gegengewicht zu literarischen Utopien entstanden ist, problematisiert heute gerade den Umstand, dass utopisches Denken an integrativer und orientierender Kraft stark eingebüßt hat. Diese Erlahmung utopischer Energien stellen zeitgenössische Dystopien als einen wesentlichen Trend der Gegenwart dar und weisen auf daraus potentiell erwachsende Gefahren extrapolierend hin. ›Wilde‹ Re-Ideologisierungsprozesse: Diese Gefahren verorten die Dystopien insbesondere im Kontext von diversen Re-Ideologisierungsprozessen. Das Grundproblem sei, dass es den Gesellschaften und ihren Individuen nach der Abschaffung von Utopien und Ideologien an innerem Zusammenhalt, an Sinn und an Zielen fehle. Automatisch suche jedes Individuum und jede Gesellschaft daher nach Ersatzideologien (z. B. Körperoptimierung, Fortschrittsglaube, oder Lustmaximierung), sodass die Abschaffung aller Ideologien nur eine scheinbare sei. Das Dilemma ›postutopischer‹ Zeiten: Das bedeutet aber nicht, dass die aktuellen Vertreter der Gattung zurück zu den großen Gesellschaftsutopien vergangener Jahrhunderte wollen – die negativen Erfahrungen gerade des 20. Jahrhunderts mit diesen Utopien und Ideologien prägen nicht nur die älteren, sondern auch noch die aktuellen Texte der Gattung. In dieser, aber auch in anderen Fragen erweist sich die Dystopie der Gegenwart daher als eine Literatur des Dilemmas. Der Grundkonflikt, wonach utopisches Denken im Großen gescheitert, eine Gesellschaft ohne utopische Energien aber langfristig nicht lebensfähig erscheint, durchzieht die meisten der untersuchten Texte.

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Ein unheilvoller Boom? (Einleitung)

Schwäche des Staates:38 Ein entscheidender Wandel von der älteren zur zeitgenössischen Dystopie zeigt sich auch bezüglich der Rolle des Staates. Tritt in den Dystopien des 20. Jahrhunderts der Staat in aller Regel als Aggressor auf, der die Freiheitsrechte des Individuums durch totalitäre Ansprüche gefährdet, ist es in der Dystopie des beginnenden 21. Jahrhunderts häufig ein staatlich-gesellschaftlicher Zerfallsprozess, der für das Individuum zur Gefahr wird. War in den Dystopien vor 1990 häufig die Stärke des Staates für das Individuum gefährlich, so ist nun gerade staatliche Schwäche ein zentrales Problem. Die Rolle eines neuen Big Brother übernehmen in den gegenwärtigen Dystopien allen voran internationale Großkonzerne. Alternativ können sich die dystopischen Zustände nun aber auch unorchestriert und organisch, also als Folge allgemeiner, überpersönlicher Zeittendenzen ergeben. Weitere thematische Transformationen der Gattung: Zugleich zeigt sich heute ein größeres Interesse an den einzelnen Individuen, aus denen die jeweils porträtierten Gemeinwesen aufgebaut sind, was den zeitgenössischen Dystopien einen stärker psychologischen Zug als früher üblich verleiht. Damit eng verbunden ist eine Thematisierung der – historisch betrachtet – einzigartigen Freiwilligkeit, mit der sich die Individuen heute technologischen Einflüssen aussetzen. Die innerhalb der Gattung immer schon zentrale Warnung vor möglichen gefährlichen Nebeneffekten neuer Technologien erhält vor diesem Hintergrund einen ganz neuen Stellenwert. Auch die Furcht vor Überwachung begleitet die Gattung nach wie vor, nur spielen dabei heute, wie bereits erwähnt, große Unternehmen die Rolle, die früher die zentralisierten Big-BrotherStaatsapparate innehatten. Die Möglichkeit von Verfall und Niedergang: Die Dystopien rufen – in ganz unterschiedlichen Formen – den als saturiert wahrgenommenen westlichen Gesellschaften die eigene potentielle Endlichkeit bildhaft in Erinnerung. Sie warnen vor einer Epoche der Dekadenz, deren möglichen Ursprung sie unter anderem darin sehen, dass die Bevölkerung des Westens die herrschenden Zustände mittlerweile als selbstverständlich betrachtet und daher kaum noch einen Antrieb zeigt, sich für den Fortbestand des Status quo substantiell einzusetzen. Aufbrechen des traditionellen Handlungsschemas: Was die narrativen Veränderungen angeht, so wurde bereits auf das gezielte Aufbrechen der ›prototypischen‹ Handlungsstruktur durch die Gegenwartsdystopie verwiesen. Entfällt der Staat als dunkle Triebkraft hinter der negativen Gesamtentwicklung, so entfällt zum Beispiel auch die Rolle des dem rebellierenden Protagonisten überlegenen staatlichen Antagonisten (wie Mustapha Mond in Brave New World oder O’Brien in Nineteen Eighty-Four). Der ideelle Höhepunkt der ›klassischen‹ 38 In diesem Bereich zeigt sich eine hohe Übereinstimmung zwischen Gonnermanns und dieser Arbeit. Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, insbesondere S. 18–19 und S. 303.

Kernthesen

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Dystopie ist das schlussendlich offene Streitgespräch zwischen dem exemplarischen Individuum und der hierarchischen Spitze des Systems; in scharfem Kontrast dazu leiden die Protagonisten heutiger Dystopien häufig an einem Problem, das an John Steinbecks The Grapes of Wrath erinnert – sie finden nicht einmal mehr eine Antwort auf die Frage: »Who can we shoot?«39 Die Lösung von einer festen Handlungsstruktur, die die jeweiligen Romanfiguren klar in Unterdrücker und Unterdrückte einteilte, spiegelt die inhaltliche Wendung der Dystopie ins Offenere somit auch auf narrativer Ebene. Fragen stellen statt erziehen: So ist die zeitgenössische Dystopie insgesamt auch weniger didaktisch und dafür stärker fragend-reflexiv konzipiert als ihre Vorläufer während der Nachkriegszeit. Auch (Selbst-)Ironie spielt für die Dystopie heute eine größere Rolle als je zuvor. Gegenwartsbewältigung statt ›Radikalpessimismus‹ (Hauptthese): Das gängige Bild einer schematischen, tristen und sogar das einer grundlegend pessimistischen Gattung kann für die Dystopie nach 1990 als überholt angesehen werden. Tatsächlich kommen über alle vier Textblöcke hinweg immer wieder (selbst-)ironische, humorvolle, und konstruktiv-utopische Elemente in den Romananalysen zum Vorschein. Statt von einer Gattung auszugehen, die einem ohnehin schon grassierenden »Radikalpessimismus« das Wort redet und diesen dadurch weiter verstärkt, wird die Dystopie hier als künstlerisch ambitioniertes, nicht selten heiteres gesellschaftliches Mittel der Reflexion und der Gefahrenkonkretion gedeutet. In diesem Sinne muss die eingangs zitierte »Flut« von Dystopien weder aus ästhetischen, noch aus soziopolitischen Gründen mit Sorge gesehen werden – ganz im Gegenteil.

39 Steinbeck, The Grapes of Wrath, S. 45.

2.

Theoretische Basis

Zum Aufbau des Theorie-Kapitels: In 2.1 soll eine Beschäftigung mit der Genese der Dystopie zunächst literarhistorisch aufzeigen, wo die Gleichsetzung der Begriffe ›Anti-Utopie‹ und ›Dystopie‹ herrührt und inwiefern sie für die Entstehungsphase der Gattung auch tatsächlich ihre Berechtigung hat. (Es handelt sich hierbei noch nicht um eine Gesamtdarstellung der Gattungsgeschichte; diese findet sich in Kapitel 3 der Arbeit.) Der Abschnitt 2.2 zeigt kontrastiv auf, weshalb eine Gleichsetzung der Begriffe ›Anti-Utopie‹ und ›Dystopie‹ nicht mehr zeitgemäß ist und beschäftigt sich mit den konzeptionellen Problemen, die sich hieraus ergeben. Diese sind beträchtlich: Können Dystopien nicht mehr als AntiUtopien bezeichnet werden, so ist ein Großteil der theoretischen Basis, die für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dystopien bislang erarbeitet wurde, hinfällig. Im Abschnitt 2.3 werden dann Eckpunkte einer neuen Theorie der Dystopie erarbeitet, die ohne die spiegelverkehrte Referenz zur Utopie auskommt. In Abschnitt 2.4 werden schließlich Überlegungen zum Verhältnis von Dystopie und Gesellschaft ausgeführt. Zur Terminologie: Ganz korrekt im Sinne der gegenwärtigen Utopieforschung wäre es, die Begriffe ›Utopie‹/›utopisch‹ nur als Oberbegriffe für die gesamte Gattung der alternativen Gesellschaftsentwürfe zu verwenden, die dann in ›Eutopien‹ und ›Dystopien‹ zerfiele. Dies steht aber im Gegensatz zur allgemeinen Sprachverwendung und wirkt insbesondere dann gespreizt, wenn analog von ›eutopischen Idealen‹ oder von ›Eutopisten‹ die Rede sein müsste. Daher wird hier, wie im allgemeinen Sprachgebrauch üblich, ›utopisch‹ als Gegenbegriff zu ›dystopisch‹ verstanden. In den Fällen, in denen tatsächlich die gesamte Gattung der gesellschaftlichen Alternativentwürfe gemeint ist, wird diese zur Vereindeutigung als ›utopisch-dystopische Gattung‹ bezeichnet.

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2.1

Theoretische Basis

Vorgeschichte: Die Entwicklung der Utopie bis hin zur Entstehung der Dystopie als ›Anti-Utopie‹

Utopisches und dystopisches Denken sind uralte und kulturübergreifende Phänomene, deren Wurzeln in den verschiedenen Volksmythologien liegen und die in den jeweiligen Vorstellungen von Himmel und Hölle (z. B. Asgard – Hel, Vaikuntha – Naraka, Olymp/Elysion – Tartaros) ihre beiden Extrempole haben.40 In der Antike entwickeln sich daneben erste politische Utopien, deren heute bekannteste Platons Politeia ist. Dort werden ideale41 Lebenswelten imaginiert, nun aber in diesseitigem Kontext. Erst durch diese Verschiebung wurde das Utopische zu jenem gesellschaftskritischen »Möglichkeitsdenken«, das man heute mit ihm verbindet.42 Diese literarischen Utopien in der Tradition Platons waren von jeher das, was im 19. Jahrhundert als »Staatsroman«43 bezeichnet wurde – Sargent spricht von einem spezifischen »social dreaming«, durch das sich politischer Utopismus auszeichne.44 In der Frühen Neuzeit wird utopisches Erzählen v. a. durch die Werke Utopia (Thomas Morus, 1516), La città del Sole (Tommaso Campanella, 1602/1623), Christianopolis (Johann Valentin Andreae, 1619) und Nova Atlantis (Francis Bacon, 1627) geprägt. Diese Texte sind stark durch ihre antiken Vorläufer beeinflusst, teilweise gehen sie allerdings auch deutlich über sie hinaus. So entwirft bereits Morus eine proto-kommunistische Gesellschaft, in der nur noch Gemeinschaftseigentum existiert. Morus’ Werk De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia gibt der gesamten Gattung in der Folge ihren Namen. Beim Namen der fiktiven Insel handelt es sich um einen Neologismus, der mit dem Gleichklang von engl. »Utopia« und »Eutopia« spielt. Rein begrifflich bezeichnet Utopia also einen Nicht-Ort (von gr. ou-topos), dessen positive Züge hier aber schon evoziert werden.45 Im 18. Jahrhundert erfährt die Gattung zwei entscheidende Erweiterungen: Jonathan Swift verbindet es durch sein gattungshybrides Werk Gulliver’s Travels (1726) mit der Satire (und nimmt dabei auch den Utopismus selbst aufs Korn), Sébastien Mercier etabliert durch seinen Roman L’An 2440, rêve s’il en fut jamais 40 Vgl. Sargent, Three Faces, S. 10. 41 Die Frage, ob und ggf. in welchem Ausmaß es bereits in der Antike ›utopiekritisches‹ Denken gegeben hat, muss aufgrund der spärlichen Quellenlage wohl ungeklärt bleiben. In diesem Kontext bedeutet das, dass auch offen bleiben muss, ob den antiken Utopien eine gewisse Selbstironie zu unterstellen ist (wie dann bei Morus) und ob etwa die Politeia wirklich als wörtlich zu verstehendes Idealbild zu betrachten ist. 42 Kürzlich erschien ein bedeutender Sammelband mit diesem Titel: Wilhelm Voßkamp [u. a.] (Hg.): Möglichkeitsdenken: Utopie und Dystopie in der Gegenwart. München 2013. 43 Vgl. Friedrich, Utopie, S. 739. 44 Sargent, Three Faces, S. 3. 45 Vgl. Friedrich, Utopie, S. 739–740.

Vorgeschichte: Die Entwicklung der Utopie bis hin zur Entstehung der Dystopie

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(1771) als einer der ersten die Zeitutopie neben der Raumutopie.46 Mercier öffnet die Gattung dadurch für extrapolierende Zugänge. Relativ bald nach Merciers Innovation tauchen dann die ersten literarischen Dystopien, bzw. deren Vorformen, auf. Sie weisen auf potentiell gefährliche Entwicklungen im Zuge der Französischen Revolution hin und sind von einem starken Anti-Jakobinismus geprägt.47 Diese Texte bleiben jedoch vereinzelt und sind heute nur noch von literarhistorischem Interesse. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die extrapolierende Dystopie allmählich zu einer greifbaren Gattung.48 Neben dem Unbehagen am (Sozial-)Darwinismus und der frühmodernen Industriegesellschaft ist vor allem das Auftauchen literarischer Utopien zur Unterstützung des Kommunismus – z. B. Edward Bellamys Looking Backward: 2000–1887 von 1888 – die hierfür entscheidende Initialzündung.49 Bellamys Roman und ähnliche Texte sollen die Popularisierung der kommunistischen Ideen befördern; durch die ›Übersetzung‹ der marxistischen Utopie in literarische Utopien sollen die möglichen Ausprägungen einer klassenlosen Gesellschaft für weniger gebildete Bevölkerungsschichten zugänglicher gemacht werden als durch philosophische Traktate. Die Gegner und Skeptiker des Kommunismus beginnen daraufhin ihrerseits, antikommunistische Narrationen als Gegenmittel zu diesen literarischen Utopien hervorzubringen, was für die politische Bedeutung solcher Literarisierungen in der ideengeschichtlich turbulenten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spricht.50 Die potentiellen Gefahren des Kommunismus werden in diesen Texten warnend in die Zukunft extrapoliert – die Gattung der Dystopie51 war geboren. Anti-Jakobinismus, Anti-Modernismus und Anti-Kommunismus sind also die zentralen Einflüsse bei der langwierigen Genese der Dystopie. Im späten 19. Jh. ist die Dystopie somit tatsächlich als Anti-Utopie zu verstehen, eine Bezeichnung, die ihr teilweise bis heute anhaftet. Ein Bonmot, das Max Beerbohm

46 Bis dahin waren die fiktiven Gegenwelten ausschließlich räumlich, durch Naturhindernisse, von der bekannten Welt getrennt. Mercier nimmt als einer der ersten eine chronologische Trennung der realen und der fiktiven Welt vor. In diesem Wandel spiegelt sich zugleich der im Laufe des 18. Jahrhunderts stattfindende Übergang von einem zyklischen zu einem linearen Geschichtsbild (diesen Hinweis verdanke ich Carlotta Voß). 47 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 291–294. 48 Negative Nicht-Orte ohne extrapolierenden Ansatz findet man natürlich bereits früher. Besonders erwähnenswert ist in diesem Kontext wohl Joseph Halls Mundus alter et idem aus den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts. 49 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 294–329. 50 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 294–329. 51 Nach einigen früheren Nennungen im 18. Jahrhundert wurde der Begriff durch die Verwendung in einer Parlamentsrede John Stuart Mills im Jahr 1868 etabliert; er ist bereits dort als Gegenbegriff zur Utopie gemeint. Mill verwendet den Begriff aber noch nicht in Bezug auf literarische Texte. Vgl. Claeys, Dystopia, S. 16 und S. 273.

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Theoretische Basis

zugeschrieben wird, bringt diese spezifisch utopiekritische Haltung, aus der heraus die Dystopie entstanden ist, auf den Punkt: So this is utopia, Is it? Well – I beg your pardon; I thought it was Hell.52

2.2

Die Dystopie aus Sicht der Utopieforschung

Zeitsprung: 1953 erschien mit Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451 erstmals eine Dystopie von Rang, die nicht mehr als ›Anti-Utopie‹ bezeichnet werden kann, da dort keine konkrete Utopie mehr zum Ausgangspunkt des dystopischen Weltentwurfs genommen wird; auch utopisches Denken an sich wird in diesem Text nicht problematisiert.53 Die Dystopie ist bei Bradbury also erstmals von jenem anti-utopischen Ansatz, auf den die Gattung geradezu genetisch festgelegt schien, getrennt. Eine breitere wissenschaftliche Erschließung der literarischen Dystopie setzt etwa zeitgleich ein, nämlich als die Gattung in den 1950er-Jahren ihre erste Boomphase erlebte.54 Zu diesem Zeitpunkt ist die Gleichsetzung von ›AntiUtopie‹ und ›Dystopie‹ konzeptionell bereits zementiert. Von Beginn einer umfassenden wissenschaftlichen Erschließung an wurde also auf eine semantische Differenzierung zwischen diesen beiden Begriffen verzichtet, denn als AntiUtopien schienen die Dystopien bereits in ihrer wesentlichen Eigenschaft charakterisiert.55 Auch Bradburys Bestseller kann daran nichts ändern; der Gedanke, dass es sich bei diesem Text um gar keine Anti-Utopie mehr handelt, kam erst jüngst auf.56 Selbst heute findet noch keine durchgängige Unterscheidung von Anti-Utopien und Dystopien statt – insbesondere im deutschsprachigen Raum. 52 Zitiert nach Sargent, Three Faces, S. 1. 53 Der Titel des Romans spielt auf eine fiktive Selbstentzündungstemperatur von Papier bei 451 Grad Fahrenheit (entspricht 233 Grad Celsius) an. Hauptfigur ist der »Feuerwehrmann« Guy Montag; seine Aufgabe ist es nun aber nicht mehr, Brände zu löschen, sondern sie zu legen, wenn die aus dem Zukunftsstaat verbannten Bücher noch irgendwo auftauchen sollten. Der Roman zeigt einen Staat, der eine totalitäre Kontrolle über die Individuen ausübt – daher sind Bücher, die ja auch von der Staatsdoktrin abweichende Gedanken enthalten können, strengstens verboten. Doch anders als etwa in Nineteen Eighty-Four ist es hier nun kein ins Totalitäre gerutschter sozialistischer Staat mehr, der gezeigt wird, sondern einfach staatliche Totalität per se. Der Roman setzt sich also für den Erhalt eines liberalen, toleranten politischen Systems ein, doch geschieht dies nicht mehr in konkreter Abgrenzung zu anderen politischen Systemen. Vgl. hierzu Seeber, Präventives statt konstruktives Handeln, S. 186. 54 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 275. 55 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 275–277. 56 Vgl. Seeber, Präventives statt konstruktives Handeln, S. 186.

Die Dystopie aus Sicht der Utopieforschung

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Hans-Edwin Friedrich konstatiert im Reallexikon entsprechend: »Vorschläge zur weiteren Differenzierung dieser Terminologie (Anti-Utopie als grundlegende Kritik an der Utopie; Dystopie als negativer Entwurf) haben sich nicht durchgesetzt.«57 Alexandra Aldridge stellt zwar schon 1984 fest: »[D]ystopia is not merely ›utopia in reverse‹«.58 Doch erst in den letzten Jahren findet in der internationalen Forschung allmählich ein Umdenken statt, das die begriffliche Gleichsetzung von Dystopien und Anti-Utopien in Frage stellt. Der Dystopie werden nun zunehmend Eigenrechte zugesprochen; als bloße ›umgedrehte Utopie‹ scheint sie gerade bezüglich der neueren Texte immer unzureichender beschrieben.59 Allerdings wird diese Forderung nach einer eigenständigeren ›Dystopieforschung‹ bislang noch kaum mit konkreten Inhalten gefüllt. Wie bereits angedeutet, basiert die bisherige Theorie der Dystopie auf der engen, spiegelbildlichen Verwandtschaft zwischen der literarischen Anti-Utopie (z. B. Nineteen Eighty-Four) und der literarischen Utopie (z. B. Looking Backward: 2000–1887). Die Utopieforscher:innen zogen aus dieser Verwandtschaft den Schluss, dass ihre Ansätze auch auf die Dystopien Anwendung finden können, wenn nur die unterschiedlichen Wertungen der entworfenen Welten mitbedacht werden. Die theoretische Basis, die heute für die Beschäftigung mit literarischen Dystopien zur Verfügung steht, hat die interdisziplinäre Utopieforschung also am Rande ihres eigentlichen Untersuchungsfeldes en passant mit hervorgebracht. In dem Maße aber, in dem Dystopien nicht mehr als AntiUtopien betrachtet werden, droht der Utopieforschung, die Deutungshoheit über die Dystopien zu verlieren. Wohl aus diesem Grund werden dort noch Positionen vertreten, die bereits mit Blick auf Bradburys Fahrenheit 451 als überholt anzusehen sind: »Dystopia is not so much the opposite of utopia as its shadow. It emerged in the wake of utopia and has followed it ever since«, meint der einflussreiche Utopieforscher Krishan Kumar noch im Jahr 2013.60 In dieselbe Kerbe schlägt Fátima Vieira: »Literary dystopia utilizes the narrative devices of literary utopia«.61 In der Folge soll genauer dargelegt werden, wieso ein solcher Ansatz nicht nur mit Blick auf einzelne Texte der Gattung, sondern auch aus allgemeinen, kon57 Friedrich, Utopie, S. 739. Daneben wurden phasenweise auch gänzlich andere Begriffe wie ›Mätopie‹ verwendet, diese spielen heute jedoch keine Rolle mehr. 58 Aldridge, The scientific world view, S. IX. 59 Vgl. Sargent, Three Faces, S. 8; Seeber, Bemerkungen, S. 163; Lehnen, Defining Dystopia, S. 11–12; Fitting, Utopia, S. 135. 60 Kumar, Utopia’s Shadow, S. 19. 61 Vieira, The concept of utopia, S. 17. Vieira bezieht sich an dieser Stelle zwar vor allem auf die Frühphase der literarischen Dystopien, für die diese Sichtweise noch eher passend erscheint, ihr Zitat illustriert dennoch einen weit verbreiteten Zugang der Utopieforschung zu den Dystopien egal welcher Epoche.

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Theoretische Basis

zeptionellen Gründen problematisch ist. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der Suche nach einer passenden Definition der Dystopie. Eine literarische Utopie definiert Sargent, der Doyen der Utopieforschung, folgendermaßen: [A utopia is] a non-existent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as considerably better than the society in which that reader lived.62

Die literaturwissenschaftlichen Einwände gegen einen solchen Rückgriff auf die Autorintention nimmt Sargent zwar zur Kenntnis, hält an diesem aber dennoch fest, da die Autorinstanz für alle anderen Disziplinen einen entscheidenden Faktor darstelle.63 Die auf bloßem Vorzeichentausch bestehende Methodik der Utopieforschung in Bezug auf die Dystopie wird deutlich, wenn man Sargents aktuell maßgebliche Definition einer literarischen Dystopie mit der obigen vergleicht: [A dystopia is] a non-existent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as considerably worse than the society in which that reader lived.64

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist diese Definition nicht nur wegen des Rückgriffs auf die Autorintention problematisch. Neben den Autor:innen von Dystopien taugt auch ›ein‹ zeitgenössischer Leser nicht als relevante Größe – die subjektiv höchst unterschiedlichen Rezeptionen von Utopien und Dystopien machen dies überdeutlich. Zudem ist diese Definition der Dystopie erkennbar auf eine Ähnlichkeit zur Utopiedefinition hin zugeschnitten. Die Spiegelbildlichkeit zur Utopie scheint hier wichtiger zu sein als das Wesen der Dystopie möglichst treffend abzubilden. Hinzu kommt, dass diese Dystopiedefinition so allgemein gehalten ist, dass sie erheblich an Trennschärfe einbüßt.65 Nach Sargent sind etwa Orwells Texte Animal Farm (1945) und Nineteen Eighty-Four (1949) jeweils ohne Abstriche den Dystopien zuzurechnen, obwohl im ersten Fall fast alle Akteure Tiere sind, also ein gänzlich anderer, allegorischer Gestus im Erzählen vorherrscht, während der zweite Text auf jener typischen Extrapolation von Trends aufbaut, die man heute primär mit Dystopien verbindet.66 Gregory Claeys agiert bei der Suche nach einer Definition umsichtiger, geht dabei jedoch über eine potentiell offene Merkmalsauflistung nicht hinaus: Dystopien seien fiktiv, negativ, auf das Politische bezogen, theoretisch möglich 62 63 64 65 66

Sargent, Three Faces, S. 9. Vgl. Sargent, Three Faces, S. 6. Sargent, Three Faces, S. 10. Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 128. Vgl. Lehnen, Defining Dystopia, S. 17.

Die Dystopie aus Sicht der Utopieforschung

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(»feasible«) und zeigten eine Entwicklung auf.67 Obwohl hier wichtige Ansatzpunkte genannt werden, bleiben doch viele Fragen offen, insbesondere, aus wessen Sicht die Negativität des Weltentwurfs zu konstatieren ist oder wer über die ›feasibility‹ eines Textes zu befinden hat. Auch andere Arbeiten, die im Grenzbereich zwischen Utopie-, Dystopie- und Science Fiction-Forschung angesiedelt sind, operieren mit problematischen Definitionen. Tom Moylan etwa beschreibt literarische Dystopien Mitte der 1980er Jahre folgendermaßen: »[a] narrative that images a society worse than the existing one«.68 Auch hier stellt sich wieder die Frage nach der Objektivierbarkeit dieser Negativität. Auf Ergebnisse der Utopieforschung kann die vorliegende Arbeit eher zurückgreifen, wenn es um die formalen und inhaltlichen Aspekte der ›klassischen‹ Dystopien geht. In der Tat nämlich lässt sich im Vergleich zwischen Utopien und älteren Dystopien häufig eine hohe Entsprechung im Aufbau der jeweiligen Gemeinwesen feststellen, so wie es die Utopieforschung annimmt. In beiden Fällen liegen oft isolierte, kollektivistische und statische Gesellschaften vor.69 Stephan Meyer formuliert auf dieser Erkenntnis aufbauend »vier Standardthemen« von Anti-Utopien: »Gefährdung des Individuums durch das Kollektiv«, »Verteidigung überbrachter ethischer Werte«, »menschliche ›Degeneration‹ durch Beseitigung aller Probleme« und »wahres Glück und wahre Freiheit nur außerhalb einer reglementierenden Ordnung«.70 Zuletzt ist hier noch das Konzept der ›kritischen Dystopie‹ zu erwähnen. Diesem Konzept vorausgegangen ist das der ›kritischen Utopie‹. Hierunter werden in der Utopieforschung literarische Utopien verstanden, die selbst bereits utopiekritisches Denken in sich aufgenommen haben und daher die Wünschbarkeit ihrer eigenen Realisierung kritisch reflektieren.71 Davon ausgehend wird in der Utopieforschung ein Text als ›kritische Dystopie‹ bezeichnet, wenn in der überwiegend dystopischen Narration auch utopische Ideen narrativ ausgestaltet werden (in der Regel in Reservaten, die von ihrer dystopischen Umgebung räumlich klar abgegrenzt sind).72 Da aber jede Dystopie ihrem Wesen nach ›kritisch‹ ist, illustriert diese Begriffsbildung einmal mehr, dass es nicht genügt, theoretische Konzepte der Utopieforschung einfach spiegelverkehrt und unreflektiert auf Dystopien anzuwenden. Für Dystopien, die auch utopische Elemente in sich aufnehmen und erzählerisch ausgestalten, wäre stattdessen die Bezeichnung ›konstruktive 67 68 69 70 71 72

Claeys, The origins of dystopia, S. 109. Moylan, Demand the impossible, S. 9. Vgl. Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 36–55. Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 36. Vgl. Moylan, Demand the impossible, S. 281–282. Vgl. Moylan, Demand the impossible, S. 281–282.

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Theoretische Basis

Dystopie‹ passender: Obwohl natürlich auch andere Dystopien bis zu einem gewissen Grad konstruktiv sein können, sind es jene um utopische Elemente erweiterten Dystopien in besonderem Maße, da sie nicht nur aktuelle Probleme identifizieren, sondern sich auch aktiv auf die Suche nach konkreten Lösungsmöglichkeiten begeben. In der Folge wird daher der Begriff der ›konstruktiven Dystopie‹ dem der ›kritischen Dystopie‹ vorgezogen. Fragwürdig ist zudem die in der Utopieforschung – aber auch bei Layh – verbreitete Annahme, ein offenes oder hoffnungsvolles Ende in einer Dystopie sei bereits ein hinreichendes Merkmal einer solch ›kritischen‹ bzw. ›konstruktiven‹ Dystopie.73 Tatsächlich verfügen auch Dystopien, die kaum utopisches, auf konkrete positive Alternativen abzielendes Denken in sich aufgenommen haben, teilweise über ein solch positives oder zumindest hoffnungsvolles Ende – auch sie werden daher häufig als ›kritische Dystopien‹ bezeichnet, etwa A Handmaid’s Tale (Margaret Atwood, 1985).74 Auch wenn ein offenes Ende aus gattungsgeschichtlicher Sicht tatsächlich eine relevante Neuerung darstellt, sollte als das entscheidende Kriterium der ›kritischen‹ bzw. ›konstruktiven‹ Dystopie doch die Aufnahme konkret-utopischer Elemente in die Narration gelten. Erst dadurch werden diese speziellen Dystopien zu »Fortsetzung[en] der literarischen Tradition der Utopie unter anderen Vorzeichen«75, wie Layh ihr Wesen treffend beschreibt.

2.3

Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹

Durch eine Auseinandersetzung mit bestehenden Forschungspositionen – nun auch jenseits der Utopieforschung – sollen in diesem Abschnitt Eckpunkte einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹ erarbeitet werden. Hauptziel ist dabei die Erarbeitung einer trennscharfen Dystopiedefinition, die sich als tragfähige Basis der Einzelanalysen erweist. Im Folgenden werden unter Anti-Utopien Texte verstanden, die auf Gefahren utopischen Denkens hinweisen, indem sie den Umschlag einer konkreten Utopie in ihr Gegenteil darstellen oder die Gefahren utopischen Denkens im Allgemeinen aufzeigen. Dystopien können durchaus Anti-Utopien in diesem Sinne sein (wie Nineteen Eighty-Four), daneben gibt es jedoch auch Dystopien, die keine Anti-Utopien sind (für Fahrenheit 451 wurde dies bereits konstatiert). Zudem gibt es anti-utopische Texte, die keine Dystopien sind, da es sich beim 73 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 173 u. S. 194–196. 74 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 185. 75 Layh, Finstere neue Welten, S. 25.

Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹

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Beschriebenen gerade nicht um ›Nicht-Orte‹ handelt (wie etwa in Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch von 1962, in dem die Schrecken des realexistierenden Sozialismus und seines Gulag-Systems dargestellt werden). Dystopien und Anti-Utopien überschneiden sich also, sind aber nicht deckungsgleich. Was die Definition der Dystopie an sich angeht, so sind die wenigen genuin literaturwissenschaftlichen Ansätze kaum über den Stand der Utopieforschung hinausgelangt.76 Elena Zeißler definiert Dystopien als Gesellschaftsentwürfe, die »im Vergleich zur gegenwärtigen sozio-politischen Ordnung negativer erschein[en]«77 und verzichtet damit zwar auf die Autorintention als Maßstab, gibt dafür jedoch (wie Moylan) gar keinen Hinweis, aus wessen Sicht diese Wertung zu konstatieren ist. Sie verschleiert das Grundproblem, dass ein Text je nach Leser:in als Utopie oder Dystopie rezipiert werden kann. Auch Susanna Layhs Ansatz kann nicht überzeugen: Als positive Utopien werden […] literarische Werke bezeichnet, in denen vom jeweiligen Autor […] antithetisch ein als positiv betrachteter, alternativer Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft und den herrschenden sozio-politischen Verhältnissen skizziert wird, der in aller Regel von der Leserschaft auch als solcher rezipiert wird. In negativen Utopien [entspricht hier den Dystopien] hingegen werden zeitgenössische Ereignisse, Entwicklungen und Tendenzen zu einem fiktionalen Gesellschaftsentwurf prolongiert, der noch [sic] schlechter erscheint als die zeitgenössische außerfiktionale Gesellschaft und der damit zur düsteren Extrapolation der jeweiligen außertextuellen Gegenwart wird.78

Sie changiert hier zwischen Autorintention, durchschnittlichen Leser:innen und – wie Zeißler – einem instanzlosen ›Negativ-Erscheinen‹ der Dystopie. Im Folgenden werden Elemente einer alternativen Dystopiedefinition vorgestellt, bevor diese Elemente abschließend gebündelt werden. Diese alternative Definition soll auf die herausgearbeiteten Probleme der bisherigen Ansätze reagieren. Dafür noch einmal zurück zu Grundlegendem: Als unstrittiger Aspekt kann aus den bestehenden Definitionen die Fiktionalität der Narrationen übernommen werden.79 Kontrovers ist dagegen schon die Frage, ob allegorische Texte wie Orwells Animal Farm (1945) oder kontrafaktisches Erzählen wie in

76 Christine Lehnen widmet der Frage nach der Definition von Dystopien eine eigene Monographie: Christine Lehnen: Defining Dystopia. A Genre Between The Circle and The Hunger Games. A Functional Approach to Fiction. Marburg 2016. Ihr Ansatz ist jedoch sowohl hinsichtlich einer diachronen, wie auch einer synchronen Perspektive sehr sprunghaft und insgesamt wenig ergiebig. Eine ausführlichere, kritische Auseinandersetzung mit Lehnens Ansatz findet sich bei Gonnermann, Absent Rebels, S. 20–21. 77 Zeißler, Dunkle Welten, S. 17. 78 Layh, Finstere neue Welten, S. 112–113. 79 Vgl. Sargent, Three Faces, S. 10.

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Theoretische Basis

Philip K. Dicks Roman The Man in the High Castle (1962), in dem Deutschland und Japan den 2. Weltkrieg gewonnen haben, als Dystopien betrachtet werden sollten – wie gezeigt, schließt Sargents weite Definition diese Texte mit ein, da in ihnen negative Nicht-Orte entworfen und »in considerable detail« beschrieben werden. Diese extreme definitorische Offenheit soll hier jedoch abgelehnt werden, da damit das entscheidende Merkmal einer Dystopie im engeren Sinne zu wenig Berücksichtigung fände: Die Schaffung negativer Zukunftsszenarien durch die Extrapolation realer Trends.80 Auch wenn die extrapolierten Welten nicht zwangsläufig Plausibilität für sich beanspruchen (vgl. 2.4), so ist diesen Dystopien doch die Schaffung eines Zukunftsszenarios gemein.81 Alternativgeschichten, phantastische82 und surreale Texte verzichten hierauf und unterscheiden sich damit wesentlich von diesen anderen Dystopien, die einem solch prognostischen Gestus – der nicht mit einer tatsächlichen Prognose verwechselt werden darf – anhängen. Im Sinne eines ersten zentralen definitorischen Kriteriums soll als ›Dystopie im engeren Sinn‹ daher im Folgenden nur ein Text gelten, der auf der Extrapolation realer Trends beruht.83 Texte, bei denen dies nicht der Fall ist und die dennoch einen negativen Nicht-Ort beschreiben, können dagegen weiterhin als ›dystopisch‹ bezeichnet werden. So kann eine Unterscheidung zwischen Dystopien im engeren Sinne und sonstigen dystopischen Texten vorgenommen werden, gleichzeitig bleibt die Verwandtschaft der beiden Textsorten sichtbar. Mehr noch: Die extrapolierende Dystopie im engeren Sinn ist dadurch als spezifische Unterkategorie der dystopischen Texte klassifiziert. Unter Einbeziehung der anti-utopischen Texte soll das Schaubild (Abbildung 1) die begrifflichen Unterscheidungen, aber auch die möglichen Überlappungen zwischen Dystopien, sonstigen dystopischen Texten und Anti-Utopien an jeweils einem bereits erwähnten Textbeispiel aufzeigen.84

80 Vgl. Lehnen, Defining Dystopia, S. 17. 81 Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 83. 82 Hier als Literatur zu verstehen, in der durch Magie oder sonstige metaphysische Momente die Grenzen der Physik oder Logik durchbrochen werden. 83 Zu unterscheiden ist hier zwischen der entworfenen Welt und der Romanhandlung. Wenn etwa der Protagonist in Bellamys Utopie Looking Backward die Zeitspanne von 1887 bis 2000 in einer hypnotischen Trance verschläft und dabei auch alle Alterungsprozesse unterbrochen sind, so stellt dies eine offensichtliche Unmöglichkeit als Handlungskatalysator dar, die jedoch nicht die entworfene, extrapolierte Zukunftsvision als solche tangiert. Vgl. Claeys, Ideale Welten, S. 14–15. 84 Der Größe der Kreise und dem Grad an Überlappung kommt in Abbildung 1 keine Bedeutung zu. Philip K. Dicks The Man in the High Castle von 1962, in dem Deutschland und Japan den 2. Weltkrieg gewinnen, ist dystopisch, aber offensichtlich keine extrapolierende Dystopie im engeren Sinn. Auch als Anti-Utopie ist der Text nicht zu bezeichnen, da es ja nicht darum geht, die anti-utopischen Aspekte des Nationalsozialismus hinter seiner utopischen Fassade aufzudecken.

Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹ dystopische Texte (nega"ve Nicht-Orte)

an!-utopische Texte (Texte, in denen konkrete Utopien oder Utopismus allgemein kritisiert werden)

The Man in the High Castle

Animal Farm Fahrenheit 451

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Nineteen Eighty-Four

Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch

Dystopien im engeren Sinn (nega"ve Nicht-Orte, basierend auf einem extrapolierenden Ansatz)

Abbildung 1; eigene Darstellung

Eine vollständige Definition der Dystopie im engeren Sinne lässt sich aus dieser Unterscheidung allerdings noch nicht ableiten, weitere Aspekte sind zu beleuchten und anschließend in der Arbeitsdefinition zusammenzuführen. So nehmen Dystopien für die Extrapolation problematischer Trends jeweils ein bestimmtes Gemeinwesen zum Ausgangspunkt und entwerfen das Zukunftsszenario speziell für dieses (was aber gelegentliche Blicke über dessen Grenzen nicht ausschließt). Bei diesen Gemeinwesen handelt es sich in älteren Texten üblicherweise um einzelne Nationalstaaten; in Zeiten der Globalisierung kann in den Dystopien mittlerweile aber auch die gesamte, vernetzte Menschheit zum in Frage stehenden ›Gemeinwesen‹ werden. Besonders kontrovers wird in der Forschung außerdem die Abgrenzung utopisch-dystopischer Literatur zur Science Fiction diskutiert, wobei diese Grenzziehung dadurch erschwert wird, dass schon die Definition der Science Fiction selbst höchst umstritten ist, sich immer weiter verkompliziert und daher teilweise schon als unmöglich bezeichnet wird.85 Die Science Fiction wird in der vorliegenden Arbeit, in Anlehnung an den einflussreichen Science-FictionTheoretiker Darko Suvin, als Gattung betrachtet, die vor allem technologischen Wandel imaginiert und aus der narrativen Ausgestaltung eines solchen »Novums«86, in Verbindung mit damit einhergehenden »estrangement«-Effekten87,

85 Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 105–114. 86 Suvin, Metamorphoses, S. 63.

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Theoretische Basis

seinen Reiz bezieht. Statt wie bei der utopisch-dystopischen Gattung ein ›social dreaming‹ (Sargent), scheint hier eher ein ›technological dreaming‹ bestimmend zu sein. Suvins Ansatz, die utopisch-dystopische Gattung als Unterkategorie der Science Fiction aufzufassen,88 wurde jedoch von verschiedener Seite kritisiert89 und soll auch hier abgelehnt werden. Sein Vorschlag, die Utopie sei sowohl als unabhängige Tante als auch als abhängige Tochter der Science Fiction zu betrachten,90 kann schon aus logischen Gründen nicht überzeugen. Vielmehr liegt es in der Natur der Sache, dass es zwischen utopischer Literatur und Science Fiction Berührungspunkte gibt: Führt ein Science-Fiction-Text neue, bahnbrechende Technologien ein, so impliziert dies, dass diese auch Auswirkungen auf die Gesellschaft haben; und entwirft eine Dystopie oder Utopie ein politisches Zukunftsszenario, so ist dabei natürlich auch ein gewisser technologischer Wandel mit zu bedenken. Relevant für eine Abgrenzung der beiden Gattungen ist jedoch, was beim jeweiligen Text im Zentrum des Interesses steht – die Technik oder die Gesellschaft. Die unterschiedliche Funktion der Texte stellt nämlich einen zentralen Anhaltspunkt für eine Unterscheidung dar. Das utopisch-dystopische ›social dreaming‹ ist Ausdruck eines kritischen realpolitischen Engagements, während der technikbasierte ›estrangement‹-Effekt der Science Fiction laut Hans-Edwin Friedrich, der den diesbezüglichen Forschungsstand in einer umfangreichen Monographie aufgearbeitet hat, teilweise sogar zu einem technikaffinen Eskapismus genutzt wird.91 Doch bei Narrationen, in denen sowohl technologischer Wandel als auch die politische bzw. gesellschaftliche Entwicklung eines Gemeinwesens zusammen/ nebeneinander/abwechselnd im Vordergrund stehen, spricht nichts gegen eine Zuteilung zu beiden Gattungen. So sind etwa besonders politisch gefärbte Folgen der Star Trek-Reihe Beispiele für solch mögliche Überschneidungen. Verzichtet man auf den (teilweise ohnehin unmöglichen) Versuch, die einzelnen Narrationen ausschließlich einer der beiden Gattungen zuzuordnen, so erscheint Suvins problematischer Ansatz, darüber hinaus eine hierarchische Ordnung zwischen Science Fiction und Utopien/Dystopien herzustellen, als überflüssig. Durch eine solch nicht-exklusive Lösung macht sich eine ›Dystopieforschung‹ zudem unabhängiger von den mannigfaltigen Definitionsproblemen des Begriffs ›Science Fiction‹.

87 Suvin, Metamorphoses, S. 4. Suvin bezeichnet damit die Wirkung, die die markante Differenz zwischen der realen und der technologisch veränderten, fiktiven Lebenswelt auf die Rezipient:innen hat. 88 Vgl. Suvin, Theses on Dystopia 2001, S. 188. 89 Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 170 sowie Fitting, Utopia, S. 136. 90 Vgl. Suvin, Theses on Dystopia 2001, S. 188. 91 Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 72–73 und Moylan, Scraps, S. 30.

Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹

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Das definitorische Hauptproblem der Dystopie kann dagegen nicht durch eine ähnlich salomonische Lösung beigelegt werden. Es geht um die Frage, anhand welcher Instanz bzw. anhand welcher Perspektive die Negativität der dystopischen Weltentwürfe – im Unterschied zur Positivität der Utopien – festgemacht werden kann. Statt um die Abgrenzung der utopisch-dystopischen Gattung zu einer verwandten Gattung geht es nun also um die Binnendifferenzierung zwischen Utopie und Dystopie. Dabei kann hier nicht, wie in der interdisziplinären Utopieforschung üblich, auf die Autorintention oder auf Konstrukte von ›durchschnittlichen Lesern‹ zurückgegriffen werden. Gregory Claeys zeigt die Problemlage auf, allerdings ohne zugleich einen Lösungsansatz vorzuschlagen: There is of course something in the argument that, just as one person’s terrorist is another’s freedom-fighter, so is one person’s utopia another’s dystopia. Indisputably, thus, whether a given text can be described as a dystopia or utopia will depend on one’s perspective of the narrative outcome.92

Doch wäre die Unterscheidung von Utopien und Dystopien, wie Claeys hier suggeriert, eine reine Frage der Betrachterperspektive, so wäre jede Einteilung letztlich beliebig und damit aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich. Allerdings konzentriert sich die Forschung bislang auf jene beiden Elemente innerhalb der Trias Autor:in – Werk – Rezipient:in, die gerade nicht als intersubjektiv verbindliche Wertungsinstanzen herangezogen werden können, nämlich auf die Autorintention und die Eindrücke ›des‹ Lesers. Als intersubjektiv belastbare Instanz ist jedoch nur das Werk selbst zu betrachten, im Fall literarischer Dystopien also der Text. Nur wenn ein Text aus sich heraus als Utopie bzw. Dystopie zu erkennen ist, kann er als solcher klassifiziert werden.93 Das bedeutet, dass zwischen der Frage nach der Klassifikation eines Textes als Utopie oder Dystopie und der Analyse der von ihm verwendeten narrativen Mittel eine direkte Verbindung besteht: Wie wertet der Text die von ihm entworfene Welt? Wie gestaltet er die Sympathie- bzw. Antipathielenkung? Ob diese narrativen Strategien des Textes mit der Intention des realen Autors bzw. der realen Autorin übereinstimmen, ist dagegen kein Untersuchungsfeld der Literaturwissenschaft. Auch ist es selbstverständlich, dass diese Textstrategien nicht bei allen Leser: innen auf gleich fruchtbaren Boden fallen. Die Einordnung eines Textes als Utopie oder Dystopie ist also eine interpretatorische Leistung, doch hat dies nichts mit jener Subjektivität zu tun, die Claeys oben beschreibt: B. F. Skinners Roman Walden Two (1948) etwa, der eine 92 Claeys, The origins of dystopia, S. 108. 93 Obwohl sie bei ihrer Definition leider nicht hierauf zurück kommt, klingt dieser Gedanke an einer anderen Stelle bereits bei Layh an. Layh, Finstere neue Welten, S. 40: »Entscheidend aber ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht das Zusammenspiel von Form und utopischer Intention im Sinne des dem jeweiligen Text inhärenten utopischen Gedankenguts bzw. Inhalts.«

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Theoretische Basis

auf rein behavioristischen Grundsätzen aufgebaute Gemeinschaft imaginiert, ist anhand seiner narrativen Strategien als Utopie,94 Orwells Nineteen Eighty-Four dagegen als Dystopie95 zu erkennen, obwohl heute beide Entwürfe gemeinhin als

94 In Walden Two gibt es einen autodiegetischen Erzähler, den Psychologen Professor Burris. Burris besucht mit einem befreundeten Geisteswissenschaftler, Professor Castle, eine Lebensgemeinschaft, die ›Walden Two‹ genannt wird. Ein Bekannter von Burris, T. E. Frazier, hat die Gemeinschaft gegründet. In ihr soll der planmäßige Einsatz von Erkenntnissen des Behaviorismus jede Form von Herrschaft überflüssig machen und ein zufriedenstellendes Leben für alle Bewohner garantieren. Schnell kommt es zu heftigen Differenzen zwischen Castle und Frazier; für Castle ist ›Walden Two‹ eine Form der Tyrannei, Frazier weist diesen Gedanken entschieden zurück. Burris bleibt lange Zeit unentschieden zwischen den beiden Standpunkten. Die Erzählsituation legt eine Identifikation der Leser:innen mit Burris nahe; er ist als exemplarischer und sympathischer Charakter angelegt, wie bereits die Einstiegsszene des Romans erkennen lässt, in der er mit ehemaligen Studenten einen jovialen, betont nahbaren Umgang pflegt. Im Verlauf der geistigen Auseinandersetzung zwischen Frazier und Castle neigt Burris dann aus Vernunftsgründen – also gleichsam nolens volens – immer stärker Frazier zu, während Castle argumentatorisch immer weiter an Boden verliert, aber dennoch halsstarrig auf seiner ursprünglichen Meinung beharrt: The pigeonhole into which Frazier had been tossed [by Castle] was labeled, of course, »Fascist.« I could not get Castle to define the term very clearly, but it involved an élite – that much was certain. […] [Castles] argument enabled me, in turn, to put him into a pigeonhole. He was the philosopher – too unfamiliar with the facts and methods of science to have any feeling for the potency of behavioral engineering. […] No matter how I might defend Frazier, Castle would be »of the same opinion still.« (Skinner, Walden Two, S. 281). Dies führt schließlich so weit, dass sich Burris am Ende des Romans trotz all seiner ursprünglichen Skepsis und seiner persönlichen Antipathie gegenüber Frazier zu folgender Aussage hinreißen lässt: »And if I must say it, Frazier – I concede the point: you’re a genius.« (Skinner, Walden Two, S. 288; eigene Hervorhebung) Mehr noch: Burris gibt schließlich in einem euphorischen Entschluss seine Professur an der Universität auf, um ganz nach ›Walden Two‹ ziehen zu können. Entscheidend ist hier, dass der Text Burris als exemplarische, sympathische, kompetente und anfänglich neutrale Figur konzipiert (vgl. die nächste Fußnote zur strukturell ähnlichen Rolle Winston Smiths); sein positives Schlussurteil über Fraziers utopisches Projekt ist somit darauf angelegt, sich auf die Leser:innen zu übertragen. Wie oben bereits kurz angedeutet, wird dagegen Castle (der Fraziers Projekt als ins Dystopische gekippt betrachtet) als voreingenommen, unbelehrbar, ideologisch und damit als unsympathisch und ungerecht dargestellt. Noch ausführlicher können die narrativen Strategien des Textes nachgelesen werden bei Kuhlmann, Living Walden Two, S. 3–42. Sie kommen dort deutlich zur Geltung, obwohl Kuhlmann primär auf die Intentionen des realen Autors, B. F. Skinner, abzielt. Knapper, aber noch klarer ist die Darstellung bei Schäbler, Wirklichkeit, Möglichkeit und Utopie, S. 210–211. 95 Vor allem die Fokalisierung auf Winston Smith trägt in Nineteen Eighty-Four zur Emotionslenkung bei. Sie und Smiths Durchschnittlichkeit ermöglichen die Identifikation der Leser: innen mit Smith; er ist während des gesamten Romans das exemplarisch-leidende Individuum, an dem sich die Unmenschlichkeit des herrschenden Systems erweist. Ein Mitleiden der Leser: innen mit Smith forciert der Text also schon durch seine Erzählstruktur. Theoretisch ist auch eine utopische Version des Romans denkbar: Smith müsste dann nicht als durchschnittlichharmloses, sondern als sinistres, gefährliches Subjekt gezeigt werden, dessen Ausmerzung bzw. dessen Wiedereingliederung in die Gesellschaft einen wichtigen Sieg der heilbringenden, gerechten, sozialistischen Staatsordnung darstellt. Eine solch utopische Version des Romans würde vermutlich eine Fokalisierung auf den staatlichen Protagonisten O’Brien vornehmen, um

Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹

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wenig erstrebenswert gelten. In schwierigeren Fällen kann die Klassifikation eines Textes als Utopie oder Dystopie erst nach einer detaillierten Textanalyse erfolgen. Sollte auch diese keine eindeutigen Ergebnisse zutage fördern (vgl. den Fall bei 4.1.3), muss konsequenterweise auf eine Festlegung des Textes als Dystopie oder Utopie verzichtet werden. Er ist dann nur als der utopisch-dystopischen96 Gattung zugehörig zu bezeichnen. Gemein dagegen ist allen utopisch-dystopischen Texten ein politisch-kritisches Potential, das sich aus der Differenz zwischen dem entworfenen Gesellschaftsbild und der Realität ergibt. Während allerdings die Utopie durch die Schaffung eines positiven Gegenbilds einen Veränderungsdruck erzeugen will, der über den Status quo hinausführt, weist im Gegensatz dazu die Dystopie durch die Extrapolation von Problemen auf eine Gefährdung des Status quo durch aktuelle Tendenzen hin. Aus den verschiedenen Aspekten ergibt sich die folgende Definition von Dystopien im engeren Sinn: Eine Dystopie ist ein fiktionaler Text, der durch die Extrapolation realer Trends das Zukunftsszenario eines bestimmten Gemeinwesens entwirft, wobei Ordnung und Prinzipien des Zusammenlebens im Zentrum des Interesses stehen; dabei stellt die Dystopie das entworfene Zukunftsbild im Vergleich zur außerfiktionalen Lebenswelt negativ dar, was eine Kritik an gegenwärtigen Tendenzen der realen Gesellschaft impliziert. Ausgehend von dieser Definition werden zwei weitere theoretische Überlegungen zur Dystopie im engeren Sinne vorgestellt, nämlich erstens die Unterscheidung von drei stets auftretenden Zeitintervallen und zweitens die Unterscheidung von isolierenden und komplexen Dystopien. Die vorliegende Arbeit schlägt mit Blick auf Dystopien im engeren Sinn die Unterscheidung von drei Zeitintervallen (vgl. Abbildung 2) vor und greift auf diese auch bei den einzelnen Romananalysen zurück. Strukturell treten bei extrapolierenden Texten nämlich immer die folgenden drei Zeitintervalle auf: Das Intervall I umfasst den gesamten Entstehungsprozess des Romans bis hin zu eine Identifikation der Leser:innen mit Smith zu verhindern und stattdessen mit O’Brien (und somit mit dem gesamten Staatsapparat) nahezulegen. Möglich wäre es jedoch auch, ähnlich wie in Walden Two, die Fokalisierung auf Smith beizubehalten, aber Smith zum Ende der Narration hin von sich aus, also aufgrund einer kognitiven Erkenntnis, auf Staatslinie umschwenken zu lassen. So aber sind die Textstrategien darauf ausgelegt, die problematischen Aspekte des porträtierten Staates herauszustreichen. 96 In diesen seltenen Fällen wäre die neutrale Verwendung des Begriffs ›utopisch‹ (vgl. hierzu die erste Vorbemerkung ganz zu Beginn dieser Arbeit) handlicher. Solch uneindeutige Texte könnten in dieser Konzeption als ›utopisch‹, aber weder als ›eutopisch‹ noch als ›dystopisch‹ bezeichnet werden.

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Theoretische Basis

seiner Fertigstellung bzw. Veröffentlichung. Die realen Trends, die in den Texten dann in eine fiktive Zukunftswelt projiziert werden, entstammen diesem realen Intervall. Sodann ergibt sich ein Zeitintervall II zwischen dieser realen Entstehungsphase des Romans und dem Einsetzen der fiktiven Romanhandlung in der Zukunft. Hier ist auf fiktionaler Ebene der Vollzug jener problematischen, soziopolitischen Veränderungen anzusetzen, der den typischerweise unvermittelten Erzähleinstieg in eine bereits dystopisch gewandelte Welt möglich macht. Es handelt sich hierbei also um einen impliziten, keinen narrativ ausgestalteten Zeitabschnitt. Das Intervall III schließlich umfasst die tatsächliche Handlung des Romans, in der Regel von jenem unvermittelten Einstieg bis zum tragischen Ende der Hauptfigur. Daneben kann es vorkommen, dass Dystopien als Rück- oder Vorausblenden einzelne Handlungsteile enthalten, die vor dem Intervall I oder nach dem Intervall III angesiedelt sind. Die sich so ergebenden Intervalle 0 und IV sind jedoch äußerst selten.

Intervall 0

Intervall I

Intervall II

Intervall III

Intervall IV

Rückblenden im Text, die vor dem Intervall I liegen

Entstehungszeit des Romans

Zeit, die bis zum Einsetzen der Handlung verstreicht

Erzählte Zeit

extrapolierender Aufgriff gesellscha!licher Trends

eine ins Dystopische gekippte Welt entsteht

Narra"ve En#altung der dystopischen Welt

Vorausdeutungen im Text, die über die eigentliche Romanhandlung hinausgehen

reale Zeitspanne

fik"ve/implizite Zeitspanne

fik"ve Zeitspanne

Abbildung 2; eigene Darstellung

Aus dieser Einteilung ergeben sich verschiedene Ansatzpunkte und Anschlussfragen. Beim Intervall I ist vor allem die Frage interessant, in welcher Weise bereits bestehende, reale Diskurse aufgenommen und im Text literarisiert werden. Hinsichtlich des Intervalls II ergeben sich vor allem erzähltechnische Herausforderungen: Wie werden den Leser:innen Hintergrundinformationen zu den häufig massiven, fiktiven Veränderungen der Gesellschaft nachgereicht, die nicht auserzählt worden sind, aber ohne die die neue Welt nicht verstehbar wäre?97 Welch narrativen Probleme sich dabei aus strukturellen Gründen zwangsläufig ergeben, soll anhand zweier Beispiele aus der jüngsten Zeit veranschaulicht werden. In Juli Zehs Dystopie Corpus Delicti (2009) betritt der Antagonist der Hauptfigur zum ersten Mal deren Wohnhaus: »Das ist ein Wächterhaus«, sagt Lizzie. »Sie brauchen hier drin keinen Mundschutz.« »Wie dumm von mir.« Kramer löst das Band hinter dem Kopf. »Da war doch die Plakette am Eingang.« 97 Vgl. hierzu auch Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 116–119.

Notwendigkeit und Ansätze einer eigenständigen ›Dystopieforschung‹

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Den Mundschutz schiebt er in die Jackentasche. Während des anschließenden Schweigens wäre genug Zeit, ein Referat über Wächterhäuser zu halten. In Wohnkomplexen, deren Hausgemeinschaft sich durch besondere Zuverlässigkeit auszeichnet, können Aufgaben der hygienischen Prophylaxe von den Bewohnern in Eigenregie übernommen werden. Regelmäßige Messungen der Luftwerte gehören ebenso dazu wie [usw.] […]. (CD 22)

Ohne jede narrative Kaschierung werden im Anschluss sehr ausführlich jene Aspekte des Intervalls II wiedergegeben, die zentral für das weitere Verständnis des Romans sind. Die Dystopien stehen dabei stets vor dem Problem, dass diese Elemente für die handelnden Figuren selbstverständlich, für die Leser:innen jedoch völlig neu sind. Sehr offen wird dieser Herausforderung auch in Dave Eggers’ Roman The Circle (2013) begegnet. Das gleichnamige, fiktive Unternehmen hat in den letzten Jahren – im nicht erzählten Intervall II – einen kometenhaften Aufstieg erlebt; dies haben die Leser:innen bereits erfahren, als die Hauptfigur, Mae, zum ersten Mal in die Firmenzentrale kommt und von ihrer Freundin Annie herumgeführt wird. Sie betrachten ein Porträt des Firmengründers Ty: »Ty looks checked out, right?« Annie said. »But he couldn’t be. None of us would be here if he wasn’t a fucking brilliant management master, too. I should explain the dynamic. You’ll be moving up quickly so I’ll lay it out.« Ty, born Tyler Alexander Gospodinov, was the First Wise Man, Annie explained, and everyone always just called him Ty. »I know this,« Mae said. »Don’t stop me now. I’m giving you the same spiel I have to give to heads of state.« »Okay.« Annie continued. […] (TC 19–20)

Während des weiteren Dialogs gibt Annie ihrer Freundin Mae – in Wirklichkeit aber natürlich eher den Leser:innen – zahlreiche orientierende Informationen über den Circle-Konzern. Egal ob mit aufwändiger oder gänzlich ohne Kaschierung, stets hat die Dystopie nicht nur die eigentliche Handlung des Intervalls III voranzutreiben, sondern auch relevante Informationen über die Vorgeschichte nachzutragen. Bezüglich der ästhetischen Bewertung von Dystopien in Literaturwissenschaft und Literaturkritik sollte daher nie vergessen werden, dass sich den Autor:innen der Gattung größere oder zumindest andere Herausforderungen stellen als jenen, die von historischen Welten erzählen, die den Leser:innen zumindest in ihren grundlegenden Gebräuchen bereits bekannt sind. Wie allen anderen Zu-

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Theoretische Basis

kunftstexten wohnt der Dystopie aufgrund dieser Problematik stets und bis heute etwas narrativ Experimentelles inne. Nur idealtypisch zu verstehen ist die zweite hier vorgeschlagene Differenzierung, nämlich jene zwischen isolierenden und komplexen Dystopien. Mit dem ersten Begriff können solche Texte der Gattung bezeichnet werden, die aus ihrer komplexen Gegenwart eine einzige problematische Tendenz herausgreifen und nur die diesbezüglichen Gefahren extrapolieren, während die sonstigen sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen gleich bleiben bzw. ausgeblendet werden. Auch das Handlungsschema wird genau auf diesen Aspekt hin verdichtet. Demgegenüber versuchen komplexe Dystopien, mehrere verschiedene reale Tendenzen zu extrapolieren und auch die jeweiligen Wechselwirkungen zwischen diesen miteinzubeziehen. Komplexe Dystopien sind daher multithematisch und entwerfen ein umfassenderes Gesellschaftsbild. Dennoch sind beide Bezeichnungen hier nicht wertend zu verstehen – auch eine isolierende Dystopie kann das gewählte Thema auf eine sehr reflektierte, ›komplexe‹ Weise verhandeln; gleichzeitig kann auch eine komplexe Dystopie niemals wirklich alle relevanten Tendenzen aufnehmen, um den prognostischen Gestus in eine tatsächliche Prognostik umzuwandeln (siehe zu dieser Überlegung auch den nächsten Abschnitt).98 Für die beiden Idealtypen stellen sich als Romane jedoch gegensätzliche narrative Probleme: Während die isolierende Dystopie auf ihre inhaltliche Einengung reagieren und ihr narrativ entgegenarbeiten muss, läuft eine komplexe Dystopie immer Gefahr, thematisch zu zerfasern, sofern nicht durch narrative Mittel für eine gewisse Kohärenz gesorgt wird. Es ist daher kein Wunder, dass viele Dystopien Mischformen sind und sich eher in der Mitte der beiden Extrempole bewegen. Diese idealtypische Unterscheidung erscheint dennoch nützlich, da durch sie analytische Aussagen möglich werden, wie etwa jene, dass Juli Zehs Roman Corpus Delicti eher dem isolierenden, Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie eher dem komplexen Typus zuneigt (vgl. 4.2.1 und 4.3.1).99 98 Vgl. Radkau, Geschichte der Zukunft, S. 435–436. 99 Noch klarer wird die idealtypische Unterscheidung mit Blick auf das Werk des erfolgreichen österreichischen Autors Marc Elsberg. Elsberg veröffentlichte in kurzem zeitlichem Abstand drei Dystopien. Zunächst Blackout – Morgen ist es zu spät (2012), in dem ein langanhaltender, europaweiter Stromausfall die Fragilität der westlichen Infrastruktur aufzeigen soll (vgl. 4.3.2). In Zero – Sie wissen, was du tust (2014) werden dann Probleme der voranschreitende Digitalisierung für die private Datensicherheit extrapoliert. Der Roman Helix – Sie werden uns ersetzen (2016) thematisiert schließlich Gefahren, die sich durch die Möglichkeiten moderner Gentechnologien ergeben können. Alle drei Romane spielen in der nahen Zukunft und hätten somit theoretisch auch in einer komplexen Dystopie zu einer einzigen Zukunftswelt kombiniert werden können. Doch aus unserer sich als vielschichtig abzeichnenden Zukunft entnimmt Elsberg jeweils klar eingrenzbare Probleme und formt aus ihnen drei eigenständige Dystopien des isolierenden Typs.

Allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Dystopie und Gesellschaft

2.4

53

Allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Dystopie und Gesellschaft

Dystopien sind politische Texte, deren Hauptinteresse weniger auf Individuen denn auf ganzen Gesellschaften liegt und in denen mögliche zukünftige Entwicklungen dieser Gemeinwesen durchgespielt werden (vgl. 2.3). Dieser Umstand darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Zielpunkt eines Zukunftstextes üblicherweise dennoch seine jeweilige Gegenwart ist. Der Erfolg von Zukunftstexten besteht nicht darin, Vorhersagen aufzustellen, die sich dann schlussendlich bewahrheiten, sondern darin, bereits bei seinen zeitgenössischen Leser:innen Anklang zu finden und in diesem Moment sein kritisches Potential zu realisieren. Von Margaret Atwood stammt das treffende Zitat: »All stories about the future are actually about the now.«100 Bei einer Analyse der Dystopie der Gegenwart sind also nicht primär Erkenntnisse über die Zukunft zu erwarten, sondern Erkenntnisse über bestehende Diskurse der westlichen Gesellschaften, die sich auf die Zukunft beziehen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Erwartungshaltungen ist fundamental. Ohnehin erzeugt die bloße Verlängerung von einzelnen Trends in der Regel keine zutreffende Zukunftsvorhersage, weil dazu auch die größeren Rahmenbedingungen,101 innerhalb derer sich die einzelnen Trends realisieren, konstant bleiben müssten, was über einen längeren Zeitraum aber kaum der Fall ist.102 Es ist ein wenig wie mit dem Wetter: Der Ist-Zustand kann global sehr präzise festgestellt werden und auch die theoretischen Mechanismen der Wetterentstehung sind den Meteorologen hinlänglich bekannt, dennoch kann das kommende Wetter nur für wenige Tage präzise vorhergesagt werden, da der Möglichkeitenbaum angesichts der vielen hineinspielenden Faktoren ab einem gewissen Zeitpunkt geradezu explodiert.103 Dystopien sind daher als politisch engagierte Texte zu betrachten, deren Zukunftsszenarien narrative Mittel sind, um die in den Dystopien implizierten und an die Gegenwart gerichteten Warnungen zu unterstreichen. Dystopien ver100 Zitiert nach einem Artikel von Jenna Owsianik auf der Internetplattform RossDawson [ohne Datum]. Online abrufbar unter: https://rossdawson.com/futurist/best-futurists-ever/marga ret-atwood-dystopian-futures/ (letzter Aufruf am 28. 02. 2020). 101 Eine Gesellschaft ist vor allem von ökonomischen, ökologischen, innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen abhängig. Diese Bereiche beeinflussen sich gegenseitig auf vielfältige Weise. Die Verlängerung von Trends aus einem Bereich wird die anderen Parameter unangetastet lassen müssen, da die ansonsten entstehende Komplexität jede Fassbarund Darstellbarkeit sprengen würde. Aus diesem Grund ist jede Zukunftsprognose durch Trendverlängerung letztlich spekulativ. 102 Vgl. Radkau, Geschichte der Zukunft, S. 435–436. 103 Ähnliche Effekte sind auch Schachspieler:innen bei der Studie von Eröffnungsvarianten bekannt.

54

Theoretische Basis

wenden einen prognostischen Gestus, aber sie stellen – recht verstanden – keine Prognosen auf. In aller Regel werden in Dystopien auch keine gänzlich neu identifizierten Gefahren thematisiert, sondern problematische Trends aufgegriffen, die in Spezialdiskursen bereits als solche bekannt und umschrieben sind. Doch durch die narrative Umformung werden diese problematischen Trends und ihre möglichen langfristigen Auswirkungen einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Dystopien (und literarische Utopien) schaffen narrative Imaginationsräume, die der Konkretisierung und ›Visualisierung‹ von ursprünglich abstrakten Diskursinhalten dienen. Ihre gesellschaftliche Funktion liegt also auch darin, interpersonellen Sorgen und Ängsten, die aber noch so diffus sind, dass sie ansonsten bloß als dumpfe, amorphe Gefühle vorhanden wären, eine feste und fixierbare Gestalt zu geben. Die Dystopie eröffnet also weniger gänzlich neue Gefahrendiskurse, als schon bestehende umzuformen und auszukleiden, indem sie konkrete Bilder zu den bereits vorhandenen abstrakten Inhalten nachliefert. So waren beispielsweise die Inhalte des dystopischen Films Minority Report (Steven Spielberg, 2002) weder neu noch in allen Details plausibel dargestellt und dennoch fungiert der Film bis heute als zentraler Konkretisierungsanker bezüglich der möglichen Probleme von Kriminalitätsprävention mithilfe von Big Data.104 Des Weiteren ist ein struktureller Unterschied zwischen Utopien und Dystopien zu konstatieren, der bereits im vorletzten Abschnitt angeklungen ist und der sich aus dem Entwurf eines positiven bzw. negativen Alternativbildes ergibt: Die utopische Vision erzeugt durch ihr kritisches Potential einen Veränderungsdruck, der über den Status quo hinausgeht, während die Dystopie vor einer unerwünschten, den Status quo gefährdenden Veränderungsdynamik warnt und aus diesem gegensätzlichen Grund für eine »Änderung der Laufrichtung« (vgl. 5.1) eintritt. Die Utopie kann daher bezüglich ihres Verhältnisses zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs als progressiv, die Dystopie als konservativ bezeichnet werden, was aber natürlich nicht bedeuten soll, die Dystopie stünde 104 Vgl. zum Beispiel den Artikel von Frank Fell auf Techtag vom 08. 08. 2019 mit dem Titel Predictive Policing: Mit Big Data den Verbrechern auf der Spur. Der Einstieg in den Text lautet dort: Wenn das Stichwort »Predictive Policing« fällt, denkt jeder automatisch an den Spielfilm »Minority Report« aus dem Jahr 2002. In diesem Science-Fiction-Thriller nutzt die Washingtoner Polizei die sogenannte Präkognition, um Morde zu verhindern. Drei »Precogs«, die über hellseherische Fähigkeiten verfügen, sagen Morde in der Zukunft voraus – inklusive der Namen von Tätern und Opfern. Durch diese als »Precrime« bekannte Methode gelingt es schließlich, dass in Washington sechs Jahre lang keine Morde passieren. Irgendwann stellt sich das System jedoch als fehlerhaft heraus und die Hollywood-Action nimmt ihren Lauf. Was um die Jahrtausendwende noch futuristisch klang, ist heute bereits Realität. […] Online abrufbar unter: https://www.techtag.de/digitalisierung/predictive-poli cing-mit-big-data-den-verbrechern-auf-der-spur/ (letzter Abruf am 18. 03. 2020).

Allgemeine Überlegungen zum Verhältnis von Dystopie und Gesellschaft

55

ihren politischen Inhalten nach politisch rechts von der Utopie; es handelt sich hier lediglich um strukturelle Überlegungen.

3.

Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

Obwohl bislang noch nicht in dieser Systematik umschrieben, zerfällt die Geschichte der Dystopie in vier relativ klar voneinander abzugrenzende Phasen. Auf eine lange Figurations- bzw. Frühphase, in der sich eine zusammengehörende Gattung herausgebildet hat, folgt der erste Boom der Dystopie in den Nachkriegsjahren von 1945 bis ca. 1970. Die Zeit zwischen ca. 1970 und 1990 kann als eine Art ›Brache‹ bezeichnet werden, an die sich der gegenwärtig zu konstatierende, zweite Boom der Dystopie anschließt. Diese Kategorisierung ist natürlich nur als Annäherung an die komplexe Literaturlandschaft zu verstehen. Seit spätestens der Mitte des 20. Jahrhunderts erscheint in der westlichen Welt eine solche Vielzahl an Dystopien – auch während der ›Brache‹ –, dass eine Erfassung und Auswertung aller zur Gattung gehörenden Texte eine Unmöglichkeit darstellt.105 Der folgende literarhistorische Überblick beschäftigt sich daher mit allgemeinen Tendenzen innerhalb der Gattung, mit der Rolle, die Dystopien in der öffentlichen Wahrnehmung spielen, sowie mit herausragenden Einzelwerken, die das Gesicht der Gattung heute entscheidend prägen. Die Einteilung in Boom- und Brachephasen ist daher nicht quantitativ zu verstehen, obwohl die Vermutung naheliegt, dass sich die allgemeine Bedeutung der Gattung auch auf die Quantität der publizierten Dystopien auswirkt.106

105 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 447. 106 Eine empirische Untersuchung, die die publizierten dystopischen Texte in ihrer Gesamtheit bezifferbar machen würde, liegt bislang nicht vor und ist aufgrund der mit einer solchen Studie einhergehenden methodischen Schwierigkeiten auch nicht zu erwarten.

58

3.1

Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

Figurationsphase/Frühphase

Genealogisch entstammt die Dystopie vorrangig der durch Morus geprägten utopischen Erzähltradition (vgl. 2.1), daneben nimmt sie jedoch auch Einflüsse der Satire in sich auf. Gulliver’s Travels von Jonathan Swift (1726) ist hier als wichtigster Prätext zu nennen.107 Die Werke von Mary Shelley (Frankenstein, 1818; The Last Man, 1826), H. G. Wells (z. B. The Time Machine, 1895) und E. M. Forster (The Machine Stops, 1909) sind zudem markante literarhistorische Bindeglieder zur Science-Fiction, die zeitgleich in der Entstehung begriffen ist. Nach verstreuten, bereits dystopisch-extrapolierenden Einzelwerken im 18. Jahrhundert formiert sich im späten 19. Jahrhundert allmählich eine zusammengehörende Gattung, wenn auch noch mit sehr unscharfen Merkmalen und Rändern.108 Die erste ›klassische‹ Dystopie, Yevgeny Zamyatins We109 (1921/1924), entsteht im Zuge der Oktoberrevolution in Russland und setzt sich mit expressionistischen Mitteln mit den Problemen kollektivistischer Gesellschaften auseinander. Die Möglichkeit eines Umschlags von utopischen Idealen in dystopische Totalität, die die Geschichte der Gattung in der Folge entscheidend prägen sollte, steht also auch schon bei Zamyatin im Zentrum. Dennoch zeigt gerade ein Vergleich von We mit den Dystopien der ersten Boomphase während der Nachkriegszeit, wie ungebunden (bzgl. der Handlungskonstruktion) und experimentell (bzgl. der narrativen Mittel) diese Frühphase der Gattung noch ist. Auch in Aldous Huxleys Klassiker Brave New World (1932) ist die Abwesenheit späterer Gattungskonventionen noch in vielen Aspekten festzustellen. Claeys bezeichnet den Text treffend als »a highly ambiguous parody of several forms of utopia«110 – die potentiellen Auswirkungen technizistischer, eugenischer und sozialistischer Gesellschaftstendenzen werden dort verbunden und etwa 600 Jahre in die Zukunft projiziert. Diese thematische Breite, die relativ komplexe Handlungskonstruktion mit mehreren Hauptfiguren und Handlungssträngen, sowie die eher philosophische als politische Grundausrichtung heben den Roman in seiner Gesamtheit deutlich von den Nachkriegsdystopien ab. Dennoch enthält er einige narrative Elemente, die unter anderem in Nineteen Eighty-Four aufgegriffen werden und die mittlerweile zum festen Merkmalsinventar der Gattung gehören. Hierzu zählen vor allem der unvermittelte Einstieg in die Handlung, Liebe und Künstlertum als Ausgangspunkt einer Rebellion im Zeichen des Individualismus, ein Gespräch mit der hierarchischen Spitze des totalitären Staates als inhaltlicher Höhepunkt der Ideologiekritik, sowie das schlussendliche 107 108 109 110

Vgl. Claeys, Dystopia, S. 291. Vgl. Claeys, Dystopia, S. 298–299. Der ursprünglich russische Romantext mit dem Titel Мы erschien zunächst auf Englisch. Claeys, Dystopia, S. 360.

Erste Boomphase und Etablierung narrativer Schemata

59

Scheitern des Widerstandes. Brave New World ist somit der zentrale Impulsgeber für die Dystopien der ersten Boomphase, in geringerem Maße gilt dies auch für Zamyatins We. Beide Texte stehen auf der Schwelle zwischen der relativ ungeordneten Frühphase und der ersten Boomphase während der Nachkriegszeit, in der sich Handlungsstruktur und Merkmalsinventar der Gattung verfestigen.

3.2

Erste Boomphase und Etablierung narrativer Schemata

Der Boom dystopischer Literatur nach 1945 hat wohl vor allem in den allgemeinen gesellschaftlichen Umständen jener Zeit seinen Ursprung. International ist die Nachkriegszeit durch einen besonderen Bedarf an gesellschaftlicher Reflexion geprägt – die spezifischen Möglichkeiten dystopischer Narrationen treffen daher auf besonders fruchtbaren Boden.111 Dieses spezifische Klima nach Kriegsende setzt sich aus entsetzter Rückschau (Faschismus, Zweiter Weltkrieg) und sorgenvollem Ausblick (Stalinismus,112 Kalter Krieg) zusammen. Wozu die in der Moderne angelangte Menschheit ideologisch und technologisch fähig ist, verdeutlichten vor allem die Orte Auschwitz und Hiroshima auf geradezu emblematische Weise. Dementsprechend ist die erste Boomphase der Dystopie thematisch geprägt durch den Kulturbruch während des Zweiten Weltkriegs, durch den globalen Aufschwung des Sozialismus und vor allem durch die wachsende nukleare Bedrohung während des Kalten Krieges. Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus stellt immer schon einen Kernbereich der Dystopie dar (vgl. 2.1), nun aber kommen konkrete Erfahrungen mit dem ›realexistierenden Sozialismus‹ stalinistischer Prägung hinzu, die die Befürchtungen der frühesten Texte der Gattung – etwa Zamyatins We – noch in den Schatten stellten. Der Schriftsteller, der sowohl diese Auseinandersetzung mit dem Kommunismus als auch die Dystopie in ihrer Gesamtheit am meisten prägte, ist George Orwell. Die Bedeutung, die Orwells 1949 erschienene Dystopie Nineteen EightyFour113 für die weitere Gattungsgeschichte hat, ist kaum zu überschätzen. Was den langfristigen Verkaufserfolg angeht, lässt Claeys sich sogar zu der (wohl übertriebenen) Vermutung hinreißen, zusammen mit Animal Farm (1945) 111 Vgl. Clayes, Dystopia, S. 453–462. 112 Wobei nicht vergessen werden darf, dass der Sozialismus an sich in der Nachkriegszeit auch im Westen viele Fürsprecher hatte (unter anderem ja auch George Orwell). 113 Verwendet wird hier und im Folgenden stets die Titulatur der Erstausgabe (vgl. Siglenverzeichnis). Erst in späteren Ausgaben erscheint der Titel numerisch als 1984. Die konsequente Verwendung des sperrigeren Titels soll auch dazu dienen, die wichtige Unterscheidung zwischen dem literarischen Werk und der nachträglich an diesen Text herangetragenen Bedeutungsaufladung und Stilisierung nicht aus den Augen zu verlieren.

60

Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

wären von diesen beiden Orwell-Texten mehr Exemplare verkauft worden als von allen anderen jemals publizierten Utopien und Dystopien zusammen.114 Zweifellos jedoch handelt es sich bei Nineteen Eighty-Four um eines der einflussreichsten literarischen Werke überhaupt.115 Etwa die lapidaren, weltweit in fast allen Groß- und Kleinstädten zu findenden116 »1984«-Graffitis (vgl. Abbildung 3) rufen bei vielen Betrachter:innen assoziativ sofort die zentralen Elemente des Big-Brother-Überwachungsstaats auf und bedürfen daher keiner weiteren Erklärung, um eine gesellschaftskritische Wirkung zu entfalten. Man kann sagen, Orwells Roman Nineteen Eighty-Four ist als 1984-Schriftzug längst zu einer Ikone geworden, was in dieser langanhaltenden Intensität einen Sonderfall in der gesamten westlichen Literaturgeschichte darstellt.117

Abbildung 3: Graffito in der oberbayerischen Kleinstadt Olching (Foto: Sperling)

Mit der enormen Popularität von Orwells Roman gehen jedoch auch zahlreiche Missverständnisse und Fehllektüren einher. Zunächst darf auch und gerade diese 114 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 391. 115 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 391. 116 Natürlich fehlt der Schriftzug gerade in jenen Staaten, in denen ein Verweis auf staatliche Repression und Überwachung am meisten Realitätsbezug hätte. 117 Die mittlerweile ebenfalls ikonische, blitzartige Harry-Potter-Narbe auf der Stirn etwa kommt, auch in Verbindung mit dem gebrandeten HP-Kürzel, dagegen nicht an.

Erste Boomphase und Etablierung narrativer Schemata

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Dystopie nicht als reale Vorhersage aufgefasst, ihre grotesken, satirischen Elemente nicht überlesen werden. Zudem überdeckt der ikonische Status des Textes seine große thematische Bandbreite als literarisches Werk. Auch scheint heute der Umstand oft gänzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden zu sein, dass Nineteen Eighty-Four nicht allgemein einen dystopischen Überwachungsstaat porträtiert, sondern einen ins Totalitäre gekippten sozialistischen Staat stalinistischer Prägung.118 Die weitere Geschichte der Gattung, vor allem jene direkt nach Veröffentlichung des Romans, lässt dagegen eine intensive und detaillierte Auseinandersetzung mit dem Text erkennen. In der Folge wird er inhaltlich und strukturell zu dem Archetypus der Gattung schlechthin. Die spezielle Handlungsstruktur, die in Brave New World bereits teilweise angelegt ist, wird hier weiterentwickelt und verdichtet:119 Winston Smith, eine nicht besonders herausgehobene Figur, die jedoch Einblicke in das Innere des Systems hat, wird gerade aufgrund seiner Durchschnittlichkeit zur Identifikationsfigur für die Leser:innen; der dystopische Staat zeigt an Smith, dessen Individualität ihn zu einem Außenseiter macht, sein wahres Gesicht; es kommt zum Versuch einer Revolte und zur Aussprache mit einer hierarchisch hochstehenden Person, bevor Smith scheitert und die Situation noch trostloser ist als zu Beginn. Es handelt sich hierbei um die wesentlichen Elemente prototypischer Dystopien, doch muss dabei ein logischer Zirkelschluss vermieden werden: Orwells Roman erfüllt diese Kriterien einer ›Musterdystopie‹ nicht im eigentlichen Sinne, sondern diese Kriterien gehen in weiten Teilen überhaupt erst auf diesen Roman zurück.120 Doch nicht nur strukturell, auch bezüglich des inhaltlichen Gesamtbildes prägt Nineteen Eighty-Four die Folgezeit. Durch Big Brother (NE 5), die Thought Police (NE 6), das Ministry of Truth (NE 7), das besonders gefürchtete Ministry of Love (NE 8), Newspeak (NE 7), Two Minutes Hate (NE 14–15), die Junior Anti-Sex League (NE 13), sowie die Slogans »WAR IS PEACE / FREEDOM IS SLAVERY / IGNORANCE IS STRENGTH« (NE 8, Großschreibung im Original) entsteht schon auf den ersten Seiten der spezifisch klaustrophobische Eindruck, der heute gemeinhin mit Dystopien verbunden wird. Smith ist in einem schrecklichen, zutiefst inhumanen, totalitären Staat gefangen, dessen Herrschaftssystem sich durch eine wirkungsvolle Erziehungsdiktatur nach innen offenbar unangreifbar gemacht hat. Der 1949 erschienene Roman wird so zu einem Zeitdokument, das 118 Das Bild von Big Brother wird im Roman folgendermaßen beschrieben: »[A] man of about forty-five, with a heavy black moustache and ruggedly handsome features.« (NE 5) Insbesondere der Schnauzbart spielt hier erkennbar auf Stalin an. 119 Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 29–30. 120 Mit einer gewissen Zuspitzung lässt sich daher sagen, dass Nineteen Eighty-Four für die Gattung der Dystopie das ist, was der Simplicissimus für den Schelmenroman oder Wilhelm Meister für den Bildungsroman ist.

62

Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

sowohl die Erfahrungen mit dem italienisch-deutschen Faschismus, als auch jene mit dem ›realexistierenden Sozialismus‹ bündelt und in die Zukunft projiziert. Nicht zufällig beschäftigt sich die interdisziplinäre Dystopie- und Totalitarismusforschung mit literarischen Phänomenen wie Nineteen Eighty-Four und parallel dazu mit realen Phänomenen wie dem Pol-Pot-Regime in Kambodscha oder der Kim-Herrschaft in Nordkorea.121 Seit seinem Erscheinen tangiert Nineteen Eighty-Four durch seine besondere Wirkmächtigkeit und seinen prägenden Einfluss jeden Folgetext der Gattung, da nun auch jede Abweichung von diesem Archetyp zu einem markanten narrativen Akt wird. Dies soll jedoch nicht heißen, der Text sei in jedem Detail stilprägend geworden oder erschöpfe sich gar in seiner Vorreiterrolle. Vor allem der gesamte Komplex um die Newspeak-Sprache (vgl. den diesbezüglichen Appendix am Ende des Romans) geht konzeptionell weit über das hinaus, was gattungstypisches Gemeingut geworden ist. Der Roman bleibt trotz aller Bedeutung für die nachfolgenden Dystopien ein eigenständiger und eigenwilliger Text, dem Eigenrechte jenseits der Gattungsgeschichte einzuräumen sind. Gleichwohl steht natürlich Nineteen Eighty-Four geradezu zwangsläufig für das Hergebrachte und Konventionelle schlechthin, das es zu überwinden gilt, wenn ein neuer, innovativer Ansatz innerhalb der Gattung gesucht wird. Allerdings ist die prägende Stellung von Nineteen Eighty-Four nicht nur auf diesen Roman alleine, sondern bis zu einem gewissen Grad auch auf das Erscheinen zweier weiterer, bedeutender Dystopien in der unmittelbaren Folgezeit zurückzuführen. Diese Folgedystopien sind entscheidend durch Orwells Text geprägt und verstärken damit seine Wirkung noch über seine eigentliche Rezeption hinaus. Es handelt sich dabei um Player Piano (Kurt Vonnegut, 1952) und Fahrenheit 541 (Ray Bradbury, 1953). Beide Romane greifen unter anderem auf das Prinzip eines eher durchschnittlichen Protagonisten zurück, der sich vom anfangs kritiklosen Untertan zum Rebellen wandelt, bevor das bestehende System mit aller Härte zuschlägt (in Fahrenheit 541 bleibt immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer am Ende). Auch thematisch sind die Anklänge zu Nineteen Eighty-Four, teilweise auch zu Brave New World, offensichtlich. Bradburys Firemen, die Brände nicht mehr löschen, sondern legen, sobald sie eine Ansammlung von Büchern entdecken, sind eine Art Thought Police, die Automatisierung bei Vonnegut erinnert an den (Anti-)Fordismus in Brave New World. Es würde zu weit führen, alle weiteren Parallelen aufzuzählen – wichtig ist an dieser Stelle nur, dass zwischen 1949 und 1953, also innerhalb von lediglich fünf Jahren, gleich drei international wirkmächtige Dystopien erscheinen, die zusammen nicht nur für den ersten Boom der Gattung stehen, sondern bezüglich der gattungstypischen narrativen Schemata jene Pfade festtreten, die in der Folge wegweisend sein 121 Vgl. z. B. Claeys, Dystopia, S. 113–268.

Erste Boomphase und Etablierung narrativer Schemata

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sollten. Daneben imaginiert im deutschsprachigen Raum auch Walter Jens’ dystopischer Text Nein. Die Welt der Angeklagten (1950) quasi zeitgleich einen totalitären Zukunftsstaat, in dem jedes Künstlertum und allgemein jeder Individualismus akut bedroht ist. Auch hier wird eine klaustrophobische Welt entworfen, wie sie typisch für die Nachkriegsdystopie orwellscher Prägung ist. Bei Jens trägt diese Welt allerdings auch deutlich allegorische, ›kafkaeske‹ Züge.122 Dass die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis etwa zum Ende der 1960er-Jahre tatsächlich eine Boomphase der Dystopie darstellt, lässt sich neben den bereits genannten, bis heute bekannten Romanen an weiteren markanten Werken dieser Zeit aufzeigen. Innerhalb weniger Jahre werden mit Minority Report (Philip K. Dick, 1956), Atlas Shrugged (Ayn Rand, 1957) und A Clockwork Orange (Anthony Burgess, 1962) drei weitere epochemachende, englischsprachige Texte publiziert. Arno Schmidt veröffentlicht 1957 mit Die Gelehrtenrepublik zudem eine bedeutende deutschsprachige Dystopie. Thematisch und bezüglich der narrativen Schemata bleiben dabei die von Huxley vorgeformten und von Orwell, Vonnegut und Bradbury weiterentwickelten Ansätze als Ausgangspunkte bestehen, doch setzt daneben jeder der genannten Texte eigene innovative Akzente, wie etwa durch die Entwicklung eines eigenen, futuristischen Soziolekts bei Burgess. Dies gilt auch für den etwas später erschienenen Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? (Philip K. Dick, 1968, später verfilmt als Blade Runner). Fazit zum ›narrativen Profil‹123 der traditionellen Dystopie124 Nach einem unvermittelten Einstieg (medias in res), der den veränderten Alltag in der Zukunftswelt zeigt, wird eine durchschnittliche, in der Regel männliche Figur als positive Identifikationsfigur aufgebaut; sie besitzt aufgrund ihrer beruflichen oder sonstigen Tätigkeit häufig tieferen, aber keinen vollständigen Einblick in die Mechanismen und Ideologien des herrschenden Systems. Zugleich verfügt sie über eine besondere Begabung oder Emotionalität, die ihr ein völliges Aufgehen im meist kollektivistischen Staat letztlich unmöglich und sie somit zum Außenseiter macht. Dennoch steht diese Figur dem Staat bzw. dem System anfangs eher positiv oder zumindest neutral gegenüber, ehe sie schließlich 122 Alfred Kubins dystopischer Roman Die andere Seite (1909) ist daher hier als ein wichtiger Prätext zu nennen. 123 Unter einem ›narrativen Profil‹ wird hier ein Set an Konventionen und Herangehensweisen verstanden, das zwar weder fest noch verbindlich, aber dennoch bei der Produktion und Rezeption von Dystopien intersubjektiv wirksam ist. Die Existenz eines solchen Sets erklärt die zahlreichen strukturellen und thematischen Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Dystopien. Die folgende Darstellung bezieht sich auf den Entwicklungsstand der Gattung bis ca. zum Jahr 1990 und wird nach den Analysen der neuesten Texte auf ihre Aktualität hin überprüft werden (vgl. hierzu Kap. 5). 124 Die folgende Beschreibung des typischen Handlungsschemas baut auf Zeißlers Darstellung auf; vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 29–30.

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Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

nolens volens in einen Konflikt mit den Prinzipien des Staates gerät. Auslöser hierfür ist entweder, dass wesentliche Teile ihrer Persönlichkeit im kollektivistischen System unbefriedigt bleiben oder dass ein kritischer Reflexionsprozess bezüglich der Legitimität des herrschenden Systems einsetzt, der durch ein besonderes Ereignis initiiert werden kann. In der Folge entfernt sich der Protagonist immer weiter vom herrschenden System und der meist utopisch scheinende Staat zeigt an dieser Figur nun exemplarisch sein wahres, dystopisches Gesicht. Der Staatsapparat versucht, das kritisch-widerständige Individuum unschädlich zu machen. Durch die angestrebte emotionale Identifikation der Leser:innen mit dem Protagonisten (nur selten der Protagonistin) sollen während dieses Prozesses auch die Rezipient:innen in eine Gegnerschaft zum Staat und seinen Handlungsmaximen gebracht werden. Auf der Handlungsebene tritt unterdessen die Haupt- und Identifikationsfigur in eine Phase des Widerstands ein, die nicht selten mit einer Liebesgeschichte verbunden ist. Sexualität stellt häufig ein zentrales Element dar, das das Aufgehen der Individuen ins Kollektiv des Gemeinwesens verhindert. Der ideelle Höhepunkt ist dann üblicherweise ein Gespräch der Hauptfigur mit einem hierarchisch hochstehenden Vertreter des Staates, der in diesem Gespräch die wahre Herrschaftsideologie offenlegt. Spätestens hier wird vollständig erkennbar, welche Tendenzen der realen Welt durch den fiktiven Welt- und Staatsentwurf kritisiert werden. Letztlich scheitert der Widerstandsversuch der Hauptfigur und es kommt entweder zu ihrer Vernichtung oder ihrer Zwangsintegration, meist in Form einer Umerziehung. Dieses Schema beschreibt die prototypische Handlungsstruktur einer ›traditionellen‹ Dystopie. Es dürfte jedoch kaum eine einzelne Dystopie geben – bei weitem auch nicht Nineteen Eighty-Four – die vollständig und ausschließlich nach diesem Schema aufgebaut wäre. Gleichwohl handelt es sich hierbei um die Folie an Gattungskonventionen, vor deren Hintergrund die zeitgenössischen Dystopien rezipiert werden.

3.3

Brache während der sog. ›Postmoderne‹

Auch in den 1970er- und 1980er-Jahren entsteht eine gewaltige, kaum zu überblickende Menge an Dystopien. Sie bleiben in ihrer Bedeutung jedoch hinter jenen der Nachkriegsepoche zurück und zwar sowohl hinsichtlich der zeitgenössischen Wahrnehmung als auch aus heutiger Perspektive. Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale von 1985 ist mit Abstand die bekannteste Dystopie im engeren Sinne, die in diesen gesamten zwanzig Jahren erscheint. Abgesehen davon gibt es jenseits der Jugendliteratur in dieser Phase kaum nennenswerte Dystopien.

Brache während der sog. ›Postmoderne‹

65

Es liegt nahe, diese abflauende gesellschaftliche Relevanz der Gattung dem kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch – hin zur sogenannten ›Postmoderne‹ – und dem damit einhergehenden Zurückweichen politisch-ernsten Engagements zugunsten selbstreflexiven und ironischen Erzählens125 zuzuschreiben. Dystopien zeichnen sich (zumindest vor 1990) geradezu mit Selbstverständlichkeit durch politisches Engagement aus, eine (selbst-)ironische Erzählhaltung steht dagegen prinzipiell in einem gewissen Widerspruch zu dieser ernsten Haltung. So gesehen muss die Dystopie geradezu zwangsläufig mit einer Zeittendenz in Konflikt geraten, in deren Zentrum die Betonung der Relativität verschiedener Anschauungen und eine spielerische Kunstkonzeption steht.126 Auch der in Mode gekommene, starke Einsatz intertextueller Zitate liegt den Dystopien fern.127 Die großen Trends der Zeit scheinen in diesen Jahrzehnten also zu der maßgeblich in der Nachkriegszeit geprägten Gattung nicht mehr recht zu passen, im Unterschied etwa zum historischen Roman, der in seiner postmodernen Neuausrichtung wie gemacht scheint für ironisches und intertextuelles Erzählen und in dieser Phase eine erstaunliche Blüte erlebt.128 Auch die zwischenzeitlich geringere Eskalationsgefahr des Kalten Kriegs nach Überwindung der Kuba-Krise dürfte einen wesentlichen Einfluss auf die geringere gesellschaftliche Relevanz von Dystopien gehabt haben. Zudem hat die Mondlandung 1969 den Fokus innerhalb der Zukunftsnarrationen eher auf die Science-Fiction gelenkt, auch wenn diese Texte häufig auch dystopische Elemente enthalten.129 Beispielhaft sei hier Ursula K. Le Guins Klassiker The Dispossessed von 1974 genannt. Gleichwohl soll die Bezeichnung ›Brache‹ darauf hinweisen, dass die Gattung auch in dieser Phase wichtige Anregungen erhält, die dann ab 1990 verstärkt zutage treten. Während der folgenden, zweiten Boomphase kommen spezifische Verfahren der Postmoderne in den Dystopien mit einer gewissen Verzögerung zum Einsatz (vgl. 3.4). Auch wenn die 1970er- und 1980er-Jahre mit einer geringeren gesellschaftlichen Relevanz der Dystopien einhergehen, hat die Gattung letztlich also doch von diesen Jahren profitiert. Unter Umständen wäre die ganze zweite Boomphase ohne diese Impulse nicht möglich gewesen (vgl. Kap. 5).

125 Vgl. Schilling, Der historische Roman seit der Postmoderne, S. 35–36 und S. 40–42. 126 Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 60. 127 Dystopien sind zwar in der Regel stark durch Vorgängertexte innerhalb der Gattung beeinflusst, allerdings erfolgen diese Bezugnahmen meist implizit und auf konzeptioneller Ebene, nicht in Form eines Spiels mit Zitaten und Verweisen. 128 Vgl. Schilling, Der historische Roman seit der Postmoderne, insbesondere S. 42. 129 Hier zeigt sich eine interessante Parallele zur Gegenwart, in der die nun wieder boomenden Dystopien utopisches Denken in sich aufnehmen. Es scheint daher so, dass Utopien und Dystopien als eigenständige Gattungen zwar je nach Zeittendenz weitgehend von der Bildfläche verschwinden können, dass sich utopisches und dystopisches Denken dann aber über verwandte Gattungen Bahn bricht.

66

Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

Thematisch werden in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem sogenannte ›Ökodystopien‹ üblich, die vor einer irreversiblen Zerstörung der Umwelt warnen (z. B. Ecodeath von William Watkins und Gene Snyder, 1972; auch dieser Text tendiert jedoch teilweise in Richtung Science-Fiction). Auch kann im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur von einer Brache keine Rede sein, die Dystopie entwickelt sich dort gerade in dieser Zeit zu einer bei Produzent:innen und Rezipient:innen äußerst beliebten Gattung. Abgesehen davon ist jedoch ab ca. 1970 eine deutlich geringere Bedeutung der Dystopien zu konstatieren. Ein Ende dieser Phase zeichnet sich ab ca. 1995 ab.

3.4

Die Dystopie nach 1990 (Forschungsstand)

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der politische Umbruch um das Jahr 1990 eine tiefe Zäsur in der Geschichte der Dystopie darstellt (vgl. Kap. 1). Die Zeit danach wird in der vorliegenden Arbeit als die ›Gegenwart‹ der Gattung und somit als ihr eigentlicher Untersuchungsgegenstand betrachtet. Zweifellos hat jedoch vor allem die etwas später einsetzende Re-Politisierung in der Literatur (bzw. allgemein in der Kunst) um die Jahrtausendwende130 entscheidend dazu beigetragen, dass die Gattung in dieser jüngsten Phase von größerem gesellschaftlichen Interesse ist als in der durch spielerische und ironische Ansätze geprägten Phase zuvor. In diesem Abschnitt wird aufgezeigt, wie die Geschichte der Dystopie nach 1990 bislang in der Forschung behandelt und dargestellt wird. Dieser letzte Teil der überblicksartigen Darstellung der Gattungsgeschichte ist somit zugleich der Forschungsstand, wie ihn diese Untersuchung der Gegenwartsdystopie vorfindet.131 Auf Basis der Ergebnisse der Einzelanalysen wird die Geschichte der Gattung für die Zeit nach 1990 dann in Kapitel 5 aktualisiert und fortgeschrieben. Allen voran fünf Monographien haben sich bereits mit der Dystopie nach 1990 befasst: Gregory Claeys’ umfassendes Werk Dystopia. A Natural History (2016), dazu die vier Dissertationsschriften von Elena Zeißler (Dunkle Welten, 2008), Susanna Layh (Finstere neue Welten, 2014), Amr Aboelsoud (Neoliberale Dystopien in der deutschen und ägyptischen Gegenwartsliteratur, 2020) und Annika Gonnermann (Absent Rebels, 2021).132 Claeys ist aktuell zweifellos der einflussreichste Dystopie-Forscher, sein Ansatz ist jedoch ein dezidiert interdisziplinärer, der Politikwissenschaft, ge130 Vgl. Wagner, Aufklärer der Gegenwart, S. 52–61. 131 Der Forschungsstand zur Theorie der Dystopie im Allgemeinen wurde bereits in Kapitel 2 referiert. 132 Eine jeweils vollständige bibliographische Angabe findet sich im Literaturverzeichnis.

Die Dystopie nach 1990 (Forschungsstand)

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schichtswissenschaftliche Ideengeschichte, Kulturwissenschaft und Literaturwissenschaft verbindet. Mit einem entsprechend breiten Interesse blickt er auf die literarischen Dystopien. Die Jahre zwischen 1950 bis 2015 fasst er als die jüngste Zeit zusammen und bleibt somit bei einer überblickshaften Darstellung stehen.133 Als große Themen dieser Zeitspanne nennt er das Atomzeitalter, die Umweltproblematik, Mechanisierung, den Terrorismus und den Krieg gegen den Terrorismus, sowie einen kulturellen Verfall im Sinne einer Versklavung der Bevölkerung »to a mindless ethos of hedonistic consumption«.134 Claeys’ Erforschung der jüngeren Dystopie kann aufgrund seines sehr weiten Bezugsrahmens – gewissermaßen von Orwell bis Houellebecq – nur der erste Anhaltspunkt einer detaillierteren Analyse sein. Claeys’ Natural History ist für die vorliegende Arbeit somit nur bezüglich der Frühphase der Gattung von größerer Bedeutung. Hinzu kommen die erheblich unterschiedlichen Auffassungen zwischen Claeys’ und der vorliegenden Arbeit bezüglich der Theorie der Dystopie (vgl. Kap. 2). Anders als Claeys setzt sich Zeißler das enger gefasste Ziel, eine Untersuchung der »Dystopie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert« vorzulegen.135 Zeißlers Verdienst ist es, die Öffnung der Gattung für ›postmoderne‹ narrative Strategien erstmals anhand einiger Beispiele detailliert aufgezeigt zu haben. So konstatiert sie einen offeneren Umgang der Gegenwartsdystopie mit den gattungsinternen Konventionen und hergebrachten Handlungsschemata.136 Teilweise kämen nun auch mehrere Erzählstränge in dystopischen Romanen vor, außerdem integrierten diese nun gelegentlich andere Romantypen, wie den Entwicklungsroman, innerhalb der dystopischen Gesamtkonstruktion.137 Sie stellt fest: Die neue Vielschichtigkeit und Komplexität der Romane befreit den Leser von den zweidimensionalen Deutungskategorien (der klar definierbare totalitäre Staat als Täter vs. den Protagonisten als Opfer) der klassischen Dystopie.138

Zudem erkennt sie »einen besonders spielerischen Umgang der Autoren mit dem Genre«, allerdings bei einem nach wie vor »hohe[n] Gattungsbewußtsein«.139 Gerade thematisch sieht sie keinen großen Bruch mit den Prototypen der Gattung, allenfalls gäbe es Modifikationen und kleinere Verschiebungen: Zeißler sieht eine neue »Passivität der Bürger« und »Globalisierungsprobleme«140 stärker repräsentiert als zuvor, sowie einen Übergang von offener staatlicher Gewalt in 133 134 135 136 137 138 139 140

Claeys, Dystopia, S. 448–496. Claeys, Dystopia, S. 447. So der Untertitel ihrer Monographie. Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 217. Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 217. Zeißler, Dunkle Welten, S. 217. Zeißler, Dunkle Welten, S. 219. Beide Aspekte bei Zeißler, Dunkle Welten, S. 223.

