Versuch Und Natur: Philosophische Studien zu einer Schlüsselkonstellation bei Heidegger, Nietzsche und Heraklit 3828844200, 9783828844209

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Versuch Und Natur: Philosophische Studien zu einer Schlüsselkonstellation bei Heidegger, Nietzsche und Heraklit
 3828844200, 9783828844209

Table of contents :
Einleitung und Problemaufriss
1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik und der Status der Gerechtigkeit in den Nietzsche-Vorlesungen
1.1. Exposition der Textauswahl und der Kernthesen
1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik
1.3. δίκη als ‚wesenmäßige Fügung alles Seienden‘ in Heideggers Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst  (1936/37)
1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung: Heideggers Erörterung der Heraklit-Fragmente 16 und 123
1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches
2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander  (1946)
2.1. Heideggers Reflexionen zur Übersetzbarkeit des Spruches
2.2. Die ‚Eschatologie des Seins‘ als Leitmotiv in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander (1946)
2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation des Spruches und die vorläufige Charakterisierung der ἀδικία (‚Un-fuge‘) als Existenzmodus des Seienden
2.4. Die ambivalente Verbindung zwischen der ‚Sucht des Beharrens‘ und der wechselseitigen Rücksichtnahme innerhalb des Anwesenden im Ganzen
2.5. Exkurs I : Der Unfug als „Bestehen auf der Umrissenheit gegen die Umrißlosigkeit“ in Heideggers Anaximander-Interpretation von 1932 (GA 35) und der Nexus von φύσις und Zeit
2.6. Die Bedeutung der τίσις im Anaximander-Aufsatz  von 1946
2.7. τὸ χρεών als „das frühe Wort des Seins“ und die Zugehörigkeit des Fuges zum ‚Wesen des Anwesens‘
2.8. Exkurs II : Das ἄπειρον als „Verwehrung der Grenze“ und der Verfügungscharakter der ἀρχή in Heideggers Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 (GA 51)
2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz τὸ χρεών
3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
3.1. Anaximanders metaphysische Ausgangsproblematik und Heraklits Aufhellung der Dialektik von Einem und Vielem
3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit
3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens
4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten
4.1. Einführung und Leitthesen
4.2. Der λόγος und die Natur der Gegensätze
4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer
4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung
4.5. Die Gerechtigkeit und das menschliche Gesetz (Δίκη und νόμος)
5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels
5.1. Einleitende Bemerkungen
5.2. Die Disziplinierung des Handlungsantriebs und der Determinismus der Allnatur
5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen
5.4. Der ewige Zyklus und die menschliche Vergänglichkeit: Marc Aurels Philosophie der Erhabenheit
5.5. Zur Gesamtbeurteilung der Weltsicht Marc Aurels: Pessimismus oder Liebe zum Schicksal?
6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges
Literaturverzeichnis

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Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag Reihe Philosophie

Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag Reihe Philosophie Band 37

Jan Kerkmann

Δίκη und Φύσις Philosophische Studien zu einer Schlüsselkonstellation bei Heidegger, Nietzsche und Heraklit Mit einem Ausblick auf Marc Aurel

Tectum Verlag

Jan Kerkmann Δίκη und Φύσις. Philosophische Studien zu einer Schlüsselkonstellation bei Heidegger, Nietzsche und Heraklit. Mit einem Ausblick auf Marc Aurel Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe: Philosophie; Bd. 37 © Tectum Verlag – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019 ePDF 978-3-8288-7425-1 (Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4420-9 im Tectum Verlag erschienen.) ISSN 1861-6844 Umschlaggestaltung: Tectum Verlag Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis Einleitung und Problemaufriss .............................................................................. 1 1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik und der Status der Gerechtigkeit in den Nietzsche-Vorlesungen ........................................................ 15 1.1. Exposition der Textauswahl und der Kernthesen ..................................................... 15 1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik ...... 17 1.3. δίκη als ‚wesenmäßige Fügung alles Seienden‘ in Heideggers Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) ............................................................................ 31 1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung: Heideggers Erörterung der Heraklit-Fragmente 16 und 123 ...................................................................... 33 1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches .......................... 52 2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946) .................................................................................... 71 2.1. Heideggers Reflexionen zur Übersetzbarkeit des Spruches ........................................... 71 2.2. Die ‚Eschatologie des Seins‘ als Leitmotiv in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander (1946) ................................................................................................. 77 2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation des Spruches und die vorläufige Charakterisierung der α᾿δικία (‚Un-fuge‘) als Existenzmodus des Seienden .......................... 83 2.4. Die ambivalente Verbindung zwischen der ‚Sucht des Beharrens‘ und der wechselseitigen Rücksichtnahme innerhalb des Anwesenden im Ganzen ............................................. 94 2.5. Exkurs I : Der Unfug als „Bestehen auf der Umrissenheit gegen die Umrißlosigkeit“ in Heideggers Anaximander-Interpretation von 1932 (GA 35) und der Nexus von φύσις und Zeit .................. 99 2.6. Die Bedeutung der τίσις im Anaximander-Aufsatz von 1946 ......................................... 129 2.7. το` χρεω´ ν als „das frühe Wort des Seins“ und die Zugehörigkeit des Fuges zum ‚Wesen des Anwesens‘ ............................................................................................. 132 2.8. Exkurs II : Das α῎πειρον als „Verwehrung der Grenze“ und der Verfügungscharakter der α᾿ρχή in Heideggers Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 (GA 51) .............................................. 137 2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigendeinräumende Instanz το` χρεω´ ν ....................................................................... 157 V

Inhaltsverzeichnis

3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ................................................................................................... 167 3.1. Anaximanders metaphysische Ausgangsproblematik und Heraklits Aufhellung der Dialektik von Einem und Vielem ..................................................................................... 167 3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit ....................................... 179 3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens ......................................... 186 4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten .. 201 4.1. Einführung und Leitthesen ............................................................................ 201 4.2. Der λόγος und die Natur der Gegensätze .............................................................. 204 4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer ......................... 207 4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung ........... 215 4.5. Die Gerechtigkeit und das menschliche Gesetz (Δίκη und νόμος) .................................... 222 5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels ...................................................................................................... 225 5.1. Einleitende Bemerkungen ............................................................................ 225 5.2. Die Disziplinierung des Handlungsantriebs und der Determinismus der Allnatur .................... 226 5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen ............................................................. 233 5.4. Der ewige Zyklus und die menschliche Vergänglichkeit: Marc Aurels Philosophie der Erhabenheit ........................................................................................... 241 5.5. Zur Gesamtbeurteilung der Weltsicht Marc Aurels: Pessimismus oder Liebe zum Schicksal? ......... 247 6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges ............................................. 257 Literaturverzeichnis .......................................................................................... 299

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Einleitung und Problemaufriss Die vorliegende Studie widmet sich dem Verhältnis zwischen den Kernbegriffen der Δίκη und der Φύσις innerhalb der antiken Philosophie und thematisiert ihre fortwirkende Strahlkraft in der Epoche des postidealistischen Denkens. Es ist eine maßgebliche Intention der Arbeit, die philosophische Ursprungsbedeutung und Verständnisweise der Δίκη zu erhellen. Daher wird die mythologisch-kulturgeschichtliche, vorontologische Beleuchtung der Δίκη als Personifikation der Gerechtigkeit, die als Tochter des Zeus und der Themis eine der Horen ist, weitgehend ausgespart.1 Gleiches gilt für die frühen dichterischen Schilderungen der Δίκη bei Homer und Hesiod. Inwieweit die Δίκη als griechische Nachfolgefigur des im altägyptischen Kulturkreis beheimateten Ma'at-Prinzips rekonstruiert werden kann, fällt ebenfalls nicht in den direkten Themenfokus dieser Untersuchung.2 Auch die nachmetaphysischen Konnotationen eines primär ethisch3 orientierten Gerechtigkeitsdenkens mitsamt den sozialen, politisch-prozeduralen, kontraktualistischen4, ökonomischen und distributiven Komponenten sollen ausgeklammert werden, um die Stringenz der folgenden Darlegungen zu befördern. Entsprechend ist hinsichtlich der semantisch-historischen Ergründung des ontologischen Begriffsprofils der φύσις bei Heraklit, Marc Aurel und Heidegger zu akzentuieren, dass die modernen Monita und Debatten hinsichtlich eines naturalistischen Fehlschlusses vom Sein auf das Sollen nicht berücksichtigt werden können. Stattdessen sollen die folgenden Überlegungen einen Einblick in die variantenreichen Pfade der Rezeption Anaximanders und Heraklits bieten. Es soll gezeigt werden, dass Heraklit einen innigen Verbund zwischen der Selbstoffenbarungsweise der φύσις und jener bindenden Gesetzmäßigkeit der Gegensätze inauguriert, die er aus dem Wesensbezirk der kosmischen Δίκη5 erschließt. Heraklits Verknüpfung von Natur und Gerechtigkeit, von Φύσις und Δίκη, konstituiert sich als vormoralische Notwen1 Vgl. hierzu den Eintrag zu den Horen aus dem Lexikon der antiken Mythen und Gestalten: „Horen, Horai, Töchter des Zeus und der Themis. Der Name bedeutet nicht ‚Stunden des Tages‘, sondern ‚Jahreszeiten‘. Die Zahl der Horen oder Jahreszeiten variierte zwischen zwei und vier, betrug gewöhnlich aber drei: Frühling, Sommer und Winter. In Athen unterschied man zwei oder drei: Thallo (Frühling), Karpo (Herbst) und Auxo (Wachstum, d. h. Sommer). In den Werken des griechischen Dichters Hesiod tragen sie ethische Bezeichnungen: Eunomia (Gesetz und Ordnung), Dike (Gerechtigkeit) und Eirene (Friede). Sie waren Himmelswächter; wenn die Götter in ihren Wagen ausfuhren, rollten sie die Wolken vom Olymp-Tor beiseite.“ Vgl. Michael Grant/John Hazel, Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, 2. Aufl., München 1983, S. 211. 2 Vgl. Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, 2. Aufl., München 2006. 3 Vgl. Otfried Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, 5. Aufl., München 2015; Felix Heidenreich, Theorien der Gerechtigkeit. Eine Einführung, Stuttgart 2011. 4 Vgl. hierzu hauptsächlich: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 20. Aufl., Frankfurt a. M. 2017. 5 In der vorliegenden Arbeit wird die Großschreibung „Δίκη“ gewählt, wenn der Bedeutungskreis der kosmischen Gerechtigkeit (bei Heraklit und Nietzsche) und die Wesensnähe zu einem immanenten Koordinationsprinzip des Werdens oder zu einer göttlichen Kraft angezeigt werden soll. Hingegen

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digkeitsordnung, die den Chorismos divergierender Welten ebenso abweist wie die teleologisch-werthafte Strukturierung der Dinge und die planende Schöpfungsinstanz eines personalen Gottes. Die von Heraklit gedachte Einheit zwischen der als Derivationszusammenhang des göttlichen Gesetzes exponierten Notwendigkeit alles Geschehenden auf der einen Seite und der menschlichen Einsicht in den widerwendigen λόγος auf der anderen Seite fungiert als Distinktionskriterium, um die Verhältnisauslotung der Gerechtigkeit und der φύσις bei Marc Aurel, Nietzsche und Heidegger situieren und die einzelnen Konzeptionen voneinander abgrenzen zu können. Da Heraklits gelungene Synthesebildung beider Motive als Referenzrahmen und als Korrektiv verwendet wird, versetzt sich die vorliegende Studie in die Lage, innerhalb der diversen Sektionen nicht permanent auf Heraklits Philosophie rekurrieren zu müssen. Unter diesem Interpretationshorizont wird es möglich, die spezifischen Hierarchiegewichtungen von Δίκη und Φύσις anhand ausgewählter Schriften und Textpassagen Marc Aurels, Nietzsches und Heideggers herauszuarbeiten und potenzielle Verwandtschaftsbezüge zwischen ihnen aufzuspüren. Aus diesem Grunde wird in der Kapitelgliederung eine anachronistische Darstellungsmethode favorisiert, die sich zunächst auf die Entwicklung, Adaption und Ausgestaltung des heraklitischen Entwurfes einer kosmischen, immanenten oder metaphysischen Gerechtigkeit in der Moderne konzentriert. Im ersten Kapitel (1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik und der Status der Gerechtigkeit in den Nietzsche-Vorlesungen) der Arbeit soll ermittelt und aufgeklärt werden, weswegen Heidegger den anhand der Fragmente 16 und 123 profilierten Gedanken der φύσις zum Proprium der heraklitischen Theorieformation gradiert, wohingegen er den Topos der Gerechtigkeit in seiner Exploration des Fragmentcorpus weitgehend unberücksichtigt lässt. Um die Motivation für Heideggers Zurückbeorderung der Δίκη stichhaltig erhellen zu können, soll der Auseinandersetzungskomplex mit Nietzsche hinzugezogen werden. In diesem Kontext richtet sich der Fokus besonders auf die nicht gehaltene Vorlesung Nietzsches Metaphysik aus dem Wintersemester 1941/42.6 In dieser Vorlesung fügt Heidegger die Gerechtigkeit zum einen in das Quintett der Grundworte von Nietzsches Metaphysik ein, in welchem neben ihr der Wille zur Macht, die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Übermensch und der Nihilismus integriert sind.7 Zum anderen nominiert Heidegger die als Endgestalt des Wahrheitswesens begriffene Gerechtigkeit auch als Freigabeinstanz und Wahrheit desjenigen Seienden, dessen Grundcharakter sich als Wille zur Macht enthüllt.8 Im Rückgang auf den Textgehalt der Vorlesung ist zu demonstrieren, warum und wie Heidegger die innerhalb der letzten metaphysischen wird die Kleinschreibung „δίκη“ bevorzugt, insofern der Begriff der Gerechtigkeit in der Semantik des ‚Fuges‘ (paradigmatisch in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander) oder als altgriechischer Name des Rechts verwendet wird. In den Zitaten wird stets die vom jeweiligen Autor befolgte Schreibweise beibehalten. 6 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, hrsg. von Petra Jaeger, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2007. 7 Vgl. ebd., S. 3–9. 8 Vgl. ebd., S. 78.

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Grundstellung zur Ermöglichungsbedingung des willensbestimmten Seienden erhobene Gerechtigkeit trotz dieser Priorisierung in die Botmäßigkeit und Sekundärposition gegenüber dem Willen zur Macht zurückdreht. Auf dieser Basis soll die These vorbereitet werden, dass sich in dieser Depotenzierung der Gerechtigkeit gegenüber dem als Sein des Seienden firmierenden Willen zur Macht eine paradigmatische Argumentationsstrategie Heideggers bekundet, deren Kontinuität sich anhand seiner Anaximander- und Heraklit-Rezeption bewahrheiten lässt. Entsprechend ist zu validieren, dass sich die Geltungseinschränkung der Gerechtigkeit in Heideggers Nietzsche-Vorlesung von 1941/42 mit jener Subordination der δίκη unter das Sein parallelisieren lässt, die sich besonders in Heideggers Auseinandersetzung mit dem Spruch des Anaximander manifestiert. Folglich wird im zweiten Kapitel die Nivellierung der als „Fug“9 übersetzten δίκη in Heideggers Holzwege-Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946) in den Blickpunkt rücken.10 Zuvor soll im ersten Kapitel veranschaulicht werden, dass ein weiterer Faktor für Heideggers generelle Relevanzreduktion der δίκη gegenüber dem Sein in der spezifischen Ausdeutung der φύσις verortet werden kann. Wie im Rekurs auf die HeraklitVorlesung aus dem Sommersemester 194311 exemplifiziert werden soll, versteht Heidegger die φύσις nicht allein als reines Aufgehen oder als Veranlassungsinstanz natürlicher Prozesse. Stattdessen attribuiert er ihr eine unaufhebbare Verbergungsdimension und schreibt ihr einen dunklen Grund ein. Deswegen muss Heidegger – so die leitende These – die Konzeption einer sich innerhalb des Werdens rückhaltlos abzeichnenden, waltenden Gerechtigkeit suspekt erscheinen, welche als autarke Fügungsgesetzmäßigkeit alles Seiende in der Helle seines Erscheinens durchdringt. Es soll die Auffassung bewährt werden, dass sich Heideggers indirekte Dezentralisierungsintention gegenüber der δίκη vor allem aus der Antizipation einer Konsequenz speist, welche die geschichtliche Präeminenz des Seins gefährden und in Frage stellen könnte. Wenn sich der Sinn der δίκη vollkommen in der balancierten Koordination des Rhythmus der Gegensätze erfüllen und sie dennoch den höchsten ontologischen Rang beanspruchen könnte, so wäre sie nicht auf eine vorgelagerte oder mit ihrem Aufgehen zirkulär verbundene Verbergung angewiesen. Deswegen ist Heidegger stets daran gelegen, die richtende Gesetzmäßigkeit der δίκη entweder aus dem Verbergungsgeschehen des Seins herzuleiten (Der Spruch des Anaximander) oder sie aus dem Relief der Grundbegriffe der vorplatonischen Philosophie zu exkludieren (Heraklit-Vorlesung 1943). Im Zusammenhang des ersten Kapitels soll der Deutungsansatz plausibilisiert werden, dass Heideggers Apostrophierung der Abgründigkeit und des Sich-Verbergens der φύσις nicht schlichtweg als Rückprojektion des eigenen Seinsbegriffes in die heraklitische Grundstellung dechiffriert werden kann. Vielmehr sucht Heidegger – sicherlich auch unter dem Einfluss der zeitgenössisch-politischen Ereignisse – Heraklit 9 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 321–373, hier S. 357. 10 Vgl. ebd., S. 362ff. 11 Vgl. Heidegger, Heraklit. Der Anfang des abendländischen Denkens / Logik. Heraklits Lehre vom Logos, GA 55, hrsg. von Manfred S. Frings, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1994.

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als denjenigen vor-metaphysischen Philosophen zu rehabilitieren, welcher der Verfügungstendenz der willensdominiert-subjektivistischen Metaphysik gewissermaßen vorgreifend einen unbezwingbaren, auf der ursprünglichen Lichtungsweise des Seins beruhenden Widerstand entgegenhält. Aus diesem Grund ist für Heidegger der heraklitische Anfang des abendländischen Denkens als eine rettende Möglichkeit zu entdecken und wiederzuerwecken, welche die Phase der Seinsverlassenheit je schon überwunden hat und in den anderen Anfang hineinweist. In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 assoziiert Heidegger die metaphysisch legitimierte Aneignungsgewalt ostentativ mit Nietzsches Theorem des Willens zur Macht sowie mit Hegels Figuration des absoluten Wissens. Daher kann Heideggers scharfe Kritik an den Heraklit-Interpretationen Nietzsches und Hegels als Dokumentation des Anliegens eingeordnet werden, den ‚wahren‘ Heraklit herauszuschälen. Heraklit soll gegen die vermeintlich verfehlten oder gar instrumentalisierenden Inanspruchnahmen und Autoritätsrechtfertigungen verteidigt werden, die Heidegger zufolge im Zeitalter der sich vollendenden Metaphysik von Seiten Nietzsches und Hegels vorgetragen wurden. Im zweiten Kapitel (2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz „Der Spruch des Anaximander“) erfolgt die Hinwendung zu Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander. Dieser Text eignet sich vorzüglich zur Bekräftigung des Erkenntnisziels der vorliegenden Arbeit, weil die Zusammengehörigkeit von δίκη, Ordnung der Zeit, Buße und ἀδικία das Gravitationszentrum des ältesten überlieferten Spruches der Philosophie repräsentiert. Zudem kann die von Anaximander entfaltete Interdependenz zwischen der Unbeständigkeit des Werdens, der Schuld der eigenschaftsbestimmten Individuation und dem notwendigen Rückgang in den grenzenlosen Ursprung als herausragender Motivnexus des Spruches benannt werden. Im Zuge dieser Studie soll die Lesart erhärtet werden, dass der Sinngehalt des Satzes des Anaximander zum lebenslangen Problemfundus für Heraklit, Marc Aurel, Nietzsche und Heidegger avancierte. Freilich wurde dieser herausfordernde Prüfstein von den in dieser Untersuchung behandelten Denkern in divergierenden Modifikationen diskutiert und beantwortet. Es lässt sich folglich sagen, dass die von Anaximander instaurierte, tragische Disjunktionskrisis der ewigen Unbestimmtheit des ἄπειρον und der Vielheit des womöglich illegitimen Werdens alle philosophischen Epochen übergreift. Ein markanter Schwerpunkt des zweiten Kapitels zielt auf Heideggers Austarierung des Verhältnisses zwischen der δίκη und der ἀδικία ab. Dabei ist die Frage zu erörtern, inwiefern der Fug respektive die δίκη als eine zugrundeliegende Ordnung zu dekuvrieren ist, in die das Seiende als solches notwendigerweise eingebettet wird und in der es allein einen sachhaltigen Existenzbestand gewinnen kann. Es soll zutage gefördert werden, dass Heidegger neben der Entschlüsselung des Fuges als Substrat des jeweils Anwesenden eine zweite Option aufruft: Zu Beginn des Aufsatzes Der Spruch des Anaximander akzentuiert Heidegger, dass der „Un-fug“12 (d. i. der lebenserstrebende Perpetuierungswille der Dinge, der sich in der Missachtung der ihnen zugemessenen Weile äußert) als Ausgangsvoraussetzung des Daseins zu beurteilen ist. 12 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 357.

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Diese Urbedingung kann erst durch die wechselseitige Anerkennung zugunsten des freien Waltens der Gerechtigkeit revidiert werden. In diesem Zuge soll die These intoniert werden, dass diese „Verwindung des Un-fuges“13 gemäß Heideggers Deutung nicht direkt aus einem freimütigen Gewährenlassen der Alterität entspringt. Vielmehr beruht die anerkennungstheoretische Freigabe ihrerseits auf der Präsenzobsession des jeweiligen Anwesens. Paradoxerweise ist es nämlich das gegenwartsorientierte Beharren-Wollen, dass die Dinge zwangsläufig zur Teilhabe an dem – mit dem Fug beziehungsweise der δίκη identifizierten – Gesamtzusammenhang verpflichtet, sofern sie nicht in das Nichts der vollständigen Isolation fallen sollen.14 Der Abschlussteil des zweiten Kapitels befasst sich vorrangig mit Heideggers Einführung, Wesensumrandung und Machtexposition der Figur des τὸ χρεών, die im Aufsatz Der Spruch des Anaximander eine zentrale Position vindiziert. Anders als Nietzsche und Diels entziffert Heidegger den Sinn des τὸ χρεών in seiner Übersetzung nicht als gleichsam anonyme Notwendigkeit des Zeitverlaufs. Heidegger würdigt τὸ χρεών als „das frühe Wort des Seins“15 und überträgt dessen Bedeutung mit dem Titel des „Brauches“.16 Signifikant ist, dass τὸ χρεών von Heidegger als das Grenzen-lose17 exponiert wird, weil es diejenige Entität ist, die den Fug im Ganzen gewährt und damit jedem Seienden die individuelle Weiledauer zuteilt. Auf diese Weise emanzipiert Heidegger das Sein von der δίκη und lässt das χρεών mit der Funktionalität des ἄπειρον koinzidieren. Insofern das Sein als χρεών mithin die endlichen Lebensgrenzen jedes Individuums innerhalb des Fuges einräumt, entscheidet es zugleich über die Reichweite, Zugriffskompetenz und Zeitlichkeitsdimension des Fügungssinnes der δίκη. Es ist zu illustrieren, dass Heidegger der δίκη angesichts des Geltungsprimats des τὸ χρεών einen substantiellen Status abspricht und sie endgültig in einen 13 Vgl. ebd., S. 363. 14 Vgl. ebd., S. 359. Dieser Gedanke findet sich auch bei Marc Aurel, wobei es für ihn freilich die Allnatur ist, welche die vollendete Selbstisolierung eines einzelnen Lebewesens verhindert. Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IX. Buch, Nr. 9., übers. von C. Cleß, 7. Aufl., München 2016, S. 136f.: „Bei noch höheren Wesen aber findet, trotz ihrer sonstigen Abstände voneinander, doch Einigung statt, wie bei den Gestirnen; und so kann der Aufschwung zum Höheren auch bei sonst getrennten Wesen Sympathie hervorbringen. Betrachte nun den jetzigen Gang der Dinge! Die denkenden Wesen sind es nämlich jetzt allein, welche dieses Zueinanderstreben und Zusammenhalten vergessen, und bei ihnen allein ist jenes Zusammenfließen nicht ersichtlich. Und doch – mögen sie sich immerhin fliehen, sie umschließen sich dessen unerachtet. Denn die Natur behauptet ihr Herrscherrecht. Gib nur acht, und du wirst, was ich sage, bestätigt finden. Denn eher dürfte man ein Erdteilchen treffen, das von keinem anderen Erdteilchen berührt wird, als einen Menschen, der von einem anderen Menschen ganz abgeschieden ist.“ 15 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 365. 16 Ebd., S. 366. 17 In der Marburger Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie (Sommersemester 1926) gesteht Heidegger Anaximander noch nicht zu, mit der Entität des ἄπειρον zum Sein selbst vorgedrungen zu sein. Stattdessen begreift Heidegger das ἄπειρον 1926 als unbestimmte Unendlichkeit, die Anaximander im Ausgang von einem privilegierten Seienden fundiert habe. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, Marburger Vorlesung Sommersemester 1926, GA 22, hrsg. von Franz-Karl Blust, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2004, S. 55f.: „[zu ἄπειρον] Nicht sinnliches bestimmtes Seiendes, sondern unsinnliches Unbestimmtes, aber auch ein Seiendes. Unbegrenztes, räumlich [?] Körperliches. Die Anstrengung, das Sein selbst zu gewinnen, in der Unendlichkeit eines Seienden vor allem ausgedrückt.“

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immer wiederkehrenden Prozess des reziproken Geltenlassens transformiert, der sich unter der Botmäßigkeit des τὸ χρεών entfaltet. In diesem Geschehen sichern sich die Dinge und Lebewesen den spezifisch abgemessenen Existenzrahmen zwischen ihrer Herkunft aus dem Unbegrenzten und dem künftigen Hinweggang, weil die unumstößliche Macht des τὸ χρεών sie dazu animiert, auf ihre zeitvergessene Prolongierungstendenz zu verzichten. Nachdem das erste und das zweite Kapitel sich primär an Heideggers Heraklitund Anaximander-Deutungen der 1940er-Jahre orientierten, soll im dritten Kapitel (3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“) Nietzsches frühe Heraklit-Rezeption in den Blick genommen werden. Als Untersuchungsdokument fungieren hierbei diejenigen Abschnitte aus Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen18, in denen sich Nietzsche explizit den zwischen Anaximander und Heraklit verhandelten Fragestellungen und den jeweiligen Begründungsszenarien des Werdens widmet. Neben Hölderlin19 und Hegel20 kann Nietzsche mit gutem Recht als der herausragende Wiederentdecker Heraklits im 19. Jahrhundert klassifiziert werden. Es ist nicht abwegig, Heideggers ei18 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 817–835. In der vorliegenden Arbeit wird Friedrich Nietzsche zitiert nach der Kritischen Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., Berlin/New York 1988; sowie nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke (KGW), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff. Wenn keine entsprechenden Verweise auf diese beiden Gesamtausgaben beigefügt sind, wird Nietzsche nach der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe (eKGW) zitiert, die von Paolo D’Iorio auf der Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe der Werke herausgegeben wird. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Kursivsetzungen in den Zitaten von dem jeweiligen Autor. 19 Es ist an diesem Ort nicht möglich, die inhaltlichen Wege und Voraussetzungen der Heraklit-Rezeption Hölderlins auch nur annähernd zu rekapitulieren oder gar auszuschöpfen. Stellvertretend sei daher auf zwei Zeugnisse hingewiesen, in denen sich Hölderlins produktive Aneignung heraklitischer Gedanken lebhaft bezeugt. Zunächst kann hier das Gedicht Lebenslauf (1798) genannt werden, in welchem Hölderlin sich auf Heraklits berühmte Bogen-Metaphorik aus dem Fragment 48 stützt (βιός τῷ τόξῳ ὄνομα βίος ἔργον δὲ θάνατος: „Des Bogens Name ist also Leben, sein Werk aber Tod“). Vgl. Friedrich Hölderlin, Lebenslauf, in: Hölderlin, Sämtliche Gedichte, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 2005, S. 199: „Hoch auf strebte mein Geist, aber die Liebe zog/ Schön ihn nieder; das Leid beugt ihn gewaltiger;/ So durchlauf ich des Lebens/ Bogen und kehre, woher ich kam.“ Zweitens können die Schlussworte aus Hölderlins Briefroman Hyperion gewürdigt werden, in denen Hölderlin die heraklitische Einheit zwischen dem Streit und der Harmonie gedankenreich in Szene setzt. Vgl. Hölderlin, Hyperion oder Der Eremit in Griechenland, Köln 2005, S. 176: „Wie der Zwist der Liebenden sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles.“ 20 Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 319f.: „Heraklit faßt nun das Absolute selbst als diesen Prozeß, als Dialektik selbst auf. Die Dialektik ist α) äußerliche Dialektik, Räsonieren hin und her, nicht die Seele des Dinges selbst sich auflösend; β) immanente Dialektik des Gegenstandes, fallend aber in die Betrachtung des Subjekts; γ) Objektivität Heraklits, d. h. die Dialektik selbst als Prinzip auffassen. Es ist der notwendige Fortschritt, und es ist der, den Heraklit gemacht hat. Das Sein ist das Eine, das Erste; das Zweite ist das Werden, – zu dieser Bestimmung ist er fortgegangen. Das ist das erste Konkrete, das Absolute als in ihm die Einheit Entgegengesetzter. Bei ihm ist also zuerst die philosophische Idee in ihrer spekulativen Form anzutreffen: das Räsonnement des Parmenides und Zenon ist abstrakter Verstand; Heraklit wurde so auch überall als tiefdenkender Philosoph gehalten, ja auch verschrien. Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“

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genes Zentralinteresse an dem Denker aus Ephesos durch den Sog jener Begeisterung zu erklären, die Nietzsches emphatischer Rückgang auf die Vorplatoniker im Allgemeinen und seine Bevorzugung Anaximanders und Heraklits gegenüber Platon und Aristoteles im Besonderen entfachte.21 Zur positionierenden Einordnung von Nietzsches Heraklit-Lektüre ist zunächst zu überprüfen, ob Heideggers 1943 formulierter Einwand statthaft ist, dass Nietzsche die elementaren Züge seiner Metaphysik nur deswegen in Heraklit „vorgebildet“22 finde, weil er die eigenen Denkmomente auf Heraklits Philosophie zurückprojiziere. Im Kontrast dazu, wird im dritten Kapitel keineswegs das Sachziel verfolgt, Nietzsches frühe Entdeckung der kosmischen Gerechtigkeit und des Streites als Rückprojektion oder als tendenziöse Bestätigungsstrategie eigener Theoriepräferenzen zu etikettieren. Es soll umgekehrt verdeutlicht werden, dass sich die Herauskristallisierung der richtend-immanenten Δίκη mitsamt ihrer Erhebung zum Leitphilosophem Heraklits als eine Intuition Nietzsches beurteilen lässt, deren Konsequenzen sich einerseits affirmativ in seiner späteren Denkbiographie ausprägen. Diese Adaptionen Heraklits äußern sich beispielsweise in Nietzsches Insistenz auf dem Wahrheitsgehalt des souveränen Werdens und in der agonalen Organisationsform des Willens zur Macht.23 Andererseits sucht der reife Nietzsche die destruktive Unbeständigkeit der Flussmotivik durch seinen Entwurf der ewigen Wiederkehr 21 Vgl. hierzu Nietzsches Abgrenzung der ‚reinen Typen‘ der philosophischen ‚Genialen-Republik‘ von den ‚Mischcharakteren‘, deren erster geschichtlicher Vertreter Platon sei: Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 809f.: „Mit Plato beginnt etwas ganz Neues; oder, wie mit gleichem Rechte gesagt werden kann, seit Plato fehlt den Philosophen etwas Wesentliches, im Vergleich mit jener Genialen-Republik von Thales bis Sokrates. Wer sich mißgünstig über jene älteren Meister ausdrücken will, mag sie die Einseitigen nennen und ihre Epigonen, mit Plato an der Spitze die Vielseitigen. Richtiger und unbefangner würde es sein, die letzteren als philosophische Mischcharaktere, die ersteren als die reinen Typen zu begreifen. Plato selbst ist der erste große Mischcharakter und als solcher sowohl in seiner Philosophie als in seiner Persönlichkeit ausgeprägt. Sokratische, pythagoreische und heraklitische Elemente sind in seiner Ideenlehre vereinigt: sie ist deshalb kein typisch-reines Phänomen. Auch als Mensch vermischt Plato die Züge des königlich abgeschlossenen und allgenugsamen Heraklit, des melancholisch mitleidsvollen und legislatorischen Pythagoras und des seelenkundigen Dialektikers Sokrates.“ 22 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 67f.: „Es ist daher zu wenig gesagt, wenn wir darauf hinweisen, daß ein Abgrund zwischen der Vollendung der abendländischen Metaphysik durch Nietzsche und dem in den Anfang gestellten Spruch des Heraklit klafft. Aber wir können hieraus schon ungefähr ahnen, welche Heraklitauslegung zutage kommen muß, wenn Nietzsche seine Metaphysik bereits in Heraklits Denken vorgebildet sieht.“ 23 Nietzsches Verbindung der heraklitischen Welt des „Spiels der Widersprüche“ mit der schaffend-zerstörerischen Dynamik des Willens zur Macht kommt am lichtvollsten und feierlichsten in einem bekannten Fragment aus dem Jahre 1885 zum Ausdruck. Besonders signifikant ist in diesem Kontext Nietzsches Hervorhebung der Simultaneität von Einem und Vielem sowie die Zusammengehörigkeit von Einklang und Dissonanz. Im dezidiert heraklitischen Sinne exponiert Nietzsche die immanente Widersprüchlichkeit, welche die Welt innerhalb der übergeordneten Spannungspole von Ebbe und Flut zwischen Ruhe, Kälte, intensiver Bewegung und Gluthitze oszillieren lässt. Vgl. Nietzsche, NF-1885,38[12]: „Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom ‚Nichts‘ umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum

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des Gleichen zu überwinden. So heißt es in einem berühmten Fragment aus dem Jahre 1882: Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluß fließt immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluß, als die Gleichen.24

In diesem Sinne kann nicht davon gesprochen werden, dass der frühe Nietzsche seine eigenen Gedanken in Heraklit hineinlege. Heraklits Lehre avanciert zur Inspirationsquelle, die Nietzsche dazu veranlasst, die anfängliche Konzeption einer dem Werden inhärenten Gesetzmäßigkeit und einer Streitbalance der Gegensätze am Ende der Metaphysik zu wiederholen. Ähnlich wie Heidegger, intendiert Nietzsche eine Wiedergewinnung25 der verschütteten Potenziale und Denkweisen des vorsokratischen An-

eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ‚leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ‚Vieles‘, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, –: wollt ihr einen N a m e n für diese Welt? Eine L ö s u n g für alle ihre Räthsel? ein L i c h t auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? –: D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t –: u n d n i c h t s a u ß e r d e m! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht –: und nichts außerdem!“ 24 Nietzsche, NF-1882,5[1], Nr. 160. 25 Diese ‚Wiedergewinnung‘ der vorplatonischen Philosophie wird von Günter Wohlfart als fruchtbringendes Ergebnis der Heraklit-Rezeption Nietzsches gewürdigt. Vgl. Günter Wohlfart, „Also sprach Herakleitos.“ Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, Freiburg/München 1991, S. 267: „Nietzsches Verdienst ist weniger die Entdeckung der Vorsokratiker in altphilologischer Hinsicht als vielmehr die vorheideggersche Entdeckung der Vorsokratiker für die neuere Philosophie; sein Verdienst ist ‚das Wiedergewinnen des antiken Bodens‘ ‚aus der höchsten Kraft der Gegenwart.‘“ Zu einem ähnlichen Urteil kommt Tilman Borsche, Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker, in: Josef Simon (Hrsg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 1, Würzburg 1975, S. 63: „Nietzsche war es vor allen anderen, der die Vorsokratiker aus der ihnen zugewiesenen Rolle von unvollkommenen Vorläufern der mit Sokrates beginnenden klassischen Epoche der griechischen Philosophie entließ, indem er ihr Denken als ein selbstständiges Philosophieren von je eigener Art würdigte.“ Eugen Fink verknüpft Nietzsches Affirmation des heraklitischen Denkens mit dem antiplatonischen Grundzug seiner [Nietzsches] Philosophie. Fink apostrophiert dabei nicht nur die schöpferische Wiedergewinnung des normativen Potenzials der Vorsokratiker, sondern weist auch auf Nietzsches Selbststilisierung als ‚neuer Heraklit‘ hin, der einen verheißungsvollen Neubeginn erschaffen möchte, indem er die gesamte Philosophiegeschichte zu ihrem ersten Anfang zurückführt. Vgl. Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 13: „Nietzsche kehrt zurück zu Heraklit. Sein Kampf beginnt gegen die Eleaten, gegen Platon und die von dort auslaufende metaphysische Tradition. Heraklit bleibt die ursprüngliche Wurzel der Philosophie Nietzsches. Nach 2500 Jahren ereignet sich eine Wiederholung Heraklits mit dem ungeheuerlichen Anspruch, die lange Gedankenarbeit der Zwischenzeit wegwischen zu können, dem Menschengeschlecht einen neuen und doch uralten Weg zu weisen, der im Widerspruch mit der ganzen Tradition steht.“

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fangs. Er sucht einen andersartigen Anfang zu initiieren, der das nicht hinreichend gewürdigte Einstige in den Horizont des vielversprechend Künftigen transferiert. In der Rekapitulation der tragenden Motive von Nietzsches Heraklit-Lektüre soll illustriert werden, dass Heraklit die Grundfragen des Anaximanders erbt. Im gewissen Sinne ist Nietzsches Weg von dem indisch-negativistischen Pessimismus Schopenhauers hin zur Ausarbeitung eines tragisch-dionysischen Pessimismus in der Inszenierung der heraklitischen Antwort auf Anaximanders metaphysische Hypotheken präfiguriert. Dies wird im dritten Kapitel anhand von zwei Aspekten untermalt. Erstens soll demonstriert werden, wie Nietzsches Heraklit die anaximandrische Scheidung zwischen einem unbestimmten, ewigen Quellgrund (ἄπειρον) auf der einen Seite und den entstehenden Dingen auf der anderen Seite in seiner intuitiven Kontemplation der Wellenschläge und Rhythmen des Werdens aufhebt. Zweitens ist zu rekonstruieren, mit welchen Argumenten Heraklit die moralische Anklage des Werdens, das Anaximander als Schuldzusammenhang deutet, in die beglückende Anschauung des Gegensatzcharakters der Dinge verwandelt. In dieser Transfiguration der anaximandrisch-schopenhauerschen26 Wertung des Werdens – in der es als ruinöser Ort der Buße und der ungerechtfertigten Selbstbejahung erfahren wird – in das frohgemute Element des freien Aufbauens und Zerstörens kann Nietzsches Rezeption des Fragmentes 52 eine entscheidende Funktion zugesprochen werden. Dieser Relevanz sucht das dritte Kapitel gerecht zu werden, weswegen es Nietzsches Exposition des heiteren Spiels in detaillierten Überlegungen begleitet. Es ist zu illuminieren, dass Nietzsche mit seiner Bezugnahme auf die Metapher des königlichen Kindes, das die Welt im regelmäßigen Würfelwurf formt, kritisch und lösungsorientiert auf Anaximanders moralische Diskreditierung des Kosmos reagiert. In rastloser Serenität mischt das Spiel die Einheit und die Vielheit zusammen und trennt sie, lässt die angestammten Positionen der balancierenden Gesetzmäßigkeiten und der ringenden Qualitäten changieren und taucht die scheinbar extern-unbeteiligten Richtmaße selbst als Akteure in den Schauplatz des unerschöpflichen Streitgeschehens ein. Das vierte Kapitel (4. Eigenständige Auslegung des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten) befreit sich aus dem vermittelten Deutungsfirmament Nietzsches und Heideggers, indem es die heraklitischen Fragmente in einer eigenständigen Bearbeitung unter dem Gesichtspunkt der Δίκη sichtet, analysiert und bündelt. Um einen adäquaten Zugang zu gewinnen, wird als Ariadnefaden das Erkenntnisziel gewählt, die innige Strukturverwandtschaft der Δίκη mit den anderen Grundworten des 26 Im Rahmen seiner Anaximander-Interpretation parallelisiert Nietzsche den ältesten Spruch der Philosophie direkt mit Schopenhauers pessimistischer Diagnose der Urschuld des Daseins. Nietzsche zitiert zu diesem Zwecke eine thematische Referenzpassage aus Schopenhauers Werk Parerga & Paralipomena II. Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 818: „Räthselhafter Ausspruch eines wahren Pessimisten, Orakelaufschrift am Grenzsteine griechischer Philosophie, wie werden wir dich deuten? Der einzige ernstgesinnte Sittenlehrer unseres Saeculum [gemeint ist Schopenhauer, J.K.] legt uns in den Parergis Band II S. 327 eine ähnliche Betrachtung an´s Herz. ‚Der rechte Maßstab zur Beurtheilung eines jeden Menschen ist, daß er eigentlich ein Wesen ist, welches gar nicht existiren sollte, sondern sein Dasein abbüßt durch vielgestaltetes Leiden und Tod: was kann man von einem solchen erwarten? Sind wir denn nicht alle zum Tode verurtheilte Sünder? Wir büßen unsre Geburt erstlich durch das Leben und zweitens durch das Sterben ab‘.“

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heraklitischen Denkens zu erörtern. Auf diese Weise kann – entgegen der heideggerschen Nivellierung der Gerechtigkeit – gezeigt werden, dass Nietzsches Qualifizierung der jenseits moralischer Konnotationen angesiedelten Δίκη zur ontologischen Quintessenz der Lehre Heraklits vollkommen berechtigt ist. Gleichwohl soll auch Heideggers Heraklit-Auslegung ein wesentlicher Punkt zugestanden werden. Da die Δίκη die Präsenz ihrer Aktivität in der verborgenen Unterminierung des durativen Überwiegens einer Gegensatzqualität und im entzündenden Neuarrangement des Streites bekundet, kann ihr durchaus ein Moment der Unverfügbarkeit und des Entzuges konzediert werden, ohne sie in einer transzendenten Sphäre lokalisieren zu müssen. Im vierten Kapitel soll herausgestrichen werden, dass Heraklit die auktoriale Perspektive des Gottes und die Einsicht des Weisen vor allem deswegen zelebriert, weil diese Repräsentanten des λόγος in der Lage sind, die permanente, im Zwiespalt der ringenden Kräfte erscheinende Eingriffsgewalt der Δίκη trotz ihrer eigentümlichen Gestaltlosigkeit und ihrer rein dynamischen Vollzugshaftigkeit zu erkennen. Ein wesentlicher Fokus des vierten Kapitels richtet sich auf die damit zusammenhängende Problematik, wie sich die hinreichende Vernunftanschauung der Δίκη konkret und in Anbetracht möglicher Widerstände in die menschliche Lebenspraxis umsetzen lässt. Wenn auch die Uneinsichtigkeit sowie die Einschränkung durch Vorurteile zu den Aufrechterhaltungsbedingungen der konflikthaften ἔρις gezählt werden müssen, ist fraglich, ob die politisch-praktische Realisierung der durchdringenden Zusammenschau der Gegensätze einen normativen Vorrang gegenüber dem Beharren auf unhaltbaren Privatmeinungen beanspruchen kann. Indes soll für die Interpretation geworben werden, dass Heraklit die Einsicht in die Δίκη auch im politischen Sinne zu privilegieren vermag, weil die Gerechtigkeit das Spiel der Gegensätze offenhält und damit jene Perspektiven zurückdrängt, die ihre spezifischen Weltansichten zum Seinsprinzip hypostasieren. Auf diese Weise kann Heraklit sowohl die Tyrannis, in der sich der Einzelne zum Maßstab des Ganzen aufschwingt, als auch die Ochlokratie, in der die Majorität den Einzelnen dominiert, im Rückgriff auf die Verlaufsgesetzmäßigkeit der Δίκη ablehnen. Heraklit vermag diese Extreme als temporäre Phänomene zu rekognoszieren. Angesichts des von der Δίκη vorangetriebenen, unanfechtbar-verborgenen Aufkeimenlassens des jeweiligen Gegensatzpols können diese Vereinseitigungen keine Perpetuierungschance besitzen. Deswegen ist es verfehlt, Heraklits Philosophem der Δίκη mit dem Faustrecht zu parallelisieren oder eine frappierende Nähe zu den sophistisch-subversiven Entschlüsselungen der Gerechtigkeit als „Vorteil des Stärkeren“27 aufspüren zu wollen. Ebenso wenig darf Heraklits Umrandung der gegensatzevozierenden, kosmischen Δίκη mit Thukydides‘ desillusionierter Analyse realpolitischer Machtverhältnisse verwechselt werden, die sich exemplarisch in der Athener Gesandtenrede aus dem Melierdialog28 widerspiegelt. 27 Vgl. Platon, Politeia 338c, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 2, übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Ursula Wolf, 34. Aufl., Hamburg 2013, S. 224: „Ich nämlich behaupte, das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche.“ 28 In ihrer Rede an die Melier proponieren die Athener mit Nachdruck, dass die Gerechtigkeit im Sinne eines paritätischen Ausgleichs und einer Gewährung gleicher Rechte nur zwischen ähnlich starken Parteien walten könne. Potentielle Berufungen auf ideelle Richtmaße, göttliche Normen, frühere Ver-

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Aufgrund der strafend-vergeltenden, die wahren Maße wiederherstellenden Transfiguration in die Gestalt der Νέμεσις gleicht die Δίκη der eschatologischen Komponente des Feuers, das nach Heraklits Deskription einstmals über alles Seiende richten wird.29 Ihre Nähe zum λόγος bekundet sich hingegen in der von ihr geleisteten Division einer vermeintlich monolithischen Qualität in inhärente Gegenantriebe, welche die vormals präeminente Machtperspektive herausfordern, attackieren und auflösen. Der φύσις entspricht sie, insofern ihre Gesetzmäßigkeit die gesamte Amplitude des aufgehenden Werdens und des immerwährenden Untergehens begleitet und dirigiert. In Korrespondenz dazu, sucht das vierte Kapitel zu erhärten, dass die Beschreibung der φύσις für Heraklit stets die direkte Mitberücksichtigung der Δίκη impliziert. Entgegen der heutzutage verbreiteten, maßgeblich durch Hume inaugurierten Unterscheidung von Sein und Sollen bildet die seinsmäßige Systemganzheit von Hervorgehen und Verschwinden eine untrennbare Einheit mit jener im Medium des wahren Denkens zu entdeckenden Gesetzlichkeit, welche den Wandel strukturiert. Für Heradienste oder verbindlich eingegangene Bündnisverträge werden von den Athenern im Angesicht eines nüchternen Kräftevergleichs von vornherein als obsolet betrachtet. Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Auswahl, übers. von Helmuth Vretska und Werner Rinner, Stuttgart 2005, 5. 89: „Wir nun wollen selbst nicht unter schönen Wendungen, dass uns die Herrschaft mit Recht gebühre, weil wir den Meder besiegt haben, oder dass wir uns jetzt an euch wegen erlittenen Unrechts rächen wollen, mit einer langen und unglaubhaften Rede kommen; wir erwarten aber andererseits auch von euch, dass ihr uns nicht mit solchen Redensarten zu bestimmen hofft, ihr hättet als Kolonie von Lakedaimon es ablehnen müssen, mit uns am Krieg teilzunehmen, oder ihr hättet euch in nichts gegen uns vergangen. Sucht vielmehr entsprechend unserer beiderseitigen wahrhaften Überzeugung das Mögliche zu erreichen. Denn ihr wisst so gut wie wir, dass von Gerechtigkeit im Menschenmund nur dann die Rede ist, wenn man durch eine gleiche Gewalt im Zaum gehalten wird, und dass diejenigen, die die Macht haben, auflegen, so viel sie können, und die Schwachen ihnen gehorchen müssen.“ In seinem Werk Menschliches, Allzumenschliches greift Nietzsche auf den Gehalt des Melier-Dialoges zurück, um den Ursprung der Gerechtigkeit auf einen Vorgang des Tausches zurückzuführen. Dieser Tausch manifestiert sich in der Gestalt einer Verständigung zwischen gleich mächtigen Antipoden, die wiederum aus dem egoistischen Bedürfnis der komplikationslosen Selbsterhaltung resultiert. Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, S. 89f.: „U r s p r u n g d e r G e r e c h t i gk e i t.–: Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr g l e i c h M ä c h t i ge n, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des T a u s c h e s ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt Jedem, was er haben will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. –: Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung: ‚wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?‘ –: Soviel vom U r s p r u ng der Gerechtigkeit.“ 29 Vgl. Heraklit, DK 22 B 66, in: Jaap Mansfeld/Oliver Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Ditzingen 2012, S. 271: πάντα γάρ, φησί, τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. „Über alles wird das Feuer, sagt er, einmal herankommen, urteilen und es verurteilen.“ Sofern nicht anders angeführt, werden Heraklits Fragmente mitsamt den deutschen Übersetzungen nach der von Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi herausgegebenen Fragmentsammlung Die Vorsokratiker zitiert.

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klit ist das Sein das Gesollte, weil die Δίκη sich in der Gestalt der φύσις ausprägt und offenbart. Der Aufweis einer Wesensbeziehung zwischen der Δίκη, dem Λόγος, der Φύσις und dem Feuer soll anhand einer performativ-inhaltlichen Erkundung der jeweiligen Eigenschaften und Geltungsbereiche der Haupttitel erbracht werden. Zu diesem Zweck ist ein Rekurs auf die spezifische, in jedem Grundbegriff hinterlegte Relationsart von Einem und Vielem unabdingbar. Zum Ende des vierten Kapitels soll ein sowohl von Nietzsche als auch von Heidegger kaum berücksichtigter Nexus eingehend diskutiert werden: Die Verbindungskomplexe zwischen der Δίκη und dem νόμος, zwischen göttlicher Gerechtigkeit und menschlichem Gesetz, zwischen Kosmos und Polis. Die heraklitische Gerechtigkeit kann zwar als „mystischer Grund der Autorität“30 tituliert werden, jedoch schlägt sie aufgrund ihrer Gegensatznatur und der Direktion des streiterhaltenden Werdens niemals in eine Legitimationsbasis für eine gewaltsam-verengende Aneignung der politischen Machtbefugnis um. Das fünfte Kapitel (5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels) spürt der Konstellation von Φύσις und Δίκη beim römischen Philosophenkaiser Marc Aurel (121–180 n. Chr.) nach, der fast sechshundert Jahre nach Heraklit lebte. Es lassen sich mehrere Gründe anführen, weswegen Marc Aurels Selbstbetrachtungen unter der Signatur der wohlgefügten Geschehensgerechtigkeit diskutiert werden können. Im fünften Kapitel wird zuvorderst dafür plädiert, dass Marc Aurels Philosophie als produktive Zusammenführung Anaximanders und Heraklits gedeutet werden kann. Es soll untermauert werden, dass Marc Aurel sich in seiner Apostrophierung der Vergänglichkeit und der Unbedeutsamkeit des endlichen Existierens31 mit einer wirkmächtigen Tradition der Anaximander-Lesart überschneidet. Desillusioniert be30 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2013. Zu Derridas Auslotung des Verhältnisses von Δίκη, Gewalt und Differenz vgl. ebd., S. 14ff. 31 Um die These einer möglichen Nähe zwischen Anaximander und Marc Aurel vorzubereiten, sei bereits an dieser Stelle eine prägnante Sentenz aus Marc Aurels Selbstbetrachtungen zitiert, die einen resignativen Grundton aufweist und die Belanglosigkeit der Dinge inmitten der Rapidität des Werdens unterstreicht. Dennoch zieht Marc Aurel die durchaus mit dem Spruch des Anaximander kompatible Folgerung, dass die Frömmigkeit gegenüber den Göttern sowie die tätige Gerechtigkeit und Anerkennung der Mitmenschen als diejenigen Verhaltensweisen markiert werden können, die dem Leben trotz seiner Beschwerlichkeit und Kürze einen Sinn verleihen. Die Gerechtigkeit und die Wahrhaftigkeit bezeugen sich als diejenigen Primärtugenden, die von dem Menschen qua Vernunftvermögen gefordert werden können. Als solche exemplifizieren sie jene Einstellungen, die jeder Mensch dem anderen inmitten der Sphäre des Gewordenen schuldet und durch die er Buße für seine Ungerechtigkeiten zu zahlen vermag. Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V. Buch, Nr. 33, S. 70f.: „Noch ein Weilchen, und du bist Asche oder eine Mumie und nur noch ein Name oder nicht einmal das; ein Name aber ist ein leerer Schall und Widerhall. Die Dinge aber, die im Leben so hoch gewertet werden, sind nichtig, morsch und belanglos, die Menschen nur Hunde, die sich herumbeißen, und streitsüchtige Kinder, die bald lachen, bald weinen. Aber Treue und Ehrfurcht und Recht und Wahrheit entflohen ‚zum Olymp von der weitstraßigen Erde‘! – Was kann uns da noch hier festhalten, wenn die sichtbaren Dinge, in ständigem Wechsel begriffen und nicht dauerhaft, unsere Sinne trübe und leicht zu täuschen sind, das Seelchen selbst aber eine Ausdünstung aus dem Blut und es vollkommen wertlos ist, bei Wesen solcher Art in Ansehen zu stehen! Wie soll man sich da stellen? Du mußt guten Mutes auf deine Auflösung oder Übersiedlung warten. Was hilft uns aber, bis der Zeitpunkt hierfür gekommen ist? Was anders als die Götter zu verehren und zu preisen, den Menschen Gutes zu erweisen und sie

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schreibt Marc Aurel den täuschenden Charakter der menschlichen Sinnaussichten und arbeitet die zumeist unreflektierte Gegenwartsverhaftung als lebensprägenden Existenzmodus heraus. In der Betonung der notwendigen Metamorphose der Urstoffe, die im Todesmoment des Einzelnen ihre vormalige Kohäsion beenden und sich neu zusammensetzen, und in der nachdrücklichen Beteuerung, dass sich die immer gleichen Szenen des Daseins in leicht nuancierter Maskierung wiederholen, ähnelt Marc Aurels Philosophie dem von Nietzsche porträtierten32, tragischen Anaximander. So entfaltet auch Marc Aurel trotz seines Votums für die Seelenruhe und der Zielsetzung einer vernunftbasierten Glückseligkeit eine Weltsicht, aus der zutiefst pessimistische Konsequenzen gezogen werden könnten. Hingegen stimmt Marc Aurel mit Heideggers Verständnis des Spruches des Anaximander insoweit überein, als er exponiert, dass die vorbestimmte Lebensdauer, der Vollzug des Anerkennungsprozesses inmitten des Gesamtzusammenhanges und das unweigerliche Vorlaufen zum Tode auf der Zuteilungsweise einer unerschöpflichen Kraft beruhen.33 Wie in Heideggers Anaximander-Interpretation, kann dieser seinerseits un-begrenzte Gewährungsgarant der Endlichkeit unangefochten den ersten ontologischen Rang prätendieren. Im Unterschied zu Heidegger, der die eher formale Bestimmung einer durch das χρεών verbürgten Einhegung der Lebensgrenzen in seiner Anaximander-Deutung kaum überschreitet, erweitert und konkretisiert Marc Aurel die Bandbreite der Wirkungsadressierung. Marc Aurel stellt heraus, dass jede vermeintliche Unwegsamkeit, alle plötzlich aufkeimenden Einschränkungen und sämtliche leidvoll-schmerzhaften Erlebnisse als gestaltgewordene Zuteilungen zu verstehen sind, die sich in einem ubiquitären Determinismus miteinander verketten. Diese Ausdehnung auf sämtliche Existenzsituationen fußt einerseits auf Marc Aurels Konzeption einer individuellen Vorsehung, welche die Verflechtung zwischen dem Lebenslauf des Einzelnen und allen anderen Geschehnissen von Ewigkeit her präfiguriert hat. Andererseits ist hier unbedingt Marc Aurels Übernahme der stoischen Metaphysik mitsamt der Fundamentaldoktrin der All-Natur zu erwähnen. Schließlich kann anhand des Topos der All-Natur, die von Marc Aurel sowohl als φύσις wie auch als Weltvernunft gefasst wird, der direkte Einfluss Heraklits auf die stoische Theoriebezu ertragen oder zu meiden! Alles aber, was im Bereich des elenden Fleisches und Atems ist, das ist – das vergiß nie – weder dein eigen noch in deiner Macht.“ 32 Vgl. exemplarisch Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 820: „Woher jener Ausdruck von schmerzhafter Verzerrung auf dem Angesichte der Natur, die nie endende Todtenklage in allen Reichen des Daseins? Aus dieser Welt des Unrechts, des frechen Abfalls von der Ureinheit der Dinge flüchtete Anaximander in eine metaphysische Burg, aus der hinausgelehnt er jetzt den Blick weit umher rollen läßt, um endlich, nach nachdenklichem Schweigen, an alle Wesen die Frage zu richten: Was ist euer Dasein werth?“ 33 In den Beiträgen zur Philosophie wird diese unerschöpfliche, das unumgängliche Sein zum Ende arrangierende Kraft als „das Ungewöhnlichste in allem Seienden“ bestimmt, das als Seyn die existenziell herausfordernde „Einzigkeit des Todes“ ‚er-eignet‘. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, Nr. 161, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 283: „Die Einzigkeit des Todes im Da-sein des Menschen gehört in die ursprünglichste Bestimmung des Da-seins, nämlich vom Seyn selbst er-eignet zu werden, um seine Wahrheit (Offenheit des Sichverbergens) zu gründen. In der Ungewöhnlichkeit und Einzigkeit des Todes eröffnet sich das Ungewöhnlichste in allem Seienden, das Seyn selbst, das als Befremdung west.“

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festigung lebhaft nachempfunden werden. Es soll exemplifiziert werden, dass Marc Aurel die All-Natur mit Wesensmerkmalen ausstattet, die sich analog bereits bei Heraklit finden lassen. Ein weiterer Schwerpunkt des fünften Kapitels verdichtet sich in dem Erkenntnisinteresse, die heraklitische Spur in der kosmopolitischen und vernunftbezogenen Ausrichtung der Stoa nachzuzeichnen. Im Schlusswort werden die einzelnen Etappen des Gedankenganges rekapituliert und die Ergebnisse der Arbeit in einer textchronologischen Heraushebung der Hauptmomente zusammengetragen.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik und der Status der Gerechtigkeit in den Nietzsche-Vorlesungen 1.1. Exposition der Textauswahl und der Kernthesen Heraklit ist für Heidegger kein Denker der kosmischen Gerechtigkeit, sondern der Philosoph der zum Aufgehen der φύσις gehörigen Verbergung und des einend-sammelnden Λόγος.34 Neben den beiden Heraklit-Vorlesungen Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit35 aus dem Sommersemester 1943 sowie Logik. Heraklits Lehre vom Logos36 aus dem Sommersemester 1944, die gemeinsam in den von Manfred S. Frings herausgegebenen Band 55 (Heraklit) der Gesamtausgabe aufgenommen wurden, hat Heidegger sich 1926 in der Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie37 explizit mit Heraklit auseinandergesetzt. Dazu gesellen sich die Aufsätze Logos38 (1951) und Aletheia39 (1954), in denen die Hauptsprüche Heraklits erneut diskutiert und gedeutet werden. Die gemeinsam mit Eugen Fink im Wintersemester 1966/67 geleitete Veranstaltung zu Heraklit markierte Heideggers letztes Seminar an der Universität.40 In dem ersten Kapitel dieser Arbeit sollen zwei Thesen vertreten und begründet werden. Erstens ist der Nachweis zu erbringen, dass Heraklit von Seiten Heideggers als anfänglicher Denker und als im anderen Anfang wiederzuentdeckender Wahrer einer im Sein waltenden Verbergung honoriert wird, die sich der metaphysisch fundierten Aneignungslogik des Willens widersetzt. Das Willensprinzip muss sich perennierend zur Durchdringung alles Seienden in der von ihm bereitgestellten Helle aufrufen, um sich selbst erhalten zu können. Diese These soll anhand der ersten HeraklitVorlesung aus dem Sommersemester 1943 validiert werden, in der die Willensmetaphysik vornehmlich durch Hegel und Nietzsche repräsentiert wird. Zweitens soll der 34 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 286: „In diesem ἓν πάντα εἶναι zeigt sich ‚der Λόγος selbst‘, und zwar als der Λόγος. Das ἓν πάντα εἶναι enthält nämlich dieses, daß das Eine als das Alles vereinende, das Sein des Alles, das Sein des Seienden im Ganzen ausmacht. Der Λόγος selbst ist das Alles vereinende Eine; dieses Vernehmliche ist aber nach dem Spruch des Heraklit dasjenige, was es für den Menschen eigentlich zu wissen gilt. Es ist das vor allem anderen und in allem anderem und über alles andere hinaus Zu-denkende.“ 35 Vgl. ebd., S. 3–181. 36 Vgl. ebd., S. 186–402. 37 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 57–62. 38 Heidegger, Logos (Heraklit, Fragment 50), in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, S. 211–235 (im Folgenden = GA 7). 39 Heidegger, Aletheia (Heraklit, Fragment 16), in: Heidegger, GA 7, S. 263–289. 40 Martin Heidegger/Eugen Fink, Heraklit, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2014.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Frage nachgegangen werden, weswegen die Δίκη, die in der Gestalt der höchsten Gerechtigkeit zu einem wesentlichen Terminus in Nietzsches Heraklit-Auslegung avanciert und gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit des vor-stellenden Willensvollzuges mobilisiert werden könnte, in Heideggers Auseinandersetzung mit Heraklits Denken fast gar nicht berücksichtigt wird, obwohl sie in zahlreichen Fragmenten Heraklits namentlich genannt wird. Diesbezüglich soll ein im zweiten Kapitel hinsichtlich des Spruches des Anaximander fortzusetzender Deutungsstrang entfaltet werden, der die geringe Bedeutung der Δίκη in den Heraklit-Vorlesungen auf zwei Faktoren zurückführt. Zum einen – so die leitende These – kann die Δίκη bei Heidegger nicht den ersten Rang beanspruchen, weil das Walten einer sich im Kreislauf des Werdens äußernden, kosmischen Gerechtigkeit nicht auf den Unterschied von Sein und Seiendem respektive auf eine das Sich-Lichten des Seins gründende Verbergung angewiesen ist. Zum anderen könnte der potenzielle Primat der Δίκη die für Heidegger zentrale Unhintergehbarkeit der Zeitlichkeit gefährden und die damit verbundene Kategorie der Geschichtlichkeit torpedieren. Die Gliederung und Vorgehensweise in diesem Kapitel orientiert sich an den offerierten Thesen und Erkenntniszielen. Zunächst wird das Schwanken Heideggers in der Einordnung der Gerechtigkeit/ δίκη anhand ausgewählter Textstellen verdeutlicht. In Antizipation des zweiten Kapitels zum Spruch des Anaximander soll die Verifikation der Auffassung eingeleitet werden, dass die δίκη von Heidegger stets zugunsten des lichtenden Anwesenlassens des Anwesenden marginalisiert wird und nicht als eigenständiges Grundwort zu reüssieren vermag (1). Um zu verstehen, aus welcher Perspektive Heidegger die Heraklit gewidmeten Auslegungen Hegels und Nietzsches kritisiert und weswegen er Heraklit als exzeptionellen Gegendenker der Willensmetaphysik adelt, sind Heideggers eigenes Deutungsziel, seine Gewichtung der einzelnen Fragmente und die Stiftung ihres internen Bezuges nachzuzeichnen. In diesem Zusammenhang erscheint eine Beschränkung auf die Heraklit-Vorlesung von 1943 sinnvoll, weil in ihr alle wesentlichen Gegenmotive und Resistenzfigurationen gegen den Supremat des Willens – die unscheinbare Fügung, das Sichverbergen, der Vorrang der φύσις gegenüber Göttern und Menschen und die Immunität der φύσις gegenüber jedem veränderungswilligen Eingriff – versammelt sind (2). Im Anschluss daran folgen einige grundsätzliche Überlegungen zu Heideggers Beurteilung der nietzscheschen Heraklit-Rezeption (3). Auf der Basis dieser Ausarbeitungen wird zuletzt die in der Vorlesung von 1943 inszenierte Konfrontation thematisiert. Während Heraklit das Dunkle des Sichverbergens und somit auch das reine Aufgehen der φύσις schützt, empfinden Hegel und Nietzsche das Dunkle nach Heidegger als temporäre Erkenntnisschranke, an der sich der Ansporn des auf die vollständige Durchleuchtung und Verfügbarmachung drängenden Willens entzündet (4). Es soll demnach vergegenwärtigt werden, wie Heidegger die scharfe Kritik an der Willensmetaphysik in seine Exegese der für ihn zentralen Heraklit-Fragmente einwebt. (1). Bis auf die Hinweise auf das Fragment 28 in der Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis41 sowie in der Auslegung der Zweiten Unzeitgemäßen 41 Vgl. Heidegger, Nietzsche I [im Folgenden = N I], 7. Aufl., Stuttgart 1961, S. 453ff.

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1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

Betrachtung42 findet sich in keiner der Veröffentlichungen zu Heraklit eine über kursorische Nennungen hinausgehende Beschäftigung mit der Δίκη.43 Die für die Profilierung der Δίκη thematischen Fragmente – neben dem Fragment 28 und dem wohl berühmtesten Heraklit-Fragment Nr. 52 sind die im vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung selektierten Fragmente44 zu erwähnen – bleiben in Heideggers HeraklitAuslegung entweder randständig oder unerwähnt. Dass Heidegger sich durchaus veranlasst sieht, der Gerechtigkeit in anderen Kontexten zunächst eine bedeutsame Stellung beizumessen, um diesen Vorstoß zugleich oder im unmittelbaren Anschluss zu relativieren, zeigt sich einerseits in der Vorlesung Nietzsches Metaphysik und andererseits in einer bemerkenswerten, in ihrer Wichtigkeit kaum zu überschätzenden Passage aus der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst.

1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik Im sechsten Kapitel der nicht gehaltenen, für das Wintersemester 1941/42 angekündigten Vorlesung Nietzsches Metaphysik setzt sich Heidegger mit der Frage auseinander, ob die von ihm auserkorenen fünf Grundworte der Metaphysik Nietzsches – der Wille zur Macht, die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Übermensch, der Nihilismus und die Gerechtigkeit – in einem paritätischen Gedankenrelief angeordnet werden können. Jedem einzelnen Grundbegriff ist im Hauptteil der Vorlesung Nietzsches Metaphysik ein Abschnitt gewidmet, in dem Heidegger dessen hauptsächliche Charakteristika, die Provenienz, den jeweiligen Wirkungsbereich und die interne Verflochtenheit mit den anderen Instanzen ausfächert. Mit dieser Aufgliederung in unterschiedliche Abschnitte möchte Heidegger freilich nicht den Eindruck erwecken, die singulären Titel könnten die ihnen zugemessene Funktion und Geltung auch ohne den Verweisungszusammenhang mit den anderen Grundworten ausüben. Isoliert betrachtet, zerstreut sich nach Heidegger die Triftigkeit der Grundworte. 42 Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung, GA 46, hrsg. von Hans-Joachim Friedrich, Frankfurt a. M. 2003, S. 195f. 43 In dem von Martin Heidegger und Eugen Fink im Wintersemester 1966/1967 gemeinsam veranstalteten Freiburger Seminar kommt das Heraklit-Fragment 28 (δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει· καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας.) ebenfalls zur Sprache. Fink übersetzt dabei δοκιμώτατος mit „der am meisten Vernehmende“ (statt: „der Angesehenste“), der die erscheinenden Dinge nicht festhält, sondern im ἓν zusammenschließt. Die Zimmerer der Lügen sind hingegen diejenigen, welche die Dinge nicht in die Fuge der Einheit hineinnehmen. Die Zimmerer der Lüge lösen die Dinge nach Fink als einzelne heraus und verlieren sich an das nebeneinander bestehende Viele. Somit zeigen sie sich für Fink als Zeugen der wirklichen, aufglänzenden Dinge, die sie jedoch allein in ihrer Unmittelbarkeit verabsolutieren. Dadurch werden die ‚Zeugen‘ zu ‚Verfertigern von Lügen‘, die das einigende Licht nicht berücksichtigen. Die Δίκη hingegen repräsentiert für Fink das Weltgesetz und die machtvolle Wächterin, deren Weisung der Denker nachkommt, wenn er die πάντα in der Helle des Feuers versammelt. Vgl. Heidegger/Fink, Heraklit, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, S. 247–250. 44 Vgl. dazu auch das vierte Kapitel der vorliegenden Arbeit, in dem eine eigenständige Interpretation der heraklitischen Δίκη vorgenommen wird.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Apostrophiert Heidegger in den tatsächlich gehaltenen Nietzsche-Vorlesungen zumeist die Zusammengehörigkeit zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht – weil das Seiende im Ganzen in der Seinsweise der ewigen Wiederkehr ist, muss es notwendigerweise die Verfassung des Willens zur Macht besitzen und umgekehrt45 – so weitet er diese Form der wechselseitigen Bedingtheit 1941/42 auf das Geflecht der Grundworte insgesamt aus. Generell stellt die These einer Durchdringung und Interdependenz der Grundworte kein Novum in Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche dar. Beispielsweise fungiert die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Vorlesung des Sommersemesters 1937 als Voraussetzung für die ultimative Herausschälung des Nihilismus und absolviert gleichzeitig die Überwindung jener Leere und Sinnlosigkeit, die sie selbst zu ihrem Gipfel führt.46 In der Vorlesung Der europäische Nihilismus wird hingegen der wertsetzende Wille zur Macht mit dem Nihilismus zusammengedacht.47 Um den Sinn und die Wirkungsfülle jedes einzelnen Titels zu erschließen, ist es nach Heidegger unabdingbar, stets die konstituierende Verbindung zu dem ganzen Komplex im Blick zu behalten. Der „Einklang“48 der perspektivischen Versammlung aller Grundworte spiegelt sich nach Heidegger gleichsam monadisch in jeder der fünf Entitäten wider. Angesichts dieser Sachlage habe Nietzsche keinem der fünf Grundworte den „ausschließlichen Vorrang“49 eingeräumt. Keines dürfe beanspruchen, „einzig alle Gedankenfügung leiten“50 zu können. Im sechsten Kapitel51 (Die fünf Grundworte Nietzsches und die Metaphysik des Willens zur Macht) der Vorlesung Nietzsches Metaphysik betont Heidegger, dass sich Nietzsches Bestimmung des Seins des Seienden in jedem Grundwort in gleicher Weise, doch unter einem jeweils präferierten Gesichtspunkt manifestiere. Wegen seiner Einfügung in die Grundstellung der Metaphysik gehorche Nietzsche deren „verborgener Einheit“.52 Durch die Konzeption eines solchen Einheitssinnes, der die fünf Grundworte zusammenhalten soll, systematisiert Heidegger seine eigene Auseinandersetzung mit Nietzsche. In der Vorlesung Nietzsches Metaphysik macht Heidegger seine Ergründung und Festlegung der Haupttitel nicht als Dokument einer langjährigen Reflexion sichtbar, die eklatante Wandlungen in der Bewertung der Titel des metaphysischen Quintetts beinhaltet. Stattdessen erweckt Heidegger den Anschein, dass die fünf Leittitel im Verlauf seines verschachtelten und mitunter rekursiven Deutungsweges immer schon jene Bedeutung, Gestalt und Machttragweite hatten, wie sie 1941/42 fixiert wird. Die von Heidegger postulierte, verborgene Einheit bezeichnet nicht nur den Nexus der Grundworte Nietzsches. Entscheidend ist, dass sich diese welterschließende Verzweigungseinheit nach Heidegger in allen wesentlichen Grundstellungen der Meta45 46 47 48 49 50 51 52

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Vgl. Heidegger, N I, S. 416f. Vgl. ebd., S. 390. Vgl. Heidegger, N II, S. 75ff. Heidegger, GA 50, S. 77. Ebd., S. 77. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 77–82. Ebd., S. 77.

1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

physik bekundet und wiederholt. Jeder ontologische Gesamtentwurf segmentiert sich stets in die epochal-geschichtlichen Konfigurationen der Wahrheit, der Geschichte, des Wesens des Menschen, der Seiendheit und der Seinsweise des Seienden im Ganzen.53 Diese Leitbahnen metaphysischer Weltdeutung werden von Heidegger auch im Anhang von Nietzsches Metaphysik aufgeführt. Im Hinblick auf einen potenziellen Vorrang der Gerechtigkeit ist von höchster Signifikanz, dass das seinsgeschichtliche Theoriequintett nach Heidegger in dem Titel der „Wahrheit des Seienden als solchen“54 geeint wird: Die vier Bestimmungen: essentia, existentia, Geschichte, Menschenwesen – einig in der fünften: Wahrheit des Seienden als solchen. Die Metaphysik kennt nur einige Bestandstücke ihrer selbst in ihrer Auslegung, aber nicht die Wesenseinheit aus dem Seyn.55

Die Hauptzüge der metaphysischen Wesensprädikate spiegeln sich in Nietzsches Grundworten Gerechtigkeit (Wahrheit), Nihilismus (Geschichte), Übermensch (Wesen des Menschen), Wille zur Macht (Grundcharakter des Seienden/essentia) und ewiger Wiederkehr des Gleichen (Seinsweise des Seienden im Ganzen/existentia). Überraschenderweise können im Anhang der Vorlesung von 1941/42, der unveröffentlichte „Aufzeichnungen zu Nietzsches Metaphysik“56 enthält, weder der Wille zur Macht noch die ewige Wiederkehr eine Priorität gegenüber den anderen Grundworten für sich vindizieren. Heidegger hält sich im Anhang mit einem Urteil zurück, inwiefern eine der beiden Lehren die „verborgene Einheit“57 der Grundbegriffe erschließen oder gar fundieren könnte. Vielmehr scheint diese Rolle der Gerechtigkeit zuzukommen, insofern sie nach Heidegger als (die anderen vier Bestimmungen einigende) „Wahrheit des Seienden als solchen“58 zu begreifen ist. Deswegen wendet Heidegger einigen argumentativen Aufwand auf, um die Möglichkeit zu exkludieren, die Gerechtigkeit könnte zum herausragenden Zentralgedanken Nietzsches aufsteigen. Allerdings ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Gerechtigkeit sowohl im Vorlesungstext von Nietzsches Metaphysik als auch im Anhang nicht als die kosmische Δίκη Heraklits betrachtet wird. Ebenso wie schon in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis59 (1939), tritt die Gerechtigkeit 1941/42 vornehmlich in der Gestalt der bauend-ausscheidend-vernichtenden, weitumherschauenden Vollendungsfigur der korrespondenztheoretisch verfassten Wahrheit auf und figuriert dementsprechend als Repräsentantin des Willens zur Macht.60 Im Unterschied zur NietzscheVorlesung von 1939, vertieft Heidegger 1941/42 diese Funktionsbestimmung jedoch in einer ungeahnten Weise. Deren vorläufiges Ergebnis kristallisiert sich in dem Sach53 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 77. Ebd., S. 83. Vgl. Heidegger, N I, S. 576f. Vgl. Heidegger, GA 50, S. 74: „Das ‚Etwas‘ jedoch, was in der Gerechtigkeit ‚erhalten‘ werden will, ist die Beständigung des unbedingten Wesens des Willens zur Macht als des Grundcharakters des Seienden.“

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

verhalt heraus, dass die Gerechtigkeit der Botmäßigkeit des Willens zur Macht entwunden wird: Wenn Heidegger im Anhang zur Vorlesung Nietzsches Metaphysik davon spricht, das „verborgene Wesen“61 der Gerechtigkeit artikuliere sich darin, dass sie die „Wahrheit des Seienden als solchem im Ganzen“62 exemplifiziere, so scheint sie sich als Einheitsstifterin und als Mittelpunkt innerhalb der Grundworte zu enthüllen. Indes kündigt sich bereits im Titel des sechsten Kapitels („Die fünf Grundworte Nietzsches und die Metaphysik des Willens zur Macht“) an, dass sowohl die Parität der Grundworte als auch der Primat der Gerechtigkeit angefochten wird. An diesem Ort subsummiert Heidegger die fünf Grundworte unter der „Metaphysik der unbedingten und vollendeten Subjektivität des Willens zur Macht“.63 Aufgrund dieser Koordinierung der vier anderen Titel unter der Ägide des Willens zur Macht neigen zahlreiche Kritiker dazu, Heidegger eine unzulässige Vereinnahmung Nietzsches vorzuwerfen. Dabei wird zumeist unterschlagen, dass Heidegger diese hermeneutische Aneignungsproblematik selbst erkannte und umsichtig reflektiert hat. Besonders im sechsten Kapitel von Nietzsches Metaphysik ist sich Heidegger vollkommen im Klaren, dass die Unterminierung der von ihm selbst behaupteten Ranggleichheit der fünf Grundworte zugunsten der Metaphysik des Willens zur Macht als eine „von außen kommende, nur rückwärts blickende geschichtliche Einordnung“64 aufgefasst werden könnte. Diese wäre zudem mit dem Makel behaftet, auf „dem Grunde eines Begriffes der Metaphysik“65 zu verfahren, den „Nietzsches Denken zwar erfüllt und bestätigt, aber nicht begründet und eigens entwirft“.66 Um seine Charakterisierung der Metaphysik Nietzsches als letzter Gestalt der neuzeitlichen Subjektivität des Willensdenkens nichtsdestotrotz unterstreichen zu können, stellt Heidegger zunächst in die Frage, weswegen der Wille zur Macht in der Präsentation der fünf Grundworte den Vorrang erhalten muss, wie es in Heideggers Klassifikation des Denkens Nietzsches als „Metaphysik ‚des‘ Willens zur Macht“67 – im Sinne des genitivus subjectivus und objectivus – offenkundig geschieht. Im Anhang der Vorlesung Nietzsches Metaphysik wird nicht mehr die ewige Wiederkehr des Gleichen als Gegenpart des Willens zur Macht behandelt. Vielmehr nobilitiert Heidegger die Gerechtigkeit zu dem einzigen Grundwort, das den Willen zur Macht als Einheitsgrund ablösen und die Verzweigung in die metaphysischen Wesensbestimmungen der Wahrheit, des Menschen, der Geschichte und des Seienden im Ganzen strukturieren könnte. In diesem Kontext bezeugt sich Heideggers Aufhebung der Sphärentrennung zwischen der Metaphysik und dem geschichtlichen Geschehen. Die Metaphysik eines maßgeblichen Denkers repräsentiert nach Heidegger keine private Option der Weltentzifferung. Indem die epochendominierende Metaphysik die gegenwärtige und 61 62 63 64 65 66 67

20

Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 77. Ebd., S. 77. Ebd., S. 77. Ebd., S. 78. Ebd., S. 78.

1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

künftige Verfassung eines Zeitalters vorausentwirft und dessen Leitprinzipien exponiert, lässt sich die in der Metaphysik ergründete Wesensform der Wahrheit – wie beispielsweise die ὁμοίωσις in der platonischen Philosophie, die Gewissheit im Rationalismus Descartes´ und schließlich die Gerechtigkeit bei Nietzsche – nicht auf ein im Denken willkürlich ersonnenes Gefüge restringieren. Der metaphysisch qualifizierte Wahrheitsentwurf durchzieht das Seiende im Ganzen. Auf der einen Seite illustriert sich in Nietzsches Konzeption der Gerechtigkeit also die Art und Weise, wie und wodurch das Seiende in seinem Was-Sein und in seiner Faktizität in die Unverborgenheit und damit in die Vernehmbarkeit des Menschen einrückt: Die Gerechtigkeit ist die vorausbauende Zuteilung der Bedingungen, die ein ‚Erhalten‘, d. h. ein Bewahren und Erlangen sicherstellen. […] Weil sie [die Gerechtigkeit, J.K.] aber alles Erscheinenlassen und jede Entbergung trägt und durchherrscht, ist sie das innerste Wesen der Wahrheit.68

Auf der anderen Seite schenkt das Wahrheitswesen der Metaphysik Nietzsches durch das epochal situierte Hervorgehenlassen des Seienden die Möglichkeit, dieses Seiende als solches in seinen differenzierten Hinsichten zu bestimmen und es in seiner Verfassung, Seinsweise und Geschichte befragen zu können: Das von aller Metaphysik übernommene und, sei es auch nur noch in der völligen Vergessenheit, bewahrte Wesen der Wahrheit ist aber das Erscheinenlassen als Entbergen des Verborgenen: die Unverborgenheit. Also ist die ‚Gerechtigkeit‘, weil die höchste Weise des Willens zur Macht, der eigentliche Bestimmungsgrund des Wesens der Wahrheit.69

Durch dieses Entbergungsgeschehen wird die Metaphysik Nietzsches in die Lage versetzt, die sich geschichtlich wandelnde „Wahrheit des Seienden als solchen im Ganzen“70 zu vernehmen und sie in der Gestalt der neuzeitvollendenden Offenbarkeit der Seiendheit als Willen zur Macht zu konturieren. Erst auf dieser Basis kann Nietzsche die allumgreifende Manifestation des Willens zur Macht in jedem einzelnen Seienden und in der Welt im Ganzen statuieren und diesen Sachverhalt gedanklich festhalten. Innerhalb der Metaphysik Nietzsches bezeichnet die als Entbergungsinstanz verstandene Gerechtigkeit also nicht nur einen von fünf ebenbürtigen Aspekten des Seins des Seienden. Konsequent bedacht, enthüllt sie sich im Rahmen des von Seiten Heideggers lancierten Gedankenganges als einigender Grund der anderen vier Haupttitel. Daher fragt Heidegger: Wenn jedoch Nietzsches Metaphysik als die Metaphysik ‚des‘ Willens zur Macht ausgezeichnet wird, erhält dann nicht doch ein Grundwort den Vorzug? Warum gerade dieses? Gründet der Vorrang dieses Grundwortes darin, daß hier die Metaphysik als die Metaphysik der unbedingten und vollendeten Subjektivität erfahren wird? Warum, wenn die Metaphysik überhaupt die Wahrheit des Seienden als solchen im Ganzen ist, soll nicht das Grundwort ‚Gerechtigkeit‘, das ja den Grundzug der Wahrheit dieser Metaphysik nennt, Nietzsches Metaphysik auszeichnen?71

68 69 70 71

Ebd., S. 74. Ebd., S. 72. Ebd., S. 83. Ebd., S. 78.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Um die Option des Vorranges der Gerechtigkeit abzuweisen, wählt Heidegger eine für ihn ungewöhnliche Argumentationsstrategie: Er weist darauf hin, dass Nietzsche die Gerechtigkeit nur in den „beiden erläuterten Aufzeichnungen, die er selbst nie veröffentlichte“72, d. h. in der Beleuchtung der Gerechtigkeit als „höchster Repräsentant des Lebens“73 und als „Funktion einer weitumherschauenden Macht“74, auf dem „Grunde des Willens zur Macht“75 entfaltet habe. Heideggers Kernthese lautet folglich, dass die Seltenheit, der thetisch-knappe Duktus, der Gehalt und die Fragmentarität der beiden Wesensumgrenzungen, in denen Nietzsche die Gerechtigkeit in ihrer metaphysischen Vertiefung bedachte, darauf indizieren, dass er „nirgends“76 zur dezidierten Kennzeichnung der Gerechtigkeit als „Bestimmungsgrund des Wesens der Wahrheit“77 vorgedrungen sei. Deswegen habe Nietzsche die geschichtsträchtige Bedeutung der Gerechtigkeit nicht vollständig erfasst. Bemerkenswerterweise zieht Heidegger eine Textstelle aus einem 1885/86 (und damit zur gleichen Zeit wie die beiden metaphysischen Hauptauslegungen der Gerechtigkeit) verfassten Vorrede-Entwurf zu dem Werk Menschliches, Allzumenschliches heran. Diese Aufzeichnung wird von Heidegger mit dem Status eines aufschlussreichen Selbstbekenntnisses Nietzsches aufgeladen. Nietzsche gestehe in dem Passus ein, dass ihm bis dahin „eine entscheidende Einsicht nie zur wirklichen Klarheit gediehen war“.78 Es ist unschwer zu erkennen, dass Heidegger mit dieser defizitären Einsichtscharakterisierung die Besinnung auf die Gerechtigkeit als Grundzug der Wahrheit meint. Heidegger zitiert die folgende Partie aus Nietzsches Nachlass: Es geschah spät, daß ich dahinter kann, was mir eigentlich noch ganz und gar fehle: nämlich die Gerechtigkeit. ‚Was ist Gerechtigkeit? Und ist sie möglich? Und wenn sie nicht möglich sein sollte, wie wäre da das Leben auszuhalten?‘ – solchermaßen fragte ich mich unablässig. Es beängstigte mich tief, überall, wo ich bei mir selber nachgrub, nur Leidenschaften, nur Winkel-Perspektiven, nur die Unbedenklichkeit Dessen zu finden, dem schon die Vorbedingungen zur Gerechtigkeit fehlen: aber wo war die Besonnenheit? – nämlich Besonnenheit aus umfänglicher Einsicht.79

Wie oben demonstriert, bemängelt Heidegger im Hinblick auf die beiden späten Wesensdefinitionen der Gerechtigkeit, dass Nietzsche in ihnen zwar das Junktim der Gerechtigkeit mit dem Willen zur Macht anvisiert habe, die Gerechtigkeit jedoch nicht als Titel der Wahrheit des Seienden im Ganzen beleuchtet habe. Hingegen moniert Heidegger – ausgehend von der Passage aus dem retrospektiv-selbstkritischen Vorre72 Ebd., S. 78. 73 Vgl. ebd., S. 69: „Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschätzungen heraus: höchster Repräsentant des Lebens selber.“ Vgl. Nietzsche, NF-1884,25[484]. 74 Vgl. Heidegger, GA 50, S. 73: „Gerechtigkeit, als Funktion einer weitumherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von Gut und Böse hinaussieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat – die Absicht, Etwas zu erhalten, das mehr ist als diese oder jene Person.“ Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[149]. 75 Heidegger, GA 50, S. 78. 76 Ebd., S. 78. 77 Ebd., S. 78. 78 Ebd., S. 78. 79 Vgl. ebd., S. 78f. Vgl. Nietzsche, KSA 11, S. 664.

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1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

de-Entwurf zu Menschliches, Allzumenschliches – in umgekehrter Stoßrichtung, dass Nietzsche die Gerechtigkeit ansatzweise (und demnach noch nicht in „umfänglicher Einsicht“) zwar schon im sechsten Abschnitt der Historienschrift als den Bestimmungsgrund der Wahrheit im Sinne der Objektivität erahnt habe.80 In dieser Ahnungsgestalt habe er allerdings weder die Einbettung der Gerechtigkeit in den Willen zur Macht berücksichtigt noch die fundierende Stellung der Subjektivität – der die Gerechtigkeit als Wurzel der Objektivität schon in der Historienschrift entsprechen müsste – erfahren: Von dieser späten Einsicht fällt aber auch ein Licht zurück auf jenes frühe, Nietzsches Denken überall durchwaltende Ahnen, das in der zweiten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ (‚Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‘, n. 6) ausdrücklich die ‚Gerechtigkeit‘ an die Stelle der verworfenen ‚Objektivität‘ der historischen Wissenschaft setzt; dies jedoch, ohne das Wesen der ‚Objektivität‘ metaphysisch aus der Subjektivität zu begreifen, dies auch, ohne vom Grundcharakter der Gerechtigkeit, vom Willen zur Macht, schon zu wissen.81

Weil Nietzsche später (d. h. 1884/85) in den beiden hauptsächlichen Aufzeichnungen offenkundig zum Ausdruck bringt, dass er um die Juxtaposition zwischen dem Willen zur Macht und der Gerechtigkeit weiß, verdichtet Heidegger (unter Zugrundelegung der Selbstkritik aus der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches) das Monitum einer Absenz der Gerechtigkeit schließlich gänzlich in dem Topos des nicht hinreichend bedachten Wesens der Gerechtigkeit als „Bestimmungsgrund der Wahrheit“.82 Die Gerechtigkeit hätte den Willen zur Macht als metaphysischen Haupttitel nach Heidegger nur dann substituieren können, wenn es Nietzsche gelungen wäre, sie in ihrem Bezugsverhältnis zur Wahrheit des Seienden zu würdigen: Weil aber dennoch in Nietzsches Denken verhüllt bleibt, daß und wie die ‚Gerechtigkeit‘ der Wesenszug der Wahrheit ist, darf auch das Grundwort ‚Gerechtigkeit‘ nicht zum Haupttitel der Metaphysik Nietzsches erhoben werden.83

Heideggers Verlagerung der Beweislast auf Nietzsches Denken ist nicht überzeugend, da sie sich wie ein unfreiwilliges Eingeständnis des Scheiterns der eigenen Interpretationsmaxime liest. Ist es doch das zentrale Anliegen Heideggers, die „verhüllten“ Bezüge, die verdeckten Kontinuitäten metaphysischer Leitdezisionen und die für die abendländische Geschichte prägenden Gedanken sichtbar zu machen, die in ausgewählten Nietzsche-Fragmenten wiederaufleben. Dergestalt soll Nietzsche als Übergang profiliert werden, der alle im ersten Anfang einbeschlossenen Möglichkeiten versammelt, die Geschichte der Metaphysik mit der Revitalisierung der anfänglichen 80 Vgl. Heidegger, GA 50, S. 79. Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 287: „Nur insofern der Wahrhafte den unbedingten Willen hat, gerecht zu sein, ist an dem überall so gedankenlos glorificirten Streben nach Wahrheit etwas Grosses: während vor dem stumpferen Auge eine ganze Anzahl der verschiedenartigsten Triebe wie Neugier, Furcht vor der Langeweile, Missgunst, Eitelkeit, Spieltrieb, Triebe die gar nichts mit der Wahrheit zu thun haben, mit jenem Streben nach Wahrheit, das seine Wurzel in der Gerechtigkeit hat, zusammenfliessen.“ [Von mir kursiv, J. K.] 81 Heidegger, GA 50, S. 79. 82 Vgl. ebd., S. 78. 83 Ebd., S. 79.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Antworten auf die Frage nach dem Seienden als solchem abschließt und auf den Aufgang des Seins aus der tiefsten Seinsvergessenheit vorausweist. Heidegger selbst fordert eine Hermeneutik, die den von Nietzsche veröffentlichten Primärtext transzendiert und in dessen Ungesagtes vorstößt, um Nietzsches Metaphysik (je nach entwicklungsgeschichtlichem Stadium der Auseinandersetzung) entweder als „Wetterleuchten eines neuen Anfangs“84 oder als philosophische Antizipation der gänzlich von der Subjektivität und dem Willen zum Willen dominierten, künftigen Jahrhunderte sichtbar zu machen. Angesichts dieser Interpretationsleitlinie Heideggers ist es höchst bedenkenswert, dass er das Grundwort der „Gerechtigkeit“ in der Vorlesung von 1941/42 nur deswegen nicht zur auszeichnenden Einheitsfigur und zum zentralen Haupttitel der Metaphysik Nietzsches zu erheben gedenkt, weil Nietzsche selbst diesen Gedanken unzureichend thematisiert und untersucht habe. Die Strahlkraft der Gerechtigkeit bleibe in Nietzsches Denken „verhüllt“, da es Nietzsche nicht gelungen sei, sie markant als durchherrschenden Grund des neuzeitlichen Wahrheitswesens herauszuarbeiten. Es ist also der Maßstab der immanenten Relevanzeinordnung der Gerechtigkeit in Nietzsches Werk, der von Heidegger angewendet wird, um eine Heraufstufung der Gerechtigkeit zum Zentrum der fünffachen Verstrebung zu konterkarieren. Dies ist insofern erstaunlich, als das Kriterium und Gebot der werkgetreuen Fokussierung auf das Gesagte in Heideggers allgemeiner Interpretationsstrategie der großen Denker ansonsten keinen triftigen Hindernisgrund für die Insistenz auf der Geltungsprätention seines seinsgeschichtlichen Narrativs bildet. Es wirkt inkonsequent und widersprüchlich, dass Heidegger im Anhang der Vorlesung Nietzsches Metaphysik auf der einen Seite die Einsicht für sich beansprucht, das „verborgene Wesen“85 der Gerechtigkeit offenbare sich in ihrer Schlüsselstellung als „Wahrheit des Seienden als solchen“.86 Sachlogisch impliziert diese Einschätzung Heideggers, dass die Gerechtigkeit als Kern der Metaphysik Nietzsches nominiert werden müsste. Auf der anderen Seite behauptet Heidegger, die Subordination der Gerechtigkeit unter den Willen zur Macht sei dadurch gerechtfertigt, dass Nietzsche selbst die Reduktion der Wahrheit auf die Gerechtigkeit – die den Primat der letztgenannten in einer ‚Metaphysik der Gerechtigkeit‘ zum Resultat hätte – nicht geleistet habe. Zudem ließe sich auch in direktem Bezug auf Heideggers eigene Deutung einwenden, dass in „Nietzsches Denken verhüllt bleibt“87 oder zumindest keineswegs eindeutig beantwortet wird, weswegen und ob der Wille zur Macht als essentia und die ewige Wiederkehr als existentia zu identifizieren ist. Des Weiteren könnte beispielsweise problematisiert werden, inwieweit der Nihilismus tatsächlich als Nietzsches endgültige Auffassung des Wesens der abendländischen Geschichte zu beurteilen ist. Indes könnte sogar mit Heidegger dafür plädiert werden, Nietzsche habe die 84 Vgl. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt a. M. 1988, S. 5. 85 Heidegger, GA 50, S. 83. 86 Vgl. ebd., S. 83. 87 Ebd., S. 79.

