Durch Gesellschaftswissenschaft zum idealen Staat: Moritz von Lavergne-Peguilhen (1801-1870) [1 ed.] 9783428512317, 9783428112319

Vor dem Hintergrund von Pauperismus und sozialer Frage Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgte Moritz von Lavergne-Peguilhe

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Durch Gesellschaftswissenschaft zum idealen Staat: Moritz von Lavergne-Peguilhen (1801-1870) [1 ed.]
 9783428512317, 9783428112319

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ANGELA STENDER

Durch Gesellschaftswissenschaft zum idealen Staat

Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Johannes Kunisch und Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer

Band 29

Durch Gesellschaftswissenschaft zum idealen Staat Moritz von Lavergne-Peguilhen (1801-1870)

Von Angela Stender

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 3-428-11231-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde unter dem Titel „Durch Gesellschaftswissenschaft zum idealen Staat. Moritz von Lavergne-Peguilhen (1801-1870)" im Sommersemester 2002 vom Fachbereich Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen als Doktorarbeit angenommen. Viele Menschen haben zum Gelingen dieses Projekts beigetragen. Prof. Dr. Helmut Berding und Prof. Dr. Diethelm Klippel unterstützten mich nicht nur als Doktorvater und geduldiger Betreuer, sie befürworteten auch meine Aufnahme ins Graduiertenkolleg „Mittelalterliche und Neuzeitliche Staatlichkeit" an der Universität Gießen. Die Veranstaltungen im Rahmen des Kollegs brachten sowohl inhaltliche Anregungen und wertvolle Hinweise als auch kollegialen Rückhalt und neue Erfahrungen in der Vortrags- und Diskussionskultur. Viel Unterstützung fand ich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem, der Wojwodschaftsarchive in Olsztyn und Bydgoszs in Polen sowie des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs in Schleswig. Sie waren immer bemüht, die häufig sehr versteckten Hinweise auf Moritz v. Lavergne-Peguilhen zu finden und mich mit mehr Material zu versorgen als ich je erwartet hätte. Wer weiß, wieviel Überwindung, Kraft und Zuspruch manchmal nötig ist, sich als Mutter von mehreren Kleinkindern immer wieder neu seinem Thema zuzuwenden, kann einschätzen, wie wichtig es ist, eine funktionierende GroßFamilie im Hintergrund zu haben. Geduld und immer wieder Geduld hatte mein Mann, Harald Stender, nicht nur mit mir und meinen Krisen in der langen Entstehungszeit, sondern auch mit unseren zwei, dann drei und schließlich vier Kindern. Ich danke für jedes Wochenende, das er mir zum Arbeiten freischaufelte und für jeden ruhigen Abend und jede Nacht, in denen er Kinder beruhigte, damit ich am nächsten Morgen fit für den Schreibtisch war. Er kümmerte sich aber nicht nur um die heimische Infrastruktur, sondern war auch so weit in meinem Thema fit, dass er sich als „Hiwi" auf zwei Archivreisen nach Polen nützlich machen konnte.

6

Vorwort

Ihr großes Interesse an Historischem und ihre unschlagbare Geschwindigkeit bei der Transskription handschriftlicher Texte aus dem 19. Jahrhundert qualifizierte meine Mutter, Christel Kahler, zu meinem zweiten „Hiwi". Uber 1.000 Archivseiten verwandelten sich auf ihrem Schreibtisch in leicht lesbares Quellenmaterial. Nicht nur dafür sei ihr herzlich gedankt, sondern auch für die vielen Einsätze mit meinem Vater Adam Kahler und meinen Schwiegereltern Helma und Kurt Stender als universell nutzbares „Großeltern-Notkommando". Meinen Kindern Karl, Sophie, Leonie und Louis möchte ich für ihre Geduld mit ihrer Mutter danken. Sie vertrugen sich prima mit betreuenden Großeltern, brachten nebenbei Au-pair-Mädchen wechselnder Nationalitäten geduldig die deutsche Sprache bei und lernten schnell, sich selbst zu bekochen. Außerdem schafften sie es irgendwie, in den anstrengendsten Phasen nicht krank zu werden oder sich irgendwelche Knochen zu brechen. Buseck, 24. März 2005 Angela Stender

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

28

I. Familie, Kindheit, Bildung

28

1. Hugenotten und Preußen

28

2. Erfolgreiche Assimilation

29

3. Schulbildung und väterliche Anregung

33

II. Erste berufliche Erfahrungen

36

1. Landvermesser in der General-Kommission

36

2. Adel und Rittergut

43

3. Vergebliche Bewerbungen

46

III. Voraussetzungen für die „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft"

52

1. Befreite Bauern, arme Bauern

52

2. Der Wandel zum Konservativen

55

3. Pauperismus als ökonomisches und kulturelles Strukturproblem

57

4. Konservative Sensibilität für die soziale Problematik

64

IV. Die Gesellschaftswissenschaft 1. Die Gesellschaft als Objekt von Wissenschaft 2. Neue Wissenschaft, neue Methode

70 70 76

3. Die Gesellschaft als Organismus

84

4. Der Staat als Element der Gesellschaft

89

5. Die Bewegung als Paradigma des Fortschritts V. Die Wirtschaftstheorie 1. Die Produktionswissenschaft - Gegenstand und Methode 2. Zwischen Merkantilismus und Historischer Schule

93 98 98 105

8

Inhalt

VI. Die Kulturwissenschaft

115

1. „Kultur" als Leitsektor des Staates

118

2. Der Mensch im Kulturstaat - Freiheit durch „Assoziation"

122

3. Die Französische Revolution als Synonym der Zeitenwende

126

VII. Die Diskussion der „Grundzüge"

128

1. Europäische Vorbilder

128

2. Rezensionen

129

3. Wechselwirkungen

132

VIII. Zusammenfassung B. Politiker und Landrat in Ostpreußen

I. Der Huldigungslandtag von 1840 - erste politische Erfahrungen

141 145

145

1. Ein folgenreiches Missverständnis

145

2. Lavergnes Beitrag zur Verfassungsfrage

151

II. Landrat in Rößel

155

1. Ein attraktives Amt

155

2. Die Macht zwischen Staat und Stand

157

3. Der Weg ins Rößeler Landratsamt

163

4. Verwaltung „nach Gutsherrenart"

167

III. Erfolglose politische Aktivitäten

170

1. Förderung von Landwirtschaft und Gewerbe

170

2. Die Ansiedlung der Hessen

172

3. Lavergne und die „Notstandskommission"

179

a) Die Vorgeschichte

179

b) Die Diskussionsgrundlage

186

c) Die Bilanz: Ein kompletter Misserfolg?

191

4. Vom Provinziallandtag zum Vereinigten Landtag IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz 1. Das Problem der preußischen Landgemeindeordnung

194 199 200

Inhalt

2. Die „Landgemeinde" als Beitrag zum Verfassungsdiskurs

202

a) Selbstverwaltung und Selbstkontrolle

203

b) Kommunale Demokratie

205

c) Zurück zum Fideikommiss

208

d) Lebenslange Bildung

210

3. Ein „vollkommen ungenügendes Resultat"?

211

4. Lavergne, v. Schön, Jacoby

213

V. Abrechnung mit dem Liberalismus

217

1. Die „liberale Szene" in Königsberg

217

2. In die politische Isolation

219

VI. Zusammenfassung C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

227 230

230

1. Schulterschluss der Konservativen

231

2. Eine Behörde gegen Revolutionäre

245

II. Landrat und Abgeordneter: zwischen Wirsitz und Berlin

252

1. Ein neuer Wirkungskreis

252

2. Zwischen Polen und Preußen

255

3. Wohlstand durch gute Verkehrsanbindung

258

4. Laxe Amtsführung, Sturz und Disziplinarverfahren

261

a) Ein eigenwilliges Amtsverständnis

264

b) Opfer einer politischen Kampagne?

271

III. Politik und Publizistik für die „conservative Social-Politik"

276

1. Abgeordneter und Parteipolitiker

276

2. Ein konservatives Programm

282

3. Das „social-politische" Programm als Leitfaden

293

4. Lavergne und die parlamentarische Rechte

298

IV. Lavergne als Kopf der „Berliner Revue" 1. Reaktion und Fortschritt

303 303

10

Inhalt

2. Die „Berliner Revue" als Organ des Sozialkonservatismus

305

3. Das Ziel: die konservative Erneuerung

310

4. Das Ende: politische Entfremdung

313

V. Lavergnes Konzepte in der Reaktionszeit

317

1. Das ökonomische Konzept: Die Landwirtschaft bleibt Leitsektor

319

a) Sonderstatus für ländliches Grundvermögen

320

b) Nationalökonomie als Wissenschaft des Industrie-Kapitalismus

328

2. Das soziale Konzept: Gesellschaftswissenschaft als Restauration

334

a) Gesellschaftswissenschaft als Aufgabe der Zukunft

334

b) Lavergne und die „deutsche Gesellschafts-Wissenschaft"

337

c) Ohne Gesellschaftswissenschaft keine Politik

340

3. Das staatstheoretische Konzept: Gemeinden ohne Berufsbeamte a) Ehrenamtlichkeit als Verwaltungsprinzip b) Die Frage der Gewaltenteilung: Lob des Mittelalters c) Staatsdienst als freiwillige Gegenleistung d) Gegen die Rheinische Städte- und Gemeindeordnung 4. Das politische Konzept: Fundamentalopposition gegen die „Doktrin"

342 342 344 346 348 350

a) Der Liberalismus als überlebtes Theorie- und Politikmodell

350

b) Freiheit in der Korporation gegen liberalen Egoismus

352

c) Gegen die linke Mitte

356

VI. Zusammenfassung D. „Sozialpolitischer Tourist" und anerkannter Wissenschaftler

I. Im „Kalifornien" der positiven Staatslehre 1. Ungeklärte Verhältnisse 2. Forschungsreise mit dem Segen der Zivilverwaltung 3. Das politische Ziel: Der moderne Lehnsstaat 4. Gegen Österreich und das Augustenburgertum II. Reformpolitik und Landesstatistik 1. Ein „Quell politischer Erkenntniß"

361 364

364 366 367 374 379 390 392

Inhalt

2. Neue Gegner

396

3. Die Organisation der statistischen Enquete

405

4. Das schnelle Ende eines großen Plans

408

III. Der Norddeutsche Bund: Vollzugsort der „konservativen Soziallehre" 1. Ungebrochenes Sendungsbewusstsein 2. Der Sieg über den „Doktrinarismus" 3. Die Kommunal- und Kreisordnung IV. Entwicklung oder Stillstand?

413 413 415 419 421

1. Die Methode der „vergleichenden Statistik"

423

2. Vom Pauperismus zur Arbeiterfrage

430

3. Die Gesellschaftswissenschaft der Zukunft

433

4. Lavergnes Platz im sozialpolitischen Diskurs

440

V. Zusammenfassung

448

Ergebnisse

451

Quellen und Literatur

458

Namen- und Ortsregister

503

Einleitung Moritz v. Lavergne-Peguilhen hinterließ vier Monographien, mehr als zwanzig Aufsätze für Zeitschriften, Zeitungsbeiträge, Rezensionen und umfangreiche Denkschriften. 1838 veröffentlichte er in Königsberg die „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft", drei Jahre später ließ er einen zweiten Band folgen.1 Bis zu seinem Tod im Jahr 1870 trat er immer wieder mit Abhandlungen über sozial- und wirtschaftstheoretische Themen an die Öffentlichkeit. Gemessen an der Produktion der herausragenden akademischen Theoretiker waren die fast 2.500 Seiten aus der Feder Lavergnes eine geringe publizistische Hinterlassenschaft. Das hat einen ganz einfachen Grund: Lavergnes Arbeiten entstanden gewissermaßen als Feierabendbeschäftigung vor einem völlig anderen sozialen und institutionellen Hintergrund als dem eines „Vollzeitgelehrten". Der wissenschaftliche Autodidakt des Geburtsjahrgangs 1801 war von 1844 bis 1863 Rittergutsbesitzer und Landrat, außerdem fast zwanzig Jahre lang aktiver Politiker. Im Landtag der Provinz Preußen und in der Zweiten Kammer des Preußischen Abgeordnetenhauses stritt er für die praktische Umsetzung seiner Ideen. Seine Bücher und Aufsätze entstanden als theoretische Aufarbeitung praktischer Tätigkeit und Erfahrungen zwar nebenbei, aber mit einem so hohen wissenschaftlichen Anspruch, dass er auch in Expertenkreisen Anerkennung fand. Nicht ohne Stolz wies Lavergne in einem Brief an Friedrich List auf den Doktortitel hin, den ihm die Universität Königsberg für sein Hauptwerk „Die Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" verliehen hatte.2 Aus dem Landratsamt entlassen, Objekt eines Disziplinarverfahrens, ernannte er sich selbst 1864 zum „sozialpolitischen Touristen" und plante in Schleswig-Holstein seine erste umfassende Landesstatistik als Grundlage weiterer sozialpolitischer Forschungen. 1870 starb Lavergne in Berlin. Heute sind die Person, das wissenschaftliche und publizistische Werk sowie der Beitrag zum preußischen Sozialkonservatismus weitgehend vergessen. Oberflächlich betrachtet scheint dieses Vergessen auch durchaus begründet, denn keines der Projekte und keine der Visionen Lavergnes wurden realisiert, weder zu seinen Lebzeiten noch danach. Erstens: die „Gesellschaftswissenschaft". Sie wurde nicht, wie von Lavergne vorgeschlagen, als Leitdisziplin 1 2

Lavergne, Kulturgesetze. Lavergne an List, 24. 2. 1842, in: List, Schriften, Bd. 8, S. 306.

Einleitung

14

der Staatswissenschaften institutionalisiert und entwickelte sich noch weniger zu einer regulierenden Instanz, die die Existenz von politischen Parteien überflüssig machte. Zweitens: Entgegen den Vorstellungen Lavergnes hatte die preußische Landgemeindeordnung zu keiner Zeit die Chance, die Staatsverfassung in weiten Teilen abzulösen oder gar zu ersetzen. Drittens: Die Möglichkeit der Rückkehr zu einer ständischen Verfassung in Politik und Gesellschaft stand in Preußen nicht mehr zur Diskussion. Viertens: Im Gegensatz zu Lavergnes Modell einer vom Staat gelenkten und Landwirtschaft und Handwerk protegierenden Nationalökonomie entwickelte sich die Wirtschaftsordnung Preußens unaufhaltsam weiter zu einem auf Konkurrenz basierenden kapitalistischen System, in dem die Industrie die Landwirtschaft immer mehr an den Rand drängte und ihrerseits industrialisierte. 3 Nach diesem vorläufigen Befund läge es nahe, den selbsternannten Gesellschaftswissenschaftler Moritz v. Lavergne-Peguilhen als eine auf der ganzen Linie gescheiterte Existenz zu bezeichnen. Das verbietet sich jedoch aus zwei Gründen. Erstens sah er das selbst überhaupt nicht so, zweitens sprechen die lobenden Äußerungen einiger Nationalökonomen noch bis ins 20. Jahrhundert hinein dafür, dass sie Lavergnes Arbeiten auf ihrem Gebiet als originär und impulsgebend empfanden. 4 Aber vor allem seine Zeitgenossen, die sich vor dem Hintergrund der Diskussion um die soziale Frage und die Gesellschaftstheorie intensiv mit seinen Beiträgen auseinander setzten, hinterließen zahlreiche Aussagen, die die Bedeutung Lavergnes als Sozialtheoretiker unterstreichen. Friedrich Schmitthenner nannte die „Grundzüge" in seinen „Zwölf Büchern vom Staate" eine „geniale Schrift [...], weniger weil derselbe seine Zustimmung zu den von mir früher ausgesprochenen Ansichten zu erkennen gibt, als weil ich sehe, dass er selbständig Gesetze aufgefunden hat, die, meines Erachtens, als Grundsteine des wahren Systems anzusehen sind"5. Auch der konservative Staatstheoretiker und Naturrechtsgegner Karl Vollgraf schloss 1851 Lavergne in die Reihe derer ein, die sich schon vor 1848 Gedanken um die nationale Identität der Völker gemacht hätten: „Ganz abgesehen von den vielen rein speculativen Natur-Rechts-Systemen fehlt es durchaus nicht etwa an Schriften und Versuchen auf diesem Gebiete und es haben sich nur unter ande-

3

Zur Industrialisierung Preußens Pierenkämper, S. 90 ff; Tebarth\ allgemeiner Überblick bei Tilly; Lüdcke. 4 „Wohl durch Sismondi beeinflußt, bauten dann in Deutschland zunächst mehrere konservative und 'ethische' Nationalökonomen die Systematik der Wirtschaftsstufen und der ihnen je entsprechenden Organisationsformen der gewerblichen Arbeit weiter aus, vor allem M. von Lavergne-Peguilhen und namentlich der von der offiziellen Geschichtsschreibung auffallend stiefmütterlich behandelte Schüz", Sombart, Arbeit, S. 16; Mombert, Anschauungen; Mombert, Geschichte. 5 Schmitthenner, Bücher, Vorrede S. V.

Einleitung

ren Männer wie Montesquieu, Iselin, Ferguson, Miller, Meiners, Woltman, Eggers, Herder, Comte, Ekendahl, Rauer, Lavergne-Peguilhen, Zachariae etc. schon große Verdienste um einzelne Theile auf diesem Felde erworben." 6 Das liberale Rotteck-Welckersche Staatslexikon konnte sich diesen konservativen Elogen naturgemäß nicht anschließen. Hier wurde der erste Band der „Grundzüge" lediglich als ein Versuch gewertet, den Lehren des Kameralismus eine neue wissenschaftliche Grundlage zu verleihen. 7 1860 würdigte dagegen Julius Kautz in seiner Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Nationalökonomie die Verdienste des Ostpreußen um den Fortschritt der Wissenschaft. Lavergne habe nicht nur die Theorie der Produktion skräfte Adam Müllers modernisiert und erweitert, sondern auch ein Gesetz der ökonomischen Kräfte-Konjunktur in die Diskussion eingebracht. Insgesamt sah Kautz Lavergne als „Systematiker" in einer Linie mit Johann Schön und Friedrich Schmitthenner. 8 Auch Friedrich Engels kannte Lavergne als „Anhänger der historischen Schule" 9 , ohne ihm jedoch irgendeinen Einfluss auf die Gedankenwelt Karl Marx' und damit einen Bezug zur Entstehung des „wissenschaftlichen Sozialismus" einzuräumen. In diesem Sinne wies er die „Entdeckung der materialistischen Geschichtsanschauung" durch die „preußischen Romantiker der historischen Schule" in einem Brief an Franz Mehring energisch zurück. 10 Dies lag nach Engels' Auffassung sowohl an der widersprüchlichen und kaum ernst zu nehmenden Wirtschafts- und Staatsauffassung Lavergnes 11 als auch daran, dass Marx zur Zeit des Erscheinens der „Grundzüge" rein philosophisch gedacht und „von Ökonomie absolut nichts" gewusst habe. Er „konnte sich also bei einem Wort wie »Wirtschaftsform' gar nicht einmal etwas denken".12 In seinem Resümee „Über die sociale Bewegung der Gegenwart" prophezeite der Nationalökonom Heinrich Contzen 1876 dem Werk des sechs Jahre zuvor gestorbenen Moritz v. Lavergne-Peguilhen eine große Ausstrahlung in die Zukunft: „Der Name des Dahingeschiedenen wird in der Geschichte der Socialwissenschaft unvergessen bleiben und so lange unter ihren besten Förderern mit dankbarer Anerkennung genannt werden, als es eine vorwärtsschreitende

6 7

Vollgraff.\ Vorrede S. XI. Bülau, Art. Literatur, S. 1.

* Kautz, S. 641.

9

Engels an Mehring, 28.9.1892, in: MEW 28, S. 481. Engels an Mehring, 28.9.1892, in: MEW 28, S. 480. 11 „Ich kann bis auf weiteres nur annehmen, daß L-P nicht gewußt hat, was er schrieb. Gewisse Tierefinden ja nach dem Sprichwort auch zuweilen eine Perle, und sie sind unter den preußischen Romantikern stark vertreten", Engels an Mehring, 28.9.1892, in: MEW 28, S. 482. 12 Engels an Mehring, 28.9.1892, in: MEW 28, S. 481. 10

Einleitung

16

Wissenschaft in Deutschland gibt." 1 3 Obwohl die Wissenschaft seit Erscheinen dieses Zitats unbestreitbar vorwärtsgeschritten ist, gehört das sozial- und wirtschaftstheoretische Werk von Moritz v. Lavergne-Peguilhen nicht zum Kanon von Soziologie und Volkswirtschaftslehre als den beiden Nachfolgedisziplinen der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts. 14 Die Existenz eines kaum ausgewerteten Oeuvres, die Diskrepanz zwischen dem Interesse der Zeitgenossen und der Vernachlässigung durch die Nachwelt sowie die nur spärlich vorhandenen biographischen Anhaltspunkte boten den Anlass für erste Recherchen über Moritz v. Lavergne-Peguilhen. Dabei fanden sich gleich mehrere Gründe, ihn zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Arbeit zu machen. Zunächst fällt seine dezidierte Forderung nach Einführung einer institutionalisierten Gesellschaftswissenschaft auf. Dieser Vorschlag zur Lösung der sozialen Frage hebt ihn aus der schier unübersehbaren Menge der Autoren von Veröffentlichungen zu Armut und sozialer Frage im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts heraus. 15 Des weiteren entwickelte Lavergne anders als viele Autoren einen umfassenden Gesellschaftsbegriff. Er bezog Wirtschaftstheorie, Verfassungspolitik und Verwaltungslehre in seine Gesellschaftstheorie mit ein. Und schließlich sperren sich sowohl seine sozialtheoretischen Schriften gegen eine schnelle Einordnung als auch sein praktisches politisches Wirken. A l l dies und seine vermeintliche Wirkungslosigkeit machen den Umgang mit Lavergne und seinem Werk schwierig und seine Vernachlässigung durch die moderne Soziologie und Volkswirtschaftslehre nachvollziehbar. In ihrer Entstehungsphase an der Wende zum 20. Jahrhundert und nach dem Ersten Weltkrieg entsprach das Interesse der jungen Volkswirtschaftslehre an ihrer Geschichte ihrem Legitimationsbedürfnis und ihrer Herkunft aus der Tradition der historischen Schule der Nationalökonomie. 16 In diesem Kontext erschien 1926 in Gießen auch die einzige Dissertation über Moritz v. LavergnePeguilhen von Georg Becker, angeregt und betreut von den Professoren Paul Mombert 17 und Friedrich Lenz 18 . In der Gießener Fakultät entstanden damals

13

Contzen, Bewegung, Anm. S. 37. Zur wissenschaftlichen Entwicklung u. a. Bayer / Erhard, S. 310; Art. Geschichte der Soziologie, S. 191 ff; Art. Soziologie, S. 562 ff. 15 Zur Pauperismusliteratur aktuell v. a Kukowski, Pauperismus; Wohlrab. 16 Um die Jahrhundertwende etwa Eisenhart, Schüller; Dühring, Oncken. Nach dem Ersten Weltkrieg s. Fn. 17 u. 18; zum aktuellen Stand der Wissenschaftsgeschichte von Volkswirtschaftslehre und Soziologie vgl. Lenger, S. 18. 17 Vgl. Lebenslauf Beckers auf der letzten Seite seiner Dissertation. Mombert, Anschauungen, mit Schwerpunkt 19. Jahrhundert; Momberg Geschichte, 1927. Zu Mombert (1876-1938) vgl. NDB, Bd. 18, S. 23 f. 18 Lenz, Ökonomie, 1925; Lenz, Müller, 1922. Zu Lenz (1885-1968) vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 6, S. 323. 14

Einleitung

auch Arbeiten über Friedrich Schmitthenner und Karl Heinrich Hagen19. Die Gießener Lavergne-Dissertation bietet auf ihren rund 50 Seiten nur ein holzschnittartig und ohne pointierte Fragestellung zusammengestelltes Referat über die Entwicklung der ökonomischen Ideen Lavergnes. Neuere Darstellungen der Geschichte der Volkswirtschaftslehre in Deutschland wie die nach wie vor als Standardwerk anzusehende von Harald Winkel aus dem Jahr 197720 oder die von 1992 bis 1995 erschienene dreibändige „Geschichte der deutschen Volkswirtschaftslehre" von Karl Brandt 21 vermerken den Wirtschaftstheoretiker Lavergne als einen von vielen in der Reihe der in keine der großen Schulen einzuordnenden Schriftsteller. Für Harald Winkel gehört Lavergne neben Schmitthenner, Johann Schön, Wilhelm Kosegarten und einige andere unbekanntere Autoren zu einer Gruppe, die vermitteln wollte zwischen Klassik und Romantik, also wie Friedrich List zu den Vorläufern der historischen Schule.22 Die 1994 in dritter Auflage von Otmar Issing herausgegebene „Geschichte der Nationalökonomie"23 erwähnt Lavergne dagegen überhaupt nicht. Da sich Lavergnes Werk zentral mit der Idee einer institutionalisierten Gesellschaftswissenschaft befasst, wäre zumindest eine kurze Erwähnung seines Oeuvres in Arbeiten zur Geschichte der Soziologie zu erwarten. Die Soziologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben ihn jedoch ebenfalls nicht als einen ihrer Vordenker begriffen 24, während Werner Sombart und Ernst Grünfeld um die Wende zum 20. Jahrhundert Lavergnes Beitrag zur Entwicklung der Soziologie noch durchaus für erwähnenswert hielten.25 Im Jahr 1970 erschien ein Buch, in dem der Soziologe Eckart Pankoke Lavergne gewissermaßen wieder entdeckte. Mit der ausführlichen Würdigung Lavergnes in seinem Werk „Sociale Bewegung, Sociale Politik, Sociale Reform" hat Pankoke den bisher einzigen Versuch gemacht, das Oeuvre Lavergnes und dessen Bedeutung in die Diskussion der sozialen Frage im Vormärz und in die Geschichte der Soziologie einzuordnen. 26 Er ging auch der Frage nach, warum Lavergnes Beitrag aus der Erinnerung von Soziologie und Volkswirtschaftslehre verschwand. Dabei erkannte Pankoke zwar die programmatische Einführung des Begriffs „Gesellschaftswissenschaft" in die sozialkri-

19 20 21

22 23

Henkel, 1929; Volp, 1933. Winkel / Ott. Brandt.

Winkel/Ott,

S. 65 ff.; Hinweis auf Lavergne S. 66.

Issing. 24 Im Überblick: Aron\ Becker / Barnes; Jonas; Klages; König; Oberschall; Schoeck. 25 26

Sombart, Arbeit; Grünfeld. Pankoke, Bewegung; s.a. Pankoke, Fortschritt, S. 431 ff.

Einleitung

18

tische Publizistik als Lavergnes Verdienst an, schränkte jedoch gleichzeitig ein, dass der Begriff damals noch nicht „Schule machte". Demzufolge hatte Lavergne also eine neue Theorie in die Diskussion eingebracht, wurde aber von seinen Zeitgenossen nicht rezipiert. 27 Deshalb lehnte Pankoke jeden wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zu „der ein Jahrzehnt später von Mohl, Riehl und Stein konzipierten Gesellschaftswissenschaft'" ab, obwohl er sehr wohl inhaltliche Parallelen zog. 28 Pankokes historischer Grundannahme - die soziale Frage der Agrargesellschaft im Vormärz sei eine andere gewesen als die, die sich seit den späten 1840er Jahren mit der „bürgerlichen" Industriegesellschaft entwickelt habe - ist zuzustimmen. Er schließt daraus, Lavergnes Wissenschaft habe „die Probleme der Proletarisierung noch gar nicht thematisieren" können, „da diese Krise noch in dem sozialen Gefälle von Stadt und Land, jedoch kaum schon in dem Verhältnis von Kapital und Arbeit gesehen wurde." 29 Obwohl der Rittergutsbesitzer Lavergne sich vom Ideal einer agrarisch geprägten Gesellschaft tatsächlich zeitlebens nicht trennen konnte, hat er aber schon in seinen frühen Schriften den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit als Grundproblem der sozialen Frage thematisiert und diesen Schwerpunkt in den späteren Veröffentlichungen ausgeweitet. Pankokes Arbeit hat aber nicht dazu geführt, dass die Soziologie sich wieder intensiver mit Lavergnes Beitrag zur Entstehung ihrer Wissenschaft beschäftigte. Das liegt wohl eher am fehlenden Gegenwartsbezug der Sozialtheorie Lavergnes als an dem noch bei Friedrich Jonas spürbaren mangelnden Interesse an der quellenkritischen Aufarbeitung der Geschichte des Faches.30 Zudem dürfte Lavergnes Werk aus dem selbstgesteckten chronologischen Rahmen der neueren Disziplingeschichte herausfallen, die ihre Schwerpunkte in die Entste-

27

Vgl. Pankoke, Lavergne, S. 1106. Pankoke, Lavergne, S. 1106. 29 Pankoke, Lavergne, S. 1106. 30 So argumentierte z. B. Jonas, Bd. I, S. 7: „Die Soziologie ist eine an der Erfahrung orientierte und der Zukunft zugewandte Wissenschaft. Sie kann sich nicht durch Autoritäten oder Dogmen legitimieren wollen, und ihre Geschichte ist demzufolge kein Mausoleum, in dem Namen und Meinungen um ihrer selbst willen konserviert werden, In einer Zeit, die auf allen Gebieten einen außerordentlichen Zuwachs an Wissensstoff zu verzeichnen hat, gehört zum Fortschritt der Erkenntnis auch die Fähigkeit, das Vergangene auf sich beruhen und das Tote durch die Toten begraben zu lassen. Die Beschäftigung mit der Geschichte einer Wissenschaft kann sich hier nicht durch die Erinnerung eines der Vergangenheit angehörenden Stoffes rechtfertigen, sondern muß zur Erkenntnis der Fragen beitragen, vor denen diese Wissenschaft hier und jetzt steht." Das Interesse an der Geschichte der Soziologie sei nur gerechtfertigt, weil sie „Einblick in die nicht festgelegte und entwickelbare Natur des Gegenstandes vermittelt, auf den sich die Soziologie als Wissenschaft bezieht." 28

Einleitung

hungszeit der Soziologie in Deutschland zwischen 1909 und 1934, also der Zeit der Existenz der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie", und in die Zeit des Nationalsozialismus gesetzt hat. 31 So lautet der wissenschaftsgeschichtliche Befund, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Historiker wieder auf Lavergnes sozialtheoretisches Oeuvre aufmerksam gemacht haben. „Lavergne gehört zu den völlig vergessenen, weder in der A D B noch bei Ersch-Gruber erwähnten Stiftern einer Gesellschaftswissenschaft, der vielleicht als erster den Namen als Hauptbegriff verwandte", schrieb Reinhart Koselleck 1967. 32 1958 hatte Werner Conze bereits „aus dem bemerkenswerten Buch des antiliberalen Ostpreußen M. von LavergnePeguilhen" 33 zitiert und das Schweigen der Forschung zu Lavergne seit dem Erscheinen von Adalbert Hahns Buch über die von Lavergne mitbegründete Zeitschrift „Berliner Revue" im Jahr 1934 gebrochen. Die jüngere historische Forschung entdeckte Lavergnes Wirken als Landrat und Abgeordneter. Wolfgang Neugebauer wies 1992 auf den Politiker Lavergne hin. 3 4 Auch in den Arbeiten von Günther Grünthal 35 über den preußischen Parlamentarismus und Herbert Obenaus36 über das konservative Vereinswesen in Preußen finden sich weiterführende Hinweise auf den sozialkonservativen Abgeordneten und Mitbegründer des „Vereins zum Schutz des Eigenthums und zur Förderung des Wohlstands aller Volksklassen". Gegen die Auffassung, dem sozialkonservativen Ideenspektrum fehle „jegliche Relevanz", wandte sich in den letzten Jahren Herman Beck in mehreren Veröffentlichungen. 37 Er stellte fest, dass die Nachkriegsforschung nach einer Häufung von Arbeiten über die sozialpolitischen Ideen des preußischen Konservatismus zwischen 1910 und 1940 allenfalls Teilaspekte behandelte oder sich auf die allgemeinen politischen Ideen der preußischen Konservativen konzentrierte. Beck erklärt diese Berührungsängste damit, dass der Sozialkonservatismus unter einem bis heute nicht behobenen Makel gelitten habe, nachdem der Nationalsozialismus das preußische sozialkonservative Denken als Vorläufer oder Vorbild der eigenen Ideologie betrachtet habe. Damit sei aber ein großes Erkenntnisreservoir zum Verständnis der geistesgeschichtlichen Entwick-

31 32

33

Etwa Thieme und Dudek. Koselleck, S. 475, Fn. 112.

Conze, Staat, S. 74, Fn. 69. Neugebauer, Wandel. Grünthal, Parlamentarismus. 36 H. Obenaus, Anfänge. 37 Beck, Conservatives; Beck, Origins; Beck, Rolle; zu erwähnen in diesem Zusammenhang auch Hans Herz, der sich in der DDR mit der Erforschung des preußischen Konservatismus befasste: Herz, Gesellschaftsbild, 1977; Herz, Traditionen, 1982. 34 35

Einleitung

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lung im 19. Jahrhundert auch im Hinblick auf den Anteil der sozialkonservativen Sozialtheoretiker an der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung noch nicht erschlossen. Dem versucht in jüngster Zeit Hans-Christof Kraus abzuhelfen, der in einem Beitrag über Hermann Wagener den Sozialkonservatismus als eine der drei „sozialstaatlichen Traditionslinien" bezeichnet und ihm eine Ausstrahlung bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts zubilligt. 38 Besonders aber die 1995 erschienene Monographie Herman Becks über die Entstehung des autoritären Wohlfahrtsstaats in Preußen ist ein eindrucksvoller Beitrag, die Lücke in der Forschung über den Sozialkonservatismus zu schließen. Lavergne erscheint hier allerdings nur in seiner Eigenschaft als Fraktionsführer im Preußischen Abgeordnetenhaus und nicht als sozialkonservativer Sozialschriftsteller. 39 Das ist umso erstaunlicher, als Beck mit seinem Buch eine gut fundierte neue Sicht des spezifisch altpreußischen Sozialkonservatismus (bezogen auf die „alten" preußischen Provinzen ohne den rheinisch-westfälischen Westen) entwickelt. Er gesteht Moritz v. Lavergne-Peguilhen aber keinen Platz neben den führenden preußischen Sozialkonservativen Victor Aimé Huber, Hermann Wagener, Carl v. Rodbertus-Jagetzow und Joseph Maria v. Radowitz zu. Dabei bleibt Lavergnes Gesamtwerk, was Umfang und Originalität angeht, keineswegs hinter dem von Hermann Wagener oder Rodbertus zurück. Dieses fortgesetzt geringe Interesse an Lavergnes Veröffentlichungen hat dazu geführt, dass auch an seiner Biographie nie ein Forschungsinteresse bestand. Deshalb wissen wir nur wenig über sein Leben. Die spärlichen Hinweise sind darüber hinaus zum Teil falsch oder widersprüchlich überliefert. Auch die bereits erwähnte Gießener Dissertation macht keine Ausnahme. Obwohl ihr Verfasser Georg Becker noch Kontakt zu direkten Nachfahren Lavergnes hatte, liefert der kurze biographische Teil außer Anekdotenhaftem und einer Beschreibung der Physiognomie Lavergnes keine Einzelheiten, die etwa Lebensentscheidungen oder plötzliche Veränderungen hätten erklären können. 40 Die Ungenauigkeiten und Widersprüche in den älteren Veröffentlichungen sind von jüngeren Autoren nicht kritisch hinterfragt worden und finden sich deshalb auch in neueren Publikationen. Ein Beispiel ist Klaus v. d. Groebens „Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands". Hier werden die Brüder Moritz und

38

„Gemeint ist der deutsche Sozialkonservatismus, der von den ersten Anfängen im Umfeld der Politischen Romantik über den Kathedersozialismus und die Bismarcksche Sozialgesetzgebung bis hin zu sozialkonservativen Entwürfen aus der Ära der Zwischenkriegszeit reicht, die etwa mit Namen wie Othmar Spann und Werner Sombart verbunden sind", Kraus, Wagener, S. 171. S. a. Ritter, S. 69 f., der allerdings Wagener als Transporteur der Ideen Lorenz v. Steins sieht. 39 Beck, Origins, S. 181 ff. 40 Georg Becker, S. 43 ff.

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Alexander ν. Lavergne-Peguilhen als Beispiele für die These herangezogen, dass die preußischen Landräte vor 1872 keine „von der Muse nur schwach geküßten Krautjunker" gewesen seien, sondern durchaus eine „entwickelte Geistigkeit" gezeigt hätten. Als fragwürdig erscheint schon, dass diese Behauptung über eine doch recht umfangreiche Berufsgruppe sich lediglich auf zwei Beispiele stützt. Darüber hinaus liegen ihr aber falsche biographische und bibliographische Annahmen zugrunde. So geht v. d. Groeben davon aus, Moritz und Alexander seien gleichzeitig im Jahr 1844 Landräte geworden. Alexander war damals bereits seit vier Jahren Landrat in Neidenburg. Anschließend schreibt v. d. Groeben nicht nur die wichtigste politisch-programmatische Schrift Moritz', „Der Liberalismus und die Freiheit", dem Bruder Alexander zu, sondern lässt diesen auch noch den Platz des Bruders in der „Kommission zur Erforschung des in Preußen immer wiederkehrenden Notstands" einnehmen, die bei v. d. Groeben überdies falsch „Kommission zur Ermittlung der Notstände von 1846" heißt.41 Die Aussage von der „entwickelten Geistigkeit" träfe also allenfalls auf Moritz v. Lavergne-Peguilhen zu, während sein Bruder Alexander sich mit dem Wirken als Landrat und Abgeordneter begnügte. Auch Wolfgang Schwentker unterlaufen in seinem Werk über die politischen Vereine in Preußen nach 1848 Ungenauigkeiten hinsichtlich Namen und Lebensdaten des „klugen und sachkundigen Analytikers der sozialen und politischen Verhältnisse in Preußen", Lavergne. 42 Das hat aber keine Auswirkungen auf die Qualität der auf einer guten Quellengrundlage beruhenden Darstellung von Lavergnes Rolle bei der Entstehung verschiedener konservativer Vereine im nachrevolutionären Preußen. Da Lavergnes sozialtheoretische und politische Ideen sich zu einem großen Teil auf ganz persönliche Erfahrungen zurückführen lassen, waren intensive Recherchen in deutschen und polnischen Archiven nötig, um das vorhandene biographische Un wissen zu beseitigen und die Fehlinformationen in der Sekundärliteratur richtig zu stellen. Es ist bei der Interpretation und Wertung eines wissenschaftlichen Oeuvres nämlich durchaus von Bedeutung, ob sein Verfasser Universitätsbildung besaß, wie bei Lavergne von vielen Autoren stillschweigend angenommen, oder ob er, wie es bei ihm tatsächlich der Fall ist, wissenschaftlicher Autodidakt war. Natürlich ist es nicht möglich, „alle Motive aufzudecken, die eine menschliche Handlung bestimmen, allen Traditionen nachzugehen, die hinter einer Anschauung, einer Meinung, einem geistigen Werke stehen."43 Es sollte aber gefragt werden, was das Individuum über seine Herkunft wusste, wie es die ihm angebotenen Bildungsmöglichkeiten ausnutzte

41 42

43

v.d. Groeben., Ostpreußen, S. 147-257. Schwentker, S. 54 ff. Vierhaus, S. 9.

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und davon profitierte und wie es seinem sozialen Umfeld gegenüberstand. Diese Faktoren summieren sich zu der Frage, was der einzelne mitbringt, „wenn er in seiner Lektüre, in der Berührung mit anderen Menschen, in der Erfahrung fremder Natur oder Kunst dem für ihn ,Neuen' begegnet? Das Wann, Was, Wie und Wo der Begegnung ist wichtig - die die Aufnahmefähigkeit des Einzelnen ist es nicht minder. Seine eigene geistige Energie entscheidet, ob er nur passiv aufnimmt oder aktiv verarbeitet, was auf ihn , wirkt'". 4 4 Diesen Hinweisen von Rudolf Vierhaus folgend, stößt man bei Moritz v. Lavergne-Peguilhen zunächst auf die stark prägende hugenottische Familientradition, die eine hohe Identifikation mit den Hohenzollern und dem preußischen Staat sowie ein starkes Streben nach einer Karriere innerhalb dieses Staatsapparats mit sich brachte. Diese positive Grundeinstellung zum preußischen Staat stand hinter allen Lebensentscheidungen Lavergnes. Sodann wird der prägende Einfluss des Vaters deutlich, der den Sohn früh mit staatstheoretischer Literatur vertraut machte. Das führte zunächst zu einer Affinität zu den Ideen des Liberalismus, von denen er sich erst als Rittergutsbesitzer in Ostpreußen verabschiedete. Sein starker sozialer Impetus ließ ihn jedoch nie auf die Linie des orthodoxen preußischen Konservatismus einschwenken, sondern seinen eigenen Weg suchen, der schließlich im sozialkonservativen Politikerund Wissenschaftsmilieu neben Hermann Wagener, Wilhelm Contzen und Julius Glaser endete. Ein weiterer Grund für die Entscheidung, das biographische Element zu einem der Schwerpunkte dieser Arbeit zu machen, war die Frage nach den Zusammenhängen zwischen den biographischen Einschnitten und dem politischwissenschaftlichen Oeuvre Lavergnes. Seine unterschiedlichen beruflichen Tätigkeiten, sein politisches Engagement und seine soziale Stellung als Rittergutsbesitzer stellen nämlich keinen typischen Hintergrund für sozialtheoretische und -politische Schriftstellerei dar. Die schriftstellerische Gattung der „Gelehrtenbiographie" nach dem schlichten Muster „Leben und Werk" würde der facettenreichen Persönlichkeit, für die die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Themen nur eine Tätigkeit neben anderen war, kaum gerecht, weil es bei Lavergne noch viel mehr zu entdecken gibt. Biographie in einem modern verstandenen Sinn bietet aber viele Möglichkeiten zur wissenschaftlichen Erkenntnis, die auch einem komplizierten Fall wie dem Lavergnes gerecht werden kann. Die Einzelbiographie unterliegt in der jüngeren Geschichtswissenschaft, die vor allem Strukturen und Prozesse, soziale Schichten und Kulturen im Blick hat, einem gewissen Rechtfertigungsbedarf. Gerade die Geistes- und Ideengeschichte hat nach Foucault und dessen Forderung nach der Konzentration auf

44

Vierhaus, S. 9.

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den Diskurs Berührungsängste vor dieser Darstellungsform. 45 Die Frage nach dem Menschen in der Geschichte, wie es Dirk Blasius 1992 ausgedrückt hat 46 , war jedoch unvermindert aktuell. So sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten neben ausgezeichneten Bismarck-Biographien 47 bemerkenswerten Arbeiten über die preußischen Könige des 19. Jahrhunderts 48 oder den zwei Bänden über Hitler von Ian Kershaw 49 auch Monographien über Wissenschaftler, Hochschullehrer und Politiker erschienen, darunter auch über preußische Zeitgenossen Lavergnes wie den Politiker Lothar Bucher 50 . Wegen ihres beispielhaften Umgangs mit ihrem Thema ist in diesem Zusammenhang auch die 1984 erschienene Arbeit von Luise Schorn-Schütte über Karl Lamprecht zu erwähnen. 51 Friedrich Lenger hat mit seiner Sombart-Biographie 52 eindrucksvoll gezeigt, wie durch die Beschäftigung mit dem Individuum Strukturen und Prozesse lebendig werden. Die Biographie setzt sich nicht in Opposition zum Blick auf das Ganze, auf die großen Bewegungen in der Geschichte, die das Individuum zum Komparsen degenerieren lassen. Als Teil der Sozialgeschichte verstanden bietet sie vielmehr wie der Blick durch Fernglas oder Mikroskop die Möglichkeit der Konzentration auf das Einzelne, ohne Strukturen und Prozesse, soziale Schichten, Kulturen und den Diskurs außer Acht zu lassen.53 Die Einzelbiographie wählt ein Individuum aus und eröffnet gleichzeitig einen genauen Blick auf die soziale Gruppe, der es angehört, oder die gesellschaftlichen Zwänge, denen es ausgesetzt ist. So entsteht das, was Engelberg und Schleier die „biographische Totalität" nennen.54 Schon aus Gründen der Verfügbarkeit von Quellen und Literatur beschränkt sich die Gattung meist auf Angehörige der staatlichen und kulturellen Eliten. Das macht die Einzelbiographie dem eher prosopographisch orientierten Sozi-

45

Dazu ausführlich Lenger, S. 14 ff.; Engelberg/Schleier; Levi ; Taylor. Blasius, S. 9. 47 Engelberg; Gall ; Pflanze. 48 Blasius; Stamm-Kuhlmann; Herre; Kroll, Friedrich Wilhelm IV. 49 Kershaw. 50 Studt. 51 Schorn-Schütte. 52 Lenger. 46

53

Von der „sozialgeschichtiichen Biographie" sprechen Engelberg /Schleier, S. 205. „Sobald eine Persönlichkeit, von welcher Statur auch immer, zum Ausgangs- und Mittelpunkt einer Biographie gemacht wird, und anders dürfte es eigentlich nicht sein, eröffnet sich eine Totalität besonderer Art, die biographische Totalität. [...] Die besondere Art der biographischen Totalität besteht nicht darin, daß sie völlig andere Bereiche in sich einschließt als jene, die sich auf die Gesamtdarstellung einer Periode oder einer Epoche beziehen, sie wäre sonst kein Gegenstand der Geschichtsschreibung", Engelberg / Schleier, S. 207. 54

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al- oder Alltagshistoriker suspekt. Zu Recht warnt aber der Biograph des Preußen-Königs Friedrich Wilhelm III., Thomas Stamm-Kuhlmann, vor dem „blinden Fleck im Zentrum", der entstehe, wenn die Geschichtswissenschaft vor allem die Einzelexistenzen der Eliten aus dem Puzzle ausklammert, aus dem sich historische Wahrheit zusammensetzt. Er fordert die Geschichtswissenschaft deshalb auf, nach dem Rankeschen Blick auf die „allgemeine Bewegung" auch „die Einzelperson innerhalb dieser Bewegung zu dokumentieren". 55 Vor diesem theoretischen Hintergrund erscheint es aus mehreren Gründen aussichtsreich Moritz v. Lavergne-Peguilhen eine Einzelbiographie zu widmen. Mit ihm begegnen wir einem Mann, der durch seine unterschiedlichen Funktionen als Sozialschriftsteller, Landrat, Rittergutsbesitzer und Landtagsabgeordneter sowohl der intellektuellen als auch der politischen Elite Preußens angehörte. Sein politischer und gesellschaftlicher Aufstieg muss ebenso wie sein wissenschaftlich-theoretisches Werk auf der Grundlage des historischen Wissens über diese Eliten gesehen und bewertet werden. Freilich sind - das erhöht den Reiz einer Biographie Lavergnes - wesentlich mehr Abweichungen als Übereinstimmungen mit dem als „typisch" anzusehenden Verhaltens- und Karrieremuster seiner gesellschaftlichen Gruppe vorhanden. 56 Viele Fragen nach Lavergnes Persönlichkeit, nach den Verbindungen zu Personen innerhalb seiner sozialen Schicht, zu seiner Familie oder Freunden können allerdings nicht beantwortet werden. Das Archiv der Familie v. Lavergne-Peguilhen ist nach Angaben eines Nachfahren Alexanders v. Lavergne-Peguilhen beim Bombenangriff auf Dresden im Zweiten Weltkrieg im Tresor der Deutschen Bank zerstört worden. 57 So müssen Gründe für bestimmte Entscheidungen im Leben Lavergnes im Dunkeln bleiben oder aufgrund von Indizien ermittelt werden. Es wäre zum Beispiel aufschlussreich gewesen, mehr über die finanziellen Verhältnisse der Familie zu erfahren. Auch die persönlichen Hintergründe für seinen Wechsel als Landrat von Rößel nach Wirsitz können nicht völlig geklärt werden. Noch weniger wissen wir über Lavergnes Kindheit und Jugend sowie über das Verhältnis zu seiner Frau und seinen Kindern und damit über den möglichen familiären Einfluss auf seine beruflichen Entscheidungen. Mit ziemlicher Sicherheit gab es auch Briefwechsel mit seinem Förderer Senfft v. Pilsach, mit Hermann Wagener und Hermann Keipp, mit denen er lange zusammen arbeitete, sowie

55

Stamm-Kuhlmann, S.U. Diese Widersprüche verleihen einer Biographie erst ihre innere Spannung, vgl. Levi , S. 1329. Er sieht die moderne historische Biographie „au carrefour des problèmes qui nous semblent aujourd'hui particulièrement importants: la relation entre normes et pratiques, entre individu et grupe, entre déterminisme et liberté, ou encore entre rationalité absolue et rationalité limitée". 57 Information durch Rechtsanwalt v. Lavergne, München, vom 19.01.1993. 56

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anderen wissenschaftlichen und politischen Weggefährten. Hier weist eine Biographie Lavergnes notwendigerweise Lücken auf, die hingenommen werden müssen. Dennoch kann mit Hilfe des glücklicherweise gerade für seine wichtigsten Lebensphasen vorhandenen Quellenmaterials ein Bild Lavergnes gezeichnet werden, das die Auswirkungen seiner ganz individuellen Prägung auf seine Haltung zu den Problemen seiner Zeit deutlich werden lässt: Der biographische Ansatz ermöglicht wegen des jahrzehntelangen Wirkens als Landrat und des großen öffentlichen Engagements Lavergnes einen durch die Quellen gut dokumentierten Blick nicht nur in die politische Geschichte, sondern auch in die Sozial- und Verwaltungsgeschichte Preußens. So etwa zeigt sich am Beispiel des Landrats Lavergne das Beharrungsvermögen des Amtes gegen wiederholte Professionalisierungsversuche. Auch im Hinblick auf die Instrumentalisierung der Landräte für die Ziele der Regierung ist Lavergnes Biographie ein ausgezeichnetes Anschauungsobjekt. Über den biographischen Ansatz hinaus versteht sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zur Theoriegeschichte. Von daher eröffnet sich ein weites Spektrum von zusätzlichen Aspekten. Durch sein umfassendes politisches, sozialwissenschaftliches und nationalökonomisches Interesse nahm Lavergne mehr als dreißig Jahre lang an mehreren parallel laufenden Diskursen teil. Zu erwähnen sind zunächst die auf Pauperismus und soziale Frage konzentrierte Gesellschaftstheorie, die Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftsliberalismus und den Resten der Naturrechtstheorie, vor allem auch im Bereich der Methode. In der politischen Publizistik trat Lavergne als Mitverfasser eines sozialkonservativen Parteiprogramms auf, beschäftigte sich mit Verwaltungsfragen und unter dem Aspekt der Gemeindeordnung auch mit dem Problem der Konstitution. Der Blick auf Lavergnes politische Aktivitäten muss auch die preußische Parlaments- und Parteiengeschichte vom Vormärz bis zur Reichsgründung berücksichtigen und richtet sich besonders auf die Veränderungen im konservativen Spektrum, dessen Erforschung wegen des stärkeren Interesses am Liberalismus als Triebfeder des Fortschritts im 19. Jahrhundert bisher noch nicht konsequent verfolgt worden ist. Einen Anfang machte insofern Panayotis Kondylis 58 , der 1986 eindrucksvoll nachgewiesen hat, dass der Konservatismus nicht nur als Reaktion auf die Ereignisse und Ideen von 1789 entstand, sondern sich aus einem schon viel länger bestehenden Ideenfundus nährte. Aus diesem Fundus schöpfte auch Moritz v. Lavergne-Peguilhen. Einen gut nutzbaren Überblick über die Entwicklung des Konservatismus in Deutschland seit dem 18.

58

Kondylis.

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Jahrhundert verschafft das 1998 erschienene Buch von Axel Schildt 59 , während der bereits erwähnte Herman Beck 60 den preußischen Sozialkonservatismus für die Forschung wieder entdeckt hat, dem jetzt auch Hans-Christof Kraus verstärkte Aufmerksamkeit widmet. 61 Die politische Auseinandersetzung des früheren Liberalen Lavergne mit seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen ermöglicht außerdem einen Blick auf die politische und soziale Wirksamkeit des sogenannten Junkerliberalismus in Ostpreußen. 62 Die Rolle Lavergnes im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs konnte nicht zuletzt mit Hilfe einer Bibliographie und einer umfangreichen Quellensammlung zum Bereich des Naturrechts und der Rechtsphilosophie (einschließlich Allgemeinem Staatsrecht) erforscht werden. 63 Die ungedruckten Quellen zur Biographie und vor allem zu den politischen Tätigkeiten Lavergnes sind bisher noch nicht systematisch ausgewertet worden. Im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz enthalten in erster Linie die Akten des Preußischen Innenministeriums, der Regierung Bromberg und des Königlichen Zivilkabinetts Informationen über Lavergnes Karriere. Seine Bewerbungen auf verschiedene Landratsposten, Akten über seine Amtsführung und die Wahrnehmung seiner Aufgaben als Abgeordneter sind in diesen Beständen archiviert. Außerdem finden sich hier die Akten des Disziplinarverfahrens, das sein Dasein als Landrat und seine politische Karriere beendete. Im polnischen Olsztyn (ehemals Alienstein) lagern die nach dem Zweiten Weltkrieg geretteten Akten der Regierung Königsberg, die die Königsberger und Rößeler Jahre Lavergnes dokumentieren. Im Woywodschaftsarchiv von Bydgoszs (ehemals Bromberg) konnte ich die Akten über Lavergnes Tätigkeit als Landrat in Wirsitz auswerten. Im Schleswig-Holsteinischen Landesarchiv in Schleswig befinden sich die Akten des Königlich Preußischen Civil-Commissariats für das Herzogthum Schleswig „betr. die Organisation der Verwaltung, die Acta Secreta des Königlich Preußischen Civil-Commissariats für das Herzogthum Schleswig betreffend den Landrath a. D. v. Lavergne-Peguilhen sowie die v. Zedlitzschen Akten betreffend die Verwendung des Landrathes v. Lavergne-Peguilhen und jährli-

59

60

Schildt.

Beck, Origins; Beck, Conservatives; Beck, Rolle. Kraus, Stand, bietet einen Überblick über die aktuelle Situation bei der Erforschung des deutschen Konservatismus bis 1890; Kraus, Wagener. 62 Dazu bes. Langewiesche, Liberalismus und Region; H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus; Dipper , Adels liberalismus; Sc hup pan; Brinkmann. 63 Quellensammlung und Bibliographie sind im Rahmen eines Forschungsprojektes von Diethelm Klippel entstanden; der erste Teil der Bibliographie (1780-1850) steht vor der Drucklegung. Im Zusammenhang mit diesem Forschungsprojekt entstand die Arbeit von Wohlrab, die auch den Diskurs zur sozialen Frage im Vormärz behandelt. 61

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che Berichte desselben aus den Jahren 1864/65". Dazu gehören nicht nur die Kladden, die Lavergne selbst für die Sammlung des statistischen Materials über Schleswig-Holstein anlegte, sondern auch zahlreiche Denkschriften aus seiner Feder zu verschiedenen wirtschaftlichen, statistischen und landwirtschaftlichen Problemen für die Preußische Regierung als Auftraggeber. Die Protokolle der Verhandlungen der Zweiten Kammer des Vereinigten Preußischen Landtags sowie die dazu gehörigen Stenographischen Berichte zeigen einen aktiven Politiker, der Mitte der 50er-Jahre mit einer eigenen Fraktion seine höchste Anerkennung erfuhr. Die Protokolle geben außerdem Aufschluss über Lavergnes Mitarbeit in verschiedenen Landtagskommissionen. Es sind Redebeiträge, Abschlussberichte und Abstimmungslisten erhalten. Durch den Verlust des Familienarchivs kann sich diese Arbeit nicht auf Privatpapiere wie Briefe, Notizen oder Manuskripte stützen. Auch die Personalakten der Verwaltung, die bis 1945 im Staatsarchiv in Königsberg lagerten, sind auf dem Transport nach Westen verschollen. Die Biographie weist also im persönlichen Bereich einige Lücken auf, die sich mit methodisch zulässigen Mitteln nicht vollständig schließen lassen. Die vorliegende Arbeit ist eine mikrohistorische Fallstudie mit theorie-, politikgeschichtlichen und biographischen Komponenten, die zu verbinden methodisch nicht unproblematisch ist. Leben und Werk Lavergnes werden in den Zusammenhang der politischen und geistesgeschichtlichen Diskurse seiner Zeit gestellt. Die Schwierigkeit dabei liegt in der Person Lavergnes. Da die entscheidenden geistigen Entwicklungsschritte Lavergnes Folgen besonderer äußerer oder biographischer Konstellationen und Brüche waren, verbot sich eine schlichte Gegenüberstellung von Leben und Werk. Zum Verständnis der Entwicklungen und Themenwechsel im schriftstellerischen Werk Lavergnes war es vielmehr nötig, Lavergnes Publikationen und politische Äußerungen chronologisch und eng verzahnt mit den jeweils durch persönliche, geographische und berufliche sowie externe politische Veränderungen klar abgegrenzten Lebensphasen darzustellen und zu analysieren. Dadurch wurde es möglich, die schon erwähnte „allgemeine Bewegung" auf die Einzelerscheinung, also die Person Lavergnes, „herunterzubrechen" und gleichzeitig die Wirkung der Einzelerscheinung auf die „allgemeine Bewegung" darzustellen, ohne damit jedoch einen Anspruch auf Repräsentativität erheben zu wollen.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

I. Familie, Kindheit, Bildung

1. Hugenotten und Preußen Moritz v. Lavergne-Peguilhen wurde am 6. Oktober 1801 in Bialystok im äußersten Osten Preußens geboren. Die Stadt war erst 1794 an Preußen gekommen und wurde von einer polnischen Bevölkerungsmehrheit bewohnt. Hier war der Vater, Ernst Friedrich v. Lavergne-Peguilhen, als KöniglichPreußischer Kriegs- und Domänenrat tätig. Seine Mutter war die aus Königsberg stammende Dorothea Jachmann. Die Jachmanns waren Gutsbesitzer, Militärs und hohe Beamte.1 Moritz war das vierte Kind der Familie. Da der Erstgeborene schon lange vor Moritz' Geburt gestorben war, gab es zwei ältere Geschwister: die Schwester Franziska und den Bruder Julius. Franziska, 1797 geboren, heiratete später zunächst John Stornby, nach dessen Tod Ludwig Graf v. Westarp. Julius, ein Jahr älter als Moritz und später Leutnant im Ersten Leibhusarenregiment 2 ertrank Anfang der 30er-Jahre in der Ostsee. Eineinhalb Jahre nach Moritz, am 2. Juni 1803, kam sein Bruder Alexander auf die Welt. Damals war die Familie bereits wieder nach Berlin übergesiedelt. 3 Zwischen diesen beiden Brüdern bestand während beider Lebenszeit eine sehr enge Bindung. Sie erlernten denselben Beruf, wurden beide Rittergutsbesitzer und Landräte; als Abgeordnete in Berlin saßen sie gemeinsam im Plenum und wohnten während der Landtagssessionen in denselben Quartieren. 4

1

Georg Becker, S. 45, Dorothea war die Schwester des Admirals von Jachmann. Gotha, Briefadel, S. 472. 3 Gotha, Briefadel, S 472; zur Vita Alexanders vgl. Altpreußische Biographie, Bd. 3, S. 994, allerdings wird ihm hier das Buch „Der Liberalismus und die Freiheit'4 zugeschrieben, das aber Moritz verfasste. 4 Georg Becker, S. 46; Wahl-Immediatbericht über Alexander v. LavergnePeguilhen, GStaPK, I. HA, Acta des Kgl. Civil-Kabinets, 2.2.1. Nr. 13815. 2

I. Familie, Kindheit, Bildung

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Die Persönlichkeit Moritz v. Lavergne-Peguilhens wurde von zwei Traditionen geprägt. Da war zum einen das hugenottische Erbe von der Seite des Vaters, zum anderen die altpreußische Königsberger Herkunft der Mutter. Beide spielten für das Bewusstsein und die schriftstellerische Entwicklung Lavergnes eine wesentliche Rolle. Während seine lebenslange entschiedene Loyalität zum preußischen Gesamtstaat ein Charakteristikum der hugenottischen Bevölkerung Preußens war 5 , kamen die Verteidigung altpreußischer Werte und die Konzentration auf die östlichen Landesteile in seinen politischen Schriften doch eher aus dem mütterlichen Erbe. Moritz und seine Geschwister wuchsen in einem relativen Wohlstand auf, der nicht nur den Einkünften des Vaters als Kriegs- und Domänenrat, sondern auch einem vererbten Vermögen zu verdanken war, das schon seine Vorfahren anzuhäufen verstanden hatten. 2. Erfolgreiche Assimilation Die Geschichte der Familie v. Lavergne-Peguilhen in Preußen kann als Beleg für die Richtigkeit der These gelten, die Hugenotten seien den Hohenzollern und ihrem Staat besonders ergeben gewesen.6 Moritz v. Lavergne-Peguilhen kam 100 Jahre nach dem ersten Auftreten eines Peguilhen in Preußen mit dieser Sonder-Identität auf die Welt. Zu den Städten mit dem größten Anteil von Réfugiés gemessen an der Gesamtzahl der Einwohner gehörte zu Beginn des 18. Jahrhunderts Magdeburg. 1719 verzeichnete die Kolonie 1582 Mitglieder bei einer deutschsprachigen Einwohnerzahl, die sich von den Auswirkungen des 30-jährigen Kriegs noch immer nicht erholt hatte und bei rund 5000 lag.7 Damit war Magdeburg nach Berlin die zweitgrößte hugenottische Kolonie. Hier kann die Geschichte derer von Peguilhen ab 1724 zum erstenmal über einen längeren Zeitraum verfolgt und ihre Verflechtung in das „preußische Ersatzbürgertum" nachvollzogen

5

Zur Geschichte der Hugenotten in Preußen besonders v. Thadden, Glaubensflüchtling, S. 198-212; Yardeni, zur Aufnahme der Hugenotten in Brandenburg-Preußen bes. S. 78-81; Birnstiel, S. 160-172. 6 Diese Auffassung wird von Henri Tollin, dem Chronisten des hugenottischen Refuge in Preußen, in ihrer Gültigkeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestätigt: „Wir französische Colonisten Preussens sehen es als eine Beleidigung an, wollte irgend ein Preusse behaupten, deutscher zu sein als wir, irgend ein Patriot wähnen, daß er die Hohenzollern lieber hätte als wir Hugenotten", Tollin, S 35; vgl. Hartweg, S. 184; ähnlich Jersch-Wenzel, S. 163 ff. 7 Vgl. Jersch-Wenzel, S. 166 ff. Zur besonderen Situation Magdeburgs vgl. auch Birnstiel/Lepètre

, S. 60 ff, S. 69 f; Gabriel S. 85 ff.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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werden. 8 Tollin zitiert aus den Akten der Kirchenkasse der Magdeburger Kolonie: „ A m 26. September 1724 zeigt Peguilhen aus Halle an, sein letzten Dienstag verstorbener Oheim, Oberstlieutenant de Peguilhen habe unseren Armen 100 Thlr. vermacht." 9 Der Verstorbene war laut Gallandis Adelslexikon im Jahr 1701 nach Halle gekommen und avancierte unter seinem vollständigen Namen Jean de Laspiène, Sieur de Peguilhen zum Preußischen Oberstleutnant. 10 Mit ihm begannen 1701 die Geschichte und der Aufstieg der Familie Peguilhen in Preußen. Der den Tod des Jean de Laspiène, Sieur de Peguilhen, anzeigende Neffe trug den Namen Jean de Lavergne-Peguilhen. Diese für deutsche Zungen holprige Namenskombination war eine Zusammensetzung aus dem Nachnamen des Vaters Elie de Lavergne-Pechantier und des Onkels mütterlicherseits, der Jean 1716 adoptiert hatte. Elie war seinerseits offenbar nicht den Weg ins Exil gegangen und starb 1737 in seinem französischen Heimatort St. Cyprien bei Bergerac. 11 Sein Sohn Jean, der in St. Cyprien geboren war, machte vermutlich mit dem Einfluss des Onkels in Magdeburg Karriere. Dass er sich dabei auf ein aus Frankreich auf unbekannten Wegen nach Magdeburg gelangtes Vermögen stützen konnte, ist angesichts der Vermögensverhältnisse der meisten Réfugiés erstaunlich, wenn auch nicht ganz unwahrscheinlich. Tollin berichtet in diesem Zusammenhang zwar, dass von allen nach BrandenburgPreußen eingewanderten Colonisten nur 44 ein Vermögen angemeldet hätten. In vielen Berichten über die Flucht aus Frankreich ist gleichzeitig vom Verlust des gesamten Habes der meisten Glaubensflüchtlinge die Rede.12 In den Magdeburger Quellen heißt es jedoch über Jean de Lavergne-Peguilhen, dass er ein beachtliches Vermögen von seinem Vater geerbt habe. Jean investierte dieses Vermögen aber nicht als Kaufmann, Handwerker oder Besitzer einer Manufaktur wie die meisten seiner Glaubensbrüder. Ihm gelang ein schneller Aufstieg in der Justiz. Er folgte damit einem vielversprechenden Karrieremuster, nach dem „eingewanderte französische Adlige ebenso wie bürgerliche Juristen bald leitende Stellungen in den französischen Ko-

8

Tollin, B± 3, S. 133. . Tollin, Bd. 3, S. 914 f.

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10

Gallandi, S. 343, das handschriftliche Adelslexikon ist nur im GStaPK Berlin vorhanden und einzusehen; Erman-Reclam, S. 205, erwähnt einen de Peguilhen unter den ersten hugenottischen Kadetten in der Armee des Großen Kurfürsten. 11 Gotha, Briefadel, S. 471. 12 „Von 15.000 Hugenotten brachten bei der Einwanderung in ganz Preußen nur 44 Vermögen mit, das sie dem Kurfürsten zu 6 pct. übergaben. Darunter vier Magdeburger". Tollin, S. 32. Sie hätten das Geld jedoch nie wiedergesehen, da die Kassen alsbald leer waren, und seien mit Ämtern entschädigt worden, heißt es weiter. Zum Verlust von Vermögen Tollin, S. 15 f.

I. Familie, Kindheit, Bildung

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Ionien" einnahmen.13 1725 kennen ihn Magdeburger Quellen bereits als „Conseiller de cour, Directeur adjoint de la colonie et justice françoise". 14 1726 stieg „Jean Peguilhen de Lavergne aus St. Cyprien im Périgord" vom stellvertretenden Direktor der Colonie zu ihrem Direktor auf. Als Direktor der Colonie stand Jean de Lavergne-Peguilhen an der Spitze dieser wirtschaftlich bedeutendsten Bevölkerungsgruppe in Magdeburg. Als Richter war er gleichzeitig für die Rechtsprechung innerhalb derselben zuständig, die damals noch nicht in den staatlichen Zugriffsbereich fiel. 15 Der französische Richter hatte auch Aufgaben in der Verwaltung als Mittler und Dolmetscher zwischen dem französischen Gericht und den deutschen Behörden zu übernehmen. Die direkte institutionelle Bindung in der Familie an den preußischen Staat und damit an die Hohenzollern mag schon hier für die preußische Identität gesorgt haben, obwohl der wohlhabende Hugenotte nach Aussagen eines Zeitgenossen noch kaum Deutsch sprach. Jean de LavergnePeguilhens Hauptbeschäftigungen seien immer das Spiel und das Vergnügen gewesen. An seine Amtspflichten habe er am allerwenigsten gedacht. Dafür hatte er aber offenbar für seine Kinder in materieller und erzieherischer Hinsicht vorgesorgt. Er heiratete 1728 Jeanne Dufour, wurde bald das „Haupt einer zahlreichen Familie" 16 und starb im Alter von 65 Jahren am 15. Mai 1749 in Magdeburg, nur einen Monat nach dem Abschluss eines Verfahrens wegen Amtsmissbrauchs und der darin verfügten Amtsenthebung.17 Spielschulden und Vernachlässigung von Amtspflichten wird man auch seinem Urenkel 120 Jahre später in einem Disziplinarverfahren vorwerfen, das zu dessen Amtsenthebung führte. 18 Der Vergnügungssucht und der Amtsenthebung des Vaters zum Trotz erscheint Jeans Sohn Pierre 19 1766 als königlich-preußischer Kriegskommissar „von bedeutendem Vermögen" in den Akten. 20 Allein für die Ernennung zum

13

14

Wilke,S.

110 f.

Tollin, Bd. 3, S. 68. Im Gallandi werden ihm diese Titel und Funktionen erst für 1730 zugeschrieben. Außerdem könnte der letzte Titel handschriftlich auch „priestre" heißen. Was seine tatsächlichen Funktionen angeht, ist die Transskription durch Tollin aber wahrscheinlicher. 15

Muret , S. 240; Schröder, S. 258 ff. Tollin, Bd. 3, S. 726 ff. " Tollin, Bd. 3, S. 134. 16

18

Siehe unten Abschnitt C. Im Gallandi wird als Sohn Jeans, Ehemann Anna-Dorotheas und Vater ErnstFriedrichs ein Jean-Francois angegeben. Allerdings möchte ich mich eher der Version Tollins anschließen, da er die breitere Quellenbasis zur Verfügung hatte. Überdies ist der Gallandi-Lesart auch aus dem einleuchtenden Grund nicht zu folgen, weil danach Jean-Francois erst ein halbes Jahr nach dem Tod der Mutter geboren worden wäre. 19

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Tollin, Bd. 3, S. 134.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Kriegskommissar und Kreis-Einnehmer im Herzogtum Magdeburg mussten damals 6.000 Tal er Kaution hinterlegt werden. Überdies verlangte der preußische Staat für die Ernennung die Verpfändung seines und des Vermögens seiner Schwester, einer Kriegsrätin Krause. Als Pierre die Tochter des preußischen Kriegs- und Domänenrats Johann August Hagen 1768 heiratete, hatte die Familie im Verlauf von nur drei Generationen ihren Status in der neuen Heimat gefestigt. Mit dem Verschwimmen der rechtlichen, religiösen und gesellschaftlichen Grenzen zwischen den „eingeborenen" und den hugenottischen Preußen von der Jahrhundertmitte an waren die v. Lavergne-Peguilhens nicht nur auf der lokalen Ebene, sondern auch innerhalb des Gesamtstaates Angehörige der gesellschaftlichen Eliten. Als Pierre de Lavergne-Peguilhen 1807 in Magdeburg starb, hatte sein Sohn Ernst Friedrich die Stadt wie so viele Nachkommen der Réfugiés verlassen21 und lebte als preußischer Kriegs- und Domänenrat mit seiner aus Königsberg stammenden Frau Dorothea geb. Jachmann und vier Kindern in Berlin. Bei seinem Tod in Königsberg 1845 hatte es Ernst Friedrich v. Lavergne-Peguilhen zum Geheimen Oberregierungsrat gebracht. Aber für sein Selbstbewusstsein und das seiner Nachkommen war die Erhebung in den preußischen Adelsstand im Jahr 1821 vermutlich genauso wichtig wie die Beamtenkarriere. 22 Es ging bei diesem Akt zwar wahrscheinlich nur um die förmliche Anerkennung des französischen Adelstitels, aber jetzt hatten die v. Lavergne-Peguilhens ihren Adel auch schriftlich, der vorher bereits faktisch anerkannt war. Schließlich gehörte schon der erste nach Preußen eingewanderte Vorfahr zunächst zum Kadetten- und dann zum Offizierscorps der preußischen Armee, die am Anfang des 18. Jahrhunderts noch ausschließlich dem Adel vorbehalten waren. 23 Die Nobilitierungsstrategie des preußischen Staates in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war für die Identität des hugenottischen Adels und die gesellschaftliche Schichtung der hugenottischen Gemeinden nicht unbedeutend und sorgte für seine schnelle Assimilation in Preußen. 24 Das galt wohl auch für die Familie v. Lavergne-Peguilhen.

21

Tollin, Hugenotten, S. 33 f. Danach war die Gemeinde von fast 2000 zu Anfang des 18. Jahrhunderts auf lediglich 300 Personen im Jahr 1806 zusammengeschmolzen. 22 Gotha, Briefadel, S. 471. 23 Zur Rechtsstellung des hugenottischen Adels Wilke, S. 100; Schissler, Junker, S. 97. 24 Gallandi; Gotha, Briefadel; Wehler, Bd. 2, S. 154, zählt für die Zeit von 1790 und 1848 453, und allein in den Jahren 1807 bis 1848 241 Verleihungen erblicher Adelstitel sowie 208 bzw. 145 Standeserhöhungen; Carsten, S. 97 zählt 174 Nobilitierungen zwischen 1807 und 1839 und nennt als Begünstigte Beamte, Offiziere, Rittergutsbesitzer und „einigen wenige" Kaufleute; zur „Nobilitierungsstrategie" vgl. Koselleck, S. 677, S. 678: 1819 gab es 13, 1820 zwölf und 1821 sechs Adelserneuerungen.

I. Familie, Kindheit, Bildung

33

Die Geschichte ihrer Assimilation bestätigt damit gewissermaßen am Einzelfall die These vom spezifisch preußischen Bewusstsein und dem ausgeprägten Royalismus der Hugenotten. In den Werken Moritz v. Lavergne-Peguilhens finden sich geradezu feurige Bekenntnisse zum Königtum der Hohenzollern und zur notwendigen Vormachtstellung Preußens in Deutschland.25 Noch 1863 beteuerte er in einem Gesuch an den König diese besondere, aus der hugenottischen Geschichte erwachsene Loyalität mit dem preußischen Staat, „dem ich mit allen Fibern meines Herzens verwachsen bin, in welchem vor bald 200 Jahren meine Familie vor Religionsverfolgung ein schützendes Asyl gefunden, dem sie bisher mit dankbarster Treue angehört hat". 26 Auch Lavergnes Geschwister zeigten sich als nützliche und angepasste Mitglieder der preußischen Gesellschaft. Seine Brüder finden wir als Offiziere in der preußischen Armee und Beamte in der Verwaltung, seine Schwester als Ehefrau an der Seite eines preußischen Adeligen. 3. Schulbildung und väterliche Anregung Moritz v. Lavergne-Peguilhens Kinder- und Jugendjahre fielen in eine Zeit, die geprägt war von napoleonischem Vormachtstreben, vom Sieg der Franzosen über Preußen, der Demütigung durch die französische Fremdherrschaft und schließlich vom preußischen Triumph über Napoleon.27 Diese Zeit erlebte Moritz v. Lavergne-Peguilhen als Kleinkind im erst seit wenigen Jahren preußischen Bialystok, am östlichsten und vom Fortschritt am wenigsten berührten Rand Preußens, dann in der Hauptstadt Berlin. Der Kontrast zwischen der bis vor kurzem noch polnischen Provinzstadt und einer der bedeutendsten Hauptstädte des Kontinents hätte krasser nicht sein können. Aus den wenigen biographischen Quellen ist jedoch über diese Zeit leider nur zu erfahren, dass Moritz in Bialystok wohl seine polnischen Sprachkenntnisse erwarb, von denen er noch als Erwachsener profitierte, und dass er in Berlin wie sein jüngerer Bruder Alexander das französische Gymnasium besuchte.28 25 Ich verweise hier besonders auf die Haltung Lavergnes in der Schleswig-HolsteinFrage, wo er nie preußische Positionen verließ (vgl. Abschnitt D) sowie auf seine lebenslange unbedingte Loyalität zum Hause Hohenzollern. 26 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90: Disziplinar-Untersuchungen Nr. 79, F 1632, Nr. 79 (Dienst-Policei), Bl. 68 Rs. 27 Schumacher, S. 281, nennt diese Zeit die „Anfänge der Wiedergeburt Preußens". 28 Ein diese Daten enthaltender Lebenslauf ist in einem Immediatbericht aus Rößel an das Geheime Cabinet in Berlin enthalten, in dem es um die Kandidatenwahl für das Landratsamt im Jahr 1844 geht: GStaPK, Acta des Königl. Geheimen Cabinets 18431853, 2.2.1. Nr. 13805; Georg Becker, S. 43 ff. zitiert ein in Alienstein erhaltenes Curriculum Vitae, das Lavergne zu amtlichen Zwecken verfasst hat. Die Übereinstimmungen lassen die Folgerung zu, dass der Immediatbericht sich darauf stützt.

34

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Die Berliner Gymnasien, und vor allem die drei Anstalten, die wie das französische Gymnasium unter dem königlichen Patronat standen, nahmen innerhalb der preußischen Bildungsanstalten eine Sonderstellung ein. 29 Der Besuch dieser Schule ging einerseits mit dem Erwerb einer auf den Ideen der Aufklärung und der preußischen Reformen beruhenden Bildung einher, andererseits legte das Abiturreglement von 1812 deutliche Schwerpunkte auf den neuhumanistischen Bildungskanon. 30 Die Leistungsanforderungen waren derart hoch, dass zeitgenössische Kritiker von Überbürdung sprachen. Der „ideale Abiturient" sollte Latein „in Wort und Schrift flüssig beherrschen" und die Klassiker geläufig lesen können; attische Prosa und den Homer sollte er ohne Hilfsmittel, die Tragiker mit Wörterbuch verstehen und einen deutschen Text grammatisch richtig ins Griechische übersetzen können. Der mathematische Kurs führte ihn durch die euklidische Geometrie bis zur sphärischen Trigonometrie und zu den Kegelschnitten, in der Algebra bis zu Gleichungen vierten Grades und zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. 31 Während die Realität des Unterrichts in den meisten preußischen Gymnasien gerade zu Anfang des Jahrhunderts den hohen Ansprüchen an die Institution nur selten entsprach, traf dies auf die Anstalten in der Hauptstadt nicht zu. 3 2 Lavergnes frühes Interesse an staatswissenschaftlicher und ökonomischer Literatur ist unter anderem dieser gymnasialen Bildung zu verdanken. Nach eigenen Aussagen machte Moritz bereits in seiner Gymnasialzeit Bekanntschaft mit zahlreichen der damaligen Standardwerke und setzte sich intensiv mit den darin behandelten Problemen auseinander. 33 Der Vater Ernst Friedrich v. Lavergne-Peguilhen war die andere Wissensquelle, aus der Moritz staatswissenschaftliche und staatsphilosophische Anregungen erhielt. Der Vater hatte Ende der 80er-Jahre in Königsberg studiert und dort den Höhepunkt der „Königsberger Aufklärung" erlebt. 34 Er hörte Kant, vielleicht auch noch dessen Nachfolger Wilhelm Traugott Krug und vermutlich ebenso den Nationalökonomen Christian Jakob Kraus, der als einer der ersten die Ideen Adam Smiths in Deutschland verbreitete. 35 Ernst-Friedrich v. Lavergne-Peguilhen

29 Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 730, nennt die Berliner Gymnasien Bildungsanstalten „1. Klasse". 30 Vgl. Mast, S. 227-246; Spranger, S. 175 ff; zum preußischen Gymnasium Jeismannv. Knabenschulwesen, S. 154-158, Neugebauer, Bildungswesen, S. 696-700. 31 Jeismann, Knabenschulwesen, S. 156 f. 32 Jeismann, Knabenschulwesen, S. 158. 33 Vgl. den bei Georg Becker, S. 44 zitierten Lebenslauf „[...] und durch den beständigen Unterricht meines Vaters vorbereitet". 34

35

Boockmann, S. 339.

C. J. Kraus, Staatswirthschaft; zu Kraus bes: Dobbriner; Nipperdey, S. 34 u. 41.

I. Familie, Kindheit, Bildung

35

versuchte seinem in dieser Atmosphäre geschulten Interesse an staatlichpolitischen Fragen durch die Herausgabe einer Zeitschrift Ausdruck zu verleihen. 36 Seine „Kritische Zeitschrift für Staatsregierung und Gesetzgebung besonders in Hinsicht auf den Preußischen Staat'4 erlebte allerdings 1817 nur eine Ausgabe. Der Königlich-Preußische Geheime Oberrechnungsrat trat danach nicht wieder als Publizist in Erscheinung. 37 Seinen Sohn beeinflusste der philosophisch gebildete Jurist jedoch nachhaltig. Moritz v. Lavergne-Peguilhen selbst erinnerte sich, dass ihn der Vater mit Kant, Adam Smith und Kraus bekannt gemacht und so sein staatswissenschaftliches Interesse geweckt hätte. 38 Umso erstaunlicher erscheint es deshalb, dass der 18-jährige Moritz nach seinem Abitur nicht in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters trat. Statt Jurist, Beamter oder Gelehrter zu werden, entschied er sich für die Militärlaufbahn. Allerdings zog es ihn nicht zur kämpfenden Truppe, sondern ins Königliche Ingenieurs-Corps. 39 Zur Vorbereitung besuchte er als Gasthörer mathematische und naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Berliner Universität - vergebens. Eine langwierige Augenkrankheit, in deren Folge Lavergne kurzsichtig wurde, vereitelte die Pläne einer militärisch-technischen Laufbahn. Der schnelle Aufstieg als Offizier - den Abiturienten in Preußen wurde das Fähnrichsexamen erlassen 40 - war ihm damit nicht möglich.

36

Nach den Matrikeln der Albertus-Universität in Königsberg hat sich Ernst Christoph Friedrich Peguilhen am 5. Oktober 1787 ohne Angabe des Studienfachs für das Wintersemester eingeschrieben. Ein Friedrich Ludwig Peguilhen, ebenfalls aus Magdeburg, möglicherweise Bruder oder Vetter von Ernst Friedrich, begann im Sommersemester 1805 ein Jurastudium in Königsberg: Erler, Bd. 2, S. 602 (Ernst Friedrich), S. 677 (Friedrich Ludwig). 37 „Kritische Zeitschrift für Staatsregierung und Gesetzgebung besonders in Hinsicht auf den Preußischen Staat", 1. Heft, Berlin 1817. 38 Georg Becker, S. 44. 39 Zur Entwicklung der Berufe im 19. Jahrhundert vgl. Jarausch, S. 9-24; speziell zum Ingenieursberuf Lundgreen, Akademiker; Lundgreen, Techniker, S. 54-74; zum Ingenieurs-Corps Glasenapp; _Bonin. 40 Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 381.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

36

II. Erste berufliche Erfahrungen

1. Landvermesser in der General-Kommission Die Ablehnung durch das Militär markierte einen entscheidenden Wendepunkt in Lavergnes Leben. Sie war die Ursache für seine Umorientierung hin zur Landwirtschaft, deren erste Grundlagen Lavergne im Bereich der Landvermessung zu erwerben hoffte. Rückblickend wertete er diese Entscheidung als äußeren Anstoß für seine Hinwendung zu den sozialen Problemen im ländlichen Preußen. Eigentlich hatte er sich bei der Ausbildung zum Geometer, die er 1820 abschloss, landwirtschaftliche Vorkenntnisse aneignen wollen. Dadurch wollte er „jenen Grad an Geschäftserfahrung [...] erwerben, welche auch bei der Güterverwaltung unentbehrlich ist; zu dem letzten Behuf bot die derzeitige Errichtung der General-Kommissionen die beste Gelegenheit dar; ich machte 1820 das geometrische Examen bei der Königlichen Ober-Baudeputation in Berlin und war bis 1824 als Geometer wie als Ökonomie-Kommissions-Eleve bei zahlreichen Separationen, Dienstregulierungen und Gemeinschaftstheilungen beschäftigt". 41 Die Landes-Ökonomie-Kollegien waren vom preußischen Innenministerium als Behörden zur praktischen Abwicklung der Neuvermessung des ländlichen Grundbesitzes eingesetzt worden, die nach der als „Bauernbefreiung" in die preußische Geschichte eingegangenen neuen Agrarverfassung notwendig wurde. 42 Die neue Agrarverfassung hatte die alte Ständeordnung zerschlagen und völlig neue Eigentumsverhältnisse geschaffen. Alle an Personen und Gutsuntertanen haftenden Abhängigkeitsverhältnisse wurden entschädigungslos beseitigt. Die spannfähigen Bauern erhielten ihren Besitz gegen Kapital- oder Rentenzahlung, meist aber gegen Abtretung eines Teils des Landes zum Eigentum. Alle Zwangsdienste sollten unter Abrechnung der verfallenden sozia-

41

Georg Becker, S. 43. Vgl. das Standardwerk zu Prozess, Hintergrund und Auswirkungen der Bauernbefreiung: Dipper , Bauernbefreiung, 1980, weiterhin Dipper , Die Bauernbefreiung, S. 16-31; Conze, Art. Bauer, S. 407-439; Kellenbenz., Bd. 2, S. 49-53; auf Ostpreußen beschränkt sich weitgehend auch Schissler, Agrargesellschaft; zu Einzelaspekten auch Böhme, S. 69 f.; Rönne, S. 91-98. 42

Π. Erste berufliche Erfahrungen

37

len Verpflichtungen der Herren zum 25-fachen Betrag der Jahresleistung in Rente oder Kapital abgelöst werden. M i t der Separation von Acker- und Weideflächen zwischen Gutsherren und Bauern sowie der Bauern untereinander wurden auch die „Gemeinheiten", das heißt die gemeinsam genutzten Flächen, nach dem neuen Eigentumsrecht aufgeteilt. 43 Besonders die Ablösungszahlungen für Land und Dienste wirkten sich auf den Prozess der Reform kontraproduktiv aus. Unfähig, diese Zahlungen zu leisten oder die dafür aufgenommenen Kredite zu bedienen, geriet die bäuerliche Bevölkerung in eine neue Kette von Abhängigkeiten und vielfach in den sozialen Abstieg hinein. Diese Entwicklung kehrte den Begriff der Befreiung geradezu um. Dennoch bildeten die mit dem preußischen Regulierungsedikt vom 14. September 1811 ausgelösten Umwälzungen gerade für das landwirtschaftlich geprägte ostelbische Preußen die entscheidende Grundlage für die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die General-Kommissionen waren für die verwaltungstechnische Abwicklung der gesamten Reformarbeiten zuständig. Dafür verlieh ihnen der preußische Staat „fast diktatorische" Vollmachten. 44 Die Kommissionen unterstanden direkt dem Innenministerium, waren aber, den Vorstellungen Hardenbergs folgend, von der allgemeinen Verwaltung unabhängig, in ihrer Doppelfunktion zwischen Justiz- und Administrationsbehörden gewissermaßen ausgelagert worden. Die Untergerichte, Landratsämter und andere niedere Dienststellen waren den Kommissionen gegenüber weisungsgebunden. Zudem hatten die Kommissionen über das dienstliche Strafrecht direkten Zugriff auf die bisher unabhängigen Patrimonialgerichte 4 5 Die Verordnung vom 20. Juni 1817 46 gab den Männern mit landwirtschaftlicher Vorbildung und Praxis zunächst den Vorzug vor den Juristen, sodass in den dreiköpfigen Kommissionen jeweils zwei landwirtschaftliche Praktiker und ein Jurist arbeiteten. Diese Praxis änderte sich aber schon 1821, als ein zweiter Jurist hinzukam und gleichzeitig den Praktikern das Stimmrecht in allen Rechtsfragen entzogen wurde. 47 Im Laufe der Jahre entstanden neun

43

44

Vgl. Koselleck, S. 95 f.

Bleek, S. 120; Koselleck,

S. 495; Beschreibung des Behördenaufbaus auch bei

Bär, S. 186 ff. 45 Koselleck, S. 494. 46

Rönne, S. 405-433: „Verordnung wegen Organisation der General-Kommissionen und der Revisions-Kollegien zur Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse imgleichen wegen des Geschäftsbetriebes bei diesen Behörden.'4 47

Koselleck, S. 494.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

38

Kommissionen, deren Räte als erste Entscheidungsinstanz „am grünen Tisch" Entscheidungen fällten. Vor Ort waren über 200 Ökonomiekommissare tätig, denen jeweils ein Jurist und ein Geometer zur Seite standen. 48 Neben der Abwägung der rechtlichen Interessen bei Besteuerung und Entschädigung hatten die Kommissionen den Auftrag, eine neue Feldordnung zu installieren, die den aktuellsten landwirtschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragen sollte. Dazu war praktisches und theoretisches landwirtschaftliches Wissen notwendig. Die gerechte Verteilung des Bodens, gerecht vor allem im Sinne von Bodenbeschaffenheit und Fruchtbarkeit, erforderte nicht selten eine vollständige Neu Vermessung des gesamten betroffenen Landes: „Das Auseinandersetzungsverfahren begann [...] mit der genauen Information über die sämtlichen in Betracht kommenden Personen, Rechts- und Wirtschaftstatsachen. Es waren folgende Gegenstände klarzustellen: 1. Die Ausmittlung aller bei der Sache Beteiligten, sowie ihrer legitimierten Ansprüche, 2. die Feststellung der verschiedenen Grundstücke und der daran haftenden Rechte und Verpflichtungen, 3. die Art und Weise der gemeinsamen Nutzungen, 4. die Servitutberechtigungen auswärtiger Personen an der Feldmark [...] Außer den bäuerlichen Wirten befanden sich in den meisten Dörfern noch verschiedene Weideberechtigte: Eigenkätner, Schullehrer, Gemeindeschmied und sonstige Handwerker" 49 . Lavergne und seine Geometer-Kollegen erhoben also vor Ort die für die Entscheidungen der Kollegien notwendigen Daten. Und das war, nach allem was wir wissen, durchaus der komplizierteste Teil der Arbeit. 5 0 Die Feldmesser hatten die Aufgabe, die Gemarkung der zur Separation vorgesehenen Dörgfer, die diese selbst beantragen mussten, genau zu vermessen und zu kartieren. Gleichzeitig ermittelten sie dabei die Bodenklassen und erstellten gemeinsam mit einem sogenannten Boniteur ein „Bonitierungsregister", mit dessen Hilfe der Ausgleich aller Rechtsansprüche nach einem allgemein anerkannten Aufrechnungsschlüssel für Flächen und Fruchtbarkeit ermittelt wurde. 51

48

49

Bleek, S. 120.

R. Stein, Bd. 3, S. 164 f.; Koselleck, S. 496 f.; zu Lavergnes weitreichenden landwirtschaftlichen Kenntnissen Lavergne, Landgemeinde, S. 31 ff. 50 Koselleck, S. 496, präzisiert das folgendermaßen: „Die Anforderungen an ihr Können standen meistens im umgekehrten Verhältnis zu ihren Leistungen [...]. Sie mußten Rechtskenntnisse besitzen, um die oft fraglichen Pacht-, Dienst- und Schuldenverhältnisse zu ermitteln, sie mußten zwischen Gemeindemitgliedern die Anteilrechte aufschlüsseln, aus alldem mußten sie Entschädigungssummen in Rente, Kapital oder Boden ableiten, gegenseitig verrechnen und dabei die Steuerveranlagung neu ordnen, kurz, sie mußten die gesamte, meist dunkle, immer strittige Rechtsordnung rekonstruieren, um ihrer zweiten, wichtigeren Aufgabe nachkommen zu können." 51

R. Stein, Bd. 3, S. 169.

Π. Erste berufliche Erfahrungen

39

Ungenauigkeiten bei diesen Arbeiten konnte sich der Vermesser eigentlich nicht leisten, weil alle Beteiligten Einblick in Karte und Register erhielten und verständlicherweise um jeden Quadratmeter guten Landes kämpften. Dabei festgestellte Unregelmäßigkeiten hatten „Zwischenfälle und ärgerliche Zänkereien" sowie lange Prozesse zur Folge. 52 Robert Stein berichtet von einem Fall, bei dem die Revision der Vermessung beantragt und nach dreimaligem Nachmessen festgestellt wurde, dass der erste Feldmesser sich „grobe Nachlässigkeiten" geleistet hatte. 53 Außerdem versuchten gerade die Großgrundbesitzer, durch Bestechung Vorteile zu erlangen. Die Ungenauigkeiten in den Messungen, die an der Tagesordnung waren, benachteiligten dann zumeist die Bau54

ern. Auch Moritz v. Lavergne-Peguilhen wurden in einem Verwaltungsbericht zur Beurteilung seiner Arbeit in der Umgebung von Danzig solche Fehler vorgeworfen. 55 Zieht man aber die Art und den ungeheuren Umfang der Aufgaben der Kommissionen in Betracht, die immerhin auf den Ausgleich zumeist völlig unterschiedlicher und oft gegensätzlicher Bedürfnisse und Interessen zielten, sind solche Vorwürfe kaum auszuschließen56. Allerdings kann nicht mehr geklärt werden, ob Lavergnes „Ungenauigkeiten" nur in den Augen der sich benachteiligt fühlenden Partei als solche erschienen oder ob sie in nachfolgenden Verhandlungen innerhalb der Kommission oder vor Gericht nachgewiesen wurden. Auch die Vermutung, Lavergne habe aus Gegenerschaft gegen die Separationen nachlässig gehandelt, trifft nicht zu. Im Gegenteil: In „Die Landgemeinde in Preußen" forderte er dezidiert den beschleunigten und konsequenten Abschluss der Separationen, „um endlich zum Ziele zu gelangen" 57 . Und an anderer Stelle versicherte er: „Obwohl der Verlust der bäuerlichen Dienste auch mich in Verlegenheit setzte, war ich - erfüllt von den herrschenden Lehren des Industriesystems - doch zu sehr von den großen Segnungen durchdrungen, welche der Vollziehung der neueren Agrargesetzgebung alsbald auf dem Fuße folgen mussten, als dass ich diese Aussicht nicht mit freudiger Begeisterung hätte begrüßen, nicht frohen Muthes alle Schwierigkeiten des Überganges hätte ertragen sollen." 58 Das größte Problem für die Kommissare

52 53

54

R. Stein, Bd. 3, S. 166. R. Stein, Bd. 3, S. 166, Fn. 1.

Dahingehende Berichte bei Jordan, S. 49 f. Siehe Georg Becker, S. 43 ff. 56 So wurden beispielsweise die für die Vermessung gesteckten Werkpfähle über Nacht wieder ausgerissen, R. Stein, Bd. 3, S. 171, Fn. 4. 57 Lavergne, Landgemeinde, S. 28 ff., hier: S. 34. 58 Lavergne, Landgemeinde, S. ΙΠ f. 55

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

40

und ihre Mitarbeiter stellten aber die „jahrhundertealten Rechte und Observanzen" dar, die gegen die neuen Eigentumsrechte der anderen Landbewohner verrechnet werden und in eine neue Feld- und Gemeindeordnung münden sollten. 59 Das restaurative Element in der Separationspraxis wurde von den Gutsbesitzern auch mit unlauteren Mitteln vorangetrieben, wovon die wiederholten Klagen über Korruption und Unzulänglichkeit ein deutliches Bild zeichnen. Auch wenn die jungen Praktiker oder Beamten aus Justiz oder Verwaltung wie Lavergne - grundsätzlich bauernfreundlich 60 eingestellt waren, standen sie doch unter dem ständigen Druck der potenten Großgrundbesitzer, die sich den Reformen zunächst vehement widersetzt hatten. 61 Als sie schließlich durch ihre Interventions- und Oppositionspolitik erreicht hatten, dass es nicht sie, sondern „ihre kleinen Pächter" am härtesten treffen würde, setzten sie alles daran, ihren Vorteil so groß wie möglich zu gestalten. 62 Da auf der anderen Seite in Konfliktfällen auch die Unterstützung durch die Provinzialbehörden fehlte, ist die Position der Kommissare und Feldmesser in diesem mühsamen Geschäft von Ohnmacht und Aussichtlosigkeit gekennzeichnet. 63 Vor diesem Hintergrund ist es auch zu verstehen, wenn Lavergne noch 1841 eine Besserstellung der Kommissare forderte, um die noch ausstehenden Spezial-Separationen in absehbarer Zeit beenden zu können: „Diese werden Umsicht und Erfahrung mit hingebender Thätigkeit vereinigen müssen - Eigenschaften, die dauernd nur erworben werden, wo die Anregung weniger in den Diäten etc., als in der mit der Stellung verbundenen äußeren Ehre, und in der Aussicht auf Beförderung zu den höheren dienstlichen Stellungen besteht." 64 Diesem Befund liegt unter anderem die Tatsache zugrunde, dass es

59

60

Koselleck, S. 497.

Das gilt auch für Lavergne, vgl. Landgemeinde, S. 22 u. 25. Belke, S. 142; zum massiven Widerstand der Gutsbesitzer auch ausführlich und mit aussagekräftigen Quellen R. Stein, Bd. 3, S. 161 ff. 62 Belke, S. 143, Zitat aus einem Schreiben des Regierungspräsidenten v. Schön an Gruner vom 11. Dezember 1811. 63 R. Stein, Bd. 3, S. 163 resümiert resigniert: „Es blieb also alles beim alten; jede Anregung, den regulierten Bauern einen wenn auch noch so geringen Schutz angedeihen zu lassen, verpuffte an dem verbissenen Widerstand der ständischen Führer, sowie an der Schwächlichkeit und Gleichgültigkeit der Provinzialbehörden." Koselleck, Preußen, S. 497, fasst zusammen: „Der Weg eines Kommissars war mit Mühe und Ärger gepflastert [...] und nur selten von raschem Erfolg gekrönt." 64 Lavergne, Landgemeinde, S. 35. 61

Π. Erste berufliche Erfahrungen

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vielen Vertretern der Kommissionen an Erfahrung und entsprechender Ausbildung mangelte. 65 Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist neben Lavergnes Erfahrungen mit den praktischen Auswirkungen der preußischen Agrarreform der gleichzeitig gewonnene Einblick in die sozialen Verhältnisse in der Provinz Preußen bedeutsam. Deren profunde Kenntnis schlägt sich gerade in den ersten Buchveröffentlichungen Lavergnes nieder. Gleichzeitig bildet sie die Grundlage für zahlreiche gesellschafts- und wirtschaftspolitische Forderungen des späteren sozialtheoretischen Publizisten und aktiven Politikers. Als Beispiele seien hier nur die Forderung nach bäuerlichen Kreditanstalten, systematischer landwirtschaftlicher Aus- und Weiterbildung der mittelbäuerlichen Schichten sowie die intensive Beschäftigung mit der Gemeindeordnung genannt. In die damit zusammenhängenden Überlegungen muss die Tatsache einbezogen werden, dass Lavergne als Rittergutsbesitzer später der gesellschaftlichen Gruppe angehörte, die als einzige uneingeschränkt von der Arbeit der Kommission profitieren konnte. 66 Dass dies gelang, wird auf den steigenden Einfluss der Juristen in den Kommissionen zurückgeführt, mit deren Hilfe die Junker die Reformen auf legale Weise für ihre restaurativen Interessen zu instrumentalisieren wussten. 67 Die Auswirkungen der preußischen Agrarreform müssen je nach den herrschenden Voraussetzungen differenziert nach Provinzen und den jeweils bestehenden Agrarverfassungen gesehen werden. 68 In Ostpreußen gab es im Unterschied zu anderen Regionen schon lange vor der Agrarreform vor allem auf den Gütern des Adels Landarbeiter. 69 Daneben war auch die übrige Land-

65 „Die Feldmesser seien oft junge Leute, die zwar gut Mathematik verstünden, aber nicht genügend praktische Übung besäßen [...]. Die Folge sind Irrtümer beim Vermessen und kostspielige Neuvermessungen." Die Kommissare „müßten rechtliche Männer sein und so ehrlich, daß sie nicht durch Verschleppung der Sache sich mehr Einnahmen zu verschaffen suchten." R. Stein, Bd. 3, S. 182 f., Fn. 18. 66 „Sie wurden lästige Pflichten los, konnten ihren Landbesitz vergrößern und frei über ihn verfügen und hatten im Landproletariat ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung." Bleek, S. 121. Bleek, S. 121; Koselleck, S. 494. Beispiele dafür liefert R. Stein, Bd. 3, S. 162 ff. 68 „Dies wird gemeinhin übersehen, weil die Agrargeschichte bislang die ländlichen Verhältnisse vorzugsweise unter rechtlichen, statt wirtschaftlichen und sozialen Aspekten betrachtet und deshalb die Vielgestaltigkeit der westelbischen Agrarstruktur überschätzt, die mannigfachen Unterschiede im Osten jedoch eher vernachlässigt hat." Dipper , Bauernbefreiung, S. 56. Vgl. Gropp, passim, allerdings nur für den Beginn des 19. Jahrhunderts; Knapp, S. 12: „Wenden wir uns nun zum Lande östlich der Elbe, so müssen wir vor allem betonen, daß hier keine Gleichförmigkeit besteht". 69 „Es gab hunderte adliger Dörfer, in denen kein einziger Bauer lebte", Dipper , Bauernbefreiung, S. 57.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

bevölkerung von Tagelöhnern, Gesinde, kleinen Handwerkern und Instleuten direkt oder indirekt vom Gutsbesitzer abhängig. Die Zahl der landlosen Arbeitskräfte erhöhte sich infolge der Agrarreform und des explosionsartigen Bevölkerungswachstums beträchtlich. 70 1859, als die Regulierung fast vollständig beendet war, gab es in Ostelbien 10.000 Bauernstellen weniger als 1816. 71 Diese Entwicklung war auch dadurch gefördert worden, dass die betroffenen Bauern keinerlei Kredite aufnehmen konnten, während die auskaufenden Gutsherren die neuen Flächen sofort bei der Ostpreußischen „Landschaft" beleihen durften. 72 So gelang es den Besitzern der 12.000 Rittergüter trotz eigener Finanzknappheit und Überschuldung, 1,5 Millionen Morgen als Entschädigung und ein Großteil der abgelösten Gemeinheiten zu erhalten. Den Bauern, deren Zahl in Ostpreußen vor der Reform bei fast 57.000 lag, blieben davon lediglich 14 Prozent. 73 M i t den sozialen Folgen, die diese einschneidende Veränderung der wirtschaftlichen Struktur auf den Agrarsektor in Ostpreußen hatte, beschäftigt sich der folgende Abschnitt. Auch Zeitgenossen maßen den Separationen bereits einen entscheidenden sozialen Effekt zu. So wies der Rittergutsbesitzer von Farenheid 1831 eindringlich daraufhin, bei allen Entscheidungen in der Frage der Separationen soziale Folgen (wie Bildungsmöglichkeiten der Kinder, „Verwilderung" der Familien durch „Ausbau der Bauernstellen") abzuwägen.74 Dass Lavergne schon 1824 bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst in der Kommission eine Ahnung davon haben konnte, auf welche Weise sich die mit großen Hoffnungen für die Mehrheit der Landbewohner begonnene Agrarreform im sozialen Bereich auswirken würde, ist kaum möglich. In einem Schreiben an den König datierte er seinen ersten Kontakt mit den sozialen Problemen des ländlichen Ostpreußen auf 1826, also auf das Jahr, in dem er sein erstes Rittergut erwarb und auf diese Weise mit den Landbewohnern und ihren Problemen konfrontiert wurde: „Als ich im Jahre 1826 eine größere Besitzung in Ostpreußen übernommen hatte, traten in meiner unmittelbaren Nähe Nothstandserscheinungen hervor, deren Studium mich schließlich zu der Ueberzeugung geführt hat, daß das System der liberalen Wirthschaftspolitik

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Müßiggang, S. 58: Von 1815 bis 1848 wuchs die Bevölkerung Preußens von sechs Millionen auf 16 Millionen Einwohner. 71 Weber-Kellermann, S. 20; Mauer, S. 255 spricht dagegen nur von 6.000 bis 8.000, wobei nicht klar ist, ob das „Ostelbien" bei Weber-Kellermann und die „östlichen Provinzen Preußens" bei Mauer geographisch übereinstimmen. 72 Zur Geschichte der als Kreditinstitut für die Ritterschaft 1788 ins Leben gerufenen Ostpreußischen Landschaft Hein, S. 11;/?. Stein, Bd. 1, S. 523 ff. 73 Koselleck, S. 498; Dipper , Bauernbefreiung, S. 56; Belke, S. 147. 74 Farenheid, Wunsch, S. 99-108.

Π. Erste berufliche Erfahrungen

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[...] zu krankhafter Entwicklung und schließlich zum Untergange des Staats führen müsse."75 2. Adel und Rittergut Noch unberührt von diesen Erfahrungen endete Lavergnes Zeit in der Generalkommission, wie gesagt, aus nicht bekannten Gründen im Jahr 1824. Wahrscheinlich ist jedoch ein Zusammenhang mit der Unterbrechung der Regulierung durch die Agrarkrise von 1823 bis 1827.76 In seinem Lebenslauf liest sich der Wechsel in das Amt Subkau bei Danzig wie der geplante Übergang von der Landwirtschaftsverwaltung zur praktischen Landwirtschaft, um seine Kenntnisse auch in diesem Bereich abzurunden: 77 „Darauf ging ich nach dem durch seine edle Schaafzucht berühmten Amt Subkau, machte mich unter Leitung des Amtsrath Heine mit allen Teilen des praktischen Landbaues bekannt, kaufte 1826 die im Neidenburger Kreise des Königsberger Regierungsbezirkes belegenen Baldenschen Güter". 78 Mitte der 20er-Jahre hatten die Preise für Grund und Boden in Ostpreußen einen Tiefstand erreicht. Vorausgegangen waren sehr gute Ernten, die aber unter anderem wegen der englischen Getreidezölle nicht auszuführen waren. Die Folge waren weithin dramatisch sinkende Preise, die auch die Bodenpreise abstürzen ließen, worauf zahlreiche adlige Güter bankrott machten und durch Zwangsverkauf in neue Hände kamen. Die Krise auf dem Immobilienmarkt hatte in Preußen schon um 1805 zu einem ersten Zusammenbruch des Gütermarktes geführt, die Krise der 20erJahre ist danach aus dem Verfall der Preise für Agrarprodukte, die Folgen der Kriegsverluste und die neuen Wirtschaftsmethoden nach den Agrarreformen zu verstehen. 79 In dieser Zeit gelangten auch immer mehr Bürgerliche in den Besitz ehemals adliger Güter. 80 Sie bewirtschafteten ihre Güter nach ökonomi-

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77

GStaPK, I HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 9 Rs. Vgl. Schumacher, S. 262.

Vgl. Georg Becker, S. 43. Georg Becker, S. 43 f. Heine war Schwiegervater von Lavergnes Bruder Julius. 79 Vgl. Schissler, Agrargesellschaft, S. 150 ff., bes. S. 151. Nach Jordan, S. 26, waren von 23.654 Besitzveränderungen in den Jahren von 1835 bis 1864 - das entspricht einem zweimaligen Besitzerwechsel für jedes der fast 11.771 Güter in ganz Preußen 1.347 Subhastationen, sprich Zwangsverkäufe. Schlesien und Posen standen in dieser Statistik an der Spitze. In Schlesien wurden allein 407, in Posen 442 Subhastationen registriert, in Ostpreußen 121. 80 Vgl. Kellenbenz, Bd. 2, S. 52 f; zur Entwicklung der Getreidepreise vgl. Wehler, Bd. 2, Tabelle S. 28 sowie S. 29 ff. 78

44

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

sehen Aspekten81 und nach den neuesten Erkenntnissen landwirtschaftlicher Forschung, die gerade in diesen Jahren durch Albrecht Thaer und Justus Liebig nachhaltig vorangetrieben wurde. Hanna Schissler betont in diesem Zusammenhang den enormen wirtschaftlichen Erfolg, den die vor allem bürgerlichen „modernen Agrarkapitalisten" mit der Anwendung der neuen Bewirtschaftungsformen hatten. Auf der anderen Seite konstatiert sie, beinahe im Widerspruch dazu, „die Widerstände gegen diesen Transformationsprozeß" vom Grundherrn zum modernen Arbeitgeber, „die mit der staatlich bewirkten Konservierung des politischen Stonderstatus der Gutsbesitzer sowie ihren objektiven ökonomischen Erfolgen des Sozialprofil dieser Klasse in den 40er-Jahren bestimmten". 82 Nach allen Aussagen, die sich in den Quellen zu Lavergnes Leistungen als Landwirt finden lassen, gehörte er wohl zu dieser neuen Generation von Rittergutsbesitzern, die den Wechsel von der Dreifelderwirtschaft zur Fruchtwechselmethode vollzogen, damit die Produktion intensivierten, Rüben- und Kartoffelanbau neben der traditionellen Getreidewirtschaft forcierten und auch den Einsatz von Maschinen nicht ablehnten. Lavergnes Gießener Biograph Becker erwähnt ein Attest des Ortelsburger Landrats v. Berg, „in dem es heißt, er könne bekunden, wie derselbe durch rationelles, wirtschaftliches Streben, anregend und fördernd auf die landwirthschaftliche Kultur dieser Gegend eingewirkt hat'". Der schon erwähnte Amtsrat Heine berichtet vom „lebendigen Sinn des Herrn M. von Lavergne-Peguilhen für den höheren Landbau", der ihn veranlasst habe, ihm selbständig die Verwaltung und Bewirtschaftung mehrerer Vorwerke zu übertragen. 83 Durch seine weitere Beschäftigung mit dem Landbau auf dem Gut der Familie seiner Schwägerin in der Nähe von Danzig qualifizierte er sich auch in der erst seit Beginn des Jahrhunderts in Ostpreußen eingeführten Schafzucht 84 sowie in allen anderen Belangen der Landwirtschaft. Dann erst erwarb er 1826 sein erstes Rittergut. 85 Es handelte sich um die „Baldenschen Güter" im ostpreußischen Kreis Neidenburg „und,

81 H. Rosenberg, S. 295, betont die zunehmend profitorientierte Wirtschaftsweise der neuen Gutsbesitzergeneration; S. 296 spricht er von der „graduellen Umwandlung der Bodenaristokratie in eine moderne Unternehmerklasse". 82 Schissler, Agrargesellschaft, S. 164 ff., hat die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu entstehende politische Klasse der Gutsbesitzer detailliert untersucht. 83 Georg Becker, S. 45; zu den Veränderungen in der landwirtschaftlichen Produktionsweise vgl. u.a. Weber-Kellermann, S. 24 f.; Wehler, Bd. 2, S. 30 ff. 84

85

Schumacher, S. 263.

Schumacher, S. 265, datiert die Zeit der Zwangsverkäufe auf die Phase zwischen 1824 und 1834. Auch der „Motor" der Separationen in Preußen, Oberpräs id vent v. Schön, profitierte im privaten Bereich von dieser Entwicklung und erwarb im selben Jahr wie Lavergne ein Rittergut in der Nähe Königsbergs.

Π. Erste berufliche Erfahrungen

45

nachdem ich durch Familienverhältnisse bewogen worden, diese 1830 meinem Bruder abzutreten, erstand ich im selbigen Jahre das Rittergut Mirau bei Danzig 44 . 86 Mit 25 Jahren war Lavergne also adeliger Rittergutsbesitzer. Die nach wie vor mit politischen und gesellschaftlichen Privilegien verbundene Bestätigung der Adelszugehörigkeit der Familie 87 im Jahr 1821 war Lavergne in seinem Curriculum keine Bemerkung wert. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Entweder war diese Tatsache für den jungen Lavergne nicht von Bedeutung, weil sie an den tatsächlichen Gegebenheiten nichts änderte, oder er wollte dem Staatsakt in einem offiziellen Schreiben keine Bedeutung verleihen, um nicht damit direkt auf die „Jugendlichkeit44 seines echt preußischen Adels hinzuweisen. Beides würde erklären, warum er die Bestätigung der Adelszugehörigkeit trotz ihrer Bedeutung für seine gesamte Existenz elegant überging. Aber grundsätzlioch blieb die Nobilitierung weiterhin das „Eintrittsbillet 44 in die einflussreichste preußische Gesellschaftsgruppe, obwohl ihre Privilegien seit 1807 auch von nichtadligen Rittergutsbesitzern wahrgenommen werden konnten. 88 Noch 1842 bezeichnete Ernst v. Bülow-Cummerow die Rittergutsbesitzer als die „untersten Verwaltungsbehörden 44, die vor allem durch die Ausübung der Patrimonialgerichtsbarkeit Einfluss auf das Wohl und Wehe der Landbevölkerung besaßen. Die Rittergutsbesitzer bildeten eine Verwaltungsebene mit den Magistraten in den Städten, den Königlichen Domänenbeamten und den Schulzen in den Dörfern. 89 Für die Wählbarkeit auf Kreis- und Provinzialebene, für die Ausübung des Wahlrechts, Polizeigewalt, Patrimonialgerichtsbarkeit und Patronatsrecht war der Besitz eines Ritterguts die notwendige Voraussetzung. 90 Das Beharren auf

86

Georg Becker, S. 43 f. Nach Jordan, S. 30, waren 1842 „von 12 Ministern 9, von 30 Gesandten und Residenten 29, von 28 Regierungs- und Vizepräsidenten 20, von 306 Landräten 234 adlig." (Angaben aus der Rheinischen Zeitung vom April 1842). Laut H. Rosenberg, S. 294, handelte es sich im Vormärz lediglich um eine prinzipielle Gleichstellung der bürgerlichen und adligen Rittergutsbesitzer: „Politisch waren die bürgerlichen Berufsgenossen vorerst zu einem Attrappen- und Satrapendasein verurteilt, und gesellschaftlich wurden sie meist noch geschnitten." 88 Schissler, Agrargesellschaft, S. 164 f. 89 Bülow-Cummerow, Preußen, S. 119. 90 Wehler, Bd. 2, S. 154: „Da jedoch angemessener Besitzstand die unabdingbare Voraussetzung für eine standesgemäße Lebensführung des frisch Nobilitierten bildete, drängten sie auf den Erwerb des wertvollsten Symbols, eines Ritterguts, und Konnubium zusammen mit gutsnachbarlichem Verkehr konnte, wahrscheinlich meist in der zweiten Generation, die anfänglichen Barrieren überwinden helfen." Schissler, Agrargesellschaft, S. 165. Sie hebt dagegen zu Recht die mit dem Besitz verbundene Ausübung der ständischen Rechte hervor. 87

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

46

ständischen Traditionen und der Einfluss des Adels innerhalb der Ministerialbürokratie erwiesen sich jedoch schon wenige Jahre nach dem Ende der Befreiungskriege als den Reformbestrebungen überlegen. Der Einfluss des Adels auf die staatliche Bürokratie weitete sich so stark aus, dass Wehler in diesem Zusammenhang sogar von einem „Kondominat zwischen Adel und Bürokratie" spricht. 91 Auf diese Weise kompensierte der Adel zumindest teilweise den Verlust des direkten Einflusses auf die Landbevölkerung. Durch die Einrichtung von Virilstimmen auf Kreis- und Landtagen sowie die Gründung einer Herrenkurie beim Vereinigten Landtag 1847 wurde die politische und gesellschaftliche Ausnahmestellung, die der Adel bis zum Ende der 40er-Jahre wieder erreichte, nach außen hin manifestiert. 92 Zu dieser Entwicklung bemerkte Ernst v. Bülow-Cummerow 1842, der Adel sei trotz der Übertragung seiner ehemals geburtsständischen Rechte auf Nichtadlige nicht „ohne besonderen Einfluß auf die Verhältnisse des Landes". Wenn er auch alle persönlichen Vorrechte verloren habe, besitze „der zahlreiche Adel in Preußen immer noch einen indirecten Einfluß auf das Ganze". Um die Zukunft des Adels war v. Bülow-Cummerow auch deshalb nicht besorgt, weil dieser Einfluss in dem Maße steigen werde, in dem der Adelige durch den Verlust seiner privilegierten Stellung gezwungen sein werde, „durch seine Ausbildung sich eine Stellung zu machen". 93 3. Vergebliche Bewerbungen Mit dem Kauf der „Baldenschen Güter" und dem Adelsbrief des Vaters gehörte Lavergne seit 1826 zu der aufstrebenden Personengruppe, die dank ihres neu erworbenen gesellschaftlichen Status innerhalb des „ersten Standes" auch an den politischen Entscheidungsmechanismen zu partizipieren das Recht hatte, und zwar allein aufgrund der an ihrem Grundbesitz haftenden ständischen Rechte.94 Darüber hinaus stellten die Rittergutsbesitzer die stärkste Kurie in den Provinzial-Landtagen, wählten den Landratskandidaten aus ihrer Mitte und hat-

91

Nach Wehler, Bd. 2, S. 152, entwickelte sich eine „neue, gelegentlich fluktuierende Kräftekonstellation[...], wobei der Adel am Hof und in der Verwaltung schnell an Stärke, zeitweilig ein Übergewicht gewann, während die Bürokratie wieder fügsames Herrschaftsinstrument wurde". 92 Schissler, Agrargesellschaft, S. 167. 93 Bülow-Cummerow, Preußen, S. 93. 94

Vgl. Η. Rosenberg, S. 292 ff.

Π. Erste berufliche Erfahrungen

47

ten so mit den Landratsämtern die Schlüsselstellen in der Verwaltung und den ständischen Beratungsgremien inne. 95 Für den Neuling wollten die Chancen auf Macht und Einfluss allerdings erst erworben sein. Lavergne wirtschaftete deshalb immerhin vier Jahre lang auf Balden, ohne im politischen Leben in Erscheinung zu treten. Was den damals 25-Jährigen neben seinem Interesse für die Land- und Staatswirtschaft beschäftigte, ist über die vorhandenen Quellen nicht zu ermitteln. Man sollte sich das Leben der Oberschicht der ländlich geprägten ostpreußischen Gesellschaft aber nicht als opulent und luxuriös vorstellen. Die großen gesellschaftlichen Anlässe waren Jagdveranstaltungen, Erntefeste oder „hoher Besuch" aus Berlin oder der Provinzhauptstadt. Charakteristisch für das Leben der preußischen Junker war noch nach der Wende zum 20. Jahrhundert der Widerspruch zwischen aufwändiger Repräsentation nach außen und einem eher frugal gestalteten Alltagsleben, wobei die Selbstversorgung mit allen notwendigen Nahrungsmitteln eine zentrale Rolle spielte. 96 Was für die Mehrzahl der seit Jahrhunderten eingesessenen Junkerfamilien galt, scheint im Falle Lavergnes allerdings nicht unbedingt zuzutreffen. Wer in der Lage war, als 25-jähriger Landvermesser ein Rittergut zu erwerben, das er 1830 für 18.000 Taler an seinen Bruder weiterverkaufen konnte, wer überdies großzügig der Frau seines verstorbenen Bruders „das in der Ehe erworbene Vermögen - ein Gegenstand von 30.000 Thlr. - ungeschmälert" überweisen konnte, hat sich auch in den alltäglichen Ausgaben vermutlich nicht beschränken müssen.97 M i t dem Kauf und Verkauf von Rittergütern verfolgte Lavergne aber neben der Schaffung von Eigentum und dem Erwerb von Privilegien noch ein weiteres Ziel. W i l l man im modernen Sinne von Karriereplanung sprechen, so gehörte beispielsweise der Verkauf von Balden 1832 an den Bruder Alexander 98 und der sich direkt anschließende Erwerb von Mirau im

95

Vgl. Bülow-Cummerow, Preußen, S. 71 ff.; Lancizolle, S. 292 ff. (Provinzialstände), S. 436 ff. (Wahl der Landräte), Rauer , S. 26 ff., S. 26: In der Provinz Preußen setzte sich der Provinzial-Landtag aus 47 Rittergutsbesitzern, 28 Vertretern der Städte und 22 Abgeordneten der Landgemeinden zusammen. Alle Schlüsselstellen wurden mit Deputierten aus der Ritterschaft besetzt. 96 Görlitz, S. 221 betont, im 19. Jahrhundert habe sich das Leben des Landadels zumindest insofern verändert, als das Gut „jetzt die volle Arbeitskraft des Besitzers" erforderte. 97 Die Zahlung an die verwitwete Schwägerin leistete Lavergne zusammen mit seinem Bruder Alexander; Zitat aus einem Schreiben des Amtsrat Heine, nach Georg Becker, S. 45.