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Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

verstecktere, sublimere Formen der Machtausübung und Kontrolle141. Für diese letzteren gäbe es jedoch auch unter den älteren Dystopien zahlreiche Beispiele, etwa Brave New World. Alleine schon aufgrund des relativ frühen Erscheinungsjahrs, 2008, steht Zeißler allerdings aus heutiger Perspektive nur eine begrenzte Auswahl an relevanten Texten als Untersuchungsbasis zur Verfügung. Verschärft wird dieser Umstand durch ihre Einschränkung auf Texte aus dem britischen Commonwealth. In Zeiten eines globalen Kulturaustausches erscheint dieser Ansatz fragwürdig, zumal dadurch nicht einmal der englischsprachige Bereich insgesamt in den Blick genommen werden kann. Auch nimmt Zeißler auf konzeptioneller Ebene noch keine Differenzierung zwischen Dystopien und Anti-Utopien vor, ebenso wie eine Unterscheidung zwischen allegorisch-dystopischen und extrapolierenden Dystopien bei der Korpusbildung unterbleibt. So ist vor allem der von Zeißler konstatierte Wandel, wonach nur noch selten, nämlich in zwei der sieben von ihr analysierten dystopischen Romanen, »auf die Technik der Extrapolation zurück [gegriffen wird]«,142 kritisch zu betrachten. Autor:innen von Anti-Utopien/›Dystopien‹ würden, so Zeißler, »ihre imaginären Gesellschaften in allegorische Parallelräume [verlagern], die eine beliebige Verfremdung der Gegenwart erlauben«, um das satirische Potential der Gattung besonders intensiv ausschöpfen zu können.143 Da jedoch auch Zeißler ihre Untersuchung aufgrund der zur Gattung gehörenden Textfülle nicht empirisch stützen kann, stellt sich die Frage, ob die von ihr konstatierte Verlagerung vom extrapolierenden zum allegorischen Ansatz nicht einfach nur auf ihre Textauswahl144 zurückzuführen ist. Bedeutende dystopische Parallelräume in diesem Sinne gibt es immerhin bereits seit Animal Farm bzw. noch deutlich früher – haben Anzahl und Relevanz solcher Ansätze in den letzten Jahrzehnten wirklich zugenommen? Aufgrund dieser heuristischen Unsicherheiten wird in dieser Arbeit ein so großer Wert auf die begriffliche Unterscheidung zwischen dystopischen Texten im Allgemeinen, Dystopien im engeren Sinne und Anti-Utopien gelegt (vgl. Kap. 2). Nur innerhalb der Dystopien im engeren Sinne, denen sämtlich ein extrapolierender Ansatz zugrunde liegt, und im Bewusstsein, es mit einer längst nicht mehr vollständig zu überblickenden Textmasse zu tun zu haben, versucht die vorliegende Arbeit, Aussagen über signifikante Verschiebungen herauszuarbeiten. 141 142 143 144

Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 219. Zeißler, Dunkle Welten, S. 224. Zeißler, Dunkle Welten, S. 225. Zeißler untersucht in ihrer Arbeit: The Bray House (Éilís Ní Dhuibhne, 1990), Black Rainbow (Albert Wendt, 1992), The Unusual Life of Tristan Smith (Peter Carey, 1994), Music, in a Foreign Language (Andrew Crumey, 1994), The Plato Papers (Peter Ackroyd, 1999), Kys (Tatjana Tolstaja, 2000) und Oryx and Crake (Margaret Atwood, 2003).

Die Dystopie nach 1990 (Forschungsstand)

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Neuer und hinsichtlich der zentralen Konzepte der Gattung relevanter als Zeißlers Publikation ist Susanna Layhs Monographie Finstere neue Welten von 2014; Layh unterscheidet darin bereits zwischen Dystopien und Anti-Utopien.145 Ausgehend von Zeißlers Erkenntnissen zur Beeinflussung der Gattung durch die Postmoderne geht es Layh nun primär um die sogenannte ›kritische Dystopie‹, also um die Aufnahme utopischer Elemente in einzelne Dystopien. Sie zeigt anhand einiger Beispiele auf, dass der Abschied vom literarischen Utopismus insofern verfrüht war, als utopisches Denken durch die Integration in das ehemals entgegengesetzte Gattung der Dystopien bis heute existiert, wenn auch in veränderter Form.146 Diese ›kritischen Dystopien‹ präsentiert sie als bislang letzte Evolutionsstufe der Gattung und ist damit ganz im Einklang mit der internationalen Forschung um den Dystopieforscher Tom Moylan.147 Allerdings kommt die vorliegende Arbeit zu ganz anderen Analyseergebnissen wie Layh, wie sich insbesondere anhand einer Überschneidung im Textkorpus, nämlich bei Juli Zehs Roman Corpus Delicti, zeigt. Diesen Text interpretiert Layh als eher konventionelle Dystopie, die weniger innovativ sei als etwa Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale von 1985.148 Wie die vorliegende Arbeit argumentieren wird, entgehen Layh hier und auch bei ihren sonstigen Analysen wesentliche Aspekte, anhand derer sich die spezifische Innovativität der Gegenwartsdystopie – nicht zuletzt im Vergleich zu The Handmaid’s Tale – zeigt. Amr Aboelsoud erweitert den in der Regel rein westlichen Blick auf die utopisch-dystopische Gattung und setzt sich vergleichend mit Gegenwartsdystopien aus Deutschland und Ägypten auseinander. Während die vorliegende Arbeit bewusst auf eine intensive Einbeziehung der übermächtigen Utopieforschung verzichtet (vgl. hierzu Gliederungspunkt 2.2), stellt Aboelsoud gängige Konzepte der Utopieforschung ausführlich dar und macht sie zur Folie, vor deren Hintergrund die Dystopien der Gegenwart (auch) analysiert werden.149 Was die Konzeption der Dystopie selbst angeht, übernimmt Aboelsoud zentrale Konzepte (insbesondere von Moylan und Layh) mit allenfalls leichten Modifikationen.150 Die sonstigen Überschneidungen zwischen Aboelsouds und dieser Arbeit sind gering, was auch an der völlig unterschiedlichen Zusammensetzung der jeweiligen Textkorpora liegt. Was die inhaltlichen Aspekte der Gegenwartsdystopie im Vergleich zur traditionellen Dystopie angeht, so besteht die größte Nähe der vorliegenden Arbeit 145 146 147 148 149 150

Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 27. Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 25. Vgl. Moylan, Utopia Method Vision, S. 14. Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 173–174. Vgl. Aboelsoud, Neoliberale Dystopien, S. 14–30 und S. 52–58. Vgl. Aboelsoud, Neoliberale Dystopien, S. 65–93.

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Geschichte und Profil der Dystopie; Forschungsstand

sicherlich zu Annika Gonnermanns Dissertationsschrift Absent Rebels: Criticism and Network Power in 21st Century Dystopian Fiction, erschienen 2021. Unter anderem vor dem Hintergrund von Netzwerk-Theorien untersucht Gonnermann fünf zeitgenössische Dystopien und zeigt dabei überzeugend und sehr detailliert auf, wie wenig die Dystopie der Gegenwart noch als ein klassischer ›Staatsroman‹ betrachtet werden kann, der sich primär mit der Gefahr eines staatlichen Totalitarismus auseinandersetzt.151 Stattdessen arbeitet Gonnermann vor allem die Kritik der untersuchten Texte am Kapitalismus und an einer Gegenwartskultur heraus, in der die breite Bevölkerungsmasse nicht mehr nur die Negativität der dystopischen Verhältnisse erdulden muss, sondern diese Negativität erst aus der Mitte dieser Bevölkerungsmehrheit hervorgeht.152 Bezüge zwischen Gonnermanns und dieser Arbeit werden insbesondere bei Gliederungspunkt 5 detailliert deutlich gemacht; dabei werden hinsichtlich der Inhalte und Themen von zeitgenössischen Dystopien teilweise auch erhebliche Differenzen zutage treten. So konnte Gonnermann in den fünf von ihr untersuchten Texten153 beispielsweise keinerlei Ansatz erkennen, mögliche Alternativen zum aktuell vorherrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu entwickeln.154 Die konzeptionelle Arbeit am Begriff »Dystopie« bleibt bei Gonnermann neben der Fokussierung auf inhaltliche Aspekte unterkomplex,155 sodass diesbezüglich noch immer Layhs Publikation den wichtigsten Referenzpunkt dieser Arbeit bildet. Die Dystopie scheint sich also während ihrer letzten, aktuellen Entwicklungsphase seit 1990 inhaltlich markant verändert zu haben. Klassische Konfliktlinien der Gattung scheinen an Bedeutung verloren, gänzlich neue an Bedeutung gewonnen zu haben. So steht staatliche Totalität offenbar nicht mehr als zentrale Gefährdung im Mittelpunkt der Gattung. Die bisherigen Untersuchungen zur Gegenwartsdystopie deuten auch darauf hin, dass sich ihre narrativen Mittel grundlegend gewandelt haben. Gleichzeitig sind wesentliche Punkte dieses inhaltlichen und erzählerischen Umbruchs noch umstritten und oft erst 151 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 18–19. 152 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 302. 153 The Circle (Dave Eggers), The Heart Goes Last (Margaret Atwood), Feed (M. T. Anderson), Cloud Atlas (David Mitchell), Never Let Me Go (Kazuo Ishiguro). 154 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 303. 155 So setzt sich Gonnermann etwa nur in einer Fußnote mit der Frage auseinander, ob die in der Vergangenheit situierte Handlung von Never Let Me Go ebenfalls als Dystopie betrachtet werden kann. Laut Gonnermann sei dies unproblematisch, da sich die extrapolierende Distanz, die die Dystopien der Gegenwart überbrücken, in der Regel ohnehin auf einige wenige Jahre zusammengezogen habe; eigentlich sei die Frage der Extrapolation ohnehin nicht mehr relevant und so könne natürlich auch die Alternativgeschichte Never Let Me Go als Dystopie betrachtet werden (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 258, FN 194). Vgl. kontrastierend die Überlegungen bei Gliederungspunkt 2.3 in dieser Arbeit.

Die Dystopie nach 1990 (Forschungsstand)

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schemenhaft erkennbar. Konzeptionell unterschiedliche Ansätze und völlig unterschiedliche Korpus-Bildungen erschweren zusätzlich die Vergleichbarkeit der jeweiligen Forschungsergebnisse. Dies ist die wissenschaftliche Ausgangslage, wie sie diese Untersuchung der Gegenwartsdystopie vorfindet.

4.

Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

Die nachfolgenden Analysen differieren nicht nur in ihrer Länge, sie verfügen auch über jeweils individuelle Binnengliederungen. Eine gemeinsame Struktur ist aber bis zu einem gewissen Grad dennoch vorhanden. Der erste Abschnitt hat stets eine einführende Funktion und referiert zudem kurz die Forschungslage. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den Grundzügen des dystopischen Weltentwurfs und der Romanhandlung. Der jeweils letzte Abschnitt fasst schließlich als Fazit die Ergebnisse thesenartig zusammen. Jeder Analyse ist zudem ein kurzes Zitat – aus dem Text, über den Text oder aus dem thematischen Zusammenhang – als Motto vorangestellt.

4.1

Block I: Die Dystopie in ›postutopischer Zeit‹

Ohne Zweifel ist utopisches Denken156 in der westlichen Welt auch nach dem weltpolitischen Umbruch um 1990 und dem Anbruch des neuen Jahrtausends noch zu finden.157 Man begegnet Formen von Utopismus im Bio-Markt und im Apple-Shop, auf Straßendemos und in Internetforen. Unzweifelhaft ist jedoch auch, dass die Bedeutung, die utopischen Ideen als Grundlage gesellschaftlich 156 Als ›Utopie‹ wird hier, ebenso wie in Sargents gängiger Definition (vgl. 2.2), die Imagination eines – im Vergleich zum Status quo – positiven gesellschaftlichen Gegenmodells bezeichnet. Was Sargents Definition jedoch noch hinzuzufügen ist, ist der Aspekt des Unkonventionellen: Das ›Utopische‹ geht über die Grenzen des gängigen Diskursstandes bzw. einer ohnehin erwartbaren Entwicklung hinaus. Als ›utopisch‹ wird hier also ein besonders ausgeprägtes, auf ein Ideal hin ausgerichtetes ›Möglichkeitsdenken‹ verstanden. Als Nomen bezeichnet ›eine Utopie‹ eher ein abgeschlossenes Gesellschaftssystem, während das Adjektiv ›utopisch‹ in seiner neutralen, nicht-pejorativen Verwendung auch ein neues, unkonventionelles Element innerhalb eines bestehenden Systems bezeichnen kann (z. B. bei einem ›utopischen Gedanken‹). 157 Eine richtungsweisende Auseinandersetzung mit Ausprägung und Relevanz der Utopie nach 1990 findet sich in: Rolf Eickelpasch u. Armin Nassehi (Hg.): Utopie und Moderne. Frankfurt a. M. 1996.

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

wirksamer Leitvorstellungen jahrhundertelang zukam, zumindest im Westen mittlerweile massiv geschwunden ist. Der Utopismus äußert sich heute kaum noch in Form ›großer Erzählungen‹,158 in denen Modelle von Gesellschaften entworfen werden, die auf positive Weise »zur Ruhe gekommen[…]«159 sind, sondern er beschränkt sich überwiegend darauf, impulshaft einige utopische Elemente zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs beizusteuern. Diese veränderte, weitaus bescheidenere Rolle des Utopischen geht auf geistesgeschichtlicher Ebene auf Entideologisierungsprozesse während der sog. ›Postmoderne‹ zurück,160 auf politischer Ebene auf den desillusionierenden Untergang des realexistierenden Sozialismus. Utopisches Denken lebt also auch im neuen Jahrtausend fort, doch hat es – vor allem im Vergleich zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – an gesamtgesellschaftlicher Bindungskraft verloren und sich zunehmend partikularisiert.161 Der Utopismus ist nicht verschwunden, aber er ist häufig zu einer Privatangelegenheit geworden.162 In diesem Sinne behält Jürgen Habermas recht, der bereits 1985, also schon einige Jahre vor der Epochenzäsur um 1990, eine Aufzehrung »utopische[r] Energien« in den westlichen Gesellschaften diagnostiziert hat.163 Die von Joachim Fest 1991 ausgelöste, intensive Debatte164 über Zustand und Stellenwert der Utopie krankte am Fehlen einer solchen Differenzierung zwischen der Existenz und der Bedeutung utopischen Denkens. So leitete die utopiekritische Seite um Fest aus der geschwundenen gesellschaftlichen Bedeutung ein generelles Verschwinden der Utopien ab, während die Gegenseite165 weiterhin auffindbares utopisches Denken als Argument für eine weiterhin große Wirk158 Im Original »grand narratives«. Erstmals entfaltet in Jean-Franςois Lyotard: La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979. Lyotard verwendet den Begriff bekanntlich v. a. in Bezug auf Geschichtskonzeptionen, die in der sog. ›Postmoderne‹ einer Ideologiekritik unterzogen werden. Seine Diagnose vom Ende der ›großen Erzählungen‹ passt jedoch auch auf utopische Konzeptionen, da auch sie als Universaltheorien verstanden werden können und aus ideologiekritischer Perspektive Vorbehalte hervorrufen. 159 So die treffende Formulierung in CD 11. 160 Vgl. z. B. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 1–8. Welsch betrachtet die Postmoderne als »Verfassung radikaler Pluralität« (ebd., S. 4). Utopien, die abgeschlossene Idealzustände ganzer Gesellschaften imaginieren, geraten mit dieser Pluralität zwangsläufig in Konflikt. 161 Dickel, Enhancement-Utopien, S. 16–17. 162 Insofern zielt Klaus Kufeld am Entscheidenden vorbei, wenn er konstatiert: »Die Utopie fängt [heute] vor der eigenen Haustür an« (Kufeld, Zeit für Utopie, S. 22). Vielmehr hört sie heute oft vor der eigenen Haustür (oder bald danach) auf. 163 Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 143. 164 Entscheidend geprägt wurde die Debatte von Fests essayistischer Publikation: Joachim Fest: Der zerstörte Traum: vom Ende des utopischen Zeitalters. Berlin 1991. Für eine historische Einordnung vgl. Saage, Politische Utopien, S. 12–13. 165 Vgl. z. B. Johano Strasser: Leben ohne Utopie? Essay zur aktuellen deutschen Situation. Frankfurt a. M. 1990.

Block I: Die Dystopie in ›postutopischer Zeit‹

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mächtigkeit bzw. Notwendigkeit desselben anführte.166 Beide Positionen sind wenig überzeugend. Wenn im Folgenden von der Gegenwart als einer ›postutopischen Zeit‹ die Rede ist, dann ist dies so zu verstehen, dass zwar eine erheblich geringere gesellschaftliche Bedeutung von Utopien konstatiert wird, ohne deswegen jedoch die Existenz utopischen Denkens an sich anzuzweifeln (daher ›postutopisch‹ im Folgenden immer in einschränkenden Anführungszeichen). Die Implikationen dieser veränderten Rolle des Utopischen sind mit Blick auf die Dystopie immens. Ginge die Gattung tatsächlich in einem Anti-Utopismus vollständig auf (wie es die noch heute teilweise gebräuchliche Bezeichnung der Dystopien als ›Anti-Utopien‹ nahelegt, vgl. 2.2), so müssten neben den Utopien auch die Dystopien an gesellschaftlicher Bedeutung verloren haben, da die Relevanz von Anti-Utopien sekundär ist und eine Relevanz der Utopien voraussetzt. Der gegenwärtige Boom der Dystopie steht jedoch in auffälligem Kontrast zu diesem eigentlich zu erwartenden abflauenden Interesse. Vor allem anhand des ersten Textblocks wird sich zeigen, dass Dystopien eben nicht nur als Anti-Utopien einsetzbar sind, sondern auch dazu, um die spezifischen Gefahrenpotentiale ›postutopischer‹ und (scheinbar) entideologisierter167 Gesellschaften erkennbar zu machen. Statt vor Utopien warnt die Dystopie heute also auch vor Utopielosigkeit. Auf diese Weise wird die gesellschaftliche Relevanz der Dystopie nicht nur von der Bedeutung der Utopie entkoppelt und über eine tiefe gesellschaftliche Zäsur hinweg gerettet, sondern in diesem Zuge sogar noch ausgeweitet. Dieser Wandel von anti-utopischen Dystopien hin zu Dystopien in ›postutopischer Zeit‹ führt gleichzeitig zu einem Aufbrechen des konventionellen Handlungsschemas, wie die nachfolgenden Analysen aufzeigen werden.

4.1.1 Infinite Jest (David Foster Wallace, 1996): Die USA auf der Therapeutencouch […] [M]ake no mistake that Infinite Jest is something other. That is, it bears little resemblance to anything before it, and comparisons to anything since are desperate and hollow. […] It defied categorization and thwarted efforts to take it apart and explain it. It’s possible, with most contemporary novels, for astute readers, if they are wont, to break it down into its parts, to take it apart as one would a car or Ikea shelving unit. […] But this is not possible with Infinite Jest. This book is like a spaceship with no recog166 Diese Argumentation findet man auch heute noch bei Verfechtern utopischen Denkens, vgl. etwa Kneer, Notwendigkeit der Utopie, S. 51–57. 167 Als Ideologie sei hier eine unhinterfragbare Leitidee verstanden, also eine Grundüberzeugung, die so internalisiert ist, dass sie von Anhängern dieser Ideologie nicht mehr einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Eine Ideologie kann bei Individuen, innerhalb bestimmter Gruppen oder bezüglich ganzer Gesellschaften offen oder verdeckt/unbewusst auftreten.

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

nizable components, no rivets or bolts, no entry points, no way to take it apart. It is very shiny, and it has no discernible flaws. If you could somehow smash it into smaller pieces, there would certainly be no way to put it back together again. It simply is. Dave Eggers168

4.1.1.1 Forschungsstand sowie Ansätze und Thesen der vorliegenden Analyse Dystopien gehören der dystopischen Gattung für gewöhnlich vollumfänglich an. Untersuchungen von We, Brave New World oder Nineteen Eighty-Four, die nicht auf die dystopischen Elemente der jeweiligen Romane eingingen, würden zwangsläufig an deren Kern vorbeigehen und könnten allenfalls Randphänomene beleuchten. Infinite Jest dagegen ist zwar auch eine Dystopie (was es noch zu zeigen gilt), könnte daneben aber beispielsweise auch als Adoleszenzroman oder Generationenroman bezeichnet werden.169 Bereits hier zeigen sich die besondere Vielschichtigkeit des Textes und eine bemerkenswerte Abweichung, wenn man den Roman vor dem Hintergrund der Dystopie-Tradition betrachtet. Tatsächlich sind es gerade diese anderen Bereiche, die bei der wissenschaftlichen Erschließung von Infinite Jest bislang im Vordergrund stehen. Der Ansatz, den Text hier einmal dezidiert als Dystopie zu analysieren, soll daher sowohl der ›Dystopieforschung‹, wie auch der Infinite-Jest-Forschung neue Impulse geben. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht bislang die ›New-Sincerity‹-Debatte, in deren Rahmen überzeugend aufgezeigt werden konnte, dass Infinite Jest stellenweise mit postmodern-ironischen Erzählformen bricht und als eines der ersten literarischen Werke eine Rückkehr zu Ernst und Authentizität explizit und vehement einfordert (vgl. 4.1.1.6).170 Auch wurde Infinite Jest als ›psychologischer Roman‹ deutlich intensiver erforscht denn als dystopischer Roman.171 Aufgrund der Unterschiede zu Dystopien orwellscher Prägung wird dem Roman teilweise sogar die Zugehörigkeit zur Gattung der Dystopie abgesprochen: Andrew Warren etwa bezeichnet den Text als »near-future, genre defying novel«.172 Demgegenüber soll im Folgenden gezeigt werden, dass Infinite Jest größtenteils der Arbeitsdefinition einer Dystopie im engeren Sinne entspricht 168 Vorwort zu Infinite Jest (IJ viii–ix). Kursivierungen im Original. 169 Laut der Welt hielte der US-amerikanische Schriftsteller Don DeLillo »alles und noch mehr« für eine passende Überschrift des Romans; vgl. den Artikel von Arne Willander mit dem Titel Alles und viel mehr vom 19. 02. 2019. Online abrufbar unter: https://www.welt.de/welt_p rint/kultur/literatur/article4330208/Alles-und-viel-mehr.html (letzter Abruf am 19.02. 2019). Das gleiche Zitat findet sich auch im Vorspann der deutschen Übersetzung des Romans, erschienen 2009 bei Kiepenheuer & Witsch. 170 Am ausführlichsten bei Nicole Timmer; vgl. Timmer, Do You Feel It Too?, S. 121–180. Vgl. außerdem Boswell, Understanding David Foster Wallace, S. 1. 171 Vgl. etwa Boswell, Understanding David Foster Wallace, insbesondere S. 128. 172 Warren, Modeling Community, S. 66.

Block I: Die Dystopie in ›postutopischer Zeit‹

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und dass sich bei einer vergleichenden Betrachtung Roman und Gattungsgeschichte gegenseitig erhellen. Dazu werden im zweiten Abschnitt die Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs skizziert. Im Zuge dessen wird zugleich diskutiert, inwieweit der Roman mit der Arbeitsdefinition von Dystopien im engeren Sinne kompatibel ist und wie er sich zu früheren Texten der Gattung in Beziehung setzt. Der dritte Abschnitt beschäftigt sich dann mit den im Roman eingesetzten narrativen Mitteln und beschreibt diese als über weite Strecken typisch ›postmodern‹. Infinite Jest weist somit Merkmale einer ›postmodernen Dystopie‹ im Sinne Zeißlers auf. Es erfolgt viertens eine Auseinandersetzung mit der politischen Landschaft jener Zukunfts-USA, die im Text entworfen wird. Dabei zeigt sich einerseits zwar eine typisch dystopische Schieflage des Staates, andererseits ist mit Blick auf die Gattungsgeschichte höchst signifikant, dass das Einflussverhältnis zwischen Staat und Individuum nun komplexer konzipiert ist als in den traditionellen Dystopien. In Infinite Jest zwingt kein korrumpierter Staat seine Bürger durch Repressionen in eine Untertanenrolle, sondern die staatliche Schieflage wird als Folge einer noch viel umfassenderen, gesamtgesellschaftlichen Dekadenz dargestellt, die sich von den einzelnen Individuen her – also nun gewissermaßen von unten nach oben – ausbreitet. Der fünfte Abschnitt ist der Kern der vorliegenden Analyse. Aufbauend auf den Überlegungen im vierten Abschnitt wird hier die These vertreten, dass der Roman die tiefere, gemeinsame Ursache dieses sich vielfältig äußernden Verfallsprozesses in einer Orientierungs- und Sinnkrise sieht. Eine fehlgeschlagene Sinnsuche ist es, die zu jener fehlenden Resilienz der Romanfiguren gegenüber zerstörerischen Versuchungen führt, die den Text leitmotivisch durchzieht. Der Roman verzichtet hier stellenweise auf eine parodistische bzw. ironische Erzählhaltung und gibt sich damit letztlich doch als ernster und engagierter ›Warnroman‹ zu erkennen: Gelingt der US-amerikanischen Gesellschaft keine Schaffung von Sinnangeboten mehr, die für die Individuen überzeugend und attraktiv sind, droht dem Roman zufolge ein Niedergang der Individuen und ein kompletter Zerfall des Gemeinwesens. Sechstens wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich der Roman nicht nur als Warnung, sondern auch als mögliches Heilmittel gegen die von ihm diagnostizierten Gefährdungen versteht. Im Zuge dessen wird auch aufgezeigt, dass der Roman stellenweise offensiv für eine Rückkehr zu Ernst und Authentizität wirbt. Siebtens bündelt ein Fazit die Ergebnisse und ordnet den Roman in die Geschichte der Gattung ein.

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

4.1.1.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Die ausufernde und verschachtelte Handlung des Romans zerfällt in mehrere Hauptstränge, deren Berührungspunkte erst zum Ende hin erkennbar werden. Ein Großteil der Handlung ist in oder nahe der US-amerikanischen Stadt Boston im Jahr 2009 angesiedelt (im Roman als Year of the Depend Adult Undergarment bezeichnet, abgekürzt Y.D.A.U.).173 Einer der Erzählstränge handelt von Geschehnissen in der Enfield Tennis Academy (E.T.A.). Hal Incandenza ist dabei die zentrale Figur. Hals Vater, James, ein ehemaliger Sportler, Optikforscher und Filmkünstler, hat das Tennisinternat gegründet, bevor er sich einige Jahre später das Leben genommen hat. Hals Mutter, Avril, leitet das Internat nach dem Tod ihres Mannes zusammen mit ihrem Vertrauten aus Kindestagen, Charles Tavis. Hal ist im Year of the Depend Adult Undergarment der einzige von drei Incandenza-Brüdern, der an der E.T.A. noch schulische und sportliche Ausbildung erhält, da Orin, der älteste der Brüder, mittlerweile sehr erfolgreich American Football spielt und Mario, der mittlere, aufgrund der Spätfolgen einer extremen Frühgeburtlichkeit stark beeinträchtigt ist. Hal und seine aus gleichaltrigen Internatsschülern bestehende Clique führen ein Leben zwischen Ehrgeiz, Leistungsdruck und Drogenproblemen. Der zweite Hauptstrang ist auf eine therapeutische Wohngruppe für Drogenentzugspatienten unweit des Tennisinternats ausgerichtet. Hierbei liegt der Fokus auf Don Gately, einem ehemaligen Betäubungsmittelabhängigen und Kriminellen, der inzwischen ein engagierter Mitarbeiter der Einrichtung ist. Der Roman zeigt Sucht und Entzug in den unterschiedlichsten Ausprägungen. Als ein Bewohner der Wohngruppe rückfällig und im Drogenrausch von Bewaffneten bedroht wird, greift Don selbstlos ein und bekommt einen Schuss in die Schulter ab. In der Folge stellt der Roman seinen extrem schmerzhaften Heilungsprozess unter Ablehnung aller Betäubungsmittel dar. Im Hintergrund dieser beiden Handlungsstränge scheint eine komplett veränderte politische Lage durch: Die USA, Kanada und Mexiko formen die Organization of North American Nations (O.N.A.N.), in der die USA die führende Rolle einnehmen. Kanada und Mexiko sind nicht nur in dieses Bündnis gedrängt worden, auch haben die USA einen großen, hoch toxischen Landstrich im Gebiet New Englands an Kanada abgetreten, zu dessen Annahme das wehrlose Land faktisch gezwungen wurde. Separatistische Gruppierungen innerhalb des fran173 In den fiktiven USA des Romans ist die herkömmliche Zeitzählung durch Produktnamen ersetzt worden; anhand von Verweisen auf frühere, zeitlich verortbare Ereignisse und dem Alter der Figuren zum Zeitpunkt der jeweiligen Handlung kann jedoch diese »Subsidized Time« des Romans mit der üblichen Zählung abgeglichen werden. Inkongruenzen dabei wurden vom Autor in der hier zugrunde liegenden 2. Auflage geglättet. Vgl. hierzu z. B. Burn, David Foster Wallace’s Infinite Jest, S. 33–39.

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kophonen Kanada betrachten diese außergewöhnlichen Umstände als Möglichkeit, die lange angestrebte Autonomie vom englischsprachigen Kanada zu erreichen und kämpfen für dieses Ziel teilweise militant. Dazu dient ihnen ein Film als Druckmittel, den James Incandenza in seinen letzten Lebenstagen produziert hat. Dieser Film mit dem Titel ›Infinite Jest‹ ist Katalysator der Handlung. Er löst durch neuartige optische Impulse so überwältigende Glücksgefühle bei den Rezipient:innen aus, dass die oder der Betreffende von diesem Moment an ausschließlich das Verlangen hat, den Film erneut zu sehen – so lange, bis der Tod durch Dehydration einsetzt. Untergruppen der Separatisten wollen diesen Film als Waffe einsetzen und fahnden daher, wie auch die Sicherheitsdienste der USA, mit Hochdruck nach der einzigen zur Vervielfältigung geeigneten Version. Die Jagd nach dieser »master cartridge« führt die verschiedenen Handlungsstränge zusammen. In einer der letzten Szenen dringen militante Separatisten in die Tennisakademie ein, um der »master cartridge« auf diese Weise näher zu kommen. Der episodenhaft zusammengesetzte Text beginnt mit der chronologisch betrachtet letzten Sequenz, ca. ein Jahr nach der Haupthandlung, in der sich Hal um ein College-Stipendium bewirbt, dabei aber völlig unfähig ist, mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren, ohne dass der Grund hierfür genannt würde. Im Roman sind zahlreiche Andeutungen verstreut, die es scheinbar ermöglichen, aus dem Gegebenen die ausgesparte Handlung zwischen der Haupthandlung und dieser Einstiegsszene zu rekonstruieren. Trotz intensiver Debatten hat sich hierzu jedoch weder in der literaturwissenschaftlichen Forschung, noch in den Internet-Fanblogs zum Roman bereits ein Konsens herauskristallisiert, sodass fraglich ist, ob die Hinweise im Text hierzu wirklich ausreichend sind.174 Gleiches gilt für Spekulationen, wie die Handlung nach der Einstiegssequenz weitergehen könnte. Das Ende des Romans Infinite Jest ist also auf ganz besondere Weise ein offenes. Basale Kriterien der Arbeitsdefinition erfüllt der Text unzweifelhaft: Die Haupthandlung ist in der Zukunft angesiedelt, es liegt eine klare Fokussierung auf das US-amerikanische Gemeinwesen vor und die dargestellte Welt ist im Vergleich zu den realen Verhältnissen des Intervalls I negativ markiert. Der letzte Aspekt bedarf aber einer Erläuterung, da einzelne Sequenzen des Romans mitten im 20. Jahrhundert – also in einem Intervall 0 – spielen und bereits hier das Bild zerrütteter Individuen und Familien gezeichnet wird. Auch die Zeit weit vor seiner eigenen Entstehungsphase lässt der Text also bereits düster erscheinen. Es zeigt sich in Infinite Jest aber trotzdem eine nochmals deutliche Intensivierung der gesellschaftlichen Probleme in der fiktiven Zukunftswelt, die somit dysto174 Vgl. z. B. Carlisle, Elegant complexity, S. 484–485.

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pisch wird. Diese Verschärfung einer noch näher zu bestimmenden Krise lässt sich schon an den im Roman porträtierten Charakteren erahnen. Fast alle Figuren des Intervalls III sind von (Substanz-) Abhängigkeiten betroffen, sodass Suchtmittel das Leitmotiv des gesamten Textes darstellen. Dass dieser Umstand nicht alleine der Fokussierung des Romans auf zwei ohnehin anfällige Gruppen (den Entzugspatienten der therapeutischen Wohngruppe und die dem Drill des Tennisinternats unterworfenen Jugendlichen) geschuldet ist, lässt sich an mehreren Stellen des Textes aufzeigen: But so some E.T.A.s […] are involved with recreational substances […]. Like who isn’t, at some life-stage, in the U.S.A. […] in these troubled times, for the most part. (IJ 53, eigene Hervorhebung) Four times per annum, in these chemically troubled times, the Organization of North American Nations Tennis Association’s Juniors Division sends a young toxicologist […] to collect urine samples […]. (IJ 151, eigene Hervorhebung)

Solche Hinweise, dass sich die Zukunftsvision des Romans von einer ebenfalls als problematisch dargestellten Vergangenheit noch einmal negativ abhebt, finden sich auch in Bezug auf die Bostoner Polizei, die aufgrund eben dieser »troubled times« alle Hände voll zu tun habe (IJ 476). Hinzu kommen die grotesken politischen Verhältnisse, in denen das Bizarre zum Normalen und der Ausnahmezum Dauerzustand geworden sind. Die negativen Aspekte innerhalb der Intervalle 0 und III sind dabei eng aufeinander bezogen. Während des Intervalls III bricht verstärkt etwas aus, das aus Sicht des Romans bereits länger unter der Oberfläche gärt (vgl. hierzu die Abschnitte 4 und 5). Der Roman extrapoliert somit ebenso wie traditionelle Dystopien aus bestimmten gesellschaftlichen Trends ein negatives Zukunftsszenario, woraus sich eine Reflexion über den soziopolitischen Zustand des realen Gemeinwesens ergeben soll. Ursache und Wirkung sind hier jedoch viel schwieriger zu fassen als bei anderen Dystopien wie etwa The Circle, wo ein heute als zu sorglos kritisierter Umgang mit digitalen Medien quasi linear zur Herrschaft eines gigantischen Digitalkonzerns in der Zukunft führt (vgl. 4.2.2). Infinite Jest erfüllt somit die Kriterien der Arbeitsdefinition, wenn auch unter teilweise außergewöhnlichen Prämissen. Auch über ein intertextuelles Zitat reiht sich der Roman explizit in die Gattungstradition ein. Als Hals Bruder Orin, der unter einer Kakerlaken-Phobie leidet, in einer der letzten Szenen des Buches verhört und durch Kontakt mit den Schabentieren gefoltert wird, ruft er unvermittelt »Do it to her! Do it to her!« (IJ 972, Hervorhebung im Text). Er wiederholt damit fast genau die Worte Winston Smiths, als dieser am Ende von Nineteen Eighty-Four mit Ratten gefoltert wird und dabei seine Geliebte Julia

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verrät.175 Dieser intertextuelle Bezug wirkt umso stärker, als in der Szene bei Infinite Jest gar nicht deutlich wird, auf welche weibliche Figur sich Orin überhaupt bezieht, sodass der eigentliche Zweck der Stelle tatsächlich im Gattungsbezug zu sehen ist.176 Im Text wird also auf die Verbindung zu früheren Dystopien explizit hingewiesen. Auch der in der Tennisakademie stattfindende körperliche Drill ist bereits in traditionellen Dystopien ein zentraler Topos. Während aber die Individuen in den früheren Texten hierzu von einem totalitären Staat gezwungen werden mussten – man denke nur an Winston Smiths äußerst schmerzhafte morgendliche Turnübungen (NE 34–39) – unterwerfen sich die Individuen in Infinite Jest freiwillig diesem an Foucaults Surveiller et punir gemahnenden Drill, bzw. setzen ihre Kinder diesem freiwillig aus. Der Roman greift hier also auf die Gattungstradition zurück und geht zugleich über sie hinaus: Nichts fürchteten die liberalen USA im 20. Jahrhundert mehr als die Vorstellung eines totalitär-dystopischen Zwangsstaats – und nun bricht in Infinite Jest dieser Zwang aus den USAmerikanern selbst hervor, sie verordnen sich und ihren Kindern den unmenschlichen Drill aus eigenem Antrieb heraus. Überspitzt könnte man sagen, die Gesellschaft dort braucht keinen zentralen Big Brother mehr, da die jeweiligen Individuen diesen nun in sich tragen. Wie in älteren Dystopien ist der dystopische Körper auch hier nicht der kränkliche und schwache, sondern gerade der überfitte, übernatürliche Körper:177 [Hal in einem von Marios Filmen:] See the Academy dining hall, where tennis balls sit beside every plate. Squeeze the ball rhythmically month after year until you feel it no more than your heart squeezing blood and your right forearm is three times the size of your left and your arm looks from across the court like a gorilla’s arm or a stevedore’s arm pasted on the body of a child. (IJ 173)

Trotz der im Roman auch beschriebenen Schönheiten des Tennissports kulminieren somit bei diesem kompetitiven Einzelsport diverse dystopische Elemente des Romans: ›We’re all on each other’s food chain. All of us. It’s an individual sport. Welcome to the meaning of individual. We’re each deeply alone here. It’s what we all have in common, this aloneness.‹ ›E Unibus Pluram,‹ Ingersoll muses. (IJ 112)

175 Dort heißt es: »Do it to Julia! Do it to Julia! Not me! Julia!« (NE 287). 176 Das vermeintliche schweizerische Handmodel, Luria Perec, scheidet wohl aus, da sie es ja gerade ist, die Orin in diese Situation gebracht hat. 177 Vgl. Russel, Some Assembly Required, S. 148.

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Stellenweise geht der umfangreiche und vielfältige Roman allerdings über die Grenzen einer Dystopie im engeren Sinne hinaus. Dies beginnt schon bei James Incandenzas Film ›Infinite Jest‹ und seiner geradezu phantastischen Wirkung auf die Rezipient:innen. Daneben finden sich im Text auch einzelne Elemente einer Alternativhistorie bzw. einer phantastischen Parallelwelt;178 diese Elemente bleiben insgesamt jedoch eher Hintergrunddetails des ausufernden Textes und stehen bei der Rezeption des Romans nicht im Vordergrund. Eine Ausnahme stellt der Geist des verstorbenen James Incandenza dar, der am Tennisinternat herumspukt und der Don Gately in dessen Fieberträumen im Krankenhaus erscheint, obwohl sich die beiden zuvor nie gesehen haben. Der Roman wird aber trotz dieser einzelnen phantastischen Elemente nicht zu einem phantastischen Text. Letztlich legt auch der Text selbst eine Interpretation nahe, in der die phantastischen Elemente eher als kuriose Randphänomene betrachtet werden: The wraith-figure smiled apologetically and shrugged […]. There was an odd quality to its movements in the dream […]. Then Gately considered that who knew what was necessary or normal for a self-proclaimed generic wraith in a pain-and-fever dream. Then he considered that this was the only dream he could recall where even in the dream he knew that it was a dream, much less lay there considering the fact that he was considering the up-front dream quality of the dream he was dreaming. It quickly got so multilevelled and confusing that his eyes rolled back in his head. The wraith made a weary morose gesture as if not wanting to bother to get into any sort of confusing dream-v.-real controversies. (IJ 829–830, eigene Hervorhebung)

Es ergibt sich somit ein komplexer, spielerisch-testender Umgang des Romans mit den Grenzen der Gattung: Erstens schreibt sich Infinite Jest durch das überwiegend extrapolierende Verfahren und die intertextuellen Verweise in den Gattungskontext ein, zweitens überschreitet er aber durch phantastische Elemente dessen Grenzen an einigen Stellen und spielt drittens diese Überschreitungen dann sofort wieder herunter. 4.1.1.3 Postmoderne Einflüsse auf die narrative Gestaltung Auch die narrativen Mittel, mit denen der fiktive Weltentwurf entfaltet wird, sind im gattungsgeschichtlichen Vergleich ungewöhnlich. Es handelt sich bei Infinite Jest über weite Strecken um eine ›postmoderne Dystopie‹ im Sinne Zeißlers.179 Diese neuartigen Dystopien bringen Konzepte und Erzähltechniken, die als typisch für die Epoche der sog. ›Postmoderne‹ betrachtet werden (vgl. hierzu 3.4), in den Gattungskontext ein.

178 Vgl. Boswell, Understanding David Foster Wallace, S. 123–125. 179 Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 217.

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Bei Infinite Jest betrifft dies bereits die Länge des Romans mit über 1000 eng gesetzten Seiten und den ausufernden Endnotenapparat, für den der Roman berüchtigt ist.180 Zusammen mit den zahlreichen chronologischen Sprüngen und den ausgesparten Handlungsteilen werden so die Linearität des Erzählens und die ›Abgeschlossenheit‹ des dystopischen Weltentwurfs gesprengt. Mehr Raum als einige hundert Seiten sind bei älteren Dystopien in der Regel nicht nötig, um eine Variante des typischen Handlungsschemas (Aufbau einer positiven und exemplarischen Identifikationsfigur, erste Konflikte mit dem Staat, Ausbruch und Kampf, Scheitern) narrativ auszugestalten. Die Abkehr von diesem stringenten Schema lässt sich in Infinite Jest also bereits anhand der Seitenzahl erkennen. Die Einhaltung des narrativen Schemas orwellscher Prägung ist in Infinite Jest schon auf konzeptioneller Ebene ausgeschlossen. Eine weitere typisch ›postmoderne‹ Neuerung stellt die häufige Verbindung von Komik und Schrecken dar. Während in den älteren, prägenden Dystopien ganz überwiegend ein ernster Ton vorherrscht,181 kommt es in Infinite Jest immer wieder auch zu komischen Situationen, die den eigentlich düsteren und melancholischen Tenor unterbrechen (etwa bei IJ 177 oder IJ 196). Die gesamte, grundlegend veränderte politische Lage rund um das O.N.A.N.-Bündnis ist, wie bereits der abgekürzte Name des Bündnisses erahnen lässt, parodistisch-satirischer Natur. Zudem setzt der Roman verschiedene narrative Mittel ein, durch die die Informationen, die die Leser:innen über die entworfene Welt erhalten, unzuverlässig werden.182 Die politischen Gegebenheiten der fiktiven Welt etwa werden zu einem erheblichen Teil durch Mario Incandenzas filmische Marionettenparodie der O.N.A.N.-Verhandlungen wiedergegeben (IJ 380–386), sodass im Falle dieser Satire zweiter Ordnung183 unklar bleibt, welche der gegebenen Informationen auf diegetischer Ebene als wahr anzusehen sind. Unklar bleibt während der meisten Stellen des Romans auch die Rolle des Erzählers; oft scheint er homodiegetisch zu

180 Boswell beschreibt den Endnotenapparat als eine Art Verfremdungseffekt, als »metafictional device«, durch den sich der Roman als artifiziell erkennbar macht; vgl. Boswell, Understanding David Foster Wallace, S. 120. 181 Arno Schmidts Die Gelehrtenrepublik (1957) wäre zumindest für den deutschsprachigen Raum eine Ausnahme. 182 Vgl. Hayles, The Illusion of Autonomy, S. 686. 183 Da schon das ursprüngliche politische Setting des Romans eine Satire darstellt, wird Marios Marionettentheater zu einer Satire der Satire. Zur Frage, ob es sich dabei zudem um eine Anspielung auf Kleists Text Über das Marionettentheater handelt, siehe Dominik Steinhilber: The Perils of Self-Consciousness: Heinrich von Kleist’s »Über das Marionettentheater« in David Foster Wallace’s Infinite Jest. In: Critique Studies in Contemporary Fiction 58, Nr. 5 (2017), S. 548–557.

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sein, ohne jedoch personell klar bestimmbar zu werden (vgl. etwa IJ 964–971184). Eine solch unbestimmt-homodiegetische Erzählerposition ist zumindest potentiell unzuverlässig. Traditionellen Dystopien sind solche narrativen Spiele in der Regel fremd, da sie mit dem Wesen der Texte als ›Warnromane‹ zu kollidieren drohen. Auch der in Infinite Jest lediglich angedeutete, nicht auserzählte Schluss und der Hinweis im Roman, das Year of Glad (entspricht dem Jahr 2010) sei das »very last year of O.N.A.N.ite Subsidized Time« (IJ 1022, FN 114), sind bemerkenswert. Da die Ersetzung der Jahreszahlen durch Produktnamen für die Leser:innen das wiederkehrendste und markanteste Element der Zukunftsvision darstellt, wird in dieser Fußnote der Eindruck erweckt, die dystopische Vision löse sich am Ende der Narration gänzlich auf. Doch worin? Ist dies ein Wandel zum Besseren oder zum noch Schlimmeren? Und wieso wird dieser gesamte Fragenkomplex nur in einer leicht zu überlesenden Fußnote angedeutet? Der Roman lässt die Leser: innen im Unklaren, er ist in diesen zentralen Fragen nicht fassbar. Wo konventionelle Dystopien einen katastrophalen Endpunkt setzen und damit die Relevanz ihrer extrapolierenden Warnung unterstreichen, spielt dieser Roman mit den Leser:innen und enthebt sich hinsichtlich seines Endes jeden analytischen Zugriffs. Insgesamt bedient sich Infinite Jest also erzählerischer Mittel, mit denen prägende Dystopien im engeren Sinne noch nie erzählt wurden (zumindest nicht in dieser Intensität), weil sie dem gattungsspezifischen Warnpotential scheinbar entgegenstehen. Wie in diesem Roman dennoch ein extrapolierend-warnender Ansatz entwickelt wird und was dessen Inhalte sind, soll im nächsten Abschnitt aufgezeigt werden. Zuvor ist festzuhalten, dass der Roman, obwohl er als Musterbeispiel für die Überwindung einer postmodernen Erzählhaltung gilt,185 in seinem narrativen Verfahren noch massiv von der Postmoderne geprägt ist und dadurch zu einem selbstreflexiven und selbstironischen Text wird. Obwohl die Gegensätzlichkeit von Ironie und Ernsthaftigkeit das Konzept einer ›postmodernen Dystopie‹, wie Zeißler es beschreibt,186 scheinbar zur contradictio in adiecto werden lässt, handelt es sich bei Infinite Jest in vielerlei Hinsicht um eine solche.

184 Vgl. die Debatte über die entsprechende Szene in einer reddit-Gruppe zu Infinite Jest: https://www.reddit.com/r/InfiniteJest/comments/518nd4/the_final_scene_in_the_locker_r oom_whos_narrating/ (letzter Abruf 22. 08. 2019). 185 Vgl. Timmer, Do You Feel It Too?, S. 121–180. 186 Vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 217–226.

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4.1.1.4 Ein Organismus mit kranken Zellen – das Politische in Infinite Jest Aus gattungsgeschichtlicher Perspektive ebenfalls höchst markant ist die Umkehrung des Einflussverhältnisses zwischen Staat und Individuum im Roman. Während in traditionellen Dystopien üblicherweise ein korrumpiertes Staatsgefüge durch Überwachung und Repression extremen Anpassungsdruck auf das Individuum ausübt, erscheint in Infinite Jest die Schieflage auf staatlicher Ebene nur noch als die Folge einer psychosozialen Verderbnis der unzähligen Individuen, aus denen sich das Gemeinwesen zusammensetzt. Der offizielle Lenker des Staates, US-Präsident Johnny Gentle, und der faktische Entscheider, Rodney Tine, sind nicht wie in früheren Dystopien die Triebkräfte hinter der dystopischen Entwicklung. Während etwa bei Orwell die staatliche Führung hauptverantwortlich für den Umbau des Gemeinwesens ist, sind Gentle und Tine parodistische Witzfiguren, deren Erlangung von Macht nur das Symptom einer noch umfassenderen, gesamtgesellschaftlichen Krise ist. Die Wurzeln dieser Krise verortet der Roman mithilfe von Rückblenden tief im 20. Jahrhundert. Diese veränderte Art, das Zusammenspiel des Staates und seiner Teile zu denken, hat auch Auswirkungen auf die narrative Konzeption: Aus gattungsgeschichtlicher Perspektive fehlt in Infinite Jest auf eklatante Weise ein staatlicher Antiheld wie Mustapha Mond (Brave New World), O’Brien (Nineteen EightyFour), Captain Beatty (Fahrenheit 451) oder wie die »Commander« in The Handmaid’s Tale. Die Frage nach der Ursache der dystopischen Entwicklung stellt sich in Infinite Jest somit auf soziologisch komplexere Weise als in den typischen Dystopien des 20. Jahrhunderts. So entfällt zugleich die Rolle des rebellierenden Protagonisten. Die Hauptfiguren hier, Hal und Don, fechten zwar noch dramatische Kämpfe aus, ihr ›Gegner‹ ist jedoch ihr bisheriges persönliches Schicksal und ein schwer greifbarer, allgemeiner Zeitgeist, der im nächsten Abschnitt näher bestimmt werden soll. Was sie dagegen nicht mehr haben, ist ein personaler Feind, gegen den sie wütend die Faust erheben und den sie für ihre Probleme verantwortlich machen könnten. Auch die Bezeichnung ›Staatsroman‹, die man utopisch-dystopischen Texten häufig und mit Recht verliehen hat, passt auf Infinite Jest daher nur mehr bedingt. In prototypischen Dystopien etwa dient die Ebene, auf der sich die Handlung vollzieht, letztlich dazu, das wirkliche Wesen des Staatsapparates hinter seiner Fassade an einem konkreten Fall exemplarisch sichtbar zu machen. In Infinite Jest dagegen ist die staatliche Ebene eher der parodistische Hintergrund der individuellen Ebene; die Absurdität und Komik der politischen Sphäre wird sofort augenfällig. Erst allmählich lassen sich beide Ebenen als Teil eines umfassenderen, strukturellen Verfalls erkennen – und nur in dieser Hinsicht ist Infinite Jest noch ›Staatsroman‹.

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Das genuin Politische wird von Beginn an als Satire ausgewiesen: Präsident Gentle ist ein ehemaliger Schlagersänger (im Text wird er öfter als »Famous Crooner« bezeichnet, z. B. in IJ 283), dessen politische Agenda vor allem ein Resultat seiner Keimphobie ist. Der Leiter des einflussreichen U.S. Office of Unspecified Services, Rodney Tine, misst und notiert jeden Tag seine Penislänge (IJ 548). Die gewohnte Zeitzählung wurde zugunsten einer Bezeichnung der Jahre nach Werbeprodukten abgeschafft, die Freiheitsstatue trägt jedes Jahr das entsprechende Produkt, im Year of the Depend Adult Undergarment eine Windel für Erwachsene (IJ 33). In Zeiten wachsender Umweltprobleme wird aus dem früheren amerikanischen Imperialismus ein ›Experialismus‹ (IJ 58), da nun anderen Ländern toxischer Boden aufgezwungen wird; die vielsagende Abkürzung des neuen Bündnisses zwischen den USA, Kanada und Mexiko, O.N.A.N., spielt begrifflich (engl. ›onanism‹) auf diese ›experialistische‹ Herangehensweise an – »to send from yourself what you hope will not return« (IJ 176). Bei aller Satire aber scheinen stets die ernsten Implikationen dieses Gesellschaftsentwurfs, wie Konsumgetriebenheit und Umweltzerstörung, durch. Der Roman, dessen Entstehungszeit bis in die späten 1980er-Jahre reicht, spiegelt Erfahrungen des Kalten Krieges und insbesondere der Reagan-Präsidentschaft wider.187 Das O.N.A.N.-Bündnis stellt eine satirische Auseinandersetzung mit dem North American Free Trade Agreement (NAFTA) dar, das 1994 in Kraft trat und das durch den Roman implizit für seinen marktfreundlich-liberalen Geist kritisiert wird.188 Als soziopolitisches Hauptproblem der 1990er-Jahre ist jedoch der Wegfall der Sowjetunion als Kontrahent der USA zu betrachten.189 Der Kalte Krieg hat auch in Infinite Jest Spuren hinterlassen, wie sich etwa zeigt, wenn die Internatsschüler mit Tennisbällen Atomkrieg spielen (IJ 321–342). Vor allem stellt der Roman jedoch die Frage, ob den USA aus dem Ende des Kalten Krieges auch gesellschaftliche Probleme erwachsen können, mithin also, ob das Ende der Bedrohung durch die Sowjetunion intern zu neuen Bedrohungen führen kann. Es wird aufgrund der sich in dieser Zeit herauskristallisierenden Vormachtstellung der USA leicht übersehen, dass sich das Land von ca. 1917 bis 1990 durchgängig einem hohen Druck ausgesetzt sah: Auf den Ersten Weltkrieg folgte bald die Great Depression, die, kaum bewältigt, in den Zweiten Weltkrieg überging, der wiederum direkt in den Kalten Krieg mündete. Doch gerade weil diese Krisen für die USA so bedrohlich waren, entfalteten sie im Inneren eine einigende und, durch die sich ergebenden Aufgaben, eine sinnstiftende Wirkung. Nach der 187 Vgl. Severs, David Foster Wallace’s Balancing Books, S. 102–103. 188 Vgl. Severs, David Foster Wallace’s Balancing Books, S. 102–103. 189 Vgl. Fest, The Inverted Nuke, S. 131 und Severs, David Foster Wallace’s Balancing Books, S. 102–103.

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wirtschaftlichen Implosion des Ostblocks ab 1989 waren die USA dann die einzig noch verbliebene Weltmacht. Erstmals seit Beginn des 20. Jahrhunderts wirkte kein akuter Druck mehr auf die US-Gesellschaft – die dafür aber plötzlich von Orientierungslosigkeit bedroht war. Ohne dieses Problem im Hinterkopf zu haben, ist die enorme Rolle, die zum Beispiel Müll(vermeidung) in Infinite Jest spielt, nicht erklärbar. Präsident Gentle hat die Präsidentschaft als Spitzenkandidat der fiktiven Clean U.S. Party (C.U.S.P.) mit dem Slogan »For a Tighter, Tidier Nation« erreicht. Der Kampf gegen eine immer bedrohlichere Umweltsituation soll im fiktiven 21. Jahrhundert des Romans190 für die USA zu der einigenden Aufgabe werden, die der Kampf gegen soziales Elend, Faschismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert gewesen ist.191 Umweltverschmutzung wird von der C.U.S.P. daher als die neue Bedrohung inszeniert, die ein Zusammenhalten der Gesellschaft auch im neuen Jahrtausend erforderlich macht. Wie jedoch bereits die Reaktion der Zuschauer auf Marios Marionettenparodie zeigt, verfängt diese Strategie in weiten Teilen der Bevölkerung nicht (IJ 385) – es bleibt eine ideologische Lücke. Nur in diesem Sinne ist der Staat in dieser Dystopie noch für die missliche Lage seiner Individuen verantwortlich: Ihm gelingt nun keine überzeugende Schaffung einer gemeinschaftlichen Zielsetzung mehr. Der Staat stellt weiterhin die materiellen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens zur Verfügung, doch als ideeller Fixpunkt fällt er für die Individuen mehr und mehr aus. Jeder weiß zudem, dass diese Staatsagenda hohl und verlogen ist. Der fiktive Staat des Romans greift bei aller Umweltschutzpropaganda nämlich selbst auf eine neue, hoch problematische Form der Energiegewinnung zurück, die sog. »annular fusion«, eine Art Kernschmelzprozess, in dem die Abfallprodukte des ersten Energiegewinnungszyklus der Nährstoff für den nächsten Zyklus sind, wobei die Dimensionen und die toxischen Emissionen immer größer werden und auch immer mehr Ressourcen dem System von außen zugeführt werden müssen. Eine Katastrophe am Ende dieses rätselhaften, im Roman nur grob skizzierten Verfahrens scheint unabwendbar. »[T]reating cancer by giving the cancer cells themselves cancer« (IJ 572), so beschreibt eine Romanfigur den Prozess metaphorisch.192 Der dabei entstehende radioaktive Abfall hat bereits zur Verseuchung jenes Landstrichs in der Region von New England geführt, der schließlich an Kanada abgetreten worden ist und in den die USA weiterhin hoch toxischen Müll katapultieren (vgl. erneut die Anspielung auf Onanie). In der Grenzregion zum übrigen Kanada zeigen sich schwerste Belastungen für die Bevölkerung, 190 In der Realität hat dann bekanntlich der Kampf gegen den Terrorismus diese Funktion übernommen. 191 Vgl. Hayles, The Illusion of Autonomy, S. 685 und Peffer, City upon the Convexity, S. 222–229. 192 Vgl. Hayles, The Illusion of Autonomy, S. 685–688.

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insbesondere bei den Neugeborenen. Die USA können die Emissionen dagegen teilweise aus ihrem Territorium halten, indem sie riesige Ventilatoren an der Grenze des verseuchten Landstrichs positioniert haben, die einen kontinuierlichen Luftstrom nach Norden erzeugen. Bei aller Komik und Absurdität wird Infinite Jest durch diesen thematischen Zuschnitt auch zu einer frühen Umweltdystopie. Letztlich wird Umweltschutz in der dystopischen Welt aber nicht rational und substantiell, sondern ideologisch und oberflächlich betrieben. Es scheint für die Gesellschaft des Romans wichtiger zu sein, ein Problem zu haben als ein Problem zu lösen. Der Roman zeigt Umweltschutz somit als prinzipiell wichtige Aufgabe, die in den fiktiven USA jedoch nur ihres ideologischen Potentials wegen angegangen wird, um einem nun näher zu bestimmenden horror vacui zu entkommen. 4.1.1.5 Infinite Jest als Dekadenzroman Eine Leere, ein Defizit an Sinnstiftung und Orientierung, steht als tiefere Ursache hinter der gesellschaftlichen Schieflage in Infinite Jest. Verbindet man die vielen im Roman aufscheinenden dystopischen Einzelsymptome – grassierende Suchtprobleme, absurde politische Verhältnisse, familiärer Missbrauch –, so ergibt sich das Bild eines umfassenden gesellschaftlichen Niedergangs und Verfalls.193 Wie bereits angemerkt, liegt die Ursache für diese dystopischen Entwicklungen nicht primär auf der Ebene des Staates und seiner Vertreter, sondern in einer kollektiven psychischen Disposition der US-Amerikaner. Der Roman greift implizit Vorstellungen auf, die den Staat als Körper betrachten und zeigt eine Erkrankung der einzelnen Zellen, die so weit fortgeschritten ist, dass auch die politische Schaltzentrale als Ganze betroffen ist.194 Über eine Vielzahl von Porträts extremer Einzelfälle wird dieser ›Zellbefall‹ als allgemeines Phänomen erkennbar. Zugleich fördert der Extremfall als Grenzerfahrung das Allzumenschliche zutage, wie etwa beim Drogenentzug. ›Psychological Fiction‹ und Dystopie werden in Infinite Jest kausal miteinander verknüpft: Viele Darstellungen einzelner Störungsbilder ergeben insgesamt das überraschend homogene Bild einer in die Krise geratenen Gesellschaft. If, by the virtue of charity or the circumstance of desperation, you ever chance to spend a little time around a Substance-recovery halfway facility like Enfield MA’s state-funded Ennet House, you will acquire many exotic new facts. […] That females are capable of being just as vulgar about sexual and eliminatory functions as males. That over 60% of all persons arrested for drug- and alcohol-related offenses report being sexually abused as children, with two-thirds of the remaining 40% reporting that they cannot remember 193 Vgl. Warren, Modeling Community, S. 66 und Aubry, Reading as Therapy, S. 99–100. 194 Vgl. Russell, Some Assembly Required, S. 148.

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their childhoods in sufficient detail to report one way or the other on abuse. […] That a little-mentioned paradox of Substance addiction is: that once you are sufficiently enslaved by a Substance to need to quit the Substance in order to save your life, the enslaving Substance has become so deeply important to you that you will all but lose your mind when it is taken away from you. […] That you do not have to like a person in order to learn from him/her/it. […] That you can all of a sudden out of nowhere want to get high with your Substance so bad that you think you will surely die if you don’t, and but can just sit there with your hands writhing in your lap and face wet with craving, can want to get high but instead just sit there, wanting to but not, if that makes sense, and if you can gut it out and not hit the Substance during the craving the craving will eventually pass, it will go away – at least for a while. That it is statistically easier for low-IQ people to kick an addiction than it is for high-IQ people. […] (IJ 200–205, Kursivierung im Original)

Die zitierte Textstelle ist noch immer stark gekürzt. Insgesamt über einhundert solcher Einzelerkenntnisse werden genannt, wodurch die Passage in nuce verfährt wie der Roman als Ganzes: Die Leser:innen werden mit völlig disparaten Einzeleindrücken bzw. Einzelschicksalen konfrontiert, aus denen sich schließlich dennoch ein stimmiger Gesamteindruck ergibt. Humani nihil a me alienum puto könnte das Motto des Romans lauten, denn geradezu systematisch fördert er edles Streben und niedere Triebe, jämmerliche Schwäche und heroische Stärke zutage. Immer wieder wird dabei gezeigt, dass es einen stabilen Glauben (wenn auch nicht unbedingt an religiöse Inhalte) und einen starken Antrieb braucht, damit die positiven menschlichen Potentiale Tag für Tag die Oberhand über die negativen gewinnen können. Genau dies unterscheidet etwa den früheren, beruhigungsmittelabhängigen vom späteren, stabilen Don Gately. Hals Schicksal ist es dagegen, dass seine Suche nach einer solch Halt gebenden Orientierung den gesamten Roman über unbefriedigt bleibt. Und genau in diesem unbefriedigten Bedarf an Orientierung und an sinnvollen Zielen liegt das eigentliche Problem der vom Roman entworfenen Zukunfts-USA somit die tiefere Ursache der verschiedentlich sich äußernden Dekadenzsymptome der dystopischen Welt. Auf staatlicher wie auch auf individueller Ebene leiden die USA unter etwas, das mit den Worten des Romans als ›post-carrot-problem‹ bezeichnet werden könnte: It’s worth noting that, among younger E.T.A.s, the standard take on Dr. J. O. Incandenza’s suicide attributes his putting his head in the microwave to this kind of anhedonia. This is maybe because anhedonia’s often associated with the crises that afflict extremely goal-oriented people who reach a certain age having achieved all or more than all than they’d hoped for. The what-does-it-all-mean-type crisis of middleaged Americans. […] [S]till under the influence of the […] carrot-and-stick philosophies of their hometown coaches […], younger athletes who can’t help gauging their whole worth by their place in an ordinal ranking use the idea that achieving their goals and finding the gnawing sense of worthlessness still there in their own gut as a kind of

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psychic bogey […]. Deep down, they all still view the competitive carrot as the grail. They’re mostly small children, keep in mind. Listen to any sort of sub-16 exchange you hear in the bathroom or food line: ›Hey there, how are you?‹ ›Number eight this week, is how I am.‹ They all still worship the carrot. […] Deluded or not, it’s still a lucky way to live. Even though it’s temporary. (IJ 693, eigene Hervorhebungen)

Zumindest die jüngeren Internatsschüler haben also noch klar benennbare Ziele (sportlichen Erfolg), für die sprichwörtlich die Karotte steht, die dem Esel vor die Nase gehalten wird. Diesen Zielen verdanken sie ihren Antrieb und auch ihren »lucky way to live«, der jedoch zeitlich beschränkt ist. Früher oder später werden sie von einem Gefühl heimgesucht werden, das Hal im gleichen Kontext als »standard U.S. anhedonia« (IJ 694) bezeichnet, denn entweder sie müssen irgendwann einsehen, dass sie niemals wirklich erfolgreich werden oder sie werden tatsächlich erfolgreich – langfristig gerät die ›Karotte‹ entweder außer Reichweite oder kann tatsächlich geschnappt werden, aber in beiden Fällen wird sie als antriebs- und orientierungsspendendes Ziel verschwinden. Es ist daher nur eine Frage der Zeit, bis auch diese jungen Internatsschüler in eine fundamentale Krise schlittern, wenn sie nicht zuvor ein alternatives Sinnkonzept aufgebaut haben. Sie müssten also schnellstens lernen, sich von der Jagd nach der ›Karotte‹ zu emanzipieren, bevor diese auf die ein oder andere Weise verschwunden ist. In einer von postmoderner Ideologiekritik durchwirkten Lebenswelt (von der auch die Zukunftsgesellschaft des Romans noch durchdrungen ist, vgl. z. B. IJ 591) ist dies jedoch kein einfacher Prozess, fehlt doch jeder absolut gültige Orientierungspunkt. Hal und viele seiner Freunde haben das Karottenproblem bereits am Internat durchschaut (vgl. Hals abgeklärte Sicht auf die jungen Schüler oben), aber für dieses Problem selbst noch keine Lösung gefunden. In der Folge schwanken sie daher zwischen Leistungsbereitschaft und destruktiven Drogenexzessen hin und her. Eine markante Ausnahme stellt Hals Altersgenosse Ted Schacht dar, der verletzungsbedingt jede Hoffnung auf eine Tenniskarriere aufgegeben, gleichzeitig jedoch bereits erste Schritte im zahnärztlichen Bereich gemacht hat, dort zufrieden ist und somit eine ihn erfüllende Perspektive gefunden hat. Er verfügt über eine gesunde Resilienz gegenüber Drogen, die in starkem Kontrast zum Rest der Clique bzw. zum Rest der gesamten dystopischen Welt steht: »He’s one of these people who don’t need much, much less much more.« (IJ 268) Das Individuum in Infinite Jest ist also zwar materiell, nicht aber ideell ausreichend versorgt und damit in einer ganz ähnlichen Lage wie die USA als Ganzes, die nach dem Ende des Kalten Krieges erstmals jenen global unangreifbaren, alle Bereiche dominierenden Status erreicht haben und nun als zielloser Sieger zurückbleiben. Auf individueller wie auch auf nationaler Ebene zeigt sich Orientierungs- und Ziellosigkeit im Roman als fundamentale Krise, wobei sich die beiden Ebenen gegenseitig beeinflussen und verstärken. So ergibt

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sich im Roman ein Bild des Westens, dem im Zuge postmoderner Ideologiekritik die alten Sinnkonzepte abhanden gekommen sind, ohne mental für diesen Schritt schon gerüstet zu sein.195 Die Krisenphänomene in Infinite Jest bleiben aber nicht auf die Zukunftsvision beschränkt. Rückblenden bis in die 1930er-Jahre zeigen das generationenübergreifende Weitergeben problematischer Verhaltensweisen und Denkstrukturen beispielhaft an der männlichen Linie der Incandenza-Familie auf. Erst jedoch, als auch die USA insgesamt in einen ideologisch defizitären Zustand geraten sind, brechen diese Probleme vollends auf und werden von außen sichtbar (durch den Suizid seines Vaters und Hals Drogenprobleme). Das dystopische Moment besteht in Infinite Jest also vor allem darin, dass das Aufbrechen und Sichtbarwerden von Problemen imaginiert wird, die aus Sicht des Textes schon länger in der US-amerikanischen Gesellschaft latent vorhanden sind. Wenn es keine national erstrebenswerten Ziele mehr gibt, wenn keine Religion mehr Gültigkeit beanspruchen kann (vgl. z. B. IJ 592), wenn es auch ansonsten keine gemeinschaftlichen Utopien oder Leitvorstellungen mehr gibt, dann bleibt den Figuren des Romans als einziger Zielpunkt oft nur noch der ur-amerikanische pursuit of happiness, allerdings in einer hohlen, zum reinen Hedonismus verkommenen Form. Während auf staatlicher Ebene eine intakte Umwelt hysterisch zur neuen ›Karotte‹ stilisiert wird, bleibt den Individuen einzig das Streben nach mehr und mehr Lustgewinn als letztes Ziel (vgl. IJ 767). Ohne sonstiges Korrektiv gerät dieses letzte Streben aber natürlich sehr leicht außer Kontrolle. Um den hieraus resultierenden, schwierigen Kampf der Individuen gegen schädliche Verlockungen zu illustrieren, gibt es im Roman neben den üblichen Suchtmitteln, die mit medizinischer Präzision benannt und beschrieben werden, gleich mehrere ›Superdrogen‹. Neben dem Film ›Infinite Jest‹ gibt es das legendäre »incredibly potent DMZ« (IJ 170), dessen Einnahme für Hals dramatische Veränderung im Year of Glad verantwortlich sein könnte, und die absurd große Schönheit Joelle van Dynes (IJ 538). Neben einer allgemein stark geminderten Resilienz gegenüber Suchtmitteln ist in der Zukunftsgesellschaft außerdem ein wahrer Entertainment- und Kon195 Die philosophische Strömung, die den Roman am meisten geprägt hat, ist der Existenzialismus: According to this conception, an individual is not automatically a self, but hast to become one. […] Becoming a self is the task of human life: a human being has to integrate his individual limitations and possibilities into a unified existence […]. (Den Dulk, Good Faith and Sincerity, S. 200–201, Hervorhebung im Original). Mit dem oben ausgeführten Ansatz lässt sich dies fugenlos verbinden: Man wird nicht einfach als sinnerfüllter US-Bürger geboren; die Sinnaufladung erfolgt nicht pränatal, sondern postnatal. Nötig wäre hierfür ein sinnstiftendes Gemeinwesen, innerhalb dessen sich ein erfülltes Selbst und Selbstkonzept ausbilden könnte. Der Roman legt nahe, dass dieser Prozess nicht mehr zufriedenstellend funktioniert. Die Gründe hierfür sind die in der Analyse genannten.

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sumwahn erkennbar. Insofern ist der parodistische Kalender, der die übliche Zeitzählung durch ›Sponsorenjahre‹ ersetzt hat, auch von metaphorischer Bedeutung: Auf das mittlerweile überholte christliche Zeitalter folgt, mangels Alternative, eine Ära orientierungslosen Konsums. Es zeigt sich also bereits bei Infinite Jest (wie dann auch in CD, UN, MA oder AA) das typische Dilemma ›postutopischer‹ und postreligiöser Gesellschaften, in denen nach der Abschaffung möglichst aller ideologischen Leitvorstellungen schließlich auch das Fehlen solcher Leitideen problematisch wird: Someone taught that temples are for fanatics only and took away the temples and promised there was no need for temples. And now there is no shelter. […] And you all stumble about in the dark […]. The without-end pursuit of happiness of which someone let you forget the old things which made happiness possible. (IJ 319–320)

In den scheinbar postideologischen Zeiten von Infinite Jest werden in Wirklichkeit nur andere, neue Inhalte zum Kern von Ideologisierungsprozessen, nämlich Umweltschutz und der pursuit of happiness. Es ergibt sich durch diese Denkhaltung eine markante Parallele zu späteren Dystopien, vor allem zu Corpus Delicti.196 In Infinite Jest wird das Problem ersatzloser Abschaffungen besonders im Rahmen der Alcoholics-Anonymous-Treffen augenfällig, wenn sich aus rein therapeutischen Gründen unbedingt auch Atheisten und Agnostiker einer ›Höheren Macht‹ anvertrauen sollen: »[You will learn t]hat AA […]’s ›God‹ does not apparently require that you believe in Him/Her/It before He/She/It will help you.« (IJ 201) Dieser rein pragmatische Ansatz birgt natürlich nicht das Kraftpotential echten Glaubens in sich und ist dennoch für eine Vielzahl an Figuren des Romans ein letzter Versuch, metaphysischen Rückhalt in einer zunehmend areligiösen Gesellschaft zu finden. Die Ursachen, weshalb die Individuen in Infinite Jest vermehrt unter einer Orientierungs- und Sinnkrise leiden, sind nicht auf die USA beschränkt, sondern teilweise auf die übrigen westlichen Staaten übertragbar (vgl. IJ 472–473). Doch durch ihre spezielle kulturelle Vorprägung sind die USA in ziellosen Zeiten besonders anfällig für eine maßlose Aufwertung von Konsum und Entertainment, wie der frankokanadische Agent Rémy Marathe im Gespräch mit dem USAgenten Hugh Steeply aufzuzeigen versucht: [Marathe:] ›This is a U.S.A. production, this Entertainment cartridge. […] The appetite for the appeal of it: this also is U.S.A. The U.S.A. drive for spectation, which your culture teaches. This I was saying: this is why choosing is everything. […] now is what has happened when a people choose nothing over themselves to love, each one. […] can such a

196 Vgl. Corpus Delicti: »Es war übersehen worden, dass auf jede Abschaffung eine Neuschaffung folgen muss.« (CD 88)

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U.S.A. hope to survive for a much longer time? To survive as a nation of peoples? […]‹ […] [Steeply:] ›You’re saying that the administration wouldn’t even be concerned about the Entertainment [gemeint ist der Film ›Infinite Jest‹] if we didn’t know we were fatally weak. As in as a nation. You’re saying the fact that we’re worried speaks volumes about the nation itself.‹ […] [Marathe:] ›Us, we will force nothing on U.S.A. persons in their warm homes. We will only make available. Entertainment. There will be then some choosing, to partake or choose not to. […]‹ [Steeply:] ›[…] You people seem to want us dead. […] Not just secessions for Québec. […]‹ [Marathe:] ›Again you pass over what is important. […] You cannot kill what is already dead. […] What you call the death, the collapsing: this will be the formality only. […] Someone or some people among your own history sometime killed your U.S.A. nation already, Hugh.‹ (IJ 318–319, eigene Hervorhebungen)

Mit durch Konsum und Entertainment sedierten Individuen ist in der Tat kein Staat mehr zu machen. Die Dystopie entwirft das Bild einer Gesellschaft, das in manchen Aspekten Colin Crouchs etwas späteres Konzept der ›Post-Democracy‹ vorwegnimmt. Crouch schreibt: If we have only two concepts – democracy and non-democracy – we cannot take discussion about the health of democracy very far. The idea of post-democracy helps us describe situations when boredom, frustration and disillusion have settled in after a democratic moment; when powerful minority interests have become far more active than the mass of ordinary people in making the political system work for them; where political elites have learned to manage and manipulate popular demands; where people have to be persuaded to vote by top-down publicity campaigns.197

In Infinite Jest sind die USA zu einem Koloss auf tönernen Beinen geworden, zu einem Empire, dessen Zusammenbruch unter diesen Grundvoraussetzungen nur eine Frage der Zeit zu sein scheint. Parallelen zur Endphase des Römischen Reiches und der vielzitierten ›spätrömischen Dekadenz‹ drängen sich auf. Auch in den Zukunfts-USA von Infinite Jest wird heftig gefeiert. Die drogenbetäubte Stimmung, die dabei entsteht, erinnert teilweise an das Orgien feiernde Rom vor seinem Untergang. Doch noch in dieser Phase entsteht in Infinite Jest keine große, gemeinschaftliche Party – die gewaltigen, suchtmittelinduzierten Rauschzustände bleiben in der Regel einsame Ein-Personen-Veranstaltungen. Der Staatskörper löst sich mehr und mehr auf, er zerfällt in seine Millionen Einzelteile und die staatliche Losung lautet deswegen nun »E Unibus Pluram« (IJ 1007, FN 110).

197 Crouch, Post-Democracy, S. 19–20.

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»Someone or some people among your own history sometime killed your U.S.A. nation already, Hugh« (IJ 319), provoziert Marathe seinen ›Kollegen‹ Steeply. Auch wenn sich der Roman bei weitem nicht immer auf Marathes Positionen reduzieren lässt, so trifft der Kanadier hier den wunden Punkt. Die Zusammenschaltung von Vergangenheits- und Zukunftsperspektive durch den Text lässt in der Tat den Eindruck entstehen, der Verfallsprozess der USA habe längst begonnen und das dystopische Zukunftszenario imaginiere lediglich die plötzliche Sichtbarwerdung dieses Verfalls. Doch Infinite Jest wäre als rein defätistischer Text fehlinterpretiert. Er ist kein Abgesang auf, sondern eine Warnung an die USA des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Er ist politisch engagiert (vgl. hierzu auch den nächsten Abschnitt), wenn auch eher auf soziopolitischer denn auf partei- oder tagespolitischer Ebene. Auch im Fall von Infinite Jest impliziert diese engagiert-warnende Haltung, dass eine Abwendung der Katastrophe aus Sicht des Textes noch möglich sein muss, ansonsten liefen Warnung und Engagement zwangsläufig ins Leere. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich daher mit der Frage, ob der Roman eine Lösung für die von ihm aufgeworfenen Probleme anbietet. 4.1.1.6 Therapieversuche durch das ›failed entertainment‹? Aufgrund der Titelgebung wird immer wieder auf Parallelen zwischen dem Roman und dem in ihm vorkommenden Film ›Infinite Jest‹ verwiesen. Eine offenbar häufig überlesene Stelle aber legt einen anderen, gegenteiligen Schluss nahe: Steeply flicked some ashes from his cigarette […]. ›Also, does this quote »anti«-Entertainment the film’s director supposedly made to counter the lethality [des Films ›Infinite Jest‹]: does it really exist; this really could be some sort of game for you […], to hold out the promise of the anti-Entertainment as a chip for concessions. As some kind of remedy or antidote.‹ [Marathe:] ›Of this anti-film that antidotes the seduction of the Entertainment we have no evidence except craziness of rumors.‹ (IJ 126)

Um die Relevanz dieser Passage ganz verstehen zu können, ist es hilfreich, den ursprünglich angedachten Untertitel von Infinite Jest zu kennen: »A failed entertainment«.198 Parallelen bestehen in der Tat weniger zwischen dem Roman und der filmischen Superdroge als zwischen dem Roman und dem noch mysteriöseren, nur eventuell existierenden filmischen Heilmittel. Allein durch den ausufernden Endnotenapparat werden die Leser:innen vor große und mühselige Herausforderungen gestellt. Der Text spielt durch seine (über-)komplexe

198 Max, Every Love Story, S. 183.

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Struktur damit, als Unterhaltungswerk komplett zu versagen und sich nicht zur Befriedigung jener Entertainmentsucht, die er selbst diagnostiziert, zu eignen. Infinite Jest kann als eine Art Therapiesitzung einer ganzen Nation aufgefasst werden.199 Im Roman erscheinen eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Therapeutenfiguren und therapeutischer Situationen, die diesen Kontext bei den Leser:innen immer wieder wachrufen. Eine radikale Skepsis zeigt der Text dabei professionellen Therapieansätzen gegenüber, die insbesondere durch die Figur der Schulpsychologin Dolores Rusk lächerlich gemacht werden. Obwohl die meisten E.T.A.-Schüler:innen zweifellos Therapiebedarf hätten, suchen sie Rusk in der Regel genau ein einziges Mal freiwillig auf, danach nie wieder. Als Ersatz und faktischer Internatspsychologe erweist sich stattdessen der nominelle Leiter des Kraftraums, Lyle; seinetwegen bilden sich nachts vor dem Kraftraum oft regelrechte Schlangen. Während Rusk Begrifflichkeiten wie »Coatlicue Complex« (IJ 516) verwendet, die nicht nur den Betroffenen unklar und unnütz sind, sondern die auch im Endnotenapparat des Romans nur mit »No clue« (IJ 1036, FN 216) kommentiert werden,200 steht Lyle für einen unprofessionellen, aber hoch empathischen und ›authentischen‹ Ansatz: Lyle has a way of sucking on the insides of his cheeks as he listens. […] Like all good listeners, he has a way of attending that is at once intense and assuasive: the supplicant feels both nakedly revealed and sheltered, somehow, from all possible judgment. It’s like he’s working as hard as you. […] It’s not like he’s condescending or stringing you along. He’s thinking as hard as you. (IJ 388–389)

Als Roman versucht Infinite Jest für die Leser:innen und die USA das zu sein, was Lyle für die Schüler der Tennisakademie ist, soweit das Medium Buch mit seiner eingeschränkten Kommunikationsstruktur dies zulässt. Es wird ein Reflexionsraum geschaffen, in dem die Probleme einer Nation und ihrer Individuen ungeschminkt und in all ihrer gleichzeitigen Banalität und Komplexität zum Vorschein kommen – etwa in den vielen geschilderten Meetings der Alcoholics Anonymous (AA). Professionelle Therapeutenfiguren wie Rusk, die für abgehobenes (Zer-)Denken ohne Emotionalität stehen, werden vom Roman durch Ironisierung und Parodisierung lächerlich gemacht. In Anlehnung an Romanfiguren wie Lyle, Hals Bruder Mario und Don Gately, die sich alle durch eine besondere Ernsthaftigkeit und Empathie von ihrer Umgebung abheben, sucht der Roman an zentralen Stellen einen Weg aus den narrativen Mustern postmodern-ironischen Erzählens heraus:

199 Vgl. Aubry, Reading as therapy, S. 99. 200 Einmal mehr stellt sich hier die Frage nach der Erzählerposition des Romans (vgl. 4.1.1.3). Wer setzt die Endnoten? Wer hat »No clue«? Der Roman gibt hierauf keine Antwort.

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Gately’s found it’s got to be the truth, is the thing. He’s trying hard to really hear the speakers […] trying to concentrate on receiving the Message instead of brooding on that odd old dark moment of aphasiac terror with this veiled like psuedo-intellectualtype girl [sic] […]. The thing is it has to be the truth to really go over, here. It can’t be a calculated crowd-pleaser, and it has to be the truth unslanted, unfortified. And maximally unironic. An ironist in a Boston AA meeting is a witch in church. Irony-free zone. Same with sly disingenuous manipulative pseudo-sincerity. Sincerity with an ulterior motive is something these tough ravaged people know and fear, all of them trained to remember the coyly sincere, ironic, self-presenting fortifications they’d had to construct in order to carry on Out There, under the ceaseless neon bottle. (IJ 369, eigene Hervorhebungen) And across the little street […] is Ennet’s House [die Entzugseinrichtung nahe des Internats], where the Headmistress […] has twice invited Mario in during the day […], and Mario likes the place: […] the people cry in front of each other. The inside of it smells like an ashtray, but Mario’s felt good both times in Ennet’s House because it’s very real; people are crying and making noise and getting less unhappy, and once he heard somebody say God with a straight face and nobody looked at them or looked down or smiled in any sort of way where you could tell they were worried inside. (IJ 591, eigene Hervorhebungen)

Der Roman sympathisiert mit dieser scheinbar unzeitgemäßen Ernsthaftigkeit, die vor dem Hintergrund des gängigen postmodernen Ironisierens naiv und/ oder revolutionär erscheint. Bei allen ironischen und satirischen Elementen, die sich auch in Infinite Jest in Fülle finden (vgl. Abschnitt 3), ist der Tenor des Romans – wie auch seine Problemanalyse – dennoch ernst und warnend. Durch diese Hinwendung zu Ernsthaftigkeit, ›Authentizität‹ und Emotionalität, die den möglichen Vorwurf von Naivität in Kauf nimmt, ist der Roman zum Mitbegründer der ›New Sincerity‹201 genannten Strömung geworden.202 Der therapeutische Ansatz des Romans lässt sich auch in den thematischen Setzungen beobachten: Er fragt unzählige Male nach Kindheiten, Familiengeschichten und generationenübergreifenden Schwierigkeiten (besonders gehäuft bei IJ 792–809). Dabei wühlt er häufig Schreckliches auf. Im Text zeichnet sich so bis tief in das 20. Jahrhundert hinein ein strukturelles, kollektives Problem der US-Gesellschaft ab. Besonders bedeutsam ist hier erneut die Familiengeschichte der Incandenzas. In einer Rückblende bekommt James Incandenza von seinem Vater eine aufschlussreiche Geschichte erzählt. Bereits dieser Großvater Hals hat in seiner Jugend Tennis auf Wettkampfniveau gespielt, wofür sich dessen Vater – Hals Urgroßvater – aber nie interessiert hat. Eines Tages aber wohnt dieser

201 Vgl. zum Beispiel Kelly, David Foster Wallace and the New Sincerity, S. 131–136. 202 Ob es sich dabei nur um eine Strömung innerhalb der Postmoderne oder um eine Epochengrenze handelt, kann hier offen gelassen werden.

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plötzlich doch einem Match bei, weil Hals Großvater gegen den Sohn eines seiner Kunden spielt: He said I was good. My father’s client did. In that emphasized way that made his voice carry. You know, son? Good godfrey Incandenza old trout but that lad of yours is good. Unquote. I heard him say it as I ran and whacked and frolicked. And I heard the tall son of a bitch’s reply […]. Yes, But He’ll Never Be Great. […] I respected that man, Jim, is what’s sick, I knew he was there, I was conscious of his flat face and filter’s long shadow, I knew him, Jim. […] I’m … I’m just afraid of having a tombstone that says HERE LIES A PROMISING OLD MAN. It’s … potential may be worse than none, Jim. […] God I’m I’m so sorry. Jim. You don’t deserve to see me like this. I’m so scared, Jim. I’m so scared of dying without ever being really seen. (IJ 165–168, Kursivierungen und Großschreibungen im Original)

In dem Moment, in dem Hals Großvater den vernichtenden Kommentar seines Vaters hört, stürzt er und verletzt sich so schwer, dass er seine Tennis-Ambitionen für immer begraben muss. Was hier gezeigt wird, ist ein Trauma, das seit Generationen von Vater zu Sohn weitergegeben wird (wenn auch in jeweils veränderter Form). Die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und mit dem eigenen Selbst wird als Erwartungsdruck an die nächste Generation weitergegeben und führt damit wieder zu neuer Unzufriedenheit und dem permanenten Gefühl von Minderwertigkeit. Nach der oben geschilderten Enttäuschung und dem Ende all seiner persönlichen Ambitionen begann Hals Großvater irgendwann, seinem Sohn Tennistraining zu geben: […] [A] father who somewhere around the nadir of his professional fortunes apparently decided to go down to his Raid-sprayed basement workshop and build a promising junior athlete the way other fathers might restore vintage autos or build ships inside bottles […]. (IJ 63)

Empathielos und unreflektiert werden hier von Generation zu Generation ›toxische‹ Glaubenssätze weitertransportiert – wonach eben jeder nur so viel Wert ist, wie er leistet oder wonach eben der entsprechend viel leisten muss, der auch mit entsprechend viel Talent gesegnet ist. Es ist daher kein Wunder, dass schon Hals Großvater in der oben zitierten Passage sagt: »potential may be worse than none«. Dieser Gedanke hätte ebensogut auch von seinem hochbegabten Enkel Hal stammen können. Die männlichen Vertreter der Familie Incandenza stehen somit exemplarisch für ein hohles Leistungsethos, das sich mit dem Kapitalismus und Utilitarismus US-amerikanischer (bzw. allgemein westlicher) Prägung ungünstig verbindet. Die oben zitierte Erzählung von Hals Großvater führt die Leser:innen zurück bis ins Jahr 1933. Der Zukunftsroman Infinite Jest kommt somit in der histori-

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schen Epoche eines seiner zentralen Prätexte,203 Steinbecks The Grapes of Wrath (1939), an. Ein Gutteil dieses ›toxischen‹ Leistungsethos wird somit nicht nur als Erbstück der Familie Incandenza ausgewiesen, sondern indirekt auch als gesellschaftliches Erbe der Great Depression und der ökonomischen Kraftanstrengungen und Entbehrungen, die mit dieser Phase einhergingen. Im Gewand einer karnevalesken Satire versucht Infinite Jest aufzuzeigen, dass gesellschaftliche Probleme in den USA schon viel zu lange verdrängt werden. Metaphorisch steht hierfür der riesige Landstrich in New England, der während der Gentle-Administration als Deponie toxischen Abfalls fungiert (bzw. fungieren sollte) und der Kanada aufgezwungen wurde. Mit Hilfe riesiger Ventilatoren sollen die Luftströme so gelenkt werden, dass der Wind niemals von diesem Landstrich aus in Richtung der USA weht. Marathe macht Steeply in diesem Kontext allerdings auf einen misslichen Umstand aufmerksam: Fans do not begin to keep it all in the Great Convexity. It creeps back in. What goes around, it comes back around. This your nation refuses to learn. It will keep creeping back in. You cannot give away your filth and prevent all creepage, no? Filth by its very nature it is a thing that is creeping always back. (IJ 233)

Die USA treten also ganze verseuchte Landstriche ab, katapultieren ihren Müll dorthin, errichten riesige Ventilatoren – und werden ihre ›toxischen Probleme‹ doch nicht los. Als Ursprung des ebenso langlebigen, psychischen ›Mülls‹ führt der Roman auch jenseits der Incandenzas häufig dysfunktionale Familienverhältnisse an, die innerhalb des Tennisinternats besonders markant zum Vorschein kommen. Eltern geben ihre Kinder dorthin ab, um diese dort erziehen und drillen zu lassen, angeblich oft ohne dort bei der Übergabe ihre Autos ganz zu stoppen (IJ 519). Die räumliche Nähe des Internats für Kinder und Jugendliche zur Entzugseinrichtung für Erwachsene erscheint insofern auch metaphorisch passend und nicht nur aus Gründen der Romanhandlung notwendig. So wird Infinite Jest über weite Strecken zur schmerzlichen Suche nach individueller und nationaler ›sanity‹. Als Dystopie extrapoliert der Roman das großflächige Aufbrechen von gesellschaftlichen Schieflagen, die er bis in die 1930er-Jahre zurückverfolgt. Doch ermöglicht dieser groß angelegte Problemaufriss durch das ›failed entertainment‹ auch eine Heilung des nationalen Patienten? Lässt diese Dystopie erkennen, was passieren muss, damit das in ihr gezeichnete Szenario abgewendet werden kann? Klar ist, dass es aus Sicht des Textes neben einer überfälligen 203 Die beiden Romane teilen nicht nur einen episodischen Erzählstil und eine naturalistische Dialoggestaltung, sondern vor allem das Dilemma, dass für die negativen Entwicklungen kein personal Schuldiger mehr ausfindig gemacht werden kann – »Who can we shoot?« fragt in The Grapes of Wrath eine Romanfigur verzweifelt, als die Bank sie und ihre Familie aus ihrem Haus verjagt (Steinbeck, The Grapes, S. 45).

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Aufarbeitung alter Gesellschaftstraumata neue, positive Sinnsetzungen bräuchte, um einer ganzen Nation und ihrer Bevölkerung wieder Halt zu geben. Doch wie kann in postmodernen, ›postutopischen‹ und scheinbar postideologischen Zeiten eine solche Sinnsetzung gelingen? Timothy Aubry weist darauf hin, dass der Umschlag von Ironie zu Ernsthaftigkeit bereits die Setzung neuer, positiver Werte (»simplicity, empathy, and sincerity«) durch den Roman impliziert.204 Es handelt sich hierbei jedoch allenfalls um einen allerersten Ansatz, die Sinn- und Orientierungskrise durch die Etablierung eines neuen Wertesystems, bzw. der Begründung einer neuen Wertebasis, zu überwinden. Statt schon einen Therapieplan aufzustellen, konzentriert sich der Text noch auf eine genaue Ursachenforschung und die Stellung einer Diagnose. In seinem thematisch verwandten, sozialkritischen Essay E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction (1993) macht sich David Foster Wallace über die Vorstellung lustig, wonach »etiology and diagnosis« bereits direkt zu einer Problemlösung führen würden.205 Diese Einschränkung mag berechtigt sein – beide Aspekte sind aber zumindest notwendige erste Schritte auf dem Weg zu einer Heilung. 4.1.1.7 Die Parameter der Gegenwartsdystopie (Fazit) Wie eingangs zitiert, wird Infinite Jest in der Forschung teilweise als »genre defying novel« betrachtet.206 In der Tat sprengen in diesem Text manch phantastische Elemente den Rahmen rein extrapolierender Dystopien. Hierauf bezieht sich die Einschätzung aber wohl nicht oder zumindest nicht ausschließlich. Infinite Jest hat mit den traditionellen Dystopien orwellscher Prägung auf den ersten Blick so wenig gemein, dass seine Zugehörigkeit zur Gattung tatsächlich zweifelhaft erscheinen kann. Demgegenüber sollte die vorliegende Analyse deutlich machen, dass die Bezüge des Romans zu den Dystopien im engeren Sinne größer sind, als es zunächst den Anschein hat. Infinite Jest stellt sich nicht nur selbst in diesen Gattungskontext, der Roman extrapoliert auch reale Trends der US-Gesellschaft und entwirft daraus eine bedrohlich wirkende Zukunftsvision. Viele Einzelaspekte, die die Dystopie in der Folgezeit nachhaltig prägen sollten, finden sich bereits hier. So ist Infinite Jest eine Dystopie, die dezidiert keine Anti-Utopie mehr ist, sondern die gerade das Fehlen von gesellschaftlichen Leit204 Aubry, Selfless cravings, S. 206. 205 Wallace, A supposedly fun thing, S. 67; zuerst in Verbindung zu Infinite Jest zitiert bei Burn, Webs of Nerves. 206 Warren, Modeling Community, S. 66.

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Utopien und somit von einer intersubjektiven Sinnkonstitution problematisiert. Eng hiermit verbunden ist ein anders gedachtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Staat und Individuum: Nicht mehr das Individuum ist in Infinite Jest der jeweiligen Staatsführung ausgeliefert, sondern die katastrophale Staatsführung ist hier nun Folge und Symptom eines größeren, gesamtgesellschaftlichen Verfalls. Die Träger staatlicher Macht sind daher nicht mehr ursächlich für die negative Entwicklung verantwortlich und entfallen als personale Gegner einer Rebellion, was ein Aufbrechen des traditionellen Handlungsschemas zur Folge hat. Auch die Hauptprotagonisten dieses Romans, Hal und Don, fechten noch dramatische Kämpfe aus, doch nicht mehr gegen einen staatlichen Antagonisten, sondern gegen sich selbst und einen viel schwerer greifbaren Zeitgeist. Viel schwerer greifbar ist auch der Zusammenhang zwischen den realen Trends, die im Text extrapolierend verlängert werden und den Auswirkungen, die diese dann in der fiktiven Welt haben. Etwa in Nineteen Eighty-Four, aber auch noch in The Circle, ergibt sich die dystopische Welt fast schon linear aus der Verlängerung bestimmter, relativ klar zu benennender Problemlagen. Dagegen ist bezüglich Infinite Jest die Frage, welche reale Gesellschaftsanalyse hinter der fiktiven Zukunftswelt steht, zu einem zentralen Aspekt der Textinterpretation geworden. Die vorliegende Analyse sieht vor allem eine umfassende Ziel- und Orientierungslosigkeit, ein destruktives Leistungsethos und Tendenzen einer ›Postdemokratie‹ avant la lettre als die wahren Triebkräfte hinter dem dystopischen Verfall. Insbesondere die (ironische) intertextuelle Anspielung auf Orwells Nineteen Eighty-Four (vgl. 4.1.1.2) weist auf eine weitere, entscheidende Differenz zwischen Infinite Jest und den Nachkriegsdystopien hin. Bei letzteren hat in der Regel ein totalitärer Zwangsstaat oder eine atomare Apokalypse die liberaldemokratischen Gesellschaftssysteme des Westens vernichtet. Infinite Jest dagegen fragt nun (wie zuvor bereits in Ansätzen Brave New World), ob nicht der westliche Liberalismus auch an sich selbst scheitern könnte, also ob die momentan vorherrschende Gesellschaftsordnung den Keim ihres eigenen Untergangs nicht schon längst in sich trägt. Dazu begibt sich der Text auf die Suche nach morschen Stellen innerhalb der US-Gesellschaft und lässt diese fauligen, dysfunktionalen Elemente in seinem Zukunftsszenario noch weiter um sich greifen. Allen voran dieser veränderte Blick auf den demokratischen Liberalismus, der somit nicht mehr nur das Schützenswerte, sondern nun durch seine rationalistischen, kapitalistischen, hedonistischen und utilitaristischen Züge zugleich das Bedrohliche ist, markiert thematisch den Übergang von der Nachkriegsdystopie zur zeitgenössischen Dystopie, für den Infinite Jest wie kein zweiter Text steht.

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Doch Infinite Jest ist nicht nur Zukunfts-, sondern auch Gegenwarts- und historischer Roman,207 da seine Problemanalyse auch vor den Intervallen 0 und I nicht Halt macht.208 Gesellschaftliche Schieflagen, die nach Ansicht des Romans in den Intervallen 0 und I latent unter der Oberfläche schwelen, kommen in der Zukunftsvision nun offen zum Ausbruch, die somit Vergangenheit und Gegenwart dystopisch spiegelt und die diese Schieflagen gewissermaßen ›bis zur Kenntlichkeit verzerrt‹. Um diese engagierte Haltung vertreten zu können, wendet sich der Roman stellenweise ostentativ und programmatisch von postmodern-ironischen Erzählweisen ab und wird so zum Mitbegründer der ›New-Sincerity‹-Strömung. Es ist bemerkenswert, dass sich diese Aufwertung von Ernsthaftigkeit und Authentizität gerade im Rahmen einer Dystopie vollzieht. Die Gattung der Dystopie, das während der sog. ›Postmoderne‹ nicht an die Relevanz früherer Jahre anknüpfen konnte (vgl. 3.3), hat sich somit zu einem Teil selbst den fruchtbaren Nährboden geschaffen, auf dem es aktuell gedeiht und einen zweiten Boom erlebt. Wenn auch unerheblich für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Roman, so wird vor dem Hintergrund der vorliegenden Analyse dennoch die Sichtweise vieler Kritiker nachvollziehbar, wonach mit Infinite Jest der große Roman der Ära Trump209 paradoxerweise bereits 1996 veröffentlicht wurde. In Donald Trumps Präsidentschaft und der schon länger bestehenden, sich jüngst jedoch drastisch verschärfenden Drogenproblematik der USA210 sehen manche Feuilletonisten das reale Zutagetreten jener gesellschaftlichen Dekadenz, die David Foster Wallace in seinem Roman bereits auf fiktiver Ebene durchgespielt hat.211 207 Diese treffende Formulierung verdanke ich Prof. Dr. Wilhelm Haefs. 208 Freilich ließe sich dies theoretisch über alle Dystopien im engeren Sinne sagen. Für Infinite Jest gilt dies aber in besonderer Weise, da hier schon rein quantitativ ein ungewöhnlich starkes Gewicht auf den Intervallen 0 und I liegt (in den wenigsten Dystopien gibt es überhaupt ein solches Intervall 0). 209 Beispielhaft: https://www.signature-reads.com/2018/03/novels-that-everyone-needs-to-rea d-in-the-age-of-trump/ (letzter Abruf am 26. 11. 2018). 210 Im Jahr 2017 stieg die Zahl der Drogentoten in den USA erstmals auf über 70.000 pro Jahr, woraufhin Präsident Trump den Gesundheitsnotstand verhängte. Siehe hierzu: https:// www.aerzteblatt.de/nachrichten/97217/Zahl-der-Drogentoten-in-den-USA-gestiegen (letzter Abruf am 23. 08. 2019) und https://www.stern.de/politik/ausland/gesundheitsnotstand -in-den-usa-ausgerufen-tausende-drogentote-7676436.html (letzter Abruf am 23. 08. 2019). 211 So etwa im Artikel zum zwanzigjährigen Erscheinen von Infinite Jest von Angela Schader in der NZZ vom 07. 10. 2016 mit dem Titel Amerika, kaputtgelacht. Online abrufbar unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/ein-prophet-der-aera-trump-amerika-kaputt gelacht-ld.120734 (letzter Abruf am 26. 11. 2018); Duncan White dagegen behauptet im Telegraph vom 01. 02. 2016 schlicht, David Foster Wallace habe durch Infinite Jest die Zukunft vorhergesagt. Online abrufbar unter: https://www.telegraph.co.uk/books/authors/the-5-im pressive-ways-david-foster-wallaces-infinite-jest-predic/ (letzter Abruf am 26. 11. 2018).

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Aus literaturwissenschaftlicher Sicht bleibt hier jedenfalls zu konstatieren, dass der Roman Infinite Jest ein Meilenstein für die Geschichte der Dystopie ist, da er Topoi und Herangehensweisen älterer Dystopien aufgreift und mit gänzlich neuen Ansätzen kombiniert, die die Gattung bis heute prägen (vgl. Kap. 5).

4.1.2 Corpus Delicti (Juli Zeh, 2009): Das eingeplante Scheitern der Freiheitspropaganda Es hat sich nichts geändert. Es ändert sich niemals etwas. Ein System ist so gut wie das andere. Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur. CD 235

4.1.2.1 Forschungsstand Ursprünglich ein Theaterstück, stellte Corpus Delicti einen Beitrag Juli Zehs zum Leitthema »Mittelalter« der RuhrTriennale 2007 dar.212 Nach Erscheinen der gleichnamigen Romanfassung im Jahr 2009 lag der Fokus der Forschung zunächst auf den äußerst zahlreichen intertextuellen Bezügen des Werks. Enge Verbindungen wurden unter anderem zu den fiktionalen Texten Der Proceß (Kafka),213 Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Böll),214 sowie zu Sophokles’ Antigone215 aufgezeigt. Daneben konnten mehrere Aufgriffe philosophischer bzw. soziologischer Theorien nachgewiesen werden; u. a. sind hier Schriften der Frankfurter Schule zu nennen.216 Auch das Denken Michel Foucaults zur »BioPolitik« fand Eingang in den Roman,217 ebenso Giorgio Agambens Konzept des homo sacer.218 Christine Mogendorf arbeitete daneben insbesondere die »postmodernen Reflexionen« innerhalb des Textes heraus.219 Von Seiten der Literaturkritik wurde dem Roman ein gewisser Schematismus bzw. eine Schwarz-Weiß-Zeichnung vorgeworfen. Während aber etwa Rainer 212 Vgl. Giesler, Das Mittelalter ist keine Epoche, S. 266. 213 Die Anspielung erfolgt hier schon in dem Untertitel, der der Romanversion hinzugefügt wurde: »Ein Prozess«. 214 Vgl. Geisenhanslücke, Die verlorene Ehre, S. 226. 215 Vgl. Geisenhanslücke, Die verlorene Ehre, S. 229. 216 Vgl. Geisenhanslücke, Die verlorene Ehre, S. 227. 217 Vgl. Seidel, Protokoll des Lebens, S. 202. 218 Vgl. Geisenhanslücke, Die verlorene Ehre, S. 232, außerdem Klocke, Das Mittelalter ist keine Epoche, S. 191, Gottwein, Die verordnete Kollektividentität, S. 225–226 und Seidel, Protokoll des Lebens, S. 202. 219 Christine Mogendorf: Von »Materie, die sich selbst anglotzt«. Postmoderne Reflexionen in den Romanen Juli Zehs. Bielefeld 2017.