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1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

Gerechtigkeit als Wesenszug der Wahrheit partiell erkannt. Als fruchtbare Belegdokumente für diese These könnten sowohl der von Heidegger selbst ins Spiel gebrachte, VI. Abschnitt der Historienschrift als auch Nietzsches Exposition der Gerechtigkeit als bauend-ausscheidend-vernichtende Denkweise herangezogen werden. Demgegenüber scheinen sich die Dechiffrierung des zur prinzipienhaften Kraft aufsteigenden Willens zur Macht als essentia und die Approximation der ewigen Wiederkehr des Gleichen an die Seinsweise des Seienden weit stärker der interpretativen Einflussnahme Heideggers zu verdanken – so plausibel diese Rückführungen und Annäherungen auch sein mögen. Im Anhang lassen sich zwei weitere, kommentierungsbedürftige Textstellen hervorheben. Einerseits begründet Heidegger darin seine Ansicht, dass die Gerechtigkeit nicht zum Haupttitel avancieren könne, durch eine immanente Rückstufung der Gerechtigkeit innerhalb der Metaphysik Nietzsches. Andererseits liefert er eine erhellende Erklärung, weswegen der Sinn der Gerechtigkeit als „Wesenszug der Wahrheit“ in Nietzsches Denken „verhüllt“ bleibe. Die erste Textstelle lautet: ‚Metaphysik‘ ist die Wahrheit ‚des‘ Seienden als eines solchen im Ganzen. Die Metaphysik der unbedingten und vollendeten Subjektivität denkt, ohne es zu sagen, das Wesen ihrer selbst, nämlich das Wesen der Wahrheit, als Gerechtigkeit. Die Wahrheit ‚des‘ Seienden als solchen im Ganzen ist darnach Wahrheit ‚über‘ das Seiende, so freilich, daß ihr eigenes Wesen aus dem Grundcharakter des Seienden durch den Willen zur Macht als dessen höchste Gestalt entschieden wird.88

Auffällig ist, dass Heidegger in diesem Passus nicht auf den Topos der bei Nietzsche angeblich noch verhüllten Konfiguration von Gerechtigkeit und Wahrheit zurückgreift, um die Präponderanz der Gerechtigkeit zu entkräften. Das gegenüber Nietzsche reklamierte Unverständnis des wahren Gehalts der Gerechtigkeit hallt zwar in der Formulierung, die unbedingte Subjektivität bedenke die wahrheitstheoretische Etablierung der Gerechtigkeit, „ohne es zu sagen“89, wider. Allerdings kehrt Heidegger in dem obigen Zitat alsbald zu der seinsgeschichtlichen Sichtweise zurück, insofern die Unklarheit des Status der Gerechtigkeit in Nietzsches Werkkosmos nicht davon dispensiere, sie in anamnetischer Absicht eindeutig als das Wesen der Wahrheit zu markieren. Nach Heidegger musste das Wahrheitswesen für Nietzsche aufgrund seiner (Nietzsches) Einfügung in die Metaphysik verborgen bleiben und konnte nicht in seiner Wandlungstiefe und in seiner letzten Gestalt aufleuchten. Prima facie wird der Rang der Gerechtigkeit in der obigen Textstelle jedoch immens aufgewertet, weil sie innerhalb der Metaphysik Nietzsches – die Heidegger 1941/42 mit der „Metaphysik der unbedingten und vollendeten Subjektivität“90 identifiziert – eine für Nietzsche unbewusst-latente Selbstthematisierung („das Wesen ihrer selbst“) dieser letzten abendländischen Grundstellung überhaupt leistet. Die Gerechtigkeit zeigt sich als dasjenige Grundwort, das die Doppelbödigkeit der Metaphysik – das von ihr be-

88 Ebd., S. 80. 89 Ebd., S. 80. 90 Vgl. ebd., S. 77.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

stimmte Wesen der Wahrheit ist auch das Wesen ihrer selbst als Wahrheit des Seienden – abzubilden imstande ist. Um die autoreflexive Struktur des Gedankens der Gerechtigkeit zu veranschaulichen, die innerhalb der Metaphysik Nietzsches die Position der Wahrheit einnimmt (wie z. B. das Grundwort des Nihilismus den Sachbereich der Geschichte und der Übermensch die Wesensbestimmung des Menschen) und gleichzeitig diese Metaphysik als ihr Wesen umgreift, erscheint eine freie Rekonstruktion sinnvoll: Generell äußert sich die herausragende Tragweite der Metaphysik für Heidegger darin, die Seiendheit, das Sein des Seienden, zu vernehmen und zu thematisieren. Im Hinblick auf Heideggers Gradierung der Gerechtigkeit zum Wesen der Metaphysik der unbedingten Subjektivität ist also nochmals zu bekräftigen, dass die einschneidenden Denker der Metaphysik nach Heidegger nicht einfach nur die materiale Gestalt der Seiendheit ergründen, der sie – in einem notwendigen Verkennen der sich verbergenden Geschichtlichkeit des Seins – die Dignität überzeitlicher Gültigkeit und damit den Rang einer an sich seienden, universalen Wahrheit verleihen. In diesem Fall ließe sich die Metaphysik als philosophische Königsdisziplin vorstellen, die sich von dem distanzieren könnte, was sie als Gepräge der Welt entwirft. Demgegenüber ist die Metaphysik im Ganzen nach Heidegger die „Wahrheit des Seienden als solchen“. Sie wird mit der entbergenden Wahrheit gleichgesetzt, weil sich in der Metaphysik – die deswegen kein „Gemächte des Menschen“91 sein kann – notwendigerweise jene geschickhafte Seiendheit (das Seiende als solches) in ihrem geschichtlichen Sich-Zeigen herauskristallisiert. Als Grund der Wirklichkeit umrandet und determiniert die Seiendheit die tatsächliche Beschaffenheit des jeweils von ihr durchherrschten Zeitalter. Jegliches in der Unverborgenheit erscheinende Seiende wird nach Maßgabe der leitenden Seiendheit geprägt und tritt beispielsweise als ein Wollendes auf. Wenn die Gerechtigkeit als neuzeitbestimmendes Wesen der Wahrheit zu dekuvrieren ist, muss jede Art der Wahrheit – auch und gerade die Metaphysik der Subjektivität als letzte Gestalt der Wahrheit des Seienden – unter ihrer Ägide angesiedelt sein und ihren Anforderungen genügen. Somit würde die Gerechtigkeit im Gefüge von Nietzsches Metaphysik auf einer umgreifenden, tieferen Ebene als der Wille zur Macht residieren. Die Gerechtigkeit stellt das Wesen jener endzeitlichen Wahrheit des Seienden als solchen dar, die mit der Metaphysik der unbedingten Subjektivität identisch ist. Darauf aufbauend, wird transparent, weswegen sich die Metaphysik der voluntaristischen Subjektivität nach Heidegger in dem Grundwort „Gerechtigkeit“ selbst in ihrem Wesen denkt, ohne dies registrieren und „sagen“ zu können. Im Ausgang von den beiden wesentlichen Äußerungen Nietzsches ist es zwar legitim und naheliegend, die Gerechtigkeit als eines der fünf Hauptworte neben dem Willen zur Macht, der ewigen Wiederkehr, dem Nihilismus und dem Übermenschen koexistieren zu lassen. Doch gerade wenn die Gerechtigkeit als gestaltgebender Mosaikstein dieses Reliefs gewürdigt wird, droht in Vergessenheit zu geraten, dass die Gerechtigkeit ebenjene einende Kraft des „verborgenen Wesens“ besitzen könnte, die sie zum Grundzug der letzten Metaphysik aufsteigen ließe. 91 Ebd., S. 80.

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1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

Die Metaphysik der unbedingten Subjektivität bringt nach Heidegger die Wahrheit des Seienden als solchen, d. h. dessen Verfassung, in dem planetarischen Zeitalter der Seinsvergessenheit zum Ausdruck. Das Seiende ist in seiner Wahrheit dadurch charakterisiert, nur dann und schon gerechtfertigt zu sein, wenn es im Herrschaftskreis der Subjektivität des Willens zur Macht in den Vorschein gelangt. Um „wahr“ zu sein, muss das Seiende in diesem letzten Stadium der Metaphysik weder einer Anmessung an den Verstand noch der Gewissheit einer Vorstellungsrichtigkeit entsprechen.92 Das Distinktionskriterium der Wahrheitsbewährung verflüchtigt sich in der metaphysischen Moderne zur Lebens- und Willensgemäßheit, in welche das Seiende von der Gerechtigkeit eingespannt wird. Auf diese Weise bekundet sich die Gerechtigkeit als Wahrheit ‚über‘ das Seiende im Sinne einer aktiv eröffnenden, die Verbergung aufhebenden Instanz. Erst durch die freigebende Einwirkung der Gerechtigkeit kann der Wille zur Macht „‚über‘ das Seiende“93 kommen und sich als das Seiende als solches erweisen. In ihrer Verflechtung mit dem Wahrheitswesen betrachtet, avanciert die Gerechtigkeit zur Voraussetzung des Willens zur Macht. Sie firmiert als das Wesen der Wahrheit, indem sie vorgibt, mit welchen Richtlinien dasjenige, was als wahr und als seiend gelten darf, zu ermitteln ist und in welchem Licht dieses erscheinen muss. Unter diese kriterielle Botmäßigkeit fällt nicht nur jedes einzelne Seiende, sondern mit dem Seienden als solchen auch der Wille zur Macht. Den weiteren Gedankenverlauf intermittiert Heidegger durch einen gravierenden Perspektivwechsel. In diesem Rahmen wird der Wille zur Macht als Akteur rehabilitiert, der sich die ihm eignende Baugestalt der Metaphysik schafft. Auf dieser Wendung fußt jene Superiorität des Willens zur Macht über die Gerechtigkeit, die in der zweiten Hälfte des oben rekapitulierten Zitats ostensibel wird. Diese sei zur Verdeutlichung noch einmal zitiert: Die Wahrheit ‚des‘ Seienden als solchen im Ganzen ist darnach Wahrheit ‚über‘ das Seiende, so freilich, daß ihr eigenes Wesen aus dem Grundcharakter des Seienden durch den Willen zur Macht als dessen höchste Gestalt entschieden wird.94

Wie oben angeschnitten, lässt die im gleichen Zitatzusammenhang geäußerte Überlegung zur Gerechtigkeit als autoreflexives Wesen der Metaphysik der unbedingten Subjektivität drei interpretative Verzweigungen zu: Erstens kann die Gerechtigkeit als der prägende ‚Grundzug‘ und Haupttitel der Metaphysik Nietzsches verstanden werden. Zweitens lässt sie sich als externe, nicht in Nietzsches Metaphysik aufgehende Instanz charakterisieren, welche die endgültige Figuration der Metaphysik bei Nietzsche und damit auch die Herrschaft des Willens zur Macht im spezifisch-geschichtlichen Aufgehenlassen des Seienden ermöglicht. Drittens kann sie als Wesen derjenigen Wahrheit tituliert werden, welche innerhalb der Metaphysik Nietzsches direkt thematisiert wird – und diese Wahrheit offenbart sich als die Gerechtigkeit selbst.

92 Vgl. ebd., S. 71. 93 Ebd., S. 80. 94 Ebd., S. 80.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Indem Heidegger die zunächst anvisierte, zugunsten der Gerechtigkeit ausfallende Rangordnung modifiziert, erreicht er in der zweiten Hälfte des obigen Zitats sein Kernziel, das in der Untermauerung der These beruht, Nietzsche entfalte die Metaphysik des Willens zur Macht. Die Gerechtigkeit verliert zwar nicht ihre Bedeutung als Wesen der Metaphysik der unbedingten Subjektivität, doch kann sie diese Rolle nur erfüllen, wenn sich zuvor die Seiendheit als Wille zur Macht angekündigt hat.95 Obgleich die Unterordnung der Gerechtigkeit unter den Willen zur Macht an dieser Stelle subtiler fundiert wird als in ihrer Klassifikation als bloße Funktion und Vollzugsweise des Machtwillens, so ist nicht zu leugnen, dass sie erneut in Abhängigkeit von der Seiendheit begriffen wird. Bislang konnte das Verhältnis zwischen den beiden Grundworten in der folgenden Weise analysiert werden: Die Gerechtigkeit, die nicht als Statthalterin des Willens zur Macht, sondern als Nachfolgerin der ἀλήθεια auftritt, prätendiert die lichtende Fähigkeit des anfänglichen Wahrheitswesens und bringt daher auch das (vom Sein zugesprochene) neuzeitvollendende Seiende als solches im Ganzen zum Vorschein. Dieses enthüllt sich als Wille zur Macht, der sich in der ewigen Wiederkehr seiner selbst perpetuiert, weil und indem die Gerechtigkeit das Seiende immer wieder in einer Weise freigibt, die als solche allein durch den Willen zur Macht auszufüllen ist. Damit verhilft die Gerechtigkeit als Wesen der Metaphysik der Subjektivität der Umgrenzung des Seienden als Willen zur Macht, die durch das Sein verfügt wurde, zu ihrem Recht. Indes zementiert Heidegger mit den letzten Zeilen des zitierten Passus die Umkehrung dieses Verhältnisses: Die Gerechtigkeit erscheint im Binnenhaushalt der Metaphysik Nietzsches als horizontschaffende, in das Ungewagte vorausblickende Kraft. Sie substituiert, überbietet und treibt das seit Platon und Aristoteles herrschende Wesen der Wahrheit – die Adäquation – auf die Spitze, indem sie auswählt, was dem Leben entsprechen und dienstbar sein könnte, ohne deswegen „wahr“ sein zu müssen. Gemäß der zweiten Zitathälfte kann sie das Wesen der Metaphysik des Willens zur Macht jedoch nur repräsentieren, weil dieser als Grundcharakter und höchste Gestalt des Seienden gar keine andere Option zulässt, als dass sich die Wahrheit in der von ihm konturierten und erzeugten metaphysischen Grundstellung als Gerechtigkeit manifestiert. In einer Strukturanalogie zu diesem Kreationsvorgang ist Heideggers Überlegung situiert, dass der Wille zur Macht auch die ihm zugehörige Seinsweise des Seienden, die ewige Wiederkehr, evoziert.96 95 Vgl. ebd., S. 75f.: „Aus dem Wesen der neuen Gerechtigkeit entscheidet sich auch erst die ihr gemäße Art der Rechtfertigung. Diese besteht weder in der Anmessung an Vorhandenes noch in der Berufung auf an sich gültige Gesetze. Jeder Anspruch auf eine Rechtfertigung solcher Art bleibt im Bereich des Willens zur Macht ohne Grund und Widerhall. Die Rechtfertigung besteht vielmehr in dem, was allein dem Wesen der Gerechtigkeit als dem ‚höchsten Repräsentanten des Willens zur Macht‘ genügt; und das ist die ‚Repräsentation‘. Dadurch, daß sich ein Seiendes als eine Gestalt des Willens zur Macht in den Machtbezirk herausstellt, ist es schon im Recht, d. h. in dem Willen, der sich selbst seine Übermächtigung befiehlt. So allein kann von ihm gesagt werden, daß es ein Seiendes sei im Sinne der Wahrheit des Seienden als solchen im Ganzen.“ 96 Vgl. ebd., S. 75: „Der Wille zur Macht als Grundcharakter des Seienden rechtfertigt die ewige Wiederkehr des Gleichen als den ‚Schein‘, in dessen Glanz der höchste Triumph des Willens zur Macht erglänzt. In diesem Sieg erscheint das vollendete Wesen des Willens zur Macht selbst.“

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1.2. Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit als ‚Grundzug der Wahrheit‘ der letzten Metaphysik

Der Wille zur Macht könnte sich demzufolge nicht als Grundcharakter des Seienden habitualisieren und sich nicht in der für ihn konstitutiven Steigerungsbewegung halten, wenn ihm eine geschichtliche Wahrheitsgestalt zugeordnet wäre, deren Wirkradius sich in dem freien, unbeeinflussbaren Sich-Entfalten des Seienden in die Unverborgenheit oder in der Überprüfung der Richtigkeit eines Sachverhaltes durch die Vernunft äußerte. Also erzwingt er sich die Gerechtigkeit als Wesen der Wahrheit, weil die bauend-ausscheidend-vernichtende Denkweise jede Identifikation des Unveränderlichen, des Seins oder des Ewigen mit dem Wahren aufhebt und die permanente Verflüssigung anleitet. Die derart konfigurierte Gerechtigkeit sekundiert dem in das beständige Werden hineinragenden Dynamismus, der das Proprium des Willens zur Macht ausgestaltet. Neben der Gerechtigkeit, die 1941/42 als einzige ein Antidot gegen die Dominanz der voluntaristischen Seiendheit hätte bilden können, befeuern in Heideggers Vorlesung Nietzsches Metaphysik auch alle anderen Grundworte die Herrschaft des Willens zur Macht und laufen auf diesen zu. Der Nihilismus forciert die Willenseminenz, insofern er die nach dem Verlust des transzendenten Sinns in die Hände des Menschen gelegte und vom Willen zur Macht gelenkte Wertsetzung zur einzigen Möglichkeit der Lebensbejahung verengt.97 Der Übermensch stützt den Willen zur Macht, indem er die Verantwortung der Steigerung und Verklärung des Lebens übernimmt und austrägt.98 Die ewige Wiederkehr kooperiert mit der Willenssubjektivität, da sie die Weise ist, wie sich der Wille zur Macht immer wieder überwinden kann und darin der Gleiche bleibt.99 In Anbetracht dieser zentralisierenden, sämtliche Refugien übergreifenden Selbsterhaltungspotenz des Willens zur Macht wiegt es dann nicht mehr schwer, dass Heidegger die Gerechtigkeit als Wesen der metaphysischen Grundstellung Nietzsches privilegiert. In diesem Modell vermag der Aufstieg der Gerechtigkeit zum Wesen der Wahrheit des Seienden als solchen keine korrigierende Wirkung auf den Willen zur Macht auszuüben. Einerseits muss die Gerechtigkeit das Steuerungsvermögen des Willens notwendigerweise konsolidieren, weil aus ihm entschieden wird, dass sie alles Seiende für ihn eröffnen und für seine Prägung zugänglich machen solle. Andererseits lässt sich ihre Entzifferung als Wesen der Wahrheit des Seienden (beziehungsweise als Wesen der Metaphysik der Subjektivität) in diesem Kontext auch in dem von Heidegger bevorzugten, verbalen Sinne erörtern: Nach Maßgabe dieses Deutungsansatzes bezeichnet die Gerechtigkeit die Verlaufsform, wie der Wille zur Macht als Prinzip der von ihm selbst herbeigeführten Metaphysik west. Damit reduziert sich die Handlungsgewalt der Gerechtigkeit wieder auf die Funktionalität und Vollzugsweise des Willens zur Macht: Die drei Bestimmungen des Wesens der Gerechtigkeit als Denkweise sind nicht nur ihrem Range nach aufgereiht, sondern sie sagen zugleich und vor allem von der inneren Bewegtheit dieses Denkens. Bauend richtet es sich, die Höhe erst errichtend, in diese hinauf, überhöht so sich selbst, unterscheidet sich gegen das Ungemäße und entwurzelt es in seinen Bedingungen. Die Gerechtigkeit ist als solches Denken das Herrwerden über sich 97 Vgl. ebd., S. 29. 98 Vgl. ebd., S. 51. 99 Vgl. ebd., S. 38.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

selbst aus der errichtenden Ersteigung der höchsten Höhe. Dies ist das Wesen des Willens zur Macht selbst.100

Im Anhang der Vorlesung Nietzsches Metaphysik illustriert Heidegger in einer zweiten aussagekräftigen Notiz, weswegen Nietzsche die Gerechtigkeit weder als Wesen der Wahrheit erfahren noch die geschichtlichen Wandlungsstufen der Wahrheit zu perzipieren vermochte. Heidegger nimmt in dem folgenden Zitat den Faden der Kritik wieder auf, wonach in Nietzsches Denken der Bezug zwischen der Wahrheit und der Gerechtigkeit unbewältigt und opak bleibe: Weshalb Nietzsche selbst weder das Wahrheitswesen der Gewißheit noch gar dasjenige der Gerechtigkeit zu denken vermag. Der Wertgedanke versperrt alles. Letzte Bezeugung der Seinsvergessenheit.101

Im Ausgang von diesem Zitat könnte gegen Heidegger eingewendet werden, dass er selbst die angemahnte Hypostasierung des Wertgedankens (besonders seit der Vorlesung Der europäische Nihilismus von 1940) vorantreibt. Wird ihm allerdings der Punkt zugestanden, dass die Gerechtigkeit in ihrer vorauswerfenden Horizontverschiebung einzig dasjenige selektiert und für den Aufbau des Lebens zulässt, was einen Wert für den Willen zur Macht hat, ist seiner These durchaus zuzustimmen. Jede tiefgreifende Frage nach der Wahrheit und deren Begründung wird obsolet, wenn alles Seiende einzig unter der quantitativen Signatur des Wertes betrachtet wird. Wird die Gerechtigkeit als Agens einer vermeintlich unausweichlichen, in der bisherigen Geschichte subtil verdeckten Wertschöpfung verstanden, kann nicht mehr erschlossen werden, dass sie selbst nach Heidegger in diese Position nur hineinwachsen konnte, indem der Wille zur Macht ihre Wesensvorgänger (besonders das reine, von keinem Überwältigungstrieb und keiner Herrschaftsintention gelenkte Sichzeigen des Seienden, die ἀλήθεια) desavouierte, als Irrtum entlarvte und durch die Gerechtigkeit ersetzte. Unter der Botmäßigkeit des Willens zur Macht stehend, verfügt die Gerechtigkeit, dass jedes Seiende bereits dann ‚wahr‘, gerecht und gerechtfertigt ist, wenn es für das Leben nützlich ist.102 Indem die Wahrheit als Unverborgenheit in der Entbergung der Gerechtigkeit verschwindet, wandelt sich der menschliche Bezug zum Sein 100 Ebd., S. 70f. 101 Ebd., S. 84. 102 In seiner Parmenides-Vorlesung unterscheidet Heidegger die neuzeitliche Gerechtigkeit ostentativ von der im griechischen Anfang waltenden δίκη. Während die iustitia – als Vorgestalt der unter der Ägide des Willens zur Macht situierten Gerechtigkeit – durch den Befehl eines Sollens gestiftet werde, müsse die Ausübung der δίκη mit den Weisungen der ‚zeigenden‘ Götter zusammengedacht werden. Wichtig ist, dass Heidegger auch in diesem Kontext der δίκη keine Autarkie einräumt und ihren ‚Wesensgrund‘ stattdessen in der ἀλήθεια fundiert. Vgl. Heidegger, Parmenides, GA 54, hrsg. von Manfred S. Frings, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2018, S. 59: „Imperium ist der Befehl im Sinne des Gebots. Der Befehl, so verstanden, ist der Wesensgrund der Herrschaft, nicht etwa erst ihre Folge und gar nicht nur eine Form ihrer Ausübung. So ist auch der alttestamentarische Gott ein ‚befehlender‘ Gott: ‚du sollst nicht‘, ‚du sollst‘ ist sein Wort. Dieses Sollen wird auf Gesetzestafeln niedergeschrieben. Kein Gott der Griechen ist ein befehlender Gott, sondern ein Zeigender, Weisender. Das römische ‚numen‘, wodurch die römischen Götter gekennzeichnet sind, bedeutet dagegen ‚Geheiß‘ und ‚Wille‘ und hat Befehlscharakter. Das ‚Numinose‘, streng gedacht, trifft nie das Wesen der griechischen, d. h. im Bereich der ἀλήθεια wesenden Götter. In den Wesensbereich ‚des Befehls‘ gehört das römische ‚Recht‘, ius. Das Wort hängt mit jubeo zusammen: heißen, durch Geheiß tun lassen

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1.3. δίκη als ‚wesenmäßige Fügung alles Seienden‘ in Heideggers Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37)

fundamental. Die Vergessenheit des Seins wird entweder in dessen Diskreditierung als bedeutungsloses Nichts im Sinne der leeren Fiktion verdrängt oder das Sein wird als lebensnotwendiger Wert der Beständigkeit instrumentalisiert und potenziert vergessen.

1.3. δίκη als ‚wesenmäßige Fügung alles Seienden‘ in Heideggers NietzscheVorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) Die zweite herausragende, nun in den Fokus rückende Aufzeichnung zur Gerechtigkeit entstammt der Vorlesung der Wille zur Macht als Kunst von 1936/1937. Der gewählte Passus ist deswegen wichtig, weil Heidegger die Gerechtigkeit an diesem Ort nicht als geschichtlich gewachsene, letzte Erscheinungsweise des Wesens der Wahrheit begreift, sondern sie – wie in der Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 und im Aufsatz Der Spruch des Anaximander von 1946 – als griechisch zu denkende δίκη etabliert. In seiner ersten Nietzsche-Vorlesung kommt Heidegger auf Nebenpfaden auf die δίκη zu sprechen: In der Hinführung zur Diskussion des ontologischen Abstandes zwischen der Wahrheit der Idee und der mimetisch verfahrenden Kunst in Platons Politeia kritisiert Heidegger die Ansicht, dieses Hauptwerk Platons verfolge in erster Linie eine politisch-soziale Intention. Nach Heidegger bürgt die δίκη in Platons Schrift Politeia – die besonders im ersten Buch ein großes Gespräch über die Gerechtigkeit ist – für die Dignität und die Ausweitung des Politischen, indem sie als „metaphysischer Begriff“103 dessen ideelles Fundament konstituiert: Man kann, soll Platons Lehre von der Kunst als politische begriffen werden, dann dieses Wort ‚politisch‘ nur nach dem Begriff verstehen, der sich nach dem Gespräch selbst über und im Tun und Lassen bestimmen. Der Befehl ist der Wesensgrund der Herrschaft und des römisch verstandenen ‚im Recht seins‘ und ‚Recht-habens‘, des iustum. Demgemäß hat die iustitia einen ganz anderen Wesensgrund als die δίκη, die aus der ἀλήθεια west.“ Nichtsdestotrotz ist erwähnenswert, dass Heidegger der δίκη beziehungsweise dem Fug in einem späteren Stadium der Parmenides-Vorlesung konzediert, das zeigend-zuweisende Fügen zu leiten. Vgl. Heidegger, Parmenides, GA 54, S. 137: „Das dem Menschen also Zu-gefügte, Sich-zu-fügende und ihn Fügende nennen wir mit einem Wort den Fug, griechisch: δίκη. […] Im Fug denken wir das weisende, zeigende, zuweisende und zugleich einweisende ‚werfende‘ Fügen. Worein der Mensch sich zu fügen hat, eben daraus kann er zugleich in das Ungefüge abirren, zumal dann, wenn die Zuweisung sich verbirgt und weg-fällt, welcher entziehende Wegfall den Menschen aus der πόλις weg und heraus reißt, so daß er ἄπολις wird. Das Aufgehen des Menschenwesens in den Fug und sein Innestehen im Fug, δίκη, ist die Fügsamkeit, δικαιοσύνη.“ Kurz darauf wiederholt Heideggers seine These, dass die δίκη nicht als politisch kodifizierter Inbegriff der Einhaltung und Ausübung von Rechtsnormen begriffen werden dürfe. Obgleich Heidegger der δίκη eindeutig den ontologischen Machtprimat prädiziert, die Menschen in die jeweiligen Verhältnisse und Umstände ihrer zeitlichen Existenz einzufügen, so leitet Heidegger den Vollzugssinn der δίκη dennoch erneut aus der ἀλήθεια ab. Vgl. ebd., S. 143f.: „Gleich unmöglich wie die Deutung der πόλις aus dem neuzeitlichen Staat oder aus der römischen res publica ist die Deutung der δίκη aus der neuzeitlichen Gerechtigkeit und der römischen iustitia. Die δίκη als der Fug, der das Menschentum in die Verhältnisse seines Verhaltens weisend fügt, hat ihr Wesen aus dem Bezug zur ἀλήθεια, nicht aber bestimmt sich etwa δίκη aus dem Bezug zur πόλις und durch diese.“ 103 Heidegger, N I, S. 168.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

das Wesen der πόλις ergibt. Das ist um so notwendiger, als das große Gespräch in seinem ganzen Bau und Gang daraufhin abzielt zu zeigen, daß der tragende Grund und das bestimmende Wesen alles politischen Seins in nichts Geringerem besteht als im ‚Theoretischen‘, d. h. im wesentlichen Wissen um die δίκη und die δικαιοσύνη. Man übersetzt dieses griechische Wort mit ‚Gerechtigkeit‘ und verfehlt damit den eigentlichen Sinn, sofern das Genannte sogleich in den Bereich des Moralischen oder gar nur ‚Rechtlichen‘ versetzt wird. δίκη ist aber ein metaphysischer Begriff; er nennt das Sein hinsichtlich der wesenmäßigen Fügung alles Seienden. Zwar rückt die δίκη gerade durch die Platonische Philosophie in das Zwielicht des Moralischen; um so notwendiger aber bleibt es, den metaphysischen Sinn mit festzuhalten, weil sonst die griechischen Hintergründe dieses Gespräches über den Staat nicht sichtbar werden. Das Wissen von der δίκη, den Fügungsgesetzen des Seins des Seienden, ist die Philosophie.104

Auf den ersten Blick scheint die δίκη in diesem Passus eine wesentliche Position als Mittelbegriff einzunehmen: Sie eröffnet die Grundlage für das adäquate politische Handeln und vereinigt dieses mit dem Höchstmaß theoretischer Weltbeleuchtung – der Philosophie –, die sich als Wissen um die Gerechtigkeit fortbestimmt. In einer differenzierten Sichtung wird indes transparent, dass Heideggers paradigmatische Subordination der Gerechtigkeit unter das Sein auch in diesem Zitat anschaulich zum Ausdruck kommt. Indem Heidegger die δίκη als metaphysischen Begriff beurteilt, entzieht er die Gerechtigkeit zwar sämtlichen moralischen Assoziationen mitsamt den kulturellen, ökonomischen, juristischen und sozialen Tonarten dieses Wortes. Wie im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit verdeutlicht werden soll, ist es in Nietzsches Heraklit-Deutung jene Entmoralisierung der δίκη, die den spielartigen und dennoch nach klaren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Grundcharakter des Weltgeschehens stabilisiert. Im Kontrast dazu, votiert Heidegger in der zitierten Passage keineswegs für ein autonomes Walten der δίκη. Vielmehr legitimiert die Herausschälung eines ursprünglichen Gerechtigkeitsbegriffes und die damit zusammenhängende Befreiung der δίκη aus konventionellen Verknüpfungsbeständen bei Heidegger ihren Einbezug in eine grundierende Ebene, die durch das Sein beherrscht wird. Erstens lässt sich die δίκη im Ausgang von dem obigen Zitat als Verhältnisanzeige zwischen dem Sein und dem All des Seienden lesen. Zweitens kann sie als Titel für das Sein selbst betrachtet werden, insofern dieses alles Seiende eint und zusammenfügt („Die δίκη nennt das Sein hinsichtlich der wesensmäßigen Fügung alles Seienden“). Im ersten Fall wird sie zu einer inhaltslos-neutralen, ontologischen Verbindungsinstanz depotenziert. Im zweiten Fall repräsentiert sie das Sein im Hinblick auf einen wesentlichen Gesichtspunkt, sodass sie durch das Sein überlagert und absorbiert wird. Obzwar der δίκη als Inbegriff der von der Philosophie entworfenen und begründeten „Fügungsgesetze“105 des Seins des Seienden unleugbar eine eminente Relevanz attribuiert wird, verdankt sie diese letztendlich allein ihrem Dependenzbezug auf das Sein. Dass diese Hierarchieauffassung zwischen dem Sein und der δίκη eine Kontinuitätsthese in Heideggers Werk instauriert, soll im zweiten Kapitel der Untersuchung anhand der Diskussion des Aufsatzes Der Spruch des Anaximander plausibilisiert werden. Dort soll im Rückgriff auf die Bedeutungsumrandung des Terminus τὸ χρεών 104 Ebd., S. 168. 105 Ebd., S. 168.

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

(der Brauch) zutage gefördert werden, dass das Sein die Fügungsgesetze des Anwesenden (= δίκη) freizugeben vermag, ohne diesen selbst unterworfen zu sein.106 Vorerst bleibt festzuhalten, dass sich bereits eine markante Parallelführung erkennen lässt: So wie Heidegger die neuzeitliche Gerechtigkeit als sich selbst rechtfertigendes Wahrheitswesen der Seiendheit, dem Willen zur Macht, unterordnet, so wird die griechische Fügungsgesetzmäßigkeit der δίκη dem Sein übereignet.

1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung: Heideggers Erörterung der Heraklit-Fragmente 16 und 123 Die zweite Leitfrage dieses Kapitels, weswegen die δίκη in Heideggers Interpretation ausgewählter Heraklit-Fragmente nicht erwähnt wird, soll nun in der direkten Erörterung der Vorlesung des Sommersemesters 1943 eine Aufhellung erfahren. Auf den ersten Blick scheint sich eine tiefere Auseinandersetzung mit der δίκη auf Umwegen auch in Heideggers Heraklit-Vorlesung Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit anzubahnen. Wenn die in der Vorlesung der Wille zur Macht als Kunst verwendete Beschreibung der δίκη als „wesensmäßige Fügung alles Seienden“107 auch in Heideggers späteren Werken als Chiffre für die δίκη beibehalten wird, kann sogar proponiert werden, dass die δίκη zu einem entscheidenden Prädikat des heideggerschen Seinsbegriffes avanciert. Schließlich markiert Heidegger die im Heraklit-Fragment 123 thematische φύσις tatsächlich als wesentliche Fügung und übersetzt – wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit dokumentiert werden soll – die δίκη bei Anaximander mit „Fug“. Wie im weiteren Verlauf zu illustrieren ist, entfaltet Heidegger das Wesen der φύσις in der Heraklit-Vorlesung von 1943 als Gunst und als Freundschaft. Diese Charakteristika uneigennützigen Gewährenlassens könnten einer protometaphysischen Gerechtigkeit ebenfalls zugesprochen werden. Auch das gemäß Fragment 52 für die Unschuld des Weltkindes prägende Spiel würdigt Heidegger in seiner Rekapitulation der bekannten Anekdote, die Heraklit beim gemeinsamen Knöchelspiel mit den Kindern in der Zurückgezogenheit des Artemisheiligtums schildert. Wie vor ihm Nietzsche, so bezieht Heidegger das Spiel auf das Ganze der Welt: Das Kinderspiel, davon die zweite ‚Geschichte‘ erzählt, zeigt auf das Gelockerte und Gelassene, auf das Schwingende und Freie des Spiels, das gleichwohl als Spiel seine Regel hat und sein Gesetz und so in dem Bündigen und Geschlossenen bleibt, was wir eine ‚Welt‘ nennen, worein die Spielenden zwar versunken sind, ohne doch darin zu versinken.108

Diese Bedeutung des Spiels als „Weltsymbol“109 wird von Heidegger in der HeraklitVorlesung allerdings nicht weiter verfolgt. Später wird das Spiel gänzlich innerhalb der

106 107 108 109

Vgl. hierzu das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. Heidegger, N I, S. 168. Heidegger, GA 55, S. 23f. Vgl. Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Freiburg/München 2010.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Gegenwendigkeit der φύσις verankert, die das „Spiel des Aufgehens im Sichverbergen [ist], das birgt, indem es das aufgehend Offene, das Freie, freigibt“.110 (2.) Im Folgenden ist aufzuklären, weshalb die Motive des gesetzmäßigen und dennoch nicht teleologisch verfassten Weltspiels mitsamt dem selbstvergessenen Bewegungsrhythmus des Brettsteine setzenden Kindes von Heidegger nur peripher im präludierenden Beginn der Vorlesung gestreift werden. Dazu reicht es nicht hin, sich mit dem Hinweis zu begnügen, dass Heidegger das eigene Seinsdenken in Heraklit hineinprojiziere und deswegen die Bewährung der lichtenden Verbergung im Zentrum seiner Forschungen zu Heraklit lokalisiert sei. Stattdessen soll ergründet werden, auf welchen interpretatorischen Wegen sich die Einbindung des Spiels in die Gegenwendigkeit der φύσις sowie die stillschweigende Rückstufung der δίκη konkret bekundet. Deswegen ist verschärft darauf zu achten, nach welchen methodischen und inhaltlichen Kriterien Heidegger die Heraklit-Fragmente sichtet, auswählt und diskutiert. In diesem Zuge ist zu erfragen, inwiefern das unterschwellige Kernziel der Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 in der Befestigung eines Antagonismus zwischen Heraklit und der neuzeitlichen Willensmetaphysik wurzeln könnte. Daher beschränken sich die Überlegungen in diesem Abschnitt auf diejenigen Fragmente, in denen Heidegger die abgründige Verbergungsdimension des Aufgehens der φύσις apostrophiert und ihre unumstößliche Übermacht gegenüber der menschlichen Lenkbarkeitsintention hervorhebt. Einführend ist voranzuschicken, dass Heidegger den Heraklit-Fragmenten 16 und 123 im Hinblick auf die Wesenserkundung der φύσις den höchsten Stellenwert zuspricht. Für die detaillierte Reflexion des Λόγος zieht Heidegger vornehmlich die Fragmente 45 und 50 heran. Während in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 die φύσις im Gravitationszentrum der Erörterungen positioniert wird, so untersucht Heidegger ein Jahr später den von Heraklit inaugurierten Begriff des Λόγος. Die Gewichtung der Fragmente bleibt im gesamten Verlauf der Auseinandersetzung Heideggers mit Heraklit weitgehend unverändert. Die 1943 bevorzugten Fragmente 16 und 50 gelten auch in den beiden Heraklit-Aufsätzen aus den 1950er-Jahren (Aletheia und Logos) als Herzstücke des heraklitischen Denkens. Heidegger beurteilt diese Aufzeichnungen als aussagekräftigste Überlieferungen aus dem heraklitischen Werk περὶ φύσεως. Als der „rangmäßig erste Spruch dieses Denkers“111, mit dem die Auslegung der Fragmente in der Vorlesung von 1943 beginnt, fungiert für Heidegger das Fragment 16. Es lautet: τὸ µὴ δῦνόν ποτε πῶς ἄν τις λάθοι;112

Heidegger übersetzt es nach einigen Nuancierungsstufen wie folgt: „Vor dem ja nicht Untergehen je, wie möchte irgendwer dem verborgen sein?“113

110 111 112 113

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Heidegger, GA 55, S. 139. Ebd., S. 75. Ebd., S. 44. Ebd., S. 175.

1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

Das zweite wesentliche Fragment, das für die Bestimmung der φύσις unentbehrlich ist, stellt für Heidegger das Fragment 123 dar: φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ.114

Heidegger wählt die Übersetzung: „Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt´s die Gunst.“115

Die zentralen Fragmente zum λόγος sollen hier nicht ausführlich besprochen werden, da sie erst in der zweiten Heraklit-Vorlesung aus dem Sommersemester 1944 in den Vordergrund rücken. Um den λόγος als das versammelnde, einzige und alles Seiende einende Sein zu exponieren, das inmitten der menschlichen Orientierung am Seienden zumeist vergessen wird, stützt sich Heidegger primär auf das Fragment 50, das er wie folgt übersetzt: οὐκ ἐµοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁµολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναί. „Habt ihr nicht bloß mich angehört, sondern habt ihr fügsam auf die ursprüngliche Versammlung [λόγος, J.K] geachtet, dann ist (das) Wissen, das darin besteht, auf die Versammlung sich zu sammeln und gesammelt zu sein in dem ‚Eins ist Alles.‘“116

Dass der λόγος – wie das Sein – der Bezug selbst117 ist, der zum Wesen des Menschen (d. h. hier: zur ψυχῆ) unterhalten wird, spiegelt sich für Heidegger in dem zweiten herausragenden λόγος -Fragment wider, das Diels als Nr. 45 zählt.

114 Ebd., S. 110. 115 Ebd., S. 110. Zu Heideggers Ausweitung der Verbergungstendenz der φύσις zum geschichtlichen Strukturgesetz der in Vergessenheit geratenen Verborgenheit des Seins sowie zur hermeneutischen Ausstrahlungskraft der ἀρχή des heraklitischen Anfangs vgl. Klaus Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin/New York 1980, S. 111f.: „Im Zuge dieser andenkenden Besinnung auf einen ‚anderen Anfang‘ verwinden, d. h. bewahren und überschreiten wir zugleich die metaphysische Tradition und werden nun fähig, aus den ältesten Leitworten des Denkens die darin mitgesagte, aber seitdem ungedacht gebliebene Seinsverborgenheit herauszuhören, – so vor allem auch aus dem Spruch des Heraklit, daß die physis geneigt ist sich zu verbergen. An dieser Stelle steht der wohlfeile Einwurf zu erwarten, Heidegger lege also dem Heraklit nur seine eigenen, modernen Gedanken in den Mund, und mit einer derartigen historischen Naivität brauche sich ein Interpret, der an dem interessiert sei, was Heraklit historisch wirklich gedacht habe, nicht abzugeben. Der Einwurf beruht auf der Vorstellung, Heidegger habe zunächst einmal seine eigene ‚Sache des Denkens‘ zum Thema gehabt und habe dann außerdem noch eine Bestätigung für seine Behauptung gesucht, indem er Heraklit als seinen Vorläufer in Anspruch genommen habe. Doch mit dieser Vorstellung verkennt man, daß Heideggers Denken gerade durch seine ‚Sache‘, Sein als Ereignis, von vornherein auf das geschichtliche Ganze der Geschichte des Denkens und insbesondere auf den Beginn dieser Geschichte bezogen ist. Von historischer Naivität kann also bei ihm schon deshalb keine Rede sein, weil das Andenken des Ereignisses in sich wesentlich eine Besinnung auf die Geschichte des Denkens ist. Heidegger erkennt, daß der Beginn der Denkgeschichte mehr war als ein später überholter Ausgangspunkt, nämlich Anfang als archē, d. h. als stiftender und damit bleibender Anfangsgrund.“ 116 Heidegger, GA 55, S. 308. 117 Vgl. ebd., S. 343ff.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Dieses überträgt Heidegger in der folgenden Weise: ψυχῆς πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο, πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει. „Des einholenden Ausholens äußerste Ausgänge auf deinem Gang nicht wohl kannst du sie ausfinden, auch wenn du jeden Weg abwanderst; so weit gewiesen ist ihre Sammlung.“118

In seiner Auslegung des Fragmentes 16 hält Heidegger in der Vorlesung von 1943 zuvorderst fest, dass dieses „in der Form des fragenden Wortes“119 spricht. Dem Gehalt des um das Partizip τὸ δῦνόν gruppierten Satzes nähert sich Heidegger durch einige Umstellungen. Diese sind von dem Ziel geleitet, die „Wesensbeziehung“120 zwischen dem τὸ δῦνόν und dem λάθοι zu ermitteln. „Das ja nicht Untergehen je“ wird von Heidegger zu der durativen Verneinungsfigur „das niemals Untergehen“121 zugespitzt. Die negative Aussageform des „niemals Untergehen“ wandelt Heidegger in die gleichbedeutende Positivitätsanzeige des „immerdar Aufgehen“122 um. Das immerwährende Nichteingehen in den Untergang wiederum entspricht der heideggerschen Definition der φύσις als dem „reinen Aufgehen“.123 Dieses Verständnis der φύσις gewannen die Griechen nach Heidegger nicht aus einer reduktiven Abstraktion des innerhalb der Natur erfahrbaren Wachsens und Blühens. Vielmehr ist das anschauliche Aufgehen in der organischen Natur selbst nur als ein Objektivationsmoment der φύσις zu betrachten, die als das übergreifende Worin jedes – Menschen, Götter, Tiere, Pflanzen und Dinge einschließenden – Aufgehenden und Sichzeigenden firmiert.124 Es wird nun transparent, weswegen gemäß dem Fragment 16 niemand – nicht einmal ein Gott – vor diesem reinen Aufgehen verborgen bleiben kann. Insofern die Götter und Menschen, um überhaupt sein zu können125, in das Offene des reinen Aufgehens eingelassen sein müssen, ist es ihnen unmöglich, sich vor dem niemals Untergehenden zu verbergen. Folglich müssen die Menschen in ihrem „entsprechende[n] Verhalten zur φύσις“126 selbst den „Grundzug des Aufgehens, des Sichöffnens, des Sichnichtverschließens, des Sichnichtverbergens haben“.127 Diese Privation des Verbergens erneut umkehrend, formuliert Heidegger das Sichnichtverbergen in das sinngleichaktive „Sichentbergen“128 um, das den Menschen als wesentliches Bezugsverhältnis zur φύσις eignet. Weil der Mensch gegenüber der φύσις kein „λαϑών“129, kein sich dem Offenen verschließender Verborgener sein kann, muss er in der Unverborgenheit existieren.130 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130

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Ebd., S. 309. Ebd., S. 46. Ebd., S. 51. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 173. Ebd., S. 173. Ebd., S. 173. Ebd., S. 173. Ebd., S. 174. Vgl. ebd., S. 173f.

1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

Obwohl die ἀλήθεια in den überlieferten Fragmenten Heraklits, Parmenides´ und Anaximanders keine herausragende Stellung besitzt, nobilitiert Heidegger sie als das Grundwort der vorsokratischen Philosophie. Die ἀλήθεια muss nach Heidegger im Anfang notwendigerweise ungesagt bleiben, gerade weil die drei anfänglichen Denker unmittelbar aus ihr heraus sprechen.131 Die ἀλήθεια durchzieht die φύσις als ihr „ursprünglich einigender Grund“.132 Sie west in jedem der über das Interrogativpronomen ‚τις – Wer?‘ erfragbaren Seienden, weil alles Seiende sich entbergend innerhalb des durch das Aufgehen eröffneten Umkreises hält. Während die in der Lichtung wohnenden Menschen nicht vor der φύσις verborgen bleiben können, untermauert Heidegger im Rückgriff auf das Fragment 123, dass die φύσις selbst keineswegs als ein voraussetzungsloses, „eitel Aufgehen“133 zu begreifen ist, das ohne ein Sichverschließendes agieren könnte. Es ist wichtig, dabei die menschliche Erkenntnisperspektive, die immer schon im Licht des Aufganges zu verorten ist, von dem Aufgehen der φύσις selbst zu unterscheiden, das in die Verbergung hineinragt und aus ihr hervorkommt: Vom Seienden aus gesehen, und zwar von den Gegenständen aus, die menschliche Erkundung festzustellen trachtet, ist die φύσις dasjenige, was niemals sich verbirgt, sondern immer schon aufgegangen ist. Dieses ihr Aufgehen selbst jedoch ruht in sich im Spiel, als welches das Aufgehen dem Sichverbergen die Gunst gewährt, das Bergende seines Wesens zu bleiben.134

Das Fragment 123, das Heidegger nach der Erläuterung des Fragmentes 16 einführt, wird von Heidegger mit der Sentenz „Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt´s die Gunst“135 übersetzt. Die geläufige Übersetzung „Das Wesen der Dinge versteckt sich gern“136 wird von Heidegger nicht deswegen abgelehnt, weil ein solcher „Gemeinplatz“137 einem Denker vom Range eines Heraklit nicht zuzutrauen wäre, sondern weil es die metaphysische, unheraklitische Gleichsetzung „φύσις = Natur = Wesen = essentia = οὐσία“138 präsupponiere. Auch Diels´ wörtliche Wiedergabe mit „Die Natur (das Wesen) liebt es sich zu verbergen“139 steht nach Heidegger dem gewonnenen Begriff der φύσις als reinem Aufgehen diametral entgegen. Zudem impliziert diese Übersetzung, dass im Fragment 123 der Bezug der φύσις zu dem nach Erkenntnis strebenden, menschlichen Subjekt geschildert werde, während es nach Heidegger die Binnenspannung der φύσις selbst ist, die Heraklit thematisiert. Darüber hinaus darf das Aufgehen nicht – womöglich unter der autoritativen Referenz auf die Logik und den Satz vom Widerspruch – in einer sukzessiven Ablösungskonstellation von dem Untergehen als

131 132 133 134 135 136 137 138 139

Vgl. ebd., S. 174. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175. Ebd., S. 139f. Ebd., S. 110. Ebd., S. 121. Ebd., S. 121. Vgl. ebd., S. 121f.. Vgl. ebd., S. 121.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

einem späteren Vorgang dissoziiert werden, in dem das Aufgehen gänzlich verschwindet. Irreführend ist Heidegger zufolge auch das gegenläufige Interpretationsextrem des Fragmentes 123, das sich in der dialektischen Identitätskonfiguration: das Aufgehen ist das Untergehen140 manifestiert. Indem die integrative Überführung der Widersprüche in eine binnendifferenzierte Einheit bereits als Kriterium der Wahrheit angesehen wird, werde der Satz seiner tieferen Bedeutung und seiner innewohnenden Dynamik beraubt. Um das authentische Verhältnis zwischen dem Aufgehen und dem Sichverbergen aufzuklären, ist es für Heidegger wesentlich, auf die Semantik des Wortes φιλεῖν zu achten. Während die meisten Übersetzungen suggerieren, mit dem „φιλεῖν“ werde eine bevorzugte Verhaltenseigenschaft der φύσις ausgedrückt, die sich in der Präferenz der Verbergung äußere, eröffnet das φιλεῖν bei Heidegger ein reziprokes und ebenbürtiges Gewährenlassen – auch wenn dieses Moment in Heideggers Übersetzung zunächst einseitig vom immerwährenden Aufgehen gestiftet zu werden scheint. Im Hinblick auf den Topos der Gerechtigkeit ist zu berücksichtigen, dass Heidegger innerhalb der Auslegung des Fragmentes 123 zu einer eindrucksvollen Beschreibung der φιλíα als Freundschaft gelangt. Anders als die δίκη im Anaximander-Aufsatz, wird die φιλíα nicht vom Sein als Anwesenlassen des Anwesenden evoziert oder wiederhergestellt.141 In Heideggers Heraklit-Interpretation charakterisiert die Freundschaft die interne Struktur des Seins als Aufgang, insofern in dieser Heraufkunft die Etablierung des eigenen Wesens durch die Verschenkung der Gunst an die vermeintlich entgegengesetzte Alterität befördert wird. Das Andere kann dadurch in seinem Wesen sein, was es entweder je schon ist oder im Zuge dieser Gunstbezeugung noch werden könnte: Das ursprüngliche Gönnen ist das Gewähren dessen, was dem anderen gebührt, weil es zu seinem Wesen gehört, insofern es sein Wesen trägt. Die Freundschaft, φιλíα, ist demgemäß die Gunst, die dem anderen das Wesen gönnt, das er hat, dergestalt, daß durch dieses Gönnen das gegönnte Wesen zu seiner eigenen Freiheit erblüht. In der ‚Freundschaft‘ wird das wechselweise gegönnte Wesen zu sich selbst befreit. Nicht die Betulichkeit, nicht einmal das ‚Einspringen‘ in Notfällen und gefährlichen Lagen ist das Kennzeichen der Freundschaft, sondern das füreinander Dasein, das irgendwelcher Veranstaltungen und Beweise nicht bedarf, das wirkt, indem es auf Beeinflussung verzichtet. […] Die φιλíα ist das Gönnen der Gunst, die etwas schenkt, was ihr im Grunde nicht gehört und die doch Gewähr geben muß, damit des anderen Wesen im eigenen verbleiben kann.142

Indem das Aufgehen sich in das Verbergen zurückgründet, erlaubt es diesem, seinem Wesen als Sichverschließen zu genügen. Entscheidend ist Heideggers Anmerkung, dass das Wesen des Verbergens nicht etwas ist, das dem Untergehen als fester Besitz oder als statische Eigenschaft zugehörte. Vielmehr konvergiert seine abgründige Seinsweise stets mit dem aktualisierten Vermögen, das Aufgehen zu gewähren. Weil sich das Aufgehen und das Untergehen wechselseitig aufeinander beziehen und sich in ihrer Zusammengehörigkeit inmitten der φύσις voneinander unterscheiden, charakterisiert Heidegger ihr Verhältnis auch durch den Titel des Streits: 140 Vgl. ebd., S. 111. 141 Vgl. dazu das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit. 142 Heidegger, GA 55, S. 128f.

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

Die Gunst ist der Grundzug der ἔρις, des Streits, sofern wir diesen anfänglich denken und nicht sogleich und nur aus dem Widrigen der Ungunst und der Mißgunst als den Hader und den Zwist vorstellen.143

Es wird deutlich, weswegen das Aufgehen in diesem Modell nicht als relationsloser, irgendwann abgeschlossener Vorgang verstanden werden darf. Als ungebrochenes Offenbarwerden benötigt es das Untergehen als sich entziehenden Kontraktionsgrund, in welchen es niemals eingeht, gerade um permanent aus diesem hervorgehen zu können. Wegen dieses immerwährenden Hervorganges aus dem sich an sich haltenden Verbergen kann Heidegger die paradoxe Formulierung wählen, die φύσις sei ein „steter Anfang“.144 Als ereignishaftes Aufgehen hat sich die φύσις vor dem Erscheinenkönnen des Seienden immer schon und immer wieder von neuem gelichtet. In Anbetracht der von Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst entwickelten Bestimmung der δίκη als Fügung und im Vorblick auf seine Auslegung des Anaximanderfragmentes ist die Definition der φύσις als „wesentliche Fügung“145 höchst bedeutungsvoll. Diese produktive Kennzeichnung plausibilisiert Heidegger unter Bezugnahme auf die Fragmente 54, 8 und 30. In der „ursprünglich einigenden Einheit der Gunst“146, welche die Fügung spielend durchherrscht, sprechen sich das in die Obhut der Bergung genommene Aufgehen und das als abgründiger Grund147 nicht durch das Aufgehen angeeignete Verbergen gegenseitig ihr anerkennendes Zulassen des jeweils Anderen zu. Deswegen kann das reine Aufgehen, das den Bereich des Erscheinenden eröffnet, innerhalb der beide Elemente beinhaltenden φύσις keinen unangefochtenen Vorrang beanspruchen. Wie oben gezeigt wurde, darf das Aufgehen nicht ohne ein simultanes Verbergen gedacht werden, das ihm unabtrennbar zugehört. Im Falle der ἁρµονίη, die als griechisches Ursprungswort für die Fügung herangezogen wird, beruft sich Heidegger verständlicherweise weniger auf die Konnotation des „Ein-klang[s]“148 als vielmehr auf das inliegende Wort ἁρµος, das er mit „Fuge“149 übersetzt. Die Fügung wird zunächst anhand des von Heidegger recht eigenwillig übertragenen Fragments Nr. 54 erläutert, das innerhalb der Rangordnung als drittes Fragment gezählt wird: ἁρµονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων. „Fügung unscheinbare über das zum Vorschein drängende Gefüge edel.“150

143 144 145 146 147

148 149 150

Ebd., S. 133. Ebd., S. 139. Ebd., S. 141. Ebd., S. 136. Es ist auffällig, dass Heidegger sowohl der ἀλήθεια, der Gunst der φύσις als auch dem λόγος das Vermögen der „einigenden Einheit“ beimisst. Auf diese Weise gelingt es Heidegger, alle Grundworte auf denselben Aussagegehalt zulaufen zu lassen. Zu dieser Figur des ‚abgründigen Grundes‘, der nicht im metaphysischen Sinne als feste Unterlage oder als Erstursache gedacht werden darf, vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 226, S. 352: „Die Lichtung der Verbergung meint nicht die Aufhebung des Verborgenen und seine Freistellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern gerade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verbergung (die zögernde Versagung).“ Heidegger, GA 55, S. 141. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Auch in diesem Kontext ist der Wirkungsbereich der Verbergung zu beachten. Wird das im Fragment 123 erwähnte „κρύπτεσθαι“ nicht als eigenständiges Moment innerhalb des Aufgangs betrachtet, sondern als von der φύσις vorzugsweise aufgesuchtes Versteck dekuvriert, ergibt sich für das Fragment 54 die nach Heidegger unrichtige Lesart, dass die φύσις als Fügung gegenüber lebensweltlichen und naturhaften Harmoniekonstellationen gänzlich unsichtbar151 bleibe. Damit würde der bereits überwundene, dualistische Widerspruch zwischen der Definition der φύσις als reinem Aufgehen und ihrer vermeintlichen Absicht, sich dem Menschen nicht zu zeigen, restituiert. Aus diesem Grunde insistiert Heidegger darauf, dass die ἁρµονίη ἀφανὴς nicht als „unsichtbare Fügung“ begriffen werden darf. Heidegger umschreibt sie stattdessen als „das Unscheinbare“.152 Nach Heidegger erscheint das reine Aufgehen unmittelbar in keiner Form der Zusammenfügung „innerhalb des Aufgehenden und Aufgegangenen“153 und kommt „nicht in den gegenständlichen Vor-schein“.154 Diese Unscheinbarkeit ist gemäß dem Wortlaut des Fragmentes 54 darauf zurückzuführen, dass die ἁρµονίη ἀφανὴς stärker (κρείττων), vermögender und weitumfassender ist als die jeweiligen Versionen des sichtbaren Einklanges. In Heideggers Interpretationsperspektive ist sie kraftvoller und zugleich unscheinbarer als das Erscheinende, weil sie als reines Aufgehen die Weite der Offenheit selbst ist. Allem Seienden zuvorkommend, entpuppt sich die ἁρµονίη ἀφανὴς als das lebensweltlich nahezu immer übersehene, „anfänglich Gesichtete“.155 In diesem Sinne kann Heidegger sie als „das, obzwar zunächst und zumeist, ja oft überhaupt nie eigens Erblickte“156 reflektieren. In dem Hervordrängen des Offenkundigen und Aufgegangenen inmitten der aufgeschlossenen Offenheit der φύσις bleibt sie unscheinbar, obwohl sie alles Seiende überstrahlt und in ihrem ununterbrochenen, dem Verbergen entstammenden Aufgang den „Wechsel des je gerade Erscheinenden“157 ermöglicht. Sie ist „edel“158, weil es für die Aufrechterhaltung ihres „unscheinbare[n] Scheinen[s]“159 nicht notwendig ist, selbst als Gefüge in dem von ihr Gelichteten dinghaft zu erscheinen. 151 152 153 154 155 156 157 158 159

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Vgl. ebd., S. 142. Ebd., S. 143. Ebd., S. 143. Ebd., S. 143. Ebd., S. 143. Ebd., S. 143. Ebd., S. 144. Ebd., S. 144. Ebd., S. 144. Wie Heidegger in der Heraklit-Vorlesung, so insistiert auch Klaus Held in seiner Erläuterung des Fragmentes 54 mit Nachdruck darauf, dass die Unterscheidung zwischen der ‚unsichtbaren‘ und der ‚sichtbaren‘ Harmonie keineswegs nach Maßgabe der Dualität von ‚Ding an sich‘ und ‚Erscheinung‘ oder gar im Sinne der Distinktion zwischen der sinnlich wahrnehmbaren, empirischen Realität und der ideellen Weltordnung interpretiert werden dürfe. Vgl. Held, Heraklit, S. 145: „Was schließlich die Übersetzung von aphanes und phaneros mit ‚unsichtbar‘ und ‚sichtbar‘ anlangt, so legt sie ein schwerwiegendes Mißverständnis zumindest nahe. Gewiß haben die beiden griechischen Wörter die beiden genannten Bedeutungen, jedoch mit einer bestimmten Akzentuierung: Aphanes bezeichnet das Unsichtbare im Sinne des Unauffälligen, Unbemerkten, Unscheinbaren, phaneros das Sichtbare, Wahrnehmbare, Erscheinende im Sinne des in die Augen Fallenden, Sich Zeigenden, Offenkundigen. Unterschlägt man diese Bedeutungsnuancen, so sieht es so aus, als mache Heraklit bereits die philosophisch geläufige Unterscheidung von sichtbarer, sinnlich wahrnehmbarer

1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

Für Nietzsches Heraklit offenbart sich die richtende Gesetzmäßigkeit mitsamt der Koexistenz der Gegensätze in der intuitiven Anschauung des Werdens, das bei Nietzsche keineswegs auf einer abgründigen Verbergung, einer ἀρχή oder einem Substrat aufruht.160 Hingegen verdankt sich der offenkundige Einklang in Heideggers HeraklitDeutung gänzlich dem unscheinbaren Aufgang, der die anschauliche Regelhaftigkeit im Werden eröffnet. Die ἁρµονίη ἀφανὴς lässt Heidegger ihrerseits aus der immanenten Gegenstrebigkeit der φύσις entspringen. Diese These soll anhand der Fragmente 8 und 30 validiert werden. Das in der leitenden Rangzählung an der vierten Position angesiedelte Fragment Nr. 8 wird von Heidegger wie folgt in die deutsche Sprache transponiert: τὸ ἀντίξουν συµφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρµονίαν [καὶ πάντα κατ' ἔριν γίνεσθαι]. „Das Gegen-fahren ein Zusammenbringen und aus dem Auseinanderbringen die eine erstrahlende Fügung.“161

Wie im dritten Kapitel dieser Arbeit demonstriert werden soll, ist der Gehalt dieses Fragmentes auch für Nietzsche wesentlich. Allerdings äußert sich die auseinandertretende Annäherung der Gegensätze in Nietzsches Heraklit-Auslegung im Ereignisfeld der Natur sowie in allen menschlichen Beurteilungen, die im Zusammensehen des λόγος auf die Hypostasierung eines der beiden Repugnanzpole verzichten. In dieser ästhetisch-kontemplativen Verhältnissetzung des Menschen zum Seienden im Ganzen spiegelt sich die generelle Unschuld des Lebens wider. Im Kontrast dazu, indiziert die von Heidegger gewählte Übersetzung des achten Fragmentes, dass das Wechselgeflecht von Zusammenbringen und Auseinanderbringen für ihn nur in vermittelter Weise auf das Geschehen inmitten des empirischen Werdens zu beziehen ist. In erster Linie liefert das ἀντίξουν, das Gegen-fahren, die hermeneutische Ermöglichungsbedingung für den vielschichtigen Kombinationssinn des Erscheinenden. Um dieses das Aufgehen stützende Widerstreben gewähren zu können, darf die Fügung nicht als ruhende Mitte fungieren, die beide Extreme im Gleichgewichtszustand hält: Nicht ein ‚Wider-Spännstiges‘ soll gefügt werden und sich fügen, sondern es soll sich zeigen, daß das Wider- und Gegenspannende zum Wesen der Fügung selbst gehört.162

Zu diesem Zweck ist erforderlich, dass sich das Aufgehen in das ihm entgegengesetzte Sichverbergen zurückspannt163, um von diesem als Aufgehen freigegeben zu werden.

160 161 162 163

und unsichtbarer, nur dem Denken zugänglicher Welt. [….] So verfehlt diese Auslegung war, so richtig war der Eindruck jener Interpreten, daß Heraklit eine fundamentale Unterscheidung gelehrt und im Rahmen dieser Unterscheidung eine durchgreifende Kritik geübt habe: Nur handelt es sich dabei um die Unterscheidung von Einsicht und Ansicht und um die Kritik der Einsicht an der Ansicht.“ Vgl. hierzu das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. Heidegger, GA 55, S. 145. Ebd., S. 147. Vgl. hierzu Heideggers Übersetzung des Fragmentes 51 (οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόµενον ἑωυτῷ ὁµολογέει· παλίντροπος ἁρµονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης): Heidegger, GA 55, S. 147: „Nicht zusammenbringen sie, wie das Sichauseinanderbringen wesen soll, in dem es (im Auseinanderbringen seiner selbst) sich mit sich zusammenbringt; zurückspannend (-weitend) (nämlich das Sichauseinanderbringende) west die Fügung, wie es (das Wesen) im Anblick von Bogen und Leier sich zeigt.“

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Das dergestalt zugelassene Aufgehen reicht sich im Akt der Öffnung zugleich in das Sichverbergen hinein, weil es sich nur durch diese Zuneigung aus ihm herauslösen und das Aufgehen bleiben kann. Dieser Prozess des „Hinweg und Zurück, Hin und Her“164 vollzieht sich in immerwährender Dauer. Wichtig ist, dass keine Priorität des Aufgehens oder des Untergehens165 konstatiert werden kann: Indem das Aufgehen das Untergehen zeugt, lässt das Sichverbergen parallel das Aufgehen entstehen. Aufgrund dieser unaufhebbaren Simultaneität von Aufgehen und Untergehen gelangt Heidegger zu dem indirekt mehrere Fragmente Heraklits166 zitierenden Schluss: „Das Selbe, was das Aufgehen ist, ist das Sichverbergen, d. h. das Untergehen“.167 Diese Selbigkeit darf freilich nicht als Einerleiheit verstanden werden, sondern muss als Differenz in der Einheit der einen φύσις aufgefasst werden. Resümierend ist festzuhalten, dass die φύσις zum einen als Zusammenspannung von Aufgehen und Untergehen begriffen werden muss und zum anderen jedes Erscheinende fundiert. Anders als in Nietzsches Heraklit-Interpretation, kann sie bei Heidegger nicht inmitten des sinnlich wahrnehmbaren Werdens perzipiert werden. Diese beiden As-

164 Ebd., S. 153. 165 Heideggers Gedankenfigur einer sich wechselseitig bedingenden Ebenbürtigkeit des sich verbergenden und des sich lichtenden Spannungselementes der φύσις lässt sich sehr gut mit Schellings Modell einer Zirkularität zwischen dem sich zurückziehenden Grund und dem lichterfüllt-verklärenden Universalwillen des Verstandes parallelisieren. Eine gravierende Differenz zwischen den Konzeptionen Schellings und Heideggers dokumentiert sich jedoch darin, dass der dunkle Grund in Schellings prozessontologisch-eschatologischem Ansatz sukzessive in das Licht aufgehoben werden soll. Demgegenüber optiert Heidegger für den Primat der Verbergung, insofern diese das Aufgehen inmitten der widerwendigen Selbigkeit der φύσις gründet. Vgl. zu diesem Kernunterschied zwischen Schelling und Heidegger den folgenden Passus aus Schellings Freiheitsschrift: Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 362f.: „Jedes der auf die angezeigte Art in der Natur entstandenen Wesen hat ein doppeltes Prinzip in sich, das jedoch im Grunde nur ein und das nämliche ist, von den beiden möglichen Seiten betrachtet. Das erste Prinzip ist das, wodurch sie von Gott geschieden, oder wodurch sie im bloßen Grunde sind; da aber zwischen dem, was im Grunde, und dem, was im Verstande vorgebildet ist, doch eine ursprüngliche Einheit stattfindet, und der Prozeß der Schöpfung nur auf eine innere Transmutation oder Verklärung des anfänglich dunkeln Prinzips in das Licht geht (weil der Verstand oder das in die Natur gesetzte Licht in dem Grunde eigentlich nur das ihm verwandte, nach innen gekehrte Licht sucht): so ist das seiner Natur nach dunkle Prinzip eben dasjenige, welches zugleich in Licht verklärt wird, und beide sind, obwohl nur in bestimmtem Grade, eins in jedem Naturwesen.“ 166 Vgl. zu dieser Identität von Aufgang und Untergang z. B. Heraklit, DK 22 B 60, S. 266: ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή. „Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe“. Vgl. des Weiteren: Heraklit, DK 22 B 15, S. 257: εἰ µὴ γὰρ ∆ιονύσῳ ποµπὴν ἐποιοῦντο καὶ ὕµνεον ᾆσµα αἰδοίοισιν, ἀναιδέστατα εἴργαστ' ἄν· ὡυτὸς δὲ Ἀίδης καὶ ∆ιόνυσος, ὅτεῳ µαίνονται καὶ ληναΐζουσιν: „Wäre es nicht Dionysos, dem zu Ehren sie die Prozession begehen und das den Schamgliedern geweihte Lied singen, so geschähe das Unverschämteste. Dionysos, dem zu Ehren sie sich wie Verrückte und Rasende benehmen, ist ja derselbe wie Hades.“ (Übersetzung von Mansfeld/Primavesi, Die Vorsokratiker, S. 257.) In dem Gespräch Der Lehrer trifft den Türmer an der Tür zum Turmaufgang bezieht sich Heidegger explizit auf das Heraklit-Fragment 60 und lässt den Lehrer sagen: „Hinauf und herab gehören zueinander, nicht wie zwei getrennte Stücke, sondern zu dem Hinauf gehört schon das Herab, und das Herab entfaltet auf seine Weise in sich das Hinauf.“ Vgl. Heidegger, Feldweg-Gespräche (1944/45), GA 77, hrsg. von Ingrid Schüßler, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2007, S. 167f. 167 Heidegger, GA 55, S. 153.

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

pekte – die Unzertrennlichkeit von Aufgehen und Untergehen168 sowie die Unanschaulichkeit des Seinsentwurfes – erläutert Heidegger in einer aussagekräftigen Textpassage, in der er die für das alltägliche Denken schwer nachvollziehbare Bezogenheit von Zusammenbringen und Auseinandergehen im Wesen der φύσις unterstreicht: In der Sache noch ursprünglicher denkend müssen wir sogar sagen, daß auch das Wesen des ἀντίξουν und des συμφέρειν und διαφέρειν aus der φύσις bestimmt wird, d. h. aus ihrem aufgehenden lichtenden Wesen. Weil hier aber nicht irgendein sinnlich anschaubarer Anblick voreilig für das Ganze des Seienden gesetzt wird, weil vielmehr der denkende Entwurf das Sein selbst bildlos erblickt in seinem anfänglich einfachen Wesen der Fügung, vermag das gewöhnliche Meinen das hier Zu-denkende nicht zu denken; denn es müßte ja dem ἀντίξουν/συµφέρον folgen und das Gegenfahren als ein Zusammenbringen vernehmen und in solchem Vernehmen dem Zu-denkenden gemäß sich verhalten. Das Aufgehen, die φύσις, läßt sich als die genannte Fügung nur denken, wenn das Denken selbst fügsam ist und in der Fuge der Fügung den Fug denkt und dabei und so allein auch schon den anfänglichen Un-fug weiß. Das gewöhnliche Denken und zumal das unsere und moderne ist ein gegenständliches Denken, das allein in der möglichen Vergegenständlichung das Kennzeichen der Wahrheit des Gedachten sucht.169

Wegweisend ist diese Textstelle vor allem aufgrund des Verweises auf den „anfänglichen Un-fug“170, der in der Heraklit-Auslegung aus dem Jahre 1943 anders bestimmt wird als im Zwiegespräch mit Anaximander aus den Jahren 1941 und 1946. Während der Unfug, die ἀδικία, im Falle Anaximanders als das willentliche Aufspreizen gegen die zugemessene Ordnung der Zeit entschlüsselt wird171, so setzt Heidegger diese Verkehrungsstruktur in der Heraklit-Deutung mit dem vergegenständlichenden Denken gleich. Das objektivierende Denken ist nach Heidegger dadurch gekennzeichnet, dass es im Moment des Auseinandertretens von Aufgehen und Sichverbergen nicht den gelingenden Vollzug des gegenwendigen Zusammenkommens zu registrieren vermag. Dieser Charakterisierung des schon am Anfang der Philosophie zu konstatierenden Un-fugs, der zu Zeiten Heraklits als das einseitig-gewöhnliche, auf bildhafte Vergegenständlichung des Wahrheitsgehalts abzielende Denken auftritt, entspricht in Heideggers Narrativ der Moderne die seinsgeschichtliche Beschreibung des vor-stellenden Willens. Dieser lässt das Seiende nicht mehr im widerstrebend gefügten Aufgehen erscheinen, sondern stellt es sich als Objekt gegenüber, dessen Gegenständlichkeit er selbst konstituiert und kontrolliert. Im Hinblick auf die hier vertretene Zentralthese, Heraklit werde von Heidegger als Gegendenker gegen die Willensmetaphysik in Stellung gebracht, die keine Verborgenheit mehr kennt und alles in das Offene ihres Zugriffs zerrt, lässt sich sagen, dass das Willensprinzip in potenzierter Weise ebenjenen Un-fug der einseitigen 168 Heideggers Konzeption des ‚Streites von Welt und Erde’ (respektive zwischen Lichtung und Verbergung), die sich besonders im Kunstwerk-Aufsatz und in den Beiträgen zur Philosophie findet, überschneidet sich wesentlich mit dem Heraklit zugeschriebenen Gedanken einer Gleichursprünglichkeit von Aufgehen und Untergehen innerhalb der φύσις. Vgl. dazu Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 152, S. 275: „Hier ist zu erinnern, dass Bergung immer ist die Bestreitung des Streites von Welt und Erde, daß diese wechselweise sich überhöhend unterlaufen, in ihrer Gegenläufigkeit zuvor und vor allem sich die Bergung der Wahrheit abspielt.“ 169 Heidegger, GA 55, S. 146. 170 Ebd., S. 146. 171 Vgl. hierzu das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Reifikation reproduziert: Der Wille lässt einzig dasjenige gelten, das der eigenen Wesenserhaltung in der durch ihn selbst aufgeschlossenen Welt gemäß ist. Das Lebensgemäße kann niemals eine Entität symbolisieren, die sich verbirgt und entzieht. Ebenso wenig kann der Wille eine abgründige Instanz akzeptieren, in die er sich zurückgründen müsste, um die Gewähr seines eigenen Wesens zu empfangen. Wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels exponiert werden soll, suchen sowohl der Hegel zugesprochene Wille zur Gewissheit als auch der nietzscheanische Wille zur Macht nach Heidegger jedwedes Unbekannte und Dunkle aufzulösen. Dadurch verabsolutiert der Wille allerdings die eine, lichthelle Seite der φύσις, sodass er (genau wie das vergegenständlichende Denken) nicht mehr auf die ambivalente Verbindung zwischen der zugewandten Annäherung und der auseinanderweisenden Spannung inmitten der φύσις zu achten vermag. Diese Kohäsion antithetischer Momente, die das Aufgehen allererst ermöglichen, kann nur erkannt und respektiert werden, wenn das Sichverbergen in seinem Bezug zu dem niemals Untergehenden gewürdigt wird. So betrachtet, enthüllt sich der Wille als die inkarnierte Ungerechtigkeit172 selbst, wohingegen das Denken der Verbergung, das diese mit dem Aufgehen zusammenschaut, ‚fügsam‘ und gerechtigkeitsaffin ist. Heideggers ‚Entwurf des Seins‘ als bildlose, wesentliche Fügung ist strikt von jeder Affirmation eines sich im periodischen Gang der Welt erringenden, ewigen Kreislaufes zu distanzieren. Bei Nietzsche waltet die Fügung einzig im und als souveränes Werden. In Heideggers Heraklit-Rezeption vindiziert die Fügung eine tiefer gegründete Ebene und geht als lichtende Verbergung jedem Erscheinenden aufschließend voraus. Die Inkommensurabilität der auserkorenen Geltungsbereiche der Fügung unterstreicht den Graben zwischen den Heraklit-Deutungen Nietzsches und Heideggers. Das Spezifikum der jeweiligen Erkenntnisziele bekundet sich auch in Heideggers Erläuterung des Feuer-Motivs. Während Nietzsche eine Referenz zwischen dem Feuer, dem Weltenbrand und dem kosmischen Zyklus stiftet173, bindet Heidegger das im Fragment 66 genannte Feuer an das erscheinenlassende Licht an, das durch das Aufgehen der fügenden φύσις geschenkt wird: πάντα γάρ τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. „Alles nämlich das Feuer, stets im Kommen, wird (fügend es) herausheben und wegheben.“174

172 Im Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in Rußland zwischen einem Jüngeren und einem Älteren wird der Wille dem Bösen angenähert. Vgl. Heidegger, GA 77, S. 208: „Der Ältere: Wenn jedoch das Böse im Bösartigen beruht, das in sich ergrimmt ist über seinen eigenen Grimm und dadurch stets grimmiger, dann möchte ich fast meinen, das Bösartige sei etwas Willensmäßiges. Der Jüngere: Vielleicht ist überhaupt der Wille selbst das Böse. Der Ältere: Ich scheue mich, so etwas Gewagtes auch nur zu vermuten.“ Kurz darauf nimmt der Jüngere die Bedeutungsüberschneidung zwischen dem metaphysischen Willensprinzip und dem Bösen im dezidierten Hinblick auf den Willen zur Macht erneut auf. Vgl. Heidegger, GA 77, S. 210: „Gesetzt aber, der Wille sei selbst das Böse, dann ist am allerwenigsten das Reich des reinen Willens zur Macht ein ‚Jenseits von Gut und Böse‘, wenn anders es überhaupt ein Jenseits des Bösen geben kann.“ 173 Zu Nietzsches Heraklit-Interpretation vgl. das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. 174 Heidegger, GA 55, S. 163.

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

Vorgreifend kann konstatiert werden, dass Heidegger in seiner Interpretation des Fragmentes 66 eine beachtenswerte Nähe zu seiner Umrandung des τὸ χρεών im Aufsatz Der Spruch des Anaximander erreicht. Zudem lässt sich eine augenfällige Merkmalsüberschneidung zwischen τὸ πῦρ und der Δίκη in Heideggers Übersetzung des Fragmentes 28175 vernehmen, obwohl Heidegger καταλήψεται im Fragment 66 mit „wegheben“ statt mit „überwinden“ überträgt. Indem das Feuer „jedes Erscheinende in den gefügten Grenzen seines Gebildes“176 koordiniert, gibt es das einzelne Seiende in die ihm zugemessene Beschaffenheit frei. Weil das Feuer dabei das „Schickliche erglänzen läßt“177, kann Heidegger die dem Feuer eignende Weise des Anwesenlassens auf das Verb κοσμέω zurückleiten, das er mit „Etwas in den Glanz seines gefügten Erscheinens eröffnen, ‚aufmachen‘ und also erstehen lassen“178 übersetzt. Damit erfüllt der Kosmos als „Zier“179 die gleiche Aufgabe wie das Feuer und die ἁρμονία, die allesamt im Wesen der lichtenden Fügung koinzidieren: „Diese so gedachte Zier als lichtende Fügung, φύσις, ζωή, ἁρμονία, ist das zierende Feuer selbst, der Blitz, κόσμος und πῦρ sagen das Selbe“.180 175 Vgl. den Wortlaut von Heraklits Fragment 28: Heraklit, DK 22 B 28, S. 254: δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει· καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας. Heidegger übersetzt das Fragment 28 in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Historienschrift wie folgt: Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung, GA 46, S. 196: „Denn nur Scheinhaftes ist es, was erkannt (das ihm gerade Sichzeigende, Erscheinende); erkennt auch der Berühmteste (am meisten in Erscheinung und Ansehung Tretende), und er hält dieses fest (nimmt es als das Feste). Doch wahrlich die Gerechtigkeit wird auch die Zimmerer und Zeugen der Verrechnungen (Irrtümer) und (Verfestigungen) zu fassen wissen (von oben her fassen und unter sich bringen, d. h. überwinden).“ Vgl. dazu auch Heideggers Urteil zu Nietzsches Heraklit-Rezeption, das in dem Historienschrift-Seminar von 1938/39 noch wesentlich milder und wohlwollender ausfällt als in der Heraklit-Vorlesung von 1943: Heidegger, GA 46, S. 196: „Entscheidend, daß Nietzsche auf Heraklit überhaupt zurückkam und einen Zusammenhang zwischen Δίκη und den δοκέοντα sah. Damit nicht gesagt, daß Nietzsche einfach seine Gedanken daraus abgelesen; dazwischen liegt überdies die ganze Geschichte der abendländischen Metaphysik; gleichwohl auch hier (wie noch äußerlicher in der Lehre von ‚Sein‘ und ‚Werden‘) überall eine eigentümliche Rückwendung Nietzsches und diese auch wissentlich; Heraklit – sein Philosoph.“ Zur vertieften und ausführlichen Interpretation des HeraklitFragmentes 28 vgl. den Abschnitt 4.4. in der vorliegenden Arbeit: Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung. 176 Heidegger, GA 55, S. 163. 177 Ebd., S. 163. 178 Ebd., S. 163. 179 Ebd., S. 163. 180 Ebd., S. 164. Im Hinblick auf die Zusammenhangsbestimmung zwischen den heraklitischen Grundbegriffen der φύσις, der ἁρµονίη, des Blitzes, des Kosmos und des Feuers herrscht nach wie vor Uneinigkeit in der Forschung. Zur Veranschaulichung der komplexen Sachlage seien an diesem Ort einige Positionen der kontroversen und produktiven Forschungsdebatte referiert. Ähnlich wie Heidegger stipuliert auch Wiebrecht Ries eine weitreichende Bedeutungsgleichheit der Leitmotive. Dabei beruft er sich auf das Heraklit-Fragment 64, um die vernunftbezogene Charakterisierung des Feuers mit dem ‚einen Weisen‘ parallelisieren zu können. In einem zweiten Schritt erlaubt diese pyrologische Intellektualisierung nach Ries die Identifikation des Feuers mit dem λόγος, der wiederum mit dem Göttlichen zusammenfällt. Im Rekurs auf Bröcker kann Ries alsdann den mit dem Feuer gleichgesetzten Blitz als Emblem der gesamten Philosophie Heraklits deuten. Vgl. Wiebrecht Ries, Die Philosophie der Antike. Eine Einführung, Darmstadt 2005, S. 33: „Das Feuer ist nicht wie in der älteren ionischen Philosophie ein Grundstoff, sondern als das feinste, das geistähnlichste ist es ‚vernunftbegabt‘ (Fr. 64a). Es ist ‚da‘, indem es vergeht, und so ist es ‚das Vergänglich-Ewige‘ (B. Snell). Als das Lebendigste ist das Feuer, das sich erhält, indem es sich verzehrt, zugleich das Wissende. Es ist sophon (das Weise) und theion (das Göttliche). Der Blitz als Feuer in der Hand des Zeus ist ‚das eigentliche

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Auf der Basis der Semantik des Glanzes und des Zierens lenkt Heidegger zur Diskussion der von Heraklit im Fragment 30 erwähnten „schönen Ordnung“181 des Kosmos über. Im weiteren Fortgang soll für die These geworben werden, dass sich ein Symbol der heraklitischen Philosophie‘ (W. Bröcker).“ Auch Margot Fleischer votiert für die Rationalität des Weltfeuers. Indem sie jedoch die Erkenntnisfähigkeit des Feuers nicht – wie Heidegger – in der aktiven Eröffnung der Maße verwurzelt, sondern als Verstehen der fremdverfügten Grenzen interpretiert, schreitet sie zu einer markanten Unterscheidung zwischen dem Blitz und dem Feuer fort. Mit Bröcker übereinstimmend, tituliert Fleischer den Blitz als das Signum des Göttlichen. Vgl. Margot Fleischer, Anfänge europäischen Philosophierens. Heraklit, Parmenides, Platons ‚Timaios‘, Würzburg 2001, S. 37f.: „Heraklit spricht dem Weltfeuer zu, verständig zu sein, und das heißt mit Helds Worten: Maße ‚zu erkennen und einzuhalten.‘ […] Daß das Weltfeuer, wenn es verständig die Maße einhält, diese auch ‚erkennen‘ muß, ist sicher. Aber ‚erkennen‘ kann hier zweierlei bedeuten: von anderswoher empfangene Maße verstehen – oder: selbst die Maße allererst eröffnen, wo nicht gar festlegen (‚setzen‘). Mein Interpretationsversuch entscheidet sich für die erste dieser beiden Möglichkeiten. Und er bringt den Blitz (als vom Weltfeuer verschieden) ins Spiel, um die Frage zu klären, wie und woher das Weltfeuer die Maße empfängt, nach denen es sich in seinem ‚ersten‘ Umschlagen (in Meer) richtet und die durch seine weiteren Wenden hindurch für das große Kosmosgeschehen bestimmend bleiben. Den Blitz auf die angedeutete Weise ins Spiel bringen, bedeutet zunächst nicht mehr, als ihn vom Weltfeuer zu unterscheiden (d. h. zu sagen, was er nicht ist) und beide gleichwohl zueinander in Beziehung zu setzen. […] Ich vertrete im folgenden die These: Das verständige Weltfeuer empfängt sein Verstehen der Maße vom höchsten Göttlichen mittels des Blitzes.“ Die Priorisierung des Blitzes untermauert Fleischer durch die Heranführung weiterer Heraklit-Fragmente. Leitend ist für Fleischer die mythologisch-tradierte Assoziation zwischen Zeus (der als das ‚höchste Göttliche‘ definiert werden darf, wenn die personalfigürliche Komponente ausgeklammert wird) und dem Blitz. Weil Heraklit mit dem Namen ‚Zeus‘ auch das ‚allein Weise‘ umschreibe, könne der Blitz als Instrument ebendieses höchsten Einheitsprinzips gefasst werden. Vgl. Fleischer, Anfänge europäischen Philosophierens, S. 42: „Das höchste Göttliche und allein Weise läßt es zu, Zeus genannt zu werden (nennt man es so in der richtigen Bedeutung des Namens). Die griechische Mythologie hat Zeus und den Blitz eng verbunden. Das hat Heraklit nach meiner Deutung aufgegriffen und in den neuen Kontext seiner Philosophie abgewandelt übertragen. Der Blitz ist das Wirken des allein Weisen; mittels des Blitzes teilt das allein Weise dem Weltfeuer die Maße mit, die dieses – als verständiges Feuer – beachtet und bewahrt durch alle seine ‚Wenden‘ (auch in die drei Elemente) hindurch. Ja, vielleicht darf man sogar sagen: Zeus (das allein Weise) ‚fährt selbst im Blitz nieder‘ bzw. hinein in das Weltfeuer. Sicher soll man nicht annehmen, er gehe in diesem Wirken auf, sei nichts als dieses Wirken.“ Als problematischer Gehalt dieser Auslegung könnte kritisiert werden, dass Fleischer einen Dualismus zwischen dem weltimmanenten Feuer und der abgesonderten Transzendenz des Blitzes installiert. Indes beruht der Vorteil gegenüber Heideggers Identifikation der Grundtitel vornehmlich darauf, dass Fleischers Analyse eine höhere Differenzierungsschärfe besitzt, da sie die Dignität des Göttlichen in den Mittelpunkt rückt. In eine vergleichbare Richtung wie Margot Fleischer zielt Karl Jaspers in seinem Werk Die grossen Philosophen. Insofern Jaspers die Begriffe des λόγος, des Kosmos und des Feuers zunächst als nahezu gleichbedeutende Ausdrücke einführt, scheint seine Interpretation derjenigen Heideggers zu ähneln. Indem Jaspers diese Bestimmungen unter der Fundamentalklassifikation ‚Gott‘ subsummiert, zieht er allerdings (wie nach ihm Fleischer) eine höhere Dimension in Erwägung. Genau wie Fleischer, referiert Jaspers in der Folge auf das Fragment B 32, um das Göttliche von der Gleichsetzung mit dem Kosmos oder dem Feuer zu distanzieren und es als reine Transzendenz zu nobilitieren. Die vollständige Abkapselung des einen Weisen rechtfertigt Jaspers mit dem Bezug auf das Fragment 108. Vgl. Karl Jaspers, Die grossen Philosophen I, München 1957, S. 634: „Wenn aber nicht von Göttern, sondern von Gott die Rede ist (was in der Sprache der griechischen Philosophie der Gott, das Göttliche, die Götter heißt), dann spricht Heraklit von Gott wie vom Logos, vom Kosmos, vom Feuer. Aber noch darüber hinaus deutet sich eine andere, größere, die wesentliche Gottesanschauung Heraklits an: ‚Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus genannt werden.‘ Es steuert alles. Von diesem Weisen (sophon) aber heißt es: ‚Von allen, deren Worte ich vernommen, gelangt keiner dazu, zu erkennen, daß das Weise etwas von allem Abgesondertes ist‘ (kechorismenon). Hier ist der Gedanke der Transzendenz als des schlechthin anderen, und zwar im vollen Bewußtsein des Unerhörten, erreicht.“

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

großer Unterschied zwischen den Heraklit-Interpretationen Nietzsches und Heideggers in der divergierenden Bedeutungsprägung des Kosmos abzeichnet. Die leitende Auffassung lautet, dass es der Begriff des Kosmos ist, der die Unmöglichkeit einer unter der Signatur der δίκη organisierten Vereinigung der Heraklit-Deutungen Nietzsches und Heideggers besiegelt. Das thematische Fragment Nr. 30, das mit ἀείζωον ein „wesentliches Wort“182 beinhaltet, übersetzt Heidegger in der hier zitierten Form: κόσµον (τόνδε), τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν, οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ' ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόµενον µέτρα καὶ ἀποσϐεννύµενον µέτρα. „Diese Zier, die jetzt genannte, die selbige in allen Gezierden, weder irgendwer der Götter noch der Menschen (einer) hat sie hergestellt, sondern sie war immer und ist (immer) und wird sein (immer): (nämlich) das Feuer immerdar aufgehend, entzündend sich die Weiten (Lichtungen), sich verlöschend (verschließend) die Weiten (ins Lichtungslose).“183

Der Kosmos wird von Heidegger nicht als Globalkennzeichnung der wohlbeschaffenen Regelmäßigkeit und Ordnung des Alls beschrieben. Stattdessen zieht Heidegger auch in der Analyse des Kosmos eine Verbergungsdimension ein. Wie im Falle der φύσις, verweigert sich Heidegger einer Verständnisweise des Kosmos als Sammelname des Seienden im Ganzen.184 Heidegger porträtiert den Kosmos – unter Beibehaltung der ontologischen Differenz – als ermöglichend-unscheinbare Fügung (Zier) des Seienden, die jedes Aufgehende (Gezierde) in das aufgeschlossene Offene hineinweist.185 Angesichts dieser Prädikatsschilderung der Zier konvergiert der Kosmos mit 181 Vgl. die von Mansfeld und Primavesi gewählte Übersetzung des Fragmentes 30: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 269: „Die gegebene schöne Ordnung [Kosmos] aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach [denselben] Maßen erlöschend.“ 182 Heidegger, GA 55, S. 165. 183 Ebd., S. 165. 184 Vgl. ebd., S. 164. 185 Ähnlich wie Heidegger, konstatiert auch Klaus Held eine Doppeldeutigkeit des heraklitischen Begriffs des Kosmos. Während der als Spielraum der ansichtshaften Erfahrungsweisen des jeweils Begegnenden verstandene Kosmos einerseits im zeitlichen Sinne als die ‚einzig-eine Gegenwart‘ dechiffriert werden könne, müsse er andererseits als administrative Instanz der Anordnungsregelung ebenjender Befindlichkeiten aufgerufen werden. Diese zeittheoretisch-maßhaltende Doppelcharakterisierung gilt nach Held auch für das Weltfeuer, in dessen Lichtgegenwart sich alles Seiende abzeichnet, um den regelmäßigen Steuerungsgesetzen dieser singulären Gegenwart unterworfen zu werden. Vgl. Held, Heraklit, S. 415: „Damit hat sich gezeigt, daß der heraklitische kosmos als die einzig-eine Gegenwart bzw. als der eine Spielraum des Sich-Befindens zugleich die schmuckvoll gelungene Regelung des Verhältnisses der gegenseitigen Weisen des Sich-Befindens qua ‚Elemente‘ ist. Indem diese Befindlichkeitsweisen sich zu ‚Elementen‘-erfüllten Weltgegenden lokalisieren, bekommt der eine Spielraum den Charakter eines Ganzen, worin diese als die Teile enthalten sind. Aufgrund dessen kann sich das Wort kosmos bei Heraklit von der Grundbedeutung ‚schmuckvoll gegliederte Anordnung‘ zu einer Bezeichnung für das Ganze des Seienden erweitern. Dieser Doppeldeutigkeit von kosmos entspricht eine Doppeldeutigkeit des heraklitischen Feuers. Weil pyr der Titel sowohl für die einzig-eine Gegenwart als Helle und Wärme ist, als auch für dieselbe Gegenwart, sofern sie zugleich die Regelung des Verhältnisses der zu ‚Elementen‘ lokalisierten Weisen des Sich-Befindens ist, deswegen kann Heraklit ebensogut sagen, daß es sich beim kosmos ‚um Feuer handelt‘ (vgl. Fragment 30), wie, daß alles jeweils ‚in‘ diesem Kosmos Erscheinende (panta) vom Feuer gesteuert wird (Fragment 64 und pyr phronimon).“

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

der ἁρµονίη ἀφανὴς. Hingegen entspricht das sichtbar in den Vordergrund hervortretende Seiende, welches das menschliche Vernehmen zumeist affiziert, als verfestigtes Gezierde der ἁρµονίη φανερῆς. Dem Fragment 30 entnimmt Heidegger zwei wesentliche Topoi, die den Vorrang des als φύσις waltenden, anfänglichen Seins gegenüber dem höchsten Seienden erstens ontologisch und zweitens im Hinblick auf die Zeitlichkeit untermauern sollen. Während die Metaphysik nach Heidegger stets das ontotheologisch privilegierte, höchste Seiende zum Sein aufgerichtet hat, wird Heraklit von Heidegger in einem vormetaphysischen Bezirk verortet, der unter dem Index des Seinsdenkens situiert ist. Weil Heraklit davon spricht, dass der Kosmos – der als Zier mit der Unscheinbarkeit der φύσις zusammenfällt – weder von den Menschen noch von den Göttern produziert worden sei, kann Heidegger die Ursprünglichkeit der φύσις unterstreichen und sie sowohl von der Traditionslinie der Ontotheologie als auch von der im Willen gegründeten Subjektivität abgrenzen: Die φύσις ist über den Göttern und den Menschen. Jede metaphysische Betrachtungsart, sie mag von Gott als der ersten Ursache oder vom Menschen als der Mitte aller Vergegenständlichung ausgehen, versagt, wenn sie das denken soll, was in diesem Spruch zu denken aufgegeben wird. Vor allem Seienden und vor jedem Ursprung von Seiendem aus Seiendem west das Sein selbst. Es ist kein Gemächte und hat deshalb auch keinen durch einen Zeitpunkt bestimmten Beginn und kein entsprechendes Ende seines Bestandes.186

186 Heidegger, GA 55, S. 166. Auf der Basis seiner grundlegenden Differenzierung zwischen der ‚Einsicht‘ und der ‚Ansicht‘ expliziert Klaus Held, dass der im Fragment 30 beschriebene Kosmos für Heraklit tatsächlich den Status des Immerwährenden besitzt. Es ist allerdings zu beachten, dass Held dieses ‚Immerwährende‘ nicht als Perpetuierung einer metaphysischen Substanz versteht. Heraklits Aussage, dass der Kosmos immer derselbe ist, war und sein wird, bezieht Held auf die einsichtige Erfassung der Lebenswelt als des gemeinsamen Spielraumes und einheitlich-strukturverleihenden Horizontes der Wechselgesamtheit aller Individualerfahrungen. Vgl. Held, Heraklit, S. 397: „Die Einsicht begreift, daß der Kosmos ‚immer war und ist und sein wird‘, wie Heraklit mit der aus der epischen Tradition stammenden Formel für das Immerwährende sagt. Wenn die Ansicht demgegenüber den Kosmos für das Werk eines Gottes oder eines Menschen hält, so leugnet sie dieses Immerwähren: Ein solches Werk war nicht immer und wird, weil entstanden, auch nicht unvergänglich sein. Der erste Unterschied besagt demnach: Der Kosmos ist für die Einsicht […] immerwährend, für die Ansicht hingegen nur von zeitweiliger Dauer. Die Begründung dafür, daß die Ansicht mit dieser Auffassung im Unrecht ist, deutet Heraklit an, indem er den Kosmos als ‚den selben Aller‘ bezeichnet. Diese Bezeichnung kann sinnvollerweise nur besagen: Die Lebenswelt ist nicht für jeden einzelnen Erfahrenden eine andere, sondern sie ist das Eine und Selbe, worin die jeweils Erfahrenden übereinkommen. Die einzelnen Erfahrenden werden ausdrücklich mit einer wiederum aus der epischen Tradition stammenden Formel benannt: ‚jemand von den Göttern oder Menschen.‘ Diese Formel bezeichnet in umfassender Weise alle diejenigen Wesen, denen etwas Seiendes überhaupt in Erfahrung bzw. Erkenntnis erschlossen sein kann. In der Hinzufügung ‚der selbe Aller‘ liegt bereits die Begründung für Heraklits These versteckt. Sie müßte lauten: Der Kosmos kann nicht das Werk eines der genannten erfahrend lebenden Wesen sein, da sich in ihm als dem für alle Gemeinsamen alle Sondererfahrungen, die solche Wesen jeweils machen, abspielen; d. h., er ist erstens als das Eine in der Vielfalt solcher Erfahrungen, zweitens als das Selbe in deren Verschiedenartigkeit und drittens als das Bleibende in deren Wechsel vorausgesetzt. Damit ist auch der zweite eben erwähnte Unterschied zwischen den Auffassungen von Einsicht und Ansicht über den Kosmos hervorgetreten: Er ist für die Einsicht das Eine und Selbe, für die Ansicht hingegen ein immer anderer.“

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

Die Exposition der Überzeitlichkeit der „immerdar aufgehenden“ φύσις, mit der Heidegger die Unantastbarkeit des Seins gegenüber dem Wandel des erscheinenden Seienden sowie gegenüber der menschlichen Herstellungstätigkeit zu verdeutlichen sucht, birgt in sich das grundlegende Problem, wie sich die Ewigkeit der φύσις mit der von Heidegger favorisierten Geschichtlichkeit des Seins zusammendenken lässt. Heideggers obige Kommentierung des Fragmentes 30 scheint sich in zeittheoretischer Hinsicht mit Löwiths Emphase des ewigen Kreislaufs der φύσις zu überschneiden.187 Eine tiefgreifende, funktionale Differenz bleibt freilich gewahrt. Für Löwith gründet die φύσις nicht in einem sich verbergenden Sein und enthüllt sich nicht als reines Aufgehen, sondern zeigt sich in jenem geregelten Gang und Wechsel des Werdens, der von Heidegger zum vordergründigen und sich vordrängenden „Gezierde“ herabgestuft wird. In einem in Klammern gesetzten Passus löst Heidegger die Ambiguität zwischen der ewigen φύσις und dem geschichtlichen Sein auf, indem er die Genese des Ewigkeitsgedankens aus zeitlichen Bestimmungen rekonstruiert. Immerhin besteht ansonsten die Gefahr, dass Heraklits Betonung der Allzeitlichkeit der φύσις nicht von den metaphysischen Ewigkeitskonzeptionen der sempiternitas und der aeternitas unterschieden werden kann. Heideggers argumentative Distanzierung der immerwährenden φύσις von der metaphysisch vorgestellten Ewigkeit ist hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit Schellings Anbindung des Willens an die zentralen Seinsprädikate der Metaphysik, zu denen die „Unabhängigkeit von der Zeit“ und die „Ewigkeit“188 gehören, von signifikanter Aussagekraft. Die „ununterbrochene Dauer“189 der φύσις beziehungsweise des Kosmos wird im Fragment 30 ostensibel durch die zeitlichen Prädikate legitimiert, dass er immer war (ἦν ἀεὶ), ist (ἔστιν) und immer sein wird (ἔσται). Dieser Begriff der Dauer, der die drei Zeitdimensionen nicht aufhebt, sondern jede für sich in der Fülle ihrer Erstreckung bewahrt, fundiert nach Heidegger den metaphysischen Gehalt der Zeit überhaupt und damit auch die aus ihr abgeleitete Ewigkeit. Demgegenüber erschließe die Metaphysik umgekehrt die durchgängige, übergreifende Dauer aus der Ewigkeit. Weil sie diese bevorzugt aus dem Jetzt, der Präsenz destilliere, unterschlage sie das immer schon Gewesene und das immer Seinwerdende zugunsten des nunc stans: Das Immerwährende ist das Ewige in der zwiefachen Bedeutung der sempiternitas und der aeternitas. In dieser erkennt die Metaphysik das eigentliche Wesen der Ewigkeit, die nicht das Ergebnis und die Folge einer ununterbrochenen Dauer ist, sondern selbst der Grund des Dauerns, sofern sie ist nunc stans, das stehende Jetzt. Streng gedacht liegen 187 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 4. Aufl., Hamburg 1986, S. 194: „Wir selbst sind schon Welt – aber nicht weil wir umweltlich existieren und die Welt nur eine Bestimmung der menschlichen Existenz wäre, sondern weil alle Einbeziehung, Entgegensetzung und Nebeneinandersetzung immer schon überholt ist durch das alles umfassende Sein der lebendigen, physischen Welt, die ein beständiger Kreislauf des Entstehens und Vergehens, des Schaffens und Vernichtens ist. Das Besondere des Menschenwesens liegt nicht in einer meta-physischen Sonderart, sondern nur darin, daß der Mensch von sich selbst und der Welt ein besonderes Bewußtsein hat, das aber kein eigenes Sein ist, sondern zu dem gehört, dessen es sich bewußt wird.“ 188 Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. 189 Heidegger, GA 55, S. 167.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

freilich beiden Begriffen der Ewigkeit dieselben Bestimmungen zugrunde, und zwar sind es, wie dies aus der Benennung nunc stans fast in die Augen springt, reine Zeitbestimmungen. Das ‚Jetzt‘ ist ein Zeitcharakter, und die Ständigkeit des Stehens und Anwesens ist es nicht weniger. Man kann zwar die Ewigkeit mit der Überzeitlichkeit gleichsetzen, man muß aber wissen, daß man die Ewigkeit immer aus der Zeit begreift. Die Kennzeichnung der Ewigkeit als der Überzeitlichkeit führt zu der Irrmeinung, im Wesen der Ewigkeit sei die Zeitlichkeit ausgeschieden; das ist nicht der Fall, sondern das Grundwesen der metaphysisch gedachten Zeit, das ‚Jetzt‘, ist im metaphysischen Begriff der Ewigkeit nur für sich und unbedingt gesetzt und das heißt, das Wesen der Zeit ist in einem ausgezeichneten Sinne in Anspruch genommen. Wir nennen die ursprüngliche Zier, wenn wir schon eine zeithafte Charakteristik nicht umgehen können, das Vorzeitliche und deuten damit an, daß der κόσμος ursprünglicher ist als jedes Zeitliche, so zwar, daß in ihm die Zeitlichkeit selbst gründet, was nur so möglich ist, daß er ‚die Zeit‘ selbst ist, dieses Wort freilich in einem anfänglichen Sinne verstanden. Das damit genannte Zeithafte läßt sich aus dem Gesichtskreis der bisherigen abendländischen Zeitvorstellung nicht fassen und nicht auslegen.190

Durch die Transformation der zunächst umrissenen Ewigkeit der φύσις hin zum vorzeitlichen Gründungsort der aus ihr entspringenden Zeitdimensionen wird es möglich, die φύσις als ‚ursprüngliche Zeitlichkeit‘ zu verstehen, die mit der Temporalität des Seins koinzidiert.191 Diese wiederum verzeitlicht die φύσις in den Epochen der Seinsgeschichte, sodass sich selbst im Willen zur Macht noch ein Abglanz ihres Aufgehens meldet. Die Ansicht, dass der Kosmos jedweder sukzessionszeitlichen Schematisierung vorausgeht und die Zeit aus ihm deriviert, wird auch von griechischen Denkern wie Platon vertreten. Die Differenz besteht vornehmlich darin, dass Platon den Kosmos ostentativ und im diametralen Gegensatz zu Heidegger als ewig und zudem als vollkommenes Musterbild begreift, auf das der Demiurg blickt, um die sinnliche Welt als Abbild zu schaffen.192 Wie für Heidegger ist auch für Nietzsche (zumindest, wenn der Gedanke der ewigen Wiederkehr als die Lehre Nietzsche betrachtet wird) und Löwith der Kosmos der Aufspaltung der linearen Zeit auf der einen Seite und der metaphysischen Ewigkeit auf der anderen Seite vorgeordnet. Im Unterschied zu Heidegger, der an dem Primat der sich anfänglich verbergenden φύσις festhält, er-

190 Ebd., S. 167f. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Heidegger das heraklitische Feuer in der Marburger Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie (Sommersemester 1926) zwar einerseits schon – wie auch in der Heraklit-Vorlesung von 1943 – mit zeitlichen Bestimmungen ausstattet, es jedoch andererseits mit Hilfe einer symboltheoretischen Lesart aus dem innersten Zentrum der heraklitischen Philosophie herausdreht. Auffällig ist des Weiteren, dass Heidegger die Gesetzmäßigkeit eines Auseinanderstrebens des Verbundenen in hervorragender Weise in der Zeit inkarniert sieht, insofern die Zeit in ihrem permanten Wechsel und Fortschreiten immer dieselbe bleibt und sich als Gegenwart befestigt. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 232: „Das Feuer ist das Symbol eines ewigen Wandels. Das wahre Wesen des Seienden ist das Gewesensein, das Gegenwärtigsein und das Zukünftige. […] Der ständige Wechsel, das sich Entgegensetzende und doch Eine, ist nichts anderes als die Zeit selbst. Sofern die Zeit jetzt ist, ist sie ständig noch nicht und nicht mehr.“ 191 Vgl. zu dieser Verflechtung zwischen der φύσις und und der ursprünglichen Zeitlichkeit besonders die beiden Exkurse zu Heideggers Anaximander-Deutung, die sich im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit finden. 192 Vgl. Platon, Timaios 30c-31b, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 4, übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Ursula Wolf, 24. Aufl., Hamburg 2014, S. 29f.