98 Sein Bruder Alexander, der im selben Jahr wie Moritz die Geometer-Prüfung absolviert und mit diesem zusammengearbeitet hatte, blieb auf Balden im Kreis Neidenburg, wurde dort sehr beliebter und erfolgreicher Landrat. Koselleck, S. 476, hält Alexander u. a. wegen dessen langer Amtszeit in Neidenburg für den erfolgreicheren.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

48

Kreis Neustadt bei Danzig dazu, obwohl es kaum mehr rekonstruierbar ist, ob der drei Jahre später notwendige Wechsel im Landratsamt Neustadt zu diesem Zeitpunkt bereits vorauszusehen war. Es ist aber anzunehmen, dass Lavergne durch seine Vermessungsarbeiten gerade im Kreis Neustadt sowohl gründliche Kenntnisse der Verhältnisse als auch Verbindungen zu den wichtigen Personen erworben hatte." Dass die Kandidatur für einen Landratsposten nach wie vor an den Besitz eines Ritterguts in dem betreffenden Kreis gekoppelt war, wird in der konservativen Literatur über den preußischen Verwaltungsaufbau mit der Forerung nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit des Landrats, zahlreichen Bindungen im Kreis und mit Kenntnis von Land und Leuten begründet. 100 Die geforderten verwaltungstechnischen Vorkenntnisse degenerierten im Laufe des Vormärz immer mehr zur Formalie. Das führte dazu, dass der Landratsposten mit seiner Sonderstellung innerhalb der preußischen Verwaltungshierarchie bei aufstrebenden bürgerlichen und verbliebenen adeligen Rittergutsbesitzern gleichermaßen beliebt war. Deshalb wurden Rittergüter oft nur gekauft, um in dem betreffenden Kreis als Landrat kandidieren zu können. 101 Lavergnes Bewerbung um den vakanten Landratsposten im Kreis Neustadt 1834 schlug allerdings fehl. Er wurde von den Kreisständen als dritter Kandidat nominiert, von der Regierung zu Danzig geprüft und „von der PrüfungsCommission zur Verwaltung eines Landratsamtes für fähig erklärt". 102 Die Kreisstände sahen aber den später vom König bestätigten Ludwig v. Platen auf Platz eins, Lavergne nur auf Platz drei. Die Regierung in Danzig lehnte dagegen alle drei Kandidaten ab und stufte sie als ungeeignet ein. 1 0 3 Bei dieser Wahl setzte sich der König, unterstützt durch Innenminister v. Rochow, über das Votum der Regierung hinweg und bestätigte die Wahl der Kreisstände. Die Frage nach den Gründen für diesen Misserfolg muss mit wenigen in den Quellen angedeuteten Vermutungen beantwortet werden. In Berlin, zu-

99

Georg Becker, S. 43. Vgl. Bülow-Cummerow, Preußen, S. 65 ff.; Lancizolle, S. 436 ff. 101 Zur Sonderstellung Bleek, S. 122; zur Ausbildung GStaPK, I. HA Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 136, Nr. 8, Bd. 7: In einem Schreiben an den König vom 10. Januar 1842 moniert Innenminister v. Rochow, die Kreisstände ließen die vom König bereits bestätigten Kandidaten auch bei Untauglichkeit nicht durch die Prüfung fallen; WAPO, Regierung Alienstein, Nr. 325, Sitzungsprotokolle des Provinzial-Landtags: Der preußische Provinziallandtag befasste sich zuletzt kontrovers 1843 mit den „Scheinkäufen" von Landrats-Aspiranten. 102 GStaPK, Acta des Königl. Geheimen Civil-Cabinets 1843-1853, 2.2.1. Nr. 13805. 103 Letkemann, S. 140. Der Name des dritten Kandidaten neben v. Platen und Lavergne taucht ist nicht zu ermitteln. 100

Π. Erste berufliche Erfahrungen

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mindest aber bei Innenminister v. Rochow 104 , hatte Lavergne einen schlechten Leumund. 105 Um seine Bedenken zu untermauern, verwies v. Rochow auf einen „Immediatbericht" vom 23. Januar 1835, „zu der Zeit, wo die Stände des Neustädter Kreises, im Regierungsbezirk Danzig, den von Peguilhen zum dritten Kandidaten für das Landratsamt" gewählt hatten. Dieselben Gründe, die er, v. Rochow, damals genannt habe, als er von der Bestätigung der Kandidatur „dieses bei dem achtbarsten Theile seiner früheren Mitstände sehr übel accreditirten Mannes ehrerbietigst abzusehen" riet, gälten auch jetzt noch. Der Staatsminister unterstrich, er müsse sich deshalb „jeder Befürwortung seiner Berücksichtigung enthalten". Wie 1835 im Falle Neustadts, als v. Rochows Favorit der auch vom König bestätigte v. Platen gewesen war, setzte sich Lavergne auch fünf Jahre später bei der Wahl in Gumbinnen nicht durch. 106 Was Lavergne 1835 konkret vorgeworfen wurde und ihm auch fünf Jahre später noch den Weg in die Amtsstube des Landratsamts Gumbinnen verwehrte, ist diesem Brief nicht zu entnehmen. Es ist aber anzunehmen, dass er sich in seiner Zeit bei der Generalkommission als Landvermesser im Danziger Raum bei einigen der Rittergutsbesitzer unbeliebt gemacht hatte, die deshalb ihren Einfluss in Berlin geltend machten. 107 Die Vorwürfe gegen Lavergne wogen schwer: Er habe zwar zahlreiche Vermessungen ausgeführt, „jedoch mit solcher Leichtigkeit und Oberflächlichkeit, daß die gelieferten Arbeiten sich bei näherer Prüfung als falsch und unbrauchbar zeigten". 108 Auch die bereits erwähnten Schulden, die nach Jahren erst durch Zwangsvollstreckung eingetrieben werden konnten, fügten zum negativen Persönlichkeitsbild des Kandidaten einen weiteren Aspekt hinzu. 1 0 9 Becker erwähnt, dass er gerade in den Jahren 1836 und 1837 die finanziellen Auswirkungen seines kurzen Berliner Studentenlebens zu tragen hatte. Er sei, heißt es da, „durch das Kgl. Oberlandes-Gericht in Marienwerder auf ergangene anderweitige Requisition [...] mit Exekution verfolgt worden". 110

104

Zur Charakterisierung v. Rochows Koselleck, S. 351. Staatsminister v. Rochow erinnert daran in einem Brief vom 31. Dezember 1840. Damals stand Lavergne pro forma als zweiter Kandidat auf der Wahlliste für das Landratsamt in Gumbinnen, GStaPK, Acta d. Königl. Civil-Cabinets, 2.2.1. Nr. 13804. Die Kreisstände hatten nur einen Kandidaten genannt und mit 15 von 25 Stimmen gewählt. Die anderen Kandidaten werden nur wegen der „vorschriftsmäßigen Omnizahl" hinzugefügt, wobei der zweite Regierungsassessor aus Münster, der dritte Lavergne war. 105

106

107

Letkemann, S. 140.

Georg Becker, S. 45. Georg Becker, S. 46. 109 Georg Becker, S. 46. 110 Georg Becker, S. 46, die erwähnten Dokumente stammen zwar erst aus dem Jahre 1841; der Vorgang der Zwangsvollstreckung 1836/1837 dürfte jedoch damals der Öffentlichkeit nicht zu verheimlichen gewesen sein. 108

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

50

V. Rochows Hinweis auf die miserable Reputation des Kandidaten belegt gleichzeitig, dass es gegen die Eignung Lavergnes von seiner Seite keine Einwände gab. Auch v. Rochow konnte diese Tatsache offenbar nicht ignorieren. Hätte Lavergne den Befähigungsnachweis erhalten, ohne die entsprechenden Leistungen vorweisen zu können, wäre v. Rochow mit Sicherheit darauf eingegangen, denn er war einer derjenigen, die die Degenerierung der LandratsEignungsprüfung zur Formalie zu bekämpfen versuchten. 111 Lavergnes Eignung für das Landratsamt wurde überdies in der oben genannten Beurteilung durch die Danziger Regierung bereits bestätigt. Damit besaß er den Befähigungsnachweis, den die preußischen Behörden als ausreichend für einen Landratskandidaten erachteten und mit dem Kenntnisse der Verwaltung, gewisser Rechtsfragen und auch Sprachkenntnisse bestätigt wurden. 1837 erinnert sich Lavergne: „Nachdem Se. Majestät der König dem zweiten Candidaten die Bestätigung erteilt, ward mir von der Königlichen Regierung zu Danzig die Befähigung zur Verwaltung einer Landrathsstelle auch in Beziehung auf die polnische Sprache bescheinigt." 112 Lavergne gab den Wunsch, Landrat zu werden, nicht auf. Eine Bewerbung im Jahr 1837, wobei allerdings nicht ersichtlich ist, um welches Landratsamt er sich damals bewarb, und drei Jahre später in Gumbinnen belegen dies. Außerdem baute er sich zielstrebig Verbindungen zu anderen Landräten und Kreisverwaltungen auf. Als Anlage zu der Bewerbung von 1837 finden sich Atteste der Landräte v. Berg und Bliedow, die darauf hindeuten, dass Lavergne sich offenbar für verschiedene Tätigkeiten zur Verfügung gestellt hatte. Während der einflussreiche Ortelsburger Landrat Fritz v. Berg 113 seine wirtschaftlichen und verwaltungstehnischen Kenntnisse lobte 114 , standen für Landrat Bliedow die sittliche Unbescholtenheit des Kandidaten sowie dessen Interesse für die kreisständischen Angelegenheiten im Vordergrund. Besonders erwähnte er aber den wirkungsvollen Einsatz Lavergnes bei der Bekämpfung der Cholera in seinem Landkreis. 115

111

Das belegt ein Brief, den er 1842 in dieser Angelegenheit an den König richtete, GStaPK, I. HA, Ministerium des Innern, Rep. 77, Tit. 136, Nr. 8, Bd. 7, Brief v. Rochows an den König vom 10.1.1842. 112 Laut Fußnote Georg Becker, S. 44, aus einer „Abschrift aus den Akten der Präsidial-Registratur der Königlichen Regierung zu Königsberg, jetzt Allenstein, 1837, Litt. P. Nr. 16". Dass Lavergne in diesem Zitat schreibt, der zweite Kandidat sei vom König bestätigt worden, muss ein Irrtum sein, da Letkemann, Verwaltung Danzig, seine Information aus den zeitgenössischen Akten entnimmt, nach denen v. Platen die erste Stelle auf der Kandidatenliste innehatte. 113 Altpreußische Biographie, Bd. I, S. 49: V. Berg wurde im Volksmund der „König von Masuren" genannt. 114 Georg Becker, S. 45. 115 Georg Becker, S. 45.

Π. Erste berufliche Erfahrungen

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Verbindungen pflegte Moritz v. Lavergne-Peguilhen in diesen Jahren auch zur Regierung von Königsberg, wo er von August 1837 bis März 1838 für die Abteilung des Innern tätig war. Nach der Beurteilung seines damaligen Vorgesetzten, Regierungsrat v. Blumenthal, bewies er dabei „eine Masse von Kenntnissen und eine Fülle von Ideen". 116 Welche seiner Tätigkeiten in diesen Jahren den höchsten Stellenwert hatte, verrät ebenfalls die schon mehrfach erwähnte Bewerbung aus dem Jahre 1837: „Durch das Studium der französischen und englischen Literatur und durch den beständigen Unterricht meines Vaters vorbereitet, durch die Schriften von Adam Smith, Kraus und Say, wie durch Kreis- und Provinzialständisches Leben angeregt, ist ein lebendiges Interesse für die höheren staatswirthschaftlichen Fragen in mir erwacht; ich habe die wissenschaftliche Feststellung einer Parallele zwischen Land- und Staatswirtschaft, der Beziehungen und Wechselwirkungen, in welchen beide zueinander stehen, zur Aufgabe meiner Mußestunden gemacht, und hoffe als Landrath mehr Gelegenheit zu umfassenden Beobachtungen, denn als Landwirth zu haben". 117 Im letzten Satz klingt dabei auch einer der Gründe an, warum sich Lavergne wiederholt und hartnäckig um einen Landratsposten bewarb. Die kurz hintereinander folgenden Anläufe in verschiedenen Kreisen lassen die Annahme zu, dass dabei der Ort keine Rolle spielte. So wie Lavergne die Möglichkeiten, die er als „Kreischef 4 zu haben glaubte, umriss, sah er das Landratsamt und den Landkreis als eine Art staatswissenschaftliches Experimentierfeld, auf dem sich ihm im Kleinformat die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen, mit denen er sich damals im Zuge der Arbeiten an den „Grundzügen der Gesellschaftswissenschaft 44 intensiv beschäftigte, erschließen würden. Von den zahlreichen „Ressorts", die das umfangreiche Aufgabenfeld des Landrats ausmachten und der damit verbundenen Machtposition, die diese Zwischenstellung zwischen gewähltem Mandat und Verwaltungsbeamten 118 in Preußen bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein auszeichnete, ist in diesem Passus nicht die Rede. Das dürfte aber ein weiteres Antriebsmoment für Lavergne zur Fortsetzung seiner Bestrebungen gewesen sein. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass Moritz v. Lavergne-Peguilhen neben seiner Beschäftigung bei der Regierung in Königsberg, gelegentlichen Einsätzen in „Kreissachen 44 innerhalb der Provinz und der Bewirtschaftung seines Ritterguts so viele „Mußestunden" für die

116

Georg Becker, S. 45. Georg Becker, S. 44. 118 Bleek, S. 121, bezeichnet das Landratsamt als „Institution, die sowohl staatliche Exekutive als auch ständische Repräsentation umschloß." 117

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Arbeit an seiner ersten großen Veröffentlichung hatte, dass im Jahr 1838 der erste Band der „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" bei Bornträger in Königsberg erscheinen konnte. Ein Rittergut, ein Landratsamt und genügend Zeit zum Schreiben über seine sozialtheoretischen Ideen, so könnte man die Lebensziele Moritz v. Lavergne-Peguilhens am Vorabend des Erscheinens der „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" beschreiben. Will man ihn nach den wenigen Informationen über sein bisheriges Leben zusammenfassend charakterisieren, so entsteht das Bild eines zielstrebigen, nach guter Schulbildung zunächst an praktischer Ausbildung und materiellem Wohlstand interessierten Mannes. Aber auch das wird deutlich: Er war eine Persönlichkeit, die polarisierte. Während der liberale Innenminister v. Rochow alles daransetzte, den zielstrebigen Mann aus Ostpreußen aus dem preußischen Landratsamt fernzuhalten, genoss Lavergne in den konservativen Verwaltungskreisen um Danzig und Königsberg höchste Wertschätzung. Dies ist schon ein Hinweis darauf, dass er sich die Argumentation der vernunftrechtlichen und liberalen Staats- und Gesellschaftslehre nicht zu eigen gemacht haben kann. Erst in seiner Berufspraxis entdeckte Lavergne das Interesse an sozialtheoretischen Fragen. Andererseits hatte ihn der Vater bereits früh für diese Fragestellungen sensibilisiert und zur Lektüre angeleitet. Die vernunftrechtlichen und liberalen Standardwerke der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eröffneten ihm den Zugang zum aktuellen wissenschaftlichen Diskurs. Die Schriften von Smith, Kraus und Say sollten jetzt die Blaupause für die Erkenntnisse sein, die er aus seinen Erfahrungen als Landvermesser, Landwirt, Kreistagsmitglied und Mitarbeiter in der Provinzialverwaltung gezogen hatte.

I I I . Voraussetzungen für die „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft"

1. Befreite Bauern, arme Bauern Im Frühjahr 1838 erschien der erste Band der „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" von Moritz v. Lavergne-Peguilhen im Verlag Bornträger in Königsberg. In dem Band mit dem Titel „Die Bewegungs- und Produktionsgesetze" stellte der 37-jährige Rittergutsbesitzer seine Überlegungen zu einer Wissenschaft von der Gesellschaft der Öffentlichkeit vor. Darin entwickelte er seine Vorstellungen von einer auf statistischer und historischer Grundla-

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

53

ge beruhenden voraussetzungslosen Wissenschaft, die den Naturgesetzen ähnliche Gesetzmäßigkeiten für die Gesellschaft, den Staat und die Wirtschaft erforschen und zur Anwendung bringen sollte. Der drei Jahre später erschienene zweite Band „Die Kulturwissenschaft" enthielt neben der Darstellung eines sehr weit gefassten Kulturbegriffs auch eine Pauperismustheorie sowie eine kritische Auseinandersetzung mit den von ihm rezipierten zeitgenössischen Sozial- und Wirtschaftstheorien. Vorgesehen war noch ein weiterer Teil, in dem speziellere Bereiche der Kulturwissenschaft behandelt werden sollten, sowie ein Band über die „Staatswissenschaft". 119 Beide erschienen jedoch nicht, weil Lavergne nach seinem Eintritt in die Provinzialpolitik Ende 1840 den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die praktische Umsetzung seiner Ideen verlegte. 120 Ohne die soziale Ausnahmesituation, die Lavergne in den 30er-Jahren direkt vor seiner Haustür erlebte, hätte es keinen Sozialschriftsteller namens Moritz v. Lavergne-Peguilhen gegeben. Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Hoffnungslosigkeit waren auch in Ostpreußen das scheinbar unausweichliche Schicksal breiter Bevölkerungsgruppen. Die Forschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten intensiv vor allem unter sozial- und wirtschaftshistorischen Aspekten mit dem Phänomen und den Ursachen des Massenelends beschäftigt, das unter dem Begriff Pauperismus in die Literatur Eingang gefunden hat. 121 W i l l man deren Ergebnisse zusammenfassen, so stößt man auf ein Ursachenbündel, dessen einzelne Faktoren regional unterschiedlich zu gewichten sind. 1 2 2 Bevölkerungswachstum, die industrielle Revolution in England und die daraus resultierende Überbesetzung des Handwerks in den deutschen Ländern sowie die einschneidenden Veränderungen bei den Eigentumsverhältnissen durch Landreformen führten zu einer Nahrungskrise, die durch die steigenden landwirtschaftlichen Erträge und die einsetzende Industrialisierung nicht aufgefangen werden konnte. 123

119

Lavergne, Grundzüge I, S. IX. Lavergne, Landgemeinde, S. XI. 121 Zur Genese des Begriffs bes. Conze, Art. Proletariat, S. 27-68; Conze, Staat, S. 67; Darstellungen unterschiedlicher Aspekte der Entwicklung des „Proletariats" in Deutschland von Kukowski, Pauperismus; Kukowski, „Pauperismus"; Abel·, Köllmann\ 120

Matz; Tebarth. 122

Die umfangreiche Literatur zum vormärzlichen Pauperismus in Deutschland hat Marquardt, S. 77-89, zusammengestellt. 12 Die These Abels von der letzten agrarischen Hungerkrise kann also nicht stehen bleiben. So auch Siemann, Staatenbund, S. 152. Weitere Literaturhinweise bei Kriedte; mit dem ebenfalls nicht haltbaren eingeengten Blick auf die Überbevölkerung Matz, S. 18 f.

54

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Im östlichen Preußen sind die Hauptursachen für das Massenelend in erster Linie bei den alle Bereiche des öffentlichen Lebens durchdringenden Verwaltungsreformen der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu suchen.124 Hinzu trat besonders im Osten verstärkt ein überproportionales Anwachsen der Bevölkerung. 125 Landreform und Einführung der Gewerbefreiheit sorgten vor allem für die Auflösung lange vorhandener ständischer Strukturen von Zusammengehörigkeit, gesetzter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung, ohne dass neue, dem Individuum ähnliche Sicherheit bietende, an ihre Stelle traten. 126 In den ländlich strukturierten Gebieten Ostelbiens löste die Veränderung der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande und die dadurch bedingte Freisetzung tausender Arbeitskräfte eine Armut bisher unbekannten Ausmaßes aus. Diese Entwicklung stand im krassen Gegensatz zur offiziellen Darstellung, nach der die Separationen gerade den unterbäuerlichen Schichten die meisten Vorteile gebracht hätten. In Wirklichkeit entwickelte sich hier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue abhängige Arbeiterklasse der Insten, die sich vor allem durch zunehmende Unfähigkeit auszeichnete, ihre Lebenshaltungskosten selbst zu erwirtschaften. 127 Im „typischen Arbeitsverhältnis der ostelbischen Landwirtschaft" konnte der Gutsbesitzer jederzeit die frei geschlossenen Arbeitsverträge zu seinen Gunsten modifizieren. 128 Die Masse der ländlichen Bevölkerung Ostelbiens gehörte damit zu den Verlierern der Agrarreform. Die aus ihren Dienstpflichten befreiten Landarbeiter, Pächter und Kleinstbauern waren mehrheitlich nicht in der Lage, das Land zu erwerben, auf dem sie gearbeitet hatten. Auf der anderen Seite entstand in dieser Region keine Infrastruktur zur Aufnahme des freigewordenen Arbeitskräftepotentials. Die sozialen Folgen dieser Entwicklung waren in den 30er- und verstärkt in den 40er-Jahren beinahe an jeder Straßenecke sichtbar: bettelnde Frauen, Kinder und Krüppel bestimmten das Straßenbild jeder grö-

124

125

Koselleck, S. 97 ff.

Die Bevölkerung Preußens wuchs von 1819 bis 1849 von 10,3 auf 16,3 Millionen. Von 1778 bis 1811 hatte das Wachstum nur ein Drittel betragen; zu den Folgen dieser Entwicklung auch Frevert, S. 119; Koselleck, S. 503, weist auf die hohen Kinderzahlen in den von Ehebeschränkungen ausgenommenen bäuerlichen Unterschichten hin. 126 Zu den Zusammenhängen Schissler, Agrargesellschaft, S. 177 ff.; Berding, passim. 127 Schissler, Agrargesellschaft, S. 181; Koselleck, S. 97, spricht von der großen „Masse der ländlichen Unterschicht", die „1811 weder vorhergeplant noch vorausgesehen" worden sei. 128 Schissler, Agrargesellschaft, S. 177: Ihre Entlohnung erfolgte über Landnutzung, Deputate und Natural- und Anteilsentlohnung.

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

55

ßeren Gemeinde 129 ; nur rund zwei Drittel der Neugeborenen und Kleinkinder in Preußen hatten in diesem Zeitraum eine Chance zu überleben, wobei die Sterblichkeitsraten zwischen den westlichen und östlichen Landesteilen um rund acht Prozent divergierten - im Westen starben rund 26 Prozent, im Osten über 34 Prozent. 130 Besitzlose Landarbeiter standen Schlange um jede Arbeit als Tagelöhner, während die Familien sich in Extremfällen mit zwei anderen ein kleines Häuschen mit zwei Stuben teilen mussten. 131 Innerhalb von drei Jahrzehnten hatte ein gigantischer Umschichtungsprozess die ländliche Bevölkerung Preußens „für immer in die beiden Klassen der Besitzenden und der Proletarier" aufgespalten. 132 2. Der Wandel zum Konservativen Rückblickend beschrieb Lavergne seine Reaktion auf diese Zustände als die eines landwirtschaftlichen Praktikers, der angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme in seiner Umgebung mit wachen Sinnen und Lebenserfahrung die Theoriegebäude der liberalen Staats- und Wirtschaftswissenschaft einreißen wollte: „Der praktische Geist des Landmannes konnte es indessen bei der bloßen Kritik nicht bewenden lassen. Er mußte bald auf Mittel denken, wie dem steten Anwachsen des Proletariats, den Dismembrationen, dem Güterschacher, der Güterbelastung entgegenzuwirken, die Familie und die Wirthschaft wiederum enger an einander zu ketten, die mächtige Staatskraft sich productiv zu erweisen habe." 133 Lavergne war überzeugt, die an der Praxis geschulte Sichtweise des Rittergutsbesitzers habe ihn letztlich davor bewahrt 1 3 4 , sich weiterhin zu den in Ostpreußen durch Christian Jakob Kraus an der Universität Königsberg schon an der Wende zum 19. Jahrhundert rezipierten Ideen von Adam Smith und Jean-Baptiste Say zu bekennen 135 , wie er das als junger Mann ohne eigenen Landbesitz getan hatte. 136

129 130

131

ff.

132

133

Zu den Erscheinungsformen von Armut Jantke; vgl. Noth, S. 478-480. Lee,S. 162.

Eine detaillierte Darstellung der Erscheinungsformen von Armut bei Lutz, S. 113 R. Stein, Bd. 3, S. 454.

Lavergne, Land, S. 132. Lavergne, Landgemeinde, S. IV. 135 Vgl. Georg Becker, S. 44. 136 Lavergne, Staatslehre, S. 93: Hier bekannte er, dass er bis zum Kauf seines ersten Gutes 1826 „entschiedener Anhänger der Lehren Adam Smiths, wie sie durch Kraus und v. Auerswald weiter entwickelt worden" gewesen war, „daß aber das Studium des schon damals und wiederholt in den dreißiger und vierziger Jahren hervorgetretenen Nothstandes meine Überzeugung von der Einseitigkeit und Irrigkeit dieser Lehren fest begründet hat." 134

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

56

Er verteidigte diesen Wandel vom Liberalen zum Konservativen als einen Heilungsprozess und die Fähigkeit zur notwendigen Einsicht, weil „die Bewirthschaftung eines größeren Landgutes Gelegenheit bietet, das Leben in seinen mannichfachsten Verzweigungen, so wie den Einfluß der Gesetzgebung auf dasselbe kennen zu lernen, wodurch alle noch heilbarenAnhänger der Doctrin dann in Reaction gegen die Herrschaft derselben treten müssen". 137 So sah sich Moritz v. Lavergne-Peguilhen durch seine soziale Stellung und die damit notwendig verbundenen Erfahrungswelten in gewissermaßen natürlicher Opposition zur liberalen „Doctrin" 138 . Die Entwicklung des Liberalismus musste Lavergne besonders bedrohlich erscheinen, da in seiner ostpreußischen Nachbarschaft immer mehr Gutsbesitzer mit liberalen Positionen sympathisierten. Diese Gruppe von freiheitlich gesinnten, agrarkapitalistisch produzierenden Großgrundbesitzern formierte sich um den einflussreichen Oberpräsidenten der Provinz Preußen, Theodor v. Schön. 139 Sie vertrat zusammen mit dem Königsberger Handels- und Industriebürgertum 140 das gesamte liberale Meinungsspektrum des Vormärz, das definitorisch nur schwer greifbar ist. 141 Ihre politischen Forderungen waren - in Abstufungen und mit unterschiedlicher Radikalität - die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, eine demokratische Landgemeindeordnung sowie eine gesamtpreußische Konstitution als Grundlage einer konstitutionellen Monarchie. 142 Auch Pressefreiheit, gewählte Landtage mit Entscheidungs- und Gesetzgebungskompetenz, Freizügigkeit bei der Wahl des Wohnsitzes, allgemeines und gleiches Wahlrecht sowie Gewaltenteilung wurden für einen Teil der ostelbischen Elite geläufige politische Formeln. 143 Gewerbefreiheit bei Abschaffung von berufsständischen Korpora-

137

Lavergne, Doctrin und Verwaltung, S. 471; ähnlich Gneist, S. 44: „Conservativ wird der, welcher das Vertrauen und die Achtung seiner Mitbürger erworben hat, und welchem in langer Wirksamkeit seine Umgebungen theuer geworden sind". 138 „Doctrin" und Liberalismus gebrauchte Lavergne meist synonym, vgl. seine Aufsatzserie über die „Doctrin" in BR, Bd. I ff. 139 Schuppan, S. 58, sah als ihre Wortführer Ernst v. Saucken-Tarputschen, Magnus v. Brünneck, Rudolf und Alfred v. Auerswald und Kurt v. Bardeleben; vgl. W. Obenaus, Gutsbesitzer-Liberalismus, S. 304-328. Belke, S. 53.

141

„Because liberalism always meant different things to different people, it is impossible to define simply." Sheehan, Liberalism, S. 5. 142 So weit ging jedenfalls die Gruppe um Schön, dem seinerseits die englische Verfassung als Vorbild vorschwebte, Schuppan, S. 58. 143 Auf die regionalen Unterschiede bei der Entwicklung des Liberalismus verweist Langewiesche, Liberalismus und Region, S. 2 f. Er spricht von „Liberalismen" als dem „historischen Variationsreichtum des Liberalismus innerhalb der einzelnen Nationalgeschichten"; allgemeine Darstellungen der politischen Kernforderungen des deutschen Liberalismus Langewiesche, Liberalismus S. 20 ff.; zur Schwierigkeit der Definition Sheehan, German Liberalism, S. 5 f.

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

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tionen und Aufhebung der Zollschranken kamen als Grundparameter des Wirtschaftsliberalismus hinzu. Dies ist der Katalog der liberalen Forderungen, die Lavergne, abgesehen von der Pressefreiheit, von der ersten bis zu seiner letzten Veröffentlichung bekämpfte. Es wäre allerdings falsch zu behaupten, jeder bürgerliche Liberale in Preußen hätte diese Forderungen uneingeschränkt geteilt - von den westlichen Provinzen über Brandenburg, Sachsen, Westpreußen, Posen bis ins östliche Ostpreußen hatte der preußische Liberalismus so viele Gesichter, dass Dieter Langewiesche von der „Fiktion" des preußischen Liberalismus spricht. 144 Dem freien Handel mit Grundeigentum und seiner Realteilung im Erbfall, vom bürgerlichen Liberalismus gefordert, konnten beispielsweise die wenigsten adeligen Liberalen zustimmen. 145 Trotz der Gegnerschaft zu liberalen Positionen behielten die Ideen von der Freiheit des Individuums im politischen und wirtschaftlichen Raum für die Gesellschaftstheorie Moritz v. Lavergne-Peguilhens eine bemerkenswerte Inhärenz. Obwohl er sie einerseits als doktrinär, zerstörerisch und kontraproduktiv bekämpfte 146 , finden sie sich andererseits in seiner eigenen Theorie als Idealvorstellungen am Ende einer sich in mehreren Entwicklungsstufen vollziehenden gesellschaftlichen Entwicklung wieder. 147 Erst in einer Gesellschaft, in der sich alle Elemente auf der höchsten Entwicklungsstufe befinden, waren für Lavergne individuelle Freiheit, Gewerbefreiheit und Demokratie ohne die Gefahr des Missbrauchs möglich. 3. Pauperismus als ökonomisches und kulturelles Strukturproblem Lavergne fragte nun, auf welche Weise die besorgniserregende soziale Realität seiner Gegenwart diesem Idealzustand 148 näher gebracht werden könnte. Dafür begab er sich zunächst auf die Suche nach den Ursachen für die sozialen Missstände. Als ein Mann, dem bewusst sein musste, dass er seine eigene Existenz als Rittergutsbesitzer letztlich der liberalen Reformgesetzgebung verdankte, richtete Lavergne seine Kritik nicht gegen die Agrarreformen selbst. Sie markier-

144

Langewiesche, Liberalismus und Region, S. 10, schließt daran die Forderung, die Frage nach dem preußischen Liberalismus sei regionalgeschichtlich aufzufüllen. 45 H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 314: Theodor von Schön war beispielsweise für die Beibehaltung der Ausnahmestellung adeliger Grundbesitzer in der Gemeindeordnung; vgl. Belke, S. 55; Dipper , Adelsliberalismus, S. 185 f., hebt den Einsatz der Adelsliberalen für die Beibehaltung der Fideikommisse hervor. 146 Lavergne, Grundzüge I, S. If, S. VI, S. 350; Π, S. 208, 209. 147 Lavergne, Grundzüge II, S. 185ff. 148 Lavergne, Grundzüge Π, S. 46.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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ten für ihn den notwendigen Übergang von der feudalen Tausch- zur kapitalistischen Geldwirtschaft, der die Landwirtschaft an die Veränderungen im entstehenden kapitalistischen Wirtschaftsgefüge anpassen sollte. 149 Für die Zunahme der Armut breiter Bevölkerungsschichten sowie die Unfähigkeit von Bauern und Grundbesitzern, ihr Eigentum zu halten 150 , machte Lavergne vielmehr die hinter den Reformen stehende liberale Theorie verantwortlich. Er argumentierte, dass auf der falschen Grundlage von Liberalismus und Naturrecht zwar vordergründig richtige Maßnahmen ergriffen worden seien, aus denen aber resultierten schließlich so zerstörerische Entwicklungen wie Pauperismus und Überschuldung von Grundeigentum resultierten. 151 Letztlich erwachse auf diese Weise eine neue revolutionäre Gefahr. 152 Gleichzeitig sah er diese Gefahr auch als Resultat der Französischen Revolution und der sich in ihrem Gefolge durchsetzenden ökonomischen Theorien. Die Massenarmut war für Lavergne der sichtbare Beweis für nicht vorhandenes wirtschaftliches Gleichgewicht in der Gesellschaft. 153 „Wo daher der Centralisationstendenz des Vermögens durch irrige Staatswirthschaftstheorieen noch Vorschub geleistet wird, wo die gesellschaftlichen Kräfte im zügellosen Kampfe sich aufreiben", könnten die unteren Gesellschaftsschichten nicht entwickelt werden. 154 Ungezügeltes BevölkerungsWachstum bei hoher Kindersterblichkeit 155 , Kriege und eine steigende Zahl von unterbezahlten Proletariern seien als Folge dieser Entwicklung eine statistisch nachgewiesene Realität. 156 Armut in allen ihren Erscheinungsformen stellte für Lavergne das größte strukturelle Problem auf dem Weg in den Kulturstaat dar: „Nichts hindert jeden Kulturfortschritt mehr als Schmutz und Lumpen". 157 Auch die Armut entwickle sich in mehreren Stufen. Auf die „Erwerbslosigkeit" 158 folgte nach Lavergnes Vorstellung notwendigerweise „Nahrungslosigkeit" 159 , wenn die wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen auf falschem theoreti149 150

151

Lavergne, Grundzüge Π, S. 84, 201, 213. Koselleck, S. 504 f.

Lavergne, Grundzüge Π, S. 221. Lavergne, Grundzüge Π, S. 284. 153 Lavergne, Grundzüge Π, S. 282-307. 154 Lavergne, Grundzüge Π, S. 93 f. 155 Lavergne, Grundzüge Π, S. 237: „Heut überläßt man es dem Tode, sich seine Opfer selbst zu wählen, und dieser läßt sich durch keine ärztliche Künste zurückhalten, da er bereits im ersten Monat nach der Geburt den zehnten Theil der Gebornen wieder hin wegrafft". S. 238 ff. beschäftigt er sich intensiv mit dem aktuellen Stand der Kinder-sterblichkeitsforschung auch unter dem Aspekt des Geschlechts. 156 Lavergne, Grundzüge Π, S. 228 ff. 157 Lavergne, Grundzüge II, S. 93. 158 Lavergne, Grundzüge Π, S. 295 ff. 159 Lavergne, Grundzüge Π, S. 301 ff. 152

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

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schem Fundament standen.160 Daraus konnten parallel auch „geistige", „sittliche" und „politische Armut" als mit der materiellen Armut verbundene ideelle Mangelzustände entstehen.161 Ernährung, Bewegung, Medizin, Bewahrung und Wachstum der Bevölkerung sind in der Lavergneschen Theorie die Mittel zur Erhaltung und Entwicklung des Menschen und der Menschheit. Diesen Anforderungen müssten „die Gesetze der sinnlichen Kultur" angepasst werden. In den Bereich der „sinnlichen Kultur" gehörte nach Lavergnes Verständnis alles, was die körperlichen Bedürfnisse des Menschen befriedigt und damit auch das Pauperismusproblem als drastischer Ausdruck von nicht befriedigten körperlichen Bedürfnissen einer großen Zahl von Menschen. 162 Großen Raum nahm dabei auch das „Turnleben" als frühzeitig zu beginnende Schulung von „Körperstärke und Gewandtheit", als Ausgleich zur aufreibenden körperlichen wie geistigen Erwerbstätigkeit und als Grundlage zur Schaffung einer „wehrhaften" Bevölkerung ein. 163 Er dachte in diesem Zusammenhang sogar an „Spiele, nach Art der olympischen", die schließlich eine vom Kind bis zum Greis durchtrainierte und gesunde Bevölkerung schaffen sollten, wobei diesmal die Frauen, allerdings unter Hinweis auf die organischen „Gegensätze" und die unterschiedliche „Bestimmung" von Mann und Frau, nicht ausgenommen wurden. 164 Die sinnliche Kultur findet ihre Abrundung im „höheren Sinnlichkeitsleben" durch die Möglichkeit des Genusses der Schönheit in Natur, Kunst, Poesie, Architektur, Musik und Tanz, den der Staat „allen Klassen der Nation" zugänglich zu machen habe. Das könne ihm nur gelingen, wenn der Pauperismus schon im Ansatz verhindert werde. 165 Werde den Menschen das für ihre Kulturstufe notwendige Maß an ökonomischen und sinnlichen Gütern vorenthalten, könnten sie also ihre geistigen und körperlichen Bedürfnisse nicht befriedigen, „so entsteht ein Krankheitszu160

Lavergne, Grundzüge Π, S. 290 f., S. 293: „Hier offenbart sich der Fluch irriger oder einseitiger Staatswirthschaftstheorien". 161 Lavergne, Grundzüge Π, S. 128 f., Zitat S. 129. Während geistige Armut den Mangel an Kulturerzeugnissen, sittliche das Fehlen moralischer Werte und moralischen Verhaltens bezeichnete, beschrieb Lavergne den Begriff „politischen Armut" wie folgt: „Endlich muß auch der dem Individuum zu gewährende Antheil am Gemeinvermögen nach Maaßgabe des Kulturstadiums bestimmt werden. Wird das hieraus sich ergebende Vermögensbedürfniß nicht befriedigt, so entsteht politische Armuth." 162 Lavergne, Grundzüge Π, S. 224 ff. 163 Lavergne, Grundzüge Π, S. 361 ff. 164 „Aber auch die körperliche Ausbildung der Frauen ist ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit, ohne dessen eifrige Wahrnehmung alle Anstrengungen für Steigerung der sinnlichen Nationalkultur scheitern müssen." Lavergne, Grundzüge II, S. 365. 165 Lavergne, Grundzüge Π, S. 364 f.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

60

stand, den wir durch Armuth bezeichnen".166 Liege der Grund dafür in Krankheit oder Gebrechlichkeit, führe das zu natürlicher Armut, seien äußere Gründe verantwortlich, zu künstlicher Armut: „Sobald der Gütermangel in der aus Krankheit oder Gebrechlichkeit hervorgehenden Erwerbsunfähigkeit seinen Grund hat, so bildet sich die natürliche Armuth, im Gegensatz zur künstlichen Armuth. Diese setzt volle Erwerbsfähigkeit voraus, deren Bethätigung durch Störung des Productionslebens, mangelhafte Thätigkeitsanregung, zügellose Konkurrenz, Verschuldung, Steuerüberbürdung, übermäßige Geldpreise, Gewerbsunfreiheit etc. gehindert werden." 167 Dieser „Krankheitszustand" war nach Lavergnes Überzeugung mit der Übernahme liberaler ökonomischer Ideen in die Praxis, also mit den Agrarreformen und der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen eingetreten. 168 Seitdem fehle den Menschen die „Erwerbssicherheit", d. h. die Sicherheit, mit dem Verdienst aus ihrer Arbeit oder dem Profit aus eigener Landwirtschaft, aus Gewerbe oder Handwerk ihre Bedürfnisse befriedigen zu können. Deshalb war auch der Zusammenhang zwischen Beschäftigung 169 und Konsum 170 für Lavergne bedeutsam für die Entstehung und Behebung von Arbeitslosigkeit und nicht das von vielen Konservativen dafür zur Verantwortung gezogene „Maschinenwesen" 17 '.Für Lavergne waren übersteigerte Konkurrenz, Arbeitsteilung und Einseitigkeit (als Gegensatz zur organischen Harmonie) als Charakteristika der liberalen Ökonomie die Quellen des Pauperismus. 172 Sie seien dafür verantwortlich, dass ein viel zu großer Teil der Bevölkerung auf Dauer vom ehrlichen Broterwerb abgeschnitten war. Dabei hielt Lavergne eine periodische Erwerbslosigkeit eines Teils der arbeitenden Bevölkerung und das Absterben bestimmter Wirtschaftszweige zugunsten „neuer und kräftiger Schößlinge" für eine Gesetzmäßigkeit innerhalb der organischen Gesellschaftsentwicklung. 173 Das Zahlen Verhältnis zwischen Produzenten und Erwerbslosen, das für die verschiedenen Gesellschaftszustände tragbar ist, müsse allerdings erst erforscht werden. 174

166

Lavergne, Grundzüge Π, S. 127. Lavergne, Grundzüge Π, S. 127; ähnlich S. 180;. Zur geläufigen Verwendung des Begriffs der „künstlichen Armut" als Unterscheidungsmerkmal des Pauperismus von der traditionellen Form der Armut vgl. Kukowski, Pauperismus, S. 465 f. 168 Lavergne, Grundzüge II, S. 284 f. 169 Lavergne, Grundzüge Π, S. 296. 170 Lavergne, Grundzüge Π, S. 294. 171 Lavergne, Grundzüge Π, S. 213, 297. 172 Lavergne, Rezension zu List, „System", Sp. 157. 173 „Es ist dies ein unvermeidliches Gesetz, und wo dasselbe nicht in Erfüllung geht, da bekundet dieses einen stagnirenden Gesellschaftszustand [...], der endlich in Verwesung übergehen muß", Lavergne, Grundzüge Π, S. 296, ähnlich S. 298. 174 Lavergne, Grundzüge Π, S. 297. 167

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

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Dass er andererseits das in der Produktivität der industriellen Fertigung unterlegene Handwerk durch ausgleichende Steuerpolitik vor dem Untergang bewahren wollte, stand für ihn nicht im Widerspruch zu diesem nur wenige Seiten vorher formulierten „Gesetz", aus dem er auch die Notwendigkeit zur „freien Entwicklung der Maschinenarbeit" ableitete. Diese wiederum wollte er ebenso wie die „wahre Gewerbefreiheit" als „mächtigste Schutzwehr wider den Pauperismus" verstanden wissen. 175 Diese Lavergnesche Version der Gewerbefreiheit konnte allerdings erst dann eintreten, wenn alle Gewerbe nach ihrer Produktionskraft besteuert würden, d. h. wenn die Produktionskosten für den kleinsten Handwerksbetrieb und die größte Fabrik über unterschiedliche Besteuerung angeglichen würden. Nur so hatte der ökonomische Wettbewerb für Lavergne keinen zerstörenden, den Pauperismus fördernden Charakter. „Eine Zeit, in der die Wissenschaft ungeachtet der sozialen Zerrüttung, welches jenes zügellose Walten [der Konkurrenz, A. S.] zur Folge hat, immer noch behaupten darf, daß auf demselben die sicherste Bürgschaft steigenden Nationalwohls beruht, und in der die große Masse der Gebildeten jene Lehren immer noch mit gläubiger Zuversicht nachbetet, darf wenigstens nicht beanspruchen, bis zum Stadium des kritischen Denkens vorgeschritten zu sein." 176 Ohne Einschränkung machte sich der Rittergutsbesitzer im Kampf gegen die Massenarmut die liberale Forderung nach Niederlassungsfreiheit 177 zu eigen. „Die Aufhebung aller dem Umzüge der erwerbslosen Familien hinderlichen Staatsinstitutionen" fördere den Erwerb, da nur durch die Freizügigkeit die Arbeitsuchenden „der Industrie nachfolgen" könnten. 178 Unabhängig von allen, die Erwerbstätigkeit der „Produzenten" - so bezeichnete Lavergne neben den Unternehmern auch die abhängig Arbeitenden - begünstigenden Maßnahmen sei jedoch nur der nach wissenschaftlichen Grundsätzen gestaltete harmonische „Gesellschaftsorganismus" in der Lage, die Erscheinungen des Pauperismus zu minimieren und letztlich sogar zum Verschwinden zu bringen. 179 Deshalb lautete das Fazit aus seiner Auseinandersetzung mit dem Pauperismus: „Es bedarf daher keiner besonderen Veranstaltungen zur Heilung des Pauperismus; im gesunden Gesellschaftsleben, und bei philosophischer Lö-

175

Lavergne, Grundzüge Π, S. 297, 299. Lavergne, Grundzüge II, S. 85 f. 177 „Die Heimatrechtsgesetzgebung erschien daher vor allem liberalen Pauperismusautoren als Instrument der Desintegration und Drangsalierung der Unterschichten, als fortwährender Verarmungsquell." Kukowski, Pauperismus, S. 502. 178 Lavergne, Grundzüge II, S. 300 f. 179 Lavergne, Grundzüge Π, S. 301. 176

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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sung der großen Staatsaufgaben wird diese Krankheit gar nicht vorkommen." 180 Er forderte damit aber nicht dazu auf, sich zurückzulehnen und auf die Ergebnisse der Gesellschaftswissenschaft zu warten. Akute und aktuell auftretende Nahrungslosigkeit müsse durch die geeigneten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen bekämpft werden, ausufernde Notstandsverhältnisse seien durch Modernisierung der landwirtschaftlichen Anbaumethoden und Diversifizierung der Anbausorten einzudämmen. Diese Forderung enthielt auch die Warnung des Landbauspezialisten Lavergne, die Kartoffel könne nicht die alleinige Lösung des europäischen Notstandsproblems sein, denn Monokultur führe zu Pflanzenkrankheiten und Misswuchs. Ein weiteres Mittel zur direkten Armutsbekämpfung für die Phase der gesellschaftlichen „Heilperiode" sah Lavergne in der Förderung des landwirtschaftlichen Nebenerwerbs für Arbeiter. Außerdem seien in dieser Zeit die traditionellen feudalstaatlichen Mittel zur Bekämpfung von Notständen, „Staatsmagazine und Staatsarbeiten [...] nicht ganz zu entbehren". 181 Bei einem durch ökonomische und kulturelle Strukturen bedingten gesellschaftlichen Problem müssen, so Lavergne, auch die vorbeugenden Maßnahmen beide Bereiche erfassen. Neben der materiellen Absicherung müsse die kulturelle Förderung der Unterschichten vorangetrieben werden. 182 Dafür sei zunächst ein Klima allgemeiner Gerechtigkeit durch Aufhebung von ökonomischen Privilegien bei rechtlicher und ökonomischer Absicherung der Einzelexistenzen über ihre Einbindung in Vereine notwendig. 183 Zur Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer des Menschen als „wichtigster Grundlage der höheren Nationalkultur" 184 hielt der damals noch ledige Gutsbesitzer nicht nur die Beschneidung persönlicher Rechte durch die Erschwerung von Eheschließungen, sondern auch die Beschränkung der Fortpflanzung auf ökonomisch und biologisch besonders geeignete Personenkreise 185 und die Verringerung unehelicher Geburten durch Förderung der Sittlichkeit für notwendig 186 .

180

Lavergne, Grundzüge Π, S. 303. Lavergne, Grundzüge Π, S. 307. 182 Lavergne, Grundzüge Π, S. 231. 183 Lavergne, Grundzüge Π, S. 232. 184 Lavergne, Grundzüge Π, S. 255. 185 Lavergne, Grundzüge Π, S. 240 ff. 186 Lavergne, Grundzüge Π, S. 251 ff., S. 255: „Durch die Ehe und ihre Heilighaltung" sowie Ausschluß der „schwächlichen Bestandtheile der Nation[...] von der Eheschließung", ähnlich S. 262; weitere Beispiele (etwa Schmitthenner, Pauperismus, S. 19 f.; F. Schmidt, Gefahren, S. 446) s. Kukowski., Pauperismus, S. 506 f. mit explizitem Bezug auf Lavergne. 181

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

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Zudem forderte Lavergne den Staat zur „Reinhaltung der Luft" 1 8 7 durch sanitätspolizeiliche Aktivitäten auf. Auch Vorkehrungen zum Arbeiterschutz vor der immer einseitigeren Belastung in der gewerblichen Arbeit und nicht zuletzt die Sicherstellung der Ernährung begünstigten die Entwicklung von gesunden, langlebigen Generationen. Schlussstein dieses gesellschaftlichen Umbaus war für Lavergne die „religiöse Kultur", die er auf ein Niveau der seichten Volksbelustigung bringen wollte, das mit den Heils Vorstellungen des konfessionell orientierten Konservatismus nichts mehr zu tun hatte: Lavergne glaubte, wenn sich erst die Vorstellung vom Christengott als Gott der Liebe durchgesetzt habe, würden „Aberglaube, Mystizismus, Sectirerwesen, Religionshaß und überhaupt jede verfinsternde, Geist und Gemüth beengende Anschauungsweise aus dem Völker-leben verschwinden [...]. Dann wird der Schöpfer des Weltalls durch Frohsinn und Volksfeste verehrt werden, jede Hütte wird von Jubeltönen erschallen und diese werden das wahrhafte Gebet sein. Das geistliche Ministerium wird sich einem Ministerium der Volksbelustigungen anzuschließen haben." 188 Gott war zwar für Lavergne die Kraft, die die ewigen Gesellschaftsgesetze aufsteüte. Er legitimierte aber nicht die Existenz eines Staates oder einer bestimmten Staatsform. Die Menschen konnten nicht durch göttliche Offenbarung, sondern allein durch ihre eigene Kraft und wissenschaftliche Forschung zur Erkenntnis dieser Gesetze und damit ihrer eigenen Vervollkommnung gelangen: „Der Weg zum Himmel führt nur über die Erde und das Gesellschaftsleben. Der un-mittelbare Weg ist aussichtslos."189 Jede Anstrengung zur „Veredelung" der Massen müsse allerdings scheitern, wenn man neben den Maßnahmen zur körperlichen und geistigen Gesundheit des Individuums die an den Bedürfnissen und der Bevölkerungsdichte ausgerichtete Verteilung der erwirtschafteten Güter übersehe. 190 Der den notwendigen Entwicklungsprozess der Nationen behindernde Pauperismus 191 war für Lavergne auch der Ausdruck eines Missverhältnisses „zwischen Empfangen und Gewähren". Denn: „Wo ein Uebermaaß von Kindern, von Kranken und Schwachen, von Verbrechern und Hülfsbedürftigen die Fürsorge der kräftigeren Gesellschaftsglieder in Anspruch nimmt, da wird die Nationalkultur nicht vorschreiten, weil jene des selbstständigen Halts entbehren, und weil diese

187

Lavergne, Grundzüge Π, S. 244. Lavergne bezieht das (S. 245) im städtischen Umfeld auf die „Ausdünstungen und Abfälle der gewerblichen Materialien und Fabrikate". 188 Lavergne, Grundzüge Π, S. 257. 189 Lavergne, Grundzüge I, S. 305. m Lavergne, Grundzüge I., S. 277. 191 Lavergne, Grundzüge Π, S. 284.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

durch ein Übermaaß von Leistungen überbürdet, in der freien Kulturthätigkeit gehindert werden." 192 Wenn er auch die Herstellung des Ausgleichs innerhalb der Gesellschaft zur vordringlichen Aufgabe des Staates machte, so hielt Lavergne doch im Kulturstaat ebenfalls ein gewisses Maß an privater Fürsorge für notwendig und angebracht. Das war Lavergnes Reminiszenz an das „Gemütsleben" des Menschen als notwendigem Bestandteil einer harmonischen Existenz. Private Mildtätigkeit sei auch deshalb bis zu einem gewissen Grade vom Staat zu unterstützen, weil das Individuum eher bereit sei, der moralischen Verpflichtung zur Unterstützung nachzukommen, als ausschließlich durch Steuern staatliche Wohlfahrtspflege zu finanzieren. 193 Von den klassischen Formen organisierter Armenpflege riet er im Falle des Pauperismus - anders als bei der klassischen, natürlichen Armut - ab: Armensteuern bezeichnete er als „Zwangsmildtätigkeit", Armenkolonien als Institutionen zur Aus Wanderungsförderung. 194 4. Konservative Sensibilität für die soziale Problematik Zahlreiche dieser Überzeugungen bis hin zur Revolutionsangst teilte Lavergne mit anderen über die soziale Problematik publizierenden Zeitgenossen. 195 Der Gutsbesitzer gehörte zu einer Gruppe konservativer Schriftsteller in Preußen, die im Vormärz die Armutsfrage und die damit verbundenen Gefahren für den Staat zum zentralen Thema ihrer Schriften machten. Darunter waren viele Vertreter des grundbesitzenden Adels. In Denken, Politik und Publizistik dieser Gruppe erhielt die Lösung der sozialen Frage erste Priorität. 1 9 6 Das geschah nicht nur aus Angst um den Bestand des eigenen Grundeigentums 1 9 7 und seiner Ausnahmestellung 198 , sondern auch aus einem gesamtgesellschaftlichen Interesse heraus. So betonten gerade die gesellschaftstheoretischen Schriftsteller aus der Gutsbesitzerklasse ihre standesübergreifende

192

Lavergne, Grundzüge Π, S. 282. Lavergne, Grundzüge Π, S. 283. 194 Lavergne, Grundzüge Π, S. 336. 195 Bodz-Reymond, Bd. 1, S. 396; Baader, Gedanken, S. 67; zahlreiche weitere Autoren bei Kukowski, Pauperismus, S. 456; Wehler, Bd. 2, S. 281. 196 Zuerst hervorgehoben von Herbergen Beck, Conservatives, S. 63. 197 Koselleck, S. 504 f., nennt Angst vor Unruhen und dem „Begehren nach Grundeigenthum" als Antrieb für die Auseinandersetzung mit Sozialtheorien in Gutsherrenkreisen. 198 Beck, Sozialkonservatismus, S. 59 ff. mit zahlreichen Literaturbeispielen. 193

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Sichtweise. 199 Friedrich August Ludwig v. d. Marwitz sah sich beispielsweise als Kämpfer für die Gerechtigkeit und gegen die Ideen der Aufklärung. 200 Friedrich Heinrich v. Farenheid, zu Fichte konvertierter ehemaliger Kantschüler und unermesslich reicher Grundbesitzer, vertrat die These, dass der bäuerliche Grundbesitz großen Teilen der ländlichen Bevölkerung nur über festgesetzte Mindestgrößen eine Existenz garantiere. 201 Carl v. RodbertusJagetzow, der Enkel des deutschen Physiokraten Johann August Schlettwein, stellte anders als sein Großvater die soziale Problematik in die Zuständigkeit des Staates und erhob die soziale Frage zur Lebensfrage der modernen Zivilisation. 202 Die bekanntesten Vertreter des preußischen Konservatismus gehörten allerdings nicht der Gutsbesitzerklasse, sondern der Bildungselite an. Ein Forum für ihre sozialen Vorstellungen war das „Berliner Politische Wochenblatt". 203 Diese Schriftsteller wollten die soziale Frage gewissermaßen indirekt über die Rückkehr zur Ständegesellschaft und ihren Regulativen lösen. Nach der Auflösung des Wochenblatts 1841 war Josef Maria v. Radowitz der Einzige unter den früheren Herausgebern, der diese Lösung nicht mehr für ausreichend hielt, direkte staatliche Intervention zur Bekämpfung des Pauperismus befürwortete und eine „ständische Erneuerung" ablehnte. 204 Standen die WochenblattHeraus-geber und Radowitz industriellem Fortschritt und Kapitalismus skeptisch bis ablehnend gegenüber, begrüßten andere Protagonisten des vormärzlichen Konservatismus, wie Victor-Aimé Huber und Carl v. Rodbertus-Jagetzow, diese Entwicklungen. 205

199 200

Beck, Sozialkonservatismus, S. 59 ff. Laut Neumann, S. 72 der „lebendigste Repräsentant altständischen Junkertums";

Meusel; vgl. Golz', vgl. auch Carsten, S. 90 ff.; Berdahl, S. 159 f., v. Buttlar. 201

Friedrich Heinrich von Farenheid auf Angerapp (1780-1849), Gutsbesitzer und Pferdezüchter, in Königsberg Kant-Hörer, später Anhänger Fichtes, veröffentlichte u. a.: Die Nachtseite der Zukunft, 1847, Wohlstand eines masurischen Kalkbauern, 1848; zu Farenheid: Anonym, Farenheid. 202 Johann Carl v. Rodbertus-Jagetzow (1805-1875), Gutsbesitzer, Politiker und führender Theoretiker des preußischen Staatssozialismus, Beck, Origins, 1995, S. 93 ff. 203 In seinem Herausgeberkreis taten sich die Brüder Ernst Ludwig und Leopold v. Gerlach, der eine Jurist, der andere Offizier, der Historiker Heinrich Leo, der Jurist Carl Ernst Jarcke, Carl v. Voß-Buch und der spätere preußische Außenminister und wie Voß Freund des Kronprinzen Josef Maria v. Radowitz zusammen, Beck, Conservatives, S. 64. 204 Radowitz , Bd. 4, S. 247 f.; Beck , Origins, S. 69: „In fewer than ten years after the dissolution of the Wochenblatt, the social question had then become the most pressing problem of the day and age for Radowitz". 205 Beck , Conservatives, S. 65; Beck, Origins, S. 60.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

In der Behandlung der Ursachen und der notwendigen Vorbeugungs- und Kampfmaßnahmen gegen die Massenarmut unterschied sich Lavergne allenfalls in Nuancen vom Gros der konservativen Sozialschriftsteller. Auch dass er gelegentlich liberale Positionen übernahm, wie etwa in der Frage der Niederlassungsfreiheit, war in einer Zeit ohne klar getrennte politische Lager gerade in der Pauperismusdiskussion durchaus üblich. Insgesamt wurde die Frage nach den Ursachen des Pauperismus Ende der 30er-Jahre als ein Problem von Ökonomie, Gesellschaft und Sittlichkeit gewertet; das politische Argument blieb zweitrangig. Oder anders gewendet: Die Diskussion des Pauperismus konzentrierte sich weitgehend unabhängig von der politischen Ausrichtung der Verfasser - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auf die vier Hauptpunkte Entsittlichungs-, Konkurrenz-, Industrie- und Überbevölkerungskritik. 206 Die Ende des 18. Jahrhunderts begonnene und seit etwa 1815 intensivierte Diskussion über die neue Qualität von Armut weitete sich in den dreißiger Jahren zu einer Flut von Monographien und Artikeln in Tageszeitungen und Zeitschriften aus 2 0 7 , sodass sich die Pauperismusliteratur des Vormärz zu einer eigenständigen Gattung innerhalb der Publizistik entwickelte. 208 . Der aus dem Englischen entlehnte Begriff des Pauperismus wurde darin allerdings erst seit 1836 benutzt. 209 A m Diskurs beteiligten sich Autoren unterschiedlichster professioneller, sozialer und geographischer Provenienz. 210 Z u den „Sozialschriftstellern 44 gehörten Staatsbeamte ebenso wie Pfarrer, Staats Wissenschaftler, Juristen und Junker, Bürger und Bauern in allen Teilen Deutschlands. 211 In Preußen erschienen die meisten Veröffentlichungen, und innerhalb Preußens stammten wiederum die meisten Publikationen aus der Feder von Männern aus den östlichen Pro-

206

So Kukowski, Pauperismus, S. 518. Kukowski, Pauperismus., S. 445 ff., sammelte 529 Titel aus der Zeit zwischen 1815 und 1849; Dilcher; S. 162 ff., zählte für den Zeitraum von 1789 bis 1842 knapp 160 selbständige Neuerscheinungen; ähnlicher Befund bei Matz, S. 274 ff.; umfangreiche Quellennachweise auch bei Wohlrab. 208 Wehler, Bd. 2, S. 282; Kukowski, Pauperismus, S. 446; zur Zunahme der Pauperismusliteratur in den 30er-Jahren vgl. Entwicklung der Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Pauperismusliteratur, S. 459; Matz, S. 53. 209 F. Schmidt, Untersuchungen. 210 Wehler, Bd. 2, S. 283, zählt auf: „Beamte, Pfarrer, Staatswissenschaftler, Schriftsteller, Nationalökonomen, Gutsbesitzer, usw." 211 Matz, S. 62, kennt keine Gutsbesitzer unter den Autoren; bei Kukowski, Pauperismus, S. 353 f., ist zu beachten, dass er Gutsbesitzer, Bauern und Handwerker dem Wirtschaftsbürgertum, Rechtsanwälte, Ärzte und die Gruppe der Publizisten und Literaten den unterbürgerlichen Schichten zurechnet; zur geographischen Streuung S. 462 f. ausgehend vom Wirkungsort der Autoren. 207

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

67

vinzen. 212 Bei allen sozialen, geographischen und politischen Unterschieden teilten die Autoren ein Krisenbewusstsein und sahen den Staat und die Gesellschaft bedroht. Sie bezeugten die „Gesellschaftskrise" des Pauperismus und bestätigen, dass derselbe „eines der furchterregenden, grellen Reizworte" der Zeit darstellte. 213 Ebenfalls herrschte weitestgehend Einigkeit darüber, dass man es beim Pauperismus mit einer neuen Erscheinungsform von Massenarmut zu tun hatte und dass mit dem Proletarier eine neue gesellschaftliche Unterklasse entstand. 214 Die Frage nach den Ursachen und den Mitteln zur Beseitigung der Massenarmut wurde indes unterschiedlich beantwortet. Die Hauptrichtungen innerhalb der Diskussion lassen sich nicht vereinfachend in Befürworter und Gegner der Technisierung oder des „Maschinenwesens", so ein zeitgenössischer Ausdruck, klassifizieren. 215 Vielmehr ist die Kontroverse bei der Frage des staatlichen Steuerungs- und Eingriffsrechts in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse anzusiedeln, denn konservative wie liberale Autoren gingen in ihrer Argumentation zunächst davon aus, dass der Pauperismus eine Folge bzw. eine notwendige und vorübergehende Begleiterscheinung der Entwicklung des „Industriesystems" sei. 216 Kern des Diskurses ist deshalb die Frage, ob und wie intensiv der Staat eine freie Entwicklung der Wirtschaft im Sinne von Gewerbefreiheit und unbeschränktem internationalem Handel sowie einer freien Entwicklung des Individuums durch sein passives Verhalten fördern oder durch aktive Lenkung begrenzen sollte. Hier setzten die verschiedenen Konzepte zur Bekämpfung des Elends der Eigentums- und Arbeitslosen sowie später auch der Armut des wachsenden Proletariats an. In dieser veränderten Perspektive liegt der grundlegende Unterschied zur Literatur über das Armenwesen aus der zweiten Hälf-

212

Kukowski, Pauperismus, S. 462, hat 41 Veröffentlichungen für die östlichen Provinzen, aber nur 26 für die westlichen Provinzen ermittelt; Beck, Sozialkonservatismus, S. 66, qualifiziert die dabei entstandenen Schriften als die „politisch und intellektuell anspruchsvollste Erörterung" des Gegenstands. il 3 Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2, S. 281. 214 Vgl. dazu Siefer/e, Fortschrittsfeinde, S. 120 f.; zur Begriffsgeschichte des Ausdrucks Proletariat Conze, Art. Proletariat, GG, Bd. I, S. 27-68; Conze, Staat und Gesellschaft, S. 67 f. 215 Sieferle, S. 120; zum Maschinenwesen Wohlrah, S. 171 f.; Kukowski, Pauperismus, S. 518; Lavergne, Grundzüge IL, S. 213. 216 Vgl. den Befund Kukowskis, Pauperismus, S. 525: „Auch wenn sich in den 1840er Jahren eine allmähliche Wendung abzeichnete, betrachtete die überwiegende Mehrzahl der Autoren die Industrialisierung nicht als Chance zur Überwindung der Massenarmut, sondern im Gegenteil als eine ihrer wesentlichsten Ursachen"; so auch Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2, S. 290.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

68

te des 18. Jahrhunderts, die sich hauptsächlich auf die Bekämpfung der Armut unter armenpolizeilichen Gesichtspunkten konzentrierte. 217 Während staatliche Intervention von den Liberalen abgelehnt oder allenfalls moderat eingefordert wurde, war die staatsorientierte Perspektive von Anfang an das Charakteristikum der konservativen und sozialkonservativen Schriftsteller, die sich besonders in Preußen hervortaten. Sie fanden früher zur konzeptionellen Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen als die Liberalen und erhoben das sozialpolitische Themenspektrum vorübergehend zum publizistischen Schwerpunkt. 218 Im allgemeinen Bewusstsein überlagerte es sogar die nationale Frage und forderte Intellektuelle jeglicher Couleur zum Nachdenken über Lösungsstrategien heraus. So „erfuhr das Thema seine kontinuierlichste und abgesehen vielleicht von den Früh Sozialisten und Karl Marx politisch und intellektuell anspruchsvollste Erörterung von Seiten preußischer Konservativer". 219 Bei allen graduellen Unterschieden 220 sahen die Autoren aus dem konservativen Mei-nungsspektrum den als Organismus interpretierten Staat im bewussten Gegensatz zum Liberalismus 221 durchweg als übergeordnetes lenkendes Element der gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen und den Kampf gegen armutsauslösende und armutsfördernde Entwicklungen folgerichtig als staatliche, mit administrativen Mitteln zu lösende Aufgabe. 222 Diese antiliberale ökonomische Position in der Pauperismusdiskussion vertraten ähnlich wie Lavergne unter anderem die herausragenden Vertreter des süddeutschen politischen Katholizismus, der Münchener Philosophieprofessor Franz v. Baader und der Pfarrer Franz Joseph Büß. Weil Baader die Ursache des Pauperismus 1835 im „Mißverhältniß der Vermögenslosen oder der armen Volksklassen" zu den Vermögenden sah, forderte er den gesellschaftlichen Umbau nach seiner bereits 1802 geäußerten Überzeugung, ausgleichende positive Wirtschaftspolitik des Staates führe zur Herstellung gesellschaftlicher Ge-

217

Zeitgenössische Literatur bei Ristelhueber:; weiterführende Literatur zu Armut und Staat bei Wohlrab, S. 42 ff.; allgemein zur Staatstätigkeit V. Müller; vgl. Frevert, S. 120 f.; diese Argumentation auch bei Mombert, Literatur, S. 176. 218 Beck, Sozialkonservatismus, S. 62; Sieferle, S. 126, setzt die konservative Position in Beziehung zu den Auffassungen der St. Simonisten; die geringe Bedeutung sozialistischer Literatur Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland bestätigt Mombert, Literatur, S. 178. 219 Beck, Sozialkonservatismus, S. 66. 220 „Conservative responses to pauperism displayed tremendous variety", .Beck, Conservatives, S. 63. 221 Vgl. die Interpretation bei Böckenförde, Art. Organ, S. 587 f. 222 Zu den Romantikern, Kais, bes. S. 151 ff.; zur organischen Staatslehre: V. Müller, S. 186 ff., S. 238 ff.; Ambros, S. 23-32.

ΠΙ. Voraussetzungen für die „Grundzüge"

69

rechtigkeit. 223 Pfarrer Büß formulierte seine Gegenposition zu jeder Form von Wirtschaftsliberalismus ähnlich wie Moritz v. Lavergne-Peguilhen: „Ich theile den traurigen Optimismus der modernen politischen Oekonomie nicht, daß die Interessen sich selbst ausgleichen und sich von selbst moralisiren werden, ich verwerfe deßwegen den Satz des Laissez faire et laissez aller als absolute Maxime, und gebe seine Richtigkeit nur bei der organischen Kräftigkeit des corporativen Lebens und innerhalb der Körperschaften allein die Mittel der Befähigung dafür zu". 2 2 4 Parallel zur Kritik an der Theorie des freien ökonomischen Wettbewerbs entwickelten sich die Infragestellung und Ablehnung der industriellen Produktionsformen, die Gegnerschaft gegen die Gewerbefreiheit, Kritik an der staatlichen Finanz- und Steuerpolitik, aber auch der Widerstand gegen die Landund Sozialreformen des Vormärz, die als Hauptursachen für gesellschaftliche Auflösungsprozesse und damit die Entstehung und Ausbreitung des Pauperismus angesehen wurden. 225 Dieser Argumentation folgte vor allem auch der Lavergne nahestehende Friedrich-Heinrich Du Bois-Reymond. 226 Aus der staatsorientierten Perspektive der konservativen Schriftsteller ergab sich auch in der Handwerker- und Gewerbepolitik eine Gegenposition zum liberalen Spektrum. Vor allem in Preußen, wo mit den Finanz- und Gewerbereformen zwischen 1810 und 1812 die Gewerbefreiheit eingeführt worden war, entstand eine starke konservative Bewegung für die Wiedereinführung von Zunftzwang und Handelsbeschränkungen, da unter anderem auch die Gewerbefreiheit als Auslöser für „Kreditnot" in Handwerk und Kleingewerbe und damit für den Anstieg der Armenzahlen verantwortlich gemacht wurde. 227 Nimmt man die verbreitete Forderung nach Zollschutz 228 noch hinzu, versteckt sich hinter der konservativen Argumentation gewissermaßen als Bünde-

223

Baader, Missverhältniss, S. 5 ff; Baader, Holzbau, S. 208. Hepp/ Büß, System, S. 59. 225 Beck, Sozialkonservatismus, S. 72 ff., spricht von den „Leitmotiven konservativer Sozialtheorie"; Kukowski, Pauperismus, S. 491 ff. nennt das „Politisch-institutionelle Ursachenerklärungen"; vgl. S. 494. 226 Der Beamte im Preußischen Außenministerium Friedrich-Heinrich Du BoisReymond veröffentlichte unter dem Pseudonym Bodz-Reymond das Werk Staatswesen und Menschenbildung, hier bes. Bd. I, S. XXXIV, XLH, S. 52 ff. Unterscheidungsmerkmale zwischen natürlicher und künstlicher Armut S. 55 f. 227 Ζ. B. Bodz-Reymond\ F. Schmidt, Zustände; Bülau, Staat; frühere Schriften zum Thema Nibler.; Rau; vgl. Kukowski, Pauperismus, S. 495. 228 Kukowski, Pauperismus, S. 497, 498: „Die betreffenden Autoren neigten fast einhellig der Auffassung zu, daß es sich bei der 'Freihandelspraxis' um die Grundursache oder zumindest um eine der Hauptursachen des Pauperismus handele." 224

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

70

lung aller mit dem Pauperismus verbundenen Ängste die Angst vor der durch wirtschaftlichen Liberalismus ausgelösten „Atomisierung der Gesellschaft". 229

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

1. Die Gesellschaft als Objekt von Wissenschaft „Das Wort Gesellschaft hat ertönt." 230 Als Robert v. Mohl 1851 diese Feststellung traf, bemaß er den Zeitraum, in dem die Gesellschaft neben dem Staat zum Forschungsobjekt avancierte, auf „etwa fünfzig Jahre". 231 Seitdem verbreite eine wachsende neue Literaturgattung in Büchern, Tageszeitungen und Zeitschriften Erkenntnisse und Meinungen über die „Gesellschaft, ihre Gesetze, ihre Mängel und Sünden, über das Bedürfniss einer völligen Umgestaltung derselben". 232 Vor dem Erscheinen von Lavergnes „Grundzügen" kann von einem elaborierten Wissenschaftsmodell trotz dieser neuen Literaturgattung noch keine Rede sein, auch wenn das Desiderat einer solchen Wissenschaft wiederholt angedeutet, zum Teil auch präzise formuliert wurde. 233 Die Entstehungsgeschichte einer Wissenschaft von der Gesellschaft ging einher mit der Wandlung des Gesellschaftsbegriffs 234, die bereits in der Aufklärung eingesetzt hatte, sich unter dem Eindruck der rasanten Veränderungen des Vormärz jedoch beschleunigte. 235 Wenn der Ursprung der Gesellschaftswissenschaft in einem allgemeinen Sinn in der Literatur zu Recht auch vielfach früher angesetzt wird, sollen hier für den Moment des Aufstiegs der Gesellschaftslehre zur Wissenschaft als Dis-

229

Beck, Sozialkonservatismus, S. 74; s. auch Lavergne, Grundzüge II, S. 209. Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften, S. 6. 231 Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften, S. 6. 232 Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften, S. 9. 233 Vgl. ebd., S. 18 ff.; Buchholz, Hermes, S. 18. 234 „Gesellschaft ist einer der vieldeutigsten Grundbegriffe der Soziologie", Kaupp, Art. Gesellschaft, Sp. 459; ältere Darstellungen sehen den Ursprung des Gesellschaftsbegriffes in Aristoteles' Politik, z. B. Gothein, S. 203; so auch M. Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche, HWbPh, Sp. 466; für den Begriff der Bürgerlichen Gesellschaft, M. Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche, GG, S. 719. 235 Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften, S. 27 ff.; Braun/Hahn, S. 21 ff.; allgemein M. Riedel, Art. Gesellschaft, bürgerliche, GG; M. Riedel, Art.. Gesellschaft, Gemeinschaft. 230

. D e Gesellschaftswissenschaft

ziplin die Kriterien von Hans Braun und Alois Hahn angelegt werden 236 : Erst das Zusammentreffen der Entwicklungsstränge der verschiedenen Sozialtheorien mit den empirischen Methoden von Statistik und politischer Arithmetik, so ihre These, markiert den Beginn der modernen Sozialwissenschaften. 237 Bevor anhand dieser Kriterien Lavergnes „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" untersucht werden, ist für die Gesellschaftslehre vor Lavergnes Erstlingswerk, ja sogar für die gesamten Gesellschaftstheorien des Vormärz zu konstatieren, dass die Symbiose zwischen Theorie und quantifizierbaren empirischen Methoden noch nicht stattgefunden hatte. 238 Lediglich Auguste Comte entwickelte für seine „Sociologie", die im selben Jahr wie der erste Band der „Grundzüge" erschien, ein ähnliches Konzept. Beide Ansätze entstanden jedoch unabhängig voneinander, wenn auch insofern Gemeinsamkeiten bestehen, als über beider Rezeption von Montesquieu, Condorcet und Buchholz verbindende Elemente existieren. 239 In der wissenschaftlichen Interpretation von Gesellschaft ging der Liberalismus vom Individuum und seinen unveräußerlichen Rechten aus, das im Gesellschaftsverband dem Staat gegenüberstand. Der Konservatismus sah den einzelnen in einer ständisch gebundenen, kollektiven Freiheit und den Staat als Lenker der Gesellschaft. Die im Vormärz langsam entstehenden kommunistischen und sozialistischen Denkrichtungen konzentrierten sich angesichts der sozialen Probleme zunehmend auf die Idee der Kontrollierbarkeit gesellschaftlicher Prozesse und die ordnungsstiftende Funktion sozialer Normen zur Schaffung idealer gesellschaftlicher Gefüge. 240 Erste utopische Sozialmodelle waren in Anlehnung an die Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften und aufgrund der Entdeckung unterschiedlich entwickelter fremder Völker bereits in der frühen Neuzeit entwickelt worden. 241 Die

236

Z. B. König, bes. S. 37 ff.; Heckmann / Kröll, S. 31, definieren den Beginn der Soziologie zwar als das Einsetzen systematischer gesellschaftlicher Selbstreflexion. Das setzen sie aber gleich mit der „Trennung von (bürgerlicher) Gesellschaft und (National)-Staat". 237

238

Braun/Hahn, S. 38 f., S. 54.

Vgl. Pankoke, Art. Soziologie, bes. S. 1003 ff. Zur Entwicklung von Comtes Sociologie Pickering , S. 606 f; Pankoke , Art. Soziologie, S. 1005. Tönnies, S. 1009, stellt die Entwicklung vom Begriff „Physique Sociale" zur „Sociologie" dar mit einem Hinweis auf Montesquieu und Condorcet; explizit zum Einfluss Condorcets auf Comte Steinhauer, S. 6-35. 240 Braun/Hahn, S. 22; zur Entwicklung der kommunistischen und sozialistischen Denkmodelle im Vormärz Meyer, bes. S. 223 ff. 241 Pankoke: Art. Soziologie, S. 998, erwähnt Francis Bacon und sein gesellschaftliches Modell „New Atlantis". Zu den Gesellschaftsutopien der Frühen Neuzeit auch 239

Jenkis, bes. S. 62 ff.; Braun/Hahn, S. 22.

72

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Erkenntnisse aus dieser Entdeckung in Verbindung mit dem Gedanken einer konzeptionellen Differenzierung von Staat und Gesellschaft führte auf den Weg zu einer forschenden Wissenschaft von der Gesellschaft. 242 Während der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft als Eigentümergesellschaft in der rationalistischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts noch synonym mit dem des Staats gebraucht wurde 243 , waren mehrere Anstöße nötig, bis Samuel Simon Witte 1783 und Gottlieb Hufeland 1790 erstmals die „bürgerliche Gesellschaft" vom Staat unterschieden. Die Gesellschaft emanzipierte sich vom Staat; gleichzeitig entstand das Bedürfnis, die gesetzlichen Zusammenhänge zwischen den als Variablen erkannten Gesetzen der Gesellschaft zu erforschen. 244 Friedrich Buchholz zog aus diesen Erkenntnissen 1810 den Schluss, dass das, was er unter dem Begriff der „Wissenschaft der Gesellschaft" fassen wollte, „sehr viel dazu beitragen" würde, „den Staaten eine Sicherheit zu geben, die sie bisher nicht erhalten konnten, weil das, was ihrer Entstehung und Fortbildung zum Grunde lag, so wenig erkannt wurde". 245 Dieser Gedanke wurde aber zunächst nicht aufgenommen. Einen weiteren Anstoß lieferte 1815 Heinrich Storch, deutscher Lehrer an der Kadettenanstalt am St. Petersburger Hof. Er stellte die „science sociale" als den theoretischen Teil der Staatswissenschaften dar, dem als praktischer Teil die Politik gegenüberstehe. 246 Wie später Lavergne „ewige Gesetze" zu entdecken suchte, ging es Storch, der sich auf Smith, Turgot, Garnier und Say berief, um die „natürlichen Gesetze" zur Erklärung der Menschheitsentwicklung. 247 Allerdings gelang auch Storch keine vollständige Methodologie der „science sociale". Auch Konservative und Romantiker dachten als Reaktion auf die Französische Revolution zunehmend über die Erfassung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten nach, ebenfalls in enger Anlehnung an die Staatswissenschaft. 248 Dass diese staatsorientierte Perspektive die Gesellschaftswissenschaft später

242

243

So Braun/Hahn, S. 21.

M. Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, GG, S. 744 ff.; die Konzentration auf die bürgerliche Gesellschaft im Naturrecht hat ihre Ursache in der Trennung von „societas naturalis" und „societas civilis", vgl. Klippel, Freiheit, S. 40 f., 136 ff. 244 Braun / Hahn, Wissenschaft, S. 22, nennen als Beispiel Montesquieu, für den Gesetze „Beziehungen" sind, „die sich aus der Natur der Dinge mit Notwendigkeit ergeben". 245 Buchholz, Hermes, S. 18; zur Rolle Buchholz' als erster deutscher SaintSimonist und Vertreter einer „sozial-wissenschaftlichen Geschichtskonzeption Garber, Politische Revolution, S. 302 f. 246 Storch, Cours; ders., Handbuch; vgl. Brandt, Bd. 1, S. 176 ff. 247

248

Brandt, Bd. 1, S. 176 ff.

Etwa A. Müller, Elemente, S. 15 f.: in Opposition zu der „ganzen Weisheit der Buchholze und der verschiedenen Staatsratgeber in Deutschland"; vgl. M. Riedel, Art. Gesellschaft, Gemeinschaft, S. 831.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

73

zunächst in den Blickpunkt der konservativen Staatslehre rückte, lässt sich in erster Linie mit der Negation des naturrechtlichen Vertragsmodells durch die politische Romantik und die konservative Staatstheorie erklären. Das Gegenmodell der stetigen Weiterentwicklung und Vervollkommnung der Gesellschaft lässt die krisenhaften Umwandlungsprozesse der gesellschaftlichen Verhältnisse im Vormärz leichter fassbar erscheinen. Damit war es die wissenschaftliche Kritik an der liberalen Staats- und Gesellschaftsauffassung mit ihrem nachrevolutionären Krisenbewusstsein, die bei der Entwicklung einer Wissenschaft von der Gesellschaft auf dem von Buchholz eingeschlagenen Weg weiterging. 249 Das war möglich, weil Buchholz trotz seiner liberalen Auffassung von Ökonomie eine „Staatssoziologie" entwickelte. 250 Als wegweisend für die kritische Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts gilt die Definition Hegels: „Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt". 2 5 1 M i t der Modifikation des naturrechtlichen Prinzips, das die bürgerliche Gesellschaft als Voraussetzung für die Existenz des Staates ansieht, bezog er eine Stellung zwischen der liberalen und der konservativen Staatstheorie. 252 Aus der Ableitung der bürgerlichen Gesellschaft aus einem ökonomisch begründeten, auf das Individuum bezogenen „System der Bedürfnisse" folgte für Hegel die wissenschaftliche Durchdringung der bürgerlichen Gesellschaft als Aufgabe der Nationalökonomie. 253 Diese Kompetenzzuweisung bedeutet, dass für Hegel die Wissenschaft der Gesellschaft in der Nationalökonomie bereits existierte. 254 Die „Staatsökonomie" hatte danach die Aufgabe, die wenigen Gesetze, die aus den der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse zugrunde liegenden Zufälligkeiten herauszulesen sind, zu deduzieren. 255 Hegel gab damit zwar wichtige Anstöße für die moderne Gesellschaftswissenschaft, er ist ihr jedoch

249

Pankoke, Bewegung, S. 9; vgl. Garber, Politische Revolution, S. 302 f. Garber, Politische Revolution, S. 311 f. 251 Hegel, Grundlinien, § 182, S. 262; so u. a. Kaupp, Art. Gesellschaft, Sp. 462. 252 Stolleis, Geschichte, Bd. 1, S. 136; M. Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, in: GG, Bd. 2, S. 771; M. Riedel, Gesellschaft, in: GG, Bd. 2, S. 839 sieht diese Umwertung auch als „Zwischenglied in der Entwicklung von der traditionellen zur kritischen Theorie der Gesellschaft"; ausführlicher zur Rolle der Nationalökonomie M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft, S. 44 ff. 253 Hegel, Grundlinien, § 188, S. 270. 250

254

255

Vgl. Priddat, S. 9 ff.

„Dieses Nothwendige hier aufzufinden ist Gegenstand der Staatsökonomie, einer Wissenschaft, die dem Gedanken Ehre macht, weil sie zu einer Masse von Zufälligkeiten die Gesetze findet." Hegel, Grundlinien, § 188, S. 271.

74

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

nur unter Vorbehalten bereits zuzurechnen. 256 In Hegels Zwischenposition spiegelt sich der enge Zusammenhang zwischen Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie im Vormärz. 257 Hier stellt sich nun die Frage, welche neuen Aspekte und Argumente Lavergnes Modell zum Diskurs beitrug. Wissenschaftshistorisch ist festzuhalten, dass Staatswissenschaft und Nationalökonomie als Universitätsfächer schon längst über staatliche und ökonomische Lebenszusammenhänge lehrten. Die Lücke zwischen den beiden Bereicheen hätte durch die Entwicklung einer Gesellschaftswissenschaft geschlossen werden können. Diesen Gedanken hatte Friedrich Buchholz bereits 1810 publiziert. 258 Die Funktion der Gesellschaftswissenschaft als Verbindungsglied zwischen Staatswissenschaft und Nationalökonomie setzt allerdings eine gedankliche Trennung von Staat und Gesellschaft voraus, wie sie in naturrechtlichen und liberalen Denkmodellen zu finden war. 259 Lavergne lehnte diese Trennung jedoch ab. Für ihn war der Staat als eines ihrer Elemente abhängig von der Gesellschaft. So wurde Lavergnes Gesellschaftswissenschaft eine der Staatswissenschaft, der Nationalökonomie und einer noch zu entwickelnden Kulturwissenschaft 260 übergeordnete Leitwissenschaft. Als neue Metadisziplin sollte die Gesellschaftswissenschaft als gleichberechtigtes akademisches Fach neben dem Jurastudium Staatsdiener ausbilden. Die Gesellschaftswissenschaft konstituierte sich aus vier Elementen. Mit dem Begriff „Bewegungswissenschaft" beschrieb Lavergne die Disziplin zur Erforschung der Grundbedingungen des Fortschritts auf den Ebenen des Individuums, der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft. Die „Produktionswissenschaft" sollte sich mit den ökonomischen Prozessen, die „Kulturwissenschaft" mit den Möglichkeiten des Fortschritts im Bereich von Bildung und

256 So auch Pankoke, Bewegung, S. 103; ebd., S. 104: „Hegel ging es mit seinem Modell der bürgerlichen Gesellschaft' weniger um die Analyse der konkreten Gesellschaft Wirklichkeit als um die sozial theoretische Explikation der bürgerlichen Naturrechtslehre." 257

258

Vgl. Gothein, S. 205 f.; Braun /Hahn, S. 37 ff.; Ritter, S. 75.

Buchholz, Hermes, S. 18. Klippel, Theorien, S. 77, führt aus, dass schon die Vertreter des jüngeren Naturrechts als Vorbereiter des Liberalismus Ende des 18. Jahrhunderts die theoretische Trennung von Staat und Gesellschaft vollzogen hatten; vgl. V. Müller, S. 225; vgl. auch M. Riedel, Gesellschaft, bürgerliche, GG, S. 751 ff. 260 „Eine Wissenschaft, die sich mit der Kultur der Bevölkerungsmassen beschäftigt, gab es bisher noch gar nicht, und es war daher mehr als Kühnheit, so ohne alle Hülfsmittel die Regeneration der Gesellschaft zu versuchen". Lavergne, Grundzüge Π, S. 337. 259

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

75

kommunikativen Prozessen befassen. Aufgabe der „StaatsWissenschaft" sollte schließlich die Definition der fortschrittsrelevanten Elemente im staatlichen Handeln hinsichtlich Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft sein. So stellte sich die Gesellschaftswissenschaft als ein die gesamten menschlichen Lebenszusammenhänge umfassender Komplex dar. An dieser Vierteilung der zu entwickelnden Wissenschaft richtete Lavergne die Gliederung seines Hauptwerks aus. Den ersten Band seiner ursprünglich auf drei Teile angelegten Veröffentlichung nannte er „Die Bewegungs- und Productionsgesetze. Ein staatswirthschaftlicher Versuch". Im einzelnen ging es ihm hier um die Definition der Gesellschaft sowie die Erforschung und Darstellung der Gesetzmäßigkeiten, denen das Individuum, die Gütererzeugung und Geldwirtschaft unterliegen. Der zweite Band, der 1841 ebenfalls im Königsberger Verlag Born träger unter dem Titel „Die Kulturgesetze" erschien, konzentrierte sich auf die Entwicklung der „allgemeinen Kulturgesetze" und der „Gesetze der sinnlichen Kultur", auf die „Gesetzmäßigkeiten, die zur sinnlichen und sittlichen Vervollkommnung des Menschen angewendet werden können". 261 Die Kulturwissenschaft stellte er nur in ihrer ersten Abteilung fertig, ihre zweite Abteilung sowie der Band über die Staatswissenschaft erschienen nicht. Sie sollte die Gesetze erforschen, nach denen „aus activen Gesellschaftsverhältnissen die denselben entsprechenden Staatsinstitutionen nothwendig hervorgehen müssen". 262 Die politischen Veränderungen zu Beginn der 40er-Jahre, nicht zuletzt auch seine aktive Teilnahme am politischen Leben als Deputierter des preußischen Provinziallandtags, gab Lavergne 1841 selbst als Gründe dafür an, dass es zur Ausformulierung seiner Ideen und Vorschläge zum Zwecke der praktischen Verwendung der Gesellschaftsgesetze in Form von staatlicher Gesetzgebung nicht mehr gekommen sei. Er beendete also die Ausarbeitung des zweiten Bandes und stellte statt des vorgesehenen dritten in „wenigen Wochen" die Broschüre „Die Landgemeinde in Preußen" zusammen, die 1841 im Druck erschien. 263 Allerdings hatte er die Absicht, den Band über die „Staatsgesetze" fertig zu stellen, damals noch nicht aufgegeben: Die der Bedeutung des Gegen-standes angemessene wissenschaftliche Ausarbeitung hoffte er nachzureichen, „sofern mir die Lösung meiner Aufgabe vergönnt ist". 2 6 4

261 262 263 264

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Grundzüge I, S. IX. Grundzüge I, S. IX. Landgemeinde, S. XI. Landgemeinde, S. IX.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

2. Neue Wissenschaft, neue Methode Vordringliches Problem in der Auseinandersetzung mit den bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftstheorien war für Lavergne die Frage der richtigen Methode: „Es muß der Wissenschaft eine Theorie ihrer Bearbeitung vorangehen", betonte Lavergne unter Berufung auf die Größe und Unermesslichkeit der Aufgabe, als die sich ihm allein schon die Kulturwissenschaft als Teilgebiet der Gesellschaftswissenschaft darstellte. 265 Schließlich ging es ihm um nicht weniger als dies: „Aus der Gesammtheit der die Gesellschaft bewegenden Kräfte, soll das System der Gesetze abgeleitet werden, die der Vervollkommnung der Menschen zum Grunde liegen." 266 Als entsprechend umfassende Disziplin charakterisierte er im ersten Band die Gesellschaftswissenschaft 267 und ihre „Erforschungswege". 268 Nach Lavergnes Auffassung hat die von der klassischen Schule der Nationalökonomie und den Vertretern des Vernunftrechts propagierte wissenschaftliche Methode der Deduktion in der Praxis versagt. Nach diesem Prinzip habe der Liberalismus a priori Gesetze konstruiert, die Wirtschaft und Gesellschaft an den Abgrund geführt hätten. Zur richtigen Erkenntnis gelangt nach Lavergne nur derjenige, der davon ausgeht, dass sich das Allgemeine aus parallel erscheinenden Besonderheiten ermitteln lässt, der also in erster Linie induktiv arbeitet. 269 Die vergleichende und die historische Methode behielt er sich als Möglichkeiten zur Verifizierung der induktiv erlangten Ergebnisse vor. 270 Jede Methode für sich führe zwar auch zu Ergebnissen 271; die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Erscheinungen könne aber mit einer Methode allein nicht erfasst werden: „Die Resultate derartiger Forschungen werden immer glänzender werden, sobald für den ersten Weg die Kunst gesellschaftlicher Analyse, für den zweiten die Statistik und für den dritten die Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung brauchbarere Materialien darbieten werden, und sobald überhaupt die gesellschaftliche Beobachtungskunst mehr ausgebildet sein wird." 2 7 2 Die Möglichkeiten der Statistik, komplizierte soziale und ökonomische Prozesse und Gesetzmäßigkeiten mit naturwissenschaftlicher Präzision zu bele265

Lavergne, Grundzüge Π, S. 64, S. 4- 38. Das gesamte Kapitel steht unter dem Titel „Wissenschaftslehre". 266 Lavergne, Grundzüge Π, S. 4 f. 267 Lavergne, Grundzüge I, S. 6-9. 268 Lavergne, Grundzüge I, S. 9-12. 269 Lavergne, Grundzüge I, S. 10. 270 Lavergne, Grundzüge I, S. 12. 271 Lavergne, Grundzüge I, S. 9. 272 Lavergne, Grundzüge I, S. 12.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

77

gen, faszinierten Lavergne lebenslang. So schwärmte er 1846, sie führe zur Erkenntnis der organischen Natur der Gesellschaft. Sie liefere „unwandelbare Zahlenverhältnisse", die erst die Aufklärung über die Gesellschaftsgesetze möglich machten. 273 Allerdings sah er auch die Grenzen und Gefahren einer unbedingten Zahlengläubigkeit. So kritisierte Lavergne an den statistischen Arbeiten des Physiokraten Quesnay die Dürftigkeit der Ergebnisse im Vergleich zum betriebenen Aufwand. 274 Als Beispiel für die Mängel der historischen Methode zog Lavergne Montesquieu heran. Dessen Arbeit beweise bei allen „glänzenden Resultaten", dass auch die geschichtliche Methode allein nicht zum Ziel führe. 275 Damit untermauerte Lavergne seine Forderung, Geschichte und Statistik nur als Verifizierungsverfahren für die induktive Methode anzuwenden.276 Allerdings wertete er 1870 die „vergleichende Statistik" und die „historische Philosophie" auf: Jetzt meinte Lavergne, sie sollten jeder Theorie vorgeschaltet sein und sie erst begründen. 277 Schon in seinem Frühwerk legte Lavergne großen Wert auf die Vorbildfunktion von Methoden der im Vormärz stark expandierenden Naturwissenschaften: „Die Gesellschaftsgesetze sollen durch die Gesellschaftswissenschaft erforscht und gelehrt werden, wie die Naturgesetze durch die Naturwissenschaft." 278 Auch in der sich ebenfalls rasant entwickelnden Technik sah Lavergne Parallelen für sein Wissenschaftsmodell. Politik war für ihn die Technik der Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Praxis. 279 In einem weiteren Bekenntnis zum Vorbildcharakter von Naturwissenschaften und Technik bekräftigte er fast zwanzig Jahre später sein Erkenntnisinteresse, dem Staat die Zügel zur Lenkung der Gesellschaft in die Hand zu geben: „Wie

273

Lavergne, Liberalismus, S. 64, 104 f. Lavergne, Grundzüge I, S. 336. Quesnay hinterließ u. a. den „tableau économique" und eine wirtschaftliche Kreislaufanalogie, als deren Urheber er lange galt;.vgl. Rieter, Rezeption, bes. S. 61; K. H. Schmidt, S. 50 ff., bes. S. 52. 275 Lavergne, Grundzüge I, S. 12. 276 Lavergne, Grundzüge Π, S. 30, bezieht sich hier auf „das vortreffliche Werk des Astronomen A. Quetelet zu Brüssel" und meint dessen Über den Menschen und die Entwickelung seiner Fähigkeiten, Stuttgart 1838. 277 Vgl. Lavergne, Grundzüge Π, S. 29 f., S. 30. Erst 1870 kommt die Forderung nach Anwendung der „wissenschaftlichen Empirie" hinzu: Lavergne, Staatslehre, S. 33. 278 Lavergne, Grundzüge I, S. 6 f. 279 „Wie der Techniker die Kräfte der Natur und die Gesetze, welche in ihr herrschen, kennen muß, um sie nach seinem Gefallen zu leiten und zu nutzen; so muß der Staatsmann die Gesellschaftskräfte und Gesetze erkannt haben, um die Gesellschaft leiten, sie ihrem endlichen Ziele zufuhren zu können." Lavergne, Grundzüge I, S. 8; ähnlich S. 7. 274

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

78

die Beherrschung der Materie durch den Menschengeist nur im Wege der wissenschaftlichen Empirie erzielt worden, so kann in ähnlichem Wege auch der Staat nur zur Herrschaft über die gesellschaftlichen Kräfte gelangen dadurch, daß die Gesetze des gesellschaftlichen Massenlebens aus der Erfahrung und der Geschichte und aus der vergleichenden Statistik festgestellt, und danach die Grundgesetze der Politik bestimmt werden." 280 Dennoch begnügte Lavergne sich nicht mit der Weiterentwicklung oder der Reform der altgedienten Staats Wissenschaften. Er verkürzte deren Perspektive vielmehr auf die Zusammenhänge zwischen Gesetz, Verwaltung und Staatsform. 281 Die Gesellschaftswissenschaft übernahm in der Theorie Lavergnes funktional die bisher führende Rolle der Staatswissenschaften. Inhaltlich sah er die Wissenschaft vom Staat als abhängigen Teilbereich der Wissenschaft von der Gesellschaft: „Nur in dem Maaße, wie die Gesellschaftswissenschaft vorschreitet, ist eine höhere Ausbildung der Staatswissenschaften denkbar, weil diese nur aus jener hervorgehen können, weil beide sich in ihren endlichen Zwecken begegnen."282 In der Hochphase der Verwendung des Organismusbegriffs in der Staatstheorie, die etwa zwischen 1830 und 1870 anzusiedeln ist, 283 fand Lavergne den Schlüssel zu seiner Theorie in dessen naturwissenschaftlicher Herkunft. 284 Aus der naturphilosophischen Begrifflichkeit und der romantischen Medizin des frühen 19. Jahrhunderts schöpfte er die zentralen Begriffe seiner Gesellschaftstheorie. 285 Dazu gehörte auch die Physiologie, die in der romantisch-ganzheitlichen Medizin des beginnenden 19. Jahrhunderts als Wissenschaft von den Funktio-

280

Lavergne, Programm, S. 125 f. Lavergne, Grundzüge I, S. 39: Sie sollen „lehren, in welcher Art diese unentbehrlichen Gesellschafts-Vehikel erschaffen und angewendet werden müssen"; Lavergne, Grundzüge II, S. 8. 82 Lavergne, Grundzüge I, S. 39, 308; vgl. Lavergne, Grundzüge Π, S. XI u. 84. 283 „Organisch heißt dasjenige, was vermöge des ihm einwohnenden eignen Lebens von selbst zu seiner eignen Erhaltung tätig ist. Ein organisches Wesen ist also dasjenige, dessen sämtliche Teile sich zueinander, wie Mittel und Zweck verhalten[...]. Unter Organisation im eigentlichen Sinne versteht man[...] eine solche Beschaffenheit oder Einrichtung eines mit eigentümlicher Lebenskraft und Bildungstrieb versehnen Naturwesens[...]. Organismus aber bedeutet entweder dasselbe oder ein aus solchen Teilganzen bestehendes Wesen selbst." Art. Organ, S. 112. 284 Zur Entwicklung eines staatstheoretischen Leitbegriffes „Organismus" vgl. Böckenförde, Art. Organ, S. 587 u. 594: Organizisten sei totalitäres Denken fremd gewesen; Kimminich, S. 319, spricht dagegen von einer „Irrlehre", die direkt in den Totalitarismus führe. 285 Zu Naturphilosophie und romantischer Medizin Nipper dey, S. 485 f. 281

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

79

nen und Vorgängen des menschlichen Organismus weiterentwickelt wurde. 286 Doch Lavergne bezog sich nicht nur auf diese Entwicklung. Für ihn war neben Friedrich Schmitthenner der Franzose Claude Henri de St. Simon derjenige, der die Erkenntnisse der Physiologie für die Staatswissenschaft fruchtbar gemacht hatte. In seinem Gefolge führte Friedrich Buchholz den Begriff der „Physiologie der Gesellschaft" in die deutschsprachige Diskussion ein. 2 8 7 Lavergne zählte St. Simon nicht zuletzt wegen dessen physiologisch-biologischer Organismusvorstellung zur „Klasse der eigentlichen Regeneratoren" in den Staatswissenschaften. 288 Die physiologische Betrachtungsweise der Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Gesellschaft als Voraussetzung zur Entstehung einer Gesellschaftswissenschaft blieb das zentrale Anliegen Lavergnes 289 und fand beispielsweise in Constantin Frantz, Friedrich Karl Julius Schüz und Wilhelm Roscher Nachahmer. 290 Die vom Pauperismus betroffene Gesellschaft wurde in dieser physiologischen Betrachtungsweise mit einem von einer Krankheit befallenen Körper verglichen und der Gesellschaftswissenschaftler mit einem Arzt, der den „Krebsschaden" Pauperismus mit Hilfe exakter Diagnosestellung heilen könne. 291 Analogismen zu Chemie, Physik oder Technik sollten die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher und mechanischer Methodik bei der Erforschung der sozialen Gesetzmäßigkeiten deutlich machen. 292 Mathematik und Statistik, zwei andere im Vormärz sich stark entwickelnde Disziplinen, erklärte Lavergne zu den notwendigen Hilfsmitteln für die Erfor-

286

Nipperdey, S.486. Mit der Physiologie fand die Beobachtung und die exakte Beschreibung sowie die Systematisierung von Krankheiten Eingang in die moderne Medizin; zur Beliebtheit des Begriffes in der Staatslehre; Böckenförde, Art. Organ, S. 590, hier z. B. Zachariae, Schmitthenner, Bluntschli und Held; Gans nennt in seinem Vorwort zu Hegel, Grundlinien, S. 3 die Politik die „Physiologie des Staates". 287 Anonym (Buchholz), Untersuchungen über den Geburtsadel, 1807, zit. nach Garber, S. 306. 288 Zu Physiologie bei St. Simon Pankoke, Art. Soziologie, S. 1005; Lavergne, Grundzüge II, S. 349. 289 Lavergne, Physiologie. 290 Vgl. Müßiggang, S. 85: Roscher verstand die wirtschaftlichen Erscheinungen physiologisch, Schüz sprach ebenfalls von der „Physiologie der Gesellschaft; Lavergne, Physiologie, S. 450 ff. 291 Lavergne, Vereinsleben, Sp. 346: Pauperismus ist eine „die heiligsten Interessen der Menschheit bedrohende Gesellschaftskrankheit", ähnlich formuliert: Grundzüge I, S. 395; vom „Krebsschaden der Gesellschaft" spricht er in der Rezension von Lists „System", Sp. 157; Pankoke, Art. Soziologie, S. 1005, spricht von der medizinischpathologischen Metaphorik als „damals beliebte Grundfigur der Gesellschaftskritik". 292 Physiker und Chemiker: Lavergne, Grundzüge I, S. 398; Techniker: S. 394.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

80

schung empirisch festzuhaltender Gesetzmäßigkeiten. 293 So versuchte er als Ausdruck der Nutzbarmachung dieser Wissenschaften für die Gesellschaftswissenschaft statistisch ermittelte oder empirisch erhobene Daten in mathematisch anmutende Formeln zu bündeln. Er stellte beispielsweise die Wechselwirkung zwischen Staatskraft und Gesetzgebungstätigkeit tabellarisch dar. Dabei erhielt die Staatskraft Maßeinheiten zwischen sl und s 10, die Geisteskraft des Individuums drückte er mit Werten zwischen g l und glO aus. Aus ihrer Kombination sollte die Intensität der Gesetzgebungstätigkeit in einem Staatswesen zu errechnen sein. 294 An anderer Stelle versuchte er die Arbeitskraft des Menschen in messbaren Einheiten zu erfassen: „So dürfte a3 etwa die Arbeitskraft des Knaben, a4 diejenige der Frauen, a5 des gemeinen Landarbeiters, und a8 die höchste beim Einzelmenschen anzutreffende Arbeitstüchtigkeit bezeichnen." Das Optimum alO galt ihm „als die höchste Manneskraft und Arbeitstüchtigkeit, welche überhaupt möglich ist". 2 9 5 M i t dieser mehr konstruierten als bewiesenen Messbarkeit gesellschaftlicher Wirkungskräfte unterstrich Lavergne seinen Anspruch, eine exakte moderne Wissenschaft zu entwerfen und hob gleichzeitig seine Opposition zur angeblich unwissenschaftlichen Methodik der „Schule" (d. h. der liberalen Theorie) hervor. Lavergne ging später sogar so weit zu behaupten, der Fortschritt in den Naturwissenschaften sei erst nach deren Emanzipation vom Einfluss der naturrechtlich-liberalen „Doctrin" möglich geworden. 296 Die Überzeugung, mit der „wissenschaftlicheren" Methode zu arbeiten, kennzeichnet viele sozialtheoretische Veröffentlichungen des Vormärz. So sprach Adam Müller 1809 von der „Schimäre des Naturrechts", kritisierte dabei besonders dessen abstrakten Staatsbegriff und setzte auf die organische und natürliche Kraft der auf realer Erfahrung beruhenden Idee. 297 Heinrich Ahrens wollte mit seiner „philosophisch-anthropologischen Methode" 1837 die organische Verbindung zwischen Idee und Erfahrung erreichen. 298 Auch Karl Heinrich Hagen griff auf die Anthropologie als Fundament der Staatswissenschaft zurück. 299 Für Friedrich Schmitthenner war der Gegensatz zwischen

293

A. F. Lüder war schon 1812 bewusst, dass die Statistik in ihrer italienischen Tradition bereits dreieinhalb Jahrhunderte alt und in Deutschland durch Hermann Conring an die Universitäten gebracht worden war: Lüder, S. 5. 294 Lavergne, Grundzüge I, S. 36, 42, 57. 295 Lavergne, Grundzüge I, S. 30. 296 Lavergne, Programm der Linken, S. 493. 297 A. Müller, Elemente, I, S. 40; vgl. dazu besonders Berdahl, Politics, S. 170 f. 298 Ahrens, S. VIE; vgl. Mohl, Gesellschaftswissenschaften, S. 22. 299 „[...] wenn unter diesem Namen die Wissenschaft vom Menschen, nicht blos von seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit, sondern auch von seinem Leben und Wirken verstanden wird". Hagen, S. 9.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

81

der „rationalistischen" und „historischen" Schule der bedeutendste im gesamten Parteien- und Schulensprektrum seiner Zeit. 300 Das methodisch Trennende zwischen Konservativen und Liberalen beschrieb Victor-Aimé Huber folgendermaßen: Die Anrufung des Lebens selbst sah er als Grundlage für die eigene konservative Auffassung, nämlich für die Gegnerschaft zu jeder Schule, die Ablehnung wissenschaftlicher Autoritäten, die „konkrete, geistig, sittlich und formal vollberechtigte Wirklichkeit des Staatslebens" als „Doctrin". 301 Auch in der Opposition Lavergnes zu den Anhängern vernunftrechtlicher und liberaler Ideen in den staatswissenschaftlichen Disziplinen spielte die Frage der Methode eine wichtige Rolle. Schon auf den ersten Seiten der „Grundzüge" beginnt Lavergnes lebenslanger publizistischer und politischer Kampf gegen die „Freiheitsmänner" 302 , gegen die Vertreter des „orthodoxen Liberalismus", die er am liebsten als das diffamierte, was sie längst nicht mehr waren: als Anhänger der Theorie eines vorgesellschaftlichen Naturzustands, aus dem sie ein individualistisches Gleichheits- und Freiheitspostulat ableiteten, das Lavergne ebenso unrealistisch wie gefährlich erschien. 303 Schon in zahlreichen naturrechtlichen Publikationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist der Naturzustand zu einer hypothetischen Hilfskonstruktion mutiert, mit dem staatlichen Zustand gleichgesetzt oder vollständig aufgegeben worden. 304 Vom „erträumten Naturzustand auf wüster Insel", den Lavergne dem „orthodoxen Liberalismus" als Grundlage seiner Theorien unterstellte 305, konnte im Vormärz keine Rede mehr sein. Kämpfte der Rittergutsbesitzer im hintersten Ostpreußen also gegen Windmühlen? Schuf er sich seinerseits eine argumentative Hilfskonstruktion mit der Diffamierung der Theorie vom Naturzustand als grundsätzlich falschem wissenschaftlichen Ansatzpunkt? Weder das eine noch das andere ist der Fall. Er bediente sich lediglich einer für den staats- und wirtschaftstheoretischen Diskurs im Vormärz verbreiteten und charakteristischen antiliberalen Polemik. 306

300

Schmitthenner, Parteien, 2. Bd., S. 221. V. A. Huber, Grundzüge, S. 187 f. 302 Etwa Lavergne, Grundzüge I, S. 365: „Die Lehren der Freiheitsmänner haben die Grundvesten des europäischen Gesellschaftsgebäudes, die feudalen Formen und Schranken, die Antheilswirthschaft, die Zunftverfassung, den Merkantilismus gestürzt. Aus den Trümmern ist in einer Staatsschuldenlast von zehntausend Millionen Thalern ein allzerstörendes Wuchergewächs entsprossen"; ähnlich Lavergne, Grundzüge Π, S. 170; Lavergne, Klitbl. Nr. 46, 1842, Sp. 375. 303 Lavergne, Grundzüge Π, S. 226. 304 Klippel: Naturrecht, S. 273; Klippel, Politische Freiheit, S. 114 ff. 305 Lavergne, Landgemeinde, S. 66. 306 So u. a. auch Leo, Studien , S. 1 f., ironisch: Die Unterteilung in Naturzustand und staatlichen Zustand sei genauso überflüssig wie Sancho Pansas Lob der Erfindung des Schlafs. 301

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

82

Dennoch gelang Lavergne, der sich zu seinem früheren Liberalismus bekannte 307 , die vollständige Abkehr von der vernunftrechtlichen Vorstellung überzeitlicher ökonomischer und gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten nicht. Da er die theoretische Konzeption „ewiger Gesetze" ablehnte, sein Weltbild ihre Existenz aber forderte, sollte die Gesellschaftswissenschaft deren Nachweis erbringen. Das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft von der Gesellschaft lag also in der positiven Definition von Gesetzen, nach denen das ideale Zusammenleben der Menschen immer und überall funktionieren kann: „Die ewigen und unabänderlichen Gesetze, durch welche sowohl die Verhältnisse der Menschen zur anorganischen Welt, wie überhaupt aller Gesellschaftsbestandtheile zu einander bestimmt werden, nennen wir Gesellschaftsgesetze, und es ist die Darstellung der Wege, auf welchen solche zu erforschen, Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen." 308 Hier stoßen wir auf einen Widerspruch in Lavergnes Gesellschaftstheorie: Für die Begründung seiner Stufentheorie benutzte er selbst das Bild eines vorgesellschaftlichen Zustandes als eines Urzustands, in dem der Mensch als triebhaftes Wesen isoliert auf niedrigster Stufe existiert. 309 Wie im älteren Naturrecht verband er mit diesem Zustand zwar auch natürliche Rechte des Individuums; der Übergang in den gesellschaftlichen Zustand ist auch für Lavergne mit der Aufgabe dieser Rechte verbunden - der Naturzustand endet aber nicht, wie es in der Naturrechtslehre dargestellt wurde, in einem Gesellschaftsvertrag. 310 In seiner historisierenden Argumentation bewertete Lavergne ganz ähnlich wie Georg Philipp Büß und Franz Joseph Hepp diesen Urzustand als die erste einer langen Reihe von aufeinander aufbauenden gesellschaftlichen Entwicklungsphasen.311 Dies scheint zunächst die Existenz von überzeitlichen Gesetzen auszuschließen. Lavergne löste dieses Problem wiederum über die Naturwissenschaften, in denen die Naturgesetze die Voraussetzungen oder Parameter für die Veränderbarkeit der natürlichen Welt enthalten. Um die Gesell-

307

Lavergne, Landgemeinde, S. IV. Lavergne, Grundzüge I, S. 6. 309 Lavergne, Grundzüge Π, S. 31 „Im vorgesellschaftlichen Zustande"; S. 35 führt er aus, der Naturzustand sei nicht Gegenstand der Gesellschaftswissenschaft. 310 Lavergne, Socialpolitische Studien, S. 34. Möglicherweise sind das noch Rückgriffe auf das „Preußische Naturrecht" (Dilthey) von dem Klippel, Theorien, S. 72 ff., mit Bezug auf Eckhard Hellmuth spricht. Greijfenhagen, S. 272, weist auf den nur vordergürndig vorhandenen „Gegensatz von Konservatismus und Naturrechtslehre" hin. 311 Er ist „einzig und allein ein Urzustand, das heißt, jener Zustand des Menschen, wo seine Kräfte und Vermögen nicht entwickelt sind, sondern einfach noch in ihrem Keime liegen". Hepp / Büß, S. 59. „Der Naturzustand wird aber nicht, wie in der Naturrechtslehre, auf Grund eines Vertrags, sondern gleichsam 'bewußtlos' verlassen." 308

Euchner, S. 142.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

83

schaft nicht bis zum wissenschaftlichen Beweis der Existenz ewiger Gesetze ins Chaos zu stürzen, muss in dem Zeitraum bis zu ihrer Erforschung die Erfahrung Grundlage aller positiven Gesetze und Entscheidungen sein. So unterliegt die menschliche Gesellschaft in jeder Entwicklungsphase eigenen Gesetzen, die der Staat über die Gesetzgebung weiterentwickeln soll. 3 1 2 Über die Weiterentwicklung staatlicher Gesetze kann das Individuum dazu beitragen, dass auch diese dem Prozess der Vervollkommnung angepasst werden. 313 M i t diesem historistisch-utopistischen Denkmodell 314 versuchte Lavergne zwei gegensätzliche Auffassungen miteinander zu vereinen. Aus einer Zwischenposition zwischen Naturrechtsdenken und historistischer Argumentation soll mit Elementen aus beiden die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft entwickelt werden. Damit stand Lavergne methodisch bereits an der Schwelle zu Historismus und Positivismus. Hier gelangte er allerdings an die Grenzen seiner Gestaltungsmöglichkeiten. Das war ihm offenbar auch bewusst. Ein neues System der Gesellschaftswissenschaft könne er mit seinen „Grundzügen" noch nicht anbieten, da es noch an „Materialien" fehle, klagte er. 315 Das Bestmögliche mit seiner Schrift zu erreichen, bedeute, „dem künftigen Meister einige brauchbare Werkstücke zur Wiedergestaltung des zerrütteten Gesellschaftsgebäudes zu liefern". 316 Er sah sich also keineswegs als Vordenker, sondern als Anreger und Vorbereiter einer Wissenschaft von der Gesellschaft. Inwiefern solche Sätze als rhetorische Koketterie oder echte Bescheidenheit des Autodidakten interpretiert werden müssen, entzieht sich der Beurteilung. Allerdings ist sicher, dass er seinen eigenen methodischen und inhaltlichen Ansatz, gemessen an den bisher erschienenen sozialtheoretischen Schriften, für denjenigen hielt, der erst die notwendigen Anregungen zum zukunftsorientierten Weiterdenken gab: „Nicht die Regeneration der Gesellschaft wollen wir unternehmen. Es sollen vielmehr überall die bestehenden Grundlagen beibehalten werden; die bereits in Wirksamkeit befindlichen Kräfte sollen im Wesentlichen ihre Thätigkeit fortsetzen; sie sollen nur eine andere, den heutigen Verhältnissen mehr entsprechende Gestaltung und Richtung erhalten [...] Bei dem heutigen Stande der Wissenschaft muß jedes tiefere Eingreifen in das

3,2

Lavergne, Grundzüge I, S. 4; ähnlich Grundzüge II, S. 272. „Während den vom Schöpfer ausgegangenen Gesell schaftsgesetzen der Charakter der Ewigkeit und Unwandelbarkeit beiwohnt, müssen die Staatsgesetze ihrer Bestimmung gemäß geändert und umgestaltet werden, je nachdem der Gesellschaftsorganismus selbst Änderungen oder Umgestaltungen erfahren (sie!)." Lavergne, Grundzüge I,S. 6; S. 38. 314 Zum Gedanken der Utopie in der Romantik vgl. Röder, passim. 315 Lavergne, Grundzüge I, S. 12. 316 Lavergne, Grundzüge I, S. Vm. 313

84

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

innere Getriebe des gesellschaftlichen Lebens vermieden werden; man muß, in Anerkennung der wissenschaftlichen Rathlosigkeit, sich gestehen, daß je weniger eingegriffen wird, um so größer die Garantie für die Möglichkeit und Gedeihlichkeit des Unternehmens ist." 3 1 7 Ende der 30er-Jahre hatten also die liberale Staatslehre, die Nationalökonomie sowie die Liberalismuskritik konservativer Provenienz und wenige Jahre später auch diejenige kommunistisch-sozialistischer Herkunft die Gesellschaft als zukünftiges Forschungsfeld im Blick; den in dieser Zeit entstehenden theoretischen Systemen fehlte aber durchgängig noch der Zusammenhang mit den quantifizierbaren Tatsachen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Gesellschafts-wissenschaft im oben definierten modernen Sinne war das jedoch noch nicht. Der Anfang der modernen Sozialwissenschaften war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern gemacht, als im gemeinsamen Krisenbewusstsein an der Schwelle von der ständischen zur industriellen Gesellschaft eine neue wissenschaftliche Orientierung ausgemacht werden kann, die nach Pankoke entweder in eine „progressive bzw. reaktionäre Oppositionswissenschaft" oder eine „affirmative StabiiisationsWissenschaft" mündete. 318 3. Die Gesellschaft als Organismus Für Lavergne war die Gesellschaft ein in ständigem Wandel begriffener Organismus 319 und „der Inbegriff aller zu gemeinsamem Leben und Wirken durch gemeinsame Gesetze und Institutionen verbundenen Menschen, und aller in und auf der von ihnen bewohnten Erdfläche vereinten Gegenstände und Kräfte, soweit solche auf das menschliche Dasein Bezug haben". 320 Allerdings bildet nicht jede Gruppierung von Menschen gleich eine Gesellschaft im Lavergneschen Sinne. Weil Lavergne unwandelbare Gesetze, wie schon erwähnt, nicht aus einem Naturzustand ableiten, sondern über die Gesellschaftswissenschaft erst erforschen wollte, ist Gesellschaft für ihn zunächst keine Konstante, sondern befindet sich in einer permanenten Entwicklung. Gesellschaft ist ein lebendiges Ganzes, und ihre Existenz beginnt nach Lavergnes Definition dann, wenn eine menschliche Gruppierung Lebensmittel geplant produziert. Gesellschaft setzt also zunächst die Fähigkeit zu höherer Produktion, d. h. die Veredelung von Naturprodukten durch den Landbau und

317

Lavergne, Grundzüge Π, S. 382 f. Pankoke, Bewegung, S. 107, bezieht sich hier auf Habermas. 3,9 Zur Entwicklung der Idee des gesellschaftlichen Organismus im 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Ambros, S. 14 ff.; vgl. auch Ritsert,, bes. S. 58 ff. 320 Lavergne, Grundzüge I, S. 1 f. 318

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

85

damit Sesshaftigkeit in Gruppen voraus, 321 „Jäger- und Nomadenstämme" bilden höchstens einen „Gesellschaftskeim, ein embryonisches Gesellschaftsdasein". 322 Gemeinsame Gesetze und Institutionen sowie ein im kollektiven Bewußtsein vorhandenes bewohntes und klar abgegrenztes Gebiet sind die Trennlinien zwischen den Gesellschaften. Gesellschaft ist also für Lavergne kein Synonym für die gesamte Menschheit. Die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft stellt für das Individuum ein „Seelenbedürfnis" dar 323 , weil der „isolirte Mensch" nie eine höhere Kulturstufe erreichen kann. 324 Die Gesellschaft als zivilisatorische Grundeinheit setzt sich zusammen aus Natur, Mensch und Staat und wird durch diese Elemente weiterentwickelt. 325 Diese Bausteine „stehen in dem innigsten Zusammenhange, und wie in einem Theile des menschlichen Körpers nicht leicht eine Aenderung statt haben kann, ohne sofort einen größeren oder geringeren Einfluß auf alle übrigen Körpertheile zu üben, eine Aenderung in dem gesammten Körperzustande hervorzubringen, so finden ähnliche Wechselwirkungen unter den Bestandtheilen des Gesellschaftskörpers statt. Werden etwa Klima, Vegetationskraft, Ausdehnung oder Zusammenhang eines Gesellschaftsbereichs modifizirt; so gehen daraus entsprechende Modifikationen in Beziehung auf Zahl, Stärke, Kultur und Bedürfnisse des Menschen, auf Organisation, Gesetzgebung und Verwaltung des Staats hervor. Umgekehrt ist aber wiederum keine Aenderung in der Gesetzgebung denkbar, ohne auf die Volks- und Bodenverhältnisse einen größern oder geringeren Einfluß zu üben. Anders werden die Gesellschaftsverhältnisse auf reichem und auf armem Boden, auf großer oder kleiner Fläche; anders bei dichter oder dünner Bevölkerung, bei hoher oder niederer Kultur; anders bei weiser oder fehlerhafter Staatsgesetzgebung, mit oder ohne Hülfe der Gesellschaftswissenschaft sich gestalten." 326 Natur, Mensch und Staat bilden gemeinsam die „Urelemente" der Gesellschaft. 327 So ist der Gesellschaftsbegriff durch seine Beschränkung auf ein

321

Lavergne, Grundzüge I, S. 2. Lavergne, Grundzüge I, S. 2. 323 Lavergne, Grundzüge I, S. 64 f. 324 Lavergne, Grundzüge I, S. 19. 325 Die Begrifflichkeiten bleiben verschwommen: An anderer Stelle steht für „Natur" „Land" und für „Mensch" „Volk". Das Element Volk bzw. Mensch erscheint wiederum als Kombination aus den Bestandteilen Körper und Seele. Lavergne, Über die Gesellschaftswissenschaft, Sp. 100; Lavergne, Grundzüge I, S. 17. 326 Lavergne, Grundzüge I, S. 17 f. 327 Lavergne, Grundzüge I, S. 17: „Natur, Mensch und Staat sind die drei Bestandtheile, durch deren Verein die Gesellschaft gebildet wird"; Lavergne, Socialpolitische Studien, S. 3, hier nennt er Natur, Bevölkerung, Staat die „Urelemente" der Gesellschaft. 322

86

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

staatliches Gebilde, seine strenge geographische Abgrenzung einerseits stark eingeengt, andererseits aber als Oberbegriff für alle Elemente des menschlichen Zusammenlebens umfassend. Dabei sprach Lavergne der Gesellschaft jede Statik ab. Durch ihre Elemente befinde sie sich in Bewegung; innere und äußere Faktoren, Naturereignisse, Erfindungen oder außergewöhnliche Menschen und Geschehnisse könnten diese Bewegung verändern, abbremsen, umkehren oder beschleunigen.328 Hier wird einerseits erstmals das starke volkswirtschaftliche Element in Lavergnes Gesellschaftstheorie deutlich, innerhalb dessen er dem Geld die Rolle als „Hauptbewegungselement"329 zuwies. Andererseits wird noch einmal die Notwendigkeit der Einwirkung der Gesellschaft auf die Vervollkommnung des Individuums hervorgehoben. Ähnlich wie die vernunftrechtlich argumentierende Staatswissenschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts einen Staatszweck formulierte, postulierte Lavergne diese Vervollkommnung als Gesellschaftszweck. 330 Parallel zum Zweck „menschlichen Daseins überhaupt" wird ein „höheres Ziel" durch geistiges Wachstum und die „Ausbildung aller dem Menschen innewohnenden höheren Kräfte" angestrebt. Der Gesellschaftszweck ist damit direkt auf das Individuum ausgerichtet: Er verfolgt die „unendliche Vervollkommnung des Menschen in seiner dreifachen Eigenschaft als sinnliches, geistiges und sittliches Wesen". In einem teleologischen Sinn soll der Mensch zum sittlich selbstkontrollierten, sozialen Wesen erzogen, sollen seine Kräfte geweckt und kultiviert werden; die Ausbildung und Bildung der „Volksmassen" bis hin zu ihrer Vervollkommnung sind der Zweck der Gesellschaft. 331 Der Staat wird im Verlauf dieser Entwicklung immer mehr zurückgedrängt, bis er im idealen Staats-Gesellschafts-Verhältnis nur noch die Funktionen der Gesetzgebung und der inneren und äußeren Sicherheit besetzt.332 So entwickelte Lavergne ein Bild der Interdependenz zwischen Staat und Gesellschaft, das

328 Etwa die Erfindungen des Buchdrucks, die Dampfmaschine, der Anbau der Kartoffel, „Christus, Mahomet und andere hochbegabte Männer", Lavergne, Grundzüge I, S. 19. 329 Lavergne, Grundzüge I, S. 81. 330 Lavergne, Grundzüge I, S. 16; Grundzüge II, S. 43. 331 „Die Gesellschaft ist die große Schule, in der die edleren Kräfte des Menschen zur Entwickelung gelangen, sie gewährt - bei entsprechender Gestaltung - uns Anregung und Hülfsmittel zur rastlos vorschreitenden Vervollkommnung". Lavergne, Grundzüge II., S. 1; vgl. S. 130; S. 43; Liberalismus, S. 3. 332 Lavergne, Grundzüge I, S. 16 f.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

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weder auf Trennung noch auf Identität aufbaut. 333 Wenn Lavergne synonym für Gesellschaft ebenfalls den Begriff der „Staatsgemeinde" gebrauchte, wird damit die hierarchische Abstufung zwar vordergründig aufgehoben, im Hinblick auf Lavergnes später entwickelte Gemeindetheorie muss diese „Staatsgemeinde" als Oberbegriff für alle von ihm entwickelten Gemeindeformen (Landgemeinde, Stadtgemeinde, Kirchspiels-, Kreis- und Provinzialgemeinden) aber vom Zentralstaat abgegrenzt werden. 334 Lavergnes Gesellschaftsauffassung unterscheidet sich von dem des liberalen wie auch des konservativen „Mainstream" in Deutschland. Anders als die Liberalen seiner Zeit, die, dem Hegeischen Bild von der bürgerlichen Gesellschaft folgend, deren strikte Trennung vom Staat theoretisch mehrheitlich längst vollzogen hatten oder auf dem Weg dahin waren 335 , hielt Lavergne an einer zwingenden hierarchischen Verbindung fest. Nach seiner Überzeugung kann es weder eine reale noch eine fiktive vor- oder außer staatliche Gesellschaft geben, wie sie das Vernunftrecht dem Staatsvertrag vorgeschaltet hatte. 336 Da Staat und Gesellschaft jedoch unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten gehorchen, betrachtete sie Lavergne gleichzeitig auch als getrennte Organismen. In seiner historistischen Perspektive stellte dies keineswegs einen Widerspruch dar: In einer bestimmten menschlichen Entwicklungsstufe entsteht, so Lavergnes Vorstellung, das Bedürfnis nach staatlicher Organisation und einer Hierarchie, durch die sich Gesellschaft erst konstituiert. Die hierarchischen Unterschiede in der Natur von Staat und Gesellschaft drücken sich auch in der Art der Gesetzmäßigkeiten aus, denen Lavergne die beiden Organismen unterworfen sah. Die gesellschaftliche Ordnung sowie die Art und das Tempo ihrer Veränderungen sind a priori durch ungeschriebene „ewige" und „unwandelbare" Gesetze geregelt. 337 In ihrer Bedeutung kommen sie Naturgesetzen gleich 338 ; in ihnen offenbare sich, so schrieb er 1846, „der Geist Gottes". 339 Wer mit seinen Vergleichen so hoch greift, erhöht damit den

333

„Die großen Festlande der Erde zerfallen in mannigfache Gesellschaften, welche gemeinhin Volk, Nation, Land, Staat oder Reich genannt werden, ohne dadurch den Gesammtbegriff auszudrücken, welchen wir durch Gesellschaft bezeichnen wollen, denn diese wird gerade durch den Verein von Land, Volk und Staat gebildet." Lavergne, Grundzüge I, S. 2. 34 Lavergne, Grundzüge I, S. 2; Lavergne, Landgemeinde, erschien 1841. 335 Vgl. bes. M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft, S. 751 ff. 336 Lavergne, Grundzüge Π, S. 34; Lavergne, Über die Gesellschaftswissenschaft, Sp. 100; zur Entwicklung der Idee vom Naturzustand vgl. bes. Klippel, Theorien. 337 Lavergne, Grundzüge I, S. 6, 16; Lavergne, Liberalismus, S. 16, 102, 104; Lavergne, Grundzüge II, S. 337; Lavergne, Staatslehre S. 18, 33, 72. Lavergne, Grundzüge I, S. 39. 339 Lavergne, Liberalismus, S. 104.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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Anspruch der eigenen Theorie und setzt alle konkurrierenden Theorien der Kritik aus, das Wesentliche nicht erkannt zu haben: „Haben sie aber mit den Bauregeln sich bekannt gemacht, sind sie bemüht gewesen, die ewigen Gesetze des Güter- und Kulturlebens zu erforschen und daraus die Prinzipien abzuleiten, deren Anwendung das Gelingen ihres großen Unternehmens allein gewährleisten kann? Es muß offen bekannt werden, daß derartige Vorbereitungen entweder gar nicht, oder doch nur in ganz untergeordneten und ungenügendem Maaß Statt gefunden haben." 340 Dies trifft vor allem die institutionalisierte Staatswissenschaft, von der Lavergne behauptete, sie könne nur durch einen Fortschritt in der Gesellschaftswissenschaft weiterentwickelt werden. 341 Gleichzeitig folgerte er aus dieser Feststellung, dass damit auch alle „Baugesetze" des Staates in den liberalen Konstitutions-Entwürfen nicht zutreffen können, weil die Gesetze, nach denen ein staatliches Gemeinwesen funktioniert, erst aus den noch zu erforschenden Gesellschaftsgesetzen abzuleiten seien. Sollen nämlich Staat und Gesellschaft so aufeinander einwirken, dass in allen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen Fortschritt möglich wird, müssen sich beide Arten von Gesetzen miteinander in Einklang befinden. 342 Die Gesellschaftswissenschaft soll diese nachrevolutionäre neue Harmonie herbeiführen. Wenn der Rittergutsbesitzer zunächst auch mit der Negation eines irgendwie gearteten Naturzustands und der Übernahme der romantischen Vorstellung einer evolutionär verlaufenden Gesellschaftsentwicklung konservatives Gedankengut zu rezipieren scheint, ist die Idee einer dem Staat übergeordneten Gesellschaft mit den Ansichten der konservativen Wortführer in Deutschland nicht vereinbar. Sie akzeptierten zum einen keine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, zum anderen räumten sie dem staatlichen Element den unbedingten Vorrang vor dem gesellschaftlichen ein. 343 Ewig gültige Gesetze finden sich im konservativen Weltbild nicht. 344 Andererseits betonten die kon-

340

Lavergne, Grundzüge II, S. 337. „Nur in dem Maaße, wie die Gesellschaftswissenschaft vorschreitet, ist eine höhere Ausbildung der Staatswissenschaften denkbar", Lavergne, Grundzüge I, S. 39. 342 Lavergne, Grundzüge I, S. 6 u. 16. 343 Etwa A. Müller, Elemente, Bd. I, S. 50; Grebenhagen, S. 189 f., fasst diese Haltung wie folgt zusammen: „[...] in der Konfrontation mit der liberalen Trennung von Staat und Gesellschaft, Autorität und Interesse, entwickelt der Konservatismus seine Lehre vom Vorrang staatlicher Autorität vor gesellschaftlichen Interessen". 344 „Fürwahr, in den »natürlichen' Gesetzen dieser Epigonenschule ist nicht mehr Natur, als einstmals in der Sklaverei war, die dem Altertum ebenfalls ,natürlich' erschien." Rodbertus-Jagetzow, Brief, S. 7. 341

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

89

servativen Autoren den Primat des Staates über die Gesetze, dem auch die Gesellschaft unterliegt. Ein Versuch der Einordnung der Lavergneschen Gesellschaftstheorie stößt zwangsläufig auf den zweiten ihr innewohnenden Widerspruch, dass für ihn Gesellschaft auf der einen Seite die Metaebene des Staates ist, aber gleichzeitig nur innerhalb einer staatlichen, d. h. durch Gesetzgebung geschaffenen Norm existieren kann. Auf diesem widersprüchlichen Konstrukt errichtete Lavergne seine gesamte Theorie der Gesellschaftswissenschaft, die er als alles Soziale und Ökonomische umfassende Leitwissenschaft auch der Staatswissenschaft überordnete. 4. Der Staat als Element der Gesellschaft Mit dem „unermeßlichen Gesellschaftsreich" sah Lavergne den zukünftigen Wissenschaftler vor einer fast unerfüllbaren Aufgabe, die er nur mit Hilfe des „zerlegenden Wegs", also über die getrennte Betrachtung der vier Elemente Natur, Körper, Seele und Staat 345 und ihrer jeweils eigenen Kraftfelder - also „Naturkraft", „Körperkraft", „Seelenkraft" und „Staatskraft" - bewältigen könne. 346 Als „Urelemente" seien die beiden ersten - Natur und Körper - unabhängig von der Gesellschaft vorhanden und von dieser nur bedingt umzugestalten, Seele und Staat aber als „Früchte des Gesellschaftslebens" anzusehen. 347 Unter „Natur" verstand Lavergne in einem universalen Sinn die ganze organische Welt, deren Gesetzmäßigkeiten der Mensch zu seinem eigenen Vorteil immer besser zu begreifen versuche. Mit der von ihr ausgehenden Vegetationskraft schaffe die Natur, abhängig von den geographischen und klimatischen Gegebenheiten sowie den kultivatorischen Fähigkeiten der Menschen, die materielle Grundlage für die Existenz von Individuen, Gesellschaft und Staat. 348 „Körper" steht bei Lavergne für die physische Existenz des Einzelwesens, gleichzeitig aber auch für die Summe aller existierenden Menschen, getrennt von geistigen und sittlichen Eigenschaften, „weil beide heterogener Natur und ganz verschiedenen Bedürfnissen und Gesetzen unterworfen sind" 349 . Dem Körper schrieb er die beiden Eigenschaften „Arbeitskraft" und „Konsumtionsbedürfnis" zu, womit an dieser Stelle lediglich die aktive und

345

Lavergne, Grundzüge I, S. 20 f. Vgl. Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 158. 347 Lavergne, Grundzüge I, S. 21. 348 Lavergne, Grundzüge I, S. 26 ff.; S. 27 macht er den Versuch, Maßeinheiten für die Vegetationskraft zu entwickeln, führt diesen jedoch nicht weiter fort. 349 Lavergne, Grundzüge I, S. 28 f. 346

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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passive Seite der Aneignung, Erhaltung und Erweiterung der physischen Kraft gemeint ist. Erst im Zusammenhang mit der „Produktionswissenschaft" stellte er diese Begriffe in einen ökonomischen Kontext. Der Begriff der Seele ist nicht in erster Linie im christlich-religiösen Sinn zu sehen, bezeichnet also nichts Transzendentes, sondern „die geistige und sittliche Kraft des Menschen" und alle „Kenntnisse, Fähigkeiten und Seeleneigenschaften, wodurch der kultivierte Mensch sich über den Naturmenschen erhebt". 350 Die Seele entwickelt sich nach Lavergnes Vorstellung in drei Phasen von der Periode der Leidenschaft über die der Vernunft hin zur Periode der Sittlichkeit. 351 Im Verlauf dieser Entwicklung werde die Geisteskraft von einer untergeordneten zur dominierenden Größe, d. h. geistige Bedürfnisse und ihre Befriedigung erhalten Priorität vor den „sinnlichen und niederen Bestandtheilen des Menschen". 352 Aus der Verschmelzung der Elemente Körper und Seele entwickelte Lavergne seinen Volksbegriff, den er synonym mit Nation gebrauchte. Volk und Nation sind „der Inbegriff der Körper- und Seelenkräfte". 353 Während er Volk und Nation als natürliche Einheit sah, steht der Staat als verfasste Institution auf einer anderen Ebene: „Die künstlichen Institutionen, durch welche die Verhältnisse der Menschen zur Natur und zur Gesellschaft geordnet und vermittelt worden; durch welche die Kräfte der Einzelmenschen zu gemeinsamem Wirken nach gemeinsamem Plane vereinigt, durch welche den einzelnen Gesellschaftsbestandtheilen Raum und Wirkungskreis zu ihrer Entwickelung und Berufserfüllung angewiesen, Störungen gehindert, und alle gemeinsamen Interessen wahrgenommen und gefördert werden sollen, Religion, Gesetzgebung und Verwaltung, sie bilden unter dem Namen Staat oder Staatskraft das vierte Gesellschaftselement." 354 Anders als die immer gültigen Gesellschaftsgesetze entwickelten sich für Lavergne ähnlich wie im germanistischen Zweig der Historischen Rechtsschule 3 5 5 die Staatsgesetze aus dem jeweils aktuellen Gesellschaftszustand heraus permanent weiter. Würden die Institutionen des Staates, zu denen er auch die Gesetze zählte, nicht in der notwendigen Weise weiterentwickelt, bedeute dieser Stillstand im Endeffekt den „Tod" des Gemeinwesens, warnte Lavergne. 356 In der Anpassung seiner Gesetze erfülle der Staat seine Aufgabe der „Er-

350 351 352 353 354 355

356

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Grundzüge I, S. 21 u. 30 f. Grundzüge I, S. 31 ff. Grundzüge I, S. 34. Grundzüge I, S. 21. Grundzüge I, 21 f.