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Moritz dies in seiner Rezension für die NZZ als ästhetischen Mangel wertet,220 sieht Evelyn Finger in der Zeit diesen Umstand schlicht als typisch für Dystopien an.221 Es ergab sich jedoch der Grundkonsens, dass der Hinweis auf den hohen Wert individueller Freiheit gegenüber einem steigenden kollektiven Sicherheitsbedürfnis einen wesentlichen und positiven Beitrag des Romans zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs darstelle.222 Aus diesem Konsens scheren Harro Albrecht und Henk de Berg vehement aus, indem sie dem Text vorwerfen, durch seinen Schematismus staatliche Eingriffe einseitig als negativ und Freiheiten des Individuums einseitig als positiv zu werten, sodass eine »naive Dichotomie von Individuum und Staat«223 entstehe, wodurch die Grundhaltung des Textes strikt antietatistisch sei, was in Literaturkritik und -wissenschaft jedoch übersehen werde.224 Die folgende Interpretation wird diese beiden konkurrierenden Sichtweisen miteinander verbinden und davon ausgehend einen neuen, dritten Interpretationsansatz als Synthese entwickeln. Insbesondere die textimmanente Spannung zwischen Ideologiekritik einerseits und der Propagierung einer Freiheitsideologie durch die Hauptfigur andererseits wurde noch zu wenig in den Blick genommen. Es wurde bislang übersehen, dass sich Corpus Delicti als Roman auch von der Freiheitsideologie seiner Hauptfigur emanzipiert und dadurch aufzeigt, dass die Vorstellung von entideologisierten Zeiten irrig ist, da Ideologien nicht abgeschafft, sondern lediglich durch neue ersetzt werden können. Explizit mit dem Roman als Dystopie befasste sich bereits Susanna Layh und förderte hier wichtige Anhaltspunkte zutage, auf die im Folgenden einzugehen sein wird. Ihre generelle Einschätzung aber, dass es sich bei Corpus Delicti um eine noch eher konventionelle Dystopie handelt, die weniger innovativ sei als etwa Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale von 1985,225 wird im Folgenden abgelehnt. Stattdessen wird die Leitthese vertreten, dass der Roman trotz 220 Der Artikel von Rainer Moritz in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. 07. 2009 erschien unter dem Titel Unverträgliche Immunsysteme. Online abrufbar unter: https://www.nzz.ch/unve rtrgliche_immunsysteme-1.3090964 (letzter Abruf am 27. 02. 2020). 221 Der Artikel von Evelyn Finger in Die Zeit vom 26. 02. 2009 erschien unter dem Titel Das Buch der Stunde. Online abrufbar unter: https://www.zeit.de/2009/10/L-Zeh (letzter Abruf am 27. 02. 2020). 222 Beispielhaft hier neben Evelyn Finger auch Christian Geyer-Hindemiths Artikel Geruchlos im Hygieneparadies, erschienen am 01. 03. 2009 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletri stik/juli-zehs-neuer-roman-geruchlos-im-hygieneparadies-1774442.html (letzter Abruf am 27. 02. 2020). 223 De Berg, Mia gegen den Rest der Welt, S. 34. 224 Der Artikel von Harro Albrecht in Die Zeit vom 19. 03. 2009 erschien unter dem Titel Ein bisschen Diktatur darf sein. Online abrufbar unter: https://www.zeit.de/2009/13/M-Gesund heitsdiktatur (letzter Abruf am 27. 02. 2020). 225 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 173–174.

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aller strukturellen Aufgriffe nicht einfach als eine weitere Dystopie orwellscher Prägung anzusehen ist, sondern sich inhaltlich weit von tradierten Ansätzen entfernt hat.226 Der Text stellt, nach der scheinbaren Abschaffung aller Ideologien, das Auftauchen neuer, szientistischer und körperbezogener Ideologeme dar. Diese entfalten aber keine positive integrative Kraft mehr, sondern sind im Gegenteil die Triebkräfte der dystopischen Entwicklung. Utopien und Ideologien mögen in der Vergangenheit ihre problematischen Seiten zur Genüge gezeigt haben, Corpus Delicti weist aber darauf hin, dass auch eine Gesellschaftskonstitution ohne diese Elemente äußerst schwierig oder überhaupt nicht möglich ist. Die ersten Analyseabschnitte arbeiten überwiegend die Bezüge des Romans zur Nachkriegsdystopie heraus. Ab einschließlich des fünften Abschnitts stehen dann jene Elemente des Textes im Mittelpunkt, die aus einer gattungsgeschichtlichen Perspektive neu und innovativ sind. 4.1.2.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Das Bild Deutschlands, das vom Roman gezeichnet wird, unterscheidet sich massiv vom Zustand der BRD im frühen 21. Jahrhundert, was schon der Einstieg in den Text deutlich macht: »Flachdächer bilden eine schier endlose Landschaft«, 226 Michael Navratil setzt sich in seiner Dissertation Kontrafaktik der Gegenwart auch mit Corpus Delicti auseinander. Er spricht dabei von einer »kontrafaktischen Dystopie« (Navratil, Kontrafaktik der Gegenwart, S. 447). Eine Einbeziehung von dystopischen Zukunftstexten in den Kontext der Kontrafaktik soll bei Navratil durch die starke Betonung jener Erkenntnis ermöglicht werden, wonach der Bezugspunkt von Dystopien eben gerade nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart liegt und häufig reale Elemente der Gegenwart in übersteigerter oder verzerrter Form in Dystopien wieder auftauchen (vgl. Navratil, S. 425; daneben auch Gliederungspunkt 2.4 dieser Arbeit). Gerade mit Blick auf Corpus Delicti wirkt dieser Ansatz jedoch erzwungen: Der Roman Corpus Delicti spielt in der Zukunft, er stellt über die reale Vergangenheit (im Wesentlichen) keine faktisch falschen Behauptungen auf und lässt die faktisch korrekte Vergangenheitsdarstellung in einer Rückschau fließend in die fiktive Zukunftsvision übergehen (CD 88). Wie diese Dystopie gemeinsam mit kontrafaktischen Fiktionen im eigentlichen Sinn – die natürlich ›dystopisch‹ sein können (z. B. Never Let Me Go) – in der Kategorie des ›Kontrafaktischen‹ Platz finden soll, wird auch durch ausführliche Erläuterungen (Navratil, S. 421–437) nicht plausibel: Möglich und kontrafaktisch: Im Jahr 2050 leben alle Menschen unter den Bedingungen einer digitalen Überwachungsdiktatur. Eine solche Entwicklung ist insofern möglich, als sie sich vom heutigen Standpunkt zumindest nicht ausschließen lässt. Kontrafaktisch wäre ein solcher Weltentwurf darüber hinaus in dem Maße, in dem er sich interpretatorisch auf aktuelle technische oder politische Entwicklungen oder auf Einzelfakten der Gegenwart (oder auch der Vergangenheit) beziehen lässt. (Navratil, S. 431; Kursivierung im Original). Da aber jede Dystopie im engeren Sinne auf politische Entwicklungen der Gegenwart bezogen ist (vgl. hierzu die Gliederungspunkte 2.3 und 2.4), würde dies auf eine komplette und absurde Verschmelzung von extrapolierend-dystopischen und kontrafaktischen Texten hinauslaufen.

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die Autobahnen sind ebenso überflüssige Überreste einer vergangenen Zeit wie Kirchen und Fabriken, das Umweltproblem ist gelöst (CD 11). Die Staatsfläche ist im Wesentlichen zweigeteilt in zusammengewachsene, saubere und perfekt funktionierende Städte und völlig intakte, fast unberührte Natur. Für all diese grundstürzenden, utopischen Veränderungen zwischen den Intervallen I und III werden vom Roman nur etwa 50 Jahre angesetzt. Wahrscheinlichkeit stellt also nicht den entscheidenden Aspekt dieser Zukunftsvision dar, was auch das fast vollständige Fehlen einer internationalen Perspektive erklärt – ausschließlich das deutsche Gemeinwesen wird in den Blick genommen. Dieses Deutschland wirkt daher wie eine Art Insel,227 die sich unabhängig von äußeren Einflüssen entwickeln kann, wodurch sich Parallelen zu Morus’ Utopia und der gesamten utopischen Gattung ergeben. Mit dieser äußeren Abgeschlossenheit geht eine erhebliche Komplexitätsreduktion einher, die mit einem Verzicht auf Plausibilität erkauft wird. Bedeutet der von einer Romanfigur illegal beschaffte Champagner (CD 171), dass Alkoholproduktion und -konsum in Frankreich – anders als in Deutschland – nach wie vor erlaubt ist? Bezieht sich der Hinweis, dass »Erkältung […] seit den [2000-]zwanziger Jahren ausgestorben [ist]« (CD 20) auf Deutschland oder die gesamte Menschheit? Der Text verhandelt diese Fragen nicht und er interessiert sich auch nicht für sie. Stattdessen reduziert er den Weltentwurf auf ein notwendiges Minimum. Die Künstlichkeit dieses Ergebnisses wird nicht kaschiert und ist satirisch zu verstehen. Er präsentiert keine natürlich gewachsene Welt, sondern er schafft die Voraussetzungen für einen experimentellen Beweis seiner relevanten Kernthesen unter Laborbedingungen.228 Als Auftakt erhalten die Leser:innen einen Textausschnitt aus der fiktiven Lehrschrift eines gewissen Heinrich Kramer mit dem Titel Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation, die in der Zukunftswelt als ideologische Basis staatlichen Handelns dient. Außerdem wird dem Text bereits das Schlussurteil gegen Mia vorangestellt: »Einfrieren auf unbestimmte Zeit« (CD 10). Der eigentliche Einstieg in die Romanhandlung erfolgt über eine betont idyllische Schilderung des fiktiven deutschen Staates, der sich jedoch direkt eine Szene anschließt, in der Mia wegen Missachtung ihrer gesundheitsfürsorglichen Pflichten Gegenstand einer Verhandlung vor Gericht ist. In der Folge entfaltet sich die Handlung, und die Leser:innen erfahren, dass sich Mia gerade in einer Lebenskrise befindet, da ihr Bruder Moritz, der über einen DNA-Test scheinbar des Mordes überführt wurde, mit ihrer Hilfe Selbstmord begangen hat. Mia ist paradoxerweise ebenso von seiner Unschuld überzeugt wie von der im Text stets 227 Dabei wird das deutsche Staatswesen an einer Stelle explizit als nicht isoliert erkennbar, nämlich anhand der Tatsache, dass die Kinder des Richters Hutschneider in Paris und New York studieren (CD 214). 228 Navratil, Kontrafaktik der Gegenwart, S. 444–445.

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in Kapitälchen geschriebenen »Methode«, auf deren rein logisch-vernünftigen Prämissen229 das Staatswesen aufgebaut ist und deren Anwendung auch zur Verurteilung Moritz’ geführt hat. In der Folge ist sie hin und hergerissen zwischen Ablehnung und Akzeptanz der »Methode«, wobei Heinrich Kramer, ein führender Journalist und aus Lesersicht der maßgebliche Repräsentant des Staatswesens, sie zu einem öffentlichen Bekenntnis zur »Methode« bringen möchte. Es entwickelt sich ein Justizdrama, dessen Höhepunkt die Aufdeckung der Unschuld Moritz’ ist, was das Vertrauen Mias in die »Methode« erschüttert. Sie entwickelt sich daraufhin zu einer Widerstandskämpferin für die individuelle Freiheit und gegen die nur scheinbar objektiv-vernünftigen Prinzipien, auf denen der Staat fußt. Schlussendlich wird Mia angeklagt und mit der oben genannten Höchststrafe belegt. In einer überraschenden Wendung wird das Urteil allerdings doch nicht vollstreckt, da Mia sonst zur Märtyrerin werden könnte. Stattdessen soll sie durch ein aufwändiges Programm umerzogen und damit resozialisiert werden, was aus Mias Perspektive eine noch größere Bestrafung darstellt. Eigentlich alltägliche Handlungen, etwa der Konsum von Koffein, gelten in der fiktiven Gesellschaft als gefährlich bzw. sind verboten (CD 13). Schnell wird also das Thema Krankheitsprävention als Leitmotiv deutlich. Wie die Richterin Sophie für Mia (und die Leser:innen) expliziert, ergebe sich aus der Verpflichtung des Staates zur Fürsorge im Krankheitsfall umgekehrt eine Verpflichtung des Individuums zur Vorbeugung dieses Falles (CD 58). Es macht den Reiz des Romans wesentlich aus, dass vermutlich viele Leser:innen diese Argumentation nicht nur logisch nachvollziehbar finden können, sondern sie ansatzweise auch aus der eigenen Lebenswelt kennen. In der Welt von Corpus Delicti akzeptiert die Bevölkerung, dass der Staat die Einhaltung dieser Bürgerpflicht rigoros kontrolliert und durchsetzt. Aus der Aufgabe zur Krankheitsprävention leitet der Zukunftsstaat also einen totalitären Anspruch gegenüber den Individuen ab. Der Roman greift hier auf den zentralen Topos ›klassischer‹ Dystopien zurück, der utopische Einstieg wird als falsche Idylle erkennbar. Im Unterschied zu den prototypischen Dystopien des 20. Jahrhunderts spielt Politik im engeren Sinne in Corpus Delicti jedoch eine auffallend geringe Rolle. Nominell existiert ein oberster »Methodenrat« (CD 263), über dessen Zustandekommen aber nichts berichtet wird. Außerdem gibt sich der Staat den Anschein eines Rechtsstaats und scheint sich noch als Demokratie zu verstehen (CD 22, 75), zieht diesen Umstand aber nicht mehr als Legitimationsquelle staatlicher 229 Diese werden im Roman gar nicht näher expliziert. Klar ist aber, dass der Zukunftsstaat versucht, in allen Belangen eine rein vernunftgeleitete, durch und durch rationale Politik zu betreiben, die nicht mehr auf politischen Überzeugungen, sondern auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht.

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Herrschaft heran.230 Indizien deuten darauf hin, dass sich das Staatswesen in Corpus Delicti gerade in einem recht weit fortgeschrittenen Transformationsprozess von einem Rechtsstaat hin zu einer Diktatur nach Grundsätzen der »Methode« befindet.231 Die Einordnung des Textes als Dystopie im Sinne der Arbeitsdefinition ist somit unproblematisch. Dass der Zukunftstext sein Augenmerk auf gesellschaftliche und nicht auf technische Fragen legt, sollte bereits deutlich geworden sein. Wie sehr die Leser:innen zudem das persönliche Schicksal Mias auch berühren mag, besonderes Gewicht erreicht ihr Fall erst durch seinen exemplarischen Charakter, anhand dessen der dystopische Staat hinter seiner rationalistischen Fassade erkennbar wird. Dass dieser Zukunftsstaat im Vergleich zur realen BRD vom Text negativ dargestellt wird, ist auch in der bisherigen Rezeption des Romans unstrittig. Reale Trends (wie etwa die von den Krankenkassen gewährten Vergünstigungen bei Nachweis der Versicherungsnehmer:innen über die Teilnahme an freiwilligen Fitnessprogrammen232) werden in Corpus Delicti in eine Zukunft verlängert, in der die Sorge um die eigene Gesundheit zur Pflicht geworden ist. Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. […] Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. […] Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: ›Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.‹ (CD 186–187)

Über 20 solcher Misstrauensvoten spricht Mia nach ihrer Wandlung zur Widerstandskämpferin gegen die »Methode« und somit gegen den Staat aus, die, das sollen die zitierten Sätze aufzeigen, meist auch auf die reale Welt jenseits des Romans übertragbar sind.

230 »[Kramer:] […] Wir brauchen keine verstiegenen Ideologien. Wir brauchen nicht einmal den bigotten Glauben an eine Volksherrschaft, um unser System zu legitimieren.« (CD 36) 231 Wäre dieser Transformationsprozess bereits abgeschlossen, so würden öffentliche Proteste gegen die »Methode« – vor und insbesondere im Gerichtsgebäude – wohl aus Angst vor der Staatsmacht unterbleiben oder effizienter niedergeschlagen werden (CD 255–258). Außerdem hätte Mia ansonsten kaum noch die Schriften Agambens offen im Bücherregal stehen (CD 128), die in einer bereits völlig etablierten Gesundheitsdiktatur sicherlich hoch brisant und somit verboten wären. Zweitens kann die Annahme eines Übergangs hin zur Autokratie die große Bedeutung der öffentlichen Meinung im Roman erklären, da in einer solchen Situation ein breiter gesellschaftlicher Konsens nötig ist, der den stückweisen Staatsumbau trägt. 232 Vgl. z. B. den Artikel im Stern von Malte Mansholt mit dem Titel Bewegung als Vorsorge: Diese Krankenkassen zahlen Ihnen Fitness-Tracker vom 24. 01. 2019. Online abrufbar unter: https://www.stern.de/digital/online/apple-watch-co±diese-krankenkassen-zahlen-fuer-fitn ess-tracker-8546308.html (letzter Abruf am 27. 08. 2019).

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Corpus Delicti ist somit ohne Zweifel als Form der politischen Literatur zu verstehen. Der Text steht im größeren Kontext einer Re-Politisierung der deutschsprachigen Literatur um die Jahrtausendwende, die Sabrina Wagner an zahlreichen Beispielen aufgezeigt hat.233 Die Vermittlung einer politischen Aussage erfolgt in Corpus Delicti vor allen Dingen über dystopische Spiegelungen verschiedener Phänomene der realen Gegenwart. So lässt die routinemäßige Wandprojektion von unbekleideten Photographien der angeklagten Personen vor Gericht (CD 14) Assoziationen zum Ganzkörperscanner an Flughäfen zu. Der Chip, den jeder Bürger zu tragen verpflichtet ist und der sämtliche Vitaldaten erfasst und speichert (CD 66), stellt eine Verbindung zu den bereits existierenden Personalausweisen und Gesundheitskarten, die immer mehr Informationen über den Besitzer speichern und abrufbar machen, her. 4.1.2.3 Die wahren Triebkräfte hinter der »Methode« Dass die immateriellen ›Kosten‹, die das Individuum für den präventiven Schutz durch die »Methode« zu tragen hat, immens sind, wird aus Lesersicht immer wieder an der exzessiven Überwachung des Individuums durch den Staat deutlich. Die Dystopie zeichnet das Bild eines völlig außer Kontrolle geratenen Leviathans, der seine Untertanen mit seinem Schutzbedürfnis erdrückt.234 Mehr noch: Die maßlose Gesundheitsprävention hat dazu geführt, dass in der Bevölkerung niemand mehr ein intaktes Immunsystem hat (CD 233), wodurch die Anfälligkeit für Krankheitserreger extrem erhöht ist. Der maßlose Schutz des Staates schafft also ein maßloses Schutzbedürfnis auf Seiten der Individuen. Vor allem aber zeigt sich bei den Romanfiguren ein Denken, das auch das oben bereits erwähnte Argument der staatlichen Kostenersparnis durch Prävention als nur vorgeschoben und letztlich hohl erkennbar macht. Am besten lässt sich die Fadenscheinigkeit dieser Argumentationsweise an der strikten Nichtakzeptanz von Suiziden durch Staat und Gesellschaft aufzeigen. Ein Freitod nämlich wird – auch ohne individuelle Schmerzen und ohne gesellschaftliche Kosten – als eine Art postreligiöses Sakrileg betrachtet.235 Ähnlich verhält es sich mit der Todesstrafe, die vom fiktiven Staat trotz aller Totalität nicht verhängt wird, da das Staatswesen angeblich auf einer »absolute[n] Wertschätzung des menschlichen Lebens« (CD 231) fußt, sodass das »Einfrieren auf unbestimmte Zeit« (CD 10) die Höchststrafe darstellt. Tatsächlich zeigen sich an diesem Sui233 Vgl. Wagner, Aufklärer der Gegenwart, S. 52–61. 234 Zur Verbindung zu Hobbes vgl. auch Klocke, Das Mittelalter ist keine Epoche, S. 199. 235 Der Freigeist Moritz vertritt mehrfach die These, dass am Freitod nichts Verwerfliches sei. Mia, die zu Beginn der Handlung noch ganz auf der Seite der »Methode«, des Staates und des Mainstreams steht, vertritt in diesem Streitpunkt die Mehrheitsmeinung, lehnt Suizide strikt ab und kritisiert Moritz für dessen Haltung (CD 28, 46, 92, 94).

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zidverbot und der Nichtanwendung der Todesstrafe die wahren Triebkräfte des dystopischen Staates, die der Außenseiter Moritz skizziert: »Wer stirbt, entwischt. Wer eingefroren wird, gehört endgültig dem System. Als Jagdtrophäe.« (CD 231) Hier zeigt sich, dass Corpus Delicti hinsichtlich des Verhältnisses von staatlichem Handeln und den Körpern seiner Bürger als parallelpoetische Umformung236 dessen verstanden werden kann, was Michel Foucault und in Anlehnung an sein Denken Giorgio Agamben mit dem Begriff der »Bio-Politik«237 beschrieben haben.238 Aus der Sicht Foucaults übt der moderne Staat seine Herrschaft über das Individuum unter anderem durch den Zugriff auf die Körper der Staatsbürger aus. In der »Bio-Politik« manifestiert sich die Macht des Staates gegenüber dem Einzelnen. Nicht nur um den Schutz des Individuums geht es dem Staat in Corpus Delicti also letztlich, sondern vor allem um seine Unterwerfung. Somit wird auch verständlich, warum Selbstmord und Todesstrafe in diesem Gemeinwesen nicht akzeptiert sind: Durch seinen Tod entkommt das Individuum der staatlichen Macht. Nicht zufällig assoziiert Moritz mit dem Tod Freiheit (CD 94), während der Ersatz der Todesstrafe, das Einfrieren, die exzessivste Form der Kontrolle des Staates über den Körper und damit über das Individuum insgesamt darstellt. In gewisser Weise zeigt Corpus Delicti also den Umschlag einer Sicherheitsutopie in einen totalitären Zwangsstaat und orientiert sich in diesem Aspekt stark an den Prototypen der Gattung. Einen Abgleich des Textes mit der Dystopietradition hat insbesondere Susanna Layh vorgenommen und dabei diese Anlehnung des Textes an typische Konventionen der Gattung detailliert aufgezeigt.239 Der Roman spielt mit utopischen Traditionen und parodiert diese durch ausdrückliche Bezugnahmen auf die in Utopien häufig zu findende Statik der entworfenen Gesellschaften. So stellt der Erzähler zu Beginn »eine zur Ruhe gekommene Menschheit« (CD 11) vor und Heinrich Kramer behauptet beim ersten direkten Aufeinandertreffen mit Mia apodiktisch: »Unsere Gesellschaft ist am Ziel« (CD 36). Wie brüchig diese Statik und wie hohl der Anspruch dahinter jedoch ist, macht der weitere Verlauf der Handlung schnell deutlich.240 Durch den Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit des fiktiven Staates wird nicht nur 236 Luhmann, Soziologische Aufklärung 3, S. 200–201: »Vielleicht sollte es […] für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles noch einmal anders sagt und damit die Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist.« 237 Im originalen Wortlaut Foucaults »biopouvoir« bzw. »biopolitique«. Siehe z. B. Michel Foucault: Naissance de la biopolitique: cours au Collège de France (1978–1979). Paris 2004. 238 Vgl. Seidel, Protokoll des Lebens, S. 201–203. 239 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 153–162. 240 Tatsächlich bringt der Irrtum im Fall Moritz Holl und der gerichtliche Umgang mit Mia den Staat in eine existentielle Krise, die noch bei der finalen Gerichtsverhandlung zu Tumulten im Sitzungssaal führt (vgl. CD 250–259).

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utopisches Erzählen, sondern utopisches Denken an sich parodiert. In dieser Hinsicht handelt es sich bei Corpus Delicti noch um eine Anti-Utopie. Was die sonstigen Aufgriffe der dystopischen Tradition anbelangt, so hat Layh bereits zentrale Punkte (wie die anfangs trügerische Idylle, den unvermittelten Beginn der Handlung und das Scheitern des Aufbegehrens) aufgezeigt.241 Besonders auffällig ist zudem, dass auch in Corpus Delicti ein Individuum durch seine nicht disziplinierbare Liebe bzw. seinen Sexualtrieb nolens volens aus den engen Grenzen der totalitären Gesellschaft gedrängt und so zum Außenseiter wird.242 Bei Mias Bruder Moritz nämlich, der ohnehin als Freigeist charakterisiert wird, stellt die sexuelle Betätigung ohne Fortpflanzungsziel die Spitze seiner Insubordinationen gegenüber den staatlichen Prinzipien dar.243 Der individuelle Eros bringt also die Romanhandlung erst in Gang und in der Folge die fragile Statik des utopisch konzipierten, aber dystopisch realisierten Staates aus dem Gleichgewicht, wodurch sich Entsprechungen zu den klassischen Dystopien Zamjatins, Huxleys und Orwells ergeben.244 4.1.2.4 Die Hauptpersonen Mia Holl und Heinrich Kramer Die beiden Hauptpersonen des Romans, Mia Holl und Heinrich Kramer, werden in mehreren, jeweils sehr verschiedenen Rollen erkennbar, wobei den einzelnen Rollen Kramers komplementäre Rollen Mias zuzuweisen sind. Erstens steht Kramer für den Staat bzw. für die ihn stützende öffentliche Meinung. Er ist ein führender Journalist, der als Personifikation der »vierten Gewalt« (CD 16) vorgestellt wird. Er ist in seiner publizistischen Tätigkeit ein glühender Unterstützer der »Methode« und genießt höchstes gesellschaftliches Ansehen. Bemerkenswert ist, dass die Rolle des personalen Repräsentanten des dystopischen Staates hier zwar noch besetzt ist, aber nicht mehr, wie in früheren Texten, mit einem Politiker. Kramer ist jedoch nicht nur ein Repräsentant des Staates, an manchen Stellen spielt der Text auf eine weitaus tiefergehende Verschmelzung Kramers mit dem Staat an. Er repräsentiert den Staat nicht nur (wie etwa Mustapha Mond in Brave 241 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 153–154. 242 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 163. Entscheidend gefährdet wird die Akzeptanz der »Methode« durch die Aufdeckung des Fehlurteils durch Mias Anwalt Rosentreter, der ebenfalls durch seine Liebe zu einer Frau in eine Gegnerschaft zum herrschenden Staatswesen gezwungen wird, da diese aus einer für ihn unpassenden Immungruppe stammt (CD 112–117). 243 »Er wollte für die Liebe leben, und wenn man ihm zuhörte, konnte man auf die Idee kommen, dass Liebe schlicht ein anderes Wort war für alles, was ihm gefiel. Liebe war Natur, Freiheit, Frauen, Fische fangen, Unruhe stiften. Anders sein. Noch mehr Unruhe stiften. Das alles hieß bei ihm Liebe.« (CD 27). 244 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 163.

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New World), es erscheint durch eine allegorische Aufladung sogar so, als sei er der positivistische Methoden-Staat.245 Im grauen Anzug wirkt die Gestalt so ruhig und kühl, dass man sich unwillkürlich fragt, ob eine derart vollkommene Erscheinung Schweißdrüsen, Schleimhäute und eine Verdauung besitzt. (CD 199) ›Mia‹, sagt die ideale Geliebte, ›der Mann spricht in Formeln. Der Mann ist eine Maschine!‹ (CD 37)

Kramer wird durch diese enthumanisierte Darstellung stellenweise zu einem Abbild des überpersönlichen und nach rein instrumentellen Prinzipien handelnden Staates. So wird die Charakterisierung Kramers zugleich zu einer des Staates, die nicht eben positiv ausfällt: Seine Bewegungsabläufe erinnern an die trügerische Gelassenheit einer Raubkatze, die, eben noch mit halb geschlossenen Lidern in der Sonne dösend, im nächsten Augenblick zum Angriff übergehen kann. Nur wer Heinrich Kramer besser kennt, weiß, dass er unruhige Finger hat, deren Zittern er gern verbirgt, indem er die Hände in die Hosentaschen schiebt. (CD 15)

Ist die Rolle Kramers als Staatsmetapher aufgedeckt, dann erscheint sein hier beschriebener Tic nicht mehr nur als individuelles Problem,246 sondern die »unruhigen Finger« lassen sich auf den gesamten, totalitären Staat übertragen und weisen gleichermaßen auf dessen Nervosität und Gefährlichkeit hin. Mias Part in dieser Rollenkonstellation ist dagegen der des exemplarischen Individuums, dessen Menschen-, Bürger- und Freiheitsrechte durch den Staat permanent bedroht werden: »In dem Blick, den er [Kramer] Mia zuwirft, liegt die Bereitschaft zu körperlicher Gewalt.« (CD 185) Die Anziehungskraft, die Mia auf Kramer ausübt, erzeugt bei ihm ein unterschwelliges, erotisch-aggressives Verlangen – »Die geschwollene Lippe steht Ihnen« (CD 204) – und ist auf dieser Rollen- und Beziehungsebene als Begehren des Staates, Hand an das Individuum zu legen, zu verstehen. Kramers Verlangen nach Mia, das schon von Beginn an bei jedem Treffen der beiden durchscheint, wird damit erneut zu einer Literarisierung dessen, was Foucault und Agamben unter dem Begriff der »Bio-Politik« verstehen: Kramers »unruhige Finger« stehen nicht nur für die Nervosität des Staates in seiner instabilen Statik, sondern auch für staatliche Übergriffe auf die 245 Als Repräsentant ist er ein wichtiger und exemplarischer Teil des Ganzen. Durch die Staatsmetapher wird dagegen der Eindruck einer Verschmelzung von Kramer und Staat erweckt, die weit über bloße exemplarische Repräsentation hinausgeht. Mogendorf streicht das »Maschinenhafte« Kramers heraus (vgl. Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 312–314), eine Deutung, die sich mit der obigen ergänzt. 246 Interessant ist zudem, dass also Kramer selbst nicht vollständig gesund ist, da Gesundheit nach seiner eigenen Definition »ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit« ist (CD 7).

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Körper seiner Bürger. Folgerichtig gibt am Ende Mia Kramer den Chip mit all ihren Vitaldaten und sagt: »Nehmen Sie. Das bin ich. Ihr rechtmäßiger Besitz. Lassen Sie sich ein goldenes Kettchen dazu schmieden.« (CD 248) Die staatliche Bio-Politik in ihrer Datensammlungs- und Disziplinierungswut kommt hier an einen Endpunkt, wobei Mias Hinweis auf die »Rechtmäßigkeit« freilich ironisch zu verstehen ist.247 Eine weitere Rollenkonstellation, in die der Text seine beiden Hauptpersonen bringt und mit der er spielt, ist die von Hexe und Inquisitor. Die Namen Mia Holl und Heinrich Kramer verweisen auf die Zeit der Hexenverfolgung: Die Nördlingerin Maria Holl erlangte im späten 16. Jahrhundert einige Berühmtheit, da sie, als Angeklagte in einem Hexenprozess, trotz wiederholter Folter kein Geständnis ablegte, sondern stets auf ihrer Gottesfürchtigkeit beharrte, woraufhin sie freigelassen wurde.248 Heinrich Kramer, bzw. latinisiert Henricus Institoris, ist dagegen der Autor des berüchtigten Malleus maleficarum, des Hexenhammers. Auf Mias Rolle als mögliche Hexe wird im Roman mehrfach angespielt (CD 232, 243, 252). Ausgehend von der Etymologie des Wortes ›Hexe‹ macht der Text Mias Rolle aber nicht über politische Inhalte fest, sondern strukturell über ihr Dasein als Grenzgängerin zwischen Anhängerin und Gegnerin der »Methode«: ›Das Wort kommt von Hagazussa. Die Hexe ist ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf Zäunen lebt. […]‹ ›Was hat das mit mir zu tun?‹ ›Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. […] Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen. Erinnert dich das an jemanden?‹ (CD 144, Kursivierung im Original)

Mia, die anfangs hin und hergerissen ist zwischen ihrem Glauben an den Staat und der Unschuld ihres Bruders, befindet sich also so lange in der Rolle einer Hexe, bis sie sich schließlich, nach Aufdeckung des Fehlurteils im Prozess gegen Moritz, innerlich und öffentlich zum Widerstand gegen die »Methode« bekennt und diese Zwischenposition verlässt. In dem Moment also, in dem Mia aus Sicht der staats- und Methodengläubigen Öffentlichkeit endgültig zur Hexe wird, nimmt sie tatsächlich die Rolle einer heiligen Jungfrau ein, die der Text von Anfang an für sie angelegt, aber noch nicht voll zur Entfaltung gebracht hat. Kramer ist in dieser entscheidenden Konstellation ein Dämon, ein Incubus, der Frauen in Versuchung führt: 247 Abweichend dazu deutet Mogendorf (Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 334) diese Szene als symbolische Eheschließung in Rückgriff auf das mittelalterliche »Motiv des Besitzerwechsels«, also der »symbolische[n] Übergabe der Frau in den Besitz des Mannes.« Gegen diese Deutung und für die Herstellung eines Bezugs zur Bio-Politik vgl. auch Gottwein, Die verordnete Kollektividentität, S. 225–226. 248 Vgl. McCalmont/Maierhofer, Juli Zehs Corpus Delicti (2009), S. 386.

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Als die Haustür aufgeht, verstummen alle drei mit einem Schlag. Da ist er wieder: Der Mann im dunklen Anzug. Das Gesicht ist zur Hälfte von einem weißen Tuch verdeckt, aber ein Blick in seine Augen genügt, um zu erkennen, wie schön er ist. (CD 21) Der Anwalt hat einen Arm erhoben, als wolle er Kramer mithilfe geheimnisvoller Kräfte auf seinen Platz bannen. (CD 167) [Mias] seltsame Bereitschaft, einem Raubtier wie Kramer Tür und Tor zu öffnen! In Rosentreters Augen ist das Obsession, Masochismus, um nicht zu sagen: Geistesgestörtheit. (CD 221)

Ein typisches Merkmal der Incubi, die sich nach spätmittelalterlicher Vorstellung in jeder beliebigen Gestalt zeigen können, ist gutes Aussehen, da ihr Ziel die sexuelle Verführung von Frauen ist; daneben ist auch die schwarze Kleidung typisch.249 Dass Kramers Schönheit, die im weiteren Verlauf der Szene spürbar Eindruck auf die drei Frauen macht, in diesem Sinne zu deuten ist, zeigt unter anderem Mias Anwalt Rosentreter, der in seiner Gegnerschaft zu Kramer wie ein Exorzist auftritt (vgl. CD 167 oben). Der Widerspruch, dass der Inquisitor gleichzeitig als Dämon erkennbar wird, löst sich auf, wenn man die Inquisition aus ideologiekritischer Perspektive betrachtet. Sie erscheint dann als schlimmste Form der Verblendung, der zahllose Frauen und Männer geopfert wurden.250 Letztlich wird die Gesundheitsdiktatur des dystopischen Zukunftsstaats also mit der historischen Inquisition verglichen. Die Frage aber, was der Dämon Kramer gerade an Mia so anziehend findet, lässt sich anhand des Malleus maleficarum selbst aufzeigen. Darin heißt es: Sed erga iuuenculas ambitioni et voluptatibus corporis magis deditas alium modum obseruant, scilicet per carnalia desideria et voluptates corporis. […] Vbi notandum quod sicut intentio et appetitus diaboli maior est ad tentandum bonos quam malos […] ita et diabolus sanctiores quasque virgines et puellas magis seducere conatur, cui experienta superest et etiam ratio.251

Gerade Mias Reinheit, die man auf verschiedene Aspekte ihres Charakters beziehen kann, reizt Kramer als teuflischen Dämon also, sie zu verführen. Sein Vorschlag gegenüber Mia, sich trotz der Verurteilung ihres Bruders zu einem öffentlichen Bekenntnis zur »Methode« durchzuringen (CD 42), kann aus Sicht der Leser:innen als ein solcher Verführungsversuch gedeutet werden. Doch durch ihre Widerständigkeit gegenüber Kramer und dem Staat entwickelt sich Mia im Laufe der Handlung stattdessen immer mehr zu einer zweiten

249 Vgl. Roper, Hexenwahn, S. 123–127. 250 Vgl. Moritz’ Ausruf vor Gericht: »Ihr opfert mich auf dem Altar eurer Verblendung.« (CD 34) 251 Malleus maleficarum, Pars 2, Questio I, Capitulum I, zitiert nach Mackay 2006, S. 390–391; eigene Hervorhebung.

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Jeanne d’Arc, einer jungfräulichen252 Widerstandskämpferin. Mia bezeichnet sich selbst als »Integrationsfigur« (CD 198) in einer möglichen Revolte oder Revolution.253 Eine solche ist sie aber nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch für die Leser:innen, die über eine Identifikation mit der hehren Mia ebenfalls in eine Gegnerschaft zum dystopischen Staat gebracht werden sollen. Schlussendlich teilt Mia mit der Jungfrau von Orleans auch das Schicksal einer Märtyrerin, allerdings nur aus Sicht der Rezipient:innen, da ihre Resozialisierung gerade dazu dient, einen solchen öffentlichen Status zu verhindern. Aus gattungsgeschichtlicher Perspektive erinnert ihre geplante Umerziehung frappierend an das Ende Winston Smiths in Nineteen Eighty-Four.254 Die verschiedenen Rollen, die die Hauptfiguren in Corpus Delicti einnehmen, dienen also vor allem dazu, die negativen, dystopischen Elemente des Staates herauszustreichen. In diesem Bereich hält sich der Text also noch eng an die Mechanismen der Nachkriegsdystopie, wenn auch bereits mit einem gewissen spielerischen Moment. 4.1.2.5 Die (Selbst-)Ironie des Romans In Rezensionen und Forschungsbeiträgen zum Roman wird insbesondere die didaktisch-aufklärerische Haltung der Dystopie betont und – je nach Standpunkt – kritisiert oder gelobt.255 Dies geschieht auch vor dem Hintergrund, dass Juli Zeh zusammen mit Ilija Trojanow, ebenfalls im Jahr 2009, eine nichtfiktionale Schrift veröffentlicht hat, die einen »Abbau bürgerlicher Rechte« in der Bundesrepublik bzw. den westlichen Industriestaaten kritisiert.256 Die Parallelen zu Corpus Delicti sind dabei offensichtlich und bestimmen die Rezeption des Romans. Gleichwohl wird eine Lesehaltung, die auch den Roman als in jedem Aspekt völlig ernst auffasst, dem Text nicht gerecht.257 Vielmehr lassen sich im Erzählverhalten zahlreiche Distanzierungen und Ironiesignale entdecken. Pathos und Ironie, Ernst und Distanzierung treten in stetigem Wechsel auf.

252 Nach allen Informationen, die der Text gibt, ist davon auszugehen, dass Mia noch keinen Geschlechtsverkehr hatte, da sie diesen zu Beginn der Handlung nur als Mittel zur Fortpflanzung betrachtet; einen Fortpflanzungspartner hat sie sich jedoch zu Beginn des Textes noch nicht vermitteln lassen (vgl. CD 15, 170, 176, 245). 253 Vgl. McCalmont/Maierhofer, Juli Zehs Corpus Delicti (2009), S. 386. 254 Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 171, sowie Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 505. 255 Evelyn Finger: Das Buch der Stunde. In: Die Zeit vom 26. 02. 2009; Rainer Moritz: Unverträgliche Immunsysteme. In: Neue Zürcher Zeitung vom 18. 07. 2009. Links siehe oben. 256 Ilija Trojanow u. Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. München 2009. 257 Vgl. Gerigk, Die ideale Geliebte, S. 8.

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Zu den postmodernen Elementen in Zehs Romanen hat vor allem Christine Mogendorf eine ausführliche Untersuchung veröffentlicht. Für Corpus Delicti kann festgehalten werden, dass der Text auch in der Romanfassung einen distanzierenden, theatralen Zug behält.258 Die starke intertextuelle Prägung des Textes lässt sich als weiteres Merkmal postmodernen Erzählens deuten.259 Typisch ist hierfür auch die Herausstellung und Bewusstmachung des Erzählvorgangs und damit die Distanzierung des Erzählers von der erzählten Welt, die sich an zahlreichen Stellen zeigt (CD 22, 25, 29, 55–56, 60, 130).260 Mia tritt in die Pedale und denkt an – was? Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass sie an Moritz denkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir richtig liegen, ist sehr hoch. Mia selbst kommt es so vor, als hätte sie noch nie so viel an ihn gedacht wie jetzt nach seinem Tod. (CD 79)

Der Erzähler weist sich somit als potentiell unzuverlässig aus. Auch über andere Strategien lässt sich eine selbstreflexive, selbstironische Erzählhaltung des Romans erkennen. Ausgehend davon, dass Mia ihr Leben als sinnlos wahrnimmt, entsteht in ihr der Drang, Kupferrohre beliebig miteinander zu verschweißen. Bis sie vielleicht einem Kranich ähneln. Oder einfach nur ineinandergewickelt sind wie ein Nest aus Würmern. […] Um etwas Zweckloses zu schaffen. Alles, was einen Zweck hat, erfüllt ihn eines Tages und ist damit verbraucht. (CD 25–26)

Hier klingt der auf Karl Philipp Moritz261 zurückgehende und von Kant maßgeblich verbreitete Gedanke der Autonomieästhetik an, wonach Schönheit und praktischer Nutzen in Konkurrenz zueinander stehen, etwas Schönes also zweckfrei bzw. nutzlos im praktischen Sinne ist.262 Diese Auffassung wird im Zitat auf zeitgenössische Kunstproduktion bezogen, wodurch sich eine Anwendung auch auf den Roman insgesamt aufdrängt. Die Dystopie spielt hier mit ihrer eigenen moralisch-didaktischen Haltung, die einen realpolitischen Zweck erfüllen soll, und distanziert sich selbstironisch von dieser. Es zeigt sich somit ein erster markanter Unterschied zwischen der Gattungstradition und dieser neueren Dystopie. Früher stand der warnende Charakter der Texte einer (selbst-)ironischen Erzählhaltung entgegen – denn wer auf eine ernstzunehmende Gefahr hinweist und dabei einen (selbst-)ironischen Ton anschlägt, scheint das aufrüttelnde Potential seiner Botschaft zu gefährden. Doch auch Corpus Delicti ist als ›Warnroman‹ zu betrachten (vgl. die Analyseabschnitte 2–4), von einer Berührungsangst mit Ironie kann dennoch keine Rede 258 259 260 261 262

Vgl. Layh, Finstere neue Welten, S. 156. Vgl. Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 221. Vgl. Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 171–177. Möglicherweise gar der Namenspate für Mias Bruder Moritz. Vgl. Ripplinger, Nachwort, S. 128–129.

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sein. Es scheint sich hierin nicht zuletzt das Vertrauen auf eine veränderte Rezeptionshaltung zu spiegeln, die zwischen ironischen und ernsten Elementen sehr wohl zu unterscheiden vermag. Im Gegenteil birgt eine ausschließlich ernste Erzählhaltung bei Zukunftstexten inzwischen vielleicht die Gefahr, dass der Weltentwurf als eine Prognose missverstanden werden könnte und aufgrund der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens (vgl. 2.4) von reflektierteren Leser:innen gerade dann nicht ernst genommen werden würde. 4.1.2.6 Aufklärung und Re-Mythologisierung Was der Text als Grundproblem der Jetztzeit kritisiert, ist außerdem viel mehr als nur die Bevormundung und Überwachung des Individuums durch den Staat, was auch in älteren Dystopien ein häufiges Thema darstellt. Es ist in Corpus Delicti das Fehlen einer sinn- und gemeinschaftsstiftenden Leitidee, das sich – aus Sicht des Textes – nach der Entideologisierung der Gesellschaft immer gravierender auswirkt. In einer Fernsehansprache Kramers heißt es: Nach den großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ein Aufklärungsschub zur weitgehenden Entideologisierung der Gesellschaft geführt. Begriffe wie Nation, Religion, Familie verloren rapide an Bedeutung. Eine große Epoche der Abschaffung begann. Zur Überraschung aller Beteiligten fühlten sich die Menschen zur Jahrtausendwende jedoch nicht auf einer höheren Zivilisationsstufe, sondern vereinzelt und orientierungslos […]. Was waren die konkreten Folgen? Geburtenrückgang, die Zunahme stressbedingter Krankheiten, Amokläufe, Terrorismus. Dazu eine Überbetonung von privaten Egoismen, das Schwinden von Loyalität und schließlich der Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme. Chaos. Krankheit. Verunsicherung. […] Die Methode hat sich der Probleme angenommen und sie gelöst. (CD 88–89)

Der Übergang zwischen der Deskription einzelner realer Phänomene und einer impliziten Vorhersage der weiteren Entwicklung der nahen Zukunft vollzieht sich hier fließend, die Grenze ist nicht ganz klar benennbar, sodass der Anschein von Zwangsläufigkeit erweckt wird. Grundlegend für Corpus Delicti ist der Gedanke, dass das aufklärerische263 Ziel einer ersatzlosen Abschaffung aller Ideologien zwangsläufig eine Aporie darstellt, da in diesem Fall ursprünglich nicht-ideologische Inhalte oder Prinzipien, insbesondere die Vernunft als handlungsleitendes Prinzip, übersteigert und damit selbst ideologisch würden. Es ergibt sich dadurch eine Verbindung zur Dialektik der Aufklärung, in der Adorno und Horkheimer von einem ähnlichen

263 Hier nicht primär im Sinne der historischen Epoche, sondern als umfassend-kritischen Denkhaltung.

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»Rückfall von Aufklärung in Mythologie« ausgehen.264 Dass im Roman neben der Vernunft auch der menschliche Körper durch seine maßlose Überhöhung zum Fetisch wird, wurde bereits gezeigt. Die Annahme, dass die Entideologisierung gesellschaftliche Leerstellen hinterlässt und dadurch Raum für neue Ideologien schafft, wird im Roman mehrfach verhandelt: [Mia:] Erst hat die naturwissenschaftliche Erkenntnis das göttliche Weltbild zerstört und den Menschen ins Zentrum des Geschehens gerückt. Dann hat sie ihn dort stehen lassen, ohne Antworten, in einer Lage, die nichts weiter als lächerlich ist. (CD 26–27)

Moritz’ und im Laufe der Handlung immer stärker auch Mias Suche nach einem übergeordneten Sinn kann auf göttliche Inhalte nicht mehr zurückgreifen, vollzieht sich aber noch in ursprünglich metaphysischen Kategorien. Daher spricht Moritz von der geheimen Lichtung als »Kathedrale«, in der »gebetet« werde (CD 60). Was bleibt, sind also metaphysisch beschriftete, aber leere Hüllen, die mit neuen, sinnstiftenden Inhalten gefüllt werden müssen:265 »Es war übersehen worden, dass auf jede Abschaffung eine Neuschaffung folgen muss.« (CD 88) Abgesehen von Außenseitern wie Mia und Moritz füllt die fiktive Gesellschaft diese Leerstellen mit einem irrationalen Glauben an die Vernunft und einem maßlosen Körperkult. Die Krankheitsanfälligkeit des Individuums, das den Ausgangspunkt der staatlichen Disziplinierungsmaßnahmen im Foucaultschen Sinne darstellt, hat die früher christlich begründete Sündhaftigkeit der menschlichen Natur ersetzt. Dass der Mensch erkranken kann, fungiert in der fiktiven Welt des Romans als positivistische Ersetzung der Ursünde;266 an die Stelle von Buße und Reglementierung durch die in der Aufklärung angegriffene 264 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 34–35. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, S. 33: Je mehr der Begriff der Vernunft an Kraft einbüßt, desto leichter gibt er sich her zu ideologischer Manipulation und zur Propagierung selbst der dreistesten Lügen. Das Fortschreiten der Aufklärung löst die Idee der objektiven Vernunft auf, den Dogmatismus und den Aberglauben; aber oft ziehen Reaktion und Obskurantismus den größten Vorteil aus dieser Entwicklung. Hergebrachte Interessen, die den traditionellen humanitären Werten entgegengesetzt sind, pflegen sich im Namen des ›gesunden Menschenverstandes‹ auf die neutralisierte, ohnmächtige Vernunft zu berufen. (Eigene Hervorhebung) Zu beachten ist hier insbesondere, dass es Kramer ist, der sich genau in der durch Horkheimer beschriebenen Weise auf den »gesunden Menschenverstand« beruft und dass auch die Zeitung, für die Kramer tätig ist, diesen Namen trägt (CD 199–201). Neben Horkheimer/Adorno hätten manche Bezüge zur Frankfurter Schule auch über einen Verweis zu Marcuse hergestellt werden können. Vgl. hierzu Smith-Prei, Relevant Utopian Realism, S. 113. 265 Vgl. hierzu auch Layh, Finstere neue Welten, S. 157 und Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 397. 266 Mogendorf spricht von der Darstellung des Menschen im Roman als »Mängelwesen«, was sich mit der obigen Deutung durchaus verbinden lässt (Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 397).

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Priesterkaste tritt die Reglementierung und Disziplinierung durch »Bio-Politik«. Das frühere Ideal eines sündenfreien Lebens wird zum Ideal eines völlig gesunden Lebens, und im Versuch, diesem Ideal möglichst nahe zu kommen, sehen die Individuen jetzt ihren Lebenssinn: Die Gesundheit »ist sichtbar gewordener Wille« (CD 7) heißt es passend in Kramers Standardwerk. Vor allem Kramer weiß, bewusst oder unbewusst, dass nicht die »Methode« ihm für seinen Einsatz zu danken hat, sondern dass im Gegenteil er ohne die »Methode« und seinen Glauben an sie den Lebenssinn und -mittelpunkt verlieren würde. Dies ist es, was Kramer in seinem Innersten antreibt und ihn zum »Fanatiker« (CD 247) werden lässt: [Mia:] Falsch, Kramer. Sie sind derjenige, dem das alles hier eine Menge bedeutet. Ihre Mama ist die Methode, und sie zittern vor Gier, den besten Platz an ihrer Brust zurückzuerobern. Anscheinend besteht meine letzte Aufgabe auf Erden darin, Ihnen zu zeigen, was Erwachsensein bedeutet. (CD 247; Kursivierung im Original)

Diese Aussage Mias ist aber nur die eine Hälfte der Wahrheit, deren andere sie Kramer nicht zugestehen mag, die im Text aber mehrfach zur Sprache kommt. Mia selbst nämlich ist auch eine Sinnsuchende, und gerade der Fanatismus Kramers ist es, der Mia anzieht, da er die Befriedigung ihres Bedürfnisses nach tieferem Lebenssinn in einer rein instrumentell-vernünftigen Welt verspricht, wie die beiden folgenden Textzitate belegen: Im Grunde wähnt sie Kramer und sich selbst aus ähnlichem Holz geschnitzt, nur dass er an einem Punkt, an dem Mia angehalten hat, einfach weitergegangen ist. Als gäbe es ein Ziel. Als gäbe es etwas zu wollen. Die brennende Frage, was Kramer will, was man überhaupt wollen kann, scheint auf mystische Weise im gekonnten Servieren einer Wassertasse Antwort zu finden. Für Sekunden fühlte sich Mia mit großer Kraft von Kramer angezogen. (CD 127, Kursivierung im Original) Das heiße Wasser stellt er auf den Boden und fügt Zitrone hinzu. […] Gierig beobachtet Mia jede seiner Bewegungen, als würde der Anblick des Rituals einen Hunger stillen, der schlimmer als der körperliche ist. (CD 206)

Was Mia anzieht, ist das Ende der Sinnsuche, die Hoffnung auf eine Erfüllung. Gleichwohl erkennt sie, dass Kramers Sinnangebot hohl ist, wie der Konjunktiv im Irrealis deutlich macht. Dass es sich auch bei der rationalistischen »Methode« um das Produkt einer Ideologisierung handelt, wird im Text unter anderem über den Begriff der »Unfehlbarkeit« deutlich gemacht, der als Anspruch der Bevölkerung an die »Methode« herausgestellt wird (CD 37 und 161). Es drängen sich hier Assoziationen zum päpstlichen Unfehlbarkeitsdogma auf. Auch wenn Kramer diesen Anspruch entschieden zurückweist, ist er im allgemeinen Denken offenbar fest verankert, sodass ein einziges Fehlurteil die Legitimität eines ganzen Systems zu untergraben droht. Mia lehnt diesen unangreifbaren Status des Gesundheits-

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ideals und der »Methode« immer mehr ab. Wie es ihr Bruder getan hat, versucht sie im Laufe des Romans zunehmend, die innere Leere nicht mehr durch Körperkult, sondern durch freiheitliche Ideale zu ersetzen. Die meisten der anderen Romanfiguren aber brauchen den Glauben an die Legitimität der instrumentellen Vernunft der »Methode« für ihre eigene geistige Stabilität. Schon die Dialektik der Aufklärung weist auf ein elementares Problem der Aufklärung hin, nämlich dass ihr eine Metaebene fehle, aus der heraus sie ihre eigene Rolle problematisieren könnte.267 Dieser Umstand sei die Grundvoraussetzung dafür, dass Aufklärung268 die eigenen Prinzipien überhöhe, sie dadurch ideologisiere und somit selbst wieder in »Mythologie« umschlagen könne: »Nimmt die Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.«269 Eine Aufklärung über die Aufklärung bzw. über die eigenen, nur scheinbar ›aufgeklärten Zeiten‹ zu erreichen, ist sowohl Ziel der Dialektik der Aufklärung, als auch des Romans Corpus Delicti. Der Roman entnimmt der realen Welt Formen und Wirkweisen einer rein instrumentellen Vernunft, lässt sie als »Methode« zum alleine gültigen Staatsprinzip werden und stellt sie so in ihrem wahren Wesen aus. Für den Roman ist das Streben westlicher Gesellschaften nach umfassender Sicherheit nicht nur völlig überzogen, sondern eine herrschende Gesellschaftsideologie: »Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet.« (CD 186) Die Gesellschaft soll im Zerrspiegel der Dystopie erkennen, dass sie mitnichten ›entideologisiert‹ ist, sondern dass sie im Gegenteil – unter Anwendung einer rein instrumentellen Vernunft – einer herrschenden Sicherheitsideologie folgt und diesem Fetisch beständig Freiheitsrechte opfert. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, warum die Klassifikation des Textes als Anti-Utopie, wie sie in der Forschung teilweise vorgenommen wird,270 dieser Dystopie nur mehr sehr bedingt gerecht wird. Da der Text nicht nur eine metaphysische Leere, sondern auch das Fehlen von sinnstiftenden Utopien/Ideologien kritisiert, ist der Begriff der ›Anti-Utopie‹ in diesem Fall als irreführend abzulehnen. Corpus Delicti nimmt weniger das Streben nach einer konkreten Utopie zum Anlass einer anti-utopischen Gegendarstellung, sondern beklagt Utopielosigkeit als 267 Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 3–5. Dieses Grundproblem einer fehlenden Aufklärung über die Aufklärung wurde auch schon im 18. Jahrhundert durch Kants Kritiker Johann Georg Hamann in seinem Brief an einen Schüler Kants aufgeworfen: »Anch’io sono tutore« (Hervorhebung im Original). Zitiert nach Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart 2002, S. 437. Mehr zu dem Problem, dass auch Aufklärer zu Vormündern werden, auf S. 444–468. 268 Hier erneut als gesellschaftlicher Prozess zu verstehen, der sich bis heute ständig vollzieht. 269 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 3. 270 Hilmes, Frei von Leid und Schmerz, S. 70: »Eine durchgängige staatliche Kontrolle spielt in Orwells und Zehs antiutopischen Gesellschaftskonstruktionen die zentrale Rolle.«

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Ausdruck einer generellen Orientierungs- und Sinnlosigkeit des heutigen menschlichen Daseins, was nach Ansicht des Textes die Entstehung von Ersatzideologien zur Folge hat. Gleichzeitig parodiert der Roman aber auch naives utopisches Denken als überholt und aporetisch.271 Hier zeigt sich das Dilemma ›postutopischer‹ Gesellschaften: Die großen Utopien sind gescheitert, aber ohne sie scheint es auch nicht zu gehen. Von großer Bedeutung ist die Frage, ob der Roman Lösungsmöglichkeiten für diese Zwickmühle anbietet. Der Text zeichnet hier jedoch ein zutiefst pessimistisches Bild, da jeder neue Inhalt wiederum Ausgangspunkt eines Ideologisierungsprozesses wird oder werden könnte. Die Existenzmöglichkeit einer Gesellschaft, die tatsächlich keiner Ideologie folgt, wird vom Text negiert. In diesem Sinne ist das zentrale Zitat Mias zu verstehen: »Es hat sich nichts geändert. Es ändert sich niemals etwas. Ein System ist so gut wie das andere. Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.« (CD 235) Über die Berufung auf das Mittelalter wird hier die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunftsvision geschlagen; ein pessimistisches Menschenbild dient als Erklärung dafür, dass Gesellschaften niemals ohne ihre jeweilige Art des Fanatismus auskommen. Weil ein Gemeinwesen immer aus menschlichen Individuen besteht und diese bereits »das Mittelalter«, also den Hang zu fanatischer Ideologisierung, in sich tragen, kann auch das Ergebnis dieser zwischenmenschlichen Zusammenschlüsse niemals frei von Ideologie sein. Besonders relevant ist, dass die Jetztzeit von diesem Punkt nicht ausgenommen ist: Die Beschreibung der möglichen Folter Mias ist deutlich an die Bilder aus dem Abu-Ghraib-Skandal von 2003 angelehnt (vgl. CD 235 und CD 259).272 Die mögliche Existenz eines ideologiefreien politisch-gesellschaftlichen Systems wird über diesen Dreischritt von der Vergangenheit (Mittelalter) über die Gegenwart (Abu Ghraib) zur Zukunft (Methoden-Staat) verneint. Eine Lösung des oben beschriebenen Dilemmas, wonach die gesellschaftlichen Leitutopien gescheitert und doch unverzichtbar sind, zeichnet sich in Corpus Delicti also zunächst nicht ab. Mehr noch: Der Roman selbst scheint über seine engagierte Freiheitsstreiterin Mia in eine Sackgasse geraten zu sein. Nach der Amputation aller metaphysischen und sonstigen Ideologien sieht der Text – wie gezeigt – die sich anschließenden gesellschaftlichen Phantomschmerzen als ursächlich für gefährliche »Re-Mythologisierungsprozesse« an, erkennt aber gleichzeitig auch, dass durch die Setzung alternativer Inhalte sofort neue Ideale geschaffen würden, die vor Ideologisierung nicht geschützt sind und sich in der Folge wieder zu fixen Ideen wandeln würden. Trotz dieser Erkenntnisse aber 271 Vgl. z. B. CD 11–12 und 36. 272 Vgl. Mogendorf, Von »Materie, die sich selbst anglotzt«, S. 444 und Klocke, ›Das Mittelalter ist keine Epoche.‹, S. 197.

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entwirft der Text durch seine Identifikationsfigur Mia ein so starkes Ideal individueller Freiheit, dass man ihm aus nachvollziehbaren Gründen »Antietatismus« vorwerfen kann, wie Harro Albrecht und Henk de Berg dies getan haben.273 Tauscht der Roman also einfach wider besseren Wissens einen Fetisch gegen den anderen, die Sicherheitsideologie gegen die Freiheitsideologie, aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der nächste Abschnitt. 4.1.2.7 Die Methode des permanenten Widerstands und die Tragik des Che Guevara Der starke Schematismus des Textes, der das Sicherheitsbedürfnis geißle und dagegen die individuelle Freiheit aufs Schild hebe, führe laut Albrecht und de Berg zu einem libertären Staatsverständnis, unter dem zum Beispiel die USA leiden würden.274 Diese Beobachtung weist auf einen wesentlichen Punkt hin, der in Literaturwissenschaft und Literaturkritik häufig übersehen wurde: Mia vertritt am Ende des Textes, inzwischen zur revolutionären Widerstandskämpferin geworden, selbst eine Position, die als ideologisch zu erkennen ist: ›Ab heute‹, sagt Mia langsam, ›macht sein [Moritz’] Name jede Vernunft unmöglich. Ab heute tue ich alles aus Liebe und frei von Furcht.‹ […] ›Wochenlang warst du nicht bei dir‹, sagt die ideale Geliebte zu Mia. ›Jetzt bist du es zu sehr.‹ (CD 174, Kursivierung im Original) ›Brennt das Land nieder‹, sagt Mia. ›Reißt das Gebäude ein. Holt die Guillotine aus dem Keller, tötet Hunderttausende! Plündert, vergewaltigt! Hungert und friert! Und wenn ihr dazu nicht bereit seid, gebt Ruhe. […]‹ (CD 258)

Was Albrecht und de Berg jedoch ihrerseits übersehen, ist, dass der Roman insgesamt auch eine Abgrenzung zu seiner Hauptfigur vornimmt. Der Text nimmt das Wissen um das ideologische Moment Mias in sich auf, wie etwa die Äußerung der »idealen Geliebten« im Zitat oben zeigt, und verhandelt es. Es stellt sich daher die Frage, wie dieser eklatante Widerspruch zwischen der Ideologiekritik des Textes und der ideologischen Position seiner Haupt- und Identifikationsfigur Mia zu erklären ist. Tatsächlich wirft der Roman implizit und an einer Stelle auch explizit durch Kramer das Problem des Widerstandes in ›postutopischen‹ und, zumindest im Anspruch, ›postideologischen‹ Zeiten auf: »Wofür wollen Sie denn streiten, Mia Holl, während Sie mich mit kämpferischen Augen ansehen? Für ein politisches Paradies auf Erden?« (CD 183) Dies ist das Dilemma, das sich aus Sicht des Romans für Revolutionäre ergibt: Der Verweis auf die Ideologie des herrschenden Systems stellt eine wichtige 273 Vor allem zu finden bei de Berg, Mia gegen den Rest der Welt, S. 32–43. 274 Vgl. De Berg, Mia gegen den Rest der Welt, S. 32–36.

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argumentative Waffe dar, doch gleichzeitig ist es dem Revolutionär unmöglich, seinerseits ideologiefreie Systeme als Alternativen vorzuschlagen: »Ein System ist so gut wie das andere« (CD 235). Bezeichnenderweise gibt Mia auf Kramers zentralen Kritikpunkt nur die ausweichende Antwort, jetzt überhaupt nicht mehr zu »rationalisieren«, sondern einfach nach Gefühl zu handeln (CD 183). Sie ist an diesem Punkt tatsächlich zu einer Revolutionärin geworden, die für ihre ideologische Überzeugung kämpft. Der Text verdeckt ihr Dilemma nicht, sondern lässt Mia und Kramer offen darüber diskutieren, ob sich deren Positionen am Ende des Romans strukturell nicht völlig entsprächen; als Aufhänger dieser Frage dient die Unterscheidung zwischen den Begriffen ›Märtyrer‹ und ›Fanatiker‹: [Kramer:] ›Ich komme nicht darüber hinweg‹, fährt er fort. ›Was unterscheidet den Fanatiker von der Märtyrerin? Bin nicht ich der Märtyrer, weil ich mich schon vor Jahren für eine Seite entschieden habe und ihr alles opfere?‹ (CD 245, Kursivierung im Original)

Ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch darin, dass Kramer Anhänger der herrschenden Ideologie ist, während Mia sich mit der Unterstützung einer Gegenideologie außerhalb des Mainstreams bzw. der diskursiven Macht gestellt hat. Mia vertritt eine Ideologie, aber es ist immerhin eine andere als die der Masse, die im Roman im Begriff zu sein scheint, endgültig zur Basis einer Autokratie zu werden. Aus einer philosophischen Perspektive mag Mia Kramer vielleicht nicht überlegen sein, aber aus pragmatisch-politischer Sicht kann sie theoretisch zu einer Öffnung des sich immer weiter schließenden Systems beitragen. Tragisch wird der Revolutionär aus Sicht des Textes erst, wenn er siegreich ist, wenn er also in die Lage kommt, seine alternative Ideologie umzusetzen und seinerseits ein Gesellschaftssystem zu begründen. Mias Scheitern am Ende des Textes bewahrt sie immerhin vor dem Schicksal siegreicher Revolutionäre wie dem Che Guevaras, der nach erfolgreicher Revolution auf Kuba erfolgloser Minister wurde und dann, am Frieden und eben auch an der eigenen Ideologie gescheitert, lieber im Kongo und in Bolivien wieder zum Revolutionär geworden ist. Der starke Schematismus und auch der Antietatismus des Romans sind somit weniger als Inkonsequenz des Textes zu sehen, sondern dem Bewusstsein um die Überlegenheit der Diskursmacht, der er sich in der realen Debatte entgegenstellt, geschuldet. Wenn in dieser Dystopie an vielen Stellen die Übermacht des gesellschaftlichen Mainstreams kritisiert wird (vgl. z. B. CD 22, 83, 227), dann bezieht sich dies auch auf den realen Diskurs, in den sich der Text einschreibt. Viele tausend kleine Widerstände und Revolutionsversuche können den realen, gesamtgesellschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik aus Sicht des Textes viel-

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leicht davor bewahren, noch weiter in seiner Ideologisierung voranzuschreiten.275 Es liegt hierin ein Appell an den Einzelnen zu einer permanent herrschaftskritischen Haltung – und damit das realpolitische Anliegen bzw. die Didaktik des Textes jenseits des Konfliktes von Freiheit versus Sicherheit. Freilich, eine erfolgreiche ›Revolution‹ durch den Roman, eine völlige Umkrempelung des bundesdeutschen Diskurses, würde sehr schnell die problematischen Aspekte vieler der im Text propagierten Ansichten zum Vorschein bringen, wie Albrecht und de Berg meinen. Nur: Da sich diese Dystopie mit der von ihr intendierten Revolte offenbar eher in der Rolle Jeanne d’Arcs als in der Che Guevaras sieht, leistet sie sich diese ›Mängel‹, um in ihrem Scheitern stärker wirken zu können. Insofern bleibt sie auch in ihrer Gesamtausrichtung der Philosophie Horkheimers und Adornos eng verbunden: Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen. (Dialektik der Aufklärung, Vorwort zur Neuausgabe 1969, IX)

4.1.2.8 Die Innovativität von Corpus Delicti (Fazit) Layh kommt, wie eingangs erwähnt, zu der Einschätzung, Corpus Delicti sei eine konventionelle Dystopie in der Tradition der Prototypen der Gattung und damit weniger innovativ als zum Beispiel Margaret Atwoods ›kritische Dystopie‹ The Handmaid’s Tale von 1985: Juli Zehs Corpus Delicti bleibt damit […] überraschenderweise gänzlich der traditionellen Form und den charakteristischen Narrationsmustern der prototypischen Dystopien […] verhaftet. […] In formalästhetischer und inhaltlich-thematischer Hinsicht bleibt Corpus Delicti damit hinter den sogenannten kritischen Dystopien zurück, die eine offenere Form aufweisen und ein innovatives Spiel mit der Gattungstradition betreiben.276

Tatsächlich jedoch ist Corpus Delicti ein Musterbeispiel für die Emanzipation der Gattung von jenem anti-utopischen Ansatz, der die früheren Dystopien geprägt hat. Die eigentlichen gesellschaftlichen Probleme, die der Text nun spielerischfragend erkennbar macht, sind gerade die Leiden einer ›postutopischen‹ Gesellschaft. Das durch den Roman problematisierte Sicherheitsbedürfnis stellt

275 Einige Hinweise deuten darauf hin, dass nach Abschluss der Romanhandlung Driss als nächste Widerständlerin, vielleicht sogar als neue ›heilige Jungfrau‹, aktiv werden könnte. Ihre beständige Sympathie mit Mia (CD 23, 64f.), ihre Jugend (CD 20), ihr kritischer Geist, der den älteren Hausgenossinnen immer wieder Anlass zur Mahnung ist (z. B. 256), legen einen solchen Schluss nahe. 276 Layh, Finstere neue Welten, S. 173–174.

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sich eher als ein sekundäres Symptom dieses grundlegenden Leidens heraus. Dadurch wird der Roman inhaltlich zu einem wichtigen Vertreter jener neuartigen und innovativen Dystopien, die die Gattung nach 1990 tiefgreifend verändert haben. Gewiss geht es im Roman auch um den klassisch-dystopischen Konflikt Sicherheit versus Freiheit (an diesem ist seine Hauptperson Mia interessiert), daneben geht es dem Text (nicht dagegen Mia!) zu einem erheblichen Teil auch um die Frage, wie die westlichen Gesellschaften mit dem Dilemma umgehen sollen, dass die großen Utopien gescheitert sind und trotzdem für eine langfristig erfolgreiche Gesellschaftskonstitution unabdingbar scheinen.

4.1.3 Unterwerfung (Michel Houellebecq, 2015): Die Banalität und Vitalität der Ideologien Nebenbei gesagt: ich habe den Mann in Verdacht, dass er gar nicht so sehr darauf erpicht ist, dass die Frau im allgemeinen kleine Kinder wäscht und Oberhemden bügelt; es liegt ihm nur daran, dass sie seine Kinder wäscht und seine Oberhemden bügelt! Hedwig Dohm277

4.1.3.1 Ein politischer Roman ohne posture – literaturwissenschaftliche Forschung auf schwierigem Terrain Der im Januar 2015 unter mehr als nur ungewöhnlichen Umständen278 erschienene Roman Soumission (dt.: Unterwerfung) des Prix-Goncourt-Gewinners Michel Houellebecq imaginiert die Wahl eines Muslims zum französischen Präsidenten im Jahr 2022 und eine sich daran anschließende komplette Umwandlung von Staat und Gesellschaft. Der Text wurde dabei überwiegend als Dystopie bzw. als ›Warnroman‹ rezipiert: »Unterwerfung ist eine Warnung«,279 behauptet etwa 277 Zitiert nach Nikola Müller u. Isabel Rohner (Hg): Hedwig Dohm. Ausgewählte Texte. Ein Lesebuch zum Jubiläum ihres 175. Geburtstages mit Essays und Feuilletons, Novellen und Dialogen, Aphorismen und Briefen. Berlin 2006, S. 212. 278 Unterwerfung war bereits bei Erscheinen ein Skandal, denn eine geleakte pdf-Version kursierte zuvor schon im Internet. Der terroristische Anschlag auf Charlie Hebdo genau am Tag der Veröffentlichung – eine Karikatur Houellebecqs war sogar auf der Titelseite der Charlie-Hebdo-Ausgabe dieses 7. Januar 2015 zu sehen – verzerrte dann die Rezeption des Romans als Text völlig. In der Folge ist zwar viel über den Roman und seinen Autor gesprochen worden, eine Trennung des Textes von den Umständen seiner Veröffentlichung findet allerdings selten und auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht durchgängig statt. Vgl. Komorowska, Mais c’est d’une ambiguïté étrange, S. 156. 279 Rezension von Arno Widmann in der Berliner Zeitung vom 15. 11. 2015 unter dem Titel Wir schaffen uns selbst ab. Michel Houellebecqs ›Unterwerfung‹ und der Terror von Paris. Online abrufbar unter: https://www.berliner-zeitung.de/kultur/-sote-michel-houellebecq-wir-scha ffen-uns-selbst-ab-23283444 (letzter Abruf am 18. 07. 2019).

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Arno Widmann in seiner Rezension für die Berliner Zeitung, Jule Govrin spricht in ihrer Analyse von einer »politischen Dystopie«280 und Anders Berg-Sørensen fasst die internationale Rezeption folgendermaßen zusammen: »Houellebecq’s novel is generally understood as a nationalist and cultural pessimistic dystopia of Europe in the very near future.«281 Demgegenüber wird hier die These vertreten, dass in Unterwerfung die für Dystopien notwendigen Wertungsmarker fehlen, die eine negative Wertung der Zukunftsvision – im Unterschied zur Positivität der Utopie – durch den Text anzeigen. Vielmehr betreibt der Roman hinsichtlich seiner eigenen Positionierung eine Art Versteckspiel mit den Leser:innen, indem er zwar starke Brüche von moralischen Normen darstellt, das Einnehmen einer eigenen Haltung zu diesen Brüchen allerdings systematisch verweigert.282 Seine Themenwahl macht Unterwerfung zweifellos zu politischer Literatur, doch anders als sonst in diesem Bereich üblich,283 ist der Text deswegen noch nicht als ›engagiert‹ zu bezeichnen. Im Französischen ist hier das Konzept der posture relevant; der Begriff bezeichnet eine sichtbare Haltung, die politische Schriftsteller:innen bzw. politische Texte einnehmen.284 Das Fehlen einer solch erkennbaren Positionierung in Unterwerfung ist auffällig und wurde in der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits betont.285 Unterwerfung wird so zu einer Art Gespenst der politischen Literatur: Ein politischer Roman, dessen Inhalt man zwar erkennen und beschreiben kann, den man darüber hinaus aber hinsichtlich einer politischen Positionierung kaum zu fassen bekommt. Mit diesem Problem ist die vorliegende Analyse jedoch nicht alleine. Die ganze, für die kurze Zeit seit Erscheinen erstaunlich breite Forschungsliteratur zum Roman arbeitet sich daran ab, das flüchtige Phänomen Unterwerfung dingfest zu machen. Am reflektiertesten geht dabei Franziska Sick vor, die die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den boomenden Dystopien und Unterwerfung aufzeigt und dennoch das Problem der fehlenden Wertung durch den Text mitbedenkt:

280 Govrin, Sex, Gott und Kapital, S. 23. Hierbei stellt sich natürlich die Frage, ob nicht ohnehin jede Dystopie politisch ist. 281 Berg-Sørensen, ›Submission‹, S. 132. 282 Vgl. Sick, Houellebecq, Michel: Soumission [Online-Lexikonartikel ohne Seitenangabe]. 283 Frankreich verfügt spätestens seit der Aufklärungsepoche im 18. Jahrhundert (Montesquieu, Voltaire, Diderot, Rousseau) über eine im internationalen Vergleich recht ausgeprägte Traditionslinie engagiert-politischer Literatur, die man in jüngerer Zeit unter anderem mit den Namen Sartre und Camus verbindet. Auch in der französischen Gegenwartsliteratur finden sich prominente Schriftsteller, die engagiert-politische Texte hervorbringen, etwa Kamel Daoud (*1970). 284 Vgl. Schneider, Il n’y a pas de liberté, S. 167. 285 Vgl. Komorowska, Mais c’est d’une ambiguïté étrange, insbesondere S. 156–163.

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Der 2015 erschienene Roman bewegt sich im Umfeld von Dystopien und Untergangsphantasien. Er setzt die aus Extension du domaine de la lutte (1994), Les particules élémentaires und La possibilité d’une île bekannte Kritik an den Errungenschaften der 1968er Generation fort und spitzt sie auf eine Kritik der Aufklärung zu. […] So apodiktisch die Kulturdiagnose Houellebecqs auch ist, so sehr bleibt deren utopisch-dystopische Umsetzung in einer ironisch kritischen Schwebe […]. Damit entzieht er sich gängigen Zuordnungen. Er ist weder Dystopie noch Untergangstheorie noch platterdings ein Décadenceroman. Alles steht gesprächsweise zur Diskussion und verharrt im Bereich des erzählerisch Möglichen.286

Auch Sick macht also das markierte Selbstverständnis eines Textes als Dystopie zur Voraussetzung für seine Zugehörigkeit zur Gattung (vgl. hierzu die Überlegungen in 2.3). Ihre darauf aufbauende, vorsichtige Hilfskonstruktion, Unterwerfung sei »im Umfeld von Dystopien« anzusiedeln, ist zwar umständlich und tendenziell unbefriedigend, aber dennoch anderen Forschungsansätzen weit vorzuziehen, die den Text pauschal als Dystopie, Utopie oder als reine Satire lesen, ohne diese Einordnungen durch Textverweise vollständig rechtfertigen zu können.287 Die vorliegende Analyse soll näher beleuchten, welche Wechselwirkungen zwischen den boomenden Dystopien im engeren Sinne und diesem Roman festzustellen sind. Die Ansiedelung des Romans »im Umfeld von Dystopien« durch Sick soll dabei nicht als End-, sondern als Startpunkt einer detaillierten, gattungssensiblen Analyse dienen. Dabei wird eine Leitthese sein, dass sich Unterwerfung zwar den Anschein einer typischen Dystopie gibt und sich bewusst in den Gattungskontext einschreibt, dass es sich tatsächlich jedoch um eine Art ›Pseudo-Dystopie‹ handelt, weil der Text durch den Verzicht auf sämtliche Wertungsmarker die Beurteilung der dargestellten Veränderungen ganz den Leser:innen überlässt und damit ein zentrales Definitionskriterium für Dystopien nicht erfüllt (vgl. 2.3). Unterwerfung lässt sich dennoch – so die zweite These – mit jenen neuartigen Dystopien in Verbindung bringen, die sich nicht mehr wie früher als Anti-Utopien begreifen, sondern die gerade das Fehlen von Utopien und Ideologien als ursächlich für diverse Schieflagen westlicher Gesellschaften thematisieren. Insbesondere ein Vergleich von Infinite Jest und Unterwerfung wird in dieser Hinsicht starke Überschneidungen zwischen den beiden eigentlich so unterschiedlichen Romanen erkennbar machen. Nach dieser Hinführung wird im zweiten Abschnitt nicht nur die Romanhandlung skizziert, sondern auch die spezielle Perspektivierung, durch die der Weltentwurf dargeboten wird, untersucht. Im Zuge dessen wird näher erläutert, 286 Sick, Houellebecq, Michel: Soumission [ohne Seitenangabe]. 287 Wie zum Beispiel in der Analyse Jule Govrins, die den Text ganz ohne weitere Differenzierung als »politische Dystopie« bezeichnet: Govrin, Sex, Gott und Kapital, S. 23.

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weshalb der Text hier als eine ›Pseudo-Dystopie‹ bezeichnet wird. Der darauf aufbauende, dritte Abschnitt ist das Kernstück der Analyse. Dort steht die Frage im Mittelpunkt, welche Ursachen der Text für die geringe ›Abwehrkraft‹ des Westens gegenüber dem Islam annimmt. Hierbei werden auch die genannten Parallelen zwischen den Romanen Unterwerfung und Infinite Jest aufscheinen. So unterschiedlich die Verlockungen sind, denen sich die Protagonisten in den beiden Texten ausgesetzt sehen, so entspringt ihre fehlende Resilienz gegenüber diesen Verlockungen doch einem Ziel- und Orientierungsdefizit, das sie über die Romane hinweg miteinander teilen. Viertens wird das Verhältnis von Unterwerfung zum öffentlichen Diskurs bzw. zu diskursiver Macht diskutiert; seine Selbstinszenierung als Tabubruch erscheint in diesem Kontext als eine zentrale Funktion des Textes. Fünftens soll der Zukunftsroman auf seine realen politischen Implikationen als utopisch-dystopischer Imaginationsraum hin untersucht werden. Schließlich werden implizite Hinweise genannt, über die der Text zumindest ansatzweise doch noch politisch verortet werden kann, bevor ein Fazit die Ergebnisse bündelt. 4.1.3.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Wegen der geringen Zeitspanne des Intervalls II – zwischen der Veröffentlichung des Romans und dem Einsetzen der Handlung liegen nur sieben Jahre – entspricht die fiktive Welt des Textes anfangs noch größtenteils der realen. In Unterwerfung werden bekannte Politiker und Journalisten wie Manuel Valls, Marine Le Pen oder David Pujadas genannt und in die Romanhandlung integriert. Fiktiv ist dagegen die während des Intervalls II anzusetzende Gründung einer neuen, Muslimbruderschaft genannten Partei als neuer politischer Kraft in Frankreich. Deren Spitzenpolitiker, Mohammed Ben Abbes, verfügt über ein außergewöhnliches Charisma und fungiert als Aushängeschild der Partei. Der Weltentwurf des Romans ergibt sich also auf Basis des in der Realität Bekannten, dem einzelne fiktive Elemente hinzugefügt werden. Zugleich jedoch haben sich bei Einsetzen der Romanhandlung im Jahr 2022 die politischen Kräfteverhältnisse stark verschoben: Gegen eine immer schwächer werdende Mitte haben die extremen Ränder massiv an Gewicht gewonnen, wobei dem rechtsgerichteten Front National nicht primär eine radikale Linke entgegensteht, sondern die Muslimbruderschaft. Bei der im Jahr 2022 turnusmäßig anstehenden Präsidentschaftswahl kommt es im Text dann zu einer Stichwahl zwischen Le Pen und Ben Abbes, die zugunsten des muslimischen Kandidaten ausfällt, da die geschockte gesellschaftliche Mitte schweren Herzens die Muslimbruderschaft gegen den Front National unterstützt. In der Folge kommt es zu einer vollständigen Umwandlung Frankreichs nach traditionalistisch-islamischem Vorbild, wobei dabei die überraschend großen programma-

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tischen Übereinstimmungen der Muslimbruderschaft mit katholischen Kreisen auffallen. Soweit die Rezipient:innen dies durch die gegebenen Informationen beurteilen können, ist diese konservative Transformation am Ende des Romans weitgehend abgeschlossen und Frankreich zu einer Nation geworden, in der der Islam die tonangebende gesellschaftliche Kraft ist. Zugleich versucht Ben Abbes erfolgreich, eine Führungsposition innerhalb der EU einzunehmen und durch die systematische Aufnahme nordafrikanischer Länder eine Islamisierung ganz Europas voranzutreiben. Der Fokus des Romans liegt also auf Frankreich, letztlich steht im utopisch-dystopischen Setting des Textes aber einmal mehr das gesamte Abendland in seiner heutigen Existenz zur Disposition. Die Romanhandlung wird aus der Perspektive eines Huysmans-Experten und Professors für Literatur an der Sorbonne namens François dargeboten. Dieser kann als typisch houellebecqscher (Anti-)Held bezeichnet werden, der in der säkularen, pluralistischen, Post-68er-Gesellschaft ein unzufriedener Außenseiter bleibt. Eine positive Identifikation mit der übrigen Gesellschaft findet in der Folge kaum statt, François bleibt trotz der sich vor seinen Augen abspielenden, monumentalen Umwälzungen in einer nicht-engagierten Distanzposition, sein Handeln ist statt von Idealen und Prinzipien von einer permanenten Lust-Unlust-Berechnung getrieben. Der Roman ist in fünf Teile gegliedert und lehnt sich auch bezüglich seiner inneren Logik an das Strukturprinzip aristotelischer Dramen an.288 Der erste, expositorische Teil beschreibt auf persönlicher Ebene François’ geistig-emotionale Genese als frustrierter Intellektueller, auf politischer Ebene den Aufstieg des Front National und der Muslimbruderschaft. Bereits hier wird die enge Verbindung dieser beiden Bereiche erkennbar: Die Erektionsprobleme, die François befallen, steigern nicht nur seine persönliche Sinnkrise, da nun auch der Sex als Lustfaktor zu entfallen droht, sondern sind bereits hier als Metapher für die ›Erschlaffung‹ der gesellschaftlichen Mitte angelegt (UN 18–21 und UN 69). Im zweiten Teil spitzt sich die politische Lage zu und es kommt zu bürgerkriegsartigen Szenen. François fühlt sich in seiner Pariser Wohnung zunehmend unsicher und flieht schließlich aufs Land, während er noch die Trennung von seiner Geliebten Myriam, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach Israel ziehen musste, zu verkraften hat. Auf seiner Flucht reist er – zunächst rein zufällig oder unbewusst – im dritten Teil nach Martel und später auch nach Rocamadour, also an Orte, die für den Kampf des christlichen Mittelalters gegen den Vormarsch des Islam stehen. Zu Füßen der schwarzen Madonna von Rocamadour scheitert jedoch sein Versuch einer katholischen Re-Ideologisierung, während zeitgleich Ben Abbes in Paris an die Macht kommt, sodass hier durchaus von einer Peripetie gesprochen werden kann, ab der die weitere Romanhandlung auf ihr unver288 Vgl. Hülk, Einleitung: Anmerkung zur Unterwerfung, S. 203.

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meidliches Ende zuläuft.289 Während des vierten Teils beginnt der Umbau der Französischen Republik. Die Umwälzungen an der Sorbonne, die François persönlich betreffen, stehen pars pro toto für die gesamte Gesellschaft. Frauen werden systematisch aus der Lehre entfernt, männliche Dozenten müssen zum Islam konvertieren, um weiter unterrichten zu dürfen, werden dann jedoch fürstlich entlohnt. Auf den Spuren von Huysmans besucht François in diesem vierten Abschnitt das Kloster von Ligugé, versucht es also noch einmal mit dem Katholizismus, was aber schnell als bloßes retardierendes Moment erkennbar wird. Im fünften Teil überlegt François schließlich, selbst zum Islam zu konvertieren, um in den Genuss eines beträchtlichen Gehalts und mehrerer Ehefrauen zu kommen. Der Roman bleibt während dieser Schlussüberlegungen jedoch im Unbestimmten und endet offen: »Ich hätte nichts zu bereuen.« (UN 271) Es wird also weder klar, ob sich François wirklich zu einer Konversion durchringen kann, noch, ob hier nun eine Katastrophe oder deren Abwendung am Ende des fünften ›Aktes‹ steht. Typischerweise gibt es in Dystopien eine immer weiter fortschreitende Verschärfung der Ausgangsproblematik, bis es zum Schluss zu einer finalen Katastrophe (für das Gemeinwesen oder zumindest für den rebellierenden Protagonisten) kommt. Daneben gibt es allerdings auch Dystopien, in denen das ursprüngliche Gefahrenpotential während des Intervalls III zu einem so vollständigen gesellschaftlichen Zusammenbruch führt, dass sich die weitere Entwicklung danach unter gänzlich veränderten Prämissen fortsetzt. Die Handlung zerfällt in diesen Dystopien dann gewissermaßen in eine Phase IIIa und IIIb. In Atwoods MaddAddam-Trilogie (2003/2009/2013) etwa gibt es eine dystopische Phase vor dem Ausbruch einer globalen, apokalyptischen Pandemie und eine utopisch-dystopische Phase danach. Auch in Unterwerfung zerfällt die Romanhandlung in eine Zeit vor und nach der muslimischen Machtübernahme.290 In der weiteren Analyse muss auf diese strukturelle Zweiteilung geachtet werden. Der auch im Roman als Epochengrenze dargestellte Bruch vollzieht sich zwischen dem vierten und fünften Teil der Handlung.291 Der Abschnitt vor dem Bruch (IIIa) zeichnet einen scheinbar typisch dystopischen, relativ kontinuierlichen Auflösungsprozess nach, während durch den Untergang/Umbruch (IIIb) mehr Raum für potentiell utopische Elemente entsteht (ganz ähnlich also wie in der MaddAddam-Trilogie). 289 Vgl. Schneider, Il n’y a pas de liberté, S. 154, Fußnote 11. 290 Ulrike Schneider geht ebenfalls von einer »zweifachen Versuchsanordnung« aus, sie sieht die Teilung jedoch vor allem zwischen der politischen und der privaten Sphäre; Schneider, Il n’y a pas de liberté, S. 154. 291 Der vierte Teil ist in gewisser Weise ein Übergang: Ben Abbes ist zwar bereits Präsident, allerdings hält sich die Hauptfigur im Kloster von Ligugé auf, ist also noch primär mit der Suche nach dem Christentum beschäftigt.

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Diese Unterteilung in zwei Phasen ist in Unterwerfung inhaltlich höchst signifikant, da der thematische Kern des Romans in IIIa klar der Zerfall des Westens ist, also den tieferen, inneren Grund seiner Schwäche beleuchtet. Der Islam gewinnt als Systemalternative erst im fünften Teil, also bei IIIb, stärker an Kontur. Schon quantitativ zeigt sich somit, dass Unterwerfung viel eher ein Roman über den Westen als über den Islam ist, dass also vor allem die Frage nach der Dekadenz der französischen Gesellschaft im Raum steht und dass diese Frage vom Wesen des Islam, das im Roman allenfalls lose skizziert wird, ziemlich unabhängig ist. Das mit Abstand wichtigste narrative Mittel, durch das die Identifizierbarkeit einer posture in Unterwerfung verhindert wird, ist die Etablierung einer Erzählhaltung in einer permanent unauflösbaren »Schwebe«292 zwischen Ernst und Ironie. Zentral ist hierfür die im Roman stets präsente Erzählerstimme des Protagonisten François. Ein Literaturwissenschaftler als Hauptfigur könnte wohl bereits an sich als ein metafiktionales Moment bezeichnet werden, in diesem Fall wird der Effekt aber noch dadurch verstärkt, dass sich François ganz zu Beginn explizit über zu verkopfte, fruchtlose philologische Studien mokiert (UN 9–10). Der Text schreibt sich dadurch das Wissen um die (Un-)Möglichkeit seiner eigenen Interpretierbarkeit selbst ein. Da die Leser:innen außerdem durchgängig mit den Gedanken der Hauptfigur konfrontiert sind, stellt sich zudem die Frage, welche spezifische ›Denke‹ ein Literaturwissenschaftler hat, zumal ein latent depressiver, ennuyierter Defätist wie François. Denkt er ironisch und zynisch, sozusagen mit Galgenhumor? An mehreren Stellen hat es den Anschein, ohne dass es dafür aber klare Beweise gäbe: Es hätte einer Frau bedurft, das war die klassische, die bewährte Lösung, denn eine Frau, die zwar unzweifelhaft menschlich ist, aber doch einen Typus darstellt, der sich ein klein wenig von der Menschheit unterscheidet, befruchtet das Leben mit einem gewissen Hauch von Exotik. (UN 184)

Entscheidend ist, dass die Zukunftswelt ausschließlich durch François als Filter dargeboten wird, dass also stets unklar bleibt, wie stark (und ggf. an welchen Stellen) dieser Filter ironisch gebrochen ist.293 Rückschlüsse auf eine Haltung des Textes insgesamt werden dadurch jedenfalls unmöglich, da François die massiven Veränderungen um ihn herum kaum wertet – und wenn er es doch einmal tut, dann trägt dies eher zu seiner weiteren Charakterisierung bei als zur Entwicklung einer Positionierung des Textes in seiner Gesamtheit. François ist nicht, wie sonst in Dystopien üblich, als positive Identifikationsfigur angelegt, deren Ansichten sich auf die Leser:innen übertragen können. »Ich bin für gar nichts, 292 Sick, Houellebecq, Michel: Soumission [ohne Seitenangabe]. 293 Vgl. Morrey, The Banality of Monstrosity, S. 203.

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wie du weißt«, stellt er schon zu Beginn des Romans in einem Gespräch klar (UN 35, Hervorhebung im Original). Eine wirkliche posture hat die Hauptfigur also nicht und das erleichtert es dem Text als Ganzem, ebenfalls keine zu entwickeln. Zur fehlenden Selbstzuschreibung des Romans als Utopie oder Dystopie kommt, dass der Text auf innovative Weise mit einer zentralen Konvention der Gattung bricht, nämlich der Betrachtung des jeweiligen Gemeinwesens als einer homogenen ›Schicksalsgemeinschaft‹ auf die sich in Utopien positive, in Dystopien negative Trends einigermaßen gleichmäßig auswirken.294 Wie die weitere Analyse zeigen wird, thematisiert Unterwerfung insbesondere die Probleme einer individualisierten Gesellschaft – insofern ist es folgerichtig, dass gerade dieser Text mit dem Konstrukt einer Gemeinschaft bricht, auf die man die Folgen der imaginierten Entwicklung relativ homogen projizieren könnte. In Unterwerfung werden auch innerhalb der ›autochthonen‹ französischen Bevölkerung Gewinner und Verlierer der utopisch-dystopischen Umwälzungen erkennbar. Verlierer sind all jene, die von der liberalen Gesellschaftsordnung, wie sie sich ab den 1960er-Jahren entwickelt hat, profitieren und die ihren Lebensstil auf ihr aufgebaut haben. Gewinnen können demgegenüber die Anhänger einer traditionelleren Lebensweise, denen das Erbe von 1968 seit jeher fremd geblieben ist. Die Hauptfigur François war Zeit seines Lebens ein solcher Fremder (vgl. UN 8–16), er steht trotz seiner prinzipiellen Neutralität für die potentiellen Gewinner einer traditionalistischen Umformung des Westens. Die Bedeutung dieses veränderten, differenzierteren Ansatzes in Unterwerfung, also das Aufbrechen des Konstrukts des einen Gemeinwesens als dem Objekt, auf das die utopischen oder dystopischen Entwicklungen einwirken, ist aus gattungsgeschichtlicher Perspektive kaum zu überschätzen. Dieser Ansatz stellt ein weiteres wesentliches Hindernis dar, den Roman tatsächlich zweifelsfrei der dystopischen Gattung zuordnen zu können. Durch den ausdifferenzierten, individualisierten Ansatz wird das Positive/Negative der imaginierten Entwicklungen schlechthin verabschiedet. Dieser Roman fragt stets: Positiv oder negativ für wen?! Dennoch trägt Unterwerfung viele typische Elemente von Dystopien in sich. In einer nicht weit entfernten, konkret ausgestalteten Zukunftsvision kommt es 294 Auch in den Dystopien der Gegenwart findet sich dieses Denken noch, wenn die Gefährlichkeit eines bestimmten Trends für das Gemeinwesen narrativ entfaltet wird. Das heißt jedoch nicht, dass alle Individuen innerhalb der Dystopien dies auch entsprechend begreifen. Im Gegenteil lässt sich in Romanen wie Corpus Delicti oder The Circle häufig eine extreme Verblendung der Bevölkerung feststellen, die dann jedoch Teil des Problems ist. Die jeweiligen Folgen sind auch in diesen Fällen als negativ für die Gesellschaft konzipiert. Außerdem kann es sowohl in traditionellen, wie auch in aktuellen Dystopien durchaus zur Herausbildung einer profitierenden, korrupten Personengruppe, wie etwa der Oprichnina in Sorokins Der Tag des Opritschniks, kommen. Dann erweist sich der Einfluss solcher TäterGruppen aber dennoch als Problem für ein als Ganzes gedachtes Gemeinwesen. Bei Sorokin etwa erweist sich die Oprichnina als schädlich für das russische Vaterland.

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zum Untergang des Abendlandes in seiner heute bekannten Form und damit einhergehend zu einer Vielzahl an Einschränkungen individueller Freiheitsrechte. Der 2015 erschienene Roman stellt sich durch dieses spezifische Setting erkennbar in den Kontext der boomenden Dystopien der Gegenwart. Im typischen Gestus traditioneller und aktueller Dystopien weist Unterwerfung die westlichen Leser:innen auf die Möglichkeit eines radikalen Zusammenbruchs ihrer Lebenswelt hin: »Bestimmt glaubten die Römer, ihre Kultur würde ewig währen, und das noch unmittelbar vor dem Untergang ihres Reiches; waren sie auch an sich selbst zugrunde gegangen?« (UN 231–232) Gerade in den westlichen Kulturen ist nach 1990 das Bewusstsein für die Möglichkeit des eigenen Untergangs immer stärker geschwunden (vgl. Kap. 7) – Unterwerfung ruft es mit Vehemenz wieder wach.295 Eine ganz klassisch-dystopische Warnstruktur wird hier auf den ersten Blick also durchaus nahegelegt. Unterwerfung muss seinem inneren Wesen nach nicht unbedingt eine Dystopie sein, um zumindest im breiten Diskurs als eine solche rezipiert zu werden. Insgesamt ergibt sich also die paradoxe Situation, dass sich Unterwerfung geradezu ostentativ wie eine Dystopie verhält und sich an einem Décadence-Topos par excellence bedient, zugleich jedoch eine Verschmelzung mit der Gattung durchgängig und planvoll verhindert. Mit dem Begriff der ›Pseudo-Dystopie‹ soll dieses Spiel aus Nähe und Distanz hier umschrieben werden. Auch als eine solche ›Pseudo-Dystopie‹ ist der Text mit dem Analyseinstrumentarium der vorliegenden Arbeit gut zu greifen: Der Roman verschränkt mehrfach die verschiedenen Zeitschichten, stellt also fiktive Prozesse der Intervalle II und III bruchlos und ohne Markierung als direkte Folgen von früheren, realen Begebenheiten dar und erzeugt dadurch geschickt Plausibilitätseffekte bezüglich seiner Zukunftsvision (UN 43–44, 125–126).296 Diese gattungsspezifische Methode, die verifizierbare Schilderungen der Intervalle 0 und I und fiktive Projektionen der Intervalle II und III ineinanderfließen lässt, findet sich in ganz ähnlicher Form z. B. auch in Corpus Delicti (CD 88–89). Unterwerfung gibt außerdem Wahlergebnisse innerhalb des Intervalls III bis auf die Nachkommastelle genau an (UN 67–68) und wirkt somit – besonders in Verbindung mit der Fiktionalisierung realer Personen – wie eine Art Geschichtsbuch der Zukunft. Die tatsächliche Plausibilität der politischen Handlungsteile wurde in der Debatte, die der Roman ausgelöst hat, oft bezweifelt,297 dem Lesepublikum wird durch diese narrativen Mittel jedoch der Eindruck von Zwangsläufigkeit298 suggeriert.299

295 296 297 298

Vgl. Ilea, Soumission ou capitulation, S. 354 und Betty, Without God, S. 124. Vgl. Schneider, Il n’y a pas de liberté, S. 159. Vgl. Komorowska, Mais c’est d’une ambiguïté étrange, insbesondere S. 148. Einzelne Versatzstücke sind jedoch satirisch konnotiert (etwa die fiktive, zukünftige Schlüsselrolle des 2012 bei der Parlamentswahl äußerst glücklosen Franςois Bayrou) und

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4.1.3.3 Dekadenz und der pursuit of happiness Wie bereits in Infinite Jest und Corpus Delicti stehen auch in Unterwerfung die negativen gesellschaftlichen Folgen, die sich aus der großflächigen Abschaffung von Utopien und Ideologien ergeben können, im Zentrum des Textes. In Unterwerfung betrifft dies hauptsächlich das Intervall IIIa. Gerade zwischen Infinite Jest und Unterwerfung sind hier überraschend starke Parallelen festzustellen, etwas schwächere auch zu Corpus Delicti. Alle drei Romane zeichnen das Bild von ›postutopischen‹ und (nominell) postideologischen Gesellschaften, denen es nun jedoch an Sinn, Antrieb und Struktur mangelt. Was insbesondere den Individuen in Infinite Jest und Unterwerfung zuletzt noch bleibt, ist das bloße Streben nach Lustmaximierung und Unlustvermeidung, also ein Hedonismus mangels Alternative. Hierin liegt in beiden Fällen die tiefere Ursache für die fehlende innere Widerstandskraft gegenüber potentiell gefährlichen ›Verlockungen‹. Hal ist anfällig für Drogen, Zucker und Entertainment, François für Sex, gute Küche, ein geregeltes Leben und daher auch für die entsprechenden Angebote des Islam. Diese unterschiedlichen Ausprägungen eines hedonistischen pursuit of happiness sind jedoch sekundär und bis zu einem gewissen Grad sogar austauschbar; entscheidend und identisch ist die Ursache der Anfälligkeit: This I was saying: this is why choosing is everything. […] [N]ow is what has happened when a people choose nothing over themselves to love, each one. […] Hugh Steeply, in complete seriousness as a citizen of your neighbor I say to you: forget for a moment the Entertainment […]: can such a U.S.A. hope to survive for a much longer time? To survive as a nation of peoples? […] Us, we will force nothing on U.S.A. persons in their warm homes. We will only make available. Entertainment. There will be then some choosing, to partake or choose not to. […] How will U.S.A.s choose? Who has taught them to choose with care? […] You cannot kill what is already dead. (IJ 318–319, eigene Hervorhebungen)

schränken die Plausibilitätsansprüche dadurch ein, vgl. Morrey, The Banality of Monstrosity, S. 205 und Schneider, Il n’y a pas de liberté, S. 160–161. Diese Lesart ist an einzelnen Stellen plausibel, für eine Betrachtung des ganzen Romans als Satire fehlen allerdings weitere Marker im Text. 299 Daneben ist mit Blick auf die Gattungsspezifika allerdings ein erzählerisches Problem des Romans zu konstatieren. Wie bei allen in dieser Arbeit analysierten Zukunftstexten (also allen Texten außer NG und AA) muss auch dieser mit der Herausforderung umgehen, bei den Leser:innen nachträglich Wissen über die Veränderungen während des Intervalls II aufzubauen (vgl. 2.3). In Unterwerfung wird diese Notwendigkeit vor allem über die Hauptfigur erledigt, die mehrmals seitenlang Informationen referiert (z. B. UN 43–45). Diese Stellen sind thematisch und vor allem in ihrer Systematik allerdings weder als Gedankengänge motiviert, noch auf irgendeine Kommunikationsinstanz außerhalb der Hauptfigur bezogen: Franςois scheint sich gedanklich häufig Dinge zu erzählen, die er ohnehin längst weiß.

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Auch in Unterwerfung steht am Ende die Frage, ob sich François für oder gegen die Verlockung, in diesem Fall den Islam und seine praktischen Vorteile, entscheiden wird. Und auch in diesem Roman wird bereits zuvor durch den neuen Universitätsleiter konstatiert: »Ja, in genau diesem Augenblick habe ich es begriffen: Europa war bereits an sich selbst zugrunde gegangen.« (UN 229) Eine spezifische Anfälligkeit der Gesellschaft – in Infinite Jest für Drogen, in Corpus Delicti für Szientismus, in Unterwerfung für den Islam – ergibt sich in allen drei Texten aus jenem ideellen Defizit heraus, das die großflächige Abschaffung von Utopien und Ideologien erzeugt hat: Die von den Romanen entworfenen Zukunftsgesellschaften haben nichts mehr, was sie ›im Innersten zusammenhält‹. Dies lässt ihre Widerstandskraft schwinden und der Weg wird frei für zersetzende Elemente. Durch seine Außenseiterrolle hat François diesen Verfallsprozess immer schon gefühlt, gleich auf den ersten Seiten beschreibt er den beständigen, hohlen pursuit of happiness seiner Umwelt: So geht es in unseren noch westlichen und sozialdemokratischen Gesellschaften allen, die ihr Studium beenden, nur ist es den meisten nicht oder nicht sofort bewusst, denn sie sind hypnotisiert vom Geld oder vom Konsum wie die Primitivsten, die die heftigste Sucht nach gewissen Dingen entwickelt haben […]. (UN 8)

Auch bezüglich der Utopie- und Antriebslosigkeit erweist sich François als sensibler »Seismograph«, der allgemeine Trends früher spürt:300 Vielleicht noch schlimmer: Ich mochte keine jungen Leute, ich hatte sie nie gemocht, selbst als man mich als einen der ihren hätte bezeichnen können. Die Vorstellung von Jugend implizierte, wie mir schien, einen gewissen Enthusiasmus gegenüber dem Leben oder vielleicht eine Art des Aufstands, begleitet von einem mindestens vagen Gefühl der Überlegenheit hinsichtlich der Generation, die zu ersetzen man bestimmt war. Niemals hatte ich etwas Derartiges empfunden. (UN 14)

Mit dem Islam hat all dies noch gar nichts zu tun, seine konkurrierende Existenz deckt in IIIa allenfalls diese gesellschaftlichen Probleme des Westens verstärkt auf und beschleunigt den längst bestehenden Verfallsprozess. Dieser Verfall zeigt sich in Unterwerfung besonders an der politischen Antriebslosigkeit der bürgerlichen Kreise Frankreichs und an den Eliten. Auch angesichts der existentiellen Bedrohung zentraler liberaler Werte durch den Islam und den Front National findet kein Aufbäumen statt, wofür die Professorenschicht der Sorbonne exemplarisch steht. Im Moment der Gefährdung zeigt sich nichts als flächendeckende Impotenz: Was mich wirklich schockierte, war die Schlaffheit meiner Kollegen. Sie hatten anscheinend kein Problem, fühlten sich null betroffen. Ihre Haltung bestätigte mir nur, 300 Hülk, Einleitung: Anmerkung zur Unterwerfung, S. 206.