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1.4. Die φύσις als Spannungseinheit von Entbergung und Verbergung

gibt sich dies für Löwith193 jedoch aus der Anfangs- und Endlosigkeit des Kosmos, die sich im periodischen Gang der Lebenszeit reproduziert. Der fundamentale Dissens, der sich in Nietzsches und Heideggers Heraklit-Auslegung im Hinblick auf die seit der Antike wesentliche und auch im Christentum vieldiskutierte Frage nach der Konstellation von Kosmos und Zeit rekognoszieren lässt, setzt sich in Heideggers Übersetzung und Interpretation des μέτρον fort. Wie im dritten Kapitel entwickelt werden soll, stützt sich Nietzsches Deutung der höchsten Gerechtigkeit bei Heraklit auf das μέτρον als Maß der Notwendigkeit, der sowohl das Spiel des Weltkindes, das Ereignis des Weltbrandes als auch die Koordination des Streites der Gegensätze unterworfen sind. Die im Fragment 30 geschilderte, zentrale Bedeutung des μέτρον wird in Heideggers Heraklit-Vorlesung durch die wiederholte Zitierung des thematischen Ausschnittes unterstrichen: πῦρ ἀείζωον, ἁπτόµενον µέτρα καὶ ἀποσϐεννύµενον µέτρα. „Feuer immerdar aufgehend, entzündend sich die Weiten, sich verlöschend die Weiten.”194

Mit der Aufklärung des μέτρον intendiert Heidegger, den konzisen Zusammenschluss der Grundworte φύσις, κόσμος, ἁρμονία und πῦρ zu befördern, die allesamt aus dem Topos des Sichverbergens des Seins begriffen werden sollen.195 Nachdem bereits φύσις, κόσμος und ἁρμονία aus dem Einheitssinn der wesentlichen und unscheinbaren Fügung exponiert wurden, sollen dem vermeintlich richtungslosen und zerstörerischen Feuer die Konnotationen des „Beliebigen“196 und „Geläufigen“197 genommen und das Missverständnis des Feuers als physische Elementarentität inhibiert werden. Die meisten Übersetzungen pflichten der Lenkung des Feuers durch ein übergeordnetes Maß bei, indem sie die Formulierungen „nach Maßen entflammend“198 und „nach Maßen verlöschend“199 wählen. Weil Heidegger im Kontrast dazu die Autarkie, Un193 Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 194: „Die ewige Wiederkehr ist eine solche des immer Gleichen, das heißt: des in allem Lebendigen gleichartigen und gleichmächtigen Lebens. Die Struktur und Problematik der Lehre von der ewigen Wiederkehr, und ihr Verhältnis zum Willen zur Macht, läßt sich nicht sinnvoll erörtern, wenn man – unter Voraussetzung eines abstrakten Seinsbegriffs – davon absieht, daß der maßgebende Ort von Nietzsches sämtlichen Lehren mit dem Wort ‚Leben‘ bezeichnet wird, das seinerseits auf eine alles tragende und beherrschende, erzeugend-vernichtende Physis abzielt.“ 194 Heidegger, GA 55, S. 168. 195 In der Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie (1926) optiert Heidegger – im Gegensatz zu der Identifikation von Feuer, Vernunft und φύσις in der späteren Heraklit-Vorlesung – noch dafür, das Feuer von der Weltvernunft und von dem einen Göttlichen zu dissoziieren. Insgesamt scheint Heidegger den Begriff des ‚Feuers‘ 1926 noch stärker in der Bedeutung des materiellen Elements zu verwenden. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 58: „Wechsel ist kraft des Gesetzes, des ταὐτόν. Heraklits Prinzip ist nicht das Feuer, sondern ἕν τὸ σοφὸν, λόγος. Feuer ist nur eine Erscheinungsform der Weltvernunft. πῦρ – πάντα ῥεῖ‚ vielmehr [...] ist Wandel und Bestand. Dieses Eine im Entgegengesetzten ist θεός. Nicht πάντα ῥεῖ‚ kein einziges Fragment sagt: Alles ist nur Übergang und Wechsel, nirgends Dauer und Beharrlichkeit, sondern Beharren im Wechsel, ταὐτόν im μεταπίπτειν, μέτρον im μεταβάλλειν. Alles in der Welt ist ταὐτόν, das Warme kalt, das Kalte warm.“ 196 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 168. 197 Ebd., S. 168. 198 Vgl. z. B. die Übersetzung in: Mansfeld/Primavesi, Die Vorsokratiker, S. 269. 199 Ebd., S. 269.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

ausbleiblichkeit und Ursprünglichkeit der immer aufgehenden φύσις, der Zier (Kosmos) und auch des Feuers bekräftigen möchte, ist es bei ihm das immerwährende Feuer, das – ohne selbst nach einem präformierten Turnus wieder zu verlöschen – die Maße aufschließt und eröffnet, in die alles Seiende eingelassen wird. Zwar gesteht Heidegger zu, dass „μέτρον“ korrekt mit „Maß“ übersetzt werden kann. Ein Verständnis des Maßes als Längeneinheit oder als zeitlichen Ordnungstakt weist Heidegger jedoch ab. Das Maß ist für ihn das „Durchmeßbare“200 und „Zu-durchmessende“201 und als solches die „Di-mension“.202 Diese gibt jene Weite vor, die schließlich durch präzise Messinstrumente ermittelt werden kann. Durch die Verknüpfung des μέτρον mit dem aktiven Erschließungsvermögen der entzündeten „Weite“ gelingt es Heidegger, das Feuer mit dem reinen Aufgehen der φύσις zu identifizieren. Signifikant ist auch hier die Integration des Begriffes der Verbergung: Das immerdar Aufgehen entzündet sich die ihm wesenhaft eigenen, in ihm als Aufgehen aufgehenden Weiten. Weil nun aber die φύσις gleichwesentlich ist das Sichverbergen (Sichverschließen), ist eben dieses Feuer dasjenige, was die Weiten verschließt und so alles Dimensionale verbirgt, darin etwas als Erscheinendes erstehen und anwesen kann.203

Während die φύσις als Aufgehen in einem wesensgewährenden, inneren Sichverbergen gründet, so äußert sich die Verbergung im Falle des Feuers – wie bei der unscheinbaren Fügung des Kosmos – in der Verschließung seiner selbst als des Durchmessenden, das die Weiten und Maße für das Erscheinende aufreißt. Da diese Selbstzurücknahme des Maß-Gebenden gegenüber dem sich innerhalb des Seienden vordrängenden Gefüge jedoch ebenfalls durch die „Gunst“204 ermöglicht wird, die das Untergehen dem immerdar Aufgehen schenkt, kann Heidegger dem Feuer und der φύσις schließlich die gleiche Weise der abgründigen Lichtung attribuieren.

1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches Um zu Heideggers expliziter Kritik an den Heraklit-Deutungen Nietzsches und Hegels und zu seiner Aufrichtung Heraklits als Antidot gegen den neuzeitlichen, durch den Willen angetriebenen Vergewisserungszwang überzuleiten, bietet sich ein Text-

200 201 202 203

Heidegger, GA 55, S. 170. Ebd., S. 170. Ebd., S. 170. Ebd., S. 170f. Ein Pendant zu dieser Charakteristik des Feuers, das die Weiten verschließt und eröffnet und dadurch das Erscheinende hervorgehen lässt, kann in dem Topos der ‚zögernden Versagung‘ gesehen werden, insofern sich diese als Grund entzieht, um die Anwesenheit des Seienden zu gewähren. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 242, S. 381: „Der Ab-grund als Wegbleiben des Grundes soll doch die Wesung der Wahrheit (der lichtenden Verbergung) sein. Wegbleiben des Grundes, ist das nicht Abwesenheit der Wahrheit? Aber das zögernde Sichversagen ist doch gerade Lichtung für die Verbergung, somit Anwesung der Wahrheit. Gewiß, ‚Anwesung‘, jedoch nicht in der Weise, wie Vorhandenes anwest, sondern Wesung dessen, was erst An- und Abwesenheit von Seiendem begründet, und nicht nur dieses.“ 204 Heidegger, GA 55, S. 171.

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

passus besonders an, in dem Heidegger die auch für Nietzsches Heraklit-Verständnis prägende Semantik des Maßbegriffes angreift: Inwiefern besteht zwischen μέτρον und πῦρ und das heißt zwischen μέτρον und φύσις – ἁρμονία – κόσμος eine Wesensbeziehung? Für das spätere und moderne Vorstellen ist diese Frage keine ernsthafte Frage mehr; denn φύσις ist doch die ‚Natur‘; zu allem Überfluß nennt Heraklit sie ‚Kosmos.‘ ‚Die Natur‘, ‚das Weltall‘, ‚der Kosmos‘ bewegt sich in der Harmonie der Sphären. So ist es die ‚natürlichste‘ Sache dieser ‚Welt‘, d. h. des ‚Feuers‘ und ‚Weltbrandes‘, daß es ‚nach Maß und Gesetz‘ auf- und ablodert. Zur Natur gehören doch die Naturgesetze, die Maße, nach denen die Naturabläufe verlaufen. ‚Natürlich‘ kann man nicht verlangen, daß die Leute im sechsten vorchristlichen Jahrhundert ‚die Natur‘ schon exakt mathematisch mit Hilfe der Infinitesimalrechung konstruieren. Aber sie sprechen doch auch schon, wenngleich sehr ungefähr und unexakt, den Gedanken aus, daß der Kosmos sich ‚nach Maßen‘ bewege und verhalte. Das ist immerhin ein erster Schritt im großen Fortschritt der Naturerkenntnis. Wie merkwürdig müßte sich wohl ein anfänglicher Denker vorkommen, wenn er erfahren könnte, daß ihm von der modernen Naturwissenschaft gönnerhaft so noch eine kleine Ecke im Licht ihrer merkwürdigen Sonne eingeräumt wird?205

Heideggers Polemik gegen die Vorstellung des Weltbrandes ist offensichtlich gegen die ἐκπύρωσις-Lehre der Stoa und subkutan gegen Nietzsches Heraklit-Auslegung gerichtet, insoweit sich diese auf die Einigkeit von Maß, φύσις und Kosmos sowie auf die Harmonie inmitten des Streits stützt. Auch den eigenen Schüler, Karl Löwith, dürfte Heidegger hier im Auge haben. In seinem Werk Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen apostrophiert Löwith das maßdurchzogene Sein der wiederkehrenden Welt, wobei Löwith die Welt206 tatsächlich als φύσις im Sinne der ‚Natur‘ versteht. In Heideggers tendenziell sarkastischer Kritik an dem Überlegenheitsdünkel der Naturwissenschaften vermischt sich die vehemente Intransigenz gegenüber dem naturwissenschaftlich-mathematischen Weltbild mit der Ablehnung eines kosmischen Maßes, das sich im Kreislauf aller Dinge und Geschehnisse äußert. Diese genuin griechische Ansicht, die sich bei den Vorsokratikern, in Platons Timaios207, bei Polybios, in der Stoa208, bei Nietzsche und bei Löwith209 findet, schließt angesichts ihrer philosophischen Tiefe jede Verwechslung mit der von den Naturwissenschaften verfochtenen, sinnlosen Kausalmechanik aus, die stets entlang des Satzes vom Grunde verläuft und deswegen das Wesen der Dinge niemals zu beleuchten vermag. Dass Heidegger beide Auffassungen dennoch zusammenwirft und sie gleichermaßen atta205 206 207 208

Ebd., S. 168f. Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 87. Vgl. Platon, Timaios 38c, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 4, S. 36. Vgl. hierzu das fünfte Kapitel der vorliegenden Arbeit, das sich mit der Philosophie Marc Aurels befasst. 209 Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 192: „Woran kann sich aber die Wahrheit seiner Lehre [gemeint ist Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen, J.K.] bewähren und ausweisen, wenn nicht am ‚Urtext‘ der Natur, in deren Erscheinungen die Wiederkehr des Gleichen immer wieder zum Vorschein kommt? ‚Wir wissen alle nicht, wie tief und hoch die Physis reicht‘ und wie sehr auch der Mensch, in seinen höchsten wie niedrigsten Bedürfnissen und Kräften, ‚ganz Natur‘ ist. Auch sein Erkennen zeigt eine ‚vollkommene Analogie‘ zu dem organischen Prozeß des Auswählens und Abschätzens, des Aneignens, Umbildens und Ausscheidens.“

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

ckiert, indiziert erneut Heideggers Widerwillen, auf die ontologische Differenz – die sich in der Heraklit-Vorlesung von 1943 als Vorrang des reinen Aufgehens gegenüber dem Erscheinenden ausbuchstabiert – sowie auf die Unumgänglichkeit des gleichursprünglichen Sichverbergens für das Aufgehen und auf die seinsmäßige Fundierung des Seienden im Ganzen zu verzichten. (3.) Heideggers Stellung zu Nietzsches Heraklit-Rezeption ist durchaus ambivalent: Während Heidegger in der Vorlesung der Wille zur Macht als Erkenntnis210 (1939) sowie in dem Seminar zur Historienschrift211 Nietzsche zugesteht, den ursprünglichen Begriff der Gerechtigkeit bei Heraklit – freilich eher unbewusst – zurückgewonnen zu haben, wendet er sich in den großen Heraklit-Vorlesungen mehrmals und offensiv gegen Nietzsches Heraklit-Verständnis. Nietzsche selbst sah Heraklit als seinen wichtigsten „Vorfahren“212 noch vor Empedokles, Spinoza und Goethe an. Die Janusköpfigkeit der heideggerschen Einschätzung von Nietzsches HeraklitRezeption entwickelt sich nicht allein in der Linearität eines denkbiographischen Wandels von anfänglicher Affirmation hin zur unmissverständlichen Ablehnung im Jahre 1943. Vielmehr lassen sich bereits 1936/37 beide Optionen im Hinblick auf das Motiv des Werdens antizipieren. Wenn Heidegger zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst anmerkt, Nietzsche gelinge in der Zusammenschau des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr die Vereinigung des von Parmenides bedachten Seins mit dem von Heraklit favorisierten Werden, rezipiert Heidegger Nietzsches scharfe Entgegensetzung des Eleaten und des Ephesiers. Obwohl Heidegger 1936/37 moniert, dass Nietzsche den Anfang der abendländischen Philosophie bereits im Lichte der späteren Philosophiegeschichtsschreibung betrachte, so spricht er Nietzsche nichtsdestotrotz eine „ursprüngliche Erfassung der vorsokratischen Philosophie zu“.213 Die Kluft gegenüber der 1943 getroffenen Aussage, Nietzsche habe die „fürchterlichste Mißdeutung“214 Heraklits vorgebracht, könnte kaum größer ausfallen. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht von 1939 ist von einer „ursprünglichen Erfassung“ der Vorsokratiker nicht mehr die Rede. Stattdessen legt Heidegger die geläufige Unterscheidung von Parmenides und Heraklit nach der Maßgabe der Begriffe Sein und Werden 1939 als den von Nietzsche nicht überschrittenen Erkenntnisstand zugrunde, um Nietzsche auf die Vollendung des Anfangs des Denkens im Modus des Unwesens des Seins zu verpflichten.215 Auch in der Vorlesung Grundbegriffe von 1941 wirft er Nietzsche vor, die triviale und irreführende Missdeutung der heraklitischen Lehre als des ‚πάντα ῥεῖ‘, des be210 Vgl. Heidegger, N I, S. 453–456. 211 Vgl. Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung, GA 46, S. 195f. 212 Heidegger, GA 55, S. 30. Vgl. Nietzsche, NF-1884,25[454]: „Meine Vorfahren H e r a c l i t E m p e d o c l e s S p i n o z a G o e t h e.“ 213 Vgl. Heidegger, N I, S. 16f.: „Nietzsche denkt den Gedanken [der ewigen Wiederkehr, J.K.] so, dass er mit seiner Metaphysik an den Anfang der abendländischen Philosophie zurückkommt – deutlicher gesprochen: an den Anfang, wie ihn die abendländische Philosophie im Verlaufe ihrer Geschichte zu sehen sich gewöhnte, welche Gewöhnung auch Nietzsche mitmacht, trotz seiner sonst ursprünglichen Erfassung der vorsokratischen Philosophie.“ 214 Heidegger, GA 55, S. 5. 215 Vgl. Heidegger, N II, S. 10f.

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

standlosen Werdens, sowie die Beurteilung des parmenideischen Seins als beharrendunveränderliches ens metaphysicum nicht reflektiert und sogar forciert zu haben.216 Folglich sei Nietzsches Erschließungsversuch der Vorsokratiker nicht imstande, die konventionell-doxographischen Vorurteile zu transzendieren. Gleichzeitig habe Nietzsche die Haupttitel von Sein und Werden im Hinblick auf seinen eigenen Willensgedanken mit unanfechtbarer Luzidität gebraucht.217 Was Heidegger durch diese Kontrastierung der internen und externen Verwendung von Sein und Werden intendiert, ist offenkundig: Soll Nietzsches Metaphysik alle Möglichkeiten des metaphysischen Denkens versammeln, müssen in ihr die Begriffe von Sein und Werden in klarer Form aufleuchten und von Nietzsche mit instinktiver Sicherheit im Willen zur Macht und in der ewigen Wiederkehr verortet worden sein. Soll Nietzsche hingegen ein adäquates Verständnis des Anfangs der Philosophie bei den Vorsokratikern abgesprochen werden – dies ist dem anderen Anfang des Denkens vorbehalten – muss Heidegger zugleich behaupten, dass Nietzsche in der Applikation der Abstrakta „Sein“ (Beständigkeit) und „Werden“ (Wechsel und Wandel) auf die Lehren der Vorsokratiker in der metaphysisch-platonischen Sichtbahn verbleibe und daher das bei Heraklit und Parmenides Gedachte (und Ungedachte) verfehle. Wie oben bereits vermerkt, gelangt Heidegger in der Heraklit-Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 schließlich zu dem negativen Gesamturteil, Nietzsche habe zwar eine „lebendige Schilderung der ‚Persönlichkeit‘ des Heraklit gedichtet“218, sei jedoch gleichzeitig für dessen „fürchterlichste Mißdeutung“219 verantwortlich. Indes darf nicht verschwiegen werden, dass Heidegger in seiner Auslegung der Historienschrift (Wintersemester 1938/39) konzediert, Nietzsche habe das anfängliche Gerechtigkeitsverständnis Heraklits220 wiederentdeckt. Die ursprüngliche Δίκη erfährt Heraklit in Heideggers Parallelisierungsversuch beider Denker als Verflech216 Vgl. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1981, S. 105. Klaus Held optiert für die Auffassung, dass die paradigmatisch-einseitige, durch Platon maßgeblich beförderte Systematisierung Heraklits als des ersten ‚Philosophen des Werdens‘ auch durch die magistralen und fruchtbaren Heraklit-Interpretationen Nietzsches und Hegels nicht gebrochen wurde. Demgegenüber sieht Held das hauptsächliche Verdienst Heideggers darin, sich Heraklits Denken nicht durch den dualistischen Spannungszusammenhang von ‚Sein‘ und ‚Werden‘ erschlossen zu haben, um stattdessen die Begriffe des λόγος und der φύσις in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Vgl. Held, Heraklit, S. 110: „Seit Platon hatte man in Heraklit den Philosophen des Werdens gesehehen. In diese Tradition gehören auf den ersten Blick auch noch Hegel und Nietzsche: Hegel, weil er die Negativität des Begriffs konsequent als (dialektische) Bewegung begreift und Heraklit als denjenigen Denker ansieht, der diese Bewegung des Begriffs, wenn auch im Gewande einer naturphilosophischen Verdinglichung, erstmals als solche durchschaut habe. Daher der berühmte Satz: ‚Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen‘; Nietzsche, weil er im Zuge der Umwertung und Umstülpung der unter platonischem Vorzeichen stehenden Metaphysik das Werden über das starre, einer fundamentalen Illusion entspringende Sein stellt und Heraklit als die Vorweg-Widerlegung Platons ansieht. Erst durch Heidegger ist die Philosophie erstmals in die Lage versetzt worden, bei der Heraklit-Interpretation über den Dualismus von Werden und Sein hinauszugelangen.“ 217 Vgl. Heidegger, GA 51, S. 105: „Dagegen haben diese Begriffe Sein und Werden in Nietzsches Metaphysik eine wohlumgrenzte und wesentliche Bedeutung.“ Vgl. Heidegger, GA 55, S. 105. 218 Heidegger, GA 55, S. 5. 219 Ebd., S. 5. 220 Vgl. Heidegger, GA 46, S. 195f.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

tungsgarantin von Sein und Schein (im Sinne des Aufscheinens). Deren permanente Mischung äußert sich im Fragment 28 als Verwehrung der Beständigkeit und als durch den „Berühmtesten“221 vollzogene Akzeptanz des Aufscheinenden.222 Der δοκιμώτατος hat nach Heidegger durchschaut, dass dem jeweils Sichzeigenden zwar kein substantiell-ewiger Gehalt beigemessen werden kann, der situativ gegebene Anblick jedoch nichtsdestotrotz mit dem anwesend-aufgehenden Seienden konvergiert und demzufolge nicht als bloße Täuschung detektiert werden darf.223 Die Gerechtigkeit bestraft denjenigen, der sich der Verflüssigung und Verzeitlichung der Ansichten widersetzt, indem sie dessen ewigkeitsprätendierende Hypostasierung des Aufscheinenden überwindet.224 Es könnte die These vertreten werden, dass die von Heidegger im Aufsatz Der Spruch des Anaximander entfaltete Figur einer Verwindung des Unfuges aufgrund der wechselseitigen Anerkennung des Seienden sowie der vom Sein verliehenen, zeitlich umrissenen Weile des Anwesenden der Haltung des Weisen im Heraklit-Fragment 28 entspricht. Schließlich verzichtet der im Fragment 28 beschriebene ‚Ruhmreichste‘ darauf, die Gegenstände, die menschlichen Überzeugungen und seine eigene Person in dem Beharren auf ein perennierendes ‚Immer weiter‘ gegen den unerbittlichen Gang der Zeit und gegen potenzielle Alteritätsinstanzen abzuriegeln. Wenn Heidegger Nietzsche in der Auslegung der Historienschrift zuspricht, die Aussagekraft des Fragmentes 28 in eigenständiger Gedankenarbeit wiederentdeckt zu haben225; und dieses offenkundig einen ganz ähnlichen Sinn wie der von Heidegger interpretierte Spruch des Anaximander besitzt, drängt es sich förmlich auf, Nietzsche als Vordenker des heideggerschen Gedanken des Fuges anzusehen. Heidegger – so die These – schlägt zwei Wege ein, um dieser Verwechslung mit Nietzsche zu entgehen. Der eine Weg setzt bei Heraklit an, der andere bei Anaximander. Zum einen leitet Heidegger die gegenseitige Infiltration von Sein und Schein bei Nietzsche zumeist aus dem Willen zur Macht her, der die Gerechtigkeit als seine

221 Ebd., S. 196. 222 Vgl. hierzu nochmals den Wortlaut des Fragmentes 28 mitsamt Heideggers Übersetzung (Heidegger, GA 46, S. 196): δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει·καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας: „Denn nur Scheinhaftes ist es, was erkannt (das ihm gerade Sichzeigende, Erscheinende); erkennt auch der Berühmteste (am meisten in Erscheinung und Ansehung Tretende), und er hält dieses fest (nimmt es als das Feste). Doch wahrlich die Gerechtigkeit wird auch die Zimmerer und Zeugen der Verrechnungen (Irrtümer) und (Verfestigungen) zu fassen wissen (von oben her fassen und unter sich bringen, d. h. überwinden).“ 223 Vgl. Heidegger, N I, S. 454: „δοκέοντα ‚das jeweils Sichzeigende‘ ist für Heraklit nicht gleichbedeutend mit der neuzeitlich verstandenen bloß subjektiven Meinung, und zwar aus dem zweifachen Grunde nicht: 1. Weil δοκεῖν heißt: sich zeigen, erscheinen und dies vom Seienden selbst her gesprochen; 2. weil die frühen Denker und die Griechen überhaupt nichts wissen vom Menschen als einem Ich-Subjekt. Gerade der Angesehenste – und das will sagen: der des Ruhmes Würdigste – ist ein solcher, weil er die Kraft hat, von sich abzusehen und einzig nur das zu ersehen, was ‚ist‘. Aber auch dieses und gerade dieses ist Sichzeigendes, der Anblick und das Bild, das sich bietet.“ 224 Vgl. Heidegger, GA 46, S. 192: „Die Gerechtigkeit ursprünglicher als die Wahrheit, weil sie in das Leben – als ständiges Werden über sich hinauswollen – sich einpaßt so zwar, daß sie das jeweilige festgestellte Leben überhöht und verklärt durch neue Zielsetzung.“ 225 Vgl. ebd., S. 195: „Nietzsches Lehre von der Gerechtigkeit und Wahrheit ist in einem Spruch des Heraklit enthalten.“

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

höchste Funktion installiert.226 Dadurch kann er zugleich proponieren, Nietzsche habe in späteren Auskünften und Bezügen zu Heraklit seine eigene Metaphysik in Heraklit hineinprojiziert – obgleich es auf den ersten Blick ebenso plausibel erscheint, Heidegger selbst eine Rückprojektion der eigenen Prozessontologie eines Anwesenlassens des Anwesenden in die Gedankenzüge Heraklits und Anaximanders vorzuwerfen.227 Zum anderen kritisiert er Nietzsches und Diels´ Übersetzung des Spruches des Anaximander sowohl in der Vorlesung Grundbegriffe von 1941 als auch in dem Aufsatz Der Spruch des Anaximander von 1946. Der Hauptkritikpunkt Heideggers lautet, dass die beiden Philologen eine anachronistische Zerfächerung der Gerechtigkeit in einen ethisch-sittlichen Bereich, in kosmische Entstehungsprozesse und in eine metaphysische Grundlegung lancierten beziehungsweise auf einer solchen Ausdifferenzierung aufbauten und diese zurückdeuteten.228 Es soll im weiteren Verlauf dieses Abschnitts geschildert werden, weswegen es nicht ausreichend ist, den alleinigen Motivationsgrund für Heideggers drastische Einschätzung, Nietzsche sei für die „fürchterlichste Mißdeutung“ Heraklits verantwortlich, in dem Sachverhalt der von Nietzsche – je nach Blickwinkel – entweder von Heraklit übernommenen oder auf diesen zurückverlagerten Lehre vom souveränen Werden aufzuspüren. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, müsste Nietzsches Auslegung des Heraklit, der nach Nietzsche auf das ‚Sein‘ verzichtet und die Gerechtigkeit allein im Werden anschaut, auf die neuzeitliche Vergessenheit des Seins indizieren. Nietzsche beruft sich in der Götzen-Dämmerung explizit auf Heraklit, um das Sein als „leere Fiktion“ zu markieren: Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht… Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die ‚scheinbare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen….229

226 Vgl. Heidegger, N I, S. 579; N II, S. 297. 227 Mit überzeugenden und hochreflektierten Argumenten weist Klaus Held den in inflationärer Häufigkeit geäußerten Vorwurf zurück, Heideggers Besinnung auf das heraklitische Denken der Verbergung sei durch eine grundsätzliche ‚Rückprojektion der eigenen Gedanken‘ geprägt. Vgl Held, Heraklit, S. 112: „Hierzu ist zu sagen, daß Heraklit bei ihm [Heidegger, J.K.] keineswegs als ein ProtoHeidegger figuriert. Zwar spricht aus Heraklits Worten nach Heidegger das Ereignis und damit das immer im Kommen bleibende Anfängliche des Denkens. Aber das Ereignis wird von Heraklit selbst gerade nicht als Ereignis bedacht. Das kann erst in der Wieder-holung des Anfangs im Andenken des ‚anderen Anfangs‘ geschehen, und dieser setzt die ‚Verwindung der Metaphysik‘, d. h. aber ihre ganze Geschichte voraus.“ Vgl. auch ebd., S. 112f.: „Indem Heidegger der besagten Vermutung folgt und Heraklits Sprüche als Vor-sprüche des Ereignisses in Anspruch nimmt, weist er ihnen damit eine Sonderstellung in der Geschichte der Philosophie zu; denn wenn Sein als Ereignis dasjenige ist, durch dessen Offenbarkeit als Sein des Seienden und durch dessen damit verschränktes als-Geheimnis-Ansichhalten – die epoché des Seins – sich in diesem Sinne epochal das geschichtliche Schicksal des Denkens bestimmt, und wenn bei Heraklit erstmals etwas von diesem Ansichhalten zur Sprache kommt, dann enthält sein Denken so etwas wie die Vorzeichnung des Ganges der Philosophie überhaupt. Im Spruch über die physis, die zum Sichverbergen neigt, ist – so könnte man freier formulieren – das geheime Gesetz für die Entwicklung des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens vorab zu dieser Entwicklung aufgezeichnet.“ 228 Vgl. Heidegger, GA 51, S. 99. 229 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 75.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Demgegenüber ist es für Heidegger zentral, das Sein bei Heraklit im λόγος, in der φύσις und in der ἀλήθεια zu explorieren. Die Semantik des lichtend-verbergenden Seins ist freilich nicht mit Nietzsches Gebrauch des Begriffes ‚Sein‘ als dauerhaft Beständiges und ewig Wahres gleichzusetzen. Dass Heidegger Nietzsches Heraklit-Auslegung ablehnen musste, kann aus weiteren Motiven abgeleitet werden. So ist ersichtlich, dass das von Nietzsche 1873 in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen verkündete Spiel der sich in dem Streit der Gegensätze restituierenden Gerechtigkeit keine Tiefendimension – weder den Willen zur Macht noch die Verbergung des Seins – benötigt. Wird zugestanden, dass die 1873 entworfene Welt Heraklits auch die des späten Nietzsche ist – wie es beispielsweise Löwith230 unter Bezugnahme auf die kosmisch gewendete Lehre der ewigen Wiederkehr stipuliert – hätte Nietzsche parallel zur Vollendung der (Willens-)Metaphysik im Willen zur Macht diesen im Rückgang auf die ziellose und dennoch nach festen Gesetzen bauenden Δίκη bei Heraklit vielleicht nicht überwunden, aber doch ein werkinternes Gegengewicht aufgerichtet. Das gesamte willensmetaphysische Narrativ Heideggers würde fragil. Es ist nachvollziehbar, weswegen Heidegger gegen die Suffizienz der Δίκη den Gedanken mobilisiert, dass jedes reine Aufgehen einen Abgrund erfordert, der gerade in seinem Sichverbergen das Erscheinende lichtet. Auf dieser Basis kann er nämlich die Intention validieren, Nietzsche ein adäquates, d. h. in die Tiefe dringendes Verständnis Heraklits abzusprechen. Darüber hinaus besitzt das Monitum Heideggers, Nietzsche habe die „fürchterlichste Mißdeutung“ Heraklits geliefert – so die oben bereits vertretene und hier nochmals zu erhärtende These – einen weiter reichenden Grund: Die tatsächliche Veranlassung für die pejorative Kennzeichnung der Heraklit-Deutung Nietzsches ist in Heideggers Elevation Heraklits zum herausragenden und entschiedensten Gegendenker des Willensparadigmas zu verorten, in welches Nietzsche zugleich kohärent eingebettet werden soll. In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 wird die Evokation eines Antagonismus zwischen Hegel und Nietzsche auf der einen Seite und Heraklit auf der anderen Seite durch die häufigen Brückenschläge von heraklitischen Grundworten hin zu deren späterer, verwandelter Ausgestaltung in Nietzsches Werk flankiert. Sinnfällig sind zudem die wiederholten Bezugnahmen auf den seinsgeschichtlichen Standort inmitten des Zweiten Weltkrieges.231 In beiden Heraklit-Vorlesungen überraschen die mannigfachen Einflechtungen der Theoriefiguration des Willens zur Macht, der unter 230 Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 120: „Mit der Erinnerung an die alte Welt hat Nietzsche geistig zu leben geendet, und zu leben begonnen. Die philologischen Arbeiten, besonders zur Philosophie des Heraklit, sowie ihre philosophische Umarbeitung für das geplante Werk über die vorsokratische Philosophie, enthalten bereits alle Grundzüge seiner zehn Jahre später auftauchenden Lehre. Aus diesem Rückgriff auf die vorsokratische Lehre muß auch Nietzsches Kritik an Sokrates verstanden werden; denn sie betrifft nicht nur das sokratische Tugendwissen, sondern darüber hinaus die in Sokrates weltgeschichtlich gewordene Entfremdung des natürlichen Kosmos von der menschlichen Existenz, und der Physik von der Metaphysik.“ 231 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 84: „Weil in der Metaphysik Nietzsches das Sein des Seienden, das doch für alle Metaphysik das Zudenkende geblieben, in einem letzten Rauch verdunstet, deshalb ist Nietzsches Metaphysik das Ende aller Metaphysik überhaupt: denn in diesem Endzustand fällt eine Entscheidung über das Sein, gegen die irgendein Flickwerk bisheriger metaphysischer Grundstel-

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

anderem im Diskussionsrahmen der Bedeutung des Terminus des ‚Lebens‘232 bei Heraklit virulent wird. 1943 akzentuiert Heidegger abermals die geschichtliche Unhintergehbarkeit233 des Willens zur Macht, die sich in der Gesetzmäßigkeit der technischen Moderne ausfalte. (4.) Um die oben proponierte These zu untermauern, dass Heraklit von Seiten Heideggers als Denker der Verbergung des Seins profiliert und gegen die neuzeitliche Gewissheitsmetaphysik der Willenssubjektivität in Stellung gebracht wird, ist zuerst Heideggers unmissverständlicher, zumeist nicht mit sachorientierter Kritik aufgeladener Abgrenzungsgestus gegenüber den Heraklit-Deutungen Hegels und Nietzsches nachzuzeichnen. Dabei sollen einige markante Textbeispiele herangezogen werden, in denen Heidegger Hegel und Nietzsche häufig gemeinsam aufführt – ein Sachverhalt, der hellhörig werden lässt. Darauf aufbauend soll die leitende inhaltliche Wurzel für diese Zurückweisung zutage gefördert werden. Es wird gezeigt, dass Heraklits Denken, dessen Festhalten an einer abgründigen Verbergung Heidegger mit Nachdruck würdigt, nicht nur Widerstand leistet gegen das von Hegel prätendierte, alle Entwicklungsfolgen des Seienden begrifflich einfangende Sichwissen des absoluten Geistes, sondern auch der vermeintlich ubiquitären Beherrschungstendenz des Willens zur Macht opponiert. Indem Heidegger den Gedanken der Verbergung des Seins bei Heraklit wiederentdeckt, wird die Suggestion unabweislich, dass Heidegger als auserkorener Nachfolger Heraklits dessen vorausgreifende Verweigerung gegenüber dem ontotheologischen Begründungsansatz aufgreife und die Resistenz gegen einen unstillbaren Verfügungswillen perpetuiere. Gesetzt, diese Interpretation ist zutreffend, ist es aus Heideggers Sicht nur folgerichtig, die zu Antipoden des heraklitischen Denkens erklärten Philosophen Hegel und Nietzsche auch und gerade in ihrer Funktion als Exegeten Heraklits zu desavouieren. Die hier in zwei verschiedene Punkte unterteilten Erscheinungsweisen der Kritik Heideggers fallen in den Heraklit-Vorlesungen häufig zusammen. Der erste Beleg für Heideggers Distanzierungsintention findet sich bereits im § 1 der Heraklit-Vorlesung von 1943. Dort polemisiert Heidegger energisch gegen Nietzsches vermeintlich dionysische Umklammerung Heraklits, die auf die Überfülle des sich in den tiefsten Widersprüchen und Entzweiungen bejahenden, „unzerstörbaren Lebens“234 abziele. Insofern Heraklit den Streit als das „Wesen des Seins“235 bedenkt und diesen in den Symbolen des Bogens und der Leier gestaltet sieht, ist er nach

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lungen und irgendeine Flucht in irgendein aufgewärmtes Christentum nichts mehr vermag. Welche metaphysische Zähigkeit muß aber in der Seinsvergessenheit ihr Unwesen treiben, wenn selbst, wie es doch den Anschein hat, nicht einmal zwei Weltkriege es vermögen, den geschichtlichen Menschen aus dem bloßen Betreiben des Seienden herauszureißen, in den Schrecken vor der Seinsvergessenheit zu jagen und vor das Sein selbst zu stellen?“ Vgl. ebd., S. 104f. Vgl. ebd., S. 107: „Wir sind in der Vergessenheit des Seins und wir sind dergestalt, daß wir vom Willen zur Macht als der Wirklichkeit des Wirklichen gewollt sind, ob wir es wissen oder nicht, ob wir es grausig finden oder nicht. Wir sind, so wie wir geschichtlich sind, als die im Willen zur Macht Gewollten.“ Vgl. Karl Kerenyi, Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, 1. Aufl., Stuttgart 1998. Heidegger, GA 55, S. 18.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Heidegger der Schützling der Artemis. Als Göttin der Natur (im Sinne der φύσις) erscheint Artemis als Φωσφόρος („Lichtbringerin“236), während sie als arrivierte Jägerin todbringende Pfeile versendet. In Artemis konvergiert folglich die Gegenwendigkeit des Finsteren und des Erstarrten mit dem Leben und dem Wachstum. In seiner Nähe zu Artemis ist Heraklit ihrem Bruder Apollon ebenfalls zugewandt. Heraklit kann nach Heidegger als der apollinische Denker des Fürsten von Delphi237 markiert werden, ohne dass diese Wesenskennzeichnung an den Alteritätspol des Dionysischen gebunden werden muss: Das Denken Heraklits, worin das Zu-denkende durch die Nähe der Artemis ausgezeichnet ist, ist ob dieser schwesterlichen Nähe ‚apollinisch.‘ Wir gebrauchen diese Benennung freilich in einem erst zu klärenden Sinne, der sich von Nietzsches Begriff des Apollinischen nicht weniger unterscheidet wie von den übrigen innerhalb des ‚Humanismus‘ und aller ‚Klassik‘ sonst noch üblichen Begriffen. Die bereits durch Hegel aufgebrachte und von Nietzsche dann vergröberte und in die Sphäre des Sumpfes verschobene ‚dionysische‘ Deutung des heraklitischen Denkens wird zum voraus und nebenbei ausgeschaltet durch den Hinweis, daß Artemis die Göttin dieses Denkers ist.238

Zweitens warnt Heidegger im § 2 davor, Heraklits Fragmente mithilfe der Dialektik zu traktieren, die Gegensätze in einer übergeordneten Einheit aufzuheben und im Anschluss daran die vollendete, gedankliche Durchdringung Heraklits für sich zu rekla-

236 Ebd., S. 16. 237 Vgl. Heraklit, DK 22 B 93, S. 258: ὁ ἄναξ οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει. „Der Fürst, dem das Orakel von Delphi gehört, erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an.“ Sofern nicht anders angegeben, werden die altgriechischen Texte der Fragmente Heraklits und alle Übersetzungen nach der folgenden Ausgabe zitiert: Jaap Mansfeld/Oliver Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, Ditzingen 2012. 238 Heidegger, GA 55, S. 18f. Im Gegenhalt gegen Heideggers Klassifizierung der Heraklit-Auslegung Nietzsches als ‚dionysisch‘ sei hier auf einige (frühe) Nachlassaufzeichnungen Nietzsches verwiesen, in denen Nietzsche das gänzlich apollinische Gepräge der Philosophie Heraklits unterstreicht und dessen antagonistische Stellung zum Dionysischen betont. Vgl. Nietzsche, NF-1872, 23 [8]: „Sokrates und der jetzt nötige Skepticismus. Heraklit: apollinisches Ideal, alles Schein und Spiel. Parmenides: Weg zur Dialektik und wissenschaftliches Organon. Der einzig ruhende ist Heraclit. Thales will zur Wissenschaft, Anaximander wieder von ihr weg.“ Vgl. auch Nietzsche, KSA 7, (7[56]), S. 151: „Pythagoras, wie Heraklit, verwirft die dionysischen Orgien.“ Vgl. ferner Nietzsche, KSA 7, (19[61]), S. 438: „Heraklit in seinem Hasse gegen das Dionysische Element, auch gegen Pythagoras, auch gegen das viele Wissen. Er ist ein apollinisches Produkt und redet Orakel, deren Wesen man sich und ihm deuten muß. Er empfindet das Leiden nicht, aber die Dummheit.“ Unter Bezugnahme auf Nietzsches Basler Vorlesungen zur vorplatonischen Philosophie bilanziert Wohlfart, dass Nietzsche in seiner Deutung des Heraklit nicht die Intention verfolge, dessen Philosophie mit dem Wesen des Dionysischen zu fusionieren. Gegen die Vermutung, dass Nietzsche in seiner Auslegung des Heraklit-Fragmentes 52 an den Dionysos-Zagreus-Mythos gedacht haben könnte, sprechen nach Wohlfart „Nietzsches Bemerkungen zu B 15 in den Basler Vorlesungen, wonach Heraklit in der dionysischen Erregung nur eine Entladung unzüchtiger Triebe durch rasende Feierlust gesehen und ‚den dionysischen, noch ziemlich neuen Kult, der damals in höchster Kraft gewesen sein muß, ganz feindselig und missverständlich‘ betrachtet habe. Bei der Erörterung von B 52 kommt Nietzsche weder in den Basler Vorlesungen noch in der Philosophenschrift expressis verbis auf Dionysos zu sprechen.“ Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 117.

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

mieren. Das Überhandnehmen der dialektischen Erklärungsversuche Heraklits ist nach Heidegger dem Einfluss Hegels geschuldet, der bekannte: „Es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen.“239

Der gegenläufige Versuch, Heraklits Denken ohne den Rückgriff auf die Dialektik wahrhaft zu verstehen, droht durch ein weiteres Hindernis angefochten zu werden: Nietzsches Heraklitauslegung habe einen ehrfürchtigen „Dunstkreis“240 um die Person Heraklits geschaffen. Der fragwürdige Nimbus der Glorifizierung und des Personenkultes sei in der Folge zum Surrogat der philosophischen Auseinandersetzung avanciert. Die ernsthafte Besinnung habe der Dialektik weichen müssen, die als „das lärmende Geklapper der leeren Entgegensetzung gegenwendiger Wörter“241 – wie Heidegger in bemerkenswerter Nähe zu Schellings Hegel-Kritik242 formuliert – als federführende Methode der Heraklit-Forschung reüssiert: Mit Hilfe des dialektischen Hin- und- Herschiebens der Wörter Heraklits kann ein Geschickter leicht so tun, als sei er selbst ein Heraklit, wenn nicht gar ein noch ‚Größerer‘, da er ja angeblich den Heraklit versteht und ihn also unter sich hat. Diese Bemerkung hilft uns zwar wenig zum Verständnis des Heraklit. Doch müssen wir darauf merken, daß sich seit Hegel und vor allem seit Nietzsche ein Dunstkreis um die Gestalt und das Denken und das Wort des Heraklit gebildet hat, dem sich Unerfahrene und Allzugeschickte gleichschwer entziehen können. Dieser Dunstkreis entspringt einer vorschnellen Anwendung des dialektischen Denkens, das in sich eine eigentümliche Gefahr birgt, der selbst erfahrene Denker kaum ganz entgehen.243

Hegels und Nietzsches Berufung auf Heraklit als ihres geistigen Vorfahrens beruht nach Heidegger auf einer „geschichtlichen Verblendung, die in ihre äußersten Folgen noch nicht auseinandergegangen ist, deren noch waltender Grund aber wiederum auch fast bis an den Anfang des abendländischen Denkens zurückreicht“.244 Ein dritter signifikanter Nachweis für die kaum zu übersehende Distinktionsabsicht Heideggers gegenüber der Heraklit-Aneignung Nietzsches ist im § 3 unter 2) Das ‚Untergehen‘ – griechisch gedacht – und die Frage nach seinem Wortwesen situ239 Heidegger, GA 55, S. 30. Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke Bd. 18, S. 320. 240 Heidegger, GA 55, S. 34. 241 Ebd., S. 34. 242 Vgl. hierzu die plakative Kritik an der allein im Bereich der virtuellen Möglichkeiten operierenden, dialektischen ‚Vernunftwissenschaft‘, die Schelling im Rahmen seiner Ausarbeitung des apriorischen Empirismus der positiven Philosophie vorträgt: Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, S. 129: „Die Begriffe sind doch erst nach der Natur, nicht vor ihr; Abstrakta können nicht eher sein, als das ist, wovon sie abstrahiert sind. Wenn Hegel die Philosophie damit anfangen will, daß man sich ins reine Denken begibt, hat er das Wesen der rationalen Philosophie trefflich ausgedrückt. Dieses Sich-Zurückziehen ins reine Denken ist aber bei Hegel nur mit Beziehung auf die Logik gemeint; es sind nicht die Sachen, wie sie a priori im Denken sind, sondern die Begriffe selbst als solche, als subjektive, gemeint. Aber mit bloßen Begriffen ist kein wirkliches Denken. Wo nun das wirkliche Denken anheben sollte (am Ende der Logik) da hat das Denken ganz ein Ende; denn der Begriff verliert ja, wie Hegel sagt, seine Gewalt. [...] Wirkliches Denken ist aber nur, wobei etwas herauskommt.“ 243 Heidegger, GA 55, S. 34. 244 Ebd., S. 41.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

iert.245 Heidegger kommt hier vermittels der kopernikanischen ‚Widerlegung‘ der Wahrheit des sinnlich vernehmbaren Sonnenunterganges auf Nietzsches bekannte Aufzeichnung zu Kopernikus zu sprechen.246 In dieser Nachlassnotiz wird Kopernikus als Wendepunkt verstanden, der die theologisch gestützte Zentralstellung des Menschen unterminiert. Kopernikus enthüllt sich für Nietzsche als Initiator des naturwissenschaftlichen Nihilismus, der den Menschen zu einer flüchtigen, in endlose Kausalvorgänge eingespannten Erscheinung inmitten eines unermesslichen Alls herabstuft.247 Nietzsche versucht die Dezentrierung des Menschen nach Heidegger zu revidieren, indem er den von Kopernikus entfachten Nihilismus in das Unbedingte steigert. Alle Ideale und Wahrheiten werden auf die Produktivität des Menschen zurückgeführt. Dies betrifft auch sich gegenseitig ausschließende Ansichten: Sowohl die den Menschen erhöhende Doktrin der Existenz Gottes, die den Primat der diesem ebenbildlich nachempfundenen Geschöpfe im Kosmos legitimiert, als auch der den Menschen depotenzierende Gedanke einer Kausalmechanik, die einen solchen Gott überflüssig macht, werden in ihrer Aseität hinterfragt und in die Hände des Menschen zurückgegeben, sodass der Mensch „alles“ wird: Nietzsche will dagegen den unbedingten Nihilismus, der nicht etwa lehrt, daß alles nur ein ‚Nichts‘, sondern daß der Mensch alles sei. Nietzsche selbst bezeichnet seine Metaphysik als den ‚aktiven‘ und ‚klassischen‘ ‚Nihilismus‘. In ihm sieht er die eigentliche und d. h. positive Folge der kopernikanischen Wendung und die Zukunft Europas. Hier ist nichts mehr, wovor der Mensch noch verborgen oder nicht verborgen sein könnte, da der Mensch selbst zum Gerichtsherr darüber geworden ist, was erscheint und als erscheinendes ‚ist‘ und was nicht. Es ist daher zu wenig gesagt, wenn wir darauf hinweisen, daß ein Abgrund zwischen der Vollendung der abendländischen Metaphysik durch Nietzsche und dem in den Anfang gestellten Spruch des Heraklit klafft. Aber wir können hieraus schon

245 Vgl. ebd., S. 64–72. 246 Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[127], hier zit. nach Heidegger, GA 55, S. 66: „Die nihilistischen Consequenzen der jetzigen Naturwissenschaft (nebst ihren Versuchen in`s Jenseitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betriebe folgt endlich eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Antiwissenschaftlichkeit. Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum in`s X.“ 247 Vgl. auch Nietzsches Stellungnahme zu den ideengeschichtlichen Folgewirkungen der kopernikanischen Wende: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Dritte Abhandlung, § 25, KSA 5, S. 404: „Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist Thier geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‚Kind Gottes‘, ‚Gottmensch‘) war… Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? in´s Nichts? in´s ‚durchbohrende Gefühl seines Nichts‘?... Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg – in´s alte Ideal?... Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, ‚sie vernichtet meine Wichtigkeit‘..), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche – so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik –, ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht, in der Tat: denn der Verachtende ist immer noch einer, der ‚das Achten nicht verlernt hat‘...).“

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

ungefähr ahnen, welche Heraklitauslegung zutage kommen muß, wenn Nietzsche seine Metaphysik bereits in Heraklits Denken vorgebildet sieht.248

Der Mensch ist zum Maß aller Dinge geworden, „der seienden, daß sie sind, und der nicht seienden, daß sie nicht sind“.249 Heidegger lässt den Dissens zwischen Heraklit und Nietzsche deutlich hervortreten, wenn er akzentuiert, dass die konsequente Subjektivität und der Anthropozentrismus des unbedingten Nihilismus keine Verborgenheit mehr zulassen. Dergestalt seien sie unvereinbar mit dem Proprium der Philosophie Heraklits. Heideggers Kritik am unbedingten Nihilismus, der über die Heraufkunft der Dinge richtet, könnte sich auch dann noch auf Heraklit als prämetaphysischen Urkritiker der Willensfokussierung berufen, wenn statt der Verbergung der φύσις das Motiv der jedweder menschlichen Machtkontrolle entzogenen, kosmischen Gerechtigkeit präferiert würde. Problematisch ist allerdings Heideggers Disqualifizierung der HeraklitAuslegung Nietzsches, insofern er seine ablehnende Beurteilung an die vermeintlich von Nietzsche vorgenommene, rückdeutende Antizipierbarkeit der eigenen Willensmetaphysik in Heraklits Philosophie knüpft. Derart undifferenziert vorgetragen, weist Heideggers Argument mehrere Schwächen auf. Die am Anfang der denkerischen Laufbahn angesiedelte, unter den Leitgedanken der Δίκη und des Spiels stehende Interpretation des ephesischen Denkers von 1873 verweigert sich – wie im dritten Teil dieser Arbeit demonstriert wird – jeder Eintragung eines Willens zur Macht, der in ihr „vorgebildet“ sein könnte. Nietzsches Heraklit-Deutung von 1873 schließt die Existenz eines Willens zur Macht im Sinne eines metaphysischen Wesenswillens aus. Selbst wenn Nietzsche später auf seine Ausführungen zu Heraklit zurückgeblickt und dabei den Ariadnefaden der sein Werk durchziehenden Gedanken im Theorem des Willens zur Macht gebündelt hätte, wäre immer noch zwischen dem autarken Eigengehalt des Textes von 1873 auf der einen Seite und der von Nietzsche nachträglich projizierten und unter dem Banner eines später entwickelten Gedankens konstatierten Kontinuität auf der anderen Seite zu unterscheiden. Indes hat Günter Wohlfart in seinem Nachwort zu Nietzsches nachgelassenen Fragmenten und in seinem Werk Also sprach Herakleitos überzeugend dargelegt, dass frappierende Überschneidungen zwischen Nietzsches (maßgeblich durch das Fragment 52 inspirierter) Schilderung des bauend-zerstörenden Weltkindes und den späteren Umrandungen der Performativität des Willens zur Macht existieren.250 Wohlfarts These, die mit zahlreichen Belegen einwandfrei untermauert wird, soll hier nicht bestritten werden. Zur Klärung ist darauf hinzuweisen, dass der von Wohlfart erläuterte,

248 Heidegger, GA 55, S. 67f. 249 Vgl. Platon, Theaitetos 152a, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 3, übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Ursula Wolf, 37. Aufl., Hamburg 2013, S. 165. Vgl. hierzu Heideggers Deutung des protagoreischen homo-mensura-Satzes: Heidegger, N II, S. 118–124. 250 Vgl. Günter Wohlfart, Nachwort, in: Friedrich Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, hrsg. von Günter Wohlfart, Ditzingen 1996, S. 295–314.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

sich als zielloses Weltspiel der ewigen Wiederkunft251 äußernde Wille zur Macht nicht dem von Heidegger in den Fokus gerückten Willen der Subjektivität entspricht, der die unangefochtene Position des Menschen und die Unumgänglichkeit der Wertsetzung in der Moderne forcieren soll. Nichtsdestotrotz ließe sich wiederum zugunsten Heideggers beisteuern, dass das im Schlussaphorismus der Kompilation Der Wille zur Macht entworfene Panorama einer heraklitischen Welt flutender und ineinander übergehender Kräfte252 in der suggestiv-pathetischen Wortwahl dem Duktus des Heraklit-Abschnittes des Werkes Die Philosophie im tragischen Zeitalter teilweise bis in die Filiationen hinein ähnelt. Es könnte ergänzt werden, dass Nietzsche die Enantiodromie mitsamt den anbrandenden und zurückfließenden Szenen des Weltgeschehens in den letzten Zeilen des Aphorismus auf den Willen zur Macht gründet.253 Weil Nietzsche den Aphorismus in der ersten Fassung mit einem emphatischen und feierlichen Ausblick auf die Lehre der ewigen Wiederkehr beschließt, erscheint es schon aus philologischer Perspektive fragwürdig, die Aussagerichtung der zweiten Fassung zu verabsolutieren. Unbestreitbar ist, dass Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkehr tatsächlich bei Heraklit präfiguriert sieht.254 Hingegen kann bezüglich des wertsetzenden und sich zur Steigerung aufrufenden Willens zur Macht, der im obigen Zi251 Vgl. die Belegstelle: Wohlfart, Nachwort, S. 313f.: „Zusammenfassend kann man festhalten: Der Aion ist als ‚großes Jahr‘ der Welt-Zeit eine göttliche Personifikation der ewigen Wiederkunft. Der Name des Welt-Spiels, das der Aion als Welt-Kind spielt ist: der Wille zur Macht. Der Aion, in dessen ziellosem Spiel ein Wille ohne Willen waltet, ist eine göttliche Personifikation des Willens zur Macht. Wille zur Macht und ewige Wiederkunft sind die zwei Gesichter des Aion.“ 252 Vgl. nochmals Nietzsche, NF-1885,38[12]: „Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen, vom ‚Nichts‘ umschlossen als von seiner Gränze, nichts Verschwimmendes, Verschwendetes, nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ‚leer‘ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ‚Vieles‘, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestaltungen, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt –: diese meine d i o n y s i s c h e Welt des Ewig-sichselber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, – wollt ihr einen N a m e n für diese Welt? Eine L ö s u n g für alle ihre Räthsel? ein L i c h t auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – D i e s e W e l t i s t d e r W i l l e z u r M a c h t – u n d n i c h t s a u ß e r d e m! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!“ 253 Vgl. Nietzsche, NF-1885, 38 [12]. Vgl. hierzu auch Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 95f. 254 Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 313: „Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

tat aus Heideggers Heraklit-Vorlesung offenkundig „Nietzsches Metaphysik“ im Ganzen repräsentieren soll, resümiert werden, dass Nietzsche dieses Theorem nicht mit Heraklits Denken in Einklang zu bringen sucht. Obzwar Heidegger Nietzsche vorwirft, Heraklits anfängliches Denken als Präfiguration der Vollendungsmetaphysik des Willens zur Macht instrumentalisiert zu haben, schlägt er selbst auch den umgekehrten Weg ein. So stipuliert Heidegger, dass sich der ursprüngliche Gehalt der von Heraklit bedachten φύσις in rudimentärer Form noch im Willen zur Macht registrieren lasse, weswegen die anfängliche Seinsgestalt die gesamte Seinsgeschichte übergreife: Wir fragen, was das alles ist, was da mit uns geschieht. Wir fragen, was das ist, daß das Sein in der Gestalt des Willens und zuletzt in der Gestalt des Willens zur Macht das Seiende im Ganzen bestimmt. Wir fragen nach dem Sein. Wenn dieses aber selbst in seiner verhülltesten Gestalt und seinem verwesenden Unwesen noch (als die ‚Helle‘ der unbedingten Selbstgewißheit des Willens zur Macht) überall im Grunde aus dem Wesen der φύσις und ihres Grundes, der ἀλήθεια ist, dann fragen wir im Fragen nach dem Sein auch schon nach dem Anfang und in ihn voraus (nicht rückwärts); wir sind in dieser Frage dahin verwiesen, das Wort der anfänglichen Denker zu hören und ihre Grundworte zu bedenken.255

Nachdem Heideggers Gravamina gegen eine dionysische Deutung Heraklits, gegen die Vorrangstellung der Dialektik als epistemischer Schlüssel zu den Fragmenten sowie gegen die Vereinnahmung Heraklits durch die Annäherung an Nietzsches Metaphysik skizziert wurden, ist nun zu verfolgen, wie Heraklit von Seiten Heideggers gegen die willensmetaphysisch fundierte Negation jedweder Unzugänglichkeit des Seins mobilisiert wird. Heidegger nimmt seinen Ausgang von Heraklits Beinamen „der Dunkle“256 (ὁ Σκοτεινός). Cicero interpretierte den Beinamen Heraklits als sprechende Bestätigung seiner Auffassung, Heraklit habe absichtlich intrikat, geheimnisvoll und unverständlich geschrieben.257 In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie258 attackiert Hegel diese Ansicht Ciceros: Cicero habe das eigene hermeneutische Defizit durch den gegen Heraklit gerichteten Vorwurf eines raunenden Manierismus kaschiert. Allerdings mahnt auch Hegel die Dunkelheit Heraklits im Rückgriff auf stilistische Merkmale an. Die Opazität Heraklits entspringe aus einer „vernachlässigten Wortfügung“259 und der „unausgebildeten Sprache“.260 Gleichwohl ist der Sachverhalt der heraklitischen Dunkelheit für Hegel relativierend einzugrenzen. Die Philosophie Heraklits müsse dem Verstand notwendigerweise dunkel erscheinen, weil „ein tiefer,

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grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon.“ Zum Nexus zwischen dem Denken Heraklits, der Stoa und der Wiederkunftslehre vgl. das fünfte Kapitel der vorliegenden Arbeit. Eine mögliche Vorahnung des Gedankens der ewigen Wiederkehr könnte sich tatsächlich in Heraklits Fragment B 103 aussprechen. Vgl. Heraklit, DK 22 B 103, S. 267: ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας. „Auf der Peripherie des Kreises fallen Anfang und Ende zusammen.“ Heidegger, GA 55, S. 108. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Cicero, De natura deorum I, 74. Vgl. Heidegger, GA 55, S. 20. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 21.

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

spekulativer Gedanke in ihr ausgedrückt ist“.261 Erst das spekulative Denken des Begriffs könne das Dunkle und Unbekannte in die Selbstunterscheidungsmacht des absoluten Wissens aufheben. Nach Heidegger weist das Epitheton des ‚Dunklen‘ hingegen darauf hin, dass Heraklit das „wesenhafte Sichverbergen des Zu-denkenden (Sein)“262 denkt, indem er das Dunkle „hütet“263, anstatt es – wie Hegel – als Anstoß und als aufzulösende Grenze zu erfahren. Genau an diesem Punkt setzt Heidegger an, um Heraklit als Wahrer der lichtenden Verbergung gegenüber dem Zugriff des denkerischen Entdeckungswillens zu etablieren. Um diesen Konflikt zu veranschaulichen, zitiert Heidegger die letzten Worte aus der Heidelberger Antrittsvorlesung (28. Oktober 1816) Hegels. Darin unterwirft Hegel die Verborgenheit der Welt unter die Courage eines fortschreitenden Denkens, das den unbedingten Imperativ der Herausschälung und Sichtbarwerdung an das anfänglich noch in sich ruhende Universum adressiert. Hegel postuliert: Das zuerst verborgene und verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft, die dem Muthe des Erkennens Widerstand leisten könnte; es (das Wesen des Universums) muß sich vor ihm (dem Denker der Philosophie) auftun, und seinem Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse geben.264

Hegel versteht das Denken der Vorsokratiker als unentfaltete Vorform.265 Ihnen muss das Wesen des Universums nach Hegel verschlossen bleiben, weil sie noch nicht auf der Höhe des absoluten, mit der Wirklichkeit geeinten Wissens angelangt sind. Indem Hegel seine Auffassung, dass sich das All des Seienden in eine systematisch darstellbare, durchgängige Bestimmtheit bringen lasse, als Bewertungskriterium an Heraklit 261 Heidegger, GA 55, S. 28. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, S. 323. 262 Heidegger, GA 55, S. 28. 263 Vgl. ebd., S. 32. Als wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen dem ersten und dem anderen Anfang markiert Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie die fragende Besinnung auf die sich innerhalb des Seienden entziehende ‚Wahrheit des Seyns‘. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 91, S. 179: „Der erste Anfang erfährt und setzt die Wahrheit des Seienden, ohne nach der Wahrheit als solcher zu fragen, weil das in ihr Unverborgene, das Seiende als Seiendes, notwendig alles übermächtigt, weil es auch das Nichts verschlingt und als ‚Nicht‘ und Gegen in sich einbezieht und ganz vernichtet. Der andere Anfang erfährt die Wahrheit des Seyns und fragt nach dem Seyn der Wahrheit, um so erst die Wesung des Seyns zu gründen und das Seiende als das Wahre jener ursprünglichen Wahrheit entspringen zu lassen.“ 264 Hegel, hier zit. nach Heidegger, GA 55, S. 29f. Neben Hegels und Nietzsches Verehrung für Heraklit ist es Hölderlin, der im Hyperion und in philosophischen Texten wie Das Werden im Vergehen heraklitische Gedanken aufnahm und die Wiederentdeckung Heraklits initiierte. Zu bedenken ist, dass Heraklit nach Hölderlin zwar das „Wesen der Schönheit“ fand. Heraklit ist für Hölderlin jedoch nicht nur derjenige, der die Philosophie auf den Weg brachte; sie tritt vielmehr bereits bei Heraklit in ihre Reife ein. Hölderlin sieht daher auch das gefährliche Vervielfältigungs- und Auflösungspotenzial, das aus der von Heraklit thematisierten Selbstunterscheidung des Einen erwächst. Dies kommt in der berühmten Textstelle aus dem Hyperion zum Ausdruck, die Heidegger in seiner ersten Heraklit-Vorlesung zitiert: „Das große Wort, das εν διαφερον εαυτω (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine Philosophie. Nun konnte man bestimmen, das ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern.“ (Hölderlin, Hyperion, hier zitiert nach: Heidegger, GA 55, S. 31.) 265 Zum geschichtlichen Wandel des λόγος von Heraklit zu Hegel vgl. Heidegger, GA 55, S. 354f.

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1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

heranträgt, zementiert er nach Heidegger die unreflektiert insinuierte, philosophische Vorrangsthese der Neuzeit gegenüber den auf einer vermeintlich primitiven Begriffsstufe situierten Vorsokratikern. Durch seinen begriffsphilosophischen Überlegenheitsanspruch besiegelt Hegel den metaphysischen Rückfall hinter das Unbedachte des Anfangs. Hegel schließt sich nach Heidegger selbst von einem adäquaten Verständnis des Topos der Dunkelheit und der vorsokratischen Philosophie aus, weil er das Hervortreten jedes Seienden im Lichte des Begriffs als unweigerlich und normativ geboten beurteilt, wenn nur das richtige Erkenntnisprinzip gewählt und der Schein der Unvermittelbarkeit durch die Dialektik zunichte gemacht wird. Nach Heidegger ist es jedoch Heraklit, der sich auf die abgründige Dunkelheit viel eher einzulassen vermag als Hegel. Heraklit gewährt dem willenlosen Aufgehen seine Verbergung, während Hegel das Verborgene nur als einen prinzipiell im Begriff aufzuhebenden und in das System zu integrierenden Vermittlungsgehalt akzeptieren kann: Denn gerade die genannte Voraussetzung der Hegelschen Metaphysik, daß das Universum dem Mut des Erkennens nicht widerstehen könne und sich dem Willen zur unbedingt sicheren Erkenntnis, d. h. dem Willen zur absoluten Gewißheit, öffnen müsse, gerade diese Grunderfahrung des Hegelschen Denkens ist ganz und gar ungriechisch. Das Universum, griechisch gesagt ὁ κόσμος, ist im Wesen seines Seins vielmehr das Sichverbergende und deshalb das wesenhaft ‚Dunkle.‘ Der Bezug des anfänglichen Denkens zu dem, was ihm das Zu-denkende ist, wird von diesem her anfänglich bestimmt. Wenn das Denken aber das Sichverbergende denken, dieses also wesen lassen muß als das, was es ist, dann kann die Erkenntnis dieses wesentlichen Denkens niemals ein ‚Wille‘ sein, der das Universum zwingt, seine Verschlossenheit preiszugeben. Weil das Zu-denkende im Wesen das Sichverbergen ist und somit das in solchem Sinne ‚Dunkle‘, deshalb und nur deshalb ist das wesentliche Denken, das dem so erfahrenen ‚Dunklen‘ gemäß bleibt, selbst notwendig dunkel.266 266 Heidegger, GA 55, S. 31f. Dass Heideggers demonstrative Abgrenzung gegenüber Hegels HeraklitRezeption durchaus einen in der philosophischen ‚Streitsache‘ wurzelnden Begründungsgehalt besitzt, prononciert auch Klaus Held. Dabei hebt Held hervor, dass Heraklit in Hegels progressiv verlaufender Geschichte der Philosophie als ahnender Stifter der dialektischen Denkform gewürdigt wird, ohne dass Heraklit die Selbstbewegung der Negativität schon in der (bei Hegel erreichten) Vervollkommnungsstufe der Selbstvermittlung des absoluten Geistes durchschaut habe. Demgegenüber dient nach Held die Wiederentdeckung des verschütteten, vorsokratischen Anfanges der abendländischen Philosophie in den interpretativen Erkenntnisbemühungen Heideggers und Nietzsches dazu, einen Problematisierungsstandpunkt zu gewinnen, von dem aus die als Niedergangsentwicklung bestimmte Ideengeschichte einer maßstabsorientierten Kritik unterzogen werden kann. Vgl. Held, Heraklit, S. 114f.: „Obwohl das Interesse an Heraklit bei seinen maßgebenden neueren philosophischen Interpreten, Hegel, Nietzsche und Heidegger, also offenkundig in seiner Struktur verwandt ist, so ist doch zwischen Hegels Interessenahme einerseits und der Nietzsches und Heideggers andererseits ein bedeutsamer Unterschied zu vermerken. Bei Hegel erscheint Heraklit als der früheste Vorläufer der gegenwärtig erreichten, abschließenden höchsten Vollendung des Denkens, bei den beiden anderen hingegen als der früheste Vorbote seiner tiefsten Krise; die Vollendung beruht auf dem vollständigen Erscheinen des von Heraklit ahnungsweise Angedeuteten, die Krise auf seiner vollständigen Vergessenheit im gegenwärtigen Zeitalter. […] Nietzsche und Heidegger sind von vornherein auf der Suche nach dem Anderen gegenüber der gesamten philosophischen Tradition, die ihnen im gegenwärtigen Zeitalter als ganze fragwürdig geworden ist. Im Zuge dieser Sache gehen sie auf ein – allerdings je verschieden gefaßtes – Prius der überlieferten Philosophie zurück, um von daher einen Horizont zu gewinnen, indem sie in ihrer Gesamtheit proble-

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1. Heideggers Würdigung Heraklits als Antagonist der Willensmetaphysik

Die entscheidende Pointe liegt darin, dass Hegel die Voraussetzung der Ergründbarkeit und Vermittelbarkeit des Alls nicht als Zwang zu empfinden und zu reflektieren vermag, den sein Denken – angetrieben von einem auf Kontrolle und Gewissheit abzielenden Willen – gegenüber den Dingen ausübt. Hegel observiert das Ganze des Seienden – nach Heidegger für ihn selbst unbewusst – im Lichtkegel des Willensparadigmas, das nicht nur das wissen-wollende Erkenntnisprinzip kontaminiert. Weil Hegel vielmehr unterstellt, dass die Dinge selbst erscheinen und verstanden werden wollen, wachsen sie gewissermaßen automatisch in den Nexus aszendierender Denkbestimmungen hinein. Jedes potenzielle Verdachtsmoment gegenüber den latenten, volitionalen Antrieben, die den Akt des Hervorbringens des Dunklen in die Omnipräsenz der Vernunft durchherrschen, wird konterkariert. Denken und Gedachtes werden identisch, doch so, dass dabei der Wille – als subjektbezogenes Wissenwollen und als gegenständliches Erscheinenwollen – beide Sphären unter seiner nicht durchschauten und in diesem Sinne dem Denken entzogenen und verborgenen Ägide verknüpft: Hegel setzt, und zwar mit der gesamten Metaphysik der Neuzeit, voraus, daß das, was die Philosophie denkt, dem Willen der denkenden Aufschließung nicht nur nicht widerstehen kann, sondern vor allem seinem Wesen nach nicht widerstehen will. Das Ganze des Seienden ist vielmehr durch den Willen bestimmt, sich zu äußern, d. h. herauszutreten in das Erscheinen. Die höchste Weise dieses Erscheinens vollzieht sich im Denken der Metaphysik und für dieses, sofern die Metaphysik das erscheinende Wesen des Absoluten in seinem Erscheinen durchspricht. Durchsprechen heißt griechisch διαλέγεσθαι. Die Sprache der Dialektik ist dasjenige Wort – λόγος, worin das Erscheinen – φαίνεσθαι, sich vollzieht. Das Erscheinen des Absoluten, dessen Absolutheit darin besteht, erscheinen zu wollen, im Wort der Dialektik ist, in einen einzigen Namen gefaßt, die ‚Phänomenologie‘ in dem Sinne, wie Hegel diesen Namen denkt.267

Bemerkenswerterweise steht Schelling trotz seiner Theoreme des prädikationslosen Ungrundes268 sowie der niemals in den Verstand aufzulösenden Basis269 für Heidegger nur scheinbar in einem „scharfen Gegensatz“270 zu Hegels Metaphysik.

267 268

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matisiert werden kann. Dieses Prius, das tragische Bewußtsein bei Nietzsche, der ‚Grund der Metaphysik‘ bei Heidegger, ist gleichermaßen sachlich-systematischer wie geschichtlicher Natur; dieser Unterschied selbst entfällt hier.“ Heidegger, GA 55, S. 40. Vgl. zur absoluten Indifferenz des Ungrundes: Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 407: „Es muß vor allem Grund und vor allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen sein; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar, noch auf irgend eine Weise vorhanden sein. Es kann daher nicht als die Identität; es kann nur als die absolute Indifferenz beider betrachtet werden.“ Zur Thematik der „unergreifliche[n] Basis der Realität“ vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 360: „Nach der ewigen Tat der Selbstoffenbarung ist nämlich in der Welt, wie wir sie jetzt erblicken, alles Regel, Ordnung und Form; aber immer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne Verstand geboren. Ohne dies vorausgehende Dunkel gibt es keine Realität der Kreatur; Finsternis ist ihr notwendiges Erbteil.“ Heidegger, GA 55, S. 41.

1.5. Heideggers Kritik an den Heraklit-Interpretationen Hegels und Nietzsches

Ebenso wie „Hegel denkt [Schelling, J.K.] das Absolute als das, was sich offenbaren will, dergestalt, daß dieser Wille nichts anderes ist als das Sein des Absoluten“.271 Indem sowohl Hegel als auch Schelling unter die neuzeitliche Willensmetaphysik subsummiert werden – da sie das Sein des Absoluten nach Heidegger als Wille zum Erscheinen verstehen – wird auch Schellings Akzentuierung nicht willensaffiner Denkfiguren obsolet. Die Quintessenz seiner Ausführungen bilanziert Heidegger prägnant in dem folgenden Zitat, das zugleich als Abschluss dieses Kapitels dienen kann: Abgründig verschieden von all dem ist aber, was den anfänglichen Denkern als das Zudenkende aufgeht. Es ist weder ein Wille zum Erscheinen, noch ist es überhaupt ein ‚Wille‘.272

271 Ebd., S. 41. 272 Ebd., S. 41.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946) 2.1. Heideggers Reflexionen zur Übersetzbarkeit des Spruches Eine Marginalisierung des Topos der δίκη lässt sich nicht nur in Heideggers Auseinandersetzung mit Heraklit feststellen. Die Tendenz zeigt sich – so die hauptsächliche These der folgenden Überlegungen – auch in Heideggers Deutung des ältesten Spruches der abendländischen Philosophie, die er in dem Aufsatz Der Spruch des Anaximander aus dem Jahre 1946 vorträgt.273 Dieser Aufsatz wurde in den Band Holzwege aufgenommen. Der von dem Neuplatoniker Simplikios in einem Kommentar zur aristotelischen Physik überlieferte Satz des Anaximander lautet: 273 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 321–373. Insgesamt lassen sich fünf wesentliche, textuell gestützte Stadien in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander unterscheiden. Zuvorderst rekurriert Heidegger 1926 im ersten Kapitel seiner Marburger Vorlesung Die Grundbegriffe der antiken Philosophie kurz auf Anaximanders Denkansatz (vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, § 16, S. 53–54). Das zweite bedeutende Zeugnis für Heideggers Zwiegespräch mit Anaximander findet sich in den §§ 1–6 des ersten Teils der thematischen Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides aus dem Sommersemester 1932 (vgl. Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides. Freiburger Vorlesung Sommersemester 1932, GA 35, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 2012, S. 1–32). Heideggers Anaximander-Interpretation des Jahres 1932 wird im ersten Exkurs dieser Arbeit ausführlich besprochen und mit den im Aufsatz Der Spruch des Anaximander entfalteten Hauptaussagen und Interpretationslinien kontextualisiert. Die dritte Bezugnahme manifestiert sich in den §§ 20–25 des zweiten Teils der Grundbegriffe-Vorlesung, die Heidegger im Sommersemester 1941 in Freiburg hielt (vgl. Heidegger, Grundbegriffe, GA 51, S. 94–123). Auch diese Phase der Anaximander-Exegese Heideggers wird in der vorliegenden Arbeit dokumentiert und im zweiten Exkurs kritisch-umfassend erörtert. Im Rahmen der Heidegger-Gesamtausgabe hat Ingeborg Schüßler im Jahre 2010 ein undatiertes Manuskript als Band 78 herausgegeben (vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 78, hrsg. von Ingeborg Schüßler, Frankfurt a. M. 2010). Darin spiegelt sich Heideggers vierte Intensivbeschäftigung mit Anaximander wider. Das Manuskript trägt den Titel Der Spruch des Anaximander. Wahrscheinlich sollte Heideggers Anfertigung dieses Textes als Grundlage für eine ursprünglich im Jahre 1942 geplante Vorlesung dienen, die allerdings nicht stattfand. Da eine tiefgreifende und umfangreiche Analyse dieses voraussetzungsvollen Vorlesungstextes den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, soll im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit der in den Holzwegen angesiedelte Aufsatz Der Spruch des Anaximander im Vordergrund stehen. Dieser im Jahre 1946 verfasste Aufsatz bildet die fünfte Wegmarke im Gefüge von Heideggers Dialog mit Anaximander. Die Holzwege-Abhandlung Der Spruch des Anaximander repräsentiert also zugleich den schriftlichen Abschluss der heideggerschen Interpretationsbemühungen um die Philosophie Anaximanders. Die denkbiographisch wie auch entwicklungsgeschichtlich immens aufschlussreichen Anaximander-Auslegungen umspannen einen Zeitraum von zwei Dekaden (1926–1946). Folglich bietet sich eine vergleichende Lektüre der exponierten Deutungsstufen des Anaximander-Spruches an, um die veränderten Schwerpunktsetzungen Heideggers nachvollziehen zu können und dabei den Einfluss des seinsgeschichtlichen Narrativs auf Heideggers Lesart der anfänglichen Denker (‚Vorsokratiker‘) zu eruieren.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν.