Vgl. Kroeschell, S. 130 ff.

Lavergne, Grundzüge I, S. 38.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

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richtung, Erhaltung und Entwickelung des Gesellschaftsorganismus" hin zur „erhabenen Erreichung der Gesellschaftszwecke". 357 Das Gesetz war in Lavergnes Diktion als „leitender Gesellschaftsgeist" der erste Grundbestandteil des Staates: Ihm sind die Verwaltung als Vollzugsorgan und die Staatsform zugeordnet, die über Form und Organisation der beiden ersten entscheidet. Dem Zentralstaat billigte Lavergne dabei nur eine „allgemeine Leitung" zu; erst durch die Verteilung von Staatsaufgaben auf möglichst viele Personen - Gemeinden, Korporationen und einzelne Bürger - könne der Staat das gesamte Gemeinwesen durchdringen. Hier deuteten sich Lavergnes später vertretene Selbstverwaltungsideen an. Wie wir dann sehen werden, sparach er aber nicht von demokratischer Partizipation, sondern von einer gemischt berufsständisch und eingeschränkt demokratisch organisierten Teilhabe ausschließlich auf Gemeindeebene bei überwiegend ehrenamtlich organisierter Verwaltung. Folgt die Verfassung eines Staates dem von Lavergne entwickelten Modell, ergibt sich die „Staatskraft" aus der Summe der Einzelinstanzen, wenn nicht, geht die Kraft von der zentralen Gewalt aus: „Es ist die Herstellung des Gleichgewichts zwischen den örtlichen, provinziellen und centralen Gewalten eine der großen Aufgaben des Jahrhunderts, und der Wissenschaft liegt es ob, die leitenden Prinzipien nachzuweisen."358 Weiter ging der Rittergutsbesitzer in den „Grundzügen" nicht auf die Ausgestaltung einer Staatsverfassung ein. Auch zur Staatsform blieben seine Aussagen zurückhaltend: Wenn er ausführte, dass von der Geldwirtschaft als der modernsten Wirtschaftsform in Verbindung mit der Monarchie die geringste „Gesetzestyrannei" zu erwarten sei 359 , verkündete er damit seine Überzeugung von der Überlegenheit dieser Kombination im Vergleich mit anderen Staatsund Wirtschaftsformen: „Die reine Geld wir th schaft kann dauernd nur bei monarchischer Staatsform, bei ungetheilter Souveränetät bestehen, weil nur diese die Einheit, Konsequenz, und Macht besitzt, welche die rationelle, belebende und leitende Durchführung eines allgemeinen Geldwirthschaftssystems erfordert; weil nur diese von Privat- und Parteirücksichten so frei sein kann, wie dies die unbefangene und rationelle Leitung der gesellschaftlichen Geld- und Productionskräfte unerläßlich erheischt." 360 Denn der ideale Staat 361 lässt seine Bewohner durch maßvolle Gesetzgebungstätigkeit ein Höchstmaß an individu-

357

Lavergne, Grundzüge I, . 38; Grundzüge Π, S. 62: Der Staat muss „den organischen Entwickelungsgang der Gesellschaft unausgesetzt miterben, mit demselben aufs innigste verbunden bleiben". 3 Lavergne, Grundzüge Π, S. 213. 359 Lavergne, Grundzüge II, S. 84. 360 Lavergne, Grundzüge I, S. 360. 361 Das ist der Staat in der fünften Kulturstufe, Lavergne, Grundzüge Π, S. 79 f.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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eller Freiheit erleben: „Je weniger es bei Verrichtung der dem Staate obliegenden Functionen der Anwendung seiner Zwangsgewalt bedarf, um so höher ist zuverlässig die Nationalkultur entwickelt." 362 Im Zusammenhang mit der Ausgestaltung der Gesellschaftswissenschaft interessierte ihn der Staat also in erster Linie als gesellschaftlichen Fortschritt beschleunigender Gesetzgeber, der im Falle von Missbrauch seiner Gewalt die „Freiheit der gesellschaftlichen Bewegungen" behindert. 363 Die Fragen nach Gewaltenteilung, einer geschriebenen Verfassung, Volkssouveränität oder demokratischer Partizipation, die die damalige staatswissenschaftliche Diskussion beherrschten 364, kamen im Vokabular der „Grundzüge" nicht vor. Vielmehr stand für Lavergne in diesem ersten Band der Nachweis im Vordergrund, dass auch der Staat eine produktive Kraft darstelle. Produktiv handelte der Staat nach Lavergne dann, wenn er möglichst viele Kräfte zum gemeinsamen Handeln bündeln und aktivieren konnte, und das gelinge ihm am besten über das Hilfsmittel Geld. Darin solle er sich „einen Stellvertreter [...] verschaffen, den seine Eigenschaft der Theilbarkeit, und sein Streben nach Allgegenwart in ganz vorzüglichem Grade zur Vermittlung zwischen Personen und Sachen, wie der einzelnen unstrittigen Geschäfte des bürgerlichen Lebens befähigen. Nur indem solcher Art einerseits die Bürger an der Staatsverwaltung Theil nehmen anderseits im Gelde ein allgegenwärtiger und unparteiischer Vermittler aufgestellt wird, erscheint die Verrichtung der mannigfachen Staatsfunctionen, bei gleichzeitiger Bewahrung der individuellen Bewegungsfreiheit möglich." 365 Die eigenwillige Vorstellung Lavergnes von der Funktion des Geldes als „Institution" des Staates366 war zwar von der merkantil istischen Auffassung 367 abgeleitet, in ihrer extremen Ausprägung aber in der zeitgenössischen Literatur einzigartig. 368 Geld war für ihn ein „mobiler Deputierter des Staates", sogar der Stellvertreter des Staates innerhalb der Gesellschaft 369, und der Geldkreislauf im „Gesellschaftskörper" entsprach dem des Blutkreislaufs im „animalischen" Körper 370 . Deshalb hat auch nur der Staat das Recht zur Herstellung

362

Lavergne, Grundzüge Π, S. 83; ähnliche Begrifflichkeit bei Hepp/Buß, S. 69 ff. Lavergne, Grundzüge Π, S. 84. 364 Eine umfassende Darstellung dieser Diskussion bei V. Müller, passim; bes. zur Diskussion der Volkssouveränität zu Beginn des 19. Jahrhunderts Boldt, Art. Staat, S. 129 ff. 365 Lavergne, Grundzüge I, S. 40 f. 366 Lavergne, Grundzüge I, S. 93. 363

367

368 369 370

Vgl. Κ. Η. Schmidt, S. 40 f.

Zur Entwicklung der Geldtheorien im 19. Jahrhundert Ehrlicher, S. 231-258. Lavergne, Grundzüge I, S. 81. Lavergne, Grundzüge I, S. 362.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

93

und Ausgabe von Geld, um auf diese Weise im Idealfall Gleichheit zwischen den wirtschaftenden Einwohnern herzustellen. Im Geld sah Lavergne das einzige Mittel, den Wert von Produkten und von Arbeit einheitlich und für alle transparent festzulegen. So repräsentierte das Geld als unparteiischer Vermittler der „Geschäfte des bürgerlichen Lebens" den Staat. 371 Ziel des Staates müsse es sein, bei der Geldverteilung und der Geldbewegung einen wissenschaftlich vorzudefinierenden Idealzustand zu erreichen, forderte Lavergne. 372 Wie weiter unten noch differenzierter darzustellen ist, hat der Staat über die Stützung von Handwerksbetrieben, über Rechts-, Polizei- und Steuergesetzgebung sowie über eine Grundversorgung mit Gütern die Wirtschaft zu lenken und zu regulieren. 373 Diese Maßnahmen sollten darüber hinaus durch eine aktive beschränkende Bevölkerungspolitik unterstützt werden. 374 Die umfangreichen regulierenden, anregenden und bremsenden Aufgaben des Organismus „Staat" fasste Lavergne unter dem Oberbegriff der „Zwangsbewegungsgewalt"375 zusammen, die den freien Bewegungsprinzipien der gesellschaftlichen Kräfte gegenüberstehe. 376 Auf diesen beiden Polen ruhte die „Bewegungstheorie" Lavergnes: „Wir wenden uns zunächst zu den Bewegungsgesetzen, weil ohne deren Verständniß die Gesellschaftsgesetze so wenig zu erkennen, als die Gesellschaftskräfte zu leiten sein werden." 377 5. Die Bewegung als Paradigma des Fortschritts Wer im Vormärz über den Fortschritt, über die Welt verändernde Kräfte, über Zukunftsorientung und eine Eigenschaft schrieb, die man heute Problemlösungskompetenz nennen würde, benutzte zumeist den Begriff der Bewegung. 378 Dahinter stand, ausgelöst durch die Veränderungen und kriegerischen Auseinandersetzungen im Anschluss an die Französische Revolution, das Bewusstsein der veränderbaren Existenz von Staaten, Gruppen und Individuen. In dieser damals als „sociale Bewegung" empfundenen Entwicklung hat Eckart Pankoke den „teleologischen Bewegungsbegriff' entdeckt, der mit der

371

Lavergne, Grundzüge I, S. 90 f, S. 92 u. 95. Lavergne, Grundzüge I, S. 95. 373 Lavergne, Grundzüge I, S. 115 ff. 374 Lavergne, Grundzüge Π, S. 226 ff. u. 280 f. 375 Lavergne, Grundzüge I, S. 124. 376 Lavergne, Grundzüge II, S. 142. 377 Lavergne, Grundzüge I, S. 42. 378 Pankoke, Bewegung, S. 19 ff., spricht von der Bewegung als „Schlüsselkategorie des Revolutionszeitalters". 372

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Vorstellung der sozialen Revolution korrelierte, und den „empirischen Bewegungsbegriff 4 , der auf die soziale Mobilisierung aufbaute. 379 Bewegung war also ein Topos, der gleichzeitig ein positives vormärzliches Lebensgefiihl und ein Krisenempfinden in Verbindung mit optimistischer Zukunftsorientiertheit ausdrücken wollte. Im politisch-weltanschaulichen Bereich fand sie ihren Ausdruck vor allem im Selbst- und Fremdbild des bürgerlichen Liberalismus. 380 So entwickelte Karl Heinrich Ludwig Pölitz aus dem Antagonismus zwischen dem politischen Prinzip der Stabilität und dem der Bewegung als Mittelding zwischen beiden das Prinzip der Reformen. 381 Für Pölitz war der Badener Carl v. Rotteck der typische Anhänger der „Bewegungspartei". Rotteck selbst erhob das Gemeinwohl zum Ziel der voranschreitenden Bewegung, „und die Bewegung selbst, wenn Rechtliebende unter ihre Fahne sich reihen sollen, darf nicht wo anders, als auf den Bahnen des Rechts oder des rechtsbeständigen Gesetzes geschehen". 382 Die Bewegungsspartei, in Rottecks Fall identisch mit der liberalen, arbeite für die Durchsetzung dieses Rechtsgedankens, für Wahrheit, Repräsentation und die Möglichkeit der individuellen Interessenvertretung. 383 Dass die „Bewegungspartei" nicht nur ein Terminus der Wissenschaft war, belegt das Brockhaus-Lexikon in seiner achten Ausgabe von 1833. Der Verfasser des Artikels „Bewegung" beschäftigte sich hier intensiv mit den unterschiedlichen Strömungen in der „Partei der Bewegung": „Die einen wollen langsam, aber desto sicherer vor schreiten; die Andern feuriger lieber das Alte einreißen als ausbessern." 384 In den Reihen der Gegner fanden sich danach erstens „diejenigen, welchen der gegenwärtige Zustand Vortheile bringt", und „diejenigen, welche zwar die Nothwendigkeit der Reformen zugeben, auch die Hände dazu bieten, aber nur eine richtige Mitte dabei behaupten, d. h. nicht nur übertriebenen und gewaltthätigen Maßregeln (Revolutionen) widersprechen, sondern auch zuweilen aus Mangel an Einsicht und Kraft gerechten, aber entschiedenen Abänderungen entgegen sind". 3 8 5 Das Verschwinden des

379

Pankoke, Bewegung, S. 21. L v. Stein, Geschichte, Bd. 1, S. 6, spricht vom Gesetz der Bewegung der Gesellschaft; Sheehan, Liberalismus, S. 36: „[...] sie sprachen von Fortschritt und Bewegung und gründeten ihre eigene Legitimation auf die Tatsache, daß sie als Partei die Bewegung und die Richtung des Wandels repräsentierten". 381 Pölitz, Grundsätze, S. 525-541; Pölitz, Programm. 433. 382 C. v. Rotteck, Art. Bewegungs-Partei, S. 559. 383 Pölitz: Programm, S. 440, zitiert aus dem Rotteck-Artikel „Bewegungspartei" im Staatslexikon und grenzt sich selbst von Rotteck als Anhänger der Partei der Reformen ab. 380

384 385

Brockhaus 1833, S. 851. Brockhaus 1833, S. 851.

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

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Begriffes aus dem Brockhaus-Conversationslexikon mit der Ausgabe von 1854 belegt, dass die Hochphase des politischen Terminus „Bewegung" mit dem Ende des Vormärz vorüber war. 386 Auch der Gießener Staatsrechtler Friedrich Schmitthenner beschrieb die unterschiedlichen Positionen der Parteien mit Hilfe des Gegensatzpaars Bewegung und Stillstand. Dass das eine das andere nicht immer ausschloss, glaubte er am Beispiel Belgien belegen zu können. Dort sei Fortschritt, also Bewegung, auch unter einer Partei des Stillstands möglich gewesen. Wie bei Pölitz, nach dessen Auffassung die Bewegungspartei das Erhaltenswerte im Überkommenen übersah, erhielt auch bei Schmitthenner der Begriff der Bewegung einen negativen Beigeschmack. Bedauernd stellte er fest, dass „sich selbst der loyale Liberalismus die Benennung des Systems der Bewegung gefallen lassen" müsse. Dabei wolle er lediglich auf dem „Gebiet der Wohlfahrt und Kultur" Fortschritt um jeden Preis, während er im Recht das Neue gegen das Überkommene abwäge und sich dem Staatszweck gemäß entscheide.387 In der Literatur, so sah es mit Karl-Hermann Scheidler ein anderer Kritiker der „Bewegungspartei", vertrete das „Junge Deutschland" deren im sozialen Sinne fahrlässige Prinzipien, und zwar mit der allgemeinen „Tendenz jener Partei, die wichtigsten Fragen des socialen Lebens in das Gebiet leichtsinniger Belletristik herabzuziehen und die Fundamente des Staates, Sittlichkeit und Religion, durch Sophisterei und Blasphemie zu untergraben". 388 Obwohl Lavergne über den Liberalismus ähnlich dachte, bewertete er den Begriff der Bewegung ausschließlich positiv und empfand ihn unabhängig von politisch-philosophischen Grundsätzen als allgemeines Signum seiner Zeit: „Aber die Existenz jedes Organismus beruht auf der Bewegung, diese ist Grundbedingung des organischen Lebens, und die Kultur muß alle Bewegungen des individuellen oder gesellschaftlichen Lebens theilen, sie muß vor- oder zurückschreiten, denn Stillstand - er würde ein Zeichen der organischen Auflösung, des herannahenden Todes sein." 389 Ähnlich, jedoch etwas abgeschwächt sprach 1845 Adolf Schmidt von einem „bewegenden Prinzip der Zeit", das er hinsichtlich der sozialen Frage in einer „Verbrüderung der Interessen" zur Bildung von Assoziationen erkannte. 390 Nicht weit davon bewegt sich Lorenz v. Stein mit seiner Deutung von Bewegung als „Grundfigur zeit-

386 Art. Bewegung, in: Brockhaus, 1833, S. 850 ff.; Brockhaus, 1854, S. 487-488; Brockhaus, 1864, S. 184-185. 387 Schmitthenner, Parteien, S. 233. 388

389 390

Scheidler, S. 387.

Lavergne, Grundzüge Π, S. 63. F. Schmidt, Zukunft, S. 37.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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geschichtlicher Erfahrung". 391 Gleichzeitig empfand v. Stein aber ein „Labyrinth der Bewegung", in dem allein die Wissenschaft der Gesellschaft den Anspruch auf die Offenlegung „gesellschaftlicher Entwicklungsperspektiven" und „politischer Handlungsperspektiven" habe. 392 Eckart Pankoke hat in der „bewegungswissenschaftlichen" Auffassung richtig das Originäre des Lavergneschen Ansatzes erkannt. 393 Nicht nur das Individuum gehorcht dem Prinzip der Bewegung, sondern jedes Element der Gesellschaft: die Produktion, der Staat und die Kultur. Die Summe dieser Bewegung macht schließlich die Bewegung der Gesellschaft aus. Der Gegenpol der Bewegung ist nicht eine zum reflektierenden Innehalten anregende Stagnation wie bei Pölitz, sondern ein Stillstand, den Lavergne als die „Quelle des Todes und der Vernichtung" darstellte. 394 „So besitzt die Gesellschaft selbstständige Bewegung und Thätigkeit, eine eigenthümliche Lebenskraft, hervorgerufen durch die Lebenskraft der Bestandteile" 395 Die dieser Bewegung zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten waren nach Lavergnes Worten die „Basis der Gesellschaftswissenschaft". Dass ohne ihre Kenntnis keine wissenschaftliche Analyse der Produktions-, Kultur-, und Staats-einrichtungen möglich sei, war eine seiner Grundannahmen. 396 Denn erst die Erkenntnis davon, wie das Wechselspiel zwischen freier Bewegung innerhalb der Gesellschaft und den Bewegungsprozessen, die der Staat mit seinen Machtmitteln auslösen kann, funktioniert, führe zum harmonischen Einklang zwischen freiem und Zwangsbewegungsprinzip. Lavergnes Definition der Freiheit des Individuums ähnelte auf den ersten Blick dem liberalen Dogma: „Es ist Freiheit nothwendig, um der Thätigkeit den so unentbehrlichen Spielraum darzubieten; Freiheit der Person, Freiheit der Sa-chen, der Rede, des Gedankens, der Schrift, natürlich mit denjenigen Schranken, welche die Erhaltung der fremden wie der allgemeinen Freiheit erfordert, und dadurch Zügellosigkeit hindert." 397 An anderer Stelle schrieb er, dem Menschen „wohnt Freiheit der Bewegung bei". Jedoch war die Einschränkung des Freiheitsbegriffs in beiden Zitaten bereits angelegt. Wenn Lavergne von der „Freiheit der Bewegung" sprach und

391

Pankoke, Gesellschaftslehre, S. 843. Zit. nach Pankoke, Gesellschaftslehre, S. 843. 393 Pankoke, Gesellschaftslehre, S. 843, meint, Lavergne verspreche sich „von einer bewegungswissenschaftlichen Gesellschaftslehre Aufschluß über neue Möglichkeiten, die modernen 'Bewegungshebel' gesellschaftspolitisch unter Kontrolle zu bekommen". 394 Lavergne, Grundzüge I, S. 17; Grundzüge Π, S. 221: Lavergne nennt diesen Zustand „zur Verwesung führende Stagnation". 395 Lavergne, Grundzüge I, S. 19. 396 Lavergne, Grundzüge I, S. 44. 397 Lavergne, Grundzüge I, S. 61. 392

IV. Die Gesellschaftswissenschaft

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mit der Definition „Schranken" der individuellen Freiheit gegenüber dem Mitmenschen und der Allgemeinheit einforderte, ordnete er das Individuum dem Interesse der jeweils übergeordneten Gruppe unter. Freiheit als individuelles Grundrecht konnte für Lavergne nur innerhalb staatlicher Ordnung existieren; in ihrer ausgedehntesten Form sei sie erst im Kulturstaat unter vervollkommneten Individuen zu gewähren. 398 Diese Forderung implizierte wiederum, dass der Staat entsprechend seiner Entwicklungsstufe das jeweils höchste Maß an individueller Freiheit zu ermöglichen habe, weil er andernfalls den Fortschritt zur nächsten Kulturstufe hemme. 399 Zu den Elementen der Gesellschaft und ihren Gesetzmäßigkeiten, wie Lavergne sie in den „Grundzügen" darstellte, ist an dieser Stelle festzuhalten: Die Bewegungsgesetze der Gesellschaft in ihrem jeweils aktuellen Stadium setzen sich aus denen der Natur, des Menschen und des Geldes zusammen. Natur und Mensch gehorchten im vorgesell schaftlichen Zustand anderen Antriebsmomenten als innerhalb der Gesellschaft, während das Geld noch gar nicht existierte. Die vorgesellschaftlichen „Elementargesetze" veranlassen das isolierte Individuum lediglich zur ichbezogenen Nahrungssuche, während innerhalb der Gesellschaft die Mitmenschen und der Staat als Impulsgeber für das Individuum fungieren. Chemische Reaktionen und biologische Gesetze machen den gesellschaftlich unberührten Charakter der Natur aus, während Mensch und Staat die Natur durch Ausbeutung und Bewirtschaftung nachhaltig verändern. 400 Natur und vorgesellschaftlicher Zustand können deshalb nur in dem Maße für die Gesellschaftswissenschaft von Interesse sein, wie sie den „Gesellschaftsverein" direkt beeinflussen. Mit dieser Einschränkung verfolgte Lavergne einen praktischen Nutzen. Sein Ziel war es, Bewegung und Kräfte innerhalb der Gesellschaft und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Wirkung aufeinander zu ermitteln, zu formulieren und dem „Staatsmann" zur Verfügung zu stellen. 401 Ohne ihre Kenntnis war für Lavergne jede wissenschaftliche Erfassung und Verwertung von Produktions-, Kultur- und Staatseinrichtungen unmöglich. 402 Seine „bewegungswissenschaftliche Methode" 403 fasste er mit

398 Lavergne, Grundzüge Π, S. 82 f: „Die harmonische Entwickelung jedes Organismus wird aber überdies durch das Maaß der Freiheit bedingt, mit dem sowohl er selbst, als seine Bestandthiele ihre Functionen verrichten."; Lavergne, Grundzüge Π, S. 84. 399 Lavergne, Rezension v. Lists „System", Sp. 156. 400 Lavergne, Grundzüge I, S. 44 f. 401 Lavergne, Grundzüge I, S. 8 f. 402 Lavergne, Grundzüge I, S. 44. 403 Pankoke, Art. Soziologie, S. 1008: Die Vorgehensweise Lavergnes ist die Bewegungswissenschaft. Lavergne arbeitet mit dem „Vertrauen, über gesetzes- wie bewegungswissenschaftliche Orientierungen die gesellschaftspolitische Praxis kontrollieren und rationalisieren zu können."

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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den folgenden Worten zusammen: „Es ergiebt sich hieraus, daß vor allem die bewegenden Prinzipien des Menschen festgestellt werden müssen, um die des bewegbaren Staatsdeputirten, des Geldes, wie der bewegbaren Naturbestandtheile, bestimmen zu können, und daß, wenn mit den Kulturgraden des Menschen dessen Bewegungsgesetze sich än-dern sollten, auch die Geld- und Naturbewegungen durch die Entwicklungsgrade der Menschen wesentlich berührt werden müssen." 404

V. Die Wirtschaftstheorie

1. Die Produktionswissenschaft - Gegenstand und Methode „Vielleicht ist die Gesellschaftswissenschaft als solche bisher so wenig vorgeschritten, weil die Wirthschaftsformen nicht genügend unterschieden worden, weil man verkannt hat, daß sie die Grundlage der gesammten Gesellschafts- und Staatsorganisation bilden." 4 0 5 In der dritten Abteilung der „Grundzüge" mit dem Titel „Von den Produktionsgesetzen" findet sich dieser Grundsatz der sich in diesem Punkt der kommunistisch-sozialistischen annähernden Gesellschaftstheorie Lavergnes, wonach die Staatsform vom Wirtschaftssystem abhängt. 406 Damit vertrat er die Gegenposition zu einer konservativen Staatslehre, die maßgeblich von Friedrich Julius Stahl vertreten wurde. Dieser sah Staat und Gesellschaft nur als zwei von einander abhängige Seiten der nationalen Existenz. 407 Lavergne war überzeugt, dass die „Gesellschaftskrankheiten" meist aus dem „Widerspruch zwischen Staats- und Wirtschaftsform" 4 0 8 entstehen. Seine volkswirtschaftliche Theorie fußte deshalb auf der Idee der Interdependenz zwischen Staatsform und wirtschaftlichem Aufbau. So sah er die Probleme seiner Gegenwart als Resultat der Kombination unterschiedlichen Entwicklungsstufen von politischem System und Wirtschaftsverfassung. Die Problematik war um so schwerwiegender, als Lavergne auch innerhalb der

404

Lavergne, Grundzüge I, S. 45, im weiteren widmet er nahezu den gesamten ersten Band der Darstellung dieser Bewegungsgesetze in den einzelnen Bereichen der Gesellschaft. 405 Lavergne, Grundzüge I, S. 225. 406 Lavergne, Grundzüge I, S. 242. 407 Stahl, Philosophie Π., 2, S. 53; vgl. Hahn, S. 20. 408 Lavergne, Grundzüge I, S. 242.

V. Die Wirtschaftstheorie

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preußischen Volkswirtschaft zwei Entwicklungsstufen diagnostizierte: Während Handel und Industrie ihren Fortschritt durch die Geldwirtschaftsform erlebten, befinde sich die Landwirtschaft noch in einer Zwischenstufe zwischen Anteils- und Geldwirtschaft 409 und habe demzufolge nicht den ihr gebührenden Anteil an der Entstehung und Kumulation großer Kapitalien. Denn „die Geldaristokratie herrscht allein. Ja, der Werth der Fürsten und der Verfassungen wird nach den zu zahlenden Steuerquoten allein gemessen. Es sind dies alles Wirkungen der zu allgemein und unzeitig angewendeten Geldwirthschaftsform. Nur aus dem Verein der drei Fundamental-Wirtschaftsformen, nur durch das Zusammenwirken von Furcht, Liebe und Eigennutz wird die heutige Gesellschaft den höheren Eintwickelungsstadien entgegen geführt werden können." 410 Der gemischten Wirtschaftsform entspreche demnach auch eine aus Despotie, Aristokratie und Monarchie gemischte Staatsform, weil die Despotie mit der Zwangswirtschaftsform, die Aristokratie mit der Anteilswirtschaftsform und die Monarchie mit der Geldwirtschaftsform korrespondiere. 411 Keinesfalls aber harmoniere die Geldwirtschaftsform mit der Idee der Gewaltenteilung. Sie erfordere „mehr wie [sie!] jede andere [Staatsform] Einheit des Willens, des Systems und des Zieles". Dies werde bei aller Unsicherheit über die zukünftige Form der „europäischen Gesellschaft" das Ergebnis der Forschung sein. 412 Sein Resümee aus diesen Überlegungen nahm die Kernaussage seiner „Landgemeinde in Preußen" vorweg und stellte ihn in seiner Abneigung gegen staatliche Zentralisation neben Schmitthenner, Hegel und List: „Königthum herrschend über Gemeinden, mittelst verantwortlicher aber wenig beschränkter Beamten, dies dürfte der Ausdruck des den heutigen Verhältnissen besonders entsprechenden Mischungsverhältnisses in den Staatsformen sein." 413 Wenn er forderte, „Geist und Gesinnung" dieses Beamtenstandes müssten durch gute Bezahlung, Sicherheit der Stellung und andere existenzsichernde Maßnahmen gefördert werden, vertrat er damit eine Meinung, die schon in der „Landgemeinde" zurückgenommen wurde und sich nach der Revolution zur harten Kritik am Berufsbeamtentum wandelte. 414

409

Lavergne, Grundzüge I, S. 202; Grundzüge II, S. 198. Lavergne, Grundzüge I, S. 242. 411 Lavergne, Grundzüge I, S. 242 ff. 412 Lavergne, Grundzüge I, S. 321. 413 Lavergne, Grundzüge I, S. 245, 321; Henkel, S. 35: während bei Schmitthenner und Hegel die Stufenfolge Familie-Gemeinde (mit höheren Korporationen)-Staat lautete, differenzierte List deutlicher Familie-Gemeinde-Kanton-Provinz-Staat. 414 Lavergne, Grundzüge I, S. 322; s. unten Abschnitt C. 410

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Während die Wirtschaftstheorie „die Productionskräfte in ihrer Wesenheit, in ihren Functionen, Existenz- und Steigerungsbedingungen" erfassen sowie „die Gesetze ihrer Bewegung, wie ihres Zusammenwirkens" erforschen sollte 415 , oblag die praktische Harmonisierung der ökonomischen Diskrepanzen nach Lavergnes Vorstellungen der Staatswirtschaft 416, die er als „sehr glückliche" Bezeichnung für die „angewandte Bewegungs- und Productionswissenschaft" 417 bezeichnete. Der Staatswirt habe als Fachmann im Auftrag des Staates nach den Erkenntnissen der akademischen Wissenschaft von der Produktion die Felder der öffentlichen Wirtschaftsbereiche zu bestellen und möglichst reiche Ernte einzufahren. 418 Die Grundlagen seiner Arbeit sollte eine wissenschaftliche Disziplin schaffen, die in erster Linie die verschiedenen Formen der Produktion innerhalb der Gesellschaft zu untersuchen habe. Den Antagonismus von „Zehrstand und Nährstand" lehnte er vehement ab: „Darf die Productivität des Arztes, des Richters, des Militairs, des Künstlers und besonders des Staatsbeamten geleugnet werden?" 419 Jeder Bürger, der ein Gesellschaftsbedürfnis durch seine Tätigkeit befriedigte, war für Lavergne produktiv 420 und trug durch das Erwirtschaften von Profit zur kulturellen Weiterentwicklung der Gesellschaft bei. 421 Wegen der deutlichen Orientierung seiner ökonomischen Theorie auf die Produktion innerhalb des wirtschaftlichen Prozesses arbeitete Lavergne mit dem von ihm selbst entwickelten Begriff „Produktionswissenschaft" 422, obwohl Gegenstand und Methode dieser Wissenschaft in etwa mit der Definition von Nationalökonomie übereinstimmte, wie sie der Nationalökonom Paul Mombert formulierte: Sie sei die „systematische Darstellung und planmäßige Erklärung derjenigen Erscheinungen, welche sich aus der wirtschaftlichen Tätigkeit des Menschen und denjenigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tatsachen ergeben, die mit dieser Tätigkeit in einem engen Zusammenhang stehen. Alle sich damit ergebenden Erscheinungen und Beziehungen müssen in ihrem gegenseitigen Zusammenhange das Problem sein, dem die Forschung zustrebt". 423

415

Lavergne, Grundzüge I, S. 328. Diesen Begriff hatte der Kameralist Johann Heinrich Justi schon Mitte des 18. Jahrhunderts geprägt. Er wurde während des gesamten 19. Jahrhunderts unterschiedlich belegt, meistens jedoch als praktische Variante der Nationalökonomie, vgl. Henkel, S. 45 mit Hinweis auf Roscher, Grundriß. 417 Lavergne, Grundzüge I, S. 182. 418 Lavergne, Grundzüge I, S. 182. 419 Lavergne, Grundzüge I, S. 322. 420 Lavergne, Grundzüge I, S. 189. 421 Lavergne, Grundzüge Π, S. 275. 422 Lavergne, Grundzüge I, S. 180-356. 423 Mombert, Geschichte, S. 223. Zu Mombert (1876-1938) NDB, Bd. 18, S. 23-24. 416

V. Die Wirtschaftstheorie

101

Mit der Verfolgung dieses Forschungsziels begann man in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. 424 Damals entwickelten sich die für das 19. Jahrhundert bestimmenden Lehrmeinungen. Die klassisch-liberale baute auf die Lehren von Adam Smith auf. Die romantische versuchte im Rückgriff auf Mittelalter und Religion Adam Smiths Lehren zu widerlegen. Die ältere historische Schule stützte sich teilweise auf die Romantik, ersetzte aber insbesondere die deduktive Methode der Klassik durch induktives und historisches Vorgehen und bestritt vor allem die Existenz allgemeingültiger Gesetze in Wirtschaft und Gesellschaft. Die jüngere historische Schule stellte das sittliche Element stärker in den Vordergrund und nahm zum Ende des Jahrhunderts wieder klassische Argumente auf. Die sozialistische und kommunistische Richtung sah sich vor allem in der Eigentumsfrage und in der Ablehnung der „Manchesterschule" als wirtschaftlichem Ordnungsprinzip im Gegensatz zu allen anderen Lehrmeinungen. Reformmerkantilismus und Physiokratie, Moralphilosophie und der Versuch, Teilbereiche der Wirtschaft zu systematisieren und zusammenzufassen, bilden das Grundgerüst der klassischen politischen Ökonomie. 425 Ihr Zeil war die Schaffung der Systembedingungen für Glückseligkeit, Reichtum und Wohlbefinden in ihrer bestmöglichen Form. Im Mittelpunkt dieser Theorie stand das Individuum mit bestimmten Grundrechten. Die klassische politische Ökonomie übernahm die Idee des Staatsvertrags des rationalistischen Naturrechts und übertrug die Naturgesetze der ewigen Weltordnung von der physischen Welt auf Wirtschaft und Gesellschaft. Einzige Ordnungsmacht sollte das freie Spiel der Kräfte sein. Für die Wirtschaft bedeutet dies, dass freie Konkurrenz bei weitestgehender Zurückdrängung des Staatseinflusses in einer „fortschrittsorientierten, arbeitsteilig verbundenen bürgerlichen Tauschgesellschaft" ökonomisches Wachstum und Wohlstand am ehesten möglich macht. 426 Das Streben nach Bequemlichkeit und Luxus wird in der Tradition der schottischen Moralphilosophie letzten En-des als eine für die Gemeinschaft nützliche Handlungsmaxime angesehen. Das Smithsche Modell des freien Wirtschaftens setzt freies Eigentum bei unbeschränkter Bodenmobilität, freien Handel ohne Zollschranken und Gewerbefreiheit voraus. In der für die Diskussion im Vormärz zentralen Frage der Zulässigkeit staatlicher Intervention und Regulierung auf wirtschaftlichem

424

Im Folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf die Darstellungen bei K. H.

Schmidt, Brandt, Winkel, Nationalökonomie. 425 Brandt, Bd. 1, S. 131. 426 Brandt, Bd 1,S. 132.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

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und sozialem Feld verfochten die deutschen Smith-Anhänger entschieden das Theorem der Selbstregulierung der Wirtschaft. 427 Ausgehend vom Recht auf individuelle Selbstbestimmung galten Gewerbe- und Handelsfreiheit sowie die freie Verfügbarkeit des Eigentums als deren unabdingbare Voraussetzungen. Von Christian Jakob Kraus in Königsberg 428 , Sartorius und Lueder in Göttingen sowie Gottlieb Hufeland 429 übernommen, wurde seit Julius Heinrich v. Soden 430 die Smithsche Lehre in Deutschland durch neue Elemente fortgebildet. Gerade die Gewerbefreiheit betrachtete Soden wie auch andere deutsche Anhänger der Klassik mit Vorbehalten; auch die Idee des Schutzes gegen Waren aus technisch weiter fortgeschrittenen Volkswirtschaften fand Anhänger in diesen Kreisen. Im Verlauf des Vormärz entwickelte die deutsche klassische Nationalökonomie jedoch eine aus der kameralistischen Lehre und dem Einfluss des Kantischen Idealismus 431 zu verstehende staatsorientierte Sicht. Ausnahmen blieben ζ. B. der Heidelberger Staatsrechtslehrer Karl Salomo Zachariae, der noch 1840 auf die Selbstregulierungskräfte der Wirtschaft setzte und der britisch-preu-ßische Freihändler John Prince-Smith. 432 Der Grund für die Rückbesinnung auf merkantilistisches Streben nach allgemeiner Wohlfahrt war die sich zuspitzende soziale Problemlage. 433 Die anfänglichen Verfechter einer autonomen, sich selbst regulierenden Wirtschaftsentwicklung hatten vergeblich auf die Regulative gewartet, die der Massenarmut ein Ende machen und die Proletarier als existenzfähige gesellschaftliche Klasse etablieren sollten. Das Gegenteil war eingetreten: Durch die unterschiedlichen Krisenfaktoren in Landwirtschaft, Bevölkerungsentwicklung und wirtschaftlicher Infrastruktur nahm die Armut in so bedenklichem Maße zu, dass selbst die zunächst in liberalen wirtschaftlichen Kategorien denkenden Autoren öffentlich über staatliche Lenkungsmechanismen nachdachten. 434 Außerdem wurden sie sich der

427

428

429

Z. B. W. y. Humboldt, S. 36. C. J. Kraus; vgl. Dobbriner.

Vgl. V. Müller, S. 179; Winkel, Nationalökonomie, S. 7 ff.; Brandt, Bd. 1, S. 133

f.; Tribe, S. 170. 430

Winkel, Nationalökonomie, S. 15. Die Ansicht von Prisching, S. 74, wonach die „wirtschaftsliberalen Ideen im deutschen Sprachraum [...] nur unter mannigfachen Einschränkungen rezipiert" und „diesen Gedanken im 19. Jahrhundert nur wenig Resonanz beschieden" war, kann als widerlegt gelten; Brandt, Bd. 1, S. 163 f.; Winkel, Nationalökonomie, S. 8 ff. 432 Zu Zachariae V. Müller, S. 179; zu Prince-Smith vgl. Brandt, Bd. 1, S. 215 f. 433 So Langewiesche, Liberalismus, S. 9. 434 Die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in der naturrechtlich-rechtsphilosophischen Literatur beschreibt Wohlrab, S. 156 f., 183 ff.; Klippel, Interventionsstaat, S. 97 ff. 431

V. Die Wirtschaftstheorie

103

Gefahr bewusst, dass die konservativen und reaktionären Kräfte in der Gesellschaft mit ihren Argumenten gegen Gewerbefreiheit und Freihandel immer mehr Boden gutmachen konnten, solange der Makel des Pauperismus an der Wirtschaftsordnung haftete, die unter dem Begriff „Industriesystem" 435 firmierte. 436 Staatliches Handeln wurde über die direkten Eingriffe auf den Wirtschaftsablauf hinaus auch im Bereich der Fürsorge für den einzelnen befürwortet. 437 Das Prinzip der privaten Fürsorge wurde zwar als Grundsatz beibehalten, aber durch Vorstellungen von staatlicher Arbeitsmarktpolitik ergänzt. 438 Der Staat wurde sogar verpflichtet, mit Hilfe von möglichst vielen Privatkräften für Arbeitsplätze zu sorgen. 439 Scheiterten diese Maßnahmen, so wurde staatliche Sozialpolitik eingefordert. 440 Daneben entwickelten sich Forderungen nach staatlichen Arbeitsprogrammen verbunden mit einer Infrastrukturpolitik, deren Aufgabe es sein sollte, unternehmerisches Denken und Handeln zwar nicht zu steuern, ihm aber alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen. 441 Diese Forderungen standen im Zusammenhang mit der Diskussion des als Maschinenwesen bezeichneten Aufkommens industrieller Fertigungsmethoden in der Phase der Früh Industrialisierung bis etwa 1840. Grundsätzlich gingen Liberale von der Arbeitsplätze schaffenden und arbeitser leichtern den Wirkung des Maschineneinsatzes aus, die nach einer vom Verlust von Arbeitsplätzen gekennzeichneten Übergangszeit einsetzen würde. Den Marktkräften allein wollten es aber die wenigsten Autoren des wirtschaftsliberalen Spektrums überlassen, die Lücken im Arbeitsplatzangebot auszugleichen.442 Auffällig ist die distanzierte Haltung der dezidierten Smith-Anhänger gegenüber dem politischen Liberalismus. 443 Für sie war die klassische Nationalökonomie eine reine Wirtschaftstheorie ohne politische Implikationen. 444

435

436

Walther, S. 798.

Sieferle, S. 128; Langewiesche, Liberalismus, S. 12; z. B. Georg Friedrich Sartorius und Wilhelm v. Humboldt, vgl. Brandt, Bd. 1, S. 163, Winkel, Nationalökonomie, S. 15 f. 437 Zu Sartorius Brandt, Bd. 1, S. 163 und Schmalz, S. 177. 438 Z. B. Schmalz, Ludwig Heinrich Jakob: Brandt, Bd. 1, S. 169. 439 440 441 442

443

Jakob, S. 514. Jakob, S. 710. Murhard, S. 28 f. Vgl. Wohlrab, S. 169 f.; Matz, S. 69 f.

„Sie waren keine Gefolgsleute Adam Smiths, und auch die Smith-Anhänger unter den deutschen Ökonomen zeigten sich durchweg bemüht, den politischen Liberalismus, dem sie ablehnend oder skeptisch gegenüberstanden, nicht mit ihrer Wirtschaftstheorie in Verbindung zu bringen". Langewiesche, Liberalismus, S. 30. 444

Walther, S. 796.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Auch dies ist auf dem kameralistisch-polizeiwissenschaftlichen Hintergrund der frühen deutschen Wirtschaftswissenschaft zu erklären. Ihre Vertreter wollten Teile der Smithschen Theorie nutzen, um die überforderten traditionellen Wissenschaften für die neuen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen adaptierbar zu machen; politische Reformen wurden jedoch mit Skepsis betrachtet. 445 Wenn die sich auf Smith beziehenden Ökonomen für dessen Theorie Begriffe wie „Industriesystem", „System allgemeiner Handelsfreiheit", „Industrialismus" oder „System der Naturgesetze der Volkswirtschaft" einführten, so geschah das, um Berührungspunkte mit dem politischen Liberalismus zu vermeiden. 446 Auch Moritz v. Lavergne-Peguilhen sah in der Lehre Adam Smiths ein „Plädoyer für die Industrie, die Gewerbefreiheit und den Freihandel". 447 Vollends auf kritische Distanz zur orthodoxen klassisch-liberalen Lehrmeinung gingen die Spätklassiker wie etwa Karl Heinrich Rau, Johann Heinrich v. Thünen, Friedrich v. Hermann und Friedrich Bülau. Entwicklungen wie die Akzeptanz ethischer Elemente im Wirtschaftsleben, die methodische Umorientierung von der Abstraktion hin zu empirischer Überprüfung sowie die Übernahme historisierender Argumente und des OrganismusParadigmas durch die Spätklassiker ermöglichten nach der Jahrhundertmitte eine Annäherung an die historische Schule der Nationalökonomie. 448 Diese hatte sich in ihrer frühen Phase aus der zunächst romantisch geprägten Ablehnung der Methoden und Lehrmeinungen der liberalen Wirtschaftstheorie entwickelt. Adam Müllers „Elemente der Staatskunst" waren 1809 ein Manifest gegen die liberale These der Selbstregulierung der Interessen, gegen Individualismus, unbeschränktes Privateigentum, Arbeitsteilung und die mechanische Trennung von Kapital und Arbeit als Prinzip der Wirtschaft. An ihre Stelle sollte eine organische, familiär-solidarische Wirtschaftsordnung treten, in der auch außerwirtschaftliche Bedürfnisse berücksichtigt werden sollten. Zünftische Zusammenschlüsse und ständisch gebundenes korporatives Grundeigentum bildeten die Hauptsäulen dieser Ordnung. Überzeitliche allgemeingültige Gesetze in Wirtschaft und Gesellschaft verneinte Müller ebenso wie die Emanzipation des Individuums vom Staat. In enger gedanklicher Verwandtschaft zu Schelling und Fichte behauptete er, soziale Erscheinungen könnten nur in ihrer historischen Bedingtheit begriffen werden. Produktions-

445 Walther, S. 796 f., mit dem Beispiel Karl Heinrich Rau, der für lange Zeit als einziger die Politisierung der Theorie Smith' als „Liberalismus" bezeichnete. Begriffe und ihre Herkunft bei Walther, S. 798. 447 Walther, S. 798; Lavergne, Grundzüge Π, S. 42 „das hochgepriesene Industriesystem"; S. 339 ff.; Lavergne, Liberalismus, S. 88, nennt „Industriesystem" das Synonym für die Smith'sehe Schule, spricht vom „kosmopolitischen System der Nationalökonomie". 448 Brandt, Bd. 1, S. 185 ff.; Winkel, Nationalökonomie, S. 91 ff.

V. Die Wirtschaftstheorie

105

kräfte, Zeit und Bewegung entwickeln die Volkswirtschaft erstmals zu einem dynamischen Prozess. Das Individuum ist für Müller nur vom Staat her zu betrachten, da der Staat „die überindividuelle, sittliche Gemeinschaft, eine gegliederte Einheit, die als Totalität die menschlichen Angelegenheiten zu einem lebendigen Ganzen formt" 449 . Der Staat soll mit der Wirtschaft und der Gesellschaft das organische Ganze der Volkswirtschaft bilden. Von Müllers Vorstellung, die Objekte der Staatswissenschaften könnten „nicht erkannt, sondern nur erlebt" 450 werden, rückten die Vertreter früh-historistischer Auffassungen allerdings ab. Gerade die empirische und statistische Erfassbarkeit von sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten machten für sie wissenschaftliche Nationalökonomie erst möglich. Hinzu kommt ein angesichts des Pauperismusproblems stärker in den Vordergrund tretendes ethisch-sittliches Element. 451 Allerdings gelang es der älteren historischen Schule aufgrund ihrer Meinungsunterschiede in Fragen wie Eigentum, Staatseinwirkung und Gewerbefreiheit noch nicht, mit einer eigenen Theorie zur ernsthaften Konkurrenz der klassischen aufzusteigen.452 2. Zwischen Merkantilismus und Historischer Schule Über die Demarkationslinie „Theorie" wollte sich auch Lavergne noch nicht hinauswagen.453 Er wiegelte ab: Von ihm sei kein neues System zu erwarten. Wenn auch einzelne Epigonen Smiths, wie etwa Storch, Say, vor allem aber Sismonde de Sismondi und Ricardo dessen Lehren verbessert hätten, verharrten sie noch immer in dem „Irrthum, den Reichthum einer Nation blos in ihren Tauschgütern zu suchen, und die Arbeit als alleinigen Quell alles Werthes zu betrachten". 454 Da trotz der unleugbaren Verdienste Sismondis, Ricardos oder der deutschen „Bearbeiter" 455 der Nationalökonomie die Forschung unzulänglich geblieben sei, könne er aufgrund ihrer Ergebnisse und

449

450 451 452

453

Brandt, Bd. 1, S. 23.

Winkel, Nationalökonomie, S. 59. Müßiggang, S. 49 f. Müßiggang, S. 81.

Lavergne, Grundzüge I, S. 340 ff. Lavergne, Grundzüge I, S. 343. 455 „Unter den Deutschen haben in neuerer Zeit Fr. Schmitthenner, Graf v. Soden, Rau, Nebenius, v. Jacob, Mörstadt, Schön, Kaufmann, Pons, Bodz-Reymond das Feld der National-Oekonomie fleißig bearbeitet; indem sie theils die bestehenden Lehren erweitert, theils deren Irrigkeit dargethan, theils neue Wege und Abwege eingeschlagen haben. Zu festen Grundsätzen, zu bestimmten Lehren und Systemen haben sie sich inzwischen nicht vereinigen können". Lavergne, Grundzüge I, 344. 454

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

eigener Erfahrung vorerst nur grobe Linien und Gesetzmäßigkeiten aufzeigen. So verteidigte er sich auch gegen den Merkantilismus-Vorwurf Friedrich Bülaus: „Man hat meine Schrift als einen Versuch angesehen, den Lehren des Merkantilismus eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Eine so einseitige Aufgabe würde jedoch kaum der Mühe gelohnt haben. Ich bin mir bewußt einem höheren Ziele nachgestrebt zu haben: der Erforschung der Gesetze, auf denen das Güterleben beruht." 456 Er konzedierte zwar, er habe „einzelne, dem Merkantilismus verwandte Lehren abgeleitet", ihre Herkunft spiele aber für ihn selbst eine untergeordnete Rolle, da eben diese Gesetze erst wissenschaftlich auf ihre Richtigkeit hin untersucht werden sollten. Allerdings könne doch kaum noch widerlegt werden, dass das große Kapital das kleine bedrohe, dass der große Industriebetrieb dem Handwerker die Existenz raube und dass nur der Staat Gleichgewicht und harmonische Abläufe zwischen allen Teilen des Wirtschaftsorganismus wieder herstellen könne. 457 Dieser Staatseinfluss manifestiere sich vor allem auf zwei Gebieten: Nach innen müsse er ein Steuersystem etablieren, das seine Rationalität durch eine die unterschiedliche individuelle Wirtschaftskraft ausgleichende Progression beweist. Nach außen wirke der Staat durch sein Zollsystem ebenfalls ausgleichend gegen zügellose Konkurrenz: er fördere die internationale Wettbewerbsfähigkeit der im Lande hergestellten Produkte durch Zölle und schütze gleichzeitig „die ihm anvertraute Gesellschaft durch angemessene Zolltarife gegen ein industrielles Raubsystem [...], welches in seinem zügellosen Walten ihm und der Nation den unfehlbaren Untergang bereiten muß". 4 5 8 Die Wurzeln seiner Theorie im Merkantilismus verleugnete Lavergne nicht, die von ihm entwickelten Schutz- und Fördermechanismen wie auch die merkantilistische Geldtheorie bildeten aber für Lavergne nur den notwendigen stabilisierenden Übergang zu einer zukünftigen freien Wirtschaft auf nationa-

456 Lavergne, Grundzüge Π, S. VE., bezieht sich auf Bülau, Art. Litteratur, S. 40 f. „ Es haben aber auch neuere Richtungen sich in ihnen ganz feindlichen Gegensatz gegen das Industriesystem gestellt, und man kann dieselben theils als reactionäre, teils als revolutionäre bezeichnen. Mancherlei Zeitübel, die Unzufriedenheit und Unruhe, die sich hier und da zeigen, vor Allem der Pauperismus mit Allem, was er in seinem Gefolge hat, geben den Anlaß, oder bei Einzelnen den Vorwand, zu beiderlei Richtungen. Die Einen legten sie dem Industriesysteme und dem von ihm empfohlenen Freiheit des Güterlebens zur Last [...] Ihre Vorschläge gehören aber weit weniger dem Mercantilsysteme, als dem älteren Schutzsysteme an. [...] Einen Versuch, sie systematisch zu begründen, machte: v. Lavergne-Peguilhen", Kautz, S. 641. 457 Lavergne, Grundzüge Π, S. VE. 458 Lavergne, Rezension von Lists System, Sp. 157.

V. Die Wirtschaftstheorie

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1er und internationaler Ebene.459 Bis zu dieser Vervollkommnung der auf zukünftige Forschungsergebnisse gegründeten Staatswirtschaftssysteme war es in Lavergnes Vorstellung noch ein weiter Weg, der vor allem wegen der Vorherrschaft der liberalen Nationalökonomie noch nicht beschritten werden konnte. Lavergne forderte, ihre Vorstellung von einer nach unbewiesenen, a priori aufgestellten Gesetzmäßigkeiten funktionierenden Wirtschaft müsse von empirisch, statistisch und historisch betriebener Forschung abgelöst werden. Dann könne mit Sicherheit nachgewiesen werden, dass der größte Fehler der liberalen Theorien die Vernachlässigung des staatlichen Elements darstelle. 460 Lavergne wies dem Staat im Wirtschaftsprozess eine völlig andere Funktion zu als die Liberalen. Während sie versuchten, den staatlichen Einfluss zu minimieren oder ganz auszuschalten, war er für Lavergne eine von vier „Produktionskräften" 461 neben Natur, Arbeit und Intelligenz. 462 Diese vier Kräfte bildeten nach Lavergnes Vorstellungen gemeinsam das Produktions- oder Wirtschaftskapital eines Staates.463 Einzeln oder in anderen Kombinationen waren sie bereits als Bestandteile bestehender Wirtschaftstheorien bekannt und standen für unterschiedliche theoriegeschichtlichen Traditionen. So waren die Physiokraten überzeugt, dass nur Grund und Boden produktiv seien.464 JeanBaptiste Say dehnte seinen Produktivitätsbegriff auf Arbeit und Kapital aus. 465 Für Adam Smith und seine Anhänger war dagegen die Arbeit einzige Quelle nationalen Reichtums. 466 Adam Müller beschrieb eine ähnliche Kombination der Elemente der Ökonomie wie Lavergne, der die Auffassungen von Physiokraten und Anhängern des „Industriesystems 4' als „Irrthümer" bezeichnete.467 Neben dem „geistigen Kapital", das Adam Müller in die Diskussion eingeführt

459

Lavergne, Grundzüge II, S. VIE; Grundzüge I, S. 331-336; zur Entwicklung des Merkantilismus vgl. Issing S. 39. 460 Lavergne, Grundzüge I, S. 183 f. 461 Zur zeitgenössischen Bedeutung des Begriffs „Produktionskraft" in der Tradition Sodens Brandt, Bd. 1, S. 173: „Die Produktivkraft ist mehr als der Ressourcenbestand, sie ist ein Maß für die Ergiebigkeit der Produktionsanstrengungen und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten, die privaten und öffentlichen Dienste gehören dazu." 162 Lavergne, Grundzüge I, S. 184 ff. 463 „Natur, Arbeit, Geist und Staat - die vier Gesellschaftselemente bezeichnend sind hiernach die gesellschaftlichen Productionskräfte, sie werden in ihrer Vereinigung Productions- oder Wirthschaftskapital, auch Kapital genannt", Lavergne, Grundzüge I, S. 189. 464 Zur Bedeutung der Physiokraten für die Entwicklung der Nationalökonomie Blaich, Beitrag, passim; Κ. Η. Schmidt, S. 48 ff.; Müßiggang, S. 18 ff. 465

466

Brandt, Bd. 1, S. 154. Brandt, Bd. 1, S. 137.

467 „Das hochgepriesene Industriesystem tritt in seiner inneren Nichtigkeit immer mehr hervor, da dasselbe den Kultur- wie den Productionsgesetzen gleich sehr widerstrebt", Lavergne, Grundzüge I, S. 350; ähnlich Grundzüge II, S. 42.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

hatte, waren das Land als Element der Dauer, die Arbeit als Element der Beweglichkeit und das physische Kapital die Antriebskräfte des Nationalreichtums. 468 Obwohl neben Romantikern wie Adam Müller etwa auch der Verfasser des im Vormärz erfolgreichsten Lehrbuchs der Politischen Ökonomie, der Spätklassiker Karl Heinrich Rau 469 , den ursprünglich merkantilistischen Topos von der Lenkung und Kontrolle der Ökonomie als Staatsaufgabe weiterentwickelte, ging neben Lavergne und dem von ihn hoch geschätzten Schmitthenner 4 7 0 keiner der staatsorientierten Ökonomen so weit, den Staat als eine produzierende Kraft darzustellen. Für Moritz v. Lavergne-Peguilhen nahm der Staat durch seine Tätigkeit am allgemeinen Produktionsprozess teil: „Der Gesetzgeber und der Gesetzes Vollzieher sind nicht minder productiv als der Land- und Gewerbsmann; ihre gemeinsame Thätigkeit hat unter Mitwirkung der Natur die vorhandenen Güter ins Dasein gerufen. [...] Man wird den Staatsbeamten als mittelbaren Produzenten anerkennen müssen, wie den Gewerbtreibenden als unmittelbaren." 4 7 1 Obwohl der Staat theoretisch gleichwertig neben den drei anderen Produktionskräften steht, übernimmt er dennoch durch seine gesetzgeberischen und verwaltungstechnischen Fähigkeiten eine Leitungsfunktion den drei anderen Kräften gegenüber und kann je nach Notwendigkeit mit der einen oder anderen Kraft Produktion oder Konsum anregen. Die so notwendigerweise entstehenden wellenförmig verlaufenden Phasen beschrieb Lavergne mit dem „Gesetz der Konjunktur der Kräfte", das von Schmitthenner anerkannt 472 und von Julius Kautz als Verdienst Lavergnes gewürdigt wurde. 473 Lavergne war der Auffassung, der notwendige harmonische Ausgleich zwischen den Produktionskräften sei abhängig von Bedürfnissen und Konsum innerhalb der Gesellschaft. Er ging davon aus, dass zunächst durch die Unterschiedlichkeit der zusammenwirkenden Kräfte Schwankungen entstünden, die der Staat - auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse - ausgleichen müsse. 474 Daraus folgt, dass der Staat in die Vermögensverteilung eingreifen und Privatvermögen in Gemein vermögen verwandeln kann oder muss. M i t dieser

468

469 470 471 412

473

Tribe, S. 175; Brandt, Bd. 2, S. 25.

Rau, Lehrbuch. Lavergne, Rez. zu Lists System, Sp. 158; Henkel, S. 36. Lavergne, Grundzüge I, S. 188 f. Henkel, S. 38.

„In vielfach ähnlichem Ideenkreise bewegt sich Lavergne-Peguilhen, der Verfasser der manch' geistvolle Andeutungen enthaltenden 'Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft' (1838-1841)", Kautz, S. 641. 474 Lavergne, Grundzüge I, S. 184 ff.

V. Die Wirtschaftstheorie

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staatssozialistischen Argumentation hatte Lavergne keine Schwierigkeiten, resultierte seiner Auffassung nach Vermögensungleichheit doch aus der vom Liberalismus protegierten „zügellosen Konkurrenz" zwischen den Individuen als Kampf um die vorhandenen „Befriedigungsmittel". 475 Dabei sah er die Konkurrenz keineswegs als zerstörerische Kraft an. Sie sei vielmehr das „eigentliche Lebensprinzip des Gesellschaftsorganismus" 476, deren richtiges Maß der Staat mit Unterstützung der Wissenschaft festzulegen habe.477 Ebenso forderte er, der Produktionsprofit solle sich nicht nur auf wenige Hände konzentrieren, sondern gleichmäßig verteilt und vor allem reinvestiert werde, um wiederum produktiv zu wirken, denn „die Kultur schreitet[...] unter gleichen Umständen zurück, sobald der Productionsprofit einzelnen Kulturkreisen im Uebermaaß zugetheilt, und von diesen in Thorheit und Laster vergeudet wird". 4 7 8 Gelinge es nicht, dieser Konzentration gegenzusteuern, sei gerade in einem Staat, „wo das Jahresproduct[...] nur eben zur Ernährung der thätigen Kräfte ausreicht", die Existenz der Bevölkerungsmehrheit auf die Dauer gefährdet. 479 Zur Erhaltung seiner witschaftsregulierenden Funktionen müsse auch der Staat, wie die übrigen Produktionskräfte, „ernährt" werden. Das dafür notwendige „Nahrungsmittel" seien die Steuern. 480 Steuern waren für Lavergne keineswegs „notwendiges Uebel" 481 , sondern gewissermaßen die Entlohnung des Staates für dessen wirtschaftliche Leistung oder dessen „Anteil an der Nationalproduktion". 482 Um allerdings die Wirtschaftskraft einer industriell arbeitsteilig produzierenden Fabrik und die eines traditionellen Handwerksbetriebs bzw. eines großen Ritterguts und eines Kleinbauern steuerlich gerecht in diesen Ausgleich einfließen zu lassen, erschien Lavergne eine lediglich arithmetisch ansteigende Einkommensteuerkurve nicht ausreichend. Er setzte sich deshalb nicht nur in seinen Veröffentlichungen, sondern auch als Politiker für die Einführung

475 „Wenn aber die Summe der vorhandenen Befriedigungsmittel nimmer zur Zufriedenstellung aller Wünsche ausreicht, so ist auch eine sehr wohl geleitete Verteilung des Privat- und Gemeinvermögens unter die einzelnen Mitglieder der Nation notwendig, um den wirklichen Bedürfnissen zu genügen - eine Aufgabe, die, bei vorherrschender Geldwirthschaftsform und bei der damit verbundenen großen Bewegbarkeit der Güter, bisher in keiner Gesellschaft der Welt auch nur annähernd zur Lösung gebracht worden ist". Lavergne, Grundzüge Π, S. 173. 6 Lavergne, Grundzüge Π, S. 173. 477 Lavergne, Grundzüge II, S. 192 f. 478 Lavergne, Grundzüge Π, S. 275. 479 Lavergne, Grundzüge Π, S. 276. 480 Lavergne, Grundzüge I, S. 189 ff. 481 Lavergne, _Grundzüge I, S. 196. 482 Lavergne, Grundzüge I, S. 197.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

von progressiven Einkommens- und Gewerbesteuern und gegen Konsumsteuern ein. 483 Er sah höhere Steuern für größeres Kapital als „Versicherungsprämien wider die Gefahren einer zügellosen Konkurrenz, eine Prämie für Sicherheit der bürgerlichen Existenz, die zugleich dem Proletariat und Pauperismus, den Armensteuern etc. abhelfen, den Communismus vernichten würde; weil mit der Sicherheit der Wirtschaften auch die der Arbeiter gewährleistet sein würde". 484 Ziel dieser Maßnahmen war die Neutralisierung des „Uebergewichts der großen Capitale" und die Konsolidierung des nationalen Wohlstands und der Nationalkultur durch möglichst gleichmäßige Vermögensverteilung innerhalb des Staatswesens. Als Beweis für die Richtigkeit seines Ansatzes erinnerte er an die relative Blüte Preußens nach Einführung der Klassensteuer im Jahr 1820. 485 Grundsteuern lehnte der ostpreußische Rittergutsbesitzer dagegen vehement ab. Dies resultierte aus seinem Verständnis von Eigentum. Während er bei mobilem Privateigentum und städtischem Grundeigentum der freien Veräußerbarkeit zustimmen konnte, 486 hielt er bei landwirtschaftlich nutzbarem Land am altpreußischen und romantischen Bild des Grundeigentums als öffentliches Amt, 4 8 7 an der Verpflichtung des Grundeigentümers gegenüber der Allgemeinheit fest: „Ueberhaupt dürfen die Eigenthumsrechte nicht nach unmittelbarer und daher immer einseitiger Anschauung, nicht nach dem sogenannten Naturrecht bestimmt werden; es müssen die höheren gesellschaftlichen Gesichtspunkte, die Wirkungen auf das Allgemeine festgehalten werden, weil aus den Eigenthumsrechten die Familien, die Geld- und Naturkreise und ihre Bewegungen sich ergeben." 488 Auch die für die Entstehung des Pauperismus mitverantwortliche „Volksdichtigkeit" entwickelte sich nach Lavergnes Vorstellungen aus den Eigentumsgesetzen eines Staates: „Diese hat es in ihrer Gewalt, durch Aufhebung aller feudalen und Korporativbande, Verleihung freien Eigenthums, Ertheilung gleicher Erbrechte und Realisation derselben mittelst Naturalbodenthei-

483 „Unerläßliche Bedingung eines wahrhaft gedeihlichen Gleichgewichts bleibt aber immer die Herstellung gleicher Waffen durch progressiv steigende Steuern, nach Maaßgabe des steigenden Wirthschaftsumfangs". Lavergne, Grundzüge I, S. 213, Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 157. 484 Lavergne, Liberalismus, S. 77. 485 Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 157; Lavergne, Organische Staatslehre, S. 121. 486 Lavergne, Liberalismus, S. 78f. 487 So auch A. Müller, S. 156; Hahn, Berliner Revue, S. 89; vgl. Winkel /Ott, S. 59; vgl. auch Greiffenhagen, S. 150; ebenso L. v. Gerlach. vgl. Grebenhagen, S. 154. 488 Lavergne, Grundzüge I, S. 314, ähnlich 361; ähnlich auch Lavergne, Staatslehre, S. 162; Lavergne, Liberalismus, S. 78 spricht von der „heiligen Muttererde".

V. Die Wirtschaftstheorie

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lung; daher überhaupt durch Förderung der Spatenkultur, Verdrängung der Arbeitsthiere durch Arbeitsmenschen; und endlich durch analoge Gestaltung des städtischen Lebens, durch schrankenlose Anwendung des Arbeitstheilungsprinzips, Zersplitterung der bewegbaren Prductionskräfte etc., eine überaus zahlreiche Bevölkerung ins Leben zu rufen." 489 An diese Feststellungen knüpfte er extreme Erbbeschränkungen auch für das bäuerliche Grundeigentum. 4 9 0 Das Anerbenrecht mit der Verpflichtung zur anderweitigen angemessenen Versorgung von Geschwistern wurde auf männliche Erben beschränkt. Töchter sollten wie im deutschen Recht von der Erbfolge ausgeschlossen werden. Lavergne wollte die jungen Frauen damit vor der Heirat mit Erbschleichern schützen. Dieser Passus des Erbrechtes sollte damit gewissermaßen dem Schutz der weiblichen Ehre dienen. Erst das Römische Recht mit der darin enthaltenen Möglichkeit der weiblichen Erbfolge hätten einen auf Grunderwerb ausgerichteten „Eheschacher" möglich gemacht.491 Sobald die betroffenen Töchter dies als Vorteil für die Anerkennung ihres Selbstwerts erkannt hätten, würden sie selbst das weibliche Erbrecht ablehnen, versicherte Lavergne. 492 Seine Idealvorstellung von der Verteilung des Grundeigentums war ähnlich wie bei Heinrich Leo: Umwandlung aller landwirtschaftlichen Güter in Fideikommisse in der Hand entsprechend befähigter Familien, sodass Teilung und Verkauf von immobilem Besitz entschieden eingeschränkt werden könnten. 493 Die Ökonomie eines Staates unterteilte Lavergne in die „FundamentalWirthschaftsgattungen" 494 Landbau, Gewerbe und Handel. 495 Dabei unterschieden sich Gewerbe und Handel vom Landbau vor allem durch ihre größere Mobilität sowie die erhöhte Anwendbarkeit des Prinzips der Arbeitsteilung. Der Handel befand sich für Lavergne durch seine hohe Bewegbarkeit und 489

Lavergne, Grundzüge Π, S. 270. Lavergne, Grundzüge I, S. 72 u. 361; Lavergne, Grundzüge Π, S. 200 argumentiert gegen die aus dem „sogenannten Naturrecht" hergeleiteten Erbfolgegesetze; Lavergne, Liberalismus, S. 27 u. 81 f. 91 Lavergne, Grundzüge Π, S. 236; Lavergne, Grundzüge I, S. 300: „Die scheinbare Verletzung der weiblichen Gesellschaftsgenossen wird durch die Vermögenssicherheit der Familienhäupter und durch den höheren Werth persönlicher Vorzüge vollständig übertragen, und die Berufsvernachlässigung der Männer wird nicht mehr durch deren Hoffnung auf reiche Partien Unterstützung finden." Lavergne, Grundzüge Π; S. 213 u. 236; Lavergne, Liberalismus, S. 39; Lavergne, Staatslehre, S. 166. 492 Lavergne, Grundzüge I, S. 314. 493 Lavergne, Land, S. 127; Lavergne, Staatslehre, S. 106; Leo, S. 25. 494 Lavergne, Grundzüge I, S. 215. 495 Lavergne, Grundzüge I, S. 214-223, dort auch das Folgende. 490

112

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Unabhängigkeit sowie sein Funktionieren nach den Prinzipien der Geldwirtschaft im größten ökonomischen Gegensatz zum Landbau. Die drei Wirtschaftsgattungen unterlagen nach den Vorstellungen Lavergnes in der Geschichte den jeweils unterschiedlichen Bedingungen von „Zwangswirtschaft", „Anteilswirtschaft", „Geldwirtschaft" und deren Mischformen 496 , die sich jeweils parallel zu den Entwicklungsschritten der politischen Ordnung herausbildeten. 4 9 7 Wirtschaftliche Fortentwicklung war für Lavergne nicht ohne die „Steigerung der Productionskräfte" 498 und ihre Konservierung über anschließende „Productionssicherung" 499 denkbar. Danach hatte der Staat die Produktion gemäß den Gesellschaftsbedürfnissen zu lenken und auszuweiten und alle ökonomischen Kräfte zu fördern und ihre Existenz zu sichern. 5(K) Die Verbesserung von Saatgut und Anbaumethoden sollte für die Optimierung von Vegetation und Nahrungsversorgung sorgen. Für die Steigerung der Arbeitskraft war nach Lavergnes Vorstellungen ein durch Ehebeschränkungen der Unterschichten gesteuertes Wachstum der Bevölkerung 501 sowie die Sicherstellung einer gleichmäßig durchschnittlichen Bildung nötig. 502 Letzteres würde auch zu einer Erhöhung der allgemeinen Geisteskraft führen, die zusätzlich durch eine Art Erbauslese gefördert werden sollte. Obwohl er einräumte, dass über die Gesetze der Zeugung noch zu wenig bekannt sei, glaubte er doch beobachten zu können, dass „unter den Kindern von tausend gescheuten Eltern mehr Geistesfähigkeiten anzutreffen sind, als unter der gleichen Sprößlingszahl einfältiger Eltern; daß selbst die sittlichen Kräfte, sofern sie in den Familien zur Constanz erhoben worden, auf die sittlichen Anlagen des Kindes einwirken". 503 Sogar die Seelenkräfte könnten vererbt wer-den, mutmaßte Lavergne, falls „Physiognomik" und „Kraneologie" nicht völlig aus der Luft gegriffen seien. Ihre Vervollkommnung erfahre die auf diese Weise geförderte Geisteskraft durch das Angebot der höheren Bil-

496

Lavergne, Grundzüge I, S. 225. Lavergne, Grundzüge I, S. 224-244. 498 Lavergne, Grundzüge I, S. 294-310. 499 Lavergne, Grundzüge I, S 310-322. 500 Lavergne, Grundzüge I, S. 322. 501 „Die Einrichtung eines neuen Familienhaushalts darf nur gestattet werden, wo die Kultur des Familienvorstandes eine freiwillige Thätigkeit erwarten läßt". Lavergne, Grundzüge I, S. 317. 502 Lavergne, Grundzüge I, S. 302: „Die Erklimmung der höchsten Kulturstadien von Einzelnen, bei überwiegender Rohheit zahlreicher Massen widerspricht beiden Interessen [dem Gesellschafts- und dem Produktionsinteresse, A. S.] gleich sehr." 503 Lavergne, Grundzüge I, S. 303, dort auch das Folgende. 497

V. Die Wirtschaftstheorie

113

dung sowie die Vermittlung des „wahren Christentums" als moralische Grundlage für die Existenz des Individuums. 504 Lavergne wandte sich gegen die Jenseitsgläubigkeit der christlichen Lehre mit dem Vorwurf, „dieser Traum" koste „der Menschheit vielleicht ein Jahrtausend" ihrer Entwicklung. Er sei außerdem der Grund für die Vernachlässigung der Gesellschaftsgesetze durch die Wissenschaft. Diese suche „immer noch den unmittelbaren Weg zum Himmel[...], wenn auch ohne alle Aussicht ihn je zu finden. Wie sollen aber die Völker und die deren Interessen leitenden Regierungen nicht irren, wenn sie von den Pflegern der Wissenschaft verlassen werden?" 505 Die Staatswissenschaft hatte im Rahmen der allgemeinen Produktionssteigerung die Aufgabe, das notwendige Ausmaß der Staatseinwirkung auf den Wirtschaftsprozess zu erforschen und festzulegen. Lavergnes Prinzip war dabei der Grundsatz, der freien Entwicklung möglichst viel Raum zu lassen. Jedes Zuviel an Regierung und Verwaltung, fürchtete er, würde dem Fortschritt zuwiderlaufen. Er forderte also soviel freies Kräftespiel wie möglich und soviel staatlichen Eingriff wie nötig. 506 Die Hauptaufgabe des Staates war für Lavergne die Sicherung der National- und Privatproduktion: „Ist der Glaube an diese Sicherheit in der Nation allgemein und dauernd befestigt, und ist zugleich den freien, gesellschaftlichen Bewegungsprinzipien der mit der Productionssicherung irgend vereinbare Spielraum gelassen worden, so ist dadurch das höchste, aber auch schwierigste Problem der Staatskunst gelöst." 507 Schutz der Nationalproduktion hieß zunächst Vorkehrungen gegen die Konkurrenz von außen, Schaffung von „WehrVerfassungen wider räuberische oder eroberungssüchtige Angriffe des Auslandes". Zur Sicherung der Privatproduktion zählte Lavergne neben dem Schutz vor Naturgewalten auch die wesentlich schwierigere „Zügelung des erwerbslosen Menschen". Man könne zwar versuchen, diesem Problem mit polizei- und strafrechtlichen Maßnahmen beizukommen. 508 Für Lavergne lag die Ursache für Erwerbslosigkeit in einem Missverhältnis „zwischen Bedürfnissen und Befriedigungsmitteln" und dem „Mangel sittli-

504

Lavergne, Grundzüge I, S. 304 f.; S. 305: „Kurz man wird das wahre Christenthum lehren und beweisen müssen, daß nur ein mißverstandenes Christentum die Eroberung des Himmels - die Erreichung der menschlichen Bestimmung von der Wiege aus, allenfalls durch das Kloster träumen konnte." 505 Lavergne, Grundzüge I, S. 305. 506 Lavergne, Grundzüge I, S. 308 f. 507 Lavergne, Grundzüge I, S. 311, hier auch das Folgende; ähnlich auch ebd., S.359. 508 Lavergne, Grundzüge I, S. 271.

114

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

eher Cultur und enger Gesellschaftsverbindung". 509 Er schlug deshalb die Gründung von Genossenschaften für alle gesellschaftlichen Gruppen vor, in denen diese ihre Bedürfnisse besser artikulieren, einfordern und mit anderen Genossenschaften abgleichen könnten. 510 Andererseits achte die Gemeinschaft auch auf Einhaltung von Sittlichkeitsgeboten und verhindere so Isolierung und Verwahrlosung. Denn: „Es ist vornehmlich die Isolirung inmitten der Gesellschaft, wie sie in volkreichen Städten so häufig sich findet, wie sie durch die Aufhebung der Feudalbande, der Korporations-, Zunft- und Innungsverfassungen herbeigeführt worden, verbunden mit dem Widerspruch zwischen Bedürfnissen und Befriedigungsmitteln, wie sie aus der unbeschränkten Gewerbskonkurrenz bei allgemeiner Bewegbarkeitssteigerung sich erzeugt haben, als die Ursache anzusehen, welche die Uebertretungen der bürgerlichen Ordnung, die Angriffe wider das Eigenthum in so beunruhigender Weise gesteigert und die sittliche Volkskultur untergraben haben." 511 Mit diesem Exkurs nahm er bereits einen Teil seiner Pauperismustheorie vorweg - Steigerung und Sicherung der Produktion waren wichtige Faktoren zur Bekämpfung von Armut und Erwerbslosigkeit, weil Armut nur verhindert werden könne, wenn die Produktion parallel zum Bevölkerungswachstum ansteige und der industrielle Fortschritt an die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung angepasst werde. 512 Lavergne glaubte, es müsse möglich sein, das Problem der Erwerbs- und Nahrungslosigkeit über die Kombination von Landund „Gewerbsarbeit" 513 zu lösen. Er schlug vor, dass Fabrikarbeiter eigene Kartoffelgärten, Landarbeiter im Winter gewerbliche Arbeit erhalten sollten. So sei der Arbeiter von konjunkturellen Schwankungen unabhängig, der Landarbeiter auch im Winter in Lohn und Beschäftigung. Wo der Staat sogar für die Verteilung der Arbeit im Einzelnen verantwortlich gemacht wird, müssen Forderungen nach Gewerbefreiheit und freiem Handel ungehört bleiben. Während Lavergne für die Gegenwart diesem konservativen Prinzip folgte, stellten freier Handel und freies Gewerbe das im Rahmen seiner Stufentheorie für Wirtschaft und Gesellschaft anzuvisierende Entwicklungsziel und damit die höchste Form der Geldwirtschaft dar. 514 Allerdings könne das freie Spiel der Kräfte, meinte Lavergne, nur innerhalb

509

Lavergne, Grundzüge I, S. 315. Lavergne, Grundzüge I, S. 315. 511 Lavergne, Grundzüge I, S. 316. 512 Lavergne, Grundzüge I, S. 317 f., dort auch das Folgende. 513 Damit ist industrielle und handwerkliche Fertigung gemeint; Lavergne, Grundzüge II, S. 305. 514 Lavergne, Grundzüge Π, S. 109 u. 213. 510

VI. Die Kulturwissenschaft

115

eines gesamtgesellschaftlichen und internationalen Solidaritätssystems zugelassen werden, das auf den Schutz für die benachteiligten Teilnehmer des Wirtschaftsprozesses aufbaue: Gewerbefreiheit befürwortete Lavergne deshalb nur unter der Bedingung, dass Progressivsteuern die Kleingewerbe und das Handwerk gegenüber Fabriken stärkten. 515 Freien Handel über Landesgrenzen hinweg akzeptierte Lavergne ausschließlich dann, wenn entsprechende Zölle im Inland teurer hergestellte Waren gegen die Konkurrenz durch Billigimporte aus dem industriell fortgeschritteneren Ausland schützten. 516 Aber auch unterschiedliche Steuersysteme könnten Differenzialzölle rechtfertigen, meinte er 1846: „Unter Voraussetzung eines solchen allein gerechten Steuersystems ist auch der Ruf nach Handelsfreiheit gerechtfertigt; denn die Zollschranken würden dem Staate gegenüber, der dasselbe Steuersystem adoptirt, ohne Weiteres fallen können, wogegen man allen andern Staaten gegenüber sich durch Schutz- und Differentialzölle schützen, und um den ausländischen Markt zu behaupten, selbst Ausfuhrprämien bewilligen müßte." 517

VI. Die Kulturwissenschaft Produktion und Kultur waren für Lavergne die beiden miteinander verflochtenen und voneinander abhängigen „großen Systeme des Gesellschaftsorganismus". Ihre wissenschaftliche Trennung und Erfassung sah er als komplizierte Aufgabe, während das staatliche Verhältnis zu beiden Sphären ganz einfach beschrieben werden konnte: „Der Staat allein gehört beiden Systemen selbstständig und unmittelbar an." 5 1 8 In der von Lavergne beschriebenen entwicklungsgeschichtlichen Folge der Staatsformen löst zunächst der Feudalstaat das Nomadentum ab. Es folgt der Polizeistaat und als höchste Entwicklungsstufe der Kulturstaat 519 , der sich

515 Lavergne, Grundzüge II, S. 273; Lavergne, Rez. von Bülow-Cummerow, Sp. 260 ff.; Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 155. 516 Lavergne, Grundzüge I, S. 72: entsprechende Steuer- und Zollgesetze seien „demnächst" notwendig; Lavergne, Grundzüge Π, S. 340; Lavergne, Liberalismus, S. 77. 517 Lavergne, Liberalismus, S. 77. 518 Lavergne, Grundzüge Π, S. 76. 519 E. R. Huber, zu unterschiedlichen Interpretationen des Begriffs „Kulturstaat" als Kunstwort des 19. Jahrhunderts bes. S. 298 ff., zur Definition S. 295: „Den Verfechtern der Kulturstaatsidee [geht es] um die Durchdringung des Staats mit den Bildungswerten des kulturbewahrenden Humanismus oder des freiheitlichen Kulturfortschritts."

116

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

durch die organische Ausgewogenheit zwischen Zentralgewalt und Selbstverwaltung einerseits, sowie zwischen den Interessen des Staates und des Individuums andererseits, auszeichnet.520 In diesem Staat ordnen sich Recht und Ökonomie haben sich dem Primat der Kultur, mithin dem Primat von Bildung und Sittlichkeit unter, denn „die Darstellung des harmonischen Gesellschaftsorganismus und seiner edelsten Frucht, der höheren Nationalkultur, ist die höchste dem Menschen auf Erden gestellte Aufgabe' 4 . 521 Durch die Missachtung des Forschungsfeldes „Kultur" innerhalb der staatswissenschaftlichen Disziplinen sei „die Entwicklung der Menschheit und der Gesellschaft um Jahrtausende zurückgehalten" worden, kritisierte Lavergne. 522 Deshalb entwickelte er eine Kulturwissenschaft 523, die über der aus der staatswissenschaftlichen Literatur bekannten „Kulturpolizei" als Hüterin und Mentorin von Bildung und Religion 524 oder aller ökonomischen und erzieherischkünstlerischen „persönlichen Güter" des Individuums 525 angesiedelt war. Wie der Begriff „Produktionswissenschaft" war auch „Kulturwissenschaft" eine eigene Schöpfung Lavergnes. Er wies dieser Disziplin die Aufgabe zu, die Gesetze der sozialen und religiösen Bindungen der Menschen, ihre Weiterbildung, sowie die Förderung von Kunst, Erziehung und Wissenschaft zu ermitteln. 526 Außerdem sollte sie „die Gesetze der Wechsel Verbindung zwischen Gesellschafts- und Bevölkerungsleben" 527 ermitteln. Dem liegt die Vorstellung zu-grunde, dass Bevölkerung und Gesellschaft keine Synonyme sind und dass es erst einer gesellschaftlichen Organisation bedarf, um verschiedene Klassen und damit verschiedene Interesselagen herauszubilden. In der Hierarchie der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen dominierte und kontrollierte die Kulturwissenschaft die Bewegungs-, Produktions- und Staatswissenschaft als „mittelbare Kulturwissenschaften". 528 Für Lavergne war sie „Grundlage" der Staatswissenschaft, Kontrollinstanz für die Produktions-

520

Lavergne, Grundzüge Π, S. 39. Lavergne, Grundzüge Π, S. 58. 522 Lavergne, Grundzüge Π, S. 364. 523 Lavergne, Grundzüge I, S. 308. 524 J. Schön, Staatswissenschaft, S. 228 ff. 525 Hagen, Staatslehre, S. 200 ff., S. 205 f.: „Nach Maassgabe des Unterschiedes der persönlichen Güter in die rein-persönlichen und die wissenschaftliche theilt sich die Culturpolizei in zwei Zweige, in die Sorge für die Ausbildung der persönlichen Vermögen und in die Sorge für die Ausstattung mit Kenntnissen." Lavergne, Grundzüge Π, S. 12, S. 68: „Doch die Erreichung der höheren Kulturstadien ist das Ziel jeglicher Kulturthätigkeit, der Hauptgesichtspunkt unserer Wissenschaft, auf den alle Untersuchungen endlich hinauslaufen müssen." 527 Lavergne, Grundzüge Π, S. 226. 528 Lavergne, Grundzüge Π, S. 1. 521

VI. Die Kulturwissenschaft

117

Wissenschaft und durch ihren entwicklungsgeschichtlich-teleologischen Ansatz Hilfswissenschaft für den Historiker: „Sie ist aber zugleich dem Geschichtsforscher unentbehrlich, indem sie demselben einen kritischen Maßstab zur Würdigung geschichtlicher Überlieferungen, und dadurch die Mittel gewährt, aus denselben Alles zu beseitigen, was mit den Kulturgesetzen, d. h. mit der Wahrheit in Widerspruch steht [...] Aus einzelnen Andeutungen vermag der mit Kenntniß der Kulturgesetze ausgerüstete Geschichtsforscher mit großer Sicherheit ein vollständiges Gemälde geschichtlicher Zustände zu entwerfen. Denn diese sind in ihrem inneren Zusammenhange nach bestimmten und unwandelbaren Gesetzen zu konstruieren." 529 Den wissenschaftshistorischen Platz der neuen Disziplin sah Lavergne in der vermittelnden Position zwischen den philosophischen und praktischen Wissenschaften. Ihr Hauptgegenstand sollte die Schulung des Individuums für seine Gesellschaftsaufgaben sein. So sollte sie, mit staatlicher Unterstützung, das Individuum zu höheren Entwicklungsstufen führen 530 . Dabei sollte sie aber auch deren Grenzen festlegen, da in einer entwickelten Gesellschaft das Arbeitsteilungsprinzip die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums eischränkte. Und zwar sollte die Kulturwissenschaft die schwierige Forschungsaufgabe erfüllen, den idealen Vereinigungspunkt zwischen den Interessen von Produktion und „Konsumtion", vielseitiger Bildung und Lebensdauer des Individuums zu finden. 531 Weil im Weltbild Lavergnes die Vervollkommnung des Menschen die Grundlage für jede weitere wissenschaftliche Erkenntnis und den gesellschaftlichen Fortschritt darstellte, erhielt die Kulturwissenschaft den „höchsten Rang im Reiche der Wissenschaft". 532 Wie bereits die Ausführungen über die Gesellschafts- und Produktionsgesetze erhielt auch die Darstellung der Kulturgesetze als Zustandsbeschreibung einer „neu aufzubauenden Wissenschaft" ohne gesicherte Erkenntnisse den Charakter der Vorläufigkeit: „Es soll vielmehr nur ein Streifzug in das Gebiet des Kulturlebens versucht werden, in der Hoffnung, daß es gelingen werde, tiefere Aufschlüsse über den inneren Gesellschaftsorganismus zu erlangen, einige Kulturgesetze zu entdecken, und dadurch eine künftige systematische Bearbeitung vorzubereiten." 533

529 530 531 532 533

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π,

S. 8 f. S. 6. S. 106. S. 8. S. 36.

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

118

1. „Kultur" als Leitsektor des Staates Der Idealstaat Lavergnes war nicht als Rechtsstaat oder als Sozialstaat, sondern als Kulturstaat definiert. Kultur im allgemeinen Sinne umfasste für ihn „alle durch das Gesellschaftsleben ausschließlich zu erzeugenden menschlichen Kräfte, sowohl die der Vervollkommnung der Menschen, und daher des individuellen und gesellschaftlichen Organismus günstigen, als die derselben widerstreitenden Kräfte". 534 Gesellschaftsleben war für Lavergne ohne staatliche Organisation nicht denkbar, demnach konnte er von Kultur auch nur als Bestandteil von Staatlichkeit sprechen. Dieser auf das Gesellschaftsleben beschränkte Kulturbegriff bezog nur die Kräfte ein, die zur harmonischen Gestaltung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft beizutragen in der Lage waren. Alle konträr wirkenden Kräfte gehörten nach Lavergne der „Pseudokultur" an, während er den Zustand der Gesellschaft bei Störung der organischen Entwicklung als „Afterkultur" bezeichnete.535 Beide Erscheinungen waren Behinderungen für den Kulturfortschritt und als solche zu bekämpfen. Lavergnes Verständnis von Kultur umfasste sowohl die geistige und sittliche Entwicklung des Individuums als auch der gesamten Gesellschaft. Neben Einflüssen auf Ökonomie und Politik schrieb er der Kultur auch einen Anteil an der Einlösung religiöser Heilserwartungen zu: „Die Kultur ist ein unendlich wertvolleres Gut, als jede andere Vermögensgattung, da sie einestheils Zweck des irdischen Daseins ist, andererseits auch in ein künftiges Leben uns begleiten, dort erst ihre eigentliche Bestimmung erhalten soll. An dieser Bestimmung haben alle Gesellschaftsgenossen gleiches Anrecht, es ist auch [...] jeder Erfolg zu verwerfen, der nur mit nachhaltiger Verletzung eines Theiles zu erreichen ist, und da einzelne ihre Mitgenossen in der Entwicklung weit überragende Menschen nur auf deren Kosten zu erziehen sind, so muß die höchstmöglichste Kulturgleichheit den Ausgangspunkt aller allgemeinen Kulturbestrebungen bilden." 536 Dabei müsse man in Abgrenzung zu den naturrechtlich begründeten Ansätzen nicht das isolierte Individuum im vorgesellschaftlichen Stadium betrachten, sondern nur von den Erkenntnissen über die Verhältnisse „des gesellschaftlichen Menschen" ausgehen.537 Ein außerhalb der Gesellschaft existierendes Individuum befand sich nach Lavergnes evolutionärem Denken auf der niedrigsten Kulturstufe und besaß

534 535 536 537

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π,

S. 59, 60 u. 63. S. 57, 63 u. 78 f. S. 43. S. 39.

VI. Die Kulturwissenschaft

119

nur „niedere sinnliche Kräfte". 538 Der kulturelle Idealzustand war dagegen erreicht, wenn alle Individuen körperlich, geistig und sittlich eine möglichst hohe Entwicklungsstufe ohne große Qualitätsspannen zwischen dem höchsten und dem niedrigsten individuellen Entfaltungsgrad erreicht hätten. Der Weg dahin vollzog sich nach Lavergnes Vorstellung in fünf Entwicklungsstufen: Die niedrigste bezeichnete er als die des „formellen Nachbildens". Ihr folgt zunächst die Epoche des „geistigen Nachbildens", die vom „mechanischen Denken" abgelöst wird. Vierte Stufe ist das Stadium des „kritischen Denkens" und als fünfte und höchste schließt das „philosophische Denken" die Hierarchie ab. 539 Die Summe dieser individuellen Stadien innerhalb eines Staatswesens bezeichnete er als die „Nationalkultur", die sich wiederum auf die Staatskraft bezieht. 540 Oder kurz gesagt: Ein gleichmäßig hoher Ein Wirkungsgrad der Staatskraft auf alle in der Gesellschaft vertretenen Kulturstadien ohne Bevorzugung der Eliten schafft eine hohe Nationalkultur. 541 Sie ist das Produkt aus individueller Bildung, Bevölkerungsdichte und dem Abstand zwischen den individuellen Kulturstadien, deren inneres Gleichgewicht der Staat herzustellen hat, und gleichzeitig die Grundlage für wirksame staatliche Gesetzgebung. 542 Die höchste Kulturstufe wäre in einer Gesellschaft erreicht, in der ausschließlich die „vollkommeneren Kulturerzeugnisse" verlangt und konsumiert würden. 543 Eine hoch entwickelte Gesellschaft zeichne sich auch durch das Maß an individueller Freiheit und die Qualität der staatlichen Gewalt und ihrer Gesetzgebung aus. Die Gesetze würden hier zumindest von den Angehörigen der höheren Kulturstadien freiwillig befolgt, während andererseits der Staat kaum noch korrigierend etwa durch Anwendung von Strafgesetzen einzugreifen habe. 544 Wie utopisch diese Vorstellung war, leuchtete Lavergne selbst ein, wenn er einschränkte, dass es dazu möglicherweise erst in „Jahrtausenden", wahrscheinlich jedoch nie kommen werde. 545 Es versteht sich beinahe von selbst, dass Lavergne der Gesellschaft auf der höchsten Kulturstufe die

538

Lavergne, Grundzüge Π, S. 60. Lavergne, Grundzüge Π, S. 96 f. 540 Lavergne, Grundzüge Π, S. 46 u. 76. 541 Lavergne, Grundzüge Π, S. 77. 542 Lavergne, Grundzüge Π, S. 55 ff. u. 254. 543 „Denn je höher das Kulturstadium, um so vollkommenere Befriedigungsmittel sind ihm nothwendig; nie werden die Erzeugnisse der niederen Stadien den Seelenbedürfnissen der höheren volle Befriedigung gewähren". Lavergne, Grundzüge Π, S. 89. 544 Lavergne, Grundzüge Π, S. 83. 545 Lavergne, Grundzüge Π, S. 79, 95. 539

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

120

Geldwirtschaftsform als ökonomische Grundlage und die Monarchie als Staatsform zuordnete. 546 Methodisch schwerer zu erfassen schien Lavergne die Messbarkeit des kulturellen Fortschritts. Das erforderte zunächst eine Ausweitung der methodischen Basis von der für die Erfassung der Kulturstadien ausreichende „zerlegende" auf die historische und komparative Methode. 547 Seiner organizistischen Denkweise und seiner Forderung nach umfassender methodischer Durchdringung des Problems entsprangen die „Kulturkriterien". 548 Die „zeugende" stand der „erzeugten" und die „nährende" der „ernährten" Kultur antagonistisch gegenüber. Das Partizip Präsens steht dabei jeweils für die individuelle Leistung, das Partizip Perfekt für den staatlichen Beitrag im kulturellen Produktionsprozess. Genauer gesagt geht es um die Hervorbringung von kulturellen Werken und Werten durch den einzelnen und die Gesamtgesellschaft sowie ihre individuelle und gesamtgesellschaftliche Rezeption und die lenkende Rolle des Staates als „allgemeinem National-Deputierten" in diesem Pro549

zess. Denn die Nationalkultur errechnet sich nicht aus der Summe der kulturellen materiellen und immateriellen Produkte, sondern aus ihrer Qualität, ihrer Harmonie, ihrer Angepasstheit an die jeweils aktuelle Entwicklungsstufe und damit ihrer Fähigkeit, selbst Entwicklung anzuregen. 550 Tätigkeit im Sinne von kreativer Aktivität ist die erste von drei „gesellschaftlichen Kulturfunktionen", die Lavergne vorstellte. 551 Tätigkeit ist zugleich die „Lebensbedingung jeder organischen Kraft". Individuum und Nation müssen dabei ihre Tätigkeit ausgleichen - das Individuum immer den Nutzen für die Gesellschaft einbeziehen, der Staat immer die Anregung des einzelnen. Die Konsequenz, die Lavergne aus dieser Regel für die Bildungspolitik zog, muss für jeden liberalen Schulreformer befremdlich geklungen haben 552 :

546

Lavergne, Grundzüge Π, S. 84. Lavergne, Grundzüge II, S. 72. 548 Lavergne, Grundzüge Π, S. 72 ff. 549 Zitat Lavergne, Grundzüge Π, S. 55, dort weiter zur Staatsfunktion: „Je nachdem der Staat seine leitenden Funktionen vollkommen oder mangelhaft erfüllt, ist die sich darstellende Nationalkultur eine hohe oder eine niedere, eine harmonische oder eine krankhafte"; vgl. Lavergne, Grundzüge Π, S. 72 ff. 550 Lavergne, Grundzüge Π, S. 80 f., mit Hinweis auf die immense Produktion von Novellen, sentimentalen Romane und Schriften des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. 551 „Die Gesellschaft gewährt den individuellen und nationalen Kräften [...] den Raum, die Sicherheit, die Freiheit, die Anregung und die Zügelung, die zu ihrer bildenden Thätigkeit nothwendig sind". Lavergne, Grundzüge II, S. 110. 552 Vgl. Wehler, Bd. 2, S. 479: Ihnen „ging es um die bestmögliche Förderung eines jeden jungen Menschen durch formale Ausbildung in den wichtigsten Kulturtechniken". 547

VI. Die Kulturwissenschaft

121

Danach ist die Gesellschaft mit dem geringsten Bedarf an Schulen bei gleichem kulturellem Niveau die vollkommenere, weil Bildungsinstitute lediglich die „Lücken der Lebensbildung" schließen sollten. 553 Das sollte aber keineswegs heißen, der Staat habe sich aus der Bildung zurückzuziehen. Er war für Lavergne die Kraft, die Bildung in Bewegung setzte und demzufolge auch das „nationale Unterrichts-, Erziehungs- und Medizinalwesen; Schule, Gymnasium, Universität, Kirche; das Reich der literarischen, kritischen, wissenschaftlichen und Kunstinstitute; die Druckpresse und der Buchhandel, das Journalund Zeitungswesen, wissenschaftliche Reisen, Stipendien etc." als „Kulturhebel" instrumentalisieren sollte. 554 Die Aufgabe der Versorgung aller schöpferischen Geister mit hochwertigen Kulturerzeugnissen bezeichnet Lavergne als „ Ernährung" - die zweite Kulturfunktion der Gesellschaft: „Denn die amerikanische Unersättlichkeit, die es mit dem Qualitativen nicht so genau nehmen kann, möchten wir nur als geistige Bulimie gelten lassen." 555 Er forderte also, wie im Fall der „Ernährung" der Produktionskräfte, auch im kulturellen Bereich harmonische Ausgewogenheit. Bei materiellen Kulturgütern sind beide Formen der „Ernährung" identisch: der Mensch erwirbt ein Produkt seinem dahingehenden Bedürfnis und seinen finanziellen Fähigkeiten entsprechend. Schwieriger erschien Lavergne die Vermittlung von ideellen Kulturprodukten, weil sie die für die Weiterentwicklung der Gesellschaft so wichtigen Seelenkräfte fördern. Sie brauchen nach Lavergnes Auffassung Anregung durch Ideen, Gefühle und Erkenntnisse und nicht die schnelllebigen Produkte der Journalistik. 556 Optimal erschien es Lavergne, wenn die Elite die Angehörigen niedriger Kulturstadien zu deren Weiterentwicklung mit den Produkten der höheren Kultur bekannt machen. Er war nämlich überzeugt davon, „daß die Erzeugnisse der höheren harmonischen Kultur auch den niederen Stadien Befriedigung gewähren, nicht aber umgekehrt". Als Beispiele aus der Literatur nannte er Cervantes und Shakespeare. 557 Die Ausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen, zwischen Aktiv und Passiv war für Lavergne im Kulturleben wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen das Geheimnis der für den Fortschritt notwendigen Harmonie.