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was ich schon seit vielen Jahren dachte: Wer einmal Hochschullehrer geworden war, der konnte sich nicht mehr im Geringsten vorstellen, dass eine politische Entwicklung sich auf seine Karriere auswirken mochte. Diese Leute fühlten sich absolut unantastbar. (UN 69)

Während jedoch in Infinite Jest das Ende des Kalten Krieges als Hauptursache der nationalen Ziel- und Orientierungslosigkeit dargestellt wird, arbeitet sich Unterwerfung am Erbe des Humanismus, der Aufklärung und vor allem an den ›68ern‹ ab. Für das Erbe jenes gesellschaftlichen Umbruchs ab Mitte der 1960erJahre steht im Roman die Gendertheoretikerin und Universitätsleiterin Chantal Delouze,301 die nach der islamischen Machtübernahme ihren Posten räumen muss. Ihre zunächst herausgehobene, extrem einflussreiche Stellung verweist auf die (über-)große Diskursmacht der ›68er‹ und ihrer geistigen Nachfahren in der Öffentlichkeit – ihre Ablösung dann entsprechend auf die Verschiebung dieser hegemonialen Position hin zum politischen Islam Ben Abbes’. Da der Text davon ausgeht, dass Ideologielosigkeit die entscheidende Ursache für die Antriebslosigkeit der Mitte und für das Erstarken der Ränder ist, führen die ›68er‹ und ihre Nachfahren ihr eigenes Ende durch ihre entideologisierte Offenheit letztlich selbst herbei. Dass es tatsächlich das Fehlen von Ideologien ist, das der Text als ursächlich für den projizierten Untergang des Abendlandes ansieht, lässt sich an zahlreichen Stellen aufzeigen.302 Der Katholizismus etwa übt deswegen eine so starke Anziehungskraft auf François aus, weil er aus dessen Perspektive die ›natürliche‹ ideologische Quelle des Westens ist. Bei der öffentlichen Lesung religiös inspirierter Péguy-Verse gerät er sogar in eine Art ideologischen Rausch: Ob diese jungen Katholiken wohl ihre Erde liebten? Ob sie bereit waren, sich für sie zu verlieren? Ich selbst war bereit, mich zu verlieren, nicht unbedingt speziell an meine Erde, ich fühlte mich generell bereit, mich zu verlieren, zumal ich mich in einem eigenartigen Zustand befand, denn mir kam es so vor, als würde die Muttergottes sich erheben, sich von ihrem Sockel lösen und wachsen, als wäre das Jesuskind bereit, sich von ihr loszumachen, und ich hatte den Eindruck, dass es jetzt nur seinen rechten Arm zu heben brauchte, um die Heiden und Götzendiener zu vernichten, und die Führer der Welt würden ihm »als Gott, als Allvater und als Herr« wieder folgen. (UN 147–148, Kursivierung im Original)

Die Auseinandersetzung mit Ideologien wird geradezu zum Leitmotiv des gesamten Textes. Durch die Verfallsthematik des Romans ergibt sich eine starke Verbindung zur Décadence-Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, auf die 301 Man beachte die klangliche Nähe zu Gilles Deleuze und dessen Verbindungen zu den Umbrüchen um 1968. 302 Vgl. die Anziehungskraft der ideologischen Position Kramers auf Mia in Corpus Delicti (siehe 4.1.2.6).

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die permanente Beschäftigung der Hauptperson mit Huysmans auch deutlich anspielt. Die zentralen Gegensatzpaare der Décadence-Strömung, die vitale Einfachheit einerseits und die kränkliche Geistesverfeinerung andererseits, passt der Roman an seine eigene Zeitdiagnose an und aktualisiert sie dadurch: Aus Verstandesgründen liegt François jede Re-Ideologisierung, zumal auf religiöser Basis, fern (vgl. insbesondere UN 184–185), gleichzeitig sieht er in ihr einen persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen. Ideologien gehen in Unterwerfung mit geistiger Einfachheit und Vitalität einher, während die entideologisierte Position philosophisch überlegen sein mag, sich allerdings nicht als auf Dauer lebensfähig erweist – daher kann der Islam den ›68er‹-Nachfahren die Herrschaft entreißen. Explizit wird durch den Nachfolger Delouzes an der Spitze der Universität, Robert Rediger, auf die enge Verbindung zwischen den beiden ›Ideologien‹ Christentum und Islam verwiesen, während das wahre Andere anderswo liege:303 Das Entscheidende aber ist, dass der wahre Feind der Moslems, den sie über alles fürchten und hassen, nicht der Katholizismus ist: Es ist der Säkularismus, der Laizismus und atheistische Materialismus. (UN 135)

Wie die Décadents des Fin de Siècle muss allerdings auch François feststellen, dass eine planmäßig angestrebte Wiedererlangung von natürlicher Naivität (in seinem Fall also eine Re-Ideologisierung) zum Zwecke der Vitalisierung kaum möglich ist. Beim Versuch seiner Re-Katholisierung scheitert er in Rocamadour schließlich auf ganzer Linie, die spirituelle Verbindung zwischen ihm und der Madonnen-Figur kann er nicht halten (UN 149), seine Welt bleibt im Sinne Max Webers ›entzaubert‹. Auch dass ihm der Islam jemals mehr sein könnte als ein praktisches Vehikel zur Erfüllung seiner materiellen Bedürfnisse, scheint daher trotz des prinzipiell offenen Schlusses äußerst fraglich.304 Um François’ Konversion zum Islam zu erleichtern, versucht Rediger, ihn mit Blick auf die Komplexität und Größe des Universums von der Notwendigkeit eines planvollen Schöpfungsaktes zu überzeugen und bei ihm so für einen ideologischen Nährboden zu sorgen (UN 224–228). Tatsächlich stellt sich François zum Schluss vor, wie er bei seiner Konversion von dieser Anschauung überzeugt sein werde: »[N]ach und nach würde ich der Großartigkeit der kosmischen Ordnung gewahr werden.« (UN 269) Dies bedeutet jedoch, dass sie ihm in diesem Moment noch nicht einleuchtet. Im gleichen, selbst-affirmativen Stil geht er im Übrigen davon aus, dass er es bestimmt schaffen werde, seine neuen Ehefrauen zu lieben (UN 271), doch nichts

303 Vgl. Govrin, Sex, Gott und Kapital, S. 26–28. 304 Vgl. Schuller, Das Literarische in Zeiten von PEGIDA, S. 243–244.

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davon ist wirklich sicher, und François scheint sich dessen auch halbwegs bewusst zu sein. Für François sind die mit der islamischen Herrschaft einhergehenden praktischen Veränderungen zwar in der Tat verlockend, als alternatives Sinnangebot entfaltet der Islam auf ihn jedoch – eben weil er wiederum auf einer Ideologie basiert – eine weit geringere Anziehungskraft. Wie schon bei Infinite Jest und insbesondere bei Corpus Delicti zeigt sich also auch in Unterwerfung das typische Dilemma von Texten in ›postutopischer‹ Zeit: Die Utopie- und die scheinbare Ideologielosigkeit der Gegenwart kann zwar als Problem benannt werden, eine Lösungsoption zeichnet sich deswegen aber noch längst nicht ab. 4.1.3.4 Programmatische Tabubrüche Dass die reale Gegenwart nur eine scheinbar ideologiefreie Gesellschaft ist, ist dem Wesen des Textes tief eingeschrieben. Die religiösen oder nationalen ReIdeologisierungen, die er für die Zukunft versuchsweise andenkt, stellen somit keine Alternativen zu einer entideologisierten Gegenwart dar. Sie würden aus Sicht des Textes lediglich den Übergang von einer verdeckt ideologischen zu einer wieder offen ideologischen Gesellschaftsordnung bedeuten. Um dies zu zeigen, extrapoliert auch Unterwerfung – wie bereits Corpus Delicti – gesellschaftliche Re-Ideologisierungsprozesse, aber eben nicht nur im Sinne der von François oder Rediger angestrebten, planvollen Rekatholisierung oder Islamisierung. Es ist ein spezifischer Moraldiskurs, den der Roman als maßlos überhöhtes Erbe der ›68er‹ markiert. Dieser erscheint als eine heimliche Leitideologie, die die Schieflagen der Gesellschaft aber eher noch verstärkt als sie zu beheben. Immer wieder weist Unterwerfung auf die drückende Konformität der französischen Medien in der Zukunftswelt hin (insbesondere bei UN 47), wobei sich eine Übertragung auf reale Zustände während des Intervalls I aufdrängt. Der Roman zeichnet somit das Bild einer immer weiter zurückgehenden »Ambiguitätstoleranz«305 der französischen Gesellschaft. In der Ablehnung dieser als ausgrenzend dargestellten, links-mittigen Diskursmacht – deren zentraler Wert ja eigentlich ›Toleranz‹ ist – lässt sich zumindest eine klare politische Haltung des Textes erkennen. Zudem wird die Bigotterie und Doppelmoral dieser sich moralisch überlegen fühlenden Bevölkerungsschichten angeprangert, etwa wenn Studienanfängerinnen von den männlichen Dozenten als »neue Ware« (UN 19) inspiziert werden oder wenn ein Protest der liberalen Gesellschaftsmitte gegen die Herausdrängung jüdischen Lebens aus dem öffentlichen Raum im Zuge der islamischen Transformation ausbleibt (UN 24–25 und UN 29–30). 305 Vgl. Thomas Bauers Publikation, die den Begriff in jüngerer Zeit entscheidend geprägt hat: Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011.

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Dieser hohle und in seiner Übermacht geradezu als totalitär empfundene, linksgerichtete Moraldiskurs kann bei François sogar körperliche Abwehrreaktionen hervorrufen:306 […] [A]llein das Wort »Humanismus« verursachte bei mir ein leichtes Gefühl von Übelkeit, aber vielleicht waren es auch die warmen Teigtaschen, mit denen ich es übertrieben hatte; ich nahm noch ein Glas Meursault, um das Gefühl zu vertreiben. (UN 224)

Auch in Unterwerfung kommt also der Problemkomplex einer fehlenden Aufklärung über die Aufklärung zum Vorschein, der auch in anderen hier untersuchten Texten eine wichtige Rolle spielt (vgl. Kap. 5). Der Roman kritisiert den diskursiven Mainstream seiner Gegenwart als doppelbödig. Er habe sich Toleranz auf die Fahnen geschrieben und sei dabei doch intolerant, er propagiere die Abschaffung aller Ideologien und sei dabei selbst ideologisch. Aus Sicht des Textes geht von dieser Ideologie aber nun gerade keine vitalisierende Wirkung auf die Gesellschaft aus. Der Unterschied zwischen den einfältig-vitalen, religiösen oder nationalen Ideologien und dieser ›Post-68erIdeologie‹ liegt in ihrer Heimlichkeit, ihrer scheinbaren Aufgeklärtheit, ihrer scheinbaren Toleranz. Der Roman und seine Hauptfigur tun sich schwer mit offen propagierten Ideologien, aber (mindestens) ebenso schwer erträglich ist dem Text die nur scheinbar ideologiefreie Realität des Intervalls I. Im Fall von Unterwerfung zeigt sich beim Experimentieren mit brisanten politischen Ideen und der gleichzeitigen Verweigerung einer posture daher eine geradezu programmatische Lust an der Provokation. Denn da im Roman die Dominanz der ›68er‹ und ihrer Nachfahren in der öffentlichen Debatte als hochproblematisch aufscheint, werden Abweichungen von dem durch sie geprägten moralischen Konsens in der Logik des Textes zu einem Zweck an sich.307 Unterwerfung sieht sich jedoch nicht nur in einer Anti-Mainstream-Position, mithilfe seiner Hauptfigur François inszeniert er sich geradezu als Skandalon.308 Schon ganz zu Beginn bezeichnet der Literaturwissenschaftler mit dem Hang zu »anormale[r] Ehrlichkeit« (UN 37) eine diskursunabhängige Geradlinigkeit als höchstes Qualitätsmerkmal literarischer Texte überhaupt (UN 10). Auf diesem impliziten Vorsatz der Unbestechlichkeit aufbauend, lässt der Roman seine Hauptfigur ausführlich den Kassandra-Mythos referieren und auf die Lage Frankreichs im Jahr 2022 beziehen: Kassandra steht also beispielhaft für ungünstige Vorhersagen, die immer wieder tatsächlich eintreffen; gemessen an den Fakten schien es, als wären die linksliberalen 306 Durch den Verweis auf den französischen Weinort Meursault wird hier auf leicht zu dechiffrierende Weise Camus’ Klassiker L’Étranger parodiert, dessen Protagonist denselben Namen trägt. Vgl. Donaldson, Is Franςois the New Meursault, S. 83. 307 Siehe vergleichend die Interpretation bei Corpus Delicti in 4.1.2.7. 308 Vgl. Asholt, Vom Terrorismus zum Wandel, S. 132.

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Journalisten von der gleichen Blindheit befallen wie die Trojaner – was in der Geschichte auch nichts Neues wäre […]. (UN 48)

Dass diese Kassandra-Rolle auch auf Unterwerfung als Ganzes übertragbar ist, ist sicherlich kein unerwünschter Effekt. Der Roman inszeniert sich als Kontrapunkt eines zu einer Ideologie verkommenen, ›linksliberalen‹ Mainstreams. Und so sammelt er programmatisch Tabubrüche an, um die Intoleranz der französischen Gesellschaft aufzudecken: Der Islam ist aggressiv und expansiv, die französische Gesellschaft ist impotent, der Front National wird zum letzten Streiter für das freie Frankreich. Die größte Provokation ist aber, dies alles ohne Wertungsmarker durch den Text – also gewissermaßen unkommentiert – darzustellen.309 4.1.3.5 Unterwerfung als »politischer Akt« Bei aller Vermeidung, eine eigene posture zu entwickeln, wird der Roman Unterwerfung somit dennoch zu einem »politische[n] Akt«.310 Bewusst oder unbewusst geht er dabei teilweise auch über ein bloß provokantes Kritisieren seiner Gegenwart hinaus. Unterwerfung schafft, wie alle anderen utopisch-dystopischen Texte,311 einen fiktiven Imaginationsraum.312 Dieser Roman zeichnet unter anderem das Bild eines vom fertilen Islam herausgeforderten Westens, in dem nur die Rechte um Le Pen noch genügend Energie besitzt, um den Kampf um die eigene Kultur aufzunehmen (denn auch die Identitären verfügen schließlich noch über eine vitalitätsspendende Ideologie). Erst bei einer genaueren Betrachtung wird deutlich, dass der Roman dabei bestimmte gesellschaftliche Transformationsprozesse massiv beschleunigt. Der Anteil der Muslime innerhalb der französischen Bevölkerung beträgt Ende der 2010er-Jahre lediglich ca. 8 %313 – viel zu wenig also, um im ersten Wahlgang zumindest zweitstärkste Kraft werden zu 309 Zur Provokation, die in der unengagierten Haltung liegt, vgl. auch Nonnenmacher, Unterwerfung als Konversion, S. 171. 310 Govrin, Sex, Gott und Kapital, S. 54. 311 Dystopien nehmen üblicherweise bereits theoretisch umschriebene Gefahrenpotentiale als Ausgangspunkt und spielen in der Fiktion deren Realisation durch. Hierdurch machen sie die möglichen Auswirkungen solcher Gefährdungen in weiten Bevölkerungsteilen vorstellbar und erfüllen so ihre hauptsächliche gesellschaftliche Funktion (vgl. 2.4). Die Bedeutung eines solchen Vorgangs darf nicht unterschätzt werden: Sorokins Roman Der Tag des Opritschniks etwa spricht sich erkennbar gegen eine autoritäre Re-Nationalisierung Russlands aus, doch das Schreckbild, das er zu diesem Zwecke zeichnet, verleiht einem ansonsten recht vagen russischen Patriotismus eine so klare Struktur, dass auch die eigentlich Kritisierten den vom Roman geschaffenen Imaginationsraum dankbar als orientierendes Leitbild nutzen (vgl. 4.2.1). 312 Vgl. Govrin, Sex, Gott und Kapital, S. 58–59. 313 Vgl. Sick, Untergangsphantasien, S. 90.

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können, denn trotz des Charismas Ben Abbes’ erscheint es mehr als zweifelhaft, dass Nichtmuslime im ersten Wahlgang in signifikanter Zahl die Muslimbruderschaft wählen sollen. Unterwerfung suggeriert durch den fiktiven muslimischen Wahlerfolg im ersten Wahlgang des Jahres 2022 also eine dramatische Populationsverschiebung innerhalb kürzester Zeit, auch wenn der Text diesen Umstand nie thematisiert.314 Auch nach der Übernahme des Präsidentenamtes durch die Muslimbruderschaft stellen sich die einschneidenden Veränderungen ganz unmittelbar ein. Kurze Röcke verschwinden quasi über Nacht aus dem Pariser Stadtbild (UN 155–156), das Lehrpersonal an den Universitäten wird umgehend beurlaubt, eine neue Leitung dort in Windeseile installiert. In diesem Sinne kann durchaus von einem Zeitraffer-Effekt gesprochen werden, den der Text einsetzt, um einen ›Clash of Cultures‹ von einer entfernten in die unmittelbare Zukunft zu verschieben. Zusätzliches Gewicht erhält dieser Effekt durch die im zweiten Abschnitt bereits beschriebenen narrativen Textstrategien, die den Eindruck von Zwangsläufigkeit erwecken können. Auffällig ist außerdem, welche Figuren die Gelegenheit bekommen, im Text ihre Weltsicht darzulegen. Es sind dies neben François vor allem sein neuer Kollege Lempereur, der neue Universitätsdirektor Rediger, die aufgrund ihres Geschlechts geschasste Ex-Kollegin Marie-Françoise und ihr Ehemann Alain Tanneur, sowie François’ Geliebte Myriam, wobei die weiblichen Personen ihre Funktion eher in ihrer jeweiligen Opferrolle zu haben scheinen (die Vertreibung der Frau vom Arbeitsplatz, die Vertreibung der Juden aus Frankreich) und ansonsten verhältnismäßig wenig politische Ansichten äußern. Neben François und dessen Hass auf die aus seiner Sicht ›moralinsaure‹ Mitte bleibt daher nur Lempereur, der als »Rechtsintellektuelle[r]« (UN 52, Hervorhebung im Original) der identitären Bewegung nahesteht, daneben der ebenfalls zumindest latent rechtsgerichtete,315 ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Tanneur mit seinen düsteren Insider-Einschätzungen (die vor allem die Gefahren betonen, die von einem politischen Islam ausgehen) und Rediger mit seinem islamischen Bekehrungseifer. Diese drei Personen erhalten neben François vorrangig die Gelegenheit zur Deutung der Geschehnisse und es ist auffällig, dass eine Vertreterin 314 Der Roman setzt sich kaum mit der Frage auseinander, wie dieser Wahlerfolg im ersten Wahlgang zustande kommt. Seine Plausibilisierungsstrategien setzen erst nach diesem ersten Wahlgang ein, wenn das Dilemma der ›liberalen Mitte‹ beschrieben wird, sich für die Muslimbruderschaft oder den Front National entscheiden zu müssen. 315 So äußert er sich etwa wie folgt: »Das Parteiprogramm der UMP sieht ebenso wie das der Sozialistischen Partei vor, Frankreich verschwinden zu lassen, es in eine Europäische Föderation zu integrieren.« (UN 125, eigene Hervorhebung) Diese auffällige Wortwahl ist nur aus einer tendenziell nationalistischen Position heraus motiviert. Franςois nimmt die Formulierung unwidersprochen hin. Eine ganz ähnliche Szene findet sich noch einmal in UN 139.

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oder ein Vertreter der durch den Text eigentlich als übermächtig kritisierten ›linksliberalen Mitte‹ hier gänzlich fehlt. Dies zeigt sich vor allem im Umgang des Romans mit der Figur Chantal Delouze, die zwar symbolisch für die Meinungsmacht der ›Moralisten‹ steht, im Roman aber nie selbst zu Wort kommt. Unterwerfung ist als Misston im öffentlichen Diskurs konzipiert, im Roman selbst aber herrscht somit ein auffälliger Gleichklang. Auch die potentiell verfeindeten Stimmen Lempereurs und Redigers decken sich in gewisser Weise, da sie insgesamt das möglichst intensive Bild eines ›Clash of Cultures‹ erzeugen sollen.316 Recht offensichtlich ist dabei die Sympathielenkung, die der Roman einsetzt, um die einzelnen Stimmen in ihrer Bedeutung zu validieren. François fungiert als eine Art Hallraum mit relativ wenig eigenen Impulsen,317 der jedoch nicht umhin kann, den drei genannten Gesprächspartnern aufgrund ihrer Persönlichkeiten und Ansichten Respekt entgegen zu bringen: »Trug Lempereur zu dick auf ? Leider nein, glaubte ich. Der Junge hatte mich mit seiner Ernsthaftigkeit tief beeindruckt.« (UN 63; entsprechend auch bzgl. der Bewertung Tanneurs und Redigers in UN 142 und UN 223) Auch Lempereurs entscheidende Aussagen zum Bürgerkrieg bleiben im Roman unwidersprochen: […] »Die Identitären Europas gehen davon aus, dass zwischen den Moslems und dem Rest der Bevölkerung früher oder später ein Bürgerkrieg ausbrechen muss. Wenn sie eine Chance haben wollen, dann sei es besser, wenn der Krieg so früh wie möglich ausbräche – in jedem Fall vor 2050, vorzugsweise noch viel früher.« »Das klingt logisch…« »Ja, auf politischer und militärischer Ebene haben sie mit Sicherheit recht.« […] (UN 61–62)

Unterwerfung gibt inhaltlich keine Ansätze, die Sichtweise Lempereurs, die später noch einmal bekräftigt wird (UN 101), zu widerlegen. Der Text überlässt es somit provokanterweise ganz den Leser:innen, hierin die Warnung vor einem zukünftigen Bürgerkrieg oder einen Aufruf zu seiner zeitnahen Initiierung zu sehen. Literaturkritiker, die den Roman in diesem Sinne offenbar eher als Aufruf denn als Warnung gelesen haben, bringen ihn mit daher mit Jean Raspails Dystopie Le Camp des Saints von 1973 in Verbindung.318 Dort erreichen Hunderttausende indische Elendsflüchtlinge die französische Küste und überschwemmen schließlich das Land. Obwohl es durchaus Parallelen zwischen den beiden Texten gibt, wie die Kritik an den moralischen Grundsätzen der Gesellschaft, und obwohl Unterwerfung mit dieser Textreferenz auch zu spielen scheint (Dreh- und Angelpunkt in Raspails Roman ist ebenfalls ein Literaturwissenschaftler), ist dieser Vergleich dennoch unzutreffend. Le Camp des Saints ist ein 316 Vgl. Matus, Translating Collective National Fears, S. 159. 317 Vgl. Hülk, Einleitung: Anmerkung zur Unterwerfung, S. 206. 318 Vgl. MacKellar, La République islamique, S. 371.

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im höchsten Maße engagiertes Werk mit einer ganz klar xenophoben Haltung. Auf ein solches Engagement ist Unterwerfung nicht festzulegen. Doch auch dieser Roman ist eben nicht nur, wie Sebastian Schuller schreibt, eine bloße »Nacherzählung des Angstnarrativs der Rechten«, der einen bestehenden Diskursstand lediglich »präsentiert«.319 Es ist die gesellschaftliche Hauptfunktion dystopischer Literatur, zur Konkretisierung andernfalls nur schwer greifbarer Gefährdungen beizutragen (vgl. 2.4). In diesem Fall sorgt vor allem ein krasser Zeitraffer-Effekt für die ›Islamisierung‹ Frankreichs und nicht nur die Schwäche des Westens oder die Stärke des Islam. Der Roman nimmt es somit in Kauf, als utopisch-dystopischer Imaginationsraum selbst zur konkretisierenden Projektionsfläche ursprünglich bloß diffuser Ängste vor ›Überfremdung‹ zu werden.320 4.1.3.6 Implizite Verpflichtungen Der gewaltige Einfluss des Islam auf Frankreich führt in dieser Zukunftsvision zu einer massiven Zunahme traditioneller Lebensweisen, wie sie ab etwa den 1960erJahren eigentlich immer weiter in den Hintergrund getreten sind. Am eindrücklichsten ist hier das Beispiel von Marie-Françoise, die von einem Tag auf den anderen nicht mehr als Universitätsdozentin arbeiten kann und so in ein häusliches Umfeld zurückgedrängt wird. Zur größten Verblüffung des Protagonisten stellt sie sich jedoch als eine Meisterin der französischen Küche heraus. So scheint sie dann auch in der eher schweigsamen Bewirtung ihres Gatten und François’ ihre eigentliche Bestimmung als Frau gefunden zu haben, während die Männer über Politik sprechen (UN 129–142). Erneut stellt sich die Frage, ob solch ein Antimodernismus ernst gemeint oder als bloße Provokation zu verstehen ist. Die intensive und geradezu analytische Beschäftigung des Romans mit den internen Problemen des Westens spricht implizit allerdings eher für eine Haltung, die sich selbst – aller Kritik des Textes zum Trotz – als diesem Westen noch irgendwie zugehörig betrachtet. Blickt man ferner auf die Stilistik von Unterwerfung, so liegt in der Drastik, mit der insbesondere Sexualität geschildert wird,

319 Beide Zitate bei Schuller, Das Politische in Zeiten von PEGIDA, S. 246. 320 Dieses durch den Text geschaffene politische Potential erkennend, versuchen Rechte wie Marine Le Pen auch tatsächlich, den Roman für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und feiern ihn als Erweckungsliteratur. Vgl. Govrin, Sex, Gott und Kapital, S. 54 und Komorowska, Mais c’est d’une ambiguïté étrange, S. 144. Auch die Deutung des Textes als Abwandlung einer praeteritio, wonach die permanent im Raum stehende ironische Distanzierung des Textes von sich selbst lediglich ein Mittel ist, um aktuell Unsagbares eben doch sagbar zu machen, ist – einmal mehr – weder widerlegbar noch belegbar, bleibt aber dadurch eben doch möglich.

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eine weitere implizite Verpflichtung des Werks zu pluralistisch-toleranten Werten: Der Schwanz ging von Mund zu Mund, die Zungen kreuzten sich, wie die Schwalben sich in leichter Unruhe im dunklen Südhimmel des Département Seine-et-Marne kreuzen, kurz bevor sie Europa verlassen, um dem Winter zu entfliehen. (UN 21) […] [S]ie hatte einen kleinen, ziemlich engen Arsch, doch aus mir unerfindlichen Gründen empfand ich überhaupt keine Lust – ich hätte sie stundenlang unermüdlich und freudlos in den Arsch ficken können. Als sie leise, stöhnende Laute auszustoßen begann, spürte ich, dass sie Angst bekam, Lust zu empfinden – und in der Folge möglicherweise Gefühle zu entwickeln; schnell wendete sie sich mir zu, um mich in ihrem Mund zum Ende zu bringen. (UN 163–164)

Bekundet François jemals wirklich Anerkennung oder gar Sympathie, dann gilt dies, wie gezeigt, niemals Vertretern der ›linksliberalen‹ Meinungsmehrheit, sondern stets jenen der antimodernen politischen Ränder, also den Identitären und den traditionalistischen Muslimen. Dabei braucht Unterwerfung als Text, wie übrigens auch die anderen Romane Houellebecqs, seiner Wesensart nach einen modernen, offenen Diskurs so dringend wie die Luft zum Atmen.321 Unterwerfung erweckt in vielen Aspekten den Eindruck einer antimodernen Schrift und ist dabei selbst doch entschieden modern. Ausführungen wie die oben zitierten jedenfalls dürften weder in konservativ-rechtsgerichteten, noch in streng religiösen Kreisen großen Anklang finden. Bei aller Kritik an der westlichen Zivilisation und an seinen Werten lässt also die Intensität und die Art der Auseinandersetzung mit dem Westen implizit doch noch eine erhebliche Verbundenheit des Textes mit diesem Westen erkennen. 4.1.3.7 Ernsthafte Spielereien (Fazit) Schon aufgrund seiner Themenwahl ist Unterwerfung zweifelsfrei als politische Literatur zu klassifizieren – zugleich jedoch verweigert der Roman hinsichtlich der meisten von ihm aufgeworfenen Fragen und Problemen eine erkennbare, geschweige denn eine engagierte Haltung. Dieser Ansatz ist im Rahmen politi321 Als Randnotiz sei hier zudem angemerkt, dass die Anschläge auf Charlie Hebdo am Veröffentlichungstag des Romans die auch beim realen Autor des Textes erkennbare Strategie, keine engagierte ›Haltung‹ einzunehmen, weitestgehend zunichte gemacht hat. Houellebecq sieht sich in der Folge genötigt, klar für die Meinungsfreiheit und eine offene Gesellschaft einzutreten und versucht, den Roman dahingehend im Nachhinein zu vereindeutigen; vgl. Komorowska, Mais c’est d’une ambiguïté étrange, S. 161–163. Sehr pointiert ist diesbezüglich die Formulierung von Martina Meister über diesen Wandel: Houellebecq »hat […] recht gegen sich selbst.« Zitiert nach ihrem Artikel Voltaire bringt man nicht um in der Frankfurter Rundschau vom 13. 01. 2015. Online abrufbar unter: https://www.fr.de/kultur/li teratur/voltaire-bringt-nicht-11139809.html (letzter Abruf am 25. 06. 2019).

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scher Literatur und insbesondere im utopisch-dystopischen Kontext höchst ungewöhnlich. Dadurch, dass sich Unterwerfung klar in den Kontext der boomenden Dystopien stellt, sich aber zugleich einer posture verweigert und somit »gegen all die Hanswurste der engagierten Literatur« (UN 52) positioniert, wird die ausbleibende Positionierung in diesem Roman umso stärker markiert. Die schweren Irritationen bei der Rezeption des Romans sind nicht zuletzt auf diesen Umstand zurückzuführen. Dass der Text dennoch bei den übrigen Dystopien der Gegenwart behandelt wurde, liegt daran, dass Unterwerfung als Text ganz wie eine Dystopie strukturiert ist und sich als ›Pseudo-Dystopie‹ mit in die Gattungsgeschichte einschreibt. Durch seine in die Zukunft projizierte Verfallsthematik ruft der Text bei den Rezipient:innen Assoziationen zur boomenden Gattung auf und stellt sich ostentativ in diesen Kontext, obwohl er dort aufgrund seiner unengagierten Haltung letztlich doch ein Fremdkörper bleibt. Er treibt damit das bereits vor ihm etablierte Spiel mit den definitorischen Grenzen der Dystopien so weit, dass innerhalb der utopisch-dystopischen Gattung keine weitere Klassifikation des Romans mehr möglich ist (vgl. 2.3). Auch die in diesem Kontext relevante Verabschiedung des einen homogenen Gemeinwesens als dem Objekt von positiven oder negativen Zukunftsentwicklungen durch den Text ist mit Blick auf die utopisch-dystopischen Texte insgesamt ein kaum zu überschätzender Schritt.322 Obwohl sich Unterwerfung nicht als wirkliche, sondern nur als ›PseudoDystopie‹ entpuppt hat, konnte der Roman dennoch in den Kontext der Dystopien in ›postutopischer‹ Zeit gestellt werden. In überraschend großer Analogie zu Infinite Jest, teilweise auch zu Corpus Delicti, stellt er die Anfälligkeit ›postutopischer‹ Gesellschaften für problematische Verlockungen dar. Auch in Unterwerfung zeigt sich das Dilemma ›postutopischer‹ und (scheinbar) postideologischer Zeiten, wonach eine ideelle Orientierungslosigkeit als die zentrale Ursache gesellschaftlicher Dekadenz zu sehen ist, während zugleich eine Rückkehr zu Utopien und Ideologien kaum möglich erscheint. Der Roman testet zwar die Nähe zu katholischen, islamischen und identitären Ideologien aus, geht jedoch in keiner von diesen auf und verharrt damit – aufgrund seiner gleichzeitigen Kritik am ›68er-Mainstream‹ – in einer dilemmatischen Position.

322 Setzt sich dieser nicht-engagierte, differenzierende Ansatz durch, könnte das zur Herausbildung einer ganz eigenen Textsorte führen. Diese neuartigen ›Zukunftsromane‹ würden die realpolitische Ausrichtung von Utopien und Dystopien (im Gegensatz zur ScienceFiction) beibehalten, ohne dies aber mit einer engagiert-wertenden Texthaltung zu verbinden (vgl. 5.3). Vgl. zu dieser möglichen Verschmelzung von Utopie und Dystopie auch Seeber, Die Selbstkritik, S. 234 und Veddermann, Von der ambivalenten Dystopie, S. 1–17 und S. 168–169.

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Die größte Provokation des Romans stellt sicherlich die Darstellung eines vom Islam übermannten Frankreich dar, und es bleibt aufgrund der Textgestaltung offen, ob sich der Zweck dieses Ansatzes in seiner Provokation bereits erschöpft oder ob er tatsächlich als Warnung oder als Hoffnung zu verstehen ist. Vor allem in dieser Frage macht der Text definitive Aussagen unmöglich. Sicher ist nur, dass die potentiell beständig im Raum stehende Selbstironisierung und damit Selbstdistanzierung eine auffällige Neuerung im Vergleich zu den in aller Regel ernsten, engagierten und kaum spielerischen Nachkriegsdystopien darstellt. Vor allem durch die Schaffung eines utopisch-dystopischen Imaginationsraums, in dem Veränderungen der Gesellschaftszusammensetzung stark übertrieben dargestellt werden, ermöglicht der Roman seine Instrumentalisierung durch rechtsgerichtete politische Kräfte. Zugleich jedoch liefert er die detaillierte und empathische Diagnose einer aktuellen Orientierungskrise des Westens und weist, ganz im Stile typischer Dystopien, auf daraus resultierende Gefahrenpotentiale für den inneren Bestand der westlichen Gesellschaften hin. Ist Unterwerfung somit noch als postmodern-ironisches Spiel anzusehen oder bereits im Kontext der Rückkehr von Ernst und Engagement in die Literatur323 zu betrachten? Da die provozierend unengagierte, potentiell stets ironische Haltung des Romans letztlich als geradezu programmatisch und damit indirekt doch als engagiert für einen wirklich toleranten, pluralen Diskurs gedeutet wurde, ergibt sich hier ein Bild des Romans, das ihn als eine doch sehr ernste Spielerei zeigt. So gilt bei diesem Text bis zuletzt das schlegelsche Diktum: »Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen.«324

4.2

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Zu Beginn des ersten Textblocks war mit Blick auf die westlichen Gesellschaften die Rede vom Anbruch einer ›postutopischen‹ Epoche (vgl. 4.1). In diesem zweiten Block findet dennoch eine Beschäftigung mit zeitgenössischen Dystopien statt, die man (scheinbar ganz klassisch) als Anti-Utopien bezeichnen kann, die also noch konkrete Utopien325 zum Ausgangspunkt ihrer warnenden Kritik nehmen und zu diesem Zweck negativ-komplementäre Gegenwelten der utopischen Idealbilder entwerfen. Das scheinbare Paradox von anti-utopischen Texten in ›postutopischer‹ Zeit löst sich beim ersten Roman dadurch auf, dass die Arbeit mit Der Tag des Opritschniks einen Blick nach Russland, also an den Rand der

323 Vgl. Wagner, Aufklärer der Gegenwart, S. 52–61. 324 Schlegel, Über die Unverständlichkeit, S. 370. 325 Zur Definition der Begriffe ›Utopie‹ und ›utopisch‹ vgl. 4.1.

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westlichen Welt,326 wagt. Utopische Vorstellungen einer neo-zaristischen Rekonstitution des russischen Großreiches wurden dort, insbesondere seit Beginn der Regierungszeit Wladimir Putins im Jahr 2000, immer bedeutender.327 Dieser in Russland nach wie vor wirksame politische Utopismus steht in signifikantem Gegensatz zur gegenwärtigen Rolle von Utopien in genuin ›westlichen‹ Gesellschaften.328 Der Tag des Opritschniks nimmt die utopischen Visionen einer russischen ›Wiedergeburt‹329 zum Ausgangspunkt seines dystopischen Weltentwurfs. Die negative Zukunftsvision in The Circle dagegen zielt direkt ins Zentrum des auch heute noch wirksamen, westlichen Utopismus. Der Roman basiert auf jenen umfassenden Technik-Utopien, die man insbesondere mit dem Apple-Konzern und seinem 2011 verstorbenen, charismatischen Mitbegründer Steve Jobs verbindet,330 sowie mit der Utopie absoluter globaler Vernetzung und Verbundenheit, für die vor allem Facebook und Google stehen. Dieser durch die Digitalisierung entstandene, neue Utopien-Komplex331 hat seinen Ursprung nicht in politischen Ordnungsvorstellungen, sondern in den Wünschen einer technikaffinen und global denkenden Consumer-Society. Es handelt sich dabei also nicht mehr um genuine ›Staats-Utopien‹ – und nur in dieser Hinsicht wird in der vorliegenden Arbeit von einer ›postutopischen‹ Ära gesprochen. Gleichwohl können natürlich auch die Technik-Utopien aus dem Silicon Valley massive Auswirkungen auf die Gesellschaftsordnung haben, wodurch die Tür für antiutopische Kritik an diesen primär unpolitischen Utopien geöffnet wird. Die Analyse einer Anti-Utopie aus dem Herzen des mittlerweile eigentlich ›post-

326 Die Nähe oder gar die Zugehörigkeit Russlands zum ›Westen‹ unterlag im Verlauf der letzten Jahrhunderte starken Schwankungen. Zumindest was den Status der Utopie in der russischen Gesellschaft angeht, scheint momentan eine eher große Kluft zum ›Westen‹ zu bestehen (vgl. hierzu auch die nächsten Fußnoten). Auch Der Tag des Opritschniks thematisiert die Frage, ob sich Russland am Westen und seinen Werten, an China oder doch besser an sich selbst orientieren sollte. 327 Nicht erst der Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 hat dies deutlich gemacht; vgl. Aptekman, Forward to the Past, S. 243. 328 In dieser Hinsicht ist das heutige Russland der Volksrepublik China sehr viel ähnlicher als den europäischen Staaten. Auch in China entfaltet utopisches Denken (insbesondere der auf das Jahr 2049 bezogene, sog. ›Chinesische Traum‹) nach wie vor ein großes politisches Potential. Vgl. hierzu etwa den Artikel von Daniel Satra auf tagesschau.de mit dem Titel Chinas Plan für 2049 vom 26. 03. 2019. Online abrufbar unter: https://www.tagesschau.de /ausland/neue-seidenstrasse-101.html (letzter Abruf am 28. 08. 2019). 329 Details dieser Rekonstituierungs-Visionen sind nachzulesen bei Aptekman, Forward to the Past, S. 242–254. 330 Vgl. hierzu z. B. die Publikation von Brett Robinson: Appletopia: media technology and the religious imagination of Steve Jobs. Waco 2013. 331 Vgl. hierzu vor allem Rudolf Maresch (Hg.): Renaissance der Utopie: Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2004.

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utopischen‹ Westens ist somit nicht widersprüchlich, sofern der veränderte Status der zugrundeliegenden Utopien mitbedacht wird.

4.2.1 Der Tag des Opritschniks (Vladimir Sorokin, 2006): Narrative Experimente mit hohem Risiko Der »Opritschnik« wurde zur Lieblingslektüre sowohl liberaler als auch patriotischer Intellektueller. […] Der Geschäftsmann Boris Beresowski, der vor Putin ins Londoner Exil geflüchtet war […], empfahl in seinem jährlichen Internet-Sendschreiben an den Kremlherrn, Putin […] solle den »Opritschnik« unbedingt lesen. Im Umkreis des Präsidenten lobt man Sorokins Buch als »äußerst treffend«. Die Beamten ließen dem Schriftsteller ausrichten, der »Goida«-Ruf, mit dem man sich auf das Zerschmettern von Feinden einstimmt, sei ihnen unvergesslich. Vollends unheimlich war für Sorokin das Kompliment der Jugendorganisation der neuimperialen Eurasier, die den »Opritschnik« als prophetisches Werk begrüßten, das vorführt, was Russlands inneren Feinden blüht. Kerstin Holm332

4.2.1.1 Forschungsstand und spezifische Fragestellung Der Tag des Opritschniks schildert einen Tag im Leben des Opritschniks Andrej Danilowitsch Komjaga im Jahr 2027. Die historische oprichnina war eine von Iwan IV. (›dem Schrecklichen‹) 1565 ins Leben gerufene Militäreinheit, die den politischen Einfluss des Adels zurückdrängen und so Iwans Macht im Inneren festigen sollte. Der Roman imaginiert nun die Neuerrichtung einer an die Herrschaftspraktiken Iwans angelehnten Monarchie in Russland. Wie Iwan IV. zuvor, lässt sich der Mann an der Spitze des fiktiven Staatswesens mit dem Herrschertitel ›Gossudar‹ ansprechen und stützt sich bei der inneren Machtdurchsetzung auf eine wiederbelebte oprichnina. Wie bereits im Eingangszitat geschildert, fällt an der Rezeption des Romans in Russland auf, dass sich über ihn ganz unterschiedliche, verfeindete politische Lager positiv äußern. Während er in rechts-autoritären Kreisen als anziehende Utopie gelobt wird, sehen liberale Kreise in ihm eine begrüßenswerte, satirische Anti-Utopie. Auch die Literaturwissenschaft ist hinsichtlich der Klassifikation des Textes gespalten: Ein Teil sieht keine explizite oder implizite Wertung der evozierten Zukunftsvision; der Text sei neutral und die Leser:innen würden in 332 Artikel von Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 09. 12. 2008 mit dem Titel Die Monstersklaven sind unter uns. Online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell /feuilleton/buecher/autoren/wladimir-sorokins-duestere-russland-vision-die-monsterskla ven-sind-unter-uns-1742272.html (letzter Abruf am 06. 06. 2018).

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ihrem politisch-moralischen Urteil nicht beeinflusst.333 Demgegenüber weisen andere Stimmen auf mehrere negative Wertungsmarker im Roman hin und betrachten ihn daher als Anti-Utopie.334 Einigkeit besteht dagegen in der politischen Aktualität des 2006 erschienenen Textes und seiner historischen Bezüge. Die Herrschaft Iwans IV. – und dabei insbesondere die von ihm gegründete oprichnina – stellt im modernen Russland nicht nur ein bekanntes geschichtliches Phänomen, sondern auch einen politisch nach wie vor relevanten »Archetyp[en]«335 dar. Die oprichniki gelten als Symbol einer harten Hand gegen liberale, demokratische Kräfte und sind daher in patriotisch-autoritären Kreisen äußerst positiv konnotiert.336 Einer der bekanntesten Vertreter dieser Kreise, Alexander Geljewitsch Dugin, gründete nur ein Jahr vor Erscheinen des Romans die rechtsgerichtete Jugendorganisation Evrazijskij Sojuz Molodezˇi, »in de[r] er eine ›neue Opricˇnina‹ heranwachsen sieht.«337 Sorokins Text greift also nicht nur historische Phänomene der weit entfernten Vergangenheit auf, sondern schreibt sich in einen politisch hoch aufgeladenen, aktuellen Diskurs ein. Nach einer Übersicht über die Romanhandlung und den Weltentwurf im zweiten Abschnitt wird im dritten Analyseabschnitt Foucaults Text Surveiller et punir als Interpretationsbasis herangezogen, um das innere Wesen des im Roman entworfenen Zukunftsstaates herausarbeiten zu können. Anhand mehrerer exemplarischer Stellen soll dann im vierten Abschnitt aufgezeigt werden, dass der Text die von ihm entworfene Welt durchaus negativ wertet, es sich also in der Tat um eine Dystopie und eine Anti-Utopie handelt. Fünftens wird der Frage nachgegangen, wieso es dennoch zu einer so extrem divergierenden Rezeption des Romans kommen konnte. Dabei wird die These vertreten, dass hierfür die markanten Abweichungen von narrativen Konventionen der Gattung verantwortlich sind. Außerdem scheint es sich teilweise um eine absichtlich missverstehende Rezeption zu handeln, da die Anhänger der kritisierten Utopie den im Roman ausgestalteten Weltentwurf auf diese Weise zur Konkretisierung ihrer ansonsten eher diffusen Ziele einsetzen können.

333 In diesem Sinne vgl. Aptekman, Forward to the Past, S. 257 und Aptekman, The Old New Russian, S. 290. 334 Vgl. dagegen Obermayr, Choosing a Different Example, S. 265 und Höllwerth, Den’ Opricˇnika, S. 79. 335 Höllwerth, Den’ Opricˇnika, S. 73. 336 Vgl. Aptekman, Forward to the Past, S. 242. 337 Höllwerth, Den’ Opricˇnika, S. 73.

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4.2.1.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Das Lesepublikum darf dem Opritschnik Komjaga einen Tag lang bei seinem Tagesgeschäft über die Schulter schauen. So erlebt er mit, wie die Opritschniki einen Adligen hängen und dessen Frau vergewaltigen,338 das künstlerische Leben in Moskau zensieren und den Schwiegersohn des Gossudaren, der bei diesem in Ungnade gefallenen ist, liquidieren. All dies wird chronologisch erzählt, vom morgendlichen Wecken bis zum völlig erschöpften Ins-Bett-Getragen-Werden spätnachts, wodurch der Roman einen intertextuellen Verweis zu Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch (1962) herstellt.339 Das Russland, das Sorokins Roman imaginativ entstehen lässt, ist in zahllosen Aspekten eine Manifestation populärer, nationalistischer Träume.340 Im Russland des Romans entsteht nach den »Roten Wirren« (der Zeit des Bolschewismus, TO 19), den »Weißen Wirren« (der Zeit Jelzins nach dem Ende der UDSSR, TO 19) und den fiktiven »Grauen Wirren« nichts weniger als »Russlands Wiedergeburt« (TO 19), bzw. die »Auferstehung des Heiligen Russland« (TO 39) – so jedenfalls bezeichnet der Ich-Erzähler Komjaga den neuen Staat. Jene »Grauen Wirren« (TO 19) stehen für ein revolutionäres Ereignis innerhalb des Intervalls II, an dessen Ende Russland wieder ein monarchischer Staat ist. Über Hinweise im Text lässt sich der Abschluss dieser Umwälzungen für das Jahr 2011 errechnen (TO 39). Der 2006 erschienene Roman stellt also die Frage, wie das Ergebnis aussehen könnte, wenn die traditionalistischen Restaurationsbestrebungen, die in Russland ab ca. der Jahrtausendwende vermehrt aufkamen,341 tatsächlich raschen und vollumfänglichen Erfolg hätten. Entsprechend sind die Wünsche rechtspatriotischer Kreise direkt im Aufbau und dem Handeln des fiktiven Staates präsent: Der antiwestlichen Stimmung trägt die riesige »Westmauer« Rechnung, um dem Staat »das äußere Fremde vom Halse zu halten« (TO 39). Vertreter der verhassten Intelligenzija werden regelmäßig auf einem Platz gegenüber der Universität ausgepeitscht (TO 143). Und um die unpatriotischen Adeligen kümmern sich, wie schon zur Zeit Iwans IV., die oprichniki. Komplementär dazu findet eine Aufwertung alles traditionell Russischen statt. So erblickt Komjaga in der Küche eines zu liquidierenden Adeligen

338 Trotman weist überzeugend auf Parallelen zu A Clockwork Orange durch die häufig sexuell aufgeladenen Gewaltexzesse hin (Trotman, Mythopoetics, S. 143–146). 339 Dort wird ein exemplarischer Tag eines Gulag-Häftlings geschildert, wodurch – auf klar antiutopische Weise – die unmenschliche Härte des Stalinismus porträtiert wird. 340 Details dieser Rekonstituierungs-Visionen sind nachzulesen bei Aptekman, Forward to the Past, S. 242–254. 341 Vgl. Aptekman, Forward to the Past, S. 243.

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in aller Mitten einen großen, guten, weiß getünchten russischen Ofen. Daran hat Iwan Iwanowitsch recht getan. Was wäre eine Tafel rechtgläubiger Menschen ohne eine Krautsuppe, ohne einen Grützbrei aus dem russischen Ofen? Lässt sich in einem Grill aus Übersee etwa eine genauso leckere Pirogge backen wie in unserer guten alten Ofenröhre? Milch dämpfen? Und was ist mit dem lieben Brot? Das russische Brot gehört in einem russischen Ofen gebacken – davon ist noch der ärmste Schlucker überzeugt. (TO 30)

Das neue Russland ist also ein Land, das gerade alte, genuin russische Traditionen hochhält. Am Staat und der Gesellschaft der Zukunftsvision zeigt sich ein umfassender Wandel von Werten und Normen, dessen Zielpunkt aber ein idealisierter Zustand in der Vergangenheit ist. 4.2.1.3 Die Verabschiedung der aufgeklärten Moderne Die Rückbesinnung des Zukunftsstaates auf lange Vergangenes vollzieht sich auch noch auf einer tieferliegenden Ebene, was beispielhaft anhand des veränderten Strafvollzugs aufgezeigt werden soll. Im fiktiven Russland des Jahres 2027 finden wieder öffentliche körperliche Züchtigungen statt – dies stellt eine Rückabwicklung all jener Veränderungen im modernen Strafvollzug dar, wie sie Michel Foucault in Surveiller et punir beschrieben hat. Die Rationalisierung des Strafsystems ist im neu-alten Russland somit hinfällig, die Vollstreckung des Urteils ist, mit Foucault gesprochen, keine »Schande [mehr], welche dem Verurteilten anzutun die Justiz sich schämt«.342 Nicht nur kehrt der fiktive Staat zu den ›peinlichen‹ Strafen zurück, es findet gleichzeitig auch eine Rückkehr zur Öffentlichkeit des Strafvollzuges statt. So wird Macht und Machtausübung wieder als Spektakel inszeniert und als ein »Triumph der Justiz. Gerade das Übermaß ihrer Gewaltsamkeiten ist ein Element ihrer Glorie.«343 Am veränderten Strafvollzug zeigt sich daher die antimoderne, antiaufklärerische Haltung des fiktiven Staates besonders deutlich: In dem heißen Sommer damals sind im Schatzhof viele Köpfe gerollt. Bobrow mit fünfen seiner Spießgesellen ist in einem eisernen Käfig durch Moskau gekarrt, dann ausgepeitscht und auf der Schädelstätte enthauptet worden. […] Dem Gorochow haben wir damals, wie es sich ziemte, zuerst die Visage in den Mist gedrückt, dann das Maul mit Banknoten ausgestopft und zugenäht, eine Kerze in den Arsch gesteckt; schließlich wurde er am Gutstor aufgeknüpft. (TO 16; ganz ähnliche Beschreibungen auch bei TO 40) Da schau, gegenüber der Alten Universität soll offenbar jemand ausgepeitscht werden. Interessant. […] Es ist dies der Ort, wo die Intelligenzija gezüchtigt wird. Während auf 342 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 17. 343 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 47.

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der Maneshnaja die Landverweser bluten müssen und auf der Schädelstätte die Kanzleibeamten. […] Und sonstiges Gesindel wird auf der Smolenskaja, der Miusskaja, am Moshajski Trakt und auf dem Marktplatz in Jassenewo traktiert. […] [Der Büttel] schwingt die Knute und beginnt mit der Züchtigung. Und zwar so, dass zuzusehen eine Freude ist. Der Mann versteht sein Handwerk, er ist Büttel mit Herz und Seele. Verdient sich die Achtung des Volkes durch ordentliche Arbeit. Die Knute tanzt auf dem Arsch des Untersekretärs, ein Streich von links, einer von rechts, und wandert dabei immer weiter. Auf dem Arsch bildet sich ein akkurates Gitter ab. Danilkow winselt und jault, seine lange Nase färbt sich puterrot. (TO 143–145)

Entscheidend ist hier nicht nur ein dezidierter Antimodernismus und eine eiserne Hand des Staates, sondern auch das Bedürfnis, der Staat solle sich in seiner Machtausübung wieder ehrlich machen. Folgt man Foucault, so war die im 18. Jahrhundert beginnende Rationalisierung des Strafvollzuges nicht nur ein von humanitären Ideen geleiteter Prozess. Statt wie früher um Rache, sei es den modernen Staaten bei der Bestrafung mehr und mehr um »die Dressur des Verhaltens«344 der Delinquenten und somit der Untertanen allgemein gegangen. In der Opritschnik-Utopie zeigt sich also auch ein tiefes Misstrauen gegen jenes verdeckte social engineering, das moderne Staaten zunehmend zur Verhaltenslenkung der Bevölkerung einsetzen. Der Staat, den der Text entwirft, ist also nicht nur streng und grausam, sondern auch ehrlich und einfach. Hierin liegt der Vorzug einer Staatsgewalt, die von sublimen und potentiell nicht durchschaubaren Herrschaftsstrategien absieht und mit seinen Untertanen umgeht wie ein strenger, prämodern-autoritärer Vater mit seinen Kindern. Der rückwärtsgewandte Strafvollzug, der hier exemplarisch beleuchtet wurde, fügt sich also in das große Ziel des Zukunftsstaates nach einer umfassenden Komplexitätsreduktion ein: Das Standardsortiment eines Lebensmittelkiosks: […] Schwarzbrot und Weißbrot, Butter und Margarine, Apfelmarmelade und Pflaumenmarmelade, Fleisch mit und ohne Knochen, Vollmilch und gedämpfte Milch […]. Und Russischer Käse. Es war eine gute Idee […] alle ausländischen Supermärkte abzuschaffen und durch russische Kaufmannsläden zu ersetzen. Und dass das Volk dort bei allem die Wahl zwischen dem einen und dem anderen hat. Eine kluge, eine weise Entscheidung. Unser gotterwähltes Volk soll zwischen zweierlei wählen dürfen, nicht zwischen drei- oder dreiunddreißigerlei. Diese begrenzte Auswahl verschafft ihm seine Seelenruhe, nährt in ihm die Gewissheit bezüglich des kommenden Tages […]. In diesen Landen hier steht alles zum Besten, nur will mir eines nicht in den Kopf: Wieso gibt es von allem zwei, ganz wie in der Arche Noah, aber nur einen Käse, nämlich Russischen? Das geht über meinen logischen Verstand. Doch es ist nicht mein Bier, sondern das des Gossudaren. (TO 101–102)

344 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 167.

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Der Wunsch nach einer neuen Einfachheit und Überschaubarkeit findet seinen Ausdruck in vielen Aspekten des neuen Russland. Bereits an dieser Stelle sei jedoch auch auf die satirischen Elemente dabei hingewiesen, die sich etwa in dem Umstand zeigen, dass offenbar nur der Monarch über die Käsefrage befinden kann. In auffälligem Maße bedient sich der Staat simpler Lösungen für komplexe Probleme; bestes Beispiel hierfür ist der Bau der Mauer zum Westen, um gemeinschaftszersetzende Einflüsse abzuhalten. Insgesamt ist der fiktive russische Zukunftsstaat also die literarische Konkretisierung und Ausgestaltung von populären antimodernen Phantasien. Indessen – und dies ist die große Besonderheit des Textes – bleiben diese Phantasien in der Ausgestaltung des Romans nicht ohne Reiz. Der Roman evoziert eine über die Maßen pralle, derb-sinnliche Welt, in der nicht nur patriotische Wünsche, sondern allgemein menschliche Triebe befriedigt werden können, die in zivilisierten, modernen Gesellschaften unterdrückt werden müssen. Dies zeigt sich etwa, wenn die Frau des ›Feindes‹ von mehreren oprichniki vergewaltigt und dann bewusstlos und nackt vor das Haus ihrer Eltern geworfen wird (TO 30–36).345 Komjaga kann tun, was die Rezipient:innen nicht können: Alle Zwänge der aufgeklärten Moderne hinter sich lassen und seine niederen Instinkte ausleben, da sich der ganze Staat von diesen Zwängen der Moderne befreit hat. Im Laufe eines einzigen Tages hat Komjaga mehrere Orgasmen, mehrere vorzügliche Mahlzeiten, zwei Drogentrips, ist an mehreren Morden beteiligt, er vergewaltigt – und dient mit (fast) alledem auch noch dem russischen Vaterland und dem geliebten Gossudaren. Obwohl er sich letztlich als Anti-Utopie erweisen wird, verhält sich der Text durch die Intensität seiner Bilder empathisch gegenüber der ihm zugrundeliegenden Utopie. Dies gilt auch für das nach dem Untergang der UDSSR prekäre Selbstwertgefühl der russischen Nation. Mit der neuen, prämodernen Einfachheit verschwindet aus Sicht Komjagas nämlich auch jene Dekadenz, die Russland bereits zur Zeit des letzten Zaren, Nikolaus II., entscheidend geschwächt hat und das Land findet stattdessen zurück zur Stärke Iwans IV.: Mit diesem Ring [der neugegründeten oprichnina] gelang es dem Gossudaren, das siechende, faulende, bröckelnde Land wieder an sich zu ziehen, den wunden, Blut und Wasser schwitzenden Bären. Und der Bär gesundete an Fleisch und Knochen, die Wunden verheilten, er setzte Fett an, die Krallen wuchsen. Weil wir ihn zur Ader gelassen, ihm das kranke, vom Feinde vergiftete Blut entzogen haben. Nun brüllt er wieder, der russische Bär, sodass die ganze Welt ihn hören kann. Nicht bloß in China und Europa, auch in Übersee lässt sein Gebrüll aufhorchen. (TO 42)

345 Vgl. Aptekman, Forward to the Past, S. 250.

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Weniger zivilisatorische Zwänge, eine simpel-bodenständige Lebenswelt und mehr imperiale Größe – der Text erkennt genau, worin die Reize der von ihm aufgegriffenen Utopie liegen und lässt es zu, dass sie ihre Anziehungskraft auch im Roman entfaltet. Dieses Vorgehen ist im Kontext anti-utopischer Texte höchst ungewöhnlich (vgl. 4.2.1.6) und hierin liegt eine Ursache für die positive Aufnahme des Romans im eigentlich kritisierten Lager. Wichtiger ist jedoch noch, dass der Roman somit die gesellschaftliche Hauptfunktion utopisch-dystopischer Texte – die Konkretion abstrakter Diskursinhalte durch die Schaffung eines fiktiv ausgestalteten Imaginationsraums (vgl. 2.4) – auch bezüglich dieser (potentiell) utopischen Elemente wahrnimmt. Was jene traditionalistischen Kreise bislang nur verschwommen träumten, dem gibt Der Tag des Opritschniks nun eine konkrete Form. Für das politische Potential eines utopisch-dystopischen Textes ist diese Konkretisierungsfunktion zentral. 4.2.1.4 Der Roman als satirische Anti-Utopie Der folgende Abschnitt soll aufzeigen, wieso es sich beim vorliegenden Roman dennoch nicht um eine Utopie handelt (oder um einen ›neutralen‹ Zukunftstext zwischen Utopie und Dystopie). Sehr auffällig sind etwa die vielen inneren Widersprüche der entworfenen Welt, die der Text durch Kontrastierungen immer wieder herausstreicht. Diese Kontrasteffekte sind so markant und zahlreich, dass von einer ausbleibenden Wertung des Textes hinsichtlich der von ihm entworfenen Welt, wie in der Forschung teilweise behauptet,346 keine Rede sein kann. So ist es beispielsweise kein Zufall, dass sich Komjagas scharfe und ausführliche Zurechtweisung eines anderen Opritschniks wegen dessen Lektüre von derb sexualisierten Geschichten direkt an eine von denselben Personen verübte Hinrichtung und Gruppenvergewaltigung anschließt: Einen Augenblick später baumelt Iwan Iwanowitsch in der Schlinge, zuckt, röchelt, schnauft, furzt seinen letzten Furz. Wir nehmen die Mützen ab und bekreuzigen uns. […] [Es folgt die Schilderung der Vergewaltigung der Ehefrau des Iwan Iwanowitsch.] Posocha tritt aus der Haustür: […] der Mann hat Mühe, sein überreiztes puterrotes Gemächt in den Hosenstall zurückzustopfen. Steht da, Beine breit, und betut sich. Dabei rutscht ihm ein Buch unter der Jacke hervor. Ich greife danach, schlage es auf: Heimliche Märchen. […] »Was liest du Schweinigel denn da?« frage ich und klatsche ihm das Buch gegen die Stirn. […] »Das ist staatsfeindlicher Unflat.« (TO 31–34)

Zusätzlich zu diesen Kontrastierungen stellt der Roman die Doppelmoral der oprichniki deutlich aus. Neben dem strikten Verbot von Pornographie ist im moralisch runderneuerten Russland das Fluchen ebenfalls ein ernstes Vergehen 346 Vgl. Aptekman, Forward to the Past, S. 257 und Aptekman, The Old New Russian, S. 290.

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(TO 80). Doch ungeachtet seiner moralisierenden Standpauke oben flucht Komjaga im Verlauf des Tages auch selbst mehrmals derb (z. B. TO 152, TO 186) und verstößt damit gegen ein wichtiges Gebot des Gossudaren. Der selbstgesetzte moralische Anspruch des neuen Russland wird also gerade durch das Handeln und Denken seiner obersten Sittenwächter konterkariert. Die Staatsmoral erscheint nicht nur aus heutiger Perspektive übermäßig derb und prämodern, sie ist auch in sich inkonsequent. Dies lässt sich auch noch an einem anderen Beispiel aufzeigen. Mittelpunkt und raison d’être der Bruderschaft der oprichniki ist eigentlich die bedingungslose Liebe und Treue zu Russland und seinem Gossudaren (vgl. z. B. TO 173). Bezüglich der Frage, ob eine für das Volk verbotene Droge für die oprichniki zugelassen werden soll, hat deren Oberhaupt mehrfach beim Gossudaren angefragt, jedoch ausnahmslos negative Antworten erhalten: »Nicht nur ein Mal hat der Alte in dieser Frage schon beim Gossudaren vorgefühlt, doch der ist unerschütterlich: Vor dem Gesetz seien alle gleich.« (TO 100) Man erhält diese Information aber groteskerweise genau in dem Moment, in dem sich die Anführer der Bruderschaft von einem Trip mit eben dieser Droge (TO 84–97) wieder sammeln. Von Bedenken aufgrund des diesbezüglichen Verbots des Gossudaren, der immerhin als »Sonne« der Bruderschaft (TO 173) bezeichnet wird, erfährt man unterdessen nichts. Weiters passt es ins Bild, dass die oprichniki nur durch Korruption, für die es »feste Preise« gibt, überhaupt erst an die seltene Droge gekommen sind (TO 74–75). So sehr sich der neugeschaffene Staat auch als Überwinder des Jahrhunderte währenden moralischen und politischen Verfalls in Russland sieht, so sehr ist er in der fiktiven Realität des Romans gerade Träger und Beförderer einer neuen, allumfassenden Dekadenz. Nicht zuletzt fällt auch der spärlich im Roman vorkommende Gossudar durch seine unzüchtige Wortwahl auf (TO 55–57); auch er verstößt also gegen eines seiner zentralen Gesetze zur moralischen Wende, nämlich dem »berühmten 37. Erlass des Gossudaren über die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gebrauch unflätiger Schimpfwörter« (TO 80). Ein solches staatliches Vorgehen gegen derbe und rohe Sprache ist in Russland nicht ohne reale historische Vorbilder. Alexander Höllwerth spricht diesbezüglich von einer regelrechten »Tabuisierungstradition« durch staatliche Behörden.347 Dies ist nicht nur auf fiktionaler Ebene bemerkenswert, da hier ein weiteres historisches Element Eingang in die Zukunftsvision gefunden hat, sondern vor allem auch, weil somit die rohe Sprache des Romans als Ganzes eine eigene politische Aufladung erhält. Die Derbheit der Darstellung ergibt sich natürlich primär aus der Romanhandlung und dem Denken Komjagas, dennoch widersetzt sich der Text durch sie jeder sittenwächterischen Tabuisierung. Die exzes347 Höllwerth, Den’ Opricˇnika, S. 82.

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sive und teilweise als abstoßend kritisierte Drastik348 des Romans kann vor dem Hintergrund der historischen »Tabuisierungstradition« und der inneren Logik des Textes als subversiver, liberal gesinnter Akt gedeutet werden: In der Zukunftsvision herrscht strenge Zensur, die Literatur ist, sofern die Titel der gängigen Werke nicht trügen, staatstragend-biedermeierlich: »Russland, du mein Vaterland«, »An der Westwand auf Wacht«, »Heimische Weiten«, »Apfelblüte«, »Weiße Birke«, »Russlands Söhne, ihr getreuen« sind Neuerscheinungen des Jahres 2027, die »sich der Gunst des Gossudaren und des Volkes [erfreuen]« (TO 102–103). Gerade durch seine Drastik reißt sich Der Tag des Opritschniks aus dem Kontext solch unkritischer Staatskunst. Die unscharfen, populären Utopien einer traditionalistischen Erneuerung Russlands nimmt der Text zum Ausgangspunkt seiner Zukunftsvision und entwirft in satirischer Überspitzung dieser Denkansätze ein Russland der hypermoralischen Scheinheiligkeiten. Dies macht ihn nicht nur zu einer Dystopie, sondern auch zu einer Anti-Utopie.349 Als in die Vergangenheit gerichteter Sehnsuchtsort350 erweist sich die Utopie eines neuen »Heiligen Russland« (TO 39) als doppelter Nicht-Ort: Erstens liegt ihr eine maßlose Verklärung der Herrschaft Iwans IV. zugrunde, zweitens stellt der Roman die vielfältigen Aporien eines solch rückwärtsgerichteten Denkens, eines Feudalismus in fortschrittlicher Zeit, aus. Hierauf weist auch die unzeitgemäße Westmauer hin, die westliche und damit staatszersetzende Einflüsse aus Russland heraushalten soll. Doch während Europa ohnehin in Bedeutungslo348 Vgl. hierzu etwa Evelyn Fingers vernichtende Rezension Das Iwan Klischee in Die Zeit vom 28. 02. 2008. Online abrufbar unter: https://www.zeit.de/2008/10/L-Sorokin (letzter Abruf am 08. 06. 2018). 349 Theodore Trotman spricht von einer »ironic dystopia«, allerdings weist die Konzeptualisierung einige Unklarheiten auf (Trotman, Mythopoetics, S. 134): Thus, the text is idyllic in relation to the state security experienced under oppressive Tsardom and satiric in relation to Russia’s future reversion to such autocratic principles. The result is a new genre, ironic dystopia. Unklar bleibt, welche allgemeinen Kriterien nun genau eine ›ironic dystopia‹ ausmachen sollen (vgl. hierzu auch Trotman, S. 152, wo das Konzept noch einmal aufgegriffen und mit einem Fatalismus beim realen Autor in Verbindung gebracht wird). Ironische oder satirische Dystopien jedenfalls gibt es auch vor Sorokin (man denke etwa an die Gelehrtenrepublik, aber auch an Infinite Jest), insofern ist es verwegen, hier von einem neuen (Unter-)Gattung auszugehen. Weniger spektakulär, aber plausibler wäre es, eine neue dystopische Erzählform innerhalb der russischsprachigen Literatur zu konstatieren, die mit Trends in der internationalen Gegenwartsliteratur korrespondiert. Trotmans Blick auf die Dystopie ist auch deswegen problematisch, weil offenbar angenommen wird, eine Dystopie habe ihren primären Wert darin, die Zukunft mit poetischen Mitteln vorherzusagen (vgl. Trotman, Mythopoetics, S. 131–134); vgl. dagegen die Überlegungen bei Gliederungspunkt 2.4. Wenig erhellend ist auch der Versuch Dirk Uffelmanns, Trotmans Konzept der »ironic dystopia« durch eine Umdeutung zur »meta-dystopia« (Uffelmann, Vladimir Sorokin’s Discourses, S. 147) begrifflich präziser zu fassen, da auch hier eine definitorische Explikation des neuen Begriffs nur angerissen wird. 350 Treffend nennt Aptekman ihren Aufsatz »Forward to the Past«; vgl. Literaturverzeichnis.

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sigkeit versinkt, übernimmt China dessen Rolle. Fast alle Industriegüter werden von dort importiert (TO 180), und der Adel kleidet sich nicht mehr nach westlichem, sondern nach chinesischem Vorbild (TO 27). Sogar beim Bankett der oprichniki kommt von einem Gast eine Klage auf, die jene Gedanken Komjagas vom gesundeten und mächtigen russischen Bären (vgl. oben TO 42) als bloßes Hirngespinst entlarvt: Meine Herren! Wie lange soll unser großes Russland noch vor China das Knie beugen und im Staub kriechen? Nicht anders als in den wirren Zeiten, da wir vor dem dreckigen Amerika zu Kreuze krochen, buckeln wir jetzt vor dem Reich der Mitte! (TO 179)

Es fällt durch Komjagas patriotisch getrübten Blick weniger auf, doch das vom Roman entworfene »Heilige Russland« der Traditionalisten ist mit seiner moralischen und politischen Erneuerung auf ganzer Linie gescheitert.351 Grotesker Höhepunkt des Romans ist eine Szene in der Sauna des ›Alten‹, bei der die führenden oprichniki zugegen sind. Nach der Einnahme einer aphrodisierenden Droge verkeilt sich die Moskauer Opritschnina zur berühmten Kette. Vielstimmiges Grunzen und Ächzen hinter meinem Rücken. Die Regel der Bruderschaft besagt, dass linker und rechter Flügel abwechselnd einfädeln und erst dann die Jungfüchse andocken. So ist es beim Alten Sitte. Und das ist gut so … […] Die Jungs strengen sich an, stemmen einander die engen Tuben auf. Die Schattenbademeister gehen zur Hand, korrigieren hier etwas, helfen da ein bisschen nach. Ein Aufbrüllen des Vorletzten, ein Ächzen des Letzten – und die Kette ist komplett. […] Es schlägt die Stunde süßer Fron. Da einer den anderen zu buttern hat. (TO 197–199; Kursivierungen im Original)

Hier nun wird der Text endgültig zur Radikalsatire. Vor dem Hintergrund der Tabuisierung von Homosexualität in Russland greift Der Tag des Opritschniks traditionalistische Wünsche nach einer Wiederbelebung der oprichnina auf und imaginiert diese als offen schwule Bruderschaft (die Kette ist »berühmt«, vgl. oben). Auch das Mittel der Kontrastierung wird im Zuge dessen auf die Spitze getrieben. Nachdem Komjaga eben noch Gedanken nachgehangen ist, wie »himmlisch« es ist, »zu spüren, wie der gesunde Opritschnik-Samen von den Mastdarmwänden aufgesogen wird« (TO 200–201), hält ›der Alte‹ bekokst einen Vortrag über den Hauptantrieb zur Schaffung des neuen ›Heiligen Russland‹, nämlich um den Glauben Christi hochheilig und unbefleckt zu halten, nicht wahr. Denn einzig wir, die Rechtgläubigen, haben die Kirche als den Leib Christi auf Erden reingehalten,

351 In verschiedenen Aufsätzen werden die häufigen und ritualisierten positiven Wertungen der Gewalttaten durch Komjaga als notwendige »Autosuggestionen« (Zitat bei Höllwerth) eines eigentlich zweifelnden Menschen interpretiert. Vgl. hierzu Höllwerth, Den’ Opricˇnika, S. 81, Roesen, Drive of the Oprichnik, S. 274–275 und Uffelmann, The Compliance, S. 155.

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die alleinige, all-einige, heilige, apostolische, unfehlbare Kirche, nicht wahr. Denn nach dem Zweiten Konzil von Nizäa preisen einzig wir noch den Herrn auf die rechte Art […]. (TO 210)

Dieses extreme Ende des Romans soll hier als Identifikationsbarriere für konservativ-patriotische Kreise interpretiert werden. Es spricht hieraus ein Bewusstsein für die potentielle Anziehungskraft der dargestellten, parodierten Utopie. Die letzten Seiten sind als ein Schlag ins Gesicht der traditionalistischen Leser:innen konzipiert, die bis hierhin trotz aller satirischen Spitzen Sympathien für das neue ›Heilige Russland‹ gehegt haben. Umso interessanter ist die Kernfrage des nächsten Abschnitts, wieso dieser Schlag sein Ziel offenbar verfehlte. 4.2.1.5 Riskante Abweichungen von narrativen Gattungstraditionen Der Roman widersetzt sich nicht nur den anti-utopischen, sondern in auffälliger Weise auch den tradierten dystopischen Erzählschemata. Vor allem ist die Fokalisierung von einem zwar zunächst systemtreuen, dann aber zunehmend kritischen und rebellischen Einzelgänger wie Winston Smith hier nun auf einen Anhänger und Vertreter des dystopischen Staates übergegangen. Staatsrepräsentanten gehören zwar zum festen Inventar von Dystopien (Mustapha Mond, O’Brien), geraten üblicherweise aber in Konflikt mit der Hauptfigur. Indem Der Tag des Opritschniks diesen Personentypus zum Protagonisten macht, gibt er die klassische Opferperspektive von Dystopien auf. Statt wie bisher aus den Augen eines Systemkritikers, lernt man die dystopische Welt nun durch die Vermittlung eines Systemanhängers und Täters kennen. Die parodistische, anti-utopische Stoßrichtung des Romans wird daher durch die spezifische Sichtweise seiner Hauptfigur teilweise überdeckt. Zudem befördert eine personale Mitsicht tendenziell eine Identifikation der Rezipient:innen mit der Person, aus dessen Sicht die Handlung geschildert wird. Nicht nur das Leben und die Welt Komjagas darf also im Roman seine Reize ausspielen, auch die Hauptfigur entwickelt trotz seiner fragwürdigen Handlungen teilweise eine sympathische Anziehungskraft.352 Verstärkt werden diese Effekte dadurch, dass nicht wie sonst ein Er-, sondern ein Ich-Erzähler vorliegt. Gleiches gilt für die Verwendung des Präsens statt des Imperfekts. Durch die Kombination dieser beiden Aspekte wirken viele Passagen wie ein innerer Monolog und die erzählerische Distanz zum Geschehen schwindet auf ein Minimum. Somit werden in Der Tag des Opritschniks die in Dystopien bislang üblichen narrativen Mittel zur Emotionslenkung weitgehend aufgegeben. Dieser Gesamtansatz ist aus gattungsgeschichtlicher Perspektive innovativ und hinsicht352 Vgl. Höllwerth, Den’ Opricˇnika, S. 91, sowie Trotman, Mythopoetics, S. 144.

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lich der potentiellen Wirkung des Textes weitreichend; es ist anzunehmen, dass diese ungewöhnliche Konzeption großen Anteil an den extrem divergierenden Rezeptionen des Romans hat. 4.2.1.6 Der Opritschnik zwischen Kritik und Konkretisierung (Fazit) Der Tag des Opritschniks ist als politisch wirksame Dystopie und Anti-Utopie konzipiert, die zugleich dem gattungstypischen Schematismus durch Innovationen in der Erzähltechnik zu entkommen versucht. Dies zeigt sich bereits an Entwurf und Darstellung der fiktiven Welt, der von klassischen Anti-Utopien wie Nineteen Eighty-Four entscheidend abweicht. In Orwells Text hat die zugrundeliegende Utopie (ein inhumaner, technizistischer Sozialismus) eine Welt geschaffen, die so gut wie keine anziehenden Elemente enthält: Konsumgüter sind knapp und von schlechter Qualität, gesellschaftliche Ungleichheiten haben sich verfestigt und über allem thront ein totalitärer und manipulativer Überwachungsstaat, der die Freiheiten des Individuums zu minimieren versucht. Nineteen Eighty-Four zeigt keine Welt, in der zentrale sozialistische Forderungen auch im positiven Sinne umgesetzt sind (etwa eine Erhöhung des materiellen Wohlstands für ehemals untere Schichten). Genau diesen Weg jedoch geht Der Tag des Opritschniks; diese anti-utopische Dystopie zeigt auch die reizvollen Aspekte der kritisierten Utopie und reflektiert ihr Wesen damit aus mehr als nur einer Perspektive. Unter anderem in diesem experimentellen Ansatz liegen die Ursachen für die extrem divergierenden Rezeptionen des Romans begründet. Zudem gibt der Roman einer diffusen, traditionalistisch-nationalen Wiederauferstehungsutopie353 überhaupt erst eine konkrete Form. Hierin ist der Hauptgrund für die Anziehungskraft des Romans im eigentlich kritisierten Lager zu sehen. Dort braucht man den Text. Besonders eindrücklich zeigt sich an Sorokins Roman somit eine entscheidende Funktion utopisch-dystopischer Literatur: Sie schafft einen Imaginationsraum, der abstrakte Diskursinhalte durch ihre Fiktionalisierung konkretisiert und diese Inhalte damit für größere Bevölkerungsschichten überhaupt erst vorstellbar macht (vgl. 2.4). Anstatt aber auf diese Weise nur auf mögliche negative Aspekte einer bereits konkretisierten, populären Utopie hinzuweisen (wie in Anti-Utopien üblich), konstituiert der Roman über weite Strecken erst die Utopie, die er dann zugleich kritisiert. Dass die vom Text gegen traditionalistische Leser:innen errichteten Identifikationsbarrieren nicht verfangen, liegt an dieser Nützlichkeit, die der Roman in diesem Lager hat (und wohl auch an einem gewissen Trotz, sich von der offensichtlichen Provokation eben nicht provozieren zu lassen). So entsteht eine Rezeptionshaltung, die die 353 Details dieser Rekonstituierungs-Visionen sind nachzulesen bei Aptekman, Forward to the Past, S. 242–254.

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satirischen, dystopischen, anti-utopischen Elemente konsequent überliest und den Text für sich politisch instrumentalisiert.354 Eigentlich erweist sich jedoch recht deutlich, dass die fiktive Welt in Der Tag des Opritschniks permanent negativ gewertet wird – insbesondere durch scharfe Kontrastierungen, die zeigen, dass das neue ›Heilige Russland‹ an den eigenen moralischen Ansprüchen eklatant scheitert und die Nation nicht zu neuer Größe, sondern zu einer nie dagewesenen Form des Rückschritts und des Verfalls geführt wird.

4.2.2 The Circle (Dave Eggers, 2013): Irritation statt Identifikation WAR IS PEACE FREEDOM IS SLAVERY IGNORANCE IS STRENGTH Nineteen Eighty-Four (NE 8; Großschreibung im Original)

Secrets Are Lies Sharing Is Caring Privacy Is Theft The Circle (TC 303; Kapitälchen im Original)

4.2.2.1 The Circle als Gesicht der boomenden Gattung Dave Eggers’ Roman The Circle wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen zu einem großen Verkaufserfolg im englischsprachigen Raum, nach den Veröffentlichungen der verschiedenen Übersetzungen avancierte er sogar zum weltweiten Bestseller.355 Aufgrund dieser weiten Verbreitung, seiner starken Rückgriffe auf die Gattungstradition (man beachte nur die Eingangszitate oben), aber auch wegen der Filmadaption von 2017 mit Emma Watson und Tom Hanks in den Hauptrollen, ist The Circle zum Gesicht der boomenden Dystopien des 21. Jahrhunderts geworden. Der populäre Blick auf die Gattung wird wesentlich von diesem Roman geprägt, obwohl seine literarische Qualität in Literaturkritik

354 Dieser Umstand zeigt aber dadurch auch, wie treffend der Text bestehendes utopisches Denken literarisiert. Und immerhin ist Der Tag des Opritschniks nicht nur den rechtsnationalen Kreisen nützlich: Auch die Gegner einer neo-zaristischen Revolution in Russland haben nun einen konkreteren Ansatzpunkt. 355 Der Spiegel bezeichnet den Text treffend nicht nur als Bestseller, sondern auch als »Dauerseller«. Quelle: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/spiegel-bestsellerliste-der-cir cle-von-dave-eggers-auf-platz-6-a-1009389.html (letzter Aufruf am 23. 02. 2020).

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und Literaturwissenschaft recht einhellig kritisiert wird356 – das Gesicht der Gattung ist also nicht unbedingt sein literarisches Aushängeschild. Vor allem eine holzschnittartige Zuspitzung des dystopischen Weltentwurfs und eine unglaubwürdige Naivität der Hauptfigur Mae werden immer wieder moniert.357 Der Fokus wird im Folgenden weniger darauf liegen, das dystopische Moment des »Circle« genannten Unternehmens zu untersuchen und als problematisch auszuweisen, da der dystopische Charakter des Konzerns schon bei der Inhaltsübersicht im nächsten Abschnitt sehr schnell deutlich werden wird und keiner ausführlichen Betrachtung bedarf.358 Der dritte Abschnitt untersucht den Text stattdessen als Anti-Utopie; darauf aufbauend wird im vierten Abschnitt der bemerkenswerte Umgang des Romans mit der anti-utopischen und dystopischen Gattungstradition beleuchtet und eine Deutung des Textes entwickelt, die über seine offensichtliche Agenda als ›Warnroman‹ hinausgeht. Vor diesem Hintergrund können im fünften Abschnitt die Irritationen bezüglich der Hauptfigur zwar nicht aufgelöst, aber mit der Grundkonzeption des Romans in Zusammenhang gebracht werden. So soll hier die These vertreten werden, dass die Naivität Maes nicht unbedingt auf einem schriftstellerischen Problem beruht, sondern durch die innere Logik des Textes motiviert ist. Ihre unkritische Technikgläubigkeit kann als eine ins Dystopische gespiegelte Irritation über die heute verbreitete unkritische Verwendung sozialer Medien gedeutet werden: The Circle weicht ab von dem gattungstypischen Ansatz, eine Hauptfigur mit noch intaktem Wertekompass (wie etwa D-503 in Wir, Winston Smith in Nineteen Eighty-Four, Guy Montag in Fahrenheit 451) an einer dystopisch veränderten Umwelt scheitern zu lassen.359 Stattdessen hat hier die dystopische Verwandlung der Welt auch vor den inneren Einstellungen der Hauptfigur nicht Halt gemacht;360 Mae bleibt in ihrer Umwelt kein Fremdkörper, sondern steht an der Spitze der dystopischen Gesamtentwicklung.361 Das typische Handlungsschema (Entfremdung der Hauptfigur vom herrschenden System, Rebellion, Scheitern des Widerstands) ist bei dieser Konzeption von vorneherein hinfällig. Dadurch ergibt sich eine Spannung zwi-

356 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 276. 357 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 274. 358 Eine genauere Beschäftigung mit den Problemen, die sich aus dem Wirken des ›Circle‹ ergeben, findet sich bei Betiel Wasihun: Surveillance and Shame in Dave Eggers’s The Circle. In: On_Culture: The Open Journal for the Study of Culture 6 (2018). Dort insbesondere S. 14–18. Vgl. daneben auch Gonnermann, Absent Rebels, S. 82–83. 359 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 112. 360 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 277–278. 361 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 81. The Circle passt damit perfekt zu Gonnermanns Gesamtansatz, der Frage nach den »absent rebels« in der Dystopie der Gegenwart nachzugehen.

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schen intensiven thematischen Aufgriffen der Gattungstradition bei gleichzeitig völlig veränderter Tektonik des Textes als dystopischer Roman. 4.2.2.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Ausgangspunkt des Romans ist die Frage, welche Gefahren entstünden, wenn die großen Digitalkonzerne, also Apple, Google, Microsoft, Facebook etc., noch weiter an gesellschaftlichem Einfluss gewinnen und dieser Einfluss zentral gebündelt würde. Das Ergebnis eines solchen Gedankenexperiments ist im Roman ein Konzern namens »The Circle«, der in nicht allzu ferner Zukunft362 die oben genannten Firmen verdrängt und ihre gesellschaftliche Macht in sich vereinigt hat. Die Leser:innen lernen diesen Konzern aus den Augen der Hauptfigur Mae Holland kennen, deren Freundin Annie – die dem erweiterten Führungszirkel des Unternehmens angehört – Mae einen der begehrten Jobs auf dem Firmencampus verschafft hat. Direkt ab dem unvermittelten Einstieg (TC 1) ist Mae ein typisches exemplarisches Individuum, durch dessen Blickwinkel die Rezipient: innen die fiktive Welt kennenlernen und an dem sich im Laufe der Handlung die utopisch-dystopischen Aspekte der neuen Gesellschaftsordnung manifestieren werden: The wind that had followed them in now turned the mobile such that an arm pointed to Mae, as if welcoming her personally. Renata [eine Mitarbeiterin, die Mae den Campus zeigt] took her elbow. »Ready? Up this way.« They entered an elevator of glass, tinted in faintly orange. Lights flickered on and Mae saw her name appear on the walls, along with her high school photo. Welcome Mae Holland. A sound, something like a gasp, left Mae’s throat. (TC 5; Kapitälchen im Original)

Auch das Lesepublikum wird hier gleichsam willkommen geheißen und herumgeführt in einer fiktiven Welt, in der digitale Medien eine noch zentralere Rolle spielen als in der realen. Nicht nur über dieses typische Setting zu Beginn schreibt sich der Roman unmissverständlich in die Tradition bekannter Dystopien ein. Die Verbindung zu Orwells Nineteen Eighty-Four wird alleine schon 362 Der Roman situiert die Handlung zeitlich nie explizit. Ein einziger Hinweis findet sich relativ zu Beginn: »It [der Herkunftsort der Hauptfigur] was […] named by a literal-minded farmer in 1866. One hundred and fifty years later, its population had peaked at just under two thousand souls.« (TC 8–9) Das Jahr 2016 wird durch diesen Hinweis zum terminus post quem. Die Gründung des ›Circle‹ knapp sechs Jahre vor Einsetzen der Handlung (TC 2) könnte dagegen auch einem parallelhistorischen Einschub geschuldet sein, das Intervall III muss deswegen nicht zwangsläufig nach oder im Jahr 2019 (Erscheinungsjahr 2013 + 6 Jahre) liegen. Die genaue Datierung der Handlung ist jedoch ohnehin nicht von entscheidender Bedeutung.

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über die Eingangszitate ersichtlich,363 des Weiteren finden sich starke Bezüge zu Huxleys Brave New World und schwächere auch zu Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep? und David Foster Wallaces Infinite Jest.364 Wie zu Beginn für Mae (eigentlich aber natürlich für die Leser:innen, vgl. 2.3) rekapituliert wird, ist es dem Circle durch eine Innovation namens TruYou gelungen, alle Mitbewerber in der Online-Sparte mehr oder weniger vom Markt zu verdrängen. Durch TruYou nämlich ist es den Nutzern möglich geworden, die eigene Identität im Internet über alle Portale hinweg zu authentifizieren, was zu einer so immensen Vereinfachung geführt hat (ein einziges Passwort für alle Online-Registrierungsvorgänge), dass schließlich fast alle Nutzer auf TruYou zurückgegriffen haben und der Circle-Konzern eine monopolähnliche Stellung erreicht hat. Erkennbar liegt auf dieser digital-technischen Komponente nicht der Fokus des Romans, sondern TruYou dient lediglich als mehr oder minder plausible Erklärung für die plötzliche und fast vollständige Machtakkumulation durch einen einzigen Digitalkonzern und hat somit die Funktion, das eigentliche Gedankenexperiment des Textes anzustoßen. Nach diesem Erfolg hat der Konzern die fähigsten Entwickler aus aller Welt angeworben, stellt laufend neue, bahnbrechende Innovationen zur Verfügung und baut so seine gesellschaftliche Macht immer weiter aus. Gelenkt wird der Konzern von einem Dreigestirn, bestehend aus Ty Gospodinov, dem Digitalgenie und Entwickler von TruYou, Tom Stenton, einem wahren Turbokapitalisten, und Eamon Bailey, dem utopischen Visionär und gesellschaftlichen Vordenker der Firma. Aus Maes Perspektive erfährt man im Laufe der Handlung von immer mehr Circle-Produkten, die auf den ersten Blick die unterschiedlichsten Verbesserungen bringen, letztlich jedoch den Circle zu einem smart-monströsen Big Brother des 21. Jahrhunderts machen. Da ist z. B. die Dating-App LuvLuv, die restlos alle öffentlich zugänglichen Informationen über eine Zielperson sammelt und zu einem präzisen und umfassenden Dossier bündelt (TC 121–124), da ist der Chip im Fußgelenk von Kindern, durch den sich ihr Aufenthaltsort immer in Echtzeit überwachen lässt, um Entführungen unmöglich zu machen (TC 57–59), und da ist die App, mit deren Hilfe die Leistungen von Studenten in einer weltweiten Liste in Echtzeit verglichen werden können, damit kein Elternpaar mehr über die universitäre Performance der Sprösslinge im Unklaren bleiben muss (TC 340–-341). Das Private unterliegt in der Zukunftswelt dem perma363 Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die Veränderung der Medienlandschaft auch massive Auswirkungen auf die Art und Weise hat, wie die Menschen sprechen und denken. Es entsteht dadurch, in erneuter Anlehnung an Orwell, eine Art ›New Newspeak‹. Vgl. hierzu Basseler, Emerging Forms of Life, S. 87. 364 Zu den Verbindungen zu Huxley und Dick vgl. Marks, Imagining surveillance, S. 162. Die Bezüge zu Wallace werden in der letzten Fußnote dieses Abschnitts erläutert.

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nenten gesellschaftlichen Imperativ, über die sozialen Medien geteilt und damit sichtbar gemacht zu werden. Durch diesen massiven Einfluss, den das Unternehmen auf die Individuen hat, kommt es dann auch zu signifikanten Verschiebungen der genuin politischen Machtverhältnisse. Wie ein Magnet zieht der Circle symbolische und reale Macht an sich: Hochrangige Politiker erscheinen, um auf dem Campus sprechen zu dürfen (TC 6), die Räume sind geschmückt mit einzigartigen Artefakten aus öffentlichen Institutionen wie Parlamenten (TC 5), Museen (15) und Kirchen (TC 26), bekannte Künstler bewerben sich um die Rolle als mittägliche Pausenclowns in der Kantine (TC 17). Zu Beginn der Handlung stattet der Konzern außerdem öffentliche Plätze in aller Welt mit kleinen, unauffälligen, aber hochleistungsfähigen Kameras aus, um staatliche Gewalt und kriminelle Straftaten unmöglich zu machen, da nun niemand mehr sicher sein kann, nicht bei seinen Aktionen gefilmt zu werden. Erste Politiker gehen kurz darauf dazu über, diese kleinen Kameras ständig um den Hals zu tragen, um die Zeit der Hinterzimmerabsprachen zu beenden. Bald schon erhöht dies den öffentlichen Druck auf alle anderen Amtsträger, es ihnen darin gleich zu tun. Der Circle, der stets einer Philosophie bzw. Ideologie vollständiger, allumfassender Transparenz gefolgt ist, stattet schließlich ebenfalls eine seiner Mitarbeiterinnen, natürlich die Hauptfigur Mae, mit dieser Kamera aus und in der Folge sehen nicht nur der Leser:innen, sondern sehen auch alle Interessierten der fiktiven Welt den Circle-Campus aus Maes Augen. Bei Mae und insbesondere bei ihrer Freundin Annie führt diese permanente Sichtbarkeit und Öffentlichkeit allerdings zu erheblichen Problemen; dies führt so weit, dass Annie Mae gezielt meidet. Gegen Ende des Romans strebt der Konzern dann eine etwas mysteriöse »Completion« (TC 344) an, worunter die vollständige Vernetzung aller seiner Innovationen und aller Menschen weltweit zu verstehen ist, wodurch es zu einer gewaltigen Verschmelzung allen Wissens unter dem Dach des Circle kommen würde. Ty Gospodinov, das Digitalgenie des Konzerns, bekommt es angesichts dieses ungeheuren Machtpotentials selbst mit der Angst zu tun und versucht, Mae von der Notwendigkeit zu überzeugen, diese »Completion« doch noch aufzuhalten. Letztlich verrät Mae seine Pläne jedoch und schaltet damit wohl den letzten möglichen Widerstand aus, der zwischen dem Circle und seiner »Completion« steht. Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, warum eine nähere Beschäftigung mit den einzelnen Innovationen des fiktiven Unternehmens unterblieben ist. Was durch den Circle entsteht, ist ganz offensichtlich ein gewaltiges Panoptikum, mit den einzelnen Innovationen als seinen Bauteilen. Das Wesen des Textes als Dystopie wird somit rasch ersichtlich.365 365 Auch die sonstigen Definitionskriterien erfüllt der Roman zweifelsfrei. Einzig hinsichtlich

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Der Roman The Circle nimmt in gewisser Weise die traditionellen Dystopien – ihre Themen, ihre Bauweise, ihre Erzähltechnik – zum Ausgangspunkt und transponiert sie in das 21. Jahrhundert.366 Vor allem die inhaltlichen Bezüge zu Nineteen Eighty-Four sind bemerkenswert. In der Welt von The Circle spielt der von Orwell attackierte Frühstalinismus natürlich keine Rolle mehr, die Instanz eines allwissenden Big Brother treibt nun jedoch gerade auf dem Nährboden von Kapitalismus und digitaler Revolution noch viel ärgere Blüten als es Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt vorstellbar war.367 In einer wenig subtilen symbolischen Aufladung werden drei auf dem Campusgelände gehaltene Unterwassertiere, ein Seepferdchen, ein Oktopus und ein Hai, mit den drei Firmenchefs Ty, Bailey und Stenton in Verbindung gebracht. Der Oktopus steht dabei für den Datenhunger des Big-Data-Utopisten Bailey, der Hai für Stentons ›Raubtierkapitalismus‹, das Seepferdchen für Tys harmlose Intentionen als Digitalentwickler. Letztlich frisst der unersättliche Hai das Becken leer, inklusive Seepferdchen und Oktopus. Der Kapitalismus wird so zur entscheidenden dystopischen Triebkraft des Circle (TC 466–477). Im Unterschied zu älteren Dystopien muss die totale Überwachung durch den ›Big Brother 2.0‹, wie der Roman sie zeigt, nun jedoch niemandem mehr aufgezwungen werden, die Individuen des neuen Jahrtausends kaufen und installieren die Hard- und Software für ihre Totalüberwachung gänzlich freiwillig.368 Daher ist auch der Staat nicht mehr aktiver Initiator der dystopischen Entwicklungen,369 sein Versagen besteht in dieser und vielen weiteren Dystopien des 21. Jahrhunderts (so etwa auch in Oryx and Crake) vielmehr im Unvermögen, dystopische gesellschaftliche Tendenzen einzudämmen. Problematisch erscheint der Staat also gerade nicht mehr aufgrund seiner Aktivitäten, sondern aufgrund seiner Abwesenheit und Passivität.

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des Gemeinwesens, auf das sich The Circle bezieht, schwankt der Roman zwischen einer USamerikanischen und einer globalen Perspektive. Obwohl durch die verschiedenen CircleInnovationen verschiedenste reale Probleme gelöst werden sollen, liegt dennoch klar eine Dystopie isolierenden Typs vor, da nicht eine Vielzahl an verschiedenen gesellschaftlichen Tendenzen extrapoliert wird, sondern diese einzelnen Problembereiche nur Aufhänger der voranschreitenden Vernetzung, des einzig wirklich extrapolierten Trends, sind. Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 82. Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 112–119. Hier zeigt sich eine wichtige Verbindung zu Infinite Jest. Die neue Freiwilligkeit des Überwachtwerdens in The Circle ist eine Weiterentwicklung der neuen Freiwilligkeit des Gedrilltwerdens, das bei der Analyse zu Infinite Jest herausgearbeitet wurde (vgl. 4.1.1.2). Auch der körperliche Drill ist, wie die Überwachung der Individuen, ein zentraler Bestandteil traditioneller Dystopien (man denke nur an Winston Smiths schmerzhafte morgendliche Leibesertüchtigungen), der in den Dystopien der Gegenwart nun ganz ohne staatlichen Zwang auskommt. Vgl. zur Freiwilligkeit in The Circle außerdem Gonnermann, Absent Rebels, S. 101–106. Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 83.

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Bei aller Kritik, die an der holzschnittartigen Überzeichnung des Romans in den Feuilletons geübt wurde, ist es zweifellos die große Stärke des Textes, dass er einem weit verbreiteten, aber diffusen Unbehagen über mögliche Folgen der Digitalisierung eine konkrete Form gibt und dadurch aktuelle gesellschaftliche Tendenzen in ihrer Problematik leicht nachvollziehbar und klar benennbar macht (vgl. 2.4). Der enorme Verkaufserfolg gerade dieser Dystopie wird durch diesen Umstand erklärbar. 4.2.2.3 Eine westliche Anti-Utopie des 21. Jahrhunderts Ausgangspunkt des Romans als Anti-Utopie ist das breite Spektrum an DigitalUtopien aus dem Silicon Valley,370 deren wirkmächtigster ›Utopist‹ zweifellos der 2011 verstorbene Apple-Mitbegründer Steve Jobs gewesen ist. Schon der erste Satz weist auf das utopische Potential des fiktiven Konzerns hin: »My God, Mae thought. It’s heaven.« (TC 1, Kapitälchen im Original).371 Auf dem ganzen Campus sind inspirierend-motivierende Imperative wie »Dream«, »Participate«, »Find Community«, »Breathe« (TC 1–2) zu finden, die an die bekannten Motivationsreden Steve Jobs’ erinnern. In der Folge finden sich immer wieder positive Aspekte des Circle-Konzerns, die ihn als ursprünglich durch und durch utopisches Projekt erkennbar machen: Mae, now that you’re aboard, I wanted to get across some of the core beliefs here at the company. And chief among them is that just as important as the work we do here […] we want to make sure that you can be a human being here, too. […] And that means the fostering of community. In fact, it must be a community. That’s one of our slogans, as you probably know: Community First. And you’ve seen the signs that say Humans Work Here – I insist on those. […] We’re not automatons. This isn’t a sweatshop. (TC 46–47, Hervorhebungen im Original)

Nicht nur Missstände der Arbeitswelt, auch weitere gesellschaftliche Probleme wie Rassismus (TC 59) oder Schwächen im staatlichen Gesundheitssystem (TC 158–161) sollen in und durch den Konzern gelöst werden. Es handelt sich hierbei auch nicht bloß um die hohle Propaganda eines finsteren Unternehmens, sondern diese fortschrittlichen Ansätze werden vom Circle tatsächlich verfolgt und vertreten.372 Bereits hier ist jedoch der spätere Umschlag der utopischen Elemente schon angelegt: Es »muss« eine Gemeinschaft sein, das Soziale ist

370 Vgl. hierzu vor allem Rudolf Maresch (Hg.): Renaissance der Utopie: Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2004. 371 Vgl. Marks, Imagining surveillance, S. 162. 372 Freilich gilt dies nicht für alle an der Firma Beteiligten. Dem Kapitalisten Stenton beispielsweise geht es wohl von Anfang an nur um die finanzielle Verwertbarkeit der CircleUtopie.

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verpflichtend.373 Nichtsdestotrotz haben all die klar als dystopisch erkennbaren Circle-Projekte, die im vorigen Abschnitt genannt wurden, einschließlich der Completion, eine eigentlich zutiefst utopische Ausrichtung. Der Roman The Circle wird so zu einer mustergültigen Anti-Utopie, allerdings jenseits von primär staatspolitischen Handlungsfeldern (vgl. 4.2).374 Klassisch politische Bereiche existieren zwar auch in diesem Roman, doch hält sich der Circle-Konzern die Gegner seiner immer größeren Machtausdehnung aktiv vom Leib: Bei sämtlichen Politikern, die versuchen, den Einfluss des Circle zu begrenzen, findet sich immer scheinbar zufällig eine Fülle an kompromittierendem Material auf den jeweiligen PCs. Doch dieser Umstand lässt Mae nicht etwa skeptisch werden. Sie hat die utopische Fortschrittsideologie des Circle so sehr internalisiert, dass dabei durchaus von einem hermetischen Glaubenssystem die Rede sein kann. Gerät ein weiterer Gegner des Circle in die Bredouille, so bringt sie das nur zu der rhetorischen Frage: »Who but a fringe character would try to impede the unimpeachable improvement of the world?« (TC 240, eigene Hervorhebung). Dieser naiv-utopische, unkritische Fortschrittsglaube ist im Roman mit dem Circle-Konzern untrennbar verwoben. Durch die Benennung verschiedener Gebäudekomplexe auf dem Circle-Campus nach historischen Epochen stellt der Roman seine Zukunftsvision in einen großen, menschheitsgeschichtlichen Kontext. Es ist dabei kein Zufall, welche historische Epoche auf dem Campus den Zuschlag für das Hauptgebäude erhält: »The Great Hall was in the Enlightenment« (TC 59). Der Chef-Utopist Bailey präzisiert etwas später: »Folks, we’re at the dawn of the Second Enlightenment« (TC 67). Auch der Roman The Circle setzt sich also kritisch mit dem (utopischen375) Erbe der Aufklärung auseinander, wodurch sich Parallelen zu weiteren untersuchten Texten, insbesondere zu Corpus Delicti und Unterwerfung, ergeben. Die Furcht vor einer auf blinder Fortschrittsgläubigkeit basierenden, zweiten Aufklärungswelle, die ihrerseits in ideologische Totalität umschlagen kann, hat im 21. Jahrhundert die Furcht vor einem totalitären Sozialismus ersetzt; als naiver, pseudo-aufgeklärter Charakter steht Mae hierfür exemplarisch. Was Mae, dem Circle und der ganzen Zukunftsgesellschaft des Romans in ihrem aufklä373 Vgl. Marks, Imagining surveillance, S. 162, insbesondere aber vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 106 und S. 302. 374 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 83. 375 Die Aufklärungsbewegung war zwar eher durch ihre spezifische ›Methodik‹ gekennzeichnet (eine kritische Überprüfung aller Lebensbereiche mithilfe der menschlichen ratio) als durch die Propagierung fixer gesellschaftlicher Zielzustände. Gleichwohl wohnt dem Vertrauen in diese ›Methodik‹ und in die positive Veränderungsmöglichkeit der Welt insgesamt ein deutlich utopischer Zug inne. Vgl. zu diesem Komplex v. a. die Schriften Richard Saages, etwa: Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991.

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rerischen Verbesserungseifer auf fast schon groteske Weise fehlt, ist ein metareflexives Moment, eine kritische Prüfung auch ihrer eigenen Glaubenssätze, mithin also eine Aufklärung ihrer Aufklärung.376 4.2.2.4 Das Orwell-Schema reloaded: Mae Holland als Irritationsfigur Dadurch, dass sich gerade die Hauptfigur des Romans bezüglich dieses möglichen Umschlags des Utopischen als unbelehrbar erweist, bricht The Circle trotz aller Gattungsbezüge doch auf markante Weise mit den traditionellen Vorgängertexten.377 Dem Roman ist das Wissen um die Geschichte der Gattung zwar deutlich eingeschrieben, gleichwohl wirken die vielen intertextuellen Zitate, die auf die prägenden Texte der Gattung verweisen (man vgl. nur das Eingangszitat), geradezu als eine Aufforderung an die Leser:innen, Struktur und Mechanismen dieser Dystopie vor dem Hintergrund des tradierten Schemas kontrastierend zu beleuchten.378 Dabei zeigen sich zunächst jedoch die bereits genannten Parallelen: Ein utopisches Setting, eine positive Identifikationsfigur, dann der immer dramatischere Umschlag der utopischen Elemente in ihr Gegenteil und die Manifestation der Negativität der neuen Umstände am Schicksal der Hauptfigur. Sogar dieser letzte Schritt erfolgt in The Circle – doch ohne dass Mae daraufhin die großen Gefahren erkennen würde, die der Konzern birgt. Auf offener Bühne stellen Mitarbeiter des ›Circle‹ die bereits erwähnte Dating-App LuvLuv vor. Einer der Mitarbeiter hat sich zuvor mit Mae getroffen und ihr Avancen gemacht und nun wird Mae in der live übertragenen Präsentation zum realen Testfall. Ihr persönliches, detailliertes Dossier wird in der Folge in allen Einzelheiten ausgebreitet, was Mae auch merklich unangenehm ist (TC 121–124). Folgte diese Dystopie dem traditionellen Schema, so müsste nun die geistige Wandlung der Hauptfigur einsetzen, Mae also an dieser Stelle allmählich zur 376 Vgl. hier die engen Verbindungen zu Corpus Delicti (insbesondere in 4.1.2.6). Was dort bereits in der Analyse konstatiert wurde, ist auch in Bezug auf The Circle passend: Schon die Dialektik der Aufklärung weist auf ein elementares Problem der Aufklärung hin, nämlich dass ihr eine Metaebene fehle, aus der heraus sie ihre eigene Rolle problematisieren könnte: »Nimmt die Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.« (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 3.) Dieser Umstand sei die Grundvoraussetzung dafür, dass Aufklärung die eigenen Prinzipien überhöhe, sie dadurch ideologisiere und somit selbst wieder in »Mythologie« umschlagen könne. Dieses Problem einer fehlenden Aufklärung über die Aufklärung wurde allerdings auch schon im 18. Jahrhundert durch Kants Kritiker Johann Georg Hamann in seinem Brief an einen Schüler Kants aufgeworfen: »Anch’io sono tutore« (Hervorhebung im Original). Zitiert nach Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart 2002, S. 437. Mehr zu dem Problem, dass auch Aufklärer zu Vormündern werden, auf S. 444–468. 377 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 82–83. 378 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 276.