Unmittelbar nach der Zitierung des altgriechischen Textes bringt Heidegger Nietzsches Übersetzung des Spruches ein, die aus dem 1873 verfassten und erst 1903 posthum publizierten Werk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen stammt: Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.274

Ebenfalls 1903 veröffentlichte Hermann Diels die Fragmente der Vorsokratiker mitsamt den von ihm angefertigten Übersetzungen in einer maßgebenden Ausgabe. Neben Nietzsches Übertragung des Spruches ist es diejenige des klassischen Philologen Diels´, an der Heidegger sich in seinem Aufsatz abarbeitet. Diese lautet: Woraus aber die Dinge das Entstehen haben, dahin geht auch ihr Vergehen nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der festgesetzten Zeit.275

Heidegger selbst schlägt die folgende wörtliche Übersetzung vor: Aus welchem aber das Entstehen ist den Dingen, auch das Entgehen zu diesem entsteht nach dem Notwendigen; sie geben nämlich Recht und Buße einander für die Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.276

Diese vorläufige Übersetzung steht freilich unter einem Vorbehalt: Sie ist zwar wörtlich im Sinne der philologischen Richtigkeit. Die zentrale Frage lautet allerdings, welcher Gehaltssinn mit dieser korrekten Übersetzung konkret erfüllt werden kann. Es ist nach Heidegger ein verfehlter Anspruch einer Übersetzung, dass diese den ursprünglichen Vorstellungskreis des Anaximander277 erfassen, revitalisieren und wiedererwecken könnte. In umgekehrter Richtung wird der Graben zwischen den Sprachen und zwischen den Epochen in ähnlich fataler Weise übersprungen, wenn der vermeintlich primitiv-archaische Spruch aus dem Blickwinkel der wissenschaftlichen Erkenntnisposition der Moderne beurteilt wird.278 Unter der Botmäßigkeit dieser Perspektive ließe sich der Spruch als eine mythisch-vorrationale, auf metaphorische 274 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 321. Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 818. 275 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 322. 276 Ebd., S. 329. 277 Vgl. dazu Wolfgang Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen, Frankfurt a. M. 1978. 278 Ein paradigmatisches Beispiel für eine solche Unterwerfung der Philosophie Anaximanders unter den vermeintlich überlegenen Maßstab des modernen Erkenntnisstandes liefern Mansfeld und Primavesi in ihrer Einleitung zu den Anaximander-Fragmenten. Zum einen statuieren Mansfeld und Primavesi, Anaximander habe noch keine ausgebildete ‚Fachsprache‘ zur Verfügung gestanden, weswegen er sich in unbeholfener Weise einer juristisch-sittlichen Terminologie habe bedienen müssen. Zum anderen sehen Mansfeld und Primavesi im Satz des Anaximander das physikalische Kausalitätsgesetz einer strengen Regelmäßigkeit und innerzeitlichen Abfolge präfiguriert. Es wird sich zeigen, dass Heidegger mit guten Gründen gegen eine solche Rückdatierung physikalischer Theoreme auf Anaximander anschreibt. Nach Heidegger muss eine solche – aus dem Geiste der insinuierten Wissenssuperiorität sprechende – Haltung der gönnerhaften Konzession anfänglicher

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2.1. Heideggers Reflexionen zur Übersetzbarkeit des Spruches

Komplexe und menschliche Moralvorstellungen279 zurückgreifende Beschreibung des Werdens und Vergehens der Dinge dekodieren.280 In prohibitiver Absicht schreibt Heidegger daher in der Grundbegriffe-Vorlesung (1941) vor der inhaltlichen Auslegung des Anaximander-Spruches: Ein Spruch von der Art des Wortes des Anaximander fordert von uns zu allererst ein Absehen von dem, was uns an Kenntnissen und Weltauslegungen geläufig ist. Aber mit dem Verzicht auf das Hereintragen physikalischer, ethischer, juristischer, theologischer und Spuren einer angeblich erst in der eigenen Zeit realisierten Niveauhöhe die ontologische Ausrichtung des Spruches notwendigerweise verkennen. Vgl. Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 62: „Anaximander hat in seinem ‚Satz‘ die Entwicklung und Weiterentwicklung des natürlichen Geschehens auf eine verständliche Formel gebracht. Dieser erste Versuch zur Formulierung der Unausweichlichkeit der natürlichen Prozesse, d. h. eines Naturgesetzes – noch dazu im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. nicht als konventionelle theoretische Beschreibung irgendwelcher interpretierter Vorgänge –, betont die Gesetzlichkeit des Beschriebenen, indem er in gewisser Weise eine moralische Sprache spricht. Es ist, als ob Anaximander den emotionalen Bedürfnissen der Menschen, die in einem Universum wie dem seinen kaum am Patz sind, dennoch sprachlich entgegenkommt: wohl der bedeutendste Rest von Anthropomorphismus in diesem System, eine Art Weiterführung und Straffung des Wiedergutmachungsgedankens des Glaubens. Aber in einer Zeit, in der es noch keine Fachsprache gab, mussten die sprachlichen Mittel verwendet werden, die zur Verfügung standen. Zu große Bedeutung sollte der – wie Theophrast sagte – ‚poetischen Ausdrucksweise‘ des wörtlichen Fragments also nicht beigemessen werden. Wichtiger ist es, zu beobachten, dass der natürliche kosmische Prozess oder Inbegriff jener unausweichlichen Aggressionen und Gegenaggressionen in einer strengen Abfolge verläuft. Anaximanders Satz ist neben anderem auch die Entdeckungsurkunde des physikalischen Zeitbegriffes, der in strenger Weise mit dem der physikalischen Kausalität verbunden ist. Der natürliche Prozess ist zeitgebunden, indem der notwendige Effekt – der selbst wieder Ursache eines anderen Effekts ist, usw. – in der Zeit, und d. h. auch innerhalb beschränkter Zeit, auf die Ursache folgt.“ In seiner Anaximander-Interpretation der Grundbegriffe-Vorlesung (1941) opponiert Heidegger vehement gegen die Vorstellung, Anaximander habe im ersten Satzstück eine physikalisch-kausale Kosmologie entwickelt, deren Regelmäßigkeit er im zweiten Satzstück durch die juristisch-ethischen Elemente von Ungerechtigkeit, Recht und Vergeltung begründet habe. Vgl. Heidegger, GA 51, S. 98f.: „Nach dem ‚ersten Teil‘ des Spruches ist da die Rede von Entstehen und Vergehen der Dinge, und das heißt der Welt, und das heißt des Kosmos. Eine solche Betrachtung ist nach der heute zur Gewohnheit gewordenen Denkweise eine ‚physikalische‘ im weiteren Sinne. […] Im zweiten Teil des Spruches des Anaximander ist von ‚Strafe‘ und ‚Buße‘ und ‚Ruchlosigkeit‘ und ‚Ungerechtigkeit‘, also nach der heutigen Vorstellungsweise von ‚juristischen‘ und ‚ethischen‘, ‚sittlichen‘ und ‚unsittlichen‘ Sachen. Danach ist für den heutigen gesunden Menschenverstand das eine klar, daß in diesem Spruch ein ‚physikalisches Weltgesetz‘ ‚in ethischen und juristischen Vorstellungen‘ ausgedrückt wird. […] Wir wollen nicht die Zeit damit verbringen, diesen ‚großen‘ Unsinn zu widerlegen. Er wird allein dadurch handgreiflich und einer besonderen Widerlegung unwert, daß wir ein Doppeltes bedenken: Einmal gab es damals keine Physik und deshalb kein physikalisches Denken, keine Ethik und deshalb kein ethisches Denken, keinen Rationalismus und deshalb kein rationales Denken; ja, der Spruch enthält nicht einmal eine ‚Philosophie‘ und deshalb auch keinen ‚philosophischen Gedankenbau‘; zum anderen aber spricht der Spruch aus der ursprünglichen Einheitlichkeit der Einzigkeit eines anfänglichen Denkens. Diese Einheit enthält weder die späteren Unterscheidungen in sich, noch ist sie die unentfaltete Vorform derselben, sondern ein Eigenes.“ Zu der Verbindung zwischen der Philosophie Anaximanders und der Herausbildung der Wissenschaften vgl. Carlo Rovelli: Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe, Hamburg 2019. 279 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 331. 280 Diese Interpretationstendenz lässt sich auf Theophrast zurückführen, der proponierte, Anaximander habe sich sich „eher poetischer Wörter“ bedient. Vgl. zu dieser Einschätzung: Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 341. Vgl. die Originalüberlieferung dieses Diktums bei Theophrast: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, DK 12 A 9, B 1, S. 71.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

‚philosophischer Vorstellungen‘ ist nur ein Negatives geleistet. Es gilt vor allem zuvor ein anderes: Das einfache Hinhören auf das, wovon da gesagt wird. Vielleicht ist es das größte und in mancher Hinsicht auch unausrottbare Verhängnis aller Ausleger und zumal jener, die es als ‚Geschäft‘ betreiben, daß sie sich von dem, was sie da auslegen, im vorhinein nichts sagen lassen, sondern sich als die Klügeren gebärden. […] Es spricht nicht gegen diese sonderbare Überheblichkeit der Spätgeborenen, wenn sie nun gleichzeitig davon sprechen, daß dieses anfängliche Denken ‚erhebliche‘ ‚Leistungen‘ darstelle. Im Erteilen solcher Belobigungen an die alten Denker drückt sich erst die volle Anmaßung der Spätlinge vollständig aus.281

Aus diesem Grund optiert Heidegger für eine Übersetzung und Beurteilung des Spruches, die in ein Zwiegespräch mit Anaximander tritt, in welchem sich beide Denker auf dieselbe Sache richten. Diesbezüglich ist zunächst ein möglicher Einwand gegen Heideggers Umgang mit den Vorsokratikern zu diskutieren. Es drängt sich förmlich auf, an Heideggers eigene Übersetzungsstrategie die folgende Kritik heranzutragen: Noch weit ausgeprägter als in seinem Rückgang auf Heraklit und Parmenides lässt sich in dem Text Der Spruch des Anaximander der eigenwillige, intrikate und bisweilen sperrige Versuch einer Archaisierung des Sprachgebrauchs konstatieren, die Heidegger durch den Rekurs auf altertümliche, in einen anderen Kontext transformierte Wortbedeutungen der deutschen Sprache auszudrücken sucht. Unterstützt durch eine teilweise willkürlich erscheinende Etymologie werden griechische Begriffe in einer gewaltsamen Interpretation mit ihrem vermeintlichen deutschen Pendant verbunden. Zur Verteidigung Heideggers ist zuvorderst zu akzentuieren, dass sich Heidegger über die ‚gewaltsame‘ Verfahrensweise seiner Auslegung vollkommen im Klaren ist.282 Nach Heidegger muss dieses Monitum allerdings auf jede Interpretation angewendet werden.283 Die Bemängelung der Verwendung suggestiver Urworte bleibt eine äußerliche und periphere Kritik, wenn sie sich von vornherein nicht auf den rationalisierbaren Sinn des Aufsatzes Der Spruch des Anaximander einlässt und darauf verzichtet, die zahlreichen Brüche, Verschiebungen und Neuauslotungen des Verhältnisses von δίκη und ἀδικία zu analysieren und in ihrer Widersprüchlichkeit zu durch281 Heidegger, GA 51, S. 100. 282 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 328: „Das Denken ist die Urdichtung, die aller Poesie voraufgeht, aber auch dem Dichterischen der Kunst, insofern diese innerhalb des Bezirkes der Sprache ins Werk kommt. Alles Dichten in diesem weiteren und im engeren Sinne des Poetischen ist in seinem Grunde ein Denken. Das dichtende Wesen des Denkens verwahrt das Walten der Wahrheit des Seins. Weil sie als denkende dichtet, erscheint die Übersetzung, die sich den ältesten Spruch des Denkens sagen lassen möchte, notwendig gewaltsam.“ Die unhintergehbare ‚Gewaltsamkeit‘ jeder Interpretation apostrophiert auch Klaus Held in seiner Bestandsaufnahme der Hauptlinien des philosophischen Interesses an Heraklit. Vgl. Held, Heraklit, S. 93: „Selbstverständlich ist die Gewaltsamkeit z. B. der Hegelschen oder Heideggerschen Vergegenwärtigungen frühgriechischen Denkens nicht zu bestreiten. Nur sollte der, der dies solchen Philosophen zum Vorwurf macht oder sie zumindest bei seiner Interpretation aus diesem Grunde übergehen zu dürfen glaubt, nicht so tun, als sei seine eigene Interpretation im Prinzip weniger ‚gewaltsam‘.“ 283 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 328: „Doch auch dann, wenn wir durch das Gesprochene des Spruches gebunden sind, behält nicht nur das Übersetzen, sondern sogar die Bindung den Anschein des Gewaltsamen. Gleich als leide das, was hier zu hören und zu sagen ist, notwendig Gewalt.“

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2.1. Heideggers Reflexionen zur Übersetzbarkeit des Spruches

dringen. Die Insistenz auf einem Standpunkt, der sich auf den Vorwurf einer sophistisch argumentierenden Archaisierung verhärtet, täuscht zwangsläufig darüber hinweg und bekommt nicht mehr in den Blick, dass sich Heideggers Deutung des Satzes bis in ihre endgültige Übersetzungsgestalt anhand des rational nachvollziehbaren Schlüsselmotivs einer anerkennenden Weile innerhalb der gegebenen Zeitlichkeit rekonstruieren lässt – und dies, obwohl Heidegger die Formel „nach der Ordnung der Zeit“ (κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν) 1946 streicht und temporale Konnotationen damit zu vermeiden284 scheint.285 Im Zuge der methodischen Vorbemerkungen zur generellen Übersetzbarkeit des Spruches bezieht sich Heidegger kurz auf Nietzsches Interpretation des Satzes und auf dessen Rezeption der Vorsokratiker im Allgemeinen. Darüber hinaus spricht Heidegger den bisherigen Denkern ab – namentlich Aristoteles, Hegel und Nietzsche – den Sinn des Spruches, d. h. die in diesem waltende Sache selbst, erfasst oder überhaupt perzipiert zu haben. Bemerkenswert ist Heideggers kritische Qualitätseinschätzung der von Nietzsche geleisteten Wiederentdeckung der Vorsokratiker: Bei aller Sorgfalt für die philologisch geklärte Sprache müssen wir im Übersetzen zuerst auf die Sache denken. Darum können uns bei einem Versuch, den Spruch dieses frühen Denkers zu übersetzen, nur die Denker helfen. Wenn wir uns nach solcher Hilfe umsehen, suchen wir allerdings vergeblich. Der junge Nietzsche gewinnt zwar in seiner Weise ein lebendiges Verhältnis zur Persönlichkeit der vorplatonischen Philosophen, seine Auslegungen der Texte sind aber durchaus herkömmlich, wenn nicht gar oberflächlich. Der einzige Denker des Abendlandes, der die Geschichte des Denkens denkend erfahren hat, ist Hegel. Doch gerade er sagt über den Spruch des Anaximander nichts.286

An diesem Ort zeigt sich erneut, dass Heidegger nicht bereit ist, die frühen Überlegungen Nietzsches zur Gerechtigkeit bei Anaximander und Heraklit in ihrer Eigenständigkeit diesseits einer möglichen Ähnlichkeit gegenüber den späteren Kerngedanken des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu würdigen. Gleichwohl ist Heidegger in einem Punkt vollkommen recht zu geben: Nietzsche beansprucht in seiner Schilderung der vorsokratischen Lehren keine Originalität, da er die philosophischen Errungenschaften der Vorsokratiker zuvorderst rekonstruieren und für die eigene Gegenwart wiedergewinnen möchte. Vorrangig kapriziert er sich dabei auf den unvergänglichen, tragischen Typus des einsamen und stolzen Philoso-

284 Vgl. zum Topos des ‚Vermeidens‘ bei Heidegger: Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a. M. 1992. 285 Christian Iber merkt vollkommen zurecht an, dass Heidegger trotz des philologisch grundierten Ausschlusses der Textstelle κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν aus dem authentischen Originaltext des Spruches auch in seiner 1946 verfassten Anaximander-Interpretation an einer temporalen Auslegung der Worte δίκη und ἀδικία im Sinne des Sich-Verhaltens endlicher Existenz innerhalb des Seienden im Ganzen festhält. Vgl. Christian Iber, Interpretationen zur Vorsokratik. Frühgriechisches Denken und Heideggers Projektionen, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, 2. Aufl., Stuttgart 2013, S. 200–209, hier S. 203: „Heidegger widerruft seine eigene Annahme von der Unechtheit der Textstelle über die Zeitordnung (vgl. GA 5, 341), indem er die Grundworte des Spruches δίκη, ἀδικία und τίσις aus der Erfahrung des prozessual und temporal verstandenen Anwesens her interpretiert.“ 286 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 323.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

phen, den Persönlichkeiten wie Anaximander und Heraklit in Reinform repräsentieren: Alle jene Männer sind ganz und aus einem Stein gehauen. Zwischen ihrem Denken und ihrem Charakter herrscht strenge Nothwendigkeit. Es fehlt für sie jede Convention, weil es damals keinen Philosophen- und Gelehrtenstand gab. Sie alle sind in großer Einsamkeit als die einzigen, die damals nur der Erkenntniß lebten. Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden. Denn keine Mode kam ihnen hülfreich und erleichternd entgegen.287

Das von Heidegger zumeist verschwiegene, an wenigen Stellen eher angedeutete denn eingestandene Hauptmotiv für die kritische Bewertung des nietzscheanischen Rückgangs auf die Vorsokratiker dürfte allerdings Nietzsches polemische Auseinandersetzung mit Parmenides im Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen sein. Bereits 1932 moniert Heidegger in der Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie, dass Nietzsche niemals einen adäquaten Zugang zum Denken des Parmenides gefunden habe: Nietzsches Verhängnis war, daß er – bei aller Klarheit – keinen griechischen Philosophen so gänzlich mißverstanden hat wie Parmenides. Dementsprechend war er später nicht der eigenen Aufgabe gewachsen!288

Nietzsche schreibt in denjenigen Abschnitten des Werkes Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, die der eleatischen Ontologie gewidmet sind, unmissverständlich offensiv-degoutierte Sätze gegen den angeblich leeren und abstrakt-bedeutungslosen Begriff des Seins. Diese Formulierungen konnte Heidegger durchaus auf die Entwurfsganzheit des Seinsverständnisses in Sein und Zeit beziehen und als Beleg für die bei Nietzsche ihren Gipfelpunkt erreichende Seinsvergessenheit beurteilen: Einem Griechen [Parmenides, J. K.] war es damals möglich, aus der überreichen Wirklichkeit, wie aus einem bloßen gauklerischen Schematismus der Einbildungskräfte zu flüchten – nicht etwa, wie Plato, in das Land der ewigen Ideen, in die Werkstätte des Weltenbildners, um unter den makellosen unzerbrechlichen Urformen der Dinge das Auge zu weiden – sondern in die starre Todesruhe des kältesten, Nichts sagenden Begriffs, des Seins.289 […] oder mit der Wendung des Beneke, ‚daß das Sein irgendwie gegeben, irgendwie für uns erreichbar sein müsse, da wir sonst nicht einmal den Begriff des Seins haben könnten‘. Den Begriff des Seins! Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur ‚athmen‘: wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie.290

287 288 289 290

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Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 807. Heidegger, Der Anfang der abendländischen Philosophie, GA 35, S. 189. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 844. Ebd., S. 847.

2.2. Die ‚Eschatologie des Seins‘ als Leitmotiv in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander (1946)

2.2. Die ‚Eschatologie des Seins‘ als Leitmotiv in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander (1946) Bevor zur Besprechung der heideggerschen Deutung des Anaximander-Spruches fortgeschritten werden kann, sind einige Bemerkungen über den Entzug und die Eschatologie des Seins sowie über Heideggers modifiziertes Narrativ der Seinsvergessenheit vonnöten. Das Proprium der Seinskonzeption in Der Spruch des Anaximander beruht auf dem Sachverhalt, dass das Sein den Unterschied zum Seienden lichtet, indem es in der Verbergung an sich hält. Dabei kann es sich nicht in eine jenseitige Sphäre entziehen – dergestalt würde die Metaphysik restituiert – sondern muss sich im Seienden als Sein und als Beziehung verbergen: Das Griechische, das Christentum, das Neuzeitliche, das Planetarische und das im angedeuteten Sinne Abend-Ländische denken wir aus einem Grundzug des Seins, den es als die Ἀλήθεια in der Λήθη eher verbirgt als enthüllt. Doch dieses Verbergen seines Wesens und der Wesensherkunft ist der Zug, in dem das Sein sich anfänglich lichtet, so zwar, daß ihm das Denken gerade nicht folgt. Das Seiende selbst tritt nicht in dieses Licht des Seins. Die Unverborgenheit des Seienden, die ihm gewährte Helle, verdunkelt das Licht des Seins. Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.291

Die Seinsvergessenheit muss somit als der ursprüngliche Zug des Seins selbst dechiffriert werden, da es sich notwendigerweise verbergen muss, um das Seiende sein zu lassen. Umgekehrt kann sich das Sein nur verbergen, wenn es dem Seienden die Unverborgenheit schenkt.292 Die Seinsgeschichte mit ihren zentralen Phasen des Griechischen, des Christentums, des Neuzeitlichen und des Planetarischen293 wird nach Heidegger von der „Irre“294 beherrscht, insofern das Wesen des Menschen im Einflusskreis der Unverborgenheit des Seienden steht, ohne – bis auf die Ausnahmen der wenigen Denker – den Zuspruch des sich in seine Vergessenheit hüllenden Seins zu erfahren. Dass sich trotz dieser basalen und für das Sichzeigen des Seienden konstitutiven Entzugsweise des Seins verschiedene Phasen, Übergänge und Zäsuren in der Seinsgeschichte differenzieren lassen, führt Heidegger im Anaximander-Aufsatz auf den Topos der ἐποχή zurück. Anders als in der Phänomenologie Husserls, korrespondiert dieser Terminus bei Heidegger nicht dem „Methodische[n] des Aussetzens der thetischen Bewusstseinsakte in der Vergegenständlichung“.295 Vielmehr bedeutet „ἐποχή“ wörtlich das Zurückhalten, mit dem das Sein seine Wahrheit an sich hält und sich der Offenbarwerdung verweigert: „Die Epoche des Seins gehört ihm selbst. Sie ist aus der Erfahrung der Vergessenheit des Seins gedacht“.296 Der phasenübergreifende Grundvorgang der 291 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 336f. 292 Wie im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, sucht Heidegger in seiner Übersetzung des Heraklit-Fragmentes 123 genau dieses wechselseitige Gewährenlassen von Aufgehen und Untergehen auszudrücken. 293 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 336. 294 Ebd., S. 337. 295 Ebd., S. 337. 296 Ebd., S. 337f.

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ἐποχή als Verbergung des Seins verläuft parallel zu den Epochen in der Geschichte des Seins. Die Weise des variierten Ansichhaltens der Wahrheit konvergiert mit der Entbergung und Lichtung eines bestimmten, sich in den verschiedenen Epochen wandelnden Sinnhorizontes, in dem das Seiende jeweils hervortritt. Im Zeitalter des Planetarischen wird das Seiende nach Heidegger allein als Gegenstand der menschlichen Vorstellung zugelassen, während die Griechen – dies versucht Heidegger im vorliegenden Aufsatz auch anhand von Anaximanders Denken zu bewähren – das Seiende in seiner hervorgehenden Teilhabe an der sich verbergenden φύσις erfahren hätten. Der in Sein und Zeit nicht systematisierte Gedanke einer Temporalität des Seins, die 1927 mit der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins zusammengedacht werden sollte297, erhält im Aufsatz Der Spruch des Anaximander eine programmatische Formation, die unter dem Vorrang der epochal gewendeten Temporalität lanciert wird: Aus der Epoche des Seins kommt das epochale Wesen seines Geschickes, worin die eigentliche Weltgeschichte ist. Jedesmal, wenn das Sein in seinem Geschick an sich hält, ereignet sich jäh und unversehens Welt. Jede Epoche der Weltgeschichte ist eine Epoche der Irre. Das epochale Wesen des Seins gehört in den verborgenen Zeitcharakter des Seins und kennzeichnet das im Sein gedachte Wesen der ‚Zeit‘. Was man sonst unter diesem Namen vorstellt, ist nur die Leere des am gegenständlich gemeinten Seienden abgenommenen Anscheins der Zeit. Der ekstatische Charakter des Da-seins jedoch ist die für uns zunächst erfahrbare Entsprechung zum epochalen Charakter des Seins. Das epochale Wesen des Seins ereignet das ek-statische Wesen des Da-seins.298 297 Die Temporalität des Seins wird im § 5 von Sein und Zeit als Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach der ‚Sinnbestimmtheit‘ des Seins nobilitiert, wobei Heidegger die zeitliche Struktur jedes Seinsverständnisses unterstreicht. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 5, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 18f.: „Demgegenüber ist auf dem Boden der ausgearbeiteten Frage nach dem Sinn von Sein zu zeigen, daß und wie im rechtgesehenen und rechtexplizierten Phänomen der Zeit die zentrale Problematik aller Ontologie verwurzelt ist: Wenn Sein aus der Zeit begriffen werden soll und die verschiedenen Modi und Derivate von Sein in ihren Modifikationen und Derivationen in der Tat aus dem Hinblick auf Zeit verständlich werden, dann ist damit das Sein selbst – nicht etwa nur Seiendes als ‚in der Zeit‘ Seiendes, in seinem ‚zeitlichen‘ Charakter sichtbar gemacht. ‚Zeitlich‘ kann aber dann nicht mehr nur besagen ‚in der Zeit seiend‘. Auch das ‚Unzeitliche‘ und ‚Überzeitliche‘ ist hinsichtlich seines ‚Seins‘ zeitlich. Und das wiederum nicht nur in der Weise einer Privation gegen ein ‚Zeitliches‘ als ‚in der Zeit‘ Seiendes, sondern in einem positiven, allerdings erst zu klärenden Sinne. Weil der Ausdruck ‚zeitlich‘ durch den vorphilosophischen und philosophischen Sprachgebrauch in der angeführten Bedeutung belegt ist und weil der Ausdruck in den folgenden Untersuchungen noch für eine andere Bedeutung in Anspruch genommen wird, nennen wir die ursprüngliche Sinnbestimmtheit des Seins und seiner Charaktere und Modi aus der Zeit seine temporale Bestimmtheit. Die fundamentale ontologische Aufgabe der Interpretation von Sein als solchem begreift daher in sich die Herausarbeitung der Temporalität des Seins. In der Exposition der Problematik der Temporalität ist allererst die konkrete Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins gegeben. Weil das Sein je nur aus dem Hinblick auf Zeit faßbar wird, kann die Antwort auf die Seinsfrage nicht in einem isolierten Satz liegen.“ 298 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 338. Hannah Arendt bezieht diesen Gedanken einer ‚epochalen Ereignung‘ des Daseins durch das ‚Wesen des Seins‘ auf Heideggers Unterscheidung zwischen den allein von ausgezeichneten Denkern erfahrenen Zäsurmomenten der Seinsgeschichte und der menschlichen Alltagsgeschichte, in der die Kontinuität der ‚Irre‘ herrsche. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, 9. Aufl., München 2016, S. 418f.: „Am Anfang enthüllt sich das Sein im Seienden, und das löst zwei entgegengesetzte Bewegungen aus: das Sein zieht sich in sich selbst zurück, und das Seiende wird ‚ereignet‘ in den ‚Irrtum (zu sagen wie Fürsten- und Dichtertum)‘. Diese Sphäre des Irrtums ist die Sphäre der gewöhnlichen menschlichen Geschichte,

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Im Hinblick auf die Binnenspannung zwischen dem ersten und dem anderen Anfang und der Möglichkeit eines Zwiegespräches mit Anaximander ist unbedingt festzuhalten, dass das Sein in der Abfolge der divergierenden Wandlungen im Anfang – als τὸ χρεών, ἕν, Λόγος, Μοῖρα – nach Heidegger im Grunde das Selbe ist wie am Ende seiner Geschichte, die spätestens seit Platon in der Metaphysik eingebettet ist. Über die epochenkonstituierende Identität darf nicht hinwegtäuschen, dass sich das Sein an diesem Ende, flankiert von einem potenzierten Vergessen seiner Verbergungsstruktur, in den Willen zum Willen losgelassen hat: Wir denken die Eschatologie des Seins in dem entsprechenden Sinne, in dem seinsgeschichtlich die Phänomenologie des Geistes zu denken ist. Diese selbst bildet eine Phase in der Eschatologie des Seins, insofern das Sein als die absolute Subjektität des unbedingten Willens zum Willen sich in die Letze seines bisherigen, durch die Metaphysik geprägten Wesens versammelt. Denken wir aus der Eschatologie des Seins, dann müssen wir eines Tages das Einstige der Frühe im Einstigen des Kommenden erwarten und heute lernen, das Einstige von da her zu bedenken.299

Die Selbigkeit des Seins begründet die Zusammengehörigkeit des „Einstigen der Frühe“300 mit dem „Einstigen des Kommenden“.301 Das Einstige wird in Heideggers seinsgeschichtlichem Denken aus dem Standpunkt einer antizipierten Zukunft beleuchtet, in welche das Kommende je schon eingekehrt ist, weil es durch die interpre-

in der die tatsächlichen Schicksale zusammenhängen und durch das ‚Irren‘ ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Hier ist kein Platz für eine ‚Seinsgeschichte‘, die hinter dem Rücken der handelnden Menschen stattfände; das Sein, geborgen in seiner Verborgenheit, hat keine Geschichte, und ‚jede Epoche der Weltgeschichte ist eine Epoche der Irre.‘ Doch gerade daß das Zeitkontinuum im Reiche der Geschichte in verschiedene Epochen eingeteilt wird, das deutet darauf hin, daß auch das Ereignen der Irre in Epochen geschieht, und in Heideggers Schema scheint es einen ausgezeichneten Augenblick zu geben, den Übergang von einer Epoche zur nächsten, von einem Schicksal zum anderen, da das Sein in Form der Wahrheit in die Kontinuität des Irrtums einbricht und das ‚epochale Wesen des Seins das ekstatische Wesen des Da-seins ereignet.‘“ In den Beiträgen zur Philosophie denkt Heidegger die Seinsverlassenheit als Geschichte der ‚Irre‘, die sich aus der Verweigerung des Seins notwendigerweise ergeben musste. Anders als von Arendt suggeriert, bildet die ‚Sphäre des Irrtums‘ in Heideggers Beiträgen weder den Bereich einer gleichsam ungeschichtlichen Alltäglichkeit noch kann die ‚Irre‘ schlichtweg mit der ‚gewöhnlichen menschlichen Geschichte‘ gleichgesetzt werden. Die ‚Irre‘ firmiert nicht als das gänzlich Andere der Seinsgeschichte, sondern repräsentiert nach Heidegger die Art des epochalen Entzuges des Seins in der metaphysikgeschichtlichen Neuzeit. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 87, S. 175: „Einer Geschichte und d. h. eines Anfangs und seiner Abkünfte und Fortschritte bedarf es, um erfahren zu lassen (für die anfangenden Fragenden), daß zum Wesen des Seyns die Verweigerung gehört. Dieses Wissen ist, weil es den Nihilismus noch ursprünglicher in die Seinsverlassenheit hinabdenkt, die eigentliche Überwindung des Nihilismus, und die Geschichte des ersten Anfangs wird so völlig aus dem Anschein der Vergeblichkeit und bloßen Irre herausgenommen; jetzt erst kommt das große Leuchten über alles bisherige denkerische Werk.“ 299 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 327. Vgl. Heidegger, GA 55, S. 386: „Indem das Sein als Wille west, bezeugt es, obzwar noch unerkannt, daß die Vergessenheit seiner selbst durch es selbst zugelassen wird.” 300 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 327. 301 Ebd., S. 327.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

tative Aneignung der Frühe in seiner unerschöpflich-anfänglichen, alle metaphysischen Grundstellungen übergreifenden Strahlkraft entdeckt wurde.302 Dergestalt wird verständlich, warum Heidegger stets betont, alle Denker, die den Zuspruch des Seins in ihrer jeweiligen Epoche vernehmen, sagten das Selbe, indem sie von diesem Zuspruch künden. Als Seismographen des jeweiligen Ansichhaltens des Seins firmierend, umgrenzen die Denker die Verfasstheit ihres Zeitalters, die sich als Wahrheit des Seienden in der Metaphysik ausgestaltet. Die Selbigkeit des Seins besitzt allerdings weitere, für Heideggers Zwiegespräch mit Anaximander maßgebende Implikationen. Weil das Wechselverhältnis von Verbergung und Entbergung und damit die dem Sein zugehörige Λήθη bereits am Anfang des abendländischen Denkens nicht eigens bedacht wurde und deswegen in Vergessenheit geriet, ist es Heideggers Intention im Anaximander-Aufsatz, die Verbergung des Seins mit dessen Temporalität zu synthetisieren, um das ursprüngliche Zeitwesen des Seins aufzuschließen.303 Es gilt, durch den Rückgang auf Anaximander die im ersten Aufgang des Seins in den Anfang des Denkens verwahrten und noch nicht erschlossenen Potenziale sichtbar zu machen, welche die gesamte Seinsgeschichte überwölben.304 Die Möglichkeiten des „Einstigen der Frühe“ stehen der Seinsgeschichte in all ihren Filiationen als das Künftige, noch Ungedachte, stets bevor. Aufgrund der Selbigkeit des Seins kehrt dieses im epochalen Moment der Versammlung aller Grundstellungen in das Äußerste seiner selbst nicht kreisartig zur Frühe des vorsokratischen Anfanges zurück, sondern wird von dessen wahrer Gestalt überholt. Diese Einkehr des Ereignisses in das ἔσχατον seines metaphysikimmanenten Geschichtsvollzuges als Sein des Seienden geschieht, wenn die Selbigkeit des Seins unter der schon im Anfang vergessenen Signatur der Verbergung bedacht wird, die den Grund für die Wandlung der Seiendheit innerhalb der Seinsgeschichte bildet. Das Aufkeimen des anderen Anfangs beruht auf der Freilegung des in der anfänglichen Lichtung des Seins Ungedachten, das im ersten Anfang der Metaphysik verschüttet wurde:

302 Weil demzufolge der Gehalt des ersten Anfangs erst hinreichend aus dem bereits inaugurierten anderen Anfang erschlossen werden kann; der andere Anfang aber seinerseits erst entfaltet werden kann, wenn das Ungedachte des ersten Anfanges bereits erfahren worden ist, lässt sich eine zirkuläre Konstellation zwischen den beiden Anfängen konstatieren. Es ist indes fraglich, ob es sich hier um einen hermeneutischen Zirkel oder um einen circulus vitiosus handelt. Christian Iber votiert eindeutig für die letztgenannte Variante. Vgl. Iber, Interpretationen zur Vorsokratik, S. 208: „Auch die Beziehung, die zwischen dem ersten und zweiten Anfang herrscht, ist von Grund auf problematisch. Zum einen erwächst der zweite Anfang nur aus dem Rückgang auf das Ungedachte des ersten Anfangs. Zum anderen kann die Tiefendimension des ersten Anfangs nur im Lichte des anderen Anfangs freigelegt werden. […] Heideggers geschichtsphilosophische Konzeption der Philosophiegeschichte erweist sich als ein fehlerhafter Zirkel: Einerseits ist der andere Anfang nur der auf seine Tiefendimension durchsichtig gemachte erste Anfang, umgekehrt wird dessen Freilegung nur vor dem Hintergrund des noch ausstehenden zweiten Anfangs möglich. Heideggers geschichtsphilosophische Konzeption ist eine modernitätskritische, auf die Antike zurückprojizierte Eschatologie.“ 303 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 350. 304 Wolfgang Brokmeier hat dies als Leitmotiv der Auseinandersetzung Heideggers mit Anaximander herausgearbeitet. Vgl. Wolfgang Brokmeier, Der Andere Anfang im Ersten oder das Finden des Eigenen im Fremden der Frühe: Heidegger und Anaximander, in: Heidegger-Studien 10, 1994, S. 111–127.

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2.2. Die ‚Eschatologie des Seins‘ als Leitmotiv in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander (1946)

Das Altertum, das den Spruch des Anaximander bestimmt, gehört in die Frühe der Frühzeit des Abend-Landes. Wie aber, wenn das Frühe alles Späte, wenn gar das Früheste das Späteste noch und am weitesten überholte? Das Einst der Frühe des Geschickes käme dann als das Einst zur Letze (ἔσχατον), d. h. zum Abschied des bislang verhüllten Geschickes des Seins. Das Sein des Seienden versammelt sich (λέγεσθαι, λόγος) in die Letze seines Geschickes. Das bisherige Wesen des Seins geht in seine noch verhüllte Wahrheit unter. Die Geschichte des Seins versammelt sich in diesen Abschied. Die Versammlung in diesen Abschied als die Versammlung (λόγος) des Äußersten (ἔσχατον) seines bisherigen Wesens ist die Eschatologie des Seins. Das Sein selbst ist als geschickliches in sich eschatologisch.305

Es ist demnach der Verbund aus der Selbigkeit des Seins und der Entsprechung der Grundworte, der ein Zwiegespräch mit Anaximander und damit auch eine Über-Setzung zu dessen Spruch ermöglicht. Das Griechische „griechisch“306 zu denken, bedeutet also nicht, die imaginierte Denkweise einer vergangenen Kultur zu restaurieren. Es heißt vielmehr, das von den Griechen nicht eigens erfragte und gewürdigte Selbe – es wird verständlicherweise erst am Ende seiner Geschichte als das alles Seiende durchherrschende, einzige Sein offenbar – zu exponieren: Wir suchen das Griechische weder um der Griechen willen, noch wegen einer Verbesserung der Wissenschaft; nicht einmal nur der deutlicheren Zwiesprache halber, sondern einzig im Hinblick auf das, was in einer solchen Zwiesprache zur Sprache gebracht werden möchte, falls es von sich aus zur Sprache kommt. Das ist jenes Selbe, das die Griechen und uns in verschiedener Weise geschicklich angeht. Es ist Jenes, was die Frühe des Denkens in das Geschick des Abend-Ländischen bringt. Diesem Geschick zufolge werden die Griechen erst zu den Griechen im geschichtlichen Sinne.307

Es gilt im weiteren Verlauf zum ersten zu verfolgen, wie sich der Gedanke einer offenbarwerdenden Wiederkehr des im Anfang Versprochenen und Vorbehaltenen in Heideggers interpretierender Übersetzung des Anaximanderspruches manifestiert. Zum zweiten soll die These veranschaulicht werden, dass Heidegger der Gerechtigkeit (als δίκη und Fug) in diesem Wiedergewinnungsversuch keine nennenswerte Rolle zumisst, weil sie durch das Anwesenlassen selbst verfügt wird. Auf indirekte Weise kann dergestalt der Nachweis erbracht werden, dass Heidegger der Gerechtigkeit nicht den Rang konzediert, dem Willen zum Willen opponieren zu können. Umso wichtiger ist es daher, andere, von Heidegger eher am Rande geäußerte Merkmale der Gerechtigkeit gegen diesen Hauptstrang zu mobilisieren. Basierend auf einer Konjektur des Philologen John Burnet, streicht Heidegger die erste Hälfte des Spruches, da diese eine Beifügung durch Simplikios darstelle.308 Heidegger stimmt Burnet zu, dass der Satz vor κατὰ τὸ χρεών nach „Bau und Klang weit eher aristotelisch als archaisch“309 sei. Dieses Verdikt trifft nach Heidegger jedoch 305 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 327. Zu der Figuration einer Versammlung der Geschichte des Seins vgl. die erhellenden Ausführungen von Tobias Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers, Tübingen 2015, S. 92ff. 306 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 336. 307 Ebd., S. 336. 308 Vgl. ebd., S. 340. 309 Ebd., S. 341.

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auch den Schluss des Satzes, κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν, der von Nietzsche mit „gemäß der Ordnung der Zeit“ übersetzt wird, sodass der authentische Spruch sich auf das Diktum reduziert: κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας. „…nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit.“310

Während Burnet in seiner Argumentation die Worte γένεσις und φθορά mit der Begründung aus der Urfassung des Spruches ausschließt, es handle sich um platonische „termini technici“311, verteidigt Heidegger die Bedeutung dieser Worte für Anaximander, weil diese sich schon bei Homer nachweisen ließen. Heidegger intendiert dabei, das Hervorgehen und das Verschwinden aus dem Wesen der φύσις sichtbar zu machen.312 γένεσις müsse als entgehendes Ent-stehen aus der Verborgenheit verstanden werden, das in die Unverborgenheit hervorgeht. φθορά thematisiert nach 310 Ebd., S. 341. 311 Vgl. ebd., S. 340. 312 Vgl. ebd., S. 341f.: „Vielmehr sind γένεσις und φθορά aus der φύσις und innerhalb dieser zu denken: als Weisen des sich lichtenden Auf- und Untergehens.“ In ihrer luziden Entzifferung des veränderten Sinnes des Terminus der Unverborgenheit – der im Anaximander-Aufsatz nicht mehr gleichbedeutend mit ‚Wahrheit‘ verwendet wird – fördert Hannah Arendt den heraklitischen Tenor in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander zutage. In diesem Zuge analogisiert Arendt die sich verbergende φύσις mit dem von Anaximander geschilderten Untergang des Seienden in den Ursprung. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 416f.: „Während das Seiende ist, ‚west‘ es in der Gegenwart ‚zwischen [einem] zwiefältigen Abwesen‘, zwischen seiner Ankunft und seinem Verschwinden. Während der Abwesenheit ist es verborgen; unverborgen ist es nur für die kurze Dauer seines Erscheinens. […] Auch diese nichtspekulative, streng phänomenologische Beschreibung steht offensichtlich im Gegensatz zu Heideggers gewöhnlicher Lehre einer ontologischen Differenz, nach der a-letheia, Wahrheit im Sinne von Unverborgenheit, stets auf der Seite des Seins liegt; in der Welt der Erscheinungen enthüllt sich das Sein nur in der denkenden Antwort des Menschen in der Sprache. […] In der Auslegung des Anaximanderfragmentes ist die Unverborgenheit nicht Wahrheit; sie gehört zu dem Seienden, das aus einem verborgenen Sein ankommt und dorthin wieder fortgeht. Diese Wendung kann wohl kaum verursacht, aber gewiß erleichtert worden sein durch die Tatsache, daß die Griechen, vor allem die Vorsokratiker, oft vom Sein als physis (Natur) sprechen, dessen Urbedeutung sich von ‚phyein‘ (wachsen) herleitet, also aus der Dunkelheit ans Licht kommen. Anaximander, meint Heidegger, stellte sich genesis und phthora im Sinne der physis vor, ‚als Weisen des sich lichtenden Auf- und Untergehens.‘ Und die physis, so ein häufig zitiertes Fragment des Heraklit, ‚liebt es, sich zu verbergen.‘ Heidegger erwähnt zwar im Anaximanderaufsatz das Heraklitfragment nicht, doch die Hauptthesen lesen sich, als wären sie von Heraklit und nicht von Anaximander eingegeben. Von zentraler Bedeutung ist der spekulative Gehalt; die Beziehung in der ontologischen Differenz wird umgekehrt, was sich in folgenden Sätzen ausdrückt: ‚Die Unverborgenheit des Seienden, die ihm [vom Sein] gewährte Helle, verdunkelt das Licht des Seins. Das Sein entzieht sich, indem es sich in das Seiende entbirgt.‘ Der von mir hervorgehobene Satz wird im Text durch emphatische Wiederholung betont. Er leuchtet unmittelbar ein wegen der sprachlichen Verwandtschaft zwischen ‚verbergen‘, ‚bergen‘ und ‚entbergen‘.“ Ähnlich wie Hannah Arendt, streicht auch Tadashi Otsuru in seiner Beleuchtung des Anaximander-Aufsatzes die Nähe zwischen der φύσις und der dialektischen Bezugseinheit von Hervorgang und Entgängnis heraus. Vgl. Tadashi Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη. Der Denkweg als Selbst-Kritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung, Würzburg 1992, S. 165f.: „Wenn Heidegger γένεσίς und φθορά mit ‚Hervorgang‘ und ‚Entgängnis‘ übersetzt, und nicht wie gewöhnlich mit ‚Werden‘ und ‚Vergehen‘, so ist dies als ein Versuch zu verstehen, φύσις und ἀλήθεια im Zusammenhang zu denken. […] Daß die φύσις einerseits in dem Hervorgang und der Entgängnis waltet, und daß andererseits ‚Hervorgang und Entgängnis‘ notwendig zur φύσις gehört, und

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2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation

Heidegger das Vergehen, das aus dem Unverborgenen in die Verborgenheit weggeht.313 Obwohl γένεσις und φθορά gemäß dem philologischen Eingriff im Spruch nicht mehr direkt genannt werden, rahmen sie nach Heidegger τὰ ὄντα, das Seiende im Ganzen, ein, indem sie dessen Endlichkeitsdynamik beschreiben. Heidegger hält unter Berufung auf ihren Gebrauch bei Anaximander am Sinn der beiden Worte fest: Vermutlich hat Anaximander von γένεσίς und φθορά gesprochen. Ob es in der Form des überlieferten Satzes geschah, bleibt fraglich, wenngleich so paradoxe Wortgefüge wie γένεσίς ἐστιν (so möchte ich dann lesen) und φθορὰ γίνεται: Ent-stehen ist, und Vergehen ent-steht, wieder für eine alte Sprache sprechen.314

2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation des Spruches und die vorläufige Charakterisierung der α᾿δικία (‚Un-fuge‘) als Existenzmodus des Seienden Es ist nun darauf zu achten, in welcher Weise Heidegger den im Zuge der philologischen Analyse verkürzten Spruch des Anaximander übersetzt. Dabei ist nachzuvollziehen, wie er die tradierten und geläufigen Übersetzungen für die – nach Heidegger weder moralisch noch als anthropomorphe Konstruktionen oder als Metaphern für naturphilosophische Phänomene315 zu verstehenden – Worte τίσις, δίκη und ἀδικία verändert und der eigenen Figuration eines Anwesens des Anwesenden anverwandelt. zwar so daß φύσις und ‚Hervorgang und Entgängnis‘ nicht zwei Sphären sind, sondern daß ‚Hervorgang und Entgängnis‘ das je-weilige ‚Gehen‘ (‚Über-gang‘) des einen ‚Von-sich-aus-Aufgehens‘ (φύσις) ist, wird sofort verstehbar, wenn man ‚Hervorgang‘ als ‚Hervorgang in die Unverborgenheit‘ und ‚Entgängnis‘ als ‚Entgängnis von der Unverborgenheit in die Verborgenheit‘ (‚die jähe Abwesenheit‘) versteht: ‚Hervorgang und Entgängnis‘ ist ein je-weiliges Geschehnis des Streits von Unverborgenheit und Verborgenheit, d. h. zugleich des Gehens der φύσις.“ Dass Arendt und Otsuru mit der These richtig liegen, dass Heidegger implizit die aus Heraklits Begriff der φύσις entlehnten Bestimmungen auf das ἄπειρον Anaximanders überträgt, kann durch einen direkten Textnachweis dokumentiert werden. In seiner Umrandung des Wesens der φύσις in Aristoteles‘ Physik schreibt Heidegger der φύσις nämlich jene Prädikate zu, die er in seiner Anaximander-Auslegung auch dem ἄπειρον angedeihen lässt. Die Attribute des Ausganges, der Verfügung, der ἀρχή und der Lenkung der Bewegtheit des Bewegten im Ganzen gelten sowohl für die heraklitisch-aristotelische φύσις als auch für das ἄπειρον Anaximanders. Vgl. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2013, S. 239–301, hier S. 254: „‚Darnach ist dann die φύσις so etwas wie Ausgang und Verfügung und damit also Urtümliches für das und über das Sichbewegen und Ruhen von Solchem, darin sie im voraus (ὑπό) ausgänglich verfügt (ἄρχει) erstlich an sich und von sich aus und auf es zu und daher nie so, als stellte sich die ἀρχή eben doch nur beiher (in dem Seienden) ein.‘ [Aristoteles, Physik 192 b 20–23, J. K.] Einfach und fast hart wird hier der Wesensumriß geprägt: die φύσις ist nicht nur überhaupt die ausgängliche Verfügung über die Bewegtheit eines Bewegten, sondern sie gehört zu diesem Bewegten selbst, so daß dieses an ihm selbst von ihm aus und auf es zu über seine Bewegtheit verfügt. Die ἀρχή ist also nicht dgl. wie der Ausgangspunkt eines Stoßes, der dann das Gestoßene wegstößt und ihm selbst überläßt, sondern was dergestalt durch die φύσις bestimmt ist, bleibt in seiner Bewegtheit nicht nur bei ihm selbst, sondern es geht, indem es gemäß der Bewegtheit (des Umschlagens) sich entbreitet, gerade in es selbst zurück.“ 313 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 342. 314 Ebd., S. 342. 315 Ebd., S. 342.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Um die Relevanz von δίκη, τίσις und ἀδικία im Rahmen der heideggerschen Interpretation Anaximanders, Heraklits und Parmenides´ beurteilen zu können, kann Heideggers Vermerk herangeführt werden, wonach δίκη, τίσις und ἀδικία „innerhalb der Sprache dieser Grundworte“316 – die anfänglichen Grundworte sind Λόγος, Φύσις, Ἕν, Ἀλήθεια, Ἔρις und Μοῖρα317 – sprechen. Dies impliziert, dass sie erst auf der Basis der durchdrungenen, anfänglichen Leitbestände und demnach in derivierter und nachursprünglicher Weise zur Sprache gebracht werden können. δίκη, τίσις und ἀδικία gewinnen ihre Stellung und Bedeutung erst durch die Einordnung in das Geflecht der Grundworte. Heidegger beginnt die genuine Übersetzungsarbeit mit dem Hinweis, dass sich das „αὐτὰ“ auf τὰ ὄντα aus dem vorherigen Satz beziehe, welche die Mannigfaltigkeit alles Anwesenden umfassten. Während Heraklit das Viele im Ἕν des bergend-versammelnden λόγος akkumuliert318, stellt sich die Frage, welche Organisationsform Anaximander der Zusammengehörigkeit der erblickten Vielheit verleiht: Wie aber erfährt zuvor Anaximander das All des Anwesenden, das je weilig zu einander in die Unverborgenheit angekommen ist? Was durchzieht im Grunde überall das Anwesende? Das letzte Wort des Spruches sagt es. Mit ihm müssen wir die Übersetzung beginnen. Er nennt den Grundzug des Anwesenden: ἡ ἀδικία. Man übersetzt wörtlich durch ‚die Ungerechtigkeit‘. […] Inwiefern ist das jeweilig Anwesende in der Ungerechtigkeit? Was ist am Anwesenden ungerecht? Ist es nicht das Rechte des Anwesenden, daß es je und je weilt und verweilt und so sein Anwesen erfüllt?319

Heidegger insistiert darauf, dass „juristisch-moralische“320 Assoziationen an diesem Ort ferngehalten werden müssen.321 Die im Wort ἀ-δικία durch das alpha privativum angezeigte Verneinung deute zunächst nur an, dass die „δίκη wegbleibt“.322 Wenn δίκη nicht mehr – wie in Heideggers wörtlicher Übersetzung – als wechselseitig anerkanntes „Recht“ oder wie bei Diels als „Strafe“ wiedergegeben wird, muss geklärt werden, wie sich das Wesen der ἀδικία vor jeder Verständnisfixierung auf einen regionalen Sachbereich entfaltet. Heideggers wie beiläufig eingeworfene, heuristische Definition der ἀδικία fundiert den gesamten weiteren Auslegungsgang: „[…] Wenn wir uns an das halten, was zur Sprache kommt, dann sagt ἀδικία, daß es, wo sie waltet, nicht mit rechten Dingen zugeht. Das bedeutet: etwas ist aus den Fugen.“323

316 Ebd., S. 352. 317 Vgl. ebd., S. 352. 318 Vgl. ebd., S. 353f. Vgl. hierzu Heidegger, Logos (Heraklit, Fragment 50), GA 7, S. 221: „Damit wird der Λόγος schlechthin genannt: ὁ Λόγος das Legen: das reine beisammen-vor-liegen-Lassen des von sich her Vorliegenden in dessen Liegen. So west der Λόγος als das reine versammelnde lesende Legen. Der Λόγος ist die ursprüngliche Versammlung der anfänglichen Lese aus der anfänglichen Lege. ὁ Λόγος ist: die lesende Lege und nur dieses.“ 319 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 354. 320 Ebd., S. 354. 321 Vgl. dazu Hermann Schmitz, Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie, Bonn 1988. 322 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 354. 323 Ebd., S. 354. Zu Heideggers Übersetzung der ἀδικία und ihrer Wesensumrandung vgl. die kenntnisreiche und akribische Interpretation von Sergiusz Kazmierski, Die Anaximanderauslegung Heideggers und der Anfang des abendländischen Denkens, Nordhausen 2011, S. 198–201.

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2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation

Das Herausgetretensein aus der Fuge annihiliert nicht die Anwesenheit des Anwesenden, sondern durchzieht dieses permanent, sofern es als Anwesendes weilt. Das Anwesende soll nach Heidegger nichtsdestotrotz durch die Freiheit gekennzeichnet sein, entweder seine Zugehörigkeit zur Fuge zu bekennen oder sich der Fügung des Fuges entziehen zu können: Der Spruch sagt eindeutig, das Anwesende sei in der ἀδικία, d. h. aus der Fuge. Das kann jedoch nicht bedeuten, es sei nicht mehr anwesend. Aber es sagt auch nicht nur, das Anwesende sei gelegentlich oder vielleicht hinsichtlich irgendeiner seiner Eigenschaften aus der Fuge. Der Spruch sagt: Das Anwesende ist als das Anwesende, das es ist, aus der Fuge. Zum Anwesen als solchem muß die Fuge gehören samt der Möglichkeit, aus der Fuge zu sein.324

Bevor zu einer Spezifizierung dieser beiden Seinsweisen und ihrer Verhältnisbezüge fortgeschritten werden kann, ist es unabdingbar, γένεσίς und φθορά des Anwesenden innerhalb der Fuge zu erörtern. Das Anwesende, das Heidegger mit dem Terminus des „Je-Weiligen“325 beschreibt, ist durch seine „übergängliche Ankunft in den Weggang“326 charakterisiert. Dies bedeutet nicht, dass das gegenwärtig Anwesende in seinem Hervorgang drei sukzessive Stadien (Ankunft, Übergang, Weggang) durchläuft.327 Stattdessen kann es allein dann aus seiner Herkunft hervorgehen, wenn es sich in den Weggang in das ungegenwärtig Anwesende hält.328 Die Fuge ist jenes Zwi-

Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 354. Ebd., S. 355. Ebd., S. 354–355. Die Entrücktheit der scheinbar suffizienten Gegenwart des nunc stans in die Gewesenheit und in die Zukunft unterstreicht Heidegger auch in den Beiträgen zur Philosophie. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 98, S. 192: „Beständigkeit ist Ausdauer der Entrückung in Gewesenheit und Zukunft, und die ‚Dauer‘ als bloßes Andauern ist erst Folge der Ausdauer. Anwesenheit ist Gegenwart im Sinne der Gesammeltheit der Ausdauer gemäß ihrem Rückzug aus den Entrückungen, die daher verstellt und somit vergessen werden. So entsteht der Schein der Zeit-losigkeit des eigentlich ‚Seienden‘. […] Woher aber nun das Merkwürdige, daß das Seiende solchen Seins (Ewigkeit) als raum- und zeitlos, ja sogar Raum und Zeit überlegen ausgegeben wird? Weil Raum und Zeit in ihrem Wesen verborgen bleiben und, wofern sie zur Bestimmung kommen, dies auf jenem Weg geschieht, der zu ihnen führt, sofern sie selbst als ein in gewisser Weise Seiendes, somit ‚bestimmtes Anwesendes‘ genommen werden.“ 328 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355. Dieser transitive Sinn der Weile wird in der von Karl-Heinz Volkmann-Schluck vorgelegten Anaximander-Interpretation eindrucksvoll bestätigt. Vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der abendländischen Metaphysik, Würzburg 1992, S. 52f.: „Der Satz des Anaximander sagt von dem, was dem Seienden eignet, von der Art seines Seins: Das Hervorgehende ist das Anwesende, indem es vom ersten Schritt in das Anwesen hinein immer auch schon aus der Anwesenheit hinweggeht – Schritt für Schritt. Das Seiende weilt im Weggang. Die Art des Seienden ist demnach das übergängige Weilen in der Anwesenheit. Weggehen heißt also nicht bloß: den Ort wechseln; Weggehen heißt hier: Hinweggehen aus dem Bereich des Anwesenden, Vergehen. Solcher Weggang, solches Vergehen, ist die Art, wie das Seiende währt, d. h. ist. Es geht auf und währt als das Weggehende im Weggang. Wir können diesen Sachverhalt auch so ins Wort bringen: Die Art des Seienden, seine Art zu sein, ist das Ab-wesen. Wenn wir so sprechen, müssen wir das Wort wesen verbal denken: wir dürfen dann nicht Abwesen mit Abwesenheit gleichsetzen. Der Tag geht auf und währt, indem er in die Nacht geht. Sein Währen ist sein Gehen.“ Klaus Held bezieht sich in seiner lebensweltlichen Fundierung der heraklitischen Untersuchung und Kritik der gegensätzlichen Ansichten explizit auf Heideggers Begriff 324 325 326 327

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schen, das in das „zwiefältige Ab-wesen“329 eingelassen ist und von diesem begrenzt wird: „Anwesen ist nach beiden Richtungen in das Abwesen verfugt“.330 Dergestalt scheint die Eingliederung alles Anwesenden in die Fuge unausweichlich besiegelt: Dann ist aber doch das Je-Weilige gerade in der Fuge seines Anwesens und keineswegs, so können wir jetzt sagen, in der Un-Fuge, nicht in der ἀδικία. Allein, der Spruch sagt dies. Er spricht aus der Wesenserfahrung, daß die ἀδικία der Grundzug der ἐόντα ist.331

Entscheidend ist jedoch, dass das jeweils Anwesende sich mit seinem Willen gegen die Verwiesenheit auf das Hinweggehen, d. h. gegen die endliche, im Übergang situierte Dauer seiner Weile, sträuben kann. Das Seiende kann versuchen, das Ergebnis des Hervorganges mitsamt dem gegenwärtigen Anwesen gegenüber dem ausstehenden Abwesen abzuschotten. Heideggers Aufsatz verzichtet zwar auf eine Beschreibung dieses die ἀδικία versinnbildlichenden Vorganges mithilfe von Willensbegriffen. Nichtsdestotrotz schwingt die voluntative Dimension des auf sich beharrenden Egozentrismus eindeutig mit, wenn Heidegger schreibt: Das Je-Weilige west als weilendes in der Fuge, die Anwesen in zwiefaches Abwesen verfugt. Doch als das Anwesende kann das Je-Weilige, gerade es und nur es, zugleich in seiner Weile sich verweilen. Das Angekommene kann gar auf seiner Weile bestehen, einzig um dadurch anwesender zu bleiben im Sinne des Beständigen. Das Je-Weilige beharrt auf seinem Anwesen. Dergestalt nimmt es sich aus seiner übergänglichen Weile heraus. Es spreizt sich in den Eigensinn des Beharrens auf. Es kehrt sich nicht mehr an das andere Anwesende. Es versteift sich, als sei dies das Verweilen, auf die Beständigkeit des Fortbestehens. In der Fuge der Weile wesend, geht das Anwesende aus ihr und ist als das Je-Weilige in der Un-Fuge. Alles Je-Weilige steht in der Un-Fuge.332

Im Anaximander-Aufsatz ist es demnach kein übergreifender Wille zur Macht, der eine Beständigkeit des Partikularen fordert und verfügt, um durch dieses hindurchwirken zu können und sich darin zu bestätigen. Es ist das Vereinzelte selbst, das sich aus einer Ordnung der Welt herauszunehmen sucht, die auf Durchlässigkeit, Endlichkeit und – mit Sein und Zeit gesprochen – auf das Vorlaufen in das Sein zum Tode

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der Weile, um diesen mit Husserls Überlegungen zum Topos des Präsenzfeldes zusammenzuführen, das durch Protention und Retention geprägt ist. Vgl. Held, Heraklit, S. 320: „Diese Weile-Gegenwart wird nun in der Weise als Übergang erfahren, daß die kommende Weile-Gegenwart zunächst nicht als künftig ausstehende und die vergangene zunächst nicht als schon gewesene von der gegenwärtigen Weile schlechthin unterschieden würde; sondern die nächste kommende Weile wird in ihrem Kommen, als bereits in die Gegenwart übergehend und insofern schon zu ihr gehörig und entsprechend die nächstvergangene Weile in ihrem Entschwinden und d. h. als gerade-noch-gegenwärtig miterfahren. Erst aufgrund dieses zur beständigen Gegenwartserfahrung notwendig gehörenden Miterfassens des Ungegenwärtigen als eines gegenwärtigen kann das Ungegenwärtige auch als von der Gegenwart unterschieden erfaßt, d. h. als Ausstehendes und Vergangenes erwartet bzw. erinnert werden. Ursprünglich wird die eine beständige Weile-Gegenwart erfahren, deren Vollzug gerade der Vollzug ihrer Übergängigkeit, d. h. das Miterfassen des Kommens und Gehens von ungegenwärtiger Gegenwart ist.“ Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355. Ebd., S. 355. Ebd., S. 355. Ebd., S. 355.

2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation

gegründet ist.333 Die Opposition zu Nietzsche ist unverkennbar, insofern es der Wille zur Selbstverewigung des Einzelnen ist, den Nietzsche mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr gerade forcieren und zum Vehikel unbedingter Lebensbejahung erheben möchte. Hingegen müsste Heidegger diese Konzeption einer Unsterblichkeit im Diesseits als „Eigensinn des Beharrens“334 beurteilen. Eine weitere eklatante Differenz zu Nietzsche äußert sich in Heideggers Gewichtung der Verbindung zwischen dem Nihi-

333 Zum Verhältnis zwischen dem Vorlaufen und dem verstehenden Entwurf auf das wahre Seinkönnen vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 262: „Das Sein zum Tode ist Vorlaufen in ein Seinkönnen des Seienden, dessen Seinsart das Vorlaufen selbst ist. Im vorlaufenden Enthüllen dieses Seinkönnens erschließt sich das Dasein ihm selbst hinsichtlich seiner äußersten Möglichkeit. Auf eigenstes Seinkönnen sich entwerfen aber besagt: sich selbst verstehen können im Sein des so enthüllten Seienden: existieren. Das Vorlaufen erweist sich als Möglichkeit des Verstehens des eigensten äußersten Seinkönnens, das heißt als Möglichkeit eigentlicher Existenz.“ Hannah Arendt gebührt das Verdienst, den Anaximander-Aufsatz im Kontext der Denkentwicklung Heideggers verortet zu haben. Außerdem gelingt es Arendt in hervorragender Weise, die in der kryptischen Sprache des AnaximanderAufsatzes verborgenen Variationen früherer Kernthemen Heideggers aufzuspüren und verwandte Figuren im Werk Heideggers zu markieren. Für die vorliegende Arbeit ist besonders relevant, dass Arendt die fundamentale Rolle des Todes und der Endlichkeit im Anaximander-Aufsatz apostrophiert. Indes ist zu hinterfragen, ob Arendts Unterscheidung zwischen der Gegenwartssphäre der Anwesenheit auf der einen Seite und den zwei Abwesenheiten auf der anderen Seite Heideggers Gedanken einer übergänglichen, eben nicht auf die reine Präsenz zu fixierenden Weile gerecht wird. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 419f.: „Im Anaximanderaufsatz kommt das Wort ‚Tod‘ nicht vor, aber der Gedanke ist natürlich deutlich gegenwärtig in dem Gedanken des Lebens zwischen zwei Abwesenheiten, nämlich ehe es mit der Geburt ankommt und nachdem es im Tode dahingeht. Und hier liegt durchaus die theoretische Klärung des Todes als des Ge-birgs für das Wesen des menschlichen Daseins vor, dessen zeitweilige, vergängliche Gegenwart verstanden wird als das Anwesen zwischen zwei Abwesenheiten und als vorübergehender Aufenthalt im Reiche der Irre. Denn die Quelle dieses ‚Irrens‘– und hier wird natürlich erkennbar, in welchem Maße es sich bloß um eine Variation von Heideggers grundlegenden und fortbestehenden philosophischen Überzeugungen handelt – ist die Tatsache, daß ein Seiendes, das zwischen zwei Abwesenheiten ‚eine Weile in der Gegenwart anwest‘ und seine eigene Gegenwart transzendieren kann, eigentlich nur ‚gegenwärtig ist, insofern es in das Ungegenwärtige sich gehören läßt.‘ Dazu hat es eine Möglichkeit, indem es das epochale Moment am Übergang zwischen den Epochen erfaßt, wenn die historischen Schicksale sich wandeln und die Grundwahrheit der nächsten Epoche der Irre sich dem Denken eröffnet. Auch der Wille als der Zerstörer wird hier nicht beim Namen genannt; er ist der ‚Eigensinn des Beharrens‘, der ‚auf seinem Anwesen beharrt‘, der ungehörige Drang der Menschen, der sich ‚auf die Beständigkeit des Fortbestehens versteift‘. Und so irren die Menschen nicht bloß: ‚Das Weilen als Beharren ist … der Aufstand in das bloße Andauern.‘ Der Aufstand richtet sich gegen die ‚Ordnung‘ (dike); er schafft die ‚Unordnung‘ (ἀδικία), die das ‚Reich der Irre‘ erfüllt.“ Auffällig ist, dass Arendt die Transzendierung der Gegenwart, die vom jeweils Anwesenden vollzogen werden kann, nicht an die Anerkennung des Anderen oder an die durch das Sein erzwungene ‚Verwindung des Unfugs‘ bindet. Stattdessen integriert sie ein genuin seinsgeschichtliches Moment, indem sie die (gemäß Heideggers Narrativ) nur wenigen Denkern mögliche Thematisierung des Epochenüberganges als Überwindungspotential des ‚Eigensinn[s] des Beharrens‘ und der diesen tragenden ‚Sphäre der Irre‘ hervorhebt. Erhellend ist des Weiteren, dass Arendt – hierin sowohl mit Heideggers Diagnose der neuzeitlichen Willensmetaphysik als auch mit Schopenhauers pessimistischem Voluntarismus übereinstimmend – den im Anaximander-Aufsatz genannten Drang der Beständigung als zerstörerischen ‚Willen‘ dekodiert. Nichtsdestotrotz ist Arendts These etwas zu relativieren, dass der ‚Aufstand in das bloße Andauern‘ den Unfug (der von Arendt terminologisch als ‚Unordnung‘ gefasst wird, obgleich sich dieser Ausdruck bei Heidegger nicht in dieser Verwendung findet) erschaffe. Vgl. dazu in der vorliegenden Arbeit die beiden Exkurse zu Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander. 334 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

lismus und dem Sinngehalt des Spruches des Anaximander. Für Schopenhauer und für Nietzsche fungiert er als der tiefe Urspruch einer nihilistischen Daseinserfahrung, weil der Anaximander-Spruch zum einen die destruktive Flüchtigkeit des Lebens und die sinnlose Verschlingung alles Seienden im ἄπειρον akzentuiert.335 Stets muss der „Ordnung der Zeit“ Folge geleistet werden, um Platz für nachkommende Lebewesen zu schaffen, die das gleiche unbefriedigende Schicksal teilen. Zum anderen demonstriert der Spruch für Schopenhauer und für den frühen Nietzsche, dass diese Unterwerfung unter die Ordnung der Zeit das hamartiologische Begleitelement einer Bestrafung repräsentiert.336 Innerhalb der Sphäre der ruinösen Endlichkeit muss die moralische Daseinsschuld abgebüßt werden, die durch die Individuation kontrahiert wurde. Erst im irreversiblen Akt des Todes kann die mit der Geburt aufgeladene, nach Schopenhauer aus der Willensbejahung resultierende Schuld gänzlich getilgt werden. Aufgrund der gegenüber Schopenhauer und Nietzsche diametral umgekehrten Transformation des Deutungszieles manifestiert sich für Heidegger – wenn überhaupt – „das Pessimistische der griechischen Seinserfahrung, um nicht zu sagen das Nihilistische“337 gerade nicht in der transitiven, die „Ungerechtigkeit der Dinge“338 ausweisenden Verfasstheit des Geschehens. Konträr dazu könnten die nihilistischen Potentiale der heideggerschen Anaximander-Deutung darin kulminieren, dass jedem Anwesenden die Fähigkeit zugesprochen wird, sich eigenwillentlich auf die eigene Persistenz zu kaprizieren und die Existenz der anderen Lebewesen zu annihilieren.339

335 Vgl. Lore Hühn, Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Lichte der Kritik Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos, in: Günter Figal (Hrsg.), Interpretationen der Wahrheit, Tübingen 2002, S. 143–181. 336 Vgl. zu diesem Motiv der Bestrafung besonders Georgia Apostolopoulou, Schopenhauers Einfluß auf Nietzsches Verständnis des Anaximander, in: Wolfgang Schirmacher (Hrsg.), Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung. Festschrift für Arthur Hübscher, Stuttgart 1982, S. 261–270. 337 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355. 338 Diese für Schopenhauer und Nietzsche wichtige Auffassung der Illegitimität des Seienden wird von Heidegger als „gedankenlos hingesagte“ Überlegung (ebd., S. 356) verworfen. 339 Hannah Arendt interpretiert die im Anaximander-Aufsatz exponierte Variante des Unfugs als Ausdruck einer generellen Kritik Heideggers am Selbsterhaltungstrieb der Lebewesen. Sie parallelisiert diese lapsarische Komponente mit Goethes Gedicht ‚Eins und Alles‘, demgemäß sich alles Seiende notwendigerweise ins Nichts fortbewegen muss, insofern es sich in seinem endlichen Sein zu bewahren intendiert. Arendts Lesart des Anaximander-Aufsatzes rückt Heidegger in eine frappierende Nähe zu Schopenhauer. Wie allerdings sowohl im ersten als auch im zweiten Exkurs dieser Arbeit gezeigt werden soll, kann für kein Stadium in Heideggers Anaximander-Auseinandersetzung die These geltend gemacht werden, dass er den Selbsterhaltungswillen als solchen kritisiere und diesen gar als ‚willentlichen Aufstand gegen die Ordnung‘ begreife. Stattdessen lehnt Heidegger den in der Gestalt des Unfuges reüssierenden Selbsterhaltungswillen nur dann ab, wenn sich dieser vollständig in zeitenthobene Grenzen einzuschließen gedenkt und dem eigenen Dasein eine ewig fortdauernde Beständigkeit verleihen möchte. Dies soll im zweiten Exkurs anhand von Heideggers AnaximanderExegese aus der Grundbegriffe-Vorlesung verdeutlicht werden. Zu Arendts schöpferischer und fruchtbringender Auslegung des heideggerschen Anaximander-Aufsatzes und zur Thematik des hybriden Eigenwillens vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 421: „Doch ob wir nun darin eine Variante oder nur eine Variation desselben Themas erblicken, Heideggers Kritik des Selbsterhaltungstriebs (der allen Lebewesen gemeinsam ist) als eines willentlichen Aufstands gegen die ‚Ordnung‘ der

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2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation

Vor diesem Hintergrund erscheint Heideggers vorläufige Definition der „Un-Fuge“ als existenzbegleitendes Reservoir des Je-weiligen berechtigt: Alles Je-weilige steht in der Un-Fuge. Zum Anwesen des Anwesenden, zum ἐὸν der ἐόντα, gehört die ἀδικία. Dann wäre dieses, in der Un-Fuge zu stehen, das Wesen alles Anwesenden. So käme im frühen Spruch des Denkens das Pessimistische der griechischen Seinserfahrung, um nicht zu sagen das Nihilistische, zum Vorschein.340

Heideggers Argumentationsstrategie ist im weiteren Verlauf von der Intention geprägt, zuerst den Vorrang des Un-fuges durch den Primat der mit dem Fug identifizierten δίκη abzulösen. Darauf aufbauend, sucht Heidegger den Fug zuletzt aus der Freigabe des Seins zu erschließen. Um die nihilistischen Konnotationen endgültig zu entkräften, zieht Heidegger den Kontext desjenigen Satzteils heran, in dem die „Ungerechtigkeit“ exponiert wird: „διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην… τῆς ἀδικίας“.341 Dieses διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην wird bei Nietzsche mit „sie müssen Buße zahlen“ übertragen und von Diels mit „sie zahlen Strafe“ rekapituliert. Die Dinge müssen jeweils Buße „für ihre Ungerechtigkeit“342 zahlen, weil sie zuvor eine schwerwiegende Schuld auf sich geladen haben, für die sie konsequent bestraft werden. Das von Diels und Nietzsche porträtierte, juridische Beurteilungsszenario von Strafe und Buße, Schuld und Sühne wird von Heidegger durch eine wörtliche und zugleich kommentierende, im eigenen Interpretationshorizont angesiedelte Übersetzung der thematischen Textstelle revidiert: Er übersetzt διδόναι δίκην… mit „Fuge gibt“343 (statt: „Gerechtigkeit gibt“), wobei es das jeweilig Anwesende sein soll, das diese Fuge „im Hinblick auf die Un-Fuge“344 zuteilt. Damit schwächt Heidegger die oben zugestandene „Möglichkeit“345 des Fallens in die Un-fuge ab. Es ist nicht zu leugnen, dass Heidegger konzediert, das ungefügige Anwesende könne „ohne und gegen die Fuge der Weile“346, d. h. gegen das normale Verlaufsgesetz inmitten der Fuge agieren. Parallel insistiert Heidegger aber darauf, dass sich das Anwesende dabei nicht in der Un-Fuge „verliert“.347 Dadurch wird die Un-fuge gewissermaßen entsubstantialisiert, da sie – anders als das gegenwärtige Anwesen – kein unverzichtbares Strukturmoment der übergänglichen Weile selbst ist. Die Un-fuge wird von Heidegger nun als ein unter dem Primat der Gegenwart geschehender Verkehrungsmodus beleuchtet. Das auf der perpetuierten Dauerhaftigkeit seiner Existenz beharrende Seiende vermag keine dauerhafte Gegenordnung zu errichten, sondern muss die Insurrektionskraft aus der vorausgesetzten Ordnung selbst

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Schöpfung als solcher ist in der Ideengeschichte etwas so Seltenes, daß ich hier die einzige mir bekannte ähnliche Äußerung anführen möchte, drei wenig bekannte Zeilen Goethes aus einem um 1821 entstandenen Gedicht mit dem Titel ‚Eins und Alles‘: ‚Das Ewige regt sich fort in allen:/ Denn alles muß in Nichts zerfallen, / Wenn es im Sein beharren will.‘“ Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355. Vgl. ebd., S. 356. Vgl. ebd., S. 356. Ebd., S. 356. Ebd., S. 356. Ebd., S. 354. Ebd., S. 356. Vgl. ebd., S. 356: „Der Spruch sagt nicht, das jeweilig Anwesende verliere sich in die Un-Fuge.“

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gewinnen. Auf dieser Erkenntnisbasis befestigt Heidegger die Fuge und die Un-fuge in terminologischer Hinsicht: Was dem Anwesenden gehört, ist die Fuge seiner Weile, die es in Herkunft und Hingang verfugt. In der Fuge behält das Je-Weilige seine Weile. So trachtet es nicht weg in die UnFuge des bloßen Beharrens. Die Fuge gehört zum Je-Weiligen, das in die Fuge gehört. Die Fuge ist der Fug. Δίκη, aus dem Sein als Anwesen gedacht, ist der fugend-fügende Fug. Ἀδικία, die Un-Fuge, ist der Un-fug.348

Obwohl die Ungerechtigkeit der Selbstaufspreizung in der Immanenz der Fuge verortet werden soll, avanciert die Fuge nicht zu einer eigenen Macht. Die Fuge besitzt nicht den Status einer metaphysischen Hypostase. In einem reziproken Anerkennungsprozess wird die Kohäsionsgestalt der Fuge allererst durch das in der Un-Fuge befindliche Anwesende gestiftet, das sich zunächst in dem Eigensinn des Beharrens hält („Das Weilen als Beharren ist, von der Fuge der Weile her gedacht, der Aufstand in das bloße Andauern“.349). Dieses stiftende Geben muss demnach als schützendes Einräumen des Entfaltungsfeldes begriffen werden, das dem jeweils Anderen wahrhaft zusteht. Bei einer kritischen Sichtung des bisherigen Gedankenganges wird transparent: Einerseits kann sich die Un-Fuge, der Aufstand gegen die „Fuge der Weile“350, nur innerhalb und im Ausgang von der Fuge vollziehen. Diese Abhängigkeit und Nachrangigkeit der Un-Fuge indiziert Heidegger durch eindeutig anmutende Formulierungen wie etwa „im Anwesen selbst, das je das Anwesende in die Gegend der Unverborgenheit ver-weilt, steht die Beständigung auf “351 oder auch „in der Fuge der Weile wesend, geht das Anwesende aus ihr und ist als das Je-Weilige in der Un-Fuge. Alles JeWeilige steht in der Un-Fuge“.352 Andererseits soll der Fug erst durch den relationalen, gewährenden Akt des zuvor noch ungefügten, in der ἀδικία situierten Anwesenden generiert werden. Offenkundig ist ein handfester Widerspruch entstanden. Dieser scheint sich nur auflösen zu lassen, wenn allein der Fug mit der δίκη identifiziert wird, wohingegen das gegenwärtige Anwesen der jeweilig Anwesenden diesseits von Fug und Un-Fug verortet wird. Es wird sich zeigen, dass τὸ χρεών die Aufgabe erfüllen wird, das Anwesende in die übergängliche, zunächst unter der Ägide des gegenwärtigen Anwesens koordinierte „Fuge der Weile“353 hervorzubringen. Erst innerhalb der Fuge der Weile wird das Anwesende in die Fundamentalopposition von Fug und Un-Fuge manövriert. Heidegger lässt den skizzierten Widerspruch an der neuralgischen Stelle schlichtweg verschwinden. Er etabliert ein Wechselverhältnis, in dem er die Un-Fuge als im Fug immer schon bewältigte und überwundene, nur noch retrospektiv auf-

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Ebd., S. 357. Ebd., S. 356. Ebd., S. 355. Ebd., S. 356. Ebd., S. 355. Ebd., S. 356.

2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation

scheinende Möglichkeit des Abfalls beurteilt.354 Während Heidegger kurz zuvor explizierte, alles Anwesende existiere und wese als Anwesendes in der Un-Fuge, wird nun die mit dem Fug im Einklang stehende, übergängliche Weile als Normalfall rehabilitiert: Das je-weilig Anwesende west an, insofern es weilt, weilend ent-steht und ver-geht, weilend die Fuge des Übergangs aus Herkunft zu Hingang besteht. Dieses je weilende Bestehen des Übergangs ist die fügliche Beständigkeit des Anwesenden. Sie besteht gerade nicht auf dem bloßen Beharren. Sie fällt der Un-fuge nicht anheim. Sie verwindet den Un-Fug. Weilend seine Weile läßt das Je-weilige seinem Wesen als dem Anwesen den Fug gehören. 354 In diesem Gedanken einer durch das Sein selbst verfügten Unterbindung des Unfugs und in der Auslegung des weilenden Überganges als letztlich unanfechtbares ‚Wesen der Anwesung‘ lässt sich ein deutlicher Unterschied zu Heideggers erster Schelling-Vorlesung aus dem Sommersemester 1936 perzipieren. In der Schelling-Vorlesung von 1936 insistiert Heidegger nämlich mit Nachdruck auf der unauflöslichen Mitanwesenheit des Bösen (das als Verkehrung der göttlichen Ordnung zugunsten der Pleonexie der Selbstsucht mit dem Unfug parallelisiert werden kann) im Guten (das sich als freiwillige Bestätigung der Einordnung des Partikularwillens in den Universalwillen mit dem Fug vergleichen lässt). Auch umgekehrt gilt, dass ein Widerschein des Guten noch in der höchsten Ausweitung des Bösen bewahrt wird. Außerdem begreift Heidegger Gut und Böse 1936 nicht als durch das Sein kontrollierte Ausgestaltungsmodi der auf das Beharren drängenden Anwesenheit, sondern knüpft ihre Entschiedenheit – im Einklang mit Schelling – an die intelligible Selbstwahl des Menschen. Zum konstitutiven Wechselbezug zwischen Gutem und Bösem vgl. Heidegger, GA 42, S. 271f.: „Als Wirkliches ist das Böse eine Entschiedenheit der Freiheit, und zwar das Entschiedensein zu jener Einheit von Grund und Existenz, in der der selbstische Grund, die Eigensucht, sich an die Stelle des Allwillens setzt. Die Entschiedenheit zur Herrschaft einer solchen Verkehrung muß aber – wie alles Herrschenwollen – jederzeit sich übersteigen, um sich in der Herrschaft zu erhalten. Im Bösesein ist so der Hunger der Selbstsucht, der in der Gier, alles zu sein, immer mehr alle Bande löst und ins Nichtige zerfällt. Eine solche Herrschaft der Bosheit ist nichts Negatives, kein Unvermögen und bloßes Fehlgehen; daher erweckt sie auch nicht nur die Stimmung des bloßen Mißfallens und des Bedauerns, sondern kraft ihrer freilich verkehrten Größe erfüllt sie mit Schrecken. Nur Geistiges ist schrecklich. Aber noch ruht auch in dieser Selbstsucht als einer Verkehrung das darin Verkehrte: die Sehnsucht, sofern sie im Einklang mit der Existenz geblieben; sie ist in einer fernen Erinnerung da und damit das Absolute selbst in seiner ursprünglichen Einheit, das Gute als es selbst. Und sogar in der Schrecklichkeit des Bösen geschieht noch eine wesentliche Offenbarung des Absoluten; denn die Selbstsucht der Bosheit gibt in ihrer Sucht des Sichselbstverzehrens einen Widerschein jenes anfänglichen Grundes in Gott, vor aller Existenz. Wie dieser Grund nämlich sein will, ganz in sich zurückstrebend für sich, dieses ist, nach Schelling, das Schreckliche in Gott. Entsprechend zeigt nun die Gestalt des Guten als Weise der Entschiedenheit zugleich die Erscheinung des Bösen, und zwar am meisten gerade dort, wo die Entschiedenheit zum Guten in ihrer Entscheidung so weit ausgreift, daß sie sich aus dem Absoluten selbst zu diesem als solchem entscheidet. Diese höchsten Formen der Entscheidung sind der Enthusiasmus, der Heroismus und der Glaube. Ihre Formen sind mannigfaltig und können hier nicht dargestellt werden. Immer aber ist wesentlich in jeder Form eigentlicher Entscheidung das zugrundeliegende und sie durchstrahlende Wissen. […] Aber all dieses nicht als ein ungezwungener, sich selbst nur ausfaltender und erfüllender Drang, sondern in der Schärfe des Wissens vom Widerstrebenden, der Zwietracht und Eigensucht, des Herabzerrenden und alles Umdrehenden, aus dem Wissen um die wesenhafte Anwesenheit der Bosheit. Je größer die Gestalten des Guten und des Bösen, um so näher und bedrängender darin die Gegengestalt des Bösen und des Guten.“ Gleichwohl kann Heideggers Betonung der Kopräsenz des Bösen im Guten – mitsamt der im Rekurs auf Schellings Freiheitsschrift entwickelten These einer irreversiblen Wirksamkeit des Hanges zum Bösen – insofern dem Grundgehalt seiner Anaximander-Auslegung angenähert werden, als sich der Unfug nach Heidegger niemals gänzlich überwinden lässt und sich jedes Anwesende notwendigerweise mit der verführerischen Tendenz zur perennierenden Beständigkeit konfrontiert sieht.

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Das διδόναι nennt dieses Gehörenlassen. Nicht in der ἀδικία für sich genommen, nicht im Un-Fug besteht das Anwesen des jeweilig Anwesenden, sondern im διδόναι δίκην… τῆς ἀδικίας, darin, daß das Anwesende je und je den Fug gehören lässt.355

Heideggers normative Qualifizierung des Fuges löst zwar den erwähnten Widerspruch nicht, bietet aber eine in sich konsistente Darstellung. In dieser neuen Deutungsversion wird die Un-Fuge nicht allein durch die nunmehr mit dem „weilenden Bestehen des Übergangs“356 gleichgesetzte Verwindung zurückgelassen. Auch die vordem aus und inmitten der Verwurzelung in der Un-Fuge zu leistende Bewegung wechselseitiger Anerkennung, die den Fug konturieren sollte, wird als Deskriptionsansatz vorübergehend verworfen. Die Akzeptanz der zugestandenen eigenen Weile, die nicht auf andere übergreift und sich nicht auf deren Kosten zu prolongieren sucht, konvergiert in diesem Textstadium mit dem freiwilligen Gehörenlassen des Einzelnen in den Fug. Das jeweils Anwesende unterwirft sich der Achtung der generellen Gesetzmäßigkeit des gegenwärtigen Anwesens, das inmitten der abwesenden Zwiefalt von Herkunft und Hinweggang aufgespannt wird. Gegenüber Nietzsches „sie müssen Buße zahlen für ihre Ungerechtigkeit“ votiert Heidegger für eine neue Übersetzungsgestalt des Passus διδόναι…αὐτὰ δίκην…τῆς ἀδικίας. Diese lautet: „gehören lassen sie, die Selbigen, Fug (im Verwinden) des Un-Fugs.“357

Dieser Prozess ist nach Heidegger weder pessimistisch noch optimistisch zu beurteilen. Heidegger charakterisiert den Vollzug der Verwindung des Unfugs vielmehr als „tragisch“.358 Neben diesen äußeren Beurteilungskriterien hat sich zwischen Nietzsche und Heidegger eine einschneidende Wandlung hinsichtlich des Einflussgerades des jeweils Anwesenden auf die Δίκη ereignet. Dass die Dinge innerhalb des (bei Nietzsche keineswegs mit der Δίκη gleichzusetzenden) Ordnungszusammenhanges zu verorten sind, verdanken sie gemäß dem Anaximander-Abschnitt von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen einer quasi pränatalen Verschuldung, die auf der Bühne des Werdens getilgt wird.359 Die Dinge bleiben diesem Destruktionsgeschehen gänzlich ausgeliefert, da sie der ehernen Ordnung der Zeit unterworfen sind und einem über sie verhängten Fatum zu gehorchen haben. Wahrhaft tragisch ist der Satz des Anaximander in der Perspektive von Nietzsches Deutung, weil jedes Lebewesen den Frevel der Werdensbejahung auf sich nehmen musste, um überhaupt leben zu können. Die anmaßende Ungerechtigkeit, welche die Lebewesen aus dem einheitlichen Sein des ἄπειρον in die scheinhafte Vielheit des Werdens transponiert, wird zur Bedingung des Lebensanfanges und kann als solche nicht in die freie Verantwortung des durch sie entstehenden Lebewesens fallen. Dennoch wird das sich Vereinzelnde für eine schuldlose Schuld zur Rechenschaft gezogen. In Nietzsches Anaximander-Deutung figuriert Δίκη als strafende Gerechtigkeit des 355 356 357 358 359

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Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 357. Vgl. ebd., S. 357. Ebd., S. 357. Ebd., S. 357. Heidegger weicht der Frage, worin das Tragische liege, an dieser Stelle aus. Vgl. dazu das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit.

2.3. Heideggers Zurückweisung einer pessimistischen Konnotation

erbarmungslosen Zeitlaufs. Sie reüssiert als anonyme Richterin360 und als Repräsentationsart der Schicksalszeit, die sich von der Ungerechtigkeit der Dinge nährt und das kosmische Gleichgewicht restituiert. In Heideggers Anaximander-Aufsatz wandelt sich die δίκη von der umfassenden Ordnungseinheit zum relational evozierten, kollektiven Einwilligungsakt in das Zugeschickte. Die bei Nietzsche zu konstatierende Unverfügbarkeit der Δίκη-Nemesis wird bei Heidegger in eine Verhaltensdisposition des jeweils Anwesenden, in ein Ethos der Anerkennung, transformiert. Der Fug wird durch die je aufs Neue und von jedem Einzelnen zu gewährleistende Überwindung der selbstischen Tendenz auf permanente Beständigung konturiert. Sich dem Gesetz der Weile unterordnend, lässt sich das gegenwärtig Anwesende in das „ungegenwärtige… gehören“.361 Dass nicht nur der Verhältnisbezug der je-weilig Anwesenden zum Fug, sondern auch ihre reziproke Positionierung zueinander für Heidegger wesentlich zentraler ist als für Nietzsche, bewahrheitet sich schon in der einfachen philologischen Beobachtung, dass Nietzsche das ἀλλήλοις362 „in der Übersetzung übergeht“.363 Der zweite Satzteil lautet im Ganzen: διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας.364 Sowohl Diels als auch Nietzsche ließen sich nach Heidegger dazu verleiten, διδόναι mit „zahlen“ zu übersetzen, weil sie τίσις mit „Buße“365 wiedergaben, sodass die Dinge zu einflusslosen Trägern einer ethisch-transzendentalen Schuld verurteilt werden: „Der Gerichtshof ist vollständig, zumal es an der Ungerechtigkeit nicht mangelt, von der freilich niemand Rechtes zu sagen weiß, worin sie bestehen soll.“366

Demgegenüber weist Heidegger auf den Zusammenhang zwischen τίσις und dem Gesichtspunkt des „Schätzens“367 hin. Im Schätzen wird das Andere geachtet und als das in seiner Valenz bestimmte und Abgeschätzte in einem adäquaten Handeln berück360 Dieses Vermögen des unerbittlichen Richtens wird der Gerechtigkeit auch im sechsten Abschnitt der Historienschrift attribuiert; allerdings versteht Nietzsche die Gerechtigkeit dort explizit als höchste menschliche Tugend. Vgl. Nietzsche, Historienschrift, KSA 1, S. 286: „Wahrlich, niemand hat in höherem Grade einen Anspruch auf unsere Verehrung als der, welcher den Trieb und die Kraft zur Gerechtigkeit besitzt. Denn in ihr vereinigen und verbergen sich die höchsten und seltensten Tugenden wie in einem unergründlichen Meere, das von allen Seiten Ströme empfängt und in sich verschlingt. Die Hand des Gerechten, der Gericht zu halten befugt ist, erzittert nicht mehr, wenn sie die Wage hält; unerbittlich gegen sich selbst legt er Gewicht auf Gewicht, sein Auge trübt sich nicht, wenn die Wagschalen steigen und sinken, und seine Stimme klingt weder hart noch gebrochen, wenn er das Urtheil verkündet.“ 361 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 357. 362 Kazmierski ist vollkommen beizupflichten, wenn er die gewichtige Aussagekraft der Relationsbestimmung ἀλλήλοις in Heideggers Auseinandersetzung mit dem Spruch des Anaximander hervorstreicht. Vgl. Sergiusz Kazmierski, Die Anaximanderauslegung Heideggers und der Anfang des abendländischen Denkens, S. 204–210. 363 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 358. 364 Vgl. ebd., S. 358. 365 Vgl. ebd., S. 358. 366 Ebd.., S. 358. 367 Vgl. ebd., S. 358.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

sichtigt. Das Wort τίσις weist zwei semantische Abzweigungen auf. Im Falle einer destruktiven und eigenwilligen Handlung ist es durchaus mit der „Buße“368 gleichbedeutend, zu der sich der Einzelne gegenüber dem Geschätzten verpflichtet fühlt, um die begangene Ungerechtigkeit abzuleisten. Im freigebigen Handeln manifestiert sich das Schätzen hingegen in der „Wohltat“369, die von vornherein Rücksicht auf den Anderen nimmt. Im Rahmen der Erläuterung des Wortes τίσις ist eine erhellende Passage situiert, die aufgrund der Verflechtung der beiden konkurrierenden Deutungsmuster – der Präeminenz der δίκη opponiert das Übergewicht der substantiell interpretierten ἀδικία – zunächst rätselhaft wirkt. Zu Beginn des Anaximander-Aufsatzes hatte Heidegger betont, dass die je-weilig Anwesenden in die offene Möglichkeit der Wahl zwischen der harmonischen Einfügung in die Weile des Übergangs auf der einen Seite und den beharrenden Aufstand des Selbstverewigungswillens auf der anderen Seite geworfen sind. Wie zu zeigen ist, ruft Heidegger diese Option der freiheitlichen Präferenzdisktinktion im späteren Textverlauf erneut auf. Daraufhin traf Heidegger eine erste Schwerpunktgewichtung, indem er die ἀδικία als Grundzug des Anwesenden apostrophierte. Dieser Supremat der ἀδικία wurde schließlich zugunsten des weilenden Bestehens des Übergangs abgelöst. Die weilende Einwilligung in den Übergang zum Weggang hat den Un-Fug nach Heidegger je schon verwunden, indem das Anwesende sein – verbal verstandenes – Wesen durch den Fug dirigieren lässt.