553 554 555 556 557

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π,

S. 107. S. 113. S. 111, Zitat S. 128 f. S. 111. S. 89.

122

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

2. Der Mensch im Kulturstaat - Freiheit durch „Assoziation64 Von der Förderung der Bildungsfähigkeit des Individuums sowie der gezielten Auslese erwartete Lavergne Anregung und Unterstützung zur Herausbildung einer schönen, gebildeten und sittlich hochstehenden Bevölkerung. So charakterisierte er die dritte Kulturfunktion der Gesellschaft. 558 Das Individuum sollte durch Bildung zur Anpassung an die sich an die sich perfektionierende Gesellschaft gebracht werden. Für Lavergne war dies eine notwendige Entwicklung, denn er betrachtete es als „Gesetz [...], daß je höher das Kulturstadium der zeugenden Individuen, um so größer die Bildungsfähigkeit ihrer Nachkommen" sei. 559 Daraus ergab sich für ihn eine „fast unbegränzte" körperliche und geistige „Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geschlechts", die jedoch gewissenhaft und nach den richtigen Grundsätzen verfolgt werden müsse.560 Diese habe besonders der amerikanische Arzt Amariah Brigham herausgearbeitet, dessen „Bemerkungen über den Einfluß der Verstandsbildung und geistigen Aufregung auf die Gesundheit" 1836 auf Deutsch erschienen war. 561 Die Ergebnisse seiner Arbeit seien ein Beleg dafür, dass sich in einem so freizügigen Gemeinwesen wie dem nordamerikanischen lediglich eine auf den materiellen Erwerb ausgerichtete „fieberhafte" Betriebsamkeit, aber keine organische Entwicklung manifestieren könne. Vor allem die Beschreibung von bis zur Krankheit führenden schädliche Auswirkungen zu großer geistiger Beanspruchung bei kleinen Kindern und Frauen waren für Lavergne besorgniserregend. Wo schon kleine Kinder im Alter von zwei und drei Jahren mit journalistischen Erzeugnissen bekannt gemacht, Frauen gar erwerbstätig, Politikerinnen und Journalistinnen sein könnten, müsse die Familie degradiert, die Ehe ruiniert und die Poesie erstickt werden. 562 Die Kultivierung des Individuums durch die Gesellschaft hatte für Lavergne folgendes Ziel: „Ist es gelungen, jedes einzelne Gesellschaftsglied zu der seinen Kräften entsprechenden, regen und vielseitigen Thätigkeit zu bewegen, die dazu erforderliche Sicherheit, Freiheit, Anregung und Vermittelung darzubieten; ist es ferner gelungen, die sinnlichen, geistigen und sittlichen Kräfte ihrer Thätigkeit und den Entwickelungsstadien gemäß zu ernäh-

558

Lavergne, Grundzüge Π, S. 110 ff. Lavergne, Grundzüge Π, S. 115. 560 Lavergne, Grundzüge Π, S. 115 f., mit Bezug auf die Erkenntnisse von Rosenkranz' Psychologie, Hufelands Makrobiotik und Tissots Arbeit über die Gesundheit der Gelehrten. 561 Lavergne, Grundzüge Π, S. 117. 562 Lavergne, Grundzüge Π, S. 118 ff. 559

VI. Die Kulturwissenschaft

123

ren, so ist dadurch die dem Gesellschaftsorganismus vorliegende große Aufgabe zur Erlösung gelangt." 563 In dem so errichteten Kultur Staat sollte der Mensch die größtmögliche Freiheit genießen. Lavergnes Freiheitsbegriff war auf den ersten Blick vom liberalen Dogma nicht weit entfernt: „Es ist Freiheit nothwendig, um der Thätigkeit den so unentbehrlichen Spielraum darzubieten; Freiheit der Person, Freiheit der Sachen, der Rede, des Gedankens, der Schrift, natürlich mit denjenigen Schranken, welche die Erhaltung der fremden wie der allgemeinen Freiheit erfordert, und dadurch Zügellosigkeit hindert." 564 Er ordnete das Individuum dem Interesse der jeweils übergeordneten Gruppe und dem Kulturinteresse der Gesellschaft unter. 565 Freiheit als individuelles Grundrecht existierte für Lavergne nicht, vielmehr war sie Bedingung für die Existenz des Kulturstaats und deshalb in ihrer ausgedehntesten Form erst dort möglich. 566 Diese Forderung implizierte wiederum, dass der Staat entsprechend seiner Entwicklungsstufe das jeweils höchste Maß an individueller Freiheit zu ermöglichen habe, weil er ansonsten den Fortschritt zur nächsten Kulturstufe hemmen würde: „Die Gesellschaft gewährt den individuellen und nationalen Kräften demnach den Raum, die Sicherheit, die Freiheit, die Anregung und die Zügelung, die zu ihrer bildenden Thätigkeit nothwendig sind." 567 Andererseits habe auch der einzelne die Pflicht, seine Freiheit durch möglichst vielfältige Tätigkeit innerhalb der Gesellschaft zu nutzen. Er könne seine sinnlichen, geistigen und sittlichen Kräfte in der Produktion, im Kulturleben, in Erziehung und Bildung, Wissenschaft und Kunst, im Familienleben und in der religiösen Betätigung, aber auch in der staatlichen Sphäre einsetzen. Neben dem Engagement in Parlamenten und Gemeindeverwaltung gehörte in diesen Bereich auch die Vaterlands Verteidigung. Angesichts der langen Liste von individuellen Möglichkeiten geriet Lavergne so ins Schwärmen, dass ihm nur noch der Vergleich mit dem christlichen Himmel einfiel: „Der Himmel öffnet sich uns bereits auf dieser Erde - aber der Mensch soll ihn sich selbst bereiten." 568 Aber selbst dieser Himmel benötigte für seine Existenz die regelnde Hand des Staates. Letzterer sollte die Voraussetzungen dafür schaffen, dass jedes

563

Lavergne, Grundzüge Π, S. 121. Lavergne, Grundzüge I, S. 61. 565 Lavergne, Grundzüge Π, S. 108. 566 „Die harmonische Entwickelung jedes Organismus wird aber überdies durch das Maaß der Freiheit bedingt, mit dem sowohl er selbst, als seine Bestandtheile ihre Functionen verrichten", Lavergne, Grundzüge Π, S. 82 f.; ähnlich S. 84 u. 273. 567 Lavergne, Grundzüge Π, S. 110. 568 Lavergne, Grundzüge Π, S. 107. 564

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Individuum die seinen Talenten und seinem Kulturstadium entsprechenden Tätigkeiten ergreift, dabei gleichzeitig nur die „edleren, wirklich zur Vervollkommnung führenden Kräfte" fördern und die „Begierden, die unedleren Leidenschaften" beschränken. 569 Des weiteren hatten die Staatsinstitutionen die Aufgabe, einseitige Entwicklungstendenzen in den niederen Stadien durch Förderung von Vielseitigkeit entgegenzusteuern, was auf dem Gebiet der Wissenschaft genauso opportun sein könne wie hinsichtlich des Zustandes der Fabrikarbeiter. 570 Das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft, seine Einbindung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und die Rolle des Staates in diesen Bezügen stellt Lavergne als Wechselspiel der „Kulturkreise" ausführlich dar, 571 wobei jedes Individuum als „Kulturkreis" für sich gilt. 5 7 2 Hier präsentierte sich ein zur schwülstigen Langatmigkeit fähiger Lavergne, wenn er beispielsweise die Vereinigung zweier „Kulturkreise" zu einem Ehepaar beschrieb: „So nähert sich das hülflose Weib dem starken und schützenden Manne, während dieser in dem zarten Gemüthsieben der Frau seine Seele erweitert und erstarkt." 573 Hierin besteht nach Lavergnes Auffassung auch der weibliche Lebenssinn: Während sie innerhalb von Ehe und Familie ihre ausschließliche Bestimmung findet und ihrem Haushalt ihr gesamtes geistiges und körperliches Vermögen widmen soll, reicht das Potential des Mannes auch noch für „das ProductionsStaats- und allgemeinere Kulturleben". 574 Familie, Verein als jede Form der menschlichen Vereinigung, religiöse Ge-meinschaft, Zunft und Arbeiterorganisation betrachtete Lavergne als freiwillige Zusammenschlüsse unterschiedlicher Größenordnung zur Erziehung und Weiterbildung des auf verschiedenen Kulturstufen existierenden Einzelwesens. Den Staat verpflichtete er auf ihre Förderung und Erhaltung durch ihre Anerkennung als korporativ verstandene juristische Person und die Staatswissenschaft auf ihre Definition und Erforschung. 575 Das gesamte soziale Leben des Individuums spielt sich nach Lavergnes Auffassung innerhalb von als Organismen verstandenen „aristokratischen" Assoziationen und „demokratischen" Kooperationen 576 (sie!) ab. In die

569

Lavergne, Grundzüge Π, S. 108. Lavergne, Grundzüge Π, S. 110. 57 1 Lavergne, Grundzüge Π, S. 122-196. 572 „Der Gesellschaftsorganismus zerfällt in so viele Kulturkreise, als Individuen vorhanden sind". Lavergne, Grundzüge II, S. 267. 57 3 Lavergne, Grundzüge Π, S. 146. 57 4 Lavergne, Grundzüge Π, S. 161. 57 5 Lavergne, Grundzüge Π, S. 194. 576 Lavergne benutzt den Begriff „Kooperation" etwa im Sinn des Begriffs „Kooperative", also für eine Gruppierung, in der Menschen sich freiwillig zu einem gemeinsamen Ziel zusammenschließen. 57 0

VI. Die Kulturwissenschaft

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Assoziation wird das Individuum hineingeboren; sie definiert sich (berufs)ständisch und geographisch, der Kooperation schließt es sich zur Vertretung seiner Interessen freiwillig an. Das aristokratische Prinzip bedingt, dass die Assoziation von einer Elite und einem Führer qua Geburt geleitet wird, während das demokratische der Kooperation ihre Führer durch Wahl bestimmt. Beide müssen zur Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichts innerhalb eines Gemeinwesens ineinander greifen. 577 Den Begriff „Korporation" verstand Lavergne als Oberbegriff für alle Arten von sozialen Bindungen, in denen Menschen innerhalb der Gesellschaft existierten. Lavergne entwickelte damit eine eigene und eigenwillige Begrifflichkeit. Ganz anders gingen etwa Mitte der vierziger Jahre der konservative Literaturhistoriker Viktor Aimé Huber oder der liberale Historiker Adolf Schmidt, die das Assoziationsprinzip in den Mittelpunkt ihrer sozialtheoretischen Überlegungen gestellt hatten, mit diesen Begriffen um. 5 7 8 Während beide Autoren trotz ihrer unterschiedlichen politischen Ansätze unter Assoziation freiwillige Zusammenschlüsse zur sozialen Absicherung und als vordringlich proletarische Interessenvertretung verstanden 579 , benutzte Lavergne auch noch in den 50er-Jahren den Terminus ähnlich wie Baader 580 in einem wesentlich umfassenderen Sinn. Er stand für ihn als Synonym für Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft, denen jedes Individuum qua Geburt angehörte. Sie war die eine Grundlage für die „organische Gliederung" der Gesellschaft, mit der er gleichzeitig die Existenz des Geburtsadels rechtfertigte. 581 Die andere Grundlage bildeten die Kooperationen als Vereinigungen zur Absicherung und Vertretung der eigenen Bedürfnisse und Interessen durch eine innungsmäßige Organisation der gesamten wirtschaftenden Bevölkerung. Die Erkenntnis, dass es bei entsprechender Größe eines Vereins - etwa einer

57 7

Lavergne, Grundzüge Π, S. 154 ff. A. Schmidt, Zukunft, passim; V. Α. Huber, Grundzüge, passim; V. Α. Huber, Über innere, S. 204 ff.; vgl. Fenske, Vormärz und Revolution, Einleitung, S. 12; vgl. Beck, Origins, S. 86 zum Unterschied zwischen den beiden Ansätzen: „For the liberals, the association was a means to an end; for Huber, it was an end in itself." 579 So etwa A. Schmidt , Zukunft, S. 36: „Nur sie kann, ohne die Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen zu beeinträchtigen, die materiellen Bürgschaften unfreier und unselbstständiger Lebensverhältnisse ersetzen, und darüber hinaus auch sittliche der bedeutsamsten Art gewähren. Sie ist das einzige Mittel durch dessen Anwendung von Seiten der Gesellschaft selber dem Nothstande dauernd vorgebeugt werden kann, ja auf ewige Zeiten hinaus, sofern ihr eigener Lebensnerv nicht zerreißt oder verfault." 580 Baader, Gedanken, S. 67, nennt das „associierende Princip als den Bildungsoder Gestaltungstrieb der Gesellschaft". 581 Lavergne, Doctrin und Verwaltung, in: BR I, S. 364 ff. 57 8

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

großen Fabrik - auch Zwischenformen, „Koassoziationen", geben könne, andererseits aber auch Personengruppen, die wie beispielsweise Kriminelle keinen Platz in der organisierten Gesellschaft hätten, sah Lavergne als Herausforderung für die Wissenschaft. Sie sollte die Zuordnung der verschiedenen menschlichen Zusammenschlüsse zum demokratischen oder aristokratischen Prinzip vornehmen und den Zeitpunkt ermitteln, an dem eine Gesellschaft für den Übergang zu ausschließlich kooperativen, sprich demokratisch verfassten, Vereinsformen reif ist. 582 3. Die Französische Revolution als Synonym der Zeitenwende Klingen in diesem Abschnitt schon verstärkt Warnungen vor Rückschritt durch unkontrollierbare Veränderungen als Hemmung einer harmonischen und ausgeglichenen Entwicklung an, wird dieses Element in Lavergnes Denken über die Auslöser und Folgen der Französischen Revolution besonders deutlich. 583 In ihrer weit- und kulturhistorischen Bedeutung und Notwendigkeit kam sie für Lavergne mit der Stiftung des Christentums gleich, allerdings unter völlig anderen Vorzeichen. Während das Christentum die Verbrüderung der Menschheit angestrebt habe, hätte die französische Revolution aus der Sicht des Ostpreußen in allen Bereichen nur Auflösungstendenzen entwickelt. Aufgabe der nachrevolutionären Generationen sei es jetzt, diese Tendenzen auf das für den gesellschaftlichen Fortschritt notwendige Maß zu begrenzen. 584 Die vorrevolutionäre europäische Gesellschaft war in Lavergnes Vorstellung bis zur Unbeweglichkeit reguliert, „verknöchernd" 585 und am Rand der „sozialen Verwesung" 586 . Zu kulturellem Fortschritt erschien sie ihm unfähig und aus sich selbst heraus nicht mehr reformierbar. Die Revolution von 1789 beendete, so Lavergnes von der übrigen konservativen Interpretation abweichende Geschichtsphilosophie587, als notwendige Konsequenz diesen statischen Zustand, indem sie alle bestehenden Strukturen sprengte und schlicht „atomisierte". 588 582

Lavergne, Grundzüge Π, S. 169 u. 185. Lavergne, Grundzüge Π, S. 196 ff; ebd., 197: „Die französische Revolution ist die große Aera, von der die heutigen Zustände datieren". Lavergne, Grundzüge II, S. 198. 585 Lavergne, Grundzüge Π, S. 199. 586 Lavergne, Grundzüge Π, S. 205. 587 Zum Verhältnis der deutschen Konservativen zur Französischen Revolution vgl. Lottes, Das revolutionäre Frankreich, S. 13-24. 588 Baader, Gedanken, S. 67 interpretierte Revolution als „negative Evolution"; vgl. Greijfenhagen, Dilemma, S. 43: „Der moderne Konservatismus erscheint [...] als Antwort auf die revolutionären Umbrüche des politischen, sozialen und religiösen Lebens." 583

VI. Die Kulturwissenschaft

127

Er verurteilte also nicht die Revolution als Ereignis, da er sie als einen aus den Fehlentwicklungen des Feudalismus resultierenden Wendepunkt bewertete. In der Monopolisierung der politischen und wirtschaftlichen Macht innerhalb des feudalen Systems und dem darin zementierten gesellschaftlichen Ungleichgewicht sah Lavergne die Ursachen für die revolutionäre Eruption. Die Wiederherstellung des Feudalsystems sei deshalb ebenso abzulehnen wie die nachrevolutionäre Gesellschaft mit ihrem „System der vollständigsten Isolirung" mit nur noch rudimentär vorhandenen Formen korporativer Bindung 589 . Das Chaos der nachrevolutionären Epoche war für Lavergne Ausdruck einer Zeitenwende und gravierender gesellschaftlicher Krise. Die historische Chance, die die Revolution geboten habe, sei ungenutzt verstrichen. Anstelle „neuer und zeitgemäßer Institutionen" sei aus der Sprengung der verkrusteten Strukturen in Form von vorrevolutionären Feudal-, Korporativ- Kirchen- und provinziellen Banden lediglich ein Vakuum 590 mit verheerenden Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen entstanden591: Konkubinat statt Ehe, schlechte Schulausbildung der Kinder und Kinderarbeit, Rückschritte in der Landwirtschaft durch Monokulturen, arbeitslose Landarbeiter durch unkontrollierte Industrialisierung, Unfreiheit weiter Bevölkerungskreise durch Überschuldung und Abhängigkeit von der Armenpflege und weit verbreiteter Alkoholismus. All diese Missstände ließen die Gesellschaft zu einer bloßen Ansammlung von „unsicheren Existenzen" degenerieren, für die die nächste Missernte eine Katastrophe bedeuten könnte. 592 Sein Urteil lautete am Ende: „So hat die französische Revolution mit ihren Auflösungsprinzipen überall das Gegentheil von den ihr vorliegenden großartigen Zwecken bewirkt". 593 Auch statistisch, bedauerte Lavergne, lasse sich dies belegen anhand der „in mehr als arithmetischer Progression anwachsenden" Zahl von „Armen und Hülflosen; der Prozesse, Exekutionen, Subhastationen und Konkurse; der Auswanderer, Selbstmörder, Verbrecher und der Militairunfähigen; die Sterblichkeit der Kinder etc." 594 Wenn also „das großartigste Experiment der Weltgeschichte nicht ein vollständig verfehltes sein soll", müssten von der Basis der Gesellschaft her neue tragfähige Strukturen geschaffen werden. Angefangen bei der Familie und der Gemeinde sollte ein wissenschaftlich gestütztes Steuer-, Zoll- und Rechtssys-

589 590 591 592 593 594

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π, Grundzüge Π,

S. 199 f. S. 198, 203, 207 u. 209. S. 196 ff. S. 215 ff. S. 220. S. 221.

128

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

tem die „Gesellschaftskräfte zügeln", bevor eine neue gesamtstaatliche Form entwickelt werden könne 595 : „Suchen wir daher durch fortgesetztes ernstes Streben auf dem Gebiete der Wissenschaft, die zur Rettung der edleren Blüthen des Kulturlebens führenden Wahrheiten zu erringen - es ist dies der einzige Kampfplatz, auf dem die großen Fragen des Jahrhunderts zur endlichen Entscheidung gelangen können, der zugleich eines aufgeklärten Zeitalters allein würdig ist." 5 9 6

V I I . Die Diskussion der „Grundzüge"

1. Europäische Vorbilder Lavergne sah sein Werk und seine Gesellschaftstheorie in einem gesamteuropäischen Zusammenhang. Obwohl er das nicht explizit aussprach, stellte er sich gewissermaßen ans Ende der Reihe der „Regeneratoren der Gesellschaft" 597 , die bis zum Erscheinen der Grundzüge von Malthus, Condorcet, St. Simon, Fourier, Lamennais, Godwin und Owen gebildet wurde. Diese Zusammenstellung verdankte er einer, wie Lavergne selbst schrieb, „lichtvollen" Darstellung Friedrich Schmidts aus dem Jahr 1840 und möglicherweise nicht ausschließlich eigenem Quellenstudium. 598 Das Fehlen deutscher „Regeneratoren" in der Liste ist auffällig, kann aber nur bedeuten, dass Lavergne keine solchen zu benennen wusste.599 Das Verdienst der oben Genannten war in Lavergnes Augen der Mut, Modelle zur Bewältigung von Pauperismus und seinen Folgen durch die Umgestaltung der gesellschaftlichen Grundlagen zu schaffen und sich damit weiter vor zu wagen als die deutschen Autoren der „Schule". Gleichzeitig verwendete Lavergne die vorgestellten Modelle als die letzten noch notwendigen Beweise dafür, dass neben den Lehren der „Schule" auch die der französischen Früh Sozialisten St. Simon und Fourier und der englischen Gesellschaftstheoretiker Owen und

595

Lavergne, Grundzüge Π, S. 222f. Lavergne, Grundzüge Π, S. 223. 597 Lavergne, Grundzüge Π, S. 337, 356. 598 Lavergne, Grundzüge Π, S. 337. Der Aufsatz von F. Schmidt mit dem Titel Regeneration der Staatswissenschaften erschien in: Der Freihafen, 3. H., 1840. 599 Lavergne, Grundzüge Π, S. 342-359. 596

VII. Die Diskussion der „Grundzüge"

129

Godwin 6 0 0 zu undurchführbaren Lösungsansätzen führen mussten. Dasselbe Urteil fällte er über den „berühmten" Condorcet 601 wie über den „bekannten" Lamennais 602 . Ihnen gestand er aber immerhin noch richtige Ansätze bei der Ursachenforschung zu. Eine Ausnahmeposition räumte er dagegen Robert Malthus ein, obwohl Lavergne dessen Bevölkerungstheorie in ihren Ergebnissen ablehnte: „Sie haben etwas ungemein Trostloses, die Lehren dieses so berühmt gewordenen Politikers." 603 Seine Theorie sei zwar, anders als viele andere, kein übereilt veröffentlichtes Elaborat, aber durch ihre Ausrichtung auf englische Verhältnisse und den frühen Zeitpunkt ihres Erscheinens nicht mehr anzuwenden. 604 Vorschläge wie die Verwandlung des Privateigentums in Gemeinschaftsbesitz, die gemeinsame Erziehung der Jugend außerhalb der Familie oder die Vorstellung, Menschen in großen Gemeinschaftsgebäuden nach ihren Bedürfnissen leben und arbeiten zu lassen, sie in Kolonien zusammenzuschließen und ihre Existenz in fernen Ländern finden zu lassen, waren für Lavergne als undurchdachte „Palliativmittel" schlicht „unwirksam" 6 0 5 : „Wahrlich, unsere Proletarier werden lange warten müssen, bevor ihnen von dieser Seite wirksame Hülfe zu Theil werden dürfte". 606 2. Rezensionen Lavergne selbst resümierte am Ende des zweiten Bandes der „Grundzüge", dass die „großen Fragen der Menschheit" auf wissenschaftlichem Gebiet ent-

600 „Heinrich" Graf St. Simon, Lavergne, Grundzüge Π, S. 311 ff.; „Carl" Fourier, Lavergne, Grundzüge Π, S. 313 ff.; Charles Godwin, Lavergne, Grundzüge Π, S. 321 ff.; Robert Owen, Lavergne, Grundzüge Π, S. 332 ff; vgl. Meyer, Frühsozialismus, S. 59 ff. 601 Lavergne, Grundzüge Π, S. 308; S. 347 f: „Hätte unserem genialen Denker der Begriff des Staats in seiner ganzen Klarheit vorgeschwebt, so würde er auch erkannt haben, daß, wo die Privat- und Vereinskräfte nicht ausreichen, der Staat einschreiten müsse, daß die Leitung und Regelung jener äußeren Umstände ebensowohl in der Macht, wie in der Pflicht des Staates liegt." 602 Lavergne, Grundzüge Π, S. 318 ff. 603 Lavergne, Grundzüge Π, S. 342. 604 „Nur der tiefere Malthus suchte sich zu klarer Anschauung zu erheben, konnte aber auch nicht zum Ziele gelangen, da er seine Forschungen lediglich auf das Bevölkerungsleben beschränkte"; Lavergne, Grundzüge Π, S. 336; Lavergne, Grundzüge Π 323 ff. u. 342 ff; ähnlich noch 1870 Lavergne, Organische Staatslehre, S. 64 f. u. 133. 605 Lavergne, Grundzüge II, S. 356 f.; Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 157. 606 Lavergne, Grundzüge Π, S. 356.

130

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

schieden werden müssten und dadurch die zu nichts führenden politischen Parteikämpfe und Revolutionen überflüssig würden. Auf diesem „Kampfplatz" trat er gegen seine „für die Erhebung der Menschheit begeisterten Zeitgenossen" an: „Ich habe in dieser Schrift meinen Mitkämpfern den Fehdehandschuh hingeworfen. Mögen sie sich mir gegenüber oder zur Seite stellen, sie werden mir gleich willkommen sein, sofern sie lautern Herzens d. h. voll redlichen Strebens nach Wahrheit erscheinen. Ich werde das Anerkenntniß meiner Niederlage mit freudigem Hochgefühl aussprechen, sobald ich nur durch Darlegung der Wahrheit überführt worden, denn dann wäre der Zweck des Kampfes erreicht. Nur möge der Tag der Entscheidung bald erscheinen, denn immer lauter tönt der Schmerzensruf der bedrängten Menschheit, immer heißer deren Flehen nach endlicher Erlösung von ihren unerträglichen Leiden." 6 0 7 Keiner von Lavergnes Adressaten nahm den so provokativ geworfenen Fehdehandschuh auf. Die drei erschienenen Rezensionen setzten sich nur mit dem ersten Band auseinander; auch die spätere Lavergne-Rezeption berief sich fast nur auf diesen Band. Der anonyme Verfasser der ersten Rezension in der A l l gemeinen Preußischen Staatszeitung" im April 1838 lobte das Buch als „Frucht eines gründlichen wissenschaftlichen Studiums, umsichtiger eigener Beobachtungen und selbstständigen Denkens", das „bei lichtvollem bündigem Vortrage den Stempel der Originalität in sich trägt" 608 . Dem folgte Zustimmung zur Lavergneschen Kritik an den Auswirkungen der Agrarreformen und die Wiederholung der Aufforderung des Autors, die Wissenschaft solle sich der vielfältigen entstandenen Probleme annehmen. 609 Die entgegengesetzte Haltung wurde in zwei Rezensionen vertreten, die Anfang 1839 erschienen. Zwar blieb der Verfasser des Artikels in den liberalen Leipziger „Blättern für literarische Unterhaltung" ungenannt; es handelte sich dabei jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach um den Leipziger Professor und Nationalökonomen Friedrich Bülau. 6 1 0 Die Argumentation und die Wortwahl ähnelten so stark einer parallel erschienenen mit „Bülau" unterzeichneten Rezension in den „Neuen Jahrbüchern der Geschichte, der Staats- und CameralWissenschaften" 611, dass sie beide aus der Feder des Vielkritikers Bülau stammen müssen. Bülau widersprach allen nationalökonomischen Ansät-

607

Lavergne, Grundzüge Π, S. 367. Anonym „(42)", Allgemeine Preußische Staatszeitung, Nr. 95, Beilage, 5. April 1838, S. 382. 609 Zur restriktiven preußischen Pressepolitik Ende der 30er-Jahre Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2, S. 541 f. 6,0 Vgl. Brandt, Geschichte I, S. 210. 611 Bülau, Rezension, S. 169-175; zu Bülau Brandt, Geschichte I, S. 210. 608

. Die Diskussion der „Grundzüge"

131

zen Lavergnes. 612 Um, wie es eigentlich notwendig wäre, jeden einzelnen Satz zu widerlegen, sei jedoch ein neues Buch nötig. Deshalb beschränkte sich der Rezensent darauf, Freiheit in Handel und Gewerbe ohne staatliche Eingriffe zur Wirtschaftssteuerung als die richtigen Mittel für Wohlstand und Prosperität zu preisen. Außerdem warf er Lavergne vor, seine Ergebnisse blieben wegen der mangelhaften „zerlegenden Methode" 613 in einem Anfangsstadium stecken: „Wir gestehen, in dieser ganzen Untersuchung nichts gefunden zu haben, woraus wir uns einen neuen und wichtigen Aufschluss über das Wesen und Wirken der Gesellschaft hätten versprechen können." 614 Bei aller zum Teil vernichtenden Kritik hielt der Rezensent Lavergne immerhin zugute, den Blick auf die Schattenseiten der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung zu geworfen zu haben, um allerdings im nächsten Moment vor den verheerenden Folgen von Lavergnes Lösungsvorschlägen zu warnen. 615 Bülau war Wissenschaftler, Mitherausgeber mehrerer Periodika und einer der ersten organisierten Publizisten in Deutschland. 616 Der Ton in den von Pölitz begründeten und von Bülau selbst herausgegebenen „Neuen Jahrbüchern" ist ungleich polemischer und stellenweise verletzend sarkastisch. Bülaus Fazit: „Was aber immer im Sinne des Verf. erfolge; seine Beweisführung ist nicht so überzeugend, daß man besorgen müßte, es werde durch sein Werk viel geschadet werden. Es wird vorübergehen, wie schon Mehreres aus derselben Richtung vorübergegangen ist. Widerlegt ist das alles schon längst." 617 Trotz der ideologischen und politischen Unterschiede stimmten Lavergne und Bülau mit ihren Auffassungen über die Ursachen der Pauperisierung durchaus überein. Auch Bülau machte die Individualisierung der Gesellschaft, die Auflösung von Ständen und Korporationen für die aktuellen Zustände verantwortlich und forderte, wie Lavergne, die Änderung der Heimatgesetze für eine Niederlassungsfreiheit der arbeitsuchenden Proletarier. 618 Allerdings verfolgte Bülau mit seinen Vorschlägen zur Armutsbekämpfung das Ziel der

6X 2

Anonym „(123)", S. 105-112. Anonym „(123)", S. 106. 614 Anonym „(123)", S. 106. 615 Anonym „(123)", S. 111. 616 Neben den Neuen Jahrbüchern gab Bülau die Leipziger Allgemeine Zeitung heraus und veröffentlichte auch in der „Deutschen Vierteljahrsschrift". Er war Mitglied im Leipziger Schriftstellerverein, Wehler, bd. 2, S. 534. 617 Bülau, Rezension, in: Neue Jahrbücher, S. 170. 618 Bülau, Heimathgesetze, S. 141 ff.; S. 144: Für die „Nomaden", die der Arbeit hinterher ziehen, muss die Gesetzgebung die Rahmenbedingungen schaffen: „Da keine organischen, auf den eigenen Willen der Individuen einwirkenden, Verhältnisse mehr dem Wechsel entgegenstehen; so muß man die mechanischen Hindernisse, die der Wille Dritter, oder beschränkende Einrichtungen ihm entgegenstellen, wegräumen." 613

132

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit für jedes Individuum, die auch die aktive Teilnahme am politischen Gestaltungsprozess einschloss. 619 Der Vorwurf am Ende der Rezension, die Lavergneschen Ideen seien von Du BoisReymond bereits ausgearbeitet worden, ging nur zum Teil ins Leere. Zwischen dem Ministerialbeamten Friedrich Heinrich Du Bois-Reymond, der unter dem Pseudonym Bodz-Reymond schrieb, und Lavergne herrschten Respekt und gegenseitige Anerkennung und eine in den großen Linien ähnliche Haltung zum Problem der Massenarmut. 620 Allerdings war Du Bois-Reymond im Gegensatz zu Lavergne romantisch geprägt und lehnte statistisch und empirisch gesicherte Erkenntnisse ab. 621 Gerade das machte Du Bois-Reymond in den Augen Bülaus überzeugender, weil er seine nach Bülaus Ansicht so leicht widerlegbaren Thesen wenigstens aus echter persönlicher Betroffenheit zu Papier gebracht habe. Bülau spielte darauf an, dass der Tod seines Sohnes im Kindesalter Du Bois-Reymond erst zum Nachdenken über soziale Probleme und ihren Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung gebracht habe. 622 Die apologetische Haltung des eher liberalen Bülau gegenüber Du Bois-Reymond ist möglicherweise auch aus der Tatsache erklärbar, dass der Berliner Beamte trotz aller inhaltlicher und methodischer Differenzen durchaus positiv über Bülaus Arbeiten geurteilt hatte und ihre Lektüre empfahl. 623 3. Wechselwirkungen Du Bois-Reymond reagierte mit uneingeschränkter Bewunderung auf das Erscheinen des ersten Bandes der „Grundzüge". M i t der ganzen Abneigung des Konservativen gegenüber liberaler Theorieorientiertheit hob er Lavergnes praktischen Erfahrungsschatz hervor, der ihn letztlich zur Entdeckung des Begriffs „Gesellschaftswissenschaft" und ihrer „tiefen und vielumfassenden Geltung" geleitet habe. 624

619 620

Bülau, Heimathgesetze, S. 142; Bülau, Betrachtungen, S. 386. „Staatswesen und Menschenbildung" blieb die einzige Veröffentlichung von Du

Bois-Reymond.

621 Bodz-Reymond (d. i. Du Bois-Reymond), Staatswesen, Vorwort zum ersten Band, S. XIV; Winkel / Ott, Geschichte, S. 67, stellt ihn in eine Reihe „fast noch romantischer" Publizisten wie Paul Anton de Lagarde, Wolfgang Menzel, Friedrich Karl Julius Schüz. 622 Bülau hatte auch Bodz-Reymond rezensiert: Der Pauperismus, in: Deutsche Vierteljahrs schrift. 623 Etwa Bülau, Der Staat, in: Bodz-Reymond, Bd. 1, Vorrede, S. XXI, XLVÏÏ. 624

Bodz-Reymond, Bd. 4, S. 281.

. Die Diskussion der „Grundzüge"

133

Nach Du Bois-Reymonds Auffassung war Lavergnes größtes Verdienst, die in den dreißiger Jahren wiederholt formulierten Desiderate an die Forschung in dem einen Begriff „Gesellschaftswissenschaft" zusammengefasst zu haben. So konstatierte er im Mai 1838: „Offenbar fehlte dem Begriffe nur noch das Wort. Gesellschaftswissenschaft, Sociallehre ist dieses Wort, dessen tiefe und vielumfassende Geltung Herr v. Lavergne-Peguilhen glücklich erfaßt und mit großer wissenschaftlicher Consequenz und Sicherheit ins Daseyn gerufen hat. Dem Verfasser kam wesentlich der Umstand zu Gute, daß er mit der Landwirtschaft und allen damit in Zusammenhang stehenden Gesetzgebungsverhältnissen vollkommen vertraut ist, welches Schriftstellern, die nur in der Stadt leben, Stubengelehrten, die für ihre aburtheilenden Recensionen zeilenweise honorirt werden, Professoren, welche auf Universitäten ewig nur Adam Smith's Staatswissenschaftslehre wiederkäuen, in der Regel abgeht. Sehr bestimmt, folgenreich, einleuchtend setzt er die Beziehungen zwischen Land und Stadt, Betriebsamkeit und Ackerbau auseinander, welches eben mich veranlaßte die gegenwärtige Anmerkung nachträglich einzurücken. Dem Leser überlasse ich es aber zu seinem eigenen Vortheil, sich mit dem Werk unmittelbar bekannt zu machen." 625 Über die Entwicklung der neuen Wissenschaft äußerte sich Du Bois-Reymond optimistisch. Ihre Notwendigkeit sei nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile auch in Frankreich erkannt worden. 626 Zwischen Lavergne und Du Bois-Reymond bestand weitgehendes Einvernehmen in grundsätzlichen Fragen wie der Bedeutung des Wirtschaftssystems für die Staatsform, der Ablehnung der Gewerbefreiheit und der besonderen Verantwortung des Staates für das „Wohlergehen der großen Zahl" 627 . Angesichts der zahlreichen Übereinstimmungen hinsichtlich der Ursachen von Armut und der namentlichen Nennung von Du Bois-Reymond ist es wahrscheinlich, dass sich Lavergne in den betreffenden Themenbereichen Anregungen aus den bereits 1836 erschienenen ersten drei Bänden Du BoisReymonds holte. Bei der Armutsbekämpfung gingen die beiden Autoren jedoch getrennte Wege. Während Lavergne in der Armutsverwaltung und der Armenpflege nur interimistische Maßnahmen passend zu einem bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsgrad sah, strebte Du Bois-Reymond allerdings die komplette staatliche Kontrolle der Armut an 628 . Er ging sogar so weit, ein „Armen-Schutzministerium" nach dem Vorbild Godeffroys zur Vorbeugung

625

626 627

628

Bodz-Reymond, Bd. 4, S. 281.

Bodz-Reymond, Bd. 4, S. 282 f.; etwa A. F. Riedel; Alletz; Duchatel / Naville. Bodz-Reymond, Bd. 1, S. 5.

Bodz-Reymond, Bd. 4, S. 309, und zwar mit offenen „Ehren-Arbeitsanstalten", Billig-Kaufhäusern und Arbeitsvermittlung für temporäre Beschäftigungen anstelle des strafenden Charakters eines geschlossenen Arbeitshauses für die selbst verschuldet in Armut geratenen.

134

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

und effizienten Verwaltung der nationalen Armut und der konsequenten Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Armut zu fordern. 629 Wie nah die Positionen in der Pauperismusdiskussion im Vormärz beieinander lagen, zeigt das Beispiel eines anderen Mitarbeiters der „Neuen Jahrbücher" Friedrich Bülaus, des Gießener Professors Friedrich Schmitthenner (1796-1850). 630 Er nannte, ganz im Widerspruch zu Bülau, Lavergnes „Grundzüge" eine „geniale Schrift [...], weniger weil derselbe seine Zustimmung zu den von mir früher ausgesprochenen Ansichten zu erkennen gibt, als weil ich sehe, daß er selbständig Gesetze aufgefunden hat, die, meines Erachtens, als Grundsteine des wahren Systems anzusehen sind" 631 . Die Übereinstimmung zwischen Lavergnes und Schmitthenners ökonomischen Theoriebausteinen wurde bereits angesprochen; auch in der organischen Staatsauffassung und in den Positionen zur Bekämpfung des Pauperismus beeinflussten sie sich gegenseitig. So favorisierte Schmitthenner als Staatsform eine „aristokratisch-monarchisch-liberale Gliederung", die in ihrer Konzentration auf die „freieste, weiteste Entwicklung der Wohlfahrt und Cultur des Volkes" sowie die Sicherung der Autonomie der Corporationen" bei „ständischer oder allgemeiner Repräsentation". 632 Hinsichtlich der Bekämpfung des Pauperismus formulierte er weniger kämpferisch als Lavergne: „Die Noth des Volkes ist offenbar im Steigen; Mir scheinen aber die nach der bisherigen Wissenschaft abgeleiteten Gegenmitteln nicht genügend." 633 Der Staat konnte seinen Zweck nach Schmitthenners Vorstellung nur in der Symbiose konservativer und liberaler Theoreme erreichen und nie von einer Schule allein getragen werden: „Der wahre Staatsmann wird daher liberal seyn, wo es sich darum handelt, die Wohlfahrt und Cultur des Volkes zu fördern, selbst reformirend, wo Rechten eine Form zu geben ist, die allein sich mit dem Staatszwecke verträgt, dagegen überall conservativ, wo Rechte, die zur glücklichen Organisation des Staates gehören, zu erhalten sind, reagierend gegenüber destructiven Lehren und Tendenzen, sogar restaurirend, wo der Sturm ungünstiger Zeiten Säulen, die zur nothwendigen Ordnung des Staates gehören, gebrochen hat. Das aber ist die hohe Bedeutung und die Sendung der Wissenschaft, die Bestimmung der Menschheit und den Zweck des Staates zu

629 Bodz-Reymond, Bd. 4, S. 462 ff., er bezog sich auf Godeffroys 1836 in zweiter Auflage erschienenes Werk „Theorie der Armut". 630 Aus Mangel an neueren Veröffentlichungen Henkel. 631 Schmitthenner, Zwölf Bücher, 1. Bd., Vorrede, S. V; Henkel, S. 39. 632 Schmitthenner, Parteien, S. 232 f. 633 Schmitthenner, Charakter, S. ΙΠ.

. Die Diskussion der „Grundzüge"

135

beleuchten, daß nur das aufrichtige Streben für Wahrheit, Recht und Menschenglück des Erfolges sicher sey." 634 Wie Lavergne versuchte auch Schmitthenner einen eigenen Weg zu gehen; er fühlte sich dem Ostpreußen auch aus diesem Grunde verbunden. Ihr historistischer Ansatz bei gleichzeitigem Streben nach moderner Wissenschaftlichkeit 635 , die Abgrenzung von den Romantikern und die Ablehnung des Naturrechtsgedankens sowie die Überzeugung, dass die Persönlichkeitsrechte erst innerhalb des Staates Geltung erlangten, bildeten eine gemeinsame geistige Grundlage. 636 Allerdings befürwortete Schmitthenner im ökonomischen Bereich mit Gewerbefreiheit und Mobilisierung des Grundeigentums mehr Freiheit als Lavergne, wenn er auch am Prinzip der korporativen Gliederung festhielt und die „Freiheit der Korporationen" die „größtmögliche Freiheit" nannte. 637 Da weder Schmitthenner noch Lavergne die Herkunft ihrer Ideen über Fußnoten oder Hinweise im Text kenntlich machten, müssen die genannten Parallelen und die namentlichen Verweise genügen, um die Verbindungen zwischen beiden Autoren zu verdeutlichen. Sehr schwierig gestaltete sich das Verhältnis Lavergnes zu Friedrich List. 6 3 8 Von 1841 an bis zu Lists Freitod im Jahr 1846 bemühte sich Lavergne beharrlich um nähere Kontakte und um die Anerkennung seines Werkes durch den bekannten Augsburger Ökonomen und Politiker, der wie Lavergne nie studiert hatte. 639 In der Zusammenarbeit mit dem Gießener Professor für Philosophie und Staatswissenschaft Schmitthenner, dem romantisierenden Beamten im Berliner Außenministerium Du Bois Reymond und dem süddeutschen Kosmopoliten List, der lange in Frankreich und den USA gelebt hatte 640 , sah der ostpreußische Rittergutsbesitzer auf der Suche nach der Leitwissenschaft der Zukunft die große Chance, die gemeinsame sozial-ethische Position wirkungsvoller gegenüber der „Schule" zu vertreten. Für Lavergne stand fest, dass List „besonders durch seine historischen Forschungen die Beweise vervollständigt" habe, die „in neuerer Zeit der treffliche Schmitthenner für dieselbe angeführt, er tritt dem genialen Bodz-Reymond würdig zur Seite, welcher in Hingebung

634

Schmitthenner, Charakter, S. 234. Schmitthenner, Zwölf Bücher VII, S. 15 nennt das „historisch-logisch". 636 Schmitthenner, Pauperismus, S. 48 u. 75 (zu Romantik und Mittelalterbetrachtung, gegen Wiedereinführung von Zünften); Schmitthenner, Zwölf Bücher II, S. 77 f. Schmitthenner, Pauperismus, S. 67; Henkel, S. 34 f. 638 Biographisches zu List (1789-1846) Daniels, S. 127 ff. 639 Korrespondenz erhalten im Stadtarchiv Reutlingen, List-Archiv LA 35188, LA 2524, LA 26/6, LA 35/77, LA 56/53, LA 35/63. 635

640

Daniels, S. 127 f.

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

und Feuereifer etc. List gleichstehend, die Wirkungen der zügellosen Conkurrenz in allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens aufgedeckt hat". 6 4 1 Lavergnes Vereinigungsplan schlug fehl, weil List auf keines seiner Angebote reagierte. Der einzige Erfolg dieser Bemühungen stellte sich erst nach Lists Tod ein. In der letzten noch von List redigierten Ausgabe des „Zollvereinsblatts" erschienen Ende 1846 Auszüge aus Lavergnes Streitschrift „Der Liberalismus und die Freiheit". 642 Den ersten Brief 6 4 3 an den zwölf Jahre älteren List schrieb Lavergne wenige Tage nach dem Erscheinen seiner Rezension von Lists Hauptwerk „Das nationale System der politischen Ökonomie" 6 4 4 im „Königsberger Literaturblatt" vom 16. Februar 1842 an den bewunderten und einflußreichen Publizisten. 645 Ihm sei es gelungen, der Öffentlichkeit die Notwendigkeit der gründlichen Überprüfung liberaler ökonomischer Prinzipien deutlich zu machen. So werde Lists Werk zur wichtigen Grundlage für den „künftigen Begründer der Wissenschaft vom 'Wohle der Völker'". 6 4 6 In seiner Rezension hatte Lavergne die für ihn selbst erstaunlichen und erfreulichen Übereinstimmungen zwischen seiner eigenen Wirtschaftstheorie und dem nationalökonomischen „System" Lists festgestellt 647 , „obwohl Herr List von diesen offenbar keine Kenntniß hat. Diese Ueberei η Stimmung ist um so überraschender [...] als in der vorliegenden Schrift überwiegend der historische Forschungsweg verfolgt worden, während in der Gesellschaftswissenschaft der physiologische Zusammenhang und die Wechselwirkung der im Gesellschaftsorganismus waltenden, heterogenen Kräfte beobachtet, und daraus die gesellschaftlichen Bewegungs- und Produktionsgesetze abgeleitet worden". 6 4 8 Aus dem Zweifel heraus, ob List seine eigenen Ausführungen zur Produktionswissenschaft überhaupt gelesen hatte, erkannte er die wissenschaftli-

641

Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 158. Deutsches Zollvereinsblatt, Jg. 4, 1846, Nr. 50, S. 786-789; hier auch die Todesanzeige Friedrich Lists, der sich am 4.12.1846 in Kufstein das Leben genommen hatte. 643 List, Schriften, Bd. 8, Nr. 503 bis. 644 List, System, im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 1844, darin: Sommer, Vorbemerkungen, S. VII: „Das nationale System erfuhr sofort nach seinem Erscheinen Anerkennung und Kritik in ungewöhnlichem Ausmaß. In Bejahung und Verneinung blieb es bis zum ersten Weltkrieg das am meisten umstrittene Buch der Nationalökonomie in Deutschland." 645 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 153-159. 646 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 158, es wird nicht deutlich, ob er damit möglicherweise sich selbst meinte. 647 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 158. 648 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 159. 642

. Die Diskussion der „Grundzüge"

137

che Überlegenheit des Tübinger Professors an. Denn, wie Lavergne zugab, ein Publikumserfolg waren die zwei Bände der „Grundzüge" nicht geworden. 649 Vielleicht hoffte er, über List Schrift könnten seine eigenen Ideen transportiert und bekannt werden. Denn er erkannte kommentarlos an, sie gehöre „zu den bedeutendsten Erscheinungen auf diesem Gebiete der Literatur; sie wird nicht wenig zur Erkenntniß der dem Wohlstande des Volkes zum Grunde liegenden Gesetze beitragen". 650 Wenn es auch in untergeordneten ökonomischen Fragen, besonders aber in der politischen Grundhaltung Abweichungen zwischen den beiden Positionen gab, blieb für Lavergne entscheidend, dass List seine Untersuchungen auf die „Productionskräfte" 651 konzentriert und endlich die Produktivität der Staatskraft bestätigt habe, „während unsere Nationalökonomie in ihren gelehrten Systemen den Staat im günstigsten Fall als ein nothwendiges Uebel darstellet" 652 . Neben seiner Idee der Geldwirtschaftsform, die die sozialen Härten des Kapitalismus und des Übergangs zur Lohnarbeit in der Landwirtschaft ausgleichen sollte, fand Lavergne seine Vorstellungen vor allem in Lists Ausführungen über die Schutzzölle als Ausgleich zwischen industriell entwickelten und auf einer früheren Entwicklungsstufe verharrenden Nationen wieder. Die Aufgabe von Schutzzöllen - bei List „Erziehungszölle" - und Zollvereinen war der Schutz der „der innern Vervollkommnung nachstrebenden Völker" vor anderen Staaten, „deren gewerbliche Verfassung überwiegend auf den Prinzipien des Raubsystems beruht". 653 Eine weitere Parallele zu Lavergne sind die negativen Bezugspunkte Adam Smith und Jean Baptiste Say. 654 Von gemeinsamen inhaltlichen und methodischen Ausgangspositionen entwickelten List und Lavergne ähnliche Stufensysteme für die Entwicklung der Nationen. Der ideale Staat der politischen und ökonomischen Freiheit war für beide der Nationalstaat und nicht die staatenfreie Weltgesellschaft. 655 Schließlich blieb noch die gemeinsame Faszination für den „großartigen Bewegungs-

649

„[...] weil ich es nicht verstanden, wie Ew. Wohlgeboren, das größere Publikum für den Gegenstand zu interessieren", Lavergne an List v. 24. 2. 1842. In: List, Werke, Bd. 8, S. 306. 650 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 159. 651 List, System, S. 143 ff. 652 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 158. 653 Lavergne, Rezension von Lists „System", Sp. 157 f. 654 Zu Adam Smith List, System, S. 146 f.; zu Say List, System, 304 ff.; Sommer, S. 357; Baxa, S. 62 ff.; vor allem Says Traité d'économie politique wurde stark rezipiert; vgl. Brandt, Bd. 1, S. 154 f. 655

Vgl. Rieter, Schulen, S. 136 f.; vgl. auch Lenz, Ökonomie, S. 196 f.

138

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

hebel" der Zeit, die Eisenbahn, und damit die Begeisterung für den technischen Fortschritt in Produktion und Kommunikation. 656 Auch Schmitthenner begrüßte übrigens die „stäts neuen Erfindungen von Maschinen; Dampfschifffahrt, Eisenbahnen".657 Einzig seine zu große Leidenschaftlichkeit, kleinere methodische Mängel sowie die mangelnde Differenzierung zwischen Körper- und Geistesarbeit wollte Lavergne dem so viel erfolgreicheren süddeutschen Autodidakten vorwerfen, entschuldigte diese aber mit der Notwendigkeit, der herrschenden Schule scharfen Widerstand entgegenzusetzen.658 Nicht ohne einen gewissen Neid wies er auf die hohe Publikumswirksamkeit des schon nach wenigen Monaten vergriffenen Werks hin, was er auf die unwissenschaftliche und pamphletartige Form zurückführte. 659 Dieser Publikumszuspruch war für Lavergne der Beweis dafür, dass man sich auch als „leidenschaftlicher Gegner der herrschenden Schule" wie List auf der Höhe der Zeit befinde. 660 Dennoch meinte Lavergne, List sei in seinem Anspruch, ein neues wissenschaftliches System zu errichten, zu weit gegangen. Nationalökonomen könnten zwar, wie Physiker die Naturgesetze, die gesellschaftlichen Produktionsgesetze erforschen, aber keine Systeme entwickeln - dies oblag nach Lavergnes Vorstellungen der zukünftigen Gesellschaftswissenschaft als Leitwissenschaft der Nationalökonomie. 661 Im „Kampf mit der herrschenden Schule" 662 , vor allem im gemeinsamen Eintreten für Schutzzölle, wollte sich Lavergne möglicherweise jetzt dem publizistisch erfolgreicheren Friedrich List anschließen und machte ihm den Vorschlag, eine gemeinsame Zeitschrift herauszugeben: „Ich glaube inzwischen, daß wir uns trefflich ergänzen werden, biete mich Ihnen zum Bundesgenossen an und wünsche, daß wir gemeinsamen Schritts unseren Despoten entgegen-

656

Lavergne, Liberalismus, S. 30, zu den Bewegungshebeln gehörten auch Dampfschiffe; List hatte mehrere Schriften zur Eisenbahnfrage veröffentlicht und 1835-1837 das Dresdner „Eisenbahnjournal" redigiert, vgl. Sommer, Vorbemerkungen, S. XI. 657 Schmitthenner, Charakter, S. 184 f. 658 Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 158; ähnlich später auch F. Schmidt, List, S. 42: die Auffassungen Adam Smiths müssten „bekämpft und erschüttert" werden, denn sie seien „eine Macht geworden und gehören der Tradition an, die ohne weitere Prüfung Autorität hat." 659 Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 153; vgl. F. Schmidt, List, S. 30, mit einem Verzeichnis der zahlreichen gegnerischen Schriften; vgl. auch Sommer, Vorbemerkungen zu Lists System, S. ΧΠ: die zweite Auflage erschien bereits 1842, die dritte 1844, die Auflagenhöhe betrug jeweils 1000 Stück. 660 Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 153 f. 661 Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 154. 662 Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 154.

VII. Die Diskussion der „Grundzüge"

139

treten mögen. Um dies mit Erfolg zu bewirken, reichen dickleibige Bücher nicht aus, wir bedürfen einer Zeitschrift zur Verfechtung unserer Ansichten und ich hoffe, daß Ew. Wohlgeboren geneigt sein werden, ein solches Institut zu gründen." 663 Dafür war Lavergne zu großen Opfern bereit: Seinen Grundbesitz und seine Funktion als Sekretär der preußischen Provinzialstände wollte er für einen Teil des Jahres verlassen und zur Herstellung der Zeitschrift nach „Deutschland" ziehen. Handel und Industrie als die Opfer des liberalen Systems würden das Projekt unterstützen, glaubte er. Auch die Mitarbeit von Professor Schmitthenner in Gießen als „eifrigen und geistvollen Mitarbeiter" sollte dem Kampf gegen die Freihändler in diesem Medium mehr Gewicht verleihen. 664 Gemeinsam sollten die drei führenden Vertreter der deutschen Schutzzolltheorie den Kampf gegen die „Freihändler" aufnehmen. Lavergnes Pläne zielten insbesondere gegen den englisch-preußischen Freihandelsbefürworter John Prince-Smith, dessen Forderungen nach englisch-liberalen Wirtschafts Verhältnissen in Preußen und Deutschland durch diese dreifache Macht der Feder gestoppt werden sollte. 665 Als weitere Referenz in eigener Sache führte Lavergne mit Nachdruck seine publizistischen Leistungen an. Nicht nur die „Grundzüge", für die er kurz zuvor von der Universität Königsberg einen Doktortitel erhalten hatte, sondern auch die gerade erschienene programmatische Schrift „Die Landgemeinde in Preußen" 666 sowie seine Artikel im „Königsberger Literaturblatt" machte er zu seiner wissenschaftlichen Visitenkarte - vergebens. Es scheint, als habe List noch nicht einmal geantwortet. Ohne auf Lavergnes Angebot einzugehen, aber mit ähnlichem redaktionellem Programm begann List 1843 mit der Herausgabe seines „Zollvereinsblatts". Dessen ökonomische, technische und kulturelle Schwerpunktsetzung erinnerte stark an das von Lavergne vorgeschlagene Projekt einer „Zeitschrift für Produktionsund Kulturwissenschaft". Auch die nahe liegende Beschäftigung Lavergnes als preußischer Korrespondent des Blattes kam aus unbekannten Gründen nicht zustande; aus Preußen berichtete der westpreußische Gutsbesitzer v. Rohr 667 , der seinerseits, ohne von den bereits bestehenden Kontakten zu wissen, dem Herausgeber des Zollvereinsblatts Lavergne als Mitstreiter in der Schutzzoll-

663

Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 154. Lavergne, Rezension zu Lists „System", Sp. 154. 665 John Prince-Smith (1809-1874) war in Preußen naturalisierter Lehrer und Journalist, veröffentlichte mehrere Bücher über Pauperismus, Zollpolitik und Handelsfeiheit.; zu Biographie und Wirkung Brandt, Bd. 1, S. 214 ff.; Wolff , S. 209-398. 666 Königsberg 1841. 667 Sta. Reutlingen, List-Archiv LA 35/63a. 664

140

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

frage empfahl. Auch hier blieb Lists Reaktion betont kühl. 6 6 8 A l l diese Indizien deuten auf eine gewisse Abneigung oder zumindest eine hartnäckige Gleichgültigkeit Lists gegenüber Lavergne hin. Auch die Erwähnung Schmitthenners hatte andere als die von Lavergne beabsichtigten Folgen. Die Gemeinsamkeiten vor allem in der Frage der Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß, in der Gewerbefreiheit und in der Frage des Freihandels, vor allem aber die von allen dreien vertretene, sich auf weiten Strecken ähnelnde Theorie der Produktivkräfte führten nicht zu einem publizistischen Schulterschluss gegen die „Schule", sondern 1846 zu einem Plagiatsprozess zwischen Schmitthenner und List. Schmitthenner warf List vor, die Hauptgedanken des „Nationalen Systems der Politischen Ökonomie" seinen „Zwölf Büchern vom Staate" entnommen zu haben. Ausgerechnet aus dem oben genannten Schreiben Lavergnes will List aber erstmals von Schmitthenners Existenz erfahren haben. 669 Zwei Gründe mögen Lavergne daran gehindert haben, sich öffentlich über diese Auseinandersetzung zu äußern: Der erste könnte seine große Arbeitsbelastung am Ende des Jahres 1846 gewesen sein. Damals publizierte er „Der Liberalismus und die Freiheit" 6 7 0 und befand sich mit seinem politischen Engagement in Ostpreußen, mit der Armutskommission und der Ansiedlung hessischer Siedler in seinem Landkreis Rößel auf einem Höhepunkt. Zweitens wagte er es möglicherweise nicht, Stellung zu beziehen für oder gegen einen der beiden von ihm gleichermaßen verehrten Gelehrten. Äußerungen Lists über Lavergnes Schriften existieren nicht; auch in der dritten Auflage des „Systems" von 1844 ging er nicht auf die ihm inzwischen bekannten Schriften Lavergnes ein. Seine Distanziertheit dem Ostpreußen gegenüber zeigte sich auch darin, dass er Lavergnes Bitte nach einer Rezension des zweiten Bandes der „Grundzüge" im „Zollvereinsblatt" nicht nachkam. 671 Das war 1843 vermutlich Lavergnes letzter Versuch, eine Rezension der „Kulturgesetze" in einem einschlägigen Periodikum durchzusetzen. Erst 1856, als

668

List, Werke, Bd. 8, S. 729: „Herrn von Lavergne kenne ich bereits". „Ich bekenne und es thut mir leid daß ich ein erschrecklicher Sünder bin, und weder das Staatsrecht des Hrn. Schmitthenner noch seinen § 483 gelesen, ja daß ich sogar erst im Jahr 1841 oder 1842 den Namen Schmitthenner habe aussprechen hören." List, in: Zollvereinsblatt, Nr. 5, S. 67. 670 Königsberg 1846. 671 Lavergne an List vom 9.8.1843, Stadtarchiv Reutlingen, List-Archiv LA 25/24, Randnotiz: „Meine Kulturgesetze erlaube ich mir Ihnen besonders zu empfehlen. Der Gegenstand und die Behandlungsweise sind durchaus neu.[...] Wenn Sie nicht selbst Zeit haben, finden Sie wohl einen tüchtigen Denker, der (unleserlich) redliche Kritik schreibt." 669

ΥΠ!. Zusammenfassung

141

er selbst Einfluss auf die redaktionelle Gestaltung der „Berliner Revue" nehmen konnte, erschien dort eine Eloge auf das mittlerweile 25 Jahre alte Werk. 672

V I I I . Zusammenfassung Der Lebenslauf Moritz v. Lavergne-Peguilhens von 1801 bis 1838 steuerte nicht geradlinig auf die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Gesellschaft, Staat und Wirtschaft zu. Aufgewachsen in den Traditionen einer wohlhabenden hugenottischen Familie von preußischen Beamten und Militärs und geprägt vom ihrem besonderen preußischen Nationalismus, steuerte er nach der Gymnasialzeit zunächst praxisorientierte Berufsfelder an. Später konzentrierte er sich auf die Landund Gutswirtschaft. Lavergnes Interesse für die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründe von Massenarmut entstand zum einen durch die persönlichen Erfahrungen im täglichen Umgang mit der Landbevölkerung in Ost- und Westpreußen, zuerst als Landvermesser, dann als Verwaltungsmitarbeiter in Königsberg, Rittergutsbesitzer und praktischer Landwirt. Zum anderen hatte sein Vater durch die Anregung zur Lektüre von Autoren des naturrechtlich-liberalen Spektrums, wie Adam Smith, Christian Jakob Kraus und Jean-Baptiste Say einen theoretischen Unterbau geschaffen, auf dem der Autodidakt Moritz v. Lavergne-Peguilhen seine sozialtheoretischen Überlegungen aufbauen konnte. Zunächst Anhänger liberaler Ideen, war es vermutlich vor allem das eigene Existenzinteresse als zum Rittergutsbesitzer aufgestiegener hugenottischer Beamtensohn, das ihn zum Vertreter ständisch-konservativer Überzeugungen machte. Andererseits führte das Erleben der fortschreitenden Pauperisierung in seinem ländlichen Umfeld zu einer Sensibilisierung gegenüber der sich im Vormärz krisenhaft verschärfenden sozialen Situation. Die Bekämpfung des Pauperismus war deshalb erstes Ziel des hugenottischen Landjunkers. So wurde er, geographisch gesehen, der östlichste Vertreter des sozial orientierten preußischen Konservatismus der Huber-Rodbertusschen Richtung im Vormärz. Lavergne begriff den Pauperismus als eine Konsequenz aus der französischen Revolution und den mit ihr verbundenen liberalen Ideen, in deren Gefolge tiefgreifende strukturelle kulturelle und ökonomische Fehler gemacht worden seien. Wirksame Maßnahmen gegen den Pauperismus müssten also

67 2

Lavergne, National-Oekonomie, S. 76-84.

142

Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

ebenfalls die gesamte Struktur von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft erfassen. Deshalb entwickelte er 1838 mit der Gesellschaftswissenschaft seinen konservativen Gegenentwurf zur liberalen ökonomischen und politischen Theorie. Lavergnes Gesellschaftswissenschaft sollte, methodisch am Vorbild der Naturwissenschaften ausgerichtet, Politikern und Ökonomen mit abgesicherten Daten anstelle von parteipolitischen Dogmen den Weg aus der Armuts- und Gesellschaftskrise zeigen. Dazu arbeitete der Autodidakt in den zwei Bänden der „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft", die 1838 und 1841 erschienen, eine auf die Vervollkommnung des Individuums und der Gesellschaft ausgerichtete Wissenschaftstheorie aus, die auf der Überzeugung aufbaute, dass die Gesellschaft zwar nur im Staat existiere, der Staat aber in seiner Existenz abhängig von der Gesellschaft sei. Deshalb wollte Lavergne die Gesellschaftswissenschaft als neue Leitwissenschaft innerhalb der Staatswissenschaften etabliert sehen. In diesen Kanon gehörten auch die Produktionswissenschaft als Wirtschaftstheorie und die Kulturwissenschaft als Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens. Die Rolle des Individuums traten in dieser Konstruktion hinter die Rechte der Gesellschaft zurück. Sie sollten sich aber auf jeder höheren gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, mit der notwendigerweise auch eine Weiterentwicklung des Individuums einherging, erweitern. Erst auf der höchsten Entwicklungsstufe könnte dann der ganze Kanon der Individualrechte gewährt werden. Dass individuelle und gesellschaftliche Existenz positiv wie auch negativ veränderbar war, war eine Erfahrung aus der französischen Revolution. Lavergne fasste diese Veränderungen unter dem Begriff „Bewegung" zusammen. Gesellschaftswissenschaft als Wissenschaft von den dieser Bewegung zugrunde liegenden Gesetzen war damit für ihn auch „Bewegungswissenschaft". Dem Staat kommt im Zusammen spiel der Bewegungsgesetze eine produktive und regulierende Rolle zu. Er hat wirtschaftliche Prozesse zu steuern, indem er etwa Landeigentum vor dem freien Verkauf und der Erbteilung schützt, Produktion steuert und sie durch Zollpolitik mit dem Ausland konkurrenzfähig macht. Seine andere große Aufgabe ist die Bereitstellung von Bildung, abgestuft nach den Voraussetzungen, die die Menschen auf ihren unterschiedlichen Entwicklungs- und Gesellschaftsstufen mitbringen. Er soll aber auch in die persönlichsten Entscheidungen der Menschen eingreifen, also Eheschließungen im unteren sozialen Milieu regulieren und dadurch die Zahl der Geburten begrenzen. Diese Aufgaben kommen ihm so lange zu, bis die Wissenschaft mit Hilfe von Statistik, nach historischer und deduktiver Methode zuverlässig die Gesellschafts- und ihre Bewegungsgesetze identifiziert hat und sie der Politik zur Verfügung stellt. Am Ende der von Lavergne prognostizierten Entwicklung steht eine gesellschaftliche Utopie: Die Wissenschaft wird Parteipolitik und Parlamente überflüssig gemacht haben, weil durch die

ΥΠ!. Zusammenfassung

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Anwendung der erforschten Gesetze Harmonie zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen hergestellt werden konnte. Während sich die Mehrzahl der sozialkonservativen Autoren zumeist mit der Verbreitung möglichst rasch greifender Lösungsvorschläge für die virulenten sozialen Probleme in Verbindung mit der Kritik am zeitgenössischen Theorieangebot beschränkten, verfolgte Lavergne mit seinem Erstlingswerk das Ziel, auf der Grundlage seiner Kritik an den herrschenden Missständen auf der einen und an den gesellschafts- und wirtschaftstheoretischen Vorgaben der „liberalen Schule" auf der anderen Seite ein vollständiges Wissenschaftsgebäude zu errichten. Dabei grenzte er sich deutlich und differenziert vom bestehenden Theorieangebot gerade der „Staatswirthschaftslehren" und der „Bevölkerungs- und Armentheorien" ab, ohne andererseits dezidiert konservative theoretische Bezüge zu nennen. Lavergnes Gesellschaftswissenschaft entstand also in erster Linie als Oppositionswissenschaft zur liberalen Theorie. Nicht emotionale Betroffenheit und daraus resultierender Aktionismus, sondern rationale Zukunftsorientiertheit und langfristige Forschung sollten der bedrückenden Perspektive von Armut, Arbeitslosigkeit und Revolutionsgefahr entgegengesetzt werden, die Wissenschaft sollte die Entwicklung in eine andere Richtung lenken und die Gesellschaft von Grund auf verändern. Für die Gegenwart und die nahe Zukunft bot diese Haltung zunächst kaum eine Perspektive, da die Angebote Lavergnes auf die vorläufige teilweise Revision der nachrevolutionären Reformen ausgerichtet waren. Das Verlagern der Problemlösung auf die wissenschaftliche Erkenntnis als eigentlich moderner Gedankengang schob für die Zwischenzeit dem Staat die Verantwortung für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu. Hier liegt das genuin Konservative in Lavergnes Ansatz. Einen Widerspruch konnte er so nicht lösen. Wie sollte der Staat, einmal in die Verantwortung genommen und mit der Macht über soziale und wirtschaftliche Entwicklung ausgestattet, erstens dazu gebracht werden, eine Wissenschaft zu fördern, die auf seine extreme Beschneidung hinarbeitete und zweitens diese Rechte und Kompetenzen dann auch wirklich aufzugeben? Obwohl keine Auflagenzahlen über die „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" vorliegen, kann man behaupten, dass ihre Wirkung geographisch und wissenschaftlich nur sehr begrenzt war. Neben wenigen, weitgehend negativen, Rezensionen reagierte mit Du Bois-Reymond zunächst ein ebenfalls wenig erfolgreicher Autor auf Lavergnes Erstlingswerk. Den ersehnten Beifall aus universitären Kreisen und das Prädikat „geniale Schrift" erhielt er für die „Grundzüge" vom Gießener Professor Friedrich Schmitthenner, der ihn als selbständigen Entdecker von Gesetzen und „Grundsteinen des wahren Systems" lobte. Friedrich List dagegen, dessen Oeuvre ebenfalls Parallelen zu Lavergnes Ideen aufweist, wurde zwar von Lavergne selbst auf sein Werk

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Α. Der Weg zur „Gesellschaftswissenschaft"

aufmerksam gemacht, reagierte aber nicht auf die Avancen des Autodidakten aus der ostpreußischen Provinz. Den „Grundzügen" war damit zunächst nur ein kurzer wissenschaftlicher Nachhall vergönnt. Dennoch hatte Lavergne mit seiner Auffassung von Gesellschaftswissenschaft wissenschaftliche Vorgaben in die Welt gebracht, die, zwar ohne explizit Bezug auf ihn zu nehmen, in den 50er- und 60er-Jahren wieder aufgenommen wurden.

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

I. Der Huldigungslandtag von 1840 - erste politische Erfahrungen A m Beginn dieses biographischen Abschnitts steht der Königsberger Huldigungslandtag für den neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Dieses Ereignis im September 1840 markierte für Moritz v. Lavergne-Peguilhen den Beginn seiner politischen Karriere. Die auf mittelalterliche Traditionen zurückgehende Huldigung der Stände an den neuen König stand am Anfang eines Jahrzehnts, an dessen Ende Preußen ein anderes Land sein sollte. Die Zeichen für die Veränderungen, die zur Revolution von 1848 führten, waren bei den Ereignissen um den Huldigungslandtag schon zu erkennen. Lavergne war durch seine politischen und programmatischen Äußerungen in diesen Prozess involviert und bezog sich auch später auf die Königsberger Ereignisse und die Erwartungen, die für ihn damit verbunden waren. Wegen der großen Bedeutung für die politische Meinungs- und Willensbildung Lavergnes soll dieser Landtag ausführlich beschrieben werden. 1. Ein folgenreiches Missverständnis Nicht nur in der Entwicklung der parlamentarischen Institutionen in Preußen stellt der Königsberger Huldigungslandtag für Friedrich Wilhelm IV. im September 1840 eine Zäsur dar. 1 M i t diesem Großereignis begann auch für den Mirauer Gutsbesitzer Moritz v. Lavergne-Peguilhen ein neuer Lebensabschnitt. Als Mitglied des Provinziallandtags der Provinz Preußen2 war er entschlossen, die Geschicke Ostpreußens aktiv im sozialkonservativen Sinne mitzubestimmen. Der Regierungsantritt des neuen Königs Friedrich Wilhelm IV. schien zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen. Dass er als eine seiner ersten Amts-

1 Ausführlich Witt; Auerswald; sehr distanziert Prutz, Bd. 1; aktuell Neugebauer, Wandel, S. 435 u. 388 ff. 2 Die Provinz Preußen war 1824 aus der Vereinigung der Provinzen West- und Ostpreußen entstanden; die vier Regierungsbezirke Danzig, Königsberg, Marienburg und Gumbinnen wurden von einem gemeinsamen Oberpräsidenten verwaltet. Die Provinziallandtage fanden seit 1841 alternierend im zweijährigen Turnus in Danzig und Königsberg statt.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

handlungen die altpreußischen Stände zur Huldigung im Königlichen Schloss in Königsberg zusammenrief, war für die Bewohner des preußischen Ostens ein deutliches Zeichen, dass dieser König sich besonders um die in der Entwicklung hinter den westlichen Provinzen des Landes zurückgebliebene Region kümmern würde. 3 Diese „denkwürdige" 4 Zusammenkunft verband auch der politische Novize Lavergne mit großen Erwartungen für die Zukunft seiner Heimatregion. Die persönlichen Nachwirkungen dieses Ereignisses beschrieb Lavergne 1841 folgendermaßen: „Inzwischen hatte ich die großen Tage in Königsberg miterlebt; meinem König Treue und Gehorsam gelobt, dessen ewig unvergessliche Worte hatten, wie in der ganzen Nation so auch in meiner Seele, gezündet; sie hatten in mir die Ueberzeugung befestigt, daß meinem theuren Vaterlande der königliche Meister erschienen sei, der auf den Trümmern der mittelalterlichen Institutionen die Neugestaltung der Gesellschaft unternehmen und vollbringen werde." 5 Lavergne teilte damit die Hoffnungen vieler Preußen. Noch 1846 sprach er von den „unvergeßlichen Huldigungstagen" 6 und erinnerte sich an die auch von anderen Zeitgenossen immer wieder beschworene erwartungsvolle Stimmung, die das politische Leben in den Monaten nach der Thronbesteigung beherrschte. 7 Allenthalben wurde vom bei vielen Preußen als Hoffhungsträger angesehenen Erben des vor Reformen zurückschreckenden Königs Friedrich Wilhelm III. 8 ein Signal hinsichtlich Repräsentation und Konstitution erwartet. So beschrieb der Schriftsteller Theodor Fontane noch viele Jahre später den Sommer 1840: „Knüpften sich doch die freiheitlichsten und zunächst auch berechtigtsten Hoffnungen an den Thronfolger. Die Menschen fühlten etwas, wie wenn nach kalten Maientagen, die das Knospen unnatürlich zurückgehalten haben, die Welt plötzlich wie in Blüten steht. Auf allen Gesichtern lag etwas von freudiger Verklärung und gab dem Leben jener Zeit einen hohen Reiz." 9 Während die Konservativen auf die Wiederbelebung alter Werte durch den jungen König warteten, hofften die Liberalen auf grundlegenden Wandel: Der Historiker

3

Z.B. Belke, S. 127: „Klagen der Stände über die Vernachlässigung der Provinz", S. 158: „Die Leistungen des Staates für die Provinz stünden in keinem Verhältnis zu ihrem Steueraufkommen"; zum Aufenthalt der königlichen Familie in Königsberg ausfuhrlich Armstedt, S. 283 f. 4

5 6 7

8

So bezeichnet bei Armstedt, S. 302. Lavergne, Landgemeinde, S. VIII. Lavergne, Liberalismus, S. ΠΙ. Blasius, S. 88 ff., 90; Hintze, S. 516. Vgl. Stamm-Kuhlmann, S. 416 ff.

9 Fontane, S. 229. Der autobiographische Roman „Von Zwanzig bis Dreißig" entstand zwischen 1894 und 1896.

I. Der Huldigungslandtag von 1840

147

Robert Prutz sprach 1850 davon, dass mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. „eine neue Zeit für Preußen" angebrochen sei 10 , und der Königsberger Arzt Ferdinand Falkson resümierte: „Niemals haben sich an einen Thronwechsel größere Hoffnungen geknüpft: Man erwartete die größten Veränderungen, man erzählte von den Absichten die wunderbarsten Dinge. Die hochgespannten Erwartungen brachten unversehens ein starkes Maß von Aufregung in die Gemüther. Jetzt wird es anders werden, es beginnt eine neue Zeit: das konnte man überall hören." 11 Allerdings schien die viel beschworene „neue Zeit" wenige Wochen nach ihrem Anbruch schon wieder zu Ende zu gehen. Dazu wiederum Fontane: „Der ungeheure Fehler des so klugen und auf seine Art so aufrichtig freisinnigen Königs bestand darin, daß er diesen Wandel der Zeiten nicht begriff und, einer vorgefaßten Meinung zuliebe, nur sein [Hervorhebung Fontanes] Ideal, aber nicht die Ideale seines Volkes verwirklichen wollte." 1 2 Der Schriftsteller spielte damit auf die Erneuerung des ersten Verfassungsversprechens durch Friedrich Wilhelm III. vom 22. Mai 1815 an, das das liberale preußische Bürgertum vom neuen König forderte. 13 Der liberale Teil des Adels, der in Altpreußen die Mehrheit auf den seit 1824 stattfindenden Provinziallandtagen bildete, zeigte dagegen bei der konkreten Forderung nach einer Konstitution Zurückhaltung. So hatte beispielsweise die Elbinger Bürgerschaft im Anschluss an die Julirevolution von 1830 den Antrag auf Einführung einer Verfassung gestellt, dem Berlin aber nicht zustimmte. 14 In diesem Jahr, in dem es in Frankreich zur zweiten revolutionären Eruption gekommen war und sich in Polen ebenfalls das Volk erhob, zeigte Friedrich Wilhelm III., dass er in der Frage der Repräsentation nicht über die ständische Vertretung auf Provinzebene hinausgehen würde. 15 Der ostpreußische liberale Adel und mit ihm alle konstitutionell denkenden Gruppierungen in Preußen setzte seine Hoffnung in der Verfassungsfrage 16 nunmehr auf den Kronprinzen, der im Sommer 1840 im Alter von 43 Jahren

10

11

Prutz, Bd. 1, S. 132; Fontane, S. 228.

Falkson, S. 32; ähnlich auch Arnstadt, S. 301 f. Fontane, S. 610; drastischer Armstedt, S. 301 f.: „Wie bald sollte dem Hosianna ein ,Kreuzige ihn' folgen!" 13 Vgl. Lancizolle, § 32: Die Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks. Vom 22. Mai 1815; Brinkmann, S. 62, nennt Hardenbergs Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 als erstes Verfassungsversprechen; ähnlich schon Rauer , Teil I, § 5, S. 7. 12

14

15

Vgl. Schumacher, S. 264.

Zum Verhalten Friedrich Wilhelms III in der Verfassungsfrage v. a. Stamm-KuhlmannE, S.416 ff. 16 Zur Entwicklung der Verfassungsfrage seit 1815 Mieck, Preußen, S. 110 ff.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

seinem Vater auf den Thron folgte. 17 Die preußische Öffentlichkeit ging mehrheitlich davon aus, Friedrich Wilhelm IV. sei nicht nur in dieser Frage das völlige Gegenteil seines Vaters. 18 Worauf diese Hoffnungen beruhten, konnten auch die Zeitgenossen nicht exakt benennen. So schrieb Ferdinand Falkson über die „starke Strömung in der öffentlichen Meinung": „man weiß nicht, von wannen sie kam." 1 9 Folgt man Prutz' Analyse, handelten die Träger dieser öffentlichen Meinung wider besseres Wissen: Schon die Rolle des Kronprinzen in der Verfassungskommission sowie seine Begeisterung für „sein geliebtes Mittelalter" hätte den Preußen Warnung genug sein müssen.20 Auch die in weiten Kreisen bekannte Hinwendung des Kronprinzen zur romantischen Staatslehre und schließlich die Übernahme des ständisch-konservativ eingestellten v. Rochow 21 aus dem Kabinett des Vaters in das Innenministerium hätte zumindest Skepsis wecken müssen.22 Als Friedrich Wilhelm IV. als erste größere Reise nach der Thronbesteigung den Besuch Königsbergs ankündigte, waren es aber besonders die dortigen Junkerliberalen, zum großen Teil persönlich mit dem König bekannt, die im Hinblick auf die königliche Einlösung des Verfassungsversprechens jede Skepsis vermissen ließen. 23 Sie gehörten zur in den 30er-Jahren stark angewachsenen antifeudalen Opposition in der Provinz Preußen. 24 Ihre Trägerschichten, die Gutsbesitzer und das städtische Bürgertum besonders in Königsberg und Elbing dominierten das politische Geschehen in einer Weise, die nach dem Thronwechsel einen erneuten Vorstoß in Richtung Konstitution möglich machte. 25 Diese Koalition erreichte zunächst die Ablehnung des vom König vorgeschlagenen Herrenhauses. 26 Die Assekurationsurkunde wurde im Hinblick auf die Privilegien ebenfalls bis auf einen Punkt abgelehnt. Nur das Recht, zur Erbhul-

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Prutz, Bd. 1, S. 132. Prutz, Bd. 1, S. 165. Falkson, S. 32.

Prutz, Bd. 1, S.180 spricht vom „geliebten Mittelalter" des Kronprinzen und fährt fort: „Herr von Haller zeigte den Weg, wie es auch politisch wiederherzustellen war." 21 Anonym, in: Inländische Zustände Π, S. 11. 22 Prutz, Bd. 1, S. 187; Blasius; Zum Verhältnis Friedrich Wilhelms IV. zur politischen Romantik Kroll, Friedrich Wilhelm IV, S. 78 ff.; Kroll, Preußen, S. 75 ff. 23 Von „Selbsttäuschung des Landtags", sogar von „Wahn" sprechen die Grenzboten, Öffentliche Charaktere, S. 441. 24 Von einer Sonderentwicklung innerhalb Preußens spricht besonders W. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 304. 25 Belke, S. 53; Brinkmann; zum Junkerliberalismus W. Obenaus, GutsbesitzerLiberalismus, S. 304-328; Schuppan, S. 65-100; von der „Königsberger Aufklärung" als „Fundament" des ostpreußischen Liberalismus schreibt Boockmann, S. 339; Nipperdey, S. 41. 26 Brinkmann, S. 68; Prutz, Bd. 1, S. 230; Zitat nach Neugebauer, Wandel, S. 439.

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digung zusammenzutreten, wollten die Stände erhalten. 27 Wie bereits vor Landtagsbeginn unter den führenden Rittergutsbesitzern abgesprochen, präsentierte die Versammlung dem König in einer Denkschrift ihre Vorstellungen von ständischer Repräsentation. 28 Der „Ausschuß über die zu erbittende Assekuration" formulierte darin die Forderung nach Umsetzung des Verfassungs- und Repräsentationsversprechens aus dem Jahr 1815.29 Moritz v. Lavergne-Peguilhen stimmte als Deputierter der Landgemeinden mit der Landtagsmehrheit am 5. September 1840 für die Forderungen in dieser Denkschrift, 30 „[...] nachdem von Seiten der Landgemeinden mir der öffentliche Beweis eines mich wahrhaft rührenden Vertrauens gegeben worden war". 31 Es wirft ein deutliches Licht auf die „Serie folgenreicher Mißverständnisse" 32 , die mit dem Antrag auf Einlösung des Verfassungs versprechen s ihren Anfang nahmen, dass Moritz v. Lavergne-Peguilhen noch anlässlich des Erscheinens seiner Schrift „Der Liberalismus und die Freiheit" 1846 vorgeworfen wurde, er habe diesen Antrag nicht richtig verstanden. Alexander Küntzel, liberaler Gutsbesitzer und Parlamentarier 33, warf Lavergne in einem offenen Brief, der unter dem Titel „Was wollen die Liberalen in Preußen? und Was will Herr v. Lavergne-Peguilhen?" im Jahr 1847 in Leipzig erschien, vor, er habe sich in seiner Deutung des Antrags schlicht geirrt, wenn er von einer Forderung nach beratenden Reichsständen ausgegangen sei: „Damit will ich nicht aussprechen, daß Sie nicht etwa, als Sie für die Anträge stimmten, nur an berathende Reichsstände gedacht haben; die Mehrzahl der Deputirten und das Land, als die Anträge bekannt wurden, hat sich etwas Anderes dabei gedacht." 34 Aus dem oben zitierten Wortlaut ging die Forderung nach „Constitution", die auch Küntzel aus dem Antrag herauslas 35, nicht hervor; die Interpretation, die die Denkschrift während der Debatte und gleich nach ihrer Verabschiedung aus konservativen und oppositionellen Kreisen erfuhr, unterstellte ihr aber ebenfalls eine solche Intention. 36 Weil sie offenbar mit dieser Interpretation nicht in Verbindung gebracht werden wollten, distanzierten sich schon am Tag nach der Verabschiedung der

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Brinkmann, S. 211, Prutz, Bd. 1, S. 230; Falkson, S. 36.

Neugebauer, Wandel, S. 439 f. Witt, S. 82 ff.; verlässlichste Darstellung Neugebauer, Huldigungslandtag, S. 1-13. Küntzel, S. 6.

Lavergne, Landgemeinde, S. IX. Neugebauer, Wandel, S. 446. Best/Weege, S.212. Küntzel, S. 6; zu Küntzel Mayer, S. 220. Küntzel, S. 6.

Neugebauer, Wandel, S. 446.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Denkschrift mehr als 50 Abgeordnete, die ihr im Plenum zugestimmt hatten, von dem Beschluss.37 Auch der Landtagsabschied, den der König am 9. September, am Tag vor den eigentlichen Huldigungsfeierlichkeiten, verlesen ließ, verdeutlichte noch einmal den Abstand des neuen Königs zum demokratischen Prinzip. 38 Friedrich Wilhelm IV. zog sich auf das politische Vermächtnis seines verstorbenen Vaters zurück. Der habe nach den Entwicklungen, die er „bald nach Erlaß der Verordnung vom 22. Mai 1815 in anderen Ländern wahrnahm," beschlossen, „Sein Wort zu erfüllen, indem Er, von den herrschenden Begriffen sogenannter allgemeiner Volksvertretung" sich fernhalte. Stattdessen habe der verstorbene König „den naturgemäßen, auf geschichtlicher Entwickelung beruhenden und der deutschen Volksthümlichkeit entsprechenden Weg" eingeschlagen. „Das Ergebniß Seiner weisen Fürsorge ist die allen Theilen der Monarchie verliehene Provinzial- und kreisständische Verfassung." 39 Das musste nach der Auffassung Friedrich Wilhelms IV. also auch für die Zukunft genügen. Die Zustimmung zu den beiden anderen von den Ständen verabschiedeten Denkschriften, und unbestimmte, aber wohlwollend klingende Formulierungen überlagerten die Bestimmtheit in den Hinweisen des Königs darauf, dass für ihn die geforderte Volksvertretung und das ihm aufgetragene Wohl des Volkes unvereinbar seien.40 Dieser Landtagsabschied lieferte Stoff für weitere Spekulationen und Missverständnisse, die zur Verwunderung zeitgenössischer Beobachter so weit gingen, dass noch am 11. September eine Landtagsdelegation dem König persönlich für seine „hohen Worte" dankte.41 In den nächsten Wochen weitete sich die Diskussion zu einer „Pressefehde" aus 4 2 , der Innenminister v. Rochow mit der Kabinettsorder vom 4. Oktober 1840 ein Ende setzen wollte. Darin bestritt der König entschieden, die „Zustimmung zu dem in der Denkschrift enthaltenen Antrage auf Entwickelung der Landesverfassung im Sinne der Verordnung vom 22. Mai 1815 ausgesprochen" zu haben.43 Die Kabinettsorder zeitigte das genaue Gegenteil der beabsichtigten Wirkung: Die publizistische Diskussion der Verfassungsfrage nahm, auch über die

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Neugebauer, Wandel, S. 447 f. Falkson, S. 37.

Zum Teil im Wortlaut bei Falkson, S. 37 f.; Abschied wörtlich abgedruckt in: Witt,

S. 86 ff.; Schumacher, S. 265. 40

Neugebauer, Huldigungslandtag, S. 2. Falkson, S. 38; H. Obenaus, Anfänge, S. 532. Ähnliches wiederholte sich im Oktober bei den Huldigungsfeiern in Berlin, so Blasius, S. 106 ff.; bei H. Obenaus, Anfänge, S. 532 auch der Hinweis darauf, dass die Desillusionierung in den Reihen der liberalen Deputierten bereits durch die Reaktion Friedrich Wilhelms auf die Dankadresse ausgelöst wurde. 41

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Neugebauer, Wandel, S. 449; Blasius, S. 114 f.

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Prutz, Bd. 2, Anhang, S. XVII; Schuppan, S. 69; H. Obenaus, Anfänge, S. 532.

I. Der Huldigungslandtag von 1840

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preußischen Grenzen hinaus, zu. 44 Im Lande selbst war die Stimmung laut Robert Prutz „reizbar und verdrießlich" 45 ; Dirk Blasius beschreibt den politischen Schwebezustand, den der Ausgang des Huldigungstages hinterließ, mit den Worten: „Das Banner der Reichsstände flatterte weiterhin in den Lüften, und die wichtigste Frage der preußischen Politik, [...] die der inneren Verfassung, sollte noch lange keine abschließende Antwort finden. 4446 Deshalb beherrschte die preußische Verfassungsfrage auch die nächsten Provinziallandtage in den Jahren 1841, 1843 und 1845. Der Huldigungslandtag und die darauf folgenden Missverständnisse sollten maßgeblich das Verhältnis zwischen Monarchie und der Provinz Ostpreußen bis zur Revolution von 1848 bestimmen und so eine „mobilisierende Langzeitwirkung 44 entwickeln 47 , die sich auch bei Moritz v. Lavergne-Peguilhen bemerkbar machte. Mit der Niederschrift seiner Vorstellungen zur Reform der Landgemeindeordnung „Die Landgemeinde in Preußen 44, die 1841 wiederum bei Bornträger in Königsberg erschien, nahm er die pathetische Frage Friedrich Wilhelms bei der Huldigungszeremonie in Berlin auf, ob die Stände ihm „helfen und beistehen44 wollten, „die Eigenschaften immer herrlicher zu entfalten, durch welche Preußen mit seinen nur vierzehn Millionen den Großmächten der Erde gesellt ist? nämlich Ehre, Treue, Streben nach Licht und Wahrheit, Vorwärtsschreiten in Altersweisheit zugleich und heldenmütiger Jugendkraft? 4448 2. Lavergnes Beitrag zur Verfassungsfrage Auf den Deputiertenplätzen lag am Eröffnungstag des Provinziallandtags, dem 28. Februar 1841, eine Schrift des Königsberger Arztes Johann Jacoby mit dem Titel: „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen 4449 zusammen mit einer Unterschriftenliste für eine erneute Konstitutionsforderung. 50 Diese Schrift, in der sich der Arzt vehement für eine Reform der preußischen Verfassung nach demokratischen Grundsätzen einsetzte, wurde zunächst im Ausschuss für ständische Angelegenheiten beraten und abgelehnt. Dem Ausschuss-

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Vgl. Schuppan, S. 70. Er spricht von umfangreicher Polemik u. a. in der Leipziger Allgemeinen Zeitung, in der Augsburger Allgemeinen Zeitung und natürlich in der Königsberger Hartungschen Zeitung. 45

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Prutz, Bd. 1, S. 272.

Blasius, Friedrich Wilhelm IV., S. 100. 47 Neugebauer, Huldigungslandtag, S. 12; Neugebauer, Politischer Wandel, S. 45; Mieck, Preußen von 1807-1850, S. 205. 47 Zitiert nach Blasius, Friedrich Wilhelm IV., S. 102; vgl. Mieck, Preußen von 18071850, S. 204 f. 49 Jacoby; zur Biographie Jacobys und der Wirkung der Schrift ausführlich Schuppan und Silberner. 50

Neugebauer, Wandel, S. 455; Schuppan, S. 113.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

votum schloss sich das Plenum am 23. März an.51 Das Ergebnis entsprach den MehrheitsVerhältnissen: Lediglich drei oder vier Abgeordnete der Ritterschaft und elf oder zwölf aus den Städten galten als „ultraliberal im Jacobyschen Sinne"; 55 waren gemäßigt liberal und knapp 30 Konservative. 52 Die Schrift erreichte allerdings in der Öffentlichkeit einen solchen Bekanntheitsgrad, dass Innenminister v. Rochow angesichts des Zündstoffs, den er dahinter vermutete, einen Hochverratsprozess gegen den Autor anstrengte.53 Möglicherweise war dies der Auslöser dafür, dass auch der inzwischen zu einem der drei Landtagssekretäre 54 avancierte Lavergne am 3. März seine Schrift „Die Landgemeinde in Preußen" ebenfalls den Deputierten vorlegte. 5:> Lavergne verfolgte allerdings völlig andere Ziele als Jacoby. Statt Provokation begegnet in der Schrift Lavergnes vor allem die Absicht, unpolitisch zu sein, was er in der Begründung der Vorlage selbst mit dem „hohen wissenschaftliche Interesse des Gegenstands, [...] dessen wichtige Bedeutung für das Gedeihen unseres Staatslebens, und endlich eine lebendige Theilnahme für diesen Stand" rechtfertigte. All dies habe ihn „veranlaßt, den Ursachen der bestehenden Mißverhältnisse nachzuforschen, und die Resultate meiner Untersuchungen" schriftlich festzuhalten. 56 Damit wolle er lediglich seinen Beitrag zur Erfüllung des Auftrags der Provinzialstände leisten, den er vorsichtig mit dem „Erbitten" der „zur Fortentwicklung des Vaterlandes nothwendigen Institutionen von unserem erhabenen Könige" umschrieb. Ebenso zurückhaltend formulierte er die Hoffnungen, die er mit der Verteilung seiner Schrift an die Abgeordneten verband. Wenn die „hohe Versammlung die Resultate meiner Bestrebungen Ihrer Beachtung nicht ganz unwerth" finde, habe sie ihren Zweck bereits erreicht. 57

51 Schuppan, S. 122 f.; Neugebauer, Wandel, S. 455: „Die ultraliberalen Petitionen hatten unter diesen Umständen keine Chance." 52 Neugebauer, Wandel, S. 455; H. Obenaus, Anfänge, S. 544, Schuppan, S. 121 f. 53

54

Silberner, S. 79 ff.

1841 wurden wegen der Fülle der Verhandlungsgegenstände drei Sekretäre (v. Saucken-Toussainen, Heckert, Lavergne-Peguilhen) vgl. Protokolle Landtag Preußen, 1841, S. 3, und 1843 für die Verhandlungen über des Strafgesetzbuch zwei Sekretäre bestimmt, vgl. Protokolle Landtag Preußen 1843, S. 4; weiterhin auch H. Obenaus, Anfänge, S. 376 f. zu Funktion und Aufgaben der Sekretäre. Sie verfassten die Protokolle der Sitzungen und hielten dafür Wortbeiträge und Beschlussvorlagen im Wortlaut sowie die Abstimmungsergebnisse fest. Die Protokolle mussten vom Plenum jeweils für den vorhergehenden Sitzungstag bestätigt werden. 5 WAPO, V 3, Nr. 322: „Der Abgeordnete von Lavergne-Peguilhen überreicht seine Schrift 'die Landgemeinde in Preußen' ehrfurchtsvoll"; Lavergne erscheint im Protokoll der Eröffnungssitzung unter Nr. 19 beim Stand der Landgemeinden: Siebenter ProvinzialLandtag der Stände des Königreichs Preußen, Danzig 1841, Druck: Danzig 1841, S. Vni. 56 WAPO, V 3, Nr. 322. 57 WAPO, V 3, Nr. 322.

I. Der Huldigungslandtag von 1840

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Die Eingabe Lavergnes ging trotz aller politischen Harmlosigkeit zunächst denselben Weg wie die Schrift Jacobys. Der Ausschuss für Ständische Angelegenheiten58, der die Jacoby-Schrift bereits abgelehnt hatte 59 , gab sie zur Weiterbehandlung an den Ausschuss für Handel und Gewerbe, welcher sie wiederum „in das Secretariat zurück" beförderte, was für eine gewisse Ratlosigkeit hinsichtlich des Umgangs mit den Vorschlägen Lavergnes spricht. Der Ausschuss für Kirchen und Schulen beschloss immerhin, die Schrift zur Auswertung „der darin enthaltenden Materialien" und „zur Bildung von diesbezüglichen Anträgen" zu benutzen. Auch der Ausschuss für Angelegenheiten der Zensur hatte gegen die Veröffentlichung von Lavergnes „Landgemeinde" keine Einwände. 60 Das blieb vorerst die einzige Reaktion auf die ausführlichen Einlassungen Lavergnes zur Reform der Landgemeindeordnung. M i t dieser Aufnahme seiner Schrift in den Landtagsgremien wollte sich Lavergne nicht zufrieden geben. Zwei Wochen nach der Vorlage der „Landgemeinde" gab der Landtagssekretär, selbst Mitglied in drei Ausschüssen 61 , seine Zurückhaltung auf und schob am 17. März einen Antrag nach, in dem seine Einstellung zur Verfassungsdiskussion etwas deutlicher wurde: M i t diesem Antrag wollte er die dringendsten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Landgemeindebewohner in die Debatte einbringen, „da inzwischen die einzelnen Institutionen, die zur Gestaltung eines geordneten Gemeindelebens nothwendig sind, sich zur Zeit nicht in vollem Umfange werden herstellen lassen, das große Ziel vielmehr nur allmählig zu erreichen sein wird". 6 2 Hier stellte er die sieben Kernpunkte einer Landgemeindeordnung nach sozialkonservativen Grundsätzen zusammen:

58 Die Ausschüsse wurden jeweils zu Beginn der Beratungen ernannt, zunächst je nach den in der Proposition angesprochenen Sujets, später - etwa ab 1843 in Preußen - an den regelmäßig wiederkehrenden Sachgebieten, Vgl. H. Obenaus, Anfänge, S. 366; Neugebauer., Wandel, S. 456. 59 Der Weg durch die Ausschüsse läßt sich anhand der in Olsztyn erhaltenen Akten nur über die Vermerke auf der Eingabe selbst verfolgen. Abstimmungen zum Sujet der Eingabe fanden aber offensichtlich nicht statt; es scheint, als habe sich kein Ausschuss aufgrund der doch sehr allgemein gehaltenen Ausführungen Lavergnes zuständig gefühlt; Neugebauer, Wandel, S. 456, bes. Fn. 101: Vorsitzender des Ständischen Ausschusses war einer der Köpfe des Gutsbesitzer-Liberalismus, Magnus v. Brünneck. Weitere Mitglieder sind ebenfalls dem gemäßigt liberalen Spektrum zuzuordnen: v. Below, v. Auerswald-Plauthen, v. Bardeleben, Abegg, Heinrich. 60 Neugebauer, Wandel, S. 456. 61 Er saß im Ausschuss IV für Finanzangelegenheiten, im Ausschuss V für die Angelegenheiten des Innern und im Ausschuss VI für Handel und Gewerbe, Siebenter ProvinzialLandtag, S. 5. 62 WAPO, V3, Nr. 680.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Keiner der zu bildenden Ortsgemeindebezirke sollte weniger als 100 Einwohner haben, „Köllmische, Domänen oder andere Höfe" seien hierbei leicht unter das Dach einer Ortsgemeinde zu bringen, weil „diese veralteten Rechtsunterscheidungen nach Herstellung einer ländlichen Gemeindeverfassung keine Bedeutung mehr haben". Die Güter, die mit Virilstimme im ersten Stand, also dem des Adels, vertreten seien, sollten ihre bisherigen Rechte als eigenständige Gutsbezirke behalten. In die Gemeinderäte sollten mit Virilstimme die „gespannhaltenden Grundbesitzern und Pächtern, und aus den in die zehnte Klassensteuerstufe und darüber verzeichneten Einwohnern des Gemeindegebiets" einziehen. „Eigenthümer, Loosleute und andere Hausväter" sollten dagegen entsprechend ihres Anteils an der Gemeindebevölkerung Abgeordnete in den Gemeinderat wählen. Lavergnes dritter Kernsatz war die Wahl von einem Schulzen und zwei Schoppen aus dem mit Virilstimme im Gemeinderat vertretenen Personenkreis, die der Landrat zu bestätigen hatte. Aufgabe des Gemeinderats war es, diesen drei Personen in Gemeindeangelegenheiten „berathend, gesetzgebend und controllirend" beizustehen, während Schulze und Schoppen hinsichtlich ihrer lokal- und landespolizeilichen Aufgaben selbständig agieren sollten. Gemeinsam sollten Schulze und Schoppen das Dorfgericht bilden, war Lavergnes sechste Forderung. Seine Kompetenzen reichten über notarielle Aufgaben und Bagatellsachen in Zivilstreitigkeiten und Strafsachen nicht hinaus.63 Siebter Kernpunkt war für Lavergne die Dringlichkeit der Angelegenheit wegen der positiven Auswirkungen einer Gemeindeverfassung auf die Gesamtentwicklung der Gesellschaft und „des nationalen Kulturlebens". Damit schloss der Antrag, der ebenso zu den Akten gelegt wurde wie Lavergnes zweiter Antrag vom 16. März 1841 auf Einsetzung bezahlter Sekretäre für die laut LandesCultur-Edikt vom 14. September 1811 auf Provinz-Ebene zu gründenden landwirtschaftlichen Vereine. 64 Das Plenum betrachtete diesen Antrag mit seiner Denkschrift auf Errichtung eines Handelsministeriums, „dem zugleich die Wahrnehmung der landwirtschaftlichen Interessen obliegen würde, und durch

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„Dieses hat in unerheblichen nach Maaßgabe des Kulturstandes der Gemeinde näher zu normirenden Angelegenheiten das Recht der Beglaubigung. Er leitet die Vormundschaften, schlichtet in erster Instanz Rechtsstreite bis zum Betrage von 10 rtl. und übt Strafgewalt bis zu 1 rtl. oder eventuel bis zu 24 Stunden Gefängniß aus." WAPO V3, Nr. 680. 64 WAPO V3, Nr. 680, Begründung: Diese bezahlten Sekretäre waren im Edikt vorgesehen; das Vereinsleben, das die Anwendung moderner landwirtschaftlicher Produktionstechniken vermitteln sollte, kommt nicht richtig in Gang, weil bezahlte Sekretäre fehlen, die die notwendige Arbeit machen. Der § 39 des Edikts ist angehängt, in dem über die Gründung landwirtschaftlicher Gesellschaften in den Landes-„districten" gesprochen wird.

II. Landrat in Rößel

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Gewährung eines Meliorationsfonds zur Förderung empfehlen s werther Verbesserungen des landwirtschaftlichen Betriebes" als erledigt. 65 Obwohl Lavergne mit seinem Vorstoß einen politischen Misserfolg erlebte, blieb das Thema Landgemeindeordnung in den kommenden Jahrzehnten eine der sein publizistisches und politisches Schaffen beherrschenden Fragen. Der Abgeordnete Lavergne hatte aber bereits als Landtagssekretär und Mitglied in mehreren Ausschüssen einen exponierten Status erreicht. Das war mit Sicherheit auf die Bekanntschaft mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in der Provinz Preußen zurückzuführen. Zu einem kleinen Teil hatte aber auch, ruft man sich die Rezension in den „Hallischen Jahrbüchern" ins Gedächtnis, das Erscheinen der „Grundzüge" Anteil an seiner steigenden Bekanntheit.

II. Landrat in Rößel 1. Ein attraktives Amt Parallel zur Festigung seiner Stellung innerhalb der politischen Vertretung der Provinz Preußen verfolgte Moritz von Lavergne-Peguilhen sein Ziel, Landrat zu werden, hartnäckig weiter. Er wollte in diesem Amt an der Schaltstelle zwischen Staatsmacht und Verwaltung wirken und so direkten Einfluss auf die Entwicklung des Landes nehmen. Die einzigartige Stellung des Landrats und die daraus erwachsenden Möglichkeiten reizten Lavergne in besonderer Weise: „Das Institut der Landräthe ist ein dem preußischen Vaterlande eigentümliches. Aus dem Volke hervorgegangen, durch größeren Grundbesitz mit den Interessen des Kreises verwachsen, von den wirtschaftlichen, socialen und politischen Bewegungen unmittelbar berührt, ist der Landrath zugleich Organ der Regierung und Vertreter des seiner Leitung anvertrauten Kreises." 66 Zeitgenössische Aussagen bieten Erklärungsansätze dafür, worin die Attraktivität dieses Amtes für einen jungen politisch interessierten, wissenschaftlich ambitionierten und erfolgsorientierten Rittergutsbesitzer gelegen haben könnte. Ein Argument dürfte für Lavergne unter anderem gewesen sein, dass an dieser Stelle Macht und Einfluss bei vergleichsweise geringem Arbeitsaufwand zu haben waren. So schrieb Carl Wilhelm v. Lancizolle 1846: „Es ist eine feststehende Tatsache, dass die Landräthe mit Geschäften nicht überladen waren, daß daher auch vermögende, unabhängige Männer sich nicht scheuten, das Amt zu übernehmen, wenn sie Neigung und Fähigkeit besaßen, den Kreisinsassen in

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Protokoll der Sitzung vom 31.3.1841, Siebenter Provinzial-Landtag, S. 145. Lavergne, Presse, S. 233.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

geeigneten Fällen auch in sehr persönlichen Angelegenheiten mit Rat und Tat behilflich zu sein - (es hat nie an solchen Charakteren gefehlt) - und es dazu nicht an Zeit gebrach." 67 Lavergnes Erwartung, er werde als Landrat ausreichend Zeit für seine Forschungen haben, waren also nicht aus der Luft gegriffen. Denn erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts verzweigte und vervielfältigte sich der Aufgabenbereich der Landräte so sehr, dass die „junkerlichen Dilettanten", zu denen Lavergne auch zu zählen war, endgültig von ausgebildeten Verwaltungsbeamten abgelöst werden mussten.68 Ein anderer Beweggrund mag das hohe Ansehen des Amtes in Preußen gewesen sein. So ist eine Sentenz Bismarcks aus dem Jahr 1837 überliefert, „die Bürokratie sinke in der Achtung vom Landrat aufwärts". Und 1853 beschrieb er als größten Vorteil der Institution des Landrats, „welches von allen die direktesten Beziehungen und persönlichsten Berührungen mit den Regierten hat, unabhängig von seinem Amt in einer Stellung ist, welche ihn von der Versuchung der Bestechlichkeit bewahrt und ihm äußerliches Ansehen und Achtung sichert; Bekanntschaft mit den Verhältnissen des Kreises und den Personen seiner Bewohner, lange Ausdauer in seinem Amt, von welchem aus in der Regel Beförderungen oder sonstige Versetzungen nicht stattfinden, leichte Zugänglichkeit für Jeden und gegenseitiges Vertrauen zwischen den Eingesessenen des Kreises und dem Landrat, dessen Besitz und sonstiges Ergehen von dem Kreise unzertrennlich ist". 69 Geradezu schwärmerisch ließ sich der Landrat Hans v. Kleist-Retzow 1845 in einem Brief an einen Bruder des Historikers Leopold v. Ranke über die Freuden und Bürden seines Amtes aus und bewertete die Ambivalenz des Amtes als eine doppelte Unabhängigkeit: „Das mir von Gott anvertraute Amt ist gar köstlich und schön. Unabhängig nach oben gegen die Regierung sowie gegen die Kreisinsassen nach unten, bringt es mich allenthalben mit diesen in lebendige Berührung und ruht allein auf meiner Verantwortung." 70 Unbekümmert fasste er es auch als persönlichen Vorteil auf, dass eher die Persönlichkeit als „die Handhabung der Gesetze" gefragt sei. Das tägliche Einerlei der Aufgaben beurteilte er dagegen realistischer: „Es gibt darin vielfach gar kleinliche Dinge, die ich zu ordnen und schlichten habe und schwerlich wird irgendein Landrat als solcher in Deines Bruders Geschichtsbüchern einen Platz finden, - aber desto mehr Gelegenheit hat er zur Treue im kleinen und desto gesegneter kann sein Andenken auch noch nach 67 68

Lancizolle, S. 90 f. Bleek, S. 122.

69 Bismarck, Bd. 1, S. 10; zu Bismarcks Einstellung gegenüber dem Landratsamt vgl. auch Carsten, S. 110 f. 70 Petersdorff.\ Kleist-Retzow, S. 83 ff., dort auch die folgenden Zitate.

II. Landrat in Rößel

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Generationen sein." Und über die Abwicklung der Dienstaufgaben berichtete Kleist-Retzow: „Ich suche alles selbst und womöglich an Ort und Stelle abzumachen. Selten bin ich in einer Woche mehr wie zwei bis drei Tage zu Hause, oft keinen - und dann kommt bald dieser oder jener Besuch, hier ein Knecht, dort ein Bauer, dort ein Ortsarmer, die Rat und Hilfe auch hier noch von mir haben wollen und mir bis aufs Feld zu den Mähern und Bindern nachgelaufen kommen." M i t Sicherheit waren es diese Möglichkeiten der direkten Einflussnahme und Machtausübung und nicht die von Bismarck erwähnten kaum vorhandenen Karrieremöglichkeiten eines Landrats, die einen Mann wie Moritz v. Lavergne-Peguilhen jahrelang nach der Ernennung zum Landrat streben ließen. Die von vielen Seiten hervorgehobene weitreichende Autorität des Landrats scheint viel eher der Schlüssel zur Erkenntnis darüber zu sein, warum Lavergne so viele Energien auf das Erreichen dieses Ziels verwendete. 71 Der AltKonservative Kleist-Retzow: „Noch hat der Landrat eine Autorität, die mich oft selbst erschreckt und da ich früher Jurist war, so kommen die Leute oft weit her, um sich auch noch in ihren, mich von Amts wegen gar nichts angehenden Rechtsangelegenheiten meinen Rat zu holen. Wenn man den Kindern erzählt, der Papst dürfe nicht heiraten, dann fragen sie, ob es ihm denn der Landrat verboten habe." 72 2. Die Macht zwischen Staat und Stand In dieser Zwischen position lag also für Lavergne ein Reiz des Landratsamtes. Preußen hatte nach der Revision der Kreisgrenzen im Jahr 1818 insgesamt 329 Landräte, die allen reformerischen Versuchen zum Trotz bis zur Einführung einer gesamtpreußischen Kreisordnung im Jahr 1871 und zum Teil noch darüber hinaus eine Sonderstellung in der Beamtenhierarchie des preußischen Staates einnahmen. Diese „Zwischenstellung zwischen Staat und Stand" 73 ist in der Forschung unumstritten. Als wichtige soziale Gruppe in den spezifischen Zusammenhängen des preußischen Staats- und Gesellschaftsaufbaus vor allem unter dem Aspekt der Modernisierung im 19. Jahrhundert sind die Landräte, etwa im Gegensatz zu den in den Funktionen vergleichbaren Amtmännern in den süddeutschen Staaten, noch nicht in ihrer Zusammensetzung und Bedeutung erforscht. 74 71 Dazu richtig Carsten, S. 111 : „Der Landrat war und blieb die Hauptsäule und verläßlichste Stütze des preußischen Verwaltungssystems." 72 Petersdorff,\ Kleist-Retzow, S. 89. 73

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Koselleck, S. 476.

Eibach; Die bisher einzige umfangreichere Darstellung zum Thema bleibt trotz einiger Unzulänglichkeiten die bereits 1966 erschienene Arbeit von Georg-Christoph v. Unruh: Unruh; zu einzelnen Landräten in Ostpreußen v. d. Groeben, Landräte; v. d. Groeben, Ostpreußen, S. 147-257; zur Ausbildung: Bleek, S. 122 f.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

So zutreffend die Bezeichnung des „junkerlichen Dilettanten" hinsichtlich der formalen Ausbildung der meisten preußischen Landräte im Vormärz sein dürfte, galt sie für die Rheinprovinzen kaum und selbst für Altpreußen nicht uneingeschränkt. Bei allen Versuchen, das Landratsamt als Säule ständischer Beharrung zu erhalten, ist an mehreren Beispielen zu beobachten, dass Landräte in der Lage waren, beidem gerecht zu werden: den Anforderungen einer sich ständig erweiternden Verwaltungsarbeit und der erforderlichen Zugehörigkeit zum kreiseingesessenen Ritterstand. 75 Trotz aller Ansätze in der Reformzeit, das Landratsamt als Monopol des Ritterstands an der Spitze der preußischen Kreisverwaltung und seit 1816 auch als Auswahlgremium der Landratskandidaten für das Landratsamt zu reformieren 76 , unterschied es sich auch im Vormärz noch wenig von dem, was es in den Tagen Friedrichs des Großen gewesen war. 77 Weil die ständische Opposition sowohl gegen Steins Pläne von 1808 als auch gegen das „Gendarmerie-Edikt" von 181278 so stark war, dass der König 1815 das ganze Werk endgültig außer Kraft setzte, waren die Landräte im Vormärz gehalten, nach der im Dezember 1816 in Kraft getretenen „Instruktion für die Landräthe und die ihnen untergeordneten Kreisofficianten" zu arbeiten. Ihr Inhalt war allerdings nicht rechtlich bindend für die Landräte, sondern stellte lediglich einen Handlungsrahmen dar. 79 Danach sollten die Landräte Männer von „reifer Lebensbildung, erprobter Rechtschaffenheit und Ansehen unter ihren Miteingesessenen und im Kreise angesessen sein". Der Zugang zum Amt war mehr vom gesellschaftlichen Status als von formalen Leistungen abhängig. Durch praktische Ausbildung im öffentlichen Dienst, kameralistische oder juristische Examen sollten sie, wie bereits im 18. Jahrhundert üblich, die erforderlichen Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftskenntnisse erworben haben. Es wurde fortgesetzte und unermüdliche Sorgfalt des Landrats bei seinen vielfältigen Aufgaben erwartet. In seine Zuständigkeit fielen so unterschiedliche Dinge wie die Betreuung des Schulwesens, Städtebau, Pflasterung und

75

Als Versuche zur Positionierung des Landrats in der vorindustriellen preußischen

Gesellschaft D. u. R. Sinn, 409 ff.; Winter, S. 80. 76 Vgl. Unruh, S. 31 ff.; Bleek, S. 121 ff.; Wehler, Bd. 2, S. 155 ff.; Koselleck, S. 449 ff. 77 Belke, S. 63 ff.; Unruh, S. 30 f.

78 Genauer. „Edikt über die Errichtung der Kreisdirektorien und der Gendarmerie" vom 30. 7. 1812. 79 „Vielmehr erteilt sie Ratschläge über die Art und Weise ihres Handelns, wodurch die persönliche Verantwortung des einzelnen Amtsträgers für Art und Umfang seiner Tätigkeit zur Richtschnur seines Handelns bestimmt wird." „Edikt über die Errichtung der Kreisdirektorien und der Gendarmerie" vom 30. 7. 1812, S. 51.

II. Landrat in Rößel

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Sauberkeit der Ortsstraßen, Ausbau von Landstraßen und Gemeinde wegen, Gesundheitswesen, Abwendung der Seuchengefahr, Gewerbeförderung in Stadt und Land und die Verbesserung der landwirtschaftlichen Betriebswirtschaft. Seit 1809 hatten die Landräte zusätzlich die polizeiliche Aufsicht über Stadt und Land. Alles in allem sollte der Amtsinhaber sich „das Beste der Städte und des platten Landes jederzeit und überall als zusammenhängend und unzertrennlich!;...] denken".80 Damit wurden die städtischen Verwaltungen erstmals dem nach wie vor ständischen Landratsamt untergeordnet und dem preußischen Adel ein zusätzliches Machtelement an die Hand gegeben.81 Diese Aufgaben- und Machtfülle blieb dem preußischen Landrat bis zur Kreisreform im Jahr 1872 im wesentlichen erhalten. Mit der Regierungsreform von 1815 sollten auch die Kreise neu eingeteilt werden. Sie waren durch BevölkerungsWachstum und geographische Ausdehnung bei gleichzeitiger Vermehrung der Landratsaufgaben immer schwerer zu verwalten. 82 Es dauerte bis 1819, bis darüber entschieden und Preußen in 329 Kreise eingeteilt war. 83 Davon lagen 39 in Ostpreußen. Die Städte Königsberg, Allenstein, Tilsit und Insterburg erhielten eigene Distrikte. Die Größe der ostpreußischen Landkreise lag nach der Reform zwischen rund 70.000 und 170.000 Hektar 84 , die Zahl der Einwohner bei knapp 30.000 Personen.85 Von 1825 bis 1828 wurden in allen preußischen Provinzen Kreisstände eingeführt, deren Ritterstand das Recht erhielt, dem König drei Landtagskandidaten zu präsentieren. 86 Zwar galt der Grundsatz, jeder Kandidat müsse Grundbesitz in dem betreffenden Landkreis nachweisen und dem Ritterstand angehören87, doch gab es durch den zunehmenden Handel mit Rittergütern auf dem freien Immobilienmarkt verstärkt das Problem, dass Güter allein in der Absicht gekauft wurden,

80 81

82 83

Unruh, S. 51. Belke, S. 64.

Etwa Verordnung vom 30. April 1815, Preuß. Gesetzessammlung 1815, S. 85. Vgl. Koselleck, S. 452; für Ostpreußen: Belke, S. 68 f.; Gruber, S. 52 und S. 53 ff.

84 Gruber, S. 62, stellt zum Vergleich: in Schlesien waren die Landkreise zwischen knapp 10.000 und 140.000 Hektar groß, in Westfalen zwischen 4.600 und 81.000 und in Pommern zwischen 50.000 und 222.000 Hektar. 85 86

Belke, S. 69. Rauer, T. 2, §§ 789 ff., bes. § 792; zur Kreisstandschaft: Lancizolle, S. 384 ff.; Bär,

S. 220; Koselleck, S. 456 ff., und Belke, S. 71, weisen daraufhin, dass der Adel unter dem Einfluss v. Schöns auf diese Bevorzugung verzichten wollte, die Vorstöße im Provinziallandtag jedoch 1830 und 1843 abgelehnt wurden; Wehler, Bd. 2, S. 156, konzentriert sich ganz auf den Machtzuwachs der Landräte; vgl. auch Neugebauer, Wandel, S. 344 ff. 87 Kabinetts-Order vom 19. Oktober 1828, in: Kamptz' Annalen, 1828, S. 276.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

damit das Recht zur Kandidatur für ein Landratsamt zu erwerben. 88 Die Verträge enthielten sogar manchmal eine Nichtigkeitsklausel für den Fall der Wahlniederlage. 89 Nach der Hochphase der Güterverkäufe Mitte der 20er-Jahre sah sich das Innenministerium gezwungen, eine Verordnung wegen des Besitzstands der Landräte zu erlassen, die forderte, das Eigentum müsse seit mindestens fünf Jahren bestehen. Der König sollte aber berechtigt sein, Dispens von dieser Verordnung zu erteilen, wenn die Kreisstände dies beantragt hätten. Über diese Ausnahmeregelung sollten besonders geeignete Kandidaten eine Chance erhalten. 90 Eine Debatte im Preußischen Provinzial-Landtag des Jahres 1843 macht deutlich, dass solche Bestimmungen längst von der Realität überholt worden waren. Die Mehrheit der Deputierten opponierte gegen die „Allerhöchste Proposition Nr. 4 betreffend die Ergänzung der Vorschriften über die Wählbarkeit zu Landrathsämtern", die sich gegen den fortgesetzten Brauch wandte, erst jüngst in dem betreffenden Kreis zu Landeigentum gekommene Kandidaten als Landräte zu bestätigen.91 Auch das darin geforderte Wissen über praktische Landwirtschaft hielten die Deputierten für nicht mehr zeitgemäß, während das bei weitem nötigere Verwaltungswissen nicht nachgefragt werde. In den im Antrag geforderten Verschärfungen sah die Mehrheit überdies eine Einschränkung kreisständischer Rechte, weil ein Kreis nur selten in der Lage sei, drei Kandidaten zu nennen, die erstens seit fünf Jahren Eigentümer und zweitens bereit und fähig seien, das Landratsamt zu übernehmen. 92 Die Pflicht zum Dispens und das „Derolationsrecht" erhöhe den Regierungseinfluss unnötig. Auch gegen die Bestimmung, das bestehende Eigentum des Vaters zum Vorteil des kandidierenden Sohnes anzurechnen, wehrte sich der Provinziallandtag mit seinem Mehrheitsbeschluss. Er wollte die „Erblichkeit" des Landratsamtes verhindern. Dem Votum des Ausschusses für ständische

88

Klatte, S. 206: Im Rheinland, in dem die Forderung nach mindestens fünfjährigem Güterbesitz aufgekommen war, wurden sogar Fälle bekannt, wo Landräte nach der Wahl die Güter an den Vorbesitzer zurück verkauften. Rochows Nachforschungen ergaben 1839, dass in ganz Preußen 20 Landräte überhaupt keinen Grundbesitz besaßen. Elf von ihnen waren bankrott, hatten schon vor ihrer Kandidatur keinerlei Vermögen besessen. 89 Belke, S. 71; WAPO, V 3, Nr. 325. 90 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 136, Nr. 8, Bd. 7, als weiteres Motiv heißt es hier: „denn die zu wählenden sollen Männer sein, die ein dauerndes Interesse - erzeugt durch namhaften Gutsbesitz - an den Kreis bindet". So sollen die Männer gewählt werden, „welche im Kreise besonderes Vertrauen und vorzügliche Geltung erlangt haben"; nach v. d. Groeben, Ostpreußen, S. 158, war es 1862 für die Mehrzahl der Landratskandidaten üblich, sogenannte Präsentationsgüter im jeweiligen Landkreis zu erwerben; nur noch 30 Prozent der Landräte genügten der Ansässigkeitsklausel. 91 WAPO, V 3, Nr. 325, folgende Zitate und Zusammenfassung aus diesem Protokoll. 92 Dazu auch Hartungsche Zeitung, Nr. 46, 13.6.1843.

I L a n d r a t in Rößel

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Angelegenheiten, der König solle die Verordnung „allergnädigst auf sich beruhen lassen", schloss sich das Plenum mit 88 gegen sechs Stimmen an.93 Bei diesem Beschluss dürften auch handfeste materielle Interessen eine Rolle gespielt haben. Die Forderung nach fünfjährigem Besitz behinderte nämlich den äußerst einträglichen Güterhandel. 94 Der König lehnte den Antrag im Landtagsabschied aber trotz Mehrheitsbeschlusses ab.95 Dass die Instruktion für Landräte vom 31. Dezember 1816 die Qualifikation eines Regierungs- oder Oberlandesgerichtsrats oder das große Examen vor der Oberexaminationskommission als Mindestvoraussetzung für den zukünftigen Landrat gefordert hatte, war in der Debatte 1843 kein Thema mehr. Nachdem 1818 diese Prüfung an die Regierungen delegiert worden war, stand die praktische Brauchbarkeit des Kandidaten im Vordergrund; sein wissenschaftlicher Hintergrund war kaum noch gefragt. 96 Nach dem Regulativ vom 13. Mai 183897 verschwand die Landratslaufbahn aus der Karriere der höheren Verwaltungsbeamten und wurde „deutlich auf die Kandidatur junkerlicher Gutsbesitzer zu diesem Amt zugeschnitten."98 Es genügte fortan die Reife zu einem Universitätsstudium und das Bestehen der staatlichen Prüfung, die im schriftlichen Teil folgendes forderte: Der Kandidat hatte schriftliche Probearbeiten einzureichen, die aus der Beantwortung von Fragen und einem Gutachterbericht über einen vorgelegten Fall bestanden, mit dem er seine Fähigkeit zur Bearbeitung von Akten unter Beweis stellen sollte. Außerdem sollte er „in einem ausführenden kommissarischen Lokalauftrage" eingesetzt werden, was entfallen konnte, wenn der Kandidat in einer früheren Anstellung bereits ähnliches bewältigt hatte. Die mündliche Prüfung sollte sich auf die zu bearbeitenden Geschäftszweige beschränken und dabei Ausdrucksweise, Gesamterscheinung und Urteilsvermögen begutachtet werden. Außerdem empfahl die Kabinettsorder vom 10. Juli

93

WAPO, V 3, Nr. 325. Welcher Seite sich Moritz von Lavergne-Peguilhen, der damals in der Kurie der Landgemeinden im Provinzial-Landtag saß, anschloss, ist nicht festzustellen, da in den Protokollen, die in Allenstein aufbewahrt werden, das Abstimmungsverhalten nicht festgehalten ist. 94 95

96

Vgl. Klatte,, S. 207. Vgl. Belke, S. 72.

Bleek, S. 122; Rescript des Königlichen Ministers des Innern an die Regierungspräsidenten, die Prüfungen der Landräte betreffend vom 16. März 1827, in: Kamptz Annalen, 1827, S. 14, hier heißt es u. a., die Landräte seien nur „ausübende Beamte", die deshalb auf ihre „practische Brauchbarkeit" geprüft werden müssten. 97 Vgl. Preußische Gesetzgebung über das Verfahren bei der Wahl und Prüfung der Landräthe. 9%

Bleek, S. 122.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

1838 ein einschlägiges Praktikum." Die Prüfung degenerierte so teilweise zur bloßen Formsache, was noch durch die Möglichkeit des Königs, eventuelle Favoriten von der Prüfung zu dispensieren, verstärkt wurde. 100 Der Vertreter des Staats im Kreis, als den der Reformer Hardenberg seinen Kreisdirektor konzipiert hatte, verwandelte sich auf diese Weise in eine Zwitterfigur, die auf der einen Seite „Kommissarius der Regierung" und auf der anderen „Vater des Kreises" 101 in traditionell paternal istischem Sinne als „ständisch-junkerlicher Repräsentant" war. Für Francis L. Carsten war er schlicht der „Vertrauensmann seiner Standesgenossen und Nachbarn", womit in erster Linie die adligen Rittergutsbesitzer gemeint sind, da der Anteil bürgerlicher Landräte im Vormärz nur zwischen 24 und 28 Prozent lag. 102 Über die herausragende Bedeutung des Landratsamts im vormärzlichen Preußen herrschte Einigkeit bei den Zeitgenossen. Doch während das genuin Zwiespältige im Wesen der Institution des preußischen Landrats im konservativen Lager eher als Vorteil dargestellt wurde 103 , war dies für die Liberalen ein Anlass zur Kritik. Für sie stand nicht das hoheitliche Element, sondern die kontrollierende Effizienz im Vordergrund. 104 Die Stellung der Landräte zwischen Bürokratie und den Interessen der adeligen Großgrundbesitzer führt zu der naheliegenden Schlussfolgerung, sie seien

99 GStaPK Rep. 77 Tit. 136, Nr. 8, Bd. 5., Bl. 32 (423) ff. In Kamptz' Annalen, 1827, S. 14 ff., sind die Anforderungen noch genauer formuliert, obwohl auch hier schon der Schwerpunkt auf der praktischen Eignung liegt. Allerdings orientiert sich die Verwaltung im schriftlichen Bereich noch am Assessorexamen der Ober-Examinations-Kommission, wobei den Landratskandidaten der juristische und wissenschaftliche Teil erlassen wird. 100 Bleek, S. 122; Rauer , § 801, sieht vor, dass nur der gewählte Kandidat sich der Prüfung unterziehen muss; GStaPK Rep. 77 Tit. 136, Nr. 8, Bd. 5., Bl. 32 (423). Koselleck, Anhang IV, S. 680 ff. weist nach, dass noch bis nach der Jahrhundertwende die Adeligen die Mehrzahl der preußischen Landräte stellten, auch in der Rheinprovinz und Westfalen! Auf diesem Hintergrund ist die Feststellung v. d. Groebens, Verwaltungeschichte, S. 158, die Kandidaten hätten sich einer „gar nicht einfachen" Prüfung unterziehen müssen, zumindest unreflektiert zu nennen. 101 Koselleck, S. 452 f., bezieht sich hier auf ein Zitat des Grafen Lehndorf aus dem Jahr 1865, das auch v. d. Groeben, Verwaltungsgeschichte, S. 158, wiedergibt: „Für den gewöhnlichen Landmann in Ostpreußen hat es bis zum Jahre 1858 nur zwei unbestrittene und unangefochtene Autoritäten gegeben: den König und den Landrat, weshalb man den ersten den Landesvater, den letzteren den Kreisvater genannt hat". 102

103

Carsten, S. 100.

So u. a. das Berliner Politische Wochenblatt 1832: „Das Amt des Landrates und die damit in Verbindung stehende Wirksamkeit von Kreisständen ist eines der eigentümlichsten Institute der Monarchie". Darin spiegele sich die Entwicklung eines Staates, „in dem auf glückliche Art das Wesen der älteren ständischen Verhältnisse mit dem landesherrlichen Beamtenwesen verschmolzen ist"; zit. nach Unruh, Landrat, S. 56. 104 Briinneck, Denkschrift (1837). In: P. Herre, S. 469.