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Widerstandskämpferin gegen den dystopischen, alles verschlingenden Großkonzern werden. Doch diese Wandlung kommt nicht, Mae ist in ihrer grundsätzlichen Begeisterung für den Circle einfach durch nichts und niemanden abzubringen, obwohl sie dem einzelnen Mitarbeiter, der sie bloßgestellt hat, durchaus böse wird. Im Laufe der Romanhandlung kommen immer wieder Gelegenheiten, in der Regel in Gestalt neuer Circle-Innovationen, durch die sie doch noch den üblichen Weg des Widerstands einschlagen könnte. Doch Mae lässt diese Gelegenheiten allesamt verstreichen. Die Leser:innen, denen der holzschnittartige Roman gar keine Alternative lässt, als die dystopischen Elemente früher oder später als solche zu erkennen, bekommen zunehmend das Bild einer Geisterfahrerin präsentiert, die die Gefahr ihrer Blindfahrt einfach nicht erkennt. So wird Mae mehr und mehr von einer Identifikations- zu einer Irritationsfigur, deren Motive und Bewertungen ab einem gewissen Zeitpunkt überhaupt nicht mehr nachvollzogen werden können: [Mae, die bereits rund um die Uhr ihre Kamera um den Hals trägt, befindet sich in der Entwicklungsabteilung des Circle. Sie lässt sich und ihren Webcam-Zuschauern YouthRank vorstellen, jenes Programm, mit dem Studienleistungen weltweit verglichen werden können. Es kommt wieder zu einer live-Vorführung.] Mae read one of the zings. »I have here Jennifer Batsuuri, who says she attends Achievement Academy in Cedar Rapids.« »Okay,« Jackie said, turning back to the wallscreen. »Let’s bring up Jennifer Batsuuri from Achievement Academy.« […] Beside her photo, two numerical counters were spinning, the numbers rising until they slowed and stopped, the upper figure at 1,396, the one below it at 179,827. »Well, well. Congratulations, Jennifer!« Jackie said, her eyes to the screen. She turned to Mae. »It seems we have a real achiever here from Achievement Academy. She’s ranked 1,396 out of 179,827 high school students in Iowa.« […] »How’s that look to you, Jennifer?« Mae asked. She checked her wrist, but Jennifer’s feed was silent. There was a brief awkward moment where Mae and Jackie expected Jennifer to return, expressing her joy, but she did not come back. […] »And can this be compared against all the other students in the country, and maybe even the world?« […] [Mae] asked. »That’s the idea,« Jackie said. […] »[S]oon we’ll be able to know at any given moment where our sons or daughters stand against the rest of American students, and then against the world’s students.« »That sounds very helpful,« Mae said. »And would eliminate a lot of the doubt and stress out there.« (TC 340–341)

Diese Irritation der Rezipient:innen gegenüber der grenzenlos naiven Hauptfigur, die eigentlich als kognitiv sehr leistungsfähig gezeigt wird und über einen geisteswissenschaftlichen Universitätsabschluss verfügt, überträgt sich auch auf

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den Text als Ganzes. Hier liegt ein wichtiger Grund für die zahlreichen ablehnenden Rezensionen, die dem Roman eine völlig unglaubwürdige Charakterzeichnung und ein seltsames Fehlen von signifikantem Widerstand gegen den dystopischen Circle-Konzern vorwerfen.379 Mae setzt gegen Ende des Romans nicht nur die Affäre mit dem Mitarbeiter fort, der sie zu Beginn durch LuvLuv öffentlich bloßgestellt hat, sie vereitelt aktiv Ty Gospodinovs Pläne zur Abwendung der Gefahren, die aus der Completion erwachsen. Am Ende von The Circle steht daher, wie auch in traditionellen Dystopien üblich, die vollkommene Katastrophe, doch statt eines widerständigen Helden wie Winston Smith, Guy Montag (Fahrenheit 451) oder Paul Proteus (Player Piano) steht hier nun Mae, die durch ihre Verblendung aktiv zu diesem fatalen Ende beiträgt, obwohl sogar der Schöpfer der dystopischen Welt, Ty, und Maes gute und vor allem viel erfahrenere Freundin Annie sie vehement auf die großen Gefahren hinweisen. Tys Fall zeigt eine weitere signifikante Abweichung dieser Dystopie von ihren Vorläufern. In den älteren Texten sind die hierarchisch hochstehenden Repräsentanten des Systems – wie Mustapha Mond, O’Brien, Captain Beatty (Fahrenheit 451) – statisch konzipiert, bleiben also durchgängig auf der Seite des Dystopischen. Im Roman The Circle wird die Spitze der Pyramide, Ty, zu einem Zauberlehrling, der die Folgen seiner Taten alleine nicht mehr kontrollieren kann und sich nun zum exemplarischen Charakter, Mae, herabbeugt, um nach Hilfe in der Not zu bitten. Er stößt dort allerdings nur auf Unverständnis und Verrat (TC 400–402). Das exemplarische Individuum ist in The Circle also stärker vom herrschenden System überzeugt als dessen Begründer. So groß die thematischen und formalen Bezüge zur Nachkriegsdystopie also auch sind, die typische Personenkonstellation wird in dieser Dystopie regelrecht auf den Kopf gestellt.380 Mae wird dadurch zu einer wahren Anti-Figur, die an Komjaga aus Der Tag des Opritschniks erinnert. Beide untersuchten Anti-Utopien des 21. Jahrhunderts variieren also auf auffällige Weise die Rolle ihrer Hauptfiguren. Wie schon bei Sorokins Roman, bleibt dieses Experiment auch in The Circle nicht ohne Risiko – während jedoch die Leser:innen im Opritschnik eventuell zu sehr mit Komjaga sympathisieren und so die Anti-Utopie als Utopie begreifen könnten, besteht beim Circle die Gefahr, dass sich die Antipathien der Hauptfigur gegenüber auch auf den Roman als Ganzes übertragen,381 wenn nicht erkannt wird, welcher in379 Vgl. z. B. die Rezension Des Internetkritikers neue Kleider von Dirk Knipphals in der taz vom 10. 08. 2014. Abrufbar unter: http://www.taz.de/!5035816/ (letzter Abruf am 25. 03. 2019). 380 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 102. 381 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 112. Gonnermann weist in einem interessanten Exkurs zudem darauf hin, dass der Film zum Roman wieder viel enger an das tradierte Schema von Dystopien angelehnt ist, was in den Rezensionen aber überwiegend als ärgerliche Verflachung wahrgenommen wurde (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 119).

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neren Logik die Charakterzeichnung Maes folgt. Der nächste Abschnitt soll die Verbindung zwischen dem Gesamtkonzept des Romans und der ungewöhnlichen Rolle seiner Hauptfigur deutlicher aufzeigen. 4.2.2.5 Das Unverständnis zwischen den Generationengrenzen Mae agiert während der gesamten Handlung, als hätte sie die Gehirnwäsche, die Winston Smith am Ende von Nineteen Eighty-Four über sich ergehen lassen muss, bereits während des Intervalls II erhalten. Von Roman Halfmann stammt der wichtige Hinweis, dass in den traditionellen Dystopien meist unverdorbene Charaktere mit einem intakten Gespür für die problematischen Elemente in ihrer Lebenswelt auf einen dystopisch verdorbenen Staat treffen – während man in The Circle den Eindruck gewinne, als habe die dystopische Welt bereits im Vorfeld diese menschliche Grundnatur der Hauptfigur angegriffen und zum Negativen hin verändert.382 Dadurch, dass Mae Kritiklosigkeit und Jugend verbinde, spiegle der Roman laut Halfmann ein Generationenproblem, das sich auch in der realen Welt zeige: Die oft kritiklose und naive Digitalisierungsbegeisterung sei eher ein Phänomen späterer Jahrgänge.383 Im Roman wird in der Tat immer wieder auf das geringe Durchschnittsalter der Circle-Mitarbeiter verwiesen (z. B. TC 18). Mae selbst ist erst 24, der Konzern noch keine sechs Jahre alt (TC 2) und die exemplarischen Nutzer, mit denen Mae Kontakt hat, sind häufig Jugendliche oder junge Erwachsene (z. B. TC 340–341). Halfmann konstatiert in der Mediennutzung eine grundlegende Andersartigkeit zwischen dieser späten und allen vorangehenden Generationen. Es sei, als begriffen sich die Mitglieder dieser neuen Generation eher als Objekte denn als Subjekte, als Teile eines großen Schwarms, für die die Totalüberwachung weniger eine Bedrohung als eine Möglichkeit der Verschmelzung mit dem Großen und Ganzen sei.384 Unabhängig davon, ob man Halfmann bezüglich seiner Analyse der realen Gesellschaft in jedem Punkt folgen möchte, ergibt sich hieraus ein fruchtbarer Interpretationsansatz für The Circle. Es besteht im Text tatsächlich eine unsichtbare und doch äußerst bedeutsame Mauer zwischen der Generation Maes und der ihrer Eltern. Obwohl auch sie von Maes neuer Stellung massiv profitieren, fliehen ihre Eltern vor der neuen Totalüberwachung in ihrem Haus und möchten auch zu Mae keinen Kontakt mehr, solange sie ihre Livecam um den Hals trägt.

382 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 277–278. 383 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 278. 384 Vgl. Halfmann, ›I Have Seen Myself Backward‹, S. 287–289 und S. 295.

Block II: Anti-Utopien des 21. Jahrhunderts

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Das umfassende Unverständnis über den Umgang der allermeisten jungen Menschen mit digitalen Medien in der realen Welt scheint in die Konstruktion der dystopischen Welt und insbesondere in die Charakterzeichnung Maes direkt eingeflossen zu sein. Hierin liegt der tiefere Grund für die häufig konstatierten Irritationen über die Erzählweise von The Circle. Der ›Warnroman‹ möchte die Leser:innen auf seine Seite der ›Mauer‹ ziehen und entfremdet ihn dadurch immer weiter von seiner Hauptfigur Mae. Das Bild einer mauerartigen Verständnisbarriere macht auch die in den Feuilletons kritisierte Überzeichnung der dystopischen Elemente erklärbar. Angesichts des gewaltigen Ausmaßes an wechselseitigem Unverständnis scheint es aus Sicht des Textes notwendig zu sein, vor Übertreibungen und Vereindeutigungen nicht zurückzuschrecken, um auch auf die heute bereits bestehende, andere Seite der ›Mauer‹ durchdringen zu können. Mehrmals und explizit werden die potentiellen Folgen einer Completion im Roman daher »totalitarian« bzw. »tyrannical« genannt (TC 368, 393, 481). So integriert diese Dystopie ihre eigene Interpretation in sich, was The Circle bis zu einem gewissen Grad zu einem »didaktischen Text«, ähnlich Juli Zehs Corpus Delicti, macht.385 Bei Leser:innen, die ohnehin schon auf derselben Seite der Mauer wie der Roman stehen, rennt der Text mit all diesen intergenerationalen Kommunikationsversuchen natürlich immer wieder offene Türen ein. 4.2.2.6 Der Roman zwischen Tradition und Innovation (Fazit) Insgesamt bleibt The Circle ein Roman, dessen Rezeption von den massiven Irritationsmomenten, die er in die Narration integriert, bestimmt wird. Der Text stellt die tradierte Personenkonstellation von Dystopien auf den Kopf. Seine Hauptfigur bleibt zwar ein exemplarisches Individuum, doch nicht mehr ihr Leid an den dystopischen Verhältnissen ist hier exemplarisch, sondern stattdessen ihr naiver Umgang mit digitalen Medien. Mae ist somit kein leidender Fremdkörper in einer dystopischen Welt mehr, sondern steht letztlich an der Spitze der negativen Veränderungen. In thematischer und formaler Hinsicht bleibt der Roman der dystopischen Gattungstradition dagegen eng verbunden. Hinsichtlich der Überwachungsthematik sind die Anbindungen gerade an Orwells Nineteen Eighty-Four so stark, dass man von einer Aktualisierung bzw. einer ›Digitalisierung‹ des Big Brother durch den Roman sprechen könnte. 385 Vgl. hierzu den Artikel von Rainer Moritz zu Corpus Delicti in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. 07. 2009 erschien unter dem Titel Unverträgliche Immunsysteme. Online abrufbar unter: https://www.nzz.ch/unvertrgliche_immunsysteme-1.3090964 (letzter Abruf am 27. 02. 2020).

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

Dass gerade diese noch stark von Orwell beeinflusste Anti-Utopie das Bild der aktuell boomenden Dystopien entscheidend mitprägt, führt dazu, dass die Innovativität der Gegenwartsdystopie in der Öffentlichkeit eher unterschätzt wird. Doch zugleich zeigen Erfolg und Breitenwirkung dieses Romans die aktuelle Wirkmächtigkeit der Gattung besonders deutlich auf. Mit geradezu exemplarischer Präzision greift The Circle allgemein bekannte Tendenzen der realen Welt auf und stellt sie durch ein extrapolierendes Verfahren in ihrer Problematik und potentiellen Gefährlichkeit aus. Durch ihre Fiktionalisierung in dieser DigitalDystopie werden die möglichen Folgen einer immer stärkeren Vernetzung enttheoretisiert, konkretisiert und dadurch einfacher vorstellbar und leichter artikulierbar.

4.3

Block III: Weitere verkaufsstarke Dystopien der Gegenwart

Das hervorstechendste Merkmal des aktuell zu beobachtenden Dystopie-Booms ist seine Ausdehnung auf ganz verschiedene gesellschaftliche Bereiche und Bevölkerungsschichten. Dies zeigt sich erstens durch seinen intermedialen Aspekt: Nicht nur in der Literatur, sondern auch in den Bereichen Film, Serie, Computerspiel und teilweise auch auf der Theaterbühne386 wirkt er sich aus (vgl. Kapitel 6). Zweitens zeigt insbesondere ein Blick auf die literarische Dystopie der Gegenwart, dass die beiden Sphären, die früher mit ›E‹ und ›U‹ bezeichnet und voneinander abgetrennt wurden, gleichermaßen an diesem aktuell sich vollziehenden Boom partizipieren. Aus diesem Grund schließt die vorliegende Arbeit auch sogenannte ›Unterhaltungsliteratur‹ bewusst mit in die Untersuchung ein. Die Gegenwartsdystopie soll als literarisches und gesellschaftliches Phänomen möglichst umfassend beleuchtet werden, was einen solch breiten Ansatz unabdingbar macht. Die Überwindung der Trennung von Hoch- und Trivialkultur, die man vor allem mit Leslie Fiedlers Text Cross the Border – Close the Gap von 1968 verbindet,387 ist aus Sicht einer ›Dystopieforschung‹ ohnehin ein Segen, waren doch bereits die prototypischen Dystopien der Nachkriegszeit trotz ihres künstlerischen Anspruchs zugleich auch – und im besten Sinne – unterhaltend. Vor allen Dingen aber waren sie stets auch für eine große Leserschicht intellektuell zugänglich. Etwas überspitzt ließe sich sogar sagen, dass die Kernkompetenz der utopischdystopischen Texte durch das Ziel einer politischen Breitenwirkung (vgl. 2.1) seit 386 Vgl. etwa den Umstand, dass Corpus Delicti ursprünglich ein Theaterstück gewesen ist, das bei der Ruhr-Triennale uraufgeführt wurde (vgl. 4.1.2.1). 387 Fiedler, Leslie: Cross the Border – Close the Gap. New York 1972. [Text erstmals gedruckt 1968.]

Block III: Weitere verkaufsstarke Dystopien der Gegenwart

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jeher in der Überwindung dieser Trennung von Hoch- und Trivialkultur gelegen hat. Insofern ist die Bildung dieses dritten Textblocks keinesfalls so zu verstehen, dass die hier vertretenen Dystopien von den Dystopien der anderen Blöcke kategorial zu unterscheiden wären; sie reihen sich lediglich nicht bei jenen Texten ein, die insbesondere die Probleme ›postutopischer‹ Gesellschaften thematisieren bzw. die noch als ›Anti-Utopien‹ bezeichnet werden können – obwohl es auch diesbezüglich manche Überschneidung gibt, wie die folgenden Analysen zeigen werden. In Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie etwa spielen Gefährdungen durch ›postdemokratische‹ Prozesse eine große Rolle, wodurch sich wichtige Verbindungslinien zu Infinite Jest (vgl. 4.1.1.5) und allgemein zu den ›postutopischen‹ Dystopien des ersten Textblocks ergeben. Zugleich wirft diese Trilogie aber auch philosophische Fragen auf, die in den letzten Jahrzehnten dramatisch an realpolitischer Relevanz gewonnen haben: Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist in gewisser Weise selbst zu einem ›Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹388 geworden, ein Umstand, dessen vielfältige ethische Implikationen die MaddAddam-Trilogie mit den Mitteln der Fiktion konkretisiert und anschaulich macht. Mit Blackout – Morgen ist es zu spät wurde daneben ein Roman in das Textkorpus integriert, der aufgrund seiner sehr hohen Verkaufszahlen389 das Gesicht der boomenden Gattung im deutschsprachigen Bereich (neben The Circle) wesentlich mitgeprägt hat. Gerade dieser Text zeigt im Vergleich zu manch anderen der untersuchten Romane die extreme Bandbreite der Gattung zwischen konstruktiver Nachdenklichkeit und einem zumindest teilweise zu konstatierenden Alarmismus auf. Umso mehr stellt sich nach der Analyse von Blackout die Frage nach dem verbindenden Element zwischen all den heterogenen Erscheinungsformen des Dystopischen heute; nach einem Element, das als die gemeinsame Basis des sich gegenwärtig vollziehenden Dystopie-Booms bezeichnet werden kann (vgl. hierzu dann insbesondere Kapitel 7). Schließlich ist auch Marc-Uwe Klings Roman QualityLand im Kontext dieser Arbeit von größtem Interesse, da in diesem 2017 erschienenen Text der Boom der Dystopien selbst bereits verhandelt wird. QualityLand wird so zu einem Beispiel für den Eintritt der Gattung in eine selbstreflexive Phase (vgl. Kapitel 1). Zudem

388 Vgl. Walter Benjamins gleichlautenden Aufsatz: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Herausgegeben von Burkhardt Lindner. Berlin 2013. [Erstmals auf Französisch und gekürzt veröffentlicht 1936.] 389 Laut Verlagsmeldung wurde der Roman innerhalb der ersten drei Jahre nach Erscheinen über eine Million Mal verkauft verkauft. Quelle: http://www.blackout-das-buch.de/news.p hp (letzter Abruf am 08. 02. 2019).

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

findet hier bereits eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Künstliche Intelligenz statt.

4.3.1 Die MaddAddam-Trilogie (Margaret Atwood, 2003/2009/2013): Mit selbstgemachtem Ökohumanismus gegen die Postdemokratie und ihre Folgen Wo findet man […] eine Exnutte namens Oryx [und] einen tiefambivalenten Biowissenschaftler namens Crake […]? Man findet sie […] in der […] aus lauter schlimmen Hausfrauensorgen herausextrapolierten Fabelwelt der beliebten kanadischen Nachdenklichkeitsherstellerin und Problemporträtistin Margaret Atwood. […] Tut nichts: Das Buch wird gebraucht und gemocht, weil sein Publikum sich davon zu sagenhaft ketzerischen Ideen ermutigen lassen kann – die Pharmaindustrie ist keine gemeinnützige Einrichtung, Klimakatastrophen sind pfui, Kunst ist was Feines, dessen Verlust die Welt ärmer machen würde, Krieg haut immer nur alles kaputt, so diese Richtung. Dietmar Dath390

Oryx and Crake offers an […] only slightly exaggerated satire of commercial biotechnology […]. The novel presents a brutal portrait of a world where the ethical burden of history has been reduced to videogames […]. And it describes a brilliant bestiary involuntarily unleashed by proprietary bioengineering. Susan Squier (Science Magazine)391

4.3.1.1 Untersuchungsgegenstand und Forschungsfelder Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie besteht aus den Romanen Oryx and Crake (2003), The Year of the Flood (2009) und MaddAddam (2013). Atwood wird teilweise als »Meisterin der Dystopie«392 bezeichnet, mit The Handmaid’s Tale erlangte sie 1985 internationale Bekanntheit, insbesondere im englischsprachigen Raum. Vermutlich wegen dieses herausgehobenen öffentlichen Status der 390 Rezension zu Oryx and Crake von Dietmar Dath mit dem Titel Der Untergang schnarcht, erschienen am 07. 07. 2003 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/der-untergang-schn archt-1119592.html (letzter Abruf am 02. 04. 2019). 391 Squier, A Tale Meant to Inform, S. 1154–1155. 392 Z.B. in Martin Hahns Online-Artikel Neues von der Meisterin der Dystopie vom 27. 06. 2017, erschienen in Deutschlandfunk Kultur. Online abrufbar unter: https://www.deutschland funkkultur.de/margaret-atwood-das-herz-kommt-zuletzt-neues-von-der.950.de.html?dra m:article_id=389642 (letzter Abruf am 02. 09. 2019).

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Autorin und der hohen Verkaufszahlen ihrer Bücher liegt eine Vielzahl an wissenschaftlichen Aufsätzen zur MaddAddam-Trilogie vor. Veröffentlichungen vor 2013, also der Großteil der vorhandenen Forschungsliteratur, leiden jedoch darunter, dass sie den Abschluss der Trilogie nicht berücksichtigen konnten. So ergibt sich in diesen Texten zwangsläufig eine unvollständige Sicht auf die Romane, insbesondere bezüglich der in den späteren Teilen integrierten utopischen Elemente.393 Die zahlreichen und sehr verschiedenen thematischen Felder, die die Trilogie eröffnet, sind dabei in unterschiedlicher Genauigkeit untersucht worden. Mit hoher Intensität wurde der Frage nach der Motivation einer der Hauptfiguren zur Auslösung einer globalen Seuche und daneben der Bedeutung von Schriftlichkeit und Narrationen, wie sie in der Trilogie dargestellt ist, nachgegangen.394 Die umfassendste Analyse der Trilogie hat Marinette Grimbeek vorgelegt,395 wobei sie die Texte als Kernstück eines realen Umweltschutzprojekts der Autorin untersucht, also stellenweise über eine rein literaturwissenschaftliche Fragestellung hinausgeht. Die Trilogie zeichnet zunächst das dystopische Bild einer nur noch scheindemokratischen Gesellschaft. Nach einer globalen, apokalyptischen Seuche spielen die beiden letzten Romane dann alternative Formen des Zusammenlebens durch und entwerfen dabei eine Art ›ökohumanistische‹ Utopie. Im Folgenden wird die Trilogie somit als Musterbeispiel einer ›konstruktiven Dystopie‹ (vgl. 2.2) interpretiert, da sie nicht mit einem immer weiter fortschreitenden Verfallsszenario endet, sondern die apokalyptische Pandemie als Trennlinie fungiert, nach der verstärkt auch utopische Elemente zur Entfaltung kommen können. Das Intervall III zerfällt hier also (wie auch in Unterwerfung) in die durch die apokalyptische Seuche sehr scharf abgegrenzten Intervalle IIIa und IIIb. Neben einer spezifischen Analyse der Trilogie im Spannungsfeld zwischen Dystopie und Utopie sollen nachfolgend insbesondere die Konzepte der PostDemocracy (Colin Crouch) und des homo mundanus (Wolfgang Welsch) in die wissenschaftliche Debatte um die Romane eingebracht werden. Nach dieser Hinführung und der Skizzierung der Romanhandlung im zweiten Abschnitt wird im dritten Analyseteil zunächst auf die inhaltlichen Parallelen zwischen Crouchs theoretischem und dem vorliegenden fiktionalen Ansatz eingegangen. Daneben wird viertens gezeigt, in welche moralphilosophische Debatte zur Gentechnik sich die Trilogie einschreibt und welches Menschenbild 393 Ob Oryx and Crake ursprünglich als Einzelwerk konzipiert war, ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären. Im Folgenden werden die drei Romane als ein zusammenhängendes Werk betrachtet. 394 Vgl. z. B. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 124–125. 395 Marinette Grimbeek: Margaret Atwood’s Environmentalism. Apocalypse and Satire in the MaddAddam Trilogy. Karlstadt 2017.

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

in ihr vorherrscht. Der letzte Untersuchungsbereich beschäftigt sich schließlich mit dem im Buch enthaltenen utopischen Potential. Dieses wird im fünften Abschnitt allgemein analysiert, während der sechste Abschnitt speziell auf die durch die Trilogie angestrebte Verbindung der Konzepte eines homo faber und eines homo mundanus eingeht. 4.3.1.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Die Haupthandlung der Trilogie ist in einem urbanen Gebiet an der US-amerikanischen Ostküste angesiedelt. Die Hauptfiguren des ersten Romans, Jimmy und Glenn, sind innerhalb der Diegese auch unter anderen Namen bekannt (Snowman bzw. Crake), deren sich auch der Erzähler über weite Strecken bedient. Nachfolgend werden jedoch stets die handlungslogisch ursprünglichen Namen verwendet.396 Bezüglich der zeitlichen Einordnung gibt es keine klaren Informationen, aufgrund einiger Hinweise kann aber davon ausgegangen werden, dass die von Glenn ausgelöste globale Seuche um das Jahr 2035 ausbricht.397 Alle drei Romane nehmen die Monate vor und nach diesem Ereignis in den Fokus, insbesondere in Oryx and Crake finden sich jedoch auch mehrere Rückblenden, die nah an die reale Entstehungszeit des ersten Romans heranreichen. Schon vor der apokalyptischen Pandemie entwerfen die Romane das Bild einer in vielfältigen Bereichen stark veränderten Gesellschaft.398 Machtpolitisch bestimmend sind große Pharmakonzerne, deren Mitarbeiter mit ihren Familien in umfangreichen und wohlhabenden Gated Communities, den sogenannten compounds wohnen. Ein Großteil der Bevölkerung lebt dagegen in den chaotischen pleeblands, die nur deswegen nicht in völlige Anarchie versinken, weil das CorpSeCorps – ein privates Sicherheitsunternehmen, das de facto das Gewaltmonopol innehat – soweit für Ordnung sorgt, dass seine und die Interessen der großen Unternehmen gewahrt bleiben. Die Bezeichnung pleebland ist an die römisch-antike plebs angelehnt, sodass die tiefe Spaltung der futuristischen Gesellschaft als das Symptom eines umfassenden gesellschaftlichen Verfalls markiert wird.399 396 Dies soll nicht nur die Komplexität der Darstellung reduzieren, sondern zugleich auf die ungewisse(n) Erzählerposition(en) in den Romanen verweisen. Die Frage nach den Beweggründen ›Crakes‹ für die Auslöschung nahezu der gesamten Menschheit stellt ein Kernthema der überlebenden innerdiegetischen Personen, aber auch der Forschung dar; mit der Verwendung von Crakes eigentlichem Namen, Glenn, verbindet sich die Hoffnung, hier der Frage nach seinem wahren Wesen näher zu kommen. 397 Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 120–121. 398 Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 115–116. 399 Vgl. Joseph, Victims of Global Capitalism, S. 36.

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Die Pharmakonzerne beuten die Bevölkerung systematisch aus, indem sie selbst die Nachfrage nach ihren Produkten erzeugen, also Krankheiten in Umlauf bringen, um dann die Heilmittel teuer verkaufen zu können. Gefahr droht den Konzernen nur von außen: Im Großen, also zwischen den Nationen, herrschen offenbar anarchische Zustände, sodass die Entführung von Spitzenforschern durch ausländische Konkurrenten eine ständige Möglichkeit darstellt. In der rein an den Bedürfnissen der Unternehmen orientierten Gesellschaft haben die Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften jede Relevanz und Anerkennung verloren, sofern ihre Erkenntnisse nicht marktwirtschaftlich nutzbar gemacht werden können. Auch moralische und ethische Konzepte werden gegenüber einer allumfassend angewandten instrumentellen Vernunft nur noch von wenigen Außenseitern wie Jimmys Mutter vertreten: [Jimmys Vater:] […] ›We now have genuine human neocortex tissue growing in a pigoon.‹ […] [Jimmys Mutter:] […] ›You’re interfering with the building blocks of life. It’s immoral. It’s … sacrilegious.‹ […] [Jimmys Vater:] ›I don’t believe I’m hearing this! Who’ve you been listening to? You’re an educated person, you did this stuff yourself! It’s just proteins, you know that! There’s nothing sacred about cells and tissue, it’s just …‹ [Jimmys Mutter:] ›I’m familiar with the theory.‹ (OC 56–57)

In einem solchen Zeitgeist wachsen die Hauptfiguren Jimmy und Glenn innerhalb der compounds heran. Hinzu kommen Sozialisationseffekte durch die ungezügelte Internetnutzung der beiden Teenager: Ohne große Bedenken sehen sie Live-Hinrichtungen, Folterungen und (Kinder-)Pornographie. Die Natur erfährt keinerlei Wertschätzung und ist somit von der allgemeinen Krisenhaftigkeit nicht ausgenommen. Die Romane zeichnen das trostlose Bild einer rasant voranschreitenden Ausrottung von Tierarten und drastisch gestiegener Temperaturen und Meeresspiegel – statt New York gibt es nun ein New New York (MA 186).400 Die fiktive Welt ist also bereits vor Ausbruch der Seuche als umfassend dystopisch zu erkennen. Es wird allerdings zu keinem Zeitpunkt explizit erklärt, wieso es zu diesen massiven und vielfältigen Veränderungen während des Intervalls II gekommen ist. Die Zustände scheinen den Romanfiguren so normal, dass sie kein Gesprächsthema sind. Auffällig ist jedoch, dass schon in den Rückblenden, die nahe an das Intervall I heranreichen, ein derart 400 Auffällig ist, dass die meisten Aspekte dieser Umweltzerstörung in den Texten nicht herausgestellt werden, sondern wie zufällig neben der eigentlichen Handlung nur angedeutet werden. Gerade diese Beiläufigkeit erzeugt einen intensiven Effekt: »One afternoon in – what? March, it must have been, because it was already hot as hell outside – the two of them were watching porn in Crake’s room.« (OC 89) An dieser Stelle zeigt sich nicht nur Beiläufigkeit, sondern – angesichts einer höllischen, aber erwartbaren Hitze im März an der Ostküste der USA – auch eine gewisse Übertreibung.

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düsteres Bild der Welt und der Menschheit gezeichnet wird, dass dieser umfassende dystopische Verfall nur als Intensivierung und Ausdehnung eines realen Zustands wirkt (vgl. diesbezüglich die Parallelen zu Infinite Jest). Vor allem konzentrieren sich die Rückblenden auf das Schicksal von Oryx, die in einem Entwicklungsland aufwächst und im Kindesalter zur Prostitution und in die Porno-Industrie gezwungen wird.401 Glenn erkennt diese Negativität der gesellschaftlichen Zustände insgesamt. Seine rationalistische, stark instrumentell geprägte Vernunft, seine Traumatisierung,402 seine Naturverbundenheit403 und seine malthusianische Analyse der globalen Bevölkerungsentwicklung404 lassen in ihm den Entschluss entstehen, die aus der Evolution hervorgegangene Menschheit komplett auszulöschen und durch eine genveränderte Variation zu ersetzen. Glenn versucht, diesen nach seinem Cognomen Crake bezeichneten »Crakern« alle negativen Eigenschaften des homo sapiens herauszuschneiden. Dazu zählt er Furcht, Aggression, Hierarchien, Religion, Zivilisation und Kultur. Gleichzeitig bringt er mithilfe von Oryx eine Pille weltweit in Umlauf, die eine extrem aphrodisierende Wirkung, zugleich aber auch den Keim einer höchst ansteckenden und tödlichen Geschlechtskrankheit enthält. Als es schließlich zum Ausbruch der Pandemie kommt, tötet Glenn auch Oryx und wird daraufhin von Jimmy erschossen. Dieser entlässt die Craker in die Natur und wird für sie zu einer Art prophetischem Geschichtenerzähler. Jimmy ist allerdings nicht der einzige homo sapiens, der überlebt: Die Gruppe der »God’s Gardeners« bildete schon vor Ausbruch der Seuche eine Aussteigergemeinschaft, die sich vor allem aus früheren Konzernwissenschaftler:innen 401 Dieses Einzelschicksal ist es schließlich auch, das Jimmy und wohl auch Glenn während des Besuchs einer Internetseite mit Kinderpornographie aus ihrem moralischen Nihilismus reißt: This was how the two of them first saw Oryx. She was only about eight, or she looked eight. […] She was just another little girl on a porno site. None of those little girls had ever seemed real to Jimmy […] but for some reason Oryx was three-dimensional from the start. […] [S]he looked over her shoulder and right into the eyes of the viewer – right into Jimmy’s eyes, into the secret person inside him. I see you, that look said. […] I know you. I know what you want. […] Jimmy felt burned by this look – eaten into, as if by acid. (OC 90–91, Kursivierung im Original). Auffällig ist bzgl. Glenn zum Beispiel, dass sich Glenns erste Einlassungen über Wesen und Schicksal des Menschen direkt an eine Schilderung über Oryx’ individuelles Schicksal und Jimmys Zorn darüber anschließt (OC 119–120). 402 Glenn schreit im Schlaf, kann sich am Morgen aber an nicht daran erinnern (OC 218). Bedeutsam ist hier das Schicksal von Glenns Vater und Jimmys Mutter. Beide gehören zu den wenigen Kritikern innerhalb der Konzerne. Jimmys Mutter ist von Beginn der Handlung an depressiv, flieht nach einiger Zeit aus der Wohnanlage, wird zu einer Terroristin gegen das System und wird schließlich vom CorpSeCorps hingerichtet. Die Ermordung von Glenns Vater wird dagegen als Unfall inszeniert, was Glenn jedoch durchschaut. 403 Auch wenn er das evolutionäre Prinzip als problematisch ansieht (z. B. in OC 206), lässt er dennoch an mehreren Stellen eine genuine Sympathie für die Natur erkennen (z.B. in OC 179). 404 Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 124.

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rekrutiert hat. Durch ihren zurückgezogenen, strikt ökologischen Lebensstil und ihr Insiderwissen fallen sie der globalen Seuche nicht zum Opfer. Es überleben jedoch auch drei Painball-Spieler, die – wegen Mordes eigentlich zum Tode verurteilt – ihre letzte Chance bei einer Art Gladiatorenkampf gesucht haben und dort süchtig nach Adrenalin und Gewalt geworden sind. In der postapokalyptischen Welt entwickelt sich nun ein Überlebenskampf zwischen diesen drei Gruppen (Gottesgärtnern, Crakern, Painballern), der durch entlaufene Tiere aus Genspleißungsexperimenten erschwert wird. Hierzu zählen Wolvogs (Wolf + Hund), Liobams (Löwe + Lamm) und Pigoons (überdimensionierte Schweine mit menschlichem Hirngewebe und menschlichen Organen). In den beiden Romanen nach Oryx and Crake wird mehr von der Lebensweise der God’s Gardeners dargestellt; zwei Personen dieser Gruppe, Toby und Zeb, dienen als neue Haupt- und Identifikationsfiguren. Letztlich gelingt es einer Allianz aus Gottesgärtnern, Crakern und Pigoons, die Painballer zu besiegen. Diese spezienübergreifende Gemeinschaft, zu der mittlerweile auch drei neugeborene Menschen-Craker-Babies gehören, ist die Basis einer friedlichen und stabilen Koexistenz geworden, als in der Ferne der Rauch eines Lagerfeuers auftaucht. Eine Expedition dorthin kehrt nie zurück. Was das weitere Schicksal der Gemeinschaft angeht, endet die Trilogie offen. 4.3.1.3 Die Postdemokratie und ihre Folgen Margaret Atwood äußerte sich dahingehend, Oryx and Crake sei keine Dystopie, weil darin ein Überblick über die (politische) Gesamtstruktur der Gesellschaft fehle.405 Diese Bemerkung spielt auf den Unterschied ihres Textes zu prototypischen Dystopien an, in denen die Staatsmacht haupt- oder zumindest mitverantwortlich für den negativen Zustand des Gemeinwesens ist und daher intensiv betrachtet wird. In der MaddAddam-Trilogie gibt es dagegen, wie Atwood richtig anmerkt, keinen Hinweis darauf, wer die formalen Machthaber des Gemeinwesens sind, ob es noch eine klassische Regierung gibt und was ihre Kompetenzen sind. Atwoods Folgerung, es könne sich daher um keine Dystopie handeln, ist jedoch vorschnell, da auch in ihrer Trilogie die faktischen Machthaber des Gemeinwesens klar zu erkennen sind und eine eingehende Beschäftigung mit ihnen erfolgt: Es sind die großen (Pharma-)Konzerne und das CorpSeCorps, die die reale Macht innerhalb des Staates unter sich aufgeteilt haben. Die MaddAddamTrilogie besteht aus Romanen ohne einen einzigen Politiker oder eine einzige politische Institution; gerade das macht sie jedoch (in Verbindung mit dem negativen Gesellschaftsporträt) zu hochpolitischen Texten.

405 Siehe hierzu Stein, Problematic Paradice, S. 142.

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Die vielfältigen Krisen- und Verfallssymptome der Zukunftsgesellschaft vor der Pandemie lassen sich nämlich auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wenn man sie als Folgen eines Prozesses begreift, den Colin Crouch in seiner gleichnamigen Veröffentlichung als Post-Democracy bezeichnet:406 Under this model […] elections certainly exist and can change governments […]. The mass of citizens plays a passive, quiescent, even apathetic part, responding only to the signals given them. Behind this spectacle of the electoral game, politics is really shaped in private by interaction between elected governments and elites that overwhelmingly represent business interests. This model, like the maximal ideal, is also an exaggeration, but enough elements of it are recognizable in contemporary politics […] It is my contention that we are increasingly moving towards the post-democratic pole.407

Auf theoretischer Ebene extrapoliert also auch Crouch problematische gesellschaftliche Tendenzen. Die Trilogie vollzieht im Intervall IIIa diesen Schritt auf literarischer Ebene und zeigt dabei eine Gesellschaft, die Crouchs postdemokratischem Extrempol weitgehend entspricht, wie die folgenden Ausführungen verdeutlichen sollen. Im Sinne Crouchs kommt es in einer fortgeschrittenen ›Postdemokratie‹ überhaupt nicht mehr auf die formalpolitische Ebene an, da diese faktisch entmachtet sei. Auch in der Welt von Oryx and Crake wird noch gewählt, doch verbindet sich mit diesen Wahlen keine realpolitische Relevanz mehr – »Remember when voting mattered?« (OC 63) ist laut Jimmy eine der wiederkehrenden Klagen seiner Mutter. Die Frage nach gesellschaftlicher Macht steht also sehr wohl im Zentrum des Textes, der damit problemlos als Dystopie bezeichnet werden kann, und es zeigt sich hier der interessante Fall einer Autorin, die einerseits Dystopien jenseits der klassischen Gattungstradition verfasst und gleichzeitig noch einer traditionellen Gattungsdefinition (im Sinne anti-utopischer ›Staatsromane‹) anhängt. Nach Crouchs Darstellung findet bereits seit längerem eine immer stärkere Machtverschiebung von gewählten Volksvertretern hin zu internationalen Großkonzernen statt. Letztere bezeichnet Crouch als »Key Institution of the Post-Democratic World«,408 da sie die Nationalstaaten durch ihre immense Bedeutung für die jeweiligen Arbeitsmärkte, in Verbindung mit ihrer gleichzeitig hohen Flexibilität, ständig gegeneinander ausspielen können.409 So detailliert fällt die Analyse in Oryx and Crake zwar nicht aus, was vor allem daran liegt, dass auf die internationale Perspektive (wie so häufig in Dystopien) nur oberflächlich 406 Die Schrift erschien erstmals 2004, einzelne Elemente seiner Analyse und auch der Begriff ›Postdemokratie‹ gehen aber bis in die 1990er-Jahre zurück. 407 Crouch, Post-Democracy, S. 4. 408 Crouch, Post-Democracy, S. 31. 409 Crouch, Post-Democracy, S. 3–14.

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eingegangen wird. Die Bewertung der großen Konzerne und vor allem die Bewertung ihres Einflusses auf die Gesellschaft konvergiert in der Trilogie aber mit der Crouchs: I have tried to show […] how the fundamental cause of democratic decline in contemporary politics is the major imbalance now developing between the role of corporate interests and those of virtually all other groups.410

In der Zukunftsgesellschaft vor der Pandemie gibt es keinen Big Brother und kein totalitäres Staatssystem, das seine Bürger unterdrückt. Aber die Rolle der dystopischen Macht ist dennoch besetzt – und zwar durch die Konzerne (vgl. etwa OC 211). So ist es nur konsequent, dass die Leser:innen statt über einen Insider im Staatswesen (wie es Winston Smith noch gewesen ist) nun über den bei einem Pharmaunternehmen angestellten Gentechniker Glenn Einblick in das wahre Machtzentrum des Systems erhalten.411 Zusammenfassend lässt sich der gezeigte Zustand des Gemeinwesens vor Ausbruch der Seuche als »post-political state«412 bezeichnen.413 Aber nicht nur die Machtverschiebungen zugunsten der Konzerne ist durch das Konzept der ›Postdemokratie‹ erklärbar, sondern der gesamte, vielfältige gesellschaftliche Verfall lässt sich als eine Folge dieses Prozesses deuten. Werden die Interessen von Großkonzernen alleine bestimmend, so wirkt sich diese Ökonomisierung auf alle Lebensbereiche aus. Ein substantieller Umweltschutz etwa ist für die einzelnen Firmen nicht von Interesse, sofern durch ihn nicht Gewinne zu generieren sind. Gleiches gilt für die Finanzierung geisteswissenschaftlicher Forschung, eine solide Ausbildung auch der unteren Bevölkerungsschichten oder eine gerechte Einkommensverteilung. Zwischen älteren und dieser Dystopie zeigt sich somit ein wesentlicher Wandel in der Sicht auf den Staat. War der Staat in Nineteen Eighty-Four und ähnlichen Texten noch die primäre Gefahrenquelle, so ist es in dieser Dystopie nun gerade sein Machtverlust, der problematisiert wird. Den Figuren der Trilogie ist während des Intervalls IIIa die tiefe Sehnsucht nach einem Leviathan eingeschrieben, der die Gesellschaft von der illegitimen Machtausübung durch die

410 411 412 413

Crouch, Post-Democracy, S. 104. Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 55. Tolan, Margaret Atwood, S. 282. Crouch, Post-Democracy, S. 19–20: If we have only two concepts – democracy and nondemocracy – we cannot take discussion about the health of democracy very far. The idea of post-democracy helps us describe situations when boredom, frustration and disillusion have settled in after a democratic moment; when powerful minority interests have become far more active than the mass of ordinary people in making the political system work for them; where political elites have learned to manage and manipulate popular demands; where people have to be persuaded to vote by top-down publicity campaigns.

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Konzerne (bzw. durch das CorpSeCorps) und von den anarchischen Zuständen in den pleeblands befreit: [The CorpSeCorps] had an image to uphold among those citizens who still paid lip service to the old ideals: defenders of the peace, enforcers of public security, keeping the streets safe. It was a joke even then, but most people felt the CorpSeCorps were better than total anarchy. Even Toby felt that. (YF 34)

Doch es ist nicht nur Sicherheit und legitime Herrschaftsausübung, die den Individuen im Intervall IIIa fehlen. Vielmehr lassen sich vor dem Ausbruch der Seuche auch hier typische Probleme einer ›postutopischen‹ Gesellschaft erkennen – zu nennen ist hier vor allem eine extreme Fixierung der Bevölkerung auf Äußerlichkeiten und Sexualität:414 The rewards [einer Technik zur Zellerneuerung] […] would be enormous, Jimmy’s father explained […]. What well-to-do and once-young, once-beautiful woman or man, cranked up on hormonal supplements and shot full of vitamins but hampered by the unforgiving mirror, wouldn’t sell their house, their gated retirement villa, their kids, and their soul to get a second kick at the sexual can? (OC 55)

Nach dem Wegbrechen politischer und religiöser Überzeugungen, die dem Individuum innerhalb des jeweiligen Systems eine Funktion und damit eine Daseinsberechtigung zugewiesen haben, zeigt sich im Intervall IIIa bei den Romanfiguren das Gefühl einer existentiellen Leere. Das übersteigerte Streben nach Jugendlichkeit und sexuellen Abenteuern hat die Funktion, dieses Mangelgefühl zu betäuben, wodurch sich Parallelen zu den Romanen des ersten Textblocks ergeben. Dass Glenn den tödlichen Virus ausgerechnet in eine Pille mit aphrodisierender Wirkung mischt und diese weltweit reißenden Absatz findet, spielt einerseits mit der menschlichen Sündhaftigkeit in jüdisch-christlicher Konzeption. Vor allem aber wird somit ausgerechnet der Jugend-, Schönheits- und Körperkult dieser ›postutopischen‹ und scheinbar postideologischen Gesellschaft (OC 55) zum Vehikel ihrer Auslöschung. 4.3.1.4 Von guten und bösen Menschen, tierischen Menschen und menschlichen Tieren Doch diese Dystopie beschäftigt sich nicht nur mit der interpersonellen Ebene; die Romane zeigen auch ein ausgesprochen großes Interesse an psychologischen Prozessen, insbesondere an Faktoren, die Individuen zu anti- oder prosozialen Handlungsweisen veranlassen.415 Das Menschenbild, das der Text entwirft, und 414 Vgl. Kuz´nicki, Margaret Atwood’s Dystopian Fiction, S. 102–103. 415 Da sich Utopien und Dystopien mit dem (Nicht-)Funktionieren von Gemeinschaften beschäftigen, liegt ihr Fokus üblicherweise nur auf dem zwischenmenschlichen Bereich; die

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die philosophisch-moralischen Fragen, die er bezüglich der Veränderbarkeit des Menschen stellt, sind Thema dieses Abschnitts. Für die Ausweitung des Textfokus auf die intrapersonelle Ebene gibt es angesichts der Themenwahl der Trilogie mehrere Gründe: Erstens stellt sich die Frage nach dem Wesen des Menschen in Zeiten seiner gentechnischen Manipulierbarkeit neu, zweitens ist diese Frage im sogenannten ›Anthropozän‹ von globalem Interesse und drittens kann die Darstellung einer dystopischen Gesellschaft fundierter erfolgen, wenn zuvor (oder zugleich) eine Beschäftigung mit den Individuen erfolgt, aus der sich diese Gesellschaft zusammensetzt. Dabei ist freilich nicht erst seit dem Erscheinen von Oryx and Crake klar, dass sich in Zeiten immer größerer technischer und biochemischer Möglichkeiten Fragen stellen, die lange tradierte Vorstellungen darüber, was die Natur, der Mensch, der Zufall usw. sind, grundlegend erschüttern können. Doch durch ihre literarische Umformung in der MaddAddam-Trilogie werden viele dieser Fragen in ihren theoretischen Umrissen und vor allem in ihren praktischen Implikationen auch für gentechnische Laien vorstellbar gemacht.416 Die Romane bedienen sich dazu unter anderem einer transponierten, an biblischer Sprache angelehnten Erzählweise, die die potentielle »Eingriffstiefe«417 herausstreicht, die sich durch die immer größeren Handlungsmöglichkeiten des Menschen ergibt. In der Erzählung Jimmys an die Craker wird die menschliche Lebenswelt vor Ausbruch der Seuche auf diese Weise zu einem mythischen Chaos: ›The people in the chaos were full of chaos themselves, and the chaos made them do bad things. They were killing other people all the time. And they were eating up all the [animals]. […] They were killing them and killing them, and eating them and eating them. They ate them even when they weren’t hungry. […] And so Crake took the chaos, and he poured it away.‹ [Die Craker fragen dann nach dem Ursprung ihres Schöpfers.] ›Crake was never born,‹ says Snowman. ›He came down out of the sky, like thunder. Now go away please, I’m tired.‹ He’ll add to this fable later. Maybe he’ll endow Crake with horns, and wings of fire, and allow him a tail for good measure. (OC 103–104)

Die Existenz der Craker ermöglicht den Texten eine auf Grundsätzliches verweisende Menschheitsbeschreibung, die sich auch auf das Intervall I beziehen Triebkräfte innerhalb der einzelnen Individuen dagegen werden eher selten thematisiert, sodass die jeweiligen Protagonisten nach Sicherheit, Wohlstand, Freiheit, Liebe, sexueller Erfüllung, Macht, usw. streben können, ohne dass diese individuellen Motivationen von besonderer Relevanz für die dystopischen Texte wären. 416 Bei diesem Prozess der literarischen Umformung werden wissenschaftliche Sachverhalte in aller Regel verkürzt und vereinfacht dargestellt. Zur Frage, ob das in dieser Trilogie in besonderem Maße der Fall ist, vgl. die beiden Eingangszitate. 417 Singh, Semantik in der Krise, S. 292. Singh konnte zudem in einer Beispielanalyse (ebd.) aufzeigen, dass auch in der FAZ häufig auf biblische Sprache zurückgegriffen wird, wenn es darum geht, die »Eingriffstiefe« durch genetische Manipulationen zu illustrieren.

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lässt. In mancher Hinsicht wird Jimmy so zu einem futuristischen Hesiod, der die alltägliche, reale Lebenswelt der Leser:innen als Verirrung einer untergegangenen, mythischen Lebensform darstellt.418 Zudem wird der Mensch, durch Glenn, zum Schöpfergott, was Jimmy aber als dämonischen Akt wertet (daher erscheint Glenn im Zitat oben eher als ›Schöpferteufel‹). Bereits Ende der 1990er-Jahre löste Peter Sloterdijk eine heftige Kontroverse aus, als er ganz ähnliche Fragen wie die MaddAddam-Trilogie stellte (und dabei laut seiner Kritiker eine Sympathie für das erkennen ließ, was er ›Anthropotechniken‹ genannt hat):419 Ob aber die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird […], ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.420

In MaddAddam klingt dieselbe Problematik an, allerdings in radikal anderer Sprache. Die Kunden von Glenns ursprünglichem Gen-Projekt zu künstlicher Befruchtung »were customizing their kids, ordering up the DNA like pizza toppings« (MA 43). Doch auch die Romane der Trilogie beschäftigen sich auf ihre Weise mit dem Problemkomplex, was den Menschen definiert und welchen grundsätzlichen Schutz er (und die übrigen Lebewesen) vor genetischer Manipulation benötigt (vgl. z. B. OC 23–24 und OC 352).421 418 Ein ebenso transponiertes Erzählverhalten zeigt sich, wenn Toby einem jungen Craker namens Blackbeard die Funktion von Schrift erklärt (MA 202–204) und dieser dann aus der völlig naiven und mythischen Sicht der Craker entscheidende Teile der Handlung aufschreibt oder erzählt (MA 357–364). Aber auch die biblische Sprache der Gottesgärtner, die Predigten Adams und vor allem die Hymnen als lyrische Passagen sind im Kontext eines verfremdeten Erzählverhaltens zu betrachten, das einen Kontrasteffekt auslösen und so die Bedeutung der behandelten Fragen fassbar machen soll. 419 Seinen Essay Regeln für den Menschenpark stellte er 1997 und 1999 zunächst in zwei Reden vor, ehe im Jahr 1999 eine Monographie unter gleichem Titel erschien (vgl. Literaturverzeichnis). Zur Kontroverse, die der Text auslöste, vgl. insbesondere den Artikel von Felix Dirsch zum zwanzigjährigen ›Jubiläum‹ der Debatte in der Tagespost vom 15. 09. 2019 unter dem Titel: »Regeln für den Menschenpark«: Gescheiterte Zähmung des alten Adam. Online abrufbar unter: https://www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/Regeln-fuer-den-M enschenpark-Gescheiterte-Zaehmung-des-alten-Adam;art310,201262 (letzter Zugriff am 04. 07. 2020). 420 Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, S. 46–47. 421 Auch bezüglich Glenns Neuschöpfungen ergeben sich hier relevante Anschlussfragen. Erstens nimmt er ihnen durch seine Manipulationen die Möglichkeit, unmoralisch zu handeln (in christlicher Terminologie: den freien Willen und die Möglichkeit zur Sünde); vgl. hierzu Bosco, The Apocalyptic Imagination, S. 165. Interessanter ist jedoch die Frage, wieso Glenn auf sein Zerstörungswerk überhaupt eine Neuschöpfung folgen lässt und er sich nicht auf die Schaffung natürlicher Zustände ohne den Menschen beschränkt. Geht er davon aus, dass bei Lebewesen, die über ein ausgeprägtes Bewusstsein verfügen, eine erhöhte oder

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Erscheint die menschliche Natur plötzlich als (potentiell) veränderbar, so stellt sich die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht mehr nur aus einer philosophisch-abstrakten Perspektive. Vor allem durch die Figur Glenn spielen die Romane damit, diesbezüglich einen rationalen Ist- und einen Soll-Zustand aufzuzeigen. Denn das Urteil, das sich in der Trilogie bezüglich des ›natürlichen‹ menschlichen Wesens ergibt, ist zwiegespalten. Die Grundkonzeptualisierung im Text folgt dabei dem Spiel Blood and Roses, das Jimmy und Glenn in ihrer Jugend spielen (OC 77–81). »Blood« steht dabei für menschliche Grausamkeiten, »Roses« für Glanztaten auf kulturellem Gebiet. Die Spieler wählen eine Seite und versuchen durch günstige Tauschgeschäfte, das Blut- bzw. Rosenarsenal des Gegners aufzubrauchen, sodass nur noch Elemente der eigenen Seite übrig bleiben. Der Reiz des Spiels liegt in dessen Zynismus, wenn Schand- und Glanztaten der Menschheit scheinbar sachlich gegeneinander aufgewogen werden: »The exchange rates – one Mona Lisa equalled Bergen-Belsen, one Armenian genocide equalled the Ninth Symphony plus three Great Pyramids – were suggested, but there was room for haggling.« (OC 79) Wird durch das Spiel das positive und negative Spektrum des Menschlichen theoretisch und in großem Maßstab vor Augen geführt, so lassen die Romanfiguren dieses Spektrum im Kleinen erkennen (wobei prosoziales Verhalten künstlerische Leistungen ersetzt). Dabei symbolisieren die bereits erwähnten Painballer422 das negative Extrem, Zeb und Toby, die mehrmals größte Gefahren auf sich nehmen, um Andere vor diesen zu schützen, bilden den Gegenpart. zumindest tiefere Freude am Dasein besteht? Oder sieht er in der Existenz solcher Lebensformen einen höheren Sinn wie in bereits Diderot beschrieben hat: Vor allem darf man eine Überlegung nicht außer acht lassen: Wenn man den Menschen oder das denkende, die Erdoberfläche von oben betrachtende Wesen ausschließt, dann ist das erhabene und ergreifende Schauspiel der Natur nur noch eine traurige und stumme Szene. Das Weltall verstummt, Schweigen und Dunkelheit überwältigen es; alles verwandelt sich in eine ungeheure Einöde, in der sich die Erscheinungen – unbeobachtete Erscheinungen – dunkel und dumpf abspielen. Das Dasein des Menschen macht die Existenz der Dinge doch erst interessant. (Zitiert nach Welsch, Homo mundanus, S. 13). 422 Beim Painball erhalten zum Tod Verurteilte die Chance, ihrer Todesstrafe zu entgehen, sofern sie in einem grausamen Wettbewerb lange genug überleben. Als martialisches Spektakel ist Painball somit ein direkter Vorläufer der Hunger Games aus Suzanne Collins’ gleichnamiger dystopischer Trilogie, deren erster Teil 2008 erschienen ist. Sowohl Painball als auch die Hunger Games sind futuristische Gladiatorenkämpfe, die reale massenmediale Grenzüberschreitungen im Stile des Dschungel-Camps steigern und zugleich durch die begeisterten Zuschauer:innen den Typus eines modernen homo inhumanus spiegeln: Was die bestialisierenden Einflüsse angeht, so hatten die Römer mit […] ihren Kampfspielen bis zum Tode […] das erfolgreichste massenmediale Netz der alten Welt installiert. In den tobenden Stadien rund ums Mittelmeer kam der enthemmte homo inhumanus […] auf seine Kosten. (Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, S. 17–18). Painball und die Hunger Games zeigen regressive Tendenzen der realen Gesellschaft auf, die zurück zu einer Befriedigung niederer Triebe durch rohe, antihumanistische Unterhaltungsformen führen.

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Durch diese differenzierte Sichtweise bleibt der Text viel näher an den Überzeugungen seiner Hauptfigur Glenn, als dies in der Forschung oft dargestellt wird.423 Glenn erscheint nicht einfach als wahnsinniger Psychopath. In seiner Analyse der Menschheitsgeschichte diagnostiziert er, ebenso wie der Text, eine ständige und oft schmerzliche Abfolge von ›Blut und Rosen‹, die sich vor dem Hintergrund der globalen Bevölkerungsentwicklung seiner Einschätzung nach noch weiter hin zur ›Blut‹-Seite verschieben wird. Glenns Plan jedoch, die gesamte Menschheit zugunsten einer von allen problematischen Trieben gereinigten, neuen Spezies auszulöschen, kann der Text dann aber doch nicht mehr gutheißen und legt daher großes Gewicht auf die Schilderung des globalen und individuellen Elends während des Wütens der Seuche (OC 325–329 und OC 338–347).424 Die MaddAddam-Trilogie hält, anders als Glenn, den Glauben an das Gute im Menschen aufrecht, ohne sich über die ebenso weit verbreiteten charakterlichen Abgründe hinwegzutäuschen und entwickelt darauf aufbauend Grundzüge eines humanistisch-utopischen Konzeptes, das dazu beitragen soll, die dunklen Seiten der menschlichen Natur einzuhegen (vgl. die weiteren Analyseabschnitte).425 Glenns Ansatz besteht dagegen darin, selbst ›menschliche‹ Wesen zu schaffen, denen aber alle aus seiner Sicht negativen menschlichen Eigenschaften wie Gier, Machtstreben und Furcht fehlen. Er stattet seine Craker daher etwa mit einem Paarungssystem aus, bei dem keine Frustration entstehen kann und die Vaterschaft des jeweiligen Kindes unklar bleibt.426 Durch die Existenz der Craker müssen die ›natürlichen‹ Menschen als homo sapiens vereindeutigt werden, denn auch die Craker sind auf ihre Weise menschlich, gehören aber einer anderen, künstlichen Spezies an. Treffend bezeichnet Sławomir Kuz´nicki sie als Simulakren im Sinne Baudrillards.427 Die Craker leben im Einklang mit sich und ihrer Umwelt in Kleingruppen, ernähren sich rein pflanzlich und sind weder zu Furcht 423 Vgl. Kuz´nicki, Margaret Atwood’s Dystopian Fiction, S. 82. 424 Auch Jimmy, einer der wenigen Überlebenden, reflektiert seine naive Rolle innerhalb Glenns Plan mehrfach kritisch (OC 338–347) und trägt so zu einer negativen Wertung der menschengemachten Apokalypse durch den Text bei; selbst die sonst so auffallend ruhige und stoische Oryx weint hemmungslos, als ihr bewusst wird, bei welchem Vorhaben sie Glenn geholfen hat (OC 325). 425 In den Worten Sloterdijks: Humanismus als Wort und Sache hat immer ein Wogegen, denn er ist das Engagement für die Zurückholung des Menschen aus der Barbarei. […] Wer heute nach der Zukunft von Humanität und Humanisierungsmedien fragt, will im Grunde wissen, ob Hoffnung besteht, der aktuellen Verwilderungstendenzen beim Menschen Herr zu werden. (Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, S. 16). 426 Eine Crakerin wird alle drei Jahre paarungsbereit und strömt dann Pheromone aus. Die männlichen Craker werben um ihre Gunst, worunter sie vier Werber auswählt, mit denen sie sich dann paart. Bei den übrigen Crakern verschwindet die Erregung unmittelbar nachdem sie nicht ausgewählt wurden. 427 Vgl. Kuz´nicki, Margaret Atwood’s Dystopian Fiction, S. 98.

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noch zu Aggression im Stande. Glenn wollte jedoch auch, dass sie kein Interesse an Metaphysik, Hierarchien, Kunst und Zivilisation entwickeln, da all diese Aspekte in seinen Augen früher oder später zu Unterdrückung und Leid führen (womit er in dieser Hinsicht vom ›Blut-und-Rosen-Schema‹ abweicht): ›Watch out for art,‹ Crake used to say. ›As soon as they start doing art, we’re in trouble‹. Symbolic thinking of any kind would signal downfall, in Crake’s view. Next they’d be inventing idols, and funerals, and grave goods, and the afterlife, and sin, and Linear B, and kings, and then slavery and war. (OC 361)

Aufgrund seines Todes muss er dann nicht miterleben, wie begierig jedoch auch seine Craker nach Geschichten von ihm verlangen und dass sie versuchen, Jimmy, der ihnen diese Schöpfungsmythen erzählt, durch einen Beschwörungsritus wieder zu sich zu holen (OC 360–361). Dass die Craker nach Glenns massiven Eingriffen noch immer ein Bedürfnis nach Hierarchien, Narrationen und Metaphysik haben, soll diese Eigenschaften als absolut basal für den Menschen ausweisen.428 War Frankenstein noch von der Hässlichkeit seiner Schöpfung entsetzt, so wäre es der mittlerweile verstorbene Glenn wohl nicht minder aufgrund des Verhaltens seiner Homunculi gewesen. Deren absolut makelloses Aussehen, das in direktem Kontrast zu Frankensteins ›Monster‹ steht, wirkt auf die anderen Romanfiguren ebenso unnatürlich wie ihre völlige Naivität und Gutmütigkeit (OC 100). Die Craker sind als Warnung vor der menschlichen Hybris, insbesondere in Zeiten immer größerer technischen Machbarkeiten, zu verstehen. Ihre vollkommene Unschuld und Nacktheit erinnert an die biblische Darstellung Adams und Evas bevor sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, doch zugleich erscheint die Erschaffung der paradiesischen Craker als gentechnischer Sündenfall des modernen Menschen. Damit sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen homo sapiens und Crakern grob umrissen. In dieser ereignisgesättigten Zukunftsvision trifft man ›Menschlichkeit‹ jedoch noch in einer dritten Form an – und zwar groteskerweise bei den genmanipulierten Schweinen, den Pigoons. Diese sind als lebende Ersatzteillager des Menschen konzipiert und bilden jeweils mehrere mit dem menschlichen Körper kompatible Organe aus. Wegen des medizinischen Nutzens wurde ihrem ›Bauplan‹ aber auch humanes Hirngewebe beigefügt (OC 55). Diesen Züchtungen gelingt nach Ausbruch der Seuche die Flucht aus ihren Ställen und sie streifen frei und auf der Suche nach Nahrung umher. Im Laufe der Romane werden die ›humanen‹ Seiten dieser Schweine immer deutlicher: Sie halten Bestattungsriten ab, kommunizieren untereinander und mit den Crakern, denken strategisch und erweisen sich schließlich als verlässliche 428 Vgl. hierzu auch Harland, Ecological Grief, S. 595; dort findet sich auch ein Hinweis auf Jonathan Gottschall: The Storytelling Animal: How Stories Make Us Human. New York 2013.

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Bündnispartner gegen die Painballer. Nachdem zwei junge Schweine in den Beeten der Gottesgärtner gewühlt haben, kommt es zu folgender Szene, die – mit einer gewissen grotesken Überspitzung – die Menschlichkeit der Pigoons am deutlichsten ausstellt: A conference was called. The Pigoons sent a delegation of three adults, who seemed both embarrassed and cross, as adults put to shame by their young usually are. Blackbeard [ein Craker] stood as interpreter. It would not happen again, said the Pigoons. The young offenders had been threatened with a sudden transition to a state of bacon and soup bones, which seems to have made the desired impression. (MA 378)

Dass jedoch auch die Humanität der Schweine durchaus ambivalent zu bewerten ist, deutet der Text durch das patriarchalische System an, das sich bei den Bestattungsriten der Pigoons dadurch zeigt, dass den toten Ebern besondere Ehrerbietung zukommt (MA 340). Allerdings irrt Lars Schmeink, wenn er behauptet: »[T]he pigoons completely undermine any conception of human exceptionalism and frightfully cast into doubt the neat boundaries of nature/culture and human/ animal«.429 In Wirklichkeit sind es gerade die Teile des menschlichen Gehirns, das die Pigoons von gewöhnlichen Schweinen unterscheidet. Der Mensch wird durch die Existenz der Pigoons nicht der tierischen Ebene angeglichen, sondern das gewöhnliche Schwein stößt durch den Zusatz des besonderen Hirngewebes in menschliche Sphären vor. Eine solch unreflektierte Verpflanzung des menschlichen Bewusstseins wird vom Text zwar keineswegs gutgeheißen, sondern mehrfach als Bruch mit fundamentalen ethischen Prinzipien kritisiert (z. B. OC 55); die Erzeugnisse dieses Prozesses lässt die MaddAddam-Trilogie am Ende dennoch zu Helden werden und feiert so den Menschen noch im Schwein. 4.3.1.5 Ökohumanismus als utopisches Potential Es macht die Eigenart dieser Trilogie aus, dass hier nicht nur durch dystopische Extrapolation auf aktuelle Gefahren und Probleme hingewiesen wird, sondern dass insbesondere das Intervall IIIb genutzt wird, um selbst konstruktiv-utopische Vorschläge zur Abwendung des dystopischen Gesamtszenarios zu entwickeln. Das utopische Programm der Romane wird in diesem und dem nächsten Analyseabschnitt behandelt. Maßgeblich für die Entwicklung eines utopischen Alternativkonzepts in den Texten ist die fiktive Lebensgemeinschaft der God’s Gardeners. Die ›Gottesgärtner‹ sind eine sektenähnliche Gemeinschaft, die das Leben des Menschen wieder in Einklang mit seiner Umwelt bringen möchte. Sie rekrutiert sich vor 429 Schmeink, Biopunk Dystopias, S. 89.

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allem aus ehemaligen Genwissenschaftler:innen, die nicht weiter für die Pharmakonzerne arbeiten wollten. Das Ziel der Gärtner ist eine friedliche Umwandlung der Gesellschaft durch Expansion ihres Lebensstils (YF 189–190).430 In The Year of the Flood ist Toby die primäre Identifikationsfigur; die Gottesgärtner verhelfen ihr zur Flucht vor dem brutalen Blanco und nehmen sie bei sich auf. Aus Tobys Perspektive werden die Leser:innen mit den Gebräuchen und Vorstellungen der Gottesgärtner bekannt gemacht. Toby fügt sich in die natürliche Lebenspraxis schnell ein, kann dem metaphysischen Überbau jedoch wenig abgewinnen. Der Begründer der Gottesgärtner, Adam, unter den Gärtnern bekannt als Adam One,431 baut die Gemeinschaft auf christlicher Theologie auf, deutet diese aber mit geradezu grotesker Unbeirrbarkeit im Sinne seiner ökologischen Zielsetzung: Jesus etwa hätte deswegen Fischer zu seinen Jüngern berufen, um dadurch die lokalen Fischbestände zu schützen (YF 195). In der Folge baut sich in Toby eine innere Spannung auf, da sie das Leben bei den Gärtnern nach den Härten im pleebland geradezu als Befreiung empfindet, gleichzeitig aber aus rationalen Gründen diese fragwürdige ideologische Basis ablehnt. Erst als Toby es aufgrund ihrer Zweifel ausschlägt, selbst eine führende Rolle bei den Gottesgärtnern zu übernehmen, löst sich dieser Widerspruch auf, denn Adam deutet ihr gegenüber den Stellenwert der religiösen Elemente für die Gärtner an: ›In some religions, faith precedes action,‹ said Adam One. ›In ours, action precedes faith. You’ve been acting as if you believe, dear Toby. As if – those two words are very important to us. […] We should not expect too much from faith.‹ (YF 168; Kursivierung im Original)

Nicht Ideologie und Metaphysik selbst, sondern die as-if-Haltung ist also die wahre Stütze dieser ungewöhnlichen Sekte.432 Zu handeln, als ob man einer Ideologie folgte, ist Adams Ausweg aus dem Dilemma scheinbar ›postideologischer‹ Gesellschaften. Es zeigt sich hier eine bemerkenswerte Verschiebung: Während das Als-obErzählen in der Postmoderne433 ein Mittel war, Mehrdeutigkeit und somit eine 430 Im Laufe der Trilogie spaltet sich jedoch eine Untergruppe um Zeb ab, die das dystopische System gezielt sabotiert. 431 Die Gemeinschaften der Gottesgärtner werden von Adams und Evas geleitet, wobei sich die Ordnungszahl nicht auf die hierarchische Position, sondern auf das Aufgabengebiet bezieht. Gleichwohl ist kritisch bemerkt worden, dass auch die Gottesgärtner um Adam One letztlich patriarchalisch geführt werden. Ob in den Filialgärten (vgl. YF 189–190) die faktische Führung ebenfalls beim jeweiligen Adam One liegt oder hier der Rat der Adams und Evas noch größeres Gewicht hat als in der vorgestellten Gründungsgemeinschaft, bleibt letztlich spekulativ. Grimbeek dagegen deutet die Gärtner klar als patriarchalisch geführte Gemeinschaft. Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 173. 432 Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 168. 433 Ebenso bereits in der Romantik.

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ironische Haltung zu erzeugen,434 dient eine Als-ob-Haltung hier nun dazu, eine von postmoderner Kritik zersetzte ideologische Gesellschaftsbasis wieder tragfähig zu machen. Einen ähnlichen Effekt zeigt Svenja Frank mit Blick auf die Autor- und Subjektkonstitution in Felicitas Hoppes Johanna auf: »Innerhalb einer fiktionalen Klammer«, die die Als-ob-Haltung konstituiert, »bringt die transmoderne Literatur diese absoluten Konzepte zurück, im vollen Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit nach der Postmoderne.«435 Was Frank für erzähltheoretische Konzeptionen in Hoppes Johanna feststellt, ist auf die gesellschaftspolitischen Haltungen in MaddAddam übertragbar. Unter der Als-ob-Prämisse muss die Leitideologie der Gärtner einer rationalen Prüfung nicht standhalten und kann sogar den eigenen Bedürfnissen entsprechend entwickelt werden. Auch Zeb spielt darauf an, dass wohl nicht einmal Adam selbst an seine grüne Auslegung des Christentums wirklich glaubt (MA 228). Dennoch benötigt die Gemeinschaft offenbar eine ideologische Basis, um funktionieren zu können – und so kommt es durch die Gärtner zur bewussten Konstruktion einer Als-ob-Ideologie in ›postideologischen‹ Zeiten. Die Kinder werden im Sinne dieser Ideologie erzogen und verinnerlichen ihre Grundsätze,436 die Erwachsenen tun dies soweit sie es können und verdrängen die Ungereimtheiten in Adams Lehre. Für die ehemaligen Konzernforscher eröffnet Adams Konzept die anziehende Möglichkeit zu einer positiven Lebenspraxis mit Als-ob-Ideologie, die die vorige negative Lebenspraxis ohne offizielle Ideologie437 ablöst. Auch Toby, die sich bei den Gärtnern zur Imkerin ausbilden lässt, lernt dieses Als-ob-Leben, geniert sich vor Anderen und sich selbst aber bis zuletzt dafür. Als sie einen wilden Bienenschwarm, zu dem Zeb sie geführt hat, umsiedeln will, zeigt sich dieser Konflikt: ›[…] [C]ould you just not listen to me for a minute? And look the other way?‹ ›You need to take a leak?‹ says Zeb. ›Don’t mind me.‹ ›You know how this goes. You were a Gardener yourself,‹ she says. ›I need to talk to the bees.‹ […] Toby feels herself blushing. […] ›Oh Bees,‹ she says. ›I send greetings to your Queen.‹ [Es folgt eine etwas längere Ansprache an die Bienen] ›You can look now,‹ she says to Zeb. (MA 210–211)

434 Man vergleiche etwa die Herausgeberfiktion in Umberto Ecos Der Name der Rose. 435 Frank, Geliebtes Geheimnis, S. 80. 436 Mehrmals kommen die Probleme der bei den God’s Gardeners aufgewachsenen Ren und Amanda beim späteren Verzehr von Fleisch zur Sprache, obwohl auch sie der Gärtnerideologie nicht unkritisch gegenüberstehen. 437 Einige Grundsätze der fiktiven Zukunftsgesellschaft in IIIa können durchaus als unausgesprochene Ideologien betrachtet werden, etwa der wissenschaftliche Positivismus, der Glaube an Privatisierungen (aus denen das CorpSeCorps hervorging) und der umfassende Marktliberalismus. Es ergibt sich in dieser Hinsicht eine enge Verbindung zu Corpus Delicti.

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Dieser vor- bzw. irrationale Zugang zur Natur fällt Toby sichtlich schwer. Nach all dem Schmutz und den Härten des pleeblands zeigt die natürliche Lebensweise der Gärtner jedoch schnell einen positiven Effekt bei ihr, der auch sie letztlich über dieses Problem hinwegsehen lässt: »At night, Toby breathed herself in. Her new self. Her skin smelled like honey and salt. And earth.« (YF 101) Das Weltbild der Gärtner nimmt es zwar mit Rationalität selbst nicht besonders genau, ist aber dennoch ausdrücklich wissenschaftsfreundlich; als Heilige, für die es jeweils Gedenktage und -feiern gibt, werden neben Umwelt- und Menschenrechtsaktivist:innen auch bedeutende Wissenschaftler:innen verehrt. Besonders auffällig ist der »Saint Crick’s Day« (YF 94) zu Ehren Francis Cricks, der an der Entwicklung des ersten Modells der menschlichen DNA maßgeblich beteiligt war. In Oryx and Crake (als in IIIa) war die nach Watson und Crick benannte, hochmoderne Hochschule, die Glenn besucht hat, noch Symptom einer moralfreien naturwissenschaftlichen Forschung. Die Gottesgärtner stellen nun die Wissenschaft in den Dienst ihrer ›ökotopischen‹ Ziele. Wegen der Entdeckungen des ›heiligen Crick‹ und seiner Nachfolger kann von den Gärtnern etwa auf die hohe Übereinstimmung zwischen menschlicher und tierischer DNA, also auf einen überraschend hohen Verwandtschaftsgrad zwischen Mensch und Tier, hingewiesen werden. Aus ihrer Sicht stellen die Gärtner somit das Verhältnis von Mensch und Wissenschaft vom Kopf auf die Füße, da letztere wieder den wahren Bedürfnissen des Menschen zu dienen hat. Dass die Romane die Gemeinschaft der Gottesgärtner und ihre Art zu leben überwiegend positiv werten, lässt sich erstens an der Rolle dieser Gemeinschaft für das Leben der Sympathie- und Identifikationsträger der Romane erkennen. Am Beispiel Tobys wurde dieser heilsame Einfluss im Vergleich zur dystopischen Welt außerhalb des Gartens bereits angedeutet. Zweitens schaffen die Romane eine Vielzahl an Situationen, in denen die von Adam gepredigte Lebenseinstellung nicht nur auf die anwesenden Romanfiguren, sondern auch auf die Rezipient:innen wirken soll. »Dear Friends, dear Fellow Creatures, dear Fellow Mammals« (YF 11) lautet ein typischer Auftakt seiner Ansprachen, die am Beginn jedes Kapitels stehen und die stets mit einem Lied aus The God’s Gardeners Oral Hymnbook emotional-appellativ enden. Dass Atwood diese Lieder selbst (mit Mitgliedern der christlichen Gemeinde La Rocha) öffentlich vorgetragen hat438 und auf einer mittlerweile inaktiven Website zu den Romanen auch reale ökologische Maßnahmen im Sinne der Gärtner vorgestellt wurden,439 ist zumindest aufgrund der außerfiktionalen Verwendung der utopischen Elemente der Trilogie bemerkenswert. 438 Vgl. Bowen, Ecological Endings, S. 691. 439 Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 108–114. Dort finden sich auch weitere Informationen zu dem, die Romane begleitenden, außerfiktionalen Ansatz.

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Dabei stellen die Romane die Gärtner nicht völlig unkritisch vor, sondern weisen mit parodierender Überspitzung auch auf Unzulänglichkeiten hin. Aus Tobys Perspektive sieht Adams Kaftan aus »as if it had been sewn by elves on hash« (YF 39) und Zeb, ebenfalls eine wichtige Identifikationsfigur für die Leser: innen und selbst lange Zeit Teil der Gemeinschaft, nennt die God’s Gardeners eine »ecofreakshow« (MA 328). Allerdings nehmen die Gärtner dieses parodistische Element selbst bewusst auf. Adam spricht am ersten April »Of the Foolishness within all Religions« (YF 195), was er ausdrücklich auch auf sich selbst bezieht. 4.3.1.6 Der Spagat zwischen homo faber und homo mundanus Dass die Gottesgärtner tatsächlich für einen tiefgreifenden Wandel in der Beziehung zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen Mensch und Mensch stehen, zeigt sich in Adams Ansprachen, den Gesängen aus dem Hymnbook und der Lebenspraxis der Gärtner. Grundlegend ist dabei das Konzept des Menschen als natürlicher Teil der Welt. In einer Predigt Adams und zwei Gesängen heißt es: How much have we lost, dear Fellow Mammals and Fellow Mortals! How much have we wilfully destroyed! How much do we need to restore, within ourselves! (YF 13) […] How shrunk, how dwindled, in our times Creation’s mighty seed – For Man has broke the Fellowship With murder, lust, and greed. Oh Creatures dear, that suffer here, How may we Love restore? We’ll Name you in our inner Hearts, And call you Friend once more. (YF 14) Oh let me not be proud, dear Lord, Nor rank myself above The other Primates, through whose genes We grew into your Love. […] So keep us far from worser traits, Aggression, anger, greed; Let us not scorn our lowly birth, Nor yet our Primate seed. (YF 54)

Stets schwingt hier eine gewisse Komik in der Ausdrucksweise mit, die jedoch genau der ambivalenten Haltung der Gärtner zu ihrem eigenen Weltbild ent-

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spricht. Was dagegen völlig ernsthaft herbeigesehnt und so gut wie möglich umgesetzt wird, ist die harmonische Re-Integration des Menschen in seine natürliche Lebenswelt. Terminologisch anders, inhaltlich aber sehr ähnlich hat auch Wolfgang Welsch das Konzept eines homo mundanus entfaltet: Die anthropische Denkform beruht auf der Annahme einer grundsätzlichen Andersheit der menschlichen Seinsweise gegenüber allem Weltlichen. Wenn es stimmt, dass wir Menschen (etwa weil wir geistbestimmte Wesen sind) von grundlegend anderer Art sind als die Welt, dann ist es tatsächlich plausibel, ja unausweichlich, dass wir zu dieser uns ganz fremden Welt keinen wirklich adäquaten Zugang haben […]. Insofern führt das neuzeitliche und moderne Theorem der Weltfremdheit schlüssig zur anthropischen Denkweise. Allerdings hat dieses Theorem auch verschiedentlich Kritik erfahren […]. Dafür bietet sich die Betrachtung der evolutionären Stellung des Menschen an. Der Mensch, im Zuge der Evolution entstanden, hat mit den anderen Produkten dieser Evolution vieles, wenn nicht gar alles gemeinsam. Er ist grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen. Wir sind von dieser Welt.440

Zwar zeigen die Romane Sympathien für das ›welthafte‹ Konzept der Gottesgärtner, doch die Einzigartigkeit des Menschlichen, die sich vor allem am Pigoon zeigte, hebt dieses Menschliche in den Texten zugleich deutlich aus dem Kreis des übrigen irdischen Lebens heraus. Die Fähigkeiten des Menschen, in großem Stil verändernd auf seine Umwelt einzuwirken – in diesem Sinne ist der Begriff homo faber hier zu verstehen – unterscheidet ihn aus Sicht der Romane von allen anderen Lebewesen (sofern das Menschliche nicht in sie verpflanzt worden ist). Es ergibt sich dadurch innerhalb des utopischen Ansatzes der Trilogie ein heikler Spagat zwischen dem Menschen als gleichberechtigtem und als herausragendem Teil der Welt. Da die Romane, anders als Welsch, weniger an Ontologie und Epistemologie denn an konkreter Lebenspraxis interessiert sind, ist es ihnen möglich, diesen Gegensatz bis zum Ende unaufgelöst zu lassen. Stattdessen wird eine Haltung entwickelt, die beide Konzepte miteinander in Einklang bringen soll und daher ein weiteres Beispiel für das ist, was Grimbeek in Anlehnung an Edward Soja als ›critical thirding‹441 im Werk Atwoods beschrieben hat.442 Hinsichtlich dieser neu konzipierten Haltung ist erneut die Rolle der Pigoons entscheidend. Sind sie in den ersten beiden Romanen noch eine tödliche Bedrohung, ergreifen sie von sich aus gegen Ende des letzten Bandes die Initiative zu einem Bündnis zwischen ihnen, den Gottesgärtnern und den Crakern, um gemeinsam die Painballer als allgemeine Bedrohung auszuschalten (MA 269–271). Neben einer wachsenden Dramatik entwickelt sich dabei eine groteske und doch sehr emotionale Waffenbruderschaft zwischen Mensch und Pigoon. Jimmy, der 440 Welsch, Homo mundanus, S. 11; Kursivierung im Original. 441 Zum sog. ›critical thirding‹ bei Atwood vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 5–13. 442 Vgl. Grimbeek, Margaret Atwood’s Environmentalism, S. 13.

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aufgrund einer Verletzung zurückfällt, wird schließlich von einem Schwein getragen, das dann während der Schlacht gegen die Painballer fällt. Es wird so zu einem Helden, das nicht nur entscheidenden Anteil am letztlich erfolgreichen Ausgang des Kampfes hat, sondern zudem das Bündnis zwischen den verschiedenen Spezies über die akute Bedrohungslage hinaus stärkt. When reciting the story in later years, Toby liked to say that the Pigoon carrying […] Jimmy flew like the wind. It was the sort of thing that should be said of a fallen comrade-in-arms […]. The children made up a game in which one of them played the heroic Pigoon flying like the wind […] and a smaller one played […] Jimmy […] clinging to its back. Her back. The Pigoons were not objects. She had to get that right. It was only respectful. (MA 350–351, Kursivierung im Original)

Die Außergewöhnlichkeit dieses Bündnisses wird von den Romanfiguren selbst reflektiert. Auf dem Weg zum Kampf fragt sich Toby: »If we were carrying a flag […] what would be on it?« (MA 346). Die Frage bleibt offen, und dennoch ist klar, dass diese Gemeinschaft zwischen den Spezies im Zentrum des utopischen Potentials der Trilogie steht.443 Aber feiert der Text hier die kooperative Einheit von Mensch und Tier oder doch eher von Mensch und Mensch-Tier?444 Beides ist richtig und es ginge an der allgemeinen Stoßrichtung der Trilogie vorbei, in dieser Frage auf einer klaren Unterscheidung zu beharren.445 MaddAddam inszeniert eine utopische Re-Integration des Menschen in die Umwelt, in der er seine Sonderstellung zwar behält, seine umfassenden Fähigkeiten als homo faber nun aber empathisch in seiner Rolle als homo mundanus einsetzt. 443 Zu Beginn des ersten Bandes darf Jimmy häufiger die von seinem Vater genetisch veränderten Schweine besuchen und sieht sie als seine Freunde an (OC 26). Die gesamte Trilogie, in der die Pigoons mehrmals als gefährliche Feinde auftauchen, umspannt daher ein großer Bogen, an dessen Ende die Menschen (darunter Jimmy) wieder die positive Einstellung gegenüber den Pigoons erlangt haben, die Jimmy dank seiner kindlichen Naivität auch ganz zu Beginn schon gezeigt hat. 444 Entschieden abzulehnen ist hier Harlands Deutung, wonach am Ende der Trilogie vor allem Trauer und ein »overwhelming sense of loss« über das wahrscheinliche Ende der Menschheit steht; vgl. Harland, Ecological Grief, S. 583–586; Zitat auf S. 586. Harlands Ansatz hängt in der Luft, da das Ende der Trilogie bezüglich des weiteren Schicksals der Menschheit völlig offen ist (lediglich die Hauptfiguren Toby und sehr wahrscheinlich auch Zeb sind tot). Noch wichtiger ist allerdings, dass Harland den zahlreichen positiven, utopischen und hoffnungsspendenden Elementen am Ende offenbar keine Bedeutung beimisst. Auch seine pessimistische Prognose hinsichtlich der Craker-Menschen-Hybride (vgl. ebd., S. 586–587) ist aufgrund fehlender Hinweise aus dem Text eine reine Spekulation. 445 In eine teilweise ähnliche Richtung geht Gerry Canavans Analyse; vgl. Canavan, Hope, But Not for Us, S. 155. Lars Schmeink beharrt dagegen auf solch einer klaren Unterscheidung und behauptet, die Trilogie spiele mit einer Ablehnung der anthropischen Perspektive, »but in the end returns to the safe harbor of humanist thinking« (Schmeink, Biopunk Dystopias, S. 96). Gerade der letzte Band ist hinsichtlich dieser Frage aber komplexer, als es Schmeinks Interpretation nahelegt.

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Die Implikationen dieses kombinierten Denkmodells erstrecken sich potentiell auf sämtliche Problemfelder, die vom Text in IIIa aufgeworfen wurden. Die ökologische Versöhnung des Menschen mit seiner Umwelt bedeutet nämlich auch eine Versöhnung der einzelnen menschlichen Individuen untereinander, denn als reintegrierter Teil der Natur ist schließlich auch der Mitmensch mit Respekt zu behandeln. So ergeben die utopischen Elemente der Trilogie einen ›Ökohumanismus‹, dessen gesellschaftspolitisches Potential auf viele, üblicherweise getrennte Bereiche wirken kann. Der Kampf für Menschenrechte und für Naturschutz entspringt in dieser Konzeption einer einzigen, gemeinsamen Basis.446 Dieser ›Ökohumanismus‹ ist somit als Ausweg für ganz verschiedene Ausbeutungsprozesse einer radikalliberalen Marktwirtschaft postdemokratischer Prägung konzipiert. Was früher als Respekt der gesamten göttlichen Schöpfung gegenüber (also gegenüber Mensch und Natur) hätte gefordert werden können, fordert die MaddAddam-Trilogie nun auf einer eigens geschaffenen, säkularen Basis ein. 4.3.1.7 Eine Dystopie mit Gegenvorschlägen (Fazit) Die drei Romane der Trilogie verbinden klassisch dystopische Elemente mit Aspekten, die wiederum auf die Probleme ›postutopischer‹ Gesellschaften verweisen (vgl. den Block 4.1); vor allem aber entwickeln sie davon ausgehend ein eigenes utopisches Alternativkonzept. Es wird ein dystopisches Gesellschaftsbild gezeichnet (IIIa) und mit einem positiv-utopischen Gegenmodell kontrastiert (IIIb). Was in den beiden Folgeromanen nach Oryx and Crake entworfen wird, ist somit eine ›Gegen-Utopie‹ ganz anderer Art. Reagierte früher die Dystopie – als Anti-Utopie – kritisch auf populäre Utopien, so wird hier auf Basis einer ›postutopischen‹ Dystopie eine neue Alternativ-Utopie entwickelt. Wie auch Corpus Delicti geht die MaddAddam-Trilogie davon aus, dass jede Form des zwischenmenschlichen Zusammenlebens Ideologien benötigt, um funktionieren zu können. In ›postutopischen‹ und scheinbar ›postideologischen‹ Zeiten, versucht der Text dieses Bedürfnis mit einer Als-ob-Konstruktion zu befriedigen: Man solle leben, als ob man noch ganz an eine Ideologie glaubte, und sein Leben dieser widmen. Es ist aus Sicht des Textes nicht nur möglich, sondern unerlässlich, sich diese handlungsleitende und gesellschaftsstabilisierende Ideologie sorgsam auszusuchen oder sie – wie in IIIb vorgeführt – gleich selbst zu entwerfen.

446 Passenderweise wird etwa Chico Mendes bei den Gottesgärtnern als Heiliger und Märtyrer verehrt. Mendes setzte sich in Brasilien gleichermaßen für Landarbeiter, indigene Bevölkerungsgruppen und Umweltschutz ein, bevor er 1988 erschossen wurde.

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Bezüglich der rein dystopischen Elemente der Trilogie ist, verglichen mit den Prototypen der Gattung, besonders der Wandel in der Wertung staatlichen Handelns auffällig. War eine korrumpierte Staatlichkeit früher der entscheidende Motor der dystopischen Entwicklungen, so erscheint hier nun insbesondere staatliche Schwäche gefährlich. Gerade in Oryx and Crake wird eine Gesellschaft gezeigt, in der die faktische Macht von Staaten auf Großkonzerne übergegangen ist.

4.3.2 Blackout – Morgen ist es zu spät (Marc Elsberg, 2012): Ein Bestseller nach Rezept Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es bald nicht mehr. Der Countdown läuft. BO, Klappentext447

4.3.2.1 Zur Relevanz der Untersuchung Als Blackout – Morgen ist es zu spät im Jahr 2012 bei Blanvalet erschien, löste dies zunächst kaum öffentliche Reaktionen aus. Der Roman des Autors Marc Elsberg (eigentlich Marcus Rafelsberger) wurde in keinem der führenden Feuilletons besprochen und bis heute gibt es auch keine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text. Gleichwohl avancierte der Roman nach kurzer Zeit zum Best- und Longseller, der laut Verlagsmeldung innerhalb der ersten drei Jahre nach Erscheinen bereits über eine Million Mal verkauft wurde.448 Im Folgenden soll Blackout exemplarisch für die Fülle an eher buchmarktorientierten Dystopien stehen, die in den letzten Jahren ein weites Lesepublikum gefunden haben und dadurch das öffentliche Bild der Gattung Dystopie mindestens ebenso sehr prägen wie künstlerisch ambitioniertere Texte. Zum eher buchmarktorientierten Typ zählen auch die späteren Verkaufserfolge Elsbergs mit den Titeln Zero – Sie wissen, was du tust (2014) und Helix – Sie werden uns ersetzen (2016). Außerhalb des deutschsprachigen Bereichs sind hier Romane wie The Hunger Games (Suzanne Collins 2008), The Maze Runner (James Dashner 2009), Flawed und Perfect (Cecilia Ahern 2016) oder Birthmarked (Caragh O’Brien 2010) zu nennen. Blackout ist als exemplarischer Fall besonders geeignet, da in diesem Roman erfolgversprechende Vermarktungsstrategien geradezu rezeptartig zum Einsatz kommen und der Text dadurch zu einer Art Quintessenz aller buchmarktorientierten Dystopien wird. Auch für diese stellt sich die Frage, wie eng sie noch an 447 Zitiert nach dem Schutzumschlag von Blackout, Hardcover, hier in der 11. Auflage. 448 Quelle: http://www.blackout-das-buch.de/news.php (letzter Abruf am 08. 02. 2019).

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der Dystopie der Nachkriegszeit orientiert ist, bzw. wie sich ihr Umgang mit dem Erbe des prototypischen Schemas darstellt. Außerdem haben Romane wie Blackout aufgrund ihrer hohen Verkaufszahlen eine beachtliche gesellschaftliche Wirkung jenseits der feuilletonistischen Debatte, sodass gerade auch an diesem Beispiel die Wechselwirkungen zwischen Dystopie und Gesellschaft in den Blick genommen werden können. Im Folgenden wird, nach der Inhaltsübersicht und -analyse im zweiten Abschnitt, der Frage nachgegangen, aus welchen Gründen gerade dieser Roman zu einem so großen Verkaufserfolg werden konnte. Besonders die vielfältigen Strategien zur Plausibilisierung seiner Zukunftsvision scheinen hier bedeutsam zu sein. Im Anschluss wird im vierten Abschnitt aufgezeigt, mit welch intensiven erzählerischen Mitteln der Text versucht, die Dramatik des Geschehens zu erhöhen und die Emotionen der Leser:innen zu lenken, bevor im fünften Abschnitt die bereits erwähnte Wechselwirkung zwischen Dystopie und Gesellschaft thematisiert wird. 4.3.2.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Die Handlung von Blackout wird zeitlich nicht explizit verortet, schon die Umschlaggestaltung (eingangs zitiert) situiert die Geschehnisse jedoch in der Zukunft. Vor allem die Existenz eines deutschen Bundeskanzlers der SPD, der in Folge der Finanzkrise an die Macht gekommen sei (BO 224), impliziert dann auch innerhalb des eigentlichen Textes eine Zukunftsperspektive. Die innerdiegetische Debatte um internetfähige Stromzähler dagegen, die bis 2020 in allen europäischen Haushalten zum Einsatz kommen sollen (BO 326), machen das Jahr 2020 zum terminus ante quem. Aus vielen verschiedenen Perspektiven werden in Blackout die Folgen eines europaweiten Stromausfalls geschildert, der den ganzen Kontinent innerhalb weniger Tage in größtes Chaos stürzt und bald auch auf die USA ausgreift. Die Lebensmittelversorgung bricht zusammen, es entstehen Panik und Plünderungen, die hygienischen Verhältnisse werden schnell prekär, auch Krankenhäuser müssen ihren Betrieb einstellen und es ereignen sich mehrere Reaktorunfälle, da vielen AKWs die Treibstoffreserven für ihre Notstromversorgungen ausgehen und dadurch die Kühlsysteme ausfallen. Hinter dem Stromausfall steckt eine internationale Hacker-Gruppe, die einen gesellschaftlichen Neustart erzwingen möchte (die Motive der Terroristen bleiben insgesamt aber eher im Dunkeln). Als Hauptperson kristallisiert sich der Italiener Piero Manzano heraus, selbst ein erfahrener Hacker, der von der Polizei zwischenzeitlich verdächtigt wird, Teil der Kriminellen zu sein, letztlich aber für das Aufspüren der Bande und die Wiederherstellung der Stromversorgung hauptverantwortlich ist. Neben Manzano etabliert der Roman weitere Charaktere, die in der Regel beruflich mit dem

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Stromausfall befasst sind. Schon recht früh wird Manzano klar, dass mit dem Internet verbundene Stromzähler (sog. smart meter) das ursprüngliche Einfallstor der Terroristen dargestellt haben (im Erscheinungsjahr des Romans 2012 waren diese smart meter tatsächlich bereits in Schweden und Italien im Einsatz). Aufbauend auf den Manipulationen der smart meter haben sie die Stromnetze Europas und der USA auf vielfältige Weise gestört, zumeist unter Ausnutzung von Sicherheitslücken in Softwares. Als Europa kurz vor einem totalen Desaster steht und Manzano durch die Flucht vor der Polizei fast am Ende seiner Kräfte angelangt ist, gelingt doch noch die Rettung. Aus gattungsspezifischer Perspektive ist bei dieser Dystopie vor allem das faktische Fehlen des Intervalls II auffällig.449 In Blackout ist zwar auch, wie oben erwähnt, von der Existenz eines Intervalls II auszugehen, erzählerische Relevanz gewinnt dieses aber zu keinem Zeitpunkt. Eigentlich ereignet sich der Stromausfall direkt in der bekannten Welt, und nicht zufällig lautet der Untertitel des Romans daher Morgen ist es zu spät (eigene Hervorhebung). Bei den wenigen Stellen im Text, die tatsächlich auf ein Intervall II verweisen, ist immer hochrangiges politisches Personal involviert (wie etwa der Bundeskanzler der SPD in BO 224) und das Intervall II dient somit offenbar nur dazu, keine realen Politiker als Romanfiguren auftreten lassen zu müssen. Ansonsten ist es jedoch die bekannte Welt, die am Rande des Abgrunds steht, und nicht etwa eine Zukunftsversion der bekannten Welt. Dieser Umstand impliziert jedoch auch, dass ein fiktiver Weltentwurf, wie er utopisch-dystopischen Texten sonst eigen ist, in diesem Roman überhaupt nicht entfaltet werden muss. Stattdessen bewirkt der fast vollständige Wegfall des Intervalls II eine Erhöhung des Spannungs- und Warnpotentials des Romans, da hierdurch impliziert wird, dass die Katastrophe auch in der Realität unmittelbar einsetzen könnte und nicht erst, nachdem sich problematische Trends immer weiter verstärkt haben. Die Eigenschaft der Dystopie als ›Warnroman‹ wird so auf die Spitze getrieben, zugleich verliert der Roman fast seine Zugehörigkeit zur utopisch-dystopischen Erzähltradition, da für diese die Imagination einer fiktiven und alternativen Gesellschaftsordnung elementar ist. Allerdings verändert sich die Gesellschaftsordnung im Roman dann durch den Stromausfall im Intervall III dramatisch, wenn auch nur kurzfristig und überwiegend reversibel. Blackout kann daher trotzdem als Dystopie im Sinne der Arbeitsdefinition betrachtet werden, da die Vision einer negativ veränderten Zukunftsgesellschaft narrativ entfaltet wird, die Besonderheiten hierbei bleiben aber zu berücksich449 Dystopien verlängern üblicherweise aktuelle Trends ihrer Entstehungszeit (Intervall I) über eine gewisse Zeitspanne in der Zukunft hinweg (Intervall II), bis die eigentliche Romanhandlung in einer durch diese Prozesse veränderten Welt einsetzt und sich vollzieht (Intervall III).

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tigen. Die restlichen Elemente der Arbeitsdefinition erfüllt der Roman zweifellos, was aus der übrigen Beschäftigung mit dem Text hervorgehen wird. Aus dem weitgehenden Fehlen eines eigenen fiktiven Weltentwurfs im Intervall II folgt auch, dass Rückgriffe auf tradierte Erzählschemata der Gattung in der Tradition prägender Texte wie Nineteen Eighty-Four in dieser Dystopie sinnlos wären. In traditionellen Dystopien lernen die Leser:innen eine fremde Welt aus den Augen einer positiv besetzten Identifikationsfigur kennen, die dann nolens volens in Konflikt mit dem dystopischen Staat gerät und deren Ausbruchsoder Revolutionsversuch letztlich scheitert. In Blackout gibt es keine von Beginn an fremde Welt (sie wird erst mit jedem Tag des Stromausfalls fremder) und keinen dystopischen450 Staat, wodurch sich auch die üblichen narrativen Schemata erübrigen. Stattdessen wird in diesem Roman multiperspektivisch erzählt und der Fokus liegt dabei statt auf der Weltentfaltung auf dem Vorantreiben der Handlung und einer immer noch weiteren Steigerung der Dramatik. Die Bedeutungslosigkeit des Intervalls II entlastet den Roman, weil dadurch viele narrative Schwierigkeiten wegfallen, die sich sonst üblicherweise in Dystopien ergeben. Es muss bei den Rezipient:innen kein Wissen über eine fremde Welt aufgebaut werden und es ist auch nicht nötig, während des Intervalls III Informationen über Veränderungen innerhalb des nicht erzählten Intervalls II nachzuschieben. Für Blackout ist dies besonders bedeutsam, da der Roman ohnehin vor der Herausforderung steht, viel technisches Wissen referieren zu müssen, ohne dabei zu viel an Tempo und Spannung einzubüßen. Auch buchmarktorientierte Dystopien wie Blackout haben sich also zugunsten eines abwechslungsreicheren Lektüreerlebnisses von den traditionellen Erzählschemata emanzipiert. Ein wichtiges Stilelement traditioneller Dystopien wird in Blackout jedoch nach wie vor verwendet und zwar der unvermittelte Einstieg in die Handlung. Manzano gerät gleich auf den ersten Seiten in einen schweren Verkehrsunfall, da sämtliche Ampeln in seiner Heimatstadt Mailand aufgrund des Stromausfalls plötzlich nicht mehr funktionieren (BO 9–12). 4.3.2.3 Erfolgsgründe: Authentizitätseffekte und konkrete Warnung Die Anziehungskraft des Romans, die Blackout zum Best- und Longseller gemacht hat, liegt vor allem in der Herstellung eines hohen Realitätsbezugs.451 Sehr faktenreich, detailliert und dennoch leicht nachvollziehbar zeigt der Text potentielle 450 Auch Kritiker und Gegner der momentan herrschenden Verhältnisse können einen real existierenden Staat nicht sinnvoll als ›dystopisch‹ bezeichnen – obwohl dies oft getan wird –, da dieses Adjektiv ein (Noch-)Nicht-Sein untrennbar beinhaltet. 451 Ob dieser Realitätsbezug tatsächlich so stark ist, geht über einen literaturwissenschaftlichen Ansatz hinaus. Jedenfalls kommen im Roman zahlreiche Strategien zum Einsatz, die diesen Bezug als besonders stark ausweisen.