2.4. Die ambivalente Verbindung zwischen der ‚Sucht des Beharrens‘ und der wechselseitigen Rücksichtnahme innerhalb des Anwesenden im Ganzen In der folgenden Textstelle nimmt Heidegger die anfänglich geäußerten, ambivalent erscheinenden Bestimmungen auf, wonach alles Seiende zwar in der Un-Fuge zu lokalisieren sei, sich jedoch nicht in dieser verliere: Insofern die Je-Weiligen weilend verharren, folgen sie verharrend zugleich der Neigung, in solchem Verharren zu beharren und gar auf ihm zu beharren. Sie versteifen sich auf das beständige Andauern und kehren sich nicht an die δίκη, den Fug der Weile. Doch dadurch spreizt sich auch schon jedes Weilige auf gegen das Andere. Keines achtet auf das weilige Wesen des Anderen. Die Je-Weiligen sind gegen einander rücksichtslos, jedes je aus der im weilenden Anwesen selbst waltenden und von ihm nahegelegten Sucht des Beharrens. Darum lösen sich die Je-Weiligen nicht in die bloße Rücksichtslosigkeit auf. Diese selbst drängt sie in das Beharren, so daß sie noch anwesen als Anwesende. Das Anwesende im Ganzen zerstückt sich nicht in das nur rücksichtslos Vereinzelte und zerstreut sich nicht in das Bestandlose. Vielmehr, so sagt der Spruch jetzt: διδόναι…τίσιν ἀλλήλοις sie, die Je-Weiligen lassen eines dem anderen gehören: die Rücksicht aufeinander.370

368 Ebd., S. 359. 369 Ebd., S. 359. 370 Ebd., S. 359.

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2.4. Die ambivalente Verbindung zwischen der ‚Sucht des Beharrens‘ und der wechselseitigen Rücksichtnahme

Der Zustand der vollständigen Autozentriertheit entwickelt sich in diesem Modell innerhalb des Verharrens in der Weile, die nach präsenzontologischer Maßgabe verfestigt wird. Es scheint sich die oben stipulierte These zu bestätigen, dass Fug und UnFug erst aus der Einwilligungsbereitschaft der Menschen und der Dinge entspringen und keine substantiell zugrunde liegenden Strukturen etablieren. Die Dinge sind dem Fug somit nicht per se und von vornherein inhärent, sondern aktivieren diesen in ihrer Dezision. Dieser wegweisenden Entscheidung ist allerdings keine Indifferenzfreiheit vorgelagert. Stattdessen wird eine eindeutige Prädetermination durch die innere Verfasstheit der sich erhalten wollenden, die jeweilig Anwesenden in die eigene Befestigungstendenz einbettenden Anwesenheit evoziert: Wie Heidegger schon in Sein und Zeit herausgearbeitet hatte, ist das Verfallen an die Un-Fuge, das mit dem Ausweichen vor der Endlichkeit371 und mit der von Seiten des Daseins bevorzugten Konzeption der Zeit als eine endlose Dauer suggerierende Linie372 parallelisiert werden kann, der zunächst und zumeist zu erkennende Modus. Während das Verfallen in Sein und Zeit durch den Willen einer Überdeckung des „Lastcharakters des Daseins“373 motiviert ist, so wird das Verfallen an die Un-Fuge im Anaximander-Aufsatz durch das allgemeine Merkmalsgefüge des „weilenden Anwesens“374 bestärkt. Deswegen kann von einem natürlichen Hang zum Aufstand gegen die δίκη gesprochen werden. Die Grundbedingung der Insistenz auf dem „beständigen Andauern“,375 das sich von der Gerechtigkeit der Zeit abwendet, bildet das Eingelassensein der Menschen 371 Zu den subtilen Verdrängungsmechanismen des jemeinigen Todes in der Öffentlichkeit des ‚Man‘ vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 51, S. 253: „‚Der Tod‘ begegnet als bekanntes innerweltlich vorkommendes Ereignis. Als solches bleibt er in der für das alltäglich Begegnende charakteristischen Unauffälligkeit. Das Man hat für dieses Ereignis auch schon eine Auslegung gesichert. Die ausgesprochene oder auch meist verhaltene ‚flüchtige‘ Rede darüber will sagen: man stirbt am Ende auch einmal, aber zunächst bleibt man selbst unbetroffen. Die Analyse des ‚man stirbt‘ enthüllt unzweideutig die Seinsart des alltäglichen Seins zum Tode. Dieser wird in solcher Rede verstanden als ein unbestimmtes Etwas, das allererst irgendwoher eintreffen muß, zunächst aber für einen selbst noch nicht vorhanden und daher unbedrohlich ist. Das ‚man stirbt‘ verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öffentliche Daseinsauslegung sagt: ‚man stirbt‘, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich; denn dieses Man ist das Niemand.“ 372 Zur Inversion der Begründungsrichtung zugunsten der ursprünglichen endlichen Zeitlichkeit, aus welcher die unendliche Zeit nach Heidegger allererst deriviert, vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 65, S. 330f.: „Die Versuchung dazu, die Endlichkeit der ursprünglichen und eigentlichen Zukunft und damit der Zeitlichkeit zu übersehen, bzw. sie ‚a priori‘ für unmöglich zu halten, entspringt aus dem ständigen Vordrängen des vulgären Zeitverständnisses. Wenn dieses mit Recht eine endlose Zeit und nur diese kennt, dann ist damit noch nicht erwiesen, daß es diese Zeit und ihre ‚Unendlichkeit‘ auch schon versteht. Was besagt: die Zeit ‚geht weiter‘ und ‚vergeht weiter‘? Was bedeutet das ‚in der Zeit‘ überhaupt und das ‚in‘ und ‚aus der Zukunft‘ im besonderen? In welchem Sinne ist ‚die Zeit‘ endlos? […] Das Problem kann nicht lauten: wie wird die ‚abgeleitete‘ unendliche Zeit, ‚in der‘ das Vorhandene entsteht und vergeht, zur ursprünglichen endlichen Zeitlichkeit, sondern wie entspringt aus der endlichen eigentlichen Zeitlichkeit die uneigentliche, und wie zeitigt diese als uneigentliche aus der endlichen eine un-endliche Zeit? Nur weil die ursprüngliche Zeit endlich ist, kann sich die ‚abgeleitete‘ als un-endliche zeitigen. In der Ordnung der verstehenden Erfassung wird die Endlichkeit der Zeit erst dann völlig sichtbar, wenn die ‚endlose Zeit‘ herausgestellt ist, um ihr gegenübergestellt zu werden.“ 373 Vgl. ebd., § 29, S. 134. 374 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 359. 375 Ebd., S. 359.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

und Dinge in das gegenwärtige Anwesen. Der Zwischenraum und die Anziehungskraft des gegenwärtigen Anwesens selbst sind die maßgeblichen Faktoren, die darauf kapriziert sind, die abwesende Zwiefalt von Vergangenheit und Zukunft zu verdrängen, durch die das jeweils Anwesende seinerseits strukturiert und ermöglicht wird. Intrikat und schwierig wird der oben zitierte Passus, wenn Heidegger einen Umschlag aus der zumeist vorherrschenden Rücksichtslosigkeit, in der sich jedes Anwesende auf den Eigenwillen zur Beständigkeit und Selbsterhaltung zusammenzieht, hin zur gegenseitigen Rücksichtnahme konstruiert. Der fundierende Gegensatz ist offenkundig der von Sein und Nichtsein376: Auch im Falle der vollständigen Verstrickung in eine nahezu solipsistisch anmutende Rücksichtslosigkeit fallen die je-weilig Anwesenden nicht aus dem gegenwärtigen Anwesen in das bestandlose Nichts oder werden aus der Sphäre des Anwesens verbannt, insofern sie sich diesem nicht fügen. Im Gegenteil: Da das gegenwärtige Anwesen selbst intendiert, dem Übergangsweg aus der Herkunft in den Hinweggang die Macht zu entziehen, tritt es nicht in einen Konflikt mit dem Verhalten der je-weilig Anwesenden. Die eigene Rücksichtslosigkeit, in der die einzelnen Dinge das Gesetz der Ganzheit des Anwesens für sich allein besitzen wollen, „drängt sie in das Beharren“377, d. h. es integriert sie in das Anwesen und hält sie in diesem Sein, das in sich übergänglich verfasst ist: Sein ist Anwesung, aber nicht notwendig Beständigung in die fortwährende Beständigkeit. Dann wäre die Beständigkeit gerade das Unwesen der Anwesung, dann brächte die Beständigkeit die Anwesung um ihr Wesenhaftes? Allerdings; denn γένεσίς, Anwesung, meint nicht bloße Anwesenheit, sondern das Hervor- und Aufgehen. Die An-wesung ist ausgezeichnet durch die γένεσίς, den Hervorgang. Das Nur-Anwesen im Sinne der Vorhandenheit hat bereits der Anwesung, dem Hervorgang, eine Grenze gesetzt und so die Anwesung preisgegeben und nimmt ihr die Möglichkeit dessen, was zur Anwesung als dem Hervor-gehen und Auf-gehen gehört, das Zurückgehen und die Entgängnis.378

376 Vgl. zu Heideggers Profilierung des Nichtseyns als zum Sein gehöriges Unwesen und als distinguierender Garant der Andersheit besonders die Aufzeichnung Nr. 146 aus den Beiträgen zur Philosophie, GA 65, Nr. 146, S. 267: „Weil zum Wesen des Seyns das Nicht gehört (die Reife als Kehre im Ereignis; vgl. Der letzte Gott), gehört zum Nicht das Seyn; d. h. das eigentlich Nichtige ist das Nichthafte und keineswegs das bloße ‚Nichts‘, so, wie es nur vorgestellt wird durch die vorstellende Verneinung des Etwas, aufgrund deren man dann sagt: das Nichts ‚ist‘ nicht. Aber das Nichtseyn west und das Seyn west, das Nichtsein west im Unwesen, das Seyn west als nichthaft. Nur weil das Seyn nichthaft west, hat es zu seinem Anderen das Nichtsein. Denn dieses Andere ist das Andere seiner selbst. Als nichthaftes wesend ermöglicht und erzwingt es zugleich Andersheit.“ 377 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 359. 378 Heidegger, GA 51, S. 113. Karl-Heinz Volkmann-Schluck stellt eine direkte Verbindung zwischen der φθορά und der φύσις her, indem er – darin Heideggers Überlegungen zur notwendigen Entgängnis des Seienden folgend – den Erscheinungscharakter des Verschwindens exponiert. Vgl. VolkmannSchluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 53: „Selbst vom Vergehen, von der φθορά, sagt Anaximander, es geschehe; selbst die φθορά ist ein γίγνεσθαι. γίγνεσθαι heißt: hervorgehen ins Erscheinen. – Also auch das Schwinden, das Vergehen als solches, erscheint. Auch das Schwinden ist ein erscheinendes Zum-Vorschein-Kommen, nämlich des Schwindens als solchen. Auch das Schwinden ist φύσις.“

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2.4. Die ambivalente Verbindung zwischen der ‚Sucht des Beharrens‘ und der wechselseitigen Rücksichtnahme

Das Anwesende west nur an im Hervorgang und gerade nicht in der Anwesenheit, die sich in eine Beständigkeit verhärtet hat. Zum Wesen der Anwesung gehört, daß in ihr das ihr mögliche Unwesen der Versteifung in das Beständige verwehrt wird.379

Indes vermag Heideggers Exposition einer transfigurierten, sich im Medium der allgemeinen Pleonexie aufbauenden Einkehrbewegung in das Anwesen nicht gänzlich zu überzeugen. Selbst wenn erstens zugestanden wird, dass eine gänzliche Isolation und eine sich vom All des Seienden lossagende Selbstbegründung eines Anwesenden unmöglich ist, weil dieses unweigerlich von der Energie des beharrungswilligen, übergreifenden und zusammenfügenden Anwesens lebt; und wenn zweitens bejaht wird, dass dadurch eine Relationalität unter der Obhut des Anwesens unumgänglich wird, so bleibt trotzdem unklar, warum die Rücksichtslosigkeit und das Ringen mit der δίκη nicht innerhalb des Horizontes des Anwesens austragen werden können. Die Volte von der anfänglichen Rücksichtslosigkeit hin zur habitualisierten Rücksichtnahme geschieht so abrupt, dass sie der Aufklärung des Existenzkonfliktes nicht dienlich ist. Eine graduelle Differenzierung wird massiv erschwert, weil Heidegger an dieser Stelle mit blockhaften Subsumtionen („das Anwesende im Ganzen“380), simplifizierenden Identifikationen und polaren, nicht zu vermittelnden Gegensätzen operiert. Die mit der Rücksichtslosigkeit gleichzusetzende, beharrende Isolation käme nach Heidegger einer Auflösung in das Nichts gleich. Da diese Dissoziation durch die Kohäsionskraft des Anwesens verhindert wird, in welche gerade die „Sucht des Beharrens“381 unfreiwillig zurückdrängt, bleibt jeder Vereinzelungsversuch eingebunden in die „Wechselwirtschaft“382 und den Gesamthaushalt des Anwesens im Ganzen. Damit ist das jeweilige Anwesende notwendigerweise und immer schon in die Fülle des Seins involviert. Das mit der vollendeten Rücksichtslosigkeit des Vereinzelten assoziierte Nichts weicht endgültig seinem Gegensatz, der wechselseitigen Rücksichtnahme im All des Seienden. In diesem kollektivistischen Ansatz können die Ordnung der Zeit gefährdende Abweichungen und Subversionsbemühungen niemals erfolgreich 379 Heidegger, GA 51, S. 114. Tadashi Otsuru entwickelt eine ausgesprochen luzide Interpretation, weswegen ebenjenes im obigen Zitat genannte, „mögliche Unwesen der Versteifung“, durch das „Wesen der Anwesung“ verwehrt wird. Nach Otsuru fällt die maximierte Vervollkommnung des Unfugs mit der Entgängnis zusammen, weil sich in der höchsten Beständigkeit der Aufstand gegen die anfängliche Verfügung vollendet. Durch die vollständige Loslösung von dieser Verfügung der endlichen Weile beraubt sich das Seiende selbst der Unterstützung durch jene zumessende Kraft, die es im Übergang hielt. Das tragische Moment in Heideggers Anaximander-Auslegung liegt für Otsuru folglich in dem Sachverhalt, dass sich erst in dem Akt der Entgängnis, d. h. im Untergang des jeweils Anwesenden, das wechselseitige Gewähren des Fuges vollziehen kann. Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη, S. 154:„Weil die Anwesung des Anwesenden auf der Beständigung in die Beständigkeit besteht, sucht sie nach dem für sie Endgültigen als ‚Vollendung‘ und findet es in der ‚beständigsten Beständigkeit‘. Weil diese Vollendung zugleich die Vollendung des ‚Unfugs‘ gegen die anfängliche Verfügung ist, ist diese beständigste Beständigung zugleich die ‚Entgängnis‘ im tragischen Sinne des Untergangs. In der Weise erweist sich die Anwesung des Anwesenden als ein ‚Übergang‘ vom Hervorgang in die Entgängnis. In der Entgängnis offenbart sich die anfängliche Verfügung als das eigentlich Waltende im ‚Übergang‘ und dadurch verwindet sie den Unfug, ohne ihn zu beseitigen.‘“ 380 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 359. 381 Ebd., S. 359. 382 Ebd., S. 329.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

sein, obwohl der Impetus zur Abkapselung (die „Sucht des Beharrens“) in der Ordnung selbst wurzelt. Durch den Verzicht auf eine graduelle Abstufung droht die UnFuge ausgeschlossen zu werden, weil jenseits der sich selbst konterkarierenden, nichthaften Rücksichtslosigkeit und der einhegenden Rücksichtnahme keine weitere Verhaltensweise konzediert werden kann. Im ersten Exkurs dieser Arbeit, der zugleich einen Vergleich zwischen Heideggers Anaximander-Interpretationen der Jahre 1932 und 1946 anbahnt, soll die folgende These vertreten werden: In der Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie von 1932 knüpft Heidegger die „Verwindung des Unfugs“ beziehungsweise das wechselseitige Gewähren der Gerechtigkeit in einer ‚aposteriorischen‘ Lesart noch an den Untergang des jeweils Anwesenden, sodass das ungefügte Bestehen auf der eigenen Weile zur konstitutiv-lebensweltlichen Seinsweise des jeweils Anwesenden avanciert. Die jedem Lebewesen eignende ἀδικία einer Insistenz auf der Anwesenheit kann folglich erst durch die Zuweisung der Zeit gebrochen werden, die den Weggang des Seienden vollendet und es immer wieder von neuem verschwinden lässt: „Das Unrecht kommt immer wieder auf, aber es wird je und je verwunden, seitdem und solange Seiendes ist“.383 Demgegenüber sucht Heidegger die Dominanz des Unfugs im Anaximander-Aufsatz von 1946 zurückzustufen, indem er die je schon geschehende, gewissermaßen ‚apriorische‘ Überwindung der verharrenden Prätention des Immer-Weiter zur Ermöglichungsbedingung eines Hervorganges des Seienden in den Bereich der endlichen Weile des Fuges erhebt. Der erste, frühe Deutungsansatz Heideggers stärkt die Zugriffsweite und Macht der Zeit, wohingegen die spätere Auslegung die Hegemonie des χρεών ausbuchstabiert. Diese Prioritätsverlagerung innerhalb des Gefüges der Anaximander-Auslegungen lässt sich durchaus mit Heideggers philosophischem Wandel von der Fundamentalontologie, in der die Zeit den Horizont des Seins bildet, hin zum Seinsdenken parallelisieren, in welchem das Sein die Zeitigungsart der Zeit innerhalb der geschichtlichen Epochen eröffnet.384

383 Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 57. 384 Auch in den Beiträgen zur Philosophie affirmiert Heidegger die Wesensverbindung zwischen der Zeitigung und der Einräumung. Entscheidend ist, dass er den Unterschied zwischen den beiden Freigabearten des Seienden auf die zögernde Versagung zurückgründet, die wiederum aus dem ‚Wesen des Seyns‘ erschlossen wird. Heideggers Kehre zeigt sich folglich darin, dass das Sein in den Beiträgen nicht mehr aus dem Horizont der Zeit gedacht wird, sondern umgekehrt das Sein (mitsamt der φύσις) die Herkunft der Zeit in ihrer Differenz zum Raum stiftet. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 242, S. 384f.: „Woher also die Geschiednis in Zeitigung und Räumung? Aus der Entrückung und Berückung, die grundverschieden sich fordern, aus der Einheit der zögernden Versagung. Woher die Geschiedenheit von Entrückung und Berückung? Aus der zögernden Versagung, und diese das Erwinken als das anfängliche im anderen Anfang. Dieses Wesen des Seyns einzig und einmalig und damit dem innersten Wesen des Seyns genügend; auch φύσις einzig und einmalig. […] Wenn jene Zeitigung und jenes Räumen das ursprüngliche Wesen der Zeit und des Raumes, dann ist deren Herkunft, abgründige, den Ab-grund gründende, aus dem Wesen des Seins sichtbar gemacht. Zeit und Raum (ursprünglich) ‚sind‘ nicht, sondern wesen.“

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2.5. Exkurs I

2.5. Exkurs I : Der Unfug als „Bestehen auf der Umrissenheit gegen die Umrißlosigkeit“ in Heideggers Anaximander-Interpretation von 1932 (GA 35) und der Nexus von φύσις und Zeit Bereits zu Beginn der im Sommersemester 1932 gehaltenen und für die Verortung der Anfangsphase des seinsgeschichtlichen Denkens hochbedeutsamen Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie widmet sich Heidegger dem Originalsatz des Anaximander in einer umfangreichen Interpretation. Dabei hebt er die „Monumentalität“385 der Sinnbestimmtheit des Satzes und die „nächste Nähe des verborgenen Anfangs“386 nachdrücklich hervor. Heidegger legt den Spruch in einer textchronologischen Perspektivierung aus, sodass er sich im § 2 mit dem „ersten Stück des Satzes“387 bis κατὰ τὸ χρεών befasst. Zuvorderst prononciert Heidegger im Abschnitt § 2a) die ontologische Dimension des Spruches, der mit „τὰ ὄντα“388 „das Seiende im Ganzen“389 in den Blick nehme, das nicht mit der „größtmöglichen Summe“390 identifiziert werden dürfe. 1932 baut Heidegger seine Interpretation zunächst nicht auf einer eigenen Übersetzung auf, sondern bezieht sich – wie auch in dem Anaximander-Aufsatz von 1946 – auf die bekannten Übertragungen von Diels und Nietzsche. Anders als in dem 14 Jahre später angefertigten Aufsatz äußert Heidegger im Abschnitt § 2b) keine Zweifel, dass die Worte γένεσίς und φθορά der Ursprungsfassung des Satzes zugeordnet werden können. Heidegger lässt den Satz 1932 nicht erst bei κατὰ τὸ χρεών beginnen. Er votiert für die Richtigkeit der Langfassung, indem er den Anfang des Satzes bei ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς lokalisiert. Außerdem bewertet Heidegger die an der letzten Stelle des Satzes situierte Formulierung „κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν“ nicht als spätere Erläuterung und streicht sie dementsprechend nicht. Die beiden Worte γένεσίς und φθορά haben nach Heidegger insofern eine entscheidende Aussagekraft, als sie die Seinsweise des Seienden im Ganzen erschließen. Heidegger verwahrt sich gegen eine Übersetzung von γένεσίς und φθορά mit „Entstehen“ und „Vergehen“ und wählt stattdessen die Wiedergabe mit „Herkunft und Schwund“.391 Während die Semantik des Entstehens einen (kausalen) Entwicklungszusammenhang suggeriert und das Vergehen an „Vernichtung und Verfall“392 gemahnt, sucht Heidegger mit Hilfe des Wortes „Herkunft“ das „Erscheinen“393 als Hervortreten in die Offenbarkeit zu denken. Dieses „Auftauchen“394 dürfe jedoch nicht neuzeitlich-idealistisch als „Gesehen- und Aufgefaßtwerden“395 definiert oder als Ge-

385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395

Vgl. Heidegger, GA 35, S. 223. Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

genbegriff zum kantischen „Ding an sich“396 missverstanden werden. Stattdessen bezeichne das Erscheinen die „Charakteristik des Geschehens des Seienden als solchen“.397 Heidegger ordnet den Schwund, dessen Verlaufsform schon 1932 als „Verschwinden“398 beschrieben wird, dem Erscheinen unter, da der Schwund allein die Zurücknahme des je schon Erschienenen aus der Sphäre des Sichzeigens expliziere. Im darauffolgenden Abschnitt c) bereitet Heidegger die Einführung des ἄ-πειρον in den Diskussionszusammenhang vor, indem er auf die im Spruch des Anaximander angezeigte Selbigkeit des ἐξ ὧν – εἰς ταῦτα399 referiert: „Das Von-wo-aus und das Dahin des Erscheinens (Verschwindens) ist dasselbe. Das Woher ist das Da-hin und umgekehrt“.400 Weil die im Spruch genannten τὰ ὄντα das Seiende im Ganzen umfassen und dieses mit dem Gesamtbereich des hervorkommenden und verschwindenden Erscheinens gleichzusetzen ist, kann das Woher-Wohin des Erscheinens selbst nicht innerhalb der Grenzen des Seienden situiert werden. Insofern das Woher-Wohin schlechthin vom Seienden unterschieden werden muss und folglich „nicht ein Seiendes, nicht das Seiende ist“401, scheint es als „das Nichts“402 tituliert werden zu müssen: Wenn anders das Woher-Wohin vom Seienden im Ganzen unterschieden bleiben muß, dann geraten wir damit an den Rand des Nichts. Wir dürfen davor nicht ausweichen und müssen vielmehr dies bedenken: wollen wir das Seiende be-greifen, die Griechen sagen begrenzen, in Grenzen legen, dann müssen wir an die Grenze des Seienden und zwar notwendig – und das ist das Nichts. Daher kommt es, daß uns zunächst und auf lange hinaus Jegliches, was über das Seiende gesagt wird, nichts-sagend vorkommt. Es sagt uns nichts, weil wir gewohnt sind, immer nur Seiendes zu vernehmen. Und zu diesem Nichts-sagenden gehört es auch, daß wir zunächst mit dem Satz: das Woher des Erscheinens und das Wohin ist dasselbe, wie wir zu sagen pflegen, nichts anzufangen vermögen.403

Es ist offenkundig, dass Heidegger mit seinem Appell, die Grenzen des Seienden müssten überschritten werden, um das Anwesende im Ganzen begreifen zu können, die Unumgänglichkeit der ontologischen Differenz untermauert, die Wesensnähe von Sein und Nichts signalisiert und auf die Illustration des ἄ-πειρον als „ab-wesendes Anwesen“404 respektive als „das Übermächtige“405 vorausweist. Gemäß der 1932 gewählten, sequentiell-minutiösen Verfahrungsweise klärt Heidegger die inhaltliche Bestimmung des Woher-Wohin in diesem Stadium noch nicht auf. Er konzentriert sich im Abschnitt d) zuerst auf jene Formulierung, die 1946 zum Zentrum seiner Auslegung avancieren wird: κατὰ τὸ χρεών.406 Wie vor ihm Nietzsche, optiert Heidegger in der Vorlesung des Sommersemesters 1932 für die Übersetzung „nach der Notwendig-

396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406

100

Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 228. Ebd., S. 225. Vgl. ebd., S. 9.

2.5. Exkurs I

keit“407, um prohibitiv anzuzeigen, dass das Wechselverhältnis von Erscheinen und Verschwinden in das Woher-Wohin einer strikten Regularität unterworfen ist, keiner emergenten Willkür entsprungen ist und sich nicht „irgendwann einmal so ergeben“408 hat. Bevor er zur Erläuterung des zweiten Satzstückes übergeht, profiliert Heidegger die ontologische Zentralität des ersten Teils. Es wurde bereits transparent, dass das Seiende im Ganzen innerhalb des Erscheinungsgefüges von Herkunft und Schwund durch die Notwendigkeit in dasselbe Woher-Wohin zurückgenommen wird, aus dem es hervorgekommen ist. Da dergestalt die grundgebende Verhaltensweise des Seienden als Seiendes umrandet ist, gelangt Heidegger zu dem Fazit, dass das erste Stück „das Sein des Seienden“ 409 thematisiere. Während das erste Stück des Spruches also die Faktizität des Seiendseins aus der Wechselrelation von Herkunft und Schwund erklärt, sucht Heidegger in der Erörterung des zweiten Teils den Plausibilitätsnachweis zu erbringen, „warum das zuvor Gesagte das Sein des Seienden ausmacht“.410 Demzufolge gewinnt das zweite Satzstück den Status einer den ersten Satz begründenden Ausdifferenzierung der immanenten Konturgebung des Erscheinens. Im Hinblick auf die späteren Stadien in Heideggers Auseinandersetzung mit dem Spruch des Anaximander, ist die 1932 präsentierte Übersetzung des zweiten Satzteils von gewichtigem Interesse: διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας – es gewähren nämlich sie (die Seienden als solche) Fug und Entspruch einander in Rücksicht des Unfugs.411

Die Bedeutung des „Einander“ erläutert Heidegger wie folgt: „Einander – das eine dem anderen und das andere dem einen“.412 Wie im weiteren Fortgang dieses ersten Exkurses anhand des Topos der φύσις bekräftigt werden soll, zielt Heidegger 1932 stärker als im Anaximander-Aufsatz auf eine lebensweltliche Phänomenbewährung des Nexus von Ankunft und Verschwinden ab. Vor jeder Subjekt-Objekt-Beziehung waltet nach Heidegger das allumfassende Hervorgehen der Dinge inmitten des Urphänomens des Erscheinens, das sich aus der habituell erfahrbaren Polarität von Licht und Finsternis beziehungsweise von Tag und Nacht bestimmt: Der Finsternis ist das Licht Gegengeschick, eine Heraufkunft (des Tages) und Schwinden der Nacht und umgekehrt – das ist ein Erscheinen, das die Griechen (vor allen anderen!) in einer unausdenkbar klaren Wucht in der weitesten Weite ihrer Erfahrung stehen hatten. Und nicht minder: Winter und Sommer, Sturm und Stille, Schlaf und Wachen, Jugend und Alter, Geburt und Tod, Ruhm und Schmach, Glanz und Grauen, Fluch und Segen (vgl. Sophokles, Aias, 670f.). Wechselweise weicht das Eine dem Anderen, und dieses Wei-

407 Ebd., S. 9. 408 Ebd., S. 9. 409 Vgl. ebd., S. 10: „In dem Ausspruch des Anaximander über das Seiende im Ganzen wird also vom Sein des Seienden gesprochen.“ 410 Ebd., S. 10. 411 Ebd., S. 10. 412 Ebd., S. 10.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

chen ist jeweils Ankommen oder Schwinden, d. h. das Erscheinen. Das Erscheinen schwingt in solchem Vor- und Gegeneinanderweichen der Her-kunft und des Schwindens.413

Angesichts der phänomenologisch gestützten, ontologischen Grundausrichtung seiner anfänglichen Auslegung des Spruches überrascht es nicht, dass Heidegger eine ethisch-sittliche Assoziation der Worte δίκη, τίσις und ἀδικία – wie auch im Aufsatz von 1946 – vehement zurückweist. Heidegger sieht das dezidierte Verdienst seiner Übersetzung des zweiten Satzstückes darin, mit diesem tradierten Deutungsparadigma gebrochen zu haben: Dieser Weise, wie das Seiende seiend ist, d. h. dem Sein, gibt nun Anaximander die schon angeführte Begründung: Er sagt: die Seienden gewähren einander Fug und Entspruch in Rücksicht auf den Un-fug. Schon durch diese Übersetzung habe ich die seit langem übliche und naheliegende Auslegung dieses Satzes zurückgewiesen. Die Worte δίκη Recht, τίσις Buße, ἀδικία Unrecht weisen auf rechtlich-sittliche, menschliche Verhältnisse. Und meist nimmt man sogar die Worte des Textes noch betonter. Man spricht von Strafe, Vergeltung, Sühne, Ruchlosigkeit, Schuld. Und man wird dem zugeben müssen, daß Anaximander mit diesem Satz, wonach ‚das Seiende Strafe und Buße zahlt für die Schuld‘, eine rechtlich-sittliche Ausdeutung und Beurteilung der Dinge gibt.414

Heidegger hält dem Anthropomorphismus-Verdacht schon 1932 entgegen, dass Anaximander das keineswegs in einzelne Subsysteme aufgespaltene Seiende im Ganzen thematisiere, weswegen von einer primitiven Projektion menschlicher Moralvorstellungen auf stofflich-elementare Naturvorgänge keine Rede sein könne. Nichtsdestominder scheint durch dieses berechtigte, historisch reflektierte Gegenargument noch nicht der Einwand ausgeräumt zu sein, dass Anaximander die Seinsweise des Seienden im Ganzen „im rechtlich-sittlichen Sinne“415 deute. Auf dieses Monitum antwortet Heidegger, indem er herausstellt, dass die vermeintliche Evidenz dieses Kritikpunktes ihrerseits auf einer naiven Rückdatierung von sinnfixierten Rechtsbegriffen „der späteren Ethik oder gar aus der [Ethik] der Spätantike und schließlich des Christentums“416 auf die Worte des Anaximander beruhe. Für die vorliegende Untersuchung ist der Abschnitt c) des § 3 („ἀδικία als Un-fug, δίκη als Fug“417) von gravierender Relevanz. So liefert Heidegger ein ausgesprochen anschauliches Beispiel aus dem allgemeinen altgriechischen Sprachgebrauch, um seine prima facie befremdlich wirkende Übersetzung des Wortes ἀδικία mit dem Terminus ‚Un-fug‘ zu plausibilisieren: Wir finden ἀδικία übersetzt mit Schuld, Ruchlosigkeit – und lesen dann anderswo vom ἂδικος ἵππος, ein schuldiges Pferd, oder ein ruchloses – oder gar sündhaftes. Gewiß nicht, sondern ein Pferd, das nicht eingefahren ist – nicht im Geschirr läuft, was sich nicht einfügt, was nicht im Fug, ohne Fug ist – da herrscht der Un-fug. Der Fug – das ist das Gefüge, die Gehörigkeit des Zusammen von solchem, was auf- und ineinander eingespielt ist. Der Fug demnach ein Charakter dessen, was aufeinanderzu ein Verhältnis hat; und wir sehen dieses an den Phänomenen Tag – Nacht, Geburt – Tod u.s.f. Dessen Gegenteil aber: 413 414 415 416 417

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Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13.

2.5. Exkurs I

Un-fug – wo das Seiende irgendwie aus den Fugen ist, ἀδικία der Un-fug, in diesem ursprünglichen Sinn. Gewiß heißt bisweilen und später durchgängig ἀδικία Unrecht u.s.f. Aber in unserem Zusammenhang hat das Wort keine moralisch-rechtliche Bedeutung, aber ebenso wenig nur die neutrale etwa von ‚Struktur‘ und dergleichen.418

Auf der Basis von Heideggers erhellender Schilderung des ‚ungefügigen Pferdes‘ lassen sich zwei aufschlussreiche Verbindungslinien ziehen, die in der eigenständigen Interpretation der heraklitischen Δίκη und im fünften Kapitel zu Marc Aurels Philosophie aufgegriffen werden können. Zum einen kann Heideggers Charakterisierung des Fuges als gelingende Verhältnisbeziehung des Sich-Bedingenden („aufeinanderzu“419 von Tag-Nacht, Geburt-Tod) und als Sich-selbst-gehörenlassen in das vermeintlich Entgegengesetzte zur Klärung der Δίκη Heraklits herangezogen werden. Ein gerechtes, einsichtiges, die „Gehörigkeit des Zusammen“ respektierendes Verhalten bestünde demensprechend in der übergreifenden Zusammenfügung des zulassend-identifizierenden Offenhaltens scheinbar divergierender Perspektivierungen des Begegnenden (Tag ist Nacht) mit dem gleichzeitigem Festhalten ihres sich-verschließenden Auseinandergehens (Tag ist nicht Nacht), welches das „auf- und ineinander eingespielt[e]“420 Umschlagen ineinander überhaupt erst und immer wieder ermöglicht. Zum anderen ist es eines der bekanntesten Sinnbilder der alten Stoa, dass der Wagenlenker (d. h. das Schicksal) nur dann das Mittel der gewaltvollen Nötigung wählen muss, wenn das Pferd / der Hund (d. h. das Individuum) sich nicht in das für es vorgesehene Geschirr (d. h. in die Prädetermination der Geschehnisse) einfügen will.421 Unabhängig davon, wie energisch sich das Pferd wehrt und in seinem Un-fug zu beharren strebt, wird es durch den unanfechtbaren Wagenlenker notwendigerweise in seine Laufvorrichtung zurückgefügt. Darauf aufbauend, kann an Heideggers frühe Anaximander-Interpretation die Frage adressiert werden, wie er 1932 das Einander-Gewähren des Fuges konturiert, um daraus die „Rücksicht auf den Un-fug“422 ableiten zu können. In Heideggers Übersetzung des zweiten Satzstückes sticht das Wort „Entspruch“423 hervor, das weder in der Anaximander-Auslegung der Grundbegriffe-Vorlesung (1941) noch in dem Anaximander-Aufsatz (1946) Verwendung findet. ‚Entspruch‘ lautet Heideggers interpretierende Transposition des Wortes „τίσις“. So wie er die Dielssche Wiedergabe von διδόναι δίκην mit „Strafe zahlen“424 ablehnt, so schließt er 1932 eine rechtlich-moralisch konnotierte Übersetzung von τίσις mit „Buße und Sühne“425 aus. Die präferierte 418 419 420 421

422 423 424 425

Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Vgl. Hippolytus, Haer. 1.21 (SVF 2.975) LS1 386 / LS2 382 (A): „Und sie selbst versichern, dass alles gemäß dem Schicksal sei, indem sie folgendes Beispiel verwenden: es ist, wie wenn ein Hund an einen Wagen gebunden ist: wenn er folgen will, wird er gezogen und folgt mit seinem freien Willen gemäß der Notwendigkeit des Schicksals. Wenn er aber nicht folgen will, wird er gänzlich gezwungen werden. Genau so verhält es sich mit den Menschen. Auch wenn sie nicht folgen wollen, werden sie gezwungen werden, gänzlich ins Vorbestimmte einzutreten.“ Heidegger, GA 35, S. 12. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 2. Ebd., S. 14.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Umrandung der τίσις als ‚Entspruch‘ begründet Heidegger aus der Ursprungsbedeutung des τίω („schätzen“426). Das jeweils Anwesende nimmt die anderen Seienden „unter das Maß“427, d. h. es schätzt sie und (zugleich sich selbst) danach ab, „ob und wie es einem anderen entspricht“.428 Heidegger entwickelt daraus die folgende Abgrenzung von δίκη und τίσις: Während δίκη – Fug – die Zueinandergehörigkeit als solche betont, hebt τίσις heraus die jeweilige Abgemessenheit der Entsprechung.429

Unter Zugrundelegung dieser Differenzbestimmung kann die anhand des Anaximander-Aufsatzes von 1946 zu validierende These dargeboten werden, dass die τίσις nicht nur das maßvoll austarierte Gleichgewicht von Herkunft und Schwund zum Ausdruck bringt, in dem sich das Zusammengehörigkeitsnetz des Fuges immer wieder gegen den Un-fug behauptet. Vielmehr könnte τίσις auch die aktiv-wechselseitige Bestätigungshaltung der Seienden bezeichnen, welche die sich innerhalb des Erscheinungsraumes unweigerlich herauskristallisierende, im Verschwinden-Müssen wurzelnde Verbundenheit schon vor dem endgültigen Eingriff der Notwendigkeit erkennt und bejaht. Im kurzen Abschnit § 3 d) rekurriert Heidegger auf die zuvor promulgierte Lesart, das zweite Satzstück erfülle gegenüber dem ersten Teil eine Begründungsfunktion, sodass Herkunft und Schwund nur deswegen walten können, weil und indem die seienden Dinge einander die „jeweilige Abgemessenheit der Entsprechung“430 gewähren. Diese Hierarchisierung ist durchaus überzeugend: Nur wenn die Seienden sich innerhalb des Erscheinens nicht gänzlich blockieren und diesen Zeit-Raum nicht in endloser Dauer für sich beanspruchen, kann der Wechsel von Auftauchen und Verschwinden aufrechthalten werden: Wir behaupteten, das γάρ zeigt es klar an, das eben besprochene Satzstück soll die Begründung geben für das, was zuvor als zum Sein gehörig festgelegt wurde. Ist dem so, dann will Anaximander sagen: das Woher und Wohin des Erscheinens ist dasselbe, weil dieses Erscheinen selbst nichts anderes ist als das Gewähren von Fug und Entspruch in Rücksicht auf den Un-fug.431

Ausgehend von diesem Passus drängt sich die Deutung auf, dass das Gewähren des Fuges sogar eine Priorität gegenüber dem Woher-Wohin prätendieren kann, da ohne die vorherige, wechselseitige Fügung nichts mehr aus demselben Ursprung evolvieren könnte. Es wird zu veranschaulichen sein, dass Heidegger im Laufe seiner 1932 vorgetragenen Interpretation die Rangposition des Woher-Wohin sukzessive gradieren wird, um das als „herrschaftlicher Ausgang“432 umschriebene ἄπειρον seinerseits als

426 427 428 429 430 431 432

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Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 28.

2.5. Exkurs I

steuernde Verfügungsinstanz der Spezifität, Relationsweite und Dauer der jeweiligen Entsprechungsabgemessenheit zu etablieren. Indes ist ein weiterer Aspekt des obigen Zitats unbedingt zu diskutieren: Es schält sich heraus, dass der Un-fug als „Wesensmacht“433 entschlüsselt werden kann, da der gesamte Prozess des Erscheinens und damit auch die Identität des Woher-Wohin auf ihn zu beziehen sind. In Heideggers Übersetzung des zweiten Satzteils zeichnet sich ab, dass es ohne ‚Rücksicht‘ auf den Un-fug kein „Gewähren von Fug und Entspruch“434 geben könnte. Wenn die reziproke Freigabe des Fuges als Grundkonstituens des Erscheinens jedoch gemäß dem von Heidegger favorisierten Begründungszusammenhang der beiden Satzstücke selbst noch die Selbigkeit des Woher-Wohin ermöglicht, und die Rücksichtnahme auf den Un-fug wiederum als Bedingung für das fortlaufende Erscheinen (beziehungsweise für das mit diesem gleichbedeutende „Gewähren von Fug“435) figuriert, erhält der Un-fug eine inkommensurable Dignität. Demzufolge könnte das Woher-Wohin allein deswegen Seiendes in die Herkunft und die übergängliche Weile versetzen, weil der die Ganzheit des Erscheinens dominierende und in diesem Sinne zum Sein des Seienden aufsteigende Un-fug die erforderliche Rücksicht erfahren hat. Es ist ersichtlich, dass es zur differenzierten Klärung der Wesensstellung des Un-fuges unbedingt notwendig ist, den Sinn des Topos der ‚Rücksicht‘ aufzuhellen. Gleichwohl konstatiert auch Heidegger in diesem Textstadium die befremdliche Hegemonie des Un-fugs, welche die Interpretation des Spruches trotz des Fernhaltens moralischer Vorstellungen zum zweiten Mal an den „Rand des Nichts“436 führt: Das Seiende im Ganzen – der Un-fug? Und wir erfahren es erneut: ein Versuch, das Seiende in dem, was es ist, in seinem Sein zu begrenzen, führt uns an den Rand des Nichts und an den Abgrund. Denn ist und öffnet sich da kein Abgrund, wenn wir hineindenken sollen in das von Anaximander Ausgesprochene: das Seiende im Ganzen, genauer sein Sein – der Un-fug? Mit diesem Ausblick ins Nichts und ins Dunkle kommen wir jetzt zum letzten Stück des ganzen Satzes.437

Das letzte Stück des Spruches, das Heidegger im – emblematisch mit „Sein und Zeit“438 betitelten – § 4 erläutert, lautet: κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν. Heidegger übersetzt diese Formulierung mit „nach der Maßgabe der Zeit“.439 Durchaus spannungsreich ist Heideggers Einschätzung, dass auch das „letzte Stück des ganzen Satzes […] noch zur Begründung“440 gehöre:

433 Ebd., S. 22. Vgl. jedoch die dazu konträre Herabstufung des Un-fugs in den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung des Sommersemesters 1932: Heidegger, GA 35, S. 209: „ἀδικία – Un-fug – ohne verfügende Kraft – Ver-sagen – der Fug – fügt, ‚gliedert und trennt.‘ Die Verfügung erst schafft Fug und Un-fug – setzt Rang und ‚Ordnung.‘“ 434 Ebd., S. 15. 435 Ebd., S. 15. 436 Ebd., S. 15. 437 Ebd., S. 15. 438 Ebd., S. 16. 439 Ebd., S. 16. 440 Ebd., S. 16.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Es wird hier gesagt: das einander Gewähren von Fug und Entspruch, was ja das Erscheinen kennzeichnet, geschieht nach der Maßgabe der Zeit. Die leitende Aufgabe ist, zu sagen, wie das Seiende im Ganzen als das Seiende ist, was das Sein des Seienden ist. Dabei taucht jetzt schließlich die Zeit auf und es ist die Rede von τάξις τοῦ χρόνου.441

In der vertieften Konzentration auf diesen Passus lassen sich einige Problematisierungsfragen aufwerfen: Wenn der Satzbaustein „nach der Maßgabe der Zeit“442 in die Begründungshoheit des zweiten Satzteils über das erste Stück zu integrieren ist, ist erstens zu erklären, wie sich das κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν zum κατὰ τὸ χρεών des ersten Teils („nach der Notwendigkeit“) verhält. Selbst wenn zugegeben wird, dass beide κατὰ nicht in einer ursächlichen Fundierungsrelation zueinander stehen und die Maßgabe der Zeit mit der ‚Notwendigkeit‘ respektive mit der ‚Schuldigkeit‘ (im Sinne des ‚wie es sich gehört‘) identifiziert wird, ergibt sich eine eklatante Abweichung gegenüber dem Anaximander-Aufsatz von 1946: Das κατὰ τὸ χρεών müsste gemäß dieser Lesart seine Unabhängigkeit einbüßen und könnte aufgrund seiner Anbindung an die maßgebende Temporalität nicht als Belegtitel für die einräumend-verfügende Kraft des Seins dienen. Zweitens wird die Frage virulent, wie die Beziehung zwischen der Maßgabe der Zeit und dem Un-fug aufzuschlüsseln ist. Wenn der Unfug das Sein des Seienden im Ganzen kennzeichnet443 und das letzte Stück des Satzes nach Heidegger angibt, „wie das Seiende im Ganzen als das Seiende ist, was das Sein des Seienden ist“444, erscheint die Schlussfolgerung überzeugend, dass die innere Verfassung des Un-fugs einer zeitlichen Strukturierung unterworfen und das Erscheinen aus dem Walten der Zeit zu erschließen ist. Wie Heidegger selbst im § 4 vermerkt, kann die Bezugsart der Zeit zum Seienden im Ganzen allerdings erst nach einer eigenständigen Wesensklärung des Un-fugs ausgelotet werden.445 Wenn sich der Eindruck als richtig erweisen sollte, dass die Zeit das Erscheinen aufgehen lässt und sie in der Steuerung von Herkunft und Schwund auch die – das Seiende im Ganzen prolongierende – „Rücksicht auf den Un-fug“446 einräumt, wird transparent, dass die Anaximander-Auslegung aus dem Sommersemester 1932 mitten in Heideggers Denkwandel von der Fundamentalontologie hin zur seinsgeschichtlichen Rekonstruktion des Epochengeschicks lokalisiert werden kann. Obzwar die Zeit 1932 noch als Sinn des Seins fungiert, wird sie als Eröffnungsdimension des Erscheinens bereits an eine in sich geschichtliche Zeigeweise des Seins gekoppelt. Diese These soll besonders anhand der Analyse des § 6 erhärtet werden. Bevor diese komplexen Sachfragen zureichend beantwortet werden können, ist zu betrachten, wie Heidegger das Wesen der Zeit im § 4 expliziert. Heidegger verfolgt im § 4 zunächst die prohibitive Intention, mögliche Fehlverständnisse des im Spruch ge441 Ebd., S. 16. 442 Ebd., S. 16. 443 Vgl. allerdings Heideggers kritische Stellungnahme bezüglich der Gleichsetzung des Seienden mit dem Un-fug in den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung: Heidegger, GA 35, S. 228: „Das Seiende ≠ Un-fug sondern sich fügender – Fug gebunden und so Entspruch – nicht der Umriß = Unfug – sondern – aufgehen in bzw. Zurückgehen aus. Sein – Ab-wesendes Anwesen. 444 Ebd., S. 16. 445 Vgl. ebd., S. 17. 446 Ebd., S. 12.

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2.5. Exkurs I

nannten Topos der Zeit zu entkräften. Der von Anaximander erfahrene Gehalt der Zeit dürfe weder im kantisch-transzendentalidealistischen Gestus als „allgemeine Ordnungsform des Nacheinander der Dinge als Erscheinungen“447 noch unter der Ägide des physikalischen Methodensinns „als Ablauf der Naturvorgänge“448 begriffen werden. Zugleich dürfe der inhaltliche Kern von χρόνος nicht im Rekurs auf den alltäglichen Vorstellungskreis umrandet werden. Unter der autoritativen Berufung auf Anaximanders vermeintliche Rede von ‚Entstehen‘ und ‚Vergehen‘ wird die Zeit in dieser von Seiten Heideggers kritisierten Deutungsvariante als Generaltitel für das Vergängliche „im Unterschied zum Ewigen“449 verwendet und erweist sich demnach als äußerer „Rahmen“450, in dem jedes Ding in sukzessiver Monodirektionalität fortrückt. Gegen diese Introjektion moderner Zeitkonzeptionen wendet Heidegger vornehmlich ein, dass Anximander mit γένεσίς und φθορά keine entwicklungsschematischen Linearordnungen modelliere, sondern die Phänomenalität des Erscheinens an den prozessualen Doppelsinn des heraufkommenden Verschwindens knüpfe. Heidegger hebt hervor, dass auch der Verzicht auf den kantischen Zeitbegriff zugunsten der platonischen und aristotelischen Zeittheorien die Annäherung an das von Anaximander exponierte Sein der Zeit keineswegs befördere. Während Aristoteles in seiner Abhandlung jene Auffassung der Zeit entfaltet habe, die für das abendländische Denken, für die Wissenschaften und die lebensweltliche Alltäglichkeit insgesamt prägend geworden sei, könne Platons Zeitdenken kein erkenntnisreiches Licht auf Anaximanders Spruch werfen, da sich die griechische Philosophie in den zwei Jahrhunderten zwischen Platon und Anaximander „schon wesentlich gewandelt“451 habe. Stattdessen sucht Heidegger die auch für Anaximander maßgebliche Zeiterfahrung durch ein dichterisches Zeugnis zu akzentuieren. Heidegger zieht dabei einen Passus aus Sophokles, Aias 646/7 heran, der sich tatsächlich als ausgesprochen glückliche Wahl für die noch ausstehende Verhältnisbestimmung zwischen der Zeit und dem Erscheinen erweist. Die berühmte Stelle aus der Trugrede des Ajax wird hier gemeinsam mit Heideggers Übersetzung wiedergegeben: ἅπανθ' ὁ μακρος κἀναρίθμητος χρόνος φύει τ' ἄδηλα καὶ φανέντα κρύπτεται. Die gewaltige, unberechenbare Zeit läßt aufgehen alles Unoffenbare und alles in der Erscheinung Stehende verbirgt sie. Alles hat die Zeit in ihrer Macht, (nämlich) aufgehen läßt sie das Unoffenbare, und das in der Erscheinung Stehende verbirgt sie (läßt sie verschwinden).452

Heideggers direkte Kommentierung der Sophokles-Verse sei an dieser Stelle ausführlich zitiert, um einen erhöhten Sensibilierungsgrad für die sogleich anvisierte Parallelisierung der Zeit mit der φύσις zu stiften, die für die vorliegende Untersuchung von höchster Signalkraft ist:

447 448 449 450 451 452

Ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Danach steht die Zeit im engsten Zusammenhang mit allem, was erscheint, was als Erschienenes hervorgekommen und vorhanden ist. Zum Erscheinen gehört aber, wie sich ergab, als seine eigene Weise das Verschwinden; was verschwindet, zieht sich zurück, wird unoffenbar; d. h. alles Un-offenbare ist entweder solches, was noch verschwunden bleibt, oder wieder verschwunden ist. Erscheinen aber in diesem ganz weiten Sinne ist der Charakter, der dem Seienden als Seienden von Anaximander zugesprochen wird; er kennzeichnet dessen Sein. Bei Sophokles wird nun gesagt, mit diesem Sein des Seienden steht die Zeit im Zusammenhang. Und zwar ist der ein wesentlicher, sofern gerade durch die Zeit das Erscheinen und Verschwinden geschieht. Wohlgemerkt – nicht etwa nur, daß dieses Erscheinen ‚in der Zeit‘ verläuft, davon ist gar nicht die Rede, sondern die Zeit läßt das Verschwinden geschehen. Sie ist es, von der gesagt wird – κρύπτεθαι, sie verbirgt – das vordem in der Erschienenheit Offenbare. Ebenso ist es die Zeit, die das Un-offenbare, Verborgene zum Erscheinen bringt. Dafür gebraucht Sophokles einen höchst bemerkenswerten Ausdruck: χρόνος – φύει. φύειν heißt Wachsen lassen – φύσις Wachstum – das Gewachsene und Wachsende – ‚Natur‘.453

Wenn sich die Bedeutung des Seins bei Anaximander tatsächlich im Erscheinen erschöpfen sollte und die Zeit das Hervorgehen und den Rückzug jedes Seienden in die Verborgenheit desselben Woher-Wohin geschehen lässt, bezeugt sie sich als diejenige Macht, die sowohl den Un-fug (als diejenige numinose Entität, auf die alles Erscheinende Rücksicht nehmen muss, wenn es dem Anderen den Fug gewährt) als auch das κατὰ τὸ χρεών (als Notwendigkeit des Verschwindens) überhaupt erst instantiiert und weiterhin stabilisiert. Da Heidegger der Zeit im Rekurs auf die Sophokles-Passage jene Wesensfähigkeiten des waltenden Aufgehenlassens und des Sichverbergens des Seienden konzediert, die er – wie in der Interpretation der Heraklit-Vorlesung (1943) verdeutlicht werden konnte – elf Jahre später auch der im Fragment 123 geschilderten φύσις zusprechen wird, ist es folgerichtig, dass er im Abschnitt § 4c) das Sein und die Zeit unter dem Titel der φύσις zusammenfasst. Im Ausblick auf den Anaximander-Aufsatz von 1946 und angesichts der hier vertretenen These, dass Heidegger die Autorität der Zeit in den Entwicklungsstadien (1932–1941–1946) seiner Anaximander-Deutung schrittweise zugunsten des in den Gestalten des ἄπειρον, des κατὰ τὸ χρεών und der ἀρχή aufgedeckten Seins marginalisiert, verdient diese Paritätsfiguration von Sein und Zeit innerhalb der φύσις eine dezidierte Aufmerksamkeit. Zu Beginn des Abschnitts § 4c) Das Sein und die Zeit als φύσις grenzt Heidegger die griechische Erfahrung der Natur sowohl von ihrer modernen Klassifikation (als ein von der Geschichte und der Kunst unterschiedener Objektbereich der Naturwissenschaften) wie auch von der Verwendung dieses Terminus als „Wesen einer Sache“454 im Sinne des „Was- und Wiesseins“455 ab. Stattdessen bezeichnet die φύσις nach Heidegger in der frühen Phase der griechischen Philosophie das „Weben und Walten des Seienden – dessen Sein“.456 Die φύσις gründet also die Weise, wie das Seiende in seinem Sein steht. Das durch γένεσίς und φθορά konstituierte Erscheinen erwies sich bereits als Verschlei453 454 455 456

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Ebd., S. 18f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19.

2.5. Exkurs I

fung zwischen dem Heraufgang in die Erschienenheit und dem Sich-Zurückziehen aus ihr. Insofern die φύσις im griechischen Verständnis das wachsend-aufgehende Sichentfalten „aus der Erde“457 bedeutet und dieses nichts anderes ist als das „Erscheinen“458, sieht Heidegger „eine ganz entscheidende Bestätigung“459 seiner früheren Auslegung der Worte γένεσίς und φθορά. Gleichwohl konnte im ersten Kapitel dieser Arbeit exemplifiziert werden, dass Heidegger die in Heraklits Fragment 123 genannte φύσις 1943 eben nicht als rein-dynamisches Aufgehen aus einer statisch-bewegunglos gedachten Dunkelheit fasst. Vielmehr beschreibt Heidegger die φύσις in der Vorlesung von 1943 als Spannungseinheit, in der das niemals Untergehende allein deswegen alles Seiende in der Offenheit des Lichts halten kann, weil es von dem sich immerdar Verbergenden getragen wird. Mit diesem 1943 profilierten Vorrang der Abgründigkeit des Seins ist der folgende Passus aus der Anaximander-ParmenidesVorlesung von 1932 zu vergleichen: χρόνος φύει – die Zeit läßt aufgehen das Verborgene. Sie läßt erscheinen. φύειν ist der Gegenbegriff zu κρύπτεσθαι, verbergen. (Von da aus verstehen wir den Ausspruch Heraklits (D 123): ἡ φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ – das Seiende hat in sich das Streben, sich zu verbergen. Das ist nur möglich, wenn das Seiende als Seiendes zugleich ist Erscheinen, nur was erscheint und erscheinen, sich zeigen kann, kann sich auch verbergen.)460

Zuvorderst ist sinnfällig, dass Heidegger die Zeit in diesem Zitat tatsächlich mit der φύσις nahezu gleichsetzt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Heidegger die φύσις – anders als in der Heraklit-Vorlesung von 1943 – in der frühen AnaximanderAuslegung von 1932 nicht als in sich widerwendige Duplizitätsformation versteht, der sowohl das Erscheinenlassen als auch das Sichverbergen zugehören.461 1932 wird die φύσις in Heideggers übersetzender Kurzdeutung des Fragments 123 noch nicht als anfängliche und im Gang der Metaphysikgeschichte verdrängte Strukturdefinition des Seins als lichtende Verbergung privilegiert. Heidegger bestimmt sie einseitig zugunsten des lichtend-hervorbringenden Aspektes des Wachstums und schließt das Sichverbergen als den Gegenbegriff des φύειν von ihr aus. Zudem figuriert die φύσις aufgrund ihres Kernmerkmals des offen darlegenden Sich-Entfaltens 1932 noch als Subsummationstitel für das Seiende im Ganzen und nicht als Name für die abgründige Zweiheit im Sein. Pointiert lässt sich Heideggers immens aufschlussreiche Umkehrung der Hierarchie von Erscheinen und Verbergen wie folgt zusammenfassen: In der AnaximanderParmenides-Vorlesung von 1932 bildet das Erscheinen in seinem jeweiligen Hervorgekommensein den Ermöglichungsgrund für das – mit dem Verschwinden aus der Offenbarkeit – identifizierte Sichverbergen, während das unauslöschliche Untergehen der zwiefältigen φύσις in ihre Verborgenheit in der Heraklit-Vorlesung (1943) die 457 458 459 460 461

Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Vgl. Heidegger, GA 55, S. 145: „Indem das Aufgehen sich in das Sichverbergen als die Gewähr seines Wesens fügt, führt das Aufgehen in solches, was als das Untergehen gegen es ist, sofern das Sichverbergen aber in das Aufgehen sich fügt, führt es gegen das, was gegen es selbst ist.“

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notwendige Bedingung dafür darbietet, dass überhaupt etwas erscheinen kann. Des Weiteren ist es durchaus nicht ohne Ironie, wenn Heidegger in der Heraklit-Vorlesung von 1943 gegen die vermeintlich verflachenden Übersetzungsinterpretationen des Fragments 123 polemisiert462, die dem Seienden ein motivationales Streben zuschreiben, sich verbergen zu wollen. Wie sich dem obigen Zitat aus der Vorlesung von 1932 entnehmen lässt, wendet sich Heidegger damit gegen ebenjene Auslegungstendenz, deren prominentester Vertreter wahrscheinlich er selbst war. Ihren Kulminationspunkt erreicht Heideggers Verdeutlichung des anaximandrischen Zeitverständnisses in dem folgenden Zitat. Als eröffnende und verschließende Steuerungseinheit von Licht und Finsternis überschreitet die Zeit offenkundig die Macht der φύσις, insofern Heidegger die φύσις 1932 vornehmlich mit dem AufgehenLassen des Unoffenbaren verknüpft. Entscheidend ist, dass Heidegger die drei Ekstasen der Zeit als Einräumungsweisen des Erscheinens exponiert. Durch die Modifikation der Zeitigung zugunsten der Gegenwart lässt die Zeit das jeweilige Seiende nicht nur als einen übergänglich-verschwindenden Teilhaber des unumstößlich-notwendigen Vergänglichkeitsnexus aufgehen, sondern weist dem Seienden sogar dessen Sein zu: „Die Zeit mißt dem Seienden jeweils das Sein zu“.463 Heidegger gelingt diese höchst bedenkenswerte Aufwertung der Zeit gegenüber dem Sein, indem er τάξις nicht – wie es etwa Nietzsche vorschlägt – mit dem Wort „Ordnung“464 wiedergibt, als dessen Bezugsgenitiv das Wort χρόνου fungiert. Stattdessen begreift er die τάξις als Aufenthaltsort des jeweiligen Seienden innerhalb des Erscheinens, der durch eine spezifische, den Hervorgang und das Verschwinden individuell koordinierende Zeitlichkeit eingerichtet wird und demnach das Sein, die Verfasstheit, den Bezugssinn des Seienden prägt: Was entnehmen wir aus der Sophokles-Stelle für die Charakteristik der Zeit? Die Zeit steht im Bezug zu allem Seienden und zwar zu dessen Sein, ihr Amt und Wesen ist es, das Seiende erscheinen und verschwinden zu lassen. (Vgl. Zusammenhang zwischen Zeit und Sonne, Licht und Dunkel.) Sie mißt jeweils dem Seienden sein Sein, Erscheinen und Schwinden zu. Die Zeit stellt vor (Gegenwart) und nimmt zurück (Vergangenheit), behält zurück (Zukunft); vgl. dagegen die Entleerung und Entmächtigung des Wesens der Zeit zu einer Rechenform der Abzählbarkeit. Die Zeit – hier das Sein Zumessende, die Zeit gibt jeweils die ‚Taxe‘– τάσσω Platz An-weisen – die Zeit ist das Anweisende überhaupt, τάξις das Sein, das ein Seiendes hat. Die Zeit: die Maß-gabe des Seins; daher unsere Übersetzung: ‚nach Maßgabe der Zeit‘. Nicht handelt es sich um die Ordnung und Abfolge des Nacheinander und dessen zahlenmäßige Festlegung und Berechnung.465

462 Vgl. ebd., S. 121. 463 Heidegger, GA 35, S. 22. Diese zumessend-platzverleihende und die endliche Weile limitierende Kraft der Zeit denkt Heidegger in den Beiträgen explizit mit dem Seyn zum Tode zusammen, das als „äußerste Ausmessung der Zeitlichkeit“ charakterisiert wird. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 162, S. 284: „Das Seyn zum Tode als Bestimmung des Da-seins zu begreifen und nur so. Hier vollzieht sich die äußerste Ausmessung der Zeitlichkeit und damit das Beziehen des Raumes der Wahrheit des Seyns, die Anzeige des Zeit-Raumes. Also nicht, um das ‚Seyn‘ zu verneinen, sondern um den Grund seiner vollwesentlichen Bejahbarkeit zu stiften.“ 464 Vgl. Heidegger, GA 35, S. 2. 465 Ebd., S. 20.

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2.5. Exkurs I

Das obige Zitat kann durchaus in der fundamentalontologischen Blickbahn von Sein und Zeit lokalisiert werden, da die Zeit explizit als „Maß-gabe des Seins“466 gefasst wird. Indem Heidegger jedoch hervorhebt, dass es das „Amt und Wesen“467 der Zeit sei, „das Seiende erscheinen und verschwinden zu lassen“468, verleiht er der Zeit eine Autarkie, die sie in Sein und Zeit noch nicht beanspruchen konnte. Diese Priorisierung der Zeit lässt sich auch darauf zurückführen, dass Heidegger die Zeit 1932 bereits aus ihrer daseinshermeneutischen Verflechtung mit den Seinsmodi endlicher Existenz befreit hat und der jeweilige Vorrang der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft nicht mehr an eine entsprechende Einstellungsänderung der drei Momente des In-Seins (Befindlichkeit, Verstehen, Rede) gekoppelt werden muss. In dem soeben zitierten Passus aus der Anaximander-Interpretation von 1932 nimmt Heidegger nichtsdestotrotz ein Element aus dem § 70 von Sein und Zeit wieder auf, wenn er die Räumlichkeit aus der zuweisend-einteilenden Kraft der Zeit erschließt.469 Außerdem lässt sich anhand der oben wiedergegebenen Textstelle die gemeinsame Wurzel für Heideggers Analyse der Verfallenstendenz des Daseins und für seine Kritik der Präsenzontologie veranschaulichen: So wie sich das Dasein gegen sein notwendiges Übergehen zum Verschwinden wehrt und sich an die vorstellende Präsenzerfahrung der Zeit hält, so negiert die Metaphysik die Einheit der Zeitekstasen und leugnet in ihrer Entwicklung des ewigen Seinsbegriffes das vorbehaltend-zurücknehmende Anweisungsgepräge der Zeit. Obwohl Heidegger die Zeit als „Maß-gabe des Seins“470 und als „das Sein Zumessende“471 eindeutig zu privilegieren scheint, ist Vorsicht geboten, daraus die Schlussfolgerung einer in der Vorlesung von 1932 zu konstatierenden, generellen Präeminenz der Zeit gegenüber dem Sein zu ziehen. Es wird sich im weiteren Verlauf dieses ersten Exkurses zeigen, dass Heidegger 1932 mit drei verschiedenen Seinsbegriffen operiert. Zum ersten firmiert das Sein als grundlegende Beschaffenheit des jeweiligen Seienden im Sinne einer durch die Maße des Heraufkommens und Verschwindens koordinierten Verortung innerhalb der Erschienenheit. Sofern dieses Sein des Seienden nicht bloß bestehen, sondern wesen soll, wird es durch die Zeit gefügt, sodass sie „alles Seiende in seinem Sein in ihrer umfassenden Gewalt hat“.472 Zum zweiten manifestiert sich das Sein als Globalbegriff für das Erscheinen überhaupt. Da es die Zeit selbst ist, die das Seiende im Licht des Tages in das Sein hervorgehen und in die Finsternis der Nacht zurücktreten lässt, bekundet sich auch hier ihre Dominanz gegen-

466 467 468 469

Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 20. Zu dieser Präeminenz der ekstatischen Zeit gegenüber dem Raum vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 70, S. 369: „Weil das Dasein als Zeitlichkeit in seinem Sein ekstatisch-horizontal ist, kann es faktisch und ständig einen eingeräumten Raum mitnehmen. […] Nur auf dem Grunde der ekstatischhorizontalen Zeitlichkeit ist der Einbruch des Daseins in den Raum möglich.“ 470 Heidegger, GA 35, S. 20. 471 Ebd., S. 20. 472 Ebd., S. 21.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

über dem Sein des Seienden: „Das Licht, die Sonne, was erscheinen läßt – das Seiende ins Sein anwesen – das ist die Zeit“.473 Zum dritten kann Heidegger das Sein durch den Rekurs auf die anaximandrischen Figuren der ἀρχή und des ἄπειρον von der Maßgabe der Zeit emanzipieren. Weil dem Sein dabei ähnliche Charakteristika wie der Zeit zugeschrieben werden, evoziert sich ein Rivalitätsverhältnis zwischen beiden Entitäten.474 Diese These soll am Ende des ersten Exkurses ausgearbeitet und diskutiert werden. Nach dem Abschluss der Erörterung des dritten Stückes sieht sich Heidegger in der Lage, die einzelnen Satzglieder zusammenzufügen und den gesamten Spruch des Anaximander zu übersetzen. 1932 lautet seine Übersetzung wie folgt: Woher aber die Herkunft ist den Seienden, dahin auch der Schwund sich ergibt (geschieht) nach der Nötigung (Zwang); denn es geben (die Seienden) Fug – Entspruch einander haltend, den Entspruch zueinander sich fügend – (in Rücksicht auf) zurück für den Unfug nach der Zeit Anweisung.475

Es fällt auf, dass Heidegger τὸ χρεών, das er zuvor mit „nach der Notwendigkeit“476 übertragen hatte, nun als „Nötigung“477 und „Zwang“478 thematisiert. Des Weiteren scheint die Zeit in der vorliegenden Übersetzung nicht nur die Herkunft des Seienden im Erscheinen zu steuern, sondern auch die Binnenstruktur von Fug, Entspruch und Unfug gestaltend zu übergreifen. Sowohl das Gewähren des Fuges, das sich in der Weise des Zueinander-Fügens des Entspruchs äußert, als auch die damit konvergierende Zurücknahme des Unfugs geschieht „nach der Zeit Anweisung“.479 Diese Lenkungsgewalt der Zeit, die dem jeweils Seienden die Position seines Seins innerhalb des Erscheinens diktiert, indem (und weil) sie zuvor anderes Seiendes zur Rücksicht473 Ebd., S. 24. 474 In seiner eigenen Kommentierung der von Heidegger zitierten Aias-Stelle, die Volkmann-Schluck ebenfalls auf den im Satz des Anaximander erwähnten Zeitaspekt bezieht, trennt VolkmannSchluck einerseits das Sein von der Zeit und ordnet die letztgenannte dem Sein durchaus unter, indem er sie dem Sein ‚zuweist‘. Insofern Volkmann-Schluck die Zeit jedoch andererseits mit Heidegger als anweisend-steuernde Kraft des „Ineinanderschwingen[s] von Aufgang und Weggang“ etabliert, gelangt er zu dem höchst erwähnenswerten, chronotheologischen Resultat, die Zeit könne als ‚Wesen des Göttlichen‘ beleuchtet werden und wahre die Grundbewegtheit der φύσις. Vgl. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 59: „Die Zeit weist das Erscheinen und Verschwinden an. Die Zeit ist hier noch nicht das bloße Nacheinander der Folge des einen auf das andere, sondern sie macht das Ineinanderschwingen von Aufgang und Weggang aus. Die Zeit ist nicht selbst das Sein, wohl aber vollbringt sie, jeglichem die Weile seiner Anwesenheit zuweisend, die Art des Seienden. So ist die Zeit auf einzigartige Weise dem Sein zugewiesen. Es läßt sich vermuten, daß unter dem Namen der zuweisenden Zeit, welche das Ganze steuert, das Wesen des Göttlichen zum Vorschein kommt. […] Die Verwindung des Unrechts ist die Wesensbewahrung der φύσις; denn weil der Weggang des einen Aufgang des anderen ist, ist er nichts anderes als Rückgang in einen neuen Aufgang. Die φύσις, das alles aufgehen lassende Wesen von allem, birgt sich im Weggehen des Vergehenden je und je in sich selbst zurück, so daß Aufgang bleibt.“ 475 Heidegger, GA 35, S. 21. 476 Vgl. ebd., S. 9. 477 Ebd., S. 21. 478 Ebd., S. 21. 479 Ebd., S. 21. Dass die Zeit den Unfug strukturiert und damit auch das Erscheinen gewährt, scheint Heidegger in einer stichwortartigen Zwischenzusammenfassung zum Ausdruck zu bringen. Vgl. ebd., S. 16: „Das Seiende – (Sein) Erscheinen  der Un-fug – Zeit.“

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2.5. Exkurs I

nahme auf den Unfug verpflichtet und es dergestalt zur relationalen Konzession der Entsprechung gegenüber dem Künftigen aufgefordert hat, lässt sich im Rekurs auf Heideggers Zwischenzusammenfassung des Spruches unterstreichen. Diese luzide Rekapitulation findet sich zu Beginn des § 5: Der Ausspruch spricht über das Seiende im Ganzen, wie es ist, wie das Seiende ist (Sein), wie es mit dem Sein steht (wie das Sein west) – also vom Sein des Seienden. Und zwar im ersten Stück: erste Angabe der Charaktere des Seins: Erscheinen, dessen Woher und Wohin dasselbe. Im zweiten: gesagt, warum das Sein diesen Charakter hat, warum das Wohin des Verschwindens dasselbe wie das Woher der Herkunft, weil das Seiende einander Fug und Entspruch gewähren muß und dieses in Rücksicht auf den Un-fug. Im dritten Sück: für dieses Gewähren, d. h. für diese Rücksichtnahme auf den Un-fug gibt die Anweisung die Zeit; die Zeit mißt dem Seienden jeweils das Sein zu. Rücksicht auf den Un-fug gemäß der Macht der Zeit – Wesensmacht des Seins.480

Die von Heidegger gewählte Formulierung „für diese Rücksichtnahme auf den Unfug gibt die Anweisung die Zeit“481 kann hier wie folgt verstanden werden: Weil sich die Seienden zuvor dem Unfug verschrieben hatten – der ja „das Seiende im Ganzen betrifft“482 – zahlen sie in der wechselseitigen Gabe des Fuges jene Verschuldung ab, die sie sich durch ihre vormalige Bejahung des Unfugs zugezogen haben.483 Der Unfug wird immer wieder durch die Maßgabe (beziehungsweise durch den ‚nötigenden Zwang‘) der Zeit abgebaut, sodass sich die Seienden schließlich der vorausbestimmten Abgemessenheit ihrer Weile fügen müssen. Diese Lesart der heideggerschen Übersetzung würde den Spruchgehalt allerdings wieder in die Nähe der tragisch-sittlichen Interpretationen Diels‘ und Nietzsches‘ rücken.484 Indes kann der Topos des ‚in Rücksicht auf den Un-fug‘ auch dahingehend interpretiert werden, dass den Seienden im Medium der „umfassenden Gewalt“485 der verschwinden-lassenden Zeit bewusst wird, dass sie bislang unreflektiert und nichtwissend auf dem Unfug beharrten, ohne dessen Verhältnis zum Fug und zum Entspruch zu durchschauen.486 Indem die Seienden nunmehr Rücksicht auf den vormals kritiklos habitualisierten Unfug nehmen, 480 481 482 483

Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 15. Vgl. jedoch ebd., S. 30: „Nicht, wie falsch übersetzt, d. h. falsch verstanden wird, zahlen die Dinge einander eine Buße (kein einzelnes Seiendes hat von anderem Fug zu fordern), sondern wenn schon bezahlt werden soll, dann wird der Fug bezeugt gegenüber der Über-macht des ἄπειρον – aber so, daß dieses Gegeneinander Weichen sich fügt der Entsprechung, in der die Seienden je nach ihrer Art zueinander stehen.“ 484 Zu Heideggers Kritik der (von ihm direkt zitierten) moralischen Anaximander-Interpretation Nietzsches und zu Heideggers Substitution des Topos einer im Modus des Sterbens abzuzahlenden Daseinsschuld durch die Konzeption eines Rechnung-Tragens des Seienden gegenüber dem Sein vgl. ebd., S. 230: „‚Das Werden strafwürdige Emancipation vom Sein?‘ Zu büßen mit Untergang! Wird da die ‚Existenz der Vielheit‘ zu einem ‚moralischen Phänomen?‘ Nietzsche. Nein!!! Sondern das Seiende ist nicht das Sein! Und doch teilt dieses uns jenes zu. – Was ist (πέρας) – wie soll es nicht sein. Gerade weil es ‚ist‘, muß es vergehen – als Seiendes muß es dem Sein Rechnung tragen.“ 485 Ebd., S. 21. 486 Vgl. zur Unterstützung dieses Lesart des Un-fugs den folgenden Passus aus Heideggers Entwürfen und Aufzeichnungen zur Anaximander-Parmenides-Vorlesung: „[…] Der Un-fug ist das aufgehende Eingehn in den Umriß und darin sich verstehen und Nichtwissen – darauf bestehen. Fug geben – ist das Zurücktreten daraus.“ (Ebd., S. 219.)

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

entdecken sie, dass dieser eine adäquate Kultivierung der Zueinandergehörigkeit (beziehungsweise des Fuges) unterminierte. Insgesamt lässt sich bilanzieren, dass eine Aufhellung der Zusammenhänge von Fug, Unfug und Zeit auch in diesem Textstadium spekulativ bleiben muss, solange Heidegger die genuine Begriffsfestlegung des Unfuges noch nicht entfaltet hat. Dieser zentralen und vielversprechenden Aufgabe widmet er sich im § 5, der den Titel Der einheitliche Gehalt des Ausspruchs aus seiner inneren Mitte trägt. Die Überschrift des Abschnitts a) weist in eine programmatische Richtung, insofern Die Wesensmacht des Seins als Un-fug tituliert wird. Heidegger betont zu Beginn des § 5 nochmals, dass die wahre Bedeutung des Spruches trotz des „durchsichtigen Aufbau[s] des Satzes“487 bislang opak und „im Grunde unzugänglich“488 geblieben sei. Um die Dunkelheit des Spruches dennoch etwas lichten zu können, referiert Heidegger auf die behelfsmäßige Vorstellung, dass im Seienden „ein wechselweises Kommen und Gehen“489 herrsche. Indes taucht schon in der Anwendung dieser Konzeption eines geregelten Wandels auf den Satz des Anaximander die intrikate – freilich durch Heideggers archaischen Sprachduktus forcierte – Schwierigkeit auf, weswegen „dieses gegenseitige Sichweichen den Charakter eines Gewährens von Fug und Entspruch haben soll“490 und warum in diesem reziproken Gewähren die „Rücksichtnahme auf den Un-fug“491 beruhen soll. Das wahre Enigma des Spruches exemplifiziert sich jedoch nach wie vor in dem befremdlichen Sachverhalt, dass der Un-fug das Seiende im Ganzen durchdringe: Die Stelle mithin, an der wir eigentlich Anstoß nehmen, liegt hier: daß das Seiende auf dem Un-fug besteht, als Seiendes in seinem Sein der Un-fug ist. Aber eben diese Stelle ist die Mitte des Ganzen, denn von hier aus bestimmt sich ja der ganze Charakter des Seins des Seienden. In diesem Un-fug gründet die Weise, wie das Seiende ist. Wenn wir in den Gehalt eindringen wollen, müssen wir hier Klarheit schaffen.492

Die endgültige Aufklärung des Phänomenbestands des Unfugs leitet Heidegger im Abschnitt c) ein, dessen Titel die 1932 statuierte Kerndefinition des Unfugs bereits enthält: Der Un-fug: Bestehen auf der Umrissenheit gegen die Umrißlosigkeit; der Fug: Rückgang in die Umrißlosigkeit.493

Der signifikante Erkenntnisgewinn dieser vorausgesetzten Definition wurzelt zum einen darin, dass zum ersten Mal in der Vorlesung von 1932 die hauptsächliche Verhaltensdisposition der Seienden und der intentionale Grund dieser Seinsweise genannt werden, sofern das Seiende in den Unfug eingebettet ist. Der Un-fug manifestiert sich in dem willentlichen Festhalten („Bestehen“494) an einer klaren Grenzzie487 488 489 490 491 492 493 494

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Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25.

2.5. Exkurs I

hung (Umrissenheit), die gegen den Fug und somit gegen die Auflösung in das Amorphe (Umrißlosigkeit) verteidigt wird. Es ist nun genauer zu beleuchten, wie Heidegger die Momente des Gegensatzpaares der Umrissenheit und der Umrißlosigkeit spezifiziert. Zu diesem Zweck setzt Heidegger bei einer vertieften Exposition des Erscheinungsvorganges an: Jedes Seiende stellt sich ein und her, hebt sich heraus und ab gegen anderes. Das Erscheinen ist nicht nur Her-kommen, sondern das Herkommen Eintreten in den Umriß und seine Grenzen. In seiner Umrissenheit her-gestellt und her-stehend ‚ist‘ das Seiende, kommt es an den Tag. Umriß – nicht gleichgültiger Rahmen, sondern fügend-sammelnde Kraft und inneres Gewicht der Dinge. So hat sich uns durch die Aufhellung des Erscheinenden als Erscheinenden ein neuer wesentlicher Charakter des Seins des Seienden aufgedrängt; genauer, das Erscheinen als Auftauchen hat sich uns näher bestimmt als Eintreten in die Umrissenheit. Er-scheinen – das aufgehende Eingehen in die Umrissenheit. Das Seiende als das in diesem Sein Erscheinende zu erfahren ist die Urerfahrung der Griechen.495

Es ist ostensibel, dass Heidegger im obigen Passus eine entscheidende Ergänzung einführt: Hatte er bislang allein die durch die Macht der Zeit verfügten, transitorisch-kinetischen Spannungspole des Hervorkommens und des zurückziehenden Verschwindens erwähnt, so beschreibt er nun, wie das Seiende in und nach seinem Hervorgang in die Erschienenheit die ihm eignende Gestalt anzunehmen vermag. Das „Eintreten in die Umrissenheit“496 kristallisiert sich als unumgängliche Verwirklichungsweise der übergänglichen Weile inmitten des Anwesungsbereichs heraus und begleitet – in den Modifikationen der zunehmenden Konturverfestigung und der langsamen Destabilisierung der „fügend-sammelnden Kraft“497 – die Zeitlichkeit des Auftauchens und des Verschwindens. Schon hier lässt sich das Zwischenfazit ziehen, dass das Seiende nach Heidegger notwendigerweise im Un-fug – nämlich in der Umrissenheit einer begrenzten Gestalt – stehen muss, solange es ist. Da es während seines gesamten Seins nicht nur in den Un-fug eingegangen ist, sondern auch unweigerlich der Zeit498 unterworfen ist, zeichnet sich ein erster, verbindender Brückenschlag zwischen dem 495 Ebd., S. 24. Zur semantischen Annäherung von Anwesenheit und Grenze in Heideggers Anaximander-Interpretation und zur Identifikation des Wegganges mit dem Geschehen der Entgrenzung vgl. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 53f.: „‚Der bestimmende Anfang des Seienden im Ganzen ist das Grenzenlose.‘ – Das α in dem Wort ἄ-πειρον ist ein Alpha privativum; ἄπειρον ist solches, dem die Grenzen entzogen ist. Was hat Sein, was hat Anwesenheit mit Grenze zu tun? Grenze – griechisch πέρας – ist der umschließende Umriß. In seinen Umriß eingehend, wird ein jegliches als dieses und jenes anwesend. Gingen z.B. Tag und Nacht nicht in ihre sie voneinander scheidenden Grenzen ein, dann wäre Tag nicht Tag und Nacht nicht Nacht, sondern dann wäre ein ununterscheidbares Durcheinander beider, ein Chaos. Seiend werden besagt: Eingehen in die umendende Grenze. Nun währt aber ein jegliches im Weggang aus der Anwesenheit. Dieser Weggang ist Entgrenzung. Also waltet auch im Anwesenden das Unbegrenzte, und zwar in der Weise des Entgrenzens. Das Wort ἄπειρον sagt das Wesen der φύσις. Die φύσις wird mit einem negativen Wort benannt, dessen Negativität wir schwer verstehen. […] Das Sein kommt hier [im anfänglichen Denken, J.K.] in einem negativen Wort zur Sprache: Entzug der Grenze. Das Seiende währt aus einer Ab-sage der Dauer und des Fortwährens, es währt aus einem Verzicht.“ 496 Heidegger, GA 35, S. 24. 497 Vgl. ebd., S. 24. 498 In den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung akzentuiert Heidegger, dass weder das Seiende im Ganzen noch der Umriß – etwa nach Maßgabe eines statisch-bewegungslosen Wesensverständnisses – mit dem Un-fug gleichgesetzt werden dürfen. Stattdessen müsse die durch die Zeit geleitete

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Un-fug und der Zeit ab. Auf der Grundlage dieser Überlegungen muss es nicht mehr überraschen, dass Heidegger stipuliert, alles Erscheinende befinde sich als ein als solches außerhalb des Fuges: Das Erscheinende, in der Erschienenheit Stehende, ist als ein solches aus dem Fug. […] Erscheinen – besagt Aufgehendes Eingehen in den Umriß; dieses Eingehen in soll sein heraus aus dem Fug. Woraus tritt jenes heraus, was in den Umriß eingeht? Aus der Umrißlosigkeit. Was sich in der Erschienenheit hält, besteht gegen die Umrißlosigkeit auf Umriß. Der Unfug wäre dann das Bestehen auf der Umrissenheit. Und was ist nun so gesehen das Verschwinden? Bleiben wir wieder in der griechischen Grunderfahrung! Wenn der Tag vor der Nacht weicht und das Dunkel sich über die Dinge legt, dann verschwinden Umrisse und abhebende Farben, die Grenzen der Dinge verschwimmen, verlieren sich, die Dinge verlieren ihr Gewicht und damit das einzelne Seiende – alles verbirgt sich in der gähnenden Leere (χάος) des Dunkels. Das Verschwinden ist sonach das Zurücktreten aus der Umrissenheit in die Umrißlosigkeit. So erscheinend weicht das Erscheinende aus und vor dem Bestehen auf den Umriß. Im Weichen davor nimmt es die Rücksicht auf den Un-fug durch das Aufgeben der Umrissenheit. Der Schwund fügt sich der Umrißlosigkeit. In diesem sich Fügen bezeugt er diese (gewahrt es den Fug). So wäre dann der Un-fug: Bestehen auf der Umrissenheit gegen die Umrißlosigkeit; der Fug: Rückgang in die Umrißlosigkeit.499

Es lohnt sich, diese wichtige, definitorische Passage einer detaillierten Reflexion zu unterziehen. Im vergleichenden Hinblick auf den Aufsatz Der Spruch des Anaximander ist zu registrieren, dass Heidegger das Motiv der Begrenzung (bzw. der Umrissenheit) in der Vorlesung von 1932 anders bewertet als im vierzehn Jahre später verfassten Aufsatz. Im Anaximander-Aufsatz wird die anerkennende Beachtung der jeweiligen und fremden Grenzen, die 1946 weitgehend mit den zeitlichen Demarkationen der endlichen Weile gleichgesetzt werden, durchaus als positives Signum des Verzichts auf die Hybris eines permanenten, grenzen-losen Bestehen-Wollens exponiert. Die sich selbst beschränkende Einhaltung der zugemessenen Grenzen, in denen sich das Heraufkommen und der Weggang des Seienden vollziehen, kann im Anaximander-Aufsatz als lebensweltliche und bereits vor dem endgültigen Verschwinden entfaltete ‚Verwindung des Unfugs‘ interpretiert werden. Der Fug bestünde demnach 1946 gerade in dem eingehenden Aufgehen in die Umrissenheit500, sofern das jeweils Seiende deren Endlichkeit würdigt und nicht in die Grenzsphäre der mitgegenwärtigen oder einstmals heraufkommenden Anwesenden eingreift. Hingegen müsste der Unfug im Falle einer konsequenten Orientierung am Sachgehalt des Anaximander-Aufsatzes als ‚Bestehen auf der Umrißlosigkeit‘ (im Sinne der grenzen-losen Dauer) definiert werden. In diametraler Entgegensetzung, prädiziert Heidegger 1932 dem UnBewegung in die Umrissenheit und das Zurücktreten aus derselben als prozessuale Anzeige des Unfugs beurteilt werden. Vgl. nochmals ebd., S. 228: „Das Seiende ≠ Un-fug – sondern sich fügender – Fug gebunden und so Entspruch – nicht der Umriß = Unfug – sondern – aufgehen in bzw. Zurückgehen aus.“ 499 Ebd., S. 25. 500 Gleichwohl ist festzuhalten, dass Heidegger in den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung von 1932 die im Anaximander-Aufsatz (1946) vorherrschende Interpretation des Fuges als Einschluss in die umrissene Gestalt anklingen lässt, ohne diesem Topos 1932 ein tieferes Gewicht beizumessen. Vgl. ebd., S. 231: „Nicht: Sein gegen Werden – Seiendes gegen Werdendes. Sondern das Seiende ist als Erscheinen und Verschwinden. Und dieses west im Sein (ἄπειρον). Auch das Erscheinen ist Sich Fügen – Fug geben.“

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2.5. Exkurs I

fug das Charakteristikum des Hineingewiesenseins in den Umriss, wodurch der Unfug zur Wesensnotwendigkeit jedes Seienden aufsteigt. Mit einem erhellend-sensiblen Sprachgefühl kann Heidegger eine bemerkenswerte Verschränkung zwischen dem Unfug und dem Fug freilegen. Wenn die Integration in den Un-fug die notwendige Bedingung des Erscheinenkönnens des Seienden bildet, enthüllt sich der Un-fug selbst als Fügung (d. h. als unumgängliches Schicksal, als sich gehörende Normalität und als vorgezeichnete Wegbahn): Daß das Seiende ist und sofern es ist – darin be-steht der Un-fug, weil das Erscheinende die Grenzen-losigkeit verlassen und auf dem Umriß bestehen muß. In dem Ausdruck Un-fug nicht nur Verstoß gegen den Fug, das Ohne-den-Fug, sondern er bleibt ‚Fug‘ in dem Sinne zugleich, daß er die unausweichbare Fügung für das Sein bedeutet.501

1932 wird das Sich-Verschließen in den eigenen Grenzen mit dem Un-fug parallelisiert. 1946 nähert Heidegger dieses Sich-Verschließen dem Walten des Fuges an. Damit korrespondiert, dass der Fug 1932 nicht in der differenzsensitiven Erkenntnis und einer praktischen Beibehaltung der Grenzen liegen kann. Stattdessen bewahrheitet sich der Fug in der Anaximander-Parmenides-Vorlesung erst in der durch die Zeit erwirkten Aufhebung zugunsten der Umrisslosigkeit. Es ist auffällig, dass sich die gegenwärtig Anwesenden 1932 in ihrem Verschwinden nicht primär dem anderen, künftigen Seienden fügen sollen, sondern in erster Linie der Umrißlosigkeit Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zudem wird der Fug laut des vorletzten Zitats nicht unmittelbar durch die Seienden gewährt. Es ist nämlich der Schwund, der diese (die Umrißlosigkeit) „bezeugt“502 und den Fug „gewahrt“.503 Der Fug wird in der Vorlesung von 1932 wesentlich als prozesshaftes Sich-Fügen und d. h. temporal bestimmt. Weder der Fug noch der Un-fug firmieren in der Anaximander-Parmenides-Vorlesung als potenzielle Grundstimmungen und Haltungen des Seienden (etwa in den Gestalten der sich-öffnenden Anerkennung und der Toleranz respektive der Hybris und der sich-verschließenden Egozentrik). Vielmehr avanciert das durch die Zeit herbeigeführte Verschwinden aus der Anwesenheit zum Wirkungsdokument des Fuges, der sich in dem sukzessiven Abbau der im Hervorkommen generierten Grenzbefestigungen des Unfugs artikuliert. Daraus lässt sich ein Parallelismus der Kernfiguren ableiten: Der Schwund entspricht dem Fug, während der Hervorgang und das Erscheinen dem Un-fug korrespondieren.504 Anders als es Heideggers Wortwahl („weichen“505) 501 Ebd., S. 29. In einer (offenkundig später ergänzten) Randbemerkung revoziert Heidegger die Auffassung, dass bereits das umrisshafte Erscheinen des Seienden als Eingehen in den Unfug zu interpretieren sei. Indem er den Anspruch des jeweils Anwesenden, ohne „Entgang“ und „Abschied“ fortzudauern, als Wesen des Unfugs benennt, weist er bereits auf die Modifikation des Begriffes des Unfugs voraus, die sich in den Anaximander-Auseinandersetzungen der 1940er-Jahre vollziehen wird. Vgl. ebd., S. 29, FN 14: „[…] ungenügend – nicht Umriß als solcher, sondern daß er dauert ohne Entgang, Abschied sich versteift auf Weile.“ 502 Ebd., S. 25. 503 Ebd., S. 25. 504 Vgl. dazu die folgende Notiz Heideggers aus den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung: Ebd., S. 208: „Daß dieses An-wesen Un-fug und dieser notwendig – der Schwund als Fug – Un-fug – qua: zu Anwesenheit hin – Fug als von Anwesen weg.“ 505 Vgl. ebd., S. 25.

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partiell suggeriert, inhäriert die mit dem „Aufgeben der Umrissenheit“506 identifizierte „Rücksicht auf den Un-fug“507 also nicht der menschlichen Entscheidungsgewalt. Die fortschreitende Destruktion der Umrissenheit exemplifiziert die Irreversibilität eines zeitlichen Geschehens, das sich auch im Wandel von Tag (Umrissenheit) und Nacht (Umrisslosigkeit) bewährt.508 Es lässt sich im Rekurs auf Heideggers bisherige Darlegungen konstatieren, dass die Zeit den Unfug ermöglicht, insofern sie Seiendes überhaupt erst erscheinen – und d. h. in die Gegenwart der Umrissenheit eintreten – lässt. Zugleich bedingt sie die Erfüllung des Fuges im Sinne des Wiedereingehens in die Umrisslosigkeit, indem sie das Erschienene durch die vorrangige Zeitigung der Vergangenheit wieder verschwinden lässt. Indes dürfen der Unfug und der Fug offenkundig nicht als strikt geschiedene Stadien gedeutet werden. Gemäß der zeitlich koordinierten Zusammengehörigkeit von Hervorgehenlassen und Verschwinden lässt jedes Seiende schon dann den Fug walten – obzwar noch in einer verborgenen Anbahnungsstufe –, wenn es in sich in der Umrissenheit inkarniert hat. Folglich darf ebenjene Umrissenheit nicht als statisch-ewige Konstanz entschlüsselt werden. Im Gegensatz dazu, muss die Umrissenheit als permanentes Wiedergewinnen der Grenzen gegenüber dem machtvollen Andrängen der Zeit begriffen werden, die letztlich den Sieg davonträgt und den Fug wiederherstellt. Gerade vor dem Hintergrund dieser Auszeichnung der Zeit ist es überaus erstaunlich, dass Heidegger im unmittelbaren Anschluss an die oben zitierte Passage die Position der zuvor als anweisende Macht und als „Maß-gabe des Seins“509 klassifizierten Zeit merklich abschwächt. Heidegger inauguriert zum Ende des Abschnitts § 5c) den Bedeutungsaufstieg der Umrißlosigkeit, welche die verfügend-freigebende Funktion der Zeit im weiteren Fortgang vollständig okkupieren wird: In beiden, im Un-fug wie im Fug, kommt die Umrißlosigkeit zum Vorschein. Sie fügt es, daß das Erscheinende als solches – Unfug ist; und sie verfügt darüber, was und daß Fug ist: Aufgeben der Umrissenheit. Die Um-riß-, also Grenzenlosigkeit wäre dann das, was über Un-fug und Fug, d. h. das Gegen-zueinander derselben, fügend verfügt. Das Gegeneinander weichen aber ist das Erscheinen, d. h. das Sein. Die Umriß- und Grenzenlosigkeit kommt in allem Erscheinen (Herkunft und Schwund) zuerst und zuletzt zum Vorschein – sie hat den Vor- und Überrang. Das Grenzenlose ist das über Fug und Un-fug, d. h. das Sein des Seienden Verfügende.510

506 Ebd., S. 25. 507 Ebd., S. 25. 508 Vgl. ebd., S. 30: „Indem das Erscheinende verschwindet, gibt es dem Un-fug (den) Fug zurück. Diese Rückgabe geschieht in der Weise, daß die einzelnen Seienden einander entsprechen, indem sie sich einfügen in die Entsprechung, die mitgesetzt ist durch die Umrissenheit, Aufriß der Verhältnisse, in dem Erscheinendes zu Erscheinendem steht. Das ἀλλήλοις ist in einem betonten Sinne auf τίσις zu beziehen, und es besagt: das Erscheinende verschwindet nicht irgendwie und irgendwann, nur daß überhaupt dem Un-fug der Fug zurückgegeben ist, sondern καὶ τίσιν ἀλλήλοις – und zwar in der Weise, daß die jeweilige Entsprechung von Tag und Nacht, Geburt und Tod, Ruhm und Schmach eingehalten wird: ‚dem Entspruch zueinander sich fügend.‘“ 509 Vgl. ebd., S. 20. 510 Ebd., S. 25f.