II. Landrat in Rößel

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als politische Gruppe ausschließlich im konservativen Meinungsspektrum anzusiedeln. 1 ( b Selbst Rittergutsbesitzer und von anderen Rittergutsbesitzern gewählt, mit umfassenden staatlichen Kompetenzen ausgestattet, aber gleichzeitig vom Staat schlecht alimentiert, war der Landrat tatsächlich in erster Linie Vertreter junkerlicher, sprich seiner eigenen Interessen. 106 Für das ostelbische Preußen insgesamt trifft das Bild des konservativen, ja reaktionär eingestellten Junkers im Amt des Landrats zu. 107 Eine Ausnahme bildete die Region um Königsberg. Hier waren die liberalen Tendenzen in der Ritterschaft so stark, dass es schließlich sogar eine liberale Mehrheit im Provinziallandtag gab. 108 Das führte gerade im Falle Lavergnes zu wiederholten Spannungen. Als seine Positionen sich nicht mehr mit denen der ihn tragenden mehrheitlich liberalen Gruppe der Rittergutsbesitzer deckten, musste er, zuerst in Rößel, dann auch an seiner späteren Wirkungsstätte Wirsitz, seinen Landratsposten verlassen. 109 3. Der Weg ins Rößeler Landratsamt Moritz v. Lavergne-Peguilhen wollte Landrat werden, weil er zum einen damit rechnete, mehr Zeit für seine wissenschaftlichen Studien zu haben. Andererseits hoffte er, in dieser Funktion auch zur praktischen Umsetzung seiner sozialkonservativen Ideen zu kommen. Allerdings musste er bis zu seinem ersten Erfolg, der Wahl zum Landrat im ostpreußischen Kreis Rößel, sieben Jahre lang hartnäckig an verschiedenste Türen klopfen. Lavergnes Weg ins Landratsamt ist ein beredtes Beispiel für die oben beschriebene Entwicklung bei der Besetzung der Landratsämter in den preußischen Ostprovinzen. Formale Vorgaben wurden regelmäßig und bereitwillig zugunsten politischer Erwägungen oder im Sinne eines Gruppeninteresses aufgegeben: Nach vergeblichen Anläufen in Westpreußen trat Moritz v. LavergnePeguilhen 1840 erstmals als Bewerber für einen ostpreußischen Landratsposten in Erscheinung. Damals wurde er zur Komplettierung der „vorschriftsmäßigen Omnizahl" als dritter Anwärter vom Staatsministerium und Oberpräsident

105 „Der preußische Landrat verkörperte eine regierungstreu-konservative Politik. Von ihm hatten die Liberalen wie die Sozialisten keine Gunst zu erwarten." Und dies sei nicht nur bis 1858 der Fall gewesen, sondern auch bis zum Ende des Jahrhunderts, so Hatten-

hauer, S. 226. 106 Vgl. Carsten, S. 111. 107

Zu dieser Diskussion u. a. Neugebauer, Wandel, S. 426; Belke, S. 53; Vgl. auch

Carsten, S. 102 f.; H. Rosenberg, S. 297. 108

z. B. bei H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 304-328; vgl. Dipper, Adelsliberalismus, S. 371-387. 109 Lavergne, Liberalismus, S. ΠΙ ff.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Schön auf die Kandidatenliste für den Kreis Gumbinnen geschoben.110 Staatsminister v. Rochow hielt es ohne Nennung von Gründen allerdings für angebracht, den König vor der Ernennung Lavergnes zu warnen. Da v. Rochow dem jungen verwaltungserfahrenen Juristen Dreßler aus dem Rheinland die besten Referenzen bescheinigte 111 , ist zu vermuten, dass ihm entweder Lavergnes Qualifikation nicht ausreichte oder dessen politische Einstellung nicht zusagte. Die Frage nach den formalen Voraussetzungen der Kandidaten scheint keine Rolle gespielt zu haben, weil keiner der drei Kandidaten alle Kriterien erfüllte. Lavergne hatte zwar die erforderliche Prüfung bereits in Westpreußen abgelegt, war aber noch Rittergutsbesitzer auf Kaltfließ im Kreis Allenstein. 112 Der von den Kreisständen in Gumbinnen vorgeschlagene Burchart war wiederum kreiseingesessener Rittergutsbesitzer, musste aber nach seiner Wahl die Prüfung noch ablegen. Und Dreßler war nach den Ausführungen v. Rochows bereit, ein Rittergut im Kreis zu kaufen, um dann Landrat werden zu können. 113 Demnach war es, trotz aller Debatten um Grundbesitz und formaler Eignung, schon 1840 üblich, sich bei Bedarf auch von Regierungsseite über die Bestimmungen hinwegzusetzen. Das trat auch bei der Ernennung Lavergnes zum Landrat des Kreises Rößel im Jahr 1844 ein. Nachdem er 1841 für mehrere Monate interimistisch die Verwaltung des Kreises Allenstein übernommen hatte, erwarb Lavergne im Jahr darauf das Rittergut Kunzkeim im Kreis Rößel. 114 Der Kreis hatte knapp 39.000 Bewohner, davon mehr als 5.000 polnischer Nationalität 115 auf einer Fläche von 13,5 Quadratmeilen. 116 Er lag im Ermland südwestlich von Königsberg und gehörte zum Regierungsbezirk Allenstein. Das Ermland war 1772 durch Friedrich II. an Preußen gekommen und in die vier Kreise Allenstein, Heilsberg, Braunsberg und Rößel aufgeteilt worden. 117 Inwieweit hinter dem Erwerb des Ritterguts die Hoffnung stand, dadurch Landrat werden zu können, lässt sich aufgrund der Quellen nicht rekonstruieren. Dass Lavergne gute Verbindungen zum ermländischen Adel, etwa zu Ernst Freiherr Senfft v. Pilsach, besaß, und schon ein Jahr später die Vertretung des

110

GStaPK, I. HA, Rep. 77, 2.2.1. Nr. 13804, Bl. 142. GStaPK, I. HA, Rep. 77, 2.2.1. Nr. 13804, Bl. 142 RS. 112 GStaPK, I. HA, Rep. 77, 2.2.1. Nr. 13804, Bl. 14; Nachlass Esau. 113 GstaPK, I. HA, Rep. 77, 2.2.1. Nr. 13804, Bl. 143 RS. 114 GStaPK Rep. 77, Tit. 136, Nr. 42, Bd. 5, Bl. 150 f. 1849 hatte der Landkreis 37.428 Einwohner, A. Poschmann, S. 375 ff. 115 Haxthausen, S. 80 f., gibt für 1837 knapp 5.000 polnische Bewohner an. 116 Das entspricht etwa 236,5 Quadratkilometern. 117 A. Poschmann, S. 248; zu den allgemeinen Problemen bei der Änderung der Kreisgrenzen zwischen dem Ermland und den anderen ostpreußischen Kreisen vgl. Belke, S. 68. 111

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erkrankten über 70-jährigen Landrats v. Knobloch (1770-1848) übernehmen konnte, lässt jedoch die Vermutung zu, dass ihm das hohe Alter, vielleicht auch etwas über den Gesundheitszustand v. Knoblochs zu Ohren gekommen sein könnte und der Kauf des Ritterguts gut in seine Karriereplanung passte. Im Jahr 1841 war er bei dem Versuch, Landrat in Allenstein zu werden, erneut am Widerstand des Ministers v. Rochow gescheitert, der bei dieser Bewerbung als Warnung gegen Lavergne schrieb: „Nach seinen Schriften zu beurteilen, ein verdrehter Geist, dessen Aquisition als Landrat hier garnicht gewünscht sein würde." Auch der Allensteiner Kreissekretär Blum notierte, Lavergnes „Schriften zeugten nicht von klaren Ansichten und geordneten Kenntnissen. Außerdem sei früher von Danzig aus seine Persönlichkeit nicht günstig beurteilt worden. 118 Obwohl Lavergne im Jahr 1844 erst zwei statt der geforderten fünf Jahre als Rittergutsbesitzer im Kreis Rößel lebte, bot diese Tatsache keine Grundlage für Einwände gegen Lavergnes Kandidatur. Das lag vermutlich daran, dass er jetzt in Staatsminister v. Arnim einen prominenten Fürsprecher gefunden hatte. In einem Brief an den König stellte der Minister Lavergne als den perfekten Kandidaten dar, der die notwendige Kombination aus praktischer Erfahrung und akademischer Vorbildung besaß. Besonders hob v. Arnim hervor, dass Lavergne während der interimistischen Verwaltung des Kreises Rößel im Jahr 1843 Stellvertreter des Geheimen Oberfinanzrats und Entwässerungsbeauftragten Ernst Freiherr Senfft v. Pilsach 119 als landesherrlicher Commissarius für die „Meliorations-Anlagen" gewesen war. D. h. er hatte alle Maßnahmen zur Beund Entwässerung des bisher landwirtschaftlich nicht nutzbaren Landes im Kreis Rößel geplant und koordiniert. Die Abteilung des Innern der Regierung Königsberg, wo Lavergne 1840 tätig gewesen war, empfahl Lavergne ebenfalls als Landrat. In dem Schreiben nach Berlin hieß es: „Peguilhen ist nun früher Feldmesser gewesen und hat als solcher selbst praktisch das Nivellieren, wodurch wesentlich die Erfolge einer auf hydrostatische Verhältnisse begründeten Unternehmung bestimmt werden, kennen und beurteilen gelernt [...] ist also vollkommen geeignet, in dieser Beziehung das Organ des Vereins zu sein". 120 Als Abgeordneter und Sekretär der Landtage 1841 und 1843 hatte Lavergne ebenfalls einige öffentliche Bekanntheit und Vertrautheit mit den regionalen Problemen erworben. 121 Die wissen118

Nachlass Esau. Andrae-Roman, Junker, S. 325; Haake, S. 52 ff., hebt die Nähe Senfits zu Friedrich Wilhelm IV. hervor; Petersdorff,\ Skizzen, S. 155, seine Verbindungen zu Hermann Wagener und den Gebrüdern Gerlach. 120 Der preußische Staat hatte 1843 insgesamt 75.000 Taler für den ostpreußischen Meliorationsfonds vorgesehen, allerdings nie ganz eingezahlt: Klatte, S. 161; Georg Becker, S. 45; zu Senfft v. Pilsach bestehen auch später noch Verbindungen. 121 GStaPK, I. HA, Rep. 77, 2.2.1. Nr. 13805, Bl. 50 f. 119

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

schaftlichen Qualifikationen fanden in einer allgemeineren Form Eingang in die Empfehlung. Besonders herausgehoben wurden seine Kenntnisse der „vaterländischen Gesetzgebung" und die „philosophische Doktorwürde", die ihm die Universität Königsberg inzwischen für die „Grundzüge" verliehen hatte. 122 Staatsminister v. Arnim, der in seinem Brief darum bat, dem König die Angelegenheit noch während eines Aufenthalts in der Provinz Preußen vorzutragen, machte deutlich, dass die Ernennung Lavergnes von allen Beteiligten gewünscht werde. Die Kreisstände hatten ihm am 15. Juni 17 Stimmen gegeben, seine Gegenkandidaten erhielten acht (Gusovius auf Duerwangen) und zwölf (Schleußner auf Teistimmen) Stimmen. 123 Auch das Fehlen genauerer Angaben über die beiden Konkurrenten spricht dafür, dass beide wohl eher Strohmänner für die Einhaltung der vorgeschriebenen Zahl von drei Kandidaten waren. Wir erfahren lediglich von ihren guten Vermögensverhältnissen und ihrem unbescholtenen Lebenswandel; Schleußner war Jurist, Gusovius hatte ökonomische Studien absolviert. Beiden fehlte aber die landrätliche Eignungsprüfung - ein Grund mehr, ihre Aufstellung als Formalie zu betrachten. 124 Eine weitere wichtige Rolle bei der Besetzung dieses Landratsamtes im überwiegend katholischen Ermland spielte das konfessionelle Element. Im Kreis Rößel waren nur knapp zehn Prozent der Einwohner nicht katholisch. 125 Alle drei Kandidaten, so wurde hervorgehoben, waren evangelisch. Es entsprach der Politik der Regierung König Friedrich Wilhelms IV., Verwaltungsstellen und Regierungsposten in mehrheitlich katholischen Gebieten im Osten evangelisch zu besetzen.126 Um die Qualifikation Lavergnes noch deutlicher darzustellen, versicherten die Berichterstatter aus Rößel nach der Wahl, Lavergne werde „auf dem Grund von vieljähriger Beobachtung für einen Mann von ehrenwerthem Charakter gehalten, der mit einer umfassenden allgemeinen Bildung und Geschäftsfähigkeit viel Geschick zur Behandlung von Dienstangelegenheiten verbindet, und insbesondere als interimistischer Landrathsamts-Verweser durch Eifer, practische Gewandtheit, würdige Haltung und geistvolle Auffassung seines Berufes sich dergestalt bewährt hat, dass er, ihrer Ueberzeugung nach, mit aller Ueberzeugung zum Vorstande des Kreises, in welchem er allgemeines Vertrauen besitzt, berufen werden kann." 127 Lavergne sei deshalb „ohne Vorbehalte zu

122 123 124 n5

GStaPK, I. HA, Rep. 77,2.2.1. Nr. 13805, Bl. 50. GStaPK, I. HA, Rep. 77,2.2.1. Nr. 13805, Bl. 49. GStaPK, I. HA, Rep. 77,2.2.1. Nr. 13805, Bl. 51.

Pape,

126 127

S. 13.

GStaPK, I. HA, Rep. 77, 2.2.1. Nr. 13805, Bl. 51; vgl. Hassenstein, bes. S.67 ff. GStaPK, I. HA, Rep. 77,2.2.1. Nr. 13805, Bl. 49.

II. Landrat in Rößel

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ernennen", was dann auch am 26. August 1844 geschah. Offiziell eingeführt und vereidigt wurde Lavergne bei einem Kreistag am 30. Oktober 1844. 128 Zur Vervollständigung des Bildes eines soliden Menschen hatte Lavergne selbst auch etwas Entscheidendes getan: Kurz vor seiner Wahl zum Landrat hatte er am 23. April in Bischofsburg die 1814 in Tuckum geborene kurländische Gräfin Lyda Baronin Simolin geheiratet. 129 Auch bei der Wahl einer Gräfin als Ehefrau bewies Lavergne also Standesbewusstsein. Diese Heirat mit einer Adeligen erscheint wie die indirekte Bestätigung des eigenen Adels. Wie der Ostpreuße die Adelige aus dem seit 1795 russischen ehemaligen Ordensland kennen lernte, ist nicht bekannt. Die Verbindungen von Ostpreußen nach Kurland waren aber traditionell eng. Lyda gebar im Lauf ihrer Ehe fünf Kinder und überlebte ihren Mann um 15 Jahre. Sie starb im August 1895 in Potsdam. 130 4. Verwaltung „nach Gutsherrenart" Moritz v. Lavergne-Peguilhen wurde am 30. Oktober 1844 bei einem Kreistag in seine Amtsgeschäfte als Landrat eingeführt und vereidigt. 131 Er leitete die Amtsgeschäfte von seinem Gut Kunzkeim 132 aus. Damit hatte er sich nicht nur ein bequemes, sondern auch landschaftlich schön gelegenes Amtsgebäude ausgewählt. Das Herrenhaus, das noch heute weitgehend im damaligen Aussehen erhalten ist, liegt auf einer kleinen Anhöhe. Die Gartenfront des vergleichsweise kleinen, eingeschossigen Gebäudes blickt auf den Daddai-See. 133 Für die Kreisbewohner war die Verwaltung vom Gut des Landrats nichts Neues. Lavergnes Vorgänger Knobloch hatte das bereits so gemacht und mit den besonderen geographischen Verhältnissen des Landkreises begründet - ein im Osten Preußens damals nicht unübliches Gebaren. Beispielsweise verwaltete

128 „Der von des Königs Majestät zum Landrath des Rößeler Kreises ernannte Rittergutsbesitzer v. Lavergne-Peguilhen ist auf dem am 30. Oktober stattgehabten Kreistage durch den Kommissarius der Königlichen Regierung Herrn Ober-Regierungsrath Grafen zu Eulenburg in sein Amt eingeführt und vereidigt worden." Rößeler Kreisblatt, Nr. 43, 1844, S. 179. 129 Gotha, Briefadel 1909, S. 471; nach Gallandi am 22.April, sonst nach B.M. Rosenberg,, Beiträge, S. 279; Georg Becker, Lavergne S. 46: „aus dem Hause des Grafen Bathor (geb. auf Angern im Kurland)". 130 Gotha, Briefadel 1909, S. 471 f. 131 Rößeler Kreisblatt, Nr. 43, November 1844, S. 179. Vereidigt wurde er von Graf zu Eulenburg als Kommissarius der Regierung. 132 Die Endung „keim" bedeutet Dorf, E. Poschmann, S. 38. 133 Das Gut wird auch heute noch landwirtschaftlich genutzt.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

auch Lavergnes Bruder Alexander den Kreis Neidenburg vom Gutshaus aus. 134 Das geographische Problem des seit 1818 bestehende Kreis Rößel waren die vier etwa gleichgroßen Kleinstädte innerhalb seiner Grenzen, die nach den Worten Poschmanns „in den vier Ecken des Kreises" lagen. Damit fehlte ihm eine zentrale Kreisstadt, während Kunzkeim etwa in der geographischen Mitte des Kreises lag. Von dort aus verwaltete Lavergne auch 23 Rittergüter und 92 Landgemeinden in 15 katholischen und vier evangelischen Kirchspielen. 135 Die Kreisbewohner lebten hauptsächlich von Getreideanbau sowie von Spinnerei und Weberei in Heimarbeit. Die Kinder im Schulalter konnten neben 73 Elementarschulen mit 91 Klassen ein Progymnasium in Bischofsburg besuchen.136 Für das Wirtschaftsleben des Kreises erwies sich die Randlage der Städte als Vorteil, weil ihre Märkte auch immer Dorfbewohner aus den Nachbarkreisen anzogen.137 Ausgerechnet die Kreisstadt Rößel hatte dabei die ungünstigste Verkehrslage und einen Einzugsbereich von nur rund sechs Kilometern, so dass sich schon der erste Landrat, der ehemalige Leutnant Otto Benjamin v. Knobloch weigerte, dort seine Amtsstube einzurichten. 138 Mit seinem Sekretär und einem Schreiber, „die ebenfalls auf dem Gut oder im Krug wohnten", erledigte er seine Arbeit zuhause.139 Das war natürlich nicht im Sinne der Rößeler Stadtväter, die sich wiederholt vergeblich darüber beschwerten. 140 Nachdem ihnen 1818 zugesagt worden war, dass zumindest die wöchentlichen Sprechtage in der Kreisstadt abgehalten werden müssten, kam der Landrat in den 30er-Jahren nur noch zur monatlichen Prüfung der Kreiskasse. V. Knobloch begründete sein Beharren mit der zentralen Lage Bansens, das er nach Kunzkeim erwarb, „möglichst in der Mitte des Kreises", während es vom anderen Ende des Kreises nach Rößel fünf Meilen (rd. 35 Kilometer) wären. Auch als v. Knobloch Bansen verpachtete, war das für die Regierung kein Grund, die Verwaltung zum Umzug nach Rößel aufzufordern: „Das ganze Kommunal- und Polizeigeschäft des Kreises wird im Gut Bansen abgehalten, und wir werden stets genötigt, zu den Kreistagen und anderen Geschäften Deputierte gegen Diäten dorthin zu schicken, die den größtenteils unbemittelten Kommunen zur Last fallen." 141 134

Kamptz' Annalen, 1828, S. 902: Laut Landtagsabschied des Sächsischen Landtags von 1828 war das zwar nicht erwünscht, in begründeten Ausnahmefällen aber zulässig. ™ Schlott, Übersicht, S. 186. 136 Schlott, Übersicht, S. 186. 137

138

A. Poschmann, S. 248.

Das lag unter der durchschnittlichen Reichweite der ostpreußischen Landstädte von 7,5 km, E. Poschmann, S. 11. Der Einzugsbereich von Bischofsburg betrug 13,5 km. 139 A Poschmann, S. 249; nach Belke, S. 70, hatte sich 1818 der damalige Oberpräsident Auerswald gegen die Residenzpflicht der Landräte in den Kreisstädten gewandt. 140

141

A Poschmann, S. 249 ff.

Beschwerde bei A Poschmann, S. 250.

II. Landrat in Rößel

169

Lavergne folgte der Amtsauffassung seines Vorgängers und drohte sogar mit Amtsniederlegung, falls man ihn zwänge nach Rößel überzusiedeln. Von Regierungsseite gab es dagegen keine Einwände, obwohl die öffentliche Diskussion längst von der Forderung nach Zusammenfassung aller Kreisaufgaben in der Kreisstadt beherrscht wurde. 142 Das Landratsamt war bis 1845 in Kunzkeim, danach wieder in Bansen, als Lavergne nach dem Erwerb des Guts ebenfalls dorthin zog. Dort wurden 1846 und 1847 seine beiden ersten Söhne Ernst und Paul geboren. 143 Auch die Gebäude des Gutes Bansen, etwa sieben Kilometer Luftlinie von Kunzkeim entfernt, stehen noch. Es beherbergt heute eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte, die in dem großen Haupthaus und den Nebengebäuden, zu denen auch eine Windmühle gehört, ausreichend Platz findet. Ein Park mit mächtigen Buchen, die zu Lavergnes Zeiten schon dort standen, trägt zum wesentlich repräsentativeren Charakter Bansens im Vergleich zu Kunzkeim bei. Rößel war nur zwischen 1857 und 1862 tatsächlich Amtssitz des Landrats. Zeitweise wurde der Kreis sogar von außerhalb verwaltet, als Landrat v. Schrötter im Kreis Orteisburg ein Gut gekauft hatte. Diese zersplitterte „Verwaltung nach Gutsherrenart" endete auch nicht mit der Kreisordnung von 1872, als der Kreistag wegen der Verkehrsanbindung für Bischofsburg als Sitz der Kreisverwaltung stimmte, während beispielsweise Katasteramt, Kreisgericht, Kreiskasse, Schul- und Gesundheitsverwaltung in Rößel angesiedelt blieben. 144 Damit war der Kreis Rößel ein Beispiel für das Beharrungsvermögen junkerlich-ständischer Strukturen gegenüber der von Berlin aus initiierten Modernisierung der Kreisverwaltung. Schließlich war es auch eine praktische Frage für Lavergne, ob er als Gutsbesitzer, der einen Großteil seiner Einkünfte aus der Landwirtschaft bezog, die beschwerliche Fahrt auf miserablen Chausseen und Wegen ins Landratsamt in dieser dünn besiedelten Gegend auf sich nehmen wollte und konnte. 145

142 A. Poschmann, S. 250. Der Autor nennt es „selbstverständlich", dass die Regierung Lavergne unterstützte, bleibt aber eine Begründung schuldig. Diese Haltung der Regierung spricht aber erneut dafür, dass Lavergne von dort keine Wiederstände drohten. 143 Gotha, Briefadel 1909, S. 471; Bansen war mit 13 Wohngebäuden und 162 Einwohnern 1848 wesentlich größer als Kunzkeim, das im selben Jahr fünf Wohngebäude und 85 Einwohner hatte, Schlott, Übersicht, S. 187, 189. 144

145

A Poschmann, S. 250 f.

Im Regierungsbezirk Königsberg lag die Einwohnerdichte bei 324 auf zehn Quadratkilometer, Bom, S. 880.

170

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

I I I . Erfolglose politische Aktivitäten 1. Förderung von Landwirtschaft und Gewerbe Die Ziele, die der Landrat v. Lavergne in den vier Jahren seiner Amtszeit im und für den Kreis verfolgte, zeigen, dass er in den Grenzen seiner konservativen politischen Vorstellungen auf Effektivierung und Modernisierung der wirtschaftlichen Verhältnissen im Landkreis hinarbeitete. 146 Im Zentrum seines Interesses stand dabei die Landwirtschaft. Durch Einführung moderner Anbaumethoden und Verbesserung der Ausbildung für die Landwirte wollte er die Landwirtschaft im Kreis modernisieren. Dafür initiierte er den Bau einer Ackerbauschule und holte Kolonisten aus Hessen in den Kreis, die den Einheimischen die modernen Methoden gewissermaßen vorleben sollten. Zweiter Schwerpunkt seiner Arbeit war die Förderung von GewerbeanSiedlung und Kleinindustrie durch die Unterstützung regionaler Gewerbeausstellungen und Publikationen über Maschinen und technische Neuerungen im Publikationsorgan des Kreises, dem Rößeler Kreisblatt. Das Rößeler Kreisblatt diente Lavergne vom Beginn seiner Amtszeit an zur Verbreitung eigener politischer Positionen147, was ihm über diesen Zeitraum hinweg nur wegen seiner guten Verbindung zur Regierung gelingen konnte. Denn eigentlich waren die Kreisblätter, die seit Mitte der 30-er Jahre erschienen, als kreisständische Organe zur Publikation von Kreistagsentscheidungen entstanden.148 Der Rößeler Kreistag hatte im September 1843 die Herausgabe des wöchentlichen Blättchens beschlossen und die Genehmigung der Königlichen Behörden sowie des obersten Amtes für Zensurangelegenheiten erhalten. Vorher erschienen „Circulaire", die wie das Kreisblatt an die Königlichen Domänen, Domänenrentämter, Gerichtsbehörden, Schulzen, Ortsvorstände, Förstereien und Medizinalbeamte, die Kirchenkollegien, die Kreis- und Kommunalkassen sowie die Gendarmen verschickt wurden. Erlaubt waren dem Kreisblatt, das meist einen Umfang von zwölf Seiten hatte, lediglich Behördenverfügungen und -Veröffentlichungen sowie Inserate von Privatpersonen. Ausdrücklich untersagt waren politische und belletristische Aufsätze. Das Porto für das kostenlose Blatt zahlte der Verleger, der dafür das Recht zur Veröffentlichung von Anzei-

146

So auch B.M. Rosenberg, Beiträge, S. 256. Nach E. Poschmann, S. 251, erschien das Kreisblatt erst ab 1849. In Olsztyn ist es aber ab Ausgabe 1/1844 archiviert. 148 Neugebauer, Wandel, S. 413 ff; im Kreis Marienwerder erschien das erste Kreisblatt 1834, S. 413, Fn. 111. 147

III. Erfolglose politische Aktivitäten

171

gen hatte. Interessierte Privatpersonen zahlten für das Druckwerk zehn Silbergroschen. 149 Die Behörden griffen üblicherweise ein, wenn der Inhalt über die öffentlichen Bekanntmachungen und Anzeigen hinaus in politische Berichterstattung oder Meinungsjournalismus reichte. 150 Das Rößeler Kreisblatt enthielt laut Untertitel „Bekanntmachungen und Verfügungen des Landrats", und diesem Anspruch wurde es während der gesamten Amtszeit Lavergnes im Kreis Rößel durchaus gerecht. In den Bereichen Landwirtschaft und Gewerbe bestand im Ermland erheblicher Handlungsbedarf. Die fast ausnahmslos auf dem Land und in Kleinstädten lebende katholische Bevölkerung war erst spät in die preußische Reformpolitik einbezogen worden. 151 M i t den in diesem Landstrich komplizierten und sehr langwierigen Separationen lösten sich dörfliche Strukturen dann aber rapide auf; viele Bauern verließen ihre Dörfer, um sich in der Mitte des ihnen jetzt gehörenden Landes anzusiedeln. Um Schule, Kirche und Gasthaus herum siedelten oft nur noch ein paar Handwerker und Eigenkätner auf früheren Bauernhöfen. 152 Die landwirtschaftlichen Erträge auf den Höfen blieben mager, da sich die neue Bewirtschaftungsform ohne Brachland noch nicht durchgesetzt hatte. Die rückständige Dreifelderwirtschaft, die mangelnde Vertrautheit der bäuerlichen Bevölkerung mit Weideviehhaltung, Fruchtfolge und Düngung waren eine Ursache für den Nahrungsmangel, unter dem die ländliche Bevölkerung litt. Erst Ende der 40-er Jahre setzte eine Modernisierung in der ostpreußischen Landwirtschaft ein. 153 M i t den in dieser Zeit steigenden Getreidepreisen ging es allmählich auch mit der Landwirtschaft in der nach wie vor auf den Getreideexport angewiesenen Provinz Preußen aufwärts. Dadurch erholten sich auch die Bodenpreise. Die Fruchtwechselwirtschaft setzte sich allmählich gegen die Dreifelderwirtschaft durch, eine Entwicklung, die von den großen Gütern nach und nach zu den kleinen Bauernwirtschaften durchsickerte. Es wurden mehr Hackfrüchte,

149

Rößeler Kreisblatt, Nr. 1, 6. Januar 1844, S. 1. So durften die Kreistagsergebnisse nach 1845 nur noch mit amtlicher Genehmigung veröffenüicht werden. Neugebauer beklagt die schlechte Quellenlage zu den Kreisblättern und verweist im Zusammenhang mit dem Verhalten der Behörden auch auf Anzeigen der Verlage für Bücher, die die Zensur nicht passierten, Neugebauer, Wandel, S. 414. 150

151

152

Pape, S. 14 u. 20.

R. Stein, Bd. 3, S. 169 u. S. 176. Während Stein von fast vollständigem Ausbau der Höfe spricht, schreibt E. Poschmann, S. 494 f., etwa die Hälfte der Bauern hätten ihre Höfe in die Mitte ihres Landes verlegt. Genaue Darstellungen über die Separation im Ermland existieren nicht, allerdings stellt das Ermland insofern einen Sonderfall dar, als es bis 1772 Fürstbistum mit eigenen Eigentumsrechten war. 153 Ausführlich zur Modernisierung der Landwirtschaft Nipperdey, S. 145 ff.

172

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Kartoffeln und Klee angebaut, was die Stallfütterung und damit die Qualität der Viehhaltung verbesserte. Mehr Stallmist als Dünger brachte wiederum höhere Ernteerträge. Umfangreiche zentral organisierte Meliorationen verbesserten auch die Qualität des Weidelandes. Während sich mit steigendem Heeresbedarf die Pferde- und auch die Rind Viehzucht positiv entwickelten, mussten die in den 40er- und 50er-Jahren gewachsenen Schafbestände im nächsten Jahrzehnt wegen billigerer Wollimporte verkleinert und auf Fleischschafe umgestellt werden. 154 Der einzige bedeutendere Gewerbezweig neben der Landwirtschaft war im Ermland die Produktion von Garn und Leinen. 155 2. Die Ansiedlung der Hessen Dass die Entwicklung im Ermland so langsam voran ging, lag auch an der Bevölkerungsstruktur mit einer preußisch-deutschen Grundbesitzerschicht und mehrheitlich polnisch-katholischen Kleinbauern und Pächtern. Die mehrheitlich polnische Bauernschicht wirtschaftete auf niedrigstem Niveau; Stallfütterung, Düngung und effiziente Weideviehhaltung waren unbekannt. Sie betrieben Dreifelderwirtschaft ohne Futterbau in der Brache und kannten kaum den Einsatz von Maschinen. 156 Letztere hätten sie sich auch nicht leisten könne, denn durch die schlechten Ernteerträge und die desolate wirtschaftliche Gesamtsituation der Kleinbauern in der Provinz Preußen in den 30er Jahren litten auch die ermländischen Bauern bitterste Armut. Das sollte sich nach dem Willen des Landrats v. Lavergne-Peguilhen schnell und grundlegend ändern. Dafür entwickelte er Mitte der 40er-Jahre zwei Projekte: Im Provinziallandtag regte er die Gründung einer Notstandskommission an, die den Ursachen der Armut auf die Spur kommen und Hilfsmittel dagegen entwickeln sollte. Schon vorher plante er die Ansiedlung hessischer Bauern gewissermaßen vor seiner Haustür. Damit wollte er praktisch umsetzen, was er im zweiten Band der „Grundzüge" theoretisch schon bearbeitet hatte. Hier lobte er die „Colonisierung" als Mittel zum Export kulturellen Fortschritts. 157 Im konkreten Fall verfolgte er damit zwei Ziele: Zum einen sollte die rückständige Landwirtschaft in Ostpreußen durch die Siedler aus Hessen neue Impulse erhalten. Sie sollten ihre Form der Milchwirtschaft und auch ihre Art des dörflichen Lebens importieren und den Einheimischen vorleben. Er wollte so belegen, dass diese intensive Landwirtschaft die Ernährungssituation verbessern und, im ganzen Land angewandt, ein wichtiges Element im Kampf gegen den Pauperismus sein könnte. Zum anderen sollte „auf diese Weise das edle X5 A 155 156

157

Schumacher, S. 274. Born, S. 880. Sering, S. 86.

Lavergne, Grundzüge II, S. 273.

. Erfolglose politische Aktivitäten

173

deutsche Blut und die reichen Kräfte, welche sich alljährlich nach Amerika wenden, wenn auch nur theilweise, dem Vaterlande" erhalten werden. 158 In ganz Deutschland war Mitte der 40er-Jahre ein erster Höhepunkt der Auswanderungswelle zu verzeichnen. Das galt auch für das Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Während sich rund 90 Prozent der Auswanderungswilligen nach Übersee aufmachten 159 , war die Ostwanderung nahezu bedeutungslos. 160 Von den 1469 Auswanderern des Jahres 1845 und den 6020 des Jahres 1846 wollten 144 nach Ostpreußen. 161 Weder vorher noch nachher gab es nennenswerte Auswanderungsbewegungen aus Hessen-Darmstadt nach Ostpreußen. Es dürfte sich also um die Personen handeln, die von Lavergne und anderen Interessenten aus seinem Umfeld angeworben worden waren. 162 Wie gelang es Lavergne, die Ansiedlung von 120 Personen in einer Region durchzusetzen, in der die Ernährungssituation schon für die dort ansässige Bevölkerung katastrophal war? 163 Als offizieller Initiator des Kolonisation s Vorhabens hatte das Aliensteiner Meliorationskomitee über Freiherr Senfft v. Pilsach, einen guten Bekannten Lavergnes, die Kontakte nach Darmstadt geknüpft. Hier fanden sich auswanderungswillige Kleinbauern und Handwerker 164 , die bereit waren, sich auf dem ehemaligen Rittergut Rothfließ im Kreis Rößel anzusiedeln. 165 Rothfließ lag etwa auf halber Strecke zwischen Lavergnes Gütern Bansen und Kunzkeim an der Allee nach Bischofsburg. Auch den König konnten Lavergne und seine Helfer von dem Vorhaben überzeugen. Bereits 1843 hatte Senfft auf einer von Friedrich Wilhelm IV. unterstützten Reise durch Südwestdeutschland in Hessen-Darmstadt Kontakte mit den Regierungsbevollmächtigten Zeller und Pabst aufgenommen 166 . Mögli-

158

Lavergne, Darstellung, S. 58. Wehler, Bd. 2, S. 17, 286\ Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 32. 160 HStAD, Best. Gl, Konv. 136, Fase. 2: Übersichten über das Auswanderungswesen im Großherzogthum Hessen 1842-1853; zur Auswanderung aus Hessen allgemein H. 159

Richter. 161

H. Richter; insgesamt gingen 90% aller 600.000 deutschen Auswanderer bis 1848 nach Amerika: Wehler, Bd. 2, S. 17. 162 R. Stein, Bd. 3, S. 241: Preußen hatte in den 30er-Jahren schon einmal versucht, Familien aus dem Eichsfeld im Osten anzusiedeln. 163

Tilly,

Zollverein, S. 16; Wehler,

Bd. 2, S. 288; Nipperdey,

S. 221 ff.; Koselleck,

S. 529. 164

Sie stellten die größten Aus Wanderergruppen, Marschalck, S. 33. Lavergne, Darstellung, S. 57 ff; ebenfalls abgedruckt in Rößeler Kreisblatt, Nr. 31, Okt. 1846; E. Poschmann, S. 494: Rothfließ hat als „Czerwonka" knapp 1.000 Einwohner. 166 Dr. Christian Zeller, Ökonomierat in Darmstadt, erhielt vermutlich für seine Vermittlung den Preußischen Roten Adlerorden 4. Klasse (Hessen-Darmstädtisches Regierungsblatt 1845, 28, S. 286); Dr. Pabst war Kgl. Württembergischer Ökonomierat, Ständiger Secretär der Ghzgl.-Darmstädtischen Ackerbaugesellschaften, HStAD, Best. R 12 U. 165

174

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

cherweise verfiel man auch deshalb auf Hessen-Darmstadt, weil das in der Landesverfassung verankerte Recht auf Auswanderung das Unternehmen entschieden erleichterte. Bei der Wahl des Herkunftslandes spielte aber auch das konfessionelle Element eine Rolle. Lavergne legte wie die Regierung in Berlin großen Wert auf die verstärkte Präsenz des Protestantismus in den überwiegend katholischen Gebieten der Ostprovinzen. 167 Noch 1843 kam eine kleine Abordnung hessischer Interessenten in die Allensteiner Gegend; ein Jahr später sprach sich eine weitere Delegation dezidiert für Rothfließ aus. 168 1845 verabschiedeten sich zunächst 80, im Jahr darauf noch einmal 44 Personen aus den südhessischen Kreisen Bensheim, Dieburg, Groß-Gerau und Offenbach nicht ohne Probleme aus dem HessenDarmstädtischen Untertanen verband nach Ostpreußen. 169 Es waren acht Bauern- und vier Handwerkerfamilien, die auch ihr Gesinde mit in die neue Heimat nahmen. 170 Die Erleichterungen, die ihnen dort geboten wurden, erinnern an die Anreize bei den Peuplierungsmaßnahmen in der Frühneuzeit. Befreiung von der Klassen Steuer für die ersten drei Jahre, eine Staatsgarantie für Einnahmeausfälle bis zu einer Höhe von 10.000 Talern und die Möglichkeit, bei entsprechender Ertragslage günstige Darlehen zu erhalten, sollten den Siedlern den Anfang auf dem fruchtbaren Land in der Nähe der Chaussee erleichtern. 171 Lavergne begründete die Wahl des Gutes, das dem Bischofsburger Kreisjustizrat Burchardi für rund 14.300 Taler abgekauft worden war, mit der bisher mangelhaften Bewirtschaftung durch überwiegend polnische zinspflichtige Bauern und Eigenkätner, die vor allem eine hohe Zins- und Abgabenlast drückte: „Vermöge dieser lästigen Verpflichtungen waren die Erbzinsbauern zu Rothfließ in ihren äußern Verhältnissen so herabgekommen, daß sie zu den schlechtesten des ganzen Kreises gehörten, und ein großer Theil zum Verkauf bereit war." 1 7 2 Die mächtige Allensteiner Kreiskorporation 173 kaufte, vermutlich über den Besitzer Burchardi, der das Vorkaufsrecht besaß, nach und nach das 167 Hassenstein, S. 41 „deutsche Sitte und Art in die polnisch-katholische Gegend zugleich mit dem Evangelium hineinzutragen". 168 Lavergne, Darstellung, in: Kreisblatt, S. 168. 169 HStAD, Best. Gl, Konv. 132, Fase. 11: Sie hatten nicht auf die formale Bestätigung der Entlassung gewartet; ein Kolonist hatte überdies eine minderjährige Magd mitgenommen, ohne die Einwilligung ihres Vaters eingeholt zu haben. Dessen Anzeige zog einen längeren Briefwechsel nach sich. r?0 HStAD, Best. Gl, Konv. 136, Fase. 2. 171 Lavergne, Darstellung, in: Kreisblatt, S. 175 f. 172 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 60. 173 R. Stein, Bd. 3, S. 182: Im Ermland entstanden 1834 per Verordnung Kreiskorporationen zur Vermittlung bei Separationen im Rahmen der Agrarreformen. Laut Klatte, S. 164, wollte die Allensteiner Korporation zwei Flüsse in Eigenregie regulieren und gab dafür mit 3,5% verzinsliche Obligationen im Gesamtwert von 500.000 Talern heraus.

III. Erfolglose politische Aktivitäten

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Gut und veranlasste eine teilweise Spezialseparation, um das Land von allen darauf lastenden Verpflichtungen zu befreien. 174 Die Nutzung von Teilen des Meliorationsfonds zur Finanzierung von Neuansiedlungen setzte Senfft v. Pilsach 1846 auch in seiner hinterpommerschen Heimat bei Köslin durch. 175 Nur über diese Vermittlung war bei der herrschenden Kreditnot überhaupt Kapital für die Schaffung von Kleinbauernstellen zu erhalten; Personalkredite waren in der nur dünn besiedelten vormärzlichen Bankenlandschaft kaum möglich, während die Ostpreußische Landschaft auf der anderen Seite den Großgrundbesitz freigiebig mit Hypothekenkrediten ausstattete.176 In Anbetracht der desolaten Lebensumstände der einheimischen ländlichen Bevölkerung war Lavergnes Handlungsweise kaum verständlich. In seinen Berichten für das „Rößeler Kreisblatt" gibt es keinen Hinweis darauf, warum nicht den Ortsansässigen der Kauf der Grundstücke im Rahmen der Separation ermöglicht wurde. Er erwähnte auch nicht, was mit den aus ihrer bäuerlichen Existenz Vertriebenen geschah. Stattdessen schilderte Lavergne die Neuansiedung als eine Art Austausch der ortsansässigen Bauern durch die Menschen aus Hessen, die keinerlei innere Bindung an dieses Land besaßen, als zwingende Notwendigkeit im Sinne wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts. Der ehemalige Gutsbesitzer Burchardi wurde allerdings bedacht: er behielt als Kurator über die Kolonie die Kontrolle über sein ehemaliges Eigentum. 177 Für die Hessen hatte sich der Meliorationsfonds einige Lockmittel einfallen lassen. Die Bauern erhielten - bei einem Kaufpreis von zehn Talern pro Morgen Landes - zwar nicht mehr als zwei Hufen pro Familie, die Handwerker nicht über eine halbe Hufe. Davon waren sechs Taler für den Boden, vier Taler für die Gebäude zu berechnen, deren Mehr- oder Minderwert allerdings durch Nach- oder Rückzahlungen ausgeglichen werden sollte. 178 Das war, glaubt man Lavergne, ein Zwanzigstel dessen, was die Siedler für einen Morgen Landes in ihrer Heimat erhalten hatten: „Sie sind deshalb auch frohen Muthes und wissen den Vortheil wohl zu würdigen". 179 Dafür hatten die „Ackerwirthe" je 600, die Handwerker je 300 Taler in Darmstadt hinterlegen müssen. Das Geld wurde ihnen bei der Ankunft in Ostpreußen wieder ausgezahlt. So stellte man sicher, dass keine mittellosen Siedler loszogen; gleichzeitig wurden sie daran gehindert, eventuell mitgenommenes

174 175

176

177

Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 60 f. Klatte, S. 162. Klatte, S. 163, 167; Hein.

Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 62. Nach Böhme, S. VII, entspricht eine kullmische Hufe etwa 17 Hektar; die Hufe enthält 30 Morgen, diese wiederum 300 Quadratruten. 179 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 75. 178

176

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Geld unterwegs bereits auszugeben. Außerdem erhielten sie Reisespesen und einen Erlass des Chausseegelds, also der Mautzahlungen zur Benutzung der Landstraßen. Schon 1844 traf der zur Kolonie gehörende Maurermeister Adam Stephan aus Elmshausen mit seinem Schwiegersohn Johann Mink und der ganzen Familie ein, um die notwendigen Reparaturarbeiten an den Gebäuden, aber auch den Einkauf von Saat- und Brotgetreide, Futter und Holz zu erledigen, sowie notwendiges Mobiliar anzufertigen. Sogar die Frühjahrsbestellung der Felder wurde durch die Verpflichtung von Zeitpächtern von der Allensteiner Kreiskorporation organisiert. 180 Allerdings strengte das Meliorationskomitee später Entschädigungsklage gegen die Pächter wegen der schlechten Aussaat an. 181 Obwohl Lavergne im Oktober 1846 feststellte, dass „die benachbarten polnischen und deutschen Bauern die Überlegenheit der Hessen anerkannt" hätten und davon ausging, dass ihr Beispiel „den größten und wohlthätigsten Einfluß auf diese ausüben" würde, kamen die hessischen Bauern mit den Bedingungen in Rothfließ nicht zurecht. Schon nach drei Jahren hatten alle bereits wieder aufgegeben. Ob sie zurück in die Heimat gingen oder ihrem ursprünglichen Plan folgend die Reise nach Amerika antraten, ist nicht zu rekonstruieren. Im Darmstädter Archiv gibt es keine Hinweise auf Rückwanderer. 182 Zwei Familien traten sogar schon vierzehn Tage nach der Ankunft wieder die Rückreise an, weil die Frauen der Familienväter „von einem so heftigen Heimweh befallen [wurden], daß deren Männer zur Rückkehr nach Hessen sich entschließen mußten; diese wurde ihnen, auch ungeachtet sie contractlich gebunden waren, gestattet". 183 Lavergne hatte an dieses Projekt die größten Hoffhungen geknüpft. Seinen Optimismus konnte er offenbar auch auf Senfft v. Pilsach und den König sowie die preußischen und darmstädtischen Behörden übertragen. Außerdem nutzte er die Angelegenheit publizistisch in einer Weise, die man durchaus mit dem modernen Begriff der Eigenpromotion belegen kann. Mit der Berichterstattung über die Kolonie Rothfließ ging Lavergne über die Kreisgrenzen und Einflussgrenzen „seines" Kreisblattes hinaus. Die Königsberger Hartungsche Zeitung berichtete im Oktober 1845 unter der Rubrik „Vermischte Nachrichten" über die Kolonie und wurde ihrerseits vom Landrat über des Siedlungsprojekt informiert. 184 Im Organ des Königsberger „Vereins

m 181 182

183 184

Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 62. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 74. Vgl. R. Stein, Bd. 3, S. 242.

Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 63. Königsberger Hartungsche Zeitung, 16. Oktober 1845, S. 2316.

. Erfolglose politische Aktivitäten

zur Beförderung der Landwirtschaft" lancierte er eigene mehrteilige Berichte. 185 Auch die „Annalen der Landwirtschaft" und die „Landwirtschaftlichen Jahrbücher aus Ostpreußen" berichteten über die Erfahrungen mit den Hessen186, die nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in Lebenshaltung, Hauswirtschaft, Gartenbau und Hausbau - sie deckten ihre Dächer mit Ziegeln statt mit Stroh, wie Lavergne hervorhob, und verminderten dadurch das Brandrisiko neue Impulse nach Ostpreußen brachten. 187 Lavergne begleitete das Projekt mit akribischer Genauigkeit und hob die Unterschiede zur einheimischen Bevölkerung hervor, wie etwa die Bereitschaft der Frauen zur Feldarbeit, die in der Region bisher nicht üblich war: „[...] wenn nicht insbesondere die Frauen eine ganz ungemeine Thätigkeit besäßen [...]. Und nichts erregte das Erstaunen der Hessen in einem so hohen Grade, als daß sie die hiesigen Frauen, mit Ausnahme der Erndtezeit, den ganzen Sommer über beim Spinnrade oder beim Webestuhl beschäftigt fanden." 188 Auch ihre Gemüseprodukte, die Blumen und das Obst seien von besonders guter Qualität. 189 Bessere Maschinen und Arbeitsabläufe sowie die Bereitschaft der Hessen, in zusammenhängenden Dorfstrukturen zu leben, stellte er seinen Lesern als modernes kommunales und wirtschaftliches Gegenmodell zum noch an feudale Strukturen angepassten ostpreußischen dar. Damit die Kolonisten ihre Ställe näher als die verordneten 150 Fuß an die Wohnhäuser heranbauen konnten, wurde sogar in Königsberg die Änderung der Bauordnung beantragt. 190 „Bei allen Einrichtungen, welche von den Hessen ausgingen, leuchtete ein reger Sinn für Reinlichkeit und häusliche Bequemlichkeit aufs Entschiedenste hervor," lobte er die Siedler, von denen er sich eine Beispielwirkung auf die mit veralteten Methoden arbeitenden polnischen Bauern erhoffte. 191 Sobald erst die Söhne der einheimischen Bauern als Knechte bei den Hessen deren Arbeitsweise kennen lernten, würden sich diese ganz von selbst durchsetzen. 192 Eine Ackerbauschule, die 1846 bereits eingerichtet war, sollte zur theoretischen Vertiefung beitragen. 193 Auch industriellen Fortschritt erhoffte er sich vom Einfluss der Hessen. So hatte der Stellmacher Diakont „als Werkführer der Fabrik landwirtschaftlicher Instrumente in Hohenheim vorgestanden, und ist zu erwarten, daß derselbe mit seinen Kenntnissen und Erfahrungen in diesem Theile der

185 186 187 188 189 190 191 192 193

Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen; Lavergne, Darstellung, in: Kreisblatt. R. Stein, Agrarverfassung, Bd. 3, S. 242. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 66 ff. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 67. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen S. 68 f. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 69. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 67. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 67. Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 78.

178

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

landwirthschaftlichen Industrie Tüchtiges leisten werde." 194 Insgesamt war er sich im Herbst 1846 sicher, „daß der bei Errichtung der Colonie Rothfließ verfolgte Zweck vollständig erreicht werden wird. 195 Fragt man nach den Gründen für das Scheitern des Projekts, ist neben den Anpassungsproblemen der Hessen an die landwirtschaftlichen und häuslichen Bedingungen unter anderem auch das Bildungsproblem zu nennen. Das Bildungsgefälle zwischen Hessen-Darmstadt und Ostpreußen scheint so groß gewesen zu sein, dass die Kolonisten mit den ihnen zugewiesenen Lehrern nicht zufrieden waren 196 . Sieht man sich die finanzielle Bilanz des Projekts an, die Lavergne im Oktober 1846 aufmachte, sind hier jedoch die Hauptgründe für das spätere Scheitern auszumachen. Danach hatten die hessischen Siedler insgesamt noch rund 12.000 Taler Schulden, teils an Kaufgeld, teils an verzinslichen Vorschüssen. Außerdem fielen für die 14 Familien jährliche Grundrenten in Höhe von insgesamt 3.199 Taler an. Das war angesichts der schwierigen Startbedingungen eine schwer zu tragende Belastung. Obwohl es den Initiatoren sogar gelungen war, für die Kolonisten über 1.000 Taler aus dem Königlichen Notfonds zu erhalten, mussten auch sie eine finanzielle Negativbilanz ziehen. Bei Gesamtkosten von 31.336 Talern, 14 Silbergroschen und vier Pfennigen mussten aus dem vom König zur Verfügung gestellten Fonds nach Anrechnung aller Einnahmen 4.000 Taler zur Deckung der Kosten genommen werden, was bei einem höher kalkulierten Grundzins wie in Patriken und Skaibotten, zwei anderen aus Hessen-Darmstadt versorgten Kolonien, von vornherein ausgeschlossen worden war. 197 Lavergne entschuldigte das Entgegenkommen gegenüber den Siedlern damit, man hätte die Hessen durch ein entsprechend lukratives Angebot von ihrem ursprünglichen Vorhaben abbringen müssen, nach Amerika auszuwandern. 198 Obwohl sich das Scheitern zu diesem Zeitpunkt bereits abzeichnete, ließ Lavergne zur größeren öffentlichen Akzeptanz des Projekts im Rößeler Kreisblatt Ende 1847 und Anfang 1848 zwei Schulzen als unparteiische Beobachter die Zustände in der Kolonie schildern. Da das Kreisblatt das Bekanntmachungsorgan des Landrats war, das Lavergne während seiner gesamten Amtszeit für seine Ziele einzusetzen pflegte, sind die kritischen Töne der Schulzen sehr moderat gehalten und decken sich in den meisten Passagen mit denen des

194 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 76; Vgl. Anzeige in Hartungsche Zeitung, Nr. 2,21. Jan. 1846, S. 9 f. 95 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 76. 196 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 76. 197 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 77; vgl. R. Stein, Bd. 3, S. 242. 198 Lavergne, Darstellung, in: Verhandlungen, S. 78.

III. Erfolglose politische Aktivitäten

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Landrats. 199 Um das Siedlungsprojekt in ein noch besseres Licht zu setzen, nutzte Lavergne überdies das Kreisblatt als Forum für einen „Bericht über die im vergangenen Jahre nach Amerika eingeschifften Auswanderer, und Warnung vor Auswanderung" des Britischen Generalkonsuls Walker von der Moskito-Küste an Viscount Palmerston. In Mittelamerika waren im Herbst 1846 über 100 entkräftete, zum Teil sehr schwer kranke Auswanderer aus Königsberg angelangt, denen von ihrem Kapitän und den Anführern der Gruppe übel mitgespielt worden war. Lavergne ließ den Bericht mit dem Kommentar enden: „Unter diesen Umständen liegt uns die Pflicht ob, das Publikum vor ähnlichen unüberlegten und ohne Sachkenntniß unternommenen Auswanderungen ernstlich zu warnen, und insbesondere den Familien-Vätern ans Herz zu legen, sich und ihre Angehörigen vor einem nach übereinstimmenden Erfahrungen in der Regel traurigen Schicksale zu bewahren, welches derartige Expeditionen leider in der Regel zur Folge haben." 200 Das Beispiel der hessischen Siedler beweist allerdings, dass nicht nur die Auswanderung über den Atlantik sich als folgenschwere Fehlentscheidung erweisen konnte. Wie es den Hessen weiter erging, ist nicht bekannt. Lavergne übernahm jedoch an keiner Stelle die Verantwortung für diesen Fehlschlag. Er kam auch in keiner seiner späteren Veröffentlichungen auf das Siedlungsprojekt, die Gründe für sein Scheitern oder mögliche Erkenntnisse, die er daraus gezogen haben könnte, zurück. Mit der Abreise der letzten Siedler war das Thema Kolonisation für den Landrat v. Lavergne-Peguilhen abgeschlossen. 3. Lavergne und die „Notstandskommission" a) Die Vorgeschichte

Ähnlich erfolglos war auch Lavergnes zweites Projekt zur aktiven Armutsbekämpfung im Jahr 1848 bereits wieder beendet, das er diesmal nicht als Landrat, sondern als Mitglied des Provinziallandtags initiiert und vorangetrieben hatte. In der Landtagssession im Februar 1845 war es ihm gelungen, eine große Mehrheit für die Berufung einer „Kommission zur Untersuchung des öfter wiederkehrenden Nothstands in Preußen" 201, im folgenden kurz Notstandskommission genannt, zu finden. Anfang 1845 sahen die meisten Deputierten im Landtag angesichts der nicht mehr zu übersehenden Eskalation der

199

Bericht des Schulzen Graw zu Prossitten über die Kolonie Rothfließ. In: Rößeler Kreisblatt Nr. 42, Dezember 1847; Bericht des Schulzen Saalmann zu Willims über den Zustand der Kolonie Rothfließ. In: Rößeler Kreisblatt Nr. 5, Februar 1848. 200 Bericht, in: Rößeler Kreisblatt, Nr. 11, März 1847, S. 38 ff. 201 GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23. Nr. 520, Bl. 1.

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sozialen Missstände in der Provinz offenbar die Zeit zum Handeln gekommen. 202 In diesem Winter waren Armut, Hunger und Elend in der Provinz erneut zu einem so augenfälligen Problem angewachsen, dass es die Diskussionen im Landtag dominierte. 1843 hatte das Thema bereits einmal den Ausschuss für Armenangelegenheiten im Landtag beschäftigt, damals allerdings folgenlos. Die Ausschussmitglieder lehnten ein Thesenpapier des überzeugten Freihändlers John Prince-Smith 203 zum Pauperismus mehrheitlich ab 204 , weil sie die von PrinceSmith errechneten Kosten für die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen abschreckten. Außerdem hatte der Ausschuss eingewandt, die Vorschläge des in Elbing lebenden Engländers stünden nicht mit dem Armengesetz von 1842 in Einklang. Das Plenum war diesem Votum gefolgt. Während Prince-Smith mit seinem Maßnahmenkatalog 1843 noch auf taube Ohren gestoßen war, stand Lavergnes Vorstoß zwei Jahre später unter ganz anderen Vorzeichen. Der Schock des schlesischen Weberaufstandes, den auch Lavergne selbst als Auslöser für sein Vorgehen in der Ständekammer angab, saß tief. 2 0 5 Angesichts der desolaten Zustände in den Ostprovinzen und des gerade blutig beendeten schlesischen Weberaufstandes gab der preußische Staat 1844 seine passive Haltung in der Armutsfrage zögernd auf und zahlte erstmals Zuwendungen an Arbeiterfamilien und bäuerliche Grundbesitzer. 206 Neben Vorschüssen gaben staatliche Stellen Saatgetreide aus und boten Arbeitsgelegenheiten im Chausseebau an. Es war das Jahr, in dem der Nationalökonom Friedrich List die Armut in den östlichen preußischen Landesteilen mit dem drastischen Bild vom Hering an der Decke beschrieb, mit dem die Kartoffelesser durch Reiben ihrem einzigen Nahrungsmittel etwas Würze geben konnten. 207 Und schließlich hatte die Subsistenzkrise mittlerweile auch das sogenannte Beamten proletariat erreicht. Schulmeister, „perennierende sächsische

202 Nach Jordan, S. 102 war schon das Jahr 1845 vom ersten Auftreten der Kartoffelkrankheit gekennzeichnet und dementsprechend „schlecht"; vgl. Abel, S. 53. 203 Brandt, Bd. I, S. 214 ff. Prince-Smith (1809-1874) war der Sohn des Gouverneurs von Britisch-Guayana, in Preußen naturalisierter Lehrer und Journalist und einer der führenden Verfechter der Freihandelstheorie in Deutschland. 204 Verhandlungen des Provinzial-Landtags des Königreichs Preußen, Königsberg 1843, Achte Sitzung, 21.3. 1843, S. 55. 205 Lavergnes Interpretation 1868, GStaPK , I. HA, Rep. 77; Nr. 4548, Bl. 10: „Als ich nach dem Aufstande von 1844^-5 den Provinziallandtag zu Danzig veranlaßte von der Hochseligen Majestät die Formung einer Kommission zur Erörterung des Versagens desselben zu erbitten glaubte der Herr Oberpresident mir seine Unzufriedenheit nicht vorenthalten zu dürfen." 206 Denkschrift Notstandskommission, S. 5. 207

Abel, S. 53.

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Predigtamtskandidaten, Literaten, Journalisten, Künstler aller Art" waren nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 208 Das erhöhte die Chancen von Lavergnes Antrag an den Danziger Provinziallandtag vom 9. Februar 1845 ebenso wie die Tatsache, dass er noch keine konkreten Projekte oder Maßnahmen enthielt. Der Rößeler Landrat schlug lediglich vor, erst einmal eine Kommission zu gründen, die nach der Erforschung der Ursachen des Notstands Maßnahmen zu seiner Behebung vorschlagen sollte. Damit konnten sich 90 der 91 Deputierten einverstanden erklären. Die Idee der Notstandskommission stammte nicht von Lavergne selbst. Sie war auf dem Höhepunkt der „Hungry Forties" in England entstanden. Auch in Irland und Kurhessen versuchten die Verwaltungen mit Hilfe solcher Gremien die Ursachen von Hunger und Elend zu ermitteln und möglichst schnelle, aber auch kostengünstige Lösungen zu finden. 209 Während in diesen Ländern die Regierungen selbst die Initiative ergriffen, wurde schon bald offenbar, worum es dem Initiator der Notstandskommission in der Provinz Preußen eigentlich ging. Er wollte diese Einrichtung als Vehikel zur Durchsetzung seiner politischen Forderungen nutzen. Die Existenznot, so gibt das Landtagsprotokoll die Antragsbegründung Lavergnes wieder, sei allgemein. Auch der Grundbesitz sei durch häufige Besitzwechsel davon betroffen und „das gewerbliche Leben schlummere vollständig". Deshalb habe sich „ein Gefühl der ExistenzUnsicherheit [...] aller Klassen bemächtigt". Lavergne folgerte daraus, „daß die mit dem 9. Oktober 1807 beginnende Gesetzgebung noch wichtiger Ergänzungen und Reformen bedürfe, um die von derselben gehofften Zustände herbeizuführen. Bevor die Gesetzgebung hier indessen mit Zuversicht einzuschreiten vermöge, bedürfe es der gründlichsten Erwägungen; es seien vielfache statistische und administrative Nachrichten nothwendig, zu deren Beschaffung der Landtag sich außer Stande befindet." 210 In diesem Protokoll begegnen uns zwei Hauptmotive von Lavergnes Anschauungen. Zum einen ist das die verhaltene Kritik an Inhalt und Ausführungen der Stein-Hardenberg'sehen Reformgesetze. Ihre Notwendigkeit und die Richtigkeit ihrer Ansätze bestritt Lavergne nicht, monierte aber sehr wohl, dass sie wegen falscher Grundannahmen und fehlender Konsequenz hauptsächlich für die desolaten gesellschaftlichen Zustände verantwortlich seien. Zweitens wird die Überzeugung deutlich, dass alle Klassen der Gesellschaft von den Missständen betroffen seien und nicht nur die erwerbslosen und proletarisierten Armen. Das Armutsproblem wurde damit Teil einer allgemeinen Struktur-

208 209 210

Riehl, Stand, S. 182 f. GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 43 RS. Landtags Verhandlungen Danzig 1845, Protokoll, S. 84 f.

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schwäche, als deren weitere Elemente Lavergne die Überschuldung der großen Güter, die Kreditlosigkeit der Bauern, fehlende Verkehrsverbindungen, den Mangel an Arbeitsmöglichkeiten für die durch die Agrarreformen freigesetzten Arbeitskräfte, die allgemeine Gewerbefreiheit, die Auflösung der Halt bietenden gewachsenen Strukturen der feudalständischen Gesellschaft und die Vereinzelung des Individuums ansah. Die 1847 von Lavergne mitformulierte Denkschrift über die Ergebnisse der Notstandskommission sprach von den „verschiedenen gesellschaftlichen Krankheits-Äußerungen, welche in ihrer Gesammtheit den Nothstand bilden". 211 Dieser Notstand ließ sich nach Lavergnes Auffassung, dem eine organischen Staatsauffassung zu Grunde lag, nicht durch Einzelmaßnahmen, sondern nur durch einen auf fundierten statistischen Angaben beruhenden Maßnahmenkatalog beheben. In der Plenardebatte im Februar 1845 kamen die unterschiedlichen Bewertungen des Notstands zur Sprache. Während ein Teil der Abgeordneten Chausseebauten für ausreichend hielten, um den Notstand zu beenden, verwahrte sich ein anderer zwar gegen die generelle Rückständigkeit der Provinz, hielt aber weitergehende Maßnahmen für nötig. Neben dem Ausbau der Verkehrswege müsse die Provinz Preußen in die Lage versetzt werden, sich selbst zu ernähren und zu erhalten. 212 Diese Position setzte sich in der Debatte schließlich durch und fand auch Eingang in die Denkschrift an Friedrich Wilhelm IV. Die Berufung einer Kommission aus Landtagsabgeordneten und Beamten wurde vor allem damit begründet, dass es dem Landtag bisher an ausreichenden Informationen über die ökonomischen und sozialen Verhältnisse in den einzelnen Regionen der Provinz fehle. 213 Nur auf dieser Grundlage könnten die landwirtschaftlichen und ökonomischen Kräfte der Provinz erfasst und zu langfristigem Wohlstand geführt werden, meinten die Verfasser. Von kurzfristigen Aktionen gegen die größte Not war nicht die Rede. Erst beim nächsten Provinziallandtag in zwei

211

Denkschrift Notstandskommission, S. 7. Landtagsverhandlungen Danzig 1845, Protokoll, S. 85 f. Die Namen der Redner durften im Protokoll nicht genannt werden. 213 „Bei den Landtags-Verhandlungen hat sich der Mangel zuverlässiger Nachrichten über den Zustand des Landes vielfach zu erkennen gegeben und die Stände sind genöthigt gewesen, öfters Anträge zur Förderung des materiellen Wohles zurückzuweisen, weil ihnen die Übersicht der dabei in Betracht kommenden Verhältnisse mangelte und der Landtag vermöge seiner Verfassung nicht im Stande war, durch unmittelbare Verhandlung mit den Behörden und mit den kenntnißreicheren Männern des Landes sich die erforderliche Aufklärung zu schaffen. Eine für längere Dauer in Thätigkeit befindliche, aus Ständen und Staatsbeamten bestehende Kommission werde indessen im Stande sein, diese Lücke auszufüllen, und den Beschlüssen des Landtages die erforderliche Grundlage zu verschaffen." Landtagsverhandlungen Danzig 1845, Protokoll, S. 86. 2,2

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Jahren sollten die Ergebnisse vorgestellt und über die notwendigen Maßnahmen abgestimmt werden. 214 Der Provinziallandtag 1845 muss für Lavergne ein Höhepunkt seines politischen Wirkens gewesen sein. Nicht nur die fast einstimmige Reaktion auf den Antrag zur Berufung der Notstandskommission war ein persönlicher Erfolg, sondern auch die Tatsache, dass ihm als Landtagssekretär am Ende der Session „der ausdrückliche Dank des Landtags ausgesprochen und im Protokoll verzeichnet" wurde. 215 Auch hinsichtlich der Notstandskommission entwickelten sich die Dinge ungewöhnlich schnell. Da die preußischen Provinziallandtage lediglich Antragsrecht besaßen, musste die Reaktion Friedrich Wilhelms IV. abgewartet werden. Zustimmung oder Ablehnung des Monarchen wurden üblicherweise erst im Landtagsabschied veröffentlicht. Im Falle der Notkommission handelte Berlin allerdings schneller. Die Denkschrift des Landtages wurde am 28. Februar 1845 nach Berlin gesandt, die gewählten Kommissionsmitglieder wurden nach der prompten Zustimmung des Königs vom 14. März gewählt und kurz darauf bestätigt. 216 Ganz anders als der König verhielt sich der neue Königsberger Oberpräsident, der als „sehr konservativ" 217 bezeichnete Ober-Justizrat Carl Wilhelm Bottich er. Er hatte von Anfang an aus der „Unzufriedenheit" 218 über Lavergnes Antrag keinen Hehl gemacht und bremste mit den ihm zur Verfügung stehenden bürokratischen und organisatorischen Mitteln als Oberpräsident und Vorsitzender der Kommission die anfangs kräftige Beschleunigung empfindlich ab. Bötticher war als Nachfolger des zurückgetretenen Theodor v. Schön nach Königsberg gekommen. Im Rahmen eines Revirements wollte Berlin sukzessive die leitenden Beamtenposten in der liberalen „Flügelprovinz" mit eher konservativen Figuren besetzen.219 Dem Juristen fehlte zwar jede Verwaltungserfahrung, aber er genoss das Vertrauen der pietistisch-konservativen sogenannten Kamarilla um König Friedrich Wilhelm IV. und die wohlwollende Unterstützung des Königs selbst. 220

214

Landtagsverhandlungen Danzig 1845, Protokoll, S. 87. Landtagsverhandlungen Danzig 1845, Protokoll, S. 390: „Dieser Antrag erhielt den ungeteiltesten Beifall des Landtages." 16 Landtagsverhandlungen Danzig 1845. 217 P. Herre, S. 74; Altpreußische Biographie, Bd. I, S. 67. 218 GStaPK, I. HA, Rep. 77; Nr. 4548, Bl. 10. 219 H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 304: die andere liberale „Flügelprovinz" ist das Rheinland. 215

220

Belke, S. 57 f.

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Dem neuen Mann an der Spitze der Administration in Königsberg gelang es aber nicht, „seinen Vorgänger vergessen zu machen". 221 Er war hauptsächlich für die Verzögerungen verantwortlich, die dafür sorgten, dass die Kommission erst im Dezember 1846 ihre Arbeit aufnehmen konnte. Bis dahin gab es umfangreiche Briefwechsel zwischen den Beteiligten über die Besetzung der Kommission, über das Procedere und die Form der Vorstudien, auf deren Grundlage die Kommissionsmitglieder Maßnahmen gegen den Notstand beschließen sollten. Das trug jedoch keineswegs zur Beschleunigung der Angelegenheit bei. Seit der Wahl der Kommissionsmitglieder waren bereits fast fünf Monate vergangen, als Lavergne Bötticher seine ersten Vorschläge zum weiteren Vorgehen übermittelte. Weil auf den „baldigen Zusammentritt der Kommission" noch immer keine Aussicht bestand,222 schlug er am 16. August vor, umfangreiche selbst entwickelte Fragebögen zu versenden, die zwei für die Landesentwicklung bedeutsame Problemkreise berühren sollten. In 191 Fragen auf 40 Druckseiten waren das zum einen die Folgen der Reformgesetzgebung, zum anderen hielt er auch nationalökonomische Fragestellungen für relevant, „über deren Erledigung die Theoretiker sich noch nicht verständigt haben und über die gleichwohl eine Verständigung nothwendig ist, bevor die zur Herstellung eines selbstständigen und gesicherten Lebens in unserer Provinz erforderlichen Reformen und Ergänzungsmaaßregeln zur bestehenden Gesetzgebung bestimmt werden können." 223 Diese sollten, dem englischen Beispiel folgend, „den Behörden, den intellectuellen und practischen Notabilitäten des Landes, den Männern der Wissenschaft und dem gesammten Publikum zur Beantwortung vorgelegt werden." 224 Auch die Kommissionsmitglieder sollten sich bereits mit dem von Lavergne beigelegten Entwurf beschäftigen. Ihnen wollte er auch den Fragekatalog zusenden, sollte Bötticher für die öffentliche Verwendung zunächst in Berlin die Erlaubnis einholen wollen. Deshalb ersuchte Lavergne in demselben Schreiben Bötticher um die Übermittlung der Namen der Beamten, die auf Wunsch des Königs Mitglieder der Kommission sein sollten. 225 Sie sollten ebenfalls mit von ihm vorgeschlagener Literatur zu Fragen der Gemeindeverfassung versorgt

221

Bötticher als „reines Werkzeug der Camarilla", daneben z. B. Polizeipräsident Lauterbach und Schulrat Lucas, Grenzboten 2, 3, 1848, S. 445; Zitat bei Bender, S. 72. 222 Lavergne an Bötticher, 16.8.1845, Bl. 43 Rs. 223 Lavergne an Bötticher, 16.8.1845, Bl. 43, GstaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520. 224 Lavergne an Bötticher, 16.8.1845, Bl. 43 Rs., GstaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520. 225 Lavergne an Bötticher, 16.8.1845, Bl. 43 Rs., GstaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520.

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werden, da dieses Thema, wie Lavergne meinte, bei den Verhandlungen über die Behebung des Notstands ebenfalls zur Sprache kommen müsse.226 Die Dinge entwickelten sich nur im Schneckentempo weiter. Der Oberpräsident antwortete erst am 1. Oktober. 227 Er habe, ließ er Lavergne wissen, „höheren Orts beantragt", die Kommission Anfang nächsten Jahres (also 1846) zusammentreten zu lassen. Wenn er die Erlaubnis dazu habe, wolle er zunächst von allen Mitgliedern Gutachten über ihre Ansicht zur „zweckmäßigsten Weise, wie die Aufgabe zu lösen sei", einfordern. Er habe aber Lavergnes Frageliste das Imprimatur erteilt und einige Exemplare „privatim" an die Kommissionsmitglieder schicken lassen. Allerdings hatte er den entsprechenden Vermerk auf Lavergnes Manuskript vergessen, so dass die Liste auch Anfang November noch nicht gedruckt war und damit auch noch keinem Kommissionsmitglied vorlag. 228 Lavergne bat darum, dies schnellstens nachzuholen. Das ist wohl nicht geschehen, denn Fragebögen gingen nur an die vier Regierungskollegien in Königsberg, Danzig, Marienwerder und Gumbinnen sowie an die beamteten Mitglieder der Kommission. 229 Diese war schließlich am 15. Dezember 1845 mit der Bestätigung der Mitglieder aus der Verwaltung durch den König vollständig. Zu den im Februar in Danzig gewählten fünf Rittergutsbesitzern, einem Gutsbesitzer, einem Kaufmann und einem Fabrikant 230 gesellten sich vier Landräte, zwei Regierungsräte und die Regierungspräsidenten von Marienwerder und Danzig. 231 Entgegen der Ankündigung des Oberpräsidenten kam es auch Anfang 1846 nicht zur konstituierenden Sitzung der Kommission. Stattdessen forderte die Provinzverwaltung ihre Mitglieder auf, Berichte über die Zustände in den Regierungsbezir-

226

Lavergne an Bötticher, 16.8.1845, Bl. 46 Rs., GstaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520. Das war v. Haxthausen, Ländliche Verfassung; v. Haxthausen, Agrarverfassung; v. Haxthausen Gutachten Gemeindeordnung; Lavergne, Landgemeinde. 227 Bötticher an Lavergne, 1.10.1845, Bl. 47, GstaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520; dort auch das Folgende. 228 Lavergne an Bötticher, 6.11.1845, Bl. 51 f., GstaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520. 229 Denkschrift Notstandskommission, S. 5. 230 GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 3 Rs. Es waren dies die Rittergutsbesitzer v. Lavergne-Peguilhen auf Kunzkeim, v. Auerswald auf Plauthen, Baron v. Sanden auf Toussainen, v. Hennig auf Dembowolonka, v. Platen auf Kamlau, der Gutsbesitzer Arnold auf Hoch-Strieß, der Fabrikant C. W. Härtel aus Elbing und der Kaufmann Ludwig Funke aus Königsberg. Für jedes Mitglied wurde gleichzeitig ein Stellvertreter benannt. 231 GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 55, Finanzministerium an Bötticher. Es waren die Herren v. Nordenflycht, Regierungspräsident in Marien werder, v. Blumenthal, Regierungspräsident in Danzig, der Ober- und Geheime Regierungsrat Schirrmeister, Gumbinnen, der Geheime Regierungsrat Siehr, Königsberg sowie die Landräte Schienther, Tilsit, Negelein, Labiau, Bruhns, Graudenz und Klein, Goldapp.

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ken, Kreisen und Städten nach Königsberg zu senden. Lavergnes Gutachten lag bereits im Januar vor, das letzte von Landrat Klein aus Goldapp datiert vom 20. September 1846. Er hatte wie einige andere Kommissionsmitglieder am 24. August an die Abgabe seines Gutachtens erinnert werden müssen. 232 Die folgenden zweieinhalb Monate bis zur ersten Zusammenkunft der Kommission im Königlichen Schloss in Königsberg am 3. Dezember 1846 dürften für die Terminabsprache und eine angemessene Einladungsfrist, die Beschaffung der notwendigen Quartiere und die Anreise im kalten ostpreußischen Winter notwendig gewesen sein. b) Die

Diskussionsgrundlage

Dieser lange Vorlauf von fast zwei Jahren bis zur ersten Sitzung der Kommission ist vor allem Ausdruck der kaum vorhandenen Gemeinsamkeiten zwischen den beteiligten Parteien hinsichtlich der Bewertung des Pauperismusproblems sowie der Dringlichkeit und der Methode, es zu bekämpfen. Die einzig sicher zu bestimmende Gemeinsamkeit war ihre Übereinstimmung beim Landtagsbeschluss vom Februar, der sie nun vor die Aufgabe stellte, die Ursachen der wiederholt auftretenden Notstände in der Provinz zu ermitteln. Es ist noch nicht einmal sicher, dass alle Kommissionsmitglieder dem Antrieb folgten, etwas gegen dieses überall sichtbare Elend der besitz- und oft auch arbeitslosen Unterschicht tun zu müssen. Denn gerade unter den Altkonservativen herrschte die Auffassung, dass Armut in erster Linie ein vom Individuum selbst verschuldetes Übel sei und ihre Begrenzung Aufgabe der privaten und kirchlichen Mildtätigkeit. Der Staat besitze über den Erlass von Ehe- und Mobilitätsbeschränkungen hinaus keine Eingriffsmöglichkeiten, war das konservative Credo, das eher auf die Zurücknahme der kommunalen Verantwortung für die Armenpolitik hinauslief als auf die aktive Bekämpfung des PauperismusPhänomens. Prinzipiell waren auch die Liberalen, die sich im preußischen Osten um die Leitfiguren August v. Saucken und Alfred v. Auerswald 233 scharten, gegen staatliche Interventionen. August v. Saucken, eigentlich nur als Ersatzmitglied vorgesehen, war bei fast jeder der Kommissionssitzungen anwesend gewesen. Er gehörte wie Alfred v. Auers wald 2 3 4 , der Königsberger Oberbürgermeister und spätere preußische Innenminister, zur Gruppe der liberalen Gutsbesitzer und Landtagsabgeordneten und hatte offenbar große Erwartungen mit der Kommission verbunden. Sie wollten schnelle Ergebnisse sehen und arbeiteten 232

GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 212 ff., Landrat Klein an Bötticher. Brünneck, Denkschrift, in P. Herre, S. 76: Auers wald war Mitte der 40er-Jahre „mit den beiden Saucken Hauptwortfuhrer der liberalen Adelsgruppe". 234 Carsten, S. 105, Brünneck, Denkschrift, in P. Herre, S. 76. 233

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schon im Vorfeld darauf hin. Armutsbekämpfung war für sie eine Frage der politischen und ökonomischen Freiheit des Einzelnen. Kurzfristig befürworteten sie ernährungssichernde Maßnahmen in Form von Getreidelieferungen und Arbeitsbeschaffung im Chausseen- und Eisenbahnbau. Beide Gruppierungen konnten jedoch wenig mit Lavergnes Ansatz anfangen, der den Pauperismus als staatswissenschaftliches Problem auffasste und dies mit einem Katalog von 191 Fragen zu bestätigen versuchte. Dass sein Fragenkatalog vor allem Skepsis unter den Adressaten hervorrief, ist angesichts des Umfangs und des ganz auf die Interessensgebiete Lavergnes zugeschnittenen Themenspektrums nicht erstaunlich. Die angeschriebenen Gutsbesitzer, Beamten und Kaufleute sollten nicht nur über Vegetation, Wetterentwicklung und -besonderheiten seit Beginn des Jahrhunderts, Bildung und Ernährung der Bevölkerung, Ernährung, Besitz Verhältnisse, Viehbestand und Weidenutzung, Feld- und Waldwirtschaft Auskunft geben, sondern auch Suggestivfragen zur Reform der Gemeindeordnung oder der Entwicklung der ländlichen Kreditinstitute beantworten. 235 Lavergne setzte dabei immer die Allgemeingültigkeit seiner persönlichen Grundannahmen zu politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhängen voraus und baute darauf ein Fragengeflecht auf, bei dem für die meisten der Adressaten der Zusammenhang mit dem Pauperismusproblem nicht mehr zu erkennen war. Vielmehr dürften sie sich bei einigen Fragen in ihre Schulzeit zurückversetzt gefühlt haben, etwa wenn Lavergne wissen wollte: „Giebt es ein Land, wo der auf Geldwirthschaft basirte Landbau ohne gleichzeitige Entwickelung der Fabrikation zu bestehen vermogte, und welches ist das nördlichste dieser Länder?" oder „Giebt es überhaupt ein Land wo die gleiche Erbberechtigung in das ländliche Grundvermögen seit drei Jahrhunderten und darüber bestehet und welche Stufe der Bodenkultur hat dasselbe erreicht?" 236 Es fällt schwer, sich den Gutsbesitzer, Kaufmann oder gar Landrat vorzustellen, der sich im Bewusstsein, etwas zur Ermittlung der Ursachen des herrschenden Notstands zu tun, den Kopf über solche Fragen zerbricht. Es erscheint sogar eher möglich, dass er über der Lektüre des fünfseitigen Vorworts gar nicht bis zum Fragebogen selbst vorgedrungen ist. Und nicht nur das. In seinem

235

GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 84-101 Rs; Beispiele für Suggestivfragen sind etwa Nr. 45 u. 46, Bl. 89: „45. Wenn es zur Erhaltung der Arbeiter nothwendig ist, daß diese den Wanderungen der Industrie und der Productionsthätigkeit folgen, - stehen die Armen- und Ortsbehörigkeits-Gesetze dem entgegen? 46. Wäre auch aus diesem Grunde die Contingentirung der Klassensteuer wünschenswerth, und würden die Communen sich leichter bewegen lassen auch anscheinend dadurch Aussicht erhalten auf einige Jahre einen Zuschuß zu ihrem fixirten Steuer-Kontingent zu erlangen?" 236 GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Fragen 51 u. 55. Bl. 89 Rs.

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Vorwort fasste Lavergne bereits zusammen, was die Antworten auf die folgenden 191 Fragen lediglich noch bestätigen sollten. Auf diesen einleitenden Seiten rekapitulierte Lavergne ausführlich die in seinen Augen längst bekannten und offensichtlichen Hauptursachen für den wiederkehrenden Notstand in der Provinz Preußen: „Die vorzeitige Einführung der Geldwirthschaftsform beim Landbau, bei gleichzeitiger Vernichtung des Handels, indem die Handelsstädte ihres Hinterlandes beraubt wurden und des Gewerbslebens - denn vormals war die Tuchbereitung nicht ohne Bedeutung, der Garn- und Leinwandhandel in höchster Blüte - sind Momente von so tief eingreifender Wirkung, daß dadurch die heutigen Zustände ihre vollständige Erklärung finden. Die Geschichte lehrt, dass in den Gegenden, wo Landbau und Fabrikation sich gegenseitig unterstützen, die Kalamitäten, von denen beide Erwerbszweige von Zeit zu Zeit heimgesucht werden, ohne erhebliche Beschädigung ertragen worden sind; daß dagegen eigentlicher Nothstand nur da bekannt ist, wo Landbau oder Fabrikation isolirt dastehen.4'237 Als weitere Auslöser kamen für Lavergne der kaum begonnene Chausseebau, die Schwankungen des Geldmarkts durch die Einführung verschiedener „zinstragender" Papiere und die sich auf Preußen auswirkenden „Bankoperationen Englands", sowie die Zentralisation der Verwaltung und die Aufrechterhaltung der Kommunalordnung des feudalen Preußen bis in die Gegenwart hinzu. 238 Neben der Intensivierung des Chausseebaus zur Schaffung von Arbeitsplätzen spielte für Lavergne die Existenzsicherung der Bauern und Gutsbesitzer die größte Rolle. Dafür forderte er zum einen die Gründung der auf die Bedürfnisse der Landwirtschaft zugeschnittene Geldinstitute, zum anderen die Förderung der Ansiedlung von Industrie und Gewerbe, denn: „Der in Preußen öfters wiederkehrende Nothstand, so wie die in dem häufigen Wechsel sich offenbarende Existenzunsicherheit der Grundbesitzer bekunden, was auch von wissenschaftlichen Standpunkte sich voraussehen ließ, daß der isolirte, von der Fabrikation und von Geldinstituten nicht unterstützte Landbau bei der Geld wirth schaftsform überhaupt nicht zu bestehen vermag; daß wenn der Landbau dieser Stützen im Allgemeinen bedarf, diese um so unerläßlicher sind, je mehr Hindernisse die klimatischen Verhältnisse dem landwirtschaftlichen Betriebe entgegen stellen." 239 Für Lavergne sah die Lösung des Problems demnach so aus: Wenn die Landwirtschaft von den Banken mit den entsprechenden „wohlfeilen Kapitalien" in Form von Personalkrediten versorgt würde, müssten die Ländereien nicht mehr mit Hypotheken belastet werden. Dann könnten die Landwirte in die

237 238 239

GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 85 Rs. GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 85 Rs. GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 85 Rs.

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für die Versorgung der Bevölkerung so notwendige Verbesserung der Produktion investieren. Entstehe daneben eine vom Staat kontrollierte Gewerbe- und Industriekultur, könnten die Arbeiter eine für ihre Existenzsicherung ausreichenden Entlohnung erwarten. Progressiv steigende Gewerbe- und Einkommenssteuern könnten die bisher geltenden Konsumsteuern ersetzen und so könnte der unbeschränkten Konkurrenz ein wirksamer Riegel vorgeschoben werden. Mit Hilfe von Schutzzöllen könnte auch die ausländische Konkurrenz die einheimischen Produzenten nicht mehr unterbieten und in Existenznöte bringen. Nach Zollfreiheit könnten jetzt eigentlich nur noch „Theoretiker und Belletristen" schreien, schloss Lavergne seine Ausführungen zum Thema Steuern und Zölle. 240 Gerade die letzte Bemerkung war ein Seitenhieb gegen die Liberalen in der Kommission und unter den Adressaten. Denn Zollfreiheit war eine der zentralen liberalen politischen Forderungen. Einer der führenden Theoretiker in Fragen der Abschaffung von Zollschranken war der in Elbing lebende Engländer John Prince-Smith 241, der starken Einfluss auf die ostpreußischen Liberalen ausübte. Lavergnes Polemik gegen die Liberalen fand in der letzten Frage des Katalogs ihren Höhepunkt: „Wird nicht angenommen werden dürfen, daß mit dieser Erkenntniß der auf einseitige Prinzipien sich basirende Liberalismus mit seinen sozialistischen und communistischen Consequenzen vom Volke werde zurückgewiesen werden; dieses werde zu der Erkenntniß gelangen, daß, wie die wahre Gewerbefreiheit sich nicht durch bloße Proklamation derselben erzielen lasse, diese vielmehr nur nach organischer Gliederung der produktiven Kräfte erwartet werden könne, es eine ähnliche Bewandniß mit der politischen Freiheit habe?" 242 Aber auch von den Altkonservativen durfte Lavergne mit diesem Fragekatalog kaum noch umfassende Unterstützung erwarten. Progressive Einkommenssteuern und Abschaffung der Konsumsteuern sowie die Vergabe von Personalkrediten an jeden bäuerlichen Eigentümer gehörten nicht in den Forderungskatalog der Altkonservativen. Die Forderung nach der Ansiedlung von Landwirten sowie von Fabrikanten und Fabrikarbeitern aus anderen deutschen Ländern im preußischen Osten dürfte ebenso wenig nach deren Geschmack gewesen sein. Dagegen war die Anregung, die Schwerpunkte in der Ausbildung der Landschullehrer zur praktischen Anleitung angehender Landwirte und

240

GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 85 f. Brandt, Geschichte I, S. 215. Prince-Smith hatte in den 40er-Jahren zwei Bücher über den Freihandel veröffentlicht: Über Handelsfreiheit, 1843, und zwei Jahre später Über die Nachteile für die Industrie durch Erhöhung der Einfuhrzölle; 1847 gründete er den Deutschen Freihandelsverein. 242 Fragebogen, Frage Nr. 191, GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. lOIRs. 241

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Landbewohner hin zu verlagern, zwar durchaus im Sinne der Konservativen, aber wiederum kaum auf der Linie der liberalen Bildungspolitik. 243 Unverständnis löste Lavergne in beiden Lagern mit den Fragen am Ende seines Elaborats aus. Hier kam er schließlich zu seiner zentralen Forderung, der Einrichtung einer akademisch betriebenen Gesellschaftswissenschaft als „Wissenschaft der Könige und die Königin der Wissenschaften". Sie sei in seinen Augen die einzige staatswissenschaftliche Disziplin, „welche sich nicht darauf beschränkt, einseitig die Gesichtspunkte der Production, des Rechtes, der Theologie etc. zu verfolgen, sondern welche das Wohl und die fortschreitende geistig-sittliche Kultur der Bevölkerungsmassen im Auge habend, die derselben zum Grunde liegenden ewigen Gesetze zu erforschen". 244 Nur sie biete deshalb die Grundlage für die zuverlässige zukünftige Vermeidung von Armut und Notstand. Lavergnes Fragenkatalog provozierte also aus mehreren Gründen Vorbehalte und Widerstand. Erstens wirkte bereits der äußere Umfang abschreckend, zweitens konnten das Vorwort und die häufig suggestive und hypothetische Form der Fragen der Eindruck erwecken, dass eine ernsthafte Beantwortung gar nicht erwartet wurde; in einigen Fällen war sie sogar für den Großteil der Empfänger schlicht unmöglich. Drittens war der Inhalt politisch so vorgeprägt, dass weder Liberale noch Altkonservative mit weiten Teilen einverstanden sein konnten. Die erste Aufforderung zur Stellungnahme wurde nur von zwei Kommissionsmitgliedern befolgt. Die übrigen mussten noch zweimal angemahnt werden. Ihnen wurde dann ein auf sechs pragmatische Fragen zusammengestrichener Fragenkatalog zugesandt, den Alfred v. Auerswald unaufgefordert im Januar 1846 nach Königsberg gesandt hatte. 245 Er unterstrich mit seiner Weigerung, den Fragebogen Lavergnes zu beantworten, die liberale Haltung. Er merkte an, ein zur Beratung reifer Gegenstand liege der Kommission nicht vor, so lange die tatsächlich dringlichen Fragen nicht gestellt und beantwortet seien. Das Problem, vor das er die Kommissionsmitglieder gestellt sah, formulierte Auerswald so: „Viele einzelne Mitglieder der Kommission dürften von dieser Noth im Allgemeinen kaum mehr wissen, als daß dieselbe wirklich stattgefunden, im Besonderen aber nur vereinzelte Äußerungen zu beobachten Gelegenheit gehabt haben, so wie denn auch die dagegen angewandten Mittel nur vereinzelt dem Blicke vorliegen und kaum eine andere Belehrung gewähren als daß zu allen Zeiten und in allen Theilen der Provinz die verschiedensten Principien selbst bei den Verwaltungsbehörden vorgeherrscht haben." Der Fragen243

Bl. 100. 244

Fragebogen, Fragen Nr. 171 u. 174, GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520,

Fragebogen, Fragen Nr. 186-191, GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 101 f. 245 GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Tit. 23, Nr. 520, Bl. 203 ff.

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katalog des Liberalen beschränkte sich deshalb auf nur sechs Punkte und deckte ganz pragmatisch zunächst das Wann, Wie und Wo der Notstände ab, fragte dann nach den vorgenommenen Gegenmaßnahmen und erkundigte sich nach deren kurz- und langfristigen Erfolgen. Schließlich wollte Auerswald wissen, welche Resultate für zukünftige Notstände festgehalten wurden, die auch für andere Regionen nutzbar gemacht werden könnten. Auch sein Fragenkatalog wurde von den Adressaten nur sehr schleppend beantwortet. Diese Reaktionen und nicht der Fragenkatalog Lavergnes bildeten dann die Grundlage der Verhandlungen der Kommission im Dezember 1846. c) Die Bilanz: Ein kompletter

Misserfolg?

Das einzig greifbare Ergebnis der Arbeit der Notstandskommission ist ein mehrere tausend Seiten umfassendes Aktenkonvolut, in dem die Abläufe der Sitzungen protokolliert sind. Weder regional noch auf der gesamtstaatlichn Ebene hatte die Arbeit der Kommission praktische Konsequenzen. Welche Abläufe innerhalb der Kommission und zwischen Königsberg und Berlin zu diesem Resultat beitrugen, ist anhand des Quellenmaterials schwer zu rekonstruieren, da weder in den Protokollen der Kommission noch in denen des Landtags Namen genannt werden. Auch die Rolle Lavergnes ist bisher völlig im Dunkeln geblieben. Obwohl Moritz v. Lavergne-Peguilhen den Notstandsausschuss durch seine Initiative erst möglich gemacht hat, erscheint er in den Quellen und Berichten als Bremsklotz und Quertreiber während der Verhandlungen. Die Liberalen bezeichneten ihn darüber hinaus als „Phraseur" 246 und Vertreter verschwommener, überzogener Forderungen. Dieser Widerspruch resultiert aus dem Zwiespalt, in dem sich Lavergne offenbar befand: Einerseits wollte er dem Oberpräsidenten aus dem eigenen politischen Lager, der der Kommission skeptisch gegenüber stand, seine Loyalität nicht versagen. Andererseits wollte er mit Hilfe der Kommission, die er als seine eigene Schöpfung empfand, seine eigenen sozialpolitischen Vorstellungen gegen die der Liberalen durchsetzen. Sonst hätte sie in seinen Augen ihren Zweck wohl verfehlt. So blockierten sich die Mitglieder der Kommission gegenseitig. Zu den inneren kamen äußere Hindernisse. Die politische Entwicklung in Preußen mit dem ersten Vereinigten Landtag im April 1847 und den Ereignissen des Frühjahrs 1848 verschob die politischen Prioritäten nachhaltig, so dass das einen Minimalkonsens enthaltende Schlussprotokoll der Armutskommission kein Interesse fand. Erst im Juni 1848 wurde der Faden vom Landes-

246

„Below meint, Peguilhen, der Protokollführer, sei zu sehr Phraseur, und er habe ihn auch in Verdacht, es mit Senfft und Stolberg nicht verderben zu wollen". Brief Brünnecks an Alfred v. Auerswald, 10.1.1847, in: P. Herre, S. 398.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Oeconomie-Collegium unter dem Aspekt der „ländlichen Arbeiterfrage" wieder aufgenommen. Es erging ein Circular an alle Zweigvereine, die ländliche Arbeiterschaft in ihren Eigenarten, Bedürfhissen und mit ihren tatsächlichen Einkommen zu erfassen, um so einen Überblick über das Ausmaß des Problems zu erhalten. 247 Im Ergebnis wurden nicht wirtschaftliche oder politische Gründe für die Entstehung von Armut anerkannt, vielmehr hielt sich die altkonservative Haltung: Ursachen der wiederkehrenden Notstände in Preußen waren demnach mangelnde Volksbildung, Branntweinkonsum und verfrühte unkontrollierte Eheschließungen.248 Bei allen Gegensätzen hinsichtlich der Bekämpfung von Armut gab es mit der Forderung nach einer Landgemeindeordnung einen Bereich, in dem sich die Vorstellungen Lavergnes mit denen der führenden ostpreußischen JunkerLiberalen trafen. Ernst v. Saucken-Tarputschen 249 und Magnus v. Brünneck 2 5 0 hielten die Schaffung einer Kommunalordnung angesichts der nicht einzudämmenden Massenarmut für dringend geboten. Denn „in den bäuerlichen Dörfern und auf den Staatsdomänen waren Not, Armut und Arbeitslosigkeit derartig angewachsen, dass die adligen Besitzungen einen Schutzwall vor den umherziehenden Armen benötigten." 251 Sie zogen deshalb eine rasche Bewältigung des Armutsproblems durch kurzfristig greifende Maßnahmen vor, zu denen neben direkten Zuwendungen auch die Verabschiedung einer Gemeindeordnung gehörte, die allerdings noch keine klaren Konturen gewonnen hatte. 252 Ernst v. Saucken hatte im Januar 1847 mehrere Aufsätze in der Königsberger Hartungschen Zeitung veröffentlicht, in denen er eine Gemeindeordnung forderte, die Armut in der Provinz in drastischen Worten schilderte und die Regierung in Berlin wegen ihrer Untätigkeit in ungewöhnlicher Deutlichkeit kritisierte. Bei seinen liberalen Freunden in der Provinz und in Berlin wurden diese Aufsätze mit Zurückhaltung, zum Teil auch mit Ablehnung aufgenommen, weil

247 248

249

250

Lengerke, S. 9 ff. Lengerke, S. 110. Adam, S. 252 f; Schuppan, S. 58.

Schuppan, S. 58; P. Herre, S. 79: „Die immer sich wiederholende wirtschaftliche Not in den vernachlässigsten altpreußischen Gebieten, die auf dem Landtage von 1845 lebhaft erörtert worden war und gegen die einzuschreiten die Regierung sich endlich aufzuraffen schien, nahm ihn ganz in Anspruch. Während die Freunde dort in Beratungen und Verhandlungen für die Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse tätig waren, suchte er [...] auch in Berlin mit wirksamer Tat zu helfen und zu fordern [...] mit der Hebung der ländlichen Kreditverhältnisse und der landwirtschaftlichen Tätigkeit selbst sowie mit der Ausgestaltung einer an die Landwirtschaft sich anlehnenden Industrie". 252

P. Herre, S. 75.

Adam, S. 254 ff.; P. Herre, S. 399: Brünneck erwähnt in einem Brief vom 10.1.1847, dass Innenminister Bodelschwingh vom König den Auftrag erhalten habe, eine Landgemeindeordnung auszuarbeiten.

. Erfolglose politische Aktivitäten

193

sie fürchteten, der negative Ruf der Provinz in Berlin könne durch solche Attacken nur noch verstärkt werden. Es herrsche hier ohnehin die Ansicht, die Provinz Preußen sei finanziell ein Fass ohne Boden. Eine Zustimmung zu den Forderungen der Kommission wurde deshalb in den liberalen Kreisen schon im Januar 1847 nicht mehr erwartet. Besonders nach der negativen Reaktion auf seinen Fragenkatalog musste Lavergne erkennen, dass seine Vorstellungen nicht mit denen der Mehrheit in der Kommission übereinstimmten. Lavergne musste erkennen, dass er ziemlich isoliert war und versuchte jetz alles, Mehrheiten für liberale und altkonservative Positionen zu verhindern. Deshalb trug er wohl auch Böttichers Verzögerungstaktik mit. Den Vorwurf, er blockiere mit seinem Vorgehen direkte Hilfe, versuchte er durch den Ankauf von Saatgetreide und Saatkartoffeln zur Verteilung an die Kleinbauern zu entkräften. Obwohl er damit gegen eine Anordnung der Regierung in Königsberg verstieß, erhielt er Rückendeckung durch Oberpräsident Bötticher. 253 Im Briefwechsel zweier liberaler Gutsbesitzer wurde Lavergne fortan in einem Atemzug mit dem „unfähigen" Bötticher genannt und dafür mit verantwortlich gemacht, dass die Kommission gegen die aktuelle Not nichts ausgerichtet habe. 254 Mit seinem Taktieren versuchte Lavergne in der Kommission die politischen Forderungen des preußischen Sozialkonservatismus durchzusetzen und sich dabei Böttichers Hilflosigkeit zunutze zu machen. Wie eng die Beziehungen zu Bötticher auf der einen, wie breit die Kluft zu den Junker-Liberalen auf der anderen Seite waren, zeigt die Äußerung des Junkerliberalen Magnus v. Brünneck im Vorfeld des ersten Vereinigten Landtags 1847. Für die Provinz Preußen sei es kein Schaden, dass mit der Einberufung der Provinziallandtage nicht mehr zu rechnen sei, da unter Bötticher ohnehin nichts Positives mehr zu erreichen sei. Viel schwerer wiege dagegen die Vorstellung, Lavergne könnte dem Vereinigten Landtag als Marschall vorstehen: „Denn es wäre doch zu arg, wenn sich die mir in Berlin gewordene Andeutung bestätigen sollte, daß Bötticher einen Menschen wie Lavergne mit zum Marschall oder Stellvertreter vorgeschlagen haben dürfte, obgleich Böttichern alles mögliche zuzutrauen wäre." 255 Seine Befürchtung bewahrheitete sich nicht; Brünneck selbst wurde zum Landtagsmarschall berufen. 256 Lavergne konnte sich letztlich gegen die Opposition aus altkonservativen Beamten und liberalen Gutsbesitzern nicht behaupten.257 Dass er mit der Not253 254 255

256 257

GStaPK, XX. HA, Rep. 2, Oberpräsidium Tit. 40 Nr. 21, Bd. 4, Bl. 91 ff. Geschichte der konstitutionellen Partei, S. 33 ff. Herre, S. 404 f.

Adress-Kalender, S. 9. Beck, Origins, S. 215 ff.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

standskommission nicht an sein Ziel gelangte, dass mit dieser Taktik auch den Opfern und Leidtragenden des Notstands nicht geholfen wurde, brachte ihn aber nicht von seinem einmal eingeschlagenen Weg ab. Beim Vereinigten Landtag 1847 fand er ein neues Forum für seine Forderungen. Rückblickend äußerte sich Moritz v. Lavergne-Peguilhen 1868 in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung zu den Gründen für das Scheitern der Kommission: „In der Provinz ist damals dieser Commission die ihr gebührende Beachtung keineswegs zu Theil geworden. Man argumentirte einfach so: Die agrarischen, die gewerblichen und die socialen Verhältnisse sind überall den Lehren der Wissenschaft entsprechend geordnet; sie haben in der SteinHardenberg'sehen Periode ihre Weihe erhalten; ein Zweifel an der Richtigkeit dieser Lehren ist nicht möglich und event, das Zeichen niederer Geistesbildung." 258 4. Vom Provinziallandtag zum Vereinigten Landtag In der Einleitung zu seinem Antrag zur Gemeindeordnung hatte Lavergne 1841 die Entwicklung der repräsentativen Organe in Preußen richtig eingeschätzt. Trotz aller gegenteiligen Hoffnungen im liberalen Lager optierte Friedrich Wilhelm IV. in seiner Landtags-Proposition lediglich für eine „Weiterentwicklung der Ständeverfassung". 259 Vorberatende Ausschüsse sowie nachbereitende Gremien sollten dem immer wieder beklagten Missstand ein Ende machen, dass nur während der festgesetzten Landtagszeiten beraten werden durfte. 260 Es wurde Periodizität - die Landtage sollten alle zwei Jahre einberufen werden - und der Druck der Plenarprotokolle bewilligt, allerdings nicht zur Veröffentlichung, sondern nur zur Verteilung an die Abgeordneten. 261 Außerdem deutete die Proposition die Schaffung eines Ausschusses an, der bei Bedarf zwischen zwei Landtagen einberufen werden sollte. Dieser Ausschuss sollte Mitglieder aus allen Provinziallandtagen vereinigen und ist als einziges Zugeständnis des Königs an die Forderungen zur Schaffung von Generalständen zu werten. 262 Er wurde im Verlauf des Landtags auch gewählt und trat 1842 erstmals zusammen. Moritz v. Lavergne-Peguilhen erlebte als Mitglied verschiedener Ausschüsse und Sekretär der Provinziallandtage von 1843 in Königsberg und 1845 in Danzig diese Entwicklung direkt mit und blieb dabei nicht ohne Einfluss. Leider

258 259 260 261 262

Lavergne, Nothstand, in: Staatslehre, S. 96f. Neugebauer, Wandel, S. 456. Κ Obenaus, Anfänge, S. 372 f. Neugebauer, Wandel, S. 456. Neugebauer, Wandel, S. 457; H. Obenaus, Immediatkommission, S. 438 f.

III. Erfolglose politische Aktivitäten

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geben die erhaltenen Akten keinen Aufschluss über sein Abstimmungsverhalten; die Anträge und Eingaben Lavergnes spiegeln aber seine Versuche wider, seine sozialen und ökonomischen Hypothesen hier in die praktische Wirksamkeit zu überführen. 1843 formulierte er einen Antrag auf Einführung einer progressiven Einkommenssteuer zur Behebung der sozialen Probleme in den unteren Einkommensklassen. Während dieser Antrag schon im Plenum selbst keine Mehrheit erhielt, kam es nach seinem Vorstoß zur Einrichtung einer Kommission zur Ermittlung der Ursachen der wachsenden Armut in der Provinz Preußen zur oben beschriebenen Entwicklung. Die Provinziallandtage 1843 und 1845 waren geprägt von weiteren Vorstößen wechselnder Mehrheiten für die Ausweitung der Partizipationsmöglichkeiten, die Verabschiedung einer Konstitution sowie der Schaffung von Öffentlichkeit für die Verhandlungen und die Beschlüsse des Landtages.263 In Danzig hatten die Liberalen sogar auf die Forderung nach einer Konstitution für ganz Preußen verzichtet, um wenigstens ihre Vorstellungen von Repräsentation durchzusetzen. Die Ständemehrheit beschränkten sich 1845 auf die Forderung nach mehr Partizipation für die Städte und Landgemeinden, eine Gemeindeordnung, Pressefreiheit, Öffentlichkeit der Stadtverordnetenversammlungen, und die Vorlage der Regierungspetitionen. Ohne Erfolg: Im königlichen Landtagsabschied vom 27.12.1845 wurde die kleine Gruppe Konservativer, die sich die sich gegen die Vorlage der Petitionen im Plenum ausgesprochen hatte, ausdrücklich gelobt. 264 So erging es allen Voten und Petitionen mit Bezug auf die Veränderung der Ständeverfassung in den Landtagsabschieden 1843 und 1845. Diese Reaktion Friedrich Wilhelms IV. löste in der preußischen Öffentlichkeit eine gewisse Enttäuschung aus. Das in liberalen Kreisen erhoffte Zusammentreten aller acht Provinziallandtage und die Entstehung einer „reichsständischen Verfassung" rückten so in immer weitere Ferne. 265 Als am 3. Februar 1847 das Patent zur Einberufung des ersten Vereinigten Landtags für ganz Preußen 266 erging, drängte diese lange diskutierte Wendung in der Politik Friedrich Wilhelms IV. alle anderen Themen in den Hintergrund. Auch hinsichtlich der Beendigung des Notstandes hoffte man jetzt auf die erste Sitzung der Mitglieder aller acht Provinziallandtage, zumal sich 1847 als das schlimmste Krisenjahr hinsichtlich der Massenarmut in Preußen ankündigte. 267 War das vorangegangene Jahr im Hinblick auf Hunger, Preisanstieg und Nah-

263 WAPO, Achter Provinzial-Landtag 1843; Gutachten und Petitionen, 1844; Neugebauer,, Wandel, S. 463 ff. 264

265 266 267

P. Herre, S. 78.

Neugebauer, Wandel, S. 475. Einberufungspatent bei Bleich., S. 3-20; vgl. Wehler, Bd. 2, S. 677; Mieck, S. 222. Besonders drastisch Schubert, S. 251.

196

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

rungskrise wegen der Kartoffelkrankheit besonders für die Ostprovinzen bereits katastrophal verlaufen, erreichten jetzt die Lebensmittelpreise und das Massenelend ihren Höchststand; über die Hälfte der Bevölkerung vegetierte unterhalb der Hungergrenze. 268 Stellenweise regten sich erste Proteste. 269 Proletarisierung und Pauperisierung bedrängten und betrafen auch immer breitere Gesellschaftsschichten. 270 Chaussee- und Eisenbahnbau wurden als willkommene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für tausende Arbeiter genutzt. Erst mit diesen infrastrukturellen Großmaßnahmen war der Industrialisierungsschub in Preußen möglich, der den verarmten unterbäuerlichen Schichten und unterbeschäftigten Handwerkern neue Arbeitsmöglichkeiten brachte. Wegen der fehlenden verkehrstechnischen und industriellen Infrastruktur dauerte es allerdings noch bis weit nach der Jahrhundertmitte, bis der „big push'4 über eine verbesserte verkehrstechnische Anbindung auch die Ostprovinzen erreichte. 271 Die dafür vorgesehene Eisenbahnverbindung von Berlin nach Königsberg, die sogenannte Ostbahn, war auf privatem Wege bei veranschlagten Kosten von 36 Millionen Talern nicht zu finanzieren, da keine potenten Geldgeber für eine Strecke durch einen armen, im Vergleich zum Westen fast unbewohnten Landstrich zu finden waren. 272 Die eigens für den Bau gegründete Aktiengesellschaft machte bankrott, so dass der preußische Staat sich 1844 den Bau der Ostbahn auch aus strategischen Gründen zur eigenen Aufgabe machte. Die Kosten sollten über eine Staatsanleihe aufgebracht werden; nach dem Staatsschuldengesetz von 1820 mussten aber die Stände einer Anleihe zustimmen. 273 Als die 613 Mitglieder des Vereinigten Landtags am 11. April 1847 in Berlin zusammentraten, war einer der wichtigsten Verhandlungspunkte die Zustimmung zur Ostbahnanleihe. Die große Frage war damit, ob dafür eine Mehrheit ohne ein Einlenken des Staates bei der Forderung der liberalen Mehrheit nach verfassungsmäßiger Verankerung einer periodisch zusammentretenden gewählten Volksvertretung zu erhalten war. 2 7 4 Die Mitglieder der drei Stände- und der Herrenkurie 275 fanden sich zum großen Teil schon Tage vor der ersten Sitzung, bei der die königlichen Propositio-

268

Mieck, S. 213 f; zur Armutsentwicklung in den 40er-Jahren vgl. Tilly, S. 7; Abel, S. 12 ff.; Riehl, Vierter Stand, S. 42 f. 269

270 271 272 273

Gallus, S. 304 ff. Mieck, S. 214 f. Mieck, S. 218, Tilly, Zollverein, S. 28, Wehler, Bd. 2, S. 613 ff. Mieck, S. 222; Belke, Belke, S. 132. Belke, S. 133; Tilly, Zollverein, S. 28 f.; ausführlich Born, S. 891 ff.

Zollverein,

274 Zur Vorgeschichte bes. Η Obenaus, Parlamentarismus, S. 649 ff.; Herre, S. 401 f.; zu Ablauf, Formalien und Zusammensetzung Eickenboom; Neugebauer, .Wandel, S. 479 f. 275 H. Obenaus, Parlamentarismus, S. 705, spricht von 611 Abgeordneten, Woeniger, 1. Teil, zählt 70 Sitze in der Herrenkurie und 537 für die Kurie der drei Stände, also 607.

. Erfolglose politische Aktivitäten

197

nen verlesen wurden, in Berlin ein. Zur inhaltlichen und praktischen Vorbereitung der bevorstehenden Verhandlungen kamen die in „rheinische" und „altpreußische" Positionen gespaltenen Liberalen 276 und die ebenso in durch unterschiedliche Auffassungen kaum zu einigenden Konservativen in verschiedenen Berliner Hotels oder Abgeordnetenwohnungen zusammen. 277 Für die Ergebnisse des Landtags erwies sich die fortgeschrittenere Organisation der Liberalen schließlich als entscheidend, da die Konservativen sich zu keiner einheitlichen Gangart durchringen konnten. Dabei hätten eine straffere Organisation und eine klar abgegrenzte „handlich gemachte, wirklich konservative Doctrin" 2 7 8 eine konservative Mehrheit möglich gemacht. 279 Ein Zeitgenosse: „Die Conservativen dagegen waren ohne Halt und Einheit, und glichen einer schüchternen und furchtsamen Heerde, in welche der Wolf gefahren ist, um sie zu vernichten. Sie hatten keine Wissenschaft von einander, und es ist bekannt, daß viele treue Anhänger der Regierung ihre einzelnen bedeutenden politischen Freunde, wie die Herren v. Manteuffel und v. Bismarck, auch gegenwärtig nicht einmal zu beschreiben im Stande sind." 280 So kam es zu einer aus Liberalen und Teilen der Konservativen zusammengesetzten Mehrheit, die die Hauptpunkte des Landtags, die Ostbahn vorläge und die Einkommensteuer, abschmetterte und den Graben zwischen Repräsentation und Monarch vertiefte. Über Lavergnes Anteil an dieser Entwicklung existieren nur wenige Hinweise. An den vorbereitenden Sitzungen der Parteien hat er wohl nicht teilgenommen, denn die Brüder Moritz und Alexander mieteten sich gemeinsam für die Dauer des Landtags vom 11. April bis zum 26. Juni in der Französische Straße 25 in der Nähe des Königlichen Schlosses ein, in dessen Weißem Saal die Deputierten zusammenkamen. So waren sie in zehn Minuten zu Fuß im Sitzungssaal. 281 Obwohl Moritz v. Lavergne-Peguilhen als Ausschussmitglied Entschließungen über an den Landtag gerichtete Petitionen vorbereitete und in zwei den Abschluss der bäuerlichen Separationen betreffenden Fragen als Referent der sechsten Abteilung fungierte 282 , existiert im Zusammenhang mit die-

276

277

H Obenaus, Parlamentarismus, S. 684; P. Herre, S. 83.

H Obenaus, Anfänge, S. 705. V.A. Huber, Conservative Sache, S. 473 f. 279 H. Obenaus, Anfänge, S. 705, zitiert den konservativen Regierungsassessor Wülffing, der von einem jeweils 150 Abgeordneten starken rechten und linken Flügel sowie einem unentschiedenen Zentrum von 300 Abgeordneten spricht; Schwentker, S. 54. 278

280

281

Wülffing,

S. 11.

Adress-Kalender, S. 10; Verzeichniß, S. 4. In dieser Straße waren die Brüder Lavergne im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Stadt. Hier und in den umliegenden Straßen luden Berliner Bekanntheiten zu regelmäßigen Salons ein, vgl. Wilhelmy, S. 963 f. 282 Woeniger, 5. Teil, S. 198, 202, 209.

198

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

sem Ereignis keinerlei politisches Bekenntnis. Schon in der Agenda der Abgeordneten blieb sein Blatt leer, während sein Bruder Alexander als Motto „Conservativ durch zeitgemäße Reformen" niederschrieb. 283 Im Unterschied zu seinem Bruder, der überdies einen Antrag zur Förderung der Fabrikation in den östlichen Provinzen des Staates einreichte 284, ist für Moritz noch nicht einmal zu klären, ob er überhaupt an einer Abstimmung teilgenommen hat. Von Moritz v. Lavergne selbst sind keine Hinweise zur Erläuterung oder Rechtfertigung seines Verhaltens beim Vereinigten Landtag erhalten. Die Sekundärliteratur schließlich trägt zu weiterer Verwirrung bei, wenn dort vom frühzeitigen „Ausscheiden" des Heilsberger Bürgermeisters Marx und des Rößeler Landrats Moritz v. Lavergne-Peguilhen die Rede ist, 285 die angegebenen Vertreter aber in keiner Abstimmungsliste auftauchen. So wäre auch denkbar, dass die beiden Vertreter des Heilsberger Wahlkreises aus unbekannten Gründen vorzeitig den Vereinigten Landtag verließen und bei den Abstimmungen tatsächlich abwesend waren. In der insgesamt genauesten Untersuchung des Abstimmungsverhaltens ist kein einziges Votum Moritz v. LavergnePeguilhens verzeichnet. 286 Träfe dies zu, wäre auch das einzige bei Bleich und B.M. Rosenberg erwähnte Votum Lavergnes als Irrtum einzustufen, wonach Lavergne bei der Frage „Soll die Ausübung der ständischen Rechte an keinerlei religiöse Glaubensbekenntnisse gebunden werden?" mit nein gestimmt haben soll. 287 Das entspräche immerhin seiner von den gängigen Vorurteilen geprägten ablehnenden Haltung dem Judentum gegenüber, wie sie in Ausdrücken wie „der wucherische Jude" 288 oder der Beschreibung der Juden als ausschließlich auf den Gelderwerb konzentriert 289 , zum Tragen kommen. Dass Lavergne durchaus als Antisemit zu bezeichnen ist, belegt auch ein Vorgang aus Wirsitz. 1858 belobigte er den Bürgermeister von Lobsens für seine konsequente Haltung, den Forderungen des „reichen Judenthums" entschieden entgegengetreten sei und schlug ihn zur Verleihung des Roten Adlerordens vierter Klasse vor. 290 So könnte auch dieses Verhalten als politische Aussage interpretiert werden, allerdings als Votum für den Wahlkreis Heilsberg, da auch der andere Depu-

283

Stülpnagel, ohne Seitenangabe; Β. M Rosenberg, Vertretung, S. 38. B. M. Rosenberg, Vertretung, S. 38. Β. M Rosenberg, Beiträge, S. 246. 286 Beiträge zur Charakteristik, Anhang, lfde. Nr. 34. 287 B. M. Rosenberg, Vertretung, S. 49, 51 ; Bleich, S. 991. 288 Lavergne, Liberalismus, S. 42. 289 Lavergne, Grundzüge Π, S. 54. 290 WAPB, Präsidial-Registratur, I 592 (unpaginiert): eine solche Haltung sei bei der Beamtenschaft der kleinen Gemeinden in der Provinz Posen die Ausnahme. 284 285

IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz

199

tierte dieses Kreises sich so verhielt. Fehlen bei den Abstimmungen war nämlich die einzige Möglichkeit, sich der Stimme zu enthalten, weil Enthaltungen in der Geschäftsordnung des Landtags nicht vorgesehen waren. 291 Es kann bis hierher nur als gesichert gelten, dass Moritz v. LavergnePeguilhen bis zum 19. Mai 1847 beim Vereinigten Landtag anwesend war, weil er bis zu diesem Datum an der Ausschussarbeit teilnahm. 292 Deshalb muss es Spekulation bleiben, ob möglicherweise die Unentschiedenheit im Lager der Konservativen ein Grund für Lavergnes Verweigerungshaltung bei den Abstimmungen war. Eine andere Möglichkeit wäre die Ablehnung der Begleitumstände der Berliner Zusammenkunft und die Tatsache, dass diese Ständeversammlung durch das Steuer- und Anleihebewilligungsrecht erstmals keine rein beratende Funktion mehr hatte. Und gerade im Vorfeld des Vereinigten Landtags hatte sich Lavergne für die bloß beratende Kompetenz rein ständisch komponierter Versammlungen ausgesprochen. Damit kann das Beispiel Lavergne als ein weiterer Beleg für den Befund gelten, dass „die Konservativen in Preußen am Vorabend der Revolution im Grunde das Bild einer in sich zerstrittenen, elitären und institutionell freischwebenden Clique mit anscheinend hoffnungslos obsolet gewordenen Wertvorstellungen" boten. 293

IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz Mit der im Frühjahr 1841 erschienenen Schrift „Die Landgemeinde in Preußen" lieferte Moritz v. Lavergne-Peguilhen mit seinen Forderungen zur Reform der Gemeindeverfassung nicht nur einen Beitrag zu der das ganze 19. Jahrhundert über geführten Diskussion um die Stellung der Gemeinde im Staatswesen; 294 sie bildete gemeinsam mit den „Grundzügen" den theoretischen Überbau für seine zukünftige Sacharbeit im Landtag der Provinz Preußen. Die Landgemeindeordnung stand auf Lavergnes politischer Prioritätenliste ganz vorne. Die liberalen Forderungen nach Konstitution und Pressefreiheit sowie das konservative Beharren auf den alten „feudalen Institutionen" hatten nach Lavergnes Auffassung zumindest so lange in den Hintergrund zu treten, bis das vordringliche Problem der staatsrechtlichen Stellung der Landgemeinden und damit die Stellung ihrer Bewohner gegenüber dem Staat gelöst wäre: „Deshalb werden weder Konstitutionen noch Preßzwang, weder Oeffentlichkeit

291 292 293

294

B. M. Rosenberg, Vertretung, S. 50. Ständische Gesetzgebung, S. 990 f., 1021 ; Woeniger, 5. Teil, S. 198,202. Schwentker, S. 55 f.

Zu diesem „Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts" Koch, S. 73 ff.