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Schwachstellen der gesamteuropäischen Sicherheits- und Infrastruktur auf. Hinter dem Verkaufserfolg steht also primär eine Recherche- und Darstellungsleistung; komplexe technische Zusammenhänge werden auf unterhaltsame Weise zugänglich macht. Immer wieder erklären Manzano und andere Expert:innen die technischen Hintergründe bestimmter Aspekte des Stromausfalls gegenüber Politikern, der Polizei oder gegenüber Freunden. Das Lesepublikum ist in diesen Briefings als unsichtbare Zuhörerschaft ebenfalls stets mit angesprochen. Zentral für die Wirkung dieser Dystopie ist auch die aufwändige Plausibilisierung des dargestellten Szenarios. In Blackout kommen verschiedene narrative Strategien zum Einsatz, die die tatsächliche, reale Möglichkeit eines längerfristigen Stromausfalls und seiner gravierenden Folgen immer wieder unterstreichen sollen. So werden den unbedarfteren Figuren im Roman zum Beispiel immer wieder ältere (also nicht-fiktive) Parallelen zu den Ereignissen im Text in Erinnerung gerufen: Ein großflächiger Stromausfall im Jahr 2006 (BO 20 und BO 25), ein Zwischenfall aufgrund eines defekten Notkühlsystems in einem AKW in Schweden im selben Jahr (BO 40), der Computerwurm Stuxnet, der 2010 in eine iranische Atomanlage geschleust wurde (BO 107), die Terroranschläge des 11. September 2001 (BO 133) und jene in London und Madrid 2005 (BO 248) oder chinesische Hackerangriffe auf amerikanische Firmen in den Jahren 2010 und 2011 (BO 636). Das Ziel ist bei all diesen Nennungen stets, die implizite Warnung des Romans zu plausibilisieren und dadurch die Relevanz und den Reiz der Dystopie zu erhöhen. Im Vergleich zu anderen Thrillern findet bei Blackout eine Grenzverschiebung statt, da die Leser: innen nicht mehr nur mit dem Schicksal der fiktiven Hauptfiguren mitfiebern, sondern sich nun auch in der eigenen, realen Welt zunehmend unsicherer fühlen. Eine selbstbezogene Furcht kommt hier also zur üblichen empathischen Teilnahme am Schicksal der Hauptfigur hinzu. Was den Rezipient:innen von Blackout als Zukunftsszenario vor Augen geführt wird, ist nichts weniger als die Möglichkeit eines vollständigen Zivilisationsbruchs durch die längerfristige Störung der Stromversorgung und damit der gesamten Infrastruktur. Mit jedem der insgesamt 14 im Roman beschriebenen Tage zerfällt die westliche Kultur stärker und schneller. Bereits an den ersten Tagen verschlechtern sich die hygienischen Zustände rapide, da auch die Wasserversorgung zusammenbricht. Gemeinsam mit den Romanfiguren müssen sich die Leser:innen nun mit nicht wegspülbaren Toiletteninhalten auseinandersetzen (BO 79). Als nächstes setzt sich in den Straßen zunehmend das Faustrecht durch (BO 118), der Hobbessche Leviathan beginnt also sehr schnell, sich in seine Bestandteile aufzulösen. In der weiteren Folge werden dann immer wieder Parallelen zur Situation während des Zweiten Weltkriegs hergestellt: Deutschland kannte solche Bilder in diesem Ausmaß nur in Schwarz-Weiß, mit Menschen in abgerissenen Mänteln und altmodischem Schnitt, aus den Fernsehdoku-

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mentationen eines Krieges, den die meisten der Anwesenden nicht erlebt hatten, so lange war er her. Und niemand hatte sich vorgestellt, solche Bilder in diesem Land jemals wieder sehen zu müssen. (BO 231)

Der letzte Satz weist bereits auf jenes spezifische ›Möglichkeitsdenken‹ der utopisch-dystopischen Texte hin, das unabhängig von stilistisch-künstlerischen Fragen auch für Blackout konstatiert werden kann. Immer wieder wird im Text kritisch die Frage gestellt, wie stabil die unsichtbaren Sicherheitsnetze eigentlich sind, die den Fortbestand der westlichen Zivilisation auch im Katastrophenfall sichern. Das Buch legt den Schluss nahe, dass es mit diesen Sicherheitsnetzen nicht zum Besten steht – was durch die technische Detailtreue der Darstellung eine umso eindrucksvollere Wirkung beim Publikum erzielen soll. Blackout entfaltet sein Potential als Roman durch diese Verbindung von aufwändiger Recherche, Strategien der Plausibilisierung und der Imagination des totalen Zusammenbruchs. Eine entscheidende Rolle innerhalb der Plausibilisierungsstrategien spielt dabei der Paratext des Romans. Noch vor dem Beginn der Handlung heißt es: Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch, obwohl reale Unternehmen erwähnt und realistische Abläufe thematisiert werden, die es so oder so ähnlich geben könnte. Die beschriebenen Personen, Begebenheiten, Gedanken und Dialoge sind fiktiv. (BO 4)

Was den Realitätsgehalt des Romans angeht, ist dies gewissermaßen eine bejahende Verneinung – der Roman ist fiktiv, obwohl alles Wesentliche in ihm echt ist. Noch stärker zeigt sich dies beim Nachwort des Autors: Blackout ist Fiktion. Doch während meiner Arbeit an dem Manuskript wurde meine Fantasie mehrmals von der Realität eingeholt. So sah mein erster Entwurf 2009 eine Manipulation der SCADA-Systeme von Kraftwerken vor. Zu diesem Zeitpunkt hielten selbst Fachkreise diese Möglichkeit für kaum umsetzbar oder gänzlich abwegig – bis 2010 Stuxnet entdeckt wurde. Ähnlich war es mit der Gefahr, die von den Notkühlsystemen der Kernkraftwerke ausgeht – bis zur Katastrophe in Fukushima. Ich hoffe, dass sich die Realität beim Einholen meiner Fiktion mit diesen zwei Ereignissen zufriedengibt. Bei den Recherchen für dieses Buch bediente ich mich vielerlei Quellen. Ich sprach mit Experten, etwa aus der Energie- und der IT-Branche sowie aus dem Katastrophenschutz. Im Allgemeinen lassen sich solche Fachleute gern erwähnen. Nicht so in diesem Fall. Sie gaben zwar alle bereitwillig Auskunft, namentlich genannt werden will aber niemand. Kein Wunder, bei den Informationen, die sie mir teils anvertrauten. (BO 798, eigene Hervorhebungen)

Mit einigem Pathos wird hier das Szenario, das der Text entwirft, als (potentiell) realistisch ausgewiesen; der Autor verbürgt sich gewissermaßen dafür, dass die dystopisch skizzierte Gefahr auch wirklich ›echt‹ ist. Dies dient als dramatisierendes Stilmittel (vgl. hierzu den nächsten Abschnitt), darüber hinaus spiegelt

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sich in dem Erfolg von Blackout aber auch jene »Sehnsucht« nach Authentizität, wie Erik Schilling sie kritisch als signifikantes Merkmal der Gegenwartskultur beschreibt.452 4.3.2.4 Dramatisierung und Alarmismus-Vorwurf Der »Trend- und Zukunftsforscher«453 Matthias Horx bezieht sich in seiner Publikation Anleitung zum Zukunftsoptimismus (2009) zwar schon aus chronologischen Gründen nicht direkt auf Elsbergs Blackout, dennoch scheint Horx’ Vorwurf, dass eine wahre »Lobby«454 aus »Auguren des Untergangs«455 für die Produktion eines grassierenden »Alarmismus«456 verantwortlich sei, gerade auch auf Dystopien wie Blackout abzuzielen. Horx kritisiert ein gezieltes Schüren von panikhafter Furcht zum Zwecke der Selbstinszenierung der jeweiligen Publizisten.457 Ein so erzeugter »Alarmismus« wirke laut Horx in der öffentlichen Debatte eher störend als produktiv, da ein »alarmistischer« Zugang zu einem Problem immer einen irrationalen Zugang impliziere.458 Unabhängig davon, ob man Horx in seiner allgemeinen Kritik folgen möchte, können in Blackout nicht nur Strategien der Plausibilisierung, sondern zumindest auch der intensiven Dramatisierung und Zuspitzung konstatiert werden. Dies betrifft vor allem die erzählerischen Mittel, mit denen die internationale Krise im Roman geschildert wird. An einer einzelnen Szene, einer Lagebesprechung im Bundeskanzleramt am zweiten Tag des Stromausfalls, kann diese Dramatisierung exemplarisch aufgezeigt werden. Aus der Sicht einer Mitarbeiterin des Innenministeriums namens Michelsen erleben die Leser:innen mit, wie die anderen Ressorts über die zu erwartenden Probleme der nächsten Tage durch das Innenministerium informiert werden. Interessant sind hier weniger die Inhalte des Briefings (sie werden daher nicht zitiert), sondern die Reaktionen Michelsens auf diese Inhalte: [Vor Beginn der Präsentation:] Michelsen erinnerte das Szenario an die Höllenbilder von Hieronymus Bosch. […] Michelsen selbst wunderte sich über ihre Ruhe. Sie wusste aber auch, dass diese nur ein vorübergehender Zustand war. Irgendwann würde alles hervorbrechen. Hoffentlich nicht zum falschen Zeitpunkt. […]

452 Erik Schilling: Authentizität. Karriere einer Sehnsucht. München 2020. 453 So die Berufsbezeichnung in seinem Autorenprofil; Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 2. 454 Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 27. 455 Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 15. 456 Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 24. 457 Vgl. Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 15–24. 458 Vgl. Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 24–35.

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Michelsen fiel auf, dass alle vermieden, die anderen anzusehen. Niemand wollte die Angst in seinen Augen preisgeben. […] Die Minuten verrannen. Der Berliner Himmel war so finster wie ihre Gedanken. […] [Während des Vortrags:] Der Gedanke daran trieb ihr die Tränen in die Augen. […] Michelsen musste kurz Luft holen. […] Sie hielt inne, um ihren Zuhörern die Möglichkeit zu geben, das Vorgetragene zu verdauen. In ihren Gesichtern sah sie, dass die Bilder ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. […] Schockierte Stille breitete sich im Raum aus. […] Beim Anblick der nackten, roten, schrumpeligen Babys mit durchsichtiger Haut, unter der man jedes Äderchen sah, in den kleinen Glaskuben zog sich Michelsens Hals zusammen. […] Michelsen konnte sich die Verzweiflung dieser Menschen gut vorstellen. Sie merkte, wie sie ihre Lippen zusammenpresste und ihre Kiefermuskeln arbeiteten. […] Michelsen spürte, wie sie auf ihre Unterlippe biss […]. Doch Torhüsen [ein Kollege Michelsens] gewährte keine Gnade. […] [Torhüsen] ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Natürlich gab niemand eine Antwort, aber die Stille sprach Bände über die Betroffenheit der Anwesenden. […] ›Mein Gott‹, flüsterte eine Stimme. Aus den Augenwinkeln versuchte Michelsen zu erkennen, wem dieser Seufzer entfahren war. Den fahlen Mienen nach konnte es jeder im Raum gewesen sein. Bislang hatte sich wohl noch keiner von ihnen die Konsequenzen in ihrer vollen Wucht ausgemalt. Dabei waren sie mit ihrem Vortrag noch längst nicht zu Ende. […] ›Was meinst du?‹, flüsterte ihr Torhüsen zu. ›Sie stehen unter Schock, würde ich sagen‹, erwiderte Michelsen ebenso leise. (BO 223–238)

Mithilfe all dieser in einer einzigen Szene eingesetzten Dramatisierungsmittel soll die Faszination des Publikums an dem dystopischen Szenario entscheidend gesteigert werden. Mit Horx kann dies als Erzeugung von sogenannten »Angstlust-Effekten« interpretiert werden – in der Imagination des totalen gesellschaftlichen Zusammenbruchs liege stets auch ein als aufregend empfundener Kitzel.459 Überhaupt scheut sich Blackout nicht, durch drastische Schilderungen die Dramatik der Romanhandlung auf die Spitze zu treiben. Um das Ausmaß des Kultur- und Zivilisationsbruchs nach dem Stromausfall zu illustrieren, gerät Manzano in einen Krankensaal, in dem eine Ärztin und ein Pfleger moribunden Patienten eine tödliche Spritze verabreichen, weil eine weitere Betreuung unmöglich geworden ist (BO 443–445). Ein paar Tage ohne Strom also, das soll diese Stelle illustrieren, und schon machen sich auch im scheinbar total abgesicherten Westen Zustände breit, die zuvor als unvorstellbar galten. Doch dabei bleibt es nicht, Manzano beteiligt sich in der Folge selbst an der Tötungsaktion, obwohl er 459 Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 25.

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kürzlich angeschossen und ohne Narkose operiert wurde und sich zudem gerade auf der Flucht vor der Polizei befindet (BO 447–451). Auch damit jedoch noch nicht genug, muss Manzano sich nach getanem ›Werk‹ vor der herannahenden Polizei verstecken und zwar direkt unter einer der Leichen: »Der Gestank war unerträglich, der Tote lag in getrocknetem Blut und Fäkalien und schied eine Flüssigkeit aus, die Manzano allerdings erst bemerkte, als er schon zur Hälfte unter ihm lag.« (BO 458) Erkennbar ist Blackout darauf aus, starke Emotionen hervorzurufen. Der kommerzielle Erfolg des zuvor eher unbekannten Autors deutet darauf hin, dass dem Roman dies bei seinem Zielpublikum wohl tatsächlich auch gelingt. Dafür begibt er sich durch seine dramatisierende Stilistik zumindest in die Nähe dessen, was Horx als einen ›alarmistischen‹ Zugang zu einer potentiellen Gefährdung bezeichnet. 4.3.2.5 Wechselwirkungen zwischen Dystopie und Gesellschaft Noch 2012, im Erscheinungsjahr des Romans, kam es zu einer Lesung Elsbergs in der Zentrale der Bundesnetzagentur in Bonn, in deren Rahmen der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, die exakten Recherchen Elsbergs lobte.460 Im Jahr 2016 empfahl dann sogar der damals amtierende deutsche Innenminister, Thomas de Maizière, das Buch während einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines neuen Zivilschutzkonzeptes (nach eigener Aussage jedoch, ohne den Roman selbst gelesen zu haben).461 Mit Blick auf die dramatisierenden Elemente des Romans sind diese Buchempfehlungen seitens deutscher Behörden eher verwunderlich. Offenbar besteht dort die Hoffnung, eine weite Verbreitung von Blackout könne zu einer auf den Katastrophenfall besser vorbereiteten Zivilgesellschaft führen – eine Sichtweise, die im direkten Widerspruch zur Alarmismus-Theorie von Horx steht.462 Da im Roman (und in seinem Paratext) mehrfach darauf hingewiesen wird, dass alle Aspekte eines längerfristigen Stromausfalls der realen Welt entnommen

460 Quelle: http://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/stadt-bonn/Blackout-in-der-Bonner -Bundesnetzagentur-article883359.html (letzter Abruf am 11. 02. 2019). 461 Die Quelle des Vorgangs mit genauem Einstieg bei der betreffenden Stelle: https://www. youtube.com/watch?v=n84Ub-5tmzo&feature=youtu.be&t=30m25s (letzter Abruf am 11. 02. 2019). 462 Eine Synthese der beiden Positionen ist denkbar. Die Lektüre des Romans könnte dazu führen, dass eine im Sinne der Behörden bessere materielle Absicherung der Bevölkerung (etwa durch maßvolle Bevorratung mit haltbaren Lebensmitteln wie die Bundesregierung sie schon seit längerem grundsätzlich empfiehlt) mit problematischen Verhaltensweisen einhergeht (etwa durch die vorsorgliche Anschaffung von Schusswaffen, die sich in Blackout nach dem zivilisatorischen Zusammenbruch als äußerst nützlich erweisen).

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sind,463 zeigt sich zweitens sehr deutlich, dass auch diese Dystopie keine neue Gefahr identifiziert, sondern einen bereits bestehenden Diskurs aufnimmt und narrativ verarbeitet. Am Beispiel von Blackout wird daher das Verhältnis von Gesellschaft und Dystopie besonders deutlich: Ausgangspunkt ist eine bereits existierende gesellschaftliche (Spezial-)Debatte, die durch die Dystopie eine narrative Umformung erfährt, wodurch die Inhalte der Debatte in viel breitere Gesellschaftsschichten diffundieren, was wiederum Rückwirkungen auf die Ausgangsdebatte haben kann (etwa, weil ein größeres gesellschaftliches Interesse zu einer Vermehrung der Ressourcen führt). Aus soziologischer Perspektive liegt in dieser narrativen Umformung theoretischer Diskurse die Hauptfunktion von Dystopien im Allgemeinen (vgl. 2.4). Diese Funktion konnte über alle drei Textblöcke hinweg als weiterhin noch zentral für die Gegenwartsdystopie festgestellt werden. Die (ohnehin problematische) Einteilung einer Dystopie in den ›E‹- oder ›U‹-Bereich spielt hierfür offenbar keine grundsätzliche Rolle. Sehr unterschiedlich ist je nach Text dagegen, wieviel interpretatorische Leistung aufgebracht werden muss, um den jeweiligen extrapolierenden Umformungsprozess begrifflich fassen zu können. 4.3.2.6 Die Heterogenität der Gattung (Fazit) Die Vermutung liegt nahe, dass das Warnpotential von Dystopien tendenziell abnimmt, je umfassender die gesellschaftlichen Veränderungen sind, die sich während des fiktiven Intervalls II – also vor dem Einsetzen der jeweiligen Romanhandlung – vollziehen. Blackout zieht hieraus einen radikalen Schluss, nämlich die (fast) völlige Aufgabe dieses Intervalls II und die Entwicklung eines alternativen Weltentwurfs erst im Laufe der Romanhandlung. Die Folge ist eine narrative Komplexitätsreduktion, aber damit auch eine Verbreiterung des potentiellen Leserkreises. Daneben wurde anhand von Blackout gewissermaßen das ›Rezept‹ erkennbar, mit der gegenwärtig eine Dystopie zum massentauglichen Bestseller wird. Als wichtigste Zutaten sind neben der Komplexitätsreduktion die Strategien der Plausibilisierung, die Verzahnung von empathischer und selbstbezogener Furcht, sowie eine von Beginn an hohe und sich noch beständig steigernde Dramatik zu nennen.464 Auch alle anderen in dieser Arbeit analysierten Dysto-

463 Zum Beispiel wird sowohl im Roman als auch im Nachwort auf eine Studie des Innenministeriums von 2011 Bezug genommen, in der die Folgen eines Stromausfalls ähnlich dargestellt sind wie im Roman (BO 226 und 799). 464 In Blackout kam daneben noch das bewährte Rezept der Dan-Brown-Bestseller zum Einsatz: Ein männlicher Sonderling mittleren Alters muss aufgrund seiner speziellen Expertise den großen, aber plumpen Behörden bei der Aufdeckung eines gewaltigen Komplotts zu Hilfe

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pien greifen immer wieder auf diese Zutaten zurück, wenn auch in deutlich geringerer Dosierung. Zwischen Blackout und dem restlichen Textkorpus zeigen sich weitere markante Trennlinien. Blackout, wiewohl ebenfalls losgelöst vom Schematismus früherer Dystopien, wird aufgrund seines beständigen Strebens nach Dramatik, Glaubwürdigkeit, Realitätsnähe und Plausibilität zur ironiefreien und vor allem zur selbstironiefreien Zone. Die in den vorigen Analysen herausgearbeitete Hinwendung der Gegenwartsdystopie zu verstärkt humorvollen, spielerischen Formen vollzieht Blackout nicht mit. Doch je größer die Heterogenität zwischen den einzelnen Romanen des Textkorpus ist, umso dringlicher stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Bindeglied zwischen diesen so unterschiedlichen Ausprägungen des aktuell sich vollziehenden Dystopie-Booms (vgl. hierzu dann v. a. Kap. 7).

4.3.3 QualityLand (Marc-Uwe Kling, 2017): Eine ›Summa Dystopia‹ und eine neue Gefahr Vor der Tür wartet schon ein selbstfahrendes Auto auf ihn. […] »Hallo, Peter«, sagt das Auto. »Sie möchten nach Hause?« »Ja«, sagt Peter und steigt ein. Ohne weitere Fragen nach Weg oder Adresse fährt das Auto los. Man kennt sich. Oder zumindest kennt das Auto Peter. Der Name des Autos wird Peter auf einem Display angezeigt. Es heißt Carl. »Schönes Wetter, nicht wahr?«, fragt Carl. »Small Talk aus«, sagt Peter. QL 14

4.3.3.1 Eine neue Dystopie auf Basis alter Daten? Obwohl die Dystopie natürlich primär der utopischen Erzähltradition entstammt, sind auch Parodie und Satire literaturhistorische Gattungen, die einen wesentlichen Anteil an der Entstehung der Dystopie haben.465 In Marc-Uwe Klings 2017 erschienenem Roman QualityLand kommt es nun zu einer nicht nur literarhistorisch interessanten Begegnung der Dystopie mit ihren parodistischeilen. Dabei wird er von attraktiven Frauen unterstützt, zu denen sich im Laufe der Handlung eine erotische Spannung aufbaut. 465 Als wichtiges Bindeglied ist hier Gulliver’s Travels von Jonathan Swift aus dem Jahr 1726 zu nennen, wobei bereits Morus’ Utopia deutliche satirische Züge trägt. Während des ersten Dystopie-Booms Mitte des 20. Jahrhunderts rückten diese satirischen Elemente jedoch zugunsten einer größeren Ernsthaftigkeit und damit einer stärkeren Entfaltung des Warnpotentials mehr und mehr in den Hintergrund.

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satirischen Wurzeln. Das Hauptthema des Textes sind die Gefahren, die aus der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenzen (KIs) entstehen können. Mit im Zentrum der Handlung steht dabei der Wahlkampf des Androiden John of Us, den die Nachfolgepartei der SPD zu ihrem Kanzlerkandidaten erkoren hat (QL 246). Der Gattungsmix in QualityLand ist somit bereits in dieser teils warnenden, teils grotesk-satirischen Grundstruktur angelegt, und es ergibt sich im Text ein beständiges Nebeneinander von Ernst und Komik. Zudem erweist sich QualityLand trotz aller satirischen Brechungen geradezu als eine Art ›Summa Dystopia‹, in der sich Bezugnahmen auf viele andere Dystopien finden lassen. So ergibt sich ein intertextuelles Spiel, das vom Roman produktiv eingesetzt wird. QualityLand ist somit eine Dystopie, die sich mit der Geschichte der eigenen Gattung explizit auseinandersetzt. Hierin liegt ein wesentlicher Grund, warum gerade dieser Text, zu dem bislang kaum nennenswerte literaturwissenschaftliche Forschung vorliegt, ausgewählt wurde, um die Analysen der Gegenwartsdystopien im engeren Sinne abzuschließen: Er markiert den Eintritt der Gattung in eine neue, selbstreflexive Phase. Der aktuelle Boom der Dystopie ist also nicht nur ein wiederkehrendes Thema in den Feuilletons (vgl. Kap. 7), sondern wird nun auch in den allerjüngsten Texten der Gattung kritisch thematisiert. Trotz der vielfältigen Bezüge zu anderen Dystopien sticht die Bedeutung eines bestimmten Prätextes für QualityLand heraus. Die Rede ist von The Circle (vgl. 4.2.2). Beide Texte setzen sich mit potentiellen Gefahren digitaler Technologien auseinander und QualityLand spielt auf diese intertextuelle Verbindung auch deutlich an. Zugleich jedoch grenzt sich QualityLand inhaltlich und strukturell scharf von diesem Vorgänger ab und wirkt so teilweise wie eine Erwiderung auf den Bestseller von Dave Eggers. Nach dieser Hinführung findet im zweiten Abschnitt eine Skizzierung der Romanhandlung statt, die bereits mit einer gattungsspezifischen Analyse des Textes als Dystopie verbunden wird. Auch die Anspielungen auf The Circle, sowie die strukturellen Unterschiede zu diesem Prätext, werden hier aufgezeigt. Im dritten Abschnitt wird das Warnpotential von QualityLand in den Blick genommen. Hier zeigen sich die inhaltlichen Unterschiede zu The Circle. Wo Dave Eggers’ Roman aufhörte – bei der digitalen Vernetzung restlos aller Lebensbereiche – setzt die Handlung bei QualityLand erst ein. Die aus Sicht dieses Textes noch ungleich größere Gefahr im digitalen Bereich besteht in dem theoretisch unendlichen Potential von sich selbstständig fortentwickelnden KIs. Aus diesem Gedanken heraus entwickelt QualityLand eine geradezu didaktische, aufklärerische Haltung, die vor dem Hintergrund des sonstigen humoristischen Settings überrascht und im vierten Analyseabschnitt näher betrachtet wird. Fünftens soll schließlich die Signifikanz des Romans für den Eintritt der Gattung in eine selbstreflexive Phase herausgearbeitet werden.

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4.3.3.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Im Mittelpunkt der Romanhandlung steht Peter Arbeitsloser, ein Maschinenverschrotter, der immer wieder einzelne teildefekte Androiden466 in seinem Keller weiterexistieren lässt und sich dadurch zumindest in eine rechtliche Grauzone begibt. Von dem Onlineversandhandel TheShop (eine Anspielung auf Amazon) wird ihm eines Tages ein rosafarbener Delphinvibrator zugeschickt, für den er weder Verwendung noch ihn überhaupt bestellt hat. Trotz seiner Reklamation weigert sich der Konzern, das Produkt zurückzunehmen, da TheShop den Anspruch hat, auch die unbewussten Wünsche der Kunden zu erfüllen (QL 17–18). Nach Ansicht des Konzerns möchte Peter den Vibrator also sehr wohl, weiß dies nur noch nicht. In dem grotesk verzerrten Zukunfts-Deutschland des Romans gibt es keine Instanz mehr, die die exemplarische Figur Peter vor einer solch irrwitzigen Argumentation schützen und seine Verbraucher- und Persönlichkeitsrechte wahren könnte. Bereits im Intervall II hat sich die Umbenennung der Bundesrepublik Deutschland in ›QualityLand‹ vollzogen. Sie basierte auf einer entsprechenden Empfehlung von Unternehmensberatern und sollte dem Land »eine neue Country Identity« verschaffen (QL 10). In der Folge ist Deutschland ganz nach »de[m] feuchten Traum eines Hightech-Investors« (QL 11) bzw. eines Unternehmensberaters umstrukturiert worden. Hintergrundinformationen über dieses veränderte Deutschland werden in Form von immer wieder eingeschobenen Kapiteln aus einem Reiseführer für QualityLand-Touristen gegeben. Einerseits ist dies die eigenwillige Lösung des Romans, die Rezipient:innen mit den Veränderungen vertraut zu machen, die sich während des Intervalls II ereignet haben, andererseits spielt der Text dadurch mit seiner Zugehörigkeit zu den utopisch-dystopischen Texten, denn satirisch verzerrte Vermittlungsinstanzen zwischen der realen und der fiktiven Welt gehören schon seit Morus’ Figur des Raphael Hythlodeus zum gängigen Inventar utopischer Literatur.467 Eine genaue zeitliche Verortung der Zukunftsvision unterbleibt im Roman und ist auch kaum relevant.468 Durch seine satirische Kritik hält QualityLand in 466 Der Roman wählt etwa einen »Kampfroboter mit posttraumatischer Belastungsstörung«, eine Drohne mit Flugangst oder einen »Sexdroide[n] mit Erektionsstörungen« zu seinem Personal (QL 81–82). Do Androids Dream of Electric Sheep? fragte 1968 der Titel von Philip K. Dicks bekanntem Roman, der später als Blade Runner verfilmt wurde. QualityLand hat diese Frage für sich mit einem emphatischen ›Ja!‹ beantwortet. 467 Schon der Name ›Hythlodeus‹, zusammengesetzt aus ὕθλος (›Unsinn‹) und δάιος (›erfahren‹), zeigt die ironische Brechung der Figur bei Morus. In Utopia ist es dieser Hythlodeus, der der Figur ›Thomas Morus‹ von dem Staat der Utopier berichtet. 468 Ein versteckter Hinweis könnte allerdings der Umstand sein, dass die entscheidende Bundestagswahl letztlich mit einer Mehrheit von 2049 Stimmen zugunsten der KI endet.

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vielen Aspekten bereits der Realität einen Zerrspiegel vor und erschafft nicht nur eine warnende Zukunfts-, sondern auch eine groteske Parallelwelt. Die Hauptfigur Peter ist von Beginn an als positive Identifikationsfigur angelegt, doch ebenso wie Mae Holland in The Circle zeigt er anfangs seinen absurden Lebensumständen gegenüber eine so hohe Akzeptanz, dass man kaum umhin kann, sich über ihn zu wundern (z. B. QL 18). Schon bald ist bei Peter dann aber doch ein gewisses Unwohlsein festzustellen. Sein Hang, teildefekte KIs weiterexistieren zu lassen, kennzeichnet ihn als devianten Schwärmer, dessen kritisches Reflexionsvermögen noch nicht völlig ausgeschaltet ist. In einer Szene, die über die avisierte Bewertung der ›Performance‹ des Mannes beim Sexualakt direkt auf The Circle Bezug nimmt,469 schlägt er schließlich doch den Weg des Widerstands ein und wird so zu einer Gegenfigur Mae Hollands (die sämtliche Gelegenheiten verstreichen lässt, eine kritische Haltung ihrer Umwelt gegenüber zu entwickeln, vgl. 4.2.2.4): Peter will das QualityPad ausschalten. »Lass an«, sagt Melissa. »Wieso?«, fragt Peter. »Sagt dir die App nach dem Orgasmus, wie viele Kalorien du gerade verbrannt hast?« »Natürlich«, sagt Melissa. »[…] Außerdem kann ich dann gleich deine Performance bewerten.« Peter schüttelt den Kopf, dann steht er abrupt auf und zieht sich wieder an. […] »Was ist jetzt?«, fragt Melissa. »Willst du nicht vögeln?« »Hm«, sagt Peter. »Eher nicht. Ich glaube, ich will nach Hause gehen und mein Leben überdenken.« (QL 105)

Nach diesem Innehalten gerät Peter mit immer mehr Aspekten seiner Lebenswelt in Konflikt. Sein Kampf um die Rückgabe des nicht bestellten Sexspielzeugs wird schließlich zur Metapher für den Widerstand gegen das dystopische System an sich. Explizit unterstellt Peter der subtilen Beeinflussung der Bevölkerung durch personalisierte Angebote im digitalen Bereich die Wirkung einer »Gehirnwäsche« (QL 299); der Roman schlägt dadurch offen den Bogen zu einem Grund469 In einer postkoitalen Szene zwischen Mae und ihrem Arbeitskollegen Francis heißt es: »I have a second fantasy,« he said […]. »I want you to rate me,« he said. […] »Rate what? Your performance?« »Yes.« […] [Zunächst weigert sich Mae, dann gibt sie trotz seines frühzeitigen Samenergusses 100 von 100 Punkten.] »That’s the number?« »It is. You get a perfect 100.« Mae felt like she could hear him grinning. »Thank you,« he said, and kisses the back of her head. »Night.« (TC 379–381)

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thema klassischer Dystopien.470 Peter zur Seite steht eine weibliche Helferfigur, die ebenfalls ein unangepasstes Leben führt und mit der er dann, ähnlich wie Winston Smith mit Julia, eine Liebesbeziehung beginnt. Über viele Umwege gelingt es den beiden schließlich, den Eigentümer von TheShop zur Rede zu stellen. So kommt es auch in QualityLand zu jener typischen Aussprache des exemplarischen Individuums mit der hierarchischen Spitze des dystopischen Systems. Ob Peters Widerstand letztlich erfolgreich ist, bleibt dagegen, anders als in traditionellen Dystopien, offen. Trotz der Verwendung satirischer Darstellungsformen, wie der Übertreibung und der Verzerrungen, bleibt QualityLand dem Strukturprinzip traditioneller Dystopien also durchaus noch verpflichtet. In diesem Text wirkt dies aber eher wie eine halb ironische, halb ernst gemeinte Reminiszenz an die ›Klassiker‹ der Gattung. Im zweiten narrativen Hauptstrang verfolgt der Roman den Weg des Androiden John of Us von seiner Ausrufung zum Kanzlerkandidaten über den anschließenden Wahlkampf bis hin zu seinem Wahlerfolg. In einer der letzten Szenen werden die beiden Handlungsstränge durch ein Gespräch Peters mit John zusammengeführt. Ein Attentäter stört den harmonischen Abschluss und John rettet Peter, wird aber selbst in die Luft gesprengt. Ganz am Ende wird jedoch darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit besteht, John habe sein Bewusstsein kurz vor der Detonation in eine Cloud geladen und so ›überlebt‹. Es gäbe sogar Verschwörungstheorien, John habe das Attentat auf sich von langer Hand geplant, um in einer dezentralen Daseinsform die Weltherrschaft an sich reißen zu können (QL 376–379). Auch das globale Ende dieser Dystopie endet also uneindeutig. Hinter der grotesken Fassade werden die Ernsthaftigkeit und das Warnpotential des Romans im Verlauf der Handlung immer deutlicher. Im Rahmen der beiden Hauptstränge werden immer wieder auch andere gesellschaftliche Themen und Probleme aufgegriffen. Der Roman thematisiert die moralischen Implikationen von Waffenexporten (QL 26), die Partnerwahl in Zeiten von Tinder (QL 30–31 und 48–51), das Phänomen der sog. ›alternativen Fakten‹ (QL 42), den Arbeitsplatzverlust durch Automatisierung (QL 73–74), die Zunahme des Rechtspopulismus (QL 114–117) und viele weitere Aspekte. Die vielen Einzelprobleme, die er aufgreift, können im Rahmen des Romans allerdings oft nur angerissen werden, worauf auch die Rezensionen zum Roman kritisch hingewiesen haben.471 470 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 330–332. 471 Vgl. z. B. Maximilian Sippenauers Rezension für die Süddeutsche Zeitung mit dem Titel An der Schwelle des Makels vom 13. 11. 2017. Online abrufbar unter: https://www.sueddeutsch e.de/kultur/gegenwartsliteratur-an-der-schwelle-des-makels-1.3747290 (letzter Abruf am 12. 04. 2019).

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Insgesamt zeigt sich bei QualityLand neben dem satirisch-parodistischen Ansatz auch ein ausgeprägter extrapolierender Ansatz. Der Roman ist daher als Gattungsmix zu betrachten; insbesondere hinsichtlich seines thematischen Schwerpunkts, der Warnung vor dem theoretischen Machtpotential künstlicher Intelligenzen, ist er aber ganz Dystopie. 4.3.3.3 Das Update zu The Circle Mit Blick auf die unterschiedlichen Rollen der Hauptfiguren wurde im vorigen Abschnitt bereits eine strukturelle Auseinandersetzung des Romans mit The Circle sichtbar. In diesem Abschnitt soll nun untersucht werden, inwiefern QualityLand als eine inhaltliche Aktualisierung der Digital-Dystopie The Circle betrachtet werden kann. In Dave Eggers’ Roman wird bereits das Bild eines digitalen Big Brother 2.0 gezeichnet, der mithilfe der Technologien des 21. Jahrhunderts zu einer viel umfassenderen Überwachung imstande ist als das von Orwell imaginierte Original. Auch hinter dem Circle-Konzern stehen jedoch noch Menschen aus Fleisch und Blut; für ihren eigenen, ökonomischen Vorteil wollen diese die Überwachung durch eine sogenannte ›Completion‹, also eine Vernetzung aller Circle-Dienste, auf die Spitze treiben (vgl. 4.2.2.2). Ob es am Ende des Romans The Circle zu einer solchen ›Completion‹ kommt, bleibt offen, Indizien deuten jedoch stark darauf hin. QualityLand dagegen verlagert eine solche ›Completion‹ gleich in das Intervall II, also in seine implizite Vorgeschichte, und präsentiert so eine komplett vernetzte Welt gleich zu Beginn: Exakt in dem Augenblick, als Peter zu Hause ankommt, trifft eine Lieferdrohne von TheShop ein. Über Zufälle dieser Art wundert sich Peter schon lange nicht mehr. Es sind keine Zufälle. Es gibt überhaupt keine Zufälle mehr. […] Er zerknüllt sein altes QualityPad und wirft es in einen nicht zufällig bereitstehenden Mülleimer. Der Mülleimer bedankt sich und geht über die Straße auf ein kleines, dickes Mädchen zu, das gerade einen Schokoriegel auspackt. Drei selbstfahrende Autos bremsen minimal, um den Mülleimer passieren zu lassen. Peter schaut ihm geistesabwesend hinterher. (QL 17–19)

Wer die Triebkräfte hinter dieser Komplettvernetzung waren, beschäftigt den Roman QualityLand gar nicht mehr. Ihm geht es um Entitäten, die zu planvollem Handeln in der Lage, aber nicht mehr aus Fleisch und Blut sind. Aus der humorvollen und streckenweise eher unterhaltenden Narration bricht dabei plötzlich eine in ihrer Vehemenz überraschende Ernsthaftigkeit hervor und in für Dystopien ungewöhnlicher technischer Komplexität werden problematische Implikationen der ständigen Verbesserung von KIs dargelegt:

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»Fürchtest du Gott?«, fragt der Alte unvermittelt. »Ähm«, sagt Peter überrascht. »Ich glaube nicht, dass es einen Gott gibt.« »Oh«, sagt der Alte. »Aber es wird einen geben…« »Wie meinen Sie das?« »Bist du mit dem Konzept der Superintelligenz vertraut?« (QL 184)

Die in dieser Szene folgenden, recht umfangreichen Ausführungen setzen sich mit der Frage auseinander, welches Gefahrenpotential es birgt, wenn leistungsfähige KIs selbständig in der Lage sind, wiederum neue, noch leistungsfähigere und ›intelligentere‹ KIs zu programmieren. Solche Vorgänge waren tatsächlich bereits im Erscheinungsjahr des Romans technisch möglich und kommen seither auch in der Praxis zur Anwendung.472 Der ›Alte‹, der für Peter (und die Leser: innen) die Rolle eines »Mentors« übernimmt (QL 208), legt dar, dass dieser Prozess der Intelligenzerweiterung problemlos dazu führen kann, dass dem Menschen weit überlegene Denkkapazitäten entstehen. Letztlich gebe es bei künstlicher Intelligenzsteigerung kein Limit, und das hypothetische Endprodukt einer solchen Mutationskette nennt der Alte »Gott«, da es »allgegenwärtig, allwissend und allmächtig« (QL 187) wäre. Die heitere, oft geradezu alberne Unterhaltung kippt an dieser Stelle, und QualityLand wird ganz zum ›Warnroman‹ – die komischen Elemente erweisen sich als Zucker, mit dem die Rezipient:innen nun plötzlich bittere Medizin zu schlucken haben. Das Drohszenario wird durch den Hinweis auf den immensen Konkurrenzkampf zwischen den Nationalstaaten, aber auch zwischen einzelnen Unternehmen, verschärft und plausibilisiert (QL 190). Da das Potential einer Superintelligenz unendlich ist, hat, laut dem Alten, keine mit anderen in Konkurrenz stehende Macht die Möglichkeit, auf die Entwicklung solcher Super-KIs zu verzichten. Aus der Perspektive des Romans kann daher die KI gewissermaßen zur Atombombe des 21. Jahrhunderts werden. Vor dieser Gefahr warnt QualityLand in erster Linie. Am Ende des niederschmetternden Vortrags fragt Peter schließlich: »Warum erzählen Sie mir das alles eigentlich?« Der Alte entgegnet: »Ich erzähle dir das […], weil ich glaube, dass alle das wissen sollten.« (QL 188) Die Leser:innen sollen sich hier durchaus mit angesprochen fühlen. Durch ihre theoretisch grenzenlose Machtakkumulation birgt eine solche Superintelligenz aber auch ein enormes utopisches Potential. Auch diesen Aspekt nimmt der Roman in sich auf. Immer wieder ist es während des Wahlkampfs 472 Vgl. einen entsprechenden Artikel von Cade Metz in der New York Times mit dem Titel Building A.I. That Can Build A.I. vom 05. 11. 2017. Online abrufbar unter: https://www.ny times.com/2017/11/05/technology/machine-learning-artificial-intelligence-ai.html (letzter Abruf am 12. 04. 2019).

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die KI John, der seinem gefährlich dummen, rechtspopulistischen, menschlichen Gegenkandidaten die Stimme der Vernunft entgegenhält. Der Alte weist jedoch auf den Umstand hin, dass niemand mit Gewissheit voraussagen könne, ob eine vom Menschen (unbeabsichtigt) erschaffene ›Gottheit‹ dem Menschen wohl gesonnen sei – und ob dies nicht auch hoch problematisch wäre. Hat sich John am Ende sogar absichtlich ›töten‹ lassen, weil er als gütige Superintelligenz erkannt hat, dass dies das Beste ist, was er für die Menschheit tun kann? Oder lief die gesamte Handlung von Anfang an gemäß eines von John penibel errechneten Plans zur Erlangung der Weltherrschaft ab? Der Roman spielt mit diesen Möglichkeiten und verweigert eine definitive Festlegung. So bleibt unklar, ob die Dystopie bezüglich der Gefahr durch quasiallmächtige Super-KIs noch einmal die Zukunftsperspektive bemüht – als eine Extrapolation innerhalb der Extrapolation – oder ob John of Us bereits die erste dieser Superintelligenzen ist, die sich von menschlicher Kontrolle entkoppeln können und sich nun zu gottähnlichen Existenzen aufschwingen. The Circle entwarf 2013 bereits die dystopische Vision eines IT-gestützten Big Brother 2.0, doch geschah dies vor dem Hintergrund von Technologien, die im Vergleich zu sich selbstständig weiterentwickelnden KIs nur als ›konventionell‹ bezeichnet werden können. Durch die Einbeziehung dieses neuen Aspekts hebt QualityLand den Bedrohungsgrad durch digitale Entwicklungen auf eine ganz andere Stufe. 4.3.3.4 Mit satirischen Mitteln zur Volksaufklärung Der Roman, der sich zunächst den Anschein eines heiteren Satyrspiels mit gelegentlich eingestreuten politischen Forderungen gibt, wächst sich im Laufe der Handlung zu einem regelrecht didaktischen Werk aus. Er hat keinen geringeren Anspruch, als sein Lesepublikum über jene Grundsätze der Informatik aufzuklären, die die zukünftige Lebenswelt vermutlich noch viel stärker prägen werden als dies heute bereits der Fall ist. Zusammen mit der Identifikationsfigur Peter werden die Rezipient:innen mit dem Moravec’schen Paradox (QL 75), dem Turing-Test (QL 185), dem Asimov’schen Gesetz und dem Netzwerkeffekt (QL 257– 260) vertraut gemacht. So erklärt QualityLand auch die ungeheure Machtakkumulation eines Konzerns wie The Circle, die in Eggers’ Roman niemals so genau expliziert wird: »Wir dachten, es entstehe [durch das Internet] ein Markt mit unzähligen Alternativen, da es über einen Onlineshop ja so einfach wie noch nie war, weltweit Kundschaft zu erreichen. Aber das genaue Gegenteil ist passiert! Es sind die mächtigsten Monopole entstanden, die es je gegeben hat.« »Trotz des Internets«, sagt Peter. »Unsinn«, sagt der Alte. »Wegen des Internets! Man nennt das den Netzwerkeffekt. Und

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der ist teuflisch. […] Es kommt nicht von ungefähr, dass der sogenannte Cyberspace immer mehr zu einer riesigen Kontrollmaschine wird […]. Wir haben nicht bedacht, dass digitale Märkte nach dem Winner-takes-it-all-Prinzip funktionieren. […] In der Digitalwirtschaft braucht keiner das zweitbeste Produkt, den zweitbesten Anbieter, das zweitbeste soziale Netzwerk, den zweitbesten Shop, den zweitbesten Comedian, den zweitbesten Sänger. Es ist eine Superstarökonomie. Es lebe der Superstar. Scheiß auf den Rest.« (QL 258–260)

QualityLand ist ein Musterbeispiel dafür, wie mithilfe von Dystopien theoretische Diskurse so umgeformt werden, dass sie nicht mehr nur einem Fachpublikum zugänglich sind. Während etwa in der Debatte um die Ethik autonomen Fahrens von den moralischen Dilemmata eines »Death Algorithm«473 die Rede ist, erklärt in QualityLand das intelligente Auto die zugrundeliegende Problematik gleich selbst: »Nun«, sagt Herbert [das Auto], »für einen Menschen ist ein Unfall nur sehr selten mit einer moralischen Entscheidung verknüpft. Wenn ein entgegenkommendes Auto mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf einen Menschen zurast, dann denkt der nicht: ›[…] Hm … Was wäre in der auf mich zukommenden Situation moralisch richtig? Was hätte Kant gefordert? Was hätte Jesus getan?‹ […] Ein Mensch würde denken: ›Scheiße! Bumm.‹ […] Eine Maschine allerdings reagiert viel schneller und hat Zeit für genau diese komplexen Überlegungen. Für uns beinhaltet fast jeder Unfall eine moralische Entscheidung.« […] »Das heißt aber auch«, sagt Peter, »du würdest statt einen siebenundneunzigjährigen Level-90-Milliardär lieber eine Gruppe Kindergartenkinder überfahren?« »Ich hab mich schon gefragt, wann du mit der Gruppe Kindergartenkinder um die Ecke kommst«, sagt Herbert lachend. »Seit einer, nun ja, etwas unglücklichen Entscheidung eines meiner Kollegen wird auch das Alter der potentiellen Opfer mit in die Berechnung einbezogen. Es hat inzwischen kaum jemand Überlebenschancen, wenn er gegen eine Gruppe Kindergartenkinder antritt.« (QL 154–156)

Diese volksaufklärerische Agenda des Romans macht auch vor der realen Gegenwart nicht Halt. Peters ungewöhnlicher Nachname, Arbeitsloser, basiert innerdiegetisch auf einer weiteren Idee einer Unternehmensberatung, um das neue Deutschland für den internationalen Wettbewerb zu rüsten. So werden die »mittelalterlich« klingenden, bisherigen Nachnamen dadurch ersetzt, dass »jeder Junge den Beruf seines Vaters als Nachnamen tragen muss und jedes Mädchen den Beruf seiner Mutter« (QL 10–11). Tatsächlich dient dieser Einfall vor allem dazu, die herkunftsbedingte Chancenungleichheit innerhalb moderner Gesellschaften zu veranschaulichen. Im Roman wird das Schicksal von Peter Arbeitsloser mit dem Politiker Martyn Vorstand kontrastiert, der nur aufgrund seines 473 Roberto Simanowski: The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas. London/Cambridge 2018.

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reichen Vaters Abgeordneter werden konnte (QL 21–28). Peter dagegen hat »Niemand«, der sich um ihn kümmert: »Niemand ist Peters persönlicher Assistent« (QL 12), eine individualisierte Software, die sich um die täglichen Belange in Peters Leben kümmert. Eine solche Software hat jeder Bewohner von QualityLand, wenn auch in unterschiedlicher Qualität. Unterstützt von Niemand hat Peter Arbeitsloser es gerade einmal zum Maschinenverschrotter gebracht. QualityLand wird so zu einer niederschwelligen Exemplifizierung jener intergenerationalen Chancenungleichheiten, die Soziologen wie Pierre Bourdieu und, in diesem Kontext noch relevanter, Raymond Boudon beschrieben haben.474 QualityLand, diese Mischung aus Satire und Dystopie, begnügt sich also nicht damit, problematische Trends der Gegenwart in die Zukunft zu extrapolieren, sondern greift auch das bereits bestehende Gesellschaftssystem frontal an. Dystopien sind zwar per definitionem politische Texte, doch in diesem Fall werden Forderungen nicht nur abstrakt und implizit durch die Schaffung von Warnszenarien gestellt, sondern auch offensiv und explizit erhoben. Als Vehikel der Kritik dient dem Roman ausgerechnet die künstliche Intelligenz John of Us. John ist eine absolute Gemeinwohlorientierung einprogrammiert worden (QL 247), die er nun als Politiker mit unerbittlicher Vernunft und Sachlichkeit verfolgt. Durch John greift der Roman Ideen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen oder einen flächendeckenden Negativzins auf Vermögen (QL 242–246) auf und lässt seine menschlichen Protagonisten verblüfft feststellen, dass eine konsequent verfolgte, absolute Gemeinwohlorientierung letztlich zu einem Umsturz des kapitalistischen Systems führen würde. Bald schon drängen die Großspender der Post-SPD daher auf eine Ablösung Johns als Kanzlerkandidaten: »Euer kleines Experiment ist gescheitert. Es wird Zeit, dass ihr euch das eingesteht. Ihr habt eine Verwaltungsmaschine bestellt und eine Umsturzmaschine geliefert bekommen« (QL 273). Sie können sich mit ihrer Intervention jedoch nicht durchsetzen. Während die Alternativen zum Kapitalismus in traditionellen Dystopien in der Regel noch anti-utopische Reaktionen ausgelöst haben,475 scheut sich QualityLand nicht, die Systemfrage mit utopischer Emphase zu stellen. Anders als in ›konstruktiven Dystopien‹ (vgl. 2.2) realisiert der Roman diese utopischen Potentiale auf fiktionaler Ebene jedoch nicht. In Deutschlands Nachfolgestaat wird auch kein Grundeinkommen oder ein flächendeckender Negativzins eingeführt

474 Vgl. hier insbesondere Raymond Boudon: L’inégalité des chances: la mobilité sociale dans les sociétés industrielles. Paris 1973. 475 Freilich darf hier nicht vergessen werden, dass sich George Orwell selbst als Sozialist bezeichnet hat und ab 1938 Mitglied der Independent Labour Party war, die anti-utopische Kritik am Kommunismus/Sozialismus also teilweise als Richtungsstreit innerhalb der sozialistischen Bewegung verstanden werden muss.

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(zumindest während des Intervalls III), sondern der Text propagiert diese Modelle nur auf einer theoretischen Ebene. 4.3.3.5 Die neue Selbstreflexivität der Gattung Ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren erwies sich letztlich als verantwortlich für die imaginierte dystopische Gesamtentwicklung, wie der Roman sie darstellt: Der technische Fortschritt stellt gerade im digitalen Bereich immer größere Handlungsoptionen in immer schnellerer Geschwindigkeit zur Verfügung. In einer kapitalistischen Welt werden diese Handlungsoptionen aber nur zur Profitmaximierung eingesetzt oder gleich von den konkurrierenden Nationalstaaten einer militärischen Verwendung zugeführt.476 Wie explosiv die gesellschaftliche Gesamtsituation im Roman aufgrund dieser einseitigen Beschleunigungstendenz bereits ist, darauf weist QualityLand ausgerechnet vor dem Hintergrund der dystopischen Gattungstradition hin (wobei nicht zwischen Dystopie und Science-Fiction unterschieden wird): »Wohltäter«, sagt sie. »Da sind Sie ja endlich wieder. Ich muss Ihnen etwas mitteilen! Ich habe ausgerechnet, dass vor zwei Jahren der Zeitpunkt erreicht worden ist, an dem technologische Entwicklungen im Schnitt früher eintreten, als von Science-FictionAutoren prognostiziert. Während vor diesem Zeitpunkt die meisten Autoren alles viel zu früh veranschlagt haben – ich erinnere nur an prophetische Fiaskos wie 1984 oder 2001 –, werden die neuen Prognosen fehlgehen, weil alles früher eintritt als gedacht. Was meinen Sie…« »Nicht jetzt«, sagt Peter. »Später.« (QL 234)

Hinter diesem Bezug zu bekannten Zukunftsnarrationen steckt aber mehr als nur eine Quelle für humoristische Auflockerungen. In Gestalt einer ›E-Poetin‹ mit Schreibblockade, einer KI namens »Kalliope 7.3« (QL 6), führt der Text ein metafiktionales Moment ein. Der Roman gibt sich an seinem Ende als Produkt Kalliopes zu erkennen, die ihre Blockade überwunden hat (QL 370–372). Als das angebliche Werk einer künstlichen Intelligenz spielt der Roman einerseits mit

476 Auch die einzelnen Individuen können sich dieser übermäßigen Nutzung digitaler Ressourcen nicht entziehen und bekommen durch den Roman einen Spiegel vorgehalten. Zum Beispiel besiegelt man in QualityLand Transaktionen nicht mehr per PIN oder Unterschrift, sondern per TouchKiss, einem Lippenabdruck auf dem Tablet (QL 18). Dieser Aspekt, dass nun die Individuen nicht mehr nolens volens von den dystopischen Elemente ihrer Lebenswelt ereilt werden, sondern dass sie sich ihnen willentlich ausliefern, findet sich auch in Infinite Jest und The Circle.

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seiner Medialität,477 vor allem aber dient diese Konstruktion als Aufhänger für Verweise auf Zukunftsnarrationen im Allgemeinen. »Die Bestsellerlisten anzuführen ist keine Kunst. Das ist nur EDV!« (QL 67), sagt Kalliope bei ihrem ersten homodiegetischen Erscheinen im Roman. Getreu diesem Motto setzt sie ihren Roman QualityLand zu einem nicht unerheblichen Teil aus Versatzstücken früherer Texte zusammen: Der unbedingt aufrecht zu erhaltende Glaube der fiktiven Bevölkerung an eine technikgestützte, fehlerlose Regierungsmethode (QL 344 und 359–360) und der Zwang zu gesunder Lebensführung durch die Krankenkasse (QL 61 und 105) sind als Anklänge an Corpus Delicti offensichtlich,478 die im Roman skizzierten Gefahren eines totalen Stromausfalls (QL 131) gemahnen an Blackout, die Verbindung von Identitätskrise, Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit (QL 176) an die Themen von Unterwerfung, eine digitale Superintelligenz mit Weltherrschaftsplänen taucht als Katahomenleandraleal bereits in Die Abschaffung der Arten auf. Der mit Abstand wichtigste Prätext des Romans ist darüber hinaus jedoch, wie gezeigt, The Circle.479 Diese massiven gattungsinternen Bezüge bleiben allerdings nicht allein auf Gegenwartstexte beschränkt. Auf George Orwell und Kurt Vonnegut (Player Piano) nimmt der Roman sogar mehrmals namentlich Bezug (QL 68, 109, 142, 234).

477 Dies etwa durch die zeitgleich erschienene helle und dunkle Version für Optimisten bzw. Pessimisten. Die beiden Versionen sollen die in Zukunft angeblich mögliche Personalisierung von Literatur abbilden, sie unterscheiden sich inhaltlich jedoch nur in den fiktiven Werbeeinschüben, die die Handlung immer wieder unterbrechen. Für die vorliegende Analyse spielen diese keine Rolle. 478 QL 359: »Das System hat seine Prognose angepasst, Frau Präsidentin«, sagt der Pfleger. »Ihnen bleiben noch sechzehn Tage.« »Das ist nicht gut, Jacques. Ich muss heute sterben. Die Leute beginnen eh schon, den Glauben an das System zu verlieren. Da kann ich nicht auch noch ankommen und sechzehn Tage nach dem errechneten Termin sterben. Das geht nicht Jacques. Da müssen wir was tun.« 479 Vor diesem dichten Netz aus Verweisen und Bezügen zu Dystopien der Gegenwart kann auch die Warnung eines Go spielenden Androiden vor einer »Analyse-Paralyse« (QL 133) als Bezug zu Infinite Jest gedeutet werden. Das aus dem asiatischen Raum stammende Spiel Go erinnert etwas an Schach, verfügt jedoch über noch deutlich mehr mögliche Stellungen und ist für Computer damit sehr aufwändig zu berechnen. Die sogenannte Analysis paralysis ist zwar ein allgemeiner psychologischer Fachbegriff, wird jedoch auch in Infinite Jest explizit erwähnt (z. B. bei IJ 203) und ist dort von großer Bedeutung. Im anspielungsreichen Roman QualityLand ist sie daher als Verweis auf Hal Incandenza plausibel, der als Mustercharakter dieses speziellen Paralyse-Zustands bezeichnet werden kann. Es ergibt sich hier eine bemerkenswerte Zirkelstruktur, da die Namensgebung des mit absurder Hochbegabung geplagten Hal in Infinite Jest ursprünglich als Anspielung auf den Supercomputer aus Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey namens HAL 9000 zu verstehen ist, sodass Hal Incandenza nun in dieser intertextuellen Verweiskette zum Bindeglied zwischen zwei Computern wird. QualityLand verweist an anderer Stelle auch explizit auf 2001: A Space Odyssey (QL 234).

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Von Umberto Eco stammt der Gedanke, dass jede Epoche früher oder später ein ›postmodernes‹ Stadium erreiche, das dann eintrete, wenn die innovativkünstlerischen Kräfte nicht mehr auf üblichem Wege, also durch Überwindung des Vergangenen, voranschreiten könnten.480 In diesem Moment setze laut Eco eine neue Phase ein: Ich glaube indessen, daß »postmodern« keine zeitlich begrenzbare Strömung ist, sondern eine Geisteshaltung oder, genauer gesagt, eine Vorgehensweise, ein Kunstwollen. Man könnte geradezu sagen, dass jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat […]. Ich glaube, daß man in jeder Epoche an Krisenmomente gelangt […]. Die Vergangenheit konditioniert, belastet, erpreßt uns. Die […] Avantgarde […] will mit der Vergangenheit abrechnen, sie erledigen. […] Es kommt jedoch der Moment, da die Avantgarde […] nicht mehr weitergehen kann […]. Die postmoderne Antwort […] besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld.481

Selbstverständlich bezieht sich Eco hier auf Großepochen und nicht auf einzelne literarische Gattungen. Dennoch zeigen sich beim Umgang von QualityLand mit der Gattungstradition einige Parallelen zu Ecos Theorie. Traditionelle Dystopien wie Nineteen Eighty-Four stellen dabei die Vergangenheit der Gattung dar. Die »Avantgarde«, die innovativen Kräfte innerhalb der Gattung – das sind die in dieser Arbeit untersuchten Dystopien der Gegenwart. Sie versuchen, die Vergangenheit der Gattung mit ihren neuartigen Inhalten und narrativen Verfahren zu ›überwinden‹ (vgl. 5.1 und 5.2). QualityLand geht über diesen Ansatz hinaus und ist somit das erste Indiz einer möglichen weiteren Wandlung. Die Geschichte der Dystopie – auch jene ›Überwindungsversuche‹ ab ca. der Jahrtausendwende – wird in dieser Dystopie bereits als bekannt vorausgesetzt. Es kommt daher in QualityLand nicht mehr bloß zu einem weiteren ›Überwindungsversuch‹; stattdessen wird hier der Versuch erkennbar, über intertextuelle Verfahren mit den Klassikern und aktuelleren Texten der Gattung ironisch und doch produktiv umzugehen. Setzt sich diese neue Umgangsweise mit der Gattungstradition durch, dann stellt dies einen fundamentalen Wendepunkt in der Geschichte der Dystopie dar. Den Prototypen der Gattung sind solche intertextuellen Spielereien nämlich gänzlich fremd482 und auch die ›Überwindungsversuche‹ durch die Gegenwartsdystopien vollziehen sich in aller Regel nur durch implizite Abgrenzungen von den Prätexten. QualityLand dagegen setzt sich nicht nur exzessiv, sondern 480 Vgl. Eco, Nachschrift, S. 76–79. 481 Eco, Nachschrift, S. 77–78; »Kunstwollen« im Original deutsch. 482 Fahrenheit 451 etwa verweist trotz aller Beeinflussung nie explizit auf Nineteen Eighty-Four, wo wiederum nie explizit auf Brave New World verwiesen wird.

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nun auch explizit mit der eigenen Gattung auseinander und zwar überwiegend in Form eines ironischen Spiels. Der Text steht dadurch für den erstmaligen Eintritt der Dystopie in eine selbstreflexive Phase (vgl. Kap. 1 und 5.3).483 4.3.3.6 QualityLand: Mehr als nur ein EDV-basierter Bestseller (Fazit) Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass QualityLand, entgegen der selbstironischen Aussage Kalliopes, eben doch mehr ist als nur ein EDV-basierter Bestseller. Die gattungsgeschichtlichen Anleihen des Textes sind keine plumpen Nachahmungen aufgrund von eigener Ideenlosigkeit. Als produktive Auseinandersetzung mit der eigenen Gattung werden sie in die übergeordnete Stoßrichtung des Textes eingebaut und zu etwas Neuem formiert. Verstetigen sich diese Trends auch in anderen Dystopien, so markiert QualityLand den Übergang der Gattung in eine ganz neue, selbstreflexive Phase. Thematisch warnt der Roman insbesondere vor der Machtakkumulation, die mit der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenzen potentiell einhergeht. Hier liegt aus Sicht des Textes die größte Gefahr durch die zunehmende Digitalisierung, die die bekannte Digital-Dystopie The Circle noch gar nicht berücksichtigt hat. Im Gewand eines Unterhaltungswerks zeigt sich letztlich ein ernstes, aufklärerisches und in seiner Wirkabsicht ambitioniertes Exemplar politischer Literatur, das mit Blick auf die Zukunft sein warnendes und mit Blick auf die Gegenwart sein sozialkritisches Potential einzusetzen versucht.

4.4. Block IV: Relevante Romane jenseits der Gattungsdefinition Überblickt man das weite Feld der zeitgenössischen utopisch-dystopischen Literatur, so fällt auf, dass es gegenwärtig nicht nur eine Reihe von Dystopien im engeren Sinne gibt, die die definitorischen Grenzen der Gattung teilweise überschreiten (z. B. IJ oder CD) und somit an die sonstigen dystopischen Texte heranrücken, sondern dass es gleichzeitig markante Beispiele für utopisch-dystopische Texte gibt, die selbst keine extrapolierenden Dystopien sind, aber starken Bezug zu den boomenden Dystopien nehmen. Zwei Beispiele für solche Romane werden im Folgenden an die Analysen der Dystopien im engeren Sinne angeschlossen.

483 Für die Dystopie als literarhistorische Textsorte ist dies auch ein Alarmsignal, kündigt eine solch ›postmoderne‹ Phase doch möglicherweise einen großen Paradigmenwechsel und ein allmähliches Ende des Booms – zumindest in seiner heutigen Form – an.

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Dazu wird durch die Beschäftigung mit Kazuo Ishiguros Never Let Me Go (2005) ein Blick auf die utopisch-dystopische Subgattung der Alternativhistorien484 geworfen. Auch in diesem Bereich kam es in den letzten Jahrzehnten zu wichtigen Veröffentlichungen. Zu nennen sind hier neben dem ausgewählten Roman etwa Morbus Kitahara (Christoph Ransmayr, 1995) oder Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (Christian Kracht, 2008). Durch den Film Inglourious Basterds (Quentin Tarantino, 2009) ergibt sich auch im Bereich der Alternativhistorien eine intermediale Überschneidung. Dass im Folgenden Never Let Me Go analysiert wird, liegt daran, dass dieser Text aus thematischen Gründen für eine extrapolierende Dystopie eigentlich prädestiniert scheint – und dennoch einen anderen Weg gewählt hat. So kann an diesem Beispiel ex negativo der Frage nachgegangen werden, welche möglichen narrativ-konzeptionellen Schwierigkeiten sich beim Entwurf von Dystopien im engeren Sinne ergeben. Vor allem aber soll so die unterschiedliche Wirkung von extrapolierenden Dystopien und sonstiger dystopischer Literatur exemplarisch herausgearbeitet werden. Der zweite in diesem Block untersuchte Roman, Die Abschaffung der Arten (2008), ist weniger eine Utopie oder Dystopie als vielmehr ein Text über Utopien und Dystopien. Dem Feld der boomenden Dystopien wird in diesem Fall also nicht einfach ein weiterer Text hinzugefügt, sondern es wird in ihm eine MetaPosition gesucht, aus der heraus die Prämissen für utopisches bzw. dystopisches Denken und Erzählen an sich thematisiert und reflektiert werden können.

4.4.1 Never Let Me Go (Kazuo Ishiguro, 2005): Allegorische Wahrheit statt Extrapolation After the war, in the early fifties, when the great breakthroughs in science followed one after the other so rapidly, there wasn’t time to take stock, to ask the sensible questions. Suddenly there were all these new possibilities laid before us, all these ways to cure so many previously incurable conditions. […] And for a long time, people preferred to believe these organs appeared from nowhere […]. NG 257

484 Alternativhistorien imaginieren einen fiktiven Gesellschaftsentwurf und sind somit Bestandteil der utopisch-dystopischen Texte. Statt wie bei Dystopien im engeren Sinne blicken die Rezipient:innen hier aber nicht in die Zukunft, sondern in eine alternative Vergangenheit. Ein beliebtes Sujet innerhalb dieser Subgattung ist z. B. eine Weltordnung nach dem Sieg des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg.

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4.4.1.1 Leitfrage und Forschungsstand Um ungeahnte medizinische Fortschritte zu ermöglichen, werden in einer nicht allzu fernen Zukunft im großen Stil Menschen geklont, in speziellen Heimen aufgezogen und im jungen Erwachsenenalter so lange zu Organspenden herangezogen, bis sie schließlich versterben; während der Phase der Spenden werden sie von anderen Klonen betreut, die dadurch die Zeitspanne bis zu ihrer eigenen ersten Transplantation verlängern können. Einen solch klassisch-dystopischen Ansatz wählt Never Let Me Go gerade nicht. Zwar wurden in der obigen Beschreibung die Umrisse des fiktiven Weltentwurfs nicht verändert, statt in der Zukunft wird die Handlung jedoch in der Vergangenheit angesiedelt: »England, late 1990s« (NG vi) heißt es ganz zu Beginn des 2005 erschienen Romans,485 der damit zu einer Alternativhistorie wird. Dies impliziert das vollständige Fehlen eines prognostischen Gestus; im Sinne der Arbeitsdefinition handelt es sich daher zwar um einen dystopischen Text, nicht aber um eine Dystopie im engeren Sinne. Grundlegend für das Folgende ist die Annahme, dass die Situierung dieses Romans in der Vergangenheit nicht zufällig geschieht, sondern gewisse Vorteile für die Narration mit sich bringt, die herauszuarbeiten sind. Anders als in den übrigen Analysen, die vor allem die verschiedenen Wirkmöglichkeiten von Dystopien aufgezeigt haben, kann daher anhand von Never Let Me Go exemplarisch der Frage nachgegangen werden, welchen Einschränkungen Dystopien im engeren Sinne unterliegen. Auch das Verhältnis von extrapolierenden Dystopien zu sonstig dystopischen Texten soll an diesem Beispiel thematisiert werden. Daher wird der Fokus hier nicht auf dem offensichtlich dystopischen Weltentwurf liegen,486 sondern auf der zeitlichen Situierung dieses Entwurfs und der durch sie implizierten Absage an den prognostischen Gestus, der Dystopien im engeren Sinne eigen ist. In der Forschungsliteratur zu Ishiguros Roman ist dieser Aspekt bislang kaum explizit verhandelt worden, allerdings ergeben sich über die Beschäftigung mit der Zeit- und Erzählstruktur dennoch einige Anknüpfungspunkte. Wird in der Sekundärliteratur tatsächlich die Frage verhandelt, wieso Never Let Me Go nicht als klassische Dystopie konzipiert ist, so zeigen sich zwei unterschiedliche, grundsätzlich aber miteinander kompatible Ansätze: Während Mark Currie die Abkehr von einer Zukunftsperspektive als relevant für die metaphorische bzw. allegorische Bedeutungsebene des Romans betrachtet,487 interpretiert John Mullan 485 Diese zeitliche Verortung ist in der Erstausgabe bei Knopf noch nicht enthalten, taucht in den späteren Auflagen bei Faber and Faber aber durchgängig auf und wird daher im Folgenden nicht als einmaliges Versehen, sondern als ›autorisiert‹ betrachtet. 486 Sehr ausführlich ist dieser aufgeschlüsselt bei Gonnermann, Absent Rebels, S. 257–297. 487 Vgl. Currie, Controlling Time, S. 92–93.

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diese Abkehr als Flucht vor einem narrativen Schematismus in der Tradition von Orwells Nineteen Eighty-Four.488 Die Stichhaltigkeit beider Aspekte wird hier aufgezeigt werden. Curries Ansatz erweist sich für die folgende Analyse allerdings als relevanter: Die Abkehr von einem prognostischen Gestus durch die Verlegung der Handlung in die Vergangenheit verleiht Never Let Me Go, so die Leitthese, eine ungleich höhere Interpretierbarkeit bzw. Deutungsoffenheit. Im Vergleich zu den Dystopien im engeren Sinne haben es die sonstigen dystopischen Texte leichter, auf einer tieferen, nicht-faktischen,489 metaphorischen Ebene ›Wahrheit‹ herzustellen. 4.4.1.2 Grundzüge der Handlung und des Weltentwurfs Im Zentrum der Romanhandlung stehen vor allem die homodiegetische Erzählerin Kathy sowie ihre Freunde Ruth und Tommy. Alle drei sind Kollegiaten im Internat Hailsham, in dem Klone unter besseren Bedingungen aufwachsen sollen als in den staatlichen Heimen. Dass sie Klone sind und dass von ihnen schlussendlich Organspenden erwartet werden, erfahren die drei Hauptpersonen und ihre Mitschüler erst nach und nach. Obwohl sie sich wünschen, einen zeitlichen Aufschub für ihre Spenden zu bekommen, akzeptieren die Kollegiaten ihre bereits vor der Geburt festgelegte Bestimmung grundsätzlich. Der Roman zeigt anhand der Internatsschüler typische Entwicklungsprobleme während der Adoleszenzphase auf und stellt so die menschliche Natur der Klone heraus. Die ehemalige Leiterin des letztlich gescheiterten Hailsham-Projekts verbalisiert die Grundzüge der dystopischen Welt: After the war, in the early fifties, when the great breakthroughs in science followed one after the other so rapidly, there wasn’t time to take stock, to ask the sensible questions. Suddenly there were all these new possibilities laid before us, all these ways to cure so many previously incurable conditions. This was what the world noticed the most, wanted the most. And for a long time, people preferred to believe these organs appeared from nowhere […]. There was no way to reverse the process. How can you ask such a world that has come to regard cancer as curable, how can you ask such a world to put away that cure, to go back to the dark days? There was no going back. […] So for a long time you were kept in the shadows, and people did their best not to think about you. And if they did, they tried to convince themselves you weren’t really like us. That you were less than human, so it didn’t matter. (NG 257–258, eigene Hervorhebungen)

488 Vgl. Mullan, On First Reading, S. 104–106. 489 Natürlich kann auch den Dystopien im engeren Sinn keine eigentliche Faktentreue nachgesagt werden. Über das extrapolierende Verfahren – mit wievielen künstlerischen Freiheiten es auch immer ausgestaltet wird – ist die Dystopie im engeren Sinn dennoch deutlich stärker an die Realität angebunden als die sonstigen dystopischen Texte.

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Alleine diese Textstelle enthält eine Vielzahl gängiger dystopischer Topoi: Das Misstrauen vor neuen wissenschaftlichen Errungenschaften und die damit einhergehende Vergrößerung menschlicher Handlungsoptionen, daneben Ausbeutungs- und Dehumanisierungsprozesse, sowie die Unumkehrbarkeit von moralischen Grenzverletzungen. Noch einmal zeigt sich hier, dass Never Let Me Go sämtliche Elemente einer klassischen Dystopie enthalten würde.490 Auch das Schicksal der Hauptfiguren endet tragisch: Zunächst erliegt Ruth ihren wiederholten Organspenden, dann begleitet Kathy Tommy, mit dem sie eine Liebesbeziehung eingegangen ist, bis zu seiner letzten Spende, ehe sie selbst vermutlich ihrer ersten Transplantation entgegengeht. 4.4.1.3 Vielfältige Zeitbezüge und der Wahrheitsanspruch dahinter Die zeitliche Verortung der fiktiven Welt von Never Let Me Go ist komplexer, als es mit Blick auf die eigentlich eindeutige Festlegung zu Beginn (»England, late 1990s« (NG vi)) den Anschein hat. Diese Festlegung bezieht sich nämlich durch ihre Voranstellung auf den Roman als Ganzes. Die Romanhandlung umfasst jedoch ca. zwei Jahrzehnte und der Fokus liegt dabei einerseits auf der mehrjährigen Jugendphase der Protagonisten in Hailsham und andererseits auf der deutlich späteren Phase der Organspenden von Ruth und Tommy. Die zeitlich eigentlich klare Festlegung der Handlung auf die späten 1990er-Jahre wird so zum Paradox, da sich nicht die gesamte Handlung in den 1990er-Jahren abgespielt haben kann. Auf einen vereindeutigenden Klärungsversuch dieses Umstands wird hier verzichtet; vielmehr wird das Spiel mit unterschiedlichen Zeitbezügen in Never Let Me Go als planvoll aufgefasst und in die Interpretation integriert. Denn die genaue Datierbarkeit des dystopischen Weltentwurfs scheint keine Rolle zu spielen, entscheidend scheint nur zu sein, dass die alternativweltliche Spiegelung in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft stattfindet. Wieso aber wird eine solche Zukunftsperspektive und damit auch ein prognostischer Gestus 490 Auch der Umstand, dass der dystopische Staat nun kapitalistisch und nicht mehr – wie noch bei Orwell – sozialistisch organisiert ist, ist noch keine Abweichung von der Gattungstradition per se, wie beispielsweise Gonnermann andeutet (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 21). Es gibt in der Dystopietradition auch einen (kleineren) Strang, an dem sich eine kapitalismuskritische Dystopie wie Never Let Me Go orientieren kann (vgl. z. B. die Bezüge von Never Let Me Go zur instrumentell-ökonomischen Vernunft in Brave New World). Bezüglich der Wirtschaftsform in Never Let Me Go sind Gonnermanns Beobachtungen dennoch relevant, da sie über den Kapitalismus-Kontext die Verbindung zu Netzwerktheorien schlägt und aufzeigen kann, dass in Never Let Me Go ein weiterer dystopischer Text vorliegt, in der die dystopische Negativität eben nicht mehr zentral organisiert ist, sondern sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus ergibt (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 275, S. 281, S. 285–291 und S. 296–297).

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in diesem Roman vermieden? Mullan argumentiert, es handle sich hierbei um eine Flucht vor den Konventionen der Gattung: Wäre die Handlung in der Zukunft angesiedelt, müsste – zumindest im Sinne der Gattungstradition – ein Ausbruchsversuch, also eine Rebellion gegen das System, usw. erfolgen.491 Diese bleibt im Roman jedoch auf auffällige Weise aus, die Klone begehren nicht auf. Die Abwendung von einer Zukunftsperspektive sei also als Absage an das Korsett der Gattungskonventionen zu verstehen.492 Diese Position erscheint grundsätzlich plausibel, andererseits zeigen die hier bereits analysierten Dystopien der Gegenwart, dass eine dystopische Extrapolation nicht (mehr) zwingend mit einer Erfüllung des prototypischen Handlungsschemas einhergehen muss. Im Gegenteil hätte die Wahl eines klassischdystopischen, extrapolierenden Ansatzes das Nichtaufbegehren der Klone besonders markieren können. Auf ähnliche Weise setzen mehrere der hier analysierten Romane die der Gattung innewohnenden Lesegewohnheiten und Erwartungen gezielt ein, um durch ihre Brechungen Kontrasteffekte zu erzielen (vgl. insbesondere IJ, UN, TO, TC). Hier kommt es nicht zu einem solchen Vorgehen. Relevanter scheint die Deutung Curries zu sein, eine Zukunftsperspektive hätte die metaphorische bzw. allegorische Bedeutungsaufladung des Romans untergraben.493 Als extrapolierende Dystopie wäre der Roman vermutlich in erster Linie zu einer Warnung vor dem Klonen von Menschen geworden. Das bereits stattfindende Klonen von Tieren oder die Pränataldiagnostik beim Menschen hätten reale Ausgangspunkte einer Extrapolation werden können, durch die das Klonen von Menschen als konsequenter Endpunkt einer langfristigen Entwicklung erschienen wäre. Als Alternativhistorie geht die Interpretierbarkeit von Never Let Me Go über eine solche Linearität jedoch weit hinaus. Der Roman zeigt Ausbeutungsprozesse in ihrer extremsten Form und stellt diese als beständiges, omnipräsentes Phänomen menschlichen Zusammenlebens dar.494 Die Warnung vor einer solch extremen Ausbeutung durch das Klonen von Menschen in der Zukunft hätte der Vergangenheit und der Gegenwart also eine Exkulpation zukommen lassen, die ihnen aus Sicht des Textes nicht zustehen. Überraschenderweise erweist sich also in diesem Fall gerade die Verlegung der Handlung von einer möglichen Zukunft in eine nicht-reale Vergangenheit als Mittel, das kritische Potential des Romans stärker zu entfalten. Am Ende des Romans erfahren Kathy und Tommy von dem fiktiven Morningdale-Skandal. Ein James Morningdale habe die Gentechnik nicht mehr ge491 Vgl. Mullan, On First Reading, S. 104. 492 Vgl. Mullan, On First Reading, S. 104. 493 Vgl. Currie, Controlling Time, S. 92–93, Willems, Facticity, Poverty and Clones, S. 15, Lewis, The concertina effect, S. 209. 494 Vgl. De Boever, Narrative Care, S. 60–61.

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nutzt, um Klone als Organspender zu züchten,495 sondern um Eltern intelligentere und gesündere Kinder zu bescheren (NG 258–259). Über diesen fiktiven Skandal schlägt der Roman somit doch noch einen Bogen zur realen Gegenwartsdebatte (etwa um die Pränataldiagnostik) und zu einer möglichen Zukunft mit gentechnisch optimierten Nachkommen. Bezüglich der Zeitbezüge kann bei Never Let Me Go damit zwar nicht von ›Simultaneität‹ gesprochen werden (also der narrativen Überblendung verschiedener Zeitschichten), doch durch die vielfältigen thematischen Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und durch die unspezifische oder gar paradoxe zeitliche Situierung der Handlung ergibt sich ein ähnlicher Effekt. Diese Unübersichtlichkeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt die metaphorische Aufladung des Textes noch stärker hervortreten; jenseits der Handlungsebene ist im Roman ein übergeordneter Wahrheitsanspruch auszumachen, der sich nicht auf faktische Wahrheit bezieht.496 4.4.1.4 Die Vergangenheitsperspektive als doppelter Ausweg (Fazit) Durch die kurze, schlaglichtartige Beschäftigung mit Never Let Me Go wurde deutlich, dass Alternativhistorien in noch höherem Maße ›Nicht-Orte‹ sind als Dystopien im engeren Sinn; letztere entwerfen eigentlich ›Noch-nicht-Orte‹. Aus diesem Noch-Nicht ergeben sich die Möglichkeiten und Grenzen der extrapolierenden Dystopie: Sie verdichtet problematische Trends zu einem warnenden Schreckensszenario, gleichzeitig jedoch schränkt der Gestus einer Prognose die metaphorische oder allegorische Bedeutungsaufladung ein. Beispielhaft kann dies schon bei Orwell aufgezeigt werden, dessen dystopischer Text Animal Farm stark gleichnishafte Züge trägt, während das Zukunftsszenario bei Nineteen Eighty-Four die metaphorische Aufladung des Textes einschränkt. Gleichwohl müssen sich auch die Dystopien im engeren Sinne nicht erst auf einer faktischen Ebene realisieren, um ›wahr‹ zu werden, da auch sie als Spiegel der Gegenwart konzipiert sind und nicht als tatsächliche Prognosen missver495 Vgl. im Übrigen die zum selben Zweck geschaffenen Pigoons in Atwoods Oryx and Crake. 496 Mit dem erstmaligen Klonen von Menschen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. oben NG 257–258) wird ein Zivilisationsbruch imaginiert, der so nicht stattgefunden hat, der aber vor dem Hintergrund des Holocaust und von Hiroshima dennoch einen auf die Realität verweisenden Rahmen erhält. Dass der Roman ausgerechnet in den späten 1990er-Jahren angesiedelt ist, mag auch mit dem ersten gelungenen Klonen eines Säugetiers, dem Schaf Dolly, im Jahr 1996 zusammenhängen und somit von jenem ›Möglichkeitsdenken‹ zeugen, das für die gesamte utopische Gattung bestimmend ist. Bereits kurz nach diesem Ereignis hielt die US National Bioethics Advisory Commission fest, das nun wohl auch mögliche Klonen eines Menschen sei nicht nur moralisch falsch, sondern »almost unimaginable« (zit. n. Willems, Facticity, Poverty and Clones, S. 24) – genau dies jedoch macht sich der Roman zur Aufgabe.

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standen werden dürfen (vgl. 2.4). Bei den sonstigen dystopischen Texten ist dieses spiegelhafte Wesen aber offensichtlicher; sie werden auf einer metaphorischen bzw. allegorischen Ebene eher als ›wahr‹ betrachtet, eben weil sie auf einer faktischen Ebene ostentativ unwahr sind. Mit den anderen der hier untersuchten Texten teilt Never Let Me Go allerdings das Bestreben, sich von den prototypischen Dystopien des 20. Jahrhunderts zu emanzipieren.497 Weil der Weltentwurf in diesem Roman aber über so klassischdystopische Topoi verfügt, ist eine solche Emanzipation besonders schwierig. Die Wahl der Vergangenheitsperspektive wird so in zweifacher Hinsicht zu einem Ausweg: Einerseits aus einem erzähltechnischen Schematismus und andererseits aus einer eingeschränkten Bedeutungsaufladung. So lassen sich an diesem Gegenbeispiel zentrale narrative Probleme erkennen, denen sich die Dystopien im engeren Sinne zu stellen haben. Den Ausweg, den sich Never Let Me Go durch die Wahl der Vergangenheitsperspektive schafft, müssen sie allerdings auf anderem Wege finden.

4.4.2 Die Abschaffung der Arten (Dietmar Dath, 2008): Träumereien von fortschreitendem Stillstand Wann immer ein Rezensent nicht weiterkommt, greift er zu der Floskel von der »Traumlogik«, der ein Roman angeblich folgt. Das heißt übersetzt: Der Rezensent hat den Roman nicht verstanden, seine inneren Zusammenhänge nicht erkannt – oder aber erkannt, dass der Roman keine inneren Zusammenhänge hat. Das aber würde er niemals zugeben. Christoph Schröder498

4.4.2.1 Forschungsstand und Interpretationsansatz Obwohl Die Abschaffung der Arten zu den bekanntesten Romanen Dietmar Daths zählt und 2008 in die Shortlist des Deutschen Buchpreises aufgenommen wurde, hat eine wissenschaftliche Aufarbeitung des aufgrund seiner Komplexität schwer zugänglichen Textes bislang nur in begrenztem Umfang stattgefunden. So liegen lediglich einige wenige Aufsätze zum Roman vor. 497 Gonnermann arbeitet hier sehr ausführlich und präzise das markante Fehlen einer Rebellion heraus, das bei den Leser:innen einen starken Eindruck zu hinterlassen scheint (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 258–259. Auch dadurch hat sich Never Let Me Go weit von klassischen Gattungskonventionen entfernt. 498 Aus einem Artikel von Christoph Schröder mit dem Titel Träume und Räume vom 07. 08. 2010 im Tagesspiegel. Online abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/traeume -und-raeume/1899220.html (letzter Abruf am 03. 09. 2019).

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Wie der Titel des Romans, eine Anspielung auf Darwins On the Origins of Species, bereits erahnen lässt, spielen Evolution und verschiedene Evolutionstheorien im Text eine entscheidende Rolle. Die bisher vorliegende Forschungsliteratur versucht zumeist, diese naturwissenschaftlichen Bezüge zu erschließen und setzt sich daher intensiv mit einzelnen Theorien evolutionärer Entwicklung auseinander.499 Nachfolgend wird ein abweichender Interpretationsansatz vertreten, der die im Roman vorkommenden Evolutionstheorien als metaphorische Auseinandersetzung mit der Entwicklungsfähigkeit menschlicher Gemeinwesen betrachtet und somit den Fokus von den naturwissenschaftlichen auf die gesellschaftspolitischen Aspekte lenkt. Dazu wird, nach dieser ersten Hinführung, im zweiten Abschnitt ein Überblick über die teils verworrene Romanhandlung gegeben. Im Zuge dessen wird auch erläutert, warum dieser Text nicht als Dystopie bezeichnet und in einen der vorderen Blöcke eingereiht wird. Im dritten Abschnitt wird diskutiert, welche Sicht auf menschliches Zusammenleben sich aus der surreal-enthobenen Position des Romans ergibt. Die Abschaffung der Arten wird dabei als weiteres und in gewisser Weise als reflektiertestes Beispiel für Literatur in ›postutopischer‹ Zeit interpretiert. Auch dieser Text konstatiert nämlich jenes Dilemma, wonach utopisches Denken aus einer historischen Perspektive gescheitert ist, für eine langfristig stabile Gesellschaftskonstitution zugleich jedoch unverzichtbar scheint. Der Roman bleibt an diesem Punkt jedoch nicht stehen. Die vorliegende Analyse setzt sich im vierten Abschnitt mit der Konzeption eines ›aufgeklärten Utopismus‹, wie der Text sie vornimmt, auseinander. Darauf aufbauend wird im fünften Abschnitt die These vertreten, dass der Roman verschiedene Evolutionstheorien metaphorisch auf die historische Menschheitsentwicklung bezieht. Er entwirft eine Synthese aus optimistischen und pessimistischen Geschichtsbildern und geht bei der Menschheitsentwicklung von einer Gleichzeitigkeit fortschrittlicher und regressiver Tendenzen aus. Der sechste Abschnitt bündelt als Fazit die Ergebnisse der Analyse und interpretiert den Roman als Vertreter eines ›postutopischen Utopismus‹ mit einer trotz aller Einschränkungen eher optimistischen Grundhaltung. 4.4.2.2 Grundzüge der Romanhandlung und des Weltentwurfs Die Handlung des Romans ist unkonventionell konzipiert, vielschichtig und könnte wohl als ›Science-Fiction-Surrealismus‹ bezeichnet werden. Die ›Gente‹, Lebewesen in Tiergestalt, aber mit menschlichem Bewusstsein, haben den homo sapiens als Herrscher über die Erde abgelöst und versuchen nun, einer idealen Gesellschaftsordnung möglichst nahe zu kommen. Die Gente betrachten sich als 499 Vgl. etwa Borgards, Evolution als Experiment, S. 221–223.

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Überwinder der als ›Langeweile‹ bezeichneten Ära der Menschheit, gleichzeitig werden sie aber von einer künstlichen Intelligenz, einer turmhohen Rechenmaschine, in ihrer Existenz bedroht. Es kommt zu einem futuristischen Krieg (die von dem gigantischen Computer erschaffene Armee agiert sogar in mehr als nur drei Dimensionen) und schließlich zur Vernichtung der Gente auf der Erde. Zuvor gelingt es jedoch einer Gruppierung innerhalb der Gente, Nachkommen der Hauptpersonen Dmitri und Lasara auf Mars und Venus anzusiedeln. Der Roman tauscht nun sein Personal fast vollständig aus und beschreibt die Vorbereitung dieser Gente-Sprösslinge auf ihre rätselhafte Mission, nämlich der Suche nach einem mysteriösen »Wetzelchen«. Diese Suche führt die neuen Hauptfiguren, genannt Feuer und Padmasambhava, schließlich zurück zur Erde, die sich in einem merkwürdig statischen Zustand außerhalb der Zeit befindet.500 Hier können die beiden neuen Hauptpersonen erstmals ein völlig selbstbestimmtes Leben führen. Als Drahtzieher hinter allen Umwälzungen seit Erschaffung der Gente erweist sich schließlich ein ursprünglich menschliches Trio aus einem Wissenschaftler, einem Finanzier und einer Komponistin namens Cordula Späth501; mehr noch als bei den männlichen Bestandteilen des Trios laufen bei dieser die Handlungsfäden zusammen. Sie kann sich am Ende des Textes außerhalb von Raum und Zeit bewegen, erreicht also ebenfalls ein Höchstmaß individueller Freiheit. Während der gesamten Romanhandlung – die sich über 550 Seiten erstreckt, weit über eintausend Jahre fiktiver Handlung abdeckt und in der offenbar nichts ganz unmöglich ist – werden von ganz verschiedenen Gruppen eine Vielzahl utopischer (bzw. auch unbeabsichtigt dystopischer) Gesellschaftsmodelle angenommen und somit vom Roman durchgespielt. Nicht die verworren-phantastische Handlung an sich, sondern dieses Experimentieren mit utopischen bzw. dystopischen Gesellschaftsordnungen macht das Wesen des Textes aus. Die Charakterisierung des Romans durch Anja Gerigk ist somit nur halb zutreffend: Er [der Text] verstößt gegen eine der dystopischen Grundregeln: den ökonomischen, ebenso effektiven wie sparsamen Einsatz von Erzählmitteln. Schulmäßig beherzigen Klassiker wie Orwell und Huxley, nicht minder Zehs Corpus Delicti die Maxime, den Leser kompakt in den dystopischen Zustand einzuführen, ihm die für den Konflikt relevanten Institutionen und Figuren möglichst knapp und übersichtlich vor Augen zu führen; dasselbe gilt nun für die räumliche Ordnung des Sozialen.502

Gerigk interpretiert Die Abschaffung der Arten als »dystopische[n] Text mit utopischen Komponenten« und vergleicht ihn mit bekannten Dystopien.503 Die 500 501 502 503

Vgl. Nitzke, Animal Spirits, S. 80. Weibliche Figuren dieses Namens treten regelmäßig in Romanen Daths auf. Gerigk, Die ideale Geliebte, S. 10. Gerigk, Die ideale Geliebte, S. 10.

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vorliegende Interpretation entfernt sich von einem solchen Ansatz. Der Roman, so die These, verarbeitet eine Vielzahl ganz heterogener utopischer Gesellschaftsentwürfe und schafft dadurch einen Raum für Reflexionen über das Utopische und Dystopische. Die Abschaffung der Arten ist daher so wenig eine echte Utopie bzw. Dystopie wie Cervantes’ Don Quijote ein echter Ritterroman ist. Es handelt sich vielmehr um ›Metatexte‹504 – auch wenn dieser Begriff sonst in einer anderen Bedeutung verwendet wird, scheint er für die Beschreibung solcher Texte passend zu sein. Er soll hier Texte bezeichnen, die eine ganzes literarische Gattung zum Gegenstand haben, ohne selbst Teil dieser Gattung zu sein (dies der entscheidende Unterschied zu QualityLand). Daths Roman handelt von vielen unterschiedlichen literarischen und politischen Utopien, sowie deren stets drohendem Umschlag ins Dystopische, sodass der Text selbst weder eine Utopie noch eine Dystopie ist,505 sondern zu einem Roman über Utopien und Dystopien wird. Dabei wird der gängigen Erwartung an einen Roman nach innerer Kohärenz auf der Handlungsebene nicht entsprochen. Stattdessen kommt es immer wieder zu Handlungsbrüchen und zur Imagination einer technischen Entwicklung, die die Grenzen zur Phantastik überschreitet. Wenn das Ergebnis im Folgenden als »Traumlogik« bezeichnet wird, so soll dies jedoch nicht implizieren, dass der Roman über keine »inneren Zusammenhänge« verfügen würde (vgl. das Eingangszitat). Der Text wird durchaus von einer inneren Logik strukturiert, allerdings darf man diese nicht auf der Ebene der verwirrend-phantastischen Handlung suchen; stattdessen muss ›traumdeuterisch‹ gefragt werden, welche tieferen Strukturen sich hinter diesem chaotischen Welt- und Handlungsentwurf abzeichnen. Durchgängig sichtbar wird im Text die Ablehnung einer als alternativlos empfundenen Zukunft, der der Roman daher offensiv »Zukünfte« entgegen-

504 Auf die Tradition literarischer Utopien und Dystopien wird im Text mehrfach angespielt; so etwa auf Animal Farm (AA 127), The Island of Doctor Moreau (AA 292), Brave New World (AA 343 und 379) und Die Gelehrtenrepublik (AA 543). Typisch utopische Elemente zeigen sich etwa bei der hohen Bedeutung idealer Städte, die im ganzen Roman zu finden ist. Zugleich finden sich den Utopismus symbolisierende Topoi, die in der Welt des Romans zur Realität werden – etwa wenn die Fische durch gemeinsame Anstrengung flugfähig werden und die Lüfte erobern (AA 203). Der für den Roman wichtigste Vorgängertext ist aber wohl H. G. Wells’ The Time Machine, da auch dies ein »Zukunftsroman [ist], der von Fernem und Fernstem handelt« (Borgards, Evolution als Experiment, S. 219; hier bezogen auf AA). Gerade diese Bilder von fernsten Zukünften neigen zum Parabelhaften und Allegorischen. 505 Bezieht man die Zuschreibung des Romans als eine Utopie bzw. Dystopie auf das Gemeinwesen der Gente, das in der ersten Hälfte des Romans den größten Raum erhält, so bleibt die Vielzahl an sonstigen Gemeinschaftsordnungen innerhalb des Romans unberücksichtigt. Die Abschaffung der Arten ist also keine Utopie oder Dystopie, sondern versammelt Utopien und Dystopien. Vgl. hierzu auch Nitzke, Animal Spirits, S. 82.

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setzt.506 Ein wiederkehrendes Stilmittel ist dabei das Spiel mit der Grenze zwischen möglich und unmöglich. Diese Grenze wird mehrfach durch eine Aufhebung des Unmöglichen verletzt. So werden gewohnte Denkschemata gestört und die Frage, was es überhaupt zu wollen gibt, stellt sich für die Romanfiguren, für die alles möglich zu sein scheint, in fast völliger Unbegrenztheit: »Wo steckt er also? Der Boß?« »Es ist, wie die Leute sagen: Ryuneke Nirgendwo. Sie könnten auch sagen: Ryuneke Überall. Wo du ihn vermutet hast, in Dämpfen und Flüssigkeiten. Er muß aufpassen, daß es ihn nicht mehrfach gibt, daß er sich nicht in die Quere kommt.« […] »Und seine gesamte Person ist…« »I wo«, meckerte der Bote schwer belustigt, »Gesamtperson, darüber ist er hinaus. […] Die Regel, aus deren Befolgung bei der kunstgerecht durchgeführten Selbstreplikation des Ankers unweigerlich das Muster werden muß, das er bei seinem letzten wachen Hiersein war, ist seine Signatur und sein Selbst, also vergiß die, hehe, Gesamtperson.« »Doll.« (AA 119–120) »Du wärst längst freiwillig in Katahomenleandraleal [die künstliche Intelligenz] aufgegangen, wenn du nicht sehr daran hängen würdest, du zu sein.« »Vielleicht. Andererseits: Was, wenn ich nur was mit mir auszumachen hatte, bis jetzt noch? Vielleicht muss ich mit mir ins reine kommen, mit dem, was von mir stammt, meinen Töchtern und Söhnen, und dann…« (AA 232)

Die Entgrenzung dessen, was möglich ist, führt also auch zu einer viel intensiveren Beschäftigung mit der eigenen Identität. Was sich hier zeigt, ist eine möglichkeitspotenzierende Phantastik, die jedoch mit quasi-rationalen, technizistischen Erklärungen ausgestattet ist. Auf die Spitze wird dieses Prinzip getrieben, als die Komponistin Cordula Späth ihre Fähigkeit, zwischen den Zeiten zu springen, erklärt bzw. demonstriert: Ebene, Kugel, Kleinsche Flasche, tausend mal tausend Topologien, immer wieder Haken und dann auch noch Ösen: »Das Kamel durchs Nadelöhr, eines der klügsten topologischen Gleichnisse aller Zeiten«, und Padmasambhava wurde das Kamel, Cordula Späth das Nadelöhr; dann krempelte sich die Szene um (»Involution, sieh zu, daß du dir ein paar Referenzpunkte im Gitter merkst, dann wird dir nicht schlecht«, mahnte Cordula), Padmasambhava wurde das Nadelöhr und die Komponistin das Kamel: »Du siehst, ob ich die Person im Zimmer bin oder das Zimmer um die Person, ist nur ein Betonungsunterschied – ob ich die betonten oder die unbetonten Silben im Lautgedicht zähle, ob ich von Generalpause zu Generalpause… hier, siehst du, da kommt die Twistorrechnung rein.« Die Echse fragte sich nicht selten, auf was für Prozessoren das alles bei der Komponistin eigentlich lief. Ihre eigene Spintronik […] stand bei den

506 Nitzke, Die Verausgabung, S. 361.

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Übungen, die ihr jetzt auferlegt wurden, stets kurz vor der Gesamtauslastung. (AA 456– 457)

Da das Lesepublikum diese Gesamtauslastung längst überschritten hat, findet hier eine gezielte Verwirrung und Desorientierung statt, wodurch Raum für Neues entsteht und der Blick für Grundsätzliches frei wird. 4.4.2.3 Gesellschaftskritik aus der Ferne Die Bilder, die auf der so gereinigten tabula rasa entstehen, beziehen sich nicht nur auf individuelle Entwicklungsmöglichkeiten. Insbesondere das (Nicht-) Funktionieren von Gesellschaften steht im Zentrum des Textinteresses. In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche Sicht auf die reale Menschheitsgeschichte sich aus der surreal enthobenen Position des Romans heraus ergibt. An einer zentralen Stelle, die im Roman später noch einmal fast identisch wiederholt wird, sucht der Text eine Erklärung für den Untergang der Menschheit. Metaphorisch wird dabei das Verhalten von Myxamöbenzellen aufgeladen, die sich bei Nahrungsknappheit zusammenschließen und ein mehrzelliges, voll funktionsfähiges Lebewesen bilden, sodass die Einzeller völlig in diesem neuen Lebewesen aufgehen. Die Libelle dachte einen stillen Augenblick lang nach. […] Dann sagte sie: »Weil sie so was nicht konnten. Die Menschen. Deshalb ist ihnen passiert, was ihnen passiert ist. Deshalb haben wir sie überwunden. Weil sie nicht konnten, was die Myxamobae…« Izquierda stellte die Ohren auf und schüttelte den Kopf: »Unsinn. Was sie besiegt hat, war nicht, daß sie keine Schnecke bilden konnten. Sondern daß sie’s, ohne dazu gerüstet zu sein, dauernd versucht haben.« (AA 17–18, fast identisch AA 321–322)

Damit ist das gesellschaftskritische Grundthema der Meta-Utopie angesprochen, nämlich die mangelnde Fähigkeit des Menschen, wirklich harmonische und vollfunktionale Gemeinschaften ohne alle Ausbeutung zu bilden – bei dem zugleich aber starken Wunsch nach genau solch idealen Zusammenschlüssen. Scheitern diese utopischen Versuche einer idealen Gesellschaftskonstitution, dann schlagen sie in Dystopien um, sodass die hier zitierte Stelle letztlich Ausdruck einer anti-utopischen oder zumindest utopiekritischen Haltung ist. Doch auch das Fehlen von Utopien wird an mehreren anderen Stellen als existentielles Problem für das Funktionieren von Gesellschaften sichtbar gemacht wird (vgl. neben der zitierten Stelle auch AA 65, 130, 162, 312): Die Hoffnung der Menschen, das größte Talent der genialen Verwüster, war verloren, ihre Zuversicht war vergangen, ihr Ehrgeiz nur noch Spinnweb auf Büchern, die keiner mehr aufschlagen würde. (AA 15)

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So ergibt sich ein Patt. Der Ausgangspunkt der metautopischen Reflexionen im Text ist also das Dilemma ›postutopischer‹ Gesellschaften (vgl. den ersten Textblock): Utopien scheinen einen dystopischen Kern in aller Regel bereits in sich zu tragen und die realen Umsetzungen politischer Utopien haben insbesondere diese dystopischen Elemente realisiert; zugleich aber ist das Fehlen gemeinschaftsstiftender Ideologien und Utopien ein Kernproblem der heutigen westlichen Welt. Da eine zufriedenstellende Gesellschaftsordnung aus Textsicht bislang weder mit noch ohne Utopien konstituiert werden konnte, entwirft der Roman eine karnevaleske Parallelwelt, die als Fabel bzw. Parabel all diese grundlegenden Fragen zum Utopismus aufwirft, ausführlich verhandelt und durchspielt, um durch diesen pararealistischen Zugang vielleicht einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Dass im Roman eine phantastische Parallelwelt geschaffen wird, bedeutet also gerade nicht, dass die reale (westliche) Gesellschaft einer kritischen Analyse entgeht – im Gegenteil erzeugt gerade die große zeitliche und lebensweltliche Distanz einen Kontext, in dem Gesellschaftskritik umso grundlegender stattfinden kann: »[…] Damals optimierte man Technik nach… Wurstelprinzipien statt nach Leistung. […] Schlamperei spart Arbeitsstunden. Und Arbeit war damals abstrakt, das heißt: ein Tauschgegenstand…« »Sag’s nicht, das ist wieder dieser, der Dings… der Produkt?« »Profit.« »Der Profit. Eine von diesen Religionen, die sie hatten.« (AA 262) Dann [während eines Vortrags] folgte einiges, ja vieles, von den Menschen, die fast verschwunden waren, und daß es bei denen einen genetischen Marker für Aggressivität und Gewalt gegeben habe, der, »wo er auftrat, die Wahrscheinlichkeit des Begehens einer Bluttat ums Neunfache gegenüber dem Fall seiner Abwesenheit zu steigern vermochte«, nämlich »die menschliche Männlichkeit als solche«. Nach diesem lustigen Hinweis hielt der Experte sich eine Weile bei der fiktiven Überlegenheit auf, die sich homo sapiens erfolgreich eingeredet hatte – […] bei den schlimmen Gesellschaftskrankheiten, die von allen Wesen auf der Welt nur diese angeblich Überlegenen gekannt hatten, darunter der übelsten, zu deren Symptomen chronische Anämie, Mangelernährung und schwere Erschöpfung gehört hatten, in der Langeweile [dem Zeitalter der Menschen] bekannt unterm Namen »Armut«, übertragen von der Mutter aufs Kind, mit auffällig höheren Übertragungsraten unter Weibchen. (AA 92–93)

Der Text spielt mit dem von ihm imaginierten Untergang der Menschheit und lässt ihn als letztlich wohlverdient erscheinen.507 Zusammengefasst wird diese 507 Es ergibt sich zudem ein Kontrasteffekt durch die Umkehrung des Machtverhältnisses zwischen Mensch und ›Tier‹. Am deutlichsten zeigt sich dies beim brutalen Missbrauch von

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kritische Haltung aus der Ferne schon zu Beginn des Buches in der lapidaren Frage: »›Wieso‹, fragte die Libelle Philomena […], ›ist den Menschen eigentlich passiert, was ihnen passiert ist?‹« (AA 13) Ansätze zu einer Antwort werden im Roman mehrfach gegeben, und sie reichen von einem negativen Menschenbild über eine mangelnde Lernfähigkeit der Spezies als Ganzes bis hin zu einer Kritik am Patriarchat oder am Kapitalismus. An der Kapitalismuskritik zeigt sich jedoch wieder das grundlegende Dilemma des Textes, denn auch mit dem (realexistierenden) Sozialismus wird schonungslos abgerechnet (z. B. AA 174). Sozialismus und Kapitalismus stehen hier für Utopie und Utopielosigkeit; die Kritik in beide Richtungen verhindert, dass sich die verschiedenen gesellschaftskritischen Ansätze des Romans zu einer kohärenten Gesamtkritik verbinden lassen, die als konkrete Handlungsanweisung an die Realität übertragbar wäre. Was bleibt, sind kritische Einzelteile – zu nennen ist hier noch die Warnung vor der potentiellen Macht künstlicher Intelligenzen – und ansonsten eine gewisse Ratlosigkeit, die der Text offensiv ausstellt und zu seinem eigentlichen Thema macht. Natürlich kann in Die Abschaffung der Arten von einem prognostischen Gestus keine Rede sein, denn dass die Menschheit von einer humanoiden Gentepopulation abgelöst wird, ist kaum zu erwarten. Das impliziert jedoch auch, dass, anders als im Roman, eine Lösung der aufgezeigten realen Probleme aus der Menschheit selbst hervorgehen muss: Der Löwe räusperte sich […]: »Ich habe schon einmal ein wucherndes, exponentiell beschleunigtes Wachstum aufgehalten. Du hast es nicht erlebt: Überbevölkerung, Zersiedlung, eine einzige Monokultur, dann die Klimascheiße…« (AA 260)

Der Roman setzt der realen Klimaproblematik eine wundersame Lösung in der Zukunft entgegen, die gerade durch das Fehlen von jeder Wahrscheinlichkeit unheimlich wirkt.508 In der Realität werden keine ›Gente‹ die »Klimascheiße« lösen, und den Text durchzieht eine spürbare Skepsis, ob dies stattdessen die Menschheit mit ihren unzähligen divergierenden Interessen und Egoismen alleine können wird, denn: »Die Einfalt jener Zeit, als die Menschen geherrscht hatten, war viel zu kompliziert gewesen, als daß sie irgendwer im nachhinein verstanden hätte.« (AA 27) Aus Sicht des Textes gibt es an den Zuständen der realen Welt also allerhand zu kritisieren. Aber gibt es überhaupt noch etwas, eine Gesellschaftsordnung oder dergleichen, die man demgegenüber guten Gewissens und positiv-bejahend propagieren kann? menschlichen Prostituierten durch Tiere/Gente in einem Bordell (AA 40). Die Deutung, dass hierdurch auf den realen Missbrauch der Natur durch den Menschen angespielt wird, scheint nicht zu weit hergeholt zu sein. 508 Vgl. Nitzke, Die Verausgabung, S. 363.