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2.5. Exkurs I

Heideggers zunächst erklärungsbedürftig wirkende These, wonach die Umrißlosigkeit im Un-fug und im Fug „zum Vorschein“511 komme, findet ihren begründenden Anhalt darin, dass der Un-fug insofern permanent durch die Umrißlosigkeit flankiert wird, als das jeweils Anwesende die Umrißlosigkeit nicht schlichtweg hinter sich zurücklassen kann, sondern sich aus dieser und zugleich in ihrem Horizont gestalthaft heraushebt und sich perennierend gegen die Wiederverlagerung in das Konturlose behaupten muss. Auf diese Weise verbirgt das Umrissene die Umrißlosigkeit, ohne diese jemals gänzlich beseitigen zu können.512 Analog gilt für den Fug, dass dieser stets auf die Umrißlosigkeit bezogen bleibt, weil die Selbigkeit des Woher-Wohin jene Zieltendenz zur Grenzenlosigkeit vorgibt, die sich im Verschwinden des Seienden aus den Grenzen des Un-fugs realisiert. Obwohl Heideggers gewissermaßen phänomenologische Erörterung des Verhältnisses zwischen der Grenzenlosigkeit und der Umrissenheit eine nachvollziehbare Plausibilität beanspruchen kann, so ist doch weniger einsichtig, wie Heidegger der Umrißlosigkeit eine aktivische Gestaltungshoheit über die Zuteilungsvariationen von Erscheinen und Aufgeben der Umrissenheit verleihen kann. Nach Heidegger herrscht die Umrißlosigkeit über die Beschaffenheit (‚was‘) sowie die Faktizität (‚daß‘) des Fuges und senkt das Erscheinende in den Un-fug ein. Diese Suprematie lässt sich prima facie nicht hinreichend mit Heideggers Verweis rechtfertigen, die Grenzenlosigkeit sei das immer schon Vorausgehende und das immer wieder Eingeholte für die Erscheinungseinheit von Herkunft und Schwund. Diese Beurteilung der Grenzenlosigkeit als immerwährender Anfang und als unaufhebbares Ende jedes Werdeprozesses könnte schließlich auch für die Selbigkeit des Woher-Wohin gelten, wenn diese als reine, qualitätslose Unbestimmtheit angesetzt wird. Auch die oben vorgeschlagene Deutung der Umrisslosigkeit als offene Folie, auf der sich das Erscheinende in seiner Gestalt abzeichnet, vermag die von Heidegger nachdrücklich betonte, regulierende Einflussfähigkeit der Grenzenlosigkeit nicht befriedigend zu erläutern. Will Heidegger dieses bewegend-ordnende Vermögen der Umrisslosigkeit argumentativ untermauern, muss er proponieren, dass die Grenzenlosigkeit nicht allein die differenzenthobene-ewige Quelle des Woheraus darbietet. Im Kontrast dazu, müsste die Umrisslosigkeit tätig darüber entscheiden, wann und wie sie das jeweils Anwesende aus ihrer Unbestimmtheit freigibt und mit welchem Seienden sie es im Bereich des Erscheinens koexistieren lässt. In diesem Fall könnte das jeweilige Seiende nicht mehr als Akteur verstanden werden, der sich tätig losreißt und von seinem Ursprung abfällt, um daraufhin in beharrlicher Ignoranz auf seiner Beständigkeit zu insistieren. Vielmehr wäre das Seiende gänzlich unverantwortlich für seinen Hervorgang in den Unfug, da es durch die Grenzenlosigkeit notwendigerweise in eine konkrete Gestalt hineingesteuert würde. Gleiches müsste auch für den Vorgang des Verschwindens behauptet werden: Die Grenzenlosigkeit würde dirigieren, wann und unter welchen Umständen sie ein ausgewähltes Erscheinendes zu sich selbst als Grund alles Seienden zurückholt. 511 Ebd., S. 25. 512 Vgl. ebd., S. 232: „Das Seiende ≠ das in der Umrissenheit stehende – sondern das als solches aus ihr zurückwachsende. In und hinter der Anwesenheit steht die Ab-wesenheit!“

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

An diesem neuralgischen Punkt wird der Eindruck unabweislich, dass der Grenzenlosigkeit jene Zugriffskompetenz verliehen wird, die Heidegger zuvor der Zeit als φύσις übereignet hatte. Heidegger selbst hat diesen Prioritätskonflikt offenkundig gesehen, da er den Zusammenhang zwischen der Zeit und dem ἄπειρον im Abschnitt § 6b) in seiner abrundenden Relationsklärung der beiden Aussprüche thematisiert: Somit den ersten Ausspruch noch einmal in seinem Zusammenhang eingehender erläutert bis auf das letzte Stück – die τάξις τοῦ χρόνου. Hier ist zunächst zu schweigen, aber nicht ohne das Unabweisbare vor Augen zu halten, daß zu dem, was das Seiende in seinem Sein ermächtigt, die Anwesung und Macht der Zeit gehört, also gerade nicht die Ewigkeit, die man sonst mit der Unendlichkeit zusammenzubringen pflegt. Aber ἄπειρον heißt nicht Un-endlichkeit, jedenfalls nicht sofern wir irgendwelche späteren, christlichen Vorstellungen in dieses Werk einschleichen lassen.513

Dass Heidegger selbst die Komplexität des Stückes τάξις τοῦ χρόνου hervorhebt und sich zum Schweigen über den Deutungssinn verpflichtet, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass dieser Satzteil des Spruches die Hauptfrage seiner eigenen Philosophie antizipiert. Dessen ungeachtet, sticht ins Auge, dass Heidegger die Dignität der „Anwesung und Macht der Zeit“514 in dem obigen Zitat nochmals prononciert und ihr zuspricht, das „Seiende in seinem Sein“515 prägen zu können. Im Gegensatz zur ontotheologischen Tradition und zur Metaphysik, welche die Seiendheit nach Heidegger als ewige Ursache, Schöpfer oder als Urbild des Seienden installiert, soll das ἄπειρον als Grund des Seienden figurieren können, ohne mit dem Wesensprädikat der Ewigkeit belegt werden zu müssen. Wenn das ἄπειρον nicht „Un-endlichkeit“516 heißen soll, muss es in seiner Verfügung der Umrissenheit und in seiner Justierung des Verschwindens im Verbund mit der Zeit stehen. Hier bieten sich zwei Optionen an: Entweder wird die Umrisslosigkeit vollständig mit der Zeit identifiziert. Diese Juxtaposition könnte beispielsweise über den Begriff der φύσις legitimiert werden, insofern diese das Seiende aus ihrer eigenen Verbergungsseite aufgehen lässt, im Erscheinen hält und nach festgefügten Maßen in den Abgrund zurückkehren lässt. Demgemäß enthüllt sich – wie Heidegger in den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung illustriert – die Zeit als „das Wesende des Seins“.517 Die Zeit gleicht der Umrisslosigkeit darin, dass sie erstens kein Seiendes ist, dass sie zweitens selbst keinen zeitlich-limitierenden Bestimmungen unterworfen sein kann und drittens sowohl die Anwesenheit als auch die Abwesenheit „in ihrem

513 514 515 516 517

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Ebd., S. 30. Ebd., S. 30. Ebd., S. 30. Ebd., S. 30. Vgl. diesbezüglich den von Heidegger in den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung von 1932 exponierten Bezug zwischen dem anaximandrischen Zeitdenken und der Philosophie Heraklits. Ebd., S. 218: „Zeit: nicht als Stellenordnung für das Nacheinander und Rahmen für Zeitpunkte, sondern – das Erscheinenlassende – / vgl. Heraklit. ἀναρίθμητος- unberechenbar – wogegen alles Rechnen versagt. […] τάξις – τάσσω Anweisen des Platzes – hier-her für ein Her-kommendes – Anweisung des Anwesenden und Ab-wesenden in sein Wesen (Zeit das Wesende des Seins).“

2.5. Exkurs I

Wesen erst ermächtigt“.518 In diesem Sinne kann die Zeit durchaus als Grenzenlosigkeit benannt werden, wenn damit nicht die Vorstellung einer unendlichen Linie assoziiert wird. Die zweite Option besteht darin, die Zeit dem Grenzenlosen unterzuordnen und sie zu dem Medium zu depotenzieren, dessen sich die Umrisslosigkeit bedient, um das Seiende aus sich hervorzubringen und es wieder in sich verschwinden zu lassen. Dass Heidegger eindeutig dieser zweiten Interpretationsvariante zuneigt, lässt sich beispielsweise an seiner Formulierung erkennen, dass die Zeit zu demjenigen „gehört“519, welches das Seiende zu dem entsprechenden Sein ermächtige. Daraus lässt sich die Konklusion gewinnen, dass Heidegger die Zeit in das ἄπειρον einbettet. Dies wirkt auf die Wesensgestalt der Grenzenlosigkeit zurück: Insofern ihm die Zeit zugehörig ist, kann es selbst weder endlich (es ist keines der hervorgehend-verschwindenden Seienden) noch unendlich sein (es ist keine ewige Idee, keine emanationstheoretische Einheitsquelle und keine fixierte Erstursache). Oben wurde bereits entfaltet, wie Heidegger die Grenzenlosigkeit charakterisieren müsste, damit sie die lichtend-verbergende Macht der Zeit substituieren und das Seiende aktiv in die Umrissenheit hineinbewegen könnte. Angesichts des bisherigen Status der Umrisslosigkeit als Selbigkeit des Woher-Wohin erscheint Heideggers Privilegierung der Umrisslosigkeit zur Fug, Unfug und Entspruch bemessenden Instanz noch nicht widerspruchsfrei fundiert. Das einzige Kriterium, das Heidegger im § 5 zugunsten der Präponderanz der Grenzenlosigkeit angegeben hatte, lautet: „Die Umriß- und Grenzenlosigkeit kommt in allem Erscheinen (Herkunft und Schwund) zuerst und zuletzt zum Vorschein“.520 Dass die Umrißlosigkeit die Quelle des Heraufkommens und den Endpunkt des Schwundes repräsentiert, begründet aber noch nicht ihre von Seiten Heideggers insinuierte, aktive Eingriffstätigkeit innerhalb des Bereichs des Erscheinens. Im § 6 (Der herrschaftliche Ausgang des Seienden als die ermächtigende Macht des Erscheinens) reagiert Heidegger auf die bislang zu perzipierende, unterkomplexe Bestimmtheit der Grenzenlosigkeit, indem er den zweiten überlieferten Satz des Anaximander in die Diskussion einführt. Zu Beginn des § 6 akzentuiert Heidegger selbstbewusst, dass die – zweifelsohne keineswegs naheliegende oder triviale – Übersetzung

518 Dass Heidegger die Zeit in der Vorlesung von 1932 stellenweise selbst mit der Grenzenlosigkeit beziehungsweise mit dem Sein (als κατὰ τὸ χρεώ) nahezu lückenlos zusammenfallen lässt, geht aus der folgenden Aufzeichnung hervor, in der die Zeit – genau wie das als „beherrschender Ausgang“ (ebd., S. 219) titulierte Sein (im Sinne der Umrisslosigkeit) – als „einigender und ermächtigender Grund“ des Seienden gefasst wird. Vgl. ebd., S. 219f.: „Vielmehr – diese [An-wesenheit und Ab-wesenheit, J.K.] in ihrem Wesen erst ermächtigt – vordem – als ihr einigender und ermächtigender Grund west: Die Zeit – Abwesenheit: das Entschwinden und Noch-nicht-Erscheinen (Vorrang – scheinbar der Gegenwart – von ihr aus gesehen). Die ermächtigende Wesensmacht, aus der her und in die zurück alles Sein west und sonach das Seiende ist – ersieht Anaximander als die Zeit. / vgl. κατὰ τὸ χρεώ. […] ‚Ergebnis‘– das Sein ist nicht das Seiende – völlig unterschieden – es west als die Zeit.“ 519 Vgl. ebd., S. 30. 520 Ebd., S. 26.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

von ἀδικία und δίκη mit „Un-fug“521 und „Fug“522 nicht nur plausibel, sondern auch die einzig richtige sei. Diese denkwürdige These sucht Heidegger durch die Bezugnahme auf den zweiten Satz des Anaximander zu untermauern: Aber Un-fug kann nicht nur so heißen (Bestehen auf Umriß – gegen Umrißlosigkeit) und Fug kann nicht nur so heißen, sondern ἀδικία und δίκη müssen im Ausspruch des Anaximander solches bedeuten, wenn anders über sie, wie gezeigt, die Umriß- und Grenzenlosigkeit verfügt. So ist es aber; denn Anaximander sagt und das ist der zweite Satz, der uns noch überliefert geblieben: ἀρχή τῶν ὄντων to ἄπειρον. Ausgang für das Seiende und zwar eben als ein solches, d. h. hinsichtlich des Seins, ist das Grenzenlose.523

In Anbetracht des von Heidegger vorangestellten Beweiszieles – es muss gezeigt werden, dass die Umrißlosigkeit über ἀδικία und δίκη verfügt, um die Favorisierung der Übersetzungstitel ‚Un-fug‘ und ‚Fug‘ als unumgänglich zu dekuvrieren – lassen sich die weiteren Argumentationsschritte bereits an dieser Stelle umreißen: Es lässt sich unschwer erkennen, dass Heidegger mit der Definition des Unfugs als Bestehen auf der Umrissenheit gegen die Umrisslosigkeit und mit der Wahl des Terminus der ‚Grenzenlosigkeit‘ von vornherein eine Identifikation der Verfügungsinstanz mit dem anaximandrischen ἄπειρον intendierte. Auf dieser Grundlage kann erwartet werden, dass Heidegger der ἀρχή – die im zweiten Überlieferungssatz des Anaximander ja direkt mit dem ἄπειρον identifiziert wid – jene Bestimmungen verleihen wird, die er vormals der Zeit attribuiert hatte. Wenn das ἄπειρον mit der alles Seiende zum Erscheinen und Verschwinden bringenden ἀρχή identisch ist und das ἄπειρον wiederum der Umrisslosigkeit entspricht, kann Heidegger zu seinem letzten Interpretationsziel fortschreiten, das in der Aufspürung der ontologischen Differenz im Denken des Anaximander beruht. Im Folgenden ist aber zuerst zu veranschaulichen, wie Heidegger das Wesen der ἀρχή beschreibt. Heideggers wichtigste Charakterisierung der ἀρχή lautet: ἀρχή – ἂρχειν vorangehen. ἀρχή – was allem vorangeht, von wo alles weitere ausgeht. Hier handelt es sich um den Anfang des Seins, des Erscheinens, Eingehens in den Umriß, was dabei erscheinend vorangeht, was dabei im Voraus zum Vorschein kommt. Das ist eben das Umriß-lose, das im Erscheinen in den Umriß eingeht, sich da, obzwar gebunden, durchhält und den Rückgang in es, Aufgehen der Umrissenheit erzwingt. ἀρχή – zunächst nicht ein Seiendes, also nicht etwa Ausgang in dem Sinne dessen, wobei etwas anfängt, welche Ausgangsstelle aber als das Gleichgültige, Weg-gestellte im Fortgang zurückgelassen wird, sondern in der philosophischen Verwendung des Wortes ἀρχή müssen wir sogleich heraushören die Bedeutung, die es gleichfalls hat – Vorangang als Herrschaft (‚Mon-archie‘): Ausgang und Herrschaft für das Seiende als solches, d. h. für dessen Sein.524

Heideggers Analyse des Begriffsgehalts der ἀρχή ist von großem Gewicht, weil er in dem wiedergegebenen Passus die Bezogenheit des Umrißlosen auf das Eingehen in den Umriß mit einem entscheidenden Aspekt anreichert. Dass die ἀρχή „allem vorangeht“525 und alles Seiende von ihr „ausgeht“526 ließe sich auch vom ἄπειρον prädi521 522 523 524 525 526

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Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 27. Ebd., S. 27f. Ebd., S. 27. Ebd., S. 27.

2.5. Exkurs I

zieren, wenn dieses – wie in der philosophiegeschichtlichen Tradition üblich – als unvergänglich-unerschöpfliche Quelle gedeutet würde, die in disparater Abgeschiedenheit diesseits des vergänglichen Seienden anzusiedeln ist und von dem Wandel der Gegensätze unbehelligt bleibt. Dieser Lesart des ἄπειρον entzieht Heidegger das Fundament, weil er die ἀρχή eben nicht als indifferentes Prinzip beziehungsweise als opak-unbewegliche „Ausgangsstelle“527 begreift, aus der das Erscheinende emaniert oder sich aus eigenem Antrieb loslöst, um schließlich ohne eine Anbindung an die ἀρχή zu subsistieren. Indem Heidegger den für die ἀρχή konstitutiven Vorangang stattdessen als (permanent ausgeübte) ‚Herrschaft‘ dechiffriert, versetzt er sich in die Lage, die Wirkung des ἄπειρον nicht nur in der anfänglichen Freigabe des Seienden aus der Umrisslosigkeit und in der zugelassenen Zurücknahme des Erscheinenden in dasselbe Woher-Wohin aufzuspüren. Soll die ἀρχή tatsächlich über das Seiende herrschen, muss sie vor und in allem Seienden präsent sein: ἀρχή als der herrschaftliche Ausgang bleibt gerade in allem gegenwärtig, kommt zuerst und zuletzt in allem Erscheinen und Verschwinden zum Vorschein.528

Das vorgängige Zum-Vorschein-Kommen der Grenzenlosigkeit wurde oben mithilfe des Horizontbegriffes erläutert. Dabei wurde die These vertreten, dass die Grenzenlosigkeit in der Umrissenheit „zum Vorschein“529 kommt, weil sich das in den Unfug eingehende Seiende nicht in einem einmaligen Akt aus der Grenzenlosigkeit generieren und daraufhin gänzlich von ihr abkoppeln kann. Wenn die Grenzenlosigkeit nicht eine räumlich abgetrennte, dunkle Region bildet, sondern sich als eine alles umfassende, offene Weite zeigt, muss sich die Formgebung des Seienden notwendigerweise innerhalb der eröffneten Umrisslosigkeit herausmeißeln und sich immer wieder gegen das Zurückgleiten in die Nacht der Ununterscheidbarkeit stabilisieren. Daraus wurde oben die latente Präsenz der Umrisslosigkeit inmitten des Unfugs gefolgert. Diese im Rekurs auf die horizontale Ausmessungsdimension vorgetragene Deutung widerstreitet allerdings prima facie der Möglichkeit, dass die Grenzenlosigkeit direkt auf das Erscheinende einwirken könnte. Wenn ein räumliches Gleichnis erlaubt ist, wäre allein die folgende Wirkungsart denkbar: Der umriss-lose Horizont müsste sich im konkreten Zugriff auf den Mittelpunkt der „geschlossene[n] Eigenheit und Sicherheit“530 eines jeweiligen Seienden richten, um sich von dort ausgehend auseinanderzuziehen und somit die Grenzen dieses Erscheinenden aufzulösen. Auf diese Weise würde das Erscheinende schrittweise verschwinden und in die Grenzenlosigkeit zurückgeführt. Es ist ersichtlich, dass Heidegger die verborgene Gegenwart des Grenzenlosen inmitten des Erscheinungsbereiches auf eine andere Art begründet. Dies gibt Heidegger durch die Formulierung kund:

527 528 529 530

Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Ebd., S. 28. Ebd., S. 28.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Das ist eben das Umriß-lose, das im Erscheinen in den Umriß eingeht, sich da, obzwar gebunden, durchhält und den Rückgang in es, Aufgehen der Umrissenheit erzwingt.531

Gemäß dieser Konzeption nimmt sich das Umrißlose aus seiner Grenzenlosigkeit selbst in den Erscheinungsgang mit, um sich dort mit sich selbst als einem jeweiligen Seienden zu verbinden, als welches das Umrißlose nun innerhalb des Umrisses erscheint. Es ist spürbar, dass in dieser Gedankenfigur bereits Heideggers spätere These prädisponiert ist, wonach sich das Sein entzieht, um das Seiende zu lichten. Wichtig ist, dass sich das Sein dabei nicht in eine transzendente Region zurückzieht, sondern innerhalb des Seienden ausbleibt.532 Mit dieser Semantik des Entzuges ist vergleichbar, dass sich das Umrißlose in der Gestalt des Seienden nicht von der Selbigkeit seines Woher-Wohin verabschiedet und trennt. Es schickt sich als dieses allumfassende Grenzenlose in das Erscheinen, um dort in sich selbst die Grenzen aufzureißen, die von dem Anwesenden ausgefüllt werden können. Heidegger geht in seiner Interpretation also nicht von zwei verschiedenen Entitäten aus, die in divergierenden Bereichen anzusiedeln sind. Vielmehr bekräftigt sich der Status der ἀρχή als herrschaftlicher Ausgang, weil sie sich selbst als das immerwährend Anfangende im Medium des aufgehenden Erscheinens eines Seienden flankiert und in diesem als grenzverleihendgrenzauflösende Kraft agiert: Im Erscheinen als solchen geschieht die ständige Bewährung des Grenzen-losen. Dieses hat in allem Erscheinen und Schwinden den Vor-schein – die Verfügung – die ermächtigende Macht.533

Als das zuletzt zum Vorschein Kommende entbirgt sich die ἀρχή immer wieder als Grenzenlosigkeit, indem sie das begrenzte Seiende verbirgt und in das Verschwinden zwingt.534 Wie Heidegger selbst in den Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung thetisch und emphatisch hervorhebt, entspricht dieser Machtvollzug der ἀρχή dem 531 Ebd., S. 27. 532 Vgl. Heidegger, N II, S. 320: „Das Sein selbst entzieht sich. Der Entzug geschieht. Die Seinsverlassenheit des Seienden als solchen geschieht. Wann geschieht dies? Jetzt? Heute erst? Oder seit langem? Wie lange schon? Seit wann? Seitdem das Seiende als das Seiende selbst ins Unverborgene gekommen ist. Seitdem diese Unverborgenheit geschieht, ist die Metaphysik; denn sie ist die Geschichte dieser Unverborgenheit des Seienden als solchen. Seitdem diese Geschichte ist, ist geschichtlich der Entzug des Seins selbst, ist Seinsverlassenheit des Seienden als solchen, ist die Geschichte, daß es mit dem Sein selbst nichts ist.“ 533 Heidegger, GA 35, S. 30. 534 Die von Heidegger als „ständige Bewährung des Grenzen-losen“ beschriebene Vormacht des ἄπειρον innerhalb des Anwesenden begründet Karl-Heinz Volkmann-Schluck im Ausgang von der Gestaltannahme des Seienden. Insofern dieses vor seiner konturierten Entstehung selbst noch grenzenlos war, musste ihm das ἄπειρον notwendigerweise vorausgehen. Das entscheidende Kriterium für die Präeminenz des Grenzenlosen entdeckt Volkmann-Schluck jedoch darin, dass das Seiende nur innerhalb der Anwesenheit verbleiben kann, wenn es zugleich aus der spezifizierenden Grenze weggeht. Diese Entgrenzung, die dem jeweils Anwesenden die Weile des Überganges gewährt, kann jedoch – so die Pointe Volkmann-Schlucks – nur durch das Grenzenlose selbst vollzogen werden, das auf diese Weise das Seiende gewissermaßen in sich zurückzieht. Vgl. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 54: „Der Gedanke des ἄπειρον hat eine Klärung erfahren. Besagt ‚Anwesenheit‘ so viel wie ‚Währen in der umschließenden Grenze‘, dann ist das Entstandene vor seiner Entstehung unbegrenzt. Also geht das Unbegrenzte allem, was entsteht und dann ist, voraus: es ist ἀρχή. Aber nicht nur das: Das Entstandene währt im Übergang, d. h. im Weggehen aus der Gren-

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2.5. Exkurs I

zuvor beschriebenen Walten der Zeit, sodass sich die Zeit als Herrscherin des Seienden herauskristallisiert: Nicht Endlosigkeit – sondern die Zeit ist die ἀρχή! Sie hat nicht die Grenze der An- und Abwesenheit. Macht des Wesens / Ausgang.535

Trotz dieser möglichen Exposition der Einigkeit der ἀρχή und der Zeit appliziert Heidegger die gewonnenen Merkmale der ἀρχή gänzlich auf das ἄπειρον, das Heidegger im Abschnitt § 6b) als „ermächtigende Macht des Erscheinens“536 etabliert und damit endgültig als Hegemon über den Un-fug, die Zeit und die φύσις apostrophiert. Heidegger weist zuvorderst auf die privative Verfasstheit des Ausdrucks „ἄπειρον“537 hin. Das ἄπειρον ist demnach ohne Grenze, es ist „solches, was Grenze nicht hat“.538 Oben wurde bereits transparent, dass diese Absenz der Einhegung keineswegs als Mangel oder als Defizienz desavouiert werden darf. Heidegger rekurriert auf die niemals schwindende Unerschöpflichkeit des „Anfang[s] des Seins“539, um das Nichthaben der Grenze „im Sinne des Verschmähens und Vonsichweisens aus Überfluß, Über-macht über jedes Gemächte, im Umriß eingeschlossene“540 zu würdigen. Da die spezifische Erscheinungsform der Übermacht des ἄπειρον der Verfügungsautorität der ἀρχή korrespondieren muss, gelangt Heidegger zu einer Relationsbestimmung, die aus dem vorherigen Abschnitt zum „herrschaftliche[n] Ausgang“541 für das Seiende als solches bereits vertraut ist: τὸ ἄπειρον das, was über das Seiende als solches verfügt, als solche Fügende Verfügung das Sein ausmacht, was jedes Erscheinende als Eintretendes im Umriß zum Un-fug werden läßt, ohne es loszulassen, sondern um es in das Verschwinden zum Fug zurückzuholen.542

Hier bestätigt sich erneut, dass der Un-fug 1932 nicht auf einer willentlichen Selbstaufspreizung des Seienden beruht, sondern durch das ἄπειρον selbst im Entlassen des künftig Erscheinenden evoziert wird. Zudem bekräftigt Heidegger nochmals den transitorischen Bedeutungssinn des Fuges. Heidegger begreift den Fug in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1932 nicht als festgefügte Normalordnung, die durch die Hybris des Unfugs pervertiert würde. Im Gegensatz dazu, kann sich der Fug nur

535 536 537 538 539 540

541 542

ze, in der Entgrenzung. So bleibt das Unbegrenzte in der Weise des Entgrenzens das alles Seiende Durchwaltende. Das ἄπειρον ist nicht nur Anfang, sondern es durchherrscht auch das von ihm Angefangene. Es ist ἀρχή im Vollsinn des Wortes.“ Heidegger, GA 35, S. 226. Ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 29. Ebd., S. 29. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Vgl. zum Status dieser Überfülle der Grenzenlosigkeit, die sich weder in der Anwesenheit noch in der Abwesenheit verorten lässt, die aufschlussreiche Erläuterung aus Heideggers Entwürfen und Aufzeichnungen zur Vorlesung: Ebd., S. 219: „ἀ-privativum – Hier nicht das Weg eines Fehlens und Mangelns, sondern das ‚Ohne‘ und Weg – des Verschwindens und Von sich – Wesens aus Überfluß und Überfülle. Was mit Umriß – weder ihn einnehmend noch verlassend zu tun hat – weder auf An-wesenheit noch Ab-wesenheit festgelegt.“ Ebd., S. 28. Ebd., S. 29.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

bezeugen, wenn sich zuvor der Unfug als Umrissenheit konsolidiert hat. Der Fug kann in Heideggers erster Großinterpretation des Spruches des Anaximander niemals etwas sein, das vom Seienden aktiv realisiert würde (etwa in der Habitualisierung eines gerechten Verhaltens gegenüber Anderen). Einzig und allein im notwendigen, durch das ἄπειρον dirigierten Verschwinden und im Abbau der ebenfalls durch die ἀρχή konstruierten Grenzumschlossenheit kann der Fug ausgetragen werden.543 Der Fug wird zum Signum des Zum-Ende-Gehens der Individualexistenz des jeweils Anwesenden, das zugunsten des Sichzeigens der Selbigkeit des Woher-Wohin geschieht.544 Die nicht in der Macht des Seienden liegende Irreversibilität dieses Vorgangs untermauert Heidegger, indem er den Topos des – bislang nur in dem ausgesprochen kurzen Abschnitt § 2d) erwähnten und durchaus traditionell mit „nach der Notwendigkeit“545 übersetzten – τὸ χρεών integriert. Generell ist auffällig, dass τὸ χρεών – das in dem Anaximander-Aufsatz von 1946 zum entscheidenden Haltungsgrund des gesamten Spruches avanciert und als anfänglicher Name des Seins aufgerufen wird, in der Vorlesung von 1932 eine bestenfalls marginale Erläuterungsfunktion erfüllt. Auch in dem folgenden Zitat wird τὸ χρεών eher beiläufig erwähnt und nur zur Verdeutlichung des Zwanges herangezogen, der durch das Sein ausgeübt wird: Das Seiende, sofern es ist, steht unter dem Zwang des Seins. τὸ χρεών – der Un-fug ist über es verfügt aus der ἀρχή, der Verfügenden Fügung. Und jetzt verstehen wir schon

543 Vgl. ebd., S. 225: „Das Sein – das Übermächtige – das alles ermächtigt – zu seiner Größe und d. h. Grenze. Das Übermächtige, das in seiner Gewährenden Ermächtigung zugleich das Furchtbare ist – sofern es das Weichen und Verschwinden erzwingt – d. h. das Schwinden und Weichen in und unter der Festhaltung der Größe – und zwar das Gewähren des Un-fugs im Zurückholen in den Fug – (Sein ist Fügung).“ Auch in diesem Passus wird Heidegger Priorisierung des Seins gegenüber der Gerechtigkeit sichtbar: Während die Gerechtigkeit dem Fug (als Erscheinenlassen der Grenzenlosigkeit im Medium des Verschwindens des Seienden in das Woher-Wohin) korrespondiert, waltet das Sein als jene Fügung, die das Verhältnis zwischen dem Hervorgehen in den Un-fug und dem Gewährenlassen des Fuges koordiniert. 544 Vgl. dazu die bereichernden Überlegungen von Volkmann-Schluck, der in seiner augenfällig an Heidegger orientierten Interpretation des Anaximander-Spruches betont, dass das endgültige Gewähren des Fuges mit dem Untergang des jeweils Anwesenden zusammenfalle. Angesichts der Hypothek der beständigen Selbsterhaltungsinsistenz des Seienden könne allein auf diese Weise die Anerkennung des künftig Aufgehenden etabliert werden. Vgl. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 56f.: „Aber Anaximander sagt nicht, das Seiende bleibe im Unrecht. Im Gegenteil: Es gibt eines dem anderen Recht und Genugtuung. […] Was hier mit Genugtuung und Entgelt übersetzt ist, heißt griechisch τίσις (tisis); τίσις kommt von dem Verb τίνειν (tinein); τίνειν heißt: unter das Maß nehmen, schätzen, dem Geschätzten entsprechen, es anerkennen. τίσις ist daher auch die Anerkennung einer Sache in dem, was ihr gebührt. Anerkennung ist noch mehr als Recht, ist noch mehr als das Zukommenlassen des einem anderen zunächst verweigerten Zukommenden. Das jeweils Anwesende gibt dem anderen nicht nur heraus, was ihm zukommt, sondern darüber hinaus erkennt es das andere an als das Aufgehende; es erkennt das andere an durch den eigenen Untergang. So entspricht es schließlich dem Anspruch des anderen: eines läßt das andere im wechselseitigen Untergang sein. In solchem einander entsprechenden, einander anerkennenden Sein-Lassen ist Seiendes überhaupt seiend. Das Unrecht, das eines dem anderen tut, wird nie endgültig beseitigt, sondern je und je überwunden, besser gesagt: verwunden.“ 545 Vgl. Heidegger, GA 35, S. 9.

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2.5. Exkurs I

eher: was es heißt, das Woher und Wohin ist dasselbe der Erscheinenden Herkunft, ist aus dem Grenzen-losen und sein Schwund geht dahin.546

In seinem Resümee bedenkt Heidegger die Verflechtung der beiden Sprüche. Während der zweite Spruch (d. h. der Originalsatz des Anaximander) die Konstitution des Erscheinens beleuchte und dabei die Momente des Unfugs und des Fugs als leitgebende Existenzmodi inmitten des Einheitsraumes von Hervorgang und Verschwinden expliziere, verknüpfe der erste Spruch den Ausgangsgrund des Seienden mit dem „ἀρχή-Charakter des ἄπειρον“.547 Wesentlich ist, dass Heidegger in seiner Ausweisung des Zusammenhanges der beiden Sprüche zwei verschiedene Seinsbegriffe aufeinander bezieht: Aus der inneren Einheit beider Aussprüche ersehen wir erst, was da über das Sein des Seienden gesagt wird. Jetzt dürfen wir nicht mehr bei der einleitenden Charakteristik stehen bleiben: darnach ist Sein Erscheinen. Das ist zutreffend, aber unzureichend, das Wesen des Seins ist aus dem ἄπειρον zu verstehen. Sein ist Un-fug, steht in Fügung und Verfügung – im Sein als solchem bekundet sich die ermächtigende Macht des Erscheinens und Verschwindens.548

Das mit dem Erscheinen gleichbedeutende Sein kann mit Heideggers Verwendung des Terminus der Seiendheit parallelisiert werden: Die Verfassung und der Grundcharakter des Seienden im Ganzen ist das Erscheinen innerhalb der Umrissenheit, die durch das hervorgehende Auftreten gebildet und im zurückgenommenen Verschwinden aufgelöst wird. Anders gesagt: Das Seiende kann sich nur dann in dem ihm zugemessenen Sein (d. h. in seiner prägenden Bestimmtheit) einfinden, wenn es erscheint. Hingegen entspricht das von Heidegger genannte und mit dem ἄπειρον identifizierte „Wesen des Seins“549, das sich als „ermächtigende Macht des Erscheinens und Verschwindens“550 bekundet, dem Seyn als Entzug, Ausbleiben und an sich haltendes Anwesenlassen. In dem so gefassten ἄπειρον ist Heideggers seinsgeschichtlicher Terminus der lichtenden Verbergung präfiguriert. Demzufolge spürt Heidegger im ersten Satz der abendländischen Philosophie jene ontologische Differenz zwischen der Wahrheit des Seins und der Seiendheit des Seienden auf, die gemäß dem seinsge-

546 Ebd., S. 29f. 547 Ebd., S. 31. 548 Ebd., S. 31. Dass die Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie eine wesentliche Zäsur in Heideggers philosophischer Entwicklung markiert und als erstes Zeugnis der Hinwendung zum seinsgeschichtlichen Denken beurteilt werden kann, zeigt Peter Trawny im Rekurs auf Selbstaussagen Heideggers aus dem Band Besinnung (vgl. Heidegger, GA 66, S. 424) auf. Vgl. Peter Trawny, Nachwort, in: Heidegger, GA 35, S. 270: „Die Vorlesung über den ‚Anfang der abendländischen Philosophie‘ stellt einen Einschnitt dar. Sie setzt sich von den vorangehenden Vorlesungen (über Platon und Aristoteles) ab und bereitet die folgenden vor. Vor allem eine Vorlesung wie die zur ‚Einführung in die Metaphysik‘ aus dem Sommersemester 1935 wird durch sie erhellt. Heidegger selbst hat darauf hingewiesen, daß ‚seit dem Frühjahr 1932‘ ‚in den Grundzügen der Plan‘ feststehe, ‚der in dem Entwurf ‚Vom Ereignis‘ seine erste Gestalt‘ gewinne. Zu diesem ‚Entwurf ‘ gehört in wesentlicher Hinsicht die Unterscheidung eines ‚ersten‘ von einem ‚anderen Anfang‘. Sie bildet ganz unmißverständlich den Grund der Anaximander- und Parmenides-Auslegungen.“ 549 Ebd., S. 31. 550 Ebd., S. 31.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

schichtlichen Narrativ in der heraufkommenden Epoche der Metaphysik immer mehr verdrängt wird. Diese These lässt sich eindeutig validieren, wenn der letzte Abschnitt der frühen Anaximander-Interpretation hinzugezogen wird. Der Abschnitt ist überschrieben mit dem paradigmatischen Titel: τὸ ἄπειρον oder Der Unterschied zwischen Sein und Seienden.551 Angesichts der herausgearbeiteten Profilschärfung des ἄπειρον als ermächtigende Macht des Erscheinens und Verschwindens (d. h. des Seienden im Ganzen) erübrigt sich für Heidegger eine ausführliche Stellungnahme zur Streitfrage, „wie das ἄπειρον des Anaximander vorzustellen sei, ob quantitativ oder qualitativ“.552 Die grundsätzliche Problematik dieser Forschungsdiskussion beruht für Heidegger auf der Präsupposition, das ἄπειρον sei unter der Kategorie des Seienden zu subsummieren. Erst aus dieser höchst fragwürdigen Voraussetzung ergeben sich die Schwierigkeiten, ob das ἄπειρον ein „in dem unendlichen Raum ausgebreiteter Grundstoff“553 sei, als der „grenzenlose Raum selbst“554 entschlüsselt werden könne; oder ob das ἄπειρον nicht seinen Rang als „das allgemeinste Prinzip“555 gerade einbüßen müsste, wenn es von allem „Unstoffliche[n] und Unausgedehnte[n]“556 dissoziiert und dergestalt selbst auf einen distinkten Bezirk des Seienden beschränkt würde. Heidegger insistiert demgegenüber vehement darauf, dass das im Wort des ἄπειρον genannte Sein durch eine derartige Fragerichtung niemals erfahren werden kann. Am Ende seiner frühen Interpretation des Spruches nobilitiert Heidegger den Anaximander zum ersten Denker des Seins und begreift ihn als Archegeten des ursprünglichen Unterschieds zwischen dem Sein und dem Seienden. Da Heidegger in dem folgenden Zitat die Konklusion seiner Spruchdeutung pointiert herausstellt, ist es vorzüglich dazu geeignet, diesen ersten Exkurs zu beschließen: Die Antworten sind alle gleich unsinnig, weil sie auf eine Frage antworten, die selbst in sich unmöglich ist, weil sie von Grund aus die eigentliche Absicht der Aussprüche verfehlen. Über das Sein soll gesagt werden – und nicht das Seiende; die Frage: was für ein Seiendes das Sein sei, ist daher in dieser Form widersinnig. Und wenn wir, auch unangemessen freilich, fragen, welches Ergebnis nun eigentlich diese Aussprüche enthalten, dann ist es dieses: daß das Seiende ist aufgrund des Seins, daß aber das Sein selbst nicht ein Seiendes ist. Sein und Seiendes sind unterschieden – dieser Unterschied ist der ursprünglichste, der überhaupt sich auftun kann.557

551 552 553 554 555 556 557

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Vgl. ebd., S. 31. [Von mir kursiv, J. K.] Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32.

2.6. Die Bedeutung der τίσις im Anaximander-Aufsatz von 1946

2.6. Die Bedeutung der τίσις im Anaximander-Aufsatz von 1946 Nach dieser Statuserörterung des Unfugs in Heideggers Anaximander-Interpretation aus dem Sommersemester 1932 kann die Analyse des Aufsatzes Der Spruch des Anaximander fortgesetzt werden. Weil die Übersetzung von τίσις mit „Rücksicht“ noch zu sehr auf einer anthropozentrischen Verengung beruht, sucht Heidegger nach einem neutralen, umfassenden Terminus und findet diesen im mittelhochdeutschen Wort „ruoche“558, aus dem später der bekannte Begriff „Ruch“ hervorging. Auf der Bedeutungsbasis des Ruches mündet die relational verknüpfte Verhaltensweise der je-weiligen Anwesenden in einer Toleranz der Gerechtigkeit, die das Andere im Fug gelten und gewähren lässt: Das mittelhochdeutsche Wort ‚ruoche‘ nennt die Sorgfalt, die Sorge. Sie kehrt sich daran, daß ein anderes in seinem Wesen bleibe. Dieses Sichdarankehren ist, von den Je-Weiligen her in Beziehung auf das Anwesen gedacht, die τίσις, der Ruch. […] Das zum Wort Rücksicht Vermerkte, daß es menschliche Verhältnisse nenne, gilt auch von der ruoche. Aber wir machen uns das Verschollene des Wortes zunutze, nehmen es in einer wesentlichen Weite neu auf und sprechen entsprechend zur δίκη als dem Fug von der τίσις als dem Ruch.559

Darauf aufbauend, entfaltet Heidegger schließlich eine graduelle Schichtung. In diesem Modell wird das Zunächst und Zumeist des Beharrens auf der Un-Fuge als dritte Option (neben der sich irreversibel ereignenden Rücksichtnahme und der undenkbaren Selbstmanövrierung des Anwesenden in ein Nichts jenseits der gefügten Ordnung) honoriert und von der vollständigen Abnabelung abgegrenzt. Die zuerst unverständlich gebliebene These Heideggers, wonach die in der Un-Fuge organisierten, rücksichtslosen Anwesenden einander den Fug gewährten, erfährt nun einen luziden Sinn: Was sich nicht gänzlich aus dem Anwesen losgesagt hat – eine Entfernung, die unmöglich ist, weil sie auf das präsenzaffine Element der Sucht des Beharrens angewiesen ist – ist gezwungen, die Ordnung der Zeit als Grundbedingung seiner selbst zu akzeptieren. Damit muss es den Anderen zwangsläufig den Fug einräumen, selbst wenn es ansonsten auf der Präsenz seiner Weile insistiert. Im Zuge dieser Modifikation erhält Heideggers Deutung des Spruches des Anaximander ein harmonisierendes Gepräge: Insofern die Je-Weiligen sich nicht völlig in den schrankenlosen Eigensinn der Aufspreizung zum bloß beharrenden Fortbestehen zerstreuen, um so in der gleichen Sucht einander abzudrängen aus dem gegenwärtig Anwesenden, lassen sie Fug gehören, διδόναι δίκην. Insofern die Je-Weiligen Fug geben, lassen sie in einem damit auch schon, in der Beziehung zu einander, je eines dem anderen Ruch gehören, διδόναι… καὶ τίσιν ἀλλήλοις.560

Noch deutlicher wird diese Harmonisierung unter der Signatur des Ruches, wenn Heidegger die Verwindung der Un-Fuge in dem bidirektionalen Anerkennungsprozess gründen lässt. Die Gabe des Fuges vermag das reziproke Gehörenlassen des Ruches

558 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 360. 559 Ebd., S. 360. 560 Ebd., S. 360.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

deshalb einzuschließen, weil der Ruch die Subsistenzweise und conditio sine qua non des übergänglichen Weilens bildet: Wenn die Anwesenden Fug geben, dann geschieht das in der Weise, daß sie als die Je-Weiligen Ruch geben einander. Die Verwindung des Un-Fugs geschieht eigentlich durch das Gehörenlassen des Ruchs. Das sagt: in der ἀδικία liegt als Wesensfolge des Un-fugs der Un-Ruch, das Ruchlose.561

In der wechselseitigen Rücksichtnahme der Dinge versucht kein Individuum die Position des anderen zu besetzen, Herrschaft über dieses auszuüben oder das Anrecht des Künftigen auf den Hervorgang in die Unverborgenheit zu bestreiten. Jedes Anwesende akzeptiert die zugemessene Spanne der Zeitlichkeit und begreift das Ungegenwärtige als legitime Grenze. Auf diese Weise kann die Gerechtigkeit, der Fug, walten.562 Umgekehrt kennzeichnet es die kontrahierte Pseudoautarkie, dass sie sich den anderen Dingen innerhalb des gegenwärtig Anwesenden überordnet, indem sie allein für sich eine Permanenz der Geltung prätendiert und sich in einer scheinewigen Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft verfestigt. Indem die Hybris des Aufstandes die Angemessenheit des Hinwegganges leugnet und sich der über die intersubjektive Anerkennungsleistung gestifteten Zugehörigkeit widersetzt, bewährt sie sich als Manifestationsform der Ruchlosigkeit.563 Sie verweigert sich der Einwilligung, die das eigene

561 Ebd., S. 361. 562 Wiebrecht Ries vertritt explizit die auch in dieser Arbeit favorisierte Deutung, dass die Δίκη selbst als maßverteilende Kraft gefasst werden kann, welche innerhalb der Ordnung der Zeit über die Dinge richtet. In Ries‘ Interpretation wird die Δίκη nahezu gänzlich mit dem ‚Richtspruch der Zeit‘ identifiziert. Gleichwohl unterlässt es Ries, das Verhältnis zwischen der Δίκη und dem ἄπειρον konkret zu bestimmen. Vgl. Ries, Die Philosophie der Antike, S. 24: „Wenn die Dinge einander Buße und Strafe für ihre ‚Ungerechtigkeit‘ zahlen müssen ‚nach dem Richtspruch der Zeit‘, dann ist die Zeit der Richter über den gerechten Austausch der Dinge. […] Vor dem strengen Richtstuhl der Dike hat alles seine Zeit. Dike teilt – nach der ‚Anordnung der Zeit‘– einem jeglichen Seienden sein ihm nach ‚Strafe‘ und ‚Buße‘ zugemessenes Teil zu. […] Das apeiron ist ohne Tod, alterslos ist es ohne Anfang und Ende. Somit ist es zeitlos und göttlich. […] Hinter der unendlichen Vielheit des Entstehenden und Vergehenden steht bei Anaximander die sie richterlich ordnende Größe des einen Unsterblichen und Unvergänglichen.“ Aufschlussreich ist in diesem Kontext die Anaximander-Auslegung Karl Jaspers´. Im Gegensatz zu Ries, konzediert Karl Jaspers der Zeit nicht die richtende Funktion. Indes leitet die Zeit für Jaspers jenes Gericht ein, welches die Δίκη mit dem Urteil beendet, dass die Dinge aufgrund ihrer im permanenten Streit begangenen Ungerechtigkeiten in das Nichtsein zurücksinken müssen. Die Einwirkungsmacht der Δίκη wird von Jaspers an das Ende des Prozesses verlagert, weil in seiner Deutung das ἄπειρον (und nicht die Gerechtigkeit) die Kontrolle über die Dinge inmitten der Zeit innehat. Vgl. Jaspers, Die grossen Philosophen I, S. 628: „Die Macht der Dike ist unentrinnbar. Anaximander erkennt diesen Ausgleich im ganzen Weltgeschehen: die Dinge alle liegen miteinander im Streit, wie die Menschen vor Gericht. Die Buße erfolgt ‚gemäß der Anordnung der Zeit‘. Aber die Zeit ist nicht selber der Richter, sondern sie führt das Gericht herbei. Die Zeit ist nicht das Apeiron, aber dieses steuert in den Ereignissen der Zeit.“ 563 Hannah Arendt bezeugt auch an dieser Stelle ihr beeindruckendes Gespür für verborgene Textzusammenhänge, wenn sie die im Anaximander-Aufsatz geschilderte ‚Irre‘ des jeweils Anwesenden, die sich in dem Willen zur fortwährenden Beständigkeit und Selbsterhaltung manifestiert, mit dem aus Sein und Zeit bekannten Gedanken des schuldigen Selbst parallelisiert. Sowohl in Sein und Zeit als auch im Anaximander-Aufsatz entdeckt Arendt eine Dimension der unumgänglichen Tragik. Diese Tragik äußert sich nach Arendt in Sein und Zeit darin, dass das Dasein durch seine Geworfenheit immer schon ‚schuldig‘ ist. Im Anaximander-Aufsatz drückt sich der tragische, nicht in die Verantwortlichkeit des Einzelnen fallende Gehalt vornehmlich darin aus, dass das jeweils Anwesende notwendigerweise auf

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2.6. Die Bedeutung der τίσις im Anaximander-Aufsatz von 1946

Wesen dem Fug gehören lässt, indem sie die Je-Weiligen aus dem eigenen Wirkkreis zu verdrängen sucht. Damit erhält der zweite Teil des nach der Athetese übriggebliebenen Satzfragmentes seine definitive Übersetzung: · διδόναι…αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας. „gehören lassen sie Fug somit auch Ruch eines dem anderen (im Verwinden) des UnFugs.“564

der ausgedehnten Dauerfähigkeit seiner Existenz bestehen muss, wenn es sich im Bereich des Erscheinens halten möchte. Indes könnte Arendts intellektualistische Deutung hinterfragt werden, wonach sich das jeweils Anwesende im Anaximander-Aufsatz aus der ‚Irre‘ der bloßen Anwesenheit befreien könne, wenn es im Medium des „Denken[s] mit dem Abwesenden“ in Verbindung trete. Arendt ist insofern zuzustimmen, als diese Besinnung auf das Sein (das Arendt als ‚bleibende Verborgenheit‘ begreift) für Heidegger tatsächlich einen Weg bildet, die – wenn diese Übertragung der Terminologie von Sein und Zeit auf den Anaximander-Aufsatz erlaubt ist – Schuld der Geworfenheit zu erkennen, in den eigenen Tod vorzulaufen, die zugemessene Endlichkeit der Anderen zu würdigen und die Verfallenstendenz an die Gegenwart des Beharrens zu überwinden. Allerdings entfaltet Heidegger in seinem Anaximander-Aufsatz auch den anderen Weg, demgemäß es allererst das Sein (beziehungsweise der ‚Brauch‘) ist, welches den unumgänglichen Un-fug in dem angeordneten Verschwindenlassen des Seienden aufhebt und die zeitliche Ordnung restitutiert. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 420: „Damit gelangen wir wieder auf vertrauten Boden, und das wird deutlich, wenn wir lesen, die Unordnung sei ‚tragisch‘ und nicht etwas, wofür man den Menschen verantwortlich machen könne. Natürlich gibt es ‚keine Stimme des Gewissens‘ mehr, die den Menschen zum eigentlichen Selbstsein zurückriefe, zu der Erkenntnis, daß er, was er auch getan oder unterlassen hat, bereits ‚schuldig‘ war, weil er seine Existenz ‚schuldete‘, nachdem er in die Welt geworfen war. Doch so, wie dieses ‚schuldige‘ Selbst in ‚Sein und Zeit‘ sich durch Vorwegnahme seines Todes retten konnte, so kann hier [im AnaximanderAufsatz, J. K.] das ‚irrende‘ Dasein, während es im gegenwärtigen Reich der Irre ‚eine Weile anwest‘, im Denken mit dem Abwesenden in Verbindung kommen. Es bleibt aber der Unterschied, daß hier das Abwesende (das Sein in seiner bleibenden Verborgenheit) keine Geschichte im Reiche der Irre hat, und daß Denken und Handeln nicht zusammenfallen. Handeln heißt irren, in die Irre gehen. Man sollte auch beachten, wie die frühere Definition des Schuldigseins als einer zentralen Eigenschaft des Daseins, unabhängig von jeder speziellen Handlung, jetzt durch das ‚Irren‘ als die entscheidende Eigenschaft aller menschlichen Geschichte ersetzt worden ist. (Die beiden Formulierungen erinnern im übrigen merkwürdig an Goethes ‚Der Handelnde ist immer schuldig‘ und ‚Es irrt der Mensch, solang er strebt.‘).“ Zu Heideggers Doppelexplikation der irreversiblen Schuld des Daseins, die einerseits in der Freiheitskonstitution des wählend-negierenden Entwurfes generiert wird und andererseits in der Unverfügbarkeit des Grundes wurzelt, vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 285: „Das Dasein ist sein Grund existierend, das heißt so, daß es sich aus Möglichkeiten versteht und dergestalt sich verstehend das geworfene Seiende ist. Darin liegt aber: seinkönnend steht es je in der einen oder anderen Möglichkeit, ständig ist es eine andere nicht und hat sich ihrer im existenziellen Entwurf begeben. Der Entwurf ist nicht nur als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt, sondern als Entwurf selbst wesenhaft nichtig. Diese Bestimmung meint wiederum keineswegs die ontische Eigenschaft ‚erfolglos‘ oder ‚unwertig‘, sondern ein existenziales Konstitutivum der Seinsstruktur des Entwerfens. Die gemeinte Nichtigkeit gehört zum Freisein des Daseins für seine existenziellen Möglichkeiten. Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen. In der Struktur der Geworfenheit sowohl wie in der des Entwurfs liegt wesenhaft eine Nichtigkeit. Und sie ist der Grund für die Möglichkeit der Nichtigkeit des uneigentlichen Daseins im Verfallen, als welches es je schon immer faktisch ist. Die Sorge selbst ist in ihrem Wesen durch und durch von Nichtigkeit durchsetzt. Die Sorge – das Sein des Daseins – besagt demnach als geworfener Entwurf: Das (nichtige) Grund-sein einer Nichtigkeit. Und das bedeutet: Das Dasein ist als solches schuldig, wenn anders die formale existenziale Bestimmung der Schuld als Grundsein einer Nichtigkeit zu Recht besteht.“ 564 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 361.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

2.7. το` χρεω´ ν als „das frühe Wort des Seins“ und die Zugehörigkeit des Fuges zum ‚Wesen des Anwesens‘ Die zu Beginn dieses Kapitels promulgierte These, dass die Δίκη nicht nur in Heideggers Zwiegespräch mit Heraklit, sondern auch in der Auslegung des Anaximanderspruches gegenüber dem Sein (als Beziehung innerhalb des Anwesens des Anwesenden, als Λόγος und als ἓν) untergeordnet wird, lässt sich anhand des Einbezuges des bislang nicht kommentierten ersten Satzteiles: „κατὰ τὸ χρεών“ untermauern.565 Die mit Hilfe des Semikolons veranschaulichte Abtrennung der Formulierung κατὰ τὸ χρεών vom Rest des Satzes indiziert für Heidegger die Differenz zwischen dem Anwesen selbst und dem Anwesenden. Von Nietzsche und Diels mit „nach der Notwendigkeit“ übersetzt, gibt das κατὰ τὸ χρεών nach Heidegger die Herrschaftsweise an, in der die metaphysisch übergeordnete und deswegen auch textuell vorangestellte Instanz – κατὰ τὸ χρεών – das im zweiten Satzteil genannte, gegenwärtig Anwesende bestimmt. In dieser Funktion ist das τὸ χρεών für Heidegger der vorausdeutende Name für die bei Parmenides zur Sprache kommende Verbindung von ἐόν und ἐόντα.566 Deswegen postuliert Heidegger, dass in der Figuration des τὸ χρεών und demnach bei Anaximander das Sein zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte gedacht werde: Das je-weilig Anwesende weilt κατὰ τὸ χρεών. Gleichviel wie wir τὸ χρεών zu denken haben, das Wort ist der früheste Name für das gedachte ἐόν der ἐόντα; τὸ χρεών ist der älteste Name, worin das Denken das Sein des Seienden zur Sprache bringt.567 565 Vgl. ebd., S. 362ff. 566 Zu der sich im Namen des ἐόν lichtenden, ontologischen Differenz vgl. Heidegger, Moira (Parmenides, Fragment VIII, 34–41), GA 7, S. 245: „Doch Parmenides denkt im Namen ἐόν keineswegs das Seiende an sich, worein als das Ganze auch das Denken gehört, insofern es etwas Seiendes ist. Ebensowenig meint ἐόν das εἶναι im Sinne des Seins für sich, gleich als ob dem Denker daran gelegen sei, die nicht-sinnliche Wesensart des Seins gegen das Seiende als das Sinnliche abzusetzen. Das ἐόν, das Seiend, ist vielmehr in der Zwiefalt von Sein und Seiendem gedacht und participial gesprochen, ohne daß der grammatische Begriff schon eigens in das sprachliche Wissen eingreift. Die Zwiefalt läßt sich durch die Wendungen ‚Sein des Seienden‘ und ‚Seiendes im Sein‘ wenigstens andeuten. Allein, das Entfaltende der Zwiefalt verbirgt sich mehr durch das ‚im‘ und ‚des‘, als daß es in sein Wesen weist. Die Wendungen sind weit entfernt, die Zwiefalt als solche zu denken oder gar die Entfaltung ins Fragwürdige zu heben.“ 567 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 363. Christian Iber sieht die wesentlichen Bausteine des heideggerschen Strategieziels einer geschlossenen Phalanxkonstruktion der vorsokratischen Philosophie besonders in der (auch im obigen Zitat hervorstechenden) Aufspürung gemeinsamer ontologischer Gedankenzüge sowie in der Kaschierung der Differenzen zwischen Anaximander und Heraklit auf der einen Seite und Parmenides auf der anderen Seite. Vgl. Iber, Interpretationen zur Vorsokratik, S. 207: „Allerdings verdeckt Heidegger den Parmenideischen Bruch im vorsokratischen Denken, indem er erstens die Unterschiede zwischen Anaximander, Heraklit und Parmenides nivelliert und zweitens Parmenides zum Maßstab macht, dem die beiden anderen untergeordnet werden. Heidegger tut dies, weil er die frühen Griechen auf Ontologie, d. h. auf das in ihnen zwar Ungedachte, aber zu denkende Seinsdenken festlegt. Faktisch aber kommt die ontologische Wende in der vorsokratischen Philosophie erst mit Parmenides herein. Abgesehen vom ausdrücklichen Seinsdenker verpflichtet Heidegger auch alle früheren Vorsokratiker, die das Grundwort ‚Sein‘ gerade nicht nennen, auf das Denken des Seins als das Ungedachte in ihrem Denken. Insofern beginnt für Heidegger das Seinsdenken bereits bei Anaximander.“

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2.7. το` χρεω´ ν als „das frühe Wort des Seins“ und die Zugehörigkeit des Fuges zum ‚Wesen des Anwesens‘

Wie oben expliziert werden konnte, lässt Heidegger die δίκη (als Fug) im Aufsatz Der Spruch des Anaximander aus einem Verwinden des Un-fugs entspringen, das sich im Medium des Ruches ereignet. Der Ruch charakterisiert das privilegierte Ethos, in dem die je-weilig Anwesenden Verzicht auf den Eigensinn leisten und sich in gegenseitiger Schätzung anerkennen. Deswegen konnte im Vergleich zu Nietzsches AnaximanderInterpretation zeitweilig die Lesart plausibel erscheinen, dass Heidegger eine im Gewand der Archaik vorgetragene, an sich jedoch zutiefst neuzeitliche Version intersubjektiver Gerechtigkeitskonstitution bedenkt, wie sie sich in den Anerkennungstheorien Fichtes und Hegels findet. Dies lässt sich anhand einer lichtvollen Passage aus der Anaximander-Auslegung dokumentieren, die Heidegger im Rahmen der Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 vorträgt: Sofern aber das jeweilig Anwesende dem Wesen der Anwesung entspricht, besteht es nicht und versteift sich nicht auf die Beständigung in die Beständigkeit. Die Anwesung ist Hervorgang als Übergang. Das solcher Art Anwesende gibt selbst den Fug, δίκην. Es fügt sich in die Verfügung. Das will sagen: Die Anwesung ist Übergang des Hervorgehens in die Entgängnis. Indem aber so das Seiende selbst den Fug gibt dem Sein, ist es als das jeweilig Seiende solchen Wesens, daß es von sich aus nun auch jedes jeweilig Seiende sein läßt, was ein jedes ist. Jedes Seiende anerkennt, Fug gebend dem Sein, wechselweise jedes Seiende. So läßt denn auch eines dem anderen die ihm gehörige Schätzung (καὶ τίσιν ἀλλήλοις). Erst durch dieses in sich zusammengehörige Zweifache (διδόναι δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις) bestimmt sich der volle Wesensbezug des jeweiligen Anwesenden zum Unfug. Fug geben und wechselweise die Anerkennung lassen – das ist in sich die Verwindung des Unfugs.568

Über diese anerkennungstheoretische Strukturanalogie darf nicht hinwegtäuschen, dass Heidegger zuerst die Un-Fuge zum Wesenszug des Seienden erhoben hatte, um diese in den Kollektivzusammenhalt des Fuges umschlagen zu lassen. In einem zweiten Stadium wandelte sich die Un-Fuge zu dem zumeist zu registrierenden, lebensweltlichen Habitus der Menschen und Dinge, der sich gerade aufgrund seiner Rücksichtslosigkeit nicht aus dem gegenwärtigen Anwesen loszureißen vermochte. Daraufhin grenzte Heidegger die Un-Fuge von dem ins Nichts fallenden, „schrankenlosen Eigensinn“569 ab. Schließlich sollte die Disharmonie des Ungefügten innerhalb des gegenwärtig Anwesenden durch das Gewähren der Rücksicht überwunden werden. Das von Heidegger trotz aller Oszillation zwischen den partiell widersprüchlichen Prioritätsansprüchen und Konstellationen nachdrücklich prononcierte Moment intersubjektiver Akzeptanz findet sich in Nietzsches Deutung der heraklitischen Δίκη niemals.570 Stets beleuchtet Nietzsche die Gerechtigkeit unter dem Index einer Unschuld des Werdens, der ästhetischen Weltbetrachtung571 und des spielenden Weltkindes. Wie im ersten Kapitel verdeutlicht werden konnte, blieb dieser Ansatz Heidegger auch in seiner eigenen Heraklit-Auslegung vollkommen fremd. Folglich wird die Bedeutung der Δίκη bei Heidegger einerseits verringert, weil sie nicht in den Rang einer kosmischen, Natur und Mensch einschließenden Ordnungsmacht aufsteigen kann. 568 569 570 571

Heidegger, GA 51, S. 119. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 360. Vgl. hierzu das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit. Vgl. zur Formierung der Kerngedanken beim jungen Nietzsche: Tilman Borsche u. a. (Hrsg.), Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Andererseits reflektiert Heidegger den ihr innewohnenden, an das Verhältnis des Menschen zu seiner Endlichkeit zurückgebundenen, zeitlichen wie anerkennungstheoretischen Sinn stärker als Nietzsche. Aufgrund ihrer metaphysikkritischen Stoßrichtung572 dürfte Heideggers Deutung des Anaximander-Spruches anschlussfähiger für aktuelle philosophische Debatten sein. Heidegger ist an einer Kosmodizee, die für Nietzsche nach dem diagnostizierten Ereignis des Gottestodes virulent wird, nicht interessiert. Während Nietzsche auf den Grund der Sinnlosigkeit des geschicklos-ungeschichtlichen Spiels blickt, um es zu bejahen, weil es sich als nunmehr unabweisliche, schaffend-zerstörende Gesetzmäßigkeit der Welt enthüllt, resultiert die Verfasstheit der Welt für Heidegger aus dem epochalen Wandel der Beziehung zwischen dem Sein und dem zu ihm gehörigen Denken. Vor dem Hintergrund der Seinsgeschichte und angesichts des Topos eines anderen Anfangs ist es nahezu ausgeschlossen, dass die bei Heraklit und beim frühen Nietzsche zum immerwährenden Weltgesetz avancierende Gerechtigkeit für Heidegger zum Schlüsselmotiv werden könnte. Dies manifestiert sich auch darin, dass Heidegger Ἔρις573, den Streit, als gleichberechtigt neben Ἕν, Λόγος, ἐὸν und Μοῖρα stehendes, griechisches Grundwort der Δίκη überordnet, wohingegen Nietzsche den Streit der höheren Gerechtigkeit subordiniert.574 Den direkten Nachweis für die Einbettung der Δίκη in das Sein liefert Heideggers weitere Spezifikation und Übersetzung des τὸ χρεών. Besonders die folgende Textstelle aus dem Anaximander-Aufsatz ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich: Die je-weilig Anwesenden wesen an, indem sie den ruchlosen Un-Fug verwinden, die ἀδικία, die als ein wesenhaftes Mögen im Weilen selbst waltet. Anwesen des Anwesenden ist solches Verwinden. Dieses vollzieht sich dadurch, daß die Je-Weiligen Fug gehören lassen und somit einander Ruch. Die Antwort auf die Frage, wem der Fug gehört, ist gegeben. Der Fug gehört dem, dem entlang Anwesen, und d. h. Verwindung west. Der Fug ist κατὰ τὸ χρεών. Damit hellt sich, wenngleich erst aus weiter Ferne, das Wesen des χρεών auf. 572 Zu Heideggers Kritik an der metaphysisch legitimierten Beständigkeit des Seins im AnaximanderAufsatz vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη, S. 155: „Heidegger macht klar, daß die Metaphysik einheitlich das Sein als Beständigkeit verstanden hat. Er legt […] Nietzsches Gedanken der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ als die beständigste Beständigung des Bestandlosen aus. ‚Des Bestandlosen‘, weil das Seiende sich jetzt nur durch die Beständigung durch den Menschen in die Beständigkeit retten kann. In dem Spruch des Anaximander findet Heidegger aber ein ‚Versprechen‘ der Δίκη, die beständigste Beständigung in die anfängliche Verfügung zu ‚verwinden.‘“ In der vorliegenden Arbeit wird freilich Otsurus These bestritten, dass Heidegger im Spruch des Anaximander ein ‚Versprechen‘ der Δίκη entdecke, das mit der Verwindung der ‚beständigsten Beständigung‘ koinzidiert. Vielmehr wird dieses Vermögen der immer wieder geschehenden Reetablierung der Seinsordnung in der Grundbegriffe-Vorlesung vornehmlich der Zeit attribuiert und geht im Anaximander-Aufsatz gänzlich auf das Sein (τὸ χρεών) über. So ist gegen Otsurus Auffassung einzuwenden, dass sich die Bedeutungsnivellierung der δίκη (bzw. des Fuges) als ein wesentlicher Aspekt in Heideggers Anaximander-Auslegung herauskristallisiert. 573 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 352. 574 Vgl. Nietzsche, Basler Vorlesungen, S. 178f., hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 280: „Dies ist eine der großartigsten Vorstellungen: der Streit als das fortwährende Wirken einer einheitlichen, gesetzmässigen, vernünftigen Δίκη, eine Vorstellung, die aus dem tiefsten Fundament des griechischen Wesens geschöpft ist.“ Zur Untermauerung der These, dass Nietzsche die heraklitische Gerechtigkeit als erstes Koordinationsprinzip inmitten der Universalität des Werdens ansetzt, vgl. das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit.

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2.7. το` χρεω´ ν als „das frühe Wort des Seins“ und die Zugehörigkeit des Fuges zum ‚Wesen des Anwesens‘

Wenn es als das Wesen des Anwesens sich wesenhaft auf das Anwesende bezieht, dann muß in dieser Beziehung liegen, daß τὸ χρεών den Fug und somit auch den Ruch verfügt. Das χρεών verfügt, daß ihm entlang das Anwesende Fug und Ruch gehören lasse. Das χρεών läßt dem Anwesenden solches Verfügen zukommen und schickt ihm so die Weise seines Ankommens als die Weile des Je-Weiligen.575

Die Verwindung der Un-Fuge, die auf die Potenzialität eines „wesenhaften Mögen im Weilen“576 festgelegt wird, geschieht, indem die Anwesenden im transitiven Sinne anwesen, d. h. indem sie sich im Einklang mit der Bewegtheit des Fuges halten.577 Aus dem bisherigen Gedankengang Heideggers ist die Ansicht bereits vertraut, dass sich in der wechselseitigen Rücksicht und damit im Verzicht des Je-Weiligen auf die Allheitsprätention der Modus herauskristallisiert, durch den sich die Anwesenden in den Fug einfügen. Eine entscheidende Veränderung tritt jedoch dadurch ein, dass dieses Ethos des reziproken Gewährens der τίσις an dieser Stelle nicht mehr als Konstituens des Fuges fungiert. Der Fug gehört gemäß dem obigen Passus von vornherein der Verfügungsgewalt des χρεών zu. In Nietzsches Übersetzung symbolisiert das χρεών die gerechte Notwendigkeit, die durch die Ordnung der Zeit geprägt wird. Bei einer differenzierten Betrachtung wird transparent, dass sich Heideggers Deutung Nietzsches Übersetzung an diesem Punkt wieder annähert. Das χρεών verleiht bei Heidegger das geordnete Maß der Endlichkeit („daß τὸ χρεών den Fug und somit auch den Ruch verfügt“578), eröffnet den Menschen und Dingen die Fähigkeit, sich innerhalb dieses Rahmens miteinander zu arrangieren („Das χρεών verfügt, daß ihm entlang das Anwesende Fug und Ruch gehören lasse“579), und lässt die Anwesenden aus der Verborgenheit in der Weile ihres Unverborgenseins ankommen. Zugleich übt das χρεών eine zwingende Macht auf die Un-Fuge aus. In Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander erscheint χρεών nicht allein als gewährende, sondern auch als verpflichtende Instanz, die den Fug besitzt und die Subordination fordert. Dies kommt besonders in Heideggers Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 zum Ausdruck: Zum jeweiligen Anwesenden gehört der Unfug. Dies bedeutet: das Sichnichtfügen in die Verfügung. Allein, sofern das Anwesende anwest, steht es doch in der Verfügung und ge575 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 363. In dieser Beschreibung des χρεών als haltgebender Instanz, die jedem Seienden die jeweilige Bewegtheit zukommen lässt, lassen sich merkliche Überschneidungen mit jener Explikation des ἀρχή-Charakters der φύσις feststellen, die Heidegger in seiner Auseinandersetzung mit der Physik-Abhandlung des Aristoteles gibt. Vgl. dazu Heidegger, Vom Wesen und Begriff der φύσις, S. 247: „Die φύσις ist ἀρχή, und zwar Ausgang für und Verfügung über Bewegtheit und Ruhe und zwar eines Bewegten, das diese ἀρχή in ihm selbst hat. Wir sagen hier nicht ‚in sich selbst‘, um anzudeuten, daß das so geartete Seiende die ἀρχή nicht ausdrücklich wissend ‚für sich‘ hat, weil es ja überhaupt nicht ‚sich‘ selbst ‚hat‘ als ein Selbst. Pflanzen und Tiere sind in der Bewegtheit, und zwar auch dann, wenn sie stillstehen und ruhen. […] Weil somit Pflanzen und Tiere – ob ruhend oder bewegt – in der Bewegung sind, deshalb sind sie nicht nur in Bewegung, sondern sie sind in der Bewegtheit; das soll sagen: sie sind nicht zunächst ein Seiendes für sich und unter anderem, das dann zuweilen auch in Bewegungszustände gerät, sondern sind nur Seiendes, sofern sie in der Bewegtheit ihren Wesensaufenthalt und den seinsmäßigen Halt haben.“ 576 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 363. 577 Vgl. ebd., S. 364. 578 Ebd., S. 363. 579 Ebd., S. 363.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

nügt ihr. Das Anwesende ist das jeweils von sich aus Seiende, ὄντα αὺτά. Gewiß – aber gerade darin, daß das Seiende jeweils von ihm selbst her Seiendes ist, liegt es, daß dieses Sein, das heißt die Anwesung, in sich auf der Beständigung in die Beständigkeit besteht. Zum Wesen der Anwesung, für sich genommen, gehört mit dies Darauf-bestehen, daß die Anwesung wese, und das heißt, in einer Beständigung ihr Endgültiges und in solchem Ende (Grenze) die Vollendung finde. In der Anwesung des Anwesenden (ὄντα αὺτά) liegt Beständigung als das Bestehen auf der Beständigkeit. In diesem Wort müssen wir jetzt nicht nur denken das Andauern und endgültige Fortdauern der Anwesung, sondern zugleich und vor allem das ‚Bestehen darauf ‘, das endgültige Sichversteifen auf das Immerweiter (das ἀεί). Die so begriffene Beständigkeit aber ist gegen das ausgänglich verfügte Wesen des Seins, gegen die ἀρχή, gegen das ἄπειρον, das Verwehren der Grenze. Was aber wesentlich und doch gegen das Wesen west, ist das Unwesen. Was gegen die Verfügung das Verfügte auf es selbst in seine Beständigkeit verfestigt, ist der Unfug, ἀδικία. Dieser kommt nicht irgendwoher erst dem Anwesenden zu, sondern liegt mit im Wesen der Anwesung und gehört in die Notwendigkeit des Seins. Dieses ist in sich als Verwehrung der Grenze schon auf die Begrenzung in die Beständigkeit und damit auf den Unfug als die wesende Möglichkeit (mögen) bezogen.580

Ähnlich wie Heraklits Δίκη und Nietzsches Notwendigkeit, konterkariert das χρεών die Hybris der Ungerechtigkeit, die sich für immer im gegenwärtigen Anwesen verfestigen möchte. Genau wie in Nietzsches Anaximander-Interpretation ist die verrinnende Zeit das Wirkmittel der Unerbittlichkeit des χρεών. Dieser unbeugsamen Richtkraft kann – wie oben veranschaulicht wurde – das sich aktiv Lossagende nicht entgehen. Doch auch das in der Weile Beharrende vermag es nicht, sich aus dem Notwendigkeitszusammenhang zu befreien. Die untergründige, metaphysikkritische Stoßrichtung des Anaximander-Aufsatzes vereinigt sich hier mit einer Kritik an dem aus Sein und Zeit bekannten, „vulgären Zeitverständnis“.581 Nach Heidegger bekämpft die Metaphysik jene maßvolle, durch das χρεών und somit durch das Anwesenlassen selbst verfügte Gerechtigkeit der Endlichkeit, indem sie ihre Prinzipien auf die überzeitlichen, un-endlichen Prädikate der Unabhängigkeit von der Zeit, Ewigkeit, Grundlosigkeit und Selbstbejahung582 gründet. Aus dieser Perspektive betrachtet, enthüllt sich die Metaphysik als abendländisches Großprojekt der Legitimierung des Un-Fugs und der Verwindung des Fuges. Diese Lesart soll durch einen Exkurs zu Heideggers Anaximander-Interpretation aus der Grundbegriffe-Vorlesung (1941, GA 51) validiert werden.

580 Heidegger, GA 51, S. 118f. 581 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 65, S. 330. Zum herausragenden Skopus der Zeitlichkeit in Heideggers Anaximander-Auslegung vgl. bereits Pietro Chiodi, Heidegger e Anassimandro: la metafisica come oblio dell` essere, in: Rivista Critica di Storia della Filosofia, 7, 1952, S. 161–172. 582 Vgl. F.W.J. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350.

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2.8. Exkurs II

2.8. Exkurs II : Das α῎πειρον als „Verwehrung der Grenze“ und der Verfügungscharakter der α᾿ρχή in Heideggers Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 (GA 51) In diesem zweiten Exkurs, der sich Heideggers Erforschung des Anaximanderspruches in der Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 widmet, sollen keineswegs sämtliche Filiationen der Textexegese eingefangen und abgebildet werden. Stattdessen soll in den folgenden Ausführungen ausgelotet werden, worin und in welcher Weise Heideggers zweite Interpretation des Satzes von der im Sommersemester 1932 proponierten Auslegung abweicht. In dieser Aufspürung zentraler Modifikationen lässt sich zugleich die Frage beantworten, welche inhaltlichen Motive der Grundbegriffe-Vorlesung auf Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander vorausweisen. Dergestalt wird es möglich, die Entwicklungsgeschichte der vielschichtigen Auseinandersetzung Heideggers mit dem ersten abendländischen Denker nachzuzeichnen. 1941 beginnt Heidegger seine Auslegung des Spruches, indem er direkt seine eigene Übersetzung voranschickt. Da sich deren Klang und Wortwahl gegenüber der 1932 präferierten Variante merklich verändert hat, kann darauf geschlossen werden, dass sich auch in Heideggers Auffassung des inneren Sinngehalts eine eklatante Wende entdecken lässt: ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν. „Von woheraus aber der Hervorgang ist dem jeweilig Anwesenden auch die Entgängnis in dieses (als in das Selbe) geht hervor entsprechend der nötigenden Not; es gibt nämlich jedes Anwesende selbst (von sich aus) Fug, und auch Schätzung (Anerkennung) läßt eines dem anderen, (all dies) aus der Verwindung des Unfugs entsprechend der Zuweisung des Zeitigen durch die Zeit.“583

Wie im ersten (1932) und dritten Zwiegespräch (1946) mit Anaximanders Spruch, rekurriert Heidegger auch 1941 auf die „Maßgeblichkeit von Nietzsches und Diels‘ Übersetzungen des Spruches für heute gängige Auslegungen“584, um die durch diese exemplarischen Übersetzungen vermeintlich beförderte Tendenz einer physikalischen oder ethischen Lesart des Spruches von vornherein und kategorisch als verfehlt abzuweisen. Hingegen leitet Heidegger seinen eigenen Übersetzungsversuch aus einer „Besinnung auf das Sein“585 ab, deren Sinn sich allein im denkerischen „Mitvollzug dieser Besinnung“586 aneignen lasse. Im Abschnitt § 22 a) stellt Heidegger zunächst einige Vermutungen über das Verhältnis der beiden Sätze an. Wie im ersten Exkurs dieser Arbeit veranschaulicht werden konnte, verfolgt Heidegger in der Vorlesung von 1932 das Ziel, das zweite Satzstück als Begründungszeugnis des ersten Teils zu profilieren. 1941 versieht

583 584 585 586

Heidegger, GA 51, S. 94. Ebd., S. 97. Ebd., S. 101. Ebd., S. 101.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Heidegger diese Anordnungsmöglichkeit mit einer skeptischen Note und stärkt die Tragweite des ersten Satzstückes: Nur das eine bleibt klar, daß der zweite nicht einfach wiederholt, was der erste sagt. Beide Sätze sagen nicht das Selbe, wohl aber sagen sie vermutlich vom Selben. Daß ein Unterschied zwischen beiden Sätzen besteht, zeigt der Beginn des zweiten. Er wird mit einem γάρ (‚denn‘, ‚nämlich‘) eingeleitet. So möchte man vermuten, daß der zweite Satz für den ersten die nachträgliche Begründung gibt. Vielleicht liegt aber auch alles umgekehrt. Vielleicht gibt der erste Satz den ‚Grund‘ für den zweiten, der dann eine Folge ausspricht von dem, was im ersten Satz genannt wird. Vielleicht müssen wir hier dann aber alle nur mögliche Vorsicht walten lassen, wenn wir da geradehin von ‚Begründung‘ reden; denn was hier ‚Begründung‘ heißen könnte, muß sich aus dem bestimmen, was das Wesen des Grundes ist, von dem im Spruch gesagt wird. Wir müssen aber vielleicht überhaupt auf uns geläufige Denkweisen verzichten. Wir müssen auf die Gefahr hin, zunächst an der Oberfläche haften zu bleiben, erst einmal die beiden Sätze in ihrem Gehalt durchzudenken versuchen.587

In der Befolgung der Interpretationsmethode einer gesonderten Betrachtung der Satzteile kommt Heidegger im Abschnitt § 22b) zunächst auf die Aussageabsicht des ersten Satzes zu sprechen. Wie schon 1932, thematisiert Heidegger auch in der Grundbegriffe-Vorlesung vornehmlich die im ersten Stück exponierten Worte γένεσίς und φθορά. Heidegger konzediert, dass die Wiedergabe dieser Worte mit „Entstehen“588 und „Vergehen“589 prima facie eine gewisse Plausibilität beanspruchen könne, da dergestalt der lebensweltlich fundierte „Tatbestand“590 der fluiden Bewegtheit und der „wechselnde Lauf aller Dinge“591 dokumentiert werde.592 Indes stipuliert Heidegger, durch dieses konventionell-empiriebasierte Verständnis von γένεσίς und φθορά werde die Einsicht verstellt, dass erst durch die „genauere Angabe dessen, ‚von wo‘, ‚hinweg‘ und ‚wohin‘ ‚hervor‘ das Entgehen und das Hervorgehen sind, was sie sind“.593 Im Vergleich zur Vorlesung von 1932 ist erwähnenswert, dass Heidegger die Modi ‚Entgängnis‘ und ‚Hervorgang‘ nicht mehr mit der Semantik des Erscheinens beziehungsweise der Erschienenheit verknüpft. Auf den Anaximander-Aufsatz von 1946 vorausdeutend – und in Entsprechung zur fortgeschrittenen Reife seines seinsgeschichtlichen Denkens – wird der Raum, in welchen das Seiende hervorgeht und aus dem es zurücktritt, 1941 mit dem Terminus der „Anwesenheit“594 umrandet. Damit korrespondiert, dass Heidegger ‚das Seiende‘ nun mit der Formel „das Anwesende“595 übersetzt. Insofern das Hervorgehen und die Entgängnis die Vorgangseinheit repräsen587 588 589 590 591 592

Ebd., S. 102f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 103. Ebd., S. 104. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 103f.: „Wer kennt diese nicht, das ‚Entstehen und Vergehen‘? Und wer weiß nicht, daß überall und jederzeit ein ‚Entstehen und Vergehen‘ stattfindet? Rätselhaft und nach verschiedenen Hinsichten unerforscht mag bleiben, auf welche Weise die einzelnen Dinge entstehen und durch welche Ursachen sie jedesmal zugrundegehen; aber das Entstehen und Vergehen selbst ist ja doch ein Tatbestand, den wir, wie man heute sagt, jederzeit ‚erleben‘ und zwar in den verschiedensten Bezirken des Wirklichen.“ 593 Ebd., S. 104. 594 Ebd., S. 104. 595 Ebd., S. 104.

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2.8. Exkurs II

tieren, die dem Seienden als solchen eignet, verteidigt Heidegger auch 1941 die Auffassung, dass Anaximander trotz der Erwähnung von τοῖς οὖσι nicht primär auf die ontische Erfassung des Seienden abziele, sondern mit γένεσίς und φθορά das „Sein des Seienden“596 in den Blick nehme. Da der – das Sein des Seienden prägende – Hervorgang seine Wesensdetermination gemäß dem Originalspruch des Anaximander seinerseits aus dem ἐξ ὧν („von wo heraus“597) empfängt, klammert Heidegger die Rangposition des Seins des Seienden wie schon 1932 ein und ordnet es dem „‚Ursprung‘ des Seins“598 unter. Es ist unbedingt herauszustreichen, dass dieser Ursprung nicht in materieller Reifikation als „Urschlamm, aus dem alle Dinge gefertigt werden“599 verstanden werden darf. Eine erste bedeutsame Wegmarke erreicht Heideggers Anaximander-Interpretation der Grundbegriffe-Vorlesung, wenn er die Entschlüsselung des Vonwoheraus des Hervorgehens und des Wohinzurück der Entgängnis zur Hauptaufgabe seiner Exegese erhebt. Auf den ersten Blick scheint Heidegger mit dieser Justierung des Fokus, der sich vom Seienden abwendet, um den Verbund von Entgängnis und Hervorgehen aus dem einigenden Grund sichtbar zu machen, nicht von der philosophischen Ausrichtung der ersten Anaximander-Auslegung abzuweichen. Der entscheidende Unterschied gegenüber der Anaximander-Parmenides-Vorlesung manifestiert sich indes darin, dass Heidegger die 1932 nur beiläufig – zwecks Untermauerung des Zwangscharakters der Seinsverfügung – aufgerufene Wortverbindung κατὰ τὸ χρεών in der GrundbegriffeVorlesung ostentativ mit der Selbigkeit des Ausgangs identifiziert. Indem Heidegger τὸ χρεών mit „die nötigende Not“600 übersetzt und apostrophiert, dass das Hervorgehen und die Entgängnis nur walten können, wenn sie dieser nötigenden Gewalt gehorchen, wird die Hypostasierung des τὸ χρεών zum Brauch und zum „älteste[n] Namen“601 des Seins vorbereitet, die fünf Jahre später im Aufsatz Der Spruch des Anaximander reüssieren wird. Der einschneidende Bedeutungsaufstieg des τὸ χρεών lässt sich trefflich durch den folgenden Passus veranschaulichen: Haben wir einmal erkannt, daß gesagt werden soll, jenes, von wo heraus das Hervorgehen wese, sei eben dieses, wohin das Entgehen wese, dann besteht keine Schwierigkeit, dieses ταῦτα endlich im Unterschied zur bisherigen Textauffassung als ταὐτά zu lesen. So allein entspricht der Wortlaut erst dem, was hier der Spruch sagen will. Das ταῦτα, ‚dieses‘ im Sinne von ταὐτά ‚das Selbe‘, nennt jenes, worauf alles anfängliche Denken zudenkt, die Selbigkeit dessen, was Ausgang des Hervorgangs und Eingang der Entgängnis ist. Doch bleibt dieses nicht alles im Unbestimmten? Was ist denn dieses Selbe? Der Spruch gibt uns die klare 596 597 598 599 600

Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 106. Ebd., S. 106. Ebd., S. 106. In der Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944–46) greift Heidegger den Terminus der ‚nötigenden Not‘ auf, um die Unablässigkeit des Seins inmitten der scheinbaren Suffizienz des Seienden zu bekräftigen. Vgl. Heidegger, N II, S. 361: „Das Sein west, indem es – die Freiheit des Freien selbst – alles Seiende zu ihm selbst befreit und dem Denken das zu Denkende bleibt. Daß jedoch das Seiende ist, als ‚sei‘ das Sein nicht das Unablässige und Unterkunft-Brauchende, als ‚sei‘ es nicht die nötigende Not der Wahrheit selbst, das ist die in der vollendeten Metaphysik verfestigte Herrschaft der Notlosigkeit.“ 601 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 363.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Antwort: κατὰ τὸ χρεών Hervorgang aus dem Selben und Entgängnis in das Selbe sind entsprechend der nötigenden Not. Die nötigende Not ist es, der alles Hervorgehen und jede Entgängnis entsprechen, wenn sie aus dem Selben hervor in das Selbe eingehen. ταὐτά, das Selbe, das ist τὸ χρεών, die nötigende Not. […] τὸ χρεών ist schlechthin gesagt aus dem Wissen vom Sein des Seienden im Ganzen, ja im Wissen dessen, von wo aus das Sein des Seienden seinen Ausgang und wohin es seinen Rückgang nimmt.602

Heidegger warnt ausdrücklich davor, das Machtvolumen des τὸ χρεών durch die unverbrüchliche Regelmäßigkeit des Kausalgesetzes vorzustellen. Auch die dem mechanischen Erklärungsansatz entgegengesetzte, mythische Illustration des Notwendigkeitsgepräges durch den Begriff des „Schicksals“603 bleibt nach Heidegger opak und dekuvriert nur das Eingeständnis, dass „wir in unserem Wissen an der Grenze sind“.604 Obwohl Heidegger sich zur Aufklärung des τὸ χρεών in einer immanenten Lesart „einzig an den Spruch des Anaximander“605 halten möchte, so müsse zuerst dieser Spruch im Ganzen einem „einheitlichen Verstehen“606 zugänglich gemacht werden. Zu diesem Zweck pflegt Heidegger in dieser Phase des Gedankenganges einen weichenstellenden Exkurs ein, der sich im zurückschauenden Hinblick auf die Vorlesung von 1932 sehr gut dazu eignet, die Verschiebung in seiner Wesensthematisierung des Hauptbegriffs des ἄπειρον zu dokumentieren. In dieser kurzen Unterbrechung der unmittelbaren Auslegung des Spruches zieht Heidegger jenen zweiten Ausspruch heran, der Anaximander ebenfalls zugeschrieben wird. Wie im ersten Exkurs der vorliegenden Arbeit exponiert werden konnte, diente der Rekurs auf den zweiten überlieferten Ausspruch des Anaximander 1932 dazu, das ἄπειρον als „ermächtigende Macht des Erscheinens“607 zu etablieren und den Vorrang der (immer schon in allem Hervorgehen und Verschwinden zum Vorschein gekommenen) Grenzenlosigkeit gegenüber dem Seienden zu unterstreichen.608 Es ist nicht zu leugnen, dass Heidegger mit seiner Bezugnahme auf den zweiten Ausspruch auch 1941 das Ziel verfolgt, das ἄπειρον innerhalb der ontologischen Differenz auf der Seite des über das Wesen des Seins (als Anwesung) verfügenden Anfangs verorten zu können. Diese formale Korrespondenz des Deutungsinteresses darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heidegger das ἄπειρον einer inhaltlichen Neubestimmung unterzieht. Des Weiteren verdient Heideggers angereicherte Merkmalsexplikation der ontologischen Gravität der ἀρχή eine umfängliche Berücksichtigung. Zur Orientierung sei der griechische Originaltext des zweiten Spruches an diesem Ort nochmals zitiert. Heideggers Übersetzung wird mitsamt den beigefügten Anmerkungen im direkten Anschluss wiedergegeben: ἀρχή τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον.

602 603 604 605 606 607 608

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Heidegger, GA 51, S. 106. Ebd., S. 107. Ebd., S. 107. Ebd., S. 107. Ebd., S. 107. Vgl. Heidegger, GA 35, S. 28. Vgl. ebd., S. 30: „Im Erscheinen als solchen geschieht die ständige Bewährung des Grenzen-losen. Dieses hat in allem Erscheinen und Schwinden den Vor-schein – die Verfügung – die ermächtigende Macht.“

2.8. Exkurs II

‚Die Verfügung für das jeweilig Anwesende ist die Verwehrung der Grenzen.‘ (noch eindeutiger handhaben: die Verfügung als Verwehrung der Grenze; dieses Verfügen aber als Wesung der Entbergung der Entborgenheit als der Weile. Die Anfänglichkeit des Seins widersetzt sich der Beständigung. Aber gerade diese Anfänglichkeit entzieht sich dann selbst dem Angefangenen).609

Wie im ersten Exkurs exemplifiziert wurde, übersetzt Heidegger diesen Ausspruch 1932 mit der Formel: „Ausgang für das Seiende […] ist das Grenzenlose“.610 Neben der Substitution des ‚Seienden‘ durch den Titel des ‚jeweils Anwesenden‘ und der Ersetzung des Terminus ‚Ausgang‘ durch ‚Verfügung‘ ist hervorstechend, dass Heidegger das ἄπειρον nicht mehr als ‚das Grenzenlose‘ umschreibt, sondern es als ‚Verwehrung der Grenzen‘ artikuliert. Insgesamt verleiht Heidegger dem zweiten Überlieferungsspruch des Anaximander 1941 ein wesentlich dynamischeres Gepräge. So besitzen die 1932 gewählten Begriffe Ausgang und Grenzenlosigkeit einen eher statisch-beharrenden beziehungsweise ubiquitär-diffusen Konnotationsrahmen. Demgegenüber klingt im Topos der ‚Verfügung‘ die Vorstellung einer übergeordneten, alles Seiende begleitenden und lenkenden Macht an, während sich in der ‚Verwehrung der Grenzen‘ offenkundig das Modell einer permanenten Unterminierungstätigkeit der Selbstumschließungsintention abzeichnet. Wie schon in der Vorlesung von 1932, insistiert Heidegger auch 1941 darauf, dass die ἀρχή nicht als neutrale Positionsstelle des unbestimmt-abstrakten „Prinzip[s]“611 oder des „Beginns“612 rekognosziert werden dürfe, den das Seiende nach seinem Heraustreten definitiv hinter sich lassen könnte. Die ἀρχή kann nach Heidegger einzig deswegen als Ausgangsort des Hervorganges firmieren, weil und indem sie zuvor jenen Bereich des „Zwischen“613 eröffnet und durchmessen hat, in den das jeweils Anwesende hervorgeht, um einstmals aus ihm in das Vonwoheraus hinweggehen zu können: Die ἀρχή ist die Bahnung der Art und des Bereiches des Hervorgehens. Die Bahnung geht voraus und bleibt doch als das Anfängliche zurück und bei sich selbst. ἀρχή ist nicht der im Fortgang zurückgelassene Beginn. Die ἀρχή gibt den Hervorgang und das Hervorgehende frei, aber so, daß das Freigegebene nun erst in die ἀρχή als Verfügung einbehalten bleibt. Die ἀρχή ist der verfügende Ausgang. Daran läßt sich schon entnehmen, daß das, von wo heraus (ἐξ ὧν) der Hervorgang ist, das Selbe bleibt, da-hin zurück das Entgehen geht. Aber nicht dies allein, die ἀρχή verfügt auch über das, was zwischen Hervorgehen und Entgehen ist. Dies besagt jedoch: Die ἀρχή fügt gerade dieses Zwischen, was nicht mehr nur Hervorgang, aber noch nicht nur Entgängnis ist: den Übergang. Der Übergang ist der eigentliche Hervorgang, gleichsam seine Spitze. Die ἀρχή durchwaltet den Übergang. Die ἀρχή ist in sich der überallhin vorwaltende Ausgang, der alles in seine Verfügung einbezieht und durch diesen 609 Heidegger, GA 51, S. 107. Vgl. zur Überlieferungsgestalt des zweiten Ausspruches das doxographische Referat des Aetios, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 75:„Anaximander aus Milet sagt, das Prinzip der seienden Dinge sei das Unendliche. Denn aus diesem entstehe alles und zu diesem vergehe alles. Weshalb auch unendlich viele Welten produziert werden und wieder vergehen zu jenem, aus dem sie entstehen. Er gibt auch den Grund an, weshalb es unendlich ist: damit das faktische Entstehen in keiner Hinsicht nachlasse.“ Der zweite Ausspruch wird von Mansfeld und Primavesi folglich mit der Wendung „das Prinzip der seienden Dinge [ist] das Unendliche“ übersetzt. 610 Vgl. Heidegger, GA 35, S. 27. 611 Heidegger, GA 51, S. 107. 612 Ebd., S. 108. 613 Ebd., S. 108.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Einbezug zum voraus den Bereich bestimmt und überhaupt dergleichen wie Be-reich eröffnet.614

Anders als in der Vorlesung von 1932, in der Heidegger den Zwischenbereich des Erscheinens in erster Linie als Disseminationsfeld und als den immer schon in eine Richtung tendierenden Spielraum der gegenläufigen Kinetik des Hervorgehens und Verschwindens betrachtet hatte, avanciert jenes verlaufsmäßige Mittelstadium 1941 zum Kulminationsgeschehen des von der ἀρχή gewährten Hervorganges. Erwähnenswert ist, dass Heidegger in dem obigen Zitat eine temporale Neukonfiguration und modifizierte Hierarchieeinteilung der drei Dimensionen inauguriert. In der ersten Auslegung des Spruches (1932) des Anaximander unterlinierte Heidegger den Zeitsinn und prozessualen Charakter des Hervorganges in die „Umrissenheit“615, der in sich bereits das Verschwinden zugunsten des Fuges bergen sollte. Somit verwehrte Heidegger sich einer Exposition der Motive des Hervorgangs und des Schwunds als stabile Grundstellen von Anfang und Ende des Seienden, da sie in diesem Falle zu einmaligen Akten innerhalb der Lebensgeschichte jedes individuellen Seienden depotenziert würden, die erst in einem distinkten, gleichsam zeitenthobenen Kairos aktualisiert würden. Demgegenüber erhielt die Dimension der „Erschienenheit“616 – als Vorläuferfigur des Übergangs – in Heideggers erster Auseinandersetzung mit dem Spruch des Anaximander den präsentischen Synonymgehalt einer subsummierenden Anzeige umrissener Gestaltungsgrenzen. Diese Unterordnung des Übergangs unter das prozessontologische Ordnungsgeschehen von Hervorgang und Schwund revidiert Heidegger in der Grundbegriffe-Vorlesung, indem er den Zwischenbereich des Überganges von der Gegenwartsassoziation der Umrissenheit trennt und ihn gänzlich mit transitorischen Bestimmungen auflädt. Dergestalt gelingt es Heidegger, den Übergang als in sich bewegten, ekstatischen Koordinationsnexus von Hervorgang und Entgängnis zu markieren. Trotz dieser Verzeitlichung des die Spannungseinheit von Vergangenheit und Zukunft austragenden Zwischen werden die Aspekte des Hervorganges und der Entgängnis 1941 nicht gänzlich enttemporalisiert. Heidegger stuft die Momente von Hervorgang und Entgängnis auch 1941 nicht zu deskriptiven Datierungen des vollends in das Erscheinen heraufgekommenen Existenzbeginns und des endgültigen Zurückgegangenseins in den Ausgang zurück. Gleichwohl kann sich die Einheit von Hervorgang und Entgängnis in Heideggers zweiter Interpretation des Anaximanderspruches nur prolongieren, weil die ἀρχή den Bereich des Übergehens des jeweils Hervorgegangenen zu seiner Abkunft immer schon aufgespannt hat und das Seiende – darin der heraklitischen Δίκη verwandt617 – innerhalb der Maße hält und die eröffnete Bahn trägt. Aus diesem Phänomenbestand leitet Heidegger eine dreifache Verzweigung der Verfü-

614 615 616 617

142

Ebd., S. 108f. Vgl. Heidegger, GA 35, S. 24. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. hierzu die eigenständige Interpretation der heraklitischen Gerechtigkeit im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit.

2.8. Exkurs II

gungsmodalität der ἀρχή ab, deren Unität sich im Zusammenschluss von „Ausgang, Durchwaltung und Bereich“618 konstituiert: Verfügung wäre vielleicht am ehesten das gemäße Wort für die ἀρχή, wenn wir die Verfügung dreifach begreifen: 1. Vorauswaltender Ausgang des Hervorgangs und der Entgängnis. 2. Durchwaltende Bestimmung des Übergangs des Hervorgangs zur Entgängnis. 3. Offenhalten des eröffneten Bereiches ausgänglichen Durchwaltens.619

Im Abschnitt b) des § 23 denkt Heidegger die vorauswaltend-offenhaltende Dimensionierungsaktivität und übergangsbefördernde Tragweite der ἀρχή mit dem ἄπειρον zusammen. Eingangs des Abschnitts kritisiert Heidegger jene Übersetzung des ἄπειρον mit „das Grenzenlose“620, deren Semantik er 1932 im Kontext seiner ersten Spruchauslegung in der Gestalt der „Grenzenlosigkeit“621 noch selbst affirmiert hatte. Durch die Transposition des ἄπειρον mit „das Unendliche“622 – so Heideggers veränderter Tenor in der Grundbegriffe-Vorlesung – werde verkannt, dass sich das ἄπειρον als ἀρχή auf die „Anwesung des Anwesenden“623 beziehe. Die dreifältige Fügungsvereinigung des ἄπειρον als „Ausgang, Durchwaltung und Bereicheröffnung“624 muss nach Heidegger als Konglomerat jener Ermöglichungsbedingungen begriffen werden, durch die überhaupt erst einsichtig wird, weswegen und wie die Anwesung im Intermedium des „von woheraus“625 und „wohin zurück“626 wesen kann. Entsprechend privilegiert Heidegger die Verfügung als diejenige Instanz, die das Seiende in das Sein freigibt, indem sie die Zusammengehörigkeit von vorausgreifender Stiftung des Hervorgehenkönnens, beherrschender Gestaltung des Überganges und dem Offenhalten des ausgänglichen Bereiches im Hinblick auf das jeweils Anwesende anpasst und arretiert. Mit der 1941 lancierten Trias: Verwehrung der Grenze, Anwesung des Anwesenden, jeweils Anwesendes reformuliert und modifiziert Heidegger offenkundig die ontologische Abstufung von Umrisslosigkeit, Sein des Seienden (Erscheinen) und Seiendem (Erscheinendem), die er in der Anaximander-Parmenides-Vorlesung von 1932 entwickelt hatte. Dies lässt sich anhand des folgenden Zitats belegen: τὸ ἄπειρον ist die ἀρχή des Seins. τὸ ἄπειρον ist die Verwehrung der Grenzung, bezieht sich und bezieht sich allein auf das Sein, und das heißt griechisch auf die Anwesung.627

Die Auffassung, dass das ἄπειρον weder als ein Seiendes noch als unerschöpfliche Emanationsquelle bewertet werden dürfe, ist aus Heideggers Vorlesung von 1932

618 Heidegger, GA 51, S. 109. 619 Ebd., S. 109. 620 Ebd., S. 109. Vgl. zur affirmativen Verwendung des Übersetzungsbegriffs ‚das Grenzenlose‘ in der Vorlesung von 1932 auch Heidegger, GA 35, S. 26: „Das Grenzenlose ist das über Fug und Un-fug, d. h. das Sein des Seienden Verfügende.“ 621 Vgl. ebd., S. 27. 622 Heidegger, GA 51, S. 109. 623 Ebd., S. 110. 624 Ebd., S. 110. 625 Ebd., S. 110. 626 Ebd., S. 110. 627 Ebd., S. 110.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

ebenso bekannt wie die Inthronisierung des ἄπειρον zur lichtend-verbergenden Kohäsionsmacht, die in allem Erscheinen den präeminenten Vor-Schein bewahrt. Gleichwohl blieb bislang noch unklar, wie sich die „befremdliche“628 Definition des ἄπειρον als „Verwehrung der Grenzung“629 verstehen lässt und welche inhaltlichen Konsequenzen diese Bestimmung für die Konstitution der Seinsweise des jeweils Anwesenden inmitten der Anwesung nach sich zieht. Es ist ostensibel, dass Heidegger mit dem prima vista abwehrend-negativen Charakteristikum der ‚Verwehrung‘ auf das alpha privativum im „erste[n] Wort, das über das Sein fällt“630 anspielt. Wie schon in der Vorlesung von 1932, argumentiert Heidegger gegen eine Dekodierung des a-privativum als Ausdruck einer „Wegnahme“631 oder eines „Mangel[s]“.632 Instruktiv und neuartig ist, dass Heidegger den privativen Gehalt des ἄπειρον in der Grundbegriffe-Vorlesung mit dem alpha privativum seines philosophischen Hauptwortes ἀλήθεια verbindet. Diese Doppelprivation kann nach Heidegger auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der waltenden Verwehrung der Grenzen und der Unverborgenheit des endlichen Seienden hindeuten und die „noch nicht erfragte[n] Wesenseinheit des Seins selbst und der Wahrheit “633 ankündigen. Um die Beschaffenheit und maßverleihende Kraft der – als Verfügung bestimmten und auf die Anwesung bezogenen – Verwehrung der Grenzen vertiefend umranden zu können, sucht Heidegger zunächst zu beleuchten, wie sich das Phänomen der Grenze innerhalb der Anwesung meldet und zeigt. Eine reichhaltige Aussagekraft entfaltet in diesem Kontext die folgende Passage: Das α im ἄπειρον hat ἀρχή-, das heißt Verfügungscharakter, und zwar im Hinblick und nur im Hinblick auf das Sein, die Anwesung. Das α bezieht sich auf Grenze, Begrenzung und Entgrenzung. Was aber hat die Anwesung mit Grenze zu tun? Inwiefern liegt in der Anwesung ein innerer Bezug zu Grenze und Begrenzung? In der Anwesung bestimmt sich ja das Anwesende als ein solches. Das Anwesende kommt durch die Anwesenheit in den Bestand und ist so ein Beständiges. Die Anwesung des Beständigen hat in sich den Bezug und Zug zu Beständigung. Und die Beständigung erreicht, so gesehen, ihr Wesen offenbar erst in der Ständigkeit, im Fortwähren einer in sich festgemachten Beständigkeit. Diese dauernde Beständigkeit wäre dann erst das, was das Wesen der Anwesung umgrenzte und zwar so, daß diese Festmachung in der Beständigkeit die zur Anwesung gehörige Begrenzung wäre. Die Anwesung wäre erst im Wesen endgültig durch die Endgültigkeit der Beständigkeit. Allein, die Frage bleibt, ob und wie die Beständigung und die Beständigkeit dem Wesen der Anwesung entsprechen. Diese Frage läßt sich nur aus dem beantworten, was als Wesen der Anwesung verfügt und als solche Verfügung genannt ist: ἀρχή τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον: Die Verfügung ist dem Anwesenden das die Grenze Wehrende. Sein ist Anwesung, aber nicht notwendig Beständigung im Sinne der Versteifung auf Beständigkeit. Allein, erfüllt sich nicht gerade in der größtmöglichen Beständigung alle Anwesung? Ist nicht das Seiende seiender, je ständiger und dauernder es ist? Liegt nicht in der größtmöglichen Dauerfähigkeit die größte Sicherung des Seienden als eines Seienden? Gewiß – gewiß nämlich im Sinne der Gewißheit, in der wir Heutigen das Sein des Seienden zu wissen meinen. Diese Gewißheit enthält eine 628 629 630 631 632 633

144

Ebd., S. 111. Ebd., S. 110. Ebd., S. 111. Ebd., S. 111. Ebd., S. 111. Ebd., S. 112.