200

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

noch Herstellung feudaler Institutionen, und wie die Losungsworte der Parteien heißen mögen, irgend ein Heil gewähren, so lange die niederen Regionen des gesellschaftlichen Lebens noch ungeordnet sind, so lange das Fundament der Gesellschaft, d. i. ein wohlhabender, selbstständiger und gesitteter Stand der Landgemeinden fehlt." 295 Wie konnte ein auf den ersten Blick nachrangiges Verwaltungsproblem für Lavergne eine so große verfassungspolitische und geradezu staatstragende Bedeutung erlangen? 1. Das Problem der preußischen Landgemeindeordnung Im Rahmen der preußischen Reformpolitik hatte Staatsminister v. Hardenberg 1821 einen Entwurf zur Reform der Landgemeindeordnung eingebracht, der „die gutsherrliche Obrigkeit über die Bauerndörfer des Ostens beseitigen und so aus der wirtschaftlichen Bauernbefreiung, die jetzt im Gange war, die politische Konsequenz ziehen" sollte. 296 Die Herrschaft des Adels in den Kreistagen sollte außerdem durch die Abschaffung der Virilstimmen der Rittergutsbesitzer ein Ende finden. Die Bewohner der Bauerndörfer sollten ihre Schulzen frei wählen dürfen, während die Gutsherren außer der Leitung ihrer Gutsbezirke vorerst noch Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt behalten sollten. 297 Nach dem Scheitern des Hardenbergschen Gemeindeordnungsentwurfs am Widerstand des Landadels298 stellte sich das Problem der Landgemeindeordnung neu: Für die Gemeinden in den ostelbischen Gebieten galten die Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts (ALR). 2 9 9 Danach war die dörfliche Gemeinde nichts anderes als eine autonome „öffentliche Korporation" der landwirtschaftlichen Grundstücksbesitzer. Diese Realgemeinde schloss die unterbäuerlichen Schichten aus und stand unter der Aufsicht des Gutsherrn. Der ernannte Schulzen und Schöffen, die zusammen das Ortsgericht stellten, und hatte in vielen Fällen deren Beschlüsse zu genehmigen.300 Dadurch hatte der Schulze gleichzeitig die Interessen der Gemeindemitglieder und der Obrigkeit zu vertreten, aber keinerlei politische Funktion. 301 Diese untergeordnete Stellung wurde in der Praxis häufig kritisiert. Das Amt mit seinen lediglich ausführenden Funktionen werde meist nur als Last empfunden. 302 Die alleinige Gel295 296 297

298

Lavergne, Landgemeinde, S. 131. Heffter, Heffter,

S. 129. S. 130.

Η Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 313. ALR, II 7 § 18 ff.; Η Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 313; Harnisch, S. 311 f. ALR 117 § 46 f; § 79 ff. 301 Stier-Somlo, S. 406 f; v. d. Groeben, Ostpreußen, S. 147 ff. 302 Jordan, S. 56 f. fasst in diesem Sinne Stimmen aus Preußen und Posen zusammen (Siehr, v. Auerswald, Lavergne sowie den Präsidenten der Posener Generalkommission, Klebs). 299

300

IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz

201

tung des A L R schuf aber Probleme. So war hier nicht geregelt, wer Gemeindebürger sein durfte, wer für welche Beschlussformen stimmberechtigt sein sollte. Diese Fragen der Repräsentation waren ebenso ungelöst wie die der Kontrollinstanz für den Schulzen. 303 Bei der Neuvermessung der Gemeindebezirke im Zuge der Agrarreformen sollte deshalb auch eine Gemeindeordnung für Preußen erarbeitet werden 304 , die den neuentstandenen Besitzverhältnissen Rechnung tragen und die Gutsbezirke den neuen Gemeindebezirken einverleiben oder wenigstens gleichberechtigt gegenüberstellen sollte. Außerdem wollte man in der Rechtsprechung die Abhängigkeit von den Gutsbesitzern beenden.305 Dazu wurden zwischen 1815 und 1820 vergeblich mehrere Entwürfe in Umlauf gebracht, die Verwirklichung dieses Plans zunächst auf einen Zeitpunkt nach dem Erlass von Provinzial- und Kreisordnungen, schließlich bis nach der Beendigung der Regulierungen aufgeschoben. 306 Der durch den Provinziallandtag von 1831 initiierte Versuch, den liberalen Marienwerderer Regierungspräsidenten Justus v. Nordenflycht mit der Ausarbeitung einer Landgemeindeordnung zu beauftragen, schlug ebenso fehl wie der von 1835, als der Oberpräsident der Regierung in Königsberg, Theodor v. Schön, einen weiteren noch moderateren Vorstoß wagte. Sie scheiterten jeweils am Widerstand konservativer Kräfte wie etwa dem einflussreichen Grafen Dohna-Wundlacken oder Innenminister v. Rochow. 307 Gleichzeitig war die Reform der Gemeindeordnung Gegenstand der staatstheoretischen Diskussion noch weit über den Vormärz hinaus. In der Mitte des Jahrhunderts erreichte sie mit der Frage ihren Höhepunkt, ob die Gemeinde oder die Nation als „eigentliches Leitmotiv" der Politik zu gelten habe. 308 Liberale und demokratische Theoretiker beharrten auf der Rolle und Bedeutung der Gemeinde als „Pflanzschulen des Republikanismus". 309 Auf der anderen Seite ging es den Konservativen um die Erhaltung von überkommenen kommunalen Rechten und Freiheiten sowie der politischen Teilhabe des Individuums, die in der Anonymität eines zentralisierten Nationalstaatsgefüges nicht mehr zu bewahren wären. 310

303 304

305 306

307 308

H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 314. Schwab, S. 11 f. Stier-Somlo, S. 407; Jordan, S. 31. Berdahl, S. 301 f.

H. Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, S. 313 f. Koch, S. 78.

309 Z. B. Lette, Gemeinde; Zitat von Julius Fröbel bei Koch, Staat oder Gemeinde, S. 88. Die Grundlagen für diese Auffassung im liberalen Lager hat laut Koch Rotteck geschaffen. 310 Konservatives Beispiel: Haxthausen, Verfassung.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Unter sozialhistorischen Aspekten hatte die ausstehende rechtlich bindende Regelung der Besitzverhältnisse auf dem Lande nicht zu übersehende Auswirkungen. So hatten sich Missstände manifestiert, die ausgehend von der Verwaltung die soziale und ökonomische Stellung der Gutsbesitzer so weit ausgedehnt hatten, dass die Agrarreformen nur diesen zugute gekommen waren, während die Bauern durch ihre Wettbewerbsnachteile immer öfter in Eigentumslosigkeit und Armut abglitten. 311 Gleichzeitig fand die vorher bereits eigentumslose Schicht der freigesetzten ländlichen Arbeitskräfte unter anderem auch deshalb keine Beschäftigung 312 , weil die Gutsbesitzer ihre Stellung schon vor der Reformära dazu genutzt hatten, die Ansiedlung von protoindustriellem Gewerbe auf dem Land zu verhindern. 313 2. Die „Landgemeinde" als Beitrag zum Verfassungsdiskurs Über die Situation in den überwiegend ländlichen Regionen der Provinz Preußen herrschte Anfang der 40er-Jahre in allen politischen Lagern Unzufriedenheit. Während die liberalen und demokratischen Kräfte in einer Konstitution für den Gesamtstaat und der Schaffung demokratischer Repräsentativorgane auf Kommunal-, Kreis-; Provinzial- und Gesamtstaatsebene sowie einer Professionalisierung der Verwaltung die Lösung der vielfältigen Probleme sahen, ging es den Konservativen in erster Linie um die Erhaltung der dominierenden Rolle des adligen Grundbesitzes. Das war zwar auch eines der Anliegen, das Moritz v. Lavergne-Peguilhen in seiner Schrift zur Landgemeindeordnung verfolgte. Aber viel wichtiger war ihm die Aufwertung der Rolle der Landgemeinden im Staat. Was er in der Einleitung ganz harmlos als „Ergänzungsmaaßregeln" zu den Reformgesetzen Steins und Hardenbergs umschrieb, entpuppte sich als ein umfangreicher Forderungskatalog zur Einführung einer Landgemeindeordnung in Preußen. Dieses Vorhaben sei in der Nachreformzeit mit der Abkehr von den Stein-Hardenbergschen Reformansätzen bedauerlicherweise nicht weiterverfolgt worden und müsse nun dringend unter anderen Vorzeichen wieder aufgenommen werden, meinte Lavergne. 314 Der 130 Seiten umfassende Band ist deshalb mit seinen Vorschlägen zur Reform der Gemeindeverfassung Lavergnes Beitrag zum Diskurs um die Stellung der Gemeinde im preußischen Staat. Zusammen mit den zwei erschienenen Bänden der „Grundzüge" bildete er die theoretische Grundlage für Lavergnes Engagement im Landtag der Provinz Preußen und für seine Arbeit als Landrat.

311 312

313 314

Tilly , Zollverein, S. 37; Schissler, Agrargesellschaft, S. 167. R. Stein, S. 452.

Schissler, Agrargesellschaft, S. 163. Lavergne, Landgemeinde, S. 130.

IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz

203

Die wichtigsten Elemente der kommunalen Selbstverwaltung nach Lavergnes Verständnis waren neben der Autonomie der Gemeinden bei der Administration durch eigene Kontrollorgane (a) die demokratische Repräsentation der Eigentümer und die eigene Gerichtsbarkeit durch die Schaffung eines Friedensrichteramts (b). Grundlage für diese „Gemeindeverfassung" war für Lavergne die Sicherung des Grundeigentums durch seine Unveräußerlichkeit (c) und die Sicherung eines Bildungsniveaus der Landbevölkerung, das sie zur aktiven Teilnahme an den Kommunalangelegenheiten befähigen sollte (d). a) Selbstverwaltung

und Selbstkontrolle

Zunächst setzte er sich in der „Landgemeinde" mit den Intentionen und Wirkungen der Agrarreformen auseinander. Die Ziele der Reformer seien neben einem freien Bauernstand, der sich eigenverantwortlich an der Selbstverwaltung seines Landes beteilige, eine Landwirtschaft auf wissenschaftlichem Fundament gewesen, die in der Lage sein sollte, sich selbst und die Bevölkerung des Landes ausreichend zu ernähren. Die Landwirtschaft sollte außerdem das mehr Wohlstand versprechende Geld Wirtschaftssystem 315 übernehmen. Die Realität sehe dreißig Jahre später aber immer noch anders aus. Statt der Koexistenz zahlreicher gleichberechtigt neben den Gutsbesitzern wirtschaftender „Rustikaleigenthümer", sorge „zügellose Konkurrenz" zwischen beiden Gruppen dafür, dass Gutsbesitzer den Bauern ihr erst jüngst erworbenes Eigentum wieder entreißen könnten 316 . Das sei dem Umstand zu verdanken, dass die Ablösung der Reallasten, die 1821 auf das 25-fache der jährlichen Lasten festgelegt worden war, für viele Bauern das existenzielle Aus bedeutet habe.317 In diesem ungleichen Kampf hätten die Gutsbesitzer einen doppelten Vorteil: Zum einen sorge die Preußische Landschaft als Kreditinstitut für finanziellen Rückhalt des Großgrundbesitzes 318, zum anderen führe bessere Bildung und Ausbildung 319 zu höheren Erträgen. Dagegen konnten in extremen Fällen bei den Bauern, die weder Kreditgeber noch eine gute landwirtschaftliche Ausbildung 315 Dieses „allein bietet die Möglichkeit dar, die großen Hülfsmittel der Arbeitstheilung, der Arbeitsvereinigung und der Konkurrenz in vollem Umfange zur Anwendung zu bringen, dadurch die nationale Gütererzeugung und den Wohlstand der Völker zur höchsten Stufe zu erheben." Lavergne, Landgemeinde, S. 7. 316 Lavergne, Landgemeinde, S. 23: Die „Vermögenskatastrophe" habe bei den alten Gutsbesitzer-Familien dafür gesorgt, dass die Zentralisation noch nicht weiter fortgeschritten sei und nur in Ausnahmefällen Gutsbesitzer in der Lage gewesen wären, Bauern wirtschaften auf diese Weise zu erwerben. 317

318

Vgl. Boockmann, S. 340.

„Die dem landschaftlichen Verbände angehörigen Gutsbesitzer können also den Morgen Landes noch einmal so theuer bezahlen, als die von allen Kreditinstituten ausgeschlossenen Rustikalbesitzer." Lavergne, Landgemeinde, S. 22. 319 Lavergne, Landgemeinde, S. 21 u. 76.

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hatten, Schulden in Höhe von zehn bis zwanzig Talern zur Subhastation des bäuerlichen Eigentums ausreichen. 320 Lavergnes Fazit: „So erscheint denn die Wirkung der preußischen Agrargesetzgebung zur Zeit noch nach allen Richtungen hin als eine verfehlte." 321 Die Folgen waren für ihn in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Preußen spürbar; die Gärungsprozesse hätten so weit geführt, dass die Verteilungskämpfe der vergangenen Jahre Armut und Hoffnungslosigkeit in weite Kreise der Bevölkerung getragen hätten. „Denn wahrlich, der Zustand der Gesellschaft fordert zu den ernstesten Betrachtungen auf. Ein gräuelvolles Ereigniß, wie die Geschichte kaum ein Aehnliches aufweiset, hat erst kürzlich Entsetzen und Abscheu in allen Gemüthern verbreitet. Möge dasselbe wenigstens eine Mahnung zu ernsteren Schritten sein." 322 Die Schuldigen für diesen alarmierenden Zustand fand Lavergne in den Reihen der „Schule", also unter den Vertretern des ökonomischen Liberalismus, die die gesamte wirtschaftliche Entwicklung den Regelungsmechanismen des Marktes überlassen wollten. 323 Sie hätten verhindert, dass die vielfältigen Reformen der gesamteuropäischen „Übergangsperiode" der vergangenen fünfzig Jahre seit der französischen Revolution positiv auf die Entwicklung der Gesellschaften wirken konnten: „Nie ist der gesellschaftliche Fortbildungsprozeß mit größerer Lebhaftigkeit und Energie betrieben worden, als in unserer Zeit. Nie aber sind auch Zerrissenheit und krampfhafte Zuckungen in allen Teilen des Gesellschaftsorganismus augenscheinlicher hervorgetreten." Der Grund: Reformen und Veränderungen seien nur vereinzelt und unkoordiniert zum Tragen gekommen. Ihre Wirkung sei dadurch in vielen Fällen destruktiv gewesen.324

320

Lavergne, Landgemeinde S. 39. Der Terminus „Subhastation" bedeutet Zwangsverkauf; H. Obenaus, Anfänge, S. 465, sieht dieselben Zusammenhänge. 321 Lavergne, Landgemeinde, S. 30. 322 Lavergne, Landgemeinde S. 131. Es wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, welches Ereignis das „gräuelvolle" war. Vermutlich spricht er von der Juli-Revolution 1830 in Frankreich, möglich ist aber auch, dass die französische Revolution von 1789 gemeint ist, die auch in den „Grundzügen" immer als typisches Ende einer alarmierenden Entwicklung genannt ist. 323 Lavergne, Landgemeinde, S. 24, spricht vom „theoretischen Schwindelgeist" der „neueren Schule"; auch die Tatsache, dass die selbständig gewordenen Bauern keinen Kredit erhalten, ist nach Lavergne auf die "irrigen Lehren der Schule" zurückzuführen, Lavergne, Landgemeinde S. 39. „Man lasse vor Allem sich nicht ferner durch die ihrer Wirkung nach fluchwürdigen Lehren der Schule von ernsten Schritten zurückhalten, die in ihrer Verblendung nicht aufhört zu predigen, daß Alles sich von selbst am besten macht. Dieser politische Fatalismus ist eben so verderblich, wie der religiöse; er verhält sich in seinen Wirkungen, wie die Weisheit Mahomeds zur reinen Christuslehre," Lavergne, Landgemeinde, S. 47. 32 Lavergne, Landgemeinde, S. 3.

IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz

205

Ob damit die „großen Gesichtspunkte so tief eingreifender Reformen wirklich erreicht worden sind4', erschien ihm „auch in wissenschaftlicher Beziehung von höchstem Interesse 44.325 b) Kommunale

Demokratie

Die völlig anderen Interessenkonstellationen, die durch die Befreiung der Bauern aus der materiellen und rechtlichen Bindung an die Gutsbesitzer entstanden seien, müsste der Staat nun mit Hilfe einer neuen Landgemeindeordnung so regeln, dass zwischen Bauern und Gutsbesitzern Chancengleichheit entstehe und die Reformen in positiver Weise greifen könnten 326 . Mit einem Prinzip, das man „Selbstverwaltung bei gleichzeitiger Selbstkontrolle 4' nennen könnte, glaubte Lavergne, die Gemeinde als Fundament der Gesellschaft und des Gesamtstaates in wirtschaftlichem, politischem und kulturellen Sinn festigen zu können. In der neuen Gemeindeordnung sollte die Gemeinde nach den Vorstellungen Lavergnes eine „demokratische Korporation" sein. Während er Demokratie für die Regierung des Gesamtstaates als Regiment des Chaos ansah, befürwortete Lavergne im kommunalen Bereich demokratische Spielregeln: ein nach Besitz abgestuftes allgemeines männliches Wahlrecht sowie das Handeln nach Mehrheitsentscheidungen in den Gemeinderäten. Der Gemeinderat war in diesem Modell die gesetzgebende Gewalt, in dem die gespannhaltenden Grundbesitzer mit Virilstimmen, die übrigen Bewohner gemäß ihrem Bevölkerungsanteil mit Kollektivstimmen vertreten sein sollten. 327 Die Exekutive vertraten Dorfschulzen und Schoppen. Sie sollten als Gemeindevorstand, aber auch als Polizeibehörde und Dorfgericht fungieren. Nach ihrer Wahl sollten sie vom Landrat bestätigt werden. Der Grundherr, dem diese Bestätigung bisher oblag, stand dies bei selbständigen Landgemeinden nicht mehr zu; das wäre, so Lavergne, eine „Anomalie". 328 Mit der Entstehung solcher Dorfgerichte wollte Lavergne nach außen hin die Patrimonialgerichtsbarkeit in den Ostprovinzen beenden. Die Rechtsprechung in Bagatellsachen und die Ausübung der Polizeigewalt durch Angehörige des

325

Lavergne, Landgemeinde, S. 4. Lavergne, Landgemeinde, S. 14 f. entzieht sich hier möglicher Kritik aus Adelskreisen, indem er es der „neuen Generation von Gutsbesitzern aus allen Ständen der Nation'4 anlastet, sich nicht an die sittlichen Gebote des Adelsstandes gebunden zu fühlen, „als sie in der Regel ausschließlich den Gelderwerb im Auge hatten". Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen; allein 1824 wurden rund zwei Fünftel aller Güter, die durch Kredite der Landschaft gestützt wurden, zwangsverkauft. Der Trend setzte sich bis 1834 fast ungebrochen fort, Boockmann, S. 340 f. 327 Lavergne, Landgemeinde, S. 103. 328 Lavergne, Landgemeinde, S. 104. 326

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Großgrundbesitzes bliebe jedoch weitgehend erhalten, denn die Funktionsträger von Judikative und Exekutive rekrutierten sich weiterhin hauptsächlich aus dem Personenkreis der Rittergutsbesitzer. Allerdings konnte er die Ausdünnung des Adels in diesen Positionen nicht verhindern, weil Rittergüter seit den 20er Jahren von allen preußischen Bürgern jeglicher Profession erworben werden konnten. 329 Damit hatte Lavergne ein Problem, fürchtete er doch, dass den zugezogenen neuen Eigentümern der beim Adel durch lange Tradition vorhandene sittliche Hintergrund für die hohe Verantwortung als Gutsbesitzer fehlte. Deshalb kam Lavergne auf die Idee eines „geläuterten" Bauern- und Grundbesitzer standes.330 Er hoffte wohl, dass sich weniger städtisches Bürgertum auf den Kauf von ländlichen Immobilien einlassen würde, wenn deren Besitz mit der Verpflichtung zu Naturaldiensten gegenüber dem Staat verbunden würde. Damit war keine Rückkehr zum Feudalismus gemeint, sondern vielmehr der Gedanke, den Gutsbesitzern Aufgaben im Staat zu übertragen, die sie unentgeltlich leisten sollten. Sie sollten sich nicht als „dienende Werkzeuge" verstehen, „sondern durch selbstständige freie Theilnahme am Staatsleben" ihren Teil beitragen. 331 Der von Lavergne vorgeschlagene hierarchische Aufbau von Verwaltung und Regierungs-Institutionen ließ die politische Mitwirkung des einzelnen lediglich auf kommunaler Ebene zu, gewährleistete aber, wie er glaubte, gleichzeitig ein gegenseitiges „Durchdringen" in allen „Regionen des Gesellschaftslebens". Diese Form der Selbstverwaltung war für ihn die richtige Antwort des Staats auf die Herausforderung der Geldwirtschaftsform zur Schaffung „wahrer und dauernder Freiheit". 332 Der Übergang zum „System der Selbstregierung" entlaste außerdem den „Staatsorganismus", kündigte Lavergne an, so dass der Staat „in seiner ganzen majestätischen Größe über der Nation" stehen könne. In diesem System herrsche der Monarch nicht über ein Volk von Individuen, sondern über die Gemeinden.333 Wäre eine Gemeinde für die Bewältigung all der ihr zugedachten Aufgaben in Selbstverwaltung zu klein, sollten „Gesammtgemeinden" mit 4.000 bis 5.000 Einwohnern gebildet werden. Diese Gebilde, meinte Lavergne, könnten als Zwischeninstanzen auch den Landrat von einem Teil seiner Aufgaben entlasten. Die stimmfähigen Gemeindeglieder wählten einen ehrenamtlichen und 329 Lavergne, Landgemeinde, S. 110; dazu gehört für Lavergne auch der Umstand, dass durch die Käuflichkeit der Güter die sittliche Qualifikation der Gutsbesitzer nicht mehr gewährleistet sei. Außerdem würde im Bereich der Zuständigkeit der Patrimonialgerichte kaum gestraft, weil die Kosten der Anzeige zulasten der anzeigenden Gutsbesitzer gingen. 330 Lavergne, Landgemeinde, S. 116. 331 Lavergne, Landgemeinde, S. 116. 332 Lavergne, Landgemeinde, S. 106 und 128. 333 Lavergne, Landgemeinde, S. 129.

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vom Staat zu bestätigenden Friedensrichter für die Gesamtgemeinde statt der Dorfgerichte für die Kleinstkommunen. Der Friedensrichter, und hier unterschied Lavergne die reale von der politischen Gemeinde, repräsentiere lediglich letztere und vereinige die Eigenschaften des Polizeibeamten, des Schiedsmannes und des Richters in seiner Person. Gemeinsam mit gewählten Geschworenen aus den Landgemeinden sollte er regelmäßig Recht sprechen. Während der Schiedsmann ein in Preußen bereits bekanntes Institut war, suchte Lavergne hinsichtlich der Aufgaben des Schiedsmanns innerhalb der freiwilligen Gerichtsbarkeit den Vergleich mit England und den USA. 3 3 4 Da sich dieses System nach englischem Vorbild in den herrschenden Strukturen nicht errichten lasse, sollten nach Lavergnes Vorstellung zunächst die Landräte ehrenamtlich diese Lücke füllen. 335 In dieser Frage berief er sich auf das Urteil eines moderaten Liberalen, nämlich Theodor v. Schön: „Denn der Sinn für Recht wird im Volke geweckt, und die Nothwendigkeit, entscheiden zu müssen, führt Kenntnisse der Normen herbei." 336 V. Schön hatte lange in England gelebt und war nach diesem Aufenthalt für Verwaltungsreformen nach englischem Vorbild eingetreten. Wenn Lavergne die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, die Gleichstellung der Gemeindebezirke mit den großen Gutsbezirken, die Verlagerung der Polizeigewalt und der erstinstanzlichen Rechtssprechung auf die Kommunalebene forderte, stieß er damit niemanden vor den Kopf. Dies entsprach dem Standpunkt der Mehrheit in der zeitgenössischen Diskussion um die kommunale Selbstverwaltung. Besonders plastisch und nicht wenig polemisch unterstrich Erich Jordan, der sich in seiner Argumentation gegen die Patrimonialgerichtsbarkeit ausdrücklich auf die Schrift Lavergnes bezog 337 , seine Forderung, mit dem Gutsbezirk einen „Staat im Staate" abzuschaffen. Hier Jordans Aufzählung der Staatsaufgaben, die den Gutsbesitzern entzogen werden müssten: „Paßpolizei und Verbrechertransport, Aufsicht auf Schießgewehre und Hunde, Verhütung des schnellen Fahrens, des Lebendigbegrabens, des Flachsröstens in öffentlichen Gewässern, der medizinischen Pfuschereien und des Ausstellens von Leichen, Verhütung des Kartenlegens und der Sonntagsarbeit, des Schulver-

334 Lavergne, Landgemeinde, S. 120. Dabei verweist er (S. 121) auf v. Vincke und Niebuhr, die in „ihrem gemeinschaftlichen Werke über die Verwaltung Großbritanniens das Institut der Friedensrichter als das segensreichste und trefflichste gepriesen, und ihrem Vaterlande Preußen, so wie für ganz Deutschland, die Annahme dringend empfohlen" haben; Lavergne bezieht sich S. 122 auf das Staatslexikon von Rotteck/WeIcker, Art. Gemeinde, Gemeindeordnung, Bd. VI, S. 140. 335 Lavergne, Landgemeinde, S. 123. 336 Lavergne, Landgemeinde, S. 125, zitiert nach Rotte ckAVe Icker, Art. Gemeinde, Gemeindeordnung, S. 147. 337 Lavergne, Landgemeinde, S. 33.

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säumnisses und der Benutzung der Kirchhöfe zu Privatzwecken, des Umgehen s der heiligen drei Könige, des Christuskindes und des Josefs, des Badens und Schwemmens der Menschen und Tiere sowie des Begießens der Mägde mit Wasser am Karfreitag, Aufsicht über Drehorgelspieler, Schauspieler, Straßenreinigung, liederliche Weibspersonen und Gesinde - dies Verzeichnis ließe sich viele Seiten fortsetzen". 338 Dass diese Zustände ein Ende haben müssten, hatten vor Lavergne u. a. bereits August v. Haxthausen339 und Carl v. Rotteck 340 gefordert. Lavergne zog wiederholt zum Beleg der Überparteilichkeit seiner Auffassung Haxthausen als konservativen, Rotteck als liberalen Gesinnungsgenossen heran. c) Zurück zum Fideikommiss

Die Frage der freien Verkäuflichkeit von immobilem Eigentum, bei Lavergne kurz „Bodenmobilität" genannt, hatte zwar nicht direkt mit der Landgemeindeordnung zu tun. Für ihn war sie aber das ökonomische Grundproblem der ländlichen Gesellschaft und deshalb eng mit der Landgemeindeordnung verknüpft. An der Einstellung zu dieser Frage habe man wie an keiner anderen den weltanschaulichen Hintergrund und die politische Ausrichtung eines Menschen festmachen können, schrieb Erich Jordan: „Es war die Frage nach der unbeschränkten Teilbarkeit des Bodens, welche damals die Geister schied." 341 Die Unteilbarkeit des Grundeigentums war für Lavergne die Grundlage zur Schaffung „befestigter Existenzen". Dieses Ziel sollte mit allen Maßnahmen im Umgang mit Grundeigentum stehen. Deshalb sollte auch der Übergang auf den Erben durch die Gemeinden überwacht werden. Sie sollten die vom Eigentümer bestimmte Person bestätigen oder ablehnen.342 Damit wollte Lavergne die Übertragung von Landeigentum in die Hände eines möglicherweise ungeeigneten Erben verhindern. Wäre der Staat Lavergnes Überlegungen gefolgt, hätte die freie Veräußerbarkeit von Grundeigentum stark eingeschränkt werden müssen. Das mit der Reformgesetzgebung eingeführte Eigentumsrecht hatte sich wegen der schnell wechselnden bürgerlichen Käuferklientel in Lavergnes Augen als ökonomisch, sozial und hinsichtlich der Qualität und Quantität der landwirtschaftlichen Produktion kontraproduktiv erwiesen. Er wollte den „befestigten Grundbesitz", der weder durch Erbfolge noch durch Verschuldung oder Verkauf in Gefahr

338

339

Jordan, S. 31.

Lavergne, Landgemeinde, S. 92, es geht hier um Haxthausen. Lavergne, Landgemeinde, S. 63 u. 67. Rotteck und Welcker gehören für Lavergne zu den „Stimmen der verständigen Verfechter liberaler Ideen". 340

341

342

Jordan, S. 82.

Lavergne, Landgemeinde, S. 19 ff.

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geraten könne. Für die Ordnung auf dem Lande hielt er es außerdem für unerlässlich, dass die großen Gutsbezirke ihre bisherige Sonderstellung behielten und aus dem Gemeindeverband ausgekoppelt blieben. 343 Sie sollten auf dem Kreistag durch Virilstimmen vertretene Assoziationen bilden, während die Landgemeinden hier nur Kollektivstimmen haben sollten. Auf diese Weise kontrollierten die Kreisstände - und damit die hier mit großer Mehrheit vertretenen Grundbesitzer - die Gemeindevorstände. 344 Lavergne ging also nicht so weit, den Handel mit Grundstücken grundsätzlich abzulehnen. Er betonte die freie Verfügbarkeit über Grund und Boden als Recht des Eigentümers, wobei allerdings das staatliche und kommunale Interesse schwerer wiege als das des Einzelnen: „Jedermann wird nach wie vor seinen Grundbesitz nach freiem Ermessen verkaufen, verschulden, vererben und zersplittern dürfen; er wird sich aber von der Mitbenutzung der zur wirthschaftlichen Fortentwickelung erschaffenen Staats- und Kommunalinstitute ausgeschlossen sehen, sobald er von seiner Freiheit einen Gebrauch macht, der mit den Zwecken dieser Institute im Widerspruche steht." 345 Dieses Bekenntnis zum eingeschränkten Handel mit Grundeigentum unterscheidet Lavergne von den „Hardlinern" des feudalen Antikapitalismus wie von der Marwitz, Haxthausen oder Kamptz, die mit ihrer Forderung nach einer fideikommissähnlichen Behandlung der Bauerngüter jede Mobilität der Landbewohner verhindern wollten. 346 Dagegen wog Lavergne besonders in dieser Frage zwischen den Rechten des Individuums und denen der Gemeinschaft zugunsten letzterer ab. Die persönliche Freiheit ende da, wo sie das Gemeinschaftsinteresse beeinträchtige, deshalb war für Lavergne die Gemeindekontrolle über den Landverkauf ein gerechtfertigter Eingriff in die persönliche Freiheit. 347 Während Carl v. Rotteck und andere gemäßigte Liberale hier ähnlich argumentierten, hörte der „orthodoxe" Liberalismus als Befürworter des Prinzips

343 Lavergne, Landgemeinde, S. 105: Güter sollen nur dann in die Gemeindebezirke eingebunden werden, wenn deren Eigentümer gezwungen ist, auf seinem Gut selbst körperlich zu arbeiten. 344 Lavergne, Landgemeinde, S. 105. 345 Damit agrumentiert er ähnlich wie John Stuart Mill 1848 in Principles of Political Economy, zit. bei Winkel, Bodenmobilisierung, S. 166. 346 Vgl. H. Obenaus, Anfänge, S. 461, Fn. 1 erwähnt die Verbindungen zwischen dem feudalen Antikapitalismus eines v. d. Marwitz mit dem faschistischen Reichserbhofgesetz; H. Obenaus, Anfänge, S. 462, Fn. 7: „Der Gedanke derfideikommissarischen Bindung der Bauernhöfe wurde bereits in der Anfangsphase der Hardenbergschen Agrarreform entwickelt, und zwar 1819 durch den brandenburgischen Gutsbesitzer v. d. Knesebeck, der zum Kreis um Adam Müller und Marwitz gehörte". Heinrich Leo, Kosegarten und Grävell argumentieren ebenfalls in diese Richtung, vgl. Jordan, S. 91 ff. 347 Lavergne, Landgemeinde, S. 63 ff. Hier führt er das Rotteck-Welckersche Staatslexikon als Beleg für seine im Grunde liberale Auffassung an.

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der uneingeschränkten Bodenmobilisierung 348 laut Lavergne „nicht auf, Gleichheit der Rechte als erstes Lebensprinzip des Völkerwohles aufzustellen." Dabei beruhe diese Überzeugung auf dem Naturrecht, dessen Unwissenschaftlichkeit für Lavergne längst erwiesen war: „Wann wird die Wissenschaft zu der Erkenntniß kommen, daß gesellschaftliche Zustände nicht nach Abstractionen sich regeln lassen, die von einem erträumten Naturzustande auf wüster Insel abgeleitet worden?" 349 Wenn es überhaupt eine Voraussetzung für Gleichheit gab, dann war das in Lavergnes Augen die Gleichheit der Chancen, Wohlstand zu erwerben. Der Staat hatte zunächst die gesetzlichen Voraussetzungen beim Grunderwerb sowie beim Erbrecht zu schaffen. d) Lebenslange

Bildung

Ein noch intensiveres staatliches Engagement forderte Lavergne bei der Bereitstellung der institutionellen Möglichkeiten für die allgemeine Bildung. 350 Dabei sollten Landschulwesen, Gymnasien und Universitäten nicht die einzigen Institutionen sein, die Bildung vermitteln: „Das ganze Leben soll eine Bildungsschule sein; es müssen die mannigfachsten Kräfte zusammenwirken, um die in jedem Individuum ruhenden Fähigkeiten zur Entwickelung zu bringen." 351 Lebenslange Bildung für die Landbevölkerung bedeutete für Lavergne zweierlei: Neben der für die Beherrschung der modernen Anbaumethoden notwendigen technischen Bildung der „Rustikalbesitzer" sollten sie auch zur Wahrnehmung ihrer Interessen politische Bildung erhalten. Dafür wollte Lavergne die Landräte in die Pflicht nehmen; die Gefahr, dass die Landwirte hier mit liberalem Gedankengut in Kontakt kommen könnten, war angesichts der überwiegend konservativen Haltung der Landräte vergleichsweise gering. Sie „werden den Gemeindeversammlungen zu Zeiten beiwohnen und die Schulzentage zu zweckmäßigen Belehrungen benutzen müssen; Oeffentlichkeit der Zuchtpolizei- und Gerichtsverhandlungen, freie Besprechung der Gemeindeangelegenheiten in den Kreisblättern, Auszeichnung der tüchtigeren Gemeindebe348

Winkel, Begründung, S. 159 f., nennt Johann Heinrich Jung, gen. Stilling, der 1792 als unterste Grenze die „Möglichkeit, eine Familie zu ernähren" ansah, Karl Wolfgang Schüz, der 1836 zwar für die freie Güterteilung war, aber in Ausnahmefällen die Begrenzung durch den Staat forderte sowie Theodor von Bernhardi und Karl Heinrich Hagen (S. 159). Jordan, S. 85 ff, nennt noch Rau, Lette und Bülau sowie Waldeck und Niebuhr und unter den politisch tätigen den Oberpräsidenten v. Vincke und den Freiherrn v. Stein. 349 Lavergne, Landgemeinde, S. 66. 350 Lavergne, Landgemeinde, S. 77. 351 Lavergne, Landgemeinde, S. 78 f: Dazu gehörten für Lavergne auch Turnunterricht und Erziehung zu Reinlichkeit und Ordnungsliebe: „Denn in keinem Individuum wird die Kultur Eingang finden, das in Schmutz und Lumpen einhergeht". Für die Mädchen sieht er „vor der Verheirathung" neben der Schulbildung „Geschicklichkeit im Nähen und Stricken, im Spinnen und Weben" als unerlässlich an.

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amten etc. werden die politische Bildung auf eine entsprechende Höhe erheben". 3 5 2 Die Lehrerversorgung an den Elementarschulen auf dem Lande hielt Lavergne mit einem klaren Blick für die Realitäten qualitativ und quantitativ für eine Katastrophe. Er glaubte, diesen Missstand mit der Einrichtung von „Lehrerstellen als Versorgungsposten für Militairs" beheben zu können. Vorübergehend sollten zumindest die Nachwuchskräfte „längere Zeit als Hülfslehrer unter Aufsicht" gestellt werden. 353 Seine Bestandsaufnahme hinsichtlich der Allgemeinbildung klang vernichtend: „So ist denn für die Kultur der Landgemeinden noch fast Alles zu thun [...]. So lange in dieser Beziehung noch eine fast maaßlose Kluft besteht, werden auch die großen Geschenke der Freiheit und des Eigenthums keine Früchte tragen." 354 3. Ein „vollkommen ungenügendes Resultat"? Da nur zwei zeitgenössische Reaktionen auf Lavergnes Schrift erhalten sind, müssen wir hinsichtlich ihrer öffentlichen Wirkung der Einschätzung Lotte Esaus als Kennerin der zeitgenössischen politischen Szene in Königsberg vertrauen. Sie stellte fest, sein Name sei „in der Zeit viel genannt" worden. 355 Der Königsberger Philosoph und gemäßigt liberale Politiker Karl Rosenkranz diskutierte die von Lavergne in der „Landgemeinde" vorgeschlagene Einschränkung der Gütervererbung durch Gesetz, dessen Ideen zur Aufhebung des Landproletariats und dessen Begriff des „tüchtigen Bauernstandes". 356 Während er in den ersten Punkten weitgehend mit Lavergne übereinstimmte, hatte sich Rosenkranz von dessen Sicht des Bauern als Angehörigem eines Standes zugunsten der modernen Berufsbezeichnung Bauer längst verabschiedet. Deshalb betrachtete Rosenkranz trotz seiner Zustimmung zu Lavergnes Ideen zur Gemeindeordnung die Landwirtschaft als einen sich frei entwickelnden Wirtschaftszweig. 357 Rosenkranz' positives Urteil öffnete Lavergne wahrscheinlich auch die Türen bei Alexander Jung, dem Herausgeber der 1841 in Danzig erscheinenden

352

Lavergne, Landgemeinde, S. 86. Lavergne, Landgemeinde, S. 90; zur Entwicklung des preußischen Schulwesens in dieser Zeit Neugebauer, Bildungswesen, bes. S. 680 ff. 354 Lavergne, Landgemeinde, S. 90. 355 Esau, Rosenkranz, S. 116. Lotte Esau forschte in den 30er-Jahren in Königsberg. Sie hatte damit Zugang zu Quellenmaterial, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. 356 Esau, Rosenkranz, S. 116 f.: nach Esaus Informationen, Fn. 4, standen Lavergnes Bücher in Rosenkranz' Bibliothek. 357 Esau, Rosenkranz, S. 117. 353

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„Königsberger Literaturzeitung' 4, in der Lavergne mehrere Beiträge veröffentlichte. 358 Zahlreiche Mängel und Unzulänglichkeiten hielt dagegen der Rezensent der „Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst" Lavergne vor. Er sei mit der Schrift zur Landgemeindeordnung dem Ruf, den er durch die „Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft" erworben habe, nicht gerecht geworden. Der unbekannte Verfasser kritisierte vor allem Lavergnes ausschließliche Konzentration auf die Einführung einer Gemeindeordnung, ohne gleichzeitig die konstitutionelle Neuordnung des Gesamtstaats zu fordern: „Eine beachtungswerthe Erscheinung ist dies Buch schon deshalb, weil es zeigt, wie man bei gutem Willen und hinreichender Kenntniß des Gegenstandes doch zu einem vollkommen ungenügenden Resultate gelangen kann, wenn dem Bestreben, die Lieblingssaite seines Instrumentes tönen zu lassen, die Harmonie des ganzen Stückes aufgeopfert wird." 3 5 9 Und an anderer Stelle: „Sein Wille ist ganz trefflich, wie schon oben bemerkt, er weist auch Kenntnisse des Gegenstandes, der ihn zunächst umgiebt, nach; aber er verfehlt seine Absicht gänzlich, indem er des starken Glaubens lebt, der Theil müsse vor seinem Ganzen existiren, oder das Ganze könne seine Theile organisiren, ohne sich selbst organisiren zu müssen." 360 Enttäuscht konstatierte der Rezensent weiter, dass „ein Mann, der in den letzten Jahren sich angestrengt mit der Lösung der Fragen über die Gesellschaft beschäftigt hat", zu einem solch halbherzigen und unbefriedigenden Ergebnis gekommen sei. 361 Lavergnes Absicht sei „ganz herrlich"; er verschweige aber leider „die Mittel und Wege, dies Alles ins Werk zu richten, oder nennt es, wenn wir uns recht besinnen, einige Ergänzungsmaßregeln der Regierung." 362 Die Frage nach einer Konstitution für den Gesamtstaat stellte sich aber für Lavergne gerade nicht. Seine Landgemeindeordnung sollte so ausgestaltet werden, dass sie in Kombination mit der existierenden preußischen Städteordnung im Grunde die Verfassung darstellte. Preußen sollte nach Lavergnes Vorstellung ein von einem monarchischen Staat umschlossenes Gebilde aus selbstverwalteten Kommunen werden. Dem Gesamtstaat blieben nur noch die Verteidigungs- und Außenpolitik sowie die Erhebung von Ein- und Ausfuhrzölle. Der Rezensent der „Hallischen Jahrbücher" hatte allerdings Recht mit seiner

358

Über die Gesellschaftswissenschaft, Rezension zu Lists „System"; Rezension zu Bülow-Cummerow, Über Preußens Finanzen; Über das Vereinsleben. 359 Rezension zu „Die Landgemeinde in Preußen", in: Hallische Jahrbücher, S. 359, der Autor ist nicht zu ermitteln. 360 Rezension zu „Landgemeinde", S. 360. 361 Rezension zu „Landgemeinde", S. 360. 362 Rezension zu „Landgemeinde", S. 360.

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Einschätzung, vieles in Lavergnes Schrift sei nicht zu Ende gedacht. Tatsächlich wirkt die gesamte „Landgemeinde" wie ein schnell für den Druck bearbeitetes Konzept. Lavergne hatte das Buch offenbar unter einem zeitlichen Druck fertiggestellt, der einerseits von der Aktualität des Themas, andererseits möglicherweise von den schriftstellerischen Aktivitäten im liberalen und demokratischen Lager ausgelöst worden war. 4. Lavergne, v. Schön, Jacoby Im Spätherbst 1840 erregte der Oberpräsident der Provinz Preußen, Theodor v. Schön 363 , die öffentliche Aufmerksamkeit mit seiner Schrift „Woher und Wohin?" und im Februar 1841 löste ein Buch des Königsberger Arztes Johann Jacoby mit dem Titel „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen" eine Welle von heftigen Reaktionen aus. Erst im Monat darauf erschien Lavergnes „Landgemeinde". Das Buch war damit keine direkte Reaktion auf die umstrittene königliche Kabinettsorder vom 4. Oktober 1840, sondern ist vielmehr als Lavergnes Beitrag zur Diskussion der zukünftigen preußischen Verfassung zu verstehen. Der demokratische Arzt Johann Jacoby und der liberale Oberpräsident beharrten auch nach dem königlichen Verdikt in unterschiedlicher Radikalität auf der Forderung nach einer Konstitution und demokratischer Repräsentation für Preußen. So groß wie die der Schrift Jacobys war die Wirkung von Theodor v. Schöns „Woher und Wohin?" vom Oktober 1840 nicht gewesen. 364 Sie war auch gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, sondern direkt und persönlich an den König gerichtet, mit dem v. Schön schon seit vielen Jahren gut bekannt war. 365 Daneben war sie nur an einige ausgewählte Adressaten versandt worden. Die Schrift gelangte jedoch über das Ausland an die deutsche Öffentlichkeit 3 6 6 und vertiefte die Kluft zwischen dem König und v. Schön, der 1842 nicht zuletzt aufgrund der in „Woher und Wohin?" geäußerten Ansichten und

363

Schumacher, S. 255 ff.; Boockmann, S. 350 ff; Rothfels; Theodor v. Schön wurde 1773 geboren, studierte in Königsberg u. a. bei Kant und Kraus Rechts- und Staatswissenschaften, unternahm Studienreisen nach England. Nach kurzem Wirken an den Kriegs- und Domänenkammern in Bialystok und Marienwerder arbeitete er maßgeblich am Edikt zur Bauernbefreiung mit. 1809 wurde er Regierungspräsident in Gumbinnen, 1816 Oberpräsident der neugebildeten Provinz Westpreußen und 1824 Oberpräsident der vereinigten Provinzen Ost- und Westpreußen. Er gilt als Kopf des „Junker-Liberalismus". 364 V. Schön: Woher und Wohin? In: Fenske, Vormärz, S. 34^0; Brinkmann, S. 77. 365

366

Schumacher, S. 256.

Auch v. Rochow erhielt eines der Exemplare, das ihn auch wegen seiner Beamtenkritik erboste, siehe Brinkmann, S. 78. Er nennt als Entstehungsdatum der Schrift den 4. Oktober; das wird aber nicht bestätigt; vgl. H. Obenaus, Anfänge, S. 533; Mieck, S. 205.

214

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

den damit ausgelösten Konflikten mit der Ministerialbiirokratie seinen Platz räumte. 367 Der Oberpräsident ging davon aus, die „Königliche Zusicherung" habe „alle Wünsche" der Stände erfüllt 368 . Nur die Verwaltung und die Regierung in Berlin hemmten seiner Ansicht nach ihre Umsetzung. 369 Als Meilenstein des Fortschritts wertete Schön dagegen die Städteordnung von 1806, auf die sogleich eine Kommunalordnung und eine „Volks- und Stände-Repräsentation" hätte folgen müssen. Statt einer Weiterentwicklung sei aber die Städteordnung „allmählich in der Richtung einer Beamtenordnung umgeklügelt und modifiziert", eine „Kommunal-Ordnung für nicht zeitgemäß" gehalten worden 370 . Auch die Provinziallandtage hätten dem Volk nicht das Mitspracherecht gebracht, das es eingefordert und verdient habe. Der Beamtenapparat habe die Volks-Stimme „gefürchtet und verdächtigt" und sei nur darum besorgt gewesen, das „vormundschaftliche Verhältnis" so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. 371 Im Antrag der Stände anlässlich des Huldigungslandtags sei schließlich die Einführung von Generalständen gefordert worden. Nach v. Schöns Vorstellungen sollten diese „die Verwaltung aller Angelegenheiten, welche nicht Gouvernements-, sondern National- und Kommunal-Sachen sind", übernehmen 372. Damit wollte er zwei Ziele erreichen, nämlich die vermehrte Teilnahme des Volks an den Angelegenheiten des Staates und die Verkleinerung des Beamtenapparats. Diesem Ziel diente auch der Vorschlag, den Generalständen die Kontrolle über die Finanzverwaltung zu verschaffen. Weniger Beamte bei gleichzeitiger Entlastung der Richter versprach sich der Oberpräsident von der Verlagerung des Teils der Justizverwaltung in den Zuständigkeitsbereich der General-Stände, „bei welcher es besonders auf genaue Kenntnis der Landesverhältnisse und beinahe auch nur auf gesunden Menschenverstand und natürliches richtiges Urteil ankommt" 373 . Auch Militärangelegenheiten sollen nach Schöns Vorstellungen von den Ständen behandelt werden. Durch die Generalstände als Kontrollin stanz des Beamtenapparats würden die Beamten wieder in die ihnen zukommende Stellung zurückverwiesen, was, so glaubte Schön, für Zufriedenheit im Volk sorgen würde. Der König könne

367 Schuppan, S. 71 ff.; Brinkmann, S. 77, 126; zur Entlassung Schöns u. a. H. Obenaus,, Anfänge, S. 326 f., 533 f., Treitschke, Bd. 5, S. 56 ff, Jacoby; zu den Leistungen Schöns als Oberpräsident Mayer. 368 Vgl. Brinkmann, S. 69; S. 73 f. zitiert aus v. Schön,, Papiere, Bd. ΠΙ, S. 173. 369 Abgedruckt in: Fenske, Quellen, S. 38. 370 Fenske, Quellen, S. 36. 371 Fenske, Quellen, S. 37. 372 Fenske, Quellen, S. 38. 373 Fenske, Quellen, S. 39.

IV. Die Landgemeindeordnung als Verfassungsersatz

215

von dieser Kontrollinstanz ebenfalls profitieren. Sie stelle „unfehlbar den besten, vielleicht den einzigen bleibend wirksamen Prüfstein [...] für die Würdigkeit und Tüchtigkeit" seiner Beamten dar. 374 Zuletzt gab der Oberpräsident zu bedenken, dass durch diese unabhängige Kontrolle der „Geist der Gesetzgebung" von jedem Verdacht, nur den Interessen der beteiligten Beamten zu entsprechen, befreit würde. 375 Lavergne und v. Schön kritisierten also die mangelnden Möglichkeiten der direkten Volksbeteiligung in staatlichen Angelegenheiten. Beide schlossen daran die Forderung nach Einführung einer Gemeindeordnung an. Auch die Kritik an dem überbordenden und mächtigen Beamtenapparat findet sich in beiden Schriften. Mit dem Hinweis auf die Argumentation v. Schöns lobte Lavergne die Selbstverwaltung nach englischem Muster. Auch hinsichtlich des Friedensrichteramts bezog sich Lavergne auf den Oberpräsidenten. Lavergne übernahm damit eine Position der preußischen Reformer, die aus der Rezeption der englischen Selbstverwaltungsideen heraus den Freiheitsbegriff nicht in parlamentarischen Strukturen, sondern in der lokalen Selbstverwaltung verankern wollten. 376 Während jedoch Lavergne in der Gemeindeordnung den Drehund Angelpunkt der zukünftigen preußischen Verfassung sah und die Hierarchie der Repräsentativorgane bei den Provinzialständen enden ließ, sollten bei v. Schön den Generalständen Legislative und Judikative zufallen. 377 Zunächst glaubte die preußische Öffentlichkeit, v. Schön sei auch der Autor einer Schrift mit dem Titel „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen", die im Februar 1841 erschien. Sie richtete sich direkt an die Teilnehmer des im Frühjahr 1841 stattfindenden Provinziallandtages. 378 Ihr Verfasser war jedoch der jüdische Arzt Johann Jacoby (1805-1877). Seine vier Fragen bezogen sich

374

Fenske, Quellen, S. 39. „Nur durch General-Stände kann und wird in unserm Lande ein öffentliches Leben entstehen und gedeihen. Ist der Tag dazu angebrochen, so läßt die Sonne sich nicht in ihrem Laufe gebieten. [...] Die Zeit der sogenannten väterlichen oder PatrimonialRegierung, für welche das Volk aus einer Masse Unmündiger bestehen und sich beliebig leiten und führen lassen soll, läßt sich nicht zurückführen. Wenn man die Zeit nicht nimmt, wie sie ist und das Gute daraus ergreift und es in seiner Entwicklungfördert, dann straft die Zeit." Fenske, Quellen, S. 39 f. 375

376

377

Vgl. Ρ: Nolle, S. 65.

Allerdings definiert er nicht genau, was er unter diesem Begriff versteht, die bestehenden Vertretungen auf Provinzebene oder eine gemeinsame Vertretung für den ganzen Staat. Der damalige Sprachgebrauch in der Verfassungsdiskussion lässt aber den Schluss zu, dass Schön mit „Generalständen" die gesamtstaatliche Vertretung bezeichnet. 378 Brinkmann, S. 78, Neugebauer, Wandel, S. 453, stellt fest, die Schrift sei dem Landtag „förmlich gewidmet" gewesen; Falkson, S. 43 f., berichtet, Jacoby habe zunächst nur 40 Exemplare drucken lassen, „um sie an die Mitglieder des eben zusammentretenden Ostpreußischen Landtags zu vertheilen".

216

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

rückblickend auf den Huldigungslandtag: „Was wünschten die Stände? Was berechtigte sie? Welcher Bescheid ward ihnen? Was bleibt ihnen zu thun übrig?" Wie Lavergne und v. Schön davon ausgehend, dass ein mündiges, aber von einem überbordenden Beamtenapparat unterdrücktes Volk Selbstbestimmung und Repräsentation fordere, ging Jacoby in seinen Forderungen weit über die Positionen Lavergnes und v. Schöns hinaus. Gegen Schriftsteller polemisierend, die sich mit Kommunal-Verfassung, Kreis- und Provinzialständen begnügen, was als Reaktion auf Moritz v. Lavergne-Peguilhen und Theodor v. Schön gedeutet werden kann 379 , glaubte Jacoby an die „völlige Nichtigkeit" der Provinzialstände „in bezug auf die allgemeine Volks Wohlfahrt". 380 Nicht Provinzialstände wie Lavergne, nicht Generalstände wie v. Schön, eine demokratisch gewählte Volksvertretung forderte der Königsberger Arzt als „nunmehr erwiesenes Recht", das die Ständeversammlung für sich in Anspruch nehmen könne. 381 Die Ministerialbürokratie warf Jacoby daraufhin „Erregung von Mißvergnügen und Unzufriedenheit der Bürger gegen die Regierung durch frechen, unehrerbietigen Tadel und Verspottung der Landesgesetze" sowie Majestätsbeleidigung vor. 3 8 2 Die Veröffentlichung der „Vier Fragen" fand vor allem durch den sich bis zum Frühjahr 1842 hinziehenden Prozess in ganz Deutschland breite Resonanz und reißenden Absatz. 383 Als das Urteil am 5. April 1842 gesprochen wurde, hatte Jacoby einen Freispruch von der von der Anklage des versuchten Hochverrats erreicht. Im zweiten Anklagepunkt wurde er für schuldig befunden und zu zweieinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. In zweiter Instanz wurde er am 19. Januar 1843 schließlich freigesprochen. 384

379 380 381

382

Dafür fehlt allerdings jeder konkrete Hinweis. Jacoby-Zitate nach Schuppan, S. 90. Schuppan, S. 90 ff; Falkson,, S. 45.

Wortlaut zitiert nach Falkson, S. 45. „Die Königsberger Diskussionen und Forderungen wurden nun in ganz Deutschland um so bekannter, als 1841 in Leipzig - zunächst ebenfalls anonym - eine Broschüre mit dem Titel ,Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen', erschien", schreibt Boockmann, S. 357; über die Wirkung der „Vier Fragen" in Deutschland Schuppan, S. 110 ff.; Falkson, S. 44; H. Obenaus, Anfänge, S. 536, bezieht sich auf die Auflage von 2500 Exemplaren der 1. Auflage allein in Leipzig. 84 Zum Prozess und den Urteilen vgl. v. a. Schuppan, Jacoby, S. 120 ff.; Falkson, Bewegung, S. 45 ff. 383

V. Abrechnung mit dem Liberalismus

217

V. Abrechnung mit dem Liberalismus 1. Die „liberale Szene" in Königsberg Abgesehen von den wenigen Beiträgen in der „Königsberger LiteraturZeitung" sind aus den Jahren 1842 bis 1845 keine Veröffentlichungen von Moritz v. Lavergne-Peguilhen erhalten. Seine beruflichen und politischen Aktivitäten hinderten ihn vermutlich daran, auch auf literarisch-wissenschaftlichem Gebiet weiter zu arbeiten. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass es eines politischen Anlasses bedurfte, um den Rößeler Landrat 1846 wieder zur Feder greifen zu lassen. M i t der Broschüre „Der Liberalismus und die Freiheit" wollte er zum einen seine eigene politische Position für Freunde und Gegner klar verständlich machen, zum anderen geriet das Büchlein zu einer Generalabrechnung mit dem vormärzlichen Liberalismus, nach der klar war: Auch wenn dieser Landrat und Abgeordnete liberale Grundsätze wie Meinungs- und Pressefreiheit für die Durchsetzung der eigenen Position akzeptierte, war er dennoch so weit von den gerade im Raum Königsberg in allen Gesellschaftsschichten verbreiteten liberalen ökonomischen und politischen Positionen entfernt, dass der tiefe Graben zwischen Lavergne und den ostpreußischen Liberalen spätestens hier deutlich sichtbar wurde. Die zahlreichen Broschüren, mit denen in den Jahren zwischen 1822 und 1847 liberales Gedankengut in Altpreußen verbreitet wurde, belegen, dass sich Königsberg in dieser Zeit zu einem Zentrum des Liberalismus in Preußen und damit der Opposition gegen den König entwickelte. 385 Königsberg war keineswegs die in der zeitgenössischen Publizistik gern beschriebene verschlafene und hinterwäldlerische Provinzstadt 386 , sondern eine der größten Städte Deutschlands, die schon an der Schwelle zum 19. Jahrhundert mit 55.000 Einwohnern größer war als Frankfurt am Main, München oder Stuttgart und 1847 rund 75.000 Einwohner hatte. Vor allem durch ihre Universität besaß sie große geistesgeschichtliche Bedeutung in ganz Deutschland. 387 Von hier aus wurden liberale Positionen auch in die ländlichen Regionen der Provinz getragen, sodass in der östlichsten, durch die russische Grenzsperre allerdings verarmten

385

Vgl. Esau, Flugschriften. Drastisch, Charaktere, S. 434: „Es ist noch keine zehn Jahre, als man in Deutschland Ostpreußen wie ein Stück Vorsibirien ansah, wo die Sonne neun Monate lang nicht im Stande sein sollte, den Schnee zu schmelzen, wo die Wölfe schaarenweis in den Straßen der Hauptstadt den Mond anheulten und wo in den wüsten Kieferwaldungen die melancholischen Ëlenthiere weit und breit die einzigen Bewohner vorstellten." 387 Vgl. Boockmann, S. 333; H. Obenaus, Parlamentarismus, S. 623. 386

218

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Großstadt Preußens in den 40er-Jahren ein tolerantes und liberales Klima herrschte. 388 Auch eine rege Tagespresse gehörte zu den Multiplikatoren von oppositionellem Gedankengut. Mitte des Jahrhunderts gab es drei Tageszeitungen: Die „Königlich-Preußische Staats- Friedens- und Kriegszeitung", nach ihren Verlegern, den Brüdern Härtung, allgemein die „Hartungsche Zeitung" genannt, die „Konstitutionelle Monarchie", sowie den „Königsberger Freimüthigen". Während die beiden letzteren mit 1.000 bzw. 900 Abonnenten das rechte Spektrum repräsentierten, kam die Hartungsche auf eine Auflage von respektablen 4.000 Exemplaren und präsentierte sich so als liberal-demokratischer Markt- und Meinungsführer in der Provinz Preußen. 389 Dass sich die Publizistik hier derart offen der liberalen Ideen annehmen konnte, lag nicht zuletzt daran, dass von 1835 bis 1845 Bruno Erhard Abegg Polizeipräsident und Zensor in Königsberg war. 390 Nur so war es möglich, dass ein radikal-liberalen Positionen zugeneigter Mann wie der Schriftsteller Ludwig Walesrode 391 in Königsberg frei reden und agieren konnte, während sich an der Universität gemäßigtere Geister zusammentaten, die eher die Gedankenwelt v. Schöns und des liberalen Adels teilten. 392 Anlässlich der 300-Jahrfeier der Königsberger Universität Albertina 1844 wurde deutlich, wie weit die Auffassungen dieser Gruppe, zu der auch der Philosoph Karl Rosenkranz (1805-1879)393 gehörte, und die des Königs, der zum Jubiläum die Universität besuchte, auseinander lagen. Auch der König sprach in einem Schreiben an einen der Köpfe des gemäßigteren „GutsbesitzerLiberalismus", den abgesetzten ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz, Theodor v. Schön, pejorativ von den „Königsberger Zuständen". „Vor Ekel", heißt es darin, könne er die „Aufzählung des reichen Restes der Gravamina" nicht beenden.394 Was Friedrich Wilhelm IV. an „Gravamina" bis dahin aufzählte, reicht aber aus, um die Tiefe der Kluft zu illustrieren: angefangen von der „ehrlosen Taktik der Königsberger Zeitung, die mich wissentlich (Hervorhebung von Friedrich Wilhelm IV.) zum Liberalen lügt, während sie mir den Boden un-

388

Öffentliche Charaktere, S. 435 ff. GStaPK, I. HA, Rep. 77, tit. 982, Nr. 1, Bl. 26 f.; Schumacher, S. 267. 390 „Er verstand es, seine Pflichten als Staatsbeamter mit seiner inneren Vorliebe für den Liberalismus zu verbinden". Schumacher, Ost- und Westpreußen, S. 267. 391 Er hieß eigentlich Cohen; Schumacher, S. 268. 392 Hartmut Boockmann vermutet, die Albertina sei Anfang der 40er-Jahre „sicherlich" die deutsche Universität gewesen, „an der die lebhaftesten politischen Diskussionen geführt wurden", Boockmann, S. 357. 393 Zu Rosenkranz ADB 29, S. 213 ff; Öffentliche Charaktere, S. 438; Esau, Rosenkranz. 394 Friedrich Wilhelm IV. an v. Schön, 21.12.1842, S. 225. 389

V. Abrechnung mit dem Liberalismus

219

ter den Füßen zu zertrümmern trachtet", über „Carricaturen voll brutaler Schändung des Heiligen", im Druck erschienene Schriften verschiedener Autoren, bis hin zur „goldenen Krone und die Toaste auf Jacoby, [...] das Herweghs-Fest und seine Blutlieder" und „das Verhöhnen des Cölner Festes und der Einheit Teutschlands, welche nicht die von den rasendsten Demagogen empfohlene, sondern die von mir angestrebte ist." 395 Bis zur Einberufung des Ersten Vereinigten Landtags 1847 nährte sich die liberale Bewegung in Königsberg „aus dem Eigenleben der Provinz" unter der Ägide des Adels und unter dem inhaltlichen Einfluss ν. Schöns, ohne Einflüsse von außen zu rezipieren. Ein zeitgenössischer Beobachter sah von den 2.000 gebildeten Bürgern der Stadt 1.400 auf der linken, 600 auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Die Liberalen untergliederte er in „ein Zentrum von 700 Mann, den Altpreußen am Nächsten, eine rechte Linke von 650 Mann, in der sich der Hauptkarakter des Ganzen am Klarsten wiederspiegelt, und eine äußerste Linke von etwa 50 Mann, in welcher etwa höchstens 10 praktische Radikale und 40 abstrakte Idealisten zu suchen sind, deren Theorien uns zu Eichelfressern machen würden, wenn sie konsequent zu Ende geführt würden". 396 Mit dem Vereinigten Landtag und dem Zusammentreffen mit den rheinischen Liberalen, schließlich mit der Revolution und ihren Folgen hat sich dann der politische Schwerpunkt auch für die Bewohner der Provinz Preußen nach Berlin verlagert. 397 Damit reihte sich der „altpreußische" Liberalismus mit seinen durch die geographische und politische Isolation entstandenen Eigenheiten in die Vielzahl der im Vormärz entstandenen unterschiedlichen politischen Strömungen ein, die in der Reaktionszeit nahezu ausgelöscht wurden. 2. In die politische Isolation Die die Verhandlungen der Notstandskommission und die Präliminarien zum Vereinigten Landtag bestimmende tiefsitzende Abneigung zwischen Lavergne und den Junkerliberalen war auch eine Reaktion auf das Erscheinen seiner Schrift „Der Liberalismus und die Freiheit" im November 1846, also kurz vor dem Beginn der Verhandlungen der Notstandskommission. Vollmundig kündigte die Königsberger Sortimentsbuchhandlung Tag und Koch das Büchlein an. Es sei „in allen Buchhandlungen Deutschlands"398 vorrätig und sein Verfasser „rühmlichst bekannt als vieljähriger Sekretär der Preußischen Ständever-

395

Zu seinem Entsetzen kam auch noch der Einfluss der Juden bei diesen ganzen Agitationen hinzu, und er erwähnte, dass allein beim Herweghs-Mahl 13 Juden anwesend waren, Friedrich Wilhelm IV. an v. Schön, 21.12.1842, S. 225. 396 Zitat von Wilhelm Rüstow nach H. Obenaus, Anfänge, S. 623. 397

398

Schumacher^. 269, 271.

Hartungsche Zeitung, Nr. 262, 9. November 1846, S. 1155.

220

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Sammlung". Die Ankündigung gipfelte in der vielversprechenden Aussage: „Da in dieser Schrift zum ersten Male die unsere Zeit bewegenden Fragen von einem universellen Standpunkt aus erörtert werden, und da insbesondere die Verfassungsfragen und die Staatspolitik im Zusammenhange mit den ökonomischen Zuständen in Betracht kommen, so gelangt der Verfasser dadurch zu den folgenreichsten Resultaten, die nicht verfehlen können, die öffentliche Aufmerksamkeit in höchstem Grade in Anspruch zu nehmen." 399 Was der öffentlichen Aufmerksamkeit bei Erscheinen des Buches dann präsentiert wurde, war eine deutliche und unmissverständliche Abrechnung mit dem Liberalismus, die für den „rühmlichst bekannten" Autor nicht ohne Folgen blieb. Wer Lavergnes bisher erschienene Schriften gelesen hatte, wusste, dass er schon 1841 davon gesprochen hatte, sich von der „herrschenden Lehre des Industriesystems" längst enttäuscht abgewendet zu haben, von der er als Landvermesser und junger Gutsbesitzer überzeugt gewesen sei. 400 Er habe damals an die wohlstandsfördernde Kraft der nach liberalen Prinzipien durchgeführten Bauernbefreiung geglaubt. Jedoch: „Als ich nach Verlauf einiger Jahre anfing, mir Rechenschaft zu geben über Vergangenheit und Gegenwart; als ich gewahrte, daß ungeachtet eines langen Friedens und einer redlichen, landesväterlichen Regierung die neuen Eigenthümer weder in Wohlstand noch in Gesittung vorschreiten wollten; als ich im Gegentheil wahrnahm, daß deren Existenz bedroht war, indem sie nicht selten von ihren ehemaligen Grundherren ausgekauft wurden - da fing ich an, irre zu werden an den Lehren, denen die neueren Zustände ihre Entstehung verdanken." 401 Die kleinen Bauern lebten in Not und Elend. Überall schienen sich ihm neue Reformen oder zumindest Ergänzungen zu den bestehenden Reformgesetzen aufzudrängen. Die Erkenntnis, dass das liberale Wirtschaftssystem nicht in der gewünschten Richtung Wirkung zeigte, traf für ihn schon damals nicht nur auf die Landwirtschaft zu. „Ähnliche Mißverhältnisse" erkannte er auch „bei den gewerblichen Bevölkerungsmassen". Das „System der ungezügelten Konkurrenz" hätte „weder Wohlstand noch Gesittung in der industriellen Bevölkerung hervorgerufen" 402. Schon fünf Jahre vor seiner vorläufigen Generalabrechnung mit dem Liberalismus 1846 zeigten diese deutlichen Worte, dass er die Ansätze aus den „Grundzügen" weitergedacht hatte und den Wirtschaftsliberalismus nunmehr endgültig aus der Welt zu schaffen beabsichtigte. Das waren aber noch harmlose Angriffe, verglichen mit dem, was er den liberal denkenden Bürgern und Gutsbesitzern des Königsberger Landes am Ende des Jahres 1846

399 400 401 402

Hartungsche Zeitung, Nr. 262, 9. November 1846, S. 1155. Lavergne, Landgemeinde, S. IV. Lavergne, Landgemeinde, S. IV. Lavergne, Landgemeinde, S. V.

V. Abrechnung mit dem Liberalismus

221

vorwarf. Da sprach er von der „usurpirten Macht" der Liberalen, von der „Staatskunst der liberalen Schule", die es nicht verstehe die Freiheit des einzelnen zu bewahren 403, von liberalen Ideen, die letztlich „in ihren Consequenzen zur Unfreiheit und zum Communismus führen müssen"404. Schließlich stellte er fest, die Konsequenzen der liberalen Lehren müssten dem „praktischen Verstände als Nonsens" erscheinen. 405 Aus diesen Gründen müsse die Macht des Liberalismus endlich gebrochen werden. Dafür wollte er sich ausgerechnet einer zentralen Errungenschaft liberalen Denkens bedienen: Mit der Einführung der Pressefreiheit könne die öffentliche Meinung, auf der die Macht des Liberalismus allein beruhe, aus dessen Gefolgschaft gelöst werden. 406 Das Pamphlet zog auch bewusste Parallelen zu Schmitthenners antagonistischer Sicht des Liberalismus. Lavergne wählte das Motto seiner Schrift aus Schmitthenners „Zwölf Büchern vom Staate", das mit den Worten beginnt: „Der wahre Staatsmann wird daher liberal sein, wo es sich darum handelt, die Wohlfahrt und Kultur des Volkes zu fördern; selbst reformirend, wo Rechten eine Form zu geben ist, die allein sich mit dem Staatszwecke verträgt; dagegen überall conservativ, wo Rechte, die zur glücklichen Organisation des Staats gehören, zu erhalten sind; reagirend gegenüber destructiven Lehren und Tendenzen; sogar restaurirend, wo der Sturm ungünstiger Zeiten Säulen, die zur notwendigen Ordnung des Staats gehören, gebrochen hat." 407 Diese erbitterte Abrechnung mit dem Liberalismus hatte einen konkreten Hintergrund: Lavergnes Haltung zur Verfassungsfrage hatte im Sommer und Herbst für einige Verwirrung gesorgt. Ein Korrespondentenbericht in der Aachener Zeitung vom 11. August fand sich zwei Wochen später in der Königsberger Hartungschen Zeitung wieder. Darin wurde über das große Interesse der Ostpreußen an den Wahlen der Landtagsdeputierten berichtet und behauptet, diese gehörten „größtenteils zur liberalen Partei[...] So wurde im Heilsberger Kreise Hr. v. Peguilhen nur unter der Bedingung wieder zum Landtagsabgeordneten erwählt, nachdem er vor den Kreisständen sein freisinniges politisches Glaubensbekenntnis öffentlich abgelegt. FIr. v. Peguilhen gab sein Ehrenwort, seine ausgesprochenen Grundsätze auf dem nächsten Landtag wieder geltend machen zu wollen und wurde einstimmig gewählt." 4 0 8 Dieser Zeitungsartikel 403

Lavergne, Liberalismus, S. VII f. Lavergne, Liberalismus, S. ΧΠΙ. 405 Lavergne, Liberalismus, S. V. 406 Lavergne, Liberalismus, S. VII, S. 99: „Gewiß wird in Preußen die nächste Wirkung der freien Presse sein, daß der Liberalismus, wie er es nicht anders verdient, nachdem er seine Aufgabe erfüllt, für immer zu Grabe getragen wird." 407 Schmitthenner, Bücher I, S. 178, hier zitiert nach Lavergne, Liberalismus, Deckblatt. 408 Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 197, 1846, S. 855. 404

222

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

setzte eine polemische Diskussion um seine Haltung als Abgeordneter in Gang, die ihn zu einer ersten dezidierten Stellungnahme im politischen Richtungsstreit veranlasste und seinen öffentlichen Wechsel ins sozialkonservative Lager einleitete. 409 Abgesehen von seiner Aufregung über den kompromittierenden Charakter der Behauptung und den Angriff auf seine Ehre sowie seine Stellung als Abgeordneter beharrte er darauf, nie ein solches Versprechen abgegeben zu haben, es sei auch nie von ihm gefordert worden. 410 Als Deputierter sei er ausnahmslos für die Einführung von beratenden Reichsständen eingetreten, habe aber 1845 das Verfassungsbegehren der provinzialständischen Mehrheit abgelehnt. Dies sei nicht aufgrund eines Meinungsumschwungs geschehen, sondern „weil er den Zeitpunkt des erneuten Begehrens angesichts der aus den Fehlern der liberalen Schule entstandene „Landesnoth" für verfehlt hielt. 411 Aus diesem Grund zeigte Lavergne Verständnis für seine Mitstände, als diese ihre Zweifel an seiner politischen Zuverlässigkeit bei der nächsten Wahlversammlung im November 1845 zum Ausdruck brachten. Er habe nach dem entsprechenden Hinweis eines „nahe befreundeten Mitstandes" 412 bei der Veranstaltung dazu einige erläuternde Worte gesagt und die Sache für erledigt gehalten. Diese Ausführungen erlauben einen Einblick in das Selbstverständnis Lavergnes als Abgeordneter. Zunächst wehrte er sich gegen jede Form von „Fraktionszwang". Als ein Mensch, der seinen Überzeugungen treu bleiben wolle, sei er gezwungen, von Fall zu Fall zu entscheiden. So sei er in der Frage der privilegierten Erbfolge der konservativen Minderheit gefolgt: „Eine solche, sich bald der einen, bald der anderen Richtung anschließende Stellung ist aber in den Zeiten politischer Parteikämpfe überaus schwierig zu behaupten; es sind Mißverständnisse und selbst Verdächtigungen gar nicht zu vermeiden, und auch aus diesem Grunde glaube ich keine zur öffentlichen Darlegung meiner Grundsätze sachlicher Weise sich darbietende Gelegenheit verabsäumen zu dürfen." 413 Die einzige Absicht, die hinter der Ausübung seines politischen Mandats stehe, sei die Sicherung des Wohlstands „der so vielfach gefährdeten bürgerlichen Existenzen". 414 Das habe die Mehrheit der bei der Versammlung Anwesenden akzeptiert und ihn bei vier Gegenstimmen wieder zum Landtagskandidaten gewählt. Deshalb seien die Vorwürfe in der Presse völlig aus der 409 Replik Lavergnes, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 203, 1846, S. 881: „Diese Angaben sind ohne Ausnahme unrichtig, wie der Herr Correspondent leicht hätte erfahren können, falls .es ihm um Wahrheit zu thun gewesen wäre." 410 Replik Lavergnes, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 203, 1846, S. 881. 411 Lavergne, Liberalismus, S. IX. 412 Lavergne, Liberalismus, S. IX. 413 Lavergne, Liberalismus, S. XI. 4,4 Lavergne, Liberalismus, S. XI.

V. Abrechnung mit dem Liberalismus

223

Luft gegriffen und der Beginn einer „ihrer gewöhnlichen Taktik" folgenden Aktion der Liberalen gegen den Verlust ihres Einflusses. 415 Besonders enttäuschte ihn, dass Mitglieder des von ihm stellvertretend geleiteten Allensteiner Meliorationsfonds zu den Unterzeichnern der Erklärung zu seiner öffentlichen Verpflichtung gehörten, denen er sich nach langjähriger Zusammenarbeit freundschaftlich verbunden fühlte. Ihnen ist es indirekt zu verdanken, dass Lavergne diese ausführliche Auseinandersetzung mit dem Liberalismus verfasste, war er doch überzeugt, dass sie seiner Argumentation folgen müssten. Ernsthafte intensive Lektüre vorausgesetzt, würden sie mit ihm nicht nur darin übereinstimmen, „daß Liberalismus und zeitgemäßer Fortschritt ganz unvereinbare Dinge" seien, sondern auch, „daß sie selbst weit entfernt sind, der liberalen Partei anzugehören" 416. Wenn ihn dennoch nicht nur seine Zeitgenossen nach dem Erscheinen des Büchleins „Der Liberalismus und die Freiheit" Ende 1846 immer noch dem Lager der Liberalen zuordneten, ist dies nicht von vornherein als Fehlurteil einzustufen, obwohl Lavergne selbst seinen „Abfall vom Liberalismus, dem ich früher mit jugendlicher Begeisterung angehangen hatte" bereits auf das Erscheinen der „Grundzüge" datierte. 417 Noch 1914 lobte Erich Jordan den Autor des „schönen" Buchs „Der Liberalismus und die Freiheit", niemand habe „den ganzen Unterschied zwischen dem individualistischen und dem sozialpolitischen Liberalismus klarer und schärfer gezeichnet als Lavergne". 418 Zieht man die Grenzlinie zwischen individualistisch und sozialpolitisch, so stehen auf der einen Seite die Verfechter eines vom Staatseinfluss weitestgehend befreiten politischen und wirtschaftlichen Prozesses, der dem Individuum die Ausübung seiner Rechte garantiert. Hierher gehören die Anhänger von demokratischer Volksrepräsentation und Republikanismus, von unbeschränkter Gewerbe-, Presse- und Versammlungsfreiheit, von Judenemanzipation und Bodenmobilität. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die all diese Freiheiten und Rechte für wünschenswert, aber in der politischen und wirtschaftlichen Praxis nur eingeschränkt oder wohldosiert anwendbar halten. Das Etikett „sozialpolitisch" erhalten sie für ihre Perspektive auf die soziale Gruppierung und die gesamtstaatliche Wohlfahrt. Hält man sich an das Liberalismuskonzept von Dieter Langewiesche419, finden wir im „sozialpolitischen" Liberalismus Jordans frühliberale Elemente und Grundsätze wieder. Diese Einordnung stimmt auch mit Lavergnes eigener Trennungslinie überein, der sich in der Hartungschen Zei-

415 416 417 418

419

Lavergne, Liberalismus, S. ΧΠΙ. Lavergne, Liberalismus, S. XIV. Lavergne, Liberalismus, S. XVII. Jordan, S. 87.

Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 12 ff.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

tung vom „modernen Liberalismus" 420 distanzierte, seine eigenen liberalen Prinzipien also einer älteren Tradition zuordnete. Diese ostpreußische Diskussion spiegelt einen Orientierungsprozess des Vormärz wider, in dem sich politische Positionen klärten und festigten. Diesem Klärungsprozess unterzog sich auch Lavergne in „Der Liberalismus und die Freiheit" mit einer Übersicht über die politische Landschaft in Preußen. 421 Die Konservativen bezeichnete er darin als die „Retrograden". Weil ihnen die Reformen zu weit gegangen seien, wollten sie zu mittelalterlichen Zuständen, zumindest aber zu einer autoritären Verwaltung zurück. Die „Partei der Pietisten" sei aus der Gegnerschaft zum Rationalismus entstanden und verfolge das Wiedererstarken des kirchlichen Einflusses durch Förderung einer orthodoxen Gläubigkeit. Diese beiden Gruppierungen würden von der „Partei der Liberalen" für alle aktuelle Missstände verantwortlich gemacht. Die Liberalen - hier taucht erstmals als Synonym „Radikale" auf - wollten dagegen weitere Reformen und seien vor allem der Ansicht, dass das politische System Preußens die im „Naturrecht begründeten Menschenrechte" nicht sicherstelle. All diese „Parteien" hätten nur eine geringe Zahl echter Anhänger, was sie aber durch entsprechende Agitation auszugleichen versuchten. 422 Die wenigen Agitatoren hielten nach Lavergnes Vorstellung die große Masse der „gebildeten Preußen" davon ab, sich ihrer abweichenden Position bewusst zu werden und über die praktischen Folgen des modernen Liberalismus nachzudenken. Nur so war es Lavergne überhaupt möglich, sich einzugestehen, dass die Elite in der Provinz Preußen tatsächlich in entscheidenden Punkten liberale Positionen einnahm. Und das seien nicht nur die Abneigung gegen Konservative und Pietisten, der Wunsch nach Fortschritt und die Freiheitsliebe: „Selbst die von der Staatskunst der liberalen Schule als Grundlage der Freiheit und jeglichen Fortschritts bezeichneten Bedingungen: Freiheit der Bodenbewegung, Press-, Gewerbe- und Handelsfreiheit, Schwurgericht und constitutionelle Verfassung werden von denselben gemeinhin als Basis zeitgemäßen Fortschritts anerkannt." 423 Eine liberale Mehrheit im Provinziallandtag resultierte nach Lavergnes Überzeugung daraus jedoch nicht: „Endlich ist die Behauptung entschieden unrichtig, als gehöre die Mehrzahl der Mitglieder des preußischen Landtags der liberalen Partei an. Die preußischen Stände haben bisher bekundet, dass sie über den Parteien stehend, in treuer, hingebender Anhänglichkeit an das ange-

420 421 422 423

Hartungsche Zeitung, Nr. 203, 1846, S. 881. Lavergne, Liberalismus, S. ΠΙ ff. Lavergne, Liberalismus, S. IV. Lavergne, Liberalismus, S. V.

V. Abrechnung mit dem Liberalismus

225

stammte Königshaus, nur das Wohl des gemeinsamen Vaterlandes im Auge haben." 424 War das ein Zugeständnis an die Zensur oder nur politische Naivität? Das lässt sich aus heutiger Sicht nicht mehr entscheiden. In jedem Fall versuchte Lavergne mit dieser Taktik - Schmeicheln in Richtung liberaler Mehrheit, Schlagen in Richtung liberaler „Partei" - dieser Mehrheit eine Alternative zum „schwankenden" 425 Liberalismusbegriff anzubieten. An dieser Stelle taucht bei Lavergne zum ersten Mal der Terminus „Sozialismus" auf, den er in Anlehnung an Schmitthenner 426 , aber auch an Alexander Jung 427 und Karl Rosenkranz 428 gebrauchte. Auch Rosenkranz vollzog nach der Revolution den Wechsel in das gemäßigt konservative Lager. 429 Sozialismus, im Vormärz ebenso vieldeutig wie „Liberalismus", wurde von Lavergne in erster Linie als Abgrenzung zum Individualismus eingesetzt, als Ausdruck für die bewusst herbeigeführte Teilhabe des Volkes am Ganzen. Das geschah in klarer Abgrenzung vom französischen Sozialismus in der Tradition von St. Simon und Fourier, der mit dem in Frankreich praktizierten Zentralismus gleichgesetzt wurde. 430 Er wurde als auf Preußen nicht anwendbar von diesen ostpreußischen „Sozialisten" abgelehnt. Die französische Variante des Sozialismus wurde im Königsberger Umfeld Rosenkranz' bereits diskutiert, bevor Lorenz v. Stein die gesamtdeutsche Rezeption einleitete. 431 Wenn Lavergne die Sozialisten als die „unbefangenen und praktischen Freunde der Freiheit" 432 charakterisierte, so findet sich darin erneut der Vorwurf an die Liberalen, nur von der Theorie her die Welt erfassen zu wollen. Die Erfahrung hätte die Sozialisten jedoch gelehrt, dass wahre individuelle Freiheit nur im Schutz der sozialen Gruppe zu erreichen ist. Der Liberalismus habe seinen historischen Auftritt gehabt, indem er die Gesellschaft von mittelalterlichen Zwängen befreite. Für die weitere Entwicklung fehlten ihm jedoch die Möglichkeiten, deshalb lauerten hinter dem verlockenden Antlitz der individuellen Freiheit Despotismus und Kommunismus, hinter der „ungezügelten Bewegung der sozialen Kräfte" Pauperismus und Proletariat.

424

Hartungsche Zeitung, Nr. 203, 1846, S. 881. Lavergne, Liberalismus, S. XV: „Der Begriff des Liberalismus ist so schwankend, daß Jedermann, der sich dieses Ausdrucks bedient, die Hinzufugung eines Beiwortes für nöthig hält." 426 Henkel Schmitthenner, S. 38. 427 Jungs Definition von „Socialismus" in: Königsberg und die Königsberger, S. 39 ff. 428 Esau, Rosenkranz, S. 146. 429 Esau, Rosenkranz, S. 185. 430 Esau, Rosenkranz, S. 146. 431 Lavergne, Liberalismus, S. VI; zum preußischen Diskurs Beck, Origins, S. 85, Fn. 30; Esau, Rosenkranz, S. 146. 432 Lavergne, Liberalismus, S. VI. 425

226

Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

Mit der Verbindung Liberalismus-Despotismus stand Lavergne nicht allein. Auch Schmitthenner hatte sie 1838 bereits hergestellt. 433 Mit dem Konnex Liberalismus-Kommunismus drückte Lavergne die mit dem KommunismusBegriff verbundene allgemeine Angst vor einem politisch-revolutionären Umsturz aus, in dessen Nähe er die Liberalen rücken wollte; es genügte ihm vielleicht auch, den Liberalismus mit in den pejorativen Bedeutungszusammenhang des Kommunismus hineinzuziehen. So schrieb er an anderer Stelle, der „moderne Liberalismus" müsse in seinen Konsequenzen zur Unfreiheit oder zu „kommunistischem Nonsens" führen" 434 .Vermutlich hatte sich Lavergne mit dem in Deutschland Mitte der 40er Jahre rezipierten politischen Gehalt der aus Frankreich importierten Ideologie noch nicht auseinandergesetzt; da ihm zumindest der eklatante Widerspruch beim Eigentumsbegriff aufgefallen sein müsste 435 Der von Lavergne gewünschte Bewusstwerdungsprozess blieb aus. Auf seine provokanten Aufforderungen reagierten die Angesprochenen aufgeregt und zum Teil sehr heftig. Noch recht moderat beschränkte sich die Kritik des Gutsbesitzers Alexander Küntzel mit Rücksicht auf die langjährige Freundschaft zu Lavergne auf geduldige fast freundliche Zurechtweisung. 436 Die Ankündigung, als Folge der einzuführenden Pressefreiheit werde der „Liberalismus, wie er es nicht anders verdient, nachdem er seine Aufgabe erfüllt, für immer zu Grabe getragen" 437, konnte allerdings ein weiterer wohlmeinender Kritiker namens Friedrich Krüger nicht unwidersprochen stehen lassen. Auch auf Lavergnes wiederholtes Bekenntnis zum preußischen Staat in seiner bestehenden Form reagierte Krüger mit Unverständnis. Krüger sah sich allerdings nicht in der Lage, „die zahllosen Irrthümer des Herrn P." in einem Zeitungsartikel widerlegen zu können und kündigte deshalb eine längere Schrift an, die aber nicht erhalten ist. 438 Lavergnes entschiedenste Gegner veröffentlichten ihre Anwürfe anonym und hielten sich unter ihrem Inkognito nicht mit Auslassungen über Lavergnes wissenschaftliche und politische Unzulänglichkeiten, Widersprüche und Irrtümer, bitterster Ironie und blankem Spott zurück. 439

433 434 435

436

Schmitthenner, Parteien, S. 226. Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 203, 1846, S. 881. Schieder, S. 474 f., Schulz, S. 294.

Küntzel. Lavergne, Liberalismus, S. 99. Krüger, Rezension in Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 271, 19. Nov. 1846, S. 1195. 439 Anonym, Der Liberalismus; anonym („Kein Politiker aus Verzweiflung"). In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 273, 21. Nov. 1846, S. 1205-1206; Inserat, ebd., Nr. 275,24. Nov. 1846, S. 1213. 437 438

VI. Zusammenfassung

227

Dagegen erschienen lediglich zwei Artikel, die Lavergnes Ausführungen stützten und ihn gegen seine Kritiker verteidigen wollten. Sie sind so sehr im Sprachstil und -duktus Lavergnes gehalten, dass sich der Gedanke aufdrängt, er habe sie zu seiner eigenen Ehrenrettung selbst lanciert. 440 Wenn darin aber den Liberalen der Vorwurf des „Gesinnungsterrorismus" 441 gegenüber ihren Gegnern gemacht wurde, den sie ausübten, statt deren Argumente zu widerlegen, konnte das die allgemeine Stimmung im Lager der Liberalen gegen den Rößeler Landrat nicht besänftigen. Da er in seiner so hart attackierten Schrift auch den konservativen Kräften eine Absage erteilt hatte, war er nach dieser Diskussion in der Provinz Preußen politisch isoliert. Mit dem erfolglosen Ende der Notstandskommission wenige Monate später, dem fehlgeschlagenen Siedlungsprojekt in Rothfließ sowie seinem vorzeitigen Abschied vom Vereinigten Landtag fügen sich die Gründe für den Wechsel nach Wirsitz Anfang 1849 zusammen.

VI. Zusammenfassung Die Vierzigerjahre waren für Moritz v. Lavergne-Peguilhen weniger von der konsequenten Fortsetzung seiner wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit als vielmehr von der Verfolgung beruflicher und politischer Karriereziele geprägt. Nach seiner Wahl in den Landtag der Provinz Ostpreußen im Jahr 1841 gelang es ihm 1844 nach mehreren erfolglosen Versuchen an anderen Orten, Landrat im Kreis Rößel in der Nähe von Königsberg zu werden. Seine politische Arbeit in beiden Ämtern war geprägt von Versuchen, seine Vorstellungen von der Behebung der wachsenden Massenarmut in praktischen Projekten durchzusetzen. Im Provinziallandtag setzte er 1845 die Gründung einer „Kommission zur Ermittelung der Ursachen für die häufig wiederkehrenden Nothstände" durch, als Landrat siedelte er 1846 mehr als 120 Bauern und Handwerker mit ihren Familien aus Hessen-Darmstadt auf dem Gebiet eines ehemaligen Rittergutes in seinem Landkreis an. Sie sollten durch ihre Anbauund Arbeitsmethoden die einheimische Bevölkerung beeinflussen und durch bessere Ernteerträge zu steigendem Wohlstand beitragen. Beide Projekte erwiesen sich jedoch als Fehlschläge. Die Kommission erarbeitete zwar ein umfangreiches Protokoll, erreichte jedoch keine durchgreifenden Maßnahmen zur Armutsbekämpfung. An diesem Ergebnis hatte Lavergne

440

Inserat. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 276, 25. Nov. 1846, S. 1219, Nr. 292, 14. Dez. 1846, S. 1300. 441 Inserat. In: Königsberger Hartungsche Zeitung, Nr. 276, 25. Nov. 1846, S. 1219, Nr. 292, 14. Dez. 1846, S. 1300.

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Β. Politiker und Landrat in Ostpreußen

keinen geringen Anteil, torpedierte er doch alle Ad-hoc-Maßnahmen, weil sie seiner Auffassung widersprachen. Für ihn waren Armenspeisungen, der Einsatz von Arbeitslosen im Straßenbau oder die Beschäftigung in kommunalen Armenhäusern nur der Ausdruck staatlicher Hilflosigkeit vor dem Problem der Massenarmut. Er begriff den Pauperismus als Ausdruck gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fehlentwicklungen infolge falscher Weichenstellungen nach den preußischen Reformen. Mit seinen politischen Aktivitäten im Provinziallandtag erreichte er eine, allerdings nicht über die Grenzen der ostpreußischen Provinzen hinausgehende Bekanntheit innerhalb der politischen Klasse. Während er bei all seinen Aktivitäten von der seit Anfang der 40-er Jahre durch konservatives Personal geführten Verwaltung in Königsberg inhaltliche und praktische Unterstützung erfuhr, war er für die starken liberalen Gruppierungen in Königsberg und den Gutsbesitzerkreisen der Provinz bald schon ein rotes Tuch. Gerade sein Auftreten in der Notstandskommission, mit dem er jegliche Sofortmaßnahme blockierte, aber auch sein Alleingang bei der Ansiedlung der Hessen auf einem ehemaligen Rittergut in seinem Landkreis, der nur durch die Zusammenarbeit mit dem König Friedrich Wilhelm IV. nahe stehenden Freiherrn Senfft v. Pilsach möglich wurde, machten ihm in diesen Kreisen keine Freunde. Die Fronten erhärteten sich noch durch die deutlich antiliberalen Veröffentlichungen Lavergnes in den 40er-Jahren. Sowohl in seinen 1841 erschienenen Ausführungen zur Landgemeindeordnung als auch in der Schrift „Der Liberalismus und die Freiheit" von 1846 fokussierte er die Schuldzuweisungen für die Entstehung von Pauperismus, Sozialismus und Kommunismus auf die liberale Theorie und ihre Umsetzung nach den preußischen Reformen. Diese Haltung vertrat er auch in den Verhandlungen der Notstandskommission. Hier erneuerte er seine Forderung nach der Einführung einer institutionell betriebenen Gesellschaftswissenschaft, die allein in der Lage sei, durch abgesicherte, empirisch ermittelte Ergebnisse über die Ursachen der sozialen Fehlentwicklungen Aufschluss zu geben und grundlegende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Gegen die liberalen Forderungen nach Konstitution und demokratisch legitimierter Repräsentanz setzte Lavergne die Forderung nach einer Landgemeindeordnung, die gekoppelt an eine am mittelalterlichen Vorbild ausgerichteten Städteordnung eine gesamtstaatliche Konstitution ersetzen sollte. Während er im kommunalen Bereich eine an Besitz und Innungszugehörigkeit geknüpfte demokratische Vertretung befürwortete, sollte auf der Ebene des Nationalstaats lediglich eine aus den Ständen rekrutierte beratende Versammlung über Verteidigungs-, Außen- und Zollpolitik verhandeln. Als sich das Jahrzehnt seinem politischen Höhepunkt näherte und der König 1847 mit dem ersten Vereinigten Landtag die eruptive Stimmung beschwichti-

VI. Zusammenfassung

229

gen wollte, war Lavergne davon nicht begeistert. Obwohl in Berlin und in den Sitzungen verschiedener Ausschüsse anwesend, verweigerte er sich den Abstimmungen und gab damit seiner Ablehnung des „Geschäfts" zwischen König und Ständen Ausdruck, bei dem das königliche Verfassungsversprechen von der Zustimmung zur Finanzierung der Ostbahn abhängig gemacht wurde.

C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution Die Revolution von 1848 stellte für Lavergne eine vorhersehbare „Katastrophe" dar. 1 Sie habe „die Früchte offenbar werden lassen, welche das bureaukratisch-liberale Regiment auf dem Boden der atomisirten Gesellschaft zeitigen muß" 2 . Im Sommer des Jahres 1848 sah es aber noch nicht so aus, als würden die liberalen Prinzipien, wie Lavergne später urteilte, durch die Ereignisse der Revolution endlich „gerichtet" 3 werden. Es sah im Gegenteil danach aus, dass die Liberalen obsiegen würden. Um dies zu verhindern, begab sich Moritz v. Lavergne-Peguilhen ins Zentrum der Revolution in Preußen, nach Berlin. Während sich andere Vertreter des konservativen Spektrums aus Berlin in die ostelbischen, von der Revolution nahezu unberührten ländlichen Regionen und ins Private zurückzogen 4, ging Lavergne in die Offensive. Er verfügte offenbar im Kreis Rößel noch über so viel politisches Gewicht, dass er die örtlichen Honoratioren von der Gründung eines Vereins überzeugen konnte, der die von Lavergne vertretenen sozialpolitischen Positionen gewissermaßen als Gegengewicht zu den der Revolution zugrunde liegenden liberalen Grundsätzen verbreiten sollte. Danach verließ er seinen ruhigen Landkreis, begab sich ins Zentrum der Unruhe und ließ dem lokalen Verein eine überregionale Vereinsgründung folgen. Sein Ziel war es, gegenrevolutionäre Kräfte zu sammeln, um eine Lösung für die sozialen Probleme Preußens unter konservativen Vorzeichen zu ermöglichen. Der Ortswechsel von Rößel nach Berlin und die damit verbundenen weit reichenden Aktivitäten ermöglichten ihm auch Abstand von einem privaten Unglück zu gewinnen. A m 18. Juli 1848 starb sein zweiter Sohn Paul im Alter von

1

Lavergne, Häuser, S. 457. Lavergne, Häuser, S. 457. 3 Lavergne, Programm, S. 120. 4 Schwentker, S. 58 f.; etwa Karl Rosenkranz, vgl. Esau, Rosenkranz, S. 186: „So bleibt wieder, wie im Juli 1848, der stille Vorbehalt des Rückzugs in seine eigentliche Lebenssphäre." Zum kurzen revolutionären Aufbegehren in Königsberg Belke, S. 162 ff. 2

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

231

acht Monaten.5 Diese Vermutung liegt nahe, obwohl sie aus den spärlichen Hinweisen in den vorhandenen Quellen nicht belegt werden kann. 1. Schulterschluss der Konservativen In all dem politischen Durcheinander nach den Märzereignissen sah Lavergne jetzt offenbar eine Möglichkeit, seiner Arbeit eine gewisse Kontinuität zu verleihen und die Ergebnisse der Arbeit der Notstandskommission wieder in die Diskussion zu bringen. Sein Nahziel war dabei, die Gesellschaftswissenschaft schnellstmöglich zu institutionalisieren. Dafür gründete er im Frühjahr 1848 in Rößel den „Verein für volkswirthschaftliche und soziale Angelegenheiten", von ihm selbst auch „Socialpolitischer Verein für Rößel" genannt, dessen Programm im wesentlichen auf den Abschlussbericht der Notstandskommission aufbaute. Ob aus Protest oder weil ihm die notwendigen Stimmen fehlten - Lavergne hatte 1848 kein politisches Mandat in Berlin. Während einer der liberalen MitRedakteure des Abschlussberichts, Alfred v. Auerswald, als Innenminister des Märzministeriums an den Hebeln der preußischen Politik saß6, wurde Lavergne weder in den zweiten Vereinigten Landtag noch in die Preußische Nationalversammlung gewählt. Sein Bruder Alexander saß dagegen im Frankfurter Parlament.7 Das war vielleicht der Grund dafür, dass Lavergne sich mit der ersten Resolution seines neu gegründeten Vereins unter Umgehung der Berliner Nationalversammlung nach Frankfurt wandte. Lavergne hoffte wohl, in seinem Bruder einen wirkungsvollen Fürsprecher zu finden. So fanden die Hauptbestandteile des Berichts der Notstandskommission in Form einer Eingabe des Rößeler Vereins im Juni 1848 den Weg in die Frankfurter Nationalversammlung. Der Text wurde an den Ausschuss für volkswirtschaftliche Angelegenheiten weitergeleitet. Dort verliert sich seine Spur, was an der immens großen Zahl von Petitionen gelegen haben dürfte, die an die Nationalversammlung, besonders aber an den Volkswirtschaftlichen Ausschuss gerichtet waren. 8 Aus dieser Zeit gibt es ein weiteres Indiz für Lavergnes großer Skepsis gegenüber den demokratischen Institutionen der Revolution in Preußen. Mit dem 22. Mai hatte Lavergne für die erste Sitzung des „Socialpolitischen Vereins"

5

Gotha, Briefadel 1909, S. 471. Preußens Volksvertretung, S. XIV; Mieck, S. 290. 7 B. M. Rosenberg, Abgeordnete, S. 82 f.; Altpreußische Biographie, Bd. ΙΠ, S. 994; Grundriß, Bd. 1, S. 141 ;Best/Weege, S. 217 f. 8 Bundesarchiv Frankfurt, NV Nr. 29 I; Nationalversammlung Frankfurt, Sten. Ber. I, S. 387; Sietnann, Revolution, S. 182, zählt 17.000 Petitionen an die Paulskirche; zum Verfahren bei Petitionen an die Paulskirchen Versammlung: Kumpf. 6

232

C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

das Datum gewählt, an dem die durch Urwahlen legitimierte Preußische Nationalversammlung erstmals in Berlin zusammentrat. Zu diesem Termin lud Lavergne bewusst und in Abgrenzung zur gewissermaßen „klassenlos" zusammengesetzten Berliner Versammlung „alle Klassen der ländlichen und städtischen Bevölkerung" der Kreise Rößel und Allenstein, besonders aber alle, „die für das allgemeine Wohl sich interessiren", in den Gasthof nach Heiligelinde ein. Auch dies lässt sich als politisches Signal interpretieren, war doch dieser Ort mit seiner Barockkirche gewissermaßen das geistliche Zentrum des Ermlandes.9 Den durch die zeitliche Parallelität zur Nationalversammlung hergestellten politischen Bezug unterstrich Peguilhen durch eine selbst formulierte pseudodemokratische Begründung: „In Folge der in unserer Staatsverfassung eingetretenen Veränderungen ist es aber Sache des Volks geworden, über die Gesetze und Staatseinrichtungen selbst nachzudenken und sie den Ministerien und der Versammlung der Volkvertreter zu bezeichnen, die dem Lande Noth thun. Versäumt das Volk diese Pflicht und tritt dann wieder Nothstand ein, so hat es sich die Schuld selbst zuzuschreiben." 10 Der Rittergutsbesitzer v. Lavergne-Peguilhen und seine Mitstreiter ernannten sich also selbst zu dem „Volk", das den gewählten Vertretern in Berlin die wahren Probleme des Landes bezeichnen sollte. Um dieser Aufgabe unter den veränderten Bedingungen gerecht werden zu können, müssten jetzt viele möglichst mitgliederstarker Vereine entstehen, forderte er. Unterstützung fand er zunächst bei einigen Kreistagsmitgliedern. 11 Der am 22. Mai gegründete Verein hatte schließlich 80 Mitglieder aus den Reihen der „gebildeten Kreisbewohner, auch Dorfschulzen und Köllmer" 1 2 der Kreise Rößel und Allenstein. Die Versammlung wurde nach Lavergnes Bericht auch von „Mitgliedern des Arbeiterstandes, der Landgemeinden und von kleinen Handwerkern zahlreich besucht, in der die Lage dieser Stände, ihre Klagen und Beschwerden zur Erörterung gekommen, vermehrt und vervollständigt worden". 13 Im Vorstand saßen neben dem Vorsitzenden Lavergne der evangelische Rößeler Pfarrer Rübsamen, der Arzt Dr. Haffner aus Bischofsstein, der Amtmann Kurilla aus Voigtshof sowie der Gutsbesitzer Dr. Jachmann, möglicherweise ein Verwandter Lavergnes mütterlicherseits. 14 Lavergne hatte die 9

Rößeler Kreisblatt, Nr. 19, Mai 1848, S. 89 f., Zitat S. 90; Belke, S. 162: Zentrum der Revolution in Altpreußen war Königsberg mit seinen Resourceversammlungen und Unruhen im März. 10 Rößeler Kreisblatt, Nr. 17, April 1848, S. 85. 11 Rößeler Kreisblatt, Nr. 24, Juni 1848, S. 109 ff.; Nr. 27, Juli 1848, S. 121 ff.; Nr. 34, August 1848, S. 177 f. 12 B. M. Rosenberg, Beiträge, S. 256. 13 Rößeler Kreisblatt, Nr. 24, Juni 1848, S. 110. 14 Rößeler Kreisblatt, Nr. 24, Juni 1848, S. 111; Lavergnes Mutter war eine geborene Jachmann.

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

233

inhaltliche und programmatische Führung der Vereinsmitglieder übernommen. So wurden in der ersten Sitzung die „bekannten volkswirtschaftlichen Systeme" erörtert, wobei die Versammlung die Interpretationen ihres Vorsitzenden übernahm. Welcher ermländische Gutsbesitzer, Kaufmann, Handwerker oder Schulze hatte sich wohl bisher Gedanken über die Vorzüge und Nachteile der bestehenden volkswirtschaftlichen Systeme gemacht? So erstaunt es nicht, dass die Eingabe an das Frankfurter Parlament eher wie die „Wiedergabe eines Kollegheftes eines Studenten der Volkswirtschaft denn als das Ergebnis der Beratungen braver Rößeler Bürger" erschien. 15 Der Inhalt der Vereinspublikationen deckte sich in zahlreichen Passagen mit Formulierungen in Lavergnes bisherigen Veröffentlichungen. Sie betonten den organischen Charakter von Staat und Gesellschaft, die Dringlichkeit der Heilung des kranken Gesellschaftskörpers und fanden die Ursache für seine Krankheit im Übergewicht des großen Kapitals. Deshalb stand die Forderung nach einer progressiv gestaffelten Einkommenssteuer für das Gebiet des gesamten deutschen Zollvereins ganz oben. Um seine eigene Urheberschaft bei dieser Forderung herunterzuspielen, hob Lavergne hervor, dass der Vorschlag aus Einsicht in höhere Notwendigkeiten vor allem von den wohlhabenderen Verein smitgliedern getragen würde. Sie stünden auch hinter der Beantragung einer Darlehnskasse zur Förderung der Industrie und „zur Unterstützung des vielfach bedrängten Landbaues".16 Drittes Element des Forderungskatalogs war die Institutionalisierung der Gesellschaftswissenschaft, hier als „Volkswirtschaftlich-Praktisches Centrai-Organ für volkswirthschaftliche und sociale Angelegenheiten" bezeichnet. Damit einhergehen sollte die Ausweitung der Kompetenzen des Preußischen Statistischen Büros als Kerninstitution für die gesamte nationalökonomische und soziale Forschung an den Universitäten. 17 Als dieses gesellschaftswissenschaftliche und volkswirtschaftliche Sofortprogramm in der Frankfurter Paulskirche nicht über die Ausschüsse hinauskam, suchte Lavergne nach weiteren Möglichkeiten zu seiner Durchsetzung. Im Spätsommer 1848 gelang es dem Rößeler Landrat, seine Forderungen im Programm des in Berlin gegründeten überregionalen „Vereins für sozialpolitische Reform" unterzubringen. 18 Lavergne hatte im August um Urlaub vom Landratsamt gebeten, um seinen konservativen Gesinnungsgenossen bei der Verteidigung ihrer Interessen zur Hilfe zu eilen. Sein Vertreter im Landratsamt, der Kreisdeputierte und Obrist-Lieutenant a. D. von Hintzmann führte derweil auch

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B. M. Rosenberg, Beiträge, S. 256. Rößeler Kreisblatt, Nr. 24, Juni 1848, S. 111. Rößeler Kreisblatt, Nr. 27, Juli 1848, S. 121 ff. Programm des Vereins für sozial-politische Reform, Berlin 1848.

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C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

die Arbeit des Rößeler Vereins weiter, der später dem Berliner Verein angeschlossen wurde. Der geistigen Führung durch den visionären Landrat beraubt, wandten sich die Diskussionen den lokalen Problemen sowie den Erfahrungen mit Armenpflege und Notstandshilfe im Zusammenhang mit der Bevölkerungsexplosion in Preußen in den vergangenen Jahrzehnten zu. 19 Der „Verein für sozialpolitische Reform" entstand im September 1848 als „Ableger" des wenige Wochen vorher gegründeten „Vereins zum Schutz des Eigentums und zur Förderung des Wohlstands aller Volksklassen" 20 . Hier hatten sich konservative Grundbesitzer im Schutz der von den Revolutionären erwirkten Vereins- und Versammlungsfreiheit 21 zusammengefunden, um in erster Linie gegen die drohende Aufhebung der Grundsteuerbefreiung für den Grundbesitz anzutreten und zur Stärkung des konservativen Spektrums beizutragen, das in Vereinsgründungen eine öffentlichkeitswirksame Möglichkeit sah, die im Verlauf der Revolution erneut deutlich gewordene Ohnmacht gegenüber Politik und Organisation der Liberalen zu beenden. Der Zweite Vereinigte Landtag vom April 1848 war erneut liberal dominiert und auch bei den Urwahlen und Abgeordneten wählen zur preußischen und deutschen Nationalversammlung ergab sich keine Änderung dieses Kräfteverhältnisses. 22 Flankiert wurden diese organisatorischen Bemühungen von der im April 1848 beschlossenen Gründung der „Neuen Preußischen Zeitung", nach dem Eisernen Kreuz auf dem Titelblatt kurz „Kreuzzeitung" genannt.23 Ein Appell in der Probenummer vom 16. Juni machte deutlich, dass die Konservativen mit ihrem Blatt in die Offensive gegen die revolutionäre Bewegung gehen wollten. Der Erfolgslauf als konservatives Renommierblatt Preußens 24 wurde von hohen Abonnentenzahlen getragen. Ihr Anstieg von anfangs 995 über 3.000 am Jahresende auf 5.000 im Jahr 1849 belegt das Bedürfnis nach Information und öffentlicher Stellungnahme im konservativen Lager. Das unter der redaktionellen Leitung von Hermann Wagen er stehende Blatt wurde binnen kurzem zu einem der einflussreichsten in der Berliner Zeitungslandschaft. 25 Dazu trugen nicht zuletzt auch ihre prominenten Mitarbeiter teil, zu denen neben ErnstLudwig und Leopold v. Gerlach die gesamte preußische konservative Elite wie Heinrich Leo, Friedrich Julius Stahl, Joseph Maria v. Radowitz, Karl Ludwig v. 19 20 21

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Rößeler Kreisblatt, Nr. 34, August 1848, S. 177 f. Schwentker, S. 198. Dann,, S. 125.

Siemann, Revolution, S 87. Ausführlich Kraus, Gerlach I, S. 410 ff.; Görlitz, S. 249 f; Jordan, S. 208 ff. 24 Schwentker, S. 62; H. Rosenberg, Pseudodemokratisierung, S. 300; Carsten, S. 106: Offiziell erschien die Nr. 1 am 1. Juli 1848. 25 Schwentker, S. 62; Andrae-Roman, Erinnerungen, S. 45; Kraus, Gerlach I, S. 410 f. 23

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

235

Haller, Victor Aimé Huber, Karl Witte, Otto v. Bismarck und Philipp Nathusius gehörten. 26 Die „Kreuzzeitung" fungierte erfolgreich als Sprachrohr der schon im Mai 1848 auf dem Hintergrund der Urwahlen gegründeten Zusammenschlüsse „Verein für König und Vaterland", „Patriotischer Verein" und „Preußen Verein". 2 7 Sie waren Sammelbecken für „all jene, die nicht mit den von der Revolution bewirkten oder von den liberalen Ministerien avisierten Veränderungen der politischen und sozialen Verhältnisse einverstanden waren" 28 . Zu diesen Vereinigungen Urbanen Charakters gesellte sich im Juli der auf die Initiative Ernst v. Bülow-Cummerows gegründete agrarisch motivierte „Verein zum Schutz des Eigentums und zur Hebung des Wohlstands aller Volksklassen". Er vertrat in erster Linie die Interessen des ostelbischen Großgrundbesitzes. 29 Neben der als existenzielle Bedrohung dargestellten Aufhebung der Grundsteuerbefreiung 30 wollten die Vereinsgründer die Juli-Beschlüsse31 zur unentgeltlichen Aufhebung von Privilegien der Gutsherren wie Ortspolizei, Patrimonialgerichtsbarkeit sowie Schul- und Kirchenpatronat bekämpfen. 32 Die Gründung war sorgfältig vorbereitet: M i t Unterstützung der junkerdominierten landwirtschaftlichen Pro vin zial vereine und Landesökonomie-Kollegien erreichte Bülow 300 Grundbesitzer aus Pommern, der Mark, Ost- und Westpreußen sowie Posen, die am 24. Juli in Stettin zusammenkamen, um zu beraten, wie - ironischerweise zu Beginn einer Phase der finanziellen Stabilisation des Gutsbesitzes33 - der „gänzliche Ruin der Grundbesitzer der östlichen Provinzen der Monarchie abzuwenden" 34 sei. Dazu wurde ein elfköpfiger Ausschuss zur Redaktion und Übergabe der Protestadresse an die Regierung sowie zu dessen Unterstützung der „Verein zur Wahrung der Rechte des Grundbesitzes und zur Aufrechterhaltung des Wohlstandes aller Volksklassen" gegründet. 35 Im Gründungsaufruf hieß der Zusammenschluss dann „Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und Förderung des Wohlstandes aller Volksklassen". Darin forderten die Gründungsmitglieder alle Grundbesitzer unabhängig von der Größe ihres Besitzes zum Beitritt auf.

26 27 28 29 30 31

32

Kraus, Gerlach I, S. 411. Schwentker, S. 336; Kraus, Gerlach I, S. 442. Kraus, Gerlach I, S. 442. Kraus, Gerlach I, S. 128. Kraus, Gerlach I, S. 100. Carsten, S. 107.

„Das Rittergut wehrte sich gegen Klubs und bäuerlichen Landhunger." Valentin, Bd. 2, S. 233. 33

34 35

Schwentker, S. 106.

Zitat bei Klatte, S.231. Schwentker, S. 102; Klatte, S. 230.

C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

236

Das Vereinsprogramm forderte die Sicherung und Steuerfreiheit des Grundeigentums bei gleichzeitiger entschädigungsloser Preisgabe ständischer Rechte und Förderung des mittleren und kleineren bäuerlichen Besitzes. Damit wurde es Zielscheibe der Kritik des Kreises um den einflussreichen pietistischen Gerichtspräsidenten Ernst-Ludwig v. Gerlach. Dieser kritisierte gleichzeitig den unpolitischen Charakter des Programms, das in erster Linie interessenpolitisch geprägt war. 36 Die erste Generalversammlung des Vereins, zu der sich rund 400 Gutsbesitzer am 18. August 1848 in Berlin trafen, verstand sich als konservatives Gegengewicht zur Nationalversammlung 37 und gab sich selbst die Bezeichnung „Junkerparlament" 38 im Gegensatz zum „Tagelöhnerparlament", der Verfassunggebenden Versammlung. 39 Treffender ist wohl die Charakterisierung als „Generalversammlung einer Wirtschaftsgruppe", die ihre politische und wirtschaftliche Macht keinesfalls aufzugeben bereit war. 40 Obwohl unter den 250 Unterzeichnern der abschließenden Adresse an den König 170 Angehörige der preußischen Ritterschaft waren, fanden sich unter dem Dach des Vereins Vertreter unterschiedlicher partei- und agrarpolitischer Interessen. Die vorwiegend materialistischen Interessen der bürgerlichen Gutsbesitzer kollidierten im Verein mit den idealistischen altpreußisch-paternalistisehen Vorstellungen der „Kreuzzeitungspartei" um Ernst-Ludwig v. Gerlach. 41 Lavergne gelang es während der Debatten des „Junkerparlaments", einige Vereinsmitglieder für die soziale Problematik zu interessieren. Allerdings sollte das Thema nicht unter dem Dach des „Vereins zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und Förderung des Wohlstandes aller Volksklassen" weiterverfolgt werden. Es wurde gewissermaßen ausgelagert. Die sozialkonservativen Mitglieder des „Junkerparlaments" scheiterten Mitte September 1848 mit ihrem Versuch, ihre Vorstellungen von einem alternativen Parteiprogramm durchzusetzen.42 Ihr Programmentwurf wurde auf Betreiben Bülow-Cummerows als Mitglied des Zentralkomitees 43 einer Arbeitskommission übergeben und auf

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37 38

Schwentker, S. 103.

Andrae-Roman, Erinnerungen, S. 55 spricht von „Gegenparlament". Schwentker, S. 106, Valentin, Bd. 2, S. 233; Görlitz, S. 251; Droz, S. 292 ff.; G. Be-

cker, Beschlüsse, S. 889-918. 39

40 41

Görlitz, S. 250. Valentin, Bd. 2, S. 233. Klatte, S. 249 ff.

42 „Programm des Vereins zum Schutze des Eigentums und zur Förderung des Wohlstandes aller Volksklassen, enthaltend eine Darlegung der politischen, volkswirtschaftlichen, sozialen und Kultur-Institutionen, welche der Ausschuß dieses Vereins zur Reorganisation der Gesellschaft für notwendig erachtet", nach Schwentker, S. 128. 43 Daneben waren mit dem Oberbamimer Landrat Scharnweber und von ArnimDriesen zwei weitere „reaktionäre" Agrarier in der dreiköpfigen Vereinsspitze vertreten,

Klatte, S. 240.

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

237

diese Weise aus der Diskussion genommen.44 Wenige Tage später gründeten sie am 20. September den „Verein für Sozialpolitische Reform". Lavergne muss hier eine Art Meinungsführerschaft innegehabt haben, denn er erreichte es, dass das Programm dem des von ihm im Mai gegründeten „Sozialpolitischen Vereins für Rößel" in weiten Teilen entsprach. Dem neuen Zusammenschluss trat eine Gruppe Persönlichkeiten bei, die über das rein interessenpolitische des „Junkerparlaments" hinausdachten und gesamtgesellschaftliche Probleme im Blick hatten. Im „Comité", dem Vorstand des Vereins, finden sich eine Reihe in Preußen prominenter Namen aus dem konservativen und gemäßigt liberalen politischen Spektrum. Neben dem Lavergne schon aus Königsberg bekannten stramm konservativen Graf Dohna-Schlobitten unterstützten der gemäßigte ehemalige Märzminister Graf v. Arnim, der Mitgründer der „Kreuzzeitung" Graf Robert v. d. Goltz, der spätere konservative Handelsminister Graf Heinrich v. Itzenplitz und mehrere konservative Politiker und Abgeordnete der Reaktionszeit die sozialpolitischen Anliegen des Rößeler Landrats. Als Mitunterzeichner des Programms firmierten nicht etwa nur „konservativ-liberale Adelige" aus dem ostelbischen Großgrundbesitz. 45 Der Schlesier Graf Breßler war Agrarökonom und Publizist und kein aktiver Politiker. Theodor v. Bethmann-Hollweg gehörte in den 50er-Jahren der gemäßigt liberalen Fraktion Mathis und anschließend den Altliberalen an. Er war einer der größten Grundbesitzer im Kreis Wirsitz und wurde politischer Gegner und 1858 Nachfolger Lavergnes als Abgeordneter des Landkreises. 46 Albinus Bescherer (Frankfurt/Guben) dagegen schloss sich Mitte der 50er-Jahre der Fraktion Pückler an und gehörte ab 1870 zur Konservativen Partei. 47 Karl Graf v. Krassow von der Insel Rügen zog 1849 für die Rechte in die Zweite Kammer ein, war redaktioneller Mitarbeiter der „Kreuzzeitung" und hatte Verbindungen zu Lavergne. 48 Auch der Landrat von Ratibor, Oskar v. Eisner, gehörte im späteren Abgeordnetenhaus konservativen Fraktionen an 49 , während der Gutsbesitzer Nesselhauf aus der Neumark 1849 Deputierter für das Rechte Zentrum war.

u 45

Schwentker, S. 130. Schwentker, S. 196.

46 Schwentker, S. 197, nennt fälschlich Moritz August v. Bethmann-Hollweg, der allerdings auch als Sympathisant gelten kann, vgl. Bethmann-Hollweg, Preußens Volksvertretung, S. 14; WAPB Kreissachen 23 a: Gutsbesitzer Kreis Wirsitz 1861. Preußens Volksvertretung, S. 14. 48 Preußens Volksvertretung, S. 97; Andrae-Roman, Erinnerungen, S. 46; Görlitz, S. 250; Aufzeichnungen Ernst-Ludwig v. Gerlach, 19.1.1851, in: Valentin, Bd. 1, S. 281 Bd. 2, S. 399. 49 Preußens Volksvertretung, S. 42.

238

C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

Für den Rittergutsbesitzer Haenel aus Liegnitz sowie für den Grafen v. Lynar und Herrn Schulze-Berg ist keine parteipolitische Zuordnung möglich. 50 Bei letzterem steht zwar die westfälische Herkunft fest, das „Comité" war aber, wie wahrscheinlich auch die Mitgliedschaft, ostelbisch-agrarisch dominiert. Aus der Zusammensetzung dieses leitenden Vereinsgremiums lässt sich über den sozialpolitischen Impetus hinaus kein einheitliches politisches Bekenntnis oder Interesse ableiten. Wenn auch der Name Lavergne-Peguilhen s in diesem Zusammenhang nicht erwähnt und als Initiator des „Vereins für sozialpolitische Reform" Graf Breßler genannt wird, so tragen doch der ganze Vorgang und vor allem Argumentation und Terminologie des Programms die Handschrift des Rößeler Landrats. Die Verfasser stellten die Forderung auf, die Landwirtschaft müsse sich in ihrer Entwicklung der Geldwirtschaft anpassen, die Gutsbesitzer ihren Privilegien entsagen. Weiterhin folgte der Hinweis auf das „zügellose Walten des beweglichen Kapitals" als Ursache des Pauperismus. A m Ende stand die Aufforderung, sich als Zweigverein dem „Centraiverein für das Wohl der arbeitenden Klassen" anzuschließen.51 Der im Oktober 1844 unter dem Eindruck des schlesischen Weberaufstandes von den sozial ambitionierten Vertretern des „Juste milieu" wie Harkort und Mevissen getragene Verein erhielt seine große Bedeutung durch die Unterstützung des Königs. Als diese jedoch 1845 nachließ, verloren er und mit ihm seine zahlreichen Zweigvereine schnell an Bedeutung. 52 Erst nach der Revolution wurde der Verein wiederbelebt und verfolgte erneut das Konzept einer eher paternalistischen Armenpolitik. 53 Gerade die Auffassungen Harkorts zur Armen- und Arbeiterproblematik kamen denen Lavergnes sehr nahe. Für Harkort waren die wichtigsten Grundlagen eines Staatswesens eine umfassende Volksbildung und Grundeigentum für alle. Ferner forderte er die Gründung von Sparkassen, eine allgemeine Krankenversicherung „auf Gegenseitigkeit", eine moderate Arbeiterinteressenvertretung und die Selbstversorgung der Arbeiter auf eigenen Parzellen. Auch die Kritik an der aktuellen Staatswirtschaft und Wissenschaft ist ihnen gemein50

Preußens Volksvertretung, S. 64. Programm, S. 5; zur Geldwirtschaft vgl. Lavergne, Grundzüge II, S. 84, 201, 213; Lavergne, Liberalismus, S. 39, 74 f.; zu Kapital vgl. Lavergne, Grundzüge I, S. 187 ff., S. 356 ff.; Lavergne, Grundzüge Π, S. 383ff.; Lavergne, Liberalismus, S. 73; „zügellose Konkurrenz", vgl. Lavergne, Grundzüge II, S. 213; Lavergne, Landgemeinde, S. 28; Quellen des Pauperismus vgl. Lavergne, Grundzüge Π, S. 205, 209, 231; Abschaffung aller Privilegien Lavergne, Grundzüge Π, S. 232. 52 Beck, Origins, S. 181 ff.; Dipper , Sozialreform, S. 327. 53 Beck, Origins, S. 183 ff.; S. 184 weist Beck daraufhin, dass gerade die arbeitenden Klassen von der Mitgliedschaft schon allein wegen der Höhe der Mitgliedsbeiträge ausgeschlossen waren. Die geforderten 4 Taler Jahresbeitrag stellten 1845 den Gegenwert von zwei Schweinen dar. 51

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

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sam.54 Andererseits sah Harkort im Staat nur den Anreger für Bildung und den daraus entstehenden „Geist der Association": „Ihm vertraue der Staat die Organisation der Arbeit an und wir werden Wunder sehen[...] der Staat fördere nur die Intelligenz, räume die gesetzlich ererbten Übel der Gesellschaft hinweg und überlasse den Preis dem Wettkampf aller". 55 Entscheidend für die positive Haltung der sozial orientierten Junker dürfte aber wohl Harkorts positive Einstellung zum unteilbaren Großgrundbesitz gewesen sein.56 Der Programmentwurf des „Vereins für sozialpolitische Reform" folgte in weiten Teilen der Argumentation Lavergnes, wie er sie in einer Rezension von zwei Werken Bülow-Cummerows aus dem Jahr 1842 verfolgt hatte.57 Hier beschrieb er den Übergang zur Geldwirtschaft als Auslöser einer „Entfesselung der sozialen Kräfte" und die „ungezügelte Konkurrenz" als Ursache für den „Kampf des größeren Kapitals wider das kleine, welcher mit der Vernichtung des letzteren endet". Das führe in Verbindung mit der neu gewonnenen Mobilität auf Straßen und Schienen zur „Isolirung der Individuen inmitten der Gesellschaft" und in der Folge zum „Krankheitszustand" Pauperismus. 58 Die Thesen und Forderungen Lavergnes zur zentralen Stellung der Gemeinden und ihrer Gremien in einer zukünftigen Staatsverfassung 59 finden sich genauso in dem Programmentwurf wie die zur Einführung einer progressiven Einkommenssteuer und zu Freihandels- und Schutzzollpolitik, zu Banken, Kredit- und Hypothekenwesen.60 Sogar seine Gegnerschaft zur im ALR geregelten Paternitätsfrage brachte Lavergne im Programmentwurf unter, der „in der Behandlung gesellschaftspolitischer Fragen" mit der Konzentration auf die Familie als „Grundlage des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens" nach Auffassung Schwentkers „das Rad der sozialen Entwicklung" anhalten wollte. 61 Was Schwentker als Widerspruch ausmacht, nämlich die sozialreformerische Perspektive bei gleichzeitigem Rückgriff auf überkommene soziale Strukturen, ist nichts weniger als das Charakteristikum in der Haltung der preußischen Sozialkonservativen, die sich 54 55 56

57

Harkort, S. 9 f., 11 ff. Harkort, S. 82. Harkort, S. 9.