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4.4.2.4 Der aufgeklärte Utopismus des Herrschers In diesem Abschnitt soll der erste Versuch des Textes, eine solche gesellschaftliche Alternative zu entwickeln, dargestellt werden. Es handelt sich dabei um die versuchte Weiterentwicklung eines naiven zu einem ›aufgeklärten‹ Utopismus. Die Lösung der »Klimascheiße« gelingt den Gente vor allem durch das Anlegen einer »riesigen Graslandschaft« (AA 57), die in ungeheurem Maßstab Kohlenstoffdioxid in Sauerstoff umwandelt. So erweisen sich die Gente aus Sicht des Textes in mehrerer Hinsicht als eine bessere Menschheit. Sie haben die Bedeutung der globalen Ökologie verstanden, setzen ihre theoretische Einsicht in einem kollektiven Kraftakt praktisch um und verhalten sich dabei umsichtig, da sie nicht eine Monokultur, sondern ein vielfältiges Ökotop entstehen lassen.509 Die Population der Gente wird dabei von einem gemeinsamen Utopismus gelenkt und geeint. Der vormals menschliche Schöpfer der Gente, inzwischen unter dem Namen Cyrus Golden als monarchischer Herrscher in Löwengestalt bekannt, hat die technische und ideelle Basis der Gentepopulation gelegt. Er versteht sich nicht nur als Vertreter eines aufgeklärten Absolutismus (und sich selbst somit als obersten Diener des Gemeinwesens), sondern vor allem steht er für eine Haltung, die man als ›aufgeklärten Utopismus‹ bezeichnen und von einem ›naiven Utopismus‹ unterscheiden kann. Ein naiver Utopismus folgt einfach der Überzeugung, dass sich ein Gemeinwesen positiv verändert, wenn nur dafür Sorge getragen wird, dass es sich in Richtung eines zuvor mit Bedacht gewählten utopischen Idealbildes hin entwickelt. Der aufgeklärte Utopismus Cyrus Goldens dagegen nimmt das mannigfaltige Scheitern dieses Ansatzes in der Vergangenheit – insbesondere den totalitären Zwang, der mit dieser gesteuerten Gesellschaftsentwicklung oft einhergeht – in sich auf. Ausgehend von historischen Erfahrungen soll es durch diesen selbstkritischen Utopismus nun möglich sein, einen Umschlag der Utopie ins Dystopische zu verhindern. Cyrus Golden verkörpert somit die Hoffnung, dem Dilemma ›postutopischer‹ Zeiten durch eine Weiterentwicklung des Utopismus entfliehen zu können. Die Welt der Gente spiegelt diesen reflektierten Ansatz. Die Wölfe lehnen das urbane und individualistische Lebensmodell Cyrus’ zugunsten eines anderen utopischen Modells ab und dennoch entsteht eine friedliche Koexistenz der konkurrierenden utopischen Gemeinschaftsordnungen: Sie [die Wölfe] wollten, erklärten ihre Alphatiere, Formen des nachindustriellen Lebens ausprobieren, in lokal überschaubaren Rudeln, am Rande der dicht bevölkerten Stadtzonen. […]

509 Vgl. Nitzke, Die Verausgabung, S. 370.

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»Sie bieten ihren Leuten einfach eine Alternative zum Weg des Löwen«, sagte Hecate, »loyale Opposition.« […] Hecate […] setzte schon zum Reden an, da rang sich Britt [eine sterbende Wölfin] mit letzter Kraft die Worte ab: »Sagt … ihm [einem Wolf, der das Rudel verlassen hat, um in der Welt der übrigen Gente zu leben und für Cyrus zu arbeiten] auch … daß wir ihn … nicht vergessen haben … und … ihn lieben und … und daß wir immer der … Meinung waren, daß nicht nur wir … das Recht hatten, unsere Freiheit … gegen … den Löwen zu behaupten … sondern auch … auch er das … das Recht hatte, sein … seine … gegen uns … seine Freiheit … gegen … unsere Freiheit …« Wenige Atemzüge später schwieg die Wölfin. Sie hatte zweihundertneunzig Jahre lang frei gelebt. (AA 248–249)

Was hier vom Text ausgestellt wird, ist das Denken und Handeln aufgeklärter Utopisten unter sich. Cyrus, der die Leitutopie der Gesellschaft vorgibt, akzeptiert bewusst alternative Lebensformen und versucht so, dem Totalitarismus, der den Utopismus von Beginn an plagt und den Keim des Dystopischen in die idealen Welten trägt, in seiner Utopie keinen Nährboden zu bieten. Auf diesen Aspekt spielt sein zorniger Ausruf in einem Streitgespräch mit seiner Tochter Lasara an: [Lasara:] »Haben wir je verstanden […] wie überhaupt die fortgeschrittensten Gente, die das Dogma der Verkörperung…« [Cyrus:] »Dogma! Wie redest du mit mir? Ich bin kein Kirchenvater. Ich habe die Gente geschaffen, ich!« (AA 256)

Cyrus kann seinen Utopismus mit neuem Selbstbewusstsein vertreten – »Lebt, als ob ihr auf einer neuen Erde lebtet, die einen neuen Himmel vorhat« (AA 66) – und innerhalb seiner utopischen Welt auch Chaos zulassen »wenn es sich denn als fruchtbar erweist« (AA 67). Das Ergebnis seiner Schöpfung wird vom Erzähler stellenweise in paradiesischen Bildern geschildert (AA 18).510 Als die Gente durch die künstliche Intelligenz immer mehr unter Druck geraten und einige Abtrünnige Gente Cyrus lieber töten, anstatt ihm in den Krieg zu folgen, kann er sogar zugeben, »daß es richtig ist, mich gerade jetzt zu beseitigen, um meinem Werk eine neue Chance zu geben« (AA 295). Hier klingt jedoch schon eine Selbstkritik an, die über das richtige Verhalten der militärischen Bedrohung gegenüber hinausgeht. Tatsächlich nämlich trägt 510 Ein weiteres Indiz für die in der Gentewelt herrschenden Freiheit zeigt sich im Bereich der geschlechtlichen Liebe. Beinahe jede Figur scheint mit der anderen sexuell kompatibel zu sein und oft genug wird dies im Roman auch fern von emotionalen Verbindlichkeiten ausgelebt. Gerade der sexuelle Bereich ist es, der die Protagonisten von traditionellen Dystopien häufig in eine Außenseiterrolle drängt (vgl. 3.2) – das Gesellschaftssystem der Gente steht in scharfem Kontrast hierzu und wird dadurch, dass es diese Formen freier Liebe ermöglicht, auch insgesamt als höchst liberal gekennzeichnet.

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trotz aller Vorkehrungen auch die Welt der Gente einige dystopische Züge.511 Beim Besuch eines Bordells etwa, in dem Gente Menschen brutal missbrauchen, fragt sich die Polizeichefin: »Vielleicht wird alles gut? Vielleicht ist das hier endlich der Sommer, der nicht mehr aufhören wird, und diese Unzucht müssen wir ertragen […]?« (AA 40), um dann zum Schluss zu kommen: »Nein, dies hier war nicht zu dulden; dies hier war wie damals unter den Menschen.« (AA 42) Trotz aller Vorkehrungen hat also auch die Gente-Utopie nicht zu einer makellosen Welt geführt. Cyrus selbst residiert in einem Raum, der als »Sanctum Sanctorum« (AA 53) bezeichnet wird und damit, in direktem Kontrast zur Kirchenväter-Aussage, Zeichen auch seiner persönlichen Korrumpierung ist. Der aufgeklärte Utopismus des Herrschers und die von ihm geschaffene Welt scheitern also nicht erst durch die militärische Niederlage gegen die künstliche Intelligenz, sondern bereits zuvor an sich selbst. Der Roman spielt somit die Möglichkeit eines lernfähigen Utopismus durch und verwirft sie. Fast ganz am Ende des Romans, als die Gente längst untergegangen sind, werden »drei Gleichnisse« Cyrus’ zitiert, wovon das erste ausgerechnet von Josef Stalin stammt: »Nein, eine einzelne Person darf nicht entscheiden. Entscheidungen einer einzelnen Person sind immer oder fast immer einseitige Entscheidungen. […] Aufgrund der Erfahrungen von drei Revolutionen wissen wir, daß unter hundert Entscheidungen, die von einzelnen Personen getroffen […] wurden, annähernd neunzig Entscheidungen einseitig sind.« Josef Stalin (AA 515)

Hier wird die Vorstellung eines ›naiven Utopismus‹, dem man einen ›aufgeklärten Utopismus‹ entgegensetzen könnte, verabschiedet, nachdem sie vom Text zunächst aufgebaut worden war. Schließlich hätten auch die früheren Utopisten (wie Stalin) in der Regel schon auf warnende Beispiele zurückgegriffen – um dann mit ihrem neuen Ansatz dennoch zu scheitern. Auch der mögliche Einwand, die Gentewelt sei zwar nicht perfekt, aber doch wohl besser als die der Menschen, verfängt nicht. Gegen Ende des Romans wird mehr über die wahren Motive Cyrus’ bekannt, die Menschen durch die Gente zu ersetzen: Er hat – das war nun wirklich eine große Sünde, da braucht man nicht erst katholisch werden, um das einzusehen – die ganze Menschheit ausgerottet, um die Bühne freizumachen für eine Aufführung seiner […] Leidens- und Liebesgeschichten. Macht man ja eigentlich nicht. […] Daß er ein Welttheater geschaffen hat, war Hybris, von wegen, alles, was atmet, muß denken und empfinden, in den von ihm gesetzten Grenzen. (AA 548)

511 Vgl. Nitzke, Animal Spirits, S. 77 und Saul, Was für ein Ereignis, S. 228.

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Gerade der Vorwurf der »Hybris« ist ein gängiger anti-utopischer Topos; einen Ausweg aus dem Dilemma ›postutopischer‹ Gesellschaften bietet ein aufgeklärter Utopismus aus Textsicht also nicht. Ein wesentlicher Grund hierfür wird in der vorbelasteten Sprache und damit – nach Wittgenstein – auch im vorbelasteten Denken über mögliche Formen des menschlichen Zusammenlebens gesehen.512 Vor allem aber scheitert die Utopie der Gente am allzumenschlichen Verhalten ihrer Individuen (inklusive ihres Schöpfers), weswegen die in der Forschungsliteratur gängige Beschreibung der Gentewelt als ›posthuman‹ hier unterbleibt.513 Die Gente sind Fabelwesen,514 durch die menschliche Eigenheiten in besonderer Deutlichkeit zum Vorschein kommen sollen. Gerade menschliche Leidenschaften und Egoismen stehen der Schaffung eines irdischen Paradieses durch die Gente im Wege. Aus der Sicht des Textes scheitert in der Realität jeder Utopismus also daran, dass er von Menschen und für Menschen konzipiert ist und somit unmöglich gegen eine dystopische Verderbnis immunisiert werden kann, da moralische Verderbnis Teil der menschlichen Natur ist. So gesehen ist das Festhalten an Utopismen letztlich sinnlos: »Das alles interessiert mich längst nicht mehr«, sagte das Glas Whisky, das ein Fuchs gewesen war, zur Libelle Philomena, die es bestellt hatte. »[…] Nimm nur meine drei Helden, die ich mir ausgedacht habe. Da laufen sie also jetzt herum, als Sinnbild selbdritt der Ziele der zweiten Generation nach der Befreiung.« »Ziele, böh!« maulte die Libelle. Der Whisky kicherte: »Schon recht, es gibt gar keine.« (AA 171)

4.4.2.5 Kreis und Linie: Spiralförmige Bewegungen In diesem Abschnitt soll es um die Frage gehen, welche Hoffnung aus Sicht des Textes für die Zukunft des Menschen bleibt, wenn sich die Hoffnung auf die Kraft des Utopischen – selbst nach einem Rettungsversuch – als unhaltbar erwiesen hat. Beim Text bleibt hier durchaus noch ein positiver Rest zurück, doch muss er 512 AA 87–88: So wird nicht nur Ihnen […] sondern gewiß auch dem anspruchslosesten Teil des gemeinen Publikums klar, daß das Ausmaß der metaphysischen Verirrung, die sich bis in den lexikalischen Bestand der uns zur Verständigung hinterlassenen Sprachen eingenistet und dort verfestigt hat, in feinster Verteilung, zartester Giftwirkung Schäden anzurichten geeignet ist, die unserer nun endlich mit Tatkraft und Weitsicht in die Wege geleiteten gigantischen Reforminitiative als Partisanen des Absurden, Unrätlichen und Verbrecherischen zu schaffen machen müssen, das wir zerstören und dessen unteilbar kleinste Bestandteile wir bis zur letzten Zeichenkette abtragen, ausmerzen, beiseite schaffen müssen […]. 513 Vgl. Willer, Dietmar Daths enzyklopädische Science Fiction, S. 397 und Saul, Was für ein Ereignis, S. 228–230. Im wirklichen Sinne ›posthuman‹ sind etwa die Craker in Atwoods MaddAddam-Trilogie. 514 Aus der frühneuzeitlichen Fabelfigur Reineke Fuchs wird im Roman der Finanzier der Genteutopie, der seiner asiatischen Vorfahren wegen ›Ryuneke‹ heißt und nach dem Sieg der Gente-Revolution in Fuchsgestalt überwechselt.

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noch weiter ins Abstrakte und Allegorische ausweichen, um diesen Rest hervorholen zu können. In scharfem Kontrast zur gescheiterten Rettung des Utopischen zieht sich die rätselhafte Suche nach einem scheinbar metaphysischen Phänomen namens »Wetzelchen« als positiv gewertetes Phänomen durch den gesamten Text. Die Suche beginnt während der Zeit der Gente und bestimmt dann zuletzt – als eine Art futuristische Gralssuche – noch das Handeln Feuers und Padmasambhavas. Die positive gesellschaftliche Funktion eines solch metaphysischen Ziels wird im Roman reflektiert (AA 161–165), sodass die Suche einen gewissen Sinn behält, obwohl bald klar wird, dass es sich beim »Wetzelchen« nur um einen Spitznamen der früheren Geliebten Cordulas handelt (AA 286), auch der Glaube an eine metaphysische Dimension also naiv ist. Doch nur durch diese Suche nach einem Signifikant ohne Signifikat gelangen Feuer und Padmasambhava auf die Erde, wo sie zu wahrer Freiheit finden. Einen breiten Raum nehmen in der zweiten Romanhälfte, also in der Welt nach Untergang der Gente, verschiedene Evolutionstheorien ein. Aufgrund der ausgiebigen Reflektion verschiedener Gesellschaftsentwürfe zuvor liegt es nahe, diese Theorien zur Evolution ebenfalls auf das Thema menschlichen Zusammenlebens zu beziehen, sie also metaphorisch zu lesen: Die ersten beiden [Theorien] waren Vertreter des noch in der Langeweile entstandenen »Darwinismus« gewesen […] aus der die erste dieser zwei Schulen das Prinzip der adaptiven Komplexität abgeleitet hatte: Alle Eigenschaften […] trugen nach dem Muster des Wegs des geringsten Widerstands kumulativ zu einer irreversiblen Höherentwicklung, nämlich einem ständigen Komplexitätszugewinn durch neu auftretende Spezies bei. Die zweite Schule glaubte an keinen derartigen Fortschritt, sondern betonte das löchrige, nur von Katastrophen punktierte Gleichgewicht, in dem sich die evolutionär stabilen Attribute der diversen Spezies im synchronen Vergleich stets befänden, und hielt einige neu aufkommende Eigenschaften fürs Ergebnis eben nicht einer Adaption, sondern einer Exaption [sic, gemeint vermutlich: Exaptation] […] ohne daß dieser Vorgang irgendwie gerichtet wäre: reine Glücks- oder Unglückssache. Die erste Schule warf der zweiten Blindheit gegen den Zeitpfeil und die Feinmechanik der Auslese vor; die zweite der ersten orthogenetische Romantik und Perfektibilismus. (AA 357; Kursivierungen im Original)

Überträgt man diese biologischen Erwägungen auf eine soziologisch-politische Ebene, so stehen die einzelnen Theorien nicht mehr für konkrete Handlungsoptionen. Es findet auch kein Versuch einer Lösung des beschriebenen ›postutopischen‹ Dilemmas mehr statt. Vielmehr wird die Frage aufgeworfen, ob trotz dieses bestehenden, nicht auflösbaren Dilemmas die Hoffnung auf irgendeine Art positiven gesellschaftlichen Fortschritts noch berechtigt ist. Die erste Position steht in metaphorischer Übertragung für eine Bejahung dieser Frage und

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bewegt sich damit innerhalb der Tradition eines aufklärerischen Fortschrittsdenkens und -glaubens. Die zweite Schule dagegen steht für ein zyklisches Geschichtsbild, in dem sich Phasen des Fortschritts und der Regression ablösen. Für die Berechtigung der beiden Sichtweisen finden sich im Roman zahlreiche und einander widersprechende Hinweise. Das Vorgehen der fliehenden, von Cyrus abtrünnigen Gente bei der Besiedelung der Venus etwa ist klar von den negativen Praktiken des Kolonialismus abgegrenzt und weist somit trotz aller Einwände gegen die Utopie der Gente auf eine prinzipielle Lernfähigkeit und damit eine Möglichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts hin: Weißt du, daß sie sich mit dem terraforming weiland siebzig Jahre Zeit gelassen haben, bis alles da unten […] hinreichend untersucht war? Genau hat man ausgeforscht, ob nicht doch eine Form von Leben dort weste, der wir, dachte man damals, nicht einfach die Existenzgrundlage entziehen dürfen, mit unserer Urbarmachungsscheiße. […] Alles wurde abgesucht, durchkämmt, erst als man sicher sein konnte, nichts übersehen zu haben, wurden die Sporen disloziert. (AA 371–372)

Zugleich – und eben in starkem Widerspruch hierzu – finden sich im Text aber auch zahlreiche Aspekte, die auf einen zyklischen Entwicklungsprozess hinweisen. Weit nach dem Untergang der Gente, also über eintausend Jahre nach dem Untergang der Menschheit, erkundet Feuer eine Population, die alle Irrtümer des Menschen (inklusive des Glaubens an Utopien) wiederholt: Sinnlose Gespräche, alle von einem Zweckoptimismus durchzuckt […]. Es kam Feuer vor, als spräche aus jedem Mund eine zentrale Behörde, die Lob und Preis der schönen neuen Welt verteilte: […] »Ein paar Verspätungen sind doch gar nichts, wenn nur die Zuwachsrate stimmt«, »Die Nordstadt wird renoviert, das treibt die Preise hoch, aber langfristig haben alle was davon«, »Der Lavers ist befördert worden, siehst du, das zeigt doch, daß es sich auszahlt, wenn man sich Mühe gibt«, »Auch Leute aus den ungünstigen Verhältnissen können es mit etwas Initiative weit bringen«, »[…] wirst sehen, wir bauen hier, was die auf der Erde nur träumen konnten.« (AA 379)

Da im Text jedoch noch eine dritte Evolutionstheorie vorgestellt und den anderen als überlegen entgegengesetzt wird, ergibt sich auch auf metaphorischer Ebene eine dritte Position zwischen progressivem und zyklischem Geschichtsbild. Erst als die dritte [Theorie] aufkam und eine Synthese von Biologie und Informatik versprach, am äußersten späten Ende der Langeweile, hatte die Streitfrage das Niveau erreicht, auf dem es sich lohnte, einen Riesenversuch zur Klärung zu unternehmen. […] Die dritte Schule hielt Selektion an sich für etwas, das weder adaptive noch exaptive Komplexität mit Notwendigkeit hervorbrachte […]. Ihre Vertreter glaubten, ein paar basale computationale Prinzipien, besonders im Bereich einfacher Automaten, entdeckt zu haben, nach denen aus bestimmten Grundregeln der Reproduktion zwangsläufig bestimmte hochorganisierte Komplexitätsformen entspringen mußten. […] Man braucht also […] die Zusatzannahmen der Selektionslogik nicht, um im Laufe eines Entwicklungsgangs bei den robusten Bauplänen anzukommen, die bekannt sind.

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Organismen, so die dritte Schule, entwickeln sich seitwärts, vorwärts, rückwärts, um alle möglichen Gestalten anzunehmen, die nach den Regeln der Automaten überhaupt in Frage kommen, deren Konkretion sie sind. (AA 358–359)

Anders als die erste Schule nimmt diese dritte, auf den Physiker Stephen Wolfram zurückgehende Theorie515 keine ›Selektionslogik‹ und damit auch keine beständig fortschreitende, zwangsläufige Höherentwicklung der Lebewesen an. Im Unterschied zur zweiten Schule wird die Möglichkeit eines gerichteten Fortschritts dennoch nicht negiert. Da sich Organismen nach Ansicht der dritten Schule in alle theoretisch möglichen Richtungen516 entwickeln, kann ein einzelner Entwicklungsstrang durchaus auf einen höherwertigen Entwicklungsgrad hin gerichtet sein, während sich gleichzeitig andere Stränge seitwärts oder regressiv verändern. Wendet man die Positionen der dritten Theorie auf metaphorischer Ebene an, so ergibt sich eine Synthese aus fortschreitendem und zyklischem Geschichtsbild. Weder die oben zitierten zyklischen, noch die fortschreitenden Elemente menschlicher Gesellschaftsentwicklung leugnet der Text und es ergibt sich somit das eigentlich paradoxe Bild eines fortschreitenden Stillstands bzw. eines stillstehenden Fortschritts. Der geschichtliche Ablauf der Menschheitsgeschichte, wie der Text sie darstellt, erinnert somit an die Form einer mechanischen Feder: Genau von der Seite betrachtet ist eine zwar wellenförmige, aber dennoch gerichtete Linie zu erkennen (entspricht einem gesellschaftlichen Fortschritt), dreht man die Feder jedoch um exakt 90°, so ist nur noch ein Kreis zu sehen (entspricht einem gesellschaftlichen Stillstand). Keine der beiden Perspektiven ist richtiger als die andere und der Roman stellt die linearen und die zyklischen Aspekte immer wieder heraus, dreht also gewissermaßen die Feder öfters hin und her. Durch ein experimentum crucis sollen in der Welt nach den Gente die verschiedenen Evolutionstheorien auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden – und es scheint, als verstünde sich der Roman als Ganzes ebenfalls als ein experimentum hinsichtlich der Frage, ob sich der Mensch trotz seiner Dilemma-Situation berechtigte Hoffnung auf entscheidende Verbesserungen seiner Gesellschaftssysteme machen darf. Zu einem eindeutigen Ergebnis kommt Die Abschaffung der Arten dabei nicht. Im Rahmen einer von Feuers Lehrstunden kommt es zu einer rein rationalen Antwort:

515 Zu Details der Theorie an sich vgl. Borgards, Evolution als Experiment, S. 226–228. 516 Anhand der Entwicklung von Muschelformen hat Wolfram nachgewiesen, dass nicht etwa von theoretisch unzählig möglichen Formen nur sechs davon in der Natur vorkommen, sondern dass insgesamt nur diese sechs Formen möglich sind und also sämtliche Möglichkeiten (unabhängig von ihrer Komplexität) in der Natur realisiert sind. Auch der Roman referiert diese Forschungsergebnisse (AA 358).

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»Ich sehe schon«, die Schnurrhaare des ältesten der Freunde zitterten, als habe er Witterung von Leckerem aufgenommen, »daß du dich fragst, welche Lehre aus dem, was wir über die Vergangenheit wissen, zu ziehen ist. Du wirst staunen: Ich weiß es nicht. Niemand weiß es – man ahnt bloß viel und muß damit dann arbeiten.« (AA 312)

Dies ist der Weisheit letzter Schluss und ist dennoch nicht die abschließende Botschaft des Romans. Der moralisch und militärisch gescheiterte Cyrus ist sich trotz allem sicher: »Ich kann dir und den andern den Zweifel nehmen. Es wird einen besseren Ort geben, ein schöneres, wahreres Zwielicht.« (AA 449) Die Romanhandlung endet tatsächlich damit, dass drei Figuren, die Komponistin Cordula und das Geschwister- und Liebespärchen Feuer und Padmasambhava, zu wahrer Freiheit gelangen: [Cordula]: »[…] Ich hab mir was Ehrgeizigeres vorgenommen: Ich glaub, ich werde zur Abwechslung mal was, das die Welt noch nicht gesehen hat. Ein freier Mensch.« (AA 524) Die Zweifel der Zukunft richteten sich auf Interessanteres als das nackte Überleben. Die Gente wären stolz gewesen; der Löwe hätte sich bedankt. Zwei Lebende, eng befreundet, einander versprochen. Jedes konnte für sich und andere werden, was es gern sein würde, fünfhundert kommende Jahre lang, bis zur Stunde der Abreise. Sie hatten das Erbe, es beherrschte sie nicht. […] »Wenn das so ist«, sagte Padmasambhava, »dann möchte ich ein Wolf sein.« »Und ich ein Rabe«, sagte Feuer. So geschah es; und damit fingen Leben an, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. (AA 552)

So fällt die Traumantwort versöhnlich aus und es manifestiert sich in ihr die Hoffnung, dass die Entwicklung der Menschheit eher ein Stillstand ist, der dennoch fortschreitet als ein Fortschritt, der letztlich stillsteht. Kurz zuvor gibt Cordula Späth, die eigentlich zentrale Figur des Romans, noch eine pragmatische Antwort, die sie mit einem positiveren Menschenbild verknüpft, als es der Text über weite Strecken gezeichnet hat: »Ich selber beschwöre den alten Kram wohl nur deshalb, weil ich dadurch … es gibt mir das Gefühl, sie wären alle noch da, versteht ihr? Die Menschen, unter denen ich gelebt habe. Die Langweiler, die so waren, wie ich war: langweilig eben, aber irgendwie doch ganz liebenswert, wer immer strebend sich bemüht …« (AA 550)

Wir können also nicht wissen, ob die Bemühungen nach einer besseren Gesellschaft und damit nach einer besseren Welt naiv sind oder nicht. Dennoch hält der Text seine Leser:innen an, dieses ›social dreaming‹ (Sargent) und das gesellschaftspolitische Streben beizubehalten, weil es sich hierbei um einen der edelsten menschlichen Züge überhaupt handelt. Während der ›aufgeklärte Utopismus‹ der Gente den Utopismus durch Reflexion und Einbezug von Erfahrungswerten retten wollte, verknüpft nun dieser ›postutopische Utopismus‹ des Textes gar keine Heilserwartung mehr an irgend

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Einzelanalysen von Dystopien der Gegenwart

eine Form von Utopismus, bleibt einer strebend-utopischen Haltung aber dennoch verbunden. Der postutopische Utopist ist wie ein desillusionierter Ritter auf Gralssuche,517 der an die Existenz des Grals nicht mehr glaubt und dennoch weitersucht. 4.4.2.6 Hoffnung in postutopischer Zeit (Fazit) Ausgangspunkt auch dieses Romans ist das Dilemma von Gesellschaften, die aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr auf große utopische Ideale zurückgreifen und sich damit jedoch potentiell neue Probleme schaffen. Die Abschaffung der Arten reiht sich allerdings nicht in die utopisch-dystopische Texttradition ein (durch die Entwicklung einer eigenen Utopie oder Dystopie oder etwas dazwischen), sondern blickt stattdessen von einer erhöhten Warte auf literarische und ›realexistierende‹ Utopien. Der Text stellt eine Vielzahl utopischer Entwürfe nebeneinander vor, ohne deren dystopische Elemente zu kaschieren. Nachdem in der ersten Romanhälfte auch ein ›aufgeklärter Utopismus‹ als möglicher Ausweg aus dem Ausgangsdilemma verworfen wurde, konzentriert sich die zweite Hälfte auf die Frage, welche Entwicklungsperspektiven sich dann für eine ›postutopische‹ Menschheit überhaupt noch ergeben. Nicht zuletzt auch in Ermangelung anderer Alternativen setzt der Text seine Hoffnung in einen ›postutopischen Utopismus‹, der an die berühmte, Che Guevara zugeschriebene Losung erinnert: »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche.«

517 Der Text selbst legt diese Verbindung nahe; Padmasambhava, der/die sich auf die Suche nach dem »Wetzelchen« vorbereitet, fragt sich: »Gilt das, was die dritte Schule lehrt, auch für meinen Weg in die Burg [in der das »Wetzelchen« verborgen sein soll]?« (AA 359)

5.

Die literarische Dystopie nach 1990 – eine Gattung bricht auf (Zusammenfassung)

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Einzelanalysen zusammengefasst; so soll sich eine aspektorientierte Geschichte der literarischen Dystopie nach 1990 ergeben. Um ein solches Gesamtbild, das sich aus einem Vergleich der Analyseergebnisse ergibt, geht es in diesem Fazit, nicht um isolierte Zusammenfassungen der jeweiligen Interpretationen (solche finden sich am Ende jeder Einzelanalyse). Im Blick bleibt dabei weiterhin, dass drei der untersuchten Texte (UN, NG, AA) keine Dystopien im Sinne der Arbeitsdefinition sind. Dass sie bei dieser Zusammenfassung nicht außen vor bleiben, liegt daran, dass sie mit der Gattung interferieren, durch sie beeinflusst sind und sie ihrerseits wieder beeinflussen. Sie gehören also zwar nicht zu den Dystopien im engeren Sinn, aber doch unbedingt zum Gattungskontext. Die Basis für den Aufbruch der Dystopien zu einer zweiten Boomphase nach Jahrzehnten geschwundener Relevanz (vgl. 3.3) ist vor allem in einem Aufbrechen von konventionalisierten narrativen Strukturen und thematischen Feldern zu sehen. Allerdings bleibt immer zu beachten, dass die Gattung aufgrund der Fülle an Publikationen längst nicht mehr komplett überblickt werden kann.518 Es wäre nicht bedauerlich, sondern gerade wünschenswert, wenn eine verstärkte ›Dystopieforschung‹ die aus dem hier gewählten Textkorpus gewonnenen Erkenntnisse noch weiter ausdifferenzieren und ergänzen würde.

5.1

Themen

»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich

518 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 447.

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Die literarische Dystopie nach 1990 – eine Gattung bricht auf (Zusammenfassung)

schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.519

Dystopien waren bis 1990 überwiegend Texte, die vor einem Umschlag utopischer Gesellschaftsentwürfe ins Dystopische warnten und die insbesondere auf kritische Porträts totalitärer Zukunftsstaaten spezialisiert waren. Der inhaltlich bedeutsamste Wandel, der sich innerhalb der Gattung in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, ist der Übergang von diesem anti-utopischen Ansatz zu einer Thematisierung von Problemen ›postutopischer‹ Gesellschaften. Die Gegenwartsdystopie zeigt nun häufig jene potentiellen Gefährdungen auf, die sich aus der Abwesenheit großer, gesellschaftlich wirksamer Leitutopien ergeben. Die Gattung, die auf Anti-Utopismus und Anti-Totalitarismus festgelegt schien, erweist sich somit als thematisch überraschend wandlungsfähig. Es reagiert auf die veränderte Rolle der Utopie in den westlichen Gesellschaften (vgl. 4.1) und wahrt sich dadurch nicht nur seine Relevanz, sondern baut sie massiv aus: Den neuen Problemkomplex, der sich aus der (versuchten) Abschaffung von Utopien und Ideologien520 ergibt, hat es nämlich nicht nur bearbeitet, sondern überhaupt erst abgesteckt und greifbar gemacht. Als die hauptsächlichen Gefahren ›postutopischer‹ Gesellschaften zeigen die Dystopien der Gegenwart einerseits eine Ziel- und Orientierungslosigkeit, die auf staatlicher, aber auch auf individueller Ebene zu Antriebslosigkeit und Verfall führen kann (allen voran in IJ, UN und MA). Andererseits stellt sie ungewollte und unbewusste Re-Ideologisierungsprozesse dar, die den Versuch einer völlig ideologiefreien Gesellschaftskonstitution als gefährliche Aporie erscheinen lassen: Nach der bewussten Abschaffung weltanschaulicher bzw. politischer Ideologien und Utopien weisen die Dystopien der Gegenwart auf eine damit möglicherweise einhergehende, unbewusste Erhöhung anderer Inhalte zu neuen Ideologien hin (am explizitesten in CD, aber auch in IJ, UN, MA, AA). Fehlen politisch-gesellschaftliche Sinnangebote, so bleiben den Individuen oft nur Lustmaximierung und Unlustvermeidung als letzter Daseinszweck. So zeigen sich in den Zukunftsszenarien verschiedene Spielarten eines überhöhten und zugleich hohlen Hedonismus,521 daneben aber auch andere, verwandte Phäno519 Zit. n. Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzählungen und Prosa aus dem Nachlass. Herausgegeben von Max Brod und Hans-Joachim Schoeps [Bibliothek verbrannter Bücher]. Hildesheim u. a. 2008, S. 59. Der Titel der zitierten Zeilen lautet: Kleine Fabel. 520 Als Ideologie sei hier eine unhinterfragbare Leitidee verstanden, also eine Grundüberzeugung, die so internalisiert ist, dass sie von Anhängern dieser Ideologie nicht mehr einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Eine Ideologie kann bei Individuen, innerhalb bestimmter Gruppen oder bezüglich ganzer Gesellschaften offen oder verdeckt/unbewusst auftreten. 521 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 447.

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mene wie ein maßloser Körperkult. Überhaupt hat es in der Zusammenschau der einzelnen Texte den Eindruck, als sei der von jeder Ideologie befreite Mensch ganz auf die materielle Welt – und damit eben in erster Linie auf seine Körperlichkeit – zurückgeworfen. Kein Wunder also, dass sich die oft ungesteuerten, unbeabsichtigten Re-Ideologisierungsprozesse, die die Texte zeigen, dann im materiell-körperlichen Bereich vollziehen. Der Körper war in klassischen Dystopien gewissermaßen ein Medium zur Unterwerfung der Individuen durch den totalitären Staat (z. B. durch körperlichen Drill), nun äußert sich in zeitgenössischen Dystopien über den Umgang mit dem Körper eine existentielle Leere der Individuen. Eine politische Ziellosigkeit auf Ebene der westlichen Nationalstaaten nach dem Ende des Kalten Krieges und damit nach dem scheinbaren »Ende der Geschichte«522 und eine persönliche Ziellosigkeit auf individueller Ebene nach postmoderner Entideologisierung und dem weitgehenden Ende materieller Existenzsorgen verschmelzen im Spiegel der Gegenwartsdystopie zu einer hohlen Saturiertheit der westlichen Gesellschaften (vgl. IJ, CD, MA, AA, bzgl. des Individuums auch UN). Die politische Stabilität und der historisch betrachtet beispiellose Wohlstand des Westens scheinen aus dieser Perspektive also paradoxerweise gerade durch ihre Unangefochtenheit in Gefahr zu geraten. Mehrere der untersuchten Romane zeichnen Gesellschaftsbilder, in denen das Fehlen äußerer Bedrohungen den Weg für Dekadenz im Inneren frei gemacht hat (IJ, CD, MA). Allen voran ein veränderter Blick auf den demokratischen Liberalismus markiert thematisch den Übergang von der Nachkriegsdystopie zur zeitgenössischen Dystopie. Der westliche Liberalismus kann autoritären Tendenzen oder der atomaren Bedrohung zum Opfer fallen, worauf die Dystopie der Nachkriegszeit immer wieder hingewiesen hat – er kann aber auch an sich selbst zugrunde gehen, wie die Dystopien der Gegenwart nun zu zeigen versuchen.523 Die freiheitliche Lebensweise westlicher Prägung war in der Nachkriegsdystopie das Schützenswerte; nun ist sie beides, das Schützenswerte und die Quelle ihrer 522 Diesen Aspekt greift Gonnermann in ihrer Dissertation zur Dystopie im 21. Jahrhundert breit auf (Gonnermann, Absent Rebels, S. 58–68), allerdings besteht durch ihn auch die Gefahr eines Fehlschlusses, wie Gonnermann ihn in einem früheren Aufsatz zieht und der in ihrer Dissertation nicht mehr in der selben Weise auftaucht: […] [A] contemporary literary movement that presents readers a world void of alternatives besides neoliberal capitalism. I refer to this impression with the term »post-pessimism,« i. e. the understanding that neither an optimistic nor pessimistic attitude is justified due to the lack of alternatives. (Gonnermann, The Concept of Post-Pessimism, S. 27). Denn was mehrere Dystopien der Gegenwart vehement aufzeigen, ist, dass (neoliberaler) Kapitalismus – oder wie man das gegenwärtige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell nennen möchte – keine in sich unveränderliche Konstante darstellt und dass sich dieses Modell nicht nur revolutionär, sondern auch evolutionär verändern kann; sei es zum Besseren oder zum Schlechteren. 523 Vgl. hierzu auch noch einmal kontrastierend Gonnermanns Konzept des »Post-Pessimism« in der vorigen Fußnote.

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eigenen Bedrohung. Die Gegenwartsdystopie begibt sich daher auf die komplexe Suche nach morschen Stellen innerhalb des liberalen Systems.524 Auf inhaltlicher Ebene ist entscheidend, dass sich ein Dilemma ›postutopischer‹ Gesellschaften ergibt, da die Problematisierung eines ›Postutopismus‹ durch die Dystopien (siehe oben) keinesfalls die Forderung nach einem naiven Zurück zu Utopie und Ideologie impliziert. Der thematische Wandel innerhalb der Gattung ist nicht als Abwendung vom anti-utopischen Ansatz der älteren Texte zu verstehen, sondern als eine Weiterentwicklung. Utopien bergen durch die sich früher oder später einstellenden Ideologisierungstendenzen große Gefahrenpotentiale, worauf nicht zuletzt die älteren Dystopien immer wieder hingewiesen haben, doch gleichzeitig erweist sich aus Sicht der Gegenwartsdystopie eine Gesellschaftskonstitution ganz ohne Utopien und Ideologien ebenfalls als problematisch oder gar als unmöglich (v. a. IJ, CD, UN, MA, AA). Den westlichen Gesellschaften droht aus Sicht der untersuchten Romane also ein Schicksal wie Kafkas eingangs zitierter Maus, deren tragisches Ende trotz einer gewissen Wahlmöglichkeit unausweichlich erscheint. Können sich auch die westlichen Gesellschaften langfristig nur entscheiden, ob sie sich gefräßigen Ideologien ausliefern oder in die gleichfalls tödliche Falle der Ideologie- und Utopielosigkeit tappen wollen? Die Gegenwartsdystopie begibt sich sogar auf die Suche nach einem ›dritten Weg‹, der aus genau diesem Dilemma herausführen könnte.525 Eine Lösung zeichnet sich hier indessen noch nicht ab, beziehungsweise testen die Romane ganz unterschiedliche Ansätze aus. Ein beständiges Hinterfragen der jeweils herrschenden Ideologie als einzigem Ausweg (CD), ein neuer, ökologisch-humanistischer Utopismus, der auf mit der Umwelt harmonierende Kleingruppen setzt (MA), ein Sozialismus 2.0 (QL) oder ein ›postutopischer Utopismus‹, der den Utopismus verworfen hat, aber mangels Alternativen dennoch an ihm festhält (AA) sind sehr divergierende Ansätze, die die Romane versuchsweise vorschlagen. Das große Verdienst der Dystopie der Gegenwart ist es auf inhaltlicher Ebene also, den anti-utopischen Ansatz der Vorgängertexte zu einer Kritik ›postutopischer‹ Gesellschaften weiterentwickelt und das sich hieraus ergebende Dilemma nachvollziehbar gemacht zu haben. Eng verbunden mit diesem Problemkomplex ›postutopischer‹ Gesellschaften ist die Warnung vor einem falschen Umgang mit dem Erbe der Aufklärung und damit vor einem naiven 524 In dieser Hinsicht steht die Gegenwartsdystopie dem älteren Text Brave New World näher als Nineteen Eighty-Four. 525 Gonnermann kann auf Basis der von ihr untersuchten fünf Romane diesen konstruktiven Aspekt der Gegenwartsdystopie nicht ausmachen (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 303). So stellt sich auch die Frage nach der Relevanz der von ihr diagnostizierten »iconoclastic dystopias«, bei denen es um ein »away from« gehe (Gonnermann, Absent Rebels, S. 308).

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Fortschrittsglauben. Insbesondere auf das Fehlen eines selbstreflexiven Elements der Aufklärung bzw. der heutigen, nominell ›aufgeklärten Zeiten‹ weisen die Dystopien der Gegenwart hin. Wird, wie oben geschildert, die Möglichkeit einer utopie- und vor allem einer ideologiefreien Gesellschaftskonstitution negiert, so muss die versuchte Abschaffung aller Utopien und Ideologien zwangsläufig Misstrauen erregen. Eine überhöhte, intolerante Fortschrittsagenda könnte sich zu einer neuen, unhinterfragbaren Ideologie mit höchst gefährlichen Folgen aufschwingen oder hat dies bereits getan (am deutlichsten in CD, UN und TC, daneben aber auch in IJ und MA). Dies wäre eine gesellschaftliche Rückentwicklung im Zeichen der Weiterentwicklung. Die untersuchten Romane versuchen daher, zu einer Aufklärung über die Aufklärung beizutragen. Völlig verändert ist auch die Rolle des Staates.526 War dieser in den prototypischen Texten der Gattung häufig der vordringliche Aggressor, der das exemplarische Individuum durch seine totalitären Ansprüche seiner Freiheit beraubt hat, so ist es nun nicht mehr die Stärke des Staates, die bedrohlich scheint, sondern gerade seine Schwäche, etwa im Machtkampf mit internationalen Konzernen (vgl. TC und MA). Eine Schieflage auf politischer Ebene ist in den untersuchten Romanen häufig nur noch Symptom einer tiefergehenden, gesamtgesellschaftlichen Unwucht (vgl. z. B. IJ oder MA, in gewisser Weise auch UN). Die Sorge vor einem utopisch konzipierten, aber ins Dystopische gekippten Zwangsstaat ist verschwunden (TO als Ausnahme am Rande der ›westlichen‹ Welt) und durch die Sorge vor chaotischen und anarchischen Zuständen, bedingt durch die Schwäche des Hobbesschen Leviathans, ersetzt worden. Auch in diesem Punkt zeigt sich der tiefgreifende inhaltliche Wandel der Dystopie. Sie reagiert auf eine veränderte politische Ausgangslage, die nach 1990 nicht mehr von der Bedrohung durch den Sozialismus, sondern z. B. durch postdemokratische Prozesse im Sinne Colin Crouchs geprägt ist.527 Je weniger tatsächliche Macht in solch postdemokratischen Zeiten auf der politischen Ebene liegt,528 desto mehr verliert diese Ebene an Relevanz für die Dystopie der Gegenwart.529 Das genuin Politische wird in vielen der untersuchten Romane daher weit in den Hintergrund gedrängt (v. a. in IJ, CD, MA, NG, TC), was diese jedoch nicht zu unpolitischen Texten macht. Im Gegenteil soll diese thematische Verschiebung 526 Vgl. hierzu auch Gonnermann, Absent Rebels, insbesondere S. 18–19. 527 Crouch, Post-Democracy, S. 19–20: If we have only two concepts – democracy and nondemocracy – we cannot take discussion about the health of democracy very far. The idea of post-democracy helps us describe situations when boredom, frustration and disillusion have settled in after a democratic moment; when powerful minority interests have become far more active than the mass of ordinary people in making the political system work for them; where political elites have learned to manage and manipulate popular demands; where people have to be persuaded to vote by top-down publicity campaigns. 528 Crouch, Post-Democracy, S. 3–14. 529 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 18–19.

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eine reale Machtverschiebung abbilden – das exemplarische Individuum, das in prototypischen Dystopien auffällig oft ein politischer Insider ist, kommt nun als Mitarbeiter eines Großkonzerns unter Umständen näher an das wirkliche gesellschaftliche Machtzentrum heran und kann von dort Einblicke liefern (MA, TC).530 Die Dystopie der Gegenwart ist also in gewisser Weise noch immer eine Art ›Staatsroman‹, da sie das Zustandekommen und die Wirkung von Machtstrukturen innerhalb des Staates thematisiert, auch wenn dazu unter Umständen keine einzige Politikerfigur mehr zum Personeninventar gehören muss. Doch nicht nur Großkonzerne sind für die aktuellen Texte der Gattung interessant, auch die Individuen, aus denen sich die porträtierten Gemeinwesen zusammensetzen, finden zunehmend Beachtung. Der Hauptgrund hierfür liegt darin, dass (wie oben bereits erwähnt) das primäre dystopische Element nun weniger in einer Verderbnis der Staatsführung liegt, sondern sich gewissermaßen von unten nach oben, von den Zellen auf den Gesamtorganismus, auswirkt.531 Eine Beschäftigung mit der menschlichen Natur ist somit nun von noch größerem Interesse. Im Vergleich zu älteren Texten sind die Dystopien der Gegenwart daher ›psychologischer‹ geworden (allen voran in IJ und MA), was in der Folge auch zu einem Abbau an narrativen Schematismen beigetragen hat (vgl. 5.2). Insgesamt ist seit 1990 eine ungeheure Ausweitung des Themenspektrums532 zu konstatieren. Vor allem die extreme Vergrößerung technischer Möglichkeiten durch die Digitalisierung hat zu neuen Gefahrenpotentialen geführt, die in den Dystopien gespiegelt werden. Wie in den prototypischen Texten bleibt Überwachung daher ein Kernthema der Gattung, der vieles sehende Big Brother ist aber inzwischen zu einem alles sehenden Big Brother 2.0 geworden. Noch signifikanter als die erweiterten technischen Möglichkeiten ist jedoch die Ursachenverschiebung, warum diese Überwachung überhaupt stattfindet. War die versuchte Komplettüberwachung früher ein Herrschaftsmittel des totalitären Zwangsstaats, so ist die neue, umfassende Überwachung durch Digitalkonzerne die Folge einer freiwilligen Öffnung durch die Individuen (vgl. insbesondere TC). Überhaupt zeigt sich in mehreren der untersuchten Romane, dass eine unheimliche neue Freiwilligkeit den früheren totalitären Zwang abgelöst hat.533 530 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 55. 531 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 302. Gonnermanns Analyse von Gegenwartsdystopien vor dem Hintergrund von Netzwerktheorien (vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 18–21) ist daher eine plausible und sinnvolle Herangehensweise. 532 Es würde den Rahmen dieser Ergebniszusammenfassung sprengen, alle Einzelthemen aufzuführen, die die Einzelanalysen zutage gefördert haben; sie können den jeweiligen Analysen direkt entnommen werden. Ohnehin wäre eine solche Aufzählung wenig zielführend, da das Textkorpus natürlich nur einen kleinen Teil des gesamten Textfeldes abdeckt und somit auch die Liste an Einzelthemen lückenhaft bleiben müsste. 533 Gonnermann deutet diese neue Freiwilligkeit nur als eine scheinbare, die in Wirklichkeit das Symptom eines zwanghaften Wunsches nach Zugehörigkeit sei. Vgl. hierzu Gonnermann,

Themen

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Körperlicher Drill etwa, ebenfalls ein klassisch-dystopischer Topos, ist zu einem gesellschaftlich akzeptierten Phänomen geworden und man verordnet sich diesen Drill nun selbst (IJ, CD). Auch in der Gegenwart ist also nicht der schwache, kranke Körper ein gängiges dystopisches Element, sondern gerade der überfitte, über-natürliche Körper; die Umstände seines Zustandekommens dagegen haben sich radikal verändert. Oft scheint es in den Texten so, als hätte der Westen die totalitären Bedrohungen des 20. Jahrhunderts nur abgewehrt bzw. überstanden, um nun feststellen zu müssen, dass der überwachende und drillende Big Brother aus dem Innersten seiner unzähligen Individuen hervorbricht. Dies ist in sich folgerichtig, da – wie bereits weiter oben ausgeführt wurde – nach der Entideologisierung der Gesellschaft einem totalitären Big Brother die Grundlage entzogen ist, nun aber aus Sicht der Gegenwartsdystopie oft eine ›wilde‹ Re-Ideologisierung auf Ebene der einzelnen Individuen stattfindet, die dann zu dieser neuen Freiwilligkeit führt. Die Dystopie ist außerdem im Stande, auf völlig neue potentielle Gefährdungen wie etwa den ›Brexit‹ rasch und auf eine Weise zu reagieren, die in weiten Bevölkerungskreisen als relevant erachtet wird, wie der kommerzielle Erfolg dieser ›Brexit-Dystopien‹ zeigt (vgl. 5.3). Der aktuelle Boom der literarischen Dystopien steht somit in direktem Gegensatz zum allgemeinen Trend sinkender Buchverkäufe534 und die thematische Flexibilität der Gattung ist zur Erklärung dieses Phänomens sicherlich ein wichtiger Faktor (zu den weiteren Gründen vgl. 5.2 und insbesondere Kap. 7). Die inhaltliche Vielfalt der zeitgenössischen Dystopie spiegelt eine Gegenwart, die im Vergleich zur geopolitischen Lage vor 1990 immer unübersichtlicher wird. Auf staatlicher Ebene entwickelt sich die unipolare Welt, die nach dem Untergang der Sowjetunion die bipolare Ordnung abgelöst hatte, aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen Stärke ehemaliger Schwellenländer gerade zu einer multipolaren Welt.535 Auch auf personaler Ebene zeigt sich eine immer weiter fortschreitende Individualisierung, die in den Dystopien problematisiert wird (v. a. in IJ) oder die sogar zu einer Verabschiedung des bisher als Einheit gedachten Gemeinwesens, auf das sich die in Utopien/Dystopien imaginierten Zukunftsentwicklungen recht homogen projizieren ließen, geführt hat (UN). Auch das extrapolierende Verfahren der Dystopien hat sich entscheidend verkompliziert, da primäre Trends und deren spätere Auswirkungen nun häufig in Absent Rebels, S. 302. Hier wird diese Freiwilligkeit dagegen als das Ergebnis von ReIdeologisierungsprozessen gedeutet. In diesem Sinne wäre die Freiwilligkeit echt, ihre Basis jedoch höchst fragwürdig. 534 Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/krise-im-buchmarkt-studie-das-buch-passt-nic ht-mehr-zum-lebensrhythmus/22657780.html (letzter Abruf am 23. 09. 2019). 535 Nachgezeichnet wird diese Entwicklung z. B. bei Dilip Hiro: After empire: the birth of a multipolar world. New York 2010.

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sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen auftauchen und es mittlerweile oft eine interpretatorische Aufgabe geworden ist, beide überhaupt noch aufeinander beziehen zu können – etwa wenn eine eher diffuse Ziel- und Antriebslosigkeit vielfältige Anzeichen gesellschaftlicher Dekadenz, wie z. B. grassierende Drogenprobleme, hervorruft (vgl. insbesondere, aber nicht ausschließlich IJ, UN, MA). Viele der unterschiedlichen thematischen Felder, die die Romane eröffnen, lassen sich von einer höheren Warte aus als eine Warnung vor einer großen Epoche der Regression begreifen. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat die westliche Welt einen Aufschwung erlebt, der in seiner Intensität, Geschwindigkeit und Stabilität in einem historischen Vergleich beispiellos ist. Gleichzeitig aber kam aus Sicht der Romane dabei das Bewusstsein mehr und mehr abhanden, dass diese Entwicklung endlich und sogar umkehrbar sein könnte. In den Dystopien spiegelt sich daher die Furcht vor einer Entwicklungstrendwende, die den Westen mental unvorbereitet träfe und somit aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Katastrophal wäre also nicht unbedingt ein wirtschaftlicher Rückschritt, sondern vor allem ein überforderter, irrationaler Umgang mit einem solchen.536 Immer wieder wabert daher ein Hauch des dekadenten und ignorant-ahnungslosen Rom kurz vor seinem Untergang durch die untersuchten Romane (IJ, UN, MA, BO, AA). Es zeigt sich hier ein typisch dystopischer Ansatz, durch das warnende Aufzeigen negativer Zukunftspotentiale das Eintreten solcher Szenarien weniger wahrscheinlich machen zu wollen. Die Dystopien der Gegenwart rütteln das Bewusstsein wach, dass die Phase ständig wachsenden wirtschaftlichen Wohlstands und ungefährdeter gesellschaftlicher Stabilität enden könnte, insbesondere, wenn diese Stabilität für selbstverständlich gehalten wird. Durch diesen Hinweis auf die Fragilität der Zustände soll also der Status quo gestützt werden – dieser strukturelle Ansatz erweist sich somit von der Entstehung der Gattung bis heute als eine große Konstante.537 Es wäre außerdem voreilig zu behaupten, die zeitgenössischen Dystopien zeigten im Vergleich zu den früheren, anti-utopischen und anti-totalitären Texten ein allgemein gesteigertes Gefahrenpotential. Wozu ein ins Totalitäre umgeschlagener Utopismus fähig ist, hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Genüge gezeigt und zeigt sich z. B. in Nordkorea auch heute noch. Allerdings, und insofern hat die abgebildete Karte doch ihre Berechtigung, sind die neuen Ge536 Es scheint so, als wären die ersten möglichen Anzeichen eines derartigen Umschwungs aus diesem Grund so besorgniserregend – z. B. der schwindende Einfluss der USA auf die Weltpolitik (ebenso nachzulesen bei Dilip Hiro: After empire: the birth of a multipolar world. New York 2010), der ›Brexit‹, der Rechtspopulismus in Osteuropa und der überall anstehende Strukturwandel des Arbeitsmarktes durch die Digitalisierung. 537 Ob dieser Ansatz erfolgversprechend ist, ist umstritten, vgl. etwa den ›Alarmismus‹-Vorwurf bei Horx, Anleitung zum Zukunftsoptimismus, S. 15–35. Diese und verwandte, über die Literatur hinausgehende Fragen sollen näher in Kapitel 7 diskutiert werden.

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fährdungen deutlich vielfältiger, diffuser und schwerer greifbar als die früheren. Die Welt, wie die Dystopien sie spiegeln, mag insgesamt vielleicht nicht unbedingt existenzgefährdender geworden sein, doch sicherlich ist sie komplizierter geworden. Wenn man die gesellschaftliche Funktion der Gattung über alle Epochen hinweg vor allem in der Konkretion von Gefährdungen sieht (wie in Gliederungspunkt 2.4 der Fall), so ergibt sich an dieser Stelle bereits ein wichtiger Teil der Erklärung für das momentan so hohe Interesse an Dystopien (ausführlicher dann in Kap. 7). War früher das Gegenmodell eines totalitären Zwangsstaats recht eindeutig ein liberaler Rechtsstaat, der die Freiheitsrechte des Individuums schützt anstatt sie anzugreifen, so zeichnet sich auch ein Heilmittel gegen die neuen extrapolierten gesellschaftlichen Schieflagen nur schemenhaft ab. Es ergeben sich dabei allenfalls die Umrisse eines Ins-Reine-Kommen des Menschen mit der Natur, dem Wirtschaftssystem538 und vor allem mit sich selbst. Konkreter werden die positiven Alternativen nur selten ausgestaltet (MA hier als signifikante Ausnahme). Bei dem tiefgreifenden Wandel, den die Dystopie auf inhaltlichem Gebiet erfahren hat, wird es nötig, auf die noch bestehenden Kontinuitäten eigens hinzuweisen. Die eigentlich eher feuilletonistische als literaturwissenschaftliche Bezeichnung der Dystopien als ›Warnromane‹ bleibt weiterhin aktuell, sofern man den Begriff nicht generell ablehnt, weil er suggerieren könnte, die Plausibilität des Zukunftsszenarios wäre ein Qualitätsmerkmal von Dystopien.539 Auch die Dystopien der Gegenwart warnen durch ihr extrapolierendes Verfahren vor zukünftigen Gefahren, allerdings ist diese Warnstruktur, wie gezeigt, in vielen Fällen deutlich komplexer geworden. Trotz der Integration (selbst-)ironischer Elemente (vgl. 5.2) bleiben sie damit in ihrer Grundausrichtung ernste und politisch engagierte Texte. Sie bleiben der utopisch-dystopischen Gattungstradition eng verbunden, indem sie narrativ ausgestaltete Imaginationsräume schaffen, durch die abstrakte Gefahrendiskurse für eine weite Leserschicht nachvollziehbar werden. Angesichts des umfassenden Wandels auf inhaltlicher Ebene stellt sich abschließend die Frage, was aus einer diachronen Perspektive eigentlich noch als 538 Diesen Aspekt macht Gonnermann sehr stark. Bei ihr scheint es, als liege in der Überwindung des Kapitalismus der Schlüssel zu fast allen Problemen, die in den Dystopien aufgeworfen werden und die tatsächlich in den westlichen Gesellschaften bestehen: »By illuminating the dark side of our economic system, dystopias nudge humanity towards a better future.« (Gonnermann, Absent Rebels, S. 312). 539 Eine solche Erwartungshaltung wird in der Regel weder den älteren noch den neueren Dystopien gerecht. Die Gefahr entsprechender Missverständnisse ist mittlerweile allerdings gesunken, da die Dystopien der Gegenwart den spekulativen und häufig auch den satirischen Charakter des von ihnen entworfenen Zukunftsszenarios offensiver und selbstironischer ausstellen (vgl. 5.2) und sich damit insgesamt eine veränderte Rezeptionshaltung geschaffen haben.

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essentielles Merkmal der Gattung betrachtet werden kann. Lange Zeit nämlich schien Anti-Utopismus der wesentliche Kern der Gattung zu sein, weswegen sich im deutschsprachigen Bereich die Gattungsbezeichnung ›Anti-Utopie‹ durchgesetzt hat.540 Doch während in jüngster Zeit vermehrt Zweifel aufkommen, ob diese Zuschreibung allen früheren Dystopien wirklich gerecht wird,541 so ist sie für die Dystopien der Gegenwart zweifellos unpassend und damit für eine diachrone Verbindungslinie unbrauchbar. Auch der häufig unternommene Versuch, die gesamte Gattung auf einzelne Inhalte (z. B. Anti-Totalitarismus) festzulegen, ist aporetisch. Dies ist der Grund, weshalb in der Arbeitsdefinition der Dystopie im engeren Sinne auf die Integration thematischer Felder verzichtet wurde (vgl. 2.3): Nicht einzelne Inhalte sind für die Gattung substantiell, vielmehr ist es das Verfahren, potentiell gefährliche Gesellschaftstrends extrapolierend aufzugreifen, narrativ auszugestalten und dadurch zu konkretisieren.542

5.2

Narrative Gestaltung

Ein mindestens ebenso großer Wandel wie im thematischen Bereich ist auch bei den narrativen Gestaltungsmitteln der Gegenwartsdystopie zu konstatieren – dieser zweite Aspekt hat das Gesicht der Gattung vermutlich sogar noch stärker verändert als die inhaltlichen Umbrüche, die sich ja oft erst durch eine detaillierte Analyse ergeben. Es zeigen sich hinsichtlich der narrativen Gestaltungsmittel zwei Hauptlinien: Erstens ist in den Gegenwartsdystopien eine Abkehr von jenem prototypischen Handlungsschema festzustellen, das sich während der Boomphase in der Nachkriegszeit als Gattungskonvention herausgebildet hat und zweitens sind die Dystopien heute spielerischer und (selbst-)ironischer als früher. Dieser zweite Punkt impliziert kein Aufgeben eines politisch-ernsten Ansatzes, sondern verweist auf die unterschiedliche Herangehensweise, wie Inhalte dargeboten und Thesen vertreten werden. Oft zeigt sich nun das eigentliche, ernste Anliegen der Dystopien erst unter einer ironisch-spielerischen Schicht (z. B. in IJ und QL). In einem selbstironischeren Ansatz spiegelt sich zudem das Bewusstsein um die Schwierigkeit oder sogar die Unmöglichkeit, Zukunfts540 Friedrich, Utopie, S. 739. 541 Vgl. Seeber, Präventives statt konstruktives Handeln, S. 186. 542 Insofern ist es gerade nicht so, wie Gonnermann in ihrer primär auf Inhalte fokussierten Darstellung schreibt, dass die extrapolierenden Elemente der Gattung klein und unbedeutend geworden und die Dystopien der Gegenwart daher geradezu zu verkappten Gegenwartsromanen geworden seien (vgl. z. B. Gonnermann, Absent Rebels, S. 258, FN 194 und S. 302). Die Extrapolation ist nach wie vor das entscheidende Mittel der Dystopie im engeren Sinn. Eine treffende Interpretation des jeweiligen Extrapolationsvorgangs ist meist der Schlüssel zu einer treffenden Interpretation der Dystopien insgesamt.

Narrative Gestaltung

253

prognosen aufzustellen (so etwa auch im insgesamt recht ernsten CD, daneben in IJ, TO, QL). Durch den Einsatz von Ironie und/oder Metafiktionalität543 versuchen die Texte, sich eine Rezeptionshaltung zu schaffen, in der sie nicht als Prognosen gelesen und dadurch mit uneinlösbaren Ansprüchen konfrontiert werden. Auch Komik spielt nun eine deutlich größere Rolle als in der Nachkriegsdystopie. Dieser Umstand kommt bei der Betrachtung der Gegenwartsdystopie auch in der Literaturwissenschaft noch viel zu kurz – Zeißler nennt ihre Publikation Dunkle Welten, Layh die ihre Finstere neue Welten und auch Gonnermann konstatiert apodiktisch: »[N]ew dystopias are hard to stomach«.544 Man kann daher sagen: Das Bild, das von der Gegenwartsdystopie vorherrscht, ist deutlich eindimensionaler als die Gegenwartsdystopie selbst. Sowohl die geringere Schwarz-Weiß-Zeichnung als auch die (selbst-)ironische Grundhaltung sind dabei als Kernvoraussetzungen zu betrachten, durch die die Gattung auf erzähltechnischer Ebene die Basis für einen zweiten Boom gelegt hat. Die 1970er- und 1980er-Jahre erweisen sich dadurch als die in 3.3 konstatierte, regenerative ›Brache‹: Tatsächlich hatte die Gattung während dieser ›postmodern‹ geprägten Zeit aufgrund seines ernsten Ansatzes einen schweren Stand, doch zeigt sich nun, nach der Re-Politisierung der Literaturlandschaft um die Jahrtausendwende,545 wie sehr es trotzdem durch die Integration ›postmoderner‹ Gestaltungselemente profitiert hat.546 Die Gegenwartsdystopien können jetzt selbstreflektiert und ohne permanent erhobenen moralischen Zeigefinger politisch höchst brisante Themen verhandeln und treffen vermutlich genau wegen dieser Kombination einen gesellschaftlichen Nerv. Weitere Elemente des Wandels in der narrativen Gestaltung sind außerdem das Spiel mit den definitorischen Grenzen der Gattung und eine verstärkte metaphorische bzw. allegorische Aufladung der Texte. Beide Aspekte hängen eng zusammen. Wenn etwa die Integration einzelner phantastischer Versatzstücke in die Handlung die Aufrechterhaltung eines prognostischen Gestus unterbricht (IJ, CD), werden die Romane an diesen Stellen eher gleichnishaft-dystopisch und

543 Der Begriff ist in jüngster Zeit heftig umstritten; an dieser Stelle soll er schlicht für Elemente innerhalb der Romane stehen, die auf die Narrativität (und damit auch auf die Artifizialität) der Texte hinweisen. 544 Gonnermann, Absent Rebels, S. 302. Die Unterschiede im Fazit zwischen Gonnermanns und dieser Arbeit liegen sicherlich auch in der unterschiedlichen Korpusbildung begründet; allerdings erscheint es problematisch, wenn die Analyse einer gesamten Gattung, wie bei Gonnermann, nur auf einer Beschäftigung mit fünf Titeln basiert, auch wenn diese fünf Auseinandersetzungen jeweils sehr detailreich ausgearbeitet sind. 545 Vgl. Wagner, Aufklärer der Gegenwart, S. 52–61. 546 Elena Zeißler hat diese, wie in 3.4 beschrieben, erstmals dargestellt; vgl. Zeißler, Dunkle Welten, S. 217–223.

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nähern sich der Erzähltradition um Animal Farm an (vgl. hierzu die Analyse von NG). Ein Experimentieren ist aber nicht nur im Umgang mit definitorischen Grenzen, sondern darüber hinaus auch hinsichtlich der Rolle der Hauptfiguren zu beobachten.547 Die Konzeption dieser bleibt, wie in den früheren Texten, von entscheidender Bedeutung für die Gattung. Allerdings finden sich nun teilweise mehrere Hauptfiguren (IJ, MA) oder solche, die als regelrechte Anti-Figuren angelegt sind (TO, TC). Gerade letzteres führte jedoch zu Irritationen bei der Rezeption dieser Dystopien. Der tradierte Bauplan klassischer Dystopien erweist sich somit als nicht bloß zufällig entstandenes System; Abweichungen hiervon stellen ganz generell erzählerische Wagnisse dar.548 Andererseits nutzen die untersuchten Texte diese gattungsspezifischen Erwartungen und Lesegewohnheiten, um durch ihre Nichterfüllung narrative Effekte zu erzielen und Spezifika der eigenen Narration besonders zu markieren (vgl. IJ, TO, TC und insbesondere UN). Teilweise sind die Veränderungen in der narrativen Gestaltung aber nicht nur auf erzählerische Experimentierfreudigkeit zurückzuführen, sondern als Folgen des im vorigen Abschnitt beschriebenen inhaltlichen Wandels zu betrachten. Da sich in den Dystopien der Gegenwart die Rolle des Staates von einem Aggressor zu einem versagenden Leviathan gewandelt hat, ist die Verantwortung für die dystopische Entwicklung häufig von der genuin politischen Ebene verschwunden. Politische Schieflagen sind nun oft nur noch das Symptom einer gesellschaftlichen Dekadenz und nicht mehr deren Ursache (vgl. 5.1). Dadurch entfällt mit Blick auf die gattungstypische Handlungsstruktur die Rolle der staatlichen Antagonisten wie sie Mustapha Mond oder O’Brien verkörpert haben und gegen die die Protagonisten als exemplarische Individuen aufbegehren konnten. Oft wird dadurch das komplette prototypische Handlungsschema obsolet, weil der Protagonist nun mehr mit sich und einem diffusen Zeitgeist zu kämpfen hat als gegen einen ins Dystopische umgeschlagenen Staatsapparat (am deutlichsten in IJ). Die Phase der Rebellion, das Gespräch mit der hierarchischen Spitze des Staates, das finale Scheitern des Protagonisten und die Umerziehung bleiben in der Gegenwartsdystopie oft nicht einmal mehr unausgefüllte Leerstellen, sondern spielen durch eine völlig veränderte Romanstruktur gar keine Rolle mehr. So verblasst das konventionelle Handlungsschema auch aus inhaltlichen Gründen und die Romankonzeptionen vollziehen sich in großer Offenheit, sodass die aktuellen Dystopien durch ihre Heterogenität auffallen. 547 Diesen Aspekt macht Gonnermann sogar zum Angelpunkt ihrer Untersuchung der Gegenwartsdystopie mit dem Titel Absent Rebels. Tatsächlich ist dieser Aspekt in den fünf von Gonnermann analysierten Texten besonders auffällig. 548 Vgl. Gonnermann, Absent Rebels, S. 53.

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Von einem »Radikalpessimismus«, wie Jill Lepore ihn für die Gegenwartsdystopie diagnostiziert549 (vgl. auch Kap. 1 und Kap. 7), sind die hier untersuchten Texte also sowohl bezüglich ihrer inhaltlichen wie auch ihrer narrativen Ausgestaltung weit entfernt. ›Radikal‹ ist die Gegenwartsdystopie nicht, sondern häufig überraschend reflektiert – verglichen mit der Nachkriegsdystopie mischen sich immer öfter Grautöne in die Romankonzeptionen. So erscheint sogar das Attribut eines der Gegenwartsdystopie innewohnenden ›Pessimismus‹ als eher vorschnell und pauschal. Die Gattung verbindet heute Nachdenklichkeit und Besorgnis mit Komik, (Selbst-)Ironie und nicht selten sogar mit konstruktivem Utopismus. Durch diese (zumindest in einer gattungsgeschichtlichen Perspektive) ungewöhnliche Mischung ist die Dystopie zu einem offenen Experimentierfeld geworden und kommt damit einem allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnis nach Reflexion und Orientierung entgegen. Es finden sich in Kapitel 7 der Arbeit noch einige Thesen, die dieses gesellschaftliche Bedürfnis näher beschreiben und dadurch den Boom der Dystopien aus einer soziologischen Perspektive kontextualisieren sollen.

5.3

Boom ohne Ende? Ein Ausblick

An dieser Stelle sollen die allerneuesten Entwicklungen der Gattung, die durch das Textkorpus der Arbeit nicht mehr abgedeckt sind, schlaglichtartig beleuchtet werden. Aufbauend darauf wird dann eine eigene kleine Extrapolation bezüglich der möglichen weiteren Entwicklung der Gattung gewagt. Wie jede Konjunkturphase ist sicherlich auch der gegenwärtige Boom der Dystopien endlich. Ein solches Abflauen des öffentlichen Interesses ist allerdings bislang noch nicht absehbar. Im Gegenteil zeigen gerade die Entwicklungen der letzten Jahre, dass der Dystopie als Kommunikationsform nach wie vor eine herausgehobene Stellung zukommt, wenn es darum geht, auf gesellschaftliche Phänomene kritisch zu reagieren. Besonders eindrücklich zeigte sich dies im Kontext des sogenannten ›Brexit‹-Votums der britischen Bevölkerung im Jahr 2016. Dieses Referendum und seine letztlich zähe und hochkontroverse Umsetzung führte dazu, dass sich quasi über Nacht die ›Brexit-Dystopie‹ als ein eigenständiges Subgattung etablieren konnte. Erwähnenswert sind in diesem Kontext unter anderem Time of Lies (Douglas Board, 2017), Perfidious Albion (Sam Byers, 2018), Night of the Party (Tracey 549 Vgl. Jill Lepores Artikel mit dem Titel A Golden Age for Dystopian Fiction. What to make of our new literature of radical pessimism, erschienen in The New Yorker vom 05. 06. 2017. Online abrufbar unter: https://www.newyorker.com/magazine/2017/06/05/a-golden-age-fo r-dystopian-fiction (letzter Abruf am 17. 03. 2020).

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Mathias, 2018), The Wall (John Lanchester, 2019) und Autumn (Ali Smith, 2016). Bei den vier erstgenannten Werken handelt es sich um Dystopien im engere Sinne; Autumn spielt ebenfalls teilweise in einer extrapolierten Zukunftswelt, daneben finden beträchtliche Teile der Handlung aber auch in den Intervallen 0 und I statt, sodass der konzeptionelle Ansatz dieses Romans über eine reine Dystopie hinausgeht. In allen diesen Texten werden mögliche negative Effekte des ›Brexit‹ zum Ausgangspunkt für die jeweiligen dystopischen Zukunftsentwürfe. In Perfidious Albion beispielsweise hat sich die High Society Englands nach dem ›Brexit‹ auf das Land zurückgezogen und lebt dort, so gut es im 21. Jahrhundert eben geht, in ihrer eigenen kleinen Nostalgie-Welt. Während dort die Glanzzeiten des alten britischen Empire verherrlicht werden, kann sich gleichzeitig ein populistischer Nationalismus in den unteren Bevölkerungsschichten immer weiter ausbreiten; dieser wird einerseits durch den Erfolg beim ›Brexit‹-Referendum, andererseits durch die digitalen Massenmedien beflügelt. Das Ergebnis ist in Perfidious Albion ein rückwärtsgewandtes Land, das sich in Eskapismus und Abschottung immer mehr verliert. Rechtspopulismus ist auch das Hauptthema des Romans Time of Lies, in dem anhand eines Zerr- und Schreckbildes gezeigt werden soll, welche massiven Auswirkungen es haben kann, wenn dieser zur bestimmenden Kraft Großbritanniens würde. Perfidious Albion und Time of Lies greifen dabei eher auf satirische, The Wall – in dem sich ganz England hinter einer riesigen Mauer verschanzt – eher auf allegorische narrative Mittel zurück, wobei die Grenzen natürlich fließend sind. In der Young Adult Fiction Night of the Party ist ein Post›Brexit‹-Britain Ausgangspunkt einer spannungsgeladenen Geschichte, in der eine nationalistische Partei während des Intervalls II an die Macht gekommen ist, nun aber bereits wieder fürchten muss, eine umfassende Wahlschlappe einzustecken. Die inhaltliche Nähe zwischen den einzelnen ›Brexit-Dystopien‹ tritt bei einer solch groben Übersicht unverhältnismäßig stark hervor, im Detail finden sich sowohl bezüglich des Weltentwurfs als auch der narrativen Umsetzung durchaus erhebliche Unterschiede. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle jedoch, dass sich am Beispiel des ›Brexit‹ und seiner literarischen Aufarbeitung mustergültig das bislang ungebrochene Andauern des Booms der Dystopien zeigt. Ein weiterer Text, der ebenfalls den ›Brexit-Dystopien‹ zugerechnet werden kann und der dennoch aus dem Rahmen fällt, ist GRM. Brainfuck (Sibylle Berg, 2019). Der Roman ist auf Deutsch erschienen, spielt aber in England und setzt sich mit der britischen Gesellschaft auseinander, was im Gattungskontext außergewöhnlich ist, da üblicherweise die Sprache des porträtierten Gemeinwesens mit der Originalsprache des Textes identisch ist. Auch die Nationalität des Autors oder der Autorin entspricht in aller Regel dem in Rede stehenden Land. Durch

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die signifikante Abweichung von diesen Konventionen tritt der Roman jenen ReNationalisierungstendenzen, die im Zuge aller ›Brexit-Dystopien‹ kritisiert werden, somit nicht nur inhaltlich, sondern auch performativ entgegen. Der ›Brexit‹ wird dadurch zu einer Angelegenheit von gesamteuropäischem Interesse – und zwar nicht nur, weil die EU ein wichtiges Mitgliedsland verliert. Hinsichtlich der möglichen weiteren Entwicklungen der Dystopie ist aber auch die Vermarktung von GRM vielsagend. Im Klappentext heißt es: Die Überwachungsdiktatur ist fast perfekt. Jeden Tag wird ein anderes Land im Westen autokratisch. […] Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben. Heute. Und vielleicht morgen. Es wird nicht schlimm. Nur – anders. Willkommen in der Welt von GRM.550

Der Boom der Dystopien ist also mittlerweile bei den Dystopien selbst angekommen (vgl. hierzu auch Kap. 1 und QL). In dieser Distanzierung von der Gattung scheint sich die Sorge des Verlags zu spiegeln, der Roman könnte beim Lesepublikum und der Literaturkritik als ein Versuch der Trittbrettfahrerei aufgefasst werden. Der langanhaltende Boom wird für neu erscheinende Texte im Umfeld der Gattung offenbar zunehmend zu einem Problem, da sie Gefahr laufen, nicht mehr als innovativ angesehen zu werden, je stärker der bestehende Boom in der öffentlichen Debatte thematisiert und dem Publikum damit bewusst gemacht wird. So plausibel es daher aus Vermarktungsgründen sein mag, GRM von den übrigen Dystopien abzugrenzen, so wenig überzeugend ist diese Positionierung auf inhaltlicher Ebene. Die Handlung von GRM ist ganz überwiegend in einer nicht allzu weit entfernten Zukunft, im ›Post-Brexit-Britain‹, angesiedelt. Dabei herrscht ein sarkastischer, teilweise gar zynischer Ton des Erzählens vor, der die Negativität der dargestellten Zustände besonders akzentuiert: Und jetzt ist sie bei den Zelten angekommen. Das ist England. Willkommen in einem der ehemals reichsten Länder der Welt. Das ist Europa, Sie wissen schon, die Krone der Schöpfung. Der Kontinent, der sich in schöne Tuche gehüllt am Tisch gehockt und den Rest der Welt verzehrt hatte. So, und nun sieh dir den Müll an. Was Menschen so in hundert Jahren fertigbringen. Hut ab. Brachen und Zelte, vor denen Männer sitzen und aussehen wie Essensreste. Man sagt, jeder IQ-Punkt unter dem Durchschnitt koste die Wirtschaft 20 000 Dollar. Monatlich. Die hier kosten nichts mehr.551

Dieses Textbeispiel zeigt aber nicht nur den spezifischen Tenor im Erzählen, der mit der teilweise drastischen Beschreibung von menschlichem Elend auf der Handlungsebene korrespondiert, sondern auch die europäische Perspektive des 550 Berg, GRM, Klappentext. Eigene Hervorhebung. 551 Berg, GRM, S. 569.

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Romans. Der ›Brexit‹ wird zwar auch hier als spezifisches Phänomen der britischen Gesellschaft betrachtet, die Ursachen, die ihm zugrundeliegen, und der allgemeine Verfallsprozess, der sich ihm anschließt, kann tendenziell aber auch auf jedes andere europäische oder gar jedes westliche Land übertragen werden. GRM konzentriert sich vor allem auf das Schicksal mehrerer Kinder aus Familien in extremen sozioökonomischen Schieflagen, um diesen gesellschaftlichen Verfallsprozess – der sich insbesondere im eklatanten Fehlen einer funktionierenden staatlichen Fürsorge spiegelt – zu veranschaulichen. Ein an größerer Kosteneffizienz orientierter Abbau des Sozialstaats wird in GRM weiter in die Zukunft extrapoliert. Die Hauptfiguren des Romans, die Kinder aus Problemmilieus, leiden am unmittelbarsten und heftigsten unter einer umfassenden Desintegration der britischen Gesellschaft; betroffen ist davon aber letztlich jede Schicht, wenn auch auf je eigene Weise. Während sich die englische Oberschicht noch weiter abschottet und sich hinter einer tadellosen Fassade ihren bizarren sexuellen Vorlieben hingibt, verwahrlosen erhebliche Bevölkerungsteile und lassen sich von einer neuen Herrschaftselite immer stärker kontrollieren und manipulieren. Hinsichtlich der möglichen weiteren Entwicklung der Gattung ist GRM aber weniger wegen dieses (wohl auch etwas stereotypen) Gesellschaftsporträts relevant als wegen der Differenz zwischen der Sprache des Romans und der Sprache des untersuchten Gemeinwesens. Obwohl sich die in dieser Arbeit untersuchten Dystopien mit gesellschaftlichen Problemen befassen, die allen westlichen Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, gemein sind, zeigt sich auf Seiten der Produzenten von Dystopien noch eine starke nationale Bindung. Möglicherweise erfährt die Gattung in dieser Hinsicht in den kommenden Jahren eine Internationalisierung, wie sie auf Seiten der Rezipient:innen schon länger besteht. Vor allem aber lässt GRM (2019), wie bereits QualityLand (2017), erkennen, dass der Boom der Dystopien in den allerjüngsten Dystopien mittlerweile selbst verhandelt wird. Dieses selbstreflexive Element (ansatzweise bereits in IJ) stellt eine bedeutende Neuerung dar, da die älteren Dystopien zwar zweifellos stark voneinander beeinflusst sind, dies aber nie thematisieren. Nun jedoch findet eine explizite Integration der Geschichte der Gattung in die Dystopien der Gegenwart statt. Es zeigt sich im Vergleich zu den früheren Dystopien also ein gegenläufiger Prozess: Finden sich in den früheren Werken kaum explizite Hinweise auf die vorangehenden Texte, so lassen diese älteren Dystopien durch starke Rückgriffe auf die Gattungskonventionen implizit doch eine große Verbundenheit mit ihren Vorgängertexten erkennen. In den Dystopien der Gegenwart dagegen ist die Wirkmächtigkeit der Gattungskonventionen stark geschwunden, gleichzeitig findet nun aber eine explizite Auseinandersetzung mit den Vorgängertexten

Boom ohne Ende? Ein Ausblick

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statt. Der reflektiertere Umgang mit der Gattungsgeschichte geht somit offenbar mit einer gewissen Distanzierung einher. Doch zurück zur Ausgangsfrage: Wie lange der aktuelle Boom der Dystopie noch andauert, hängt natürlich auch eng damit zusammen, welche Ursachen ihn überhaupt ermöglicht haben. Die in Kapitel 7 vorgeschlagenen Gründe weisen zwar nicht darauf hin, dass der Bedarf an Dystopien bald abebben wird, früher oder später wird sich beim Lesepublikum aber dennoch eine Übersättigung einstellen und die Dystopie als Kommunikationsform wird wieder weniger gefragt sein als heute. Die eben beschriebene Wendung ins Selbstreflexive könnte ein erstes Anzeichen einer solchen Spätphase sein (vgl. 4.3.3). Das gesellschaftskritische Potential von Literatur, das aktuell häufig im Rahmen von Dystopien im engeren Sinne realisiert wird, könnte in Zukunft wieder stärker durch die sonstigen dystopischen Texte wirksam werden. Beispiele für erfolgreiche politische Texte, die auf allegorische Aufladung statt auf Extrapolation setzen, sind heute schon zu finden, etwa Folding Beijing (Hao Jingfang, 2012) oder The Cockroach (Ian McEwan, 2019; auch hierbei handelt es sich um einen ›Anti-Brexit-Text‹). Daneben stellt sich mit Blick auf die zu erwartenden weiteren Entwicklungen – wenn auch bislang nur ganz tentativ – sogar die Frage nach einer möglichen Transformation der Dystopie hin zu einer gänzlich neuen Art von Textsorte oder zumindest nach der Herausbildung eines Verbindungsarms zwischen dem mächtigen Strom der Dystopie und dem inzwischen fast ausgetrockneten Flussbett der literarischen Utopie.552 In dem Maße nämlich, in dem die zeitgenössische Dystopie als ›kritische‹ oder ›konstruktive‹ Dystopie immer mehr utopische Elemente in sich aufnimmt, wird zugleich die Definition eines Textes als Dystopie immer problematischer. In mehreren der untersuchten Texte (insbesondere bei UN) scheinen sich daher Ansätze einer neuen Art von Zukunftsroman zu zeigen. Es werden darin in einer extrapolierten Zukunftswelt dystopische und utopische Elemente nebeneinander versammelt und aufeinander bezogen, die Konzeption des Textes als Utopie oder Dystopie wird aber ostentativ offen gelassen. Diese neuartigen Zukunftsromane, sollte sich ihre Herausbildung bestätigen, sind hochgradig politische Texte, die mit den literarischen Utopien und Dystopien weiterhin eng verwandt sind und die sich dadurch von den Science-Fiction-Texten unterscheiden (vgl. 2.3).553 Die tatsächliche Herausbildung eines solch ›politischen Zukunftsromans‹ als eigenständiges Subgattung ist natürlich erst noch anhand der weiteren literarischen Entwicklung zu verifizieren. Gelingt dies jedoch, dann empfiehlt sich die 552 Vgl. zu dieser möglichen Verschmelzung von Utopie und Dystopie auch Seeber, Die Selbstkritik, S. 234 und Veddermann, Von der ambivalenten Dystopie, S. 1–17 und S. 168–169. 553 Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 72–73 und Moylan, Scraps, S. 30.

260

Die literarische Dystopie nach 1990 – eine Gattung bricht auf (Zusammenfassung)

Verwendung dieses Konzepts, da ansonsten beständig die kaum mehr objektiv zu beantwortende Frage im Raum stünde, ob es sich bei einem solch utopischdystopischen Text nun eher um eine ›kritische‹/›konstruktive‹ Dystopie oder um eine ›kritische Utopie‹ (vgl. 2.2) handelt. Findet in der literarischen Praxis eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieser beiden Untergattungen (oder auch nur der ›konstruktiven Dystopie‹) statt, so gehen diese irgendwann zwangsläufig ineinander auf. Für die Dystopie läge hier eine Möglichkeit, sich ihre während des zweiten Booms erarbeitete Innovativität durch eine neuerliche konzeptionelle Veränderung zu erhalten, auch wenn sie dadurch eine etwas andere Gestalt annehmen müsste.

5.4

Weitere Ansatzmöglichkeiten einer ›Dystopieforschung‹

Ausgehend von den Ergebnissen dieser Arbeit entstehen neue Ansatzpunkte für eine genauere literaturwissenschaftliche Erschließung der Gattung insgesamt. Dadurch, dass sich die Gegenwartsdystopie von dem erfolgreichen, aber zugleich recht starren Handlungsschema der Nachkriegsdystopie löst, schlägt sie eine Brücke in jene Zeit, in der sich die Dystopie als eine eigenständige Gattung zu etablieren begann. In vielen Fällen hat die experimentierfreudige Dystopie des 21. Jahrhunderts daher mehr mit der frühen Dystopie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gemein als mit den erfolgreichen Texten der ersten Boomphase danach. Die Heterogenität der heutigen Dystopien, die das Ergebnis einer Emanzipation von etablierten Strukturen ist, korrespondiert mit dem heterogenen Zustand der Gattung vor bzw. während der allmählichen Herausbildung dieser Strukturen und Konventionen. Ein Vergleich der frühen und der zeitgenössischen Dystopie, der weniger auf Themen denn auf die literarische Gestaltung abzielte, würde sich also anbieten. Zuvor wäre es jedoch erst einmal notwendig, die Anfänge der Dystopie an sich genauer zu untersuchen. Die Frühgeschichte der Gattung, die nach aktuellem Kenntnisstand im späten 18. Jahrhundert beginnt, liegt noch weitestgehend im Dunkeln und ist erst kürzlich durch Claeys erstmals skizziert worden.554 Unabhängig von der untersuchten Zeitspanne wäre es wünschenswert, wenn sich die literaturwissenschaftliche Erforschung der Dystopie weniger in den von der interdisziplinären Utopieforschung vorgegebenen Bahnen vollziehen würde. Ansätze zu einer solch eigenständigeren ›Dystopieforschung‹ wurden in den theoretischen Vorüberlegungen (vgl. Kap. 2) vorgeschlagen, bedürfen aber sicherlich noch einer Konkretisierung und weiteren Ausdifferenzierung.

554 Vgl. Claeys, Dystopia, S. 269–332.

Weitere Ansatzmöglichkeiten einer ›Dystopieforschung‹

261

Auch das Verhältnis von dystopischen Texten mit und ohne extrapolierendem Ansatz555 kann bzgl. aller Phasen der Gattungsgeschichte als eklatant untererforscht betrachtet werden und zwar sowohl hinsichtlich einer theoretischen Beschreibung als auch der konkreten literarischen Ausgestaltungen. Erste Ansätze hierzu finden sich an mehreren Stellen dieser Arbeit (vgl. insbesondere Kap. 2 und 4.4.1).

555 In dieser Arbeit: Dystopien im engeren Sinne und sonstige dystopische Texte (vgl. 2.3).

6.

Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist der aktuelle Boom der Dystopien kein rein literarisches Phänomen, sondern er vollzieht sich parallel auch im Film, in der Fernseh- bzw. Streaming-Serie sowie im Bereich der Videospiele. Der folgende Exkurs betrachtet die Dystopien der Gegenwart daher aus einer intermedialen Perspektive und soll so dazu beitragen, den Untersuchungsgegenstand stärker in seiner Gesamtheit beleuchten zu können. In 6.1 erfolgt zunächst ein allgemeiner Vergleich der genannten Medien hinsichtlich ihrer Fähigkeit, zum Träger von Zukunftsnarrationen zu werden. Zudem wird die aktuelle Rolle der Dystopie im Videospiel in diesem Kontext kurz zusammengefasst. In 6.2 und 6.3 werden anschließend der Kinofilm V for Vendetta (James McTeigue, 2005) und eine Folge der Netflix-Serie Black Mirror (Charlie Brooker, 2011) analysiert. Durch Querverweise auf die im letzten Kapitel gebündelten Ergebnisse sollen so Parallelen und Unterschiede hinsichtlich der verschiedenen Ausprägungen der Gegenwartsdystopie in den einzelnen Medienarten erkennbar werden. Das Vorgehen wird dabei ein auf die zentralen Aspekte reduziertes, schlaglichtartiges Aufzeigen von wesentlichen Elementen sein, da umfassende Filmanalysen den Rahmen eines Exkurses sprengen würden. Abgesehen davon, dass jedes Medium natürlich auch ein spezifisches Instrumentarium zu seiner Analyse erfordert, hat die jüngere Erzählforschung die großen Überschneidungen zwischen den einzelnen narrativen Medien hervorgehoben.556 In diesem Sinne können Filme, Serien und bis zu einem gewissen Grad auch Videospiele nicht nur als ›Texte‹ betrachtet, sondern häufig auch mit einer Terminologie beschrieben werden, die an die genuin literaturwissenschaftliche Erzähltheorie in der Tradition Gérard Genettes angelehnt ist, sofern

556 Vgl. Nünning/Nünning, Produktive Grenzüberschreitungen, S. 1–4.

264

Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

die jeweiligen Spezifika der einzelnen Medien dennoch Berücksichtigung finden.557 Der aus Kapitel 4 bekannte Aufbau der Romananalysen wird, soweit möglich, für die schlaglichtartigen Filmanalysen übernommen.

6.1

Eine zukunftsnarratologische Gegenüberstellung von Videospiel, Film und Literatur

Was die theoretischen Überlegungen aus Kapitel 2 dieser Arbeit anbelangt, können die aufgezeigten Problemstellungen in vielen Fällen auch auf die dystopischen Videospiele und Filme übertragen werden. Die Abgrenzung der Dystopie von der Science-Fiction etwa ist in diesen Medien mindestens ebenso schwierig wie in der Literatur. Als wesentliches Merkmal einer Dystopie im engeren Sinne soll auch in diesem intermedialen Ausblick der Entwurf einer fiktiven Zukunftswelt durch die Extrapolation realer Trends betrachtet werden. Wie schon im Bereich der Literatur (vgl. 2.3) schließt dies auch hier die Integration von Science-Fiction-Elementen nicht unbedingt aus. Als behelfsmäßige Grobunterscheidung kann auch hier die Differenzierung zwischen der sozialkritischen, realpolitisch orientierten Dystopie und der technikaffinen Science-Fiction fungieren.558 Zur Dystopie im Videospiel hat Gerald Farca im Jahr 2018 eine umfassende Darstellung vorgelegt,559 auf deren Ergebnisse hier zurückgegriffen werden kann. Zuvor lässt sich jedoch allgemein sagen, dass der Weltentwurf eines Videospiels in vielen Fällen (z. B. bei Ego-Shootern) lediglich das Hintergrundszenario darstellt, vor dem sich dann die eigentliche Spiel-Handlung vollzieht. Trotzdem darf die Wichtigkeit dieser Weltentwürfe für die Videospiele nicht unterschätzt werden, da sie die Atmosphäre eines Spiels entscheidend beeinflussen und dadurch häufig den größten Unterschied zwischen einzelnen Titeln einer identischen Videospiel-Kategorie (z. B. Ego-Shooter, Jump ’n’ Run, Aufbauspiel) darstellen. Farca zeigt nun an mehreren aktuellen Beispielen auf, dass diese digitalen Weltentwürfe neuerdings vermehrt dystopisch und dafür seltener phantastisch

557 Vgl. Kuhn, Filmnarratologie, S. 1–6. Kuhn spricht in seiner Filmnarratologie z. B. ebenfalls von einer »Fokalisierung« (ab S. 119), während andere erzähltheoretischen Begriffe wie die der »Stimme« keine Verwendung finden können, da sie im Bereich der Filmanalyse missverständlich sind. 558 Vgl. Friedrich, Science Fiction, S. 72–73. 559 Gerald Farca: Playing Dystopia. Nightmarish Worlds in Video Games and the Player’s Aesthetic Response. Bielefeld 2018.

Eine zukunftsnarratologische Gegenüberstellung von Videospiel, Film und Literatur

265

sind, auch wenn er mit ›dystopisch‹ nicht nur rein extrapolierende Szenarien versteht, sondern etwa auch Alternativgeschichten560. Seine Kernthese lautet: […] [T]he video game dystopia describes a new strategic enterprise of the utopian philosophy. By sending the player on a journey through hell but retaining a hopeful (utopian) core, it involves her in a playful trial action (or test run) in which she may test, track, and explore in detail an estranged gameworld and an alternative societal model through imaginative and ergodic means. This venture into the fictional reality of dystopia shows potential to warn the player about negative trends within empirical reality and to explore emancipatory routes that may transform the gameworld. It thus serves the player as a subversive example and inducement to effect social change and transformation in the empirical world.561

Bei den aktuellen ›video game dystopias‹ liegt der spezifische, neue Reiz also darin, dass dort die von Farca beschriebene »journey through hell« nicht mehr zu Zusammenstößen mit wahnwitzigen, phantastischen Monstern führt – wie etwa noch durchgängig in der bekannten Diablo-Reihe (Blizzard Entertainment, 1996/ 2000/2012) – sondern dass jetzt eine Schreckens(zukunfts)version der realen Welt durchspielt werden muss. Diese Hinwendung der Videospielbranche zur Dystopie, die dadurch in Konkurrenz zur berüchtigten, überbordenden Phantastik des Mediums tritt, ist höchst signifikant. Durch diesen Trend vom Nicht-Realen zum Noch-NichtRealen verkleinert sich die Kluft zwischen digitaler Fiktion und Realität entscheidend, die Spiele-Welt und die echte Welt werden durch einen solch dystopischen Ansatz eng miteinander verzahnt. Um bei ihren Kunden ein emotional möglichst intensives ›Gaming-Erlebnis‹ zu erzeugen, greifen Spieleentwickler heute also öfter auf ein an die Realität angebundenes, negatives ›Möglichkeitsdenken‹ zurück und nicht mehr ausschließlich auf monströse Schreckensphantastik.562 Als Beispiele für extrapolierend-dystopische Videospiele sind Homefront (Kaos Studios, 2011), Remember Me (Capcom, 2013), The Last of Us (Naughty Dog/Sony Computer Entertainment, 2013) oder Call of Duty: Advanced Warfare (Sledgehammer Games, 2014) erwähnenswert. Insbesondere Remember Me weist durch seine Thematik der Erinnerungskollektivierung und -vernichtung starke Parallelen zum Roman The Circle und zu den Total-Recall-Filmen (1990/2012) auf. Im gattungsspezifischen, intermedialen Vergleich ist die Interaktivität von dystopischen Videospielen deren entscheidendes Merkmal. Nur hier kann Einfluss auf die dystopische Welt genommen werden, die Begegnung mit dem 560 Hierunter sind Narrationen zu verstehen, die eine Art fiktive Geschichtsschreibung betreiben, indem sie zum Beispiel imaginieren, wie die Welt im Jahr 2000 aussehen würde, hätte Nazi-Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen. 561 Farca, Playing Dystopia, S. 16. 562 Farca, Playing Dystopia, S. 16–18.

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Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

Dystopischen geht somit potentiell von Passivität in Aktivität über. Mit Blick auf die Gattung liegt hier jedoch noch ein großes, ungenutztes Potential, denn wie bei der Analyse der literarischen Dystopien herausgearbeitet wurde, ist die Rolle eines exemplarischen Individuums und dessen aktiver Widerstandskampf gegen ein dystopisches System ein wiederkehrendes Motiv zumindest traditioneller Dystopien. Diesen Umstand könnten sich die ›video game dystopias‹ noch weit stärker zunutze machen, da die Rezipient:innen nur in diesem Medium tatsächlich mit dem exemplarischen Individuum als Akteur ganz verschmelzen können. Obwohl ein solcher Zugang geradezu zwangsläufig Ansätze zu actionreichen Szenarien liefern würde, wird er aktuell noch kaum genutzt. Der dystopische Weltentwurf bleibt in der Regel der oben genannte, irreversible, Atmosphäre schaffende Hintergrund eines Spiels. Im Gegensatz zur sonst üblichen Phantastik des Mediums liefert die Dystopie dabei dennoch, wie Farca konstatiert, eine Verschränkung der fiktiven mit der »empirischen« Welt, also eine Aufladung des digitalen Weltentwurfs mit Realitätsbezügen. In Film und Serie dagegen gelangen die aktuellen dystopischen Ansätze mehr in den Vordergrund, allerdings werden sie dort häufig mit Science-Fiction-Elementen kombiniert. Dies kann nicht verwundern, da sich das Medium Film durch seine Visualität und die Schnelligkeit der Informationsvergabe besonders gut eignet, die Science-Fiction-typischen »estrangement«-Effekte563 bei den Betrachter:innen auszulösen. Durch den kurzen Vergleich einer Szene des Romans A Clockwork Orange (Anthony Burgess, 1962) und ihrer filmischen Interpretation (Stanley Kubrick, 1971) soll an einem klassischen Beispiel aufgezeigt werden, inwiefern man bei der filmischen Darstellung zukünftiger Welten von einer hohen ›futurologischen Ereignisdichte‹ sprechen könnte. Im Roman besucht die Hauptfigur, Alex, einen Plattenladen und lernt dort zwei Mädchen kennen, die er im Anschluss mit zu sich nimmt. Der Laden selbst wird dabei nur sehr knapp beschrieben: […] I walked back to Taylor Place, and there was the disc-bootick I favoured with my inestimable custom, O my brothers. It had the gloopy name of MELODIA, but it was a real horrorshow mesto564 and skorry, most times, at getting the new recordings. I walked in and the only other customers were two young ptitsas565 sucking away at ice-sticks […].566

Ansonsten erfahren die Leser:innen nichts über den Plattenladen mit dem klingenden Namen, denn es geht nun ausschließlich um die zwei jungen »ptitsas«. Im Film eröffnet sich diese Möglichkeit der stark reduzierten Beschreibung 563 564 565 566

Suvin, Metamorphoses, S. 4. In etwa mit ›ein wahnsinnig trendiger Laden‹ zu übersetzen. Mädchen bzw. junge Frauen. Burgess, A Clockwork Orange, S. 64–65. Großschreibung im Original.

Eine zukunftsnarratologische Gegenüberstellung von Videospiel, Film und Literatur

267

nicht, dort muss der Plattenladen zumindest in einigen Details gezeigt werden, wenn er denn überhaupt gezeigt werden soll. Entsprechend sind der filmischen Interpretation Kubricks viel mehr ›futurologische‹ Informationen zu entnehmen als der Beschreibung bei Burgess: Welche Kleidung tragen die handelnden Personen? Wie ist der Laden eingerichtet? Wie verhalten sich die Personen beim Plattenkauf ? Im Falle von Kubricks Interpretation ergibt sich aus heutiger Perspektive eine merkwürdige Art der Retro-Zukunft, da bezüglich Kleidung und Einrichtungsstil nicht nur Science-Fiction-Elemente erkennbar werden, sondern auch die Ästhetik der frühen 1970er-Jahre durchscheint. Ein literarischer Text hat dagegen immer die Möglichkeit, Alltagsfragen wie die oben genannten zu übergehen und damit zu suggerieren, dass sie sich innerhalb des konventionalisierten, zu erwartenden Rahmens abspielen, ohne diesen Rahmen zuvor überhaupt expliziert zu haben. Hinsichtlich der Narration von zukünftigen Welten ist dieser Unterschied zwischen Film und Literatur viel markanter als beim Erzählen von Gegenwärtigem oder Vergangenem, da den Rezipient:innen die Zukunftswelt notwendigerweise unbekannt ist und sie daher kein Wissen über die dort herrschenden Konventionen haben können – im Unterschied zu den beiden anderen, viel häufiger vorkommenden Erzähltypen. Ungleich mehr als ein Roman, der von einer Zukunft erzählen will, steht also ein Film, der Gleiches vorhat, vor einem immensen und immer wiederkehrenden Entscheidungsdruck bzgl. solcher Details des alltäglichen Lebens. Dieser Umstand birgt aber zugleich das große Potential des Mediums Film bezüglich seiner Fähigkeit, von Zukünften zu erzählen, denn wenn die visuelle Detaildarstellung der fremden Welt überzeugend gelingt, bietet sich die Möglichkeit, das Publikum mit einer Vielzahl an estrangementEffekten visuell zu ›überwältigen‹, was den Reiz der meisten Science-FictionFilme ausmacht. Vor diesem Hintergrund wird klar, wieso auch der in erster Linie dystopische Film der Gegenwart selten ganz auf die Integration von Science-Fiction-Elementen verzichtet. Zu groß sind die Möglichkeiten des Mediums, den Rezipient: innen eine auf vielfältigen Ebenen fremde Lebenswelt zu zeigen, auch wenn viele dieser Elemente den dystopischen Kern der Narration gar nicht unbedingt berühren. Relevante Beispiele für Filme seit der Jahrtausendwende, die in der Zukunft angesiedelt sind und eine kritische soziopolitische Extrapolation mit der Imagination radikal erweiterter technischer Möglichkeiten kombinieren, sind unter anderem Minority Report (Steven Spielberg, 2002), I, Robot (Alex Proyas, 2004), A Scanner Darkly (Richard Linklater, 2006), I Am Legend (Francis Lawrence, 2007), Total Recall (Len Wiseman, 2012), Cloud Atlas (Lana Wachowski, Lilly Wachowski, Tom Tykwer, 2012), The Maze Runner (Wes Ball, 2014) und Blade Runner 2049

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Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

(Denis Villeneuve, 2017), wobei diese Aufzählung bei weitem nicht als abgeschlossen anzusehen ist. Daneben existieren jedoch auch dystopische Filme, die sich (fast) vollständig auf ihre extrapolierenden Eigenschaften konzentrieren und kaum Science-Fiction-Elemente enthalten, wie etwa V for Vendetta (James McTeigue, 2005), Idiocracy (Mike Judge, 2006)567 oder The Purge (James DeMonaco, 2013). Die literarischen Dystopien zeichnen sich gegenüber den anderen Medienarten vor allem dadurch aus, dass sie mehr Möglichkeiten zur detaillierten Explanation logischer Zusammenhänge auf der Handlungsebene bieten. Dystopische Romane können aufgrund ihrer Struktur und Länge568 die Ursachen und Folgen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen eingehender aufzeigen, als dies etwa im Medium Film in der Regel möglich ist, weil erklärende Abschnitte (etwa über Figurendialoge) das visuelle Bewegungspotential des Mediums Film nicht ausschöpfen und dadurch schnell als langatmig empfunden werden. Hinsichtlich der Gestaltung von Zukunftsnarrationen hat die Literatur also den Nachteil fehlender Interaktivität (im Vergleich zum Videospiel) und einer reduzierten visuellen Zeigefähigkeit (im Vergleich zum Film und zum Videospiel), sie besitzt allerdings den Vorzug größerer Erklärfähigkeit. Als Fazit dieser intermedialen Gegenüberstellung kann festgehalten werden, dass sich die Literatur durch ihre Möglichkeit zur detaillierten Explanation von Zusammenhängen besonders gut eignet, um kritische soziopolitische Extrapolationen hervorzubringen, während sich das Medium Film stärker auf die Darstellung von Science-Fiction-Elementen spezialisiert hat.569 In allen drei Medienarten ist jedoch seit ca. der Jahrtausendwende ein auffällig gestiegenes Interesse an extrapolierend-dystopischen Themen zu verzeichnen. Anhand zweier Beispiele werden im Folgenden schlaglichtartig Parallelen und Unterschiede zwischen der literarischen und der filmischen Dystopie der Gegenwart herausgearbeitet.