2.8. Exkurs II

Wahrheit über das Seiende, die sogar bis zu den griechischen Denkern zurückreicht: daß die Beständigkeit und Beständigung, das ἀεί, das Fortwähren, die höchste Auszeichnung des ὂν, des Anwesenden, enthalte. Allein, dieser anfängliche Spruch: ἀρχή τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον sagt ein anderes. Uns bleibt nur, daß wir dem Spruch uns fügen, gesetzt, daß wir sein Wort und nicht unser Meinen darin vernehmen wollen.634

Mit diesem dichten und vielschichtigen Zitat lässt sich die dem zweiten Exkurs vorangestellte These validieren, dass Heidegger mit dem Topos der Beständigung einen Brückenschlag zwischen dem existenziellen, spruchimmanent thematisierten Perpetuierungsstreben des jeweils Anwesenden auf der einen Seite und dem Gewissheitsverlangen der neuzeitlichen Willenssubjektivität auf der anderen Seite konstruiert. Auf diese Weise wird die Auslegung des Anaximander-Spruches mit einem metaphysikkritischen Hintersinn versehen. Zudem referiert Heidegger auf das seingeschichtliche Narrativ, wenn er die Privilegierung einer ewigkeitsaffinen Seinsbeschreibung bei den griechischen Denkern beginnen lässt und das ἄπειρον Anaximanders explizit von dem ontologischen Auszeichnungskreis endlosen Fortwährens dispensiert. Für die vorliegende Untersuchung ist der oben rekapitulierte Passus vor allem deswegen von Bedeutung, weil Heidegger eine fruchtbare Verhältnisbestimmung von Grenze, Anwesung und Beständigung entwirft, die mit der im Aufsatz Der Spruch des Anaximander dargebotenen, ambivalenten Fassung des Relationskomplexes von Beständigkeit und Un-fug weitgehend übereinstimmt. Des Weiteren wird schon bei einer peripheren Lektüre der soeben zitierten Stelle aus dem § 23 transparent, dass Heideggers Begriff der Grenze in der Grundbegriffe-Vorlesung gravierend von der 1932 dominierenden, inhaltlichen Ausdeutung der Umrissenheit abweicht. Es kann konstatiert werden, dass Heidegger 1941 eine größere Differenzierungsschärfe erreicht, weil er den Hervorgang des Seienden in die Anwesung und die Unumgänglichkeit der Grenzziehung nicht unmittelbar mit der Tektonik des Un-fugs synthetisiert. Stattdessen scheint Heidegger nun zwei verschiedene Verhaltensmodi innerhalb der Anwesung zu unterscheiden. Damit sich überhaupt etwas als ein konkretes Anwesendes herausheben und bestimmen kann, ist eine Abgrenzung gegenüber anderem Seienden und die Sicherung der Dauerhaftigkeit der Existenz im Bereich der Anwesung unabdingbar. Deswegen kann Heidegger wie schon 1932 stipulieren, dass der Anwesung in sich ein „Bezug und Zug zu Beständigung“635 inhäriere. Im Vorblick auf die weiteren Ausführungen der Grundbegriffe-Vorlesung lautet die entscheidende Frage, inwiefern sich das jeweils Anwesende auch in einer anderen, nicht auf die „größtmögliche Dauerfähigkeit“636 kaprizierten Lebensvariante innerhalb der Anwesung situieren könnte, ohne seine umrissene Individuation aufgeben zu müssen. Daran schließt sich die problemorientierte Rückfrage an, ob die Anwesung ihr wahres Wesen tatsächlich in der fortwährenden Sicherheit der „dauernde[n] Beständigkeit“637 finalisiert. Wenngleich Heidegger durchaus suggeriert, dass sich diese Konklusion im Verlauf eines konsistenten Argumentationsganges herauskristallisieren müsste, so zeigt seine 634 635 636 637

Ebd., S. 112f. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 112.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Wahl relativierender Termini wie „offenbar“638, der Einschub rhetorischer Fragen und seine Aneinanderreihung der Konjunktivform „wäre“639 deutlich an, dass er die „Endgültigkeit der Beständigkeit“640 keineswegs als gelingende Wesenserfüllung des Anwesungsholismus affirmiert. Dass Heidegger mit einem kritischen Vorbehalt operiert und nicht geneigt ist, das un-endliche Fortwähren in reiner Vorhandenheit als mustergültige Version der Selbsteinhegung der Anwesung zu begrüßen, wird zweifelsohne erkennbar, wenn er die Bevorzugungstendenz einer fixiert-allzeitlichen Prolongation des Anwesenden aus einem geschichtlichen Paradigmenwandel erschließt, der mit dem Aufstieg der Gewissheit zur maßgebenden Erscheinungsform der Adäquationswahrheit konvergiert. Im Umkehrschluss drängen sich zwei zusammenhängende Fragen auf, die in der weiteren Erörterung des Vorlesungstextes beantwortet werden sollen: 1. Welche Instanz garantiert, dass der Nisus unvergänglicher Persistenz, d. h. die vollständige Begrenzung in der Festmachung, nicht die alternativlose Wesensverwirklichung der Anwesung bildet, wenn diese Anlage doch unweigerlich besteht und der Wille zur Dauerhaftigkeit der Anwesung in konstitutiver Weise zugehört? Anders gesagt: Wie wird die Anwesung in ihrem Streben gehindert, sich in der haltgebenden Sicherheit der maximalen Duration einzufinden? Wird diese Frage nur geringfügig umformuliert, bahnt sich Heideggers Lösung bereits an: Was verwehrt der Anwesung, sich in endgültige Grenzen einzuschließen und sich gegen jede Entgängnis zu immunisieren? Wer ent-grenzt sie? 2. Wie charakterisiert Heidegger 1941 den Binnenhaushalt zwischen dem Fug und dem Un-fug, wenn sich abzeichnen sollte, dass die Grenzziehung der Umrissenheit – anders als in der Vorlesung von 1932 – als solche nicht unmittelbar mit dem Un-fug zusammenfällt? Können die jeweils Anwesenden einen anderen, nicht auf die Gewissheit des Ständigen verpflichteten Verhaltensgestus wählen oder sind sie der generellen Verewigungsprätention der sie einbegreifenden Anwesung heteronom ausgeliefert, um diese im unbewussten Willensdrang zu bestätigen? Sollte dies nicht der Fall sein, können die jeweils Anwesenden diesen verheißungsvollen, nicht auf den Conatus obsessiven Beharrens konzentrierten Weltbezug in ihrem eigenen Entscheidungshorizont perzipieren und durch eine selbstverantwortete Maximenreflexion in eine adäquate Handlungspraxis umsetzen? Es ist augenfällig, dass diese zweite Frage bereits auf jenen Problemkreis vorausweist, den Heidegger im Aufsatz der Spruch des Anaximander primär in den Blick nimmt. Zuerst soll die oben präsentierte Ansicht bestätigt werden, dass Heidegger in der Grundbegriffe-Vorlesung zwei verschiedene Arten der Beständigung der Anwesung unterscheidet. Wenn die „Endgültigkeit der Beständigkeit“641 nicht das wahre Wesen der Anwesung erfüllt und nicht ihrer normalen Verlaufsform entspricht, ergibt sich ex negativo, dass das grenzgesicherte Ewigkeitsstreben als Unwesen der Anwesung bewer-

638 639 640 641

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Ebd., S. 112. Ebd., S. 112. Ebd., S. 112. Ebd., S. 112.

2.8. Exkurs II

tet werden muss. Die Anwesung kann sich nach Heidegger nämlich nur dann aufrechterhalten, insofern der Hervorgang, die γένεσίς, zugelassen wird: Sein ist Anwesung, aber nicht notwendig Beständigung in die fortwährende Beständigkeit. Dann wäre die Beständigkeit gerade das Unwesen der Anwesung, dann brächte die Beständigkeit die Anwesung um ihr Wesenhaftes? Allerdings; denn γένεσίς, Anwesung, meint nicht bloße Anwesenheit, sondern das Hervor- und Aufgehen. Die An-wesung ist ausgezeichnet durch die γένεσίς, den Hervorgang. Das Nur-Anwesen im Sinne der Vorhandenheit hat bereits der Anwesung, dem Hervorgang, eine Grenze gesetzt und so die Anwesung preisgegeben. Die Beständigung bringt in die Anwesung das Unwesen und nimmt ihr die Möglichkeit dessen, was zur Anwesung als dem Hervor-gehen und Auf-gehen gehört, das Zurückgehen und die Entgängnis.642

Obzwar dem Sein also die festgefügte und zeitlich bemessene Anwesung prädiziert werden muss, ist es „nicht notwendig“643, dass diese Anwesung sich in die „fortwährende Beständigkeit“644 zu erstrecken sucht. Auffällig ist, dass Heidegger die Performanz der Grenzsetzung in dem zitierten Stück aus dem Abschnitt § 23c) anders nuanciert als in der Anaximander-Parmenides-Vorlesung von 1932. 1941 ist es nicht mehr vorrangig das Hervorgehende, das sich gegen die Umrißlosigkeit auf-stellt und sich selbst in den Grenzen der – 1932 mit dem Un-fug nahezu gleichbedeutenden – Umrissenheit einfindet. In der vorliegenden Arbeit konnte bereits verdeutlicht werden, dass der Vorgang der Begrenzung im Kontext der Vorlesung Der Anfang der abendländischen Philosophie eine duplizierte Notwendigkeit vindizieren kann. Wie im ersten Exkurs verifiziert wurde, ist der Eingang in den Un-fug in Heideggers erster Auseinandersetzung mit dem Spruch des Anaximander einerseits notwendig im Sinne einer Existenzbedingung, weil das Seiende je nur als ein bestimmtes Ding in die Erscheinung treten kann. Andererseits fundiert Heidegger die iterierende Herausbildung des Un-fugs 1932 in der Entzugskraft des sich im Zurückgeben des Fuges offenbarenden Seins sowie in der Macht der Zeit, die das Verborgene unwiderruflich in das Licht der Erscheinung involviert. Hingegen stuft Heidegger die Grenzziehung 1941 zunächst zu einer fakultativen Variation der Anwesung herab, die aber – als blockierend-usurpatorische Begrenzung des Hervorganges überhaupt – einen wesentlich bedrohlicheren Grundzug als noch in der Vorlesung 1932 erhält, in der sie als optionsloses Individuationsprinzip verstanden wurde. Zudem bahnt sich im obigen Passus jene tragische Selbstaufhebungsfigur an, auf die Heidegger im Aufsatz Der Spruch des Anaximander im großen Stil zurückkommen wird. Würde sich das Selbstbestimmungsziel der Anwesung tatsächlich realisieren und sie sich in dem „Nur-Anwesen“645 der bloßen „Vorhandenheit“646 befestigen können, zerstörte sie sich selbst als Anwesung, weil sie sich zum Zwecke der undurchdringlichen Grenzumschlossenheit ihrer eigenen Perpetuierungsbasis – d. i. das von der Verfügung gewährte, eröffnete und durchwaltete Zuströmenlassen des künftig Hervorgehenden – entledigen müsste. Folglich ist die durch das ἄπειρον dirigierte ‚Verwehrung der Grenze‘ 642 643 644 645 646

Ebd., S. 113. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

nichts anderes als die schützende Bewahrung der Anwesung vor dem in ihr wurzelnden, ruinösen Eigenwillen, der letztlich zur Selbstdestruktion des Seins des Seienden führen müsste: Das Anwesende west nur an im Hervorgang und gerade nicht in der Anwesenheit, die sich in eine Beständigkeit verhärtet hat. Zum Wesen der Anwesung gehört, daß in ihr das ihr mögliche Unwesen der Versteifung in das Beständige verwehrt wird. Die Verfügung der Anwesung ist Verwehrung der ‚Grenze‘, wobei Grenze hier besagt: Abschließung der Anwesung in endgültige Anwesenheit, in die Beständigkeit einer bloßen Anwesenheit. Soll demnach die Anwesung in ihrem ausgänglichen Wesen gewahrt werden, dann muß der Hervorgang hervorgehen als ein Zurückgehen in das Selbe. […] So erweist sich das Verwehren der Grenze in der Anwesung als die Verfügung über das eigentliche Sein des Seienden. ἀρχή τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον. Seiend ist ein Seiendes danach nicht, sofern es ein Beständiges, sondern ein Anwesendes ist und zwar in der Anwesung, die nicht zur bloßen Anwesenheit herabfällt.647

Die erste Frage kann damit beantwortet werden: Es ist die grundlegende Einheit von ἀρχή und ἄπειρον, die als Verwehrung der Grenze verhindert, dass sich das Unwesen der Anwesung in der Form einer „Abschließung […] in endgültige Anwesenheit“648 durchzusetzen vermag. Gleichwohl zeichnet sich in diesem Horizont ein Gedanke ab, an den Heidegger im Aufsatz Der Spruch des Anaximander ebenfalls anknüpfen wird. Wenn die Anwesung nur dann subsistieren kann, solange der Hervorgang akzeptiert und nicht in dem grenzziehenden Einschluss ausgeschlossen wird, muss auch für das jeweils Anwesende gelten, dass es überhaupt nur sein kann, wenn es sich nicht zu verewigen sucht und nicht auf seiner Beständigkeit insistiert. Dadurch wird – ähnlich wie es sich anhand des Aufsatzes Der Spruch des Anaximander veranschaulichen lässt – der vormals immerhin mit einem latenten Möglichkeitscharakter versehene Un-fug (der 1941 dem „endgültige[n] Sichversteifen“649 auf der prätendierten Selbstumgrenzung im Telos einer beständigen Fortdauer entspricht, aber nicht mehr zwangsläufig mit der umrissgestützten

647 Ebd., S. 114. In seiner erkennbar an Heideggers Anaximander-Auslegung angelehnten Deutung der ἀδικία schildert Volkmann-Schluck den Un-fug luzide als die von Seiten des jeweils Anwesenden angestrebte, versperrende Verweigerung des zugewiesenen Weggangs. Durch diesen Okkupationsversuch der Anwesenheit wird die – dem künftig Aufgehenden gerechterweise zustehende – Anteilnahme am Sein bestritten, sodass der Alterität eine abzubüßende Ungerechtigkeit zugefügt wird. Vgl. Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 56: „Was dem Seienden als das Seinige zukommt, ist das Sein. Aber wie ist das Seiende seiend? Während im Weggang! Hier tut sich eine ἀδικία auf, die die Art des Seienden selbst angeht. Worin mag dieses Unrecht bestehen? Doch wohl darin, daß das jeweils Anwesende sich gegen den Weggang sperrt. Warum liegt darin eine ἀδικία? Wem geschieht das Unrecht? – Indem sich das jeweils Anwesende gegen den eigenen Weggang stellt, verweigert es dem anderen, seinem Gegenteil nämlich, das, was ihm zusteht: den Aufgang ins Seins. So kommt ἀδικία auf: Weilend trachtet das Anwesende danach, zu verweilen, zu verharren, indem es die Anwesenheit, die ihm zu eigen geworden ist, in den dauernden Besitz nehmen will. So folgt es nicht der Weisung, die es in eine übergängige Anwesenheit verweist.“ 648 Heidegger, GA 51, S. 114. 649 Ebd., S. 118.

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2.8. Exkurs II

Weiledauer des Anwesenden als solcher koinzidieren muss650) jeglicher Umsetzbarkeit beraubt. Würde das Seiende nämlich den Unfug aktualisieren, müsste es sofort und unweigerlich auf sein eigenes, aus dem endlich-zukünftigen Übergehen-Können deriviertes Seiendsein verzichten. Den Fortgang der – den Bereichsaufenthalt des Seienden in seinem Sein überhaupt erst gewährenden – Zeit aufhaltend und begrenzend, würde das zur geronnenen Leblosigkeit verurteilte Anwesende in das nichtige Nichts zurückfallen. Diese paradoxale Struktur des zur unrealisierbaren Selbstpreisgabe depotenzierten Un-fugs standardisiert die Einheit von Hervorgang und Entgängnis zur unumgänglichen Organisationsform der im Übergang reüssierenden Anwesung, die durch den archontischen Gestus der Grenzverwehrung sanktioniert wird: γένεσίς und φθορά, Hervorgang und Entgängnis gehören zusammen. Die Einheit ihres Zusammengehörens ergibt sich nicht aus einer nachträglichen Zusammenstückung oder so, daß die Entgängnis dem Hervorgehen nur nachfolgt. Das Hervorgehen geht als das entgängliche eigentlich hervor, das Hervorgehen erscheint in diesem Hervorgang eigentlich, wenn es Übergang ist. Im Übergang sammelt sich das Hervorgehen in seine Wesensfülle. Im Übergang als dem Hervorgang der Einheit des Hervorgehens und Entgehens besteht die jeweilige Anwesung des Anwesenden. Der Übergang aber läßt sich nicht auf die Grenze der Beständigung ein. Der Übergang wahrt so das in der Verfügung Verfügte: τὸ ἄπειρον.651

Das Seiende kann demgemäß nur als Anwesendes seiend sein und seiend bleiben, wenn es sich selbst in den Übergang hineinreichen lässt.652 In diesem Zuge forciert Heidegger den Einflusszwang des ἄπειρον, indem er prononciert, dass selbst diese Einwilligung in den Übergang nicht auf der Dispositionsfähigkeit des jeweils Anwesenden beruht. Vielmehr kann sich das Seiende niemals autopoietisch als Beständiges setzen, weil es seinen Existenzgrund mitsamt der unhintergehbaren Geworfenheit und der temporalen Beschaffenheit gänzlich jener „Verweisung“653 in die endliche Weile verdankt, die das ἄπειρον durch die ent-grenzende Auflösung des vergangenen Maßzusammenhanges generiert. Durch das im positiven Sinne einfügend-existenzstiftende „Verwehren der Grenze“654 wird das – allein in der Fortführung des werdenden Überganges zu konsolidie650 Vgl. ebd., S. 118f.: „Zum Wesen der Anwesung, für sich genommen, gehört mit dies Darauf-bestehen, daß die Anwesung wese, und das heißt, in einer Beständigung ihr Endgültiges und in solchem Ende (Grenze) die Vollendung finde. In der Anwesung des Anwesenden (ὄντα αὐτά) liegt Beständigung als das Bestehen auf der Beständigkeit. In diesem Wort müssen wir jetzt nicht nur denken das Andauern und endgültige Fortdauern der Anwesung, sondern zugleich und vor allem das ‚Bestehen darauf ‘, das endgültige Sichversteifen auf das Immerweiter (das άεί). Die so begriffene Beständigkeit aber ist gegen das ausgänglich verfügte Wesen des Seins, gegen die ἀρχή, gegen das ἄπειρον, das Verwehren der Grenze. Was aber wesentlich und doch gegen das Wesen west, ist das Unwesen. Was gegen die Verfügung das Verfügte auf es selbst in seine Beständigkeit verfestigt, ist der Unfug, ἀδικία. Dieser kommt nicht irgendwoher erst dem Anwesenden zu, sondern liegt mit im Wesen der Anwesung und gehört in die Notwendigkeit des Seins. Dieses ist in sich als Verwehrung der Grenze schon auf die Begrenzung in die Beständigkeit und damit auf den Unfug als die wesende Möglichkeit (mögen) bezogen. (Der ‚privative‘ Charakter des Unfugs bezeugt so zugleich als Gegenwesen das Wesen des Seins, das im anfänglichen Sinne der Verfügung selbst ‚privativen‘ Charakter hat: τὸ ἄπειρον.)“ 651 Ebd., S. 114. 652 Vgl. ebd., S. 114f. 653 Ebd., S. 115. 654 Ebd., S. 115.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

rende – „Wesen der Anwesung“655 je aufs Neue gerettet. Es ist die Verfügung, die als katechontische Instanz den endgültigen Abschluss der grenzumzogenen, das Unwesen zum Vorschein bringenden Vollendungsbestimmung der Anwesung immer wieder aufhält und diese unzerstörbarkeitserstrebende Zielverfolgung in die Unwirksamkeit zurückstößt: Allein, das Verwehren der Grenze im Sinne des Hintanhaltens der Verfestigung in die bloße Beständigkeit, das Verwehren wäre nur ungenügend begriffen, wollten wir lediglich das Abwehrhafte heraushören. Die Verwehrung ist zuerst, und das heißt im voraus, Verweisung in die Anwesung. Nur insofern die Verwehrung zuvor das Wesen der Anwesung rettet (es ‚verwahrt‘– im Sinne des Bewahrens), ist die Verwehrung der Grenze (das ἄπειρον) auch ἀρχή in der ersten Bedeutung: Ausgang der Fügung ins Wesen. Indem aber zumal mit der Abwehr der Beständigung die Entgängnis zum Wesen der Anwesung geschlagen bleibt, ist die Verfügung das Innehalten der ganzen fügenden Bestimmung, die im Wesen der Anwesung beschlossen liegt. Die Ver-wehrung ist vorwaltende Rettung des Wesens der Anwesung, dies jedoch in der wesensmäßigen Weise des Versagens der Grenze.656

Auf der Basis des rekapitulierten Textbefundes kann bereits an dieser Stelle Heideggers Resultat eingeflochten werden, wonach sich die Verwindung des Unfugs 1941 weder dem sich in der prozessualen Aufhebung der Umrissenheit manifestierenden Schwund (wie noch 1932) verdankt noch in dem wechselseitig-gerechten Gewähren der endlichen Weile (wie es partiell im Aufsatz Der Spruch des Anaximander anklingt) wurzelt. Stattdessen ist es in der Grundbegriffe-Vorlesung das Sein selbst, welches als Verwehrung der Grenzen (ἄπειρον) dafür Sorge trägt, dass der Unfug im Bereich der Anwesung immer schon verwunden ist und sich die Insistenz auf der Beständigkeit niemals mit dem hinweg-gehenden Existenzsinn des jeweils Anwesenden vereinigen lässt. Dies wird durch den Titel des Abschnitts § 24a) deutlich angezeigt: „Das Sein ist die Verwindung des Unfugs“.657 Daher ergibt sich die reziproke Anerkennung des jeweilig Seienden notwendigerweise aus der von Seiten der ἀρχή geleisteten Verfügung in den Fug (δίκη), ohne dass eine aktive Entscheidungsbeigabe des konkret Anwesenden erforderlich wäre: Sofern aber das jeweilig Anwesende dem Wesen der Anwesung entspricht, besteht es nicht und versteift sich nicht auf die Beständigung in die Beständigkeit. Die Anwesung ist Hervorgang als Übergang. Das solcher Art Anwesende gibt selbst den Fug, δίκην. Es fügt sich in die Verfügung. Das will sagen: Die Anwesung ist Übergang des Hervorgehens in die Entgängnis. Indem aber so das Seiende selbst den Fug gibt dem Sein, ist es als das jeweilige Seiende solchen Wesens, daß es von sich aus nun auch jedes jeweilig Seiende sein läßt, was ein jedes ist. Jedes Seiende anerkennt, Fug gebend dem Sein, wechselweise jedes Seiende. So läßt denn auch eines dem anderen die ihm gehörige Schätzung (καὶ τίσιν ἀλλήλοις). Erst durch dieses in sich zusammengehörige Zweifache (διδόναι δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις) bestimmt sich der volle Wesensbezug des jeweiligen Anwesenden zum Unfug. Fug geben und wechselweise die Anerkennung lassen – das ist in sich die Verwindung des Unfugs. Wir sagen nicht Überwindung, weil das bedeuten könnte, der Unfug werde beseitigt. Er gehört ja aber als Unwesen zum Wesen der Anwesung. Die Beständigkeit wird nicht überwunden im Sinne der völligen Auslöschung und das heißt Aufhebung ihrer Wesensmöglichkeit. Im Gegenteil: Der 655 Ebd., S. 115. 656 Ebd., S. 115. 657 Vgl. ebd., S. 118. [Von mir kursiv, J.K.]

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2.8. Exkurs II

wesenhafte Zug zum Unwesen west, dieses wird jedoch verwunden. Das Anwesende läßt sich nicht auf das Unwesen ein, sofern es ein Anwesendes ist. Die Verwindung des Unfugs gehört zum Wesen des jeweilig Anwesenden als eines solchen; denn als ein solches fügt es sich in den Übergang. […] Der Übergang ist je die Anwesung, in der das Hervorgehen und das Entgehen zumal wesen. Der Übergang enthält so in sich jenes Selbe, woraus das Hervorgehen und wohin die Entgängnis wesen, ja, der Übergang ist der reine Hervorgang jenes Selben. Dieses Selbe ist das Sein selbst.658

Über den faktischen Sachverhalt, demgemäß die ‚Verwindung des Unfugs‘ 1941 allein in der anfänglichen Verfügungsgewalt der ἀρχή liegt, darf nicht hinwegtäuschen, dass Heidegger in der soeben wiedergegebenen Textpartie scheinbar die ubiquitär-freie Anerkennungstätigkeit des Seienden betont und sich einer kunstvollen Rhetorik der gehörigen Wertschätzung bedient. Dass das „solcher Art Anwesende selbst den Fug [gibt]“659 und jedes „jeweilig Seiende solchen Wesens [ist], daß es von sich aus nun auch jedes jeweilig Seiende sein läßt, was ein jedes ist“660 beruht ja gerade nicht auf einer selbstgewählten Spontaneität oder einer freiwilligen Gelassenheit des Seienden. Im auffälligen Kontrast zu einer solchen, liberalen Konzeption der binär gegliederten Handlungsoptionen, ist das ‚Einfügen in die Verfügung‘ durch die Verwehrung der Grenzen unweigerlich und imperativisch anbefohlen, da nur auf diese Weise das ‚Wesen der Anwesung‘ bewahrt werden kann. Wie schon in der Anaximander-Parmenides-Vorlesung von 1932, ist es auch in der Grundbegriffe-Vorlesung die Macht der Zeit, die als Individuationsprinzip operiert, indem sie dem Anwesenden die Dauer seiner endlichen Weile innerhalb der Anwesung einräumt und damit auch die übergangsaffine Verfasstheit des Seins des Seienden prägt.661 Trotzdem ist die Zeit – auch darin lässt sich eine Kontinuität gegenüber der Vorlesung von 1932 konstatieren – nicht imstande, den Primat über das (sowohl im seinsgeschichtlichen wie auch im welteröffnend-phänomenalen Sinne) als „Anfang des Seins“662 figurierende Selbe des Woher-Wohin zu beanspruchen. Während die Zeit allein auf das jeweils Anwesende zugreifen und es in das – in ihrer Verfügung wesende – Sein (als Seiendheit) hineinweisen kann, bezeugt sich die tiefer ansetzende Kraft des ἄπειρον darin, dass es auf die Anwesung im Ganzen zu referieren vermag und deren definitive Beständigung zugunsten des Übergangs ent-grenzen kann.663 Zur Veranschaulichung der 1941 statuierten Hierarchierelation zwischen dem ἄπειρον und der Zeit eignet sich 658 659 660 661

Ebd., S. 119f. Ebd., S. 119. Ebd., S. 119. Vgl. ebd., S. 122f.: „Weil ‚nämlich‘ das Seiende in seinem Sein aus der Entsprechung zur Zuweisung der schicklichen Zeit west, deshalb muß das Wesen des Seins in der Anwesung beschlossen liegen. Dem ist so, insofern die Anwesung den Charakter der Weile hat, die sich aus dem Übergang und als Übergang bestimmt. Die Weile ist das zu seiner Zeit Verweilen, welches Verweilen ‚nur‘ eine Weile sich zubilligt. Dieses ‚nur‘ meint aber keine Einschränkung, sondern sagt die Reinheit des Innehaltens des Wesens des Seins: der entgängliche Aufgang als Übergang.“ 662 Ebd., S. 122. 663 Vgl. ebd., S. 123: „Der Übergang jedoch west nur so, daß das Selbe [d. h. das ἄπειρον, J.K.] den Hervorgang und die Entgängnis verfügt, welches Verfügen nötigende Not [κατὰ τὸ χρεών, J.K.] ist. Der erste Satz nennt den Anfang des Wesens dessen, was der zweite nennt, des Seins. Er sagt vom Sein insgleichen wie der zweite; aber der erste Satz sagt vom Sein in anderer Weise als der zweite. Beide Sätze nennen eine Entsprechung (κατὰ…). Der zweite denkt das Sein in der Entsprechung zu seinem Wesen,

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

das folgende Langzitat aus dem Abschnitt 24§ b), der mit dem trefflichen Titel Der Zusammenhang von Sein und Zeit überschrieben ist: Zeit ist die Zuweisung des Anwesenden in seine jeweilige Anwesung. Die Zeit ist die Entbreitung der je verfügten Weile, der entsprechend das Anwesende je ein je-weiliges ist. Indem das jeweilig Anwesende αὐτὰ, von sich selbst her, den Unfug verwindet, entspricht es der gefügten Weile des Übergangs. Indem das jeweilig Anwesende Fug gibt der Verfügung und wechselweise eines dem anderen die Anerkennung, entspricht es der Zuweisung der Weile. Daß das Seiende ist, indem es je in seinem ‚Sein‘ der ‚Zeit‘ entspricht, das sagt nichts anderes als: das Sein selbst ist Verweilung, Anwesung. Ungesagt bleibt, daß das so wesende Sein in der Zeit selbst die Verfügung seines Wesens hat. Warum der Spruch über das Sein von der Zeit sagt, dies hat seinen Grund (seinen unausgesprochenen) darin, daß das Sein selbst als Anwesung und diese als der Übergang des Hervorgangs in die Entgängnis ‚erfahren‘ ist. Die Anwesung ist die Weile, und ihr Unwesen liegt in der Verweilung, die auf eine endgültige Beständigung bestehen möchte. Das Wesen des Seins wehrt dieser Grenze. In der Weile, die wesenhaft je nur eine Weile ist, entwindet sich das Sein dem Unfug und rettet durch die Entgängnis jenes Eine und Selbe als das einzig Verfügende, was Ausgang und Durchwaltung und Eröffnung ist jeglichem Seienden.664

Dieser Passage kann unzweifelhaft entnommen werden, dass es das in der Urgestalt des ἄπειρον erfahrene Wesen des Seins selbst nicht zulässt, dass das jeweils Seiende jemals in den Unfug abgleiten könnte. Dies lässt sich auch auf Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte beziehen: Der in sich selbst zurückgehende Anfang des Seins verhindert, dass sich die metaphysische Seiendheit verewigen und sich ihrer epochalen Geschichtlichkeit entziehen könnte. Folglich ist auch das in einer spezifischen Epoche situierte Anwesende ohne Wahl, muss dem Alteritätsverbund Fug geben und ist verpflichtet, dem Wesensanspruch des Übergangs zu entsprechen, wenn es sich denn selbst erhalten will. Die Bedeutungsidentität zwischen dem Sich-nicht-Einlassen auf den Unfug und der Selbsterhaltungsbedingung des jeweils Seienden bekräftigt Heidegger durch die Formulierung „das Anwesende läßt sich nicht auf das Unwesen ein, sofern es ein Anwesendes ist“.665 An diesem Punkt der Argumentation wird freilich die Frage virulent, wie das ἄπειρον in seiner Trinitätsfunktionalität als freigebender Ausgang, bahnendes Durchwaldas heißt zur Anwesung, das heißt zur Weile, das heißt zur ‚Zeit‘. Der erste Satz denkt das so erfahrene Wesen in der Entsprechung zu seinem ‚Anfang‘, das heißt zu der Verfügung (ἀρχή), die als das Selbe die Wesenszüge der Anwesung, den Hervorgang und die Entgängnis in ihrer Einheit durchwaltet, indem sie ihnen den Bereich entbreitet, in dem jedes Seiende jeweilen ist, sofern es seine Weile verweilt. In jedem Wort sagt der Spruch vom Sein und nur vom Sein; dies auch dort, wo er eigens das Seiende nennt (τοῖς οὖσι), (αὐτὰ). Der Spruch sagt die Verfügung des Seins und das Sein als die Verfügung. Die Verfügung aber ist der Anfang. Der Spruch ist das anfängliche Sagen des Seins. Dies zu wissen, ist die erste Bedingung für die Erinnerung in den Anfang. Aber das Wesentliche bleibt dies eine: Das Sein ‚ist‘ anfänglich die Verfügung, die allen Grenzen im Sinne der Beständigung wehrt. In solcher Wehrung rettet die Verfügung sich zu ihr selbst in das Selbe, das sie selbst ist, zurück. So allein ist der Anfang der Anfang, der nur wesen kann im Anfangen. Der Anfang aber ist als das Zurückgehen in sich selbst das Verborgenste. Als dieses enthüllt es sich erst, wenn das Denken selbst wieder ein anfängliches ist.“ 664 Ebd., S. 121. 665 Ebd., S. 120. Vgl. hingegen Heideggers diametral entgegengesetzte Formulierung aus dem Sommersemester 1932, wonach das Anwesende sich gerade auf den Un-fug einlassen muss, „sofern es ein Anwesendes ist“: Heidegger, GA 35, S. 19: „Daß das Seiende ist und sofern es ist – darin be-steht der Unfug, weil das Erscheinende die Grenzenlosigkeit verlassen und auf dem Umriß bestehen muß.“

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2.8. Exkurs II

ten und als eröffnende Bereichsdurchmessung auf das jeweils Anwesende einwirkt, um es aus dem Vonwoheraus in den Übergang zu versammeln und es schließlich zu sich selbst als dem Selben zurückkehren zu lassen. Dieser Problemkonstellation widmet sich Heidegger im Abschnitt 23§a). Heidegger zeigt bereits zu Beginn dieses Abschnitts auf, dass die Vorstellung eines ursächlichen Wirkens des Seins auf das Seiende nicht hinreichend ist, um das Verhältnis zwischen der verfügenden Kraft der ἀρχή auf der einen Seite und dem keineswegs suisuffizienten Anwesenden auf der anderen Seite adäquat zu deskribieren. Wirkungszusammenhänge nach Maßgabe des Satzes vom Grunde können nach Heidegger nur innerhalb des Seienden im Ganzen herrschen. Obwohl das Sein also nicht als Erstursache zu exemplifizieren oder als „allgemeinste und gleichgültige Beschaffenheit des Seienden“666 zu denken ist, muss es nichtsdestotrotz in einer dezidierten Weise die übergangshafte Verfasstheit des Anwesenden einrichten und die entsprechende Anerkennungsbewegung des Fuges arrangieren können, soll das ἄπειρον seinem Merkmalsreichtum als formend-bauend-auflösende ‚Verwehrung der Grenzen‘ gerecht werden. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Heidegger die fundierungstheoretische Fragestellung nachdrücklich umformuliert, um das ἄπειρον von der missverständlichen Auslegung als indifferent-prädikatloses „Behältnis“667 zu dislozieren und es als nicht-kausalen Ermöglichungsgrund des Seienden beleuchten zu können: Wie aber läßt das Sein, das sich uns jetzt als ἀρχή und ἄπειρον verdeutlichte, wie läßt das Sein das Seiende sein?668

Es ist im Hinblick auf die im Aufsatz Der Spruch des Anaximander zu registrierende Dignität des κατὰ τὸ χρεών – in dem sich gemäß der 1946 geleisteten Interpretation die ontologische Differenz des „Brauches“ gegenüber dem in die Fuge der Weile integrierten Anwesenden verdichtet und spiegelt – von hervorragendem Erkenntnisinteresse, dass Heidegger in diesem Stadium der Grundbegriffe-Vorlesung auf den Wesensbefund der ‚nötigenden Not‘ zurückgreift. Heidegger aktualisiert in der Folge jene im § 22b) gegebene Kerndefinition des κατὰ τὸ χρεών, das im Kontext einer kurzen – und doch immens gewichtigen – Erwähnung demonstrativ mit dem Selben identifiziert wurde und damit den höchsten Rang innerhalb des Reliefs der anaximandrischen Hauptworte erhielt.669 Es sticht hervor, dass die plakative und durchaus doppeldeutige Formel der ‚nötigenden Not‘ in distinguierend-abgrenzender Form an die seinsgeschichtlich-krisenrhetorische Zentralfigur der „Not der Notlosigkeit“670 erinnert. Die ‚nötigende Not‘ könnte daher in Heideggers Narrativ den verborgen-agonalen, metaphysikkritischen 666 667 668 669 670

Heidegger, GA 51, S. 116. Ebd., S. 116. Ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. zum Topos der Not der Notlosigkeit besonders: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 60, S. 125: „Die Not-losigkeit wird am höchsten, wo die Selbstgewißheit unübertreffbar geworden ist, wo alles für errechenbar gehalten wird und wo vor allem entschieden ist, ohne vorherige Frage, wer wir sind und was wir sollen; wo das Wissen verloren gegangen und nie eigentlich begründet wurde, daß das eigentliche Selbst-sein geschieht im Über-sich-hinaus-gründen, was verlangt: die Gründung des Gründungsraumes und seiner Zeit, was fordert: das Wissen vom Wesen der Wahrheit als des

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Normativitätsanspruch einer anfänglich-unverstellten Würdigung des Seins repräsentieren, das in seinem vorplatonischen Anfang noch in der ungehinderten Zuweisung des Anwesenden zur Wahrheit seines Austrages kam, bevor sich das Seiende in das erratische Selbstsetzungsparadigma der neuzeitlichen Subjektivität losriss. Heidegger sucht einer fehlgehenden Erfassung der Präeminenz der ‚nötigenden Not‘ im Abschnitt 23d) vorzubeugen, indem er hervorhebt, dass die Not nicht als kulturhermeneutische Zustandsschilderung von „Elend und Entfremdung“671 exponiert oder als intentionale Reaktionsstruktur auf die leidvolle Empfindung von „Mangel und Bedürfen“672 bezogen werden dürfe. Vielmehr müsse der Aktivitätsaspekt der Nötigung berücksichtigt werden, die sich in der Gestalt des „Sichsammelns in die Innigkeit des reinen Wesens“673 aufbaue. Der Gehalt dieser kryptisch und dunkel anmutenden Formulierung erschließt sich, wenn erfragt wird, was sich in dieser ‚Innigkeit‘ versammelt und wie diese Zusammengehörigkeitsevokation geschieht. Das im ‚reinen Wesen‘ Versammelte ist nach Heidegger nämlich das jeweils vor dem Unwesen der Beständigkeit gerettete Anwesende. Indem die nötigende Not dem unendlichen Verweilungswillen und der Grenzabschlussformierung des Seienden durch ihre „Überlegenheit“674 Einhalt gebietet, bewahrt sie zugleich das Anfängliche (auch im Sinne des Immer-Anfangen-Könnens), damit dieses als ἄπειρον von neuem den Hervorgang zu befördern imstande ist und sich in der notwendigen Entgängnis des Seienden als das steuernde Selbe des Woher-Wohin behaupten kann.675 Um die ontologisch-differentielle Dominanz des Seins über das Seiende in der vormetaphysischen Grundstellung Anaximanders zu untermauern, fusioniert Heidegger die ἀρχή, das Selbe des Hervorgangs und der Entgängnis, das ἄπειρον, die Verfügung und κατὰ τὸ χρεών unter der Ägide des Seins zu einer untrennbaren Bedeutungseinheit und schließt sie zur koexistierenden Handlungsphalanx zusammen.676 Somit müssen alle Attribute und Machtvollzüge, die einer der genannten Entitäten zugesprochen werden, zugleich auch für alle anderen Worte gelten. Dennoch wird der nötigenden Not ein gewisser Plastizitätsvorrang eingeräumt, da κατὰ τὸ χρεών

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unumgänglich zu Wissenden.“ Vgl. ferner Heidegger, N II, S. 359: „Das seinsgeschichtliche Wesen des Dürftigen dieses Weltalters beruht in der Not der Notlosigkeit. Unheimlicher denn der Fehl Gottes ist, weil wesender und älter, das Seinsgeschick, als welches die Wahrheit des Seins inmitten des Andranges von Seiendem und nur Seiendem sich verweigert. Das Unheimliche dieser abwesend-anwesenden Not verschließt sich darin, daß alles Wirkliche, das den Menschen dieses Zeitalters angeht und mit sich fortreißt, das Seiende selbst, ihm durchaus vertraut ist, daß er aber gerade dadurch mit der Wahrheit des Seins nicht nur unvertraut bleibt, daß er vielmehr, wo immer ‚Sein‘ auftaucht, dieses als das Gespenstische der bloßen Abstraktion ausgibt, es dadurch verkennt und wie das nichtige Nichts verwirft.“ Heidegger, GA 51, S. 116. Ebd., S. 116. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 116: „Anaximander sagt: Hervorgang und Entgängnis gehen hervor aus dem und gehen weg zu dem Selben. Das Selbe fängt beide nicht nur auf wie ein gleichgültiges Behältnis, sondern dieses Hervorgehen und Entgehen geht selbst hervor entsprechend der nötigenden Not. Es entspricht dieser, weil sie der Anspruch selbst ist. Sie selbst ist das Selbe. Dieses Selbe, die Verfügung (ἀρχή), dieses Selbe, das ἄπειρον, ist τὸ χρεών, die Not, die nötigende.“

2.8. Exkurs II

zum einen die „erfülltere“677 Konkretion des von der ἀρχή beherrschten, unbezwingbaren Hervorgehenlassens des Anwesenden darbiete. Zum anderen gewährleiste und illustriere die ‚nötigende Not‘ des κατὰ τὸ χρεών das Zusammenwachsen der für das ἄπειρον konstitutiven Seinsweise der Grenz-Verwehrung mit dem ursprünglichen Wahrungsgeschehen des fortwährend-unerschöpflichen Anfangs des Seins: Die nötigende Not τὸ χρεών enthält die erfülltere Bestimmung des Wesens der ἀρχή. Das sagt: Die Verfügung als Ausgang, Durchwalten, Eröffnung für das Hervorgehen und die Entgängnis hat den Grundzug dieser nötigenden Not. Diese west in der Weise des ἄπειρον, als Wehrung, die jeder Begrenzung in endgültige Beständigung wehrt. Diese nötigende Not als Verfügung in der Weise der Wehrung aller Grenzen ist jenes Selbe, aus dem heraus alles Hervorgehen und in das zurück alle Entgängnis, worin als dem Selben der Übergang west, und das heißt die eigentliche Anwesung, die nicht der Beständigung anheimfällt. Die Besinnung auf das kürzere Wort Anaximanders ἀρχή τῶν ὄντων τὸ ἄπειρον kann uns dahin verhelfen, Wort und Begriff τὸ χρεών deutlicher zu fassen und damit die Nennung dessen, was im ersten Teil des Spruches das eigentlich zu Sagende ist. Denn das Selbe, von woheraus das Hervorgehen auf und wohin zurück das Entgehen eingeht, dieses Selbe ist die nötigende Not. τὸ χρεών meint nicht eine irgendwo neben und außer der ἀρχή aufgehängte Notwendigkeit. Dieses Selbe und in seiner Notwendigkeit Eine und in seiner Einheit Einzige und in seiner Einzigkeit Anfängliche ist der Anfang. Der Anfang ist als die Verfügung über die Anwesung des jeweilig Anwesenden das Wesen der Anwesung: das Sein selbst. Das Sein sagt der Spruch des Anaximander. Der erste Satz nennt das Sein selbst als das Selbe, in dessen Verfügung jedes jeweilig Anwesende ist.678

Aus dieser eindrücklichen Schilderung der nötigenden Potenz des τὸ χρεών lässt sich folgern, dass die zweite der oben aufgeworfenen Fragen eindeutig negativ zu beantworten ist: Die Seienden haben gemäß der Anaximander-Deutung der GrundbegriffeVorlesung keine Möglichkeit, verschiedene Verhaltensstrategeme zu sondieren, um sich beispielsweise für den Un-fug einer die Zeit grenzsetzend exkludierenden Egozentrik und gegen das Sein-Lassen des Anderen zu entscheiden. Erstaunlich ist jedoch, dass sich die inhaltliche Dimension und die Rückanbindung dieser Verhaltenseindimensionalität im Zuge des heideggerschen Argumentationsganges vollkommen verändert haben: Zu Beginn der 1941 vorgetragenen Anaximander-Auslegung erweckten Heideggers Überlegungen den Eindruck, als könnten die jeweils Anwesenden der im Anwesen selbst aufkeimenden Beständigkeitstendenz nichts erwidern und müssten den Un-fug der befestigen Grenzerrichtung reproduzieren. Am Ende der zweiten Interpretation des Anaximanderspruches kristallisiert sich in diametraler Umkehrung heraus, dass die jeweils Anwesenden nicht umhin können, die durch das grenzverwehrende ἄπειρον befohlene und erzwungene Akzeptanz der endlichen Weile zu bestätigen und sich in der wechselseitigen Schätzung den Fug zu gewähren. Damit geht eine markante Statusnivellierung des Un-fugs einher.679 1932 titulierte Heidegger den Un-fug als „Wesens-

677 Ebd., S. 117. 678 Ebd., S. 117. 679 Die 1941 ersichtliche Zurückstufung des Motivs des Un-fugs drückt sich auch in Heideggers veränderter Einschätzung des Verhältnisses der beiden Sätze aus. Vgl. ebd., S. 122: „In welchem Verhältnis stehen also dann der erste und der zweite Satz des Spruches? Der erste Satz sagt, daß Hervorgang und Entgängnis, die in ihrer Einheit das Wesen des Seins ausmachen, aus dem Selben

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

macht des Seins“680 und „Mitte des Ganzen“.681 Dabei wagte er sogar den Gedanken, dass das Gefüge von Erscheinen und Hinweggang auf die vorauslaufende Bedingung einer befestigenden Individualgestaltung des Seienden durch und im Unfug angewiesen ist.682 Auf diese Weise avancierte die Verortung der ontischen Ganzheitlichkeit in der Umrissenheit zum tragenden Grund des regelmäßigen Wandels. Ohne die Wesensmöglichkeit des konturverleihenden Un-fugs könnte sich gemäß der 1932 entfalteten Deutungslinie kein Seiendes mehr aus der „gähnenden Leere des Dunkels“683 der Umrisslosigkeit herausmeißeln. Dadurch würde der Hervorgang gestoppt und die Entgängnis getilgt,

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hervorgehen. Auch die Entgängnis ‚geht hervor‘. Dieses Selbe ist die Verfügung über das Wesen des Seins. Das Selbe ist der Anfang des Seins, ist das Sein als der Anfang. Der zweite Satz sagt vom Seienden (αὐτὰ τὰ ὄντα), und zwar sagt er die Weise, wie das Seiende selbst als Seiendes ist. Der zweite Satz nennt einfach das Sein und nennt es als die Verwindung des Unfugs. Der zweite Satz gibt keineswegs die Begründung für den ersten. Der Spruch will nicht etwa das Hervorgehen aus dem Selben und die Entgängnis in dieses dadurch erklären, daß er das Seiende als das durch den Unfug Bestimmte kennzeichnet. Eher gilt das Umgekehrte: Das Sein ist die Verwindung des Unfugs, das heißt, das Nichtbestehenbleiben auf der Beständigung, weil zum Wesen des Seins der Übergang gehört.“ Im scharfen Kontrast dazu, vertritt Heidegger in der Anaximander-Vorlesung von 1932 durchaus die These, der Spruch wolle das „Hervorgehen aus dem Selben und die Entgängnis in dieses dadurch erklären, daß er das Seiende als das durch den Unfug Bestimmte kennzeichnet“. Im Gegensatz zu der 1941 vehement abgewiesenen Begründungshoheit des zweiten Satzteiles über das erste, nunmehr klar präferierte Stück des Spruches verfolgt Heidegger in der Anaximander-Vorlesung von 1932 die umgekehrte Hierarchieanordnung, die zugunsten des zweiten Satzstückes ausfällt. Vgl. Heidegger, GA 35, S. 31: „Nunmehr sind die beiden Aussprüche zur inneren Einheit gebracht. Der Eine erhellt den anderen. Vom zweiten, kürzeren her, verstehen wir erst die Mitte des ersten, was Un-fug, Fug besagt. Und wir sehen jetzt, wie in der Tat mit dem γὰρ eine Begründung eingeleitet ist dafür, daß das Sein nicht nur überhaupt Erscheinen und Verschwinden ist, sondern daß das Woher und Wohin dasselbe sein muß.“ In der GrundbegriffeVorlesung wandelt sich der Charakter des γὰρ (‚denn, nämlich‘) fundamental. 1932 fungiert das γὰρ als Begründungspartikel (im Sinne von ‚weil‘), während es 1941 eine „Folge“ (Heidegger, GA 51, S. 103) aussprechen soll, deren Grund durch den ersten Satzteil dargeboten wird. In diesem Kontext ist bemerkenswert, dass Heidegger im Aufsatz Der Spruch des Anaximander nur noch das – freilich durch die Formel κατὰ τὸ χρεών eingeleitete – zweite Satzstück als authentische Überlieferungsgestalt des Spruches beurteilt und dergestalt die Nennkraft des Un-fugs wieder verstärkt. Es lässt sich vermuten, dass Heidegger die leitende Zentralität des κατὰ τὸ χρεών 1946 auch deswegen in einer derart exzeptionellen Manier hervorhebt, weil durch die philologische Konjektur der vormalige Seinstitel des ἐξ ὧν weggefallen ist. Zudem kann der hegemoniale Vor-Schein der Selbigkeit des Woher-Wohin 1946 nicht mehr direkt an die – nach der philologischen Prüfung als innertextuelle Wegmarken ebenfalls ausgeschiedenen – Urphänomene von Hervorgang (γένεσίς) und Entgängnis (φθορά) angebunden werden, weswegen das κατὰ τὸ χρεών als einhändigend-aushändigender Stiftungsgrund des Anwesens im Anaximander-Aufsatz von 1946 konsequenterweise auch diesen Funktionskomplex übernehmen muss. Heidegger, GA 35, S. 22. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 24: „Jedes Seiende stellt sich ein und her, hebt sich heraus und ab gegen anderes. Das Erscheinen ist nicht nur Her-kommen, sondern das Herkommen Eintreten in den Umriß und seine Grenzen. In seiner Umrissenheit her-gestellt und her-stehend ‚ist‘ das Seiende, kommt es an den Tag. Umriß – nicht gleichgültiger Rahmen, sondern fügend-sammelnde Kraft und inneres Gewicht der Dinge. So hat sich uns durch die Aufhellung des Erscheinenden als Erscheinenden ein neuer wesentlicher Charakter des Seins des Seienden aufgedrängt; genauer, das Erscheinen als Auftauchen hat sich uns näher bestimmt als Eintreten in die Umrissenheit. Er-scheinen – das aufgehende Eingehen in die Umrissenheit. Das Seiende als in diesem Sein Erscheinende zu erfahren ist die Urerfahrung der Griechen.“ Ebd., S. 25.

2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz το` χρεω´ ν

sodass sich auch das Selbe des Woher-Wohin (= ἄπειρον) nicht mehr innerhalb der Erschienenheit in den Vorschein bringen könnte und folglich seiner eminenten Machtbezeugungsbasis beraubt würde.684 Dieser Auffassung opponiert 1941 die Konzeption der Grundbegriffe-Vorlesung, wonach sich der Unfug als eine immer schon bewältigte und kontrollierte Latenz der (zum Scheitern verurteilten) Insurrektion gegenüber dem wahren, durch das ἄπειρον verfügten Wesen des Überganges bestimmt. 1932 wird der Unfug zur standardisierten Ausgestaltungsform des Gesamtbereiches des Seienden (d. i. die „Erschienenheit“685) aufgewertet, während er 1941 die in den Abgrund verdrängte und besiegte Gefahr der „Begrenzung in die Beständigkeit“686 versinnbildlicht. In der Vorlesung von 1932 ermöglicht die Zeit als erscheinenlassende Macht den Un-fug; 1941 verhindert sie den als „Versteifung“687 auf die fortwährende Dauer begriffenen Unfug. Die Positionen von Fug und Unfug vertauschen sich. 1932 repräsentiert der Unfug als Eingang in die Umrissenheit die unumgängliche Erscheinungsweise des Seienden im Ganzen688, wohingegen der Fug in der GrundbegriffeVorlesung den normierten Wesensmodus für das Anwesende als solches bildet. 1932 sind die Seienden in ihrem Existieren unweigerlich im Un-fug lokalisiert689; 1941 sind sie immer schon im Fug690 der hervorgehenden Weile situiert.

2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz το` χρεω´ ν Nach diesem Exkurs zur Anaximander-Interpretation der Grundbegriffe-Vorlesung, der eine Aufhellung des ἄπειρον als ‚Verwehrung der Grenzen‘ gestattete, kann nun die Diskussion des Anaximander-Aufsatzes von 1946 fortgeführt werden. Im weiteren Argumentationsgang ist ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, weswegen Heidegger statuieren kann, dass sich jene anfänglich von Anaximander bedachte Erfahrung des Seins als ‚Verwehrung der Grenzen‘ am Ende der Metaphysik radikal gewandelt und sich in die ultimative Gewissheit der beständigen Grenzsicherung des Seienden transformiert habe. 684 Vgl. zu dieser 1932 promulgierten Hypostasierung des Unfugs zum Ausrichtungszentrum und Telos der gesamten Erschienenheit, das sogar die Wiedergewinnung der Selbigkeit des Woher und Wohin begründen könnte: Heidegger, GA 35, S. 15: „Wir behaupteten, das γὰρ zeigt es klar an, das eben besprochene Satzstück soll die Begründung geben für das, was zuvor als zum Sein gehörig festgelegt wurde. Ist dem so, dann will Anaximander sagen: das Woher und Wohin des Erscheinens ist dasselbe, weil dieses Erscheinen selbst nichts anderes ist als das Gewähren von Fug und Entspruch in Rücksicht auf den Un-fug.“ 685 Ebd., S. 25. 686 Heidegger, GA 51, S. 119. 687 Ebd., S. 114. 688 Vgl. nochmals Heidegger, GA 35, S. 19: „Daß das Seiende ist und sofern es ist – darin be-steht der Unfug, weil das Erscheinende die Grenzenlosigkeit verlassen und auf dem Umriß bestehen muß.“ 689 Ebd., S. 25: „Das Erscheinende, in der Erschienenheit Stehende, ist als ein solches aus dem Fug.“ 690 Heidegger, GA 51, S. 114: „Das Anwesende west nur an im Hervorgang und gerade nicht in der Anwesenheit, die sich in eine Beständigkeit verhärtet hat. Zum Wesen der Anwesung gehört, daß in ihr das ihr mögliche Unwesen der Versteifung in das Beständige verwehrt wird.“

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Wie sich anhand des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) zeigen lässt, nimmt sogar der Gedanke der ewigen Wiederkehr – der die Rettung des Werdens in das Sein erbringen sollte – in Heideggers später Nietzsche-Deutung Rache an der entgleitenden Zeit691, indem die ewige Wiederkehr die vermeintliche Einmaligkeit des Hinweggegangenen immer wieder in die Offenbarkeit der voluntativ gesteuerten Zugriffsmöglichkeit zurückholt. Im Kontrast dazu, möchte Heidegger die ursprünglich-endliche Zeitlichkeit im Anaximander-Aufsatz durch die Eintragung der Motive der Verborgenheit und der Unverborgenheit in den Zusammenhang von Hervorgang und Entgängnis wieder in das Recht setzen. Indem das aus der Verborgenheit entlassene Anwesende in das künftige Abwesen hinaussteht und sich dergestalt in das Verborgene zurückbirgt, existiert es zwischen der Kontingenz seiner Geworfenheit und der Offenheit einer Zukunft, die es nicht selbst zur Vollendung komplettieren kann.692 Im gewissen Sinne ist es daher Heideggers Intention – ähnlich wie beim frühen Nietzsche von 1873 – die Unschuld des innerzeitlichen Werdens gegenüber der Missbilligung durch die Metaphysik zu restituieren. In ihren Ewigkeitskonzeptionen lässt sich die Metaphysik von der Vorstellung eines stillstehenden Jetzt inspirieren oder hebt bei einem Ausschluss der Zeit an. Auf diese Weise verdrängt die Metaphysik nach Heidegger die Zwiefalt der uneinholbaren Vergangenheit auf der einen Seite und der vergänglichkeitsbesiegelnden Zukunft auf der anderen Seite. Es ist jedoch diese Duplizität von Herkunft und Entgängnis, die das gegenwärtige Anwesen gerade aufgrund ihres aktuellen Abwesens bestimmt und umfasst. Beide Dimensionen des Abwesens werden nach Heidegger auch 691 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, GA 7, S. 119: „Der höchste Wille zur Macht, d. h. das Lebendigste alles Lebens ist es, das Vergehen als ständiges Werden in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorzustellen und es so ständig und beständig zu machen. Dieses Vorstellen ist ein Denken, das, wie Nietzsche in betonter Weise vermerkt, dem Seienden den Charakter seines Seins ‚aufprägt‘. Dieses Denken nimmt das Werden, zu dem ein ständiges Sichstoßen, das Leiden, gehört, in seine Obhut, unter seine Protektion. Ist durch dieses Denken das bisherige Nachdenken, ist der Geist der Rache überwunden? Oder verbirgt sich in diesem Aufprägen, das alles Werden in die Obhut der ewigen Wiederkehr des Gleichen nimmt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das bloße Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache?“ 692 Sowohl in dem Text Der Spruch des Anaximander als auch in seinem Hauptwerk Sein und Zeit schreibt Heidegger die Unhintergehbarkeit der Geworfenheit, die mit der Dementierung jeglicher Selbstsetzungsprätention sowie mit der Verwehrung einer endgültigen Inbesitznahme des eigenen Grundes konvergiert, in die menschliche Existenz ein. Diesbezüglich ist die strukturelle Verwandtschaft zwischen der Prozessbeschreibung des Überganges im Anaximander-Aufsatz und der daseinshermeneutischen Zeitlichkeitsanalyse in Sein und Zeit also kaum zu übersehen. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 58, S. 284: „Das Sein des Daseins ist die Sorge. Sie befaßt in sich Faktizität (Geworfenheit), Existenz (Entwurf) und Verfallen. Seiend ist das Da-sein geworfenes, nicht von ihm selbst in sein Da gebracht. Seiend ist es als Seinkönnen bestimmt, das sich selbst gehört und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat. Existierend kommt es nie hinter seine Geworfenheit zurück, so daß es dieses ‚daß es ist und zu sein hat‘ je eigens erst aus seinem Selbstsein entlassen und in das Da führen könnte. Die Geworfenheit aber liegt nicht hinter ihm als ein tatsächlich vorgefallenes und vom Dasein wieder losgefallenes Ereignis, das mit ihm geschah, sondern das Dasein ist ständig – solange es ist – als Sorge sein ‚Daß‘. Als dieses Seiende, dem überantwortet es einzig als das Seiende, das es ist, existieren kann, ist es existierend der Grund seines Seinkönnens. Ob es den Grund gleich selbst nicht gelegt hat, ruht es in seiner Schwere, die ihm die Stimmung als Last offenbar macht. Und wie ist es dieser geworfene Grund? Einzig so, daß es sich auf Möglichkeiten entwirft, in die es geworfen ist. Das Selbst, das als solches den Grund seiner selbst zu legen hat, kann dessen nie mächtig werden und hat doch existierend das Grundsein zu übernehmen.“

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2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz το` χρεω´ ν

dann desavouiert und geraten in die Botmäßigkeit der Präsenz, wenn die Vergangenheit – wie bei Nietzsche – schlichtweg mit der Zukunft identisch sein soll. In diesem Temporalmodell wird die spezifische Zeitigung nicht gerettet und zugelassen, sondern zugunsten eines sich durchhaltenden Gleichen nivelliert. Für diese These lässt sich ein immens aufschlussreicher Beleg aus dem Aufsatz Der Spruch des Anaximander anführen. In dem entsprechenden Passus parallelisiert Heidegger Nietzsches Annäherung von ‚Werden‘ und ‚Sein‘ mit dem Gehalt des ältesten Spruches der Philosophie. Zuvorderst ist zu apostrophieren, dass das Werden innerhalb des überspannenden, alle drei Zeitdimensionen und somit auch die Zwiefalt des Abwesens inkludierenden Anwesens nicht als flüchtig-vergänglicher Schein dekuvriert werden kann. Stattdessen muss der aus dem Abwesenden ent-stehende Hervorgang nach Heidegger als das in verschiedenen Gestalten wiederkehrende Anfangenkönnen des zeiterfüllten Seins des Seienden betrachtet werden. Im Rekurs auf Heideggers Motivik der Eschatologie des Seins ist signifikant, dass Anaximander und Nietzsche innerhalb dieses Narrativs diejenigen Denker sind, denen sich das Sein zuerst und zuletzt zugesprochen hat. Dies besiegelt die Ähnlichkeit ihres Denkens wie auch ihre unüberbrückbare Geschiedenheit, die sich in den frappierend verwandten Bestimmungen von Werden und Sein verbirgt.693 In entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht ist bemerkenswert, dass Heidegger auch im Anaximander-Aufsatz von 1946 jene ‚rekapitulierende‘ Verhältnisauslotung zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen verwendet, die er sowohl in der nicht gehaltenen Vorlesung Nietzsches Metaphysik694 (1941/42) als auch in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra?695 (1953) jeweils unter Rückbezug auf den Aphorismus Nr. 617 aus Der Wille zur Macht expliziert. Der Wille zur Macht sichert sich durch die ewige Wiederkehr seine Beständigkeit und hat diesen Gedanken erschaffen, um die Welt auf eine Zwecklosigkeit zu fixieren, in der sich einerseits sein unstillbares Wollen in ewiger Dauer bestätigen kann. Andererseits kann er sich selbst immer wieder vor das größte Hindernis seines eigenen Wesens bringen – die Herausforderung einer Umprägung des Werdens zum Sein – um sich dergestalt zu sich selbst zu überwinden. So schreibt Heidegger im Anaximander-Aufsatz: 693 Hannah Arendt votiert dafür, dass der von Heidegger – besonders bei Nietzsche – kritisierte Dualismus von Sein und Werden unterschwellig auch noch das Deskriptionsszenario im Anaximander-Aufsatz prägt, obwohl Heidegger die Wahl der Termine ‚Entstehen‘ und ‚Vergehen‘ vermeidet. Arendt grenzt dabei das Sein im Sinne der Insistenz auf die Dauer, das als Gesetzmäßigkeit des Vergehens dem Werden zugehörig ist, von jenem Sein ab, das die pränatale, ‚bergende Dunkelheit‘ repräsentiert und damit der Sphäre des Werdens diametral entgegengesetzt ist. Diese umrisslose Verborgenheit nimmt das werdendgewesene Seiende in der Entgängnis wieder auf. Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, S. 417: „[…] Es gibt unzweifelhaft so etwas wie Werden; alles, was wir kennen, ist geworden, ist aus einer vorherigen Dunkelheit ans Licht des Tages gestiegen; und so lange es dauert, bleibt dieses Werden sein Gesetz: sein Dauern ist gleichzeitig sein Vergehen. Das Werden, das Gesetz des Seienden, ist jetzt der Gegensatz des Seins; wenn das Werden im Vergehen aufhört, so verwandelt es sich wieder in jenes Sein, aus dessen bergender Dunkelheit es einmal aufgetaucht war. In diesem spekulativen Zusammenhang besteht die ontologische Differenz in dem Unterschied zwischen Sein, in dem starken Sinne des Dauerns, und Werden.“ 694 Vgl. Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 36. 695 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, GA 7, S. 119.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

Auf dem Gipfel der Vollendung der abendländischen Philosophie fällt das Wort: ‚Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.‘ So schreibt Nietzsche in einer Aufzeichnung, die betitelt ist: ‚Recapitulation.‘ Nach dem Charakter der Handschrift des Manuskriptes dürfen wir sie in das Jahr 1885 setzen, um welche Zeit Nietzsche nach dem ‚Zarathustra‘ sein systematisches metaphysisches Hauptwerk plante. ‚Das Sein‘, das Nietzsche hier denkt, ist ‚die ewige Wiederkunft des Gleichen.‘ Sie ist die Weise der Beständigung, in der sich der Wille zur Macht selber will und sein eigenes Anwesen als das Sein des Werdens sichert. Im Äußersten der Vollendung der Metaphysik kommt das Sein des Seienden zum Wort. Der frühe Spruch des frühzeitlichen Denkens und der späte Spruch des spätzeitlichen Denkens bringen das Selbe zur Sprache, aber sie sagen nicht das Gleiche. Wo aber aus dem Ungleichen her vom Selben gesprochen werden kann, ist die Grundbedingung für eine denkende Zwiesprache der Spätzeit mit der Frühzeit wie von selbst erfüllt.696

Die Verlaufsgesetzmäßigkeit der dem Willen zur Macht unterworfenen ewigen Wiederkehr – so lässt sich im Kontrast zu Heideggers Deutung des Werdevorganges im Spruch des Anaximander bilanzieren – integriert erstens alle Dinge in die Sphäre des überblickbaren, gegenwärtigen Anwesens inmitten der Unverborgenheit. Das gegenwärtige Anwesen des Willens zur Macht kennt keine Unverfügbarkeit des in die Vergangenheit gerückten Abwesenden und kann keine Ungewissheit über das noch im Verborgenen befindliche Kommende zulassen. Deswegen vermag sich das immergleiche, je-weilig Anwesende dem Zugriff des Willens zur Macht nicht mehr zu entziehen; zumal es selbst darauf drängt, in der Sphäre unverborgener Anwesenheit zu verbleiben und nicht in die Verborgenheit zurückzukehren. Das „Licht des Seins“697 wird in der gewährten Helle der Unverborgenheit des Seienden verdunkelt. Zweitens verliert neben dem Sein auch die Zeit ihre Macht, weil der Fug und die Konzession der wechselseitigen Rücksicht allein durch den Primat einer gespannt zu erwartenden, nicht kontrollierbaren Zukunft einen Sinn erhalten. Gleichwohl lässt sich eine wichtige Ebenenverlagerung diagnostizieren: Die Attribute, welche in den Übersetzungen Nietzsches und Diels’ der ausgleichenden Gerech696 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 332f. In der Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 kritisiert Heidegger eine mögliche Parallelisierung der im Satz des Anaximander scheinbar thematisierten Identität zwischen dem beständigen Werden und der Anwesenheit des Seins mit Nietzsches philosophischem Grundanliegen. Heidegger prononciert, dass Nietzsche die innerhalb der eigenen Metaphysik mit instinktiv-originärer Virtuosität gebrauchten Begriffe von ‚Werden‘ und ‚Sein‘ stets dualistisch konzeptualisiert habe, wenn er die vorplatonischen Denker rezipiert habe. Deswegen habe Nietzsche den wahren Anfang des griechischen Denkens nicht erfassen können. Vgl. Heidegger, GA 51, S. 105: „Allein, Hervorgehen und Entgehen sind doch Namen für den Wechsel und den Wandel, also für das ‚Werden‘; dann zeigt eben dieser Spruch, daß die Griechen von früh an schon das ‚Sein‘ als ‚Werden‘ begriffen haben. ‚Das Sein‘ sollen die Griechen als ‚Werden‘ begriffen haben? Man findet in diesem Gedanken die Fülle alles Tiefsinns. Aber vielleicht ist er nur eine Gedankenlosigkeit, zu der man sich flüchtet, um weder über das ‚Sein‘ noch über das ‚Werden‘ nachzudenken. Und vor allem: Die Griechen wären von diesem angeblichen Tiefsinn weit entfernt, trotz Nietzsche, der sich selbst mit Hilfe dieser leeren Entgegensetzung von Sein und Werden ein Begreifen des griechischen Denkens unmöglich gemacht hat. Dagegen haben diese Begriffe Sein und Werden in Nietzsches Metaphysik eine wohlumgrenzte und wesentliche Bedeutung. Aber weder Nietzsches Begriff des ‚Werdens‘ und ‚Seins‘ noch Hegels Begriffe von ‚Werden‘ und ‚Sein‘ dürfen mit der anfänglich gedachten γένεσις zusammengeworfen werden.“ 697 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 337.

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2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz το` χρεω´ ν

tigkeit zugesprochen werden, gehen bei Heidegger auf das χρεών über. Diese Externalisierung ergibt sich nicht nur aus seinsgeschichtlichen Erwägungen. Die Transposition ist auch deswegen notwendig, weil Heidegger an einem Konflikt zwischen δίκη und ἀδικία festhält, in den die Menschen und Dinge eingewoben sind. Dieser im Medium der Anwesenden ausgetragene Streit wird durch den Einfluss des κατὰ τὸ χρεών letztendlich immer zugunsten des Fugs entschieden, sodass hier die Bedeutung eines „unentrinnbaren Müssen[s]“698 hindurchschimmert.699 In den Anaximander-Übersetzungen Diels’ und Nietzsches erfüllt die Gerechtigkeit als sinnbildlicher Strukturfaktor des zeitlichen Maßes, das den schuldbehafteten Dingen inhärent ist, die Aufgabe, alles Gewordene in den Ursprungsort seiner Entstehung zurückzugeleiten. Stärker als bei Heidegger, scheint es in Nietzsches Übersetzung des Originalspruches angesichts dieses Fatums vollkommen einerlei zu sein, wie und ob sich das Gewordene zu seiner Endlichkeit verhält. Hingegen lässt sich aus Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander zumindest interimistisch der Eindruck gewinnen, dass sich das adäquate Verhältnis zu der Unverborgenheit des gegenwärtigen Anwesens durch die frei gewählte Form der Achtsamkeit gegenüber dem κατὰ τὸ χρεών artikulieren könnte. Das „frühe Wort des Seins, τὸ χρεών“700, das Heidegger zunächst unübersetzt in seine Überlegungen integriert hatte, wird von ihm am Ende des Aufsatzes in „befremdlich“701 und „vorerst mißdeutbar“702 erscheinender Weise mit „Brauch“703 übertragen. Da im Partizip τὸ χρεών die etymologische Verbindung zu χείρ, die Hand, anklingt, fließt die Semantik des „einhändigen“ und „aushändigen“704 in die Funktionsbeschreibung des Anwesens in seiner Beziehung zum Anwesenden ein: τὸ χρεών ist dann das Einhändigen des Anwesens, welches Einhändigen das Anwesen dem Anwesenden aushändigt und so das Anwesende als ein solches gerade in der Hand behält, d. h. im Anwesen wahrt.705

Die von Heidegger als „Zumutung“706 charakterisierte Übersetzung, die nichtsdestotrotz dem Sinn des im Spruch erwähnten Wortes τὸ χρεών entsprechen soll, nimmt ihren etymologischen Begründungsweg im Ausgang von der Herleitung von „brauchen“707 aus dem altdeutschen „bruchen“.708 Dieses Wort führt Heidegger mit dem 698 Ebd., S. 365f. 699 Diese Ansicht teilt auch Uvo Hölscher, der den aus Nietzsches Anaximander-Deutung vertrauten Aspekt der Hybris mit Heideggers Entschlüsselung des τὸ χρεών als Schicksalsmacht verknüpft. Vgl. Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie, in: Hermes 81. Bd., H. 3 (1953), S. 31: „Das gedankliche Schema Anaximanders war der Kontrast des Endlichen zum Ewigen. Die Endlichkeit sieht er dabei nicht im Bild des Gleichgewichts der Gegensätze, sondern unter dem Aspekt der Hybris: Übergriff des Endlichen über Endliches. Der Anteil, der dem Endlichen darum vom Schicksal gesetzt ist, ist seine ‚Zeit‘. Das ‚Schickende‘ ist nicht χρόνος, sondern τὸ χρεών.“ 700 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 365. 701 Ebd., S. 366. 702 Ebd., S. 366. 703 Ebd., S. 366. 704 Ebd., S. 366. 705 Ebd., S. 366. 706 Ebd., S. 367. 707 Ebd., S. 367. 708 Ebd., S. 367.

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

lateinischen „frui“709, „genießen“, zusammen. Im Rekurs auf eine Augustinus-Stelle, in der „frui“ in Verbindung mit praesto habere genannt wird, schält sich die ontologische Sichtbahn Heideggers heraus. So expliziert Heidegger, dass das Praesitum sein Pendant im griechischen ὑποκείμενον finde. Das ὑποκείμενον, das Heidegger im AnaximanderAufsatz als „das im Unverborgenen schon Vorliegende“710 begreift, korrespondiere wiederum dem Bedeutungskreis der οὐσία. Der Brauch kann angesichts des Resultats dieser Hypostasierungskette als Ermöglichungsgrund711 für das je-weilig Anwesende firmieren, indem er dieses seinem spezifischen Wesen entgegenkommen lässt und es in diesem hält: ‚Brauchen‘ besagt demnach: etwas Anwesendes als Anwesendes anwesen lassen; frui, bruchen, brauchen, Brauch bedeuten: etwas seinem eigenen Wesen aushändigen und es als so Anwesendes in der wahrenden Hand behalten. In der Übersetzung von τὸ χρεών ist der Brauch als das Wesende im Sein selbst gedacht. Das bruchen, frui, ist jetzt nicht mehr nur vom genießenden Verhalten des Menschen gesagt und damit in der Beziehung auf irgendein Seiendes, und sei dies das höchste Seiende (fruitio Dei als die beatitudo hominis), sondern der Brauch nennt jetzt die Weise, wie das Sein selbst west als die Beziehung zum Anwesenden, die das Anwesende als Anwesendes an-geht und be-handelt: τὸ χρεών.712

Wie im nächsten Kapitel dieser Arbeit eingeholt werden soll, widmet sich Nietzsche in seiner Auslegung Anaximanders ausführlich dem ἄπειρον und rekonstruiert den Gedankengang, der Anaximander zu der Hypothese der vielheitsentzogenen Unbegrenztheit motivierte. Anaximanders Chorismos zwischen τὸ ἄπειρον auf der einen Seite und dem Bereich der endlichen Dinge auf der anderen Seite markiert in Nietzsches Chronik der griechischen Denker den Beginn der Metaphysik. Als qualitätsloses und unprädizierbares Unbestimmtes ist das ἄπειρον nach Nietzsche mit dem ewigen Sein zu identifizieren, das die Quelle und den letzten Grund des sich im Gebiet der begrenzenden Bestimmtheit vollziehenden Werdens bildet. Die von Nietzsche intensiv rezipierten Hauptworte der Philosophie Anaximanders – τὸ ἄπειρον und πέρας713 – spielten in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander bislang keine Rolle. Doch auch aus Heideggers Sicht ist der Einbezug dieser Begriffe zentral, um die Übereinstimmung des eigenen Seinsdenkens mit der anaximandrischen Lehre erweisen zu können. Zugleich erfüllt die Integration von ἄπειρον und πέρας den Zweck, das Verhältnis zwischen dem Brauch und dem Fug, zwischen τὸ χρεών und δίκη, zwischen dem Sein und der Gerechtigkeit, klarer zu bestimmen. Heidegger hebt hervor, dass der diesseits jedweder Begrenzung zu verortende Brauch dem jeweils Anwesenden die Grenze (πέρας) verleiht, innerhalb derer es existieren kann.714 Es zeigt sich erneut, dass das trennende Semikolon und die scharfe 709 Vgl. ebd., S. 367. 710 Ebd., S. 367. 711 Zu Heideggers Approximation des χρεών an den unbegrenzten Quellgrund der Dinge (ἄπειρον) vgl. Sergiusz Kazmierski, Die Anaximanderauslegung Heideggers und der Anfang des abendländischen Denkens, S. 229–232. 712 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 367f. 713 Vgl. Anaximander, DK 12 A 15, B 3, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 66f. 714 Vgl. dazu Andreas Bächli, Heidegger über den Satz des Anaximander, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1/2004, S. 149–160.

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2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz το` χρεω´ ν

Unterscheidung der beiden Satzteile Heideggers Interpretationsabsicht befördern, insofern es dadurch erleichtert wird, eine ontologische Differenz einzuzeichnen. Nach der Gleichsetzung des Anwesenden mit dem begrenzten Bereich kann Heidegger im Umkehrschluss den Gehalt des aristotelischen Lehrberichtes über Anaximander respektieren, wonach das „Anwesende […] die Herkunft seines Wesens in dem, was ohne Grenze west“715 habe. Weil der Brauch als Anwesenlassen des Anwesenden nicht unter die Begrenzungsfaktoren von Fug und Ruch fällt und demnach selbst kein Anwesendes ist, repräsentiert er als Grenzverleihendes zugleich das Grenzen-lose, τὸ ἄπειρον. Es ist wichtig, den daraus resultierenden Bedeutungswandel des Fuges zu perzipieren, der sich schon auf der sprachlichen Ebene ankündigt: Hatte Heidegger zuvor nahezu ausschließlich vom „Fug“ gesprochen, so greift er in diesem fortgeschrittenen Textstadium wieder auf die anfangs favorisierte Hauptbezeichnung „Fuge“ zurück. In den von 1936–1938 verfassten Beiträgen zur Philosophie avanciert die Fuge zur zentralen Nachfolgefigur der Systemphilosophie.716 Es gilt im Folgenden, Heideggers Exposition einer Differenz zwischen der Fuge der Weile und dem Fug zu beachten. Die Fuge der Weile konturiert sich nicht in einem verzweigten Nexus der Achtung oder in einer anerkannten Ausgewogenheit der Zuteilung. Stattdessen fungiert sie als eine den Lebensweg in der Weile vorzeichnende Einpassungsschiene, in die hinein der Brauch die Anwesenden freigibt: Der Brauch händigt das Anwesende in sein Anwesen aus, d. h. in das Weilen. Der Brauch erteilt dem Anwesenden den Anteil seiner Weile. Die je erteilte Weile des Weiligen beruht in der Fuge, die Anwesendes zwischen das zwiefache Ab-wesen (Herkunft und Hingang) übergänglich verfügt. Die Fuge der Weile be-endet und be-grenzt das Anwesende als ein 715 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 368. 716 Zu Heideggers Exposition der Fugen als ausgezeichneten Gründungsorten der Wahrheit des Seins vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 5, S. 14: „Die Grundstimmung des Denkens im anderen Anfang schwingt in den Stimmungen, die entfernt nur sich nennen lassen als das Erschrecken / die Verhaltenheit / die Scheu. Der innere Bezug dieser wird nur erfahren im Durchdenken der einzelnen Fugen, in die sich die Gründung der Wahrheit des Seyns und der Wesung der Wahrheit fügen muß.“ Zu Heideggers Erörterung des Denkens der Fuge, das zum philosophischen Ethos des anderen Anfangs avanciert, vgl. ebd., Nr. 28, S. 65: „Dieses Denken und seine von ihm entfaltete Ordnung steht außerhalb der Frage, ob zu ihm ein System gehöre oder nicht. ‚System‘ ist nur möglich im Gefolge der Herrschaft des mathematischen (im weiten Sinne) Denkens. Ein Denken, das außerhalb dieses Bereiches und der entsprechenden Bestimmung der Wahrheit als Gewißheit steht, ist daher wesentlich ohne System, unsystematisch; aber deshalb nicht willkürlich und wirr. Un-systematisch besagt nur dann soviel wie ‚wirr‘ und ungeordnet, wenn es am System gemessen wird. Das anfängliche Denken im anderen Anfang hat die andersartige Strenge: die Freiheit der Fügung seiner Fugen. Hier fügt sich das Eine zum Anderen aus der Herrschaftlichkeit des fragenden Zugehörens zum Zuruf.“ Heidegger gliedert die Fugen, in denen das Seyn selbst sich in der Wahrheit seiner lichtenden Verbergung ankündigen soll, in die Momente des Anklangs, des Zuspiels, des Sprunges und der Gründung. Vgl. ebd., Nr. 27, S. 64: „Das anfängliche Denken ist der ursprüngliche Vollzug von Anklang, Zuspiel, Sprung und Gründung in ihrer Einheit. Vollzug will hier sagen, daß diese – Anklang, Zuspiel, Sprung, Gründung in ihrer Einheit – je nur menschenhaft übernommen und ausgestanden werden, daß sie selbst immer wesentlich ein Anderes sind und zum Geschehnis des Da-seins gehören. Die Schärfe des Sagens in diesem Denken und die Einfachheit des prägenden Wortes messen sich an einer Begrifflichkeit, die jeden bloßen Scharfsinn als leere Zudringlichkeit abweist. Begriffen wird, was hier einzig und immer zu begreifen ist, das Seyn je nur in der Fügung jener Fugen. Niemals läßt sich das herrschaftliche Wissen dieses Denkens in einem Satz sagen.“

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2. Die Subordination der δίκη unter das Sein in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander (1946)

solches. Das jeweilig Anwesende, τά ἐόντα, west in der Grenze (πέρας). Der Brauch ist als das Erteilen des Anteils der Fuge das zuschickende Fügen: die Verfügung des Fugs und mit ihm des Ruchs. Der Brauch händigt Fug und Ruch in der Weise aus, daß er das Ausgehändigte sich im vorhinein vorbehält, zu sich versammelt und es als das Anwesende in das Anwesen birgt. Der Brauch aber, der, den Fug verfügend, das Anwesende be-endet, händigt Grenze aus und ist so als τὸ χρεών zugleich τὸ ἄπειρον; das, was ohne Grenze ist, insofern es darin west, die Grenze der Weile dem je-weilig Anwesenden zu schicken.717

Demzufolge kann kein Anwesendes dauerhaft auf dem Un-Fug beharren, weil der Brauch es in der basalen Zuteilung der Fuge der Weile von vornherein limitiert hat. Die bisher zu konstatierenden Unklarheiten und ambivalenten Hierarchiegewichtungen räumt Heidegger am Ende seiner dem Spruch selbst gewidmeten Ausführungen weitgehend aus. Der Brauch lässt den Menschen und Dingen ihre Freiheit, obwohl er das jeweilig Anwesende in der zugemessenen Fuge der Weile situiert, versammelt und einbehält. Die Menschen können entweder auf das Sein hören, d. h. in Heideggers Worten: den Fug dem Brauch gehören lassen und dergestalt im Zwischen des gefügten Überganges anwesen oder sich zunächst auf das Verharren in ihrer Weile restringieren. Doch selbst wenn die zweite Gestaltungsoption gewählt wird, können die Anwesenden niemals den Un-Fug walten lassen, weil der Brauch das Anwesende nur innerhalb eines Raums des Anwesens zulässt, dessen Übergangscharakter durch κατὰ τὸ χρεών bewahrt wird: Der Brauch läßt, Fug und Ruch verfügend, in die Weile los und überläßt das Anwesende je seiner Weile. Damit ist es aber auch in die ständige Gefahr eingelassen, daß es sich aus dem weilenden Verharren in das bloße Beharren verhärtet. So bleibt der Brauch in sich zugleich die Aushändigung des Anwesens in den Un-Fug. Der Brauch fügt das Un-. Darum kann das jeweilig Anwesende nur anwesen, insofern es Fug und damit auch Ruch gehören läßt: dem Brauch. Das Anwesende west an κατὰ τὸ χρεών, entlang dem Brauch. Er ist die verfügend wahrende Versammlung des Anwesenden in sein je und je weiliges Anwesen.718

Das τὸ χρεών, das die Gesetzmäßigkeit der Fuge beherrscht, enthüllt sich nach Heidegger als frühester Name und zugleich als die erste und „höchste“719 denkerische Bestimmung für die erst im Lehrgedicht des Parmenides in ihrer philosophischen Gravität erfahrene Schicksalgöttin Μοῖρα, der sowohl die Götter als auch die Menschen nicht zu entrinnen vermögen. Weil τὸ χρεών das Anwesende im Anwesen versammelt, antizipiert Anaximander zudem den von Heraklit eigens vernommenen Λόγος.720 717 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 368. 718 Ebd., S. 368f. Im Rahmen seiner Ausarbeitung einer phänomenologischen Heraklit-Lesart honoriert Klaus Held ebendiesen von Heidegger profilierten Zuweisungsaspekt des χρεών, weil dergestalt die irreversible Verwurzelung der Lebenswelt in einer durch die Zeit eingeräumten Weiledauer untermauert und für eine Analyse der Vorsokratiker fruchtbar gemacht werde. Vgl. Held, Heraklit, S. 296, Fußnote 51: „Für das κατὰ τὸ χρεών bei Anaximander (Diels 12 B 1) gibt Heidegger eine Antwort auf diese Frage in seinem bekannten und umstrittenen Aufsatz ‚Der Spruch des Anaximander‘ (in ‚Holzwege‘, S. 296 ff.), S. 337ff. Heideggers Aufsatz hat trotz aller Einwände, die man insbesondere gegen seine Sprache erheben kann, das Verdienst, in die Vorsokratiker-Auslegung den entscheidenden Gedanken eingeführt zu haben, daß die Regelung durch ein χρεών den eigentümlichen Zeitcharakter der Bemessung der Dauern von Weilen aneinander hat.“ 719 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 369. 720 Vgl. ebd., S. 369.

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2.9. Heideggers Gegenüberstellung von Anaximander und Nietzsche und die aushändigend-einräumende Instanz το` χρεω´ ν

Insofern τὸ χρεών alles Seiende in dem einen übergreifenden Anwesen eint, zeigt Anaximander auch in das von Parmenides verbalisierte τὸ ἕν voraus, das wiederum dem Λόγος und der Μοῖρα als „Einheit dieses Einenden“721 entspricht. Heidegger gelangt daher zu dem Resümee: „Das Wesen von Μοῖρα und Λόγος ist vorgedacht im Χρεών des Anaximander.“722

Kurz darauf wird die herausragende Stellung Anaximanders als ‚Anfänger‘ der Philosophie sowie als entscheidender Wegbereiter Heraklits und Parmenides‘ nochmals unterstrichen: Wir Späteren freilich müssen im Andenken zuvor den Spruch des Anaximander gedacht haben, um das Gedachte des Parmenides und des Heraklit nachzudenken. Dabei wird die Mißdeutung hinfällig, nach der die Philosophie des Einen eine Lehre vom Sein, die des Anderen eine Lehre vom Werden gewesen sein soll.723

Weil das Anwesende „entlang dem Brauch“724, d. h. in der von diesem gestifteten Versammlung weilt, ergibt sich unter Hinzufügung dieser Bedeutung von κατὰ τὸ χρεών die endgültige Übersetzung des Spruches, die zugleich Heideggers gebündelte Interpretation des Sinngehalts beinhaltet: „….entlang dem Brauch; gehören nämlich lassen sie Fug somit auch Ruch eines dem anderen (im Verwinden) des Un-Fugs.“725

721 722 723 724 725

Ebd., S. 369. Ebd., S. 369. Ebd., S. 370. Ebd., S. 372. Ebd., S. 372.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Trägheit des Geistes lässt diese zu Ueberzeugungen erstarren. – Wer sich aber freien, rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. – Aber wir, die wie gemischten Wesens sind und alsbald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen.726

3.1. Anaximanders metaphysische Ausgangsproblematik und Heraklits Aufhellung der Dialektik von Einem und Vielem Um den für Nietzsches emphatische Heraklit-Würdigung verantwortlichen Problemhorizont verdeutlichen zu können, ist zunächst eine Rekapitulation der Grundzüge seiner tragisch-ethischen Lesart des Anaximander-Fragments vorauszuschicken. Daraufhin soll illustriert werden, in welcher Weise Nietzsches Heraklit die von Anaximander zurückgelassenen, metaphysischen Herausforderungen löst. Anaximander musste der Übergang vom Unbestimmten zum Bestimmten nach Nietzsche als „moralisches Phänomen“727 erscheinen, weil er in der Vielheit des Werdens den Aspekt des Vergänglichen beachtete und durchdachte. Unter der Voraussetzung, dass kein Seiendes, das ein wahrhaftes Recht hätte zu existieren, der Vergänglichkeit, der Alterung, dem Leiden und der unaufhaltsamen Reduktion der Möglichkeiten unterworfen sein könnte, ergibt sich für den „erste[n] Philosoph[en] des Abendlandes von unvergeßlicher geistiger Physiognomie“728 die Schlussfolgerung, dass die vereinzelte Existenz sowie die Vielfalt nicht gerechtfertigt sind.