Lavergne, Rezension Bülow-Cummerow, Sp. 257-264. Lavergne, Rezension zu Bülow-Cummerow, Sp. 263. 59 Vgl. Lavergne, Landgemeinde, passim. 60 Programm, S. 11 ff., 16 ff.; vgl. Schwentker, S. 128 f.; Zollpolitik vgl. Lavergne, Grundzüge I, S. 72; Lavergne, Grundzüge II, S. 340; Lavergne, Rezension BülowCummerow, Sp. 264; Lavergne, Liberalismus, S. 74, 89; Steuerpolitik: Lavergne, Grundzüge Π, S. 85, 340; Lavergne, Liberalismus, S. 51, 77, Banken: Lavergne, Landgemeinde, S. 43; Lavergne, Liberalismus, S. 75; Lavergne, Rezension Bülow-Cummerow, Sp. 264; Kreditpolitik: Lavergne, Landgemeinde, S. 22, 37 ff., 43. 58

61

Schwentker, S. 129.

240

C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

auf dieser Grundlage in den 50er-Jahren weiterentwickelte. Die auch von Lavergne vertretenen Positionen der gemeindlich verfügten Ehebeschränkungen zur Verhinderung von Armut durch unbeschränktes Bevölkerungswachstum 62, der auf die Kommune bezogenen Innungs- und Genossenschaftsverfassung 63 sowie der kommunalen Schulaufsicht 64 wären bei den meisten Mitgliedern des „Vereins zum Schutz des Eigentums" sicherlich konsensfähig gewesen, da sie im konservativen Spektrum akzeptiert waren. Möglicherweise hätte sich auch Unterstützung für die politische Partizipation auf Gemeindeebene bei ständisch gegliederter Staatsverfassung sowie für die übrigen gemeindezentrierten Forderungen ergeben. Die vorgeschlagene Abschaffung der ständischen Privilegien des Großgrundbesitzes und Einführung einer progressiven Einkommenssteuer, erleichterter Hypotheken- und Personalkredit kombiniert mit einer flexiblen Schutzzollpolitik gingen allerdings dem Vorstand zu weit. Bülow-Cummerow, der die in seinen Augen viel zu politische Vorlage zunächst nicht einmal diskutieren wollte und die Abstimmung ablehnte, ging zur Verhinderung der Entscheidung über eine Modifizierung des Vereinsprogramms so weit, mit der Niederlegung seines Amtes als Vorsitzender zu drohen. So erhielten zwar die Zweig vereine die Programmentwürfe zugesandt, die weitere Auseinandersetzung mit den von den Vorstandsvorstellungen abweichenden Positionen blieb jedoch aus.65 Dass Lavergnes Vorstellungen Grundlage dieses Programmentwurfs waren und wenig später in die Satzung des Berliner „Vereins für sozialpolitische Reform" einflössen, zeigt zweierlei. Zum einen stießen sie wenigstens bei Teilen der Konservativen auf Zustimmung, zum anderen muss Lavergne durch seine Schriften und seine politische Betätigung im konservativen Spektrum ein gewisses Maß an Renommee und Einfluss besessen haben. Dass dieser Einfluss sogar kritische öffentliche Begleitung fand, wird in einem Artikel der großdeutsch-liberalen „Grenzboten" 66 aus dem Oktober 1848 deutlich. In einem Bericht über die Tumulte im Zusammenhang mit dem Barrikadenkampf einer Gruppe von Kanalarbeitern in Berlin am 16. Oktober in Berlin 67 äußerte der anonyme Autor die Meinung, dass nicht nur die „Radicalen" für die Vorgänge verantwortlich seien. Auch die Konservativen schreckten in ihrer Agitation vor

62 63 64 65

66

Lavergne, Liberalismus, S. 33, 38; Lavergne, Doctrin und Landbau, S. 125. Lavergne, Liberalismus, S. 28 f.; Lavergne, Staatslehre, S. 22 f. Lavergne, Landgemeinde, S. 80 ff. Schwentker, S. 129 f.

Die „Grenzboten" erschienen in Leipzig zunächst als „Blätter für Deutschland und Belgien", ab 1844 als ,^Zeitschrift für Politik und Literatur"; ab Mitte Mai 1848, Nr. 20, waren J. Kaufmann u Julian Schmidt Redakteure, vom Juli 1848 an Gustav Freytag und Julian Schmidt ab Juli 1848, Nr. 27, vgl. S. Obenaus, S. 38 f. 67 Ausführlich Hachtmann, S. 717 ff.; Mieck, S. 268; Siemann, Revolution, S. 172.

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

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nichts zurück: Moritz v. Lavergne-Peguilhen wurde als Hintergrundfigur eines Skandals dargestellt, der die Grafen Breßler und Itzenplitz - beide Unterzeichner des Vereinsprogramms - „arg compromittirte". Auf welche Weise Itzenplitz betroffen war, ist nicht zu ermitteln. 68 Graf Breßler, Mitglied im „patriotischen und mehrerer anderer ähnlicher Vereine", sei allerdings beim Verteilen von Geld an die aufgebrachte Menschenmenge auf dem Wolkenmarkt erwischt und festgenommen worden. Die Ergebnisse der polizeilichen Untersuchung standen am Erscheinungstag des Artikels allerdings noch aus, der Verfasser erwartete jedoch nicht, dass die Hintergründe aufgedeckt werden könnten. Allein „das einfache Factum [ist] schon hinreichend, um zu beweisen, daß wir es mit einer doppelten Art von Pessimisten zu thun haben", meinte der Autor weiter. Damit spielte er wohl auf die Zukunftsangst der Konservativen im Revolutionsjahr und die Befürchtungen im Zusammenhang mit der Regierung Pfuel 69 an. Weder Breßler noch v. Itzenplitz wurden in dem Artikel allein verantwortlich gemacht für ihr Verhalten, denn „beide sollen nur Werkzeuge des bekannten Freiherrn v. Peguilhien[!]" gewesen sein, „des berüchtigten Aristokraten mit der liberalen Maske, der seiner Zeit durch allerlei Brochuren das Herz manches freisinnigen Spießbürgers in den Provinzen gewann und jetzt, einem on-dit zufolge, unter russischem Einflüsse steht". 70 Im innenpolitischen Kontext wurde Lavergne durch die Heranziehung des liberal-demokratischen Feindbildes Russland auf die Seite der Gegenrevolution und vor allem an die Seite des Prinzen Wilhelm gestellt, der als „Vertreter des russischen Absolutismus" gesehen wurde. 71 Der vorgebliche Liberale Lavergne hatte, nach Auffassung des Verfassers, also in der Revolution sein wahres Gesicht als ihr Gegner - die Verbindung mit Russland, das von den russophoben Liberalen im Sommer 1848 auf der Seite der Gegenrevolution gesehen wurde, machte das deutlich - gezeigt 72 und setzte jetzt offenbar auch andere Adelige für seine Ziele ein. Diese vom politischen 68

Dieser Vorfall ist auch den Recherchen von Hachtmann entgangen. Sie machte sich bei den Konservativen durch den „Anti-Reaktions-Erlaß" vom 23. September unbeliebt: Mieck, S. 267. 70 Aus Berlin, in: Grenzboten, 2/4 1848, S. 27. 71 Hachtmann, S. 660: "'Rußland' galt als Feind gesellschaftlicher Demokratisierung und als entscheidende Barriere für die deutsche Einigung"; vgl. Schoeps, Preußen, S. 124 ff. 72 Hachtmann, S. 657 ff. Andrae-Roman, Erinnerungen, S. 21, berichtet von Bismarcks Ausspruch, nach Russland auswandern zu wollen, um von dort mit russischer Hilfe die Revolution niederzuschlagen; Valentin, Bd. 2 S. 235: So Zar Nikolaus in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm IV: „Wenn das alte preußische Banner die alten Preußen unter sich vereinigen sollte - aber nicht die Deutschen unter der Barrikadenfahne! - dann wolle sich der russische Adler ihm zur Seite stellen." 69

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C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

Standpunkt der „Grenzboten" gefärbte Einschätzung Lavergnes zeigte bei aller ironischen Übertreibung zumindest, dass die Meinung des Rößeler Landrats im Herbst 1848 in gewissen Kreisen von Belang war. Daraus lässt sich sein großer Einfluss auf das Programm des „Vereins für Sozialpolitische Reform" erklären. Auch dessen Datierung auf den Tag des Rücktritts der Regierung Hansemann erhält so einen symbolischen Gehalt. Mit dieser Wendung in der preußischen Politik schien die drohende Aufhebung der Grundsteuerbefreiung für die Junker nämlich beendet zu sein, und man glaubte sich jetzt anderen ebenfalls in ihrer Existenz bedrohten Bevölkerungsteilen zuwenden zu können.73 Das wahre Problem der Zeit wurde nicht als politisches, sondern als soziales und volkswirtschaftliches dargestellt; seine Lösung sei nur durch eine „durchgreifende Regeneration der Gesellschaft" möglich: „Eine gründliche und vielseitige Erörterung dieses hochwichtigen Gegenstandes führte zu der Ueberzeugung, daß die gleichzeitige und kräftige Geltendmachung einer aufbauenden Staatsthätigkeit auf den Gebieten des politischen, des volkswirthschaftlichen, des sozialen und des Culturlebens eine erhebliche Minderung des Uebels herbeiführen, daß die kräftige Fortbildung der Staats- und sozialen Wissenschaften die Mittel zur gänzlichen Heilung desselben offenbaren müsse."74 Das sind die Stichworte, die Lavergne seit den „Grundzügen" immer wieder in die Diskussion brachte, hier allerdings angereichert um den Aspekt des von den sozialen Missständen ergriffenen Proletariats. Obwohl dessen Existenz und Forderungen die Interessen des Grundbesitzes in existenzieller Weise bedrohten, hätten die im Verein vertretenen Grundbesitzer jedoch ein gesamtgesellschaftliches Interesse entwickelt, das alle Stände mit einbeziehe. Diese Grundbesitzer seien „sich bewußt, daß eine Rückkehr" zu mittelalterlichen Zuständen nicht mehr möglich sei, „und daß es hiernach Aufgabe der größeren Grundbesitzer wie aller Patrioten ist, den reactionären Bestrebungen nicht minder kräftig entgegen zu treten, als den anarchischen". 75 Lavergnes Suche nach dem Mittelweg zwischen schrankenloser individueller Freiheit und mittelalterlicher Gebundenheit setzte sich also hier fort: Es folgten die Vorwürfe gegen die Gewerbefreiheit, die „schrankenlose Bewegung" von Kapital und gesellschaftlichen Kräften 76 und das Bekenntnis zu einer historistischen Weltsicht. Nicht einzelnen Parteien sei die Schuld für das Geschehene anzulasten, die Revolution sei vielmehr als eine der „weltgeschichtlichen Wehen" zu verstehen, die notwendig für die Weiterentwicklung der Völker seien.77 Der Kritik an der Theorielastigkeit der herrschenden Schulen in 73 74 75 76 77

Programm, S. 4. Programm, S. 4. Programm, S. 6 f. Programm, S. 8 f. Programm, S. 9.

I. Gesellschaftswissenschaft gegen Revolution

243

Staats- und sozialen Wissenschaften und der Theoriehörigkeit der preußischen Restaurationsregierungen schloss sich die Forderung nach der Anerkennung der organischen Natur des Staates und seiner Produktivkraft an 78 , bevor Lavergne auf Selbstverständnis und Ziele des Vereins einging: Als Vertreter eines „aufbauenden Liberalismus" in der Tradition der Stein-Hardenbergschen Reformen und eingedenk der „Verheißungen vom 18. März", schloss sich Lavergne den Forderungen nach Pressefreiheit, „Gleichheit vor dem Gesetz, Unabhängigkeit der politischen Rechte von dem religiösen Glaubensbekenntniß", öffentlichem Gerichtsverfahren und Schwurgericht sowie Assoziationsfreiheit an, letzterer allerdings mit der Auflage, dass gewaltsame Demonstrationen verhindert werden müssten.79 Die geforderten Institutionen waren ebenfalls ganz im Lavergneschen Sinne: Eine Gemeindeverfassung mit demokratischer Partizipation aller von der Armenpflege unabhängigen Bürger, die auf ständischer Basis zu wählende Volksvertretung sowie eine dezentralisierte Verwaltung sollten den staatlichen Bereich organisieren. 80 Als volkswirtschaftliche Regulative wurden die progressive Einkommensteuer, flexible Handhabung von Freihandel und Schutzzöllen sowie die Stabilität des Geldpreises, die Einführung von Hypothekenbanken für alle Grundbesitzarten und Handelsbanken für den Personalkredit genannt. Den Schlusspunkt setzten die Forderung nach der Möglichkeit der Bewirtschaftung einer Landparzelle für jeden Industriearbeiter sowie umgekehrt der industriellen Beschäftigung für Landarbeiter in den Wintermonaten. 81 Auch die Ausführungen zum sozialen Bereich waren deckungsgleich mit denen in Lavergnes früheren Publikationen sowie mit dem Alternativprogramm für den „Verein für den Schutz des Eigentums": Aufhebung der Paternitätsklage, Stärkung der Familien vor allem durch Verhinderung „leichtsinniger Ehen", Eingliederung von Arbeitern und Gewerbetreibenden in eine „zeitgemäße Innungs- und Genossenschafts-Verfassung" und die Einschränkung des Niederlassungsrechts („Freizügigkeit"). 82 Die angeregten „speziellen Maaßregeln zur Begründung des Wohles der ärmeren Volksklassen" waren dagegen nicht charakteristisch für Lavergne und als Zugeständnis an die Vereinsmitglieder zu sehen, die Armut mit konkreten Maßnahmen zu beseitigen trachteten, wie es etwa der Berliner „Centraiverein zum Wohl der arbeitenden Klassen" anstrebte, dessen Mitglied Lavergne war. 83

78 79 80 81 82 83

Programm, S. 10. Programm, S. 13. Programm, S. 14 ff. Programm, S. 18 ff. Programm, S. 33 ff. Hahn,, S. 27.

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C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

Unter dem Begriff „Fürsorge" folgte der damals übliche Kanon von Maßnahmen: die „kräftige Handhabe der Sanitätspolizei, Errichtung gesunder Wohnungen, von Wasserleitungen u. s. w. Ferner: kräftige Fürsorge für die Waisen, so wie für die Invaliden der Arbeit" 84 . Hierzu gehörte aber auch die Aufhebung der die Armen benachteiligende Mahl- und Schlachtsteuer, gefolgt von der Einrichtung von Sparkassen. Letzteres erschien den Autoren mittlerweile so selbstverständlich, dass sie eine Begründung für überflüssig erachteten.85 Die Forderung nach Etablierung sozialwissenschaftlicher Institute zur Erforschung der „ewigen und unwandelbaren" Gesellschaftsgesetze als Abkehr vom „verderblichen Wahn" der Hoffnung auf die politischen Institutionen sowie nach gesicherter Volksbildung in Regie der Gemeinden steht am Ende des Programms 86. In einem Schreiben an das preußische Innenministerium, dem das Programm des Vereins beilag, wurde Lavergnes Hauptziel ganz deutlich: Der Verein solle „im Wesentlichen wissenschaftlichen Bestrebungen verfolgen, sich selbst und die öffentliche Meinung über die Grundlagen einer höheren Entwickelung des Staatslebens" aufklären, „insbesondere aber die Ueberzeugung in das Volksbewußtsein übertragen, daß die Politik nicht allein ein gesichertes Staatsleben zu begründen und die krankhaften Zustände der Gesellschaft zu heilen vermag, daß es zur Erreichung dieses Zweckes gleichzeitig der Reform des socialen, des volkswirthschaftlichen und des Culturlebens bedarf" 87 . Das Ministerium wurde dabei um Unterstützung gebeten. Es solle den reichen Datenfundus des Statistischen Bureaus sowie der Staatsbehörden zur Verfügung stellen und zu dessen Auswertung das Personal der Behörde aufstocken. Außerdem wurde es dem Ermessen des Ministers anheim gestellt, die Arbeit des Vereins durch Erteilung der Portofreiheit zu erleichtern, was sich wohl besonders auf die angekündigte Gründung einer Zeitschrift kosten senkend auswirken würde. 88 Obwohl die politischen Ereignisse der kommenden Wochen keine ministeriellen Reaktionen auf die Anfragen des Vereins zuließen, der Verein seinerseits die kommenden turbulenten Monate nicht überstand 89, verlor Moritz v. Lavergne-Peguilhen seine erklärte Absicht, die Gesellschaft auf der Grundlage wissenschaftlich erwiesener Gesetze umzugestalten und dafür eine wissenschaftliche Institution zu fordern, nicht aus den Augen.

84

Programm, S. 38. Programm,, S. 38. 86 Programm, S. 39 ff. 87 GStaPK, Rep. 77, Tit. 1072, No. 1, Bd. 1, Bl. 62. 88 GStaPK, Rep. 77, Tit. 1072, No. 1, Bd. 1, Bl. 62 Rs. 89 Schwentker, S. 201, urteilt, der Verein sei zu elitär, den konservativen Ultras zu theoretisch, den Liberalen zu staatsorientiert gewesen. 85

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2. Eine Behörde gegen Revolutionäre Der nächste Vorstoß folgte im Mai 1849. Zunächst kehrte Landrat v. Lavergne-Peguilhen nach Rößel zurück und machte von dort aus seine politische Haltung im Novemberkonflikt ganz unmissverständlich deutlich: Wenn ihn seine kommunal- und sozialpolitischen Forderungen auch nicht als strammen Konservativen auswiesen, war er doch in erster Linie loyaler Royalist. Als solcher zeigte er sich in der Auseinandersetzung mit der Rößeler Bürgerwehr, die die Spannung zwischen Bevölkerung und Landrat widerspiegelte. Lavergne hatte sich hinter den Deputierten des Kreises Rößel in Berlin, den Bischofsteiner Land- und Stadtrichter Otto Hahn, gestellt, der im Rößeler Kreisblatt die Verlegung der Preußischen Nationalversammlung durch den König nach Brandenburg verteidigt hatte: Wenn der König das Recht habe, im Mai nach Berlin einzuberufen, habe er auch das Recht, die Versammlung an einen anderen Ort zu verlegen. 90 Daraufhin attestierte der Landrat dem Deputierten Hahn Zivilcourage und selbständiges Denken in der Atmosphäre „einer fanatischen Aufregung". 91 Hahn habe in dieser schwierigen Situation Vertrauen zum König gezeigt und versucht, das Einvernehmen zwischen König und Volk nicht zerreißen zu lassen.92 Dies sah die Rößeler Bürgerwehr völlig anders; sie regte ein Misstrauensvotum gegen Hahn an. Dem folgten auch Magistrat und Stadtrat von Rößel sowie 450 Unterzeichner des Misstrauensvotums. Sie waren der Ansicht, die Versammlung in Brandenburg sei „volksfeindlich" und unterstütze den „militärischen Despotismus". Gleichzeitig sprachen die Hahn-Gegner in der Hartungschen Zeitung dem in Berlin verbliebenen Teil der Nationalversammlung ihre Anerkennung aus.93 Dagegen konnten wiederum fast 900 Unterschriften von Bürgern aus Seeburg und Bischofsburg aufgeboten werden, die aber von den städtischen Behörden gesammelt und deswegen wahrscheinlich teilweise erzwungen worden waren. 94 Insgesamt folgten die meisten Ermländer im Novemberkonflikt einem Hirtenbrief ihres Bischofs, der Loyalität gegenüber dem König forderte. Neueren Schätzungen zufolge waren die unteren Bevölkerungsschichten jedoch nur etwa zur Hälfte von dieser Auffassung überzeugt, während die gebildeten Schichten mit großer Mehrheit auf Seiten der Nationalversammlung waren. Die Bestätigung für diese Annahme lieferten die Urwahlen im Frühjahr 1849: Außer im traditionell klerikalen Wahlkreis Braunsberg wurden überall im Ermland nur Demokraten und Linksliberale gewählt.95 90

91 92

93 94

95

Jasinski, S. 56.

Jasinski, S. 56, .zitiert aus Rößeler Kreisblatt vom 22. Nov. 1848. Jasinski, S. 56.

Hartungsche Zeitung, Nr. 272, 20.Nov.1848. Jasinski, S. 57.

Jasinski, S. 63; zum Einfluss des Klerus B. M. Rosenberg, Beiträge, S. 249 f.

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Lavergne versuchte auch in diesem politischen Umfeld seine Position zu verteidigen. Als die Berliner Nationalversammlung im Dezember 1848 zum Steuerboykott aufrief, wurde diese Proklamation auch im Ermland verteilt und aufgehängt. Lavergne warnte empört vor einem solchen Vorhaben: „Auch in dem hiesigen Kreise, der bisher durch gesetzliches und patriotisches Verhalten sich ausgezeichnet, sind Druckschriften verbreitet und auch Plakate an öffentlichen Orten angeheftet worden, die Anregungen zur Widersetzlichkeit gegen die Staatsbehörden und selbst zur Vorenthaltung der laufenden Steuern enthalten." 96 Bei der Empörung blieb es nicht: Ende Mai 1849 klagte der Rößeler Landrat die Plakatkleber des Staatsverrats an.97 Dass ihm der Rückhalt im Wahlvolk seines Kreises verloren gegangen war, war ihm offenbar bewusst. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Dezember 1848 trat er nicht für den Rößeler Wahlkreis und auch nicht als Kandidat für die Zweite Kammer an, sondern kandidierte für den Wahlkreis Neidenburg, wo sein Bruder Landrat war, für die Erste Kammer. Die Wähler dort über 30-Jährige mit einem jährlichen Klassen Steuersatz von mindestens acht Talern oder einem Grundbesitz im Wert von mindestens 5.000 Talern, 98 also etwa ab selbständiger Bauer aufwärts - versagten dem Bruder des beliebten Neidenburger Landrats 99 ihre Zustimmung nicht. So zog Moritz v. LavergnePeguilhen im Februar 1849 in die Erste Kammer der Nationalversammlung ein. Ohne die Unterstützung durch einen Verein oder eine Gruppe von Parlamentariern aus der Ersten Kammer des Preußischen Landtags, der er seit Februar angehörte 100, versuchte er im Mai 1849 allein sein Vorhaben durchzusetzen, der Gesellschaftswissenschaft einen institutionellen Rahmen zu geben. Die Auflösung der Zweiten und die Vertagung der Ersten Kammer am 27. April 1849 101 verhinderten jedoch die geplante Vorlage eines Antrags an die Kammer. 102 Das gab ihm einen passenden Anlass zu seinem Alleingang. Nachdem der „Verein für sozialpolitische Reform" den Winter nicht überstanden hatte, war auch in der konservativ dominierten Ersten Kammer keine ausreichende Basis für eine 96

Rößeler Kreisblatt, Nr. 48, 1. Dezember 1848. Jasinski, S. 61 zit. Neue Königsberger Zeitung Nr. 124 vom 30.5. 1849. 98 Sten. Ber. I. Kammer 1849, S. XVI, Interimistisches Wahlgesetz für die erste Kammer vom 6. Dezember 1848. 99 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Acta des Kgl. Civil-Kabinets, 2.2.1. Nr. 13815, Bl. 116: Alexander genießt das „besondere Vertrauen seiner Miteingesessenen"; Bl. 159 f.: 1850 schlugen ihn die Neidenburger Kreisstände wegen einer Vorbildfunktion als Landwirt und seiner Leistungen als Landrat zur Verleihung des Roten Adlerordens 4. Klasse vor, den er 1851 auch erhielt. 100 B.M. Rosenberg, Vertretung, S. 148. 101 Lavergne, Eingabe, GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Tit. 215a, Nr. 94, Bl. 11 ; zu Auflösung und Vertagung Sten. Ber. I. K. 1849, S. 405; Siemann, Revolution, S. 212. 102 Teilw. zitiert bei Geck, S. 14; Pankoke, Art. Soziologie, S. 1008. 97

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solche Initiative vorhanden. In der allgemeinen Verwirrung nach der Parlamentsauflösung schickte Moritz v. Lavergne-Peguilhen ein Schreiben an das Innenministerium, das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten und das für Landwirtschaft, worin er im Falle schleuniger Umsetzung der darin enthaltenen Vorschläge dem preußischen Staat eine ruhige und von sozialen Unruhen und Problemen unbelastete Zukunft verhieß. 103 Mit dem Antrag auf „Einsetzung einer social-politischen Central-Commission zur Erörterung der zur Förderung der Volks-Wohlfahrt nöthigen Maaßregeln" wollte er den ersten Schritt auf dem Weg zur Errichtung einer Akademie für die sozialen Wissenschaften machen, wie er sie schon 1842 und 1846 als Ergänzung zu den staatlichen Aktivitäten und Institutionen gefordert hatte. 104 Angesichts der politischen Entwicklung hin zur Revolution und der Unfähigkeit des Staates zur adäquaten Reaktion sah Lavergne seine Auffassung erneut bestätigt, dass Politik nur Symptome, nicht aber Ursachen bekämpfen könne. Jetzt brauche das Land die Wiederherstellung einer „gesellschaftlichen Ordnung, welche durch die abstrakten und einseitigen Grundsätze unserer bisherigen Gesetzgebung, wie durch das zügellose Walten der Privatkräfte, überall zerrüttet ist". Daraus resultierten „Unruhe und unsägliche Leiden der Völker [...], die unsere Staatskünstler vergeblich durch neue Verfassungsformen zu heilen unternehmen [...]. Es ist die Unsicherheit aller Existenzen, die Uebertreibung der Ansprüche, die Ueberreizung der Begierden, der Verfall des Mittelstandes, der Pauperismus der Arbeiter neben wenigen Beispielen eines kolossalen Reichthums, hervorgerufen durch eine falsche Staatswirthschaft und eine falsche Cultur, woraus der revolutionaire Geist der Völker entspringt, der sich nie beruhigen wird, so lange den practischen Bedürfnissen kein Genüge geschieht, und so lange nicht die gesammte gesellschaftliche Entwickelung in eine neue geordnete Bahn gelenkt wird". 1 0 5 Keine der bestehenden staatlichen Verwaltungsinstitutionen und keine parlamentarische Einrichtung seien in der Lage, diese schwierige Aufgabe zu übernehmen. Während erstere längst voll ausgelastet seien, würden die Parteien durch ihren Richtungsstreit an der Auseinandersetzung mit den Probleme des Landes gehindert. 106 Auch das Argument der Fehlleitung der Politik durch falsche wissenschaftliche Erkenntnisse führte Lavergne wieder ins Feld, um seine Forderung nach einem „sozial-politischen Centraiinstitute" 107 zu begründen. Diese Einrichtung wich in ihrer Form erheblich von der universitären Einrichtung ab, die er zehn Jahre vorher in den „Grundzügen" beschrieben hatte. Das „besondere Collegim

Lavergne, Eingabe, Bl. 9-15 Rs. Lavergne, Brief an List v. 24.2.1842, S. 306; Lavergne, Liberalismus, S. 105. 105 Lavergne, Eingabe, Bl. 10 f. 106 Lavergne, Eingabe, Bl. 10 Rs. 107 Lavergne, Eingabe, Bl. 11. 104

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C. Ideen von gestern für die Gesellschaft von morgen

um" 1 0 8 , das ihm jetzt vorschwebte, war eine Art „Runder Tisch", an dem Wirtschaft, Wissenschaft und Politik gemeinsam an der gesellschaftlichen Erneuerung Preußens arbeiten sollten. 109 Mit der vorgesehenen Zusammensetzung sollten die Verhältnisse in der Regierung und die Stimmung im Volk einbezogen und so das politisch Mögliche ausgeschöpft werden: Einerseits sah sie die Verankerung in der Regierung dadurch vor, dass jedes Ministerium durch einen vom Minister abgeordneten Ministerialrat direkt an den Beratungen der Kommission beteiligt sein und kein Projekt am betroffenen Ministerium vorbei entschieden werden sollte. Andererseits schlug Lavergne vor, dass unter den auszuwählenden Parlamentariern auch Männer sein sollten, „die ihrer politischen Parteistellung nach der linken Seite angehören und die dem Collegium eine gewisse Popularität verleihen würden, welche ihm unter den obwaltenden Umständen unentbehrlich ist". 1 1 0 Die beteiligten Männer der Wissenschaft sollten dagegen keine Anhänger der liberalen Doktrin sein und auch von den Vertretern des technischen Beirats, von Handwerk und Handel sowie dem Deputierten des Landes-OekonomieCollegiums war bei entsprechender Vorauswahl keine liberale Vorbelastung zu erwarten. Das Gremium sollte außerdem die Möglichkeit der Ergänzung durch Kooptation jeder von ihm gewünschten Person haben: „Denn wo nur irgend ein wahrer Patriotismus, ein tiefer, klarer Blick und ein energischer Wille sich zeigt - jede künftige Kraft muß man heranziehen, um den Sturm der Zeit zu beschwören, vor welchem Geburtsstolz wie Gelehrtendünkel und Beamtenroutine zu Schanden geworden sind." 111 Von dieser Zusammensetzung des Kollegiums versprach sich Lavergne nicht weniger als „eine ruhige, klare und umfassende Anschauung der reellen Zustände, mit der höchsten Agilität in der Combination und mit der freisten geistigen Productivität verbindend". Es soll unabhängiger Prüfer von Anträgen und Petitionen aus dem ganzen Land sein, Gesetzentwürfe bewerten und ihre Abstimmung vorbereiten sowie eigene Gesetzentwürfe erarbeiten, insgesamt das Gehirn eines „Ministeriums für Angelegenheiten der Landes Wohlfahrt". Mit einem solchen „Staatsrath" und „Reformcollegium" 112 könne die Regierung die Vertrauen in der Bevölkerung herstellen und so die kommenden Wahlen beeinflussen. 113 Selbstbewusst geht er über die von ihm selbst überschlagenen Kosten von 20 000 Reichstalern hinweg - immerhin zwanzig Jahresaufwandsent-

108 109 110 111 112 113

Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne, Lavergne,

Eingabe, Bl. 13; dort auch folgendes Zitat. Eingabe, Bl. 13 Rs. f. Eingabe, Bl. 14 Rs. Eingabe, Bl. 15. Eingabe, Bl. 13. Eingabe, Bl. 13 Rs.

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Schädigungen eines Landrats - ; sie seien angesichts der Bedeutung der Aufgabe kaum der Rede wert. 114 Interessanterweise kommt der Begriff Gesellschaftswissenschaft in der Eingabe an die Ministerien an keiner Stelle vor. Im Antrag an die erste Kammer bildete die „Ausbildung der Gesellschaftswissenschaft zu einer Erfahrungswissenschaft" ganz im Rückgriff auf die „Grundzüge" noch eine zentrale Aufgabe des Instituts. 115 Die Eingabe ist also als sozialpolitisches Sofortprogramm formuliert; als Konsequenz daraus ist auch zu sehen, dass er - in seiner eigenen Handschrift verfasst - dem König das Manuskript für die Verordnung zur Einrichtung der geforderten Zentralkommission gleich anhängt. Der zentrale Satz darin lautet: „Da die Kammern zunächst durch politische Fragen in Anspruch genommen werden, ihnen überdies der zur Gewinnung einer Gesammtübersicht nothwendige Kenntnis fehlt, so habe Ich die Bildung einer Centralcommission, aus Mitgliedern der Ministerien, aus Männern der Wissenschaft und des practischen Lebens bestehend, angeordnet, welche sofort die zur Förderung der Volks Wohlfahrt nothwendigen Maaßregeln zu erörtern und dem Staatsministerium wie den Kammern darüber zur weiteren Beschlußnahme Bericht zu erstatten haben wird. Ich sehe voraus, daß zu gleichem Zwecke sich in allen Theilen des Landes Vereine bilden und daß diese die Centralcommission mit Nachrichten und Vorschlägen unterstützen werden." 116 Da die Ministerien den Vorstoß Lavergnes nicht unterstützten, kam es nicht zum Erlas des Königs aus der Feder des Landrats von Lavergne-Peguilhen. Handelsminister v. der Heydt gestand zwar ein, dass die Regierungen sich im Kampf gegen die Armut mit Halbheiten zufrieden gegeben hätten, wandte sich aber strikt gegen den Plan einer neuen „Behörde". Er fürchtete, die Bevölkerung erhalte durch die einmal geweckten „Hoffnungen und Wünsche" eine zusätzlichen Waffe für einen Kampf, dessen Schlachtfeld eigentlich längst verlassen sei. 117 Lavergnes Formel erschien ihm zu einfach und als das Produkt einer „wohlwollenden Phantasie", um die Entwicklung der Volkswohlfahrt tatsächlich zu beschleunigen und ein in jahrhundertealten Strukturen gewachsenes Problem zu lösen. 118 Lavergnes Idee gehörte für v. der Heydt nicht zu denen, die große Reformen begründen, wie etwa die, auf denen sich die Gewerbe- und Agrargesetzgebung von 1811 und das Zollsystem von 1818 gründeten. Bis aus Ideen tatsächlich tragfähige Reformen würden, brauche man viel Zeit, und diese Auffassung sei einfach nicht mehr zeitgemäß: „Man hat sich einmal daran gewöhnt, als unmittelbares Resultat der eingetretenen politischen 114 115

116 117 118

Lavergne, Eingabe, Bl. 15 Rs. Geck, S. 14.

GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 19. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 21 f. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 22.

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

Umwälzung eine Verbesserung des sozialen Zustandes zu erwarten, man fühlt diese Verbesserung noch nicht, und nun soll eine neue Behörde helfen." 119 Schließlich sah v. der Heydt Lavergnes Vorhaben vor dem Hintergrund eines „Systems", das mit den von Baboeuf und allen seitdem entwickelten kommunistischen und sozialistischen „Irrlehren" die Ansicht teile, zwar nicht den allgemeinen Wohlstand, „doch wenigstens eine wesentliche Verbesserung der gegenwärtigen Lage der arbeitenden Klassen rasch" herbeiführen zu können. Damit interpretierte er in den Lavergneschen Antrag gerade das Gegenteil von dem hinein, was der Verfasser eigentlich anstrebte, der die notwendige gesellschaftliche Umgestaltung aus der Beschäftigung heraus wollte. Dass im Hintergrund dieses Vorschlags natürlich Ergebnisse antizipiert wurden, denen ein zumindest gesellschaftspolitisches System zugrunde liegt, hatte Lavergne in der „Landgemeinde in Preußen" herausgearbeitet. Auch seine Ideen zur staatlichen Wirtschaftslenkung sind durchaus in einen staatssozialistischen Kontext zu rücken, wie dies v. der Heydt in seinem Votum tat. 120 Dafür spricht der Gebrauch von aktuellen Schlagworten wie „Monopolisirung aller Industrie und alles Handels in den Händen des Staats" und „Organisation der Arbeit" in Lavergnes Konzept. 121 Außerdem fürchtete der Minister, die „neue Behörde" werde im Lauf der Zeit einen großen Teil der Staatsverwaltung „in sich absorbiren", von Zuständigkeitsüberschneidungen und -Streitigkeiten gar nicht zu reden. V. der Heydt stellte dem alle Lebensumstände umfassenden Systemdenken die Anpassungsfähigkeit der Politik an die partikularen und temporären Interessen entgegen und präsentierte sich damit als Anhänger eines Konservatismus, der die Auswüchse sozialer Missstände durch auf den Einzelfall ausgerichtete „legislative und administrative Maaßregeln [...] zu mildern oder zu beseitigen" trachtete 122. Während sich Handelsminister v. der Heydt von einer neuen Behörde nicht in seinen Kompetenzen beschneiden lassen wollte, folgte das Votum des Innenministeriums unter der Führung von Otto v. Manteuffel, Lavergnes ehemaligem Vorgesetztem in der Regierung in Königsberg 123 , der Argumentation Lavergnes: „Der Gedanke scheint zeitgemäß, und würde, rasch und umsichtig ausgeführt, jedenfalls dazu beitragen, der Staats-Regierung die Sympathie der irregeleiteten Masse zuzuwenden und Zeugniß zu geben, daß die Regierung den

119

GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 22 f. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 23; Mario; A Schmidt, S. 51. 121 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 23. 122 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 23 Rs.; vgl. Beck, Origins, S. 206 f. unterscheidet den Ansatz v.d. Heydts als „piecemeal social engineering" vom liberalen Ansatz des „utopian social engineering". 123 Belke, S. 56; nach Hahn, „Revue", S. 44, auch später enge Kontakte zu Manteuffel. 120

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ernsten Willen habe, sich der bedürftigen Klassen anzunehmen und die sociale Frage praktisch auf dem Wege gesetzlicher Entwickelung zu lösen." 124 Außerdem würde so wenigstens ein Teil der „in politische Wühlerei versunkenen Menge" wieder auf nützlichere Dinge gelenkt. Obwohl das Landwirtschaftsministerium im Sommer 1849 ebenfalls Otto v. Manteuffel unterstand, beurteilte es in einem Memorandum vom 19. Juli die Pläne Lavergnes ähnlich wie Minister v. der Heydt. Zwei Tage nach der Urwahl für die zwei Kammern der Nationalversammlung sah das Landwirtschaftsministerium die Kompetenzen für Entscheidungen hinsichtlich der sozialen Frage beim in Kürze zusammentretenden Parlament. 125 Das mache weiteres Handeln in Lavergnes Angelegenheit überflüssig. Damit ersparte man sich aus Sicht des Ministeriums auch zahlreiche Probleme, die mit dem Zentralinstitut zusammenhängen würden. Erstens wäre es schwierig, die geeigneten geistig überlegenen Personen für die Mitarbeit auszuwählen, zweitens bestehe die Gefahr einer „Opposition im eigenen Schöße" 126 im Falle widersprüchlicher Auffassung in Regierung und Institut: „Es ist nicht wohl abzusehen, weshalb die einsichtsvollen Köpfe, welche fähig wären, den rechten Weg zur Heilung der Zeitgebrechen aufzufinden, eben eine neue Behörde bilden müßten. Kennte man sie nur, so müßte man ihnen die Stellung, die ihre Wirksamkeit fördern soll, in der Verwaltung selbst anweisen." 127 Als Parlamentsangehörige könnten sie sich gewissermaßen von selbst durch ihre Petitionen als kompetent ausweisen und diese bei Tauglichkeit auch durchsetzen. Und sollten die „einsichtsvollen Köpfe" auch dort nicht sein, folgerte das Ministerium, so könne man sich immer noch der freien Presse bedienen: „Wir haben der Wege genug, auf denen der glückliche Gedanke sich Bahn brechen kann." Die Nutzung dieser Wege schlug man denn auch dem Verfasser der Denkschrift vor und beschied ihm: „Wir bedürfen dazu keines eigenen Organs". 128 Das konservative Ministerium Brandenburg-Manteuffel berief sich zwar auf Parlament und freie Presse, die als Restbestände liberaler und demokratischer Forderungen die Revolution überlebt hatten. Sie war hinsichtlich der sozialen Problematik jedoch nicht an der Ursachenforschung durch ein leidlich unabhängiges Organ interessiert, sondern an der Sicherung ihres Zugriffs auf Entscheidungen und Maßnahmen im Zusammenhang mit der sozialen Frage, da

124 125 126 127 128

GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 20 f, Unterschrift nicht von Manteuffel. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 26 Rs. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 26 Rs. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 25 Rs. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 215a, Bl. 26.

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

Parlament und Presse durch die oktroyierte Verfassung vom Dezember 1848 keine Unabhängigkeit von der Regierung gewonnen hatten.129 Aus seinem erneuten Scheitern mit dem Versuch, die Gesellschaftswissenschaft zu institutionalisieren, zog Lavergne nicht etwa die Konsequenz, diese Forderung vollständig fallen zu lassen. Er wartete nur auf eine neue Gelegenheit, die sich aber bis Mitte der 50er Jahre nicht mehr bot. Im Sommer 1849 in die Zweite Kammer der Nationalversammlung gewählt, setzte er in der Debatte im Herbst 1849 seinen Kampf gegen die soziale Taubheit von Wirtschaftsliberalismus und Hochkonservatismus fort. Die Forderung nach staatlichem Eingreifen in soziale Prozesse „wurde in der Debatte mit den klarsten Argumenten von Lavergne-Peguilhen vertreten, einem der interessantesten konservativen Sozialpolitiker, der die einseitige Wirtschaftsorientiertheit des liberalen Systems als dessen Hauptübel kritisierte und nachdrücklich auf die gesellschaftspolitischen Aufgaben des Staates hinwies" 130 . Das sozialtheoretische Themenspektrum verfolgte er in den nächsten Jahren auch journalistisch-publizistisch weiter, war jedoch nie mehr so produktiv wie in den zehn Jahren vor der Revolution.

I I . Landrat und Abgeordneter: zwischen Wirsitz und Berlin 1. Ein neuer Wirkungskreis Im Sommer 1850 wurde Moritz von Lavergne-Peguilhen Landrat von Wirsitz im Regierungsbezirk Bromberg, nachdem er den Kreis ein Jahr lang kommissarisch verwaltet hatte. In der Notiz des Innenministers v. Manteuffel vom 21. Juli 1850 heißt es, Lavergne sei auf seinen Wunsch in den ausschließlich ländlich geprägten Landkreis versetzt worden. 131 Wieder hatten Berechnung und persönliche Verbindungen, vermutlich aber auch eine politisch motivierte gefühlsmäßige Hinwendung zu dieser Wende im Leben Lavergnes geführt. Offiziell verbreitete Lavergne folgende Lesart: „Ich habe bei dem Ministerio des Innern den Antrag um Versetzung als Landrath des Kreises Wirsitz im Regierungsbezirk Bromberg eingereicht, da die Verwaltung meiner daselbst 129

Utermann, Kampf, S. 116 zur Regierung Brandenburg-Manteuffei. Mit ihr rückten die Dinge „wieder an ihren Platz. Die fast unversehrt gebliebenen Machtmittel des alten Staates, Armee und Bürokratie, wurden wieder offen mit ihrem vollen Gewicht in die Wagschale geworfen, und die Bürokratie unterstand dazu nunmehr der Herrschaft Manteuffels, der wie kein anderer auf diesem Instrument zu spielen verstand." 130

131

155.

Volkmann, S. 46.

Anzeige durch v. Manteuffel am 21.7.1850, GStaPK, I. HA, 2.2.1., Nr. 13805, Bl.

II. Landrat und Abgeordneter

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belegenen Güter mit meiner Stellung im Rössler Kreise nicht ferner zu vereinigen ist." 1 3 2 Erst am 12. Juni 1849 teilte er schriftlich die Niederlegung der Geschäfte in Rößel mit, obwohl er schon im Mai die kommissarische Leitung des Wirsitzer Landratsamts übernommen hatte. Hier kommt die Lavergnesche Fähigkeit zur Berechnung ins Spiel, die er auch schon bei der Amtsübernahme in Rößel eingesetzt hatte. Wirsitz wurde seit Mitte der 40er Jahre vom Landrat von Randow verwaltet. Von Randow hatte den polnischen Aufstand von 1848 überstanden, war allerdings, erst 48 Jahre alt, am 8. März 1849 verstorben. Ein Regierungsassessor Kühne übernahm die Stelle im Mai 1849 kommissarisch. Ihn löste noch im selben Monat Landrat von Lavergne-Peguilhen ab, der dann 1850 endgültig den Landratsposten erhielt. 133 Im Zusammenhang mit dieser Wahl hat ein Neffe Lavergnes eine anekdotische Begebenheit überliefert, die etwas von der Persönlichkeit Lavergnes - von Zuneigung und Beliebtheit in der Familie gefärbt - durchscheinen lässt: „Mein Onkel war ein sehr jovialer Mensch. Er verstand es eine ganze Gesellschaft zu erheitern. Wenn auch von einer entschiedenen Ruhe der Haltung, konnte er doch äußerst heiter und witzig sein. Manchmal war er auch scharf und ironisch. Seinen Sinn für Humor möge folgendes Geschichtchen beweisen: Er sollte zum Landrat in Wirsitz gewählt werden. Auf dem Weg zum Wahllokal kam er ins Gespräch mit einem Bauern, der ihn nicht kannte. Der befragt ihn über seine Ansicht über den Wahlkandidaten v. Peguilhen. Was das wohl für ein Mensch sei. Darauf macht mein Onkel den Kandidaten ganz kolossal herunter, und weidet sich nachher an dem erstaunten Gesicht des Bäuerleins, als er in der Versammlung selber als Wahlkandidat vorgestellt wird." 1 3 4 Der Neffe lieferte auch einen recht genauen Steckbrief des Wirsitzer Landratskandidaten. Er sei klein, dunkelhaarig und äußerlich ruhig gewesen. Außerdem habe er dem Abgeordneten Windthorst [!] sehr ähnlich gesehen.135 Hinsichtlich der persönlichen Verbindungen werden folgende Fäden sichtbar: Im Regierungsbezirk Bromberg waren zwei Gründungsmitglieder des „Vereins für sozialpolitische Reform", Theodor v. Bethmann-Hollweg und Heinrich v. d. Goltz, Grundbesitzer oder hatten dort familiäre Verbindungen. 136 Es erscheint plausibel, dass Lavergne von ihnen die Information über die va132 133

134 135

Zitat bei Georg Becker, S. 47. Rehfeld, S. 63.

Zitat bei Georg Becker, S. 48. Georg Becker, S. 48.

136 Papstein, S. 32; 1855 waren Lavergne und Bethmann-Hollweg allerdings politische Gegner, Bethmann hatte vor der Novemberwahl die „Freunde der Verfassung", darunter auch einige polnische Grundbesitzer aus dem Wahlbezirk Nakel, gegen die Konservativen formiert, WAPB 1/1481.

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

kante Landratsstelle erhielt. Möglich ist jedoch auch ein verwandtschaftlicher Hintergrund. Vorbesitzer des schon in Zeiten des Deutschen Ritterordens 1413 erstmals erwähnten Rittergutes Falmierowo, das Lavergne im Kreis Wirsitz erwarb, war sein Schwager Ludwig Graf v. Westarp, der Mann seiner älteren Schwester Franziska. 137 Zur politisch motivierten persönlichen Neigung lässt sich anführen, dass sich gerade der Kreis Wirsitz während der Revolution als besonders royalistisch hervorgetan hatte. Wirsitz hatte den in England weilenden Prinzen Wilhelm im Mai 1848 demonstrativ zu seinem Kandidaten für die preußische Nationalversammlung nominiert. Erst diese ungewöhnlich drastische Aktion hatte zur Rückkehr des Prinzen aus England entscheidend beigetragen. 138 Ob es tatsächlich stimmt, dass Lavergne „dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Kaiser Wilhelm I., zu seiner Flucht nach England" verholfen hatte 139 , lässt sich nicht verifizieren. Allerdings ließe sich auch aus dieser Loyalität heraus eine weitere Affinität zwischen Lavergne und dem ihn später wählenden grundbesitzenden preußischen Adel im Kreis Wirsitz herleiten. Außerdem hatte die preußische Verwaltung unter Führung des Landrats von Randow auch beim Aufstand der Polen im Kreis eine konsequent antirevolutionäre Haltung bewiesen. Als am 25. März 1848 der wohlhabendste polnische Grundbesitzer im Kreis, Graf Ignac Bninski 140 , im Sog der polnischen Nationalbewegung den Landrat zum Verlassen des Kreises aufforderte, reagierte dieser mit Widerstand. Mit der Unterstützung von Landwehrmännern und Freiwilligen mit Gewehren und Sensen, sowie der Hilfe eines in der Nähe stationierten Infanterieregiments verhinderte von Randow weitere Ausschreitungen. Die Mehrheit der polnischen Bevölkerung verhielt sich jedoch ruhig und vordergründig loyal zur preußischen Krone; wie der erste Aufstandsversuch 1846 ging auch dieser auf die Initiative der polnischen Grundbesitzer und ihres „Anhangs" zurück. 141 Sie wehrten sich damit gegen die wiederholten Versuche des preußischen Staates, ihren Einfluss auf die Landbevölkerung einzudämmen.

137 138

139

Papstein,, S. 407. Papstein, S. 32 f.; Volz, S. 176.

Georg Becker, S. 46, ohne Angabe von Quellen; Volz, S. 166 ff., spricht wiederholt von Freunden als Helfer und nennt namentlich nur Karl Frhr. v. Vincke. Auch in den edierten Briefwechseln Wilhelms und Friedrich Wilhelms taucht der Name Lavergne nicht auf, etwa Haenchen (Hg.); v. d. Knesebeck; vgl. Herre; Oelrichs', Egelhaaf. 140 WaPB, Kreissachen 23, Verzeichnis der Grundbesitzer im Kreis, 1850: Bninski besaß 40.000 Morgen (rd. 10.000 ha) Land. 141

Papstein, S. 33.

II. Landrat und Abgeordneter

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2. Zwischen Polen und Preußen „Das Departement Bromberg setzte sich auf eine eigene, fast individuell zu nennende Art von anderen Regierungsbezirken ab - selbst vom Regierungsbezirk Posen unterschied es sich schon allein durch den stärkeren deutschen Charakter des Netzedistriktes - und verlangte die Lösung von Aufgaben, die nur mit Fleiß und gutem Willen unter Berücksichtigung der Landeseigentümlichkeiten von den ohnehin überlasteten Beamten zu bewältigen waren. In ein vorgefundenes Verwaltungschaos musste mit viel Mühe langsam Ordnung gebracht werden; dabei erlaubte die notorische Geldknappheit weder bei Anstellung von Personal, noch bei den laufenden Kosten oder Investitionen irgendwelche Großzügigkeit. Nicht zu reden von den Schwierigkeiten, die der polnische Bevölkerungsteil, seine fremde Mentalität, die verschiedenen Konfessionen, der kulturelle Rückstand der Einwohner, die schlechte wirtschaftliche Lage und die große Zahl von Juden mit sich brachten." 142 Hier wird deutlich: Auf den neuen Wirsitzer Landrat warteten zahlreiche schwierige Aufgaben. Sie rührten aus den historischen, gesellschaftlichen, geographischen und demographischen Besonderheiten her, die den Charakter der Provinz Posen Mitte des 19. Jahrhunderts ausmachten. Weil diese Besonderheiten direkt oder indirekt zu Lavergnes Scheitern in Wirsitz beitrugen, ist ihre ausführliche Darstellung zum besseren Verständnis dieses Abschnitts im Leben Moritz v. Lavergne-Peguilhens notwendig. An der Spitze der Gesellschaft in der Provinz Posen stand ein starker Adel. Fast 80 Prozent der Rittergüter gehörten noch 1831 der polnischen Nobilität, die restlichen waren in deutschem Besitz. 143 Mit den 500 Adligen ohne Grundbesitz lässt sich die Gesamtzahl der adeligen Personen im Großherzogtum auf 5.000 bis 6.000 oder ein Prozent der gesamten polnischen Bevölkerung hochrechnen. Den zweiten Rang dieser ständischen Gesellschaft besetzte der Klerus mit seinen Anfang der 20er-Jahre rund 800 Priestern und Ordensbrüdern. Während in Adel und Klerus die polnische Nationalität überwog, war bei Beamten und Bildungsbürgertum die deutsche wesentlich stärker vertreten. Es gab einige wenige Ärzte und noch weniger Lehrer polnischer Nationalität an den drei Gymnasien der Provinz. Nach dem Novemberaufstand 1830 wurden die mittleren Beamtenpositionen mit Deutschen besetzt und die Verwaltungsstruktur durch die Einführung von Bezirken und Gemeindedistrikten mit den dazugehörigen neuen deutschen Amtsträgern gestrafft. So wurden die Gutsgemeinden in der Provinz, in der es bisher keine selbständigen Gemeinden oder Gemeindeverbände gegeben hatte, 1836 zusammengefasst und unter die Verwaltung U 2

143

Berger, S. 258 f.

GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 438, Nr. 41, S. 62: insgesamt gab es 1.307 Rittergüter, davon waren 1.022 in polnischem Besitz.

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eines Distriktkommissars als Gemeindevorsteher anstelle des dem Gutsherrn unterstellten Woyt gestellt. 144 Als Folge der Verfassung von 1848, die auch das Beamtenrecht liberalisierte, gelangten zunächst viele Polen in die preußische Verwaltung, in den 60er-Jahren nahm ihre Zahl jedoch wieder ab, weil gerade die polnischen Juristen in weit entfernte Städte Westdeutschlands versetzt und ihrerseits durch Deutsche ersetzt wurden. 145 Infolge der Freiheiten, die die neue Agrargesetzgebung gewährte, wuchs die Bevölkerung explosionsartig an. 146 In den Städten lebten 25 Prozent der Einwohner. Unter dem Begriff Stadt hat man sich Kleinstädte vorzustellen, deren äußeres Bild von den für die Gegend üblichen kleinen Holzhäusern geprägt wurde. Von den 144 Städten hatten nur Posen und Bromberg mehr als 10.000 Einwohner, 110 hatten weniger als 3.000. Die wirtschaftliche und soziale Elite in den Städten stellten Deutsche und Juden. Sie waren die wohlhabenden Handwerker, Kaufleute und Industriellen im Großherzogtum Posen. Die Masse der Bevölkerung stellten Anfang der 20er Jahre die Leibeigenen, deren 1823 per Gesetz angeordnete Befreiung erst 1865 allmählich abgeschlossen wurde. 147 Vor allem der langjährige Oberpräsident Flottwell versuchte, die Bauern durch konsequente Regulierungspolitik für Preußen zu gewinnen. 148 Schwierig wurde die Situation zwischen den in der Provinz Posen ansässigen Bevölkerungsgruppen nach der Revolution von 1848. Friedrich Wilhelm IV. setzte die polnische Bevölkerung wieder in die ihr vom Wiener Kongress zuerkannten Rechte ein. 149 Statt der anfänglich zu beobachtenden Solidarisierung von Teilen der deutschen mit der polnischen Bevölkerung und ihren nationalen Forderungen führte das dazu, dass die Deutschen um ihre Privilegien fürchteten. 150 Dem Aufruf aus Frankfurt, sich zu einem gesunden „Volksegoismus" zu bekennen, lag eine deutlich antipolnische Haltung der deutschen nationalistischen Politik im Sommer 1848 zugrunde. 151 Die preußische Politik nach der Revolution bestand in der gezielten Stärkung der Junker und der Schwächung des polnischen Grundbesitzes. Sein Untergang begann endgültig mit der land144 145

146

Klatte, S. 211 f. Molik, S. 73.

Ipsen, S. 365 ff.: Im Weichselgebiet wurde nach 1848 das höchste Bevölkerungswachstum des gesamten preußischen Staatsgebiets erreicht. 147

148

149

Molik, S. 64. Trziakowski,,

S. 19.

Kabinettsorder über Reorganisation des Großherzogthums Posen vom 24. März

1848, zit. bei Trziakowski, S. 14. 150 Trziakowski, S. 14. 151

Trziakowski, S. 14. Mit Bezug auf eine Rede Wilhelm Jordans in der Frankfurter Nationalversammlung am 24. Juli 1848; Zemack, S. 434: „Der sacro egoismo der Paulskirche bekannte sich zu zweierlei Maß: Er war gegen den dänischen Gesamtstaat für die deutsche Nation, und er war für den preußischen Gesamtstaat gegen die polnische Nation."

II. Landrat und Abgeordneter

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wirtschaftlichen Krise der 50er-Jahre und wurde verschärft durch Kreditvergaben, die den Polen verweigert, den Junkern jedoch großzügig gewährt wurden. 152 Der preußischen Politik der Denationalisierung, die vor allem in der Beschränkung der beiden nationalitätsstiftenden Elemente Adel und Kirche bestand 153 , lag nach Auffassung polnischer Autoren eine mangelnde Kenntnis der Situation vor Ort zugrunde. 154 So hätten sich die aus anderen Landesteilen nach Posen versetzten Beamten auf tendenziöse Berichte Subalterner verlassen, ohne selbst in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung zu treten. Auf der anderen Seite betrieben die polnischen Gutsbesitzer und Vertreter der Intelligenz gegenüber den Preußen einen „Gesellschaftsboykott" und verschlechterten so ihrerseits den Informationsfluss. Wenig Einfluss auf eine Verbesserung dieser Situation hatten die wenigen deutschen Gutsbesitzer und Beamten aus lange in Posen ansässigen Familien, die realistischere Analysen und Vorschläge ablieferten. 155 Die Denkschriften polnischer Gutsbesitzer wurden in Berlin wohl noch weniger beachtet. Als probates Mittel der Germanisierung entwickelten die preußischen Behörden das Volksschulwesen. 1825 wurde die allgemeine Schulpflicht ab sechs Jahre eingeführt; die Zahl der Elementarschulen stieg von 1816 bis 1866 von 680 auf 2.300. Das führte zu einer allmählichen Verdrängung der polnischen Sprache aus der Schule. Das war auch im Sinne der preußischen Militärs: Sie wollten keine polnisch sprechenden Analphabeten als Rekruten. Mit der Grundbildung hörte das Engagement jedoch auf. Das Interesse an der Entwicklung von Gymnasien war verschwindend gering. 156 Von den acht aus dem Herzogtum Warschau übernommen Mittelschulen wurden drei in Gymnasien umgewandelt. Die übrigen wurden aufgelöst oder in Progymnasien umgewandelt. Noch 1864 gab es in der Provinz Posen nur sieben Gymnasien gegenüber 23 im Rheinland und 22 in Brandenburg. 157 Alle Bemühungen in der Provinz um die Gründung einer Hochschule schlugen fehl, weil die preußische Regierung befürchtete, eine Universität könnte „Zentrum des Polen turns" werden. Mehr Erfolg im Sinne der angestrebten Germanisierung wurde vom Studium junger Polen an deutschen Hochschulen erwartet. 158 Allerdings wurde dieses Ziel

152 153

Trziakowski, Trziakowski,

S. 15; Molik, S. 65; ausfuhrlich Gentzen, S. 17 ff. S. 17.

154 Molik, S. 67, meint, „daß die preußischen Behörden über die im Großherzogtum Posen herrschende Situation nicht immer gut unterrichtet worden waren." 155 156 151 158

Molik, Molik, Molik, Molik,

S. 68. S. 69. S. 70. S.71.

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durch die wenigen staatlichen Stipendien für polnische Studenten nicht erreicht. 159 3. Wohlstand durch gute Verkehrsanbindung Lavergne trat in Wirsitz die am schlechtesten besoldete Landratsstelle im Regierungsbezirk Bromberg an, der mit dem so genannten Netzedistrikt 1773 zu Preußen gekommen war 160 und seit der vierten polnischen Teilung durch den Wiener Kongress 1815 zum Großherzogtum Posen gehörte. Der Regierungsbezirk Bromberg umfasste 40 Prozent der Fläche und neun Kreise des Großherzogtums Posen. Im Regierungsbezirk Posen lagen 17 Kreise. 161 Trotz der schlechten Bezahlung war der Kreis Wirsitz wegen seiner hervorragenden Verkehrsanbindungen nicht unbedeutend. Der 1774 von Friedrich II. eingeweihte Bromberger Kanal ermöglichte über die direkte Verbindung von der Netze zur Brahe den Getreidetransport zwischen Oder und Weichsel. Außerdem ging die wichtige Straßen Verbindung Berlin-Bromberg von Westen nach Osten durch den Kreis. Sie war, was ein großer Gewinn für die Reise- und Transportgeschwindigkeit war, zwischen Inowroclaw und Nakel sogar chaussiert. Der Bromberger Regierungsdirektor v. Leipziger bezeichnete den Kreis im Jahre 1820 als „den fortgeschrittensten, fruchtbarsten und reichsten" im Regierungsbezirk. 162 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Landwirtschaft wie in der gesamten Provinz Posen auf einem niedrigeren Niveau betrieben wurde als in den übrigen preußischen Gebieten und die polnischen Landbesitzer der Konkurrenz der deutschen Großgrundbesitzer nichts entgegenzusetzen hatten. Nur ein Viertel des Bodens wurde vor dem Beginn der Bauernbefreiung überhaupt bewirtschaftet, das Weideland überwog das Ackerland bei weitem, das den schlechtesten Ertrag im gesamten preußischen Staat einbrachte. 163 Als 1823 per Dekret die Bauernbefreiung verordnet wurde, ging damit ein Verbot für polnische Grundherren einher, abgelöstes Bauernland zu erwerben. Damit wollte Preußen den polnischen Nationalismus schwächen, sorgte aber indirekt dafür, dass die rückständige Landwirtschaft den Anschluss an die Entwicklung des Agrarkapitalismus vollends verpasste. 164

159

160

Molik, S. 72.

Born, S. 882: dazu gehörten auch die Kreise Bromberg, Deutsch-Krone, Camin und Inowraclaw(Hohensalza). 161

162 163

164

Neubach, S. 196. Papstein, S. 30. Se ring, S. 86 f.; Ipsen, S. 386.

Mit weiterführender Literatur zum Verhältnis Preußen-Polen: Zernack, hier S. 432.

II. Landrat und Abgeordneter

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Schon seit dem Mittelalter in mehreren Wellen von Deutschen besiedelt, in friderizianischer Zeit dann systematisch „peupliert", hatte sich im Regierungsbezirk Bromberg eine starke preußische Elite etablieren können, die dem polnischen Nationalismus im Regierungsbezirk Posen gerade in der Revolutionszeit pro-preußische Aktionen und Äußerungen entgegensetzte.165 Neben der demonstrativen Wahl des Prinzen von Preußen zum Abgeordneten verlangten sie am 9. April 1848 in einer Adresse an die Nationalversammlung die Vereinigung mit Preußen und die Entlassung aus dem Großherzogtum Posen als eindringliches Bekenntnis ihres Zugehörigkeitsgefühls zum Deutschen Bund. 166 Anfang des 19. Jahrhunderts gab es bei einer Gesamtbevölkerung von 1,12 Millionen Menschen knapp doppelt so viele Polen wie Deutsche; jeder 15. Einwohner war Jude.167 Friedrich Wilhelm III. hatte nach dem Wiener Kongress den Polen eine Sonderstellung, die „Teilnahme an der Konstitution", eine „provinzielle Verfassung" sowie den Schutz von Religion und Sprache in Aussicht gestellt 168 und die Schaltstellen der Verwaltung zunächst mit Polen und Katholiken mit preußischen Verbindungen besetzt. So waren zunächst von 26 Landräten 23 Polen, aber wohl hauptsächlich wegen des Mangels an polnisch sprechenden Preußen. 169 Wenn auch die Versprechungen hinsichtlich des Sonderstatus nicht eingehalten wurden, sondern eine massive Germanisierungspolitik betrieben wurde 170 , so achtete die preußische Verwaltung doch bei der Besetzung der Landratsstellen auf die polnischen Sprachkenntnisse: „Zur Qualifikation [gehört] [...] eine vollständige Kenntniß der deutschen und mindestens so viel Bekanntschaft mit der polnischen Sprache, daß er solche geläufig sprechen und schreiben kann". 171 Diese Vorschrift wurde aber im Laufe der Jahre so verwässert, dass es in den 50er Jahren zu Klagen kam, die Polen könnten die Verlautbarungen in den zweisprachigen Amtsblättern wegen des fehlerhaften Gebrauchs der polnischen Sprache teilweise nicht verstehen. Davon betroffen war auch das „Wirsitzer-Bromberger Kreisblatt". 172 In einem Rundschreiben des Regierungspräsidiums wurde auf die „Verstümmelung der Sprache" durch

165

166 167 168 169

170

Papstein, S. 39 ff; Rehfeld, S. 20.

Hartungsche Zeitung, Nr. 88, 13. April 1848.

Born, S. 882. Neubach, S. 194. Neubach, S. 196.

Trziakowski, S. 7 ff., spricht von „brutaler" Germanisierung über gesteuerte Migration und Schulpolitik bei gezielter Schwächung des polnischen Elements; Trziakowski, S. 18, Molik, S. 65 f. 171

Rauer, § 799, Reglement vom 29. April 1829, § 7. WAPB, Präsidial-Registratur, 1/1701, Lavergne initiierte 1852 die Gründung des Kreisblatts, es erschien zweisprachig in einer Auflage von 300 Exemplaren und wurde Mitte der 50er Jahre mit dem Bromberger Kreisblatt zusammengelegt. 172

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

völlig unpolnische Redensarten sowie zahlreiche grammatikalische und orthographische Fehler hingewiesen. Deshalb sollten nur noch „fähige Personen" Übersetzungen machen dürfen. 173 Insgesamt stand aber die Nationalitätenfrage im Regierungsbezirk Bromberg anders als im benachbarten Bezirk Posen nicht im Zentrum des Verwaltungshandelns. 174 Im Kreis Wirsitz hatten sich nur in den Städten Wirsitz und Nakel Handwerk und Kleingewerbe angesiedelt, während der übrige Teil des Kreises von der Gutswirtschaft geprägt war. Obwohl der Kreis Wirsitz mit einer Fläche von 21,25 Quadratmeilen nicht nur um mehr als ein Drittel größer war und mit knapp 43.500 Einwohnern über 6.000 Einwohner mehr als sein alter Kreis Rößel hatte 175 , erhielt der Landrat mit insgesamt 730 Reichstalern jährlich 300 Taler weniger als in Rößel. 176 Allerdings waren die Landräte in Posen im Vergleich zu Ostpreußen generell schlechter gestellt; die Landräte hatten hier sogar niedrigere Bezüge als die Unterpräfekten in den Regierungspräsidien. Außerdem klagten die Landräte schon im Vormärz über zu wenig Personal und Arbeitsüberlastung. Auch die Subalternen waren so schlecht bezahlt, dass es schwierig war, überhaupt fähige Mitarbeiter für die Landratsämter zu finden 177 . Diese nahmen deshalb auch Schmiergelder zur „Aufbesserung" ihrer Bezüge an. Wie mehreren Bürgermeistern aus dem Kreis wurde das 1859 auch dem Wirsitzer Kreissekretär Einenkel im Zusammenhang mit der Erteilung von Schankrechten nachgewiesen, was ihn die berufliche Existenz kostete.178 Wenn das Amt des Landrats im Großherzogtum Posen schon aus finanziellen und personellen Gründen nicht attraktiv war, so litten seine Inhaber außerdem an der kulturellen und sozialen Abgeschnittenheit von den fortgeschritteneren altpreußischen Landesteilen.179 Die Bezüge Lavergnes stiegen in den Jahren seiner Tätigkeit allmählich auf 1.000 Taler plus eine Aufwandsentschädigung von 870 Talern und 100 Talern

173

1/592.

Regierungspräsidium an Landrat Peguilhen in Wirsitz, 25. Oktober 1859, WAPB,

174

„Und dem widerspricht nicht, daß zeitweise wegen auftretender Schwierigkeiten, wie bei den Aufständen, besondere Verfügungen erforderlich waren oder, wie in anderen preußischen Provinzen, Rücksicht auf landschaftliche Eigentümlichkeiten oder historisch bedingte Besonderheiten genommen wurde." Berger, S. 255. 175 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 136, Bd. 6,, Daten vom 29. Dezember 1846. Die Bevölkerungsdichte war geringer, aber die Bevölkerungszahlen stiegen schnell: Schon 1855 lag die Einwohnerzahl bei knapp 50.000. 176 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 136, Bd. 6, Bl. 201. 177

178

Berger, S. 81 f.

Einenkel hatte sich für die Vergabe von Schankrechten hauptsächlich in Naturalien bezahlen lassen: WAPB, 1/2408 I; Disziplinargesetz v. 21. Juli 1852, Gesetzsammlung 1852, S. 465 ff., §§32 ff. 119

Berger, S. 82.

II. Landrat und Abgeordneter

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jährlich als Direktor der Kreis-Feuer-Societät, wobei vor allem das Dienstalter Bemessungsgrundlage war. Die Einkünfte aus seinen verpachteten Gütern - zu Falmierowo gehörten noch die Rittergüter Dobrziniewo, Paulinenhof, Marienthal und Kwiaszkowo mit insgesamt rund 1.200 ha - machten sich dabei kaum bemerkbar, da der Pachtertrag von 7.000 Talern nahezu vollständig für den Schuldendienst der mit ihrem Gesamtwert von fast 170.000 Talern mit Hypotheken belasteten Güter aufgewendet werden musste.180 Da kamen die Abgeordneten-Diäten in Höhe von drei Talern pro Sitzungstag, die Lavergne als Angehöriger der Zweiten Kammer und des Abgeordnetenhauses zwischen 1849 und 1858 zustanden, als zusätzliche Einnahme sehr gelegen. Bei einer durchschnittlichen Sessionsdauer von 120 Tagen kamen so 360 Taler zusammen.181 Seine jüngeren Kollegen mussten sich auch Ende der 50er Jahre noch mit 800 oder 900 Talern und geringeren Aufwandsentschädigungen zufrieden geben. Außerdem war Lavergne 1859 der einzige verbliebene Rittergutsbesitzer im Landratskollegium des Regierungsbezirks Bromberg. Obwohl noch fünf der neun Landräte adelig waren, trat die Verwaltungserfahrung als Qualifikationsmerkmal in den Vordergrund: 1859 wurden fünf Juristen, drei ehemalige Militärs und Verwaltungsleute und mit Lavergne nur ein ehemaliger Landrat gezählt. 182 4. Laxe Amtsführung, Sturz und Disziplinarverfahren Von Lavergnes Tätigkeit in Wirsitz gibt es wenig zu berichten. Er konzentrierte sich wohl vor allem auf die Berliner Aufgaben, wo er nicht nur als Abgeordneter, sondern von 1855 an auch als Redaktionsmitglied der „Berliner Revue" viel zu tun hatte. In der Hauptstadt und nicht in der Kreisverwaltung von Wirsitz erreichte er den Höhepunkt seiner publizistischen und politischen Wirksamkeit. Die Familie lebte von 1848 bis 1858 an beiden Orten, in Berlin und auf dem Gut Falmierowo, von dem aus die Kreisstadt Wirsitz in einem Ritt von weniger als einer Stunde zu erreichen war. 183

180

WAPB, Kreissachen 23; WAPB, 1/224 b. Grünthal, Parlamentarismus, S. 345 u. Fn. 3. 182 WAPB, 1/224 b. 183 Seine jeweiligen Aufenthaltsorte lassen sich an den Geburtsorten der Kinder festmachen: Alexander Franz Julius wurde im Februar 1850 in Berlin geboren und starb dort auch im April 1854. Margarete Natalie Adele kam im April 1853 ebenfalls in Berlin zur Welt, Dorothea Wilhelmine am 2. Oktober 1854 in Falmierowo. Seine Aufenthalte im Landkreis dürfte sich an den Parlamentssessionen und seinen Urlauben orientiert haben: GStaPK, Repert. 169 C, Abschn.l, Abgeord. spec. Littr. C Nr. 14. Hier zwei Eingaben aus 1852, in denen er um Urlaub bat. 181

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

Wenn er sich wegen seines Abgeordnetenmandats und seiner publizistischen Tätigkeit in seinem Engagement für den Kreis im Vergleich zu seiner Zeit in Rößel zurückhielt, so gab es doch ein Projekt, das er mit Entschlossenheit vorantrieb. Das war die Erschließung des Kreises durch den Chausseebau. Die einwandfreie Arbeit der Verwaltung war ihm dagegen offenbar gleichgültig. Das zeigt eine auf den ersten Blick unbedeutende Formalie: Im Gegensatz zu allen anderen Kreisverwaltungen im Regierungsbezirk Bromberg wiesen die Schriftstücke aus Wirsitz am Ende der Lavergneschen Amtszeit weder Briefkopf noch Journalnummer auf. Letzteres hätte wenigstens auf eine funktionierende Ablage hingewiesen. Da erscheint es nicht erstaunlich, dass gerade ein solches „Ablageproblem" Ende der 50er-Jahre eine entscheidende Rolle für seinen Sturz spielte. Lavergnes großes Ziel für den Kreis Wirsitz war dessen verkehrstechnische Erschließung über Chausseen zur Verbesserung der Infrastruktur und der Modernisierung der Landwirtschaft. Dafür gründete der Kreistag eine Chausseebau-Kommission, deren Vorsitzender der Landrat war. In dieser Funktion war er von 1853 an verantwortlich für die Finanzierung der „umfassenden Chausseebauten" im Kreis. Auf diese Weise versuchten die Wirsitzer Kreisbehörden, der desolaten Situation im Straßenbau im Bezirk Bromberg gegenzusteuern, der hierfür wesentlich weniger Unterstützung aus Berlin und Posen erhielt als der Bezirk Posen.184 Der Straßenbau begann 1853 gleichzeitig an mehreren Stellen im Kreis und hatte einen solchen Umfang, dass die vorhandenen finanziellen Mittel wiederholt durch Darlehen gegen Wechsel „bei der Bank-Kommandite zu Bromberg" aufgestockt werden mussten.185 Private Wechsel des Landrats tauchten damals in der im Landratsamt verwalteten Kasse der Wirsitzer Chausseebau-Kommission auf. Lavergne war der Kurator dieser Kasse; sein Kreissekretär Einenkel fungierte als Rendant und unterließ es, in der Buchführung die privaten von den Baukassen-Wechseln zu unterscheiden. 186 Als er sich im Zusammenhang mit diesen Wechseln auch noch in Widersprüche verwickelte und sich nicht zu seinen Fehlern bekannte, brachte ihm dieses „unehrenhafte" Verhalten zunächst ein Disziplinarverfahren

184

„1852 gab es im Bromberger Verwaltungsbereich 37,4 Meilen, 1859 schon 43,6 Meilen Staatschaussee. An Provinzialstraßen hatte die Provinz 1852 ganze 33,1 Meilen und an Aktien-, Kommunal- und Privatstraßen 5,5 Meilen. 1859 wies der Bezirk Bromberg 8 Meilen, der von Posen aber 68,5 Meilen Provinzialstraßen auf. Bei den Aktien-, Kommunal- und anderen Straßen war das Verhältnis günstiger, nämlich 59,5 Meilen im Posener und 41,5 Meilen im Bromberger Bezirk. Wie aus diesem Zahlen Verhältnis [...] hervorgeht, wurde Bromberg nicht im Verhältnis zu seiner Beitragsleistung berücksichtigt." Rehberg, S. 196 f. 185 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, Bl. 16 f. 186 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, Bl. 16 ff.

II. Landrat und Abgeordneter

263

ein, an dessen Ende die Amtsenthebung bei Streichung des größten Teils seiner Ruhestandsbezüge stand. Im Zusammenhang mit dem Disziplinarverfahren äußerte sich Regierungspräsident v. Schleinitz auch über die Fähigkeiten Lavergnes als Landrat: Schleinitz meinte, Lavergne habe sich „durch eine praktische Brauchbarkeit [...] nicht in besonders hervortretender Weise ausgezeichnet". 187 Außerdem warf er ihm „Mangel an Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit" vor. Nur seine „ihm eigenthümliche große Unklarheit" wurde ihm vom Regierungspräsidenten von Schleinitz als mildernder Umstand angerechnet. 188 Aufgrund dieser Erfahrung setzte die Regierung als Nachfolger mit dem in Bromberg 1825 geborenen Emil Hermann Gustav Freymark nach zwei Vertretern, die nur kurze Zeit blieben, 1863 einen Juristen mit langjähriger Verwaltungserfahrung ein. 189 Die Entlassung und das folgende Disziplinarverfahren führten zur größten persönliche Niederlage im Leben Lavergnes. Er verlor sein Amt, das für ihn ja die Erfüllung seiner Berufswünsche dargestellt hatte, seine Existenz als Rittergutsbesitzer, sein Ansehen als Ehrenmann und schließlich seine regelmäßigen Einkünfte - und das im Alter von 57 Jahren. Ein solcher Bruch in der Biographie lässt oft gebrochene Menschen zurück oder führt zumindest dazu, dass die Betroffenen ihre bisherigen Positionen überdenken. Die Reaktion auf eine persönliche Katastrophe gibt in jedem Fall Aufschluss über bestimmte Charaktereigenschaften eines Menschen. Wie stark glaubt er auch in einer solchen Situation noch an sich selbst? Wie geht er mit der eigenen Verantwortung für die Situation um? Wie gestaltet sich sein neues Verhältnis zu den Institutionen, die ihn anklagen, verurteilen und fallen lassen? Und wie verändert diese Erfahrung sein weiteres Leben? Um diese Fragen beantworten zu können, sollen die Umstände und Folgen der Amtsenthebung für Moritz von Lavergne-Peguilhen so genau dargestellt werden, wie es der Mangel an persönlichen Quellen erlaubt. Zunächst geht es um die fünf Jahre zwischen 1858 bis 1863, in denen Lavergne nicht ohne eigenes Zutun um die Grundlagen seiner Existenz gebracht und zum Bittsteller gegenüber dem preußischen Staat wurde. In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, in welchem Maße der Wirsitzer Landrat Opfer der Verlagerung der politischen Kraftfelder in Preußen wurde und in wie weit er durch sein Verhalten im Amt, als Politiker und als Gutsbesitzer für die negative Wende in seinem Leben mit verantwortlich war.

187

GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, Bl. 26; vgl. Rehberg, S. 63. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, Bl. 26. 189 WAPB, 1/224 b. Vertreter waren Rudolf Adalbert Schoulz (1861-1862) und Ferdinand v. Viebahn (1862-1863), Grundriß Verwaltungsgeschichte, Bd. 2, S. 96. 188

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen a) Ein eigenwilliges

Amtsverständnis

„Zufolge des Staats-Ministerial-Beschlusses vom 9. November 1861 ist der Landrath v. Peguilhen wegen Verletzung seiner Amtspflichten und wegen unwürdigen Verhaltens außer seinem Amte mit der Strafe der Dienstentlassung belegt unter Tragung der Kosten des Verfahrens, ihm jedoch drei Viertheil des reglementsmäßigen Pensions-Betrages auf Lebenszeit als Unterstützung zu gewähren." 190 Dieser kurze Vermerk erschien 1861 in der Nachweisung der Landräte im Regierungsbezirk Bromberg. Als Vertreter im Landratsamt wurde von Ende Juli 1862 an der junge, 1833 in Düsseldorf geborene RegierungsAssessor Eduard Viebahn eingesetzt, bevor 1863 der Jurist Gustav Freymark als regulärer Nachfolger für Lavergne antrat. 191 Der oben zitierte Aktenvermerk dokumentierte in dürren Worten das unrühmliche Ende des Landrats von Lavergne-Peguilhen. Was war dieser Entlassung, die in der Bromberger Region einen wahren Skandal darstellte, an Verfehlungen, politischen und persönlichen Intrigen vorausgegangen? 1853 hatte Lavergne mit groß angelegten Chaussebauprojekten in seinem Landkreis begonnen. Um die Bauarbeiten reibungslos vorantreiben zu können, hatte der Kreistag eine Kommission gegründet, die den Bau gleich mehrerer Straßen durch den bis dahin vom preußischen Straßennetz kaum berührten Kreis Wirsitz überwachte. Lavergne selbst erkundigte sich im Sommer 1853 ausführlich bei der Bromberger Regierung über die einzuhaltenden Formalitäten beim Straßenbau, besonders hinsichtlich der Führung der Kassenbücher. 192 Außerdem verlangte er Instruktionen über die Bezahlung der Bauführer und die Art der Kontrolle von Baurechnungen durch die Königliche Bau-Rechnungskammer. Diese Anfrage deutet weniger darauf hin, dass Lavergne seine später inkriminierten Wechselgeschäfte von langer Hand vorbereiten wollte, sondern vielmehr auf logistische Mängel bei der Regierung in Bromberg, die solche Verfahrensfragen provozierten. Die Einhaltung der behördlichen Bestimmungen und Fristen musste in den folgenden Jahren immer wieder durch das Regierungspräsidium angemahnt werden. 193 Davon war jedoch nicht nur der Kreis Wirsitz, sondern es waren auch die anderen Kreise betroffen. Im Herbst 1858 mussten alle Kreise per Rundschrei-

190

WAPB, 1/224 b. WAPB, 1/224 b. 192 Brief Lavergnes an Regierung Bromberg vom 29.7.1853, GStaPK, XVI. HA, Rep. 30, Bau der Chaussee von Posen nach Gnesen durch den Regierungsbezirk Bromberg. 193 Etwa auch wegen der jährlichen Auflistung der im Kreise lebenden Rittergutsbesitzer, WAPB, 23a, Gutsbesitz 1853. 191

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ben an die Ablieferung der Abrechnungen über die Chaussee-Unterhaltung erinnert werden. 194 Neben dem Bau der Chaussee von Posen nach Gnesen, die durch den Landkreis Wirsitz führte, wurden auch die Strecken Pobwike-Wisseck-WirsitzLobsens sowie die Verbindung von Nakel nach Mrotzen in Angriff genommen. Auf diese Weise sollte der Kreis in alle Himmelsrichtungen durch Chausseen erschlossen werden. Diese Erschließung im großen Stil, hinter der Pläne des Landrats von Lavergne-Peguilhen zur Verbesserung der Infrastruktur und zur Arbeitsbeschaffung standen195, war kostspielig. Die notwendigen Finanzmittel musste die von Lavergne verwaltete Chausseebaukasse aufbringen. Einzahlungen leisteten der Kreis, die Gemeinden, auch die großen Gutsbesitzer und Lavergne selbst in Form von Zuschüssen aus ihren Privatschatullen. 196 Gute Straßen waren auch in deren Interesse, denn ihre Absatzwege würden durch die neuen Chausseen wesentlich verbessert. Allerdings waren für die ehrgeizigen Projekte bald Kredite nötig, die bei einem Bromberger Geldinstitut ausgeliehen werden. Als Sicherheit wurden Wechsel gezogen, die im Normalfall am Fälligkeitstag durch die Kasse ausgelöst wurden. 197 Über das Procedere heißt es in einem amtlichen Bericht: „Diese Wechsel wurden zum Theil von dem Provokaten, zum Theil von anderen Gutsbesitzern des Kreises ausgestellt, und nachdem sie wieder von anderen acceptiit waren, von dem Rendan ten (Kreis-Sekretär Einenkel, A. S.) an einen BankAgenten - Schwarz - in Nakel übersandt, der sie dann bei der Bank-Kommandite in Bromberg versilberte. Am Fälligkeitstermin wurden sie dann, wenn sich Geld in der Chausseebaukasse vorräthig fand, baar, wenn aber, wie dies häufig der Fall war, das baare Geld fehlte, durch einen Wechsel eingelöst." 198 Nach dieser Quelle, einer Relation vom 28. August 1861, ging es dabei um hohe Summen, insgesamt etwa 10.000 Taler. Lavergne wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, in diesem allgemeinen Chaos noch eigene Wechsel umgesetzt zu haben, ohne dabei erkennen zu lassen, ob er dies in der Funktion als Kurator der Kasse oder als Privatmann getan habe. 199 Kreissekretär Einenkel, der die Bücher führte, gab an, keine Instruktion Lavergnes zur Unterscheidung

194

Schreiben Lavergnes an Regierung Bromberg vom 1.12.1855 wegen Fristverlängerung für die Ablieferung der Berichte über den Chausseebau, GStaPK, XVI. HA, Rep. 30, hier auch das Schreiben Lavergnes an Regierung Bromberg, April 1857, mit Bitte um Fristverlängerung für den Entwurf des Chaussee-Bau-Etats und die Kostenvoranschläge. 195 Zur Behebung von Notständen wurde in Preußen wiederholt der Straßenbau aktiviert, vgl. Horn, S. 360 f; die Situation beschreibt Born, S. 883. 196 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 40. 197 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 16 ff. 198 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 3 Rs. 199 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 3 Rs. f.

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der Papiere erhalten zu haben und sorgte auf diese Weise für das Durcheinander in den Unterlagen, das nach seiner Entlassung 1857 erst der Anlass dafür war, den Zusammenhängen nachzuspüren und so den Lavergne zu Lasten gelegten Ungereimtheiten auf die Spur zu kommen. Dass Lavergne die Verwaltung des Landratsamtes zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend entglitten sein muss, belegen neben den Mahnschreiben aus Bromberg aus unterschiedlichen Anlässen 200 besonders eindrucksvoll die Umstände von Einenkels Entlassung. Er wurde nach einem Strafverfahren wegen Bestechlichkeit bei der Vergabe von Schankkonzessionen und kleineren Unregelmäßigkeiten aus seinem Amt entlassen. Die Akten belegen, dass Einenkel seit 1851 über Jahre hinweg mit diesen Konzessionen und anderen Gefälligkeiten Handel getrieben hatte. Daneben wurden ihm andere Unregelmäßigkeiten nachgewiesen, die im Rahmen von Untersuchungen gegen weitere Verwaltungsbeamte in anderen Landkreisen aufgedeckt wurden. Insgesamt wurde Einenkel schließlich wegen elf nachgewiesener Delikte belangt und nach den Bestimmungen des Disziplinargesetzes vom 21. Juli 1852 vom Dienst suspendiert. 201 Der Landrat hatte gerade in diesen Jahren mit der Tätigkeit als Abgeordneter und in der Redaktion der „Berliner Revue" hauptsächlich im fernen Berlin zu tun und wenig Kontrolle über die Verwaltungstätigkeiten in Wirsitz. 202 Dies kommt auch in einer Einschätzung des Regierungspräsidenten v. Schleinitz zum Ausdruck. Er kritisierte Lavergnes Amtsführung weniger wegen Mangels an Fähigkeit oder Wülen, sondern vielmehr wegen der „Eigenthümlichkeit seines Wesens, welches ihn vielfach nach andern Richtungen der Thätigkeit hindrängte". 203

200 WAPB, 23a: Für die Erstellung einer Liste aller Rittergüter und ihrer Besitzer im Landkreis sind 1853 mehrere Aufforderungen notwendig, die eingesandte Liste ist dann ein ungeordnetes Geschmiere; WAPB, 24, enthält einen Briefwechsel über die Zusendung von Listen über die im Kreis vorgenommenen Dismembrationen. Die erste Aufforderung erging im August 1860, die Liste erhielt das Regierungspräsidium im September 1861. 201 WAPB, 1/2408: Für seine Gefälligkeiten erhielt er Geld - in einem Fall 30 Taler und Naturalien, etwa einige Scheffel Weizen oder zwei Faß Sardellen. Diese „Provisionen" gingen allerdings nie direkt an Einenkel, sondern an seine Frau oder seinen Schwager; Disziplinargesetz vom 21. Juli 1852, Gesetzsammlung, S. 465ff, hier bes. §§ 32ff. 202 WAPB, 1/2408 heißt es im ersten Fall 1853, „da der Kreislandrath abwesend war". 203 „Die dienstliche Führung des v. Peguilhen ist keine hervorragende gewesen und hat wohl hin und wieder zu Klagen Veranlassung gegeben; an diesen Uebelständen hat aber nicht sein guter Wille und seine Befähigung die Schuld getragen, sondern seine ganze Eigenthümlichkeit, welche ihn mehr zu einer schriftstellerischen Thätigkeit, der er sich auch mit Vorliebe und nicht ohne Erfolg gewidmet hat, als zu einem in das Leben eingreifenden praktischen und ausführenden Beamten, geeignet macht. Gegen seine außerdienstliche Führung sind niemals Anstellungen gemacht und er lebt in glücklichen FamilienVerhältnissen, nur ist ihm öfter vorgeworfen, daß er in seinem eigenen Geldangelegenheiten für seine Verhältnisse zu freigebig und nicht sorgsam sei, während er zu keiner Zeit in seinem Hause Ausgaben gemacht hat, welche seinen Verhältnissen und Einkommen nicht entsprochen hätten." GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 39 Rs. f.

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Als im Rahmen der Ermittlungen gegen Einenkel „eine Revision der Kasse durch die Regierung zu Bromberg veranlaßt wurde", ergab sich, „daß aus der Baukasse für eingelöste Wechsel 2000 rt. zuviel verausgabt waren, ein Defekt, welcher seinen Grund darin hatte, daß Privatwechsel des Provokaten (Lavergne, A. S.) im Betrage von 2000 rt. am Fälligkeitstermin aus der Baukasse berichtigt worden waren." 204 Daraus erwuchsen laut Anklage zwei konkrete disziplinarrechtlich relevante Vorwürfe gegen Lavergne: erstens, den Kreissekretär als ihm untergeordneten Beamten „als Bevollmächtigten in seinem Privatinteresse" benutzt zu haben, zweitens, „daß er durch denselben in dieser seiner Eigenschaft als Bevollmächtigter aus der Baukasse Privatwechsel wissentlich habe einlösen, und dadurch Gelder dieser Kasse wenigstens vorübergehend zu seinem Nutzen verwendet habe". 205 Dass Lavergne eine solche illegale staatliche Finanzhilfe vorübergehend durchaus nötig gehabt haben könnte, wird durch den Vorwurf erhärtet, er habe schon mehrfach seine Wechselschulden nicht bezahlen können. Nach den Ministerialakten waren zwischen 1856 und 1859 vier Wechselprozesse gegen den Landrat anhängig. Nachdem man zunächst auf sein mobiles Vermögen zurückgreifen konnte, wurde am 17. Mai 1859 „die Personal-Exekution gegen ihn verfügt". 206 Der Exekutor konnte seine Aufgabe jedoch nicht ausführen, weil Lavergne weder auf seinem Gut noch im Landratsbüro anzutreffen war. Deshalb wurde im August 1859 sogar Arrest angeordnet, dem sich der Landrat jedoch erneut entzog. Nachdem der Exekutor viermal vergeblich versucht hatte, Lavergne in Arrest zu nehmen, wurden seine Mandate zu den Akten gelegt. Nach dem dem Ministerium vorgelegten Bericht habe er Lavergne einfach nicht finden können. 207 Hätte der Exekutor intensiver gesucht, hätte sich Lavergne nicht kraft Amtes oder durch sein Verschwinden zum rechten Zeitpunkt der Festnahme entziehen können, wäre das Ende seiner Landratsdaseins durch dieses ökonomisch wie politisch unkluge Verhalten möglicherweise schon früher eingetreten. Für diese Verfehlungen konnte man das Disziplinargesetz vom 21. Juli 1852 bemühen. Dessen Generalklausel (§ 2) lautete: „Ein Beamter, welcher 1) die Pflichten verletzt, die ihm sein Amt auferlegt, oder 2) sich durch sein Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, des Ansehens oder des Vertrauens, die sein Beruf erfordert, unwürdig zeigt, unterliegt den Vorschriften dieses Gesetzes." § 87 enthielt die Liste der betroffenen politischen Beamten, die in anderes Amt, in Ruhestand oder in „einstweiligen Ruhestand bei Gewährung eines Wartegeldes versetzt werden konnten: Unterstaatssekretäre, Ministerialdirektoren, Oberpräsidenten, Militärintendanten, Beamte der Staatsanwaltschaft 204 205 206 207

GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 4 f. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 4 Rs. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 23 Rs. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 23 Rs. f.

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bei den Gerichten, Vorsteher Königlicher Polizeibehörden, Landräthe, die Gesandten und andere diplomatische Agenten." 208 Der dritte schwere Vorwurf war dienstrechtlich schwerer zu begründen, weil er sein unehrenhaftes Verhalten außerhalb der Amtsgeschäfte betraf: Nachdem Lavergne die Differenz von 2.000 Talern aus eigenen Mitteln ausgeglichen hatte, versuchte er das Geld bei einem im Landkreis ansässigen Domänenpächter namens Nesselhauf einzutreiben. Er fragte beim Verwalter des abwesenden Nesselhauf an, „ob die Bücher desselben vielleicht ergäben: daß Nesselhauf ihm - dem Provokaten, noch 2.000 rt. schulde?" 209 Bei der am 28. Mai 1858 stattfindenden Aussprache mit Nesselhauf, der beteuerte, weder bei Lavergne persönlich noch bei der Kasse Schulden zu haben, kam es zu einer peinlichen Szene. Als Lavergne erfuhr, dass sein vermeintlicher Schuldner alles abstritt, fiel er in Ohnmacht und erklärte zerknirscht, sich die Schulden des Nesselhauf wohl nur eingebildet zu haben. Er sei jetzt „zu jeder Genugthuung bereit". 210 Die sollte am 1. Juni in Form einer schriftlichen Entschuldigung geleistet werden, in der Lavergne seinen Irrtum durch seine Unterschrift bestätigte. Zusätzlich sollte Lavergne im nächsten Kreistag diese Erklärung verlesen. 211 Er blieb diesen Beweis seiner Reue allerdings schuldig: Statt die Erklärung vor dem Kreistag zu verlesen, verbreitete der Landrat das Gerücht über Nesselhaufs Schulden in der Umgebung. Daraufhin verklagte Nesselhauf den Kreischef. Es kam zu einem „Diffamations-Prozess", bei dem Lavergne erklären musste, den Anspruch gegen Nesselhauf endgültig fallen zu lassen. Außerdem wurde ihm „hinsichtlich des behaupteten Anspruchs ein reuiges Stillschweigen rechtskräftig auferlegt". 212 Bis zum Regierungswechsel Ende 1858 geschah in der Sache noch nichts. „Wenn schon von der conservativen Beamtenschaft meine Bestrebungen als socialistisch verurtheilt wurden, obwohl sie in diametralem Gegensatz zu dieser Richtung stehen, so mußte mit dem Eintritt des Ministerii Auerswald-Schwerin meine Stellung als politischer Beamter vollkommen unhaltbar werden, weil von mir die Begünstigung fortschrittlicher Wahlen nicht zu erwarten war, und weil ich mit der Mehrzahl seiner Mitglieder zahlreiche zermürbende Conflicte gehabt hatte." 213 Lavergne hatte zu den Landräten gehört, die Wahlen zugunsten

208 Hattenhauer, S. 225; zur privilegierten Rolle der politischen Beamten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen s. Siemann, Gesellschaft, S. 142 f. 209 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, (Dienst-Policei), Bl. 6 Rs. 210 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, (Dienst-Policei) Bl. 6 Rs. f. 211 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, (Dienst-Policei), Bl. 7. 212 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, (Dienst-Policei), Bl. 7 Rs. 213 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 10.

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der Konservativen durch Beeinflussung der untersten Wählerklasse manipulierten. 214 Mit Beginn der Neuen Ära wurde diese Praxis massiv bekämpft 215 , wie auch die Nähe zur Regierung Manteuffel zu existenziellen Problemen führen konnte. 216 Prinz Wilhelm hatte nach der Entlassung des konservativen Ministeriums Manteuffel ein konservativ-liberales Kabinett mit Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen an der Spitze eingesetzt, der als national und fortschrittlich galt. Als ehemaliger Kopf der „Landratsfraktion" 217 hatte Lavergne also ausreichende Gründe für die Annahme, dass der Beginn der Neuen Ära das Ende seiner bisherigen Existenz bedeuten musste. Deshalb hätte er, so erinnerte er sich 1868, um die Versetzung „in das neutrale Gebiet des statistischen Bureaus" gebeten, was jedoch mit Hinweis auf seine mangelnde Qualifikation abgelehnt worden sei, „da ich das dritte Examen nicht gemacht habe." 218 Erst im April 1861, knapp drei Jahre nach diesen Vorfällen und vierzehn Monate nach Eröffnung des Verfahrens durch Lavergnes Dienstherrn, Innenminister v. der Heydt, kam es allerdings zu einer Entscheidung des Königlichen Disziplinarhofes. Lavergne wurde zunächst wegen „unangemessenen Verhaltens außer seinem Amte [...] mit einer Geldbuße von achtzig Thalern" belangt. 219 Der Disziplinarhof war zwar auch der Ansicht, Lavergne sei für den Fehlbetrag in der Kasse aufgrund seiner „tiefen Verschuldung" verantwortlich, hielt die wissentliche Einlösung seiner Privatwechsel aus der Chausseebaukasse durch Einenkel aber für nicht erwiesen. 220 Dieser Einschätzung, die auch Regierungspräsident v. Schleinitz teilte, folgte die Staatsanwaltschaft aber nicht. Im November 1861 wurde das Verfahren wieder aufgenommen und, wie es das Disziplinargesetz vom 21. Juli 1852 forderte, im Ministerrat als der höheren Instanz verhandelt. Die Minister schlossen sich dem Votum der Referenten an und forderten, „auf die von dem bestellten Beamten der Staad. Anwaltschaft eingelegte Berufung dahin abzuändern: daß der Angeklagte [...] wegen Verletzung seiner Dienstpflichten und wegen unwürdigen Verhaltens außer seinem Amte mit der Strafe der Dienst214

Nach Beck, Origins, S. 227, allgemeine Praxis; WAPB, 1/1481, Circular, darin heißt es u. a., die Ergebnisse der kommenden Wahlen würden als Messlatte für die Leistungsfähigkeit der Landräte angesehen. Die Landräte seien „dazu berufen, das gemeinsame Land, welches den Thron mit allen loyalen Unterhanen vereinigt, darzustellen". 215 Beck, Origins, S. 227. 216 „Wer unter Manteuffel, wenn auch nur in kleinster und gleichgültigster Stelle, gedient hatte, war mehr oder weniger verdächtig. Ich also auch." Fontane, S. 520. 217 Grünthal, Parlamentarismus, S. 399. 218 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 10. 219 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 14. 220 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 18.

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Entlassung zu belegen, auch gehalten die Kosten des Verfahrens zu tragen, ihm jedoch drei Viertheil des reglementsmäßigen Pensionsbetrages auf Lebenszeit als Unterstützung zu gewähren". 221 Damit, so hieß es in der Begründung, sei der „Provokat" noch gnädig behandelt worden. Unterstelle man ihm nämlich, dass die Einlösung der Privatwechsel durch Einenkel „mit seinem ausdrücklichen Wissen und Willen erfolgt" wäre, hätte er sich der Untreue schuldig gemacht. Dies hätte eine Verurteilung nach § 246 des Strafgesetzbuchs mit Gefängnis ,glicht unter 9 Monaten, sowie mit zeitiger Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte" nach sich gezogen. Möglich wäre außerdem eine Geldbuße von bis zu 1.000 Talern gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, dass hinter der Einlösung der Wechsel die Absicht gestanden hätte, sich selbst damit Gewinn zu verschaffen. 222 Allerdings war der Ministerrat der Ansicht, dass allein schon sein unehrenhaftes Verhalten gegenüber Nesselhauf das Ansehen und die Integrität des Landrats so sehr beschädigt habe, dass sein Verbleiben im Amt nicht hätte geduldet werden dürfen. 223 Auch der lässige Umgang mit seinen privaten Wechseln und seine nach zwei Jahren nicht eingelösten Zahlungsverpflichtungen bis hin zur „Verhängung der Personalexekution" sah die Berufungsinstanz als eine dem Amt des Landrats unwürdige Verhaltensweise an, obwohl sie gleichzeitig den Vorwurf, er habe sich der Verhaftung entzogen, als nicht erwiesen verwarf. 224 Regierungspräsident v. Schleinitz wies 1862 daraufhin, dass es sich bei der angeblichen „Latitirung" Lavergnes nur um ein Gerücht gehandelt habe. Vielmehr habe sich das Gericht nicht der Allgemeinen Gerichts-Ordnung gemäß verhalten, wonach es die Regierung von dem vorgesehenen Arrest zu informieren gehabt hätte, damit diese eine Vertretung für den Landrat hätte bestellen können. Am Exekutionstermin sei Lavergne nämlich keineswegs in irgendeiner Form untergetaucht, sondern dienstlich „ganz offen" für „die Aushebung der Pferde für den Militair-Dienst" unterwegs gewesen.225 221 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 14 f., Unterzeichner waren die Minister v. Auerswald, v. der Heydt, v. Patow, v. Pückler, v. Bethmann-Hollweg, Graf Schwerin, v. Roon, Bernuth und Bemstorff. 222 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 18 Rs. ff. 223 „Diese Handlungsweise widerspricht so sehr den an die Ehrenhaftigkeit eines Beamten zu stellenden Anforderungen, daß die Appellationsrechtfertigung nicht zu weit gehe, wenn sie dieselbe, zumal den Nesselhauf überdies zu jener Zeit, als diese Insinuationen gegen ihn ins Werk gesetzt wurden, gemüthsleidend war, geradezu als eine , unehrenhafte' und als eine solche bezeichnet, durch welche die Integrität des Provokaten so schwer verletzt worden sei; daß derselbe schon um deshalb nicht länger im Amte geduldet werden dürfte." GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 23. 224 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 24 f. 225 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 41 Rs., v. Schleinitz bezieht sich hier auf § 145 Thl. I, tit. 24 Allg. Gerichts-Ordnung des Staates Preußen, „welche durch die Allgemeine Wechselordnung nicht aufgehoben ist".

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Als viel gravierender bewerteten die Richter Lavergnes Entschuldigung, sich mit den Einzelheiten des Wechselgeschäfts nicht auszukennen. Jemand, der für die Chausseebaukasse nicht weniger als 61 Wechsel im Wert von über 61.000 Talern ausgestellt habe, könne kaum behaupten, über die disziplinarischen Folgen unlauterer Wechselgeschäfte nicht informiert gewesen zu sein: „Einer solchen Behauptung gegenüber bleibt nur die Alternative, daß man entweder derselben keinen Glauben schenken kann, und dann ist das eingeschlagene Vertheidigungssystem ein frivoles, eines Beamten durchaus unwürdiges, oder: die Rechts-Unwissenheit des Provokaten auf diesem Gebiete ist eine so große, daß sie jedem Beamten in einer Stellung des Provokaten zum Vorwurf gereichen würde, ihm aber doppelt schwer anzurechnen wäre, da er nicht nur für sich als Privatmann, sondern auch in seiner Eigenschaft als Kurator der Chausseebaukasse in einem so ausgedehnten Wechselverkehr gestanden, daß er Ursache und Pflicht hatte, sich wenigstens mit den Fundamentalbestimmungen des geltenden Wechselrechtes vertraut zu machen, und die Verabsäumung dieser Pflicht würde auch hier wieder ein Beweis jener mangelnden Sorgfalt sein, welcher die Handlungsweise des Provokaten kennzeichnet und die in den von der Anklage ihm zum Vorwurfe gemachten Thatsache überall zu Tage tritt." 2 2 6 Diese Skepsis ist umso verständlicher, als Lavergne als Angehöriger der Ersten Kammer 1849 selbst an den Beratungen über die Wechselgesetze teilgenommen hatte. 227 Dieses Verhalten wurde von der Kommission als im Sinne des Beamtenrechtes „unwürdig" eingestuft und deshalb auf Dienstentlassung erkannt. 228 Das Urteil erhielt im Dezember 1861 auch die Zustimmung des Königs. 229 b) Opfer einer politischen

Kampagne?

Mit dem Berliner Urteil fand sich Lavergne nicht einfach ab. Zunächst verschleppte er das Wiederbesetzungsverfahren für die Wirsitzer Landratsstelle und den Vorgang seiner Pensionierung, indem er die notwendigen Unterlagen nicht herausgab. 230 Ob auch der Vorstoß einer Mehrheit des Wirsitzer Kreistages vom Dezember 1861 auf seine persönliche Initiative zurückging, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Allerdings deuten einige in der Eingabe benutzte Wendungen auf ein Wirken Lavergnes im Hintergrund hin. Die Angelegenheit wurde allein als Konsequenz politischer Auseinandersetzungen dargestellt. La-

226

GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 25 f. Sten. Ber. I. K , 1849, S. 62 ff.: Vorlage der Allgemeinen Wechsel-Ordnung. 228 Disziplinargesetz § 2 Nr. 2 Gesetz vom 21. Juli 1852; Gesetzsammlung, §§ 16. 46a. 229 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 7, Bl. 28. 230 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Votum des Ministers des Innern an das Königliche Staatsministerium, Bl. 33. 227

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vergne als „Begründer und Führer der conservativen Fortschrittspartei" sei allein durch diese Form der politischen Stellungnahme innerhalb des von „Notabilitäten aller Parteien" bewohnten Landkreises Wirsitz „Gegenstand besonders lebhafter Anfeindungen" aus anderen politischen Lagern ausgesetzt gewesen. Außerdem hoben die Kreistagsmitglieder, unter denen sich die größten Grundbesitzer der Region befanden, hervor, dass Lavergne nach der Aufnahme von Nachforschungen durch die Advokatur das Disziplinarverfahren gegen sich selbst beantragt habe.231 Nach der ihm auferlegten geringen Ordnungsstrafe hätte sich Lavergne jedoch von den „politischen Pateikämpfen" zurückgezogen und dadurch die Annäherung an die anderen Parteien möglich gemacht. Die jetzige Amtsenthebung gegen einen Mann mit Lavergnes Qualitäten und Verdiensten entbehre deshalb jeder Grundlage, denn: „Wir haben in dem Landrath von Peguilhen einen Mann erkannt, der voll warmen Herzens für das Gemeinwohl, überall helfend einzutreten bemüht ist, soweit seine Kräfte reichen; der sich die Lebensaufgabe gestellt: die Grundsätze der conservativen Fortschrittspolitik [beide letzte Worte in der Akte unterstrichen, A. S.] wissenschaftlich zu begründen, der fern von jeglichem Ehrgeiz und Egoismus das Erkannte zu realisiren bestrebt ist. Unser lebhafter Wunsch, daß der Herr Landrath von Peguilhen dem hiesigen Kreise erhalten bleiben möge, findet seine Begründung zugleich in der Erwägung, daß ungeachtet der schroffen politischen und nationalen Gegensätze es demselben vermöge seiner reichen Erfahrung, seiner hohen geistigen Bildung und der Versöhnlichkeit des Charakters gelungen ist, die öffentlichen Angelegenheiten sachgemäß zu fördern; während die Besorgniß nahe liegt, daß einem jungen, buchgelehrten, mit den Bedürfnißen des realen Lebens unbekannten Landrath alsbald das Heft der Verwaltung verloren gehen muß. Daß ein von erhabenen Ideen getragener Charakter sich tendentiösen Angriffen nicht überall gewachsen zeigen, daß derselbe gemißbraucht worden und Blößen geben mußte, liegt in der Natur der Dinge. Offenbar ist das Königliche Ministerium dadurch zu der uns so hart erscheinenden Maaßregel wider Herrn von Peguilhen veranlaßt worden. Wir aber, die wir unsern Herrn Landrath erkannt haben, fühlen uns gedrungen für denselben einzustehen, zugleich in dem Bewußtsein, daß die Zeit nicht fern ist, wo das Vaterland der Männer bedürfen wird, die mit weiser Erfahrung und hingebender Treue Ewr. Königlichen Majestät zu dienen bereit sind." 232

231

Gesuch des Wirsitzer Kreistages im Namen der Bevölkerung an den König vom 21. Dezember 1861, GStaPK, I. HA, 2.2.1., Nr. 13830., Bl. 55. 232 Gesuch des Wirsitzer Kreistages im Namen der Bevölkerung an den König vom 21. Dezember 1861, GStaPK, I. HA, 2.2.1., Nr. 13830, Bl. 55 Rs. f.

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Von den 42 Kreistagsmitgliedern seien nur sieben gegen den Verbleib des Landrats, argumentierten die Antragsteller weiter. Unter den sieben waren allerdings Theodor v. Bethmann-Hollweg, Angehöriger der hauptsächlich aus ehemaligen Wochenblattparteilern zusammengesetzten Fraktion Mathis 233 und der zur stärksten Fraktion Vincke gehörende Karl v. Sänger 34 . Die beiden Abgeordneten des Bromberger Wahlkreises waren führende Mitglieder der liberalen Mehrheitsfraktionen im Abgeordnetenhaus. Mit beiden hatte Lavergne in der Vergangenheit politische Auseinandersetzungen gehabt. 1851 argumentierte er gegen v. Sänger in der Debatte über das Salzmonopol. V. Sänger zeigte damals kein Verständnis für dessen Aufrechterhaltung, sondern war dafür, mit einer Entscheidung so lange zu warten, bis die Rekonstitution des Zollvereins abgeschlossen wäre. 235 Während des Wahlkampfes 1855 war BethmannHollweg Zielscheibe der anti-liberalen Attacken Lavergnes gewesen.236 Aus diesen Kreisen, so vermutete auch Regierungspräsident v. Schleinitz, kam jetzt vermutlich der anonyme Denunziant. 237 Da inzwischen aber die altliberale Fraktion Vincke und die Wochenblatt-Partei die Mehrheit im Preußischen Abgeordnetenhaus inne hatten 238 , ist es nicht erstaunlich, dass der Schulterschluss der konservativen Rittergutsbesitzer und Landgemeindevertreter aus Wirsitz in Berlin keinen Erfolg hatte, sondern das Verfahren gegen Lavergne mit aller Konsequenz weiterverfolgt wurde. Auch Lavergne interpretierte den Prozess und das Urteil aus Berlin in erster Linie als politisches Komplott, das ihn als Landrat zu Fall bringen sollte. „Als meine Gegner zur amtlichen Herrschaft gelangt waren, erstrebten dieselben sofort meine Beseitigung im Wege des politischen Preßkrieges, dessen Leitung einem demokratischen Rechtsanwalt übertragen wurde." Durch Hypothekenkündigungen, mit „frivolen Rechtsforderungen meines dem Concurs verfallenen Pächters" sowie mit Denunziationen sei „im extremen Wege mein Vermögen [...] beschädigt" worden, was ihn dazu veranlasste, „selbst das Disziplinarverfahren zu beantragen". 239 In einem Einspruch bei Innenminister v. Schwerin

233

Vgl. Preußens Volksvertretung, S. 14. Preußens Volksvertretung, S. 157. 235 Sten. Ber. II. K , 1851/52, S. 413. 236 WAPB, 1/1481, Wahlen 1855, Bericht Lavergnes an Oberpräsident v. Puttkamer in Posen über Wahlen im Kreis Wirsitz. 237 „Diese Angelegenheit würde übrigens, meiner festen Ueberzeugung nach, niemals wieder zur Sprache gekommen sein, wenn der v. Peguilhen nicht bei den Wahlen zum Abgeordneten-Hause im Jahre 1859 so entschieden gegen die ganze liberale Partei des Kreises aufgetreten wäre und sich deren Mißgunst dadurch im hohen Maße zugezogen und auf diese Weise zu einer anonymen Denunciation wider ihn Veranlassung gegeben hätte." GStaPK, XVI. HA, Rep. 90 Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 40 f. 238 Schulze, Preußen, S. 324; Fenske, Parteiengeschichte, S. 85. 239 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 10 Rs. 234

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

im Februar 1862 rekurrierte er unter anderem darauf, „es sei unstatthaft, daß seine, das Staats-Ministerium bildenden politischen Feinde, nachdem sie Berufung gegen das Urtel [!] Iter Instanz eingelegt, über ihn zu Gericht gesessen hätten". 240 Es versteht sich von selbst, dass man in Berlin den Vorwurf der Parteilichkeit scharf zurückwies. Auch das von Lavergne noch als Rettungsanker in die Diskussion geworfene Argument, als Vorsitzender der Chaussee-Bau-Kommission sei er dem Kreistag, nicht aber dem Innenminister verantwortlich, ließ man im Innenministerium nicht gelten.241 Alle das Urteil abmildernden Maßnahmen, die Wiederanstellung als Landrat sowie eine Anstellung im statistischen Büro, wie sie von Lavergne erbeten und von Regierungspräsident Schleinitz vorgeschlagen worden war, wies Innenminister v. Jagow wegen nicht vorhandener Eignung Lavergnes ebenfalls zurück. 242 Das war Ende Juni 1862. Dass Lavergne möglicherweise aufgrund der MehrheitsVeränderungen im Abgeordnetenhaus nach der Auflösung des Abgeordnetenhauses und der Kabinettsumbildung im März 1862 243 schon vorher die Hoffnung aufgegeben hatte, wieder in sein Amt eingesetzt zu werden, legt der bereits im April erfolgte Verkauf seiner Güter im Kreis Wirsitz nahe. Käufer war sein langjähriger Pächter Robert Ramm, der bereits auf Falmierowo wohnte. Das Vorwerk Dobrziniewo ging an den dortigen Pächter Kujath. 244 Lavergne zog mit seiner Familie nach Berlin, Schadowstr. 2, um. 245 Allerdings kämpfte er weiter um seine wenigstens teilweise Rehabilitierung, indem er in einem Immediatgesuch vom 11. Februar 1862 das Staatsministerium in Berlin darum bat, die ehrenrührige Dienstentlassung in eine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand umzuändern. 246 Das hätte seine Position in doppelter Weise verbessert. Zum einen hätte er statt den zugestandenen drei Vierteln seiner Ruhegeldsbezüge ein höheres Wartegeld bezogen, zum anderen hätte er mittelfristig wieder in den Staatsdienst zurückkehren können. „In dem Bewußtsein, daß über mich formal und materiell ein schweres Unrecht verhängt worden", wandte er sich an seinen „erhabenen Landesherrn mit der tiefunterthänigsten Bitte Ew Königliche Majestät wollen huldreichst: als einen Act Allerhöchster Königlicher Gnade in Stelle der

240

GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Bl. 35 f. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Bl. 35. 242 GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Bl. 38. 243 Schulze, Preußen, S. 330. 244 WAPB, 23, Kreis-Matrikel 1862. 245 1 HA Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 68 Rs. 246 1 HA Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 68 f., Bl. 68 Rs. schrieb er über das Urteil der Dienstentlassung, die zweite Instanz habe „nahezu den bürgerlichen Tod verhängt". 241

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über mich verhängten Amtsenthebung meine Zurdispositionstellung anzubefehlen geruhen." 247 Wilhelm ließ die dafür vorhandenen Möglichkeiten innerhalb des Ministerialapparats diskutieren. Aber auch unter dem neuen Ministerpräsidenten Bismarck änderte dieser seine Auffassung nicht: Am Ende des regen Briefwechsels im Frühjahr 1863 setzten sich Justiz- und Staatsministerium mit der Auffassung durch, dass eine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand ausschließlich bei noch im Dienst befindlichen Beamten möglich sei. Auch den Hinweis Lavergnes auf Verfahrensfehler sowie die mangelnde Berücksichtigung entlastender Fakten wiesen die Minister zurück. 248 Am 8. Mai 1863 unterzeichnete König Wilhelm die Ablehnung von Lavergnes Gesuch.249 Mit dieser Entscheidung fand sich Lavergne bis an sein Lebensende nicht ab. Schließlich verdammte sie ihn dazu, als schlecht bezahlter Pensionär mit geringen Nebeneinkünften aus journalistischer und publizistischer Arbeit ohne bedeutende öffentliche Funktion in einer Berliner Mietwohnung seinen Lebensabend zu verbringen. Die ihm nach dem Urteil zustehende Pension betrug lediglich 188 Taler jährlich, nicht mehr als ein Almosen, wie sich Lavergne 1868 beklagte. 250 Auch vom Verkauf seiner Güter war ihm angesichts der hohen Hypothekenlasten nur ein kleiner Profit übriggeblieben. Den brauchte er in den folgenden Jahren für den Lebensunterhalt seiner Familie auf. In seiner grenzenlosen Enttäuschung über den Staat, dem er so viele Jahre lang gedient hatte, drohte er in seinem Immediatgesuch vollmundig damit, im Falle einer Ablehnung dem preußischen Staat nicht länger angehören zu können, obwohl er ihm „mit allen Fibern meines Herzens verwachsen" 251 sei. Es ist nicht auszuschließen, dass der folgende längere Aufenthalt in Kurland, der Heimat seiner Frau, als Auswanderung geplant war. Einziges Indiz dafür ist allerdings der Wechsel seiner Berliner Adresse nach der Kurland-Reise, der für eine Aufgabe des Wohnsitzes in der Hauptstadt spricht. Eine neue Existenz ließ sich in Kurland aber offenbar nicht gründen; vielmehr versuchte er den Aufenthalt im jetzt zu Russland gehörenden ehemals preußischen Herrschaftsgebiet ganz im Gegensatz zu seinem kurz zuvor geäußerten Vorsatz im Geiste der alten Loyalität wieder zu Preußens Nutzen zu gestalten. Lavergne war überzeugt, dass seine Ideen wieder an Bedeutung gewinnen könnten, wenn nur der Makel des dienstentlassenen Landrats von ihm

247 248 249 250 251

1 HA Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 68 Rs. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 58 f. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Bl. 66. GStaPK, I HA Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 10 Rs. GStaPK, XVI. HA, Rep. 90, Nr. 79, F 1632, Nr. 79, Bl. 68 Rs.