567 Von der Möglichkeit des Einfrierens von Menschen zur Initiierung eines jahrhundertelang andauernden Winterschlafs einmal abgesehen. Dieses Element ist in Idiocracy aber bloßer Katalysator der eigentlich relevanten Handlung. 568 Die Lektüre eines Romans dauert in der Regel ja um ein Vielfaches länger als das Betrachten eines Films. Zwar verfügt ein Film über einen höheren Informationsgehalt pro Minute, diese Informationsvergabe wird aber durch die limitierte Aufnahmefähigkeit der Rezipient:innen begrenzt. Vor allem aber bezieht sich diese Möglichkeit der Informationsvergabe nicht auf Elemente der Handlungslogik, sondern ist eher dinglich-materiell ausgeprägt. 569 Hierdurch kann induktiv eine weitere Unterscheidung zwischen Dystopie und ScienceFiction gewonnen werden: Erstere ist stärker von einem erklärenden Erzählmodus abhängig, während zweitere im Rahmen eines zeigenden Modus besonders intensiv auf die Rezipient: innen wirken.

V for Vendetta (James McTeigue, 2005): Traditionelles Paradigma mit neuen Ansätzen 269

6.2

V for Vendetta (James McTeigue, 2005): Traditionelles Paradigma mit neuen Ansätzen We are Anonymous We are Legion We do not forgive We do not forget. Expect us. Motto der Anonymous-Bewegung570

6.2.1 Die Rolle von V for Vendetta in der Populärkultur Mehrere Menschen demonstrieren im Juni 2018 auf dem Berliner Alexanderplatz, dabei tragen sie die bekannten, weißen Guy-Fawkes-Masken mit dem dünnen Bart und dem breiten Lächeln. Es geht ihnen um besseren Tierschutz, insbesondere um mehr gesetzliche Einschränkungen bei der Massentierhaltung.571 Bei diesem Anliegen überrascht die Verwendung jener Maske, die im Herbst 2011 im Rahmen der Occupy-Wall-Street-Demonstrationen als Symbol der Anonymous-Bewegung allgemein bekannt wurde – denn wo liegt die Verbindung zwischen dem gescheiterten Gunpowder-Attentäter Guy Fawkes (1570– 1606), den international vernetzten Online-Aktivisten um Anonymous und dem deutschen Tierschutzgesetz? Als Element der modernen Populärkultur tauchte jene Maske erstmals 1982 in der Graphic Novel572 V for Vendetta (Alan Moore/David Lloyd) auf, die als Fortsetzungsgeschichte zunächst im Comicmagazin Warrior und dann bei DC Comics erschienen ist. Protagonisten der im Jahr 1997 angesiedelten Comichandlung sind dabei ein lediglich ›V‹ genannter, stets hinter der Fawkes-Maske verborgener anarchistischer Rebell und eine junge Frau namens Evey Hammond, die gemeinsam gegen ein rechtsgerichtetes, autoritäres Regime kämpfen, das in England während des fiktiven Intervalls II an die Macht gekommen ist. Weltweite 570 Zitiert nach einem Artikel von Robert Vamosi in CNet vom 25.01. 2008 mit dem Titel Anonymous hackers take on the Church of Scientology. Online abrufbar unter: https://www.cne t.com/news/anonymous-hackers-take-on-the-church-of-scientology (letzter Abruf am 12. 11. 2019). 571 Vgl. einen entsprechenden Artikel der BZ Berlin vom 23. 06. 2018 mit dem Titel Tierrechtsaktivisten auf dem Alex; abrufbar unter: https://www.bz-berlin.de/archiv-artikel/tier rechtsaktivisten-auf-dem-alex (letzter Abruf am 28. 12. 2022). 572 Die Graphic Novel wird hier als Unterkategorie des Comics betrachtet. Es handelt sich dabei um eine abgeschlossene und eigenständig publizierte Form des Comics im Unterschied zu den bekannten Comic-Reihen wie Lucky Luke oder Donald Duck, deren episodenübergreifende Handlung eine zyklische Struktur hat.

270

Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

Aufmerksamkeit erregte jedoch erst die gleichnamige Verfilmung des Comics mit Natalie Portman als Evey und Hugo Weaving als V, die 2005/2006 in die Kinos kam und auf die sich die folgende Darstellung bezieht. Die folgende Kurzanalyse des Films V for Vendetta stellt einen Bezug zwischen dessen politischer Botschaft und der politischen Agenda von Anonymous her. Dabei wird die These vertreten, dass V for Vendetta (im Comic wie im Film) die Rezipient:innen zwar zu dezentralen Formen von politischem Aktivismus motiviert, dabei jedoch gleichzeitig der Aufbau eines konkreten Inventars positiver politischer Ideale unterbleibt, sodass die Aktivierung der Rezipient:innen zwar erfolgt, dann aber nicht auf bestimmte Ziele hin ausgerichtet wird. Insofern erscheint die extrem unterschiedliche Verwendung der durch den Film popularisierten Maske als direkte Folge der utopischen Leerstellen des VendettaStoffs. Vor allem aber soll diese filmische Dystopie exemplarisch mit den literarischen Dystopien der Gegenwart verglichen werden. Der Film V for Vendetta bildet dabei das Aufbrechen der Gattung während der letzten Jahrzehnte in nuce ab, da er typische Elemente der Nachkriegsdystopie mit neueren narrativen Ansätzen kombiniert, die bereits bezüglich der literarischen Dystopie der Gegenwart herausgearbeitet worden sind (vgl. 5.2). Nach einer kurzen Übersicht über die Handlung des Films werden im dritten Abschnitt vor allem die thematischen Parallelen zur Nachkriegsdystopie herausgearbeitet. Kontrastierend hierzu werden anhand von vier verschiedenen Aspekten im vierten Abschnitt die Parallelen zur Gegenwartsdystopie, die hauptsächlich im narrativen Bereich liegen, aufgezeigt. Wie bei den vorangehenden Romananalysen bündelt ein kurzes Fazit die Ergebnisse.

6.2.2 Grundzüge der Filmhandlung und des Weltentwurfs Der Weltentwurf, den der Film entfaltet, ähnelt jenem des Comics stark: In düsteren Farben wird das Bild eines England gezeichnet, in dem eine rechtsnationale, ultrareligiöse Partei an die Schaltstellen des Staates gelangt ist und diesen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen umgebaut hat. In der Verfilmung von V for Vendetta ist die Handlung allerdings um 35 Jahre nach hinten verschoben und findet nun im Jahr 2032 statt. Diese Verschiebung hat erkennbar die Funktion, den extrapolierenden Ansatz der Graphic Novel auch in der Verfilmung beizubehalten.573 573 Eine Situierung des Films in der Vergangenheit durch Beibehaltung des Jahres 1997 als Handlungszeitpunkt hätte die Neuauflage des Stoffes durch die zwangsläufig implizierte Ersetzung des Noch-Nicht-Realen durch das Nicht-Reale eines wesentlichen Elementes

V for Vendetta (James McTeigue, 2005): Traditionelles Paradigma mit neuen Ansätzen 271

Durch Rückblenden574 (v. a. in VV 1:12:51–1:19:00) wird von einer extrem ungünstigen globalen Entwicklung berichtet, durch die auch in der westlichen Welt wieder Krieg, Zerstörung, Krankheit und Hunger Einzug gehalten haben. In England ereignete sich zudem nach einem Angriff mit Biowaffen eine schwere Pandemie, die zu tausenden Todesopfern führte. Der Ausbruch der Seuche wurde ›den Muslimen‹ angelastet, die in der Folge aus der Gesellschaft gedrängt werden. In dieser Atmosphäre von existentieller Angst und politischer Desorientierung gelang einer christlich-fundamentalistischen Partei namens »NORSEFIRE« und ihrem Anführer Adam Sutler ein unerwarteter, triumphaler Wahlsieg. Als dieser Bewegung nach der Regierungsübernahme die rasche Beilegung der medizinischen Krise gelingt, ist ihre Machtstellung unangefochten und es beginnt ein radikaler Umbau des Staates. Adam Sutler wird zum ›High-Chancellor‹ dieses neuen England. Später im Film stellt sich heraus, dass die Pandemie absichtlich durch Sutlers Bewegung ausgelöst wurde, um die zum Wahlsieg notwendige Angst zu schüren und um sich anschließend profilieren zu können. Um den dazu nötigen Krankheitserreger samt Gegenmittel zu gewinnen, wurden insgeheim unethische medizinische Versuche durchgeführt. V selbst war Opfer dieser Menschenversuche, worin der Grund für seine Rachegelüste, aber auch für seine teilweise übernatürlichen Fähigkeiten liegt. Dieser V, und später auch eine Protagonistin namens Evey, nehmen den Kampf mit dem dystopischen Staat auf. Im Laufe dieses Kampfes, der sich von einem Guy-Fawkes-Day zum nächsten erstreckt, erweist sich schließlich der Parteichef von NORSEFIRE und Anführer der »Fingermen«, Peter Creedy, als der wahre Mächtige, der Sutler skrupellos umbringt, um sich der Bedrohung durch V zu entledigen. Doch wie V es beabsichtigt hat, töten er und Creedy sich gegenseitig, während Evey die Houses of Parliament in die Luft jagt. Der ohnehin revoltierenden Bevölkerung, die V durch gezielte Aktionen im Vorfeld zum Nachdenken gezwungen und zum Widerstand ermutigt hat, wird so die Schwäche des Regimes vor Augen geführt, sodass kollektiver Widerstand die NORSEFIRE-Herrschaft schließlich beendet.

beraubt. An diesem Beispiel lässt sich die gegenwärtig große Bedeutung des prognostischen Gestus, wie er bereits für die literarischen Dystopien beschrieben worden ist (vgl. 2.3), auch für die filmischen Dystopien exemplarisch ableiten. 574 Der Einsatz von Rückblenden bietet sich im zeigend-erzählenden Medium Film besonders an, sodass die typischen Probleme literarischer Dystopien im Umgang mit dem Intervall II (vgl. 2.3) in diesem Medium nur in deutlich abgeschwächter Form auftreten.

272

Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

6.2.3 One more time: Der Kampf gegen den totalitären Staat Sutlers Bewegung ist durch die Rückblenden ins Intervall II, aber auch durch die dann herrschenden Zustände im Intervall III, klar als faschistisch zu erkennen. Bei VV 1:16:46 etwa kommt es zu einer Rückblende aus der Zeit von Sutlers ›Machtergreifung‹. Sutler ist hier vor Anhängern seiner Partei zu sehen; das rote Doppelkreuz auf schwarzem Grund ist das Erkennungszeichen der Bewegung. Durch die ungewöhnliche, systematisch konzipierte Mis en Scène wird bei den Zuschauer:innen hier das beunruhigende und potentiell verstörende Gefühl erzeugt, selbst ein kleiner Teil der fanatisierten Menge zu sein. Sutler selbst ist durch die Kameraeinstellung in der Halbtotalen nur recht klein zu erkennen, die Fahnen bewegen sich zudem von links nach rechts und verdecken dadurch teilweise die freie Sicht auf ihn. Vor allem aber erzeugt die Untersicht das Gefühl von subjektiver Kleinheit, dem die gigantische Bewegung mit ihrer aggressiven Bild- und Farbsprache umso wuchtiger gegenübersteht. Hinzu kommt eine Parolen skandierende Menschenmenge aus dem Off. Diese Rückblende, die nach der Halbtotalen zusätzlich eine Nahaufnahme des gestikulierenden und agitierenden Sutler enthält, dauert insgesamt nur vier Sekunden. Dadurch wirkt sie wie eine Art Erinnerungsfetzen, der ungewollt aus dem Langzeitgedächtnis ins Bewusstsein drängt. In dieser Szene, aber auch in vielen weiteren, werden die Zuschauer:innen also dazu gezwungen, sich als Teil eines totalitären Staates zu fühlen.575 In diesem speziellen Fall wird sogar der Eindruck erweckt, man könne sich an den konkreten Umschlagmoment des freiheitlich-demokratischen England in einen Zwangsstaat erinnern – obwohl dieser Moment in einer fiktiven Zukunft liegt.576 Die sich durch den Umschlag ergebenden, neuen Verhältnisse werden vom Film von Anfang an als dystopisch gekennzeichnet. Dies geschieht vor allem über eine Notlage Eveys, die im gesamten Film die Rolle der Identifikationsfigur innehat. Nach Ende der Ausgangssperre läuft sie einigen Mitgliedern der ›Fingermen‹ in die Hände, einer Geheimpolizei des totalitären Zukunftsstaates, die sie vergewaltigen und eventuell im Anschluss daran auch töten wollen. V rettet sie aus dieser Gefahr und wird somit innerhalb der Narration als Gegenpol zum herrschenden System markiert. Dieser Eindruck wird bestätigt, als er ein großes »V« in ein Banner mit dem Leitspruch des neuen Staates »STRENGTH THROUGH UNITY / UNITY THROUGH FAITH.« einritzt und es dadurch zerstört (VV 0:07:52).

575 Vgl. Ott, The Visceral Politics, S. 45. 576 Die Szene ist auch innerhalb des Films auf einem Fernsehgerät zu sehen. Der Umschlagmoment wird also nicht aus der Perspektive eines Mitglieds der Bewegung erinnert.

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Über diese staatstragenden Glaubenssätze entsteht eine direkte Verbindung zwischen dem NORSEFIRE-England und Orwells Nineteen Eighty-Four.577 Gleiches gilt für das omnipotente Auftreten des Staatsführers Sutler (vgl. z. B. VV 0:11:20), der im Film deutlich erkennbar als neuer Big Brother dargestellt wird. In der bekannten Verfilmung von Nineteen Eighty-Four aus dem Jahr 1984 (Michael Anderson) finden sich mehrere Szenen mit dem Bild von Big Brother, die V for Vendetta über eine ganz ähnliche Bildgestaltung klar erkennbar ›anzitiert‹ – mit Sutler in der Rolle des neuen Big Brother.578 Der Widerstand Vs und Eveys gegen das totalitäre Regime wird in der Folge der rote Faden des gesamten Films. Auch aus einer intermedialen Perspektive erweist sich somit die kognitive und emotionale Auseinandersetzung mit staatlicher Unterdrückung als die Kernkompetenz dystopischer Narrationen schlechthin.579 Insbesondere das Medium Film verfügt hierbei über ein wirkungsvolles Arsenal an Darstellungsmitteln. Die überwältigende Größe und Macht des totalitären Staates erweckt das klaustrophobische Gefühl von Gefangenschaft.580 Auch bei VV 0:11:22 ist Sutler aus einer Untersicht zu sehen, das drückende, schwarz-rote Parteisymbol thront drohend links und rechts neben ihm. Besonders interessant ist jedoch, dass sein zorniges Gesicht auf dem Bildschirm in übersteigerter Großaufnahme erscheint, der Kamerapunkt die Szene jedoch aus einer Halbtotalen einfängt, wodurch die tatsächlich Anwesenden winzig klein und durch die Helligkeit des Bildschirms nur als schwarze Schemen zu erkennen sind. Den Rezipient:innen, die kurz darauf nur noch den Bildschirm mit dem übergroßen Sutler sehen, geht es in dieser Einstellung somit wie den durch Sutler in dieser Szene scharf zurechtgewiesenen Personen: Sie drohen von der Übermacht des totalitären Staates und seines (An-)Führers erdrückt zu werden. Hinzu kommt Sutlers kalte, schneidende Stimme, deren auditiver Aufnahme sich die Rezipient:innen nicht entziehen können. Durch Plausibilisierungsstrategien – insbesondere über jene Rückblenden, in denen Sutlers Weg zur Macht durch das Schüren von Hass und Angst nachgezeichnet wird – weist V for Vendetta nachdrücklich darauf hin, dass auch die scheinbar grundsoliden westlichen Demokratien nicht immun gegen totalitäre Gefährdungen sind, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum 577 Vgl. NE 8: »WAR IS PEACE / FREEDOM IS SLAVERY / IGNORANCE IS STRENGTH« (Großschreibung im Original). 578 Eine besondere Pointe des Films V for Vendetta liegt in der Besetzung Adam Sutlers durch John Hurt, da Hurt in der berühmten Verfilmung von Nineteen Eighty-Four aus dem Jahr 1984 Winston Smith verkörpert hat. Implizit liegt hierin bereits ein Hinweis auf die Kernaussage von V for Vendetta, dass jedem Menschen das Potential sowohl zum Widerständler als auch zum Mitläufer oder gar Autokraten innewohnt (vgl. hierzu den nächsten Abschnitt). 579 Vgl. Keller, V for Vendetta, S. 90–104. 580 Vgl. Ott, The Visceral Politics, S. 45.

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Negativen hin verändern. Durch diesen Hinweis auf die potentielle Endlichkeit der aktuell herrschenden Gesellschaftsordnung ergeben sich Verbindungslinien zu mehreren der untersuchten literarischen Dystopien (allen voran zu CD, UN, MA und BO). V for Vendetta ist dabei jedoch keine bloße Aktualisierung von Nineteen Eighty-Four. Der Film verschiebt das sozialistische INGSOC-Regime Orwells auf die andere Seite des Parteienspektrums, hin zu ultrarechten Nationalisten und christlichen Eiferern.581 Vor allem aber positioniert er sich auch hinsichtlich politischer Fragen seiner Zeit. Durch die Kapuze und die Gefangenenkleidung erinnert eine Folterszene des Films (eine Rückblende in die Zeit der medizinischen Experimente; VV 0:34:37) an Fotographien aus dem Abu-Ghraib-Skandal. Die Taktik, die eigene politische Agenda mithilfe von Angst und Hass durchzusetzen ist als weitere direkte Kritik an der Ära Bush nach dem 11. September 2001 zu verstehen.582 Durch das Porträt totalitärer Systeme als Vergleichsfolie kann die Dystopie der Gegenwart somit auch nicht-totalitäre Gesellschaften scharf angreifen.

6.2.4 Erfolgreiche Widerständler in Blümchenschürzen Doch V for Vendetta beinhaltet trotz der konventionell erscheinenden Warnung vor den Übeln des Totalitarismus vier Elemente, die aus einer gattungsgeschichtlichen Perspektive neu sind und in ähnlicher Weise auch bei den literarischen Dystopien der Gegenwart eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich dabei erstens um die Integration von Komik und Selbstironie in eine grundsätzlich ernste Narration, zweitens um eine hohe Selbstreflexivität bzgl. der potentiellen Wirksamkeit von Dystopien, drittens um die Abweichung von tradierten Handlungsschemata583 und viertens um den Erfolg des Widerstandsversuchs in Verbindung mit der Entwicklung utopischer Gegenkonzepte. Der letzte Aspekt ist in V for Vendetta jedoch nur lose und teilweise widersprüchlich angerissen, was am Ende dieses Abschnitts eingehender zu thematisieren sein wird.

581 Vgl. Keller, V for Vendetta, S. 102. 582 Vgl. Ott, The Visceral Politics, S. 40, Keller, V for Vendetta, S. 102 und Stier, Zukunft und Spektakel, S. 252. 583 Diese haben sich im dystopischen Film analog zur Literatur herausgebildet, was wenig überraschend ist, da es sich hier oftmals um die Verfilmungen literarischer Vorlagen handelt; vor allem aber scheint dies schlüssig, weil die Herausbildung des Schemas in der Literatur nicht zufällig erfolgt ist, sondern diese sich den Möglichkeiten und Erfordernissen der Gattung gemäß entwickelt hat.

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Zunächst ist die Beobachtung wichtig, dass die Figur V, im Comic wie in der Verfilmung, einige typische Superhelden-Motive in sich vereint. Er trägt einen schwarzen Umhang und eine Maske, die sein wahres Gesicht verbirgt und kämpft mit antiquierten Waffen (langen Dolchen), die er aber aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten höchst effektvoll zum Einsatz bringt. Und vor allem versteht er es, sein Eingreifen dramatisch zu inszenieren. Die Heldenfigur, die ihm aufgrund dieser Attribute am nächsten steht, ist Zorro.584 Doch obwohl – oder vielleicht gerade weil – der Film seinen Protagonisten in dieser übernatürlich-heroischen Weise darstellt, verbindet er dessen Heroik stellenweise mit geradezu karnevalesken Elementen. Kurz nach der spektakulären Rettung Eveys aus den Händen der ›Fingermen‹ etwa zeigt sich die Heldenfigur plötzlich ganz privat beim Braten eines Spiegeleis. Der schwarze ZorroUmhang ist dabei zum Schutz vor Fettspritzern von einer großmütterlich anmutenden Blümchenschürze fast ganz verdeckt (VV 0:30:30). Dieser gezielte Einsatz von komischen Elementen dient nicht nur dazu, dem maskierten Helden eine menschliche Seite zu verleihen, sondern sie bildet einen signifikanten Wandel innerhalb der Zukunftsnarratologien ab, die als direkte Folge ›postmoderner‹ Einflüsse zu betrachten sind. Prominent trat dieses Phänomen bereits 1997 im Science-Fiction-Film The Fifth Element (Luc Besson) zutage, in dem das Konzept einer ›orthodoxen‹, unironischen Science-Fiction immer wieder durch komische und selbstironische Elemente konterkariert wird (etwa durch den grotesk-exzentrischen Bösewicht Zorg). In solch selbstironischen Ansätzen ist ein wirksames Mittel zu sehen, auch weiterhin von Raumschiffen und Superhelden erzählen zu können – denn man entzieht sich der drohenden Lächerlichkeit solch klischeehafter Konzeptionen, indem man diese von vorneherein und ganz ostentativ als lächerlich markiert. Die Dystopie ist von der Gefahr des ungewollt Lächerlichen im Allgemeinen weniger betroffen als die Science-Fiction, doch auch sie federt ihren prognostisch-ernsten Gestus, der pathetisch-überzogen wirken kann, seit ca. der Jahrtausendwende durch Komik und Selbstironie merklich ab (vgl. 5.2). Mit dieser Selbstironie verwandt und doch von ihr zu trennen ist eine erhöhte Selbstreflexivität, die aktuellen Dystopien häufig eigen ist. Hierunter ist die Thematisierung der eigenen Wirkmächtigkeit bzw. Wirklosigkeit im politischen Diskurs zu verstehen. Ganz anders als Corpus Delicti (vgl. insbesondere 4.1.2.7) liegt dem Film V for Vendetta in dieser Frage eine optimistische Haltung zugrunde.585 Mehrmals initiiert V erfolgreiche PR-Aktionen, die entscheidend dazu beitragen, dass sich die öffentliche Stimmung zugunsten der Rebellen dreht. Die zensierte und instrumentalisierte Medienlandschaft des dystopischen Staates 584 Vgl. z. B. das eingeritzte ›V‹ bei VV 0:07:52, siehe oben. 585 Vgl. Stier, Zukunft und Spektakel, S. 243–244.

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erscheint so zwar prinzipiell als wichtiges Element totalitären Machterhalts, kann durch geschickte Sabotage-Akte aber auch zu einer effektvollen Waffe gegen die herrschende Ordnung umfunktionalisiert werden.586 Darüber hinaus wird V als ein Mann der Kunst gezeigt, der bei seinen Rettungsaktionen Shakespeare zitiert und in seinem Versteck Bücher und Bilder hortet. So ist es in V for Vendetta also gerade die historisch gewachsene Kultur, die einer geschichtslosen, blinden Totalität gegenübersteht.587 Implizit übertragen sich diese positiven Effekte der Kunst innerhalb der Narration auch auf die erhoffte Rolle der Dystopie im realen Diskurs der Gegenwart; insofern ist es nur konsequent, dass der mit Spannung erwartete588 Kinofilm sein kritisches Potential in die Debatte um die Bush-Administration und den Umgang mit ›9/11‹ einzubringen versucht. Der dritte innovative Aspekt, die Abweichung von traditionellen Handlungsschemata, ist ansatzweise bereits in der Comicversion zu erkennen, kommt aber erst in der Verfilmung richtig zur Geltung. Auf den ersten Blick ist die Struktur der dystopischen Narration in beiden Fällen konventionell – ein männlicher Widerständler kämpft zusammen mit einer weiblichen Helferfigur gegen einen totalitären Staat –, bei genauerer Analyse zeigen sich jedoch gravierende Brüche. So ist insbesondere in der Verfilmung nicht V, sondern Evey Identifikationsfigur und exemplarisches Individuum.589 Hier ist die Identifikationsfigur also weiblich, was eine erste Neuerung darstellt.590 Doch ergeben sich auch auf einer strukturellen Ebene bedeutende Abweichungen. V ist von Beginn an ein Gegner des herrschenden Systems, Evey dagegen entwickelt sich im Laufe der Handlung von einer passiven zu einer aktiven Abwehrhaltung weiter. Gerade diese Aktivierung Eveys kann sich auf die Rezipient:innen übertragen, während V ein unerreichbares Vorbild bleibt (das jedoch in seiner Idealität als orientierender Fixpunkt ebenfalls eine wichtige Funktion übernimmt).591 586 Vgl. Stier, Zukunft und Spektakel, S. 254. 587 Vgl. Stier, Zukunft und Spektakel, S. 254. 588 Diese Spannung lag nicht nur an der hochkarätigen Besetzung, sondern v. a. daran, dass V for Vendetta das erste Projekt der Wachowski-Geschwister (als Drehbuchautor:innen und Producer:innen) nach deren riesigen Erfolgen mit der Matrix-Reihe gewesen ist. 589 Vgl. Ott, The Visceral Politics, S. 44–45. 590 Dieses Phänomen taucht gelegentlich bereits vor 1990 auf, etwa in Atwoods A Handmaid’s Tale (1985). 591 Bei filmischen Dystopien kann die sorgsam hergestellte Perspektivenverschränkung zwischen Identifikationsfigur und Rezipient:in plastischer aufgezeigt werden als im Bereich der Literatur. So erzeugt V for Vendetta durch den häufigen Einsatz einer subjektiven Kamera eine auf Eveys Wahrnehmung konzentrierte Innensicht: Im obigen Beispiel etwa wendet sich der blümchenbeschürzte V nicht einfach um, sondern er wendet sich in einem SchussGegenschuss-Schnitt zu Evey um, nachdem diese erstmals die Küche betreten hat. V heißt hier also Evey und die Filmzuschauer:innen gleichermaßen in seinem Heim willkommen, wodurch die Perspektiven der beiden letzteren verknüpft werden. Im Vergleich zu dieser

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Entscheidend ist jedoch, dass die Rolle der Identifikationsfigur, die sich vom passiven Mitläufer zum aktiven Widerständler wandelt, im Film doppelt und damit überbesetzt ist. Nicht nur Evey, sondern auch ein gewisser Inspector Finch, der die Ermittlungen gegen V leitet, macht nämlich genau diesen Entwicklungsprozess durch. Er, ein langjähriges NORSEFIRE-Parteimitglied, deckt im Zuge seiner Recherchen allmählich auf, dass die verheerende Epidemie ein Mittel der Parteiführung zur Machterlangung war, woraufhin er mehr und mehr zum Skeptiker wird und Evey am Ende gewähren lässt, die Houses of Parliament in die Luft zu sprengen. Diese doppelte exemplarische Aktivierung von gleich zwei Identifikationsfiguren ist innerhalb der Gattung höchst ungewöhnlich und liegt in der besonderen Grundausrichtung des Films (wie bereits des Comics) begründet: Im Zentrum des gesamten Projekts steht die politische Aktivierung der als passiv gedachten Rezipient:innen. Aus diesem Grund finden in Film und Comic gleich mehrere Aktivierungen statt (Evey, Finch und die wachrüttelnden PR-Aktionen Vs), bis schließlich eine riesige Menge ursprünglich passiver Staatsbürger ›aufgewacht‹ ist und – mit Vs Maske als Symbol des Widerstands – die Machtstrukturen des Regimes einfach hinwegfegt. In beiden Versionen geht V for Vendetta bezüglich dieser Agenda jedoch noch einen Schritt weiter. Evey, die zuvor Vs Stärke bewundert und ihre eigene Schwäche bedauert hat, gerät im Laufe der Handlung in Gefangenschaft und wird gefoltert, weil sie sich weigert, Informationen über V preiszugeben. Trotz aller Qualen verrät sie ihren Mentor nicht und als sie sich sogar entscheidet, lieber zu sterben als Hinweise zu seinem Aufenthaltsort zu verraten, stellt sich heraus, dass V selbst ihr dieses Martyrium angetan hat. Zunächst ist Evey geschockt, erkennt dann aber, dass sie nun wahrlich bereit ist, endgültig zur Widerstandskämpferin zu werden. Diese Wandlung erleben sie und die Zuschauer:innen als eine Befreiung aus der permanenten klaustrophobischen Enge des totalitären Zwangsstaats.592 Die Fähigkeit zum aktiven Widerstand hat im Vendetta-Stoff also einen so großen Wert, dass selbst Folter und Todesdrohungen durch die Mentorenfigur als legitime Mittel erscheinen, diese politische Aktivierung zu erreichen. Auch die Abweichung vom klassischen Handlungsschema durch die Vervielfältigung der Aktivierungserlebnisse ist ganz auf eine solch politische Aktivierung der Rezipient:innen des Films hin ausgerichtet. Bis zu diesem Punkt zeigt sich das Wertesystem des Vendetta-Stoffs in großer Klarheit: Jedes Individuum hat die Möglichkeit zu politischem Engagement und jedes Individuum hat die Pflicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, zumindest in Krisenzeiten. Eine Reihe weiterer ethischer Eckpunkte lassen sich Technik müssen literarische Dystopien einen größeren narrativen Aufwand betreiben, um die Identifikation zwischen exemplarischem Individuum und Rezipient:in zu erreichen. 592 Vgl. Ott, The Visceral Politics, S. 45.

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ex negativo gewinnen: Faschismus, Totalitarismus, Revanchismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie werden abgelehnt, sodass sich hieraus das Ideal einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft zumindest als Grobskizze ergibt. Darüber hinaus aber bleiben viele Aspekte des vierten prinzipiell innovativen Elements des Films – dem Erfolg der Widerständler und ihrer Leitutopie – im Dunkeln. Dass in V for Vendetta letztlich die Rebellen den Sieg davontragen, stellt einerseits eine weitere signifikante Abweichung vom klassischen Handlungsschema dar, vor allem aber rücken Comic und Verfilmung dadurch in die Nähe der ›konstruktiven Dystopien‹, deren Kernbestandteil die Integration utopischer Elemente in dystopische Narrationen ist (vgl. 2.2). Tatsächlich jedoch zeigt sich bei diesem letztgenannten Aspekt eine entscheidende Lücke. In der Konzeption des Vendetta-Stoffs scheint es zwingend notwendig zu sein, die erzählte Handlung mit dem Sieg des Widerstandes sofort abzuschließen, da andernfalls utopische Leerstellen der Narration offen zutage treten würden. Denn wie soll es nach dem Sturz des NORSEFIRE-Regimes eigentlich weitergehen? Welche Rolle spielen die systematisch zur Rebellin geformte Evey und der eben übergelaufene Inspector Finch ab diesem Zeitpunkt? Eveys Mentor, V, gibt sich im Comic relativ unspezifisch als Anarchist zu erkennen, in der Verfilmung vertritt er daneben teilweise auch demokratische Ideale und wird dadurch bezüglich seiner Leitutopie noch schwerer greifbar.593 Kämpfen Evey und Finch, als Anarchisten, nach ihrem Sieg also weiter gegen jede Form staatlicher Machtakkumulation an? Oder helfen sie stattdessen, die demokratisch legitimierte Ordnung wiederherzustellen und kandidieren aufgrund ihres durchgemachten politischen Aktivierungsprozesses nun für Sitze in einem Londoner Stadtteilparlament? Beide Optionen wirken geradezu grotesk und es zeigt sich in Analogie zur revoltierenden Mia Holl aus Corpus Delicti erneut das an Che Guevara gemahnende Problem, wonach sich aus utopiekritischer Perspektive ein hart erkämpfter Sieg der Rebellen als ebenso problematisch erweisen kann wie eine zu erduldende Unterdrückung. Im Moment des Sieges nämlich kommt es plötzlich nicht mehr auf ein dystopisches ›Weg-von‹, sondern auf ein utopisches ›Hin-zu‹ an. Der Roman Corpus Delicti reflektiert dieses Problem und erspart seiner Hauptfigur Mia das Schicksal Ches durch ihre Niederlage; V for Vendetta dagegen gewährt der Revolte den großen Triumpf und lässt dann schnell den Vorhang fallen.

593 Vgl. Keller, V for Vendetta, S. 22.

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6.2.5 Aktivierung ohne eindeutigen Kompass (Fazit) Wie eingangs erwähnt, ist die Guy-Fawkes-Maske in den wenigen Jahren nach Erscheinen des Films V for Vendetta zu einem gängigen Element verschiedenster politischer Protestaktionen geworden. Nicht nur dieses neu entfachte, häufig dezentral organisierte politische Engagement geht dabei auf den Vendetta-Stoff zurück, sondern auch die extreme Heterogenität der einzelnen Aktionen und Aktivisten. Die eingangs gezeigten Tierschützer auf dem Berliner Alexanderplatz können sich, wie durch die Analyse gezeigt werden sollte, ebenso gut auf V berufen wie die Occupy-Wall-Street-Besetzer vom Herbst 2011 oder einzelne anarchische Anonymous-Mitglieder, die sich eher als destruktive Internettrolle verstehen594 (erstere allerdings mehr auf den V der Verfilmung, letztere mehr auf jenen des Comics). Abgesehen von dieser geringen utopischen Zielorientierung ist V for Vendetta jedoch ein markantes Beispiel für die soziopolitische Wirkmächtigkeit dystopischer Narrationen in der westlichen Gegenwartskultur, wie sich an der breiten Verwendung der Fawkes-Maske zeigt. Im intermedialen Vergleich zeigte sich zudem, dass das Medium Film andere Möglichkeiten hat, sich der Gattung Dystopie zu nähern. Durch seine intensiv auf die Rezipient:innen einströmenden audiovisuellen Reize kann die Negativität der entworfenen Welt nicht nur versteh-, sondern vor allem auch affektiv erfahrbar gemacht werden.595 Im konkreten Fall handelte es sich dabei um die klaustrophobische Enge, die auf ein kritisches Individuum innerhalb einer totalitären Staatsordnung einwirkt. Die Verfilmung von V for Vendetta bleibt bei diesem klassisch-dystopischen Topos jedoch nicht stehen, sondern verbindet ihn mit komischen, selbstironischen, selbstreflexiven und zumindest ansatzweise auch utopischen Ansätzen. Die traditionelle Handlungsstruktur von Dystopien greift der Film auf, um sie dann an entscheidenden Stellen doch zu variieren. V for Vendetta kann somit als ein Beispiel dafür betrachtet werden, dass die in Kapitel 5 herausgearbeiteten Ergebnisse bis zu einem gewissen Grad intermedial übertragbar sind und sich nicht nur auf die literarische Dystopie der Gegenwart beschränken. In der folgenden Kurzanalyse einer Black-Mirror-Episode wird dies auch auf inhaltlicher Ebene noch augenfälliger werden.

594 Zu den teilweise sehr unübersichtlichen Überschneidungen zwischen der Anonymous-Bewegung und anonymen Internettrollen vgl. den Artikel von Mattathias Schwartz The Trolls Among Us in The New York Times Magazine vom 03. 08. 2008. Online abrufbar unter: https:// www.nytimes.com/2008/08/03/magazine/03trolls-t.html (letzter Abruf am 25. 10. 2019). 595 Vgl. Ott, The Visceral Politics, S. 45.

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Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

Fifteen Million Merits (Black Mirror, Charlie Brooker, 2011): Die neue Flüchtigkeit des Feindes

Der Horror von Black Mirror funktioniert […] als uncanny valley, als Wirklichkeit, die unendlich nah ist und durch die letzte, übriggebliebene Differenz plötzlich künstlich, aufgesetzt, unheimlich wirkt. Wir alle könnten in diesen Gegenden heimisch sein. Wir verstehen intuitiv, was die dystopischen Vorstellungen ausmacht, was ihre Grundlagen und Konsequenzen sind, weil sie innerlich und äußerlich so eigen scheinen und doch als Vorstellungen und Dystopien fremd bleiben müssen. Sebastian Thede596

6.3.1 Das Phänomen Black Mirror Bei der Streamingserie Black Mirror handelt sich um eine Reihe,597 in der immer ein anderer Cast zum Einsatz kommt, in der die einzelnen Folgen nicht aufeinander aufbauen und in der sogar stets ein jeweils anderer Weltentwurf entwickelt wird. Diese Weltentwürfe sind in aller Regel eindeutig als dystopisch zu erkennen, was somit das einzige Bindeglied zwischen den einzelnen Episoden der Reihe darstellt. In völlig abstrakter, von konkreten Inhalten gänzlich entkoppelter Form wird das Dystopische dadurch zum Hauptmerkmal und Markenzeichen jener Serie, die seit 2011 ausgestrahlt wird (bzw. seit 2016 auf Netflix online verfügbar ist) und inzwischen unter Fans einen beachtlichen Kult-Status erreicht hat.598 Nichts steht daher besser für den aktuellen Boom der Dystopie als Black Mirror. Nicht immer liegt in den einzelnen Episoden ein extrapolierender Zugang vor, teilweise zeigen die Episoden auch eine dystopisch-fiktive Parallelgegenwart. Wenig überraschend ist, dass häufig auch ein intensiver Einsatz von ScienceFiction-Elementen erfolgt (vgl. hierzu die Überlegungen in 6.1). Exemplarisch wird im Folgenden die Folge Fifteen Million Merits (Staffel 1, Episode 2) einer schlaglichtartigen Analyse unterzogen. Diese Episode wurde unter anderem ausgewählt, weil in ihr ein extrapolierender Zugang vorliegt, 596 Aus einem Aufsatz von Sebastian Thede mit dem Titel ›Black Mirror‹ und Daniel Kehlmanns ›Du hättest gehen sollen‹ für die Internetseite Kein Papier vom 19. 12. 2016. Online abrufbar unter: http://keinpapier.de/?p=349 (letzter Abruf am 28. 11. 2019). 597 Die Reihe ist hier als Unterkategorie einer Serie zu verstehen. In einer Reihe bauen die einzelnen Episoden einer Serie handlungslogisch nicht aufeinander auf. 598 Vgl. etwa den Hype um den Start der fünften Staffel. Beispielhaft hierzu der Artikel Black Mirror: Hat Netflix schon ein Startdatum für die 5. Staffel der Serie? vom 03. 12. 2018, erschienen [ohne Autor] auf der Online-Plattform futurezone.de. Online abrufbar unter: https://www.futurezone.de/digital-life/article215922305/Black-Mirror-Hat-Netflix-schon-e in-Startdatum-fuer-die-5-Staffel-der-Serie.html (letzter Abruf am 29. 11. 2019).

Fifteen Million Merits (Black Mirror, Charlie Brooker, 2011)

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wodurch sich eine höhere Vergleichbarkeit mit den anderen in der Arbeit analysierten Dystopien ergibt.599 Während in V for Vendetta noch ein traditionell-dystopischer Inhalt – nämlich der Kampf gegen ein totalitäres System – mit innovativen narrativen Mitteln kombiniert wird, zielt die Serie Black Mirror und insbesondere die Episode Fifteen Million Merits auf eine soziopolitische Kritik der tatsächlich existierenden, westlich-liberalen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts ab. Fifteen Million Merits macht, so die Leitthese, Tendenzen einer heute vorherrschenden Individualisierungs-, Liberalisierungs- und Digitalisierungsideologie sichtbar, die gerade nicht mehr in eine staatlich verordnete Totalität, sondern in einen dystopischen Zustand völlig neuen Typs mündet. Somit ergeben sich hier auch auf inhaltlicher Ebene wichtige Parallelen zu den untersuchten literarischen Dystopien der Gegenwart.

6.3.2 Grundzüge der Filmhandlung und des Weltentwurfs Hauptfiguren der Episode sind Bingham Madsen, genannt Bing, und Abi Khan. Wie offenbar eine extrem große Zahl an Menschen fahren sie in einem fabrikartigen Setting täglich auf Hometrainern Fahrrad und bekommen hierfür je nach Fahrleistung ›Merits‹ gutgeschrieben. Sie führen ein räumlich beengtes und geistig anregungsarmes Leben, worüber digitale Animationen jedoch hinwegtäuschen sollen. Nicht alle logischen Aspekte dieses teilweise skurrilen Szenarios werden aufgeklärt und es handelt sich erkennbar gar nicht erst um den Versuch, einen in sich konsistenten Weltentwurf zu entwickeln. Durch einen kleinen Hinweis wird jedoch ersichtlich, dass innerhalb der Handlung von einem zuvor verstrichenen Intervall II auszugehen ist und dass dieses wohl zumindest einige Jahre bzw.

599 Tony McKenna analysiert diese Episode vor dem Hintergrund marxistischer (Literatur-) Theorien. Anders als der Titel vermuten lässt, ergeben sich dabei aber kaum Bezüge zur hier vorliegenden Fragestellung. Tony McKenna: Behind the Black Mirror: The Limits of Orwellian Dystopia. In: Critique. Journal of Socialist Theory 47, Nr. 2. Glasgow 2019, S. 365–376. Online-Ressource, abrufbar unter: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/0301760 5.2019.1601887 (letzter Abruf am 22. 03. 2022). Marcin Mazurek betrachtet diese Episode als eine (Post-)Apokalypse, die sich jedoch graduell entwickelt hat und nicht die Folge einer plötzlichen Katastrophe ist. Auch wenn dieser ungewöhnliche Zugang möglich ist, stellt sich doch die Frage nach seinem heuristischen Mehrwert. Marcin Mazurek: It’s the End of the World as We See It. A (Post)Apocalyptic Reading of Fifteen Million Merits and Metalhead. In: German Duarte und Justin Battin (Hg.): Reading Black Mirror. Insights into Technology and the Post-Media Condition. Bielefeld 2021, S. 51–68.

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Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

Jahrzehnte umfasst.600 Das intensive Fahrradfahren dient in der Welt von Fifteen Million Merits der Stromerzeugung (FM 53:35) und auch dadurch wird deutlich, dass die Episode eher auf allegorische Bedeutungsaufladung denn auf Plausibilität abzielt. Als Bing Abi auf der öffentlichen Toilette zufällig singen hört, ist dies für ihn ein überwältigender Moment wahrer Schönheit und Echtheit, der ihn aufgrund seiner sonstigen Erfahrungen völlig unvermittelt trifft. Bing schenkt Abi die Teilnahme an Hot Shot, einer Talentshow, um ihr ein Leben jenseits des Fahrradfahrens zu ermöglichen. Dies kostet ihn 15 Millionen ›Merits‹, eine Summe, die mehr als ein halbes Jahr Fahrradfahrens entspricht (FM 20:10). Doch der Showauftritt wird für Abi nicht, wie erhofft, der Beginn einer Gesangskarriere; stattdessen nimmt sie schweren Herzens das Angebot an, Pornodarstellerin zu werden. Bing nimmt daraufhin selbst an der Show teil, um die Juroren zur Rede stellen zu können. Statt dort aber für ein Umdenken zu sorgen, machen sie Bing zu einem festen Bestandteil ihres Unterhaltungsprogramms.

6.3.3 Ein Zerrspiegel der liberalen Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert Das Radfahren ist als sinnloses Treten auf der Stelle interpretierbar, es kennzeichnet eine Gesellschaft, die keine wirklichen Ziele oder gar Utopien mehr hat. Ersetzt wurden diese sinnstiftenden Elemente durch omnipräsente Ablenkung und Unterhaltung. Diese regelrechte Ablenkungssucht zeigt sich nicht nur daran, dass vor jedem Fahrrad ein großer Monitor installiert ist, auf dem eine große Auswahl infantiler Sendungen gezeigt wird, sondern auch an der überragenden Bedeutung, die die Talentshow Hot Shot innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Um in der Show teilnehmen zu dürfen, warten manche Bewerber teilweise wochenlang in einem Vorraum und halten sich dort für ihren Auftritt bereit (FM 28:39). Auch hier zeigt sich also das Phänomen einer neuen, hochproblematischen Art von Freiwilligkeit; diese ist bereits bei den untersuchten literarischen Dystopien als entscheidende Ursache für die neuen Zwänge jenseits der totalitären Zwangsstaaten herausgearbeitet worden (vgl. 5.1). In diesen dystopischen Spiegelungen der westlich-liberalen Gesellschaft mangelt es dem Individuum also 600 Den Song, durch den Abi und Bing sich näher kennen lernen, hat Abi nach eigener Aussage (FM 19:51) von ihrer Mutter gelernt, die ihn ihrerseits wieder von ihrer Mutter her kennt. Es handelt sich dabei um den Titel Anyone Who Knows What Love Is (Will Understand), den Irma Thomas 1964 veröffentlicht hat. Obwohl nicht klar ist, wie weit diese intergenerationale Tradierung zurückreicht und obwohl theoretisch auch kürzere Abstände zwischen den Generationen denkbar sind, ist aufgrund dieses Hinweises ungefähr das Jahr 2020 als terminus post quem wahrscheinlich.

Fifteen Million Merits (Black Mirror, Charlie Brooker, 2011)

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nicht primär an persönlicher Freiheit, sondern an den Kompetenzen, die bestehende Freiheit sinnvoll zu nutzen. Die Identifikationsfigur von Fifteen Million Merits, Bing, hat diese Selbstkompetenz noch, was ihn zu einem Außenseiter macht. Bing ist von Beginn der Episode an ein melancholischer oder gar depressiver Charakter, der die Hohlheit der ihn umgebenden Welt erkennt. Eine unreife Nutzung von Freiheiten und Wahlmöglichkeiten durch die Bevölkerung hat sich in dieser Episode also bereits manifestiert, sie ist implizit ins Intervall II ausgelagert und hat zur Formung der grotesken Welt bereits entscheidend beigetragen. Fifteen Million Merits entwirft eine Welt, in der das Niveau von Trash-TV zum alleinigen, unentrinnbaren Standard geworden ist. Der Auftritt Abis bei Hot Shot ist eine Parodie gängiger Casting-Shows. Der einflussreichste Juror hat den sprechenden Namen »Hope« und ist für seine Schärfe bekannt. Abis Auftritt kommentiert er folgendermaßen: »That was … without a doubt … probably … the best piece of singing we had this season.« (FM 34:13) Dies bedeutet für Abi dennoch nicht den Beginn einer Gesangskarriere, weil die Show laut Hope an einem Überangebot an Sängern leide. Stattdessen wird ihr von den Juroren eine Karriere als Pornodarstellerin angeboten, wozu sie aufgrund ihres unschuldigen Charmes bestens geeignet sei. Eventuelle Gefühle von Scham könnten medikamentös beseitigt werden. Das Publikum feuert Abi frenetisch an, das Angebot anzunehmen. Dieses »Live«-Publikum der Show besteht ausnahmslos aus Zuschauer:innen, die zuhause auf ihren mit Monitoren umgebenen Betten sitzen; ihre Reaktionen werden auf deren jeweilige Avatare übertragen und in Echtzeit in die Sendung projiziert (FM 0:31:08). Schließlich nimmt Abi das Angebot schweren Herzens an, nachdem sie von Juror Hope unter Druck gesetzt wurde, weil sie die Zuschauer:innen, die durch ihr schweißtreibendes Radfahren die Sendung erst ermöglichen, langweile und dadurch nicht respektiere. Innerhalb der Handlung kommt es nun zu drei Zeitsprüngen bzw. -raffungen: Zunächst muss ein ohnehin völlig niedergeschlagener Bing mitansehen, wie für den ersten Porno-Film mit Abi geworben wird. Weil er nicht genügend ›Merits‹ zur Verfügung hat, kann er die ungebetene Werbung nicht einmal ausblenden und Abis überschminktes Gesicht erscheint überlebensgroß an seiner Zimmerwand. Als er schließlich das Gesicht in den Händen verbirgt, setzt ein lauter und hoher Störton ein, der ihn zwingen soll, die Werbung wieder anzusehen. In diesem Moment hat Bing einen spontanen, aggressiven Ausbruch und versucht, die omnipräsenten Monitore in seinem Zimmer zu zerstören, nachdem es ihm während der Werbung nicht einmal gestattet wird, den Raum zu verlassen (FM 0:44:13). Er scheitert mit seinem Zerstörungsversuch zwar, am Boden bleibt aber eine große Scherbe zurück, die er bedeutungsschwer zu sich nimmt. Es folgt eine

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starke Zeitraffung, in der gezeigt wird, wie Bing einerseits eine Tanz-Choreographie einübt und andererseits wie besessen Fahrrad fährt. Als er schließlich wieder ein Guthaben von 15 Millionen Merits hat, meldet er sich selbst bei Hot Shot an. Seinen Tanz-Auftritt unterbricht er jedoch rasch und droht, sich mit der Scherbe die Kehle aufzuschlitzen, wenn er nicht vor der Jury und dem Publikum sprechen darf. Daraufhin folgt eine scharfe Abrechnung Bings mit der dystopischen Welt, in der er vor allem die Künstlichkeit und Hohlheit der allgemeinen Lebensumstände anprangert. Aus einer gattungstheoretischen Perspektive hat er sich also in dem Moment vom passiven Mitläufer zum aktiven Widerständler gewandelt, als er Abi zum ersten Mal als Pornodarstellerin gesehen hat. Sein Versuch, die Monitore in seinem Zimmer zu zerstören, hatte auch symbolische Bedeutung, und seine weitere Strategie besteht darin, durch sein öffentliches Auftreten einen Mentalitätswandel der Bevölkerung zu erreichen. Sein Plan weist somit einige Parallelen zu ›V‹s Einsatz der Medien in V for Vendetta auf. In seiner Rede greift Bing auch die Juroren von Hot Shot wegen ihres bloß gespielten Mitgefühls persönlich an. Mehr noch: Sie erscheinen in seiner Rede als Machtzentren der ganzen Gesellschaft, die für die angeprangerten Schieflagen Verantwortung tragen. In dieser parodistischen Black-Mirror-Episode ist also die Rolle der dystopischen Staatsrepräsentanten von den früheren Politikerfiguren wie Mustapha Mond auf Juroren von Casting-Shows übergegangen.601 So kommt es also auch hier zu jenem typischen, offenen Gespräch zwischen dem exemplarischen Individuum und den Staatsrepräsentanten, als die die Juroren in Fifteen Million Merits durch Bings Zuschreibung faktisch fungieren. Das Handlungsschema prototypischer Dystopien wird hier aufgegriffen, ist allerdings ins Groteske gekippt. Die entscheidende Wende ereignet sich durch Juror Hopes Reaktion auf Bings Generalabrechnung, also durch die Antwort, die von der hierarchischen Spitze des Systems nach unten schallt. Bings Rede nämlich, so Hope, sei das Ehrlichste gewesen, was Hot Shot je gesehen habe. Unter dem Jubel des Publikums bietet er Bing daraufhin eine regelmäßige Sendung auf einem seiner Kanäle an, denn: »[…] [A]uthenticity is in woefully short supply.« (FM 55:36) Indem das Publikum in diesem Moment paradoxerweise zugleich Bing und Hope zujubelt, fällt Bings Versuch einer Revolte schon vor ihrem eigentlichen Beginn in sich zusammen.

601 Dabei ist es irrelevant, ob Bing die Rolle der Juroren innerdiegetisch nun maßlos überschätzt oder diese tatsächlich eine solch bestimmende Stellung einnehmen, da eine konsistente Welt ohnehin nicht um die Hauptfigur Bing und seine unmittelbare Lebenswelt herum entworfen worden ist.

Fifteen Million Merits (Black Mirror, Charlie Brooker, 2011)

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Nach einem letzten Zeitsprung zeigt sich ein entsprechend trostloses Bild. Abi ist in ihrem 47. Filmauftritt bereits schwer gezeichnet (FM 0:58:09) und Bing hält zweimal wöchentlich seine völlig wirkungslosen, zur Unterhaltung verkommenen Wutreden im Auftrag des von ihm hauptsächlich Kritisierten. Bings Lebensumstände haben sich jedoch radikal gewandelt, er blickt nun von seinem großen, luxuriösen Zimmer aus auf einen üppigen Regenwald (FM 1:00:22). Schwarze Balken in diesem Regenwald deuten jedoch darauf hin, dass er es nur zu einem größeren Bildschirm gebracht hat, der ihm nun eine schönere und ›authentischere‹ Aussicht vorgaukelt als sein alter Bildschirm zu Beginn. Dass es in Fifteen Million Merits zu einem solch umfassenden Sieg des dystopischen Systems kommen konnte, liegt an dessen gewaltiger Integrationskraft, die jedem potentiellen Widerstand die revolutionäre Spitze nimmt. Symbol dessen ist die Bing Shard, eine digitale Version von Bings Scherbe, die nach seinem ›Erfolg‹ und seinem Einknicken bei Hot Shot als Accessoire für die Avatare der Rad fahrenden Bevölkerung zur Verfügung steht. Sie kostet 599 Merits und ist damit noch nicht einmal besonders kostspielig. Die Hohlheit, die Ziellosigkeit, aber auch die schier grenzenlose Integrationskraft der individualistischen, kapitalistischen Gesellschaften des Westens sollen in dieser Episode auf grotesk-allegorische Art ausgestellt werden. Diese Eigenschaften werden dabei als in starker Wechselbeziehung zur immer weiter voranschreitenden Digitalisierung stehend gezeigt (vgl. TC und QL). Die entworfene Welt in Fifteen Million Merits ist fast vollständig entmaterialisiert; die Bevölkerung erhält für ihre Arbeit Tokens, die jedoch kaum mehr realen Wert haben, da diese fast nur noch für digitales Spielzeug ausgegeben werden können. So wird das Fahrrad zum Hamsterrad, ohne dass dies der tretenden und durch entertainment sedierten Masse (vgl. IJ und QL) überhaupt auffallen würde. Es entsteht dadurch gar eine neue Form von Totalität (erkennbar neben den allgemeinen Lebensumständen etwa an den uniformartigen, grauen Trainingsanzügen, die alle Radfahrer:innen tragen), die nun jedoch vorpolitisch ist und nicht mehr in eine sozialistische (Nineteen Eighty-Four) oder nationalistische (V for Vendetta) Ausprägung eingeordnet werden kann. Offen bleibt innerhalb der Narration, ob dieses System das Ergebnis eines perfiden, perfekt verwirklichten Plans oder im Gegenteil das Ergebnis einer ungesteuerten, freien, organischen Entwicklung ist. Die Handlungslogik und die zeitkritischen Implikationen legen jedoch zweiteres nahe. Die liberalen, kapitalistischen, demokratischen Gesellschaften des Westens müssen nicht zwingend untergehen, um zu scheitern, sie können auch aus sich selbst heraus dystopische Zustände hervorbringen, wenn ihre Entwicklung einen ungünstigen Verlauf nimmt und es der breiten Masse an Kritikfähigkeit mangelt. Hierauf weist die Episode Fifteen Million Merits insbesondere hin.

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Intermedialer Exkurs: Die Gegenwartsdystopie in Film, Serie und Videospiel

6.3.4 Die Dystopie in Zeiten asymmetrischer Konflikte (Fazit) Ende des letzten Jahrtausends etablierte sich der Begriff des ›asymmetrischen Konfliktes‹. Während unter konventionellen Kriegen solche zwischen zwei oder mehreren, souveränen Nationen verstanden werden, steht er für militärische Auseinandersetzungen, in denen nur noch eine Konfliktpartei ein solcher Nationalstaat ist, der sich nun nicht-staatlichen Gruppierungen (wie etwa der Taliban) gegenübersieht.602 Ein solcher Konflikt erfordert aus Sicht der Nationalstaaten ein gewaltiges strategisches Umdenken, da dieser neue Gegnertypus schweres Kriegsgerät wortwörtlich ins Leere laufen lässt. Über viele Jahrzehnte hinweg hat sich auch die Dystopie auf einen staatlichen Gegner – nämlich den totalitären Zwangsstaat gleich welcher politischen Färbung – eingestellt und ein spezielles Instrumentarium zu seiner (meist präventiven) Bekämpfung entwickelt. Doch genau in dem Moment, in dem weltweit der ›asymmetrische‹ den konventionellen Konflikt mehr und mehr abzulösen begann, trat auch die Dystopie in eine neue Phase ein. Auch ihr nämlich kam der staatliche ›Kontrahent‹ abhanden. Bei dieser Gleichzeitigkeit handelt es sich um keinen Zufall, denn sowohl der geopolitische wie auch der literarische Paradigmenwechsel sind direkte Folgen des Untergangs der Sowjetunion und damit des Endes des Kalten Krieges bzw. der bipolaren Weltordnung. Auch die Dystopie hat es nach dem Ende der sozialistischen Bedrohung verstärkt mit einem Gegner zu tun, der sich aufgrund seiner Flüchtigkeit konventionellen Angriffen entzieht. Gemeint sind die Eigengefährdungen, die aus dem demokratischen, kapitalistischen Liberalismus heraus für die westlichen Gesellschaften entstehen können. Das diffizile Identifizieren und Aufdecken dieser Gefahren ist nun bereits der entscheidende Aspekt der Gegenwartsdystopie, denn während staatliche Totalität eigentlich nur zwei mögliche Gesichter hat – ein sozialistisches und ein (religiös-)nationalistisches – kann ein potentielles Scheitern des westlichen Liberalismus an sich selbst unzählige verschiedene Gründe haben und unzählige verschiedene Formen annehmen. Hierin liegt ein wesentlicher Grund, warum Dystopien der Gegenwart inhaltlich heterogener sind als die primär gegen staatliche Totalität ausgerichtete Nachkriegsdystopie. In Fifteen Million Merits haben Casting-Juroren die Rolle der dystopischen Staatenlenker übernommen. Sie stehen einem System vor, das seine Bürger auf so subtile Weise unterdrückt, dass diese von ihrer Unterdrückung oft nicht einmal ahnen, da die verwendeten Machtmechanismen so sehr mit der sonstigen Um602 Vgl. zu den Definitionen der Konflikttypen z. B. die Ausführungen auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung. Online abrufbar unter: https://sicherheitspolitik.bp b.de/m1/articles/definitions-of-war-and-conflict-typologies (letzter Abruf am 29. 11. 2019).

Fifteen Million Merits (Black Mirror, Charlie Brooker, 2011)

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welt verwoben sind, dass sie kaum noch aus dieser wegzudenken sind. Gleichzeitig erkennt das Publikum diese Herrschaftsinstrumente als scheinbar harmlose Elemente seines Alltagslebens wieder (wie z. B. Casting-Shows), was typisch ist für die spezifisch-unheimliche Anziehungskraft von Black Mirror (vgl. das Eingangszitat). Erkennbar hat also auch die Dystopie in den letzten Jahrzehnten ihre Taktik umgestellt und hinsichtlich der neuen Anforderungen aktualisiert. Die groteske, allegorische Parodie Fifteen Million Merits ist hierfür ebenso ein Beispiel wie viele der analysierten literarischen Dystopien.

7.

Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

Je länger der aktuelle Boom der Dystopien andauert und je stärker er die Buchund Filmbranche prägt, desto mehr wird er – wie in der Einleitung bereits geschildert – selbst zum Thema. Spätestens seit Mitte der 2010er-Jahre hat sich ein eigener feuilletonistischer Diskurs gebildet, in dessen Rahmen nicht mehr nur einzelne Dystopien besprochen werden, sondern der außergewöhnliche Erfolg der Gattung an sich in den Blick genommen wird. Insbesondere wird in den verschiedenen Beiträgen versucht, die Ursachen des Booms zu benennen; auf diese Weise sollen allgemeine Rückschlüsse auf den Zustand der westlichen Gesellschaften ermöglicht werden. Die Dystopie der Gegenwart ist somit nicht nur als ein kulturelles Phänomen von Interesse, sondern wird auch aus einer übergeordneten Perspektive als ein relevantes Symptom betrachtet – wofür, ist allerdings die entscheidende Frage. Wie sich an dem alarmierten Ton verschiedener Äußerungen zeigt,603 hat sich bislang als impliziter Konsens zwischen den verschiedenen Diskursbeiträgen etwas herausgebildet, das als eine ›Besorgnis zweiter Ordnung‹ bezeichnet werden kann. Die Dystopien, so die allgemeine Einschätzung, seien eine Literatur der Angst und des Pessimismus; dass gerade diese Gattung aktuell zu einem solchen Höhenflug ansetzt, sei daher unabhängig von den in den jeweiligen Dystopien verhandelten Themen Anlass zu ernsten Bedenken. Ein beständiges Krisengerede könne zu einer self-fullfilling prophecy werden.604 Jill Lepores Artikel für The New Yorker, in dem sie einen ›Radikalpessimismus‹ der Gattung diagnostiziert, 603 Vgl. neben Sigrid Löfflers Interview weiter unten beispielhaft zudem den Artikel von Nicolas Freund mit dem Titel Das Ende ist nah in der Süddeutschen Zeitung vom 05. 05. 2019, online abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/kultur/dystopie-mainstream-essay-1.4429 322 (letzter Abruf am 21. 03. 2020); daneben den Artikel von Günter Hack mit dem Titel Wir brauchen eine neue Science Fiction! in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. 02. 2014, online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ueber wachung/literarische-utopien-wir-brauchen-eine-neue-science-fiction-12805052.html (letzter Abruf am 21. 03. 2020). 604 Diese These findet sich z. B. auch bei Pinker, Enlightenment Now, S. 290–292.

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Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

soll hier noch einmal als Beispiel für diese Position herangezogen werden. Am Ende ihres Beitrags konstatiert sie: Dystopia used to be a fiction of resistance; it’s become a fiction of submission, the fiction of an untrusting, lonely, and sullen twenty-first century, the fiction of fake news and infowars, the fiction of helplessness and hopelessness. It cannot imagine a better future, and it doesn’t ask anyone to bother to make one. It nurses grievances and indulges resentments; it doesn’t call for courage; it finds that cowardice suffices. Its only admonition is: Despair more. […]605

Lepores Thesen wurden im Rahmen dieser Arbeit bereits als undifferenziert und pauschalisierend kritisiert. Die Beschäftigung mit dem Textkorpus lieferte das Bild einer selbstreflektierten Gattung, die Angst und Besorgnis nun – anders als in der von Lepore hoch geschätzten ersten Boomphase – mit Komik und teilweise auch mit konstruktiver Kritik verbindet (vgl. 5.2). Ähnlich kulturpessimistische Positionierungen wie die Lepores dominieren jedoch auch die Dystopie-Debatte im deutschsprachigen Raum, wie am Beispiel eines Interviews mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler erkennbar wird: Seit einiger Zeit beobachte ich, dass die Zahl der Zukunftsromane stark zunimmt. […] Allerdings sind das keine optimistischen Zukunftsbilder, keine großen Weltverbesserungsentwürfe, keine verheißungsvollen alternativen Gesellschaftsmodelle. […] [S]tattdessen erscheinen ständig neue negative Utopien, das sind sogenannte Dystopien. […] Es wimmelt von Schreckensszenarien und von apokalyptischen Untergangsvisionen. Es herrscht Endzeitstimmung, Schwarzmalerei, Radikalpessimismus, wohin man schaut.606

Äußerungen wie die Löfflers (die den Dystopien im weiteren Verlauf des Interviews immerhin eine positive »Dialektik« zugesteht, weil sie die kritisierten Zustände ja verändern wollen) sind im Diskurs über den aktuellen Zustand der Gattung typisch. Sieht man in einem ›Radikalpessimismus‹ – bezeichnenderweise eine wörtliche Übereinstimmung zwischen Lepore und Löffler – das essentielle Merkmal der Gegenwartsdystopie, so kann der aktuelle Boom in der Tat nur als Symptom einer weit verbreiteten Endzeitstimmung gedeutet werden (woher diese käme, wäre dann aber die nächste Frage). Weil jedoch die Ergebnisse der Arbeit diesem Blick auf die Gattung signifikant widersprechen, soll hier abschließend ebenfalls über die Ursachen und die gesellschaftlichen Implikationen des Dystopie-Booms nachgedacht werden. Auf 605 Zit. n. Jill Lepores Artikel A Golden Age for Dystopian Fiction. What to make of our new literature of radical pessimism, erschienen in The New Yorker vom 05. 06. 2017. Online abrufbar unter: https://www.newyorker.com/magazine/2017/06/05/a-golden-age-for-dysto pian-fiction (letzter Abruf am 17. 03. 2020). 606 Der Beitrag erschien am 15. 01. 2019 auf deutschlandfunkkultur.de und ist online als Textversion verfügbar: https://www.deutschlandfunkkultur.de/literaturkritikerin-loeffler-zu-ne uen-buechern-ueber.1270.de.html?dram:article_id=438353 (letzter Abruf am 21. 03. 2020).

Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

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Basis der vorangehenden Ergebnisse sowie thematisch relevanter soziologischer Theorien werden Thesen entwickelt, um den gegenwärtigen Erfolg der Gattung in den westlichen Kulturkreisen erklären und einordnen zu können. Es geht also darum, übergeordnete Verbindungen zwischen den jeweiligen Einzelthemen, die die Dystopien aufwerfen, zu suchen und zu beschreiben.607 Bei der Zusammenfassung der Analyseergebnisse wurde bereits die These vertreten, dass vor allem die Öffnung der Dystopie für narrative Innovationen den zweiten Boom der Gattung ermöglicht hat – doch gibt es in den westlichen Gesellschaften darüber hinaus noch einen ›gemeinsamen Nenner‹, der ein gesteigertes Bedürfnis nach solch dystopischen Zukunftsentwürfen überhaupt erst geschaffen hat? Hierzu eine Hauptthese mit drei Unteraspekten: Das große Interesse der Öffentlichkeit an Dystopien ist die Reaktion auf ein Gefühl umfassenden Kontrollverlustes. Dieses bewusst oder unbewusst vorhandene Gefühl setzt sich hauptsächlich aus drei Teilbefürchtungen zusammen, die sich gegenseitig verstärken, nämlich: – Der Sorge vor dem wachsenden menschlichen Zerstörungspotential in einer ›Risikogesellschaft‹. – Den Vorbehalten gegenüber einem ab ca. 1990 einsetzenden, starken Beschleunigungsschub im Zuge der Digitalisierung und Globalisierung. – Der Melancholie einer Gesellschaft, die sich auf ihrem Zenit angekommen wähnt und deren utopische Energien aufgebraucht scheinen. Im Folgenden geht es weniger darum, ob de facto ein solcher gesellschaftlicher Kontrollverlust vorliegt, sondern ob sich das Gefühl eines Kontrollverlustes in der Bevölkerung rekonstruieren lässt und ob dieses mit dem Boom der Dystopien in Zusammenhang steht. Treffen die obigen Thesen zu, so hätte der Boom der Dystopien mit einer grassierenden ›Endzeitstimmung‹ nicht viel zu tun, sondern wäre als eine gesellschaftliche Reaktion auf komplexe Veränderungen des westlichen Lebensgefühls zu betrachten.

607 Es versteht sich, dass ein solches Unterfangen zum Abschluss einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nur als tentativer Vorschlag und nicht als empirisch untermauerte Schlussthese zu betrachten ist.

292

7.1

Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

Die ›Risikogesellschaft‹

Eine Person, die gewiss nicht unter Alarmismus-Verdacht steht, ist der HarvardProfessor Steven Pinker. In seinem Weltbestseller Enlightenment Now versucht er anhand vieler einzelner Gesellschaftstrends aufzuzeigen, weshalb die Annahme, die Welt würde sich zum Schlechten entwickeln, konträr zur empirischen Faktenlage steht. Eine Graphik, die er im Rahmen dieser Argumentation heranzieht, ist für alle drei folgenden Aspekte aufschlussreich und soll daher – als roter Faden des gesamten Kapitels – etwas genauer vorgestellt werden (vgl. Abbildung 4608).

Abbildung 4

Die Y-Achse zeigt die geschätzte Höhe der weltweiten Bruttowertschöpfung (Gross World Product) in einer hypothetischen, völlig konstanten Allzeit-Währung an, die X-Achse die Jahrhunderte von Beginn der Zeitrechnung bis zum Jahr 2000. Anhand der sich ergebenden Kurve lässt sich der global jeweils zur Verfügung stehende Wohlstand ablesen. Die Kurvenform lässt dabei eine überexponentielle Wohlstandszunahme in der jüngeren Geschichte erkennen (wofür v. a. der Siegeszug der Industrialisierung und die Rationalisierung der Produktionsabläufe verantwortlich sind). Für Pinker ist diese Graphik ein Grund zur Freude und zum Optimismus, da die rasante Zunahme des weltweiten Wohlstands äußerst stabil zu sein scheint. Voller Enthusiasmus beschreibt er den Graph und inwiefern dieses überexpo-

608 Die Abbildung ist Pinker, Enlightenment Now, S. 81 entnommen. Die Rohdaten übernimmt Pinker dabei von der Webpage ourworldindata.org/economic-growth/.

Die ›Risikogesellschaft‹

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nentielle Wachstum, als Sekundärfolge, auch noch das Problem der ungleichen globalen Wohlstandsverteilung entscheidend abmildert: The story of the growth of prosperity in human history […] is close to: nothing … nothing … nothing … (repeat for a few thousand years) … boom! A millennium after the year 1 CE, the world was barely richer than it was at the time of Jesus. […] Starting in the 19th century, the increments turned into leaps and bounds. Between 1820 and 1900, the world’s income tripled. It tripled again in a bit more than fifty years. It took only twentyfive years for it to triple again, and another thirty-three years to triple yet another time. The Gross World Product today has grown almost a hundredfold since the Industrial Revolution was in place in 1820, and almost two hundredfold from the start of the Enlightenment in the 18th century. Debates on economic distribution and growth often contrast dividing a pie with baking a larger one […]. If the pie we were dividing in 1700 was baked in a standard nine-inch pan, then the one we have today would be more than ten feet in diameter. If we were to surgically carve out the teensiest slice imaginable – say, one that was two inches at its widest point – it would be the size of the entire pie in 1700.609

Pinker übersieht oder unterschlägt jedoch, dass mit der extremen Steigung der Wohlstandskurve auch potentielle Probleme einhergehen (vgl. hierzu auch 7.2 und 7.3). Ulrich Beck etwa geht im Rahmen seines Konzepts der ›Risikogesellschaft‹610 davon aus, dass die Menschheit in dem Maße, in dem sie vermehrt Güter produziert, auch versteckte Risiken anhäuft: In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.611

An anderer Stelle spricht Beck davon, dass global betrachtet »[d]er Teufel des Hungers […] mit dem Beelzebub der Risikopotenzierung bekämpft [wird].«612 Aus Becks Sicht kann also z. B. die immer ertragreichere landwirtschaftliche Produktion nicht ohne die immer höheren Nitratwerte im Grundwasser betrachtet werden, ebenso wenig wie die Annehmlichkeiten immer neuer elektrischer Geräte ohne die Nachteile der Stromerzeugung, usw. 609 Pinker, Enlightenment Now, S. 80–81. Hervorhebung im Original. 610 Beck, Die organisierte Unverantwortlichkeit, S. 4: Etwas systematischer gesagt, ist »Risikogesellschaft« die Epoche des Industrialismus, in der die Menschen mit der Herausforderung der entscheidungsabhängigen, industriellen Selbstvernichtungsmöglichkeiten allen Lebens auf Erden konfrontiert sind. Dieses unterscheidet die Risikozivilisation, in der wir leben, nicht nur von der ersten Phase des Industrialismus, sondern auch von allen anderen bisherigen Kulturen, so unterschiedlich diese auch immer gewesen sein mögen. (Kursivierungen im Original). 611 Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 25. 612 Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 56. Im Original kursiviert.

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Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

Das Problem, das Beck mit seinem Konzept der ›Risikogesellschaft‹ beschreibt, durchdringt implizit auch die Dystopien der Gegenwart. Es ist dort, ganz allgemein und plakativ gesprochen, eine Furcht vor dem sog. ›Anthropozän‹ festzustellen, also vor einem Zeitalter, in dem das Eingriffspotential des Menschen so angewachsen ist, dass letztlich die gesamte Erde seinem Zugriff ausgeliefert ist. Die Umweltkrise ist dabei ein zentraler, aber bei weitem nicht der einzige Aspekt. Im Unbehagen über das Anthropozän tritt ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber dem anthropos selbst zutage, dem ein verantwortungsvoller Umgang mit seiner beständig wachsenden Eingriffsmacht zumindest nicht langfristig zugetraut wird. Dieses Misstrauen speist sich aus historischen und/oder psychologischen Betrachtungen (die Weltkriege als Beispiele hier, das Milgram-Experiment dort). Im Vergleich zu allen anderen Epochen zuvor liegt die besondere Brisanz des Anthropozäns darin, dass im Extremfall ein einziger Fehler global irreversible Folgen haben kann, die Fehlertoleranz innerhalb des Systems also immer geringer wird. Tatsächlich korrespondiert der aktuelle Boom der Dystopien mit Becks 1986 erstmals vorgestelltem Konzept erstaunlich gut: Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft läßt sich in dem Satz fassen: Ich habe Hunger! Die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft in Gang gesetzt wird, kommt demgegenüber in der Aussage zum Ausdruck: Ich habe Angst! An die Stelle der Gemeinsamkeit der Not tritt die Gemeinsamkeit der Angst.613

Diese »Gemeinsamkeit der Angst« erfasst laut Beck die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit übrigens noch weit stärker, als es die »Gemeinsamkeit der Not« je vermocht hatte, denn eine sozial herausgehobene Stellung schützte in allen historischen Epochen recht zuverlässig vor echtem Hunger, während etwa die Strahlung nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl (die in Becks Konzeption übrigens noch gar nicht eingeflossen ist) vor Wohlstand, Macht und Prestige keinen Halt machte.614 So werden die Gefährdungen innerhalb einer ›Risikogesellschaft‹ für das Individuum nicht nur potentiell immer größer, sondern es wird auch immer schwieriger, ihnen zu entrinnen. Konnte man in Zeiten des Hungers zumindest noch von sozialem Aufstieg träumen, so entziehen sich viele Gefahrenherde heute oft sogar allen nationalen Zugriffsmöglichkeiten (wie etwa die AKWs in Westfrankreich aus deutscher Perspektive). Man sieht diese Ge613 Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 66. Kursivierungen im Original. 614 Vgl. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 48. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass ökonomisches Kapital durchaus sehr hilfreich sein kann, wenn es darum geht, mit den individuellen gesundheitlichen Folgen einer Reaktorkatastrophe umzugehen.

Der Beschleunigungsschub

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fährdungen in der Regel nicht und ist ihnen dennoch auf eine Weise ausgeliefert, für die es kaum Schutz gibt. Gerade diese Kombination aus Unentrinnbarkeit und Unsichtbarkeit der Gefährdungen führt dazu, dass die Ängste einer ›Risikogesellschaft‹ die Tendenz haben, ins Latente und Diffuse abzuwandern: Die Bedrohungen der Zivilisation lassen eine Art neues »Schattenreich« entstehen, vergleichbar mit den Göttern und Dämonen der Frühzeit, das sich hinter der sichtbaren Welt verbirgt und das menschliche Leben auf dieser Erde gefährdet. […] Überall kichern Schad- und Giftstoffe und treiben wie die Teufel im Mittelalter ihr Unwesen.615

In den allgemeinen Vorüberlegungen dieser Arbeit wurde bereits dargelegt, dass die gesellschaftliche Funktion der Dystopie vor allem in der Konkretisierung und Visualisierung von zuvor nur schwer greifbaren Gefährdungen und Ängsten zu sehen ist (vgl. 2.4). Es erscheint also plausibel, dass insbesondere dann ein gesteigerter Bedarf an dieser Art von literarischer Orientierung besteht, wenn in der Gesellschaft große Sorgen mit zugleich unklarer Gestalt verbreitet sind. Als ›Warnromane‹ können die zeitgenössischen Dystopien als Versuch gedeutet werden, Gefährdungen in einem ersten Schritt überhaupt erst einmal zu identifizieren, um diese dann in einem zweiten Schritt, durch das Auslösen einer öffentlichen Debatte, zu neutralisieren. Das Streben nach Orientierung und der Wunsch nach einem Rückgewinn an Kontrolle sind somit untrennbar miteinander verbunden. Wie Beck sagt, wird »in der Risikogesellschaft […] der Umgang mit Angst und Unsicherheit biographisch und politisch zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation.«616 Für den Einzelnen wie für die Gesellschaft sollen die Dystopien heute offenbar einen wesentlichen Beitrag leisten, diese »Schlüsselqualifikation« herzustellen.

7.2

Der Beschleunigungsschub

Für den zweiten Aspekt noch einmal zurück zu Pinkers Wohlstandskurve. An ihr lässt sich nicht nur ein stabiles, sondern vor allem ein sich noch immer weiter beschleunigendes Wirtschaftswachstum ablesen. In der Soziologie geht man heute davon aus, dass nicht nur der ökonomische, sondern letztlich alle gesellschaftlichen Bereiche von einer Beschleunigungsbewegung durchdrungen sind.617 615 Beck, Die organisierte Unverantwortlichkeit, S. 9. Kursivierungen im Original. 616 Beck, Die organisierte Unverantwortlichkeit, S. 8. Im Original kursiviert. 617 Vgl. neben Hartmut Rosas Arbeiten etwa die Studie von Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft: auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. 2. Auflage. Wiesbaden 2008. Rosa und Nassehi verfolgen unterschiedliche Ansätze; Nassehi konstatiert in den

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Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

Damit ist gemeint, dass nicht nur das absolute ›Lebenstempo‹ beständig ansteigt, sondern sogar die relative Beschleunigung dieses Tempoanstiegs. Dass unsere Welt immer schnelllebiger wird, scheint also nicht nur eine Plattitüde zu sein (analog zu: ›alles wird immer teurer‹), sondern ein ernstzunehmender soziologischer Effekt. Dabei geht jedoch unter anderem Hartmut Rosa davon aus, dass sich Beschleunigung, anders als von Pinkers Graphik suggeriert, in Schüben vollzieht. Für die Neuzeit nimmt Rosa drei fundamentale Beschleunigungsschübe an, die jeweils als Folgen technologischer Innovationen zu betrachten sind. Den ersten diagnostiziert er ab ca. 1750, den zweiten um 1900 (ausgelöst durch die voranschreitende Industrialisierung und Urbanisierung), den dritten ab 1990 (ausgelöst durch die Digitalisierung und Globalisierung).618 Solche Phasen sprunghafter Tempozunahmen gehen dabei laut Rosa stets mit besonderen mentalen Herausforderungen für die Individuen wie für die gesamte Gesellschaft einher. Ausgehend von den Untersuchungen Joachim Radkaus619 interpretiert er die Neurasthenie-Diagnosen während des Fin de Siècle – also während des Beschleunigungsschubes um 1900 – als ein »geschwindigkeitsinduziertes Krankheitsbild«620. Die Symptome jenes »Zeitalters der Nervosität«621 um 1900 zeigten auffällige Parallelen zu heutigen Phänomenen. So, wie damals ›Neurasthenie‹ als (Mode-)Diagnose weit verbreitet gewesen sei, spreche man heute von der »Eilkrankheit«622 bei Erwachsenen und von ADHS bei Kindern und Jugendlichen.623 Unabhängig davon, ob man Rosa hier in jedem Detail folgen möchte, erscheint die Annahme eines ab ca. 1990 durch Digitalisierung und Globalisierung ausgelösten Beschleunigungsschubes insgesamt plausibel. Obwohl der Boom der Dystopien von Rosa nicht thematisiert wird, fügt er sich in das von ihm gezeichnete Gesamtbild: Generell lässt sich konstatieren, dass in der Geschichte der Moderne noch jede Welle technologischer, organisatorischer oder kultureller Beschleunigung zunächst auf massiven Widerstand und verbreitete Skepsis gestoßen ist, sich aber schließlich doch durchsetzen konnte und die Kritiker nach und nach zum Verstummen brachte.624

618 619 620 621 622 623 624

einzelnen Gesellschaftsbereichen ebenfalls starke Beschleunigungstendenzen, ist aber zurückhaltender als Rosa, diese Diagnose auf ›die Gesellschaft‹ insgesamt zu übertragen. Vgl. Rosa, Beschleunigung, S. 39–40. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998. Rosa, Beschleunigung, S. 83. Rosa, Beschleunigung, S. 83. Dort zit. n. Radkau. Die ursprüngliche Bezeichnung lautet ›hurry sickness‹. Vgl. Rosa, Beschleunigung, S. 83–84. Rosa, Beschleunigung, S. 461.

Der Beschleunigungsschub

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Ist die Gegenwartsdystopie also nur eine konservative Abwehrreaktion auf die beängstigenden Beschleunigungstendenzen unserer Zeit? Es scheint noch mehr dahinter zu stecken und erneut ist hierfür die Funktion der Dystopie, durch Konkretisierungen für zusätzliche Orientierung zu sorgen, entscheidend: Ein Bauer, der vor ein paar hundert Jahren lebte, konnte mit guten Gründen davon ausgehen, dass ›die Welt‹, mit der er an seinem Lebensabend konfrontiert sein wird, in ihren Normen und Bräuchen noch derjenigen entspricht, die er als Heranwachsender kennengelernt hatte. Inzwischen dagegen erscheint es fraglich, ob man sich diesbezüglich in zehn Jahren noch ›in den gleichen Zeiten‹ befinden wird wie heute. Rosa und andere Soziologen nennen diesen Effekt »Gegenwartsschrumpfung«: In kultureller Perspektive erweist sich […] [die Gegenwartsschrumpfung], [d. h.] die progressive Verkürzung jener Zeiträume, für die von stabilen Wissensbeständen, Handlungsorientierungen und Praxisformen ausgegangen werden kann, als die weitreichendste Konsequenz der sozialen Beschleunigung. Sie führt zunächst zu einem Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont und damit zur Verzeitlichung von Geschichte (und Leben) […].625

Das Interesse, das bei den Rezipient:innen von Dystopien an der Zukunft (bzw. an verschiedenen Zukunftsentwürfen) besteht, mag auch diesem Aspekt geschuldet sein. Wer sich früher in seiner Lebenswelt einmal zurecht gefunden hatte, hatte diese Entwicklungsaufgabe erfolgreich und meist endgültig bewältigt. Heute dagegen stellt sie sich unter Umständen alle paar Jahre neu – man erinnere sich hierzu auch noch einmal an die Beschreibung all jener massiven politischen Veränderungen während der 2010er-Jahre in der Einleitung (Kap. 1). Während man also selbst immer älter wird, nehmen gleichzeitig Tempo und Beschleunigung der Lebenswelt um einen herum immer noch weiter zu. Doch während sich der Einzelne dieser Tempozunahme noch teilweise entziehen könnte, wenn dafür andere massive Einbußen in Kauf genommen würden (etwa der Verzicht auf die Teilhabe an der Digitalisierung), besteht diese Möglichkeit für die Gesellschaft insgesamt nicht. Angetrieben vom technologischen Wandel ist ein paralleler Stillstand in den Bereichen Politik, Wirtschaft oder Kultur überhaupt nicht denkbar. Es scheint in den westlichen Demokratien (und auch sonst) also gar keine relevante intersubjektive Aushandlungsfrage mehr zu sein, ob die Gesellschaft sich verändern sollte, sondern nur noch, wie diese Veränderungen bestenfalls aussehen sollten. Während also einerseits die technischen Handlungsoptionen der Menschheit immer weiter ansteigen (vgl. 7.1), droht ihr offenbar zugleich der Verlust jener ganz basalen Möglichkeit, sich nicht zu verändern (oder sich nur allmählich, auf 625 Rosa, Beschleunigung, S. 433. Kursivierungen im Original.

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Reflexion statt Radikalpessimismus (Schlussbetrachtung)

Basis langwieriger gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu verändern). Dass mit dieser Situation ein entscheidender Kontrollverlust einhergeht, liegt auf der Hand: Wer mit seinem Auto fahren kann, wohin er möchte, aber gezwungen ist, die Geschwindigkeit jede Minute um 10 km/h zu erhöhen, der hat zwar formal noch Kontrolle über seinen Wagen, aber in Wirklichkeit die Kontrolle schon weitgehend verloren.

7.3

Die saturierte, postutopische Gesellschaft

Doch was bei der Auto-Metapher früher oder später unweigerlich zum Crash führen muss, wäre in der viel komplexeren, realen Welt durch geschicktes Agieren vielleicht noch kompensierbar. Das wachsende Tempo kann schließlich auch Triebkraft eines positiven Fortschritts sein, wie es das in der Vergangenheit im Großen und Ganzen ja auch gewesen ist (in dieser Hinsicht ist Pinker durchaus zuzustimmen). Tatsächlich aber machen viele westliche Gesellschaften in Zukunftsfragen einen orientierungslosen Eindruck, was sich vor allem mit Blick auf den Status utopischen Denkens zeigt (vgl. 4.1). Die Gattung der literarischen Utopien erlebt aktuell eine existentielle Krise und droht, zu einem ausschließlich literarhistorisch relevanten Phänomen zu werden. Was das politische Denken insgesamt angeht, hat Jürgen Habermas bereits 1985 konstatiert, »die utopischen Energien [seien offenbar] aufgezehrt«, was zur Folge habe, dass »[d]ie Zukunft […] negativ besetzt [ist]«. Dabei gehe es nicht um die Kleinigkeit einer kurzzeitigen atmosphärischen Verstimmung, sondern um nichts Geringeres als »um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst«.626 Diese Perspektive wendet Rutger Bregman auf das einzelne Individuum an, wenn er pointiert feststellt, in den saturierten, ›postutopischen‹ Gesellschaften des Westens habe man heute alles – außer »ein[en] Grund, am Morgen aus dem Bett zu steigen.«627 Gesellschaftliche Beschleunigung und utopische Ziellosigkeit sind gerade in ihrer Kombination in der Lage, zu einem bedrohlichen Szenario zu verschmelzen. Nicht nur wähnen sich die westlichen Gesellschaften auf einem zivilisatorischen Gipfel angekommen, von dem aus es in jeder Richtung unweigerlich bergab ginge und auf dem man nun in postutopischer Alternativlosigkeit verharren müsse (vgl. die Interpretation zu Infinite Jest); nein, aufgrund des hohen Tempos der Lebenswelt, das sich noch immer weiter beschleunigt, scheint ein solches Verharren im Sinne eines Status-quo-Erhalts als Handlungsoption gänzlich weggefallen zu sein. 626 Alle Zitate bei Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 143. 627 Bregman, Utopien für Realisten, S. 18.

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Damit ein letztes Mal zurück zu Pinkers Wohlstandskurve. In der empirischen Welt ist exponentielles Wachstum bekanntlich immer nur bis zu einem gewissen Punkt möglich, dann bricht es zusammen, weil die Ressourcen, aus denen sich das Wachstum generiert hat, aufgebraucht sind. Das Wirtschaftswachstum, das Pinker enthusiastisch vorführt, basiert bekanntlich schon seit langem auf einem Ressourcenverbrauch, der deutlich höher ist als die Ressourcenregeneration.628 Früher oder später bricht die Kurve also zusammen, sofern ihre materielle Basis nicht – in Folge eines gewaltigen Transformationsprozesses – auf Ressourcen aufgebaut wird, die sich mindestens ebenso schnell regenerieren, wie die Kurve steigt. Doch beide Fälle, der Zusammenbruch wie auch die Transformation, implizieren einen gewaltigen gesellschaftlichen Wandel, sodass der Graph, entgegen Pinkers Argumentation, gerade nicht die Botschaft eines bloßen ›Weiter so‹ beinhaltet. Was die Menschheit – und insbesondere die westlichen Demokratien – also aus mehreren Gründen dringend bräuchten, wären Visionen, wie das immer größere Eingriffspotential (vgl. 7.1) und das immer höhere Tempo der Lebenswelt (vgl. 7.2) genutzt werden können, um den Herausforderungen der Zukunft sinnvoll zu begegnen. Unzählige solcher Visionen machen in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen zwar die Runde, durch ihre Partikularisierung entfalten sie aber keine ausreichende integrative Kraft mehr, um »soft power«629 entwickeln und dadurch tatsächlich wirksam werden zu können. Rosa spricht daher von einer Zeit des »rasenden Stillstandes«, »in der das Rasen der Ereignisgeschichte das Stillstehen der ideendynamischen und ›tiefenstrukturellen‹ Entwicklung nur dürftig zu überdecken vermag« und in der sich ein faktischer »Epochenumbruch ohne korrespondierende Vision eines ›kulturellen Neustarts‹« beobachten lässt.630 Das Konzept vom ›Ende der Geschichte‹ wird aller Voraussicht nach im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts noch stärker als ohnehin schon ad absurdum geführt werden, der Westen scheint mental jedoch nur noch auf einen solch langweilig-paradiesischen Endzustand eingestellt zu sein. Vor diesem Hintergrund ist es nicht so erstaunlich, weshalb die Zukunft, die prinzipiell ja gestaltungsoffen vor jeder Gesellschaft liegt, heute für viele Men628 Welzer, Alles könnte anders sein, S. 25. 629 Dieser Grundbegriff der Politikwissenschaft wird zwar vor allem auf staatliche Akteure angewendet, kann aber auch auf den Einfluss utopischen Denkens übertragen werden. Siehe hierzu Nye/Welch, Understanding Global Conflict, S. 45: […] [T]here is also a soft or indirect way to exercise power. […] This aspect of power – that is, getting others to want what you want – is called attractive or soft power. Soft power can rest on such resources as the appeal of one’s ideas or on the ability to set the political agenda in a way that shapes the preferences others express. (Kursivierung im Original). 630 Alle Zitate bei Rosa, Beschleunigung, S. 41.

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schen offenbar bedrohliche Züge angenommen hat. Statt beherzt und optimistisch nach der Zukunft zu greifen, ist es heute »die Zukunft selbst […], die nach uns greift.«631 Sie ist nunmehr häufig »das, was nicht passieren darf«,632 weswegen heute statt an der Zukunft »vor allem an der Zukunftsverhinderung [gearbeitet wird]«.633 Es handelt sich auch bei diesem Aspekt um einen Kontrollverlust, wenn auch von anderer Art als in den beiden Abschnitten zuvor. Denn nicht nur kann man die Kontrolle über Atomkraftwerke und Social-Media-Accounts verlieren, es scheint zugleich auch das Gefühl vorzuherrschen, der positiv-gestalterische Zugriff auf die Zukunft selbst, der die heutige Prosperität erst hervorgebracht hat, sei den westlichen Gesellschaften entglitten. Explizit oder implizit lässt sich ein solches utopisches Defizit in mehreren der untersuchten Romane als Grundübel des jeweiligen Weltentwurfs erkennen (v. a. in IJ, CD, UN, MA, QL und AA). Aus einer literarhistorischen Perspektive, die die utopisch-dystopischen Texte insgesamt in den Blick nimmt, zeigt sich hier ein frappierendes Phänomen: Während Utopien und Dystopien historisch betrachtet Gegenentwürfe sind, ist es in der Dystopie der Gegenwart häufig gerade das Fehlen utopischer Visionen, das zum Ausgangspunkt warnender Extrapolation wird. In ihrer Gesamtheit kritisiert die boomende Gattung somit eine Gesellschaft, deren letzte große ›Utopie‹ es zu sein scheint, den status quo auf ewig beizubehalten und möglichst nichts zu verändern. Weil jedoch utopisches Denken üblicherweise konstruktiv zum Aufbruch antreibt, ist diese letzte ›Utopie‹ aus Sicht der Dystopien paradox, morsch und führt langfristig gerade nicht zur Absicherung der im Großen und Ganzen positiven Lebensumstände der westlichen Welt.

7.4

Verändern, um zu erhalten (Fazit)

Die Kombination mehrerer ausgewählter soziologischer Theorien ergibt das Bild einer saturierten Gesellschaft, die mangels utopischer Energien kaum mehr konstruktiven Gestaltungswillen in großen Dimensionen erkennen lässt und daher trotz der implizierten Langeweile von einer unendlichen Gegenwart träumt, während sie in Wirklichkeit durch den rasanten technologischen Wandel und die voranschreitende Globalisierung zur Veränderung geradezu gezwungen ist und somit gleichsam in eine Zukunft hineingetrieben wird, die es daher scheinbar nicht zu erleben, sondern zu ›erleiden‹ gilt. Dieser Vorgang des un631 Augé, Die Zukunft der Erdbewohner, S. 17. 632 Seidl, Der Mann aus der Zukunft, S. 374. 633 Seidl, Der Mann aus der Zukunft, S. 375.

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gewollten Weitergerissenwerdens vollzieht sich zudem im Kontext ständig steigender menschlicher Eingriffs- und somit auch Zerstörungspotentiale. Die bereits existierenden Wohlstandsgesellschaften scheinen bei alledem nicht mehr zu gewinnen zu haben als eine immer noch weitere Vergrößerung ihres Wohlstands. Die Möglichkeit, Vorhandenes verlieren zu können, wird daher offenbar als bedeutender aufgefasst als die zugleich bestehende Möglichkeit, Neues hinzuzugewinnen.634 Kann dieser aus verschiedenen soziologischen Theorien kombinierte Ansatz tatsächlich erklären, warum die Dystopien der Gegenwart auf einem so fruchtbaren Boden gedeihen können? Die zeitgeschichtlichen Umstände jedenfalls passen gut zum Beginn des Dystopie-Booms in den späten 1990er-Jahren: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl lenkte 1986 die allgemeine Aufmerksamkeit auf zuvor verdrängte Risiken, Digitalisierung und Globalisierung nahmen ab ca. 1990 entscheidend an Fahrt auf und das Fehlen eigener utopischer Visionen machte sich nach dem Untergang der Sowjetunion, als die westliche Welt den erwirtschafteten Wohlstand nun endlich unangefochten ›genießen‹ konnte, zunehmend bemerkbar. Chronologisch wäre es also gut möglich, den Boom als Folge der beschriebenen gesellschaftlichen Phänomene zu betrachten. Zweitens kann der Umstand angeführt werden, dass die in diesem Kapitel beschriebenen Aspekte thematisch auch in den analysierten Dystopien immer wieder in der ein oder anderen Form aufscheinen (vgl. 5.1). Die Romane zeigen mehrere Dilemmata auf, die zueinander in Wechselbeziehung stehen. Das zentrale wurde als typisches Dilemma ›postutopischer‹ Gesellschaften bezeichnet, wonach die Abschaffung der großen Utopien aufgrund der negativen historischen Erfahrungen nachvollziehbar sei, nun aber auch die Utopielosigkeit zum gesellschaftlichen Problem werde. Ähnlich ist es mit dem beständigen wirtschaftlichen Wachstum, das beängstigend ist – ebenso wie es sein Ausbleiben wäre. Immer höheres gesellschaftliches Tempo scheint gefährlich – aber auch eine radikale ›Entschleunigung‹ wirkt bedrohlich. In saturierten Gesellschaften ist die Situation offenbar tatsächlich ganz so, wie Christoph Süß sie in seiner pointierten Sammlung gegenwärtiger Ängste darstellt:

634 Wie eingangs bereits erwähnt, soll hier nicht beurteilt werden, ob diese Beschreibung faktisch der Situation der westlichen Gesellschaften entspricht. Es ging hier stattdessen um die Frage, welche mentalen Dispositionen den aktuellen Boom der Dystopien erklären können. Die ausgeführten Überlegungen sind hierzu ein möglicher Ansatz.

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Wovor wir Angst haben – eine total unvollständige Sammlung Vor der Finanzkrise und der Bankenkrise. Dem Euro. Griechenland. Überhaupt vor Europa. Vor dem Klimawandel. Dem Ökofaschismus. Überschwemmung. Wassermangel. Vor Überfluss. Vor Knappheit. Vor Terroristen. Fundamentalisten. Idealisten. […] Vor der Kernkraft. Davor dass der Strom ausfällt. Vor Windrädern. Monokultur. Vielfalt. Davor, dass zu viele Ausländer kommen, davor, dass zu wenige Ausländer kommen. Vor dem Passiv-Rauchen. Vor Salz. Zucker. Dem Essen. […] Vor Sattheit. Vor dem Hunger. Dekadenz. Askese. Vor dem Internet. Davor, kein Netz zu haben. Vor Arbeitslosigkeit. Stress. Burn-out. Langeweile. Der Zukunft. Der Vergangenheit. […] Revolution. Konformität. Veränderung. Davor, dass es immer so weiter geht. Davor, dass alles anders wird. […]635

Während die Dystopie der Nachkriegszeit eine Literatur des Widerstands war, ist die Dystopie der Gegenwart nicht, wie Lepore meint, eine Literatur der Verzweiflung, sondern eine Literatur des Dilemmas. Dies ist ein feiner, aber doch kein kleiner Unterschied. Die Stärke der Gegenwartsdystopie und ihre gesellschaftliche Relevanz liegt im Aufzeigen von dilemmatischen Situationen begründet, die für die westlichen Gesellschaften typisch und als ungelöste Problemlagen anzusehen sind; die Gegenwartsdystopie scheut auch nicht davor zurück, sich zu deren Auflösung auf die schwierige Suche nach ›dritten Wegen‹ zu begeben. Dabei stößt die Gattung zwar auch an seine Grenzen, ist damit jedoch in ›postutopischen Zeiten‹ alles andere als alleine. Diese Auseinandersetzung mit großen allgemeinen Problemen vollzieht sich in den in dieser Arbeit untersuchten Romanen in der Regel hoch reflektiert und gerade ohne ›Radikalpessimismus‹. Ein wesentlicher Grund für den gegenwärtigen Boom der Dystopie scheint vielmehr im gesellschaftlichen Bedürfnis nach mehr zukunftsbezogener Reflexion und nach mehr Orientierung zu liegen, um damit vielleicht wieder mehr Kontrolle über die Zukunft gewinnen zu können. Ein ›Radikalpessimismus‹ würde dagegen implizieren, dass jede Zukunftshoffnung sinnlos und der Untergang unabwendbar ist. Tatsächlich jedoch liegt den warnend-extrapolierenden Dystopien schon aus logischen Gründen nichts ferner als eine solch defätistische Haltung. Anders als in der ersten Boomphase, als sich die Gattung vor allem gegen Gefährdungen für die freiheitliche Gesellschaft durch staatliche Totalität gewendet hat, sind es heute die versteckten, morschen Stellen der liberaldemokratischen Gesellschaften selbst, die die zeitgenössische Dystopie aufdecken möchte. Und während staatliche Totalität im Großen und Ganzen nur zwei Spielarten kennt (kommunistisch oder (religiös-)nationalistisch), kann der Verfall der liberalen Gesellschaften aus sich selbst heraus unendlich viele verschiedene Gründe haben und Formen annehmen. 635 Süß, Morgen letzter Tag, S. 11–12. Eigene Hervorhebung.

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Stärker als früher hat die Gattung heute nicht nur einen warnenden, sondern auch einen fragenden Zug, der nicht rhetorisch zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund einer diffizilen gesellschaftlichen Ausgangslage schaffen die Dystopien Reflexionsräume, aus denen heraus sich zwar nur selten klare Handlungsempfehlungen, aber dafür häufig relevante Denkanstöße ergeben. Das Fazit, das Harald Welzer mit Blick auf die heutige Gesellschaft und ihre Zukunft zieht,636 passt somit auch zum reflektierten Tenor der untersuchten Dystopien in ihrer Gesamtheit: »Wir müssen alles verändern, damit vieles bleiben kann, wie es ist.«637

636 Die Abwandlung eines zentralen Satzes aus Guiseppe Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo (1958). 637 Welzer, Alles könnte anders sein, S. 26.

8.

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638 An manchen Stellen der Arbeit wurden Forschungswerke o. ä. in den Fußnoten bereits vollständig bibliographisch aufgeführt. Dies war immer dann der Fall, wenn der Titel nicht in die Argumentation integriert wurde, sondern wenn lediglich am Rande auf die Existenz dieses oder jenes Titels hingewiesen wurde, um ein gewisses thematisch-wissenschaftliches ›Panorama‹ aufzuzeigen. Es wurde darauf verzichtet, solche Titel hier noch einmal aufzuführen. Auch journalistische Texte, auf die Online zugegriffen wurde, wurden der Einfachheit halber gleich in den Fußnoten vollständig erfasst.

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Dank

Mein herzlicher Dank richtet sich an: Herrn PD Dr. Erik Schilling Für die intensive, zeitaufwändige Betreuung meines Projekts. Für die Kombination aus Forschungsenthusiasmus und Seriosität. Für die Kombination aus literaturwissenschaftlicher Methodentreue und dem Interesse an allgemein gesellschaftsrelevanten Fragen. Für die zahlreichen stilistischen Verbesserungen. Für seinen Blick für das Detail. Für seinen Blick für das große Ganze. Herrn Prof. Dr. Wilhelm Haefs Für die wiederholte, gewissermaßen lebensentscheidende Ermunterung, eine Dissertation zu beginnen. Für die ungemein wichtige Orientierung bei der Themenfindung und für das gemeinsame Abstecken des Untersuchungsfeldes. Für mehrere wichtige Literaturtipps. Für die Möglichkeit, Zwischenergebnisse in seinem Oberseminar vorstellen zu dürfen. Herrn Prof. Dr. Martin H. Geyer Für die Bereitschaft, in der mündlichen Prüfung als Drittprüfer zu fungieren. Für das große Interesse am Thema und damit verbunden der inhaltlichen Bereicherung meiner Arbeit. Nicht zuletzt aber auch für die Aufrechterhaltung der Zusage, an der Disputation teilzunehmen, als eigentlich gravierende Hinderungsgründe aufgetreten sind. Meine Familie, insbesondere an Hedi, Helmut und Frank Sperling Für die vielfältige Unterstützung vor dem Start des Projekts. Für die vielfältige Unterstützung während des Projekts. Für die vielfältige Unterstützung nach Abschluss des Projekts. Für allerhand Kleinigkeiten und für gar nicht so wenig größere Posten. Meine Frau Janina Fröhlich Für Unzähliges, in diesem Fall aber insbesondere für ihre Geduld und Nachsicht in Phasen hoher Arbeitsbelastung.

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Dank

Die Studienstiftung des deutschen Volkes Für die ideelle und finanzielle Förderung meines Projekts. Für die Ermöglichung eines wertvollen Austauschs mit Nachwuchswissenschaftler:innen, die sich für mehr als nur die eigene Forschung interessieren.