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

genommen würde: „Es gab eine Zeit, wo meine vom Nothstande bedrohten preußischen Freunde in mir ihren Rettungsanker erkannten, wo die Besten des Landes mir nahe standen. Jetzt bin ich moralisch tot, dadurch in meiner Wirksamkeit für das öffentliche Wohl gelähmt, bin ich genötigt worden den ferneren Eintritt in das Parlament abzulehnen. Ich glaube mich nicht zu überschätzen, wenn ich darin einen Verlust für das allgemeine erkenne. Preußen ist nicht so reich, um sich ohne Nachtheil der Männer entledigen zu können, die der Regierung mit der Macht der positiven Staatslehre zur Seite stehen, die nicht minder fest begründet ist, als die der positiven Naturlehre." 252

I I I . Politik und Publizistik für die „conservative Social-Politik" 1. Abgeordneter und Parteipolitiker Betrachtet man die Berliner Aktivitäten des Wirsitzer Landrats, wird schnell deutlich, dass der Schwerpunkt seiner Aktivitäten in den 50er-Jahren in der Hauptstadt und nicht in der unbedeutenden Kreisstadt in der Provinz Posen lag. Ja, es scheint beinahe, als habe er sich den Straßenbau im Osten als einziges ihm vom sozialpolitischen Standpunkt her lohnend erscheinendes Projekt herausgepickt und die übrige Verwaltungsarbeit seinem Sekretär überlassen. Vor allem in den Jahren bis 1855 wurde das Leben Moritz von Lavergne-Peguilhens von der Verfolgung praktischer politischer Ziele beherrscht. Seine publizistische Abstinenz in dieser Phase mag ein Indiz dafür sein, dass er sich von der Mitwirkung in einem Parlament mit konservativer Mehrheit Einflussnahme und Veränderungsmöglichkeiten versprach, welche die publizistische Tätigkeit nicht in demselben Maße bereithielt. Handelte er bei seinem Vorstoß zur Errichtung eines sozialwissenschaftlichen Instituts im Jahr 1849 noch in der Überzeugung von der Vergeblichkeit politischen Handelns, erschienen ihm die Erfolgschancen für seine sozialpolitischen Ideen mit der konservativen Mehrheit im Abgeordnetenhaus ungleich größer. Möglicherweise wirkte sich die Enttäuschung über das geringe öffentliche Echo auf seine sozialtheoretischen Schriften und ihre Wirkungslosigkeit so aus, dass er unter den für ihn günstigen Vorzeichen der Ära Manteuffel in den 50er-Jahren als aktiver Politiker wieder über die Legislative Wirksamkeit zu erlangen hoffte. Ähnlich hatte er auch zehn Jahre zuvor die Publizistik zugunsten der Politik vernachlässigt. Damals war er davon überzeugt, mit dem Provinziallandtag ein Forum für die Durchsetzung seiner wirtschafts- und sozialpolitischen Ordnungsprinzipien gefunden zu haben. Erst als die zunehmende Polarisierung

252

GStaPK, I HA Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 11 f.

III. Politik und Publizistik f r die „conservative Social-Politik"

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zwischen seinen Ansichten und denen der Liberalen Erklärungsbedarf und die Notwendigkeit zur Gegenwehr provozierte, der über die kommunikativen Möglichkeiten des Provinziallandtags hinausging, schuf er mit der Schrift „Der Liberalismus und die Freiheit" klare Fronten. Auf dem Höhepunkt seiner Bedeutung als Abgeordneter folgte er im März 1855 mit seinem ersten Aufsatz in der „Berliner Revue" demselben Schema: Er nutzte die „Sozialpolitische Wochenschrift" als Medium zur Kommunikation seiner politischen und sozialen Ziele über den thematisch und personell begrenzten Rahmen des Abgeordnetenhauses hinaus. Neben die immer schärfer formulierte Opposition zum Liberalismus trat in dieser Zeit die deutliche Abgrenzung vom sozial desinteressierten Altkonservatismus. Nach der kurzen „Zwischenstation" in der Ersten Kammer von Februar bis April 1849 zog Moritz v. Lavergne-Peguilhen im August desselben Jahres als Abgeordneter des Wahlkreises Bromberg-Wirsitz-Schubin in die Zweite Kammer des preußischen Landtags ein. 253 Hier traf er - nach dessen Zeit in der Frankfurter Nationalversammlung - wieder mit seinem Bruder Alexander zusammen, der nach wie vor Besitzer des ehemals gemeinsamen Gutes Balden war und als äußerst beliebter Landrat in Neidenburg wirkte. 254 Politisch wie räumlich waren beide in Berlin unzertrennlich 255, wobei Moritz im politischen Leben der dominierende Teil des Bruderpaars war. Während Alexander sich im Parlament immer im Hintergrund hielt und kaum Redebeiträge von ihm verzeichnet sind, war Moritz in seinen Fachgebieten Ökonomie und Gemeindeangelegenheiten ein streitbarer Redner. Zu den sogenannten „Parteiführern", die die Debatten mit mehr als 75, 150 oder gar über 200 Redebeiträgen beherrschten, zählte er jedoch nicht. 256 Außerdem schätzte er zu Beginn seiner Abgeordnetentätigkeit seine rednerischen Fähigkeiten nicht allzu hoch ein. In der Debatte um die Gewerbefreiheit 1849 bedauerte er: „Es ist besonders für mich schwer, der ich nicht die Fähigkeit besitze, hier von der Tribüne aus der Fülle meines Herzens überzeugend zu sprechen; ich fühle mich aber gedrungen, dennoch das Wort zu erheben, weil es sich um eine Angelegenheit von der höchsten Wichtigkeit handelt." 257 In den Jahren seiner Parlamentszugehörigkeit

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Sten. Ber. II. K , 1849, Bd. 1, S. XVni. Vgl. Kreis Neidenburg, S. 267 f. 255 Z. B. lt. Sten. Ber. II. K. 1853/54, S. 9, war beider Adresse Charlottenstraße 3; Sten. Ber. II. K. 1854/55, S. 6, hier: „Hotel de France". 256 Grünthal, Parlamentarismus, S. 358, Fn. 20 hat für v. Vincke über 200, für v. Gerlach, Kleist-Retzow, Wentzel, v. Patow und v. Bonin etwa 150, August und Peter Reichensperger, Nöldechen, und Mathis zwischen 75 und 100 Beiträge gezählt und gefolgert, „die Wortmeldungen dürften [...] die jeweiligen Kräfte- bzw. Rangverhältnisse innerhalb der Fraktion recht genau widerspiegeln". 257 Sten. Ber. Π. K , 1849/50, S. 766. 254

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gelang es ihm auch nicht, seine häufig dozierende und belehrende Redeweise mitreißender oder origineller zu gestalten. Die Zweite Kammer, ab 1855 das preußische Abgeordnetenhaus, war aufgrund des Dreiklassenwahlrechts bis 1858 konservativ dominiert und stützte auf diese Weise die Reaktionspolitik der Regierung Manteuffel (1850-1858). Der Notverordnung vom 30. Mai 1849 folgend wurden die Abgeordneten in Preußen indirekt gewählt. Die mindestens 24 Jahre alten männlichen Urwähler wählten Wahlmänner, diese wiederum die Abgeordneten. Die Zahl der Urwähler wurde zuvor durch die Drittelung des Steueraufkommens ermittelt, sodass die erste, personell kleinste aber steuerstärkste Klasse durch die relativ höchste Zahl ihrer Wahlmänner denselben Einfluss auf den Ausgang der Wahlen hatte wie die dritte Klasse. 258 Die konservativen Mehrheiten wurden, neben der forcierten Beeinflussung der Wahlen durch die preußischen Behörden 259 , durch die geringe Wahlbeteiligung in der dritten Klasse begünstigt. Das wurde 1849 besonders deutlich, als die Demokraten die Wähler der dritten Klasse aus Opposition gegen das Dreiklassen-Wahlrecht zum Boykott aufforderten. 260 Die größte Gruppierung in der Zweiten Kammer stellten die Beamten. Von 18551858 waren insgesamt 215 der 352 Abgeordneten oder 61 Prozent aktive Staatsbeamte, 125 davon politische Beamte, vor allem Landräte. 261 Man sprach deshalb auch von der „Landratskammer". 262 Das Abgeordnetenhaus hatte vor allem Gesetze auszuarbeiten, wobei beide Kammern, die Krone und auch das Staatsministerium das Recht zur Gesetzgebungsinitiative hatten. Herrenhaus und Abgeordnetenhaus hatten die Gesetze gegenzuzeichnen. Auch bei der Gestaltung der preußischen Finanzpolitik hatte das Abgeordnetenhaus Mitwirkungsrechte. Die Aufstellung des Jahresbudgets war zwar Aufgabe der Regierung, das Budget konnte aber nur mit der Zustimmung beider Häuser des Parlaments und der Zustimmung der Krone verabschiedet werden. Vor diesem institutionellen Hintergrund verfolgte Moritz von LavergnePeguilhen mit seiner Politik in erster Linie die Revision entscheidender Punkte in der preußischen Verfassung von 1850. 263 Daneben trat die Vision vom Auf258

Beck, Origins, S. 226; zur Diskussion des Dreiklassen-Wahlrechts; Grünthal, Dreiklassenwahlrecht, S. 17-66. 259 Grünthal, Parlamentarismus, S. 429 f. 260 Fenske, Paiteiengeschichte, S. 82 f; S. 83: „1855 z. B. betrugen die Werte 12,8% gegenüber 39,5% und 27,2%". 261 Beck, Origins, S. 224; lt. Grünthal, Parlamentarismus, S 446, Fn. 121 „saß fast jeder vierte der (329) preußischen Landräte im Abgeordnetenhaus. 262 Schulze, Preußen, S. 311. 263 Lavergne, Häuser, S. 458; zu den konservativen Eliten: Schulze, Preußen, S. 309; Kraus, Gerlach Π, S. 548.

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bau eines nach den folgenden Prinzipien gelenkten und verwalteten Staates: „Decentralisation des staatlichen und des wirthschaftlichen Lebens, Herstellung örtlicher und provinzieller Selbstständigkeit, soweit diese mit einer einheitlichstarken Staatsgewalt irgend vereinbar ist, dies muß das Ziel aller politischen Bestrebungen in Preußen sein, dies ist die Grundlage einer wahrhaft conservativen Politik." 2 6 4 Über Forderungen nach Umwandlung der beiden Häuser des Landtags in ständische Kammern, einem föderal gegliederten Staat, nach der Privilegierung des Grundbesitzes und der Beschneidung des Beamtenstaats war sich Lavergne mit den Hochkonservativen unter der Führung des Präsidenten des Magdeburger Appellationsgerichts Ernst Ludwig v. Ger lach und des Philosophen Friedrich Julius Stahl einig. 265 Die gemäßigt liberalen „Grenzboten" stellten die Haltung der äußersten Rechten zum Landtag als parlamentarischer Institution sarkastisch folgendermaßen dar: „So lange die Kammer den Interessen der Junker dient, ist sie eine Institution, die nicht missachtet werden darf und durch sich selbst fortgebildet, d. h. allmälig ständisch gemacht werden muß; macht sie diesen Interessen aber einen Querstrich, so riechen die Herren Ritter sofort Leichen, wie Herr v. Bismarck-Schönhausen vor 1849." 266 Wo allerdings die spätere Bruchstelle zwischen den Hochkonservativen und den Vertretern der „conservativen Social-Politik" lag, deutete Leopold v. Gerlach schon im Januar 1851 an: „Gestern bei Ludwig (gegenwärtig: Reuß, Dohna, Trotha, Lavergne-Peguilhen, Krassow, Bismarck, Kleist, Senfft) trug Peguilhen vor, daß man sich der materiellen Interessen der niederen Stände annehmen und die todte doctrinaire Politik der Constitutionellen verlassen müsse. Die Bauern müßten aus den Händen der Juden und Wucherer emanzipirt werden. Herr von Peguilhen versichert, das ganze Land würde der Regierung zufallen, wenn man nur sähe, daß ein Anfang gemacht würde, seiner Noth abzuhelfen." 2 6 7 Die niederen Stände und ihre materiellen Interessen hatten aber weder 1851 noch später einen exponierten Platz in der hochkonservativen Gedankenwelt. 2 6 8

264

Anonym [Lavergne], Positive Aufgaben, S. 24. Zu den Zielen der Konservativen Partei zu Beginn der Restaurations-Ära Buchheim, S. 41 ff.; Kraus, Gerlach Π, S. 549. 266 Grenzboten, XIII Jg., 1. Semester, No. 7, 10.2.1854, S. 267 (darin berichten sie auch über die Kommission zur Beratung der Gemeindeordnung und die Amendements, die gegen Widerstand der äußersten Rechten durchgesetzt werden konnten (Widerstand von Gerlach, Wagener, Manteuffel II). 267 L. v. Gerlach, Bd. 1, S. 587, Notiz vom 17.1.1851. 268 Zum Standpunkt Gerlachs zur sozialen Frage ausführlich Schoeps, Preußen, S. 54 ff. 265

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Auch die von Lavergne vertretene Steuerpolitik lag nicht auf der Linie der Hochkonservativen. Er stimmte zwar mit der konservativen Mehrheit 269 gegen die Aufhebung der Grundsteuerbefreiung. 270 Abweichend von der konservativen Hauptlinie sollte die Klassensteuer durch eine progressiv ansteigende Einkommensteuer ersetzt werden, bei denen das Grundvermögen nicht in die Bemessung einbezogen werden sollte: „Darum würde ich für jede Vorlage stimmen, welche auf die Erhöhung der Einkommensteuer, der Salzsteuer und dergleichen ausginge, nur nicht für Maßregeln, die das wirtschaftliche Leben bedrohen. Dieses ist ein Gebiet, welches der Patriotismus erhalten muß." 271 In derselben Debatte um die Anhebung der Maischsteuer ging er auf die Rolle des Staates in der Steuerpolitik ein. Die Konzentration der Industrie in wenigen Händen könne nur durch steuerliche Begünstigung der kleineren Brennereien aufgehalten werden: „Zwar ist mir bewußt, daß die wissenschaftliche Doktrin einem solchen Einschreiten der Staatsgewalt entgegensteht. Die Doktrin verlangt überhaupt, der Staat solle in allen national-ökonomischen Angelegenheiten gar nichts thun, und sich um die inneren Angelegenheiten des Gewerbelebens nicht kümmern. Wohin dies führt und bereits geführt hat, wird sich zeigen, sobald wir die soziale Frage näher ins Auge fassen werden. Ob das Einschreiten der Staatsgewalt in die wirthschaftlichen Angelegenheiten gefährlich ist, kann mindestens bezweifelt werden, da 2.400 kleine Brennereien derselben ihre Erhaltung verdanken; aber mit Gewißheit ist diese Gefahr vorhanden, sobald der Staat nicht einschreitet, und so die mittleren Geschäfte zu Grunde gehen läßt. [...] Wenn der Staat durch eine Modification des allgemeinen Steuertarifs die einzelnen Wirtschaften und die einzelnen Landestheile in ihrer Steuerkraft erhält, so begeht er damit einen politischen Akt, einen Akt der finanziellen Klugheit, der Speculation, welcher ihm recht gut thun wird. Er begeht einen Akt der Vorsorge, welcher dahin zielt, der Nothwendigkeit zur Bewilligung von Nothstandskapitalien vorzubeugen, die gestern in Beziehung auf die Eifel hier bereits anerkannt worden. [...] Vergessen Sie nicht, meine Herren, die Eifel ist durch die Französische Gesetzgebung ruinirt worden und durch weiter nichts in der Welt." 2 7 2

269 Der Antrag der Konservativen wurde mit 156 zu 146 Stimmen angenommen, Sten. Ber. Abgeordnetenhaus, 1855-1856, S. 67. 270 Zur unterschiedlichen Entwicklung der Grundsteuerbemessung in den Ost- und Westprovinzen Klatte, S. 172 f.; es ging um die Rücknahme des Art. 101 der Verfassungsurkunde von 31. Januar 1850 und das die Aufhebung der Grundsteuer-Befreiungen betreffende Gesetz vom 24. Februar 1850; Diskussion und Beitrag Lavergnes für die Grundsteuerbefreiung Sten. Ber. Π. K. 1852/53, S. 1434 f. 271 Sten. Ber. Π. K. 1852/53, S. 1512. 272 Sten. Ber. II. K. 1852/53.

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Lavergnes Vorschlag fand keine Mehrheit. 273 Die Forderung nach progressiv ansteigender Einkommensteuer bei größerer Belastung der höheren Einkommen als das bei den existierenden personenbezogenen Steuern - Klassensteuer auf dem Lande und Mahl- und Schlachtsteuer in den Städten - roch für die Hochkonservativen zu stark nach Liberalismus. 274 Vorrangiges Ziel dieser politischen Bemühungen Lavergnes während der Reaktionszeit war die Schaffung und Erhaltung des gesicherten ländlichen Grundbesitzes als Grundlage für eine organische Weiterentwicklung der Gesellschaft. 275 Das drängte andere Politikbereiche an den Rand und verengte seine Perspektive auf agrarische Fragestellungen. Bewusst stellte Lavergne seine „Landpolitik" als Gegenstück zur „Stadtpolitik" vor und beschrieb so den Antagonismus zwischen der von ihm vertretenen östlichen „conservativen Social-Politik" und dem westlichen „doctrinären Liberalismus". Dessen Vertretern warf er vor, durch ihre Art zu denken blind geworden zu sein für die wahren Bedürfnisse der Landbevölkerung. 276 Könnte man die westlichen Politiker zu einer Informationsreise durch den ländlichen Osten bewegen, die sie „seit Jahren" mit der liberalen „Experimentalpolitik zu beglücken bestrebt" seien, könnte man sie sicherlich von der Notwendigkeit der notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sonderstellung des östlichen Gutsbesitzes überzeugen, meinte Lavergne. Sie würden anerkennen müssen, „daß der auf befestigtem Grundbesitz waltende, neuerdings so angefeindete sogenannte Junker doch im Ganzen eine tüchtige, ehrenwerte und sehr nützliche Persönlichkeit und obenein für jeden wahren Fortschritt empfänglich ist." 277 Trotz seines vordergründigen Werbens um gegenseitiges Verständnis polarisierte Lavergne unerschrocken weiter - er setzte den mit beiden Füßen im Leben stehenden Junker, der mit dem vollen Vertrauen der bäuerlichen Bevölkerung die gemeinsamen Interessen vertrat, den realitätsfernen „Großstädtern und Stubenpolitikern" entgegen, die ihre Bildung und ihr Kleben an den Prinzipien der herrschenden Wissenschaft in eine falsche politische Richtung gedrängt habe.278

273 214

275

Sten. Ber. Π. K. 1852/53, S. 1514. Belke, S. 84 ff.

Lavergne, Grundbesitz, S. 328 ff.; Lavergne, Agrar-Verfassung, S. 287; Lavergne, Staatshaushalt, S. 169. 276 Lavergne, Sprachverwirrung, S. 120 ff.; S. 121: „Man ist gern bereit, Gut und Blut für die vaterländischen Interessen zu opfern - aber das Heiligthum der politischen Principien darf nicht angetastet, davon darf kein Deut geopfert werden". Lavergne, Bodenreichthum, S. 343. 277 Lavergne, Sprachverwirrung, S. 124 f. 278 Lavergne, Sprachverwirrung, S. 125.

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Die Politik der Zukunft war für Lavergne die „Konservative Social-Politik". Der Urheber des Begriffs „Social-Politik", Wilhelm Heinrich Riehl 279 , focht damit gegen die moderne staatlichen Sozialpolitik, die Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch verbreitete kommunale Armenpflege sowie den Sozialismus. Riehl plädierte für die Schaffung neuer existenzsichernder Institutionen zur Stabilisierung des ständisch gegliederten gesellschaftlichen Organismus. 280 Den Begriff „Social-Politik" als Umschreibung für seine eigenen politischen Grundsätze benutzte Lavergne seit Mitte der 50er Jahre in seinen Beiträgen für die „Berliner Revue" als Synonym für Konservatismus oder für die von ihm vertretenen Prinzipien der Rechten.281 Die „Grundanschauung" der „Social-Politik" definierte er 1856 so: „Nach ihrer Anschauung sind alle Bemühungen zur rechtlichen Gestaltung der obern Staatsgewalt, der gesetzgebenden Factoren ein müßiges Werk, so lange es verabsäumt worden, für die Gesellschaft selbst befestigte Grundlagen zu gewinnen, die Familien-Existenzen zu sichern, die gewerblichen und die grundbesitzenden Corporationen, die Gemeinden, die Kreise und Provinzen organisch zu gliedern und zur Selbstthätigkeit heranzubilden." 282 Unter diesem Etikett, das er bewusst vom „französischen Socialismus" 283 abgrenzte, verfolgte er die Aufhebung der freien Agrarverfassung und der damit verbundenen freien Verfügung über Grund und Boden, die Beseitigung von Grundsteuerpflichten für das ländliche Grundeigentum sowie eine politische Vertretung nach Berufsständen und auf ehrenamtlicher Basis: „Nicht von einer mittelalterlichen Reaction droht dem Liberalismus Gefahr, wohl aber von derjenigen, welche, die Bedürfhisse des Lebens erkennend, den socialen und politischen Fortschritt unter Berücksichtigung der ewigen Gesetze der Gesellschaft anstrebt" 284. 2. Ein konservatives Programm An der Erarbeitung des theoretischen Grundgerüsts der konservativen Sozialpolitik war Lavergne maßgeblich beteiligt. Es entstand in Gemeinschaftsarbeit mit Baron v. Herlefeld und Hermann Wagener Ende 1855 als Reaktion auf

279 280

Riehl, Naturgeschichte, Bd. 2, S. 38; zu Riehls Biographie Altenbockum. Zur Begriffsentwicklung und -abgrenzung Pankoke, Sociale Bewegung, S. 167 f.;

Altenbockum, S. 200 ff. 281

Lavergne, Land und Stadt, S. 133; Lavergne, Agrar-Verfassung, S. 462. Lavergne, Programm der Linken, S. 496. 283 Lavergne, Physiologie, S. 494; zur Entwicklung des Begriffs „Sozialpolitik" als „schärfsten Gegensatz zum Sozialismus" Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Müßiggang, S. 9. 284 Lavergne, Agrar-Verfassung, S. 495. 282

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die für die Konservativen so positiv ausgefallene Novemberwahl. 285 Zunächst als internes Diskussionspapier und Leitlinie für die konservativen Parlamentarier gedacht, geriet es dennoch an die Öffentlichkeit 286 . Hermann Wagener, 1815 geborener Pfarrerssohn, juristischer und politischer Ziehsohn Ernst-Ludwig v. Gerlachs, streitbarer Publizist und ehemaliger Chefredakteur der „Kreuzzeitung", 287 erinnerte sich an die Gründe für die Entstehung des Programms: „Die große Masse der Conservativen hatte für derartige Fragen noch absolut kein Verständniss, stand vielmehr - wie dies der Präsident von Gerlach sehr drastisch ausdrückte - 'mit der Front nach dem Mist und mit dem Rücken nach dem Staat', und war vielfach schon völlig damit zufrieden, dass man wieder in Ruhe sein Glas Wein trinken und seine Partie L'Hombre spielen konnte. Ich habe damals manche Herren kennen gelernt, die es nicht der Mühe werth hielten, die Zusendungen, welche sie vom Abgeordnetenhause erhielten, auch nur zu öffnen und die deshalb keine Ahnung davon hatten, worüber eigentlich verhandelt wurde." 288 Diese auf das eigene Interesse und die „Inspiration" 289 beschränkte Form der konservativen politischen Praxis wollten der seit 1848 mit Bismarck befreundete Wagener 290, Lavergne und Herlefeld beenden. Sie teilten die Arbeit in drei Teile, von denen Wagener den ersten, Lavergne den zweiten und Herlefeld den dritten verfasste. Die „Grundzüge" sollten die Basis für den programmatischen Konsens der Konservativen herstellen. Nur so sahen Wagener, Lavergne und Herlefeld eine Chance, die konservative Parlamentsmehrheit in politische Macht über die Gesetzgebung umzusetzen und eine realistische Option auf Revision der Verfassungs-„Irrthums" von 1850 zu schaffen. 291 Jetzt hätten die Häuser des Landtags „die starke Waffe [...] das Böse mit Gutem, den Niederschlag der Lüge und der Gewalt mit den Waffen des Rechts und der Wahrheit,

285

Wagener, Erlebtes, S. 61 nennt diese Namen; vgl. Herberger, S. 70; dennoch behauptet Hahn, S. 41, mit Bezug auf die Wagener-Quelle, Hertefeld habe das Manuskript verfasst. Der Hinweis Wageners wie auch die inhaltliche Analyse der Schrift lässt jedoch an der Autorenschaft Lavergnes für den zweiten Teü keinen Zweifel, sodass Wagener bei aller gebotenen kritischen Distanz an dieser Stelle glaubhaft ist; vgl. Wagener, Partei, S. 5, der eine von ihm selbst im Programm formulierte Passage zitiert. 286 Lavergne, Leser, S. 675. 287 Zu Wagener Beck, Origins, S. 102 ff.; Hornung', Schoeps, Wagener, S. 193 ff, Schoeps' Anmerkung von 1956, die umfassende Monographie über Wagener sei noch nicht erschienen, gilt bis heute; Christoph; Saile; über die Verbindung zu E. L. v. Gerlach Kraus, Gerlach I, S. 410; ohne kritische Distanz Petersdorff, Männer, S. 345-350. 288 Wagener, Erlebtes, S. 61. 289 Wagener, Erlebtes, S. 62. 290 Schoeps, Preußen, S. 247. 291 „In dem Mangel eines positiven Programms liegt die große Schwäche der conservativen Partei." Lavergne, Macht der Doctrin, S. 740.

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den Constitutionalismus und sein System in und mit seinem eigenen Apparate zu überwinden." 292 So beschrieb Wagener im ersten Teil mit dem Titel „Die Principien der conservativen Politik im Gegensatze zu denen von 1789" die Konstellation nach der Novemberwahl. Wagener sah die Macht der Liberalen „gebrochen" und forderte die Konservativen auf, ihren Sieg zu nutzen, die in früheren Kämpfen geschlagenen weltanschaulichen Breschen in den Reihen der Liberalen mit eigenen Positionen zu besetzen und mit der aus Frankreich importierten „Doctrin" die „Macht des Bösen" und damit „die Grundlüge der Zeit mit der Waffenrüstung des Geistes" zu besiegen.293 Für Wagen er war Preußen seit der 48er-Re volution in einem unauflöslichen inneren Widerspruch gefangen. Die Worte, die er zu dessen Beschreibung fand, verdeutlichen eindringlich das Bild der „Revue"-Gründer von dem Staat, dessen Verfassung sie angetreten waren zu ändern: „Hier die ungeschwächte Königliche Macht, gestützt auf die Treue eines in Waffen erzogenen Volkes, dort der auf das Symbol des Constitutionalismus gegründete Anspruch des GeldCapitals und seiner Vertreter, diese Macht mit dem Munde beherrschen zu wollen. Hier die formell noch gültigen Principien der Revolution, dort der feierliche, thatsächlich bewährte Ausspruch des Gouvernements, mit diesen Principien und ihren Consequenzen gebrochen zu haben. Hier die constitutionelle Doctrin mit ihren paradiesischen Nebelbildern und überschwenglichen Verheißungen, dort die aller Doctrinen spottende Realität mit ihrem verlumpenden Proletariat und ihrer täglich wachsenden Noth." 294 Wageners Vorschläge zur Lösung dieses Widerspruchs mussten im konservativen genauso wie im liberalen Lager auf Widerstand stoßen: Zur notwendigen Revision der Verfassung müsse man auf die Erkenntnis der Sozialisten zurückgreifen, dass politische Freiheit nur dann nicht in die Katastrophe führe, wenn sie mit sozialer Freiheit gekoppelt sei. In gewisser Weise hätten das mittlerweile auch die Konstitutionalisten erkannt und deshalb den Wahlzensus über „Geldlegitimation" eingeführt. Dahinter verberge sich die Forderung nach einem Mindestmaß von sozialer Freiheit in der Wählerschaft. Ohnehin sah Wagener im Konstitutionalismus lediglich das den „Ansprüchen und Machtbedingungen des Geld-Capitals" adäquate politische System mit den ökonomischen Koordinaten beweglicher Grundbesitz und Gewerbefreiheit. 295 Wageners Vision war wie die Lorenz v. Steins die Errichtung des Königtums der „socia-

292 293 294 295

Grundzüge, S. 3; zu Wageners Mit-Urheberschaft Lavergne, Partei, S. 5. Lavergne, Partei, S. 5; Grundzüge, S. 4. Grundzüge, S. 10. Grundzüge, S. 11.

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len Reform" 296 , d. h. der König als höchste Staatsgewalt sollte die Erhabenheit des Staates als Machtinstrument über die Gesellschaft personifizieren und alle ihrer organischen Entwicklung entgegenstehenden Hindernisse beseitigen. Diese Staatsgewalt wurde gleichzeitig verpflichtet, „positiv zu fördern und zu pflegen". 297 Das bedeutete für Wagener, dass die Staatsgewalt ohne „Verletzung wohlerworbener Privatrechte" den organischen Faden an der Stelle wieder aufnehmen sollte, wo die harmonische Entwicklung durch mechanistische Eingriffe gestört wurde. M i t anderen Worten: Es sollte der vor der Französischen Revolution in Preußen herrschende Verfassungszustand wieder hergestellt werden. Für den in historischen Kategorien denkenden Juristen Wagener gehörten allerdings mittlerweile einige der durch die preußischen Reformen veränderten Rechtsnormen zu den nicht mehr zu revidierenden „wohlerworbenen Privatrechten". Der Charakter der Verfassung Preußens sollte sich also grundlegend ändern. Sie sollte sich vom „Stück Papier, das zwischen Fürst und Volk sich stellt" 298 , vom Dokument der Polarisierung zwischen Volk und Monarch zum „Inbegriff aller Gesetze und rechtlich wie thatsächlich bestehenden Institutionen des Preußischen Volkes" wandeln. Wagener wehrte sich gegen den Vorwurf der Liberalen, die Politik der Konservativen ziele allein auf die Einschränkung der Freiheit, mit dem Argument, das Freiheitspostulat der liberalen Gegner habe sich längst als praktischer Irrtum erwiesen. Durch die „usurpirte Alleinherrschaft des beweglichen Besitzes und der doctrinären Bewunderer desselben" sei die persönliche Freiheit einer Minderheit durch die soziale Unfreiheit der vom Kapital abhängigen Volksmassen erkauft worden. 299 Die konservative Verfassungsreform verlange deshalb eine grundlegende Gesellschaftsreform, die Staat und Kirche den richtigen Platz innerhalb der Gesellschaft wieder zuweise. Der „negative" Teil des Reformwerks sei einfach zu bewältigen. Dabei gehe es um die „Beseitigung der Social-Principe der Französischen Revolution und der Doctrin der liberal-constitutionellen Staatsform". Das „Dilemma" verberge sich 296 Grundzüge, S. 12, Wagener zitierte - ohne Namensnennung - L. v. Stein, Geschichte, Bd. 3, S. 41: „Alles Königtum wird fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden." Auch die Darstellung der nachrevolutionären Entwicklung in Frankreich, Grundzüge, S. 4-10, folgte der v. Steins; zu v. Stein als Quelle Wageners Beck, Origins, S. 103; ausführlich zu Steins Vorstellungen vom Königtum der sozialen Reform Böckenförde, Stein, S. 557 ff.; zu Wageners Vorstellungen vom sozialen Königtum Beck, Rolle, S. 87. 29 Grundzüge, S. 13, dort auch das Folgende. 298 Grundzüge, S. 10; in Anlehnung an einen Ausspruch Friedrich Wilhelms IV., der seine Ablehnung einer Konstitution mit eben diesen Worten formuliert hatte. 299 Grundzüge, S. 11.

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im „positiven" Teil. Hier sah Wagener die Gefahr, entweder selbst doktrinär in allen Politikbereichen auf die „legislativischen Verheißungen" zu bauen oder in dringenden Fragen auf die Möglichkeit der „Special-Legislatur" zurückzugreifen. Der konservative, auf die Idee der Rechtsentwicklung aus den Verhältnissen heraus ausgerichtete Geist verlange in den sozialen Fragen Letzteres, meinte Wagener. 300 An das Argument Wageners, die gegenwärtige Gesellschaft sei über die Möglichkeiten der liberalen Gesetzgebung nicht zu retten, knüpfte Lavergne im Teil B, der Darstellung der „positiven Aufgaben der conservativen Politik" 301 , an. Er wiederholte Wageners Aussage, die konservative Politik müsse auf „sittliche, gesunde und stabile Grundlagen" zurückgeführt werden. 302 Lavergnes Beitrag zum konservativen Programm folgte formal und inhaltlich seinen früheren Veröffentlichungen. Allerdings ersetzte er den Begriff des Pauperismus jetzt durch den Topos „Lebensmittel-Frage" und widmete bei allem Beharren auf der Agrarproblematik der Industrie und der internationalen Konkurrenz und damit dem nationalökonomischen Diskurs mehr Raum. 303 Nach der für Lavergne üblichen Rückschau auf die mittelalterlichen Verhältnisse, dem Hinweis auf die Notwendigkeit sozialer und wirtschaftlicher Reformen im Sinne der Perfektionierung von Staat und Gesellschaft folgte die Feststellung, dass die Entwicklung der Gesellschaft den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen nicht gefolgt sei. Diese „Gesellschaftsbande" müssten jetzt durch die konservative Agrarpolitik und die weitere korporative Gestaltung der Gewerbegesetzgebung hergestellt werden. 304 Konservative Agrarpolitik setzte die Beschränkung der Verkäuflichkeit landwirtschaftlicher Grundstücke 305 sowie die Errichtung kommunaler landwirtschaftlicher Kreditinstitute voraus, die Gewerbepolitik sah die weitere Einschränkung der Gewerbefreiheit nach 1845 und 1849 vor. 306 Verfassungsrechtlich hielt er weiter an den korporativ gegliederten Gemeinden und Kreisständen sowie der Wiederherstellung beratender Provinziallandtage fest und fasste diese Forderungen folgendermaßen zusammen: „Decentralisation des staatlichen und des wirthschaftlichen Lebens, Herstellung örtlicher 300

Grundzüge, S. 13 f. Grundzüge, S. 15 ff. 302 Grundzüge, S. 19. 303 Grundzüge, S. 18. 304 Grundzüge, S. 19. 305 „Es wird hier keineswegs die Herstellung einer glebae adscriptio beabsichtigt, die Verkäuflichkeit des Grund und Bodens soll nicht ausgeschlossen sein. Aber sicher ist es, daß der vom Familiengeist erfüllte, von keinem Gläubiger gedrängte Landmann sich von der von den Vätern überkommenen Scholle nicht leicht trennen wird." Grundzüge, S. 22. 306 Grundzüge, S. 23. 301

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und provinzieller Selbstständigkeit, soweit diese mit einer einheitlich-starken Staatsgewalt irgend vereinbar ist, dies muß das Ziel aller politischen Bestrebungen in Preußen sein, dies ist die Grundlage einer wahrhaft conservativen Politik." 307 Das bedeutete für Lavergne Stärkung der Krone bei Ablehnung von Gewaltenteilung308, Sicherung der individuellen Freiheit durch Beschränkung übermächtiger Privatkräfte, gleichzeitig aber auch Stärkung des „Selfgovemments" in Genossenschaft und Gemeinde309 durch Minimierung des direkten Einflusses des Zentralstaats auf die kleineren Verwaltungseinheiten: „Die bewährte Preußische conservative Politik [...] erkennt in einer den ewigen Gesetzen der Gesellschaft, daher den Geboten Gottes entsprechenden Organisation derselben, die jeder berechtigten Kraft Schutz und ungehinderte Entwickelung angedeihen läßt, das wahre Palladium der Freiheit und des Fortschritts, in dem atomisirten, nur durch einen bureaukratischen Mechanismus äußerlich zusammengehaltenen Conglomérat gesellschaftlicher Kräfte und Massen aber das Grab der Freiheit und jeglichen Fortschritts." 310 Lavergnes Theorie von den ewigen Gesellschaftsgesetzen hatte also ebenso wörtlich Eingang gefunden in dieses Parteiprogramm, wie seine Auffassung, dass nur die organische konservative Staatsauffassung Freiheit und Fortschritt garantieren könnten. Die Autoren des konservativen Parteiprogramms gingen in ihren Forderungen jedoch noch weiter, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sie setzten den längst in die preußische Verfassungs- und Lebenswirklichkeit eingesickerten liberalen Prinzipien nur Polemik und keine konstruktiven Gegenmodelle entgegen. Deshalb schlossen sie in einem dritten, wahrscheinlich von Herlefeld verfassten Teil eine Liste der Gesetze und Artikel aus der Verfassung von 1850 311 an, die sie für dringend revisionswürdig hielten. Sie machten allerdings deutlich, dass sie Gesetze, die den Schutz des Rechts und der Freiheit sicherstellten, nicht tangieren würden, „wohl aber die, welche nichts Besseres sind, als eine übertünchte Darstellung der verwerflichen Doctrinen des politischen Liberalismus und der noch verderblicheren und gefährlichem Social-Principien der Französischen Revolution". 312 Dazu gehörte in den Augen Wageners, Lavergnes und Herlefelds an erster Stelle der Art. 4 Tit. I I („Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich usw."), der auf die Französische Constituante von 1789 zurückging. Der erste große Mangel der Constituante sei der fehlende Hinweis auf die damit verbundene „allgemeine und gleiche Verpflichtung" aller Bürger für den Staat.

307 308 309 310 311 312

Grundzüge, S. 24. Vgl. Lavergne., Häuser, S. 458. Vgl. Lavergne, Grundlagen, S. 231. Grundzüge, S. 25. Verfassungsurkunde, S. 17 ff. Grundzüge, S. 28.

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Zweitens sei Art. 4 Tit. II der Schlüsselsatz für die zweifellos notwendige Aufhebung von Vorrechten und Privilegien, aber eben auch für die Einführung von Handels- und Gewerbefreiheit sowie die Auflösung von Zünften und Korporationen und der Ausnahmestellung des Adels gewesen. Schließlich sei diesem Artikel auch die Entstehung des Privateigentums und in der Folge die Entwicklung einer Wirtschaftsordnung zu verdanken, die den Inhalt des Artikels ad absurdum führe. Die dadurch entstandene extreme soziale Ungleichheit erzeuge „in folgerechter Anwendung den Communismus" und verhindere jede vom Konservatismus so vehement geforderte Gliederung der Gesellschaft. 313 Die Gefahr des „Communismus" witterten die Autoren auch hinter den Artikeln zum Preußischen Unterrichtswesen, besonders aber hinter den Bestimmungen zur staatlichen, konfessionsunabhängigen Volksschule. Diese Form der Grundbildung sollte der Kirche keinesfalls entzogen oder unentgeltlich erteilt werden. 3 1 4 Die Artikel zur Religionsfreiheit implementierten für Lavergne und seine Gesinnungsfreunde die gänzliche „instituirte Religionslosigkeit des Staats", was durch die Einführung der Zivilehe noch weiter manifestiert werde. 315 Der König sollte nach dem Willen der drei Autoren nicht mehr auf die Verfassungs-Urkunde vereidigt werden. Dies sei mit dem Erbrecht und der Souveränität des Monarchen nicht vereinbar. Außerdem stelle dieser Akt die Konstitution über den König und gleichzeitig über alle anderen Landesgesetze. Es genüge, meinten sie, wenn der König in Anlehnung an seinen früheren Reversalien-Eid 316 anlässlich der Huldigung ein Versprechen ablege, alle Landesgesetze zu respektieren. 317 Wie das gesamte konservative Spektrum lehnten die Autoren des Programms die in der Verfassung vorgesehene Regelung der Ministerverantwortlichkeit ab. Sie setze zudem die bereits abgelehnte Gewalten313

Verfassungsurkunde, S. 29 f. Verfassungsurkunde, S. 30 f. betr. Tit. II, Art. 20, Freiheit von Forschung und Lehre, Art. 24, letztes Alinea, Leitung der äußeren Angelegenheiten der Volksschulen durch die Gemeinden; Art. 25, 2. u. 3. Alinea, festes staatliches Gehalt für Lehrer und unentgeltlicher Unterricht; Art. 26, besonderes Gesetz für die Regelung des gesamten Unterrichtswesens und die dazugehörigen Übergangsbestimmungen. 315 Verfassungsurkunde, S. 30 betr. Tit. Π, Art. 12, Freiheit des religiösen Bekenntnisses; Art. 14, Christliche Religion als Grundlage der staatlichen Einrichtungen, die mit der Religionsausübung im Zusammenhang stehen; Art. 19, Einführung der Zivilehe und Ankündigung eines besonderen Gesetzes zur Führung der Zivilstands-Register. Bemerkung dazu: „Nur dem religionslosen Staat kann die Civil-Ehe als eine Nothwendigkeit erscheinen." 316 Unter Reversalien-Eid versteht man die Zusicherung, alle geschlossenen Verträge einzuhalten und den bestehenden Zustand nicht einseitig zu ändern. 317 Verfassungsurkunde, S. 32 betr. Tit. ΠΙ, Art. 59, Königliches Recht der Begnadigung und Strafmilderung; Art. 54, 2. Alinea, Eid des Königs auf die Verfassung des Königreichs. 314

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teilung voraus und provoziere in jedem einzelnen Fall nichts weiter als schädliche Parteikämpfe. 318 Einen vehementen Einspruch gegen die allgemeine staatsbürgerliche Gleichheit stellten die Einwände gegen die Regelungen in Tit. V („Von den Kammern") dar. Hier formulierten Wagener, Lavergne und Hertefeld einen Ständebegriff, der wegen seiner polarisierenden Wirkung hier wörtlich wiedergegeben wird: „Nach unserer Auffassung sind Stände nichts Anderes, als die organisch geordneten, durch ein gleiches Maaß socialer und politischer Freiheit verbundenen, rechtlich und politisch anerkannten Ungleichheiten in der StaatsGesellschaft, die aus der Sphäre der Gesellschaft in die des Staats erhobenen organisirten Gesellschafts-Klassen und Interessen-Gruppen, welche nach unveränderlichem göttlichen Gesetz zur Erreichung eines civilisirten, d. h. christlich moralischen Zustandes der Menschheit absolut nothwendig ist." Aufgrund dieser Aussage plädierten die Autoren des Programms nur vorläufig für ein standesunabhängiges, gleiches Wahlrecht. Erst wenn eine ständische Gesellschaft nach konservativen Prinzipien herbeigeführt sei, könnten die dann entstandenen, der obigen Definition gehorchenden Stände entsprechend ihres gesellschaftlichen Gewichts an Wahlen beteiligt werden. 319 Auch hier hatte Lavergne eine seiner Überzeugungen unterbringen können. Die Mitautoren folgten seiner Auffassung von der stufenweisen Entwicklung einer idealen organischen Gesellschaft, in der die Existenz von Ständen die Folge der Anerkennung eines ewigen und damit naturgegebenen Gesetzes ist. Ans Ende ihres Verfassungsverrisses stellte das Autorentrio seine Kritik an der verfassungsmäßig festgelegten Handhabung der Staatsfinanzen als „Centraipunkt des doctrinär-constitutionellen Staatsgebäudes". Sie wandten sich ent-schieden gegen die Kompetenz der Kammern, ein jährliches Gesetz über den Staatshaushalt zu verabschieden und der Regierung damit vorzuschreiben, wie sie die Staatsfinanzen einzusetzen habe.320 Diese parlamentarische Bewilligung der Staatsausgaben war allen preußischen Konservativen ein Dorn im Auge und Gegenstand der Diskussion seit 1849. Für die Autoren stand fest, dass das Budgetbewilligungsrecht seine Ziele vollständig verfehle. Es lähme die Entscheidungen der Regierung und führe letztlich zu permanenten Ausgabenüberschreitungen, die meist aber erst durch die Jahre später erstellten

318

Verfassungsurkunde, S. 32 f. betr. Tit. IV, Art. 61, Möglichkeit der Anklage von Ministern wegen Verfassungs-Verletzung, Bestechung und Verrat auf Beschluss einer Kammer. 319 Verfassungsurkunde, S. 33 f betr. Tit V, „Von den Kammern"; ähnliche Definition noch in Wageners Staats- und Gesellschaftslexikon, Bd. XIX, S, 669, danach sind die Stände die Grundlage der Gesellschaft, der Volksbegriff eine Abstraktion. 320 Verfassungsurkunde, S. 35 f. betr. Tit. VIII, „Von den Finanzen".

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Abschlussrechnungen deutlich würden. 321 Die Budgetierung sei demnach genauso abzuschaffen wie eine Steuergesetzgebung, der „demokratische Utopien" zugrunde lägen. Gleichbehandlung bei der Steuer sei nicht nur unmöglich, sondern im konservativ-organischen Staat auch gar nicht angestrebt. 322 Hinter diesem Votum stand die erklärte Absicht des Sozialkonservatismus, über Steuerpolitik Wirtschaftslenkung zu betreiben, Monopole zu verhindern, Handwerk und Landwirtschaft über gezielte Steuersenkungen bzw. -befreiungen zu stützen. Mit dem fast 40-seitigen Konzept lag erstmals ein auf die praktische Politik und die parlamentarische Tätigkeit der Konservativen ausgerichtetes Programmpapier vor, das nach Lavergnes Darstellung zunächst für die innerparteiliche Diskussion verfasst war und zusammenfasste, was 1855 in mehreren programmatischen Aufsätzen der „Revue" vor allem von Lavergne bereits publiziert worden war. Der Chronist der „Berliner Revue", Adalbert Hahn, lehnte zwar die Bezeichnung „Programm" für die „Grundzüge der konservativen Politik" aus formalen Gründen ab und interpretierte sie als „Richtlinien für das Verhalten der Abgeordneten in der Volksvertretung". 323 Das ist jedoch zu kurz gegriffen, versuchten die drei Sozialkonservativen doch hier tatsächlich ihre positiven politischen Ziele mit dem konkreten Bezug auf die bestehende Verfassung zusammenzufassen. Aber auch ihnen gelang es nicht, sich von dem antirationalistischen Muster konservativer Argumentation zu lösen, die eigene Ideologie lediglich aus der Gegnerschaft zur liberalen herzuleiten. 324 So war der gesamte erste, von Wagener verfasste Teil ein antiliberales Pamphlet. Immerhin versuchte aber Lavergne im zweiten, die Umrisse eines konservativen PolitikProfils zu zeichnen, das mit dem dritten, auf die konkret angestrebten Verfassungsänderungen angelegten Teil, noch präzisiert wurde. Nachdem ein Exemplar des Programms unbeabsichtigt in die Hände der politischen Gegner gelangt war und von ihnen weiter verbreitet und publizistisch321 „Millionen sind mehr vereinnahmt und verausgabt, ein Bericht wird darüber erstattet und die nachträgliche Genehmigung ertheilt, ohne daß jemals in einem der beiden Häuser auch nur eine nennenswerthe Debatte darüber entstanden wäre. - Drängt sich hier nicht unwiderstehlich die Frage auf: wozu noch die Bewilligung des Budgets?" Verfassungsurkunde, S. 36. 322 Verfassungsurkunde, S. 37 betr. Tit. VIII, Art. 102, „In Betreff der Steuern können Bevorzugungen nicht eingeführt werden." 323

324

Hahn, S.41.

Greiffenhagen, S. 66, beschreibt dieses Muster folgendermaßen: „Konservative Selbstdarstellungen enthalten zwar stets eine Kritik am Rationalismus, lassen aber selten die Dialektik ihrer Abhängigkeit von ihm erkennen: Stets wird zunächst der Gegner vorgeführt mit seinem mehr oder weniger kompletten Programm. Dann werden die Punkte dieses Programmes widerlegt. Die positive Darstellung der konservativen Philosophie erschöpft sich dann meist in wenigen allgemeinen Bemerkungen."

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polemisch ausgeschlachtet wurde, sprach Lavergne von einer „explosionsartigen" Reaktion: „Die Wirkung war theils entsetzlich, theils tragikomisch. Wäre plötzlich einer der fünf Welttheile vom Erdboden verschwunden, das Zetergeschrei hätte nicht lauter ertönen können." Man habe mit dem Programm die Rückkehr ins schwärzeste Mittelalter, aber auch Despotismus, Pantheismus, Socialismus, Communismus, in Verbindung gebracht, „selbst der Ikarismus und die Inkas von Peru wurden zu Hülfe gerufen [...] Ein sonst ruhiges, aber sehr liberales Blatt zeigte sogar nicht übel Lust, auch noch den Staats-An wait um Beistand anzuflehen." 325 Nur durch den liberalen Hang zur Erhabenheit über jeden Zweifel und die liberale Unkenntnis über den Zustand der Provinzen und der Landwirtschaft konnte sich Lavergne all diese Vorwürfe der „leitartikelnden Politiker" gegen die so bekannt gewordenen konservativen Leitlinien, die ja eigentlich nichts Neues enthielten, erklären. Durch die Wahlergebnisse, stellte Lavergne nicht ohne Genugtuung fest, seien sie von ihrem hohen Ross gestoßen worden. Die liberalen Kritiker müssten jetzt mit einem ganz neuen Gefühl leben, nämlich mit der Furcht vor dem baldigen Untergang der liberalen Doktrin und erkennen, „daß neue Bahnen gebrochen, andere Studien begonnen werden müssen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben." 326 Als das Programm Anfang 1856 im Verlag Heinicke, der auch die sozialkonservative „Berliner Revue" und später das von Hermann Wagener herausgegebene Staats- und Gesellschaftslexikon druckte, erschien 327 , begann eine Kontroverse, die nicht nur mit den Liberalen 328 , sondern vor allem auch innerhalb der Rechten geführt wurde, weil der Gerlach-Flügel einigen der im Programm vertretenen Positionen nicht zustimmen konnte. 329 Die „Kreuzzeitung" beeilte sich wiederum richtig zu stellen, dass das Programm entgegen anderslautender Gerüchte nicht aus Ernst Ludwig v. Gerlachs Feder stammte. Gerlach selbst distanzierte sich in einer seiner „Rundschauen" in der „Kreuzzeitung" von den Verfassern und ihren Zielen, die sich von der auf Gottes Wort begründeten einzig wahren Lehre so weit entfernt hätten. 330 Die ausführlichste Reaktion auf die Schrift kam vom liberalen Abgeordneten Adolf Lette, der 1857 mit einer Art Gegenprogramm die Sozialkonservativen zu destabilisieren und die liberale Kompetenz für soziale Fragen zu demonstrieren suchte. 331 Auf fast 130 Seiten versuchte Lette, auch alle anderen Bestandteile des Programms zu erschüttern. Diese ausführliche Kritik kombinierte er mit 325 326 327 328 329 330

331

Lavergne, Leser, S. 675. Lavergne, Leser, S. 676. Grundzüge. Ζ Β. Lette, Verfassungszustände. Hahn, S.41. Hahn, S. 42.

Lette, Verfassungszustände.

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einer liberalen Regierungskritik, die sich vor allem gegen die Beeinflussung der 1855er Wahlen auch über die Landräte richtete, aus denen diese macht- und selbstbewussten konservativen Abgeordneten erst hervorgehen konnten. 332 Lettes Wahlkritik gipfelte in der Forderung, Landräten das passive Wahlrecht zu entziehen, da ihnen zuviel Einfluss auf die Wähler zugestanden würde. 333 Dies war sicherlich auch ein Seitenhieb gegen die gouvernemental-konservative „Landratsfraktion" in einer ansonsten sachlich gehaltenen und im Bewusstsein der Überlegenheit des konstitutionellen Systems geschriebenen Auseinandersetzung mit dem konservativen Programm. Schon seit 1807 kämpfe die konservative oder gouvernementale Partei gegen die „Regenerations- und Reformgesetzgebung", während die „Opposition" schon ebenso lange die Reformen nicht nur verteidige, sondern auch neue Anstöße und Versuche zu ihrer Vervollständigung hervorbringe. Die Liste der liberalen „Essentials", die Lette aufzählte, bildet in jedem Einzelpunkt einen Gegenpol zu den konservativen „Grundzügen": die „Beseitigung der polizeiobrigkeitlichen Gewalt der Rittergüter", die Anpassung der Gemeinde-, Kreisund Provinzialordnung an die aktuellen Verfassungszustände, die Aufhebung von Grundsteuer-Exemtionen als Element der Schaffung von allgemeiner Steuergerechtigkeit, die Erhaltung einer freien Agrar- und Gewerbeverfassung, Freizügigkeit bei der Wahl des Wohnsitzes, Schaffung eines unabhängigen Beamtenstandes, Glaubens- und Religionsfreiheit für alle, staatsbürgerliche Gleichberechtigung „aller Konfessionsverwandten, insbesondere auch der Juden", Einführung der Zivilehe und schließlich die „gleichmäßige Eidesnorm". 3 3 4 Dabei verneinte Lette auffällig jede Verbindung mit der französischen Konstitution, sondern zitierte sozusagen in Anlehnung an die preußischen Reformer wiederholt englische Beispiele. 335 Das alles gipfelte in dem Vorwurf, die Konservativen verbreiteten mit ihrem ökonomischen Programm einen „in deutsches Gewand gekleideten Sozialismus". Ähnlich schrieb auch der Kritiker der liberalen Kölnischen Zeitung von den „feudalen Sozialisten à la Wagener". 336 „Sozialistisch" war für diese Autoren ein Synonym für die Forderung nach staatlicher Wirtschaftslenkung und Reglementierung ohne andere sozialpolitische Implementierungen. So kritisierte Lette weiter: „Man sieht, wie 332

Lette, Verfassungszustände, S. 73 ff. Lette, Verfassungszustände, S. 111. 334 Lette, Verfassungszustände, S. 27 f. 335 Lette, Verfassungszustände, S. 38: dem französischen Konstitutionalismus fehlt „das Fundament selbständiger Gemeindekoiporationen in den unteren, wie in den höheren Kreisen", Lette verweist auch auf Bunsen als Kenner der englischen Verfassung und Gewährsmann für deren Vorbildcharakter; S. 39: „französischer Schein-Konstitutionalismus"; S. 85 f. Hinweis auf England im Zusammenhang mit der notwendigen Reform der Gemeindeordnung.; S. 99 f., Wahl der Scheriffs und Friedensrichter. 336 Lette, Verfassungszustände, S. 67; Zitat Kölnische Zeitung Hahn, S. 43. 333

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schwer es fällt, sich von der langjährigen Erziehung im Systeme des Polizeistaats zu emancipiren. Insbesondere aber kann die sogenannte konservative Partei die Macht des Bureaukratismus und Polizeistaates nicht entbehren, so lange sie für die Restauration von Verfassungszuständen kämpft, deren Prinzipien von dem weltgeschichtlichen Entwickelungsgange in den germanischen Staaten längst verlassen und verurtheilt sind... " . 3 3 7 Es dauerte nur wenige Wochen, bis Moritz von Lavergne-Peguilhen in der „Revue" auf die Kritik Lettes reagierte. Vor allem der Sozialismus-Vorwurf entbehrte seiner Ansicht nach jeder Grundlage und sollte lediglich vom Versagen der liberalen Ideen in der Praxis ablenken. Lettes Hinweis, das konservative Programm sei in großen Zügen identisch mit Lavergnes „Grundzügen" von 1838 und deshalb keineswegs neu, traf ihn sehr, und er reagierte verärgert: „Anstatt aber daraus zu entnehmen und ehrend anzuerkennen, daß, nachdem der Liberalismus nahezu dahin gelangt ist, alle Wissenschaftlichkeit und alles geistige Leben aus der Politik zu verdrängen und dieselbe auf dürre Abstractionen und liberale Phrasen zu reduciren, hier in der Behandlung der StaatsWissenschaften jene Bahnen betreten worden, die auf dem Gebiete der Naturwissenschaften so unermeßliche Erfolge gehabt, und anstatt sich dessen zu erfreuen, macht unser Autor es sich bequem, er geht über das Programm der Rechten und über die „Berliner Revue" gewissermaßen zur Tagesordnung über, indem er sie für Phantasie-Gebilde, für ein in deutsches Gewand gekleidetes System des Socialismus erklärt." 338 3. Das „social-politische" Programm als Leitfaden Das konservative „social-politische" Programm war das politische Koordinatensystem für Lavergnes Tätigkeit als Parlamentarier. Innerhalb seiner Grenzen versuchte er sich zu profilieren, was über die Sprechelfunktion der für seine Politikbereiche relevanten Kommissionen am besten möglich war. Lavergne war Berichterstatter der Kommission für Finanzen und Zölle. Die Verhandlungen in der Kommission gingen jeder Plenardebatte über ein Sachthema voraus, sodass hier die Informationen gebündelt und schriftlich vorhanden waren und auf dieser Basis die Entscheidung der Kammern vorbereitet wurden. Der Berichterstatter hatte in der Plenardebatte eine Schlüsselrolle. Ihm stand der erste und der letzte Wortbeitrag zu. 339 Wenn Lavergne in der Funktion als Berichter-

337

Lette, Verfassungszustände, S. 67. Lavergne, Programm, S. 495. 339 Grünthal, Parlamentarismus, S. 359; S. 360: „Die Kommissionen waren also - ohne spezifizierte Direktiven seitens des Plenums erhalten zu haben - ihr eigener Souverän, und sie blieben dies mit allen Folgen 'partei' -politischer Monopoli s ierbarkeit ihres Informationsinteresses und ihrer Informationsvermittlung an das Plenum." 338

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statter Stellung bezog, geschah dies immer auch mit dem Hintergedanken, über den konkret angesprochenen Tagesordnungspunkt hinaus seine übergeordneten „social-politischen" Ziele anzusprechen. Als er in der Debatte um die Erhöhung der Rübenzuckersteuer seine Vorstellungen von einer staatlich gelenkten Wirtschafts- und Sozialpolitik oder seine Forderung nach systematisch betriebener Gesellschaftswissenschaft entwickelte 340 , fand er dafür kein Verständnis. Das Protokoll verzeichnete wie so häufig als Reaktion auf Lavergnes Beiträge ablehnende Zwischenrufe und gelegentlich auch „Heiterkeit" 341 im Plenum sowie Aufforderungen, sich auf die aktuellen Sachfragen zu beschränken. Auch in der Diskussion um die Rübenzuckersteuer im Mai 1852 hatte Lavergne als Berichterstatter der Kommission für Finanzen und Zölle für das Empfinden der übrigen Kommissionsmitglieder offenbar zu weit ausgeholt. In seinem mündlichen Bericht vor dem Plenum beschwerte er sich darüber, dass man ihm von einem umfangreichen Bericht über die Einflussmöglichkeiten der Rüben zuckersteuer auf die gesamte Volkswirtschaft unter den unterschiedlichsten Aspekten zwei Drittel gestrichen habe. Der Kommissionsmehrheit gehe es in dieser Frage nur um die rechtliche Zulässigkeit einer solchen Steuer und ihrer Erhöhung, bedauerte er, um dafür im mündlichen Bericht das Gestrichene zumindest in geraffter Form doch noch in die Diskussion zu bringen. 342 Das Problem: Die Rübenzuckersteuer, die 1850 erst um 100 Prozent erhöht worden war, sollte 1852 noch einmal um 50 Prozent heraufgesetzt werden, obwohl die erste Erhöhung auf drei Jahre festgesetzt worden war. Diese nicht unbedeutende Einnahmequelle bescherte den Zollvereinskassen im Jahr fast 1,5 Millionen Taler, was bei steigendem Zuckerkonsum jährlich höhere Einkünfte versprach. 343 Lavergnes Gegner hatten mit der Erhöhung keine Probleme, auch die Zollvereins-Vereinbarung schließe das nicht aus, argumentierte der Abgeordnete Winzler, der angesichts des Kommissions-Votums Lavergne unter Beifall darauf aufmerksam machte, wie überflüssig sein Eifer in der Sache sei. Lavergne solle sich nicht einbilden, die wenigen Runkelrübenbauern in Preußen könnten die Preisbildung innerhalb des Zollvereins bestimmen oder beeinflussen. 344 Den so kritisierten Übereifer entwickelte Lavergne auch in der Diskussion um das Salzmonopol, wo er erst, wie in vielen Aufsätzen in der „Berliner Revue" ebenfalls praktiziert, nach der langatmigen Darstellung der mittelalterli-

340 341 342 343 344

Vgl. Grünthal, Parlamentarismus, S. 359; Sten. Ber., II. K , 1851/52, S. 1250 ff. Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 410,416. Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 1251. Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 1250. Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 1260.

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chen Zustände zum eigentlichen Gegenstand seiner Rede fand. 345 Es ging um einen Antrag Harkorts und anderer, das Salzmonopol aufzuheben und den Salzbergbau freizugeben. Zur Zufriedenheit Lavergnes, der darin einen Sieg gegen die Prinzipien der Doktrin erblickte, hatte sich in der Kommission für Finanzen und Zölle, deren Sprecher Lavergne war, keine Mehrheit für diesen Antrag gefunden. 346 Dort erwarte man zwar auch höheren Salzkonsum nach der Freigabe, dies wiege den Verlust für die Staatskasse in erwarteter Höhe von 1,3 Millionen Taler jedoch nicht auf. Außerdem sei zu befürchten, dass der Salzpreis in infrastrukturell benachteiligten Gebieten eher noch steigen würde, was dem liberalen Prinzip der sozialen Gerechtigkeit ja gerade entgegenstehen würde. 347 Allerdings befürwortete die Kommission die Freigabe des Bergbaus in der Hoffnung auf neue Stein Salzvorkommen und deren industrielle Ausbeutung. In dieser Diskussion, in der Harkort die Kommission dafür lobte, „mit allem Fleiße die Gründe aufgeführt zu haben, mit welchen es möglich wäre, eine unhaltbare Sache zu halten" 348 , erntete Lavergne wiederholt Spott und Gelächter. Es war wohl nur für wenige Abgeordnete einzusehen, was der mittelalterliche Glaube an „Hexenprozesse, Geistererscheinungen und Wünschelruthen" mit dem Salzmonopol zu tun hatte. 349 Die Rechte amüsierte sich wenig später über die Erkenntnis Lavergnes, dass nur die Anhänger der „Doktrin" so einfältig sein könnten zu glauben, die Befürworter des Freihandels müssten automatisch die Aufhebung des Salzmonopols begrüßen. Demgegenüber könne die „Erfahrung" jedes Phänomen in ihren Wirkungen unabhängig von jeglicher Theorie betrachten. Sie werte deshalb nur nach den zu erwartenden praktischen Erfolgen. Im Falle des Salzmonopols wurden, bei aller Heiterkeit und Ungeduld, die Lavergne auslöste, sein Einsatz und seine Argumentation mit dem Mehrheits votum belohnt. 350 Zu den höheren Zielen, die Lavergne als Parlamentarier mit seiner „Landpolitik" verfolgte, gehörte auch die Fortsetzung des Kampfes um die Gemeinde345 Grünthal, Parlamentarismus, S. 359: „Allzu eifrige Berichterstatter, die auf eigene Faust Informationen zu erlangen suchten, wurden - wie im Falle der Ausschuß-Beratungen über die Vorlage betr. die Erhöhung der Rübenzuckersteuer geschehen - vom Kommissionsplenum angehalten, nur jene Tatsachen zu referieren, die im Ausschuß selbst vorgetragen worden waren". Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 410: Beim Vortrag des Kommissionsberichts über das Salzmonopol mahnte der Präsident: „Ich denke, der Herr Berichterstatter wird doch wieder auf den Antrag nach diesen Digressionen zurückkommen"; ebd., S. 416: „Heiterkeit auf der Rechten". 346 Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 409 ff. 347 Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 410. 348 Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 414. 349 Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 410. 350 Sten. Ber. Π. K. 1851/52, S. 417.

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Ordnung, die er in eine allgemeine Kritik des preußischen Berufsbeamtentums und die Forderung nach einer Verwaltungsreform mit einem auf ehrenamtlicher Verwaltung basierenden „Selfgovernment" einbettete.351 Deshalb stimmte er dem Gesetzentwurf über die ländlichen Ortsobrigkeiten in den sechs östlichen Provinzen im Februar 1856 zu, mit dem die weitere Existenz der Gutsbezirke als selbständige Gemeinden geduldet wurde. 352 Außerdem behielten die Gutsbesitzer die Aufsicht über die Ortspolizei. 353 Auch Lavergnes Beiträge in den Debatten über Armengesetzgebung standen unter den Vorzeichen der „conservativen Social-Politik". Als es 1851 um Hilfen für die Typhus-Waisen des oberschlesischen Notstands der Jahre 1847/48 ging, schlug er sofort die Wiederbelebung seines Modells „Notstandskommission" vor, was „Unruhe" im Plenum hervorrief, aber nicht mehrheitsfähig war. 354 Dass er die Zustimmung für Hilfen für Oberschlesien „von einer gründlichen Recherche der socialen Zustände Oberschlesiens abhängig machen" wollte, zog neben der Ablehnung durch die Parlamentsmehrheit auch „ernstes Mißtrauen in den ministeriellen Kreisen" nach sich, wie er später selbst berichtete. 355 Eine gewisse Flexibilität verlangte Lavergne der „conservativen SocialPolitik" in der Diskussion um die Streichung eines Zuschusses an die Armenund Wohltätigkeitsanstalten der Französischen Kolonie in Berlin ab. Obwohl sich direkte finanzielle Armenhilfe nach seinen bisher veröffentlichten Grundsätzen für Lavergne verbot 356 , setzte sich der hugenottische Preuße für die Fortsetzung der Zahlung ein. Er berief sich dabei auf die Erhaltenswürdigkeit des historisch Gewachsenen, also der Sonderstellung der Kolonie, und rechtfertigte so den Einsatz im eigenen Interesse, das er „als Mitglied der Kolonie" 3 5 7 vertrat. Er warnte davor, historisch begründete Zusagen aufzuheben, zumal er in der Art der Armen ver waltung innerhalb der Kolonie die Form von Selbstverwaltung und ehrenamtlichem Einsatz sah, die er für den gesamten

351

Lavergne, Staatshaushalt, S. 170. Sten. Ber. II. K , (1855/56), S. 193 ff., 201, 217 ff., Beschluß 224, mit Lavergne stimmten u. a. sein Bruder Alexander, Baron v. Hertefeld und Hermann Wagener. 353 „Als provinziales Sonderrecht behaupteten sich hier Einrichtungen, die das ostelbische Junkertum in seinem engeren Herrschaftsbereich noch einmal abgewiesen hatte und doch zwei Jahrzehnte später hinnehmen mußte, nämlich die staatliche Verwaltung der ländlichen Ortspolizei und eine mindestens dem Adel gegenüber freiere Form der dörflichen Selbstverwaltung," Hejfter, S. 335. 354 Sten. Ber. Π. K , 1850/51, S. 643. 355 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 10. 356 Lavergne, Grundzüge I, S. 115; Lavergne, Liberalismus, S. 77. 357 Sten. Ber. II. K , 1851/52, S. 348. 352

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preußischen Staat forderte. 358 Zur Vervollständigung seiner Politikfelder ist zuletzt Lavergnes Unterstützung für die Mitte der 50er Jahre anvisierten staatlichen Eisenbahnbauprojekte 359 zu nennen. Verfassungspolitik, sofern sie über Gemeinde- und Kreisangelegenheiten hinausging, Justizfragen und Außenpolitik sowie die Diskussion der Nationalfrage klammerte Lavergne in seiner parlamentarischen Arbeit aus. Er rechtfertigte diese Abstinenz damit, dass „die sogenannte haute politique für mich kein Interesse hat, solange derselben die befestigten Fundamente fehlen". 360 Mit den „festen Fundamenten" war nicht nur die wirtschaftliche und soziale Sicherheit aller Mitglieder der Gesellschaft gemeint, sondern vor allem auch die Veränderung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des preußischen Zweikammersystems. Dahinter stand die Forderung nach „Rückkehr zu dem berathenden Landtag", die Lavergne für „absolut nothwendig" hielt. 361 Die Institution selbst sollte jedoch erhalten bleiben, nannte er Herrenhaus und Abgeordnetenhaus doch die „Rettung" aus der „Katastrophe" der Revolution von 1848, in die Preußen durch den für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme ungeeigneten „bürokratischen Liberalismus" hineingeraten war. 362 Sie waren für ihn Ausdruck des notwendigen Übergangs von der vorrevolutionären „Heimlichkeit" zur „Öffentlichkeit" der Staatsangelegenheiten, wie er 1856 schrieb. 363 Mit dieser Form der Öffentlichkeit würde es gelingen, dem Volk die Fehler des Liberalismus als Ursachen der Revolution zu verdeutlichen. In den Jahren der parlamentarischen Arbeit seit 1848 hätten die Konservativen kaum etwas gegen die liberale „Experimental-Politik" aufzubieten gehabt: „Die Verfassungs-Projecte vom Jahre 1848, das Bürgerwehr-Gesetz, die Gemeinde-Ordnung von 1850, viele Bestimmungen der VerfassungsUrkunde von 1850, unsere neueren Justiz-Reformen, der Verlust des Domainen-Zinses in Folge des Rentenbanken-Gesetzes usw. geben Zeugniß von den Leistungen unserer Lehrlings-Periode. Diese war jedoch in keiner Weise zu 358

„Die Streichung würde nur die Folge haben, daß die jetzigen Kolonie-Institute voraussichtlich Kommunal-Institute würden, und daraus würde hervorgehen, daß die Männer, welche sich mit Hingebung der Erhaltung dieser Institute widmen - es ist ein reger und werkthätiger Geist in der Französischen Kolonie - sie anderen Händen übergeben würden, bei denen, wie ich glaube annehmen zu dürfen, nicht ein in dem grade reger Gemeingeist sich zu erkennen geben dürfte, wodurch der innere Werth der Institute nicht gewinnen könnte." Sten. Ber. IL K. 1851/52, S. 349. 359 Sten. Ber. HdA, 1855/56, S. 1070. 360 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, Antwort Lavergnes aufschreiben des Innenministeriums 3. Juni 1858, Bl. 21. 361 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, Antwort Lavergnes aufschreiben des Innenministeriums 3. Juni 1858, Bl. 24 Rs. 362 Lavergne, Programm, S. 119. 363 Lavergne, Häuser, S. 457.

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vermeiden, und die Opfer, welche die Experimental-Gesetzgebung uns auferlegt hat, müssen als ein großes Cultur-Capital angesehen werden, welches in den Fortschritten des politischen Geistes reiche Zinsen verheißt." 364 Hinter dem Bekenntnis zu parlamentarischen Institutionen stand nicht die Wandlung des Wirsitzer Landrats zum Demokraten oder Konstitutionalisten. Die Vereinigung von „Volk und Regierung [...] zu gemeinsamer Behandlung der Staats-Angelegenheiten" diente nach Lavergnes Auffassung dem Zweck, „daß beide sich von der Doctrin emancipirten, sie gemeinsam den Weg der Erfahrung, der Socialpolitik betraten" 365 Parlamentarische Institutionen waren deshalb nur als Übergangslösungen zu akzeptieren, bis über die wissenschaftliche Erfahrung die notwendigen organischen Strukturen ermittelt und eingeführt werden konnten. 4. Lavergne und die parlamentarische Rechte Mitte der 50er-Jahre erhielt Lavergnes Optimismus, bald ins Zeitalter der „Social-Politik" eintreten zu können, neue Nahrung: Die konservative Mehrheit im Haus der Abgeordneten konsolidierte sich, die preußischen Konservativen waren zur stärksten parlamentarische Kraft avanciert. Obwohl die öffentliche Meinung insgesamt weniger konservativ geprägt war, sorgte ein die Konservativen begünstigendes Wahlrecht für diese Mehrheitsverhältnisse. Dennoch gelang ihnen keine feste Fraktionsbildung über einen längeren Zeitraum hinweg. Vor allem in der konservativen Mitte wechselten die Mehrheiten, während an den Rändern und bei den Katholiken eine fraktionelle Verfestigung zu beobachten war. 366 Für die Unstetigkeit in der Mitte gab es vor allem zwei Gründe: Die Beamtenmehrheit hatte einerseits bei ihren Beschlüssen auf die Regierung und ihre Vorgesetzten Rücksicht zu nehmen, zum anderen gehörten viele Mandatsträger nur eine Legislaturperiode dem Parlament an. Die organisatorische Struktur der Konservativen lässt sich so rekonstruieren: Ganz rechts stellten die Hochkonservativen unter Ernst Ludwig v. Gerlach ab Ende 1852 eine eigene Fraktion von 26 bis 39 Abgeordneten. Ihre Ziele waren die Totalrevision der Verfassung, das Ende des Konstitutionalismus und die Rückkehr zu ständischen Verhältnissen. 367 Sie begrüßten besonders die Umwandlung der Ersten Kammer, die vorher die ökonomische Oberschicht repräsentiert hatte, in ein Haus des adeligen Grundbesitzes und seine Umbenennung

364 365 366 367

Lavergne, Häuser, S. 457. Lavergne, Häuser, S. 457. Fenske, Parteiengeschichte, S. 83; Grünthal, Parlamentarismus, S. 393. Grundzüge, S. 26 ff.; Fenske, Parteiengeschichte, S. 83.

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in „Herrenhaus" ab Mai 1855.368 Daneben existierten kleinere Fraktionen und unabhängige Abgeordnete, die sich als „rechts" bezeichneten. Den linken Rand des konservativen Spektrums markierte die nach der 1851 gegründeten Zeitschrift benannte Wochenblattpartei unter der Führung von Moritz August v. Bethmann-Hollweg, die sich ab 1852 in der Zweiten Kammer etablierte. Die verfassungstreue und kleindeutsch orientierte Fraktion, die vor allem vom gut situierten Bürgertum unterstützt wurde, schrumpfte nach der Wahl 1855 von 33 auf neun Mitglieder. 369 Auch ihr Führer Bethmann-Hollweg kehrte nicht ins Parlament zurück. Die große Nähe der Wochenblattpartei zum Liberalismus, die ihr auch von Lavergne vorgeworfen wurde 370 , war wohl die Ursache für diese große Niederlage.Im Pufferbereich zwischen der Rechten und der liberalen Linken befanden sich die katholische Fraktion, die Ende 1852 entstand und 1855 gut 50 Mitglieder zählte 371 , und die polnische Fraktion aus den mehrheitlich polnisch besiedelten Wahlkreisen der Provinz Posen. Während es zu den einflusslosen Polen 372 keine direkten Aussagen oder Attacken von Lavergne gibt, bekämpfte er die liberalen agrarpolitischen Auffassungen Peter Reichenspergers, eines der Gründer der katholischen Fraktion 373 , auf das Schärfste. 374 Die Liberalen besetzten etwa ein Fünftel der Sitze im Abgeordnetenhaus; sie teilten sich aber wiederum in zwei etwa gleichstarke gemäßigte Fraktionen unter der Führung von Georg Freiherr von Vincke und Robert Freiherr von Patow. 375 Die liberalen Abgeordneten kamen mehrheitlich aus dem Rheinland sowie den Provinzen Preußen und Schlesien.376 Nachdem es Lavergne 1854 gelungen war, eine als Fraktion bezeichnete gouvernemental orientierte Anhängerschaft hinter sich zu bringen, kann er zu diesem Zeitpunkt als anerkannte Persönlichkeit innerhalb der Rechten gelten. 377 Die Fraktion des von der „Kreuzzeitung" am linken Rand des konservativen Spektrums angesiedelten Abgeordneten Carl hatte er in der dritten Session der 368

Durch Verordnung vom 12. Oktober 1854, Fenske, Parteiengeschichte, S. 84, dort auch das Folgende. 369 Grünthal Parlamentarismus, S. 447. 370 Lavergne, Programm, S. 120: „Im Gegensatz zu den vulgären Volks- und Freiheitsfreunden vertritt die Partei des , Preußischen Wochenblatts" den bureaukratisehen Liberalismus von vor 1848." 371 Grünthal Parlamentarismus, S. 447. 372 Sie hielten Anfang 1855 elf Sitze, Grünthal Parlamentarismus, S. 405. 373

374

Mergel S. 197.

Lavergne, Agrar-Verfassung, S. 282-292; 332-342; 436-448; 538-546; Sten. Ber. II. K. 1853/54, S. 212, Debatte über Erstellung eines Grundstückskatasters. 375 Fenske, Parteiengeschichte, S. 84; Grünthal Parlamentarismus, S. 405. 376 Fenske, Parteiengeschichte, S. 85. 377 „Die Fraktion Peguilhen stand rechts, und ihre Mitglieder zählten zur treuesten Gefolgschaft der Regierung im allgemeinen, ihres Dienstherrn v. Westphalen im besonderen". Grünthal Parlamentarismus, S. 400.

300

C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

dritten Legislaturperiode 1854 zusammen mit seinem Bruder Alexander verlassen, weil er in der Grundsteuerfrage keine Kompromisse schließen wollte. 3 7 8 Lavergnes Kurs schlossen sich siebzehn weitere Abgeordnete an. 3 7 9 Trotz ihres Rechtsrucks blieb die Fraktion Peguilhen noch in der Mitte des sehr zersplitterten rechten Spektrums links von den altkonservativen Fraktionen Arnim und Gerlach angesiedelt.380 Seine Gruppierung fiel durch ihre Linientreue gegenüber der Regierung auf. Als beispielsweise die Regierung Manteuffel auf Vorschlag des Innenministers von Westphalen eine Verfassungsänderung zur Vereinigung der beiden Häuser des Landtags vorschlug, stand die Fraktion Peguilhen im Unterschied zu den übrigen rechten Fraktionen geschlossen hinter dem Innenminister. 381 Die weitere Zersplitterung der Rechten führte der Fraktion Peguilhen später noch weitere Parlamentarier zu. In der ersten Session der vierten Legislaturperiode (1855/56) hatte sie bereits 31 Mitglieder. Baron v. Hertefeld, Finanzier der 1855 gegründeten „Berliner Revue", sowie Graf Pückler als Rittergutsbesitzer und die Landräte v. Jagow und v. Leipziger übernahmen 1857 die zu 80 Prozent adelige Fraktion. 382 Lavergne hatte schon in diesem Jahr seine Aktivitäten so weit eingeschränkt, dass er keinen greifbaren Einfluss mehr auf die Politik der Fraktion nahm. 1858 stellte er sich nicht mehr zur Wahl. 3 8 3 Der Grund für seinen Rückzug war die Enttäuschung über die Steuerpolitik der Regierung Manteuffel. 1857 mehrten sich die Anzeichen für eine Entfremdung Lavergnes von seinen bisherigen politischen Mitstreitern. Besonders auffällig war seine Passivität im Parlament wie in der „Berliner Revue". Er trat nicht mehr ans Rednerpult des Abgeordnetenhauses; in der „Revue" erschien nur noch ein Artikel aus seiner Feder. Hauptursache für diese Entfremdung war die Ablehnung von Lavergnes Vorstellungen von einer ländlichen Kreditord-

378

Debatte zur Erstellung eines Grundsteuerkatasters, Sten. Ber. II. K. 1853/54, S. 212 ff.; Hahn, S. 33: die Fraktion Carl wird allgemein dem konservativen Spektrum zugerechnet, nicht so von der „Kreuzzeitung". 379 Grünthal, Parlamentarismus, S. 400: sieben weitere Landräten, vier Regierungsbzw. Oberregierungsräten, zwei aktiven Militärs, einem Staatsanwalt, einem Polizeidirektor, einem Gutsbesitzer und einem Pastor. 380 Grünthal, Parlamentarismus, S. 400 ff.; B. M. Rosenberg, Vertretung, S. 82 ff. 381 Grünthal, Parlamentarismus, S. 408. 382 Grünthal, Parlamentarismus, S. 412. 383 Grünthal, Parlamentarismus, S. 412; Lauter, Volksvertretung, S. III, führt keine Fraktion Peguilhen auf, setzt allerdings einschränkend hinzu, dass Irrtümer in dieser Liste nicht ausgeschlossen seien, rechnet Lavergne für die zweite Legislaturperiode (1850-52) der Rechten, für die dritte (1852-55) der Fraktion bei Meser und für die vierte (1855-58) der Fraktion Graf Pückler zu.

III. Politik und Publizistik für die „conservative Social-Politik"

301

nung 384 durch die Regierung: „Als ich im Jahre 1856 den Entwurf einer Creditordnung dem Abgeordnetenhause zur Verhandlung gebracht habe, zu dem Zweck das ländliche Grundvermögen allmählich zu kündbaren Hypotheken frei zu machen, glaubte der damalige Verweser des landwirthschaftlichen Ministerii dem Antrage mit Hohn entgegentreten zu können". 385 Dass er im März Mitglied der „Kommission für die Gesetz-Entwürfe, betr. a) die Abänderung der Ergänzung einiger Bestimmungen der Bankordnung, b) die Verminderung der Kassen-Anweisungen, sowie der Ausgabe verzinslicher Staatspapiere" wurde, spricht allerdings dafür, dass ihm noch eine Gefolgschaft geblieben war, die seine Vorstellungen von einem eigenen landwirtschaftlichen Bankensystem unterstützte. 386 Diese Reaktion der Regierung und ihre Gesetzesvorlagen zur Einführung einer Gebäudesteuer sowie zur Erhöhung der Salzsteuer überzeugten Lavergne davon, „daß die Regierung mit den conservativen Prinzipien gebrochen habe". 387 Als eine konservative Landtagsmehrheit den Regierungsvorlagen ihre Zustimmung versagte, interpretierte Lavergne dies zunächst als Sieg der konservativen Politik. In einem Artikel zum selben Thema in der „Berliner Revue" beschrieb er seine Umbruchsstimmung. 388 Jetzt, so glaubte er, könne mit den revolutionären Prinzipien endgültig gebrochen werden und das konservative Zeitalter für Preußen beginnen: „In der That ist seit Menschengedenken kein Zeitpunkt der conservativen Politik günstiger gewesen, als der gegenwärtige. Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre haben die gänzliche Unfruchtbarkeit, die Bodenlosigkeit der liberalen Doctrinen zum allgemeinen Bewußtsein gebracht, und nur etwa die Zeitungspresse hält im Allgemeinen noch daran fest weil sie eben nur darin geschult ist." Den konservativen Vorstellungen könnten sich jetzt nur noch „unheilbare Doctrinäre" verschließen 389. Die Freude über die Niederlage der Regierung bedeutete gleichzeitig das Ende seiner Loyalität gegenüber der Regierung Manteuffel sowie den Bruch mit seiner Fraktion und der „Berliner Revue", weil auch die Arbeit bei der „Revue" mit dem Segen der Regierung Manteuffel begonnen und begleitet worden war. Manteuffel, seinerseits empört über die konservative Opposition gegen seine Steuerpolitik, bestellte 1857 die Zeitschrift ab. 390 Durch ihre Vorla-

384

Sten. Ber. HdA. 1856/57, S. 1036. GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, Bl. 10; der „Verweser" des Landwirtschaftsministeriums war Karl Freiherr von Manteuffel. 386 GStaPK, I. HA, Rep. 77, Nr. 4548, S. 299. 387 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, Antwort Lavergnes auf ein Schreiben des Innenministeriums, Juni 1858, Bl. 22 Rs. 388 Lavergne, Staatshaushalt, S. 165. 389 Lavergne, Staatshaushalt, S. 172. 385

390

Hahn, S. 47.

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C. Ideen von gestern f r die Gesellschaft von morgen

gen, die Lavergne abgelehnte, hatte die Regierung Manteuffel in seinen Augen die konservative Sache verraten und verdiente die Gefolgschaft der wahren Konservativen nicht mehr. 391 M i t seiner Entscheidung, sich nach diesen Enttäuschungen 1858 nicht mehr zur Wahl zu stellen, entging er dem Schicksal zahlreicher konservativer Abgeordneter, die keine Wählerunterstützung mehr fanden. Der Beginn der Regentschaft durch den Prinzen Wilhelm war nicht nur das Ende der Regierung Manteuffel, die neue antireaktionäre Politik verbot auch die vorher übliche Beeinflussung der Wähler durch die Landräte 392 und schuf damit eine entscheidende Voraussetzung zur Beendigung der altkonservativen Übermacht. Noch 1855 hatte auch Moritz von Lavergne-Peguilhen zu den Landräten gehört, die sich nach einem vertraulichen Erlass des Innenministers von Westphalen aus tiefster Überzeugung für die Wahlbeeinflussung hergaben. 393 Das gehörte nach Lavergnes Auffassung zur Rolle des preußischen Landrats und diente nicht zuletzt seinem eigenen Interesse. 313 der 435 Wahlmänner seines Wahlkreises stimmten im November 1855 für ihn, nur 116 für seinen liberalen Gegenkandidaten Petersen. Auch die anderen Mandate gingen ausschließlich an Konservative. 394 1858 kam es ohne die Beeinflussung von oben zu einer wesentlich höheren Wahlbeteiligung in der dritten Klasse. So erhielten die Konservativen wie die Katholiken nur noch je 47 Mandate. Die Polen behaupteten ihre Position mit 18 Abgeordneten. In einem letzten verzweifelten Anrennen gegen den drohenden liberalen Wahlsieg versuchte Lavergne im Herbst 1858 Regierungspräsident v. Schleinitz davon zu überzeugen, dass man auch Polen für die konservative Sache einsetzen könnte und nannte gleich drei „sichere" Kandidaten anstelle des von Schleinitz vorgeschlagenen Graf Skorzewski. Lavergne war vom Oberpräsidenten Puttkamer als Kenner der polnischen politischen Szene vorgeschlagen

391 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, Antwort Lavergnes auf ein Schreiben des Innenministeriums, Juni 1858, Bl. 22 Rs. 392 Ausführlich beschrieben bei Grünthal, Parlamentarismus, S. 429 f.: Die Landräte manipulierten die Wahlen zugunsten der Konservativen durch Beeinflussung der untersten Wahlklasse; das wurde „Abhaltung von konservativen Wahlen" genannt. 393 Lavergne, Presse, S. 233: „Aus dem Volke hervorgegangen, durch größeren Grundbesitz mit den Interessen des Kreises verwachsen, von den wirthschaftlichen, socialen und politischen Bewegungen unmittelbar berührt, ist der Landrath zugleich Organ der Regierung und Vertreter des seiner Leitung anvertrauten Kreises. Ist er der rechte Mann, d. h. der Rathgeber, Schützer und Helfer, wo Schutz und Hülfe möglich, da muß ihm das Vertrauen der Einsassen zufallen, da muß er einen entscheidenden Einfluß auf die Wahlen üben." 394 WAPB, Präsidial-Registratur Bromberg, 1/1481 Bildung der Wahlkreise behufs Wahl der Abgeordneten für die Kammern in Berlin und die Wahl selbst 1855-1866, hier: Circular vom 7.9.1855; Lette, Verfassungszustände, S. 75 ff.; S. 76 moniert er, dass Landräte, die sich diesen Vorgaben entziehen wollten, ihrer Ämter enthoben wurden.

IV. Lavergne als Kopf der „Berliner Revue"

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worden. Lavergne teilte mit, Skorzewski habe zugesichert, konservativ zu sein und vertrat die Ansicht, dass man im polnischen Block nur genügend Konservative brauche, um alle Polen mit den Konservativen stimmen zu lassen. Schließlich hätten die Polen im Abgeordnetenhaus immer geschlossen votiert. Für diese Option könne man sogar deutsche Abgeordnete opfern. 395 Allerdings konnte weder der von der Regierung nicht aufgenommene Vorschlag sich der Polen zu versichern, noch die Idee, am Wahlsonntag, dem 23. November 1858, zur Sicherung der Wahlbeteiligung die Wahlmänner aus seinem Kreis im Güterzug nach Bromberg zu transportieren 396, die konservative Wahlniederlage verhindern. Mit 195 Abgeordneten - 44 aus der ehemaligen Wochenblattpartei, die jetzt als Fraktion Mathis geführt wurde und 151 Liberale in der Fraktion Vincke - hatte das neue Ministerium aus Wochenblattpartei (Karl Anton v. Hohenzollern-Sigmaringen als Ministerpräsident) und Gemäßigt Liberalen (Finanzminister v. Patow) die stärksten Kräfte hinter sich. 397 Das war der Beginn der „Neuen Ära" in Preußen.

I V . Lavergne als Kopf der „Berliner Revue" 1. Reaktion und Fortschritt Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Hintergrund die publizistische Tätigkeit des Abgeordneten Moritz von Lavergne-Peguilhens in der zweiten Hälfte der 50er Jahre war eine Welt, in der Technik, Industrie, moderne Kommunikationsmittel und Urbanität immer größere Bedeutung erhielten, während das Thema Pauperismus an den Rand des sozioökonomischen Themenspektrums gedrängt wurde. 398 Das lag an mehreren Faktoren. Trotz des anhaltenden BevölkerungsWachstums und hoher Getreidepreise infolge der schlechten Ernte der Jahre 1852 und 1853 stieg die durchschnittliche Wirtschaftskraft der Bevölkerung. 399 Die gestiegene Volkszahl löste keine Hungerrevolten aus, weil es den unteren Bevölkerungsschichten auch durch sozialpolitische Maßnahmen der Regierung Man-

395

WAPB, 1/1481, Schreiben Lavergnes an Schleinitz vom 4.11.1858. WAPB, y 1481, Schreiben Lavergnes an Schleinitz vom 8.11.1858. 397 Fenske, Parteiengeschichte, S. 85. 398 „Der Pauperismus, der noch ein Jahrzehnt zuvor ein unausweichliches Schicksal, die soziale Bedrohung der europäischen Zukunft, gewesen zu sein schien, verblaßte; spätestens 1873, mit dem Ende der Gründerkonjunktur, war er keine Thema mehr." Schulze, Nationalstaat, S. 99. 399 Schulze, Nationalstaat, S. 99, Tilly, Zollverein, S. 67 ff. 396

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teuffei zur Stützung des Handwerks, zum Arbeiterschutz und zur Weiterführung der Agrarreformen im Durchschnitt besser ging. 400 Auch Lavergne reagierte in seinen Publikationen, die ab Mitte der 50er Jahre in der „Berliner Revue" erschienen, auf die veränderten sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Ära Manteuffel. Er verlagerte den thematischen Schwerpunkt hin zu Nationalökonomie und Politik. Die soziale Problematik tauchte lediglich als Teilaspekt noch auf. Auch die Forderung nach Etablierung einer Gesellschaftswissenschaft wurde im Umfeld der sozialkonservativen Wochenschrift zu einer eher marginalen Frage. 401 Ein etwas genauerer Blick auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Preußen während der Ära Manteuffel lässt es zu, diese Zusammenhänge besser einzuordnen.. Die relative politische Regungslosigkeit in den Jahren nach der Revolution von 1848 gab der Wirtschaft Raum zur Entwicklung. 402 In einem Klima von wiederbelebter Zensur und politischer Polizei verbesserten sich die wirtschaftliche Rahmenbedingungen maßgeblich. Die bedeutsamste Grundlage dafür stellte die Verdoppelung des Bahnnetzes innerhalb von 10 Jahren dar, wodurch erst neue Industrien und Zentren entstehen konnten. Dadurch erhielt auch der Handel innerhalb des Zollvereins andere geographische und finanzielle Konturen. Z. B. konnten landwirtschaftliche Erzeugnisse jetzt mehrere 100 Kilometer weit transportiert werden, ohne zu verderben. Auf den Schienenwegen ließen sich nicht nur große Mengen Waren, sondern auch Menschen, etwa Militär und Arbeitssuchende, transportieren. Die fanden, weil billig, in den neuen Fabriken, Gruben und Hütten Arbeit. Die erste Generation von Fabrikarbeitern entstand, die statistisch gesehen ein besseres und gesicherteres Auskommen hatte als die Arbeiter vor der Revolution. Objektiv, vor allem aber auch subjektiv verkürzte die Télégraphié das Empfinden von Entfernungen und Zeit. 403 Während der Zollverein mit einem hohen und weiter steigenden Handelsvolumen von der Gesamtentwicklung profitierte, sank der österreichische Handelsumfang aufgrund seiner „konservativen, protektionistischen, technik- und industrieängstlichen Politik". 404 Dieser Vorsprung des Zollvereins entwickelte 400

Schulze, Preußen, S. 313. „In welcher Weise diese Wissenschaft vom Wohle der Völker oder, was gleichbedeutend, diese Wissenschaft der Könige zu begründen und aufzubauen, wird der Gegenstand unserer ferneren Untersuchungen sein." Lavergne, Macht, S. 740. 402 Schulze: Nationalstaat, S. 98, spricht vom „Dornröschenschlaf der Politik". 403 Tilly, Zollverein, S. 50 ff.; Siemann, Staatenbund, S. 204 ff., unter dem programmatischen Titel „Nationbildung durch Kommunikation". 404 Schulze, Nationalstaat, S. 99; vgl. Siemann, Staatenbund, S. 422. 401

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sich nicht zuletzt dank der veränderten finanzpolitischen Rahmenbedingungen Anfang der 50er-Jahre. Neugegründete Banken unterstützten die expandierende Industrie durch günstige Kredite und eröffneten neue Anlagemöglichkeiten, mit denen die neuen Wirtschaftsbürger von 1851 bis 1857 ihre Depositen und Spareinlagen verdreifachten und gleichzeitig vom erhöhten Umlauf von Banknoten profitierten. Das Investieren in Aktiengesellschaften, Börsenhandel und Spekulation gehörten zum Alltag in den Wirtschaftsmetropolen. 405 Die Preußische Bank, deren Monopolstellung Lavergne als „ernstes Hinderniß" in der Entwicklung des preußischen Bankenwesens ansah 406 , etablierte sich neben den reinen Handels- und Kreditbanken und kanalisierte die Ausgabe und den Umlauf von Geld und Banknoten. 407 Das politische Klima in der Ära Manteuffel war gekennzeichnet durch die verdeckte Beschränkung der Grundrechte, die eigentlich durch die Verfassung von 1850 gewährleistet waren. 408 Die Stabilisierung der nachrevolutionären Verhältnisse im Blick 4 0 9 , wagte die Regierung die von den Konservativen geforderte offene Revision der Verfassung nicht, sondern versuchte beispielsweise durch die Stärkung der kirchlichen Orthodoxie, Zensur und Blockade von Ausführungsgesetzen zu Verfassungsartikeln deren Umsetzung zu blockieren. 2. Die „Berliner Revue u als Organ des Sozialkonservatismus Lavergne hatte in seinem Parlamentskollegen Karl v. Hertefeld einen Mann mit ähnlichen sozialen und politischen Vorstellungen gefunden, obwohl Hertefeld zunächst keiner der konservativen Fraktionen zuzurechnen war. Erst nach den Novemberwahlen 1855 fanden sie sich beide zunächst in der Fraktion Pückler wieder. Der Landrat und der als Geldgeber auftretende Graf gründeten im März 1855 gemeinsam die ,3erliner Revue" und gaben ihr den Untertitel „sozialkonservative Wochenschrift". 410 Der wohlhabende Baron Karl von Hertefeld war Rittergutsbesitzer in der Provinz Posen mit Besitz in der Mark Brandenburg und Cleve. Die Redaktionsleitung übernahm im Auftrag Hertefelds Clemens Graf Pinto. Die Wochenzeitung verstand sich als das publizistische Sprachrohr der sich selbst als „sozial-konservativ" bezeichnenden Gruppierung im preußischen Abgeordnetenhaus, die die soziale Komponente des Konservatismus in der Politik der altkonservativen Mehrheit nicht wiederfand. Die von Lavergne in diesem Organ veröffentlichten Aufsätze komplettierten das The405

Schulze, Nationalstaat, S. 98; Tilly, Zollverein, S. 59 ff. Lavergne, Hypotheken-Versicherungs-Anstalt, S. 303. 407 Tilly , Development, S. 113; Pohl, S. 156 ff. 408 Binding ; Boldt, S. 224-246. 409 Schulze, Preußen, S. 311. 410 GStaPK, I. Ha, Rep., 77,Tit. 496a, Nr. 40, Adhib. b., Bl. 36; zur Fraktionszugehörigkeit Hertefelds nur Hahn, S. 33. 406

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menspektrum seiner parlamentarischen Arbeit 411 und konfrontierten mit einem neuen, von Lavergne als Synonym für seine Variante konservativer Politik gebrauchten Begriff: „Social-Politik". Damit grenzte er sein politisches Arbeitsfeld klar ein und gewann an Schärfe und Deutlichkeit durch seine wesentlich entschiedener artikulierte Frontstellung gegenüber dem Liberalismus. 412 Den gesellschaftstheoretischen Forderungen und den Fragestellungen der Gesellschaftswissenschaft, die er im parlamentarischen Rahmen kaum ansprach, verlieh Lavergne ebenfalls erst in den Aufsätzen in der ,3erliner Revue" neuen Nachdruck. 413 Denn: „Der Kampf um die sogenannten Verfassungsfragen ist in unserm Vaterlande eingestellt, dagegen um so lebhafter in Betreff der gesellschaftlichen Grundlagen entbrannt.' 414 Allerdings blieb seine Wirksamkeit auch in der Rolle des „Ideengebers" und redaktionellen Mitarbeiters dieser „sozial-politischen Wochenschrift" auf einen sehr engen Leserkreis begrenzt. Das während seiner gesamten Existenz in finanziellen Nöten steckende Periodikum erreichte nie eine höhere Auflage als 550 Exemplare 415 und hätte ohne die regelmäßigen Finanzspritzen durch den wohlhabenden Baron von Herlefeld keine 18 Jahre überstehen können. Bevor das Blatt zum 31. Dezember 1873 endgültig sein Erscheinen einstellte, hatte auch Hermann Wagener sein gesamtes Vermögen für die immer unbedeutendere „Revue" aufgewendet. Die offizielle Begründung für die Einstellung war das mangelnde Interesse in konservativen Kreisen sowie das fehlgeschlagene Bemühen um andere Leserschichten, weil die Zeitschrift ihren Ruf als „Organ der Junker" nicht ablegen konnte. 416 Während im zweiten Quartal 1855 noch 750 Exemplare gedruckt wurden, von denen ein Teil als Werbeexemplare abgeschickt wurden, zählt Hahn für die Jahre 1862/63 eine Auflage von durchschnittlich 350 Stück. Die Autoren mussten wegen der finanziellen Engpässe häufig auf ihre Honorare warten, die ebenfalls oft nur aus Zuwendungen Hertefelds beglichen werden konnten. 417 Weil er als leitender redaktioneller Mitarbeiter über die finanziellen Verhältnisse informiert war, verzichtete Lavergne unter dem Vorwand, so seine Unabhängigkeit und seinen Einfluss gegenüber der Redaktion wahren zu wollen, auf eine

411

Lavergne, Grundsteuerfrage; Kreditfrage; Preußens Finanzlage; Agrar-Verfassung; Häuser; Kredit; Staatshaushalt. 412 Lavergne, Gegensatz; Doctrin und Landbau; Doctrin und Gewerbe; Doctrin und Bevölkerung; Doctrin und Verwaltung; Doctrin und Geldwirthschaft; Doctrin und Freiheit; Macht; Liberalismus und Plutokratie. 413 Lavergne, Moderne Gesellschaft; Gesellschaftsgesetze; Innere Gliederung. 414 Lavergne, Programm, S. 497. 415 416 417

S. Obenaus, S. 47. Hahn, S. 243. Hahn, S. 38.

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Bezahlung. 418 Trotz der geringen Leserzahl hatte die „Revue" mit König Friedrich Wilhelm IV. einen Abonnenten gewonnen, der einerseits zum Renommee des Blattes beitrug, andererseits durch diesen Ausdruck der Wertschätzung für die Träger sozialkonservativer Ideen einen gewissen Schutz gegen den starken Druck der Zensur in der Reaktionszeit darstellte 419 Auch der Regierungschef Manteuffel und der Kriegsminister gehörten zunächst zum Abonnentenkreis; sie bestellten das Blatt wegen der Differenzen über die Gebäude- und die Salzsteuer allerdings im Mai 1857 ab. 420 Die „Berliner Revue" hielt sich in den 60er Jahren dank finanzieller Zuwendungen aus den privaten Mitteln Hermann Wageners - er hatte die Zeitschrift 1863 ganz in seinen Besitz und unter seinen Ein-fluss gebracht - und durch die engen Verbindungen zwischen Wagener und Bismarck. 421 Die Gründung der „Berliner Revue" war, wie schon angedeutet, auch ein Resultat der Differenzen innerhalb des konservativen Lagers um die unterschiedlichen Auffassungen über Sozialpolitik. Der Gerlach-Flügel war sozialpolitisch zurückhaltend, innenpolitisch passiv und argumentierte aus einem streng religiös fundierten Weltbild. 4 2 2 Weil die „Revue" dieser Haltung gegensteuern wollte, wurde sie zu einem Sammelbecken sozialpolitisch interessierter und engagierter Konservativer, zu denen von Anfang an der in den konservativen Kreisen Preußens sehr beliebte Literat George Hesekiel gehörte. Hesekiel war wie Wagener Pfarrerssohn und als Bearbeiter des französischen Teils ebenfalls Mitarbeiter der „Kreuzzeitung" 423 Hesekiel schrieb „soziale Romane" für die Wochenschrift, in denen das in der „Revue" behandelte Themenspektrum mit dem ganzen Instrumentarium des romantischen Schauerromans belletristisch bearbeitet wurde. Hesekiel als Pionier des konservativen politischen Tendenzromans und literarischer Liebling der preußischen Rechten 424 lieferte für die ersten beiden Bände das Revolutionsepos „Von Turgot bis Babeuf, das die französischen Revolutionäre als charakterschwache machthungrige Opportunisten zu diffamieren versuchte. Das literarische Vorbild Walter Scott schien besonders bei den Mittelalterromanen „Der Stadtjunker" und „Die Zunftgenos-

4l

*Hahn,

419

S. 38.

Hahn, S. 37, zitiert ein entsprechendes Schreiben des Redakteurs Graf Pinto an Hertefeld, nachdem des Königs Vorleser und Mitarbeiter der „Revue", Hofrat Louis Schneider, das Abonnement vermittelt hatte; zu Schneider vgl. Fontane, S. 491 ff.; zur Zensur Schulze, Preußen, S. 312. 420

421

Hahn, S. 47.

S. Obenaus, Zeitschriften, S. 47 ff. Jordan, Entstehung, S. 136. 423 Der 1819 geborene Predigersohn aus Halle war Mitglied des Literatenzirkels „Tunnel über der Spree", vgl. Fontane, S. 395, S. 509 ff., und „redigierte von Herbst 1848 oder 1849 an bis zu seinem Tode den französischen Artikel" der „Kreuzzeitung" (S. 510). 422

424

Hahn, S. 37.

308

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sen" durch. Während der erste eine in Ulm angesiedelte Geschichte um Rudolph von Habsburg und dessen Sohn Albrecht erzählte, schilderte der zweite den Aufstieg der Fugger in Augsburg. Insgesamt schrieb Hesekiel bis 1858 sechs Romane von mindestens 120 Seiten für die „Revue". 425 Neben den Romanen lieferte Hesekiel „Wappensagen" in Gedichtform über die Wappen namhafter deutscher Adelsgeschlechter an die „Revue". Dass Hesekiel gleichzeitig Mitarbeiter der „Kreuzzeitung" und der „Revue" sein konnte, lässt sich zum einen aus Hesekiels distanzierter Haltung gegenüber dem Pietismus und einem gewissen Interesse für die sozialen Fragen seiner Gegenwart erklären. 426 Andererseits gab es in der journalistischen Landschaft der Reaktionszeit kein anderes Presseorgan, in dem er seine im Sinne der Epoche „reaktionären" Romane hätte veröffentlichen können. 427 Nach dem Rücktritt Graf Pintos als Chefredakteur übernahm Hesekiel im Herbst 1856 kommissarisch die Chefredaktion der „Berliner Revue", die er dann am 1. April 1857 dem neuen Chefredakteur Hermann Keipp übergab. 428 Der Redakteur der Elberfelder Zeitung kam auf Vermittlung von Kleist-Retzow, der jetzt Präsident der Rheinprovinz war 429 , nach Berlin. Keipp vertrat 1858 den Standpunkt, die neue Regierung vertrete die Positionen der „Revue" besser als das Ministerium Manteuffel. 430 Innerhalb des redaktionellen Programms der „Revue" setzte der literarische Schwerpunkt, der von Rezensionen belletristischer und literaturwissenschaftlicher Neuerscheinungen komplettiert wurde, ein Zeichen für den Anspruch der hier vereinten Konservativen auf eine Stimme im bisher liberal dominierten kulturellen Diskurs. 431 Die reine Negation liberaler Prinzipien sei für den Sieg des Konservatismus längst nicht mehr ausreichend: „Nicht von KammerMajoritäten durften nachhaltige, fruchtbringende Erfolge verhofft werden. M i t den Waffen des Geistes, auf dem Gebiete der Wissenschaft mußte der Feind geschlagen werden, nicht allein dadurch, daß dessen Unproductivität, dessen Lebensunfähigkeit dargethan wurde, sondern zugleich dadurch, daß demselben die aufbauende, die schaffende Kraft der conservativen Politik entgegengestellt,

425 426

427 428

429 430

431

Auf das Vorbild Walter Scott verweist Fontane, S. 516 f. Hahn, S. 37; Neuendorff.\

S. 38,47.

Allgemein zur Geschichte der Presse in Preußen, S. Obenaus ; Overesch', Wuttke. S. Obenaus, S.51.

Andrae-Roman, Junker, S. 341. S. Obenaus, S. 84.

„Und kann man der Thatsache Anerkennung und Berücksichtigung versagen, daß unser ganzes Culturleben, die Wissenschaft wie die Erziehung seit mehreren Generationen darauf berechnet waren, den Liberalismus groß zu ziehen und zur ausschließlichen Herrschaft zu bringen?" Lavergne, Sprachverwirrung, S. 125 f.

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daß diese aus der negirenden in die positive Stellung hinübergeführt wurde." 4 3 2 Deutlich artikulierte man damit vor allem die Opposition gegen die „literarische Clique" des Jungen Deutschland. Dessen bekanntesten Vertretern Arnold Rüge, Robert Prutz, Theodor Mündt und Karl Gutzkow wurde der Vorwurf der gegenseitigen Förderung durch Kameraderie gemacht: Als gegenseitige „Claque" hätten sie ihren Ruhm nur durch positive Rezensionen füreinander in den einschlägigen Zeitschriften erworben. 433 M i t den Besprechungen anderer wissenschaftlicher Neuerscheinungen, etwa auf dem Gebiet der Geographie, der Nationalökonomie oder der Sprachwissenschaft wollte die Redaktion der „Revue" die von Presse, Wissenschaft und Belletristik geförderte liberale Vorherrschaft in den kulturellen Kernbereichen brechen und eigene Positionen besetzen. Lavergne forderte in einem seiner ersten Aufsätze eine so deutliche Abgrenzung und Parteinahme, dass niemand mehr den Begriff Liberalismus automatisch mit dem des Fortschritts identifizieren würde. 434 Von Band zehn an wurde der Einfluss des Irvingianers Wagener im redaktionellen Programm durch den stärkeren Impetus auf konfessionsübergreifende religiöse Themen deutlich. Wagener war seit 1848 Anhänger der Irvingianer und dort am Ende Diakon. 435 Ein fester Bestandteil der Zeitschrift war die Presseschau, die sich kritisch vornehmlich mit den Konkurrenzerzeugnissen liberaler Provenienz auseinander setzte. Im ersten Band ging es zum Beispiel um die Zeitschrift „Die Grenzboten", die als „Organ der Malcontenten" und der „Gothaer" diffamiert wurden. Das Haupterkennungsmerkmal der Artikel dieses Periodikums sei die Unzufriedenheit, und, so heißt es bösartig, „selbst der hoffnungsgrüne Umschlag ist etwas grau angelaufen und gemahnt an eine Frisur à la malcontent" 436 . 432

Lavergne, Leser, S. 673. Anonym: Clique, S. 640-645. 434 „Der Fortschritt ward Gegenstand des Cultus, du diesem Idol wurde mit dem Veralteten auch das noch Brauchbare, oder doch nur der Reform Bedürftige, geopfert." Lavergne, Doctrin und Verwaltung, S. 421. 35 Kraus, Wagener, S. 175, spricht von der „geradezu kämpferischen Religiosität" Wageners; Schoeps, Wagener, S. 198: „Die Weltanschauung dieser seltsamen Gruppe, die das urchristliche Apostolat wiederherstellen wollte, war dualistisch-pessimistisch und einem schroffen Chiliasmus verschrieben." 436 Presseschau, S. 134 f.; im Erfurter Unionsparlament von 1850 waren die Gothaer die ehemaligen Abgeordneten der rechtsliberalen Zentren der Paulskirche. Sie hatten sich Ende 1849 in Gotha zusammengefunden, um den Radowitzschen Unionsplan zu unterstützen. In beiden Kammern des Unionsparlaments hatten sie die Mehrheit, Hachtmann, S. 286; Lavergne, Programm, S. 121, zur „Gothaischen" Außenpolitik: „Sollte die ländliche Bevölkerung sich auch fernerhin durch den Bourgeoisie-Liberalismus verleiten lassen, dem plutokratischen Regiment neue Concessionen zu machen, während dessen Druck sich bereits unerträglich erweiset? Oder hat endlich die Gothaische äußere Politik sich eines steigenden Anhanges zu erfreuen?" 433

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3. Das Ziel: die konservative Erneuerung Die Voraussetzungen für die Wirksamkeit konservativer Überzeugungsarbeit hielt Lavergne in Preußen für besonders günstig, denn nur hier sei es „gelungen, ein Verfassungsleben in sich auszubilden, ohne in die Consequenzen des Constitutionalismus zu gerathen". 437 Das Schlimmste war in Preußen also gerade noch verhindert worden, mit Hilfe der Gesellschaftswissenschaft könne es jetzt gelingen, auf dem schmalen Pfad der konservativen Erneuerung sicher vorwärts zu gelangen.438 Obwohl er ein konservatives Parteiprogramm mitformuliert hatte, war für Lavergne die Parteipolitik nicht das Optimum und letztlich auch nicht Ausdruck wahrer konservativer Gesinnung. Richtig vermittelter und richtig verstandener Konservatismus würde, so glaubte er immer noch, Parteigrenzen aufheben und politische Parteien mit Hilfe der Erkenntnisse der Gesellschaftswissenschaft letztlich obsolet machen. Für die Gegenwart forderte er seine Gesinnungsgenossen zur sachlichen Argumentation ohne Rancune gegenüber den Liberalen auf. Nur so könnten sie Mehrheiten über Parteigrenzen hinweg schaffen und Extreme isolieren: „Wir hoffen es noch zu erleben, daß im Hause der Abgeordneten aus der Partei der Rechten sich ein Kern unbefangener Männer ausscheiden werde, der sich bestrebt, den Grundgesetzen der conservativen Politik praktische Geltung zu schaffen, ohne Rücksicht darauf, von welcher Seite die Anregung ausgehe, wo die Unterstützung gesichert ist. Dadurch würde ein wesentlicher Schritt zur Lösung der Sprachverwirrung geschehen sein/ 4 4 3 9 Diese vermittelnde Attitüde ist allerdings lediglich taktisch zu verstehen und nicht typisch für die Haltung der „Revue" gegenüber dem Liberalismus. Und bei genauerem Hinsehen spielte Lavergne in seinem Aufsatz über die „Sprachverwirrung" ja ebenfalls mit der Sprache, indem er die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Konservativen und Liberalen als Missverständnisse interpretiert sehen wollte. Er vermittelte damit den Eindruck, als sei ein Konsens einfach dadurch herbeizuführen, dass die Liberalen die Vorstellungen der anderen Seite nicht mehr willentlich falsch darstellten. Bei allem demonstrativen Werben um parteienübergreifendes Streben für Preußens Wohlfahrt polemisierte Lavergne seinerseits gegen jeden, der in Parlament oder Publizistik Begriffe wie Gewerbefreiheit, Konstitutionalismus und freie Verfügbarkeit des Grundeigentums in den Mund nahm oder zu Papier

437

Lavergne, Sprachverwirrung, S. 126; Lavergne, Häuser, S. 458, bezeichnet den Konstitutionalismus als „eine unmögliche Staatsform". 438 Lavergne, Macht, S. 740. 439 Lavergne, Sprachverwirrung, S. 126.

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brachte. 440 In seinen ersten Artikeln für die „Revue" stellte er klar heraus, dass sie ausnahmslos alle liberalen Positionen im Visier hatte. Lavergnes im Vormärz aufgenommener Kampf gegen die „Doctrin" ging ab 1855 mit verschärften Attacken und Formulierungen weiter. 441 Zum „intellectuellen Mitgründer" der Wochenzeitung war Lavergne aus der „Gewissenspflicht" heraus geworden, sich einem „Unternehmen nicht zu entziehen, welches dazu bestimmt war, die wissenschaftlichen Grundlagen der conservativen Politik festzustellen und zur Geltung zu bringen, dadurch die Macht des Liberalismus dauernd zu vernichten". 442 Das war nach nunmehr 20 Jahren Auseinandersetzung mit dem Liberalismus eine verlockende und für Lavergne endlich auch aussichtsreiche Perspektive. Mit seinen nationalökonomischen, politisch-programmatischen und kommunalpolitischen Aufsätzen versuchte der Wirsitzer Landrat die politische Rechte diesem Ziel näher zu bringen. Den Anstoß für Lavergnes Beteiligung an der Gründung der ,3erliner Revue" gab also die mangelnde programmatische Basis des Konservatismus, die seine Vertreter bisher daran gehindert hatte, die Möglichkeiten ihrer parlamentarischen Mehrheit auch machtpolitisch zu nutzen: „In dem Maaße wie die Ohnmacht der Linken auf dem Landtage und in der Preße sich merklich machte, war auch die Schwäche der Rechten augenfällig hervorgetreten. Es fehlte der Letzteren an dem Bewußtsein ihrer Aufgabe, an dem Verständniß des Zieles dem sie nachzustreben habe." 443 Deshalb sollte die „Revue" „wahrhaft conservative Grundsätze und Interessen" fördern. Das zentrale politische Ziel der Arbeit Lavergnes in der Redaktion der „Revue" war die Vereinigung der Konservativen unter einem politischen Programm zur Rettung der Gesellschaft durch die Brechung der Macht des Liberalismus. 444 Damit prägte er gemeinsam mit dem Herausgeber v. Hertefeld die spätere Stoßrichtung der Zeitschrift: Sie wollten die Zusammenfassung der vereinzelten sozialpolitischen Bestrebungen und deren Verwirklichung mit Hilfe des Staates, die Verbreitung konservativer Gesinnung sowie den Kampf gegen die „Prinzipien der Revolution" und gegen den Liberalismus. Mit dem Vorsatz, das „allgemeine gleiche Staatsbürgertum", die freie Ausübung gleicher persönlicher Rechte und das „unbeschränkte freie, einherrige 440 Z. B. gegen Peter Reichensperger in: Agrar-Verfassung; gegen Leopold Besser in einer Rezension seines Buches Die Naturgeschichte der Arbeit, sowie gegen die Wochenblattpartei in: Programm. 1 Lavergne, Gegensatz; Doctrin und Landbau; Doctrin und Gewerbe; Doctrin und Bevölkerung; Doctrin und Verwaltung; Doctrin und Geldwirthschaft; Doctrin und Freiheit; Macht. 442 GStaPK, L Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, 3. Juni 1858, Bl. 21. 443 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, 3. Juni 1858, Bl. 21. 444 Lavergne, Macht, S. 740.

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Grundeigentum" zu bekämpfen 445, beackerte die „Berliner Revue" verfassungsund rechtspolitisch in wesentlichen Punkten denselben Boden wie die „Kreuzzeitung". Die unterschiedlichen Auffassungen über die Notwendigkeit staatlicher Sozialpolitik sowie die wenig kirchlich-religiöse Orientierung der „Revue"-Gründer markierten jedoch unüberbrückbare Gegensätze zwischen beiden Gruppen. 446 Obgleich sich Lavergne wiederholt auf die „Lehren des Christentums" berief, bedeutete deren Identifikation mit den ewigen Gesellschaftsgesetzen für die Altkonservativen eine unzulässige Verweltlichung des Christentums. 447 Eine weitere öffentliche Funktion der ,3erliner Revue" bestand für Lavergne darin, dass sie als Organ der Landtagsfraktion „den Fortschritt im altpreußischen Geiste anstrebt, ohne Junkerei, ohne Pietisterei". 448 Unter diesen Prämissen fand das Projekt die Unterstützung des Innenministeriums, des Ministerpräsidenten und sogar die ermutigende Zustimmung des Königs. 449 Allerdings fühlten sich die bei der „Revue" versammelten Kämpfer für die gerechte konservative Sache von der Regierung schon bald allein gelassen. Die erhoffte „Purifikation" 450 der Verfassung ließ sich bei der auf Stabilität der Verhältnisse hin arbeitenden Regierung Manteuffel nicht durchsetzen 451; besonders das Fortbestehen des Tit. II, Art. 12, ALR, über die allgemeine Religionsfreiheit deutete Lavergne als Indiz für das Abgleiten der Regierung auf die liberale Linie. Auch die Haltung der Regierung in der Frage der Errichtung ständischer Hypothekenbanken, der Einführung einer Gebäudesteuer sowie bei der Gesetzes vorläge zur Erhöhung der Rübenzuckersteuer waren in den Augen Lavergnes die Beweise für den Bruch mit den wahren konservativen Prinzipien, zumal sie in eine Periode der konservativen Übermacht im Landtag fielen. 452

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Hertefeld, Vorwort des Herausgebers, S. 1-5. Hahn, S. 26, zur Religiosität Lavergnes: „Sein Christentum war ein Humanitätsideal, das dem Sündengefuhl der pietistischen Konservativen straks entgegengesetzt ist." 447 Lavergne, Macht, S. 740. 448 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, 3. Juni 1858, Bl. 21; nach Lavergne, Programm S. 493, ist es Aufgabe der BR, „den Bestrebungen der conservativen Partei Ausdruck zu verleihen, dieselben auf wissenschaftliche Grundlagen zurückzufuhren". 449 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, 3. Juni 1858, Bl. 22. 450 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, 3. Juni 1858, Bl. 22; Wagener, Erlebtes, S. 61 schrieb von der „Purificirung" der Verfassung. 451 „Manteuffel ging es um die Domestizierung einer durch Industrialisierung und revolutionäre Ideen in Bewegung geratenen Gesellschaft, doch er war sich darüber im klaren, daß die Revolution von 1848 nicht ungeschehen zu machen war." Schulze, Preußen, S. 311. 452 GStaPK, I. Ha, Rep. 77, Tit. 864, Nr. 29, 3. Juni 1858, Bl. 22 f. 446

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4. Das Ende: politische Entfremdung Die Enttäuschung und Entmutigung in der Redaktion der „Revue" ging nach den Worten Lavergnes schließlich so weit, dass die konservative Sache für verloren gehalten und das Blatt 1858 nur noch als „literarisches Unternehmen" betrachtet wurde. 453 Die geringe Auflagenhöhe, von Lavergne verschwiegen, mag ein übriges zu dieser schlechten Stimmung beigetragen haben: Während die „Kreuzzeitung" 1858 rund 6.700 Exemplare verkaufte, lag die „Revue" noch immer bei 550 Stück. 454 Als Konsequenz aus der politischen Entwicklung werde sich die „große Mehrzahl" seiner politischen Freunde aus der Politik zurückziehen, kündigte der Landrat an. Er selbst tat dies: Nach dem Austritt aus der Redaktion im Jahr 1857455 beendete er im Jahr darauf die Mitarbeit bei der „Revue" und verabschiedete sich aus der aktiven Politik. Der Eigentümer der „Revue", Baron Hertefeld, übergab die Geschäfte an Chefredakteur Hermann Keipp und stellte seine Zahlungen für das Blatt ein. Für Lavergne kam danach zunächst Constantin Frantz als ständiger Mitarbeiter. Dies war die Situation der Zeitschrift, wie sie Lavergne 1858 in einem Antwortschreiben an das Innenministerium skizzierte. Das Ministerium hatte sich wegen des von der Regierung kritisierten inhaltlichen Wandel der „Berliner Revue" an den Wirsitzer Landrat gewandt. 456 Dort beschwerte man sich: „Manche an und für sich wichtige Grundsätze u. Auffassungen werden theils mit der schroffsten Einseitigkeit, theils mit Nichtachtung der maßgebenden Umstände zu Erörterungen benutzt, welche wegen ihres Resultats u. durchgehenden Tons nur einen Eindruck hervorbringen können, der von jedem conservativen Standpunkt im höchsten Grade bedenklich erscheinen möchte, wenn dem Blatt eine größere Verbreitung zur Seite stünde, welcher aber auch deshalb nicht gleichgültig ist, weil viele Wohlgesinnte zumal in den Provinzen über die gegenwärtige Leitung der „Revue" u. mithin über die ihren Kundgebungen thatsächlich beizumessende Bedeutung nicht aufgeklärt sind.