726 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, Nr. 637, S. 362. 727 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 821. Georgia Apostolopoulou ist vollauf beizupflichten, wenn sie bilanziert, dass die tragende Sinnfolie der Philosophie Schopenhauers, die in Nietzsches moralisch-tragischer Textur des Spruches des Anaximander unverkennbar ist, durch Heideggers wirkmächtige Auslegung des Spruches zugunsten einer ontologischmetaphysischen Lesart der Auseinandersetzung Nietzsches mit Anaximander abgelöst wurde. Vgl. Apostolopoulou, Schopenhauers Einfluß auf Nietzsches Verständnis des Anaximander, S. 262: „Schopenhauers Einfluß auf Nietzsches Verständnis des Anaximander ist durch Heideggers Interpretation fast in den Hintergrund getreten.“ 728 Karl Jaspers, Die grossen Philosophen I, S. 629.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

Der Obhut einer legitimierenden Instanz beraubt, ballt sich in der Mannigfaltigkeit der Phänomene eine „Summe von abzubüßenden Ungerechtigkeiten“729 zusammen. Weil alle in das Werden und in die Vergänglichkeit hineingehaltenen Lebewesen und Dinge eindeutig definierbare Qualitäten aufweisen, kann der Ursprung der Dinge730 selbst keine Bestimmtheit besitzen. Der Ursprung kann folglich keine andere Entität sein als das prädikatlose, unvergängliche ἄπειρον.731 Dass das Werden sich of729 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 820. 730 Vgl. ebd., S. 819. Hinsichtlich der Profilierung der Unbestimmtheit des ἄπειρον beschreitet Wiebrecht Ries einen ähnlichen Deutungspfad wie Nietzsche. Allerdings geht Ries über Nietzsches negativ-apophatischen Schilderungsweg des ἄπειρον insofern hinaus, als er dem abstrakten ἄπειρον gerade aufgrund der Absenz endlicher Merkmale die tradiert-mythologischen Prädikate des Göttlichen zuschreibt. Vgl. Ries, Die Philosophie der Antike, S. 23: „Das apeiron als das Unbestimmbare ist von unbegrenzter Ausdehnung und Dauer – Eigenschaften, die ihm Prädikate des Allumfassenden, Unsterblichen und Göttlichen verleihen (Aristoteles, Phys. III 4, 203 b 6). Damit aber werden dem apeiron die homerischen Attribute der Götter bewahrt: Unsterblichkeit und unbegrenzte Macht. Doch an die Stelle mythischer Göttergestalten tritt ein Neutrum: to apeiron, das, was als das höchste Lenkende alles ‚steuert‘.“ Vgl. die entsprechende Stelle aus der Physik des Aristoteles, hier zit. nach: Mansfeld/Primavesi, Die Vorsokratiker, S. 67f.: „Alle Dinge sind entweder Anfang [bzw. Prinzip] oder von einem Anfang Hergeleitetes. Das Unbeschränkte hat keinen Anfang, sonst wäre ihm eine Schranke gesetzt. Weil es ein Anfang ist, ist es auch nicht entstanden und unvergänglich. Denn jedes Entstandene muss notwendig ein Ende nehmen, wie jedes Vergehen einmal zum Abschluss kommen muss. Somit gibt es, wie eben schon gesagt, keinen Anfang des Anfangs, sondern scheint dieser vielmehr Anfang alles übrigen zu sein, alles zu umfassen und alles zu steuern, so wie jene behaupten, die neben dem Unendlichen keine weitere Ursachen, wie Vernunft [Anaxagoras] oder Liebe [Empedokles], ansetzen. Und dieses sei das Göttliche. Denn es sei unsterblich und unvergänglich, wie Anaximander und die Mehrheit der Naturphilosophen behaupten.“ 731 Vgl. Aristoteles, Phys. III 4, 203; vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 821. In Anbetracht der in Nietzsches Anaximander-Porträt apostrophierten Binarität zwischen einer unbestimmt-prinzipienhaften Entität auf der einen Seite und der Vielheit des Werdens auf der anderen Seite ist es höchst aufschlussreich, dass Philipp Mainländer in seiner an Schopenhauers Willensmetaphysik angelehnten Philosophie der Erlösung ein analoges Verhältnis zwischen dem prädikatlosen Ursein und der zeiträumlichen Welt der Individuen entwirft. Diese Nähe der metaphysischen Dualkonzeptionen Anaximanders und Mainländers gewinnt zusätzlich an philosophiegeschichtlicher Brisanz, wenn berücksichtigt wird, dass Nietzsche den Gehalt des Spruches des Anaximander mit Hilfe Schopenhauerscher Theoreme interpretiert und Mainländer sich demonstrativ als Nachfolger Schopenhauers versteht. Ähnlich wie Anaximander, negiert Mainländer jedwede konkrete Bestimmtheit des anfänglichen Urseins und spricht diesem eine voluntative Intentionsbildung ab. Der fundamentale Unterschied zu Anaximander beruht jedoch darauf, dass Mainlander das Faktum des Werdens (mitsamt dem Wechselbezug von Hervorgang und Verschwinden) weder durch die numinose Macht der Zeit erklärt noch im Rückgriff auf einen vermeintlich schuldhaften Abfall der Dinge von der Ureinheit plausibilisiert noch aus der Verfügungsgewalt einer seinsmäßigen Notwendigkeit erhellt oder auf naturphilosophisch-physikalischem Wege erschließt. Stattdessen löst Mainländer das philosophische Kernproblem des Überganges vom Unendlichen zum Endlichen, indem er die einfache Einheit – auf diese Weise von Anaximander abweichend – nicht als eine ewigunvergängliche Instanz charakterisiert, sondern ihr den Status der Gewesenheit verleiht. Die erste Einheit, der Mainländer auch den Namen Gott gibt, ist gemäß der Philosophie der Erlösung gestorben und hat sich in diesem Akt in die Welt der Vielheit dissoziiert. Entscheidend ist, dass die Lebewesen und Dinge für Mainländer – darin ist er Anaximanders Spruch verbunden – miteinander ringen und in diesem Streit der Gegensätze notwendigerweise ihre Kraft einbüßen. Dadurch verwirklichen die Dinge jene Tendenz zum Nichtsein, die nach dem Tode Gottes die Vielheit durchwaltet und laut Mainländer einstmals zur gänzlichen Aufhebung der Welt führen wird. Dieser letzte Punkt ist besonders bedenkenswert, weil sich folglich auch in Mainländers Philosophie die Aussage des Satzes des Anaximander bewahrheiten soll, dass die Dinge dereinst dorthin zurückkehren werden, woraus

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3.1. Anaximanders metaphysische Ausgangsproblematik und Heraklits Aufhellung der Dialektik von Einem und Vielem

fenbar trotz des Vorübergehens einer „ganze[n] Ewigkeit“732 bislang nicht erschöpft hat, indiziert darauf, dass das eigenschaftsdistinkte Erscheinende ununterbrochen aus der Unbestimmtheit des ἄπειρον hervorgeht. Folgerichtig ist das ἄπειρον als „ewiges Sein“733 zu entschlüsseln. Ferner zeigt die Persistenz des Quellgrundes an, dass nicht sie zuvorderst hervorgegangen sind – nämlich in das unbestimmte ἄπειρον (Anaximander) beziehungsweise in jenes Nichts, das der Tod Gottes zurückließ (Mainländer). Vgl. dazu Philipp Mainländer, Die Philosophie der Erlösung. Erster Band, hrsg. von Lennart Piro, München 2014, S. 81: „So sind wir denn zu der Erklärung gezwungen, dass die einfache Einheit weder Wille, noch Geist, noch ein eigentümliches Ineinander von Willen und Geist war. Auf diese Weise verlieren wir die letzten Anhaltspunkte. Umsonst drücken wir auf die Federn unseres kunstreichen, wundervollen Apparats für die Erkenntnis der Außenwelt: Sinne, Verstand, Vernunft, erlahmen. Vergeblich halten wir die in uns, im Selbstbewusstsein gefundenen Prinzipien, Willen und Geist, als Spiegel dem rätselhaften, unsichtbaren Wesen auf der jenseitigen Höhe der Kluft entgegen, hoffend, es werde sich in ihnen offenbaren: sie strahlen kein Bildnis zurück. Aber jetzt haben wir auch das Recht, diesem Wesen den bekannten Namen zu geben, der von jeher Das bezeichnete, was keine Vorstellungskraft, kein Flug der kühnsten Phantasie, kein abstraktes noch so tiefes Denken, kein gesammeltes, andachtsvolles Gemüt, kein entzückter, erdentrückter Geist je erreicht hat: Gott. […] Aber diese einfache Einheit ist gewesen; sie ist nicht mehr. Sie hat sich, ihr Wesen verändernd, voll und ganz zu einer Welt der Vielheit zersplittert. Gott ist gestorben und sein Tod war das Leben der Welt. Hierin liegen für den besonnenen Denker zwei Wahrheiten, die den Geist tief befriedigen und das Herz erheben. Wir haben erstens ein reines immanentes Gebiet, in oder hinter oder über welchem keine Kraft wohnt, man nenne sie, wie man wolle, die, wie der verborgene Direktor eines Puppentheaters die Puppen, die Individuen bald dieses, bald jenes tun lasse. Dann erhebt uns die Wahrheit, dass Alles, was ist, vor der Welt in Gott existierte. Wir existierten in ihm: kein anderes Wort dürfen wir gebrauchen. Wollten wir sagen: wir lebten und webten in ihm, so würde dies falsch sein, denn wir würden Tätigkeiten der Dinge dieser Welt auf ein Wesen übertragen, das total untätig und bewegungslos war. Ferner sind wir nicht mehr in Gott; denn die einfache Einheit ist zerstört und tot. Dagegen sind wir in einer Welt der Vielheit, deren Individuen zu einer festen Kollektiv-Einheit verbunden sind.“ Mainländer fasst seine ‚Metaphysik der Entropie‘, nach der sich das göttliche Telos des Nichtseins in der sukzessiven Minderung der Kraftsumme manifestiert, ausgesprochen luzide in sieben Schritten zusammen. Vgl. Mainländer, Philosophie der Erlösung, S. 238f.: „1) Gott wollte das Nichtsein; 2) sein Wesen war das Hindernis für den sofortigen Eintritt in das Nichtsein; 3) das Wesen musste zerfallen in eine Welt der Vielheit, deren Einzelwesen alle das Streben nach dem Nichtsein haben; 4) in diesem Streben hindern sie sich gegenseitig, sie kämpfen mit einander und schwächen auf diese Weise ihre Kraft; 5) das ganze Wesen Gottes ging in die Welt über in veränderter Form, als eine bestimmte Kraftsumme; 6) die ganze Welt, das Weltall, hat Ein Ziel, das Nichtsein, und erreicht es durch kontinuierliche Schwächung seiner Kraftsumme; 7) jedes Individuum wird, durch Schwächung seiner Kraft, in seinem Entwicklungsgang bis zu dem Punkte gebracht, wo sein Streben nach Vernichtung erfüllt werden kann.“ 732 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 821. 733 Ebd., S. 821. Im Gegensatz zu Nietzsche, erblickt Walter Burkert im ἄπειρον keine ‚metaphysische Burg‘, in die sich Anaximander angesichts der Vielheit des Werdens zurückziehen müsste. Stattdessen akzentuiert Burkert den religiösen Zug im Denken Anaximanders. Zudem hebt Burkert in seiner Interpretation des Anaximander hervor, dass alle endlichen Dinge auch nach ihrem vermeintlichen Hinweggang innerhalb des Unbegrenzten bewahrt und in diesem Sinne verewigt werden. Vor diesem Hintergrund kristallisiert sich eine anregende Vergleichsmöglichkeit mit Nietzsches Philosophem der ewigen Wiederkehr des Gleichen heraus, insofern die unendliche Wiederholung jedes vermeintlich transitorische Ereignis innerhalb des Werdens perpetuiert. Vgl. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, S. 23: „Solche Haltung ist eine ‚Frömmigkeit‘, die vom homerischen Bild der souveränen, entrückten Götter gar nicht so weit entfernt ist. Es fehlt die personhafte Beziehung; dafür verspricht dieser umgreifende, nicht alternde ‚Anfang‘ eine Geborgenheit, der nichts entfallen kann. Homers Götter verlassen den Sterbenden; Vergehendes bleibt aufgehoben im All.“

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nur das Werden im Allgemeinen, sondern auch die Welt, in der jene Vielheit des Werdens erscheint, bereits unendliche Male neu aufgebaut wurde.734 In ihrem Niedergang und ihrer Neuentstehung aus dem ἄπειρον spiegelt sich in dem Makrokosmos der Welt jener „Fluch des Werdens“735, der über alle Lebewesen verhängt ist. Anaximander rührt nach Nietzsche an das „Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems“736, weil er diesen Hervorgang nicht mehr physikalisch-kosmologisch in seiner elementaren Beschaffenheit zu erläutern sucht.737 Stattdessen begreife Anaximander die Individuation als Abfall und als „strafwürdige Emancipation vom ewigen Sein“.738 Die nicht logische, „aber jedenfalls recht menschlich[e]“739 Adaption des schopenhauerschen Narrativs740 wird von Nietzsche forciert, indem er den Übergang in das Werden als Ausdrucksbekenntnis einer Schuld und als einen frevelhaften Beitrag zur Viel734 Ähnlich argumentiert Nietzsche später in seinem Beweisgang zum Zentralgedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Vgl. Nietzsche, KSA 9, S. 498: „Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der endlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann sie muss ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male.“ 735 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 820. In seiner Kommentierung der nietzscheschen Übersetzung des Anaximander-Spruches unterstreicht Tadahi Otsuru die werkumfassende Kontinuität der Grundfrage Nietzsches, wie eine mögliche Erlösung von dem diagnostizierten ‚Fluch des Werdens‘ evoziert werden könnte, ohne der Sukzessionszeit eine höherwertige Ewigkeitsdimension opponieren zu müssen. Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη, S. 159: „Dieser Interpretationsansatz zeigt, daß Nietzsches Übersetzung von der Frage nach der Erlösung von der alles vergehenlassenden Zeit ausgeht. In seiner Übersetzung wird die Zeit als das Richtende, als das Strafende, und als das Rächende vorgestellt. Die gesuchte Erlösung ist schon für den jungen Nietzsche die Erlösung vom Geist der Rache…“ 736 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 820. 737 Eine Gegenposition gegenüber Nietzsches ethisch-nativistischer Erörterung der Endlichkeitsgenese liefert Wiebrecht Ries. Ries vertritt die These, dass sich Anaximanders Rede von ‚Buße‘ und ‚Schuld‘ an der Periodizität der Jahreszeiten orientiere. Vgl. Ries, Die Philosophie der Antike, S. 23: „Das Modell dieser Periodizität ist der Jahreskreislauf: ‚Unrecht‘ tut der Tag der Nacht im Frühling und Sommer, die Nacht dem Tag im Herbst und Winter. In kühner Verallgemeinerung besagt der Satz des Anaximander: alles Seiende steht in der Zeit, es steht zwischen Werden und Vergehen, und die unvermeidbare Vergängnis eines jeden Seienden ist jeweils ‚Buße‘ für die Übergriffe, die mit dem Wachstum des einen am Niedergang des anderen Seienden verbunden sind. Recht ist Ausgleich, so will es das Gesetz, das diese ‚Buße‘ verfügt hat.“ Edmund Jacoby verortet die anschauliche Basis für Anaximanders Deskription des sukzessionszeitlichen Vergehens nicht nur in den geordneten Zyklen der Natur, sondern auch in den Wechselprinzipien der hellenischen Staatsorganisation. Vgl. Jacoby, 50 Klassiker. Philosophen, Denker von der Antike bis heute, 8. Aufl., Hildesheim 2010, S. 13f.: „Bei Anaximander ist die philosophische Sprache schon weit entwickelt, sie findet ein Wort für das, was allem gemeinsam ist, nämlich ‚seiend‘ zu sein. Und das Seiende ‚ist‘ nicht einfach, so fährt Anaximander fort, sondern es hat ein ‚Werden‘ und ein ‚Vergehen‘, und zwar nach der ‚Schuldigkeit‘ des Seienden ‚in der Zeit‘, das heißt nach einer Ordnung, die in der Natur, beim Aufgang und Untergang der Gestirne etwa, genauso gilt wie in den politischen Gesetzen, die bei den Griechen einen periodischen Wechsel in allen Staatsämtern vorsahen.“ 738 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 819. 739 Ebd., S. 819. 740 Vgl. zu Schopenhauers Dementierung der intrinsischen Legitimität des Weltdaseins und zu seiner pessimistischen Untermauerung der Nichtigkeit des Zeitlichen: Schopenhauer, Die Welt als Wille

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heit versteht, die durch den Tod getilgt wird.741 Diese tragische Grundkonstante des Gewordenseins bekundet sich nach Nietzsche im ersten überlieferten Satz der Philosophie. Nietzsches bereits im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit zitierte und diskutierte Übersetzung sei an diesem Ort noch einmal wiedergegeben: Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Nothwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.742

Aus der Bastion seiner „metaphysische[n] Burg“743 blickend, avanciert Anaximander nach Nietzsche zum unerbittlichen Ankläger des Werdens und des Daseins im Ganzen:

und Vorstellung II, Werke in zehn Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Zürich 2007, S. 678: „Daher, wenn Einer wagt, die Frage aufzuwerfen, warum nicht lieber gar nichts sei, als diese Welt; so läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen, nicht nachweisen, daß sie ihrer selbst wegen, d. h. zu ihrem eigenen Vortheil dasei. – Dies ist, meiner Lehre zufolge, freilich daraus erklärlich, daß das Prinzip ihres Daseyns ausdrücklich ein grundloses ist, nämlich blinder Wille zum Leben, welcher, als Ding an sich, dem Satz vom Grunde, der bloß die Form der Erscheinungen ist und durch den allein jedes Warum berechtigt ist, nicht unterworfen seyn kann. Dies stimmt aber auch zur Beschaffenheit der Welt: denn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueberschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und Ringen, mit Anstrengung aller Kräfte, unter steter Sorge, Angst und Noth, und bei unvermeidlicher Zerstörung jedes individuellen Lebens, keine Entschädigung findet in dem so errungenen, ephemeren, unter unsern Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst.“ Zur systematischen Vergleichbarkeit zwischen Schopenhauers Prinzip des ‚blinden Willens zum Leben‘ und dem unbestimmten Ursein des Anaximander vgl. Apostolopoulou, Schopenhauers Einfluß auf Nietzsches Verständnis des Anaximander, S. 269: „Die Dinge und die Menschen haben die Negativität abzubüßen, die durch ihr Entstehen aufgetreten ist. Anaximander hat genau den Widerspruch der Welt entdeckt. Alles, was durch Bestimmungen konkretisiert wird, ist vergänglich. Für es sind die Bestimmungen seines unreinen und gebrochenen Seins zugleich die Bestimmungen seines Vergehens. Im Gegensatz dazu hat das Ursein, das ἄπειρον, keine Eigenschaften. Es bleibt jenseits der Erscheinung, und nach Nietzsche könnte man es ‚Das Ding an sich‘ nennen. Die Ähnlichkeit dieser Gedanken mit Schopenhauers Selbstentzweiung des Willens und sogar die Benennung des Ursprungs als ‚Ding an sich‘ sind unbestreitbar. Man sollte aber die Grenze dieser Ähnlichkeit darin sehen, daß bei Schopenhauer der Wille als Wille in der Welt leidet und die Schuld des Daseins nicht von der Schuld des Willens zu trennen ist. Letzten Endes ist für Nietzsches Verständnis des Anaximander nicht der Wille, sondern das Sein das Ursprüngliche.“ 741 Karl Jaspers weist das von Schopenhauer und Nietzsche verfochtene Narrativ der nativistischen Individuationsschuld in seiner Anaximander-Interpretation zurück. Nichtsdestotrotz räumt auch Jaspers die Unumgänglichkeit des Schuldigwerdens jedes Einzelnen insofern ein, als er die tragische Verschuldung aus dem verzehrenden Streit der Gegensätze innerhalb der Endlichkeitssphäre ableitet. Vgl. Jaspers, Die grossen Philosophen I, S. 628: „Man hat gemeint, in dem Gedanken die Vorstellung von der Schuld der Individualisierung zu finden, von dem Sündenfall des Zum-Dasein-Kommens (Nietzsche, Rhode): des Menschen größte Schuld ist, daß er geboren ward (Calderon). Das entspricht nicht der Grundstimmung dieses Denkens, aber es könnte eine Spur sogar dieses Gedankens berührt sein. Nicht zwar das Werden der Welt (von der Geburt des Menschen wird in diesem Sinn überhaupt nicht gesprochen) wird als Schuld gefaßt, wohl aber ist innerhalb des Weltgewordenseins vermöge der Gegensätze die Schuld unausweichlich.“ 742 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 818. 743 Ebd., S. 820.

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Was ist euer Dasein werth? Und wenn es nichts werth ist, wozu seid ihr da? Durch eure Schuld, merke ich, weilt ihr in dieser Existenz. Mit dem Tode werdet ihr sie büßen müssen. Seht hin, wie eure Erde welkt; die Meere nehmen ab und trocknen aus, die Seemuschel auf dem Gebirge zeigt euch, wie weit sie schon vertrocknet sind; das Feuer zerstört eure Welt bereits jetzt, endlich wird sie in Dunst und Rauch aufgehn. Aber immer von Neuem wieder wird eine solche Welt der Vergänglichkeit sich bauen: Wer vermöchte euch vom Fluche des Werdens zu erlösen?744

Bei Thales konnte sich die ἀρχή des Wassers als elementar-stofflicher Kernbestand der Dinge noch in deren Vervielfältigung bewahren. Weil Anaximander sowohl den Beweggrund für den endlosen Abfall des Werdenden vom unbestimmten, über-seienden Sein als auch den Umschlag vom Ewigen in das Zeitliche nicht mehr durch eine materielle Präsenz des Urgrundes in den Dingen vermittelt, gerät die Welt des unverfügbaren Seins mit derjenigen des Werdens in einen fundamentalen Widerstreit. Anaximander inauguriert die unüberbrückbare Bifurkation zwischen einer raumund zeitlosen, „ewige[n] Einheit“745 auf der einen Seite und dem „widerspruchsvollen, sich selbst aufzehrenden und verneinenden Charakter dieser Vielheit“746 auf der anderen Seite. Wegen seiner tiefen Einsicht in den Zusammenhang zwischen der Eigen744 Ebd., S. 820. Tadashi Otsuru akzentuiert, dass die von Seiten des jungen Nietzsche im AnaximanderAbschnitt des Werkes Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen aufgeworfene Frage „Woher der immer erneute Strom des Werdens?“ mitsamt der flankierenden Hoffnung auf eine Erlösung vom ‚Fluche des Werdens‘ zu einer bedrängenden Problemstellung avancierte, die Nietzsche erst durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft zu bändigen vermochte. Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη, S. 160f.: „Genau dieselbe Frage hören wir aber in seinem sogenannten Beweis der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Was hat es mit dieser Frage für Nietzsche auf sich? Steckt in dieser Frage nicht auch schon jener Überdruß und Ekel an der Welt des ewigen Werdens? Sieht Nietzsche in der ‚persönlichen‘ Gestalt Anaximander nicht den Denker, der an diesem Überdruß und Ekel satt, nach einer Erlösung schreit, ohne sie zu finden? War gerade diese Erlösungslosigkeit nicht die ‚Nacht‘, die um Anaximander immer größer wurde? Findet Nietzsche in Heraklit dann nicht endlich den ‚göttlichen Blitzschlag‘ der Erlösung? Ja, Nietzsche findet in jenem Spiel des Kindes die Erlösung vom Überdruß und Ekel und feiert die göttliche Anschauung des ewigen Werdens. Dann können wir vermutlich in dieser vom jungen Nietzsche ausgelegten Wendung von Anaximander zu Heraklit eine Vorahnung der Wendung sehen, als welche der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen gedacht wird. In der Tat sagt Nietzsche in ‚Ecce homo‘: ‚Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein.‘“ 745 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 821. 746 Ebd., S. 821. Dass Nietzsche die entzweiten Pole des ewigen Seins und der zeitunterworfenen Vielheit in seiner Anaximander-Deutung in einem Chorismos gegenüberstellt und dem Bestrafungsszenario für die ursprünglich begangene Ungerechtigkeit eine weltumfassende Wirksamkeit verleiht, plausibilisiert Georgia Apostolopoulou in einer stringenten Argumentation mit der These, Nietzsche übertrage wesentliche Elemente der Tragödientheorie Schopenhauers auf den Satz des Anaximander. Vgl. Apostolopoulou, Schopenhauers Einfluß auf Nietzsches Verständnis des Anaximander, S. 268: „In seiner Anaximander-Interpretation stimmt Nietzsche mit Schopenhauer in bezug auf das Verhältnis von Welt und Tragödie überein. Für Schopenhauer bezeichnet die Tragödie nicht nur eine literarische Gattung, sie ist der Kern des menschlichen Weltverhältnisses. Das Leiden des tragischen Helden ist die Darstellung der ursprünglichen Negativität des menschlichen Daseins. Im Grunde genommen zeigt der tragische Held den Menschen selbst in der Perspektive der ewigen Gerechtigkeit, denn der Held wird nicht für seine eigene Handlung bestraft, sondern büßt die unverschuldete Schuld seiner Existenz. […] Durch die Abspiegelung der Not seines Daseins sieht der Mensch ein, welche Bedeutung die Willensverneinung für die Erleichterung des Weltschmerzes hat. Der tiefe Pessimismus, der aus dem Trauerspiel hervorgeht, zeigt die menschliche Existenz inmitten

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schaftslosigkeit und der Wandlungsdispensation und trotz seiner Umlenkung der Kosmologie in eine tragisch-ethische Stoßrichtung proklamiert Nietzsche den Anaximander zum Urheber der Metaphysik.747 Bereits in ihrem Anfang legt sich nach Nietzsche sogleich ein „tiefer Schatten“748 über die Metaphysik, weil Anaximander sie durch den konsequenten Dissoziationsakt disjunkter Welten in die „mystische Nacht“749 der Unerklärlichkeit des Werdens stürzt. Es ist Heraklit, der die beiden von Anaximander aufgeworfenen Problemkomplexe (die Vermittlung zwischen dem Ewigen und der bestimmten Vielheit sowie die Aufhellung der Genese des Werdens) löst. Heraklit ebnet den Chorismos zwischen der „undefinirbaren Unbestimmtheit“750 und der physischen Welt zugunsten der letzteren ein. Heraklit deckt auf, dass Anaximander das ἄπειρον allein deswegen als kontradiktorische Gegenkonzeption zur qualitätsbestimmten, sinnlichen Welt des Werdens etablieren konnte, weil er dem Grenzenlosen all jene Eigenschaften absprach, die er zuvor in der aufmerksamen Perzeption der Erscheinungsganzheit gewonnen und fixiert hatte. Indem Heraklit das ἄπειρον als spekulatives Produkt einer aposteriorischen Abstraktion enthüllt, wird indes auch die Behauptung eines beharrenden Seins, in welches das Werden vermeintlich einkehren und aus dem es hervorgehen soll, zutiefst fragwürdig.751 Heraklits Einsichten fußen nach Nietzsche auf einer intuitiven Beobachtungsgabe, mit der Heraklit das Wesen des Werdens untersucht und ergründet. Nietzsche legt Heraklit die folgenden Worte in den Mund, in denen sich die Emphase der leidenschaftlichen Erkenntnis ausdrückt: ‚Das Werden schaue ich an, ruft er, und niemand hat so aufmerksam diesem ewigen Wellenschlage und Rhythmus der Dinge zugesehen. Und was schaute ich? Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechtes, hinter allen Überschreitungen der Gesetze richtende Erinnyen, die ganze Welt das Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwärtiger, ihrem Dienste untergebener Naturkräfte. Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. Wann hat sich der Frevel, der Abfall in unverbrüchlichen Formen, in heilig geachteten Gesetzen offenbart? Wo die Ungerechtigkeit waltet, da ist Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch; wo aber das Gesetz und die Tochter des Zeus, die Dike, allein regiert, wie in dieser Welt, wie sollte da die Sphäre der Schuld, der Buße, der Verurtheilung und gleichsam die Richtstätte aller Verdammten sein?‘752

747 748 749 750 751 752

einer heillosen Welt. Nietzsche will bei Anaximander eine ähnliche Urentzweiung feststellen. Wie er wiederholt unterstreicht, hat Anaximander einen besonderen Aspekt des Tragischen ans Licht gebracht, weil dieser durch die Übertragung von Gericht und Strafe auf das ganze Weltgeschehen die Vergeltung für die ursprüngliche Schuld der Existenz zum Kerngedanken seiner Weltkonstruktion machte.“ Zur philosophiehistorischen Einordnung Anaximanders als ‚erster Metaphysiker‘ vgl. G. B. Burch, Anaximander the First Metaphysician, in: The Review of Metaphysics, 3, 1949/50, S. 137–160. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 821. Ebd., S. 822. Ebd., S. 822. Zu Heraklits wahrscheinlicher Auseinandersetzung mit Anaximander und der milesischen Naturphilosophie vgl. Robert Hahn, Heraclitus, Milesian Monism, and the Felting of Wool, in: Enrica Fantino u.a. (Hrsg.), Heraklit im Kontext, S. 187–210. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822.

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Die Gerechtigkeit ist in diesem Zitat, das sich bereits zu Beginn des Heraklit-Abschnitts findet, allgegenwärtig. Offenkundig ist, dass Nietzsche den dunklen Denker in eine Frontstellung gegenüber Anaximander manövriert. Dies manifestiert sich besonders anhand der Divergenz zwischen der „Rechtfertigung des Werdens“753, die Heraklit erkennt habe, und der von Anaximander exponierten „Bestrafung des Gewordenen“.754 Nietzsches Heraklit lässt die geläufige Fundamentaldifferenz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit – die letztgenannte ist in dem obigen Zitat mit dem Wortfeld „Willkür, Unordnung, Regellosigkeit, Widerspruch“755 verknüpft – zwar zu. Während sämtliche Bereiche des Werdens auf den ersten Blick durch Instabilität, Do753 Ebd., S. 822. 754 Ebd., S. 822. Im wichtigen Zarathustra-Stück Von der Erlösung spielt Nietzsche ostentativ auf den Anaximander zugeschriebenen Gedanken der Strafwürdigkeit des Daseins an und lässt den ‚Geist der Rache‘ jene Erlösungsbedürftigkeit vom ewigen Werden ersehnen, die er in dem Werk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen als philosophisch-existenzielle Kernposition Anaximanders charakterisiert. Während der frühe Nietzsche den Linderung suchenden Anaximander in das Refugium der ewigen‚ ‚metaphysischen Burg‘ flüchten lässt, setzt er selbst dem ‚unwälzbaren Stein‘ der verrinnenden Zeit die schöpferische Verwandlung des ‚Es war‘ in eine willensverfügte Handlungsakzeptanz des ‚So wollte ich es‘ entgegen. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 180: „Dies, ja diess allein ist Rache selber: des Willens Widerwillen gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘. Wahrlich, eine große Narrheit wohnt in unserm Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, dass diese Narrheit Geist lernte! Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein. ‚Strafe‘ nämlich, so heisst sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen. Und weil im Wollenden selber Leid ist, darob dass es nicht zurück wollen kann, – also sollte Wollen selber und alles Leben – Strafe sein! Und nun wälzte sich Wolke auf Wolke über den Geist: bis endlich der Wahnsinn predigte: ‚Alles vergeht, darum ist Alles werth zu vergehn!‘ ‚Und diess ist selber Gerechtigkeit, jenes Gesetz der Zeit, dass sie ihre Kinder fressen muss‘: also predigte der Wahnsinn. ‚Sittlich sind die Dinge geordnet nach Recht und Strafe. Oh wo ist die Erlösung vom Fluss der Dinge und der Strafe ‚Dasein‘? Also predigte der Wahnsinn. ‚Kann es Erlösung geben, wenn es ein ewiges Recht giebt? Ach, unwälzbar ist der Stein ‚Es war‘: ewig müssen auch alle Strafen sein!‘ Also predigte der Wahnsinn. ‚Keine That kann vernichtet werden: wie könnte sie durch die Strafe ungethan werden! Diess, diess ist das Ewige an der Strafe ‚Dasein‘, dass das Dasein auch ewig wieder That und Schuld sein muss! ‚Es sei denn, dass der Wille endlich sich selber erlöste und Wollen zu Nicht-Wollen würde‘ – doch ihr kennt, meine Brüder, diess Fabellied des Wahnsinns!‘“ Tadashi Otsuru ist vollkommen beizupflichten, wenn er im Rekurs auf Nietzsches frühe Anaximander-Deutung herausstreicht, dass die Konzeption einer Rechtfertigung des Werdens durch die immanente Gerechtigkeit von Anfang an eine eigenständige Denkentwicklung Nietzsches präfigurierte. Otsuru konstatiert, dass der heraklitische Gerechtigkeitsgedanke für Nietzsche eine produktive Antwort auf Anaximanders und Schopenhauers Dekodierung des permanenten Werdens als Bußeleistung des illegitim Existierenden bereithielt und deswegen eine immense Attraktivität aufweisen musste. Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη, S. 161: „Und diese anschauende Rechtfertigung entspricht der ‚waltenden Gerechtigkeit‘, der Δίκη. In dieser waltenden Gerechtigkeit haben Überdruß und Verneinung keinen Platz, weil alles Werden schon von der Δίκη gerechtfertigt ist. Es zeigt sich hier, daß Nietzsche von Anfang an sich in seiner eigensten Frage bewegt trotz aller Abhängigkeit von Schopenhauer. Denn Schopenhauer flüchtet vor der Welt des Werdens ins Nicht-wollen. Für Nietzsche besteht die Erlösung vom Überdruß des ewigen Werdens in der göttlichen Anschauung (θεωρία) des Werdens.“ Nietzsche hat diese ‚Vergöttlichung des Werdens‘ bereits in einem frühen Fragment emphatisch mit dem Namen Heraklits verbunden. Vgl. Nietzsche, GA XIX, Philologica III, S. 248, hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 336: „Ungeheure Wirkung des erhabenen Heraklit. Es giebt kein Sein, das ewige Werden ist wie ein ewiges Nichtsein. Die Welt ist die bewegte Gottheit. Die Gottheit baut unzählige Male spielend die Welt.“ 755 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822.

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minanz des Zufalls, Unruhe und Haltlosigkeit geprägt sind, offenbart sich der heraklitischen Tiefensicht, dass sie von einer immanenten Gesetzmäßigkeit durchzogen sind. Weil die Welt demzufolge von der Δίκη regiert wird, werden das Nefas und die Schuld in Mosaiksteine transformiert, die zum Gesamtreichtum beitragen. Dem Weltbewusstsein Heraklits zeigen sich die vermeintlichen Devianzen und normwidrigen Verhaltensweisen entweder in ihrer Einbindung in die „heilig geachteten Gesetze“756 oder sie werden als „Überschreitungen“757 erkennbar, die alsbald von den Erinnyen zugunsten der „waltenden Gerechtigkeit“758 revidiert werden. Die Exklusion des Seins lässt allein die Welt des Werdens zurück.759 Dass dieses Werden keineswegs im pseudoheraklitischen Sinne als πάντα ῥεῖ760 verstanden werden darf, wird von Nietzsche in dem obigen Zitat in mehrfacher Hinsicht verdeutlicht. Erstens prononciert Nietzsche mit Nachdruck, dass sich das Werden innerhalb der begrenzenden Umschirmung der „unfehlbaren Sicherheiten“761 vollzieht und deswegen nicht mit einem uferlos-unkontrollierten Verfließen konnotiert werden darf. Zweitens kann in dem sachgerecht beschriebenen Werden, Entstehen und Vergehen, in der Regelmäßigkeit des Aufgehens und Sinkens, kein „Bollwerk im Strome“762 errichtet und ergriffen werden. Aus dieser Perspektive müssen die menschlichen Benennungen der Dinge, die eine Dauerhaftigkeit suggerieren, als eklatante Täuschungen beurteilt werden. Hinsichtlich der Charakterisierung des Werdens ergeben sich drittens die für Nietzsche wesentlichen Bestimmungen, dass sich kein Ausgangsort, kein Haltepunkt und keine Quelle des Werdens angeben lassen. Außerdem wird das Werden nicht durch einen anzusteuernden Gesamtzweck gebündelt und dirigiert: Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: ‚Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo 756 757 758 759

Ebd., S. 822. Ebd., S. 822. Ebd., S. 822. Zu Heraklits Kosmologie vgl. Lutz Käppel, Heraklits Kosmologie als Praxis von Modellierung, in: Enrica Fantino u.a. (Hrsg.), Heraklit im Kontext, S. 211–230. 760 Gleichwohl ist anzumerken, dass der späte Nietzsche Heraklit vor allem als den Philosophen des Werdens und als scharfen Kritiker der eleatischen Vorstellung eines dauerhaft-substantiellen Seins rezipiert. Diese Präferenzentscheidung könnte darauf beruhen, dass Nietzsche Heraklit als Bündnispartner der intendierten ‚Umwertung aller Werte‘ etablieren möchte. In einem wichtigen Passus aus der Götzen-Dämmerung wendet sich Nietzsche allerdings gegen Heraklits Kritik der Sinne, die der Denker aus Ephesos als Produzenten des ansichtshaft-privaten Scheins dekuvriert. Gegen Heraklit optiert Nietzsche für einen dynamischen Sensualismus, der mit einem infallibilistischen Wahrheitskriterium koinzidiert. Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 75: „Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit’s bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugnis der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, – sie lügen überhaupt nicht. Was wir zum Beispiel aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer… Die ‚Vernunft‘ ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht… Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die ‚scheinbare‘ Welt ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur hinzugelogen.“ 761 Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822. 762 Ebd., S. 823.

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festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.‘763

In eigener Sache wird der reife Nietzsche im Lenzerheide-Fragment (Juni 1887) die nihilistische Trostlosigkeit und Düsternis schildern, die der Vorstellung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen anhaftet. Die Wiederkehr des Gleichen pendelt sich in der ewigen Sinnlosigkeit des ständigen Werdens ein, mündet niemals in eine abschließende Eschatologie und scheint keine Möglichkeit der Zäsur oder des wahren Anfangenkönnens zu gestatten.764 1873 spürt Nietzsche bei Heraklit eine ähnliche, tragische

763 Ebd., S. 823. Margot Fleischer legt überzeugend dar, dass Heraklit das Prinzip der Einigkeit der Gegensätze auch in seinem Zeitdenken wahrt. Heraklit verknüpfe den sukzessiven Fluss der Zeit, in welchem jeder Moment einzigartig, neu und unwiederbringlich ist, mit der zyklischen Struktur der Rahmenbedingungen, in die das Werden eingebettet bleibt. In ausdrücklicher Distanzierung von Nietzsches Konzeption der ewigen Wiederkehr expliziert Fleischer des Weiteren, dass den jeweiligen Ereignissen in Heraklits Philosophie allein eine singuläre Existenz beigemessen werden könne und sie sich niemals in einer abweichungslosen Erscheinungsform wiederholen werden. Vgl. Fleischer, Anfänge abendländischen Philosophierens, S. 36: „Ihr Eigentümliches [der Zeitauffassung Heraklits, J.K.] war darin zu erblicken, daß Zeit von Heraklit als zyklisch und linear zugleich gedacht wird, und zwar als Identität dieser Entgegengesetzten. Das hieß: Im zyklischen Rahmen (von Tag, Nacht, Winter, Sommer) begibt sich anderes und immer wieder anderes. Entsprechend ließe sich sagen: Auch die übergreifende, zum Kosmosgeschehen gehörige (erfüllte) Zeit ist zyklisch und linear in eins. Die zyklische Wiederkehr im großen Kosmosgeschehen selbst bedeutet für die Dinge in der Welt durchaus nicht die ‚ewige Wiederkunft des Gleichen.‘ Vielmehr ist sie als das ‚Flußbett‘ aufzufassen, in dem anderes und immer anderes herbeikommt.“ In ähnlicher Weise entschlüsselt auch Klaus Held den zeittheoretischen Sinn der heraklitischen Flussmetaphorik, wobei er auf das bekannte Fragment 12 rekurriert. Vgl. Held, Heraklit, S. 326: „(B 12) ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ. […] Den in dieselben Flüsse Steigenden fliessen andere und andere Wasser zu.“ Zu Helds Kommentierung dieses Fragments vgl. ebd., S. 328: „Es läßt sich unschwer erkennen, daß das Gleichnis mit einer erstaunlichen – auch hier wieder zu beobachtenden – Genauigkeit die heraklitische Auffassung von Umschlagen, Zeit, Maß und Identität ins Bild bringt: Das Bad im Fluß ist Gleichnis für den Zeitcharakter jeglicher lebensweltlichen Erfahrung. Bei diesem Bad erfährt der Mensch einerseits den Wechsel der Erfahrungsarten ‚Ankunft‘ und ‚Weggang‘, zwischen denen er taumelnd hin- und hergerissen ist; andererseits erfaßt er in der maßvollen Regelung dieses Wechsels die Identität der einen Übergängigkeit des Strömens selbst.“ 764 Vgl. Nietzsche, NF-1886,5[71]: „Extreme Positionen werden nicht durch ermäßigte abgelöst, sondern wiederum durch extreme, aber umgekehrte. Und so ist der Glaube an die absolute Immoralität der Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit der psychologisch-notwendige Affekt, wenn der Glaube an Gott und eine essentiell moralische Ordnung nicht mehr zu halten ist. Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen ‚Sinn‘ im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine Interpretation ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei. Daß dies ‚Umsonst!‘ der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zur Frage: ‚sind nicht alle ‚Werte‘ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?‘ Die Dauer, mit einem ‚Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch, wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen. Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr‘. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig! Europäische Form des Buddhismus: Energie des Wissens und der Kraft zwingt zu einem solchen Glauben. Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-

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3.1. Anaximanders metaphysische Ausgangsproblematik und Heraklits Aufhellung der Dialektik von Einem und Vielem

Daseinsdeutung auf.765 Prima facie lässt Heraklit den menschlichen Glauben an die Verlässlichkeit und Überschaubarkeit des Seienden erodieren. Heraklit lehrt die „furchtbare und betäubende Vorstellung“766 der „gänzliche[n] Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist“.767 Für Nietzsche bewahrheitet und bewährt sich Heraklits inkommensurable Größe darin, dass Heraklit den in seiner Lehre implizierten Einsturz jeglicher Gewissheit und haltgebenden Orientierung nicht als Vorlage für eine pessimistische Verunglimpfung des Kosmos verwendet.768 Stattdessen vermag Heraklit das Schauspiel des Werdens als beglückend, wundersam und wohlgeordnet zu empfinden. Heraklit ist zu dieser Erkenntnis befähigt, weil er in allen Naturvorgängen und menschlichen Taten die Enantiodromie, das Umschlagen der Gegensätze769 erfassen kann, durch welche sich der Nexus der Gesetzmäßigkeit immer wieder neu gebiert. Diesen Kerngedanken der Zusammengehörigkeit der Gegensätze kontextualisiert Nietzsche mit dem von Schopenhauer beschriebenen Streit der organischen Erscheinungen um die Materie, in der sie ihre jeweilige Idee offenbaren wollen und gegen das Vordrängen der anderen Kräfte zu verteidigen suchen. An dieser Stelle formuliert Nietzsche die wegweisende Gegenüberstellung zwischen dem Entsetzlichen und dem Beglückenden, die den Haupttenor seiner gesamten Heraklit-Interpretation durchdringt: Die folgenden Seiten [in Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, J.K.] geben die merkwürdigsten Illustrationen dieses Streites: nur daß der Grundton dieser Schilderungen immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für Schopenhauer ein Beweis

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Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein. Da begreift man, daß hier ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn ‚alles vollkommen, göttlich, ewig‘ zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die ‚ewige Wiederkunft‘. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-Stellung zu allen Dingen unmöglich gemacht? Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott ‚jenseits von Gut und Böse‘ zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozesse weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das wäre der Fall, wenn etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Momente desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Notwendigkeit hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit. Aber sein Fall ist nur ein Einzel-Fall. Jeder Grundcharakterzug, der jedem Geschehen zugrunde liegt, der sich in jedem Geschehen ausdrückt, müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphierend jeden Augenblick des allgemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen Grundcharakterzug bei sich als gut, wertvoll, mit Lust empfindet.“ Zu Nietzsches Heraklit-Rezeption vgl. besonders: Renate Reschke, „Die Welt ist ein Spiel des Zeus…“: Friedrich Nietzsches ästhetische Sicht auf Heraklit, in: Enrica Fantino u. a. (Hrsg.), Heraklit im Kontext, S. 485–506. Im Hinblick auf allgemeine heraklitische Bezüge und Wirkungsfelder ist zu vergleichen: Paul Good, Dem Fließenden Stimme geben. Heraklits Wirkungen in Kunst und Philosophie, in: Enrica Fantino u.a. (Hrsg.), Heraklit im Kontext, Berlin/New York 2017, S. 533–556. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 824. Ebd., S. 824. Vgl. zu Heraklits Pessimismus allerdings Heraklit, DK 22 B 20, S. 288: ενόμενοι ζώειν ἐθέλουσι μόρους τ' ἔχειν, μᾶλλον δὲ ἀναπαύεσθαι, καὶ παῖδας καταλείπουσι μόρους γενέσθαι. „Einmal geboren, wollen sie leben, und das heißt: Todeslose haben, oder vielmehr ausruhen; und sie hinterlassen Kinder, damit neue Todeslose geboren werden.“ Zur Vermittlung zwischen der Identität und dem Umschlag der Gegensätze vgl. Held, Heraklit, S. 273ff.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

von der Selbst-Entzweiung des Willens zum Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein durchweg entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen.770

Ein gravierendes Anliegen Nietzsches eröffnet sich in der Erbringung des Nachweises, weswegen der Streit bei Heraklit als „beglückend“ zu verstehen ist. In seiner Schilderung des heraklitischen Gegensatzgefüges präludiert Nietzsche einen Wesenszug, der später als maßgebliche Strukturbestimmung des Willens zur Macht reüssieren wird: Die Dissoziation einer Kraft in zwei sich voneinander abstoßende Gegensätze, die in sich die Tendenz der Wiedervereinigung tragen. Entscheidend ist, dass die Eindeutigkeit der epistemologischen Eindrücke, die sich im sprachlich-begrifflichen Bezeichnungssystem und in emblematischen Verknüpfungen prolongiert – wenn zum Beispiel der Tag mit der Helle assoziiert wird und das Dunkle gänzlich ausgeschlossen wird – auf einem Vergessen der Polarität beruht. Diese durchzieht nicht nur alles Seiende, sondern konstituiert überhaupt erst die Kulisse einwandfrei erfassbarer, scheinbar unveränderlicher Entitäten. Das Ringen der Gegensätze generiert sich nicht erst innerhalb des Werdens; vielmehr entsteht dieses aus und in jenem. Die Zuschreibung vermeintlich gegensatzloser Attribute resultiert daher aus einem „momentanen Übergewicht des einen Kämpfers“771, d. h. des situativen Vorranges der Qualität eines singulären Gegensatzes. Diese temporäre Präeminenz eines Ereignispols ist allerdings für denjenigen Denker, dem sich in diesem ubiquitären Streit, dem rastlosen Konfligieren des Entgegengesetzten, die „ewige Gerechtigkeit“772 offenbart, immer schon ausgeglichen. Die Gerechtigkeit stellt sich also nicht deswegen ein, weil sich die ebenbürtigen Gegensätze wechselseitig aufheben würden oder der eine den Gehalt des anderen Faktors gänzlich absorbierte. Stattdessen ist bedeutsam, dass sich der Agon – hierin die Unwiderruflichkeit des Werdens bestätigend – unendlich perpetuiert und mal der einen, mal der anderen Partei einen Pyrrhussieg gewährt. In diesem Triumph baut sich das eigene, künftige Unterliegen gegenüber der vormals unterworfenen, gegnerischen und doch wesenszugehörigen Qualität auf. Diese Form der sowohl ausgleichenden als auch die Schärfe der Gegensatzkonfrontation bewahrenden Gerechtigkeit rechtfertigt den Kosmos im Ganzen: Es ist eine wundervolle, aus dem reinsten Borne des Hellenischen geschöpfte Vorstellung, welche den Streit als das fortwährende Walten einer einheitlichen, strengen, an ewige Gesetze gebundenen Gerechtigkeit betrachtet. Nur ein Grieche war im Stande, diese Vorstellung als Fundament einer Kosmodicee zu finden; es ist die gute Eris Hesiods, zum Weltprincip verklärt, es ist der Wettkampfgedanke des einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte mit einander, in´s Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht. Wie jeder Grieche kämpft als ob er allein im Recht sei, und ein unendlich sicheres Maaß des richterlichen Urtheils in je-

770 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 826. [Von mir kursiv, J.K.] 771 Ebd., S. 825. 772 Ebd., S. 825. [von Nietzsche kursiv, J.K.]

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3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit

dem Augenblick bestimmt, wohin der Sieg sich neigt, so ringen die Qualitäten mit einander, nach unverbrüchlichen, dem Kampfe immanenten Gesetzen und Maaßen.773

Die von Nietzsche aufgewiesene Ausdehnung der Wirksamkeit des Streits in das Allgemeine, die sich aus dessen Manifestation im Mikrokosmos der Polis und im Agon ableitet, schmälert nicht seine Wahrheit, sondern bezeugt die umfassende Ganzheit, in die er ausstrahlt. Das Lokale und das Universale durchdringen sich.

3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit Zu Beginn des sechsten Abschnittes von Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bricht sich vor dem Auge Heraklits eine noch tiefere Einsicht Bahn. Bislang hatte Nietzsche in seiner Heraklit-Deutung die aus der Zerspaltung der Kraft entspringenden Qualitäten mitsamt den in den Streit tretenden Parteien von den richtenden Gesetzmäßigkeiten unterschieden. Der Streit sollte die Opponenten voneinander scheiden und damit das für das Werden konstitutiv-unabdingbare Gegensatzverhältnis ermöglichen. Demgegenüber sollte sich durch die Einwirkungen der unverbrüchlich waltenden Gesetzmäßigkeiten die ewige Gerechtigkeit innerhalb des Streits bewahrheiten. Auf dem Reifepunkt der Gedankenentwicklung Heraklits vermischen sich in dem sich darbietenden Schauspiel die Myriaden streitender Gegensatzpaare mit den einhegenden Bindegesetzen und den prädisponierten Verlaufsformen, sie nehmen partiell die Position des jeweils Anderen ein. Die Qualitäten und Gegensätze sprechen richtend ihr Urteil über das Geschehen; während die Richter und Gesetze in den Kampf verflochten sind. Zuvor kristallisierte sich die ewige Gerechtigkeit durch die innerhalb vorgegebener Maße vorangetriebene Subordination eines bislang überwiegenden Gegensatzes heraus. Ein Element ordnet sich seinem Kontrapunkt unter, um gemeinsam mit diesem eine andere Gestalt im Werden hervorzubringen, in der es 773 Ebd., S. 825f. Vgl. die Parallelstelle aus Nietzsches Basler Vorlesungen, in welcher die kosmische Einheit der Gerechtigkeit noch markanter als Wirkungsgrund des Streites gefasst wird: Nietzsche, Basler Vorlesungen, S. 178f., hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 280: „Dies ist eine der großartigsten Vorstellungen: der Streit als das fortwährende Wirken einer einheitlichen, gesetzmässigen, vernünftigen Δίκη, eine Vorstellung, die aus dem tiefsten Fundament des griechischen Wesens geschöpft ist.“ In ihrer kenntnisreichen und prägnanten Einleitung zu den Heraklit-Fragmenten zielen Mansfeld und Primavesi in eine ähnliche Richtung wie Nietzsche, indem sie Heraklits Suspension der Kosmogonie und die kontinuierliche Fortdauer der (sich in der Gerechtigkeit des Streites verewigenden) Welt in das Zentrum der Betrachtung rücken. Vgl. Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 240f.: „Zunächst einmal übernahm Heraklit nicht die [milesische, J.K.] Vorstellung, die heutige Welt sei aus einem Urzustand hervorgegangen (was als Reminiszenz des mythischkosmogonischen Schemas gedeutet werden konnte) und werde auch einmal ein Ende nehmen. Im Gegenteil, die Kosmogonie wird abgeschafft, weil es die heutige Weltordnung (‚Kosmos‘), nach ihm immer gegeben hat, wie es sie auch künftig immer geben wird. Dies bedeutet einen totalen Bruch mit dem kosmogonischen Schema; Heraklit entgeht der Schwierigkeit, die mit dem Gedanken einer einmaligen oder wiederholten Entstehung der Welt verbunden ist.“ Zum Topos der im Spiel gewahrten Regularität der Ordnung vgl. auch ebd., S. 241: „Heraklit ist somit der erste Vertreter einer Theorie von der Ewigkeit der Welt – und er kann diese Theorie auch beweisen. Alles ändert sich kontinuierlich und bleibt dennoch gleich; im Spiel ihres fortwährenden Rollentausches produziert die Einheit der Gegensätze eine sich im großen und ganzen immer gleich bleibende Ordnung.“

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

sich untergründig versammelt und wieder hervorzudrängen beginnt. Nun wird transparent, dass sich die Gerechtigkeit in dem allenthalben wahrzunehmenden und aufbrechenden Streit nicht mehr nur herausschält, sondern dass sie als Streit der vielfältigen Ansichten nichts anderes als die eine Δίκη ist: […] ja, da er im Grunde nur die ewig waltende eine Gerechtigkeit wahrnahm, so wagte er auszurufen: der Streit des Vielen selbst ist die eine Gerechtigkeit! Und überhaupt: das Eine ist das Viele.774

Nietzsche holt an dieser Textstelle das berühmte All-Einheits-Diktum Ἓν καὶ Πᾶν ein, das die Freunde des Tübinger Stiftes – Hölderlin, Schelling und Hegel – zur Grundlehre Heraklits gradierten und mit ihrer Begeisterung für Spinozas Pantheismus verbanden.775 Bemerkenswert ist, dass die mereologischen Kernbegriffe des Einen und des Vielen, die das Denken des Seienden im Ganzen ermöglichen, aus den Topoi der Gerechtigkeit und des Streites erschlossen werden, die den quantitativen Allbestimmungen gewissermaßen vorausliegen. In dem Vielen kommt das Eine zum Vorschein, weil jeder Gegensatz als Träger der innewohnenden Gerechtigkeit fungiert, die im weder gewollten noch zu verhindernden Streit mit dem antithetischen Pol auf sich selbst trifft.776 Das intensiv-freie Ringen des Spiels und die eherne Notwendigkeit können nur koinzidieren, wenn der Streit weder im Medium der Willensspannung angesteuert noch in einer defensiven Handlungsweise umgangen werden kann. Im Rahmen der gelungenen Bewältigung der Divergenz zwischen dem Einen und dem Vielen unter der Signatur des Zusammenfalls der Gerechtigkeit und des Streits manövriert sich Nietzsches Heraklit in eine erste große Aporie. In Rahmen dieser Aporie regrediert die Hochschätzung des ziellosen777 Werdens als beglückendes Geschehen zwar nicht in die naheliegende Abwertung der sinnentbundenen Wirklichkeit. Heraklit gewann die Charakteristik des Wirklichen als ein von unumstößlichen Gesetzen gelenkter Reichtum des Widerwendigen in einer unnachahmlich tiefen Einsicht, die sich vom hartnäckigen Schein der Beständigkeit nicht täuschen ließ. Doch gerade wegen der Aufspürung der waltenden Gerechtigkeit und der inhärenten Polar774 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 827. 775 Vgl. z. B. Hölderlins Tübinger Stammbucheintrag für Hegel vom 12. Februar 1791. 776 Vgl. zum heraklitischen Leitmotiv der antithetisch organisierten Vereinigung die detaillierte und fragmentbasierte Untersuchung von Marcel van Ackeren, Heraklit. Vielfalt und Einheit seiner Philosophie, Bern 2005. 777 Wichtig ist an dieser Stelle, dass die Ziellosigkeit des Werdens die Ausbildung einer Ordnung nicht ausschließt. Dieser Sachverhalt ist auch für Heideggers Deutung des Willens zum Willen relevant, insofern dieser sich in der technisch geordneten Welt in ruinöser Weise permanent selbst opponiert und als einziges Ziel die Aufrechterhaltung der wesenseigenen Ziellosigkeit gestattet. Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, GA 7, S. 87: „Der Wille zum Willen ist die höchste und unbedingte Bewußtheit der rechnenden Selbstsicherung des Rechnens. […] Daher gehört zu ihm das allseitige,, ständige, unbedingte Ausforschen der Mittel, Gründe, Hemmnisse, das verrechnende Wechseln und Ausspielen der Ziele, die Täuschung und das Manöver, das Inquisitorische, demzufolge der Wille zum Willen gegen sich selbst noch mißtrauisch und hinterhältig ist und auf nichts anderes bedacht bleibt als auf die Sicherung seiner als der Macht selbst. Die Ziel-losigkeit und zwar die wesentliche des unbedingten Willens zum Willen ist die Vollendung des Willenswesens, das sich in Kants Begriff der praktischen Vernunft als des reinen Willens angekündigt hat. Dieser will sich selbst und ist als der Wille das Sein.“

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3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit

struktur der Qualitäten droht das Werden zu einem bloßen Vordergrund desavouiert zu werden. Demzufolge würde die ephemere, unzureichende und täuschungsaffine menschliche Erkenntnisfähigkeit die Fluidität des Werdens als unüberschreitbare Wahrheit aufrichten, ohne die fundierenden und innewohnenden Kräfte zu registrieren. Der gesetzmäßige Streit kann von dem Werden nicht mehr abgetrennt werden, sobald dieses nicht als unkoordiniert oder flusshaft Dahineilendes beurteilt, sondern als Bewegung sich verschränkender Gegensätze erhellt und verstanden wird. Im Ausgang von dem Theorem des immanenten Agens scheint Heraklit in die metaphysischen Gefilde einer „doppelte[n] Weltordnung“778 zurückzusteuern. In Nietzsches dem Ephesier gewidmeten, philosophisch-biographischer Gedankenerzählung fußt die Hypostasierungsgefahr der Lenkungsgründe des Werdens auf ebenjener Verflechtung von Einheit und Vielheit. Wenn der Vielheit der Qualitäten ein Einheitssinn zugesprochen wird, sind die Gegensätze zwar voneinander unterscheidbar, im Grunde sind sie jedoch eines gemeinsamen Wesens. Die Gegensätze drohen zu festgewurzelten Elementarstrukturen und Formprinzipien der Wirklichkeit zu gerinnen. Inmitten des oszillierenden Werdens zeichnet sich dunkel eine Welt „ewiger und wesenhafter Vielheiten“779 ab. Diese Wesensmannigfaltigkeit kulminiert symbolhaft in dem „Olymp zahlreicher unsterblicher Götter und Dämonen“780, die sich untereinander duellieren. Den Menschen zeigt sich dabei „nur das Staubgewölk des olympischen Kampfes und das Aufglänzen göttlicher Speere“.781 Dieses Aufglänzen des göttlichen Agons erscheint als Unbeständigkeit eines selbstgenügsamen Werdens, weil die verborgene Gliederung in „viele Realitäten“782 nicht durchschaut wird. Die den λόγος vernehmende Erkenntnis wäre demnach erst dann im Recht, wenn sie das Werden als „Sichtbarwerden eines Kampfes ewiger Qualitäten“783 und d. h. als komplexere, gewundene Ausdruckspluralität einer für den Menschen aufgrund seiner Endlichkeit ungreifbaren Hermetik begriffe. Die Auslegung des Alls müsste auf einen lückenlosen Wahrheitsanspruch verzichten. Anaximander hatte den Qualitäten aufgrund ihrer mit der Bestimmtheit einhergehenden Vergänglichkeit nicht zugestanden, den ewigen Seinsgrund repräsentieren zu können.784 In Anbetracht der Negation des beständigen Seins scheint Heraklit die Stufenfolge zu invertieren, indem er die mit einem Ewigkeitsgehalt aufgeladenen Qualitäten als Unterbau des Werdens ansetzt. Auf der Basis dieses Gedankenganges droht sich der sachgetreue Herakliteer notwendigerweise in eine unbefriedigende Disjunktion zu verwickeln: Einerseits bietet sich das freimütige Eingeständnis des als unzulänglich dekuvrierten, menschlichen Erkenntnisvermögens an, das aufgrund seiner Defizienz gezwungen sei, ein souverä-

778 779 780 781 782 783 784

Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Vgl. ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Zur Verhältnisklärung zwischen den Gegensatzqualitäten und dem monistisch-unbestimmten Urgrund des Seienden im Denken des Anaximander vgl. Carl-Friedrich Geyer, Die Vorsokratiker zur Einführung, Hamburg 1995, S. 57f.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

nes und undurchschaubares Werden zu proponieren. Andererseits drängt sich die Begründung des Werdens aus einem „Nebeneinander vieler wahrer ungewordner unzerstörbarer Realitäten“785 auf. Beide Optionen tituliert Nietzsche als „unheraklitische Auswege und Irrpfade“.786 Um dies zu unterstreichen, wiederholt er Heraklits Ausruf: „Das Eine ist das Viele“.787 In dieser beharrlichen und nachdrücklichen Verteidigung der Position kündigt sich an, dass Nietzsches Heraklit nicht gewillt ist, sich von erkenntnistheoretischen oder dialektischen Gegenargumenten abschrecken zu lassen. Heraklit leistet Widerstand gegenüber der bevormundend-vorrechnenden Insinuation von Konklusionen, die angeblich notwendigerweise aus seinen Gedanken folgen. In diesem Zuge zeigt Nietzsche indirekt auf, dass auch die Nachfolger Heraklits an diesem Scheideweg anlangten, an dem die Verhältnisbestimmung zwischen der Vielheit der Qualitäten innerhalb der Welt des Werdens und der sie umgreifenden Einheit zur philosophischen Kernfrage avanciert. Parmenides ähnelt Anaximander in der negativen Bewertung der sinnlichen Welt, jedoch nicht in der Art ihrer Herleitung. Er stuft die Qualitäten zu „Phantasmata unsrer Sinne“788 herab und sucht sie in seiner Seinsphilosophie als „flüchtiger in Menschenköpfen wandelnder Schein“789 zu entlarven. Im Kontrast dazu, fasst Anaxagoras die Qualitäten in seiner Lehre der Homoiomerien als „ewige Wesenheiten“.790 Diesen konstitutiven Bestandteilen des Alls wird ein im metaphysischen Sinne jeweils „starres selbstherrliches Sein“791 prädiziert, das sich pluralisiert. Der Ansatz des Anaxagoras überschneidet sich mit demjenigen, den Nietzsche versuchsweise an Heraklit heranträgt, um dessen fulminanten Lösungsansatz umso markanter würdigen und inszenieren zu können. Heraklit durchschlägt den gordischen Knoten, ohne zu einer dialektischen Finte greifen zu müssen: Die dritte, für Heraklit allein zurückbleibende Möglichkeit wird niemand mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend errathen können: denn was er hier erfand, ist eine Seltenheit selbst im Bereiche mystischer Unglaublichkeiten und unerwarteter kosmischer Metaphern. – Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst, das Eine ist nur in diesem Sinne zugleich das Viele.792

785 786 787 788 789 790 791 792

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Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827. Ebd., S. 827f. [von Nietzsche kursiv, J.K.]. Auch Wiebrecht Ries akzentuiert Heraklits Votum für die Lesbarkeit der Welt des Vielen, in der sich das Eine des λόγος sinnhaft manifestiere. Vgl. Ries, Die Philosophie der Antike, S. 32: „Der kosmos, dieses große Ordnungsgefüge aus irdischen und Gestirnsbewegungen, ist reines Tätigsein des ewig seienden logos in den Kampfprozessen von Verfall und Erneuerung. Was bei den Pythagoreern ‚Unsterblichkeit‘ genannt wird und bei Parmenides ‚das Sein‘, das ist bei Heraklit in einer zeitlichen Bestimmung als die Dauer im Wechsel festgehalten: ‚ewig lebendiges Feuer‘ (B 30), aus dem sich die Ewigkeit des Weltbestandes nährt. Das Sichtbare ist nicht, wie für Parmenides, Schein und Trug, sondern das unverstandene Zeugnis für die in allem Streitgeschehen der Welt anwesend wirkende ‚unsichtbare Harmonie‘, die Fügung des Logos.“

3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit

Während Nietzsche die aus dem Fragment 52 bekannte Exposition des Weltspiels zunächst noch zurückhält, thematisiert der Röckener in seinem Exkurs zum Einheit und Vielheit spielend zusammenschließenden Feuer die Verortung desselben innerhalb des Gefüges der Elemente. In diesem Kontext erwähnt Nietzsche den Topos des Umschlagens der drei Zustände des Warmen, Feuchten und des Festen ineinander und porträtiert die „Verwandlungs-Bahnen des Feuers“.793 Im Kreislauf der Elemente geht das Feuer in das Wasser über, das zur Erde wird, von dort zum Wasser zurückkehrt und schließlich als Feuer den Zirkel abrundet. Nietzsches beiläufige Fokussierung auf das Wesen des Feuers ist für die Ausdeutung des Zentralmotivs der Gerechtigkeit von geringerer Relevanz, weil Nietzsche Heraklits Leistungen als Physiker generell nicht allzu hoch veranschlagt. Stattdessen unterstreicht er Heraklits nahezu epigonenhafte Nachfolgerschaft gegenüber Thales und Anaximander. Heraklit, so Nietzsches Grundthese, positioniert das Feuer an jener Stelle, die Thales dem Wasser zusprach.794 In seiner Physik ist Heraklit allein dahingehend originell, als er das von Anaximander als präkosmische Urdyade herangezogene Gegensatzpaar Warm-Kalt zugunsten der Singularität des feuerhaften Warmen sprengt. Als „viel wichtiger“795 schätzt Nietzsche hingegen die Überschneidung zwischen Anaximander und Heraklit in Bezug auf die von beiden verfochtene Annahme eines „periodisch sich wiederholenden Weltunterganges“796 ein. Der periodische Untergang transfiguriert sich in ein „immer erneutes Hervorsteigen einer anderen Welt aus dem alles vernichtenden Weltenbrande“.797 Nietzsches ausdrückliche Integration der ἐκπύρωσις-Theorie798 – die Heraklit wahrscheinlich erst seit der Stoa zugeschrieben wurde – in die heraklitische Lehre verdichtet sich zu einer gewichtigen Herausforderung, soll der Gedanke einer allwaltenden Gerechtigkeit aufrechterhalten werden. Diese Vereinbarungsschwierigkeit beruht vornehmlich auf der Unterteilung der leitenden Impulse. Die Haupttriebfedern sollen die Welt in der Annäherung an die sich im Zeichen des Weltenbrandes vollziehende Eschatologie beherrschen und die aus der Auflösung entspringende Neuschöpfung initiieren.799 Solange sich die Welt innerhalb des Zyklus auf die Fülle des Feuers zubewegt, in der sie einstmals verglühen wird, ist sie durch das „Begehren und Bedürfen“800 geleitet. Im Moment ihrer gänzliNietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 828. Vgl. ebd., S. 828. Ebd., S. 829. Ebd., S. 829. Ebd., S. 829. Karl Jaspers verwirft die von Nietzsche proponierte Übertragung der ἐκπύρωσις-Konzeption auf Heraklits Lehre. Sein Kerneinwand lautet, dass in der Vorstellung des Wechsels von Weltbildung und Weltbrand „auf das Ganze die Gegensätzlichkeit angewendet [würde], die doch nur innerhalb der Welt, in der der Kampf ist, gilt.“ Vgl. Jaspers, Die grossen Philosophen I, S. 638. 799 Insgesamt skizziert Nietzsche in seinem Heraklit-Porträt das Bild eines Umlaufes, der an das spätere Modell des Empedokles erinnert. Bei Empedokles ist jedoch nicht eindeutig zu bestimmen, ob es sich um einen kosmosimmanenten Zyklus handelt oder die Entstehung neuer Welten einen wesentlichen Lehrbestandteil repräsentiert. Der empedokleische Kreislauf der Vorherrschaft des Streits und der Präeminenz der Liebe lässt sich mit Nietzsches Auslegung des Überganges zwischen dem Begehren und der Sattheit analogisieren. 800 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 829. 793 794 795 796 797 798

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

chen Umschließung durch das Feuer erreicht sie den Zustand der „Sattheit“801, in der sich die bisherige Weltgestalt aufhebt. Es ergibt sich die paradoxe Figuration, dass das Begehren in eine Sättigung mündet, in der das Begehrende sich in das Besänftigte wandelt, gerade indem die intentionale Bedürfnisstruktur auf ihrem Zenit vollständig negiert wird. Nichtsdestotrotz bieten die Übergangsweisen zwischen diesen beiden Stadien mitsamt ihren jeweiligen Begriffsumschreibungen kaum interpretative Schwierigkeiten. Nietzsches kritische Fragerichtung zielt hingegen auf den iterierenden Vorgang der nach dem Untergang im Feuer erneut aufkeimenden Weltbildung ab. Auf der Basis des griechischen Sprichwortes, dass „Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert“802 wird das „Sichausgießen in die Formen der Vielheit“803 zum einschneidenden Prüfstein der Gerechtigkeit. In diesem Kontext lässt sich demonstrieren, dass Nietzsche seiner These treu bleibt, die auf eine Kosmodicee hinauslaufende Erhellung der Beschaffenheit der Welt mithilfe des Kriteriums der Gerechtigkeit überwiege bei Heraklit gegenüber der kosmogonischen Theoriebildung. Die Kernfrage lautet deshalb nicht: Wie und woraus entsteht eine neue Welt, nachdem der Kosmos sich vollendet hat, die Begierde gestillt ist und das Werden zu einem Abschluss gekommen ist? Stattdessen muss eine ethische Frageperspektive gewählt werden: Warum wird nach dem Weltbrand überhaupt erneut die Vielheit freigesetzt? Muss dieses Wiederaufflammen des Kollektivs nach der geschehenen Seinseinung und der Einkehr in den elementaren Grund des Feuers nicht als Depravation beurteilt werden; die einer Hybris, einem Sündenfall entspringt, insofern sie auf einem willentlichen Losreißen sich dissoziierender und zersprengender Kräfte beruht? Wenn die Wiederkehr der Vielheit das Ergebnis eines Umschlages aus der Purifikation in das „Unreine“804 exemplifiziert, enthüllt sich der restituierte, durch die Begierde gekennzeichnete Weltprozess als „ein Bestrafungsakt der Hybris“.805 Der Mangel und der Hunger, der die Welt antreibt, wären demnach der Preis und die Hypothek für den Übermut, durch den sich die neue Weltgestalt von Anfang an eine Schuld zugezogen hat. Es ist auch an diesem Ort wichtig, die Differenz gegenüber Anaximander zu beachten. Selbst wenn der Sachverhalt der Hybris zugestanden werden müsste, fiele Heraklit nach Nietzsche nicht in die anaximandrische Anklage des Werdens zurück. Die Lebewesen, die die neue Welt besiedeln, und diese „Welt des Werdens“806 selbst können nicht unter dem Damoklesschwert einer durch den Übertritt in die Existenz generierten Nichtswürdigkeit lokalisiert werden, da Heraklit kein unbestimmtes Sein voraussetzt. Trotzdem markiert die Herausschälung der Welt aus dem umfassenden Weltenbrand notwendigerweise eine Trübung und eine Verringerung des normativ und intellektuell qualifizierten Einflusses des Feuers. Der Verstoß gegen die im Weltenbrand evozierte Allgewalt des Feuers müsste sich als Übernahme 801 802 803 804 805 806

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Ebd., S. 829. Ebd., S. 829. Ebd., S. 829. Ebd., S. 830. Ebd., S. 830. Ebd., S. 830.

3.2. Nietzsches Synthese des Streits mit der ewigen Gerechtigkeit

einer ontologischen Schuld artikulieren, die mit der Ermöglichungsbedingung für die neue, vielfaltsdurchdrungene Welt koinzidiert. Demgemäß müsste die Schuld in den „Kern der Dinge“807 hineinverlagert werden. Indem die Schuld der Feuerminderung als Ursprungsprinzip der Welt sichtbar wird, müssen die Individuen allerdings nur deren Konsequenzen tragen. Anders als bei Anaximander wären es in diesem kosmologischen Interpretationsansatz der heraklitischen Philosophie nicht die Lebewesen selbst, die den „Fluch des Werdens“808 mit ihrem Lebensbeginn initiieren und durch ein aktives Losreißen aus dem Unbegrenzten besiegeln würden. Um den erreichten Standpunkt genauer verorten zu können, erscheint eine gliedernde Überschau über Nietzsches Gedankengang hilfreich. Bislang ließ er Heraklit die folgenden Hürden nehmen: (1) Die Gefahr der nihilistischen Gesamtbestimmung einer anarchisch und furchtbar erscheinenden Wirklichkeit, die die Verabsolutierung des Werdens barg, bannte Heraklit durch die Exposition der irreversiblen Ordnung und Gesetzmäßigkeit, innerhalb derer sich der Streit der Gegensätze vollzieht. Nachdem er diese erste Klippe umschifft hatte, wuchs in ihm die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit und der Streit nicht in einer Relation abtrennbarer Entitäten organisiert sein können. Sie sind nicht durch einen klaren und linearen Übergang voneinander geschieden. Die streithafte Entzweiung und das jeweilige Überwiegen eines Gegensatzes werden nicht einfach in eine perennierende Einheit reintegriert, der beide Pole immer schon zugehören und von der sie freigegeben werden. Vielmehr konnte Heraklit die Einsicht gewinnen, dass sich der Streit und die Gerechtigkeit im kosmischen Kombinationsgeschehen überlappen und durchdringen. Damit wurde das Eine mit der Vielheit der Gegensatzpaare zusammengemischt. (2) Inmitten des triumphierenden Ausrufes: „Das Eine ist das Viele“809 bahnte sich das nächste Hindernis an. Durch die Identifikation des Vielen mit dem Einen ergab sich die Konsequenz, dass die mannigfaltigen Qualitäten eine Wesensverwandtschaft, einen gemeinsamen Grundstock aufweisen müssen. Nietzsche interpretierte das Diktum des Ἓν καὶ Πᾶν nicht im Sinne einer Selbstunterscheidung und Auseinanderlegung im Einen, sondern manövrierte Heraklit in eine Hypostasierung der Qualitäten und Gegensätze, die sich in zahlreiche, ewige Realitäten ausdifferenzieren. Diese Aufwertung der Qualitäten zu immanenten Akteuren ging mit einer Depotenzierung des Werdens einher, das entweder als oberflächlicher Abglanz des Ringens der unzerstörbaren Qualitäten eskamotiert werden musste oder sich als Einsichtsgrenze für die menschliche Erkenntnis entpuppte. Heraklit kam hier zu einer Lösung, indem er die Verflechtung von Einem und Vielem aus dem Wesen des Spiels herleitete, welches das Feuer mit sich selbst spielt. Im Zuge dieser sowohl ästhetischen als auch physikalischen These konnte die Suffizienz des Werdens restituiert werden. (3) Damit trat der Kernbegriff des Feuers in den Vordergrund. Indem Heraklit sich in seiner physikalischen Kosmogonie der anaximandrischen Auffassung der periodischen Welterneuerung anschloss, wurde das Werden nicht mehr aus der vertikalen 807 Ebd., S. 830. 808 Ebd., S. 820. 809 Ebd., S. 827.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

Dimension durch die beharrenden Qualitäten angefochten und in Frage gestellt. Stattdessen wurde die Unschuld des Werdens nun durch die ihm eignende Fortlaufbewegung erschüttert, insofern diese in die Grundpfeiler von begehrender Ermangelung und ausstehender Sättigung eingespannt war. Wenn in der Genesis der neuen Welt die erreichte Erfüllung verabschiedet werden muss, ist es unumgänglich, dass sich in ihr die Schuld einer Lossagung vom Feuer kontrahiert. Die Vielheit faltet sich als „Resultat eines Frevels“810 aus. Die mit dem Weltbeginn gleichbedeutende Aufhebung jener Reinheit, die durch den weltenverschlingenden Aufstieg des Feuers zur Ubiquität gewährt wurde, muss prima facie als „Folge der Ungerechtigkeit“811 reflektiert werden. Im nächsten Abschnitt ist zu veranschaulichen, wie Nietzsche Heraklit bezüglich dieser Herausforderung der Hybris argumentieren lässt. Angesichts der intendierten Priorisierung der inmitten des Werdens waltenden Gerechtigkeit besitzt der potentielle Vorwurf der Hybris ein kaum zu überschätzendes Bedrohungspotential. Zudem ist auszuloten, welche Rolle das Motiv des Spiels zu vindizieren vermag.

3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens Wird der Gedanke des hybriden Ursprung des Werdens adäquat durchdacht und ernstgenommen, trübt sich die beglückende und heitere Betrachtung des unschuldig wogenden, sich suchenden und fliehenden, gegensatzgeprägten Werdens. Die Hybris lastet wie ein Schatten über dem zuerst freudig begrüßten Geschehen. Das „stolze Leuchten“812, das Heraklits Augen beim unvergleichlich einsichtigen Blick auf das Werden umfing, weicht in Nietzsches Imagination des Rückstoßes des destruktiven Gedankens auf den Philosophen einem „faltigen Zug schmerzlicher Entsagung“.813 Es scheint ostensibel zu sein, weswegen Heraklit späterhin als „weinender Philosoph“814 bezeichnet wurde. Wie bei Anaximander erwächst der Eindruck, als kehrte der Pessimismus im Gewand eines ethischen Rätsels zurück. Im 7. Abschnitt des Werkes Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen erreicht Nietzsches Heraklit-Auslegung die höchste Intensität. In der umfassenden Beleuchtung der in ihrem Wesen umrandeten Gerechtigkeit enthüllt sich das Monitum der Hybris seinerseits als ein aus einer unzulänglichen Erkenntnisweise entspringendes Missverständnis des Weltwerdens. Nietzsche befreit dabei die Hybris aus ihrem kosmologischen Bedeutungsumfeld und subsummiert sie unter moralisch-existenzielle Negativphänomene: Jenes gefährliche Wort, Hybris, ist in der That der Prüfstein für jeden Herakliteer; hier mag er zeigen, ob er seinen Meister verstanden oder verkannt hat. Giebt es Schuld Ungerechtigkeit Widerspruch Leid in dieser Welt?815

810 811 812 813 814 815

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Ebd., S. 830. Ebd., S. 830. Ebd., S. 829. Ebd., S. 829. Ebd., S. 830. Ebd., S. 830.

3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens

Die bemerkenswerte Antwort auf diese Frage lautet: „Ja, ruft Heraklit, aber nur für den beschränkten Menschen, der auseinander und nicht zusammen schaut“.816 Unbedingt zu berücksichtigen ist die Gültigkeitssegmentierung der Ungerechtigkeit nach Maßgabe der Erkenntnistiefe. Für den „contuitiven Gott“817 – so schreibt Nietzsche im Rekurs auf das Heraklit-Fragment 102818 – versammeln sich die Gegensätze in einer Harmonie. In Analogie zur Vereinigung des Einen mit dem Vielen erklärt Nietzsche die Bändigung des Feuers innerhalb der vervielfältigenden Erscheinungsformen der regenerierten Wirklichkeiten aus der Performativität des Spiels, das in einem „erhabnen Gleichniß“819 mit der schöpferischen Produktion des Künstlers verglichen wird: Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld – und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in 816 Ebd., S. 830. 817 Ebd., S. 830. In den Basler Vorlesungen entwickelt Nietzsche den fulminanten Gedanken, dass nicht allein der ‚contuitive Gott‘ das Vermögen besitzt, die vermeintlichen Gegensätze zusammenzuschauen und dadurch dem Eindruck der Faktizität leidvoller Geschehnisse entgegenzuwirken. Hingegen ist es nach Nietzsche primär das weltformende Feuer selbst, das sich in seinem ewigen Spiel betrachtet und bewundert. Erwähnenswert ist darüber hinaus der keineswegs nur ästhetische, sondern vor allem intellektualistisch-kontemplative Zug in Nietzsches Heraklit-Deutung aus den Basler Vorlesungen. So stipuliert Nietzsche, dass die höchste Weisheit nicht im handelnden Einklang mit der Wirkkraft des Himmelsfeuers bestehe. Stattdessen favorisiert Nietzsche das Ideal der gänzlichen Angleichung an jenes verständige Feuer, das zugleich als Weltbewusstsein figuriert. Vgl. Nietzsche, Basler Vorlesungen, S. 186, hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 260: „Der wichtigste Contrast ist vielmehr dieser: das ewig zum Spiel die Welt bauende Feuer schaut diesen ganzen Prozess an, ähnlich wie Heraklit selbst diesen ganzen Prozess mit ansieht: wesshalb er sich Weisheit zuschreibt. Eins zu werden mit dieser anschauenden Intelligenz ist Weisheit: nicht etwa mit der wirkenden.“ Darüber hinaus verdient der Sachverhalt eine intensivierte Aufmerksamkeit, dass Nietzsche diese Duplizierung des Feuers in eine weltbauende-wirkende und eine anschauende Tätigkeit in den Basler Vorlesungen auch auf das Motiv der Gerechtigkeit überträgt. So differenziert Nietzsche zwischen der prozesshaften, die Regelmäßigkeit des Gegensatzwechsels vorantreibend koordinierenden Δίκη auf der einen Seite und ebenjener intuitiven Universalerkenntnis auf der anderen Seite, die alle Erscheinungen innerhalb des Bereiches des von der Gerechtigkeit aufrechterhaltenen Streites zu überblicken vermag. Die Zusammengehörigkeit der beiden Stämme der Gerechtigkeit versinnbildlicht Nietzsche durch die Gestalt des werkschaffenden Künstlers, der sich in der Anschauung mit seinem Erzeugnis identisch weiß. Vgl. Nietzsche, Basler Vorlesungen, S. 186, hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 263: „Es ist zu unterscheiden zwischen der δίκη in der Form des Prozesses und jener alles überschauenden Intuition: jene immanente δίκη oder γνώμη, in Gegensätzen waltend und jene den ganzen πόλεμος überschauenden Feuerkraft. Wir können uns nur an der Thätigkeit des Künstlers diese Anschauung deutlich machen, die immanente δίκη und γνώμη, den πόλεμος als deren Bereich und wieder das Ganze als Spiel [fr. 52D], über allem anschauend und waltend der schöpferische Künstler, der wiederum identisch ist mit seinem Werk.“ 818 Zu Nietzsches Spezifikation der Einblicksreichweite des Gottes und zur Problematik der adäquaten Bezeugungsart der perzipierten Harmonie innerhalb der ontischen Dingmannigfaltigkeit vgl. Nietzsche, Basler Vorlesungen, S. 184, hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 258: „Vielmehr ist heraklitisch, dass dem Gott alles gut erscheint, dem Menschen vieles schlecht. Die ganze Fülle von Widersprüchen und Leiden, nahm Heraklit an, sei in der unsichtbaren Harmonie für den beschauenden Gott verschwunden. Nun war aber eine Hauptklippe, wie die Erscheinung des einen Feuers in so vielen und unreinen Formen möglich sei, ohne damit in die Dinge etwas zu verlegen von ἀδικία.“ 819 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 830.

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Wasser und Erde thürmt er, wie ein Kind Sandhaufen am Meere820, thürmt auf und zertrümmert; von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neuem an. Ein Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn von Neuem das Bedürfniß, wie den Künstler zum Schaffen das Bedürfniß zwingt. Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. Das Kind wirft einmal das Spielzeug weg: bald aber fängt es wieder an, in unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft und fügt und formt es gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen.821

Im augenfälligen Rekurs auf das Fragment 52 hebt Nietzsche die bauend-zerstörende Dimension des Spiels hervor, das innerhalb der Welt die Bausteine verrückt und das bisherige Spielfeld auflöst, indem es einen kosmischen Wandel einläutet und das Spiel „von Neuem“822 anfängt. Unter dem Index des Spiels werden sowohl der weltimmanente Elementwechsel und das sinnlich wahrnehmbare Vergehen als auch die auf das große Jahr823 zulaufende Periodizität des Weltenbrandes konfiguriert. Dem entspricht eine Parallelführung der drei wesentlichen Akteure, die sich in den Gestalten des Kin820 In dem akribisch-philologischen I. Teil seiner Studie rekonstruiert Wohlfart die Deutungsgeschichte des Fragmentes B 52. Das von Nietzsche rezipierte Gleichnis, wonach das Spiel des königlichen Kindes mit dem Auftürmen von Sandhaufen verglichen werden könne, entstammt nach Wohlfart einer Übersetzungstradition, die der bekannte Alphilologe Jacob Bernays maßgeblich beförderte. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 132f. 821 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 830f. 822 Ebd., S. 830. 823 Die wesentlichen Textstellen zu Nietzsches schöpferischer Rezeption der geheimnisvollen Vorstellung des großen Jahres, in welchem sich der Zyklus der bislang durchlaufenen Kombinationen erschöpft und wieder von neuem beginnt, finden sich im Zarathustra-Stück Der Genesende. Das ‚große Jahr‘ bildet gleichsam das Zentralgestirn, um welches die Tiere Zarathustras ihre Präsentation der Lehre der ewigen Wiederkunft gruppieren. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 272: „Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“ Vgl. die weitergeführte Rede der Tiere Zarathustras, welche die Vision eines ‚Ungeheuers von grossem Jahre‘ aufrufen: Ebd., S. 276: „Siehe, wir wissen, was du lehrst: dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit, und dass wir schon ewige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns. Du lehrst, dass es ein grosses Jahr des Werdens giebt, ein Ungeheuer von grossem Jahre: das muss sich, einer Sanduhr gleich, immer wieder von Neuem umdrehn, damit es von Neuem ablaufe und auslaufe: – so dass alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Grössten und auch im Kleinsten.“ Im Hinblick auf das Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit sind die detaillierten und philologisch abgesicherten Erläuterungen Günter Wohlfarts zum Verweisungskomplex zwischen dem Gedanken des großen Jahres, dem von Heraklit im Fragment B 52 thematisierten Aion und Nietzsches früher Auslegung dieses Fragments zu berücksichtigen. Wohlfart beweist ein hervorragendes Feingespür, indem er die zahlreichen Vermittlungsstationen exponiert, die Nietzsches affirmativer Integration des ‚großen Jahres‘ in den Lehrgehalt der ewigen Wiederkehr den Weg ebneten. Eine besondere Rolle spricht Wohlfart dabei der zeitgenössischen Philologie zu, weil diese eine mögliche Affinität zwischen dem Gedanken des ‚großen Jahres‘ und der ἐκπύρωσις-Theorie zum ersten Mal in wissenschaftlichen Debatten ausgelotet habe. Insofern der Nexus zwischen dem großen Jahr und der ἐκπύρωσις-Doktrin nicht von Heraklit entworfen, sondern erst in der stoischen Tradition entfaltet wurde, offenbart sich eine weitere Themenfuge, welche die in dieser Arbeit untersuchten Autoren verbindet. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 334f.: „Die vergleichende Lektüre der Darstellung bei Zeller und bei Nietzsche in den Basler Vorlesungen […] zeigt, daß wir die Spur von Nietzsches später Lehre vom ‚großen Jahr‘ der Wiederkehr über Nietzsches Heraklit-Interpretation in der PhG und den Basler Vorlesungen zurück zu Zellers Diskussion (insbesondere mit Lasalle) über den Zusammenhang von großem Jahr, Ekpyrosis und Aion und von da weiter zurück

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des, des Feuers/Aeon824 und des Künstlers versinnbildlichen. So ist signifikant, dass Nietzsche das Brettsteine verrückende, Spielzeuge ergreifende und verwerfende Kind, den sich in Wasser und Erde verwandelnden (und demzufolge dem „ewig lebendige[n]“825 Feuer entsprechenden) αἰών und den Künstler einander annähert. Sie eint die Unschuld ihrer Motivation, ihr unerschöpflicher Spieltrieb826 und das Absehen von moralischen Kalkülen. Diese Bestimmungen lassen sich verknüpfen, weil die zu DL, Hippolyt und zur Stoa verfolgen müssen. Entscheidend ist, daß Nietzsches Lehre vom großen Jahr, die – wie u. a. das Stück ‚Der Genesende‘ im ‚Zarathustra‘ zeigt – untrennbar mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft verbunden ist, entscheidend beeinflußt ist von seiner Vorstellung vom großen Jahr bei Heraklit, das für Nietzsche – ausgehend von der Heraklit-Philologie seiner Zeit – seinerseits untrennbar mit dem Heraklitischen Aion verbunden ist. Das große Jahr ist die Dauer der Weltzeiten (Äonen), ein μέγας ὲνιαυτος ist ein αἰών. Insofern ist das große Jahr bei Nietzsche gleichsam die Brücke, die Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen – das zitierte Wort von den ‚ungeheuren Jahren der Wiederkehr‘ ist ein Indiz dafür – mit Nietzsches früher B 52Interpretation verbindet.“ 824 Die Übersetzung und kontextuelle Bedeutungsbestimmung des Aion bietet eine der Hauptherausforderungen der Heraklit-Philologie dar und zeitigt direkte Folgen für die philosophische Gesamtbeurteilung Heraklits. Wolfgang Schadewaldt legt eine Parallelisierung des Aion mit der Periodenzeit des ‚großen Jahres‘ nahe, indem er ‚Aion‘ weder als ‚Ewigkeit‘ noch als ‚Lebenszeit‘ begreift, sondern für eine deutende Umschreibung mit ‚Umlauf ‘ votiert. Vgl. Schadewaldt, Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen I, S. 375, hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 51: „Man weiß nicht recht, was aion heißt, und auch wenn man es ahnt, kann man es kaum übersetzen. ‚Lebenszeit‘ ist es nicht, besser noch Fränkels ‚Dasein‘. Aion wird bei Platon einmal das eigentlich seiende Urbild genannt, von dem die Zeit nur Nachahmung ist (‚Timaios‘ 37/38). Es hängt also schon mit der Zeit zusammen, wie auch wir es kennen in der Vorstellung ‚von Aion zu Aion‘, womit nicht ‚Ewigkeiten‘ gemeint sind, sondern große Zeitperioden, eine Art Umlauf, der ganz in sich ruht. Das ist vielleicht das Entscheidende.“ Auch Günter Wohlfart lehnt eine Übersetzung des Wortes ‚Aion‘ mit ‚Ewigkeit‘ ab, insofern mit dem Terminus der Ewigkeit die endlose Zeitreihe des ‚Immer weiter‘ oder die veränderungslose Beständigkeit des nunc stans assoziiert wird. Stattdessen schildert Wohlfart den ‚Aion‘ als die unerschöpflich-diesseitige Generierungskraft des Ewig-Lebendigen, dessen Gegenwart sich immer schon und immer wieder im Lebenslauf der Sterblichen manifestiert. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 51f.: „Heraklits αἰών ist als der göttliche (unsterbliche) αἰών das (ewig) Lebend(ig)e in individuo – wobei ‚ewig‘ nicht im teleologischen bzw. eschatologischen Sinne als ‚endbzw. nachzeitlich‘ zu verstehen ist, sondern vielmehr im Sinne eines sich innerzeitlich, d. h. im Lauf der Zeit (des Lebens) bzw. der Zeiten (periodisch) immer wieder Erneuernden (Wiederkehrenden), sich von neuem Erzeugenden (Generierenden) bzw. zu neuem Leben Erwachenden. Dieses immer wieder von neuem Entstehende und Vergehende ist ein solches, das von jeher – jedesmal und jederzeit – schicksalhaft den Lauf des Lebens der Sterblichen, d. h. das Los der Menschen, ‚konfundiert‘. […] Könnte man sagen, Heraklits αἰών sei das ewig (immer wieder) kraft des Lebens Generierende und Zeitigende? Es sei nochmals betont, daß die ewige Zeit nicht als ‚schlechte Unendlichkeit‘ und damit als Gegenstück zur endlichen Lebenszeit mißverstanden werden darf. Das Ewige als das immer Seiende ist zuerst auch als das zur (Lebens-)Zeit Seiende, auf den Menschen gegenwärtig Zukommende zu verstehen, d. h. als das Ewig-Heutige. Der Aion als das Ewig-Lebendige ist – wie bei Heraklit nicht anders zu erwarten – schwerlich etwas Meta-physisches – es sei denn, man verstünde unter dem Meta-physischen, ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung des griechischen μετά = inmitten, etwas, das mitten im Physischen aufgeht. […] Der Aion ist nichts Transzendentes – es sei denn, man dächte nicht an eine Transzendenz ins Jenseits, sondern an eine umgekehrte Transzendenz bzw. Reszendenz ins Diesseits – der Aion ist ein Ewiges, Göttliches, das ins Zeitliche, ins menschliche Leben hineinfährt.“ 825 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 830. 826 Die anthropologische und ästhetische Funktion des Spiels hat Friedrich Schiller in unübertrefflicher Manier auf den Begriff gebracht. Wie nach ihm Nietzsche, apostrophiert auch Schiller die Relevanz des Spiels in der griechischen Kunst und Kultur. Allerdings weist Schiller im 15. Brief kritisch darauf

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Handlungsinstanzen – die, wie nochmals apostrophiert werden soll, nicht diesseits oder jenseits des Werdens postiert sind und dieses lenken, sondern dessen Bewegtheit symbolisieren – das Werden keiner rationalen Planung unterwerfen und ihm kein Ziel oktroyieren. Auch der unausweichliche Weltenbrand ist nicht als Telos zu begreifen, da er selbst zum Spiel gehört, das nicht nach hierarchischen Bewertungsmustern gemessen werden kann.827 Daher folgt er keiner Niedergangs- oder Entwicklungslogik, die den Kräftehaushalt der Welt drastisch veränderte.828

hin, dass es den Griechen nicht vollständig gelungen sei, die Praxis des Spiels vollständig in ihrer Lebenserfahrung zu verankern. Vgl. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Werke Bd. 20, Weimar 1962, S. 359: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen seyn werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst tragen. Aber dieser Satz ist auch nur in der Wissenschaft unerwartet; längst schon lebte und wirkte er in der Kunst und in dem Gefühle der Griechen, ihrer vornehmsten Meister; nur daß sie in den Olympus versetzten, was auf der Erde sollte ausgeführt werden.“ 827 Zu dieser kosmologisch-ästhetischen Komponente vgl. Reschke, „Die Welt ist ein Spiel des Zeus…“: Friedrich Nietzsches ästhetische Sicht auf Heraklit, in: Enrica Fantino u. a. (Hrsg.), Heraklit im Kontext, S. 485–506. 828 Die Suffizienz des Werdens, für dessen Prolongation und Rechtfertigung weder ein göttliches Weltbewusstsein noch eine immanent-vorgezeichnete Teleologie erforderlich sind, unterstreicht Nietzsche in einem berühmten Nachlassfragment aus dem Jahre 1887, das von einer Ablehnung des eleatischen Seins getragen wird und mit einer Apotheose der werdenden Welt sowie mit einer Abwehr des philosophischen Pessimismus endet. Vgl. Nietzsche, NF-1887,11[72]: „Wenn die Weltbewegung einen Zielzustand hätte, so müßte er erreicht sein. Das einzige Grundfaktum ist aber, daß sie keinen Zielzustand hat: und jede Philosophie oder wissenschaftliche Hypothese (z. B. der Mechanismus), in der ein solcher nothwendig wird, ist durch die einzige Thatsache widerlegt… Ich suche eine Weltconception, welche dieser Thatsache gerecht wird: das Werden soll erklärt werden, ohne zu solchen finalen Absichten Zuflucht zu nehmen: das Werden muß gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick (oder unabwerthbar: was auf Eins hinausläuft); es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen wegen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden. Die ‚Nothwendigkeit‘ nicht in Gestalt einer übergreifenden, beherrschenden Gesammtgewalt, oder eines ersten Motors; noch weniger als nothwendig, um etwas Werthvolles zu bedingen. Dazu ist nöthig, ein Gesammtbewußtsein des Werdens, einen ‚Gott‘ zu leugnen, um das Geschehen nicht unter den Gesichtspunkt eines mitfühlenden, mitwissenden und doch nichts wollenden Wesens zu bringen: ‚Gott‘ ist nutzlos, wenn er nicht etwas will, und andrerseits ist eine Summirung von Unlust und Unlogik damit gesetzt, welche den Gesammtwerth des ‚Werdens‘ erniedrigen würde: glücklicherweise fehlt gerade eine solche summirende Macht (– ein leidender und überschauender Gott, ein ‚Gesammtsensorium‘ und ‚Allgeist‘– wäre der größte Einwand gegen das Sein). Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen, – weil dann das Werden seinen Werth verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen) insgleichen: wie alle Werthurtheile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gäbe, entwerthet sind. damit aber erkennt man, daß diese Hypothese des Seienden die Quelle aller Welt-Verleumdung ist ‚die bessere Welt, die wahre Welt, die ‚jenseitige‘ Welt, ‚Ding an sich‘ 1) das Werden hat keinen Zielzustand, mündet nicht in ein ‚Sein‘. 2) das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.

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3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens

Genauso wie das Kind nach Phasen ausgedehnten Spiels den Überdruss der „Sättigung“829 empfindet, in einem spontanen Entschluss das Spielzeug niederlegt und das ausgeweitete Terrain verschließt, um sich später mit einem anderen Spielzeug eine bislang unentdeckte Welt zu eröffnen, vollzieht sich das Verglühen einer Welt in der Reinheit des Feuers. In diesem sich sowohl in der Größenordnung des Kosmos als auch in den Filiationen des Regionalen einrichtenden Spiel manifestiert sich dennoch die Gerechtigkeit und – wie es der Vergleich mit dem Kind ja durchaus indiziert – keine Unordnung des chaotisch-beliebigen Durcheinanderwerfens.830 Deswegen muss Heraklit auch keine spitzfindig-sophistischen Argumente bemühen, um die vermeintliche Anarchie und Trostlosigkeit der Welt zu kaschieren. Ebenso wenig ist er 3) das Werden ist werthgleich in jedem Augenblick: die Summe seines Werthes bleibt sich gleich: anders ausgedrückt: es hat gar keinen Werth, denn es fehlt etwas, woran es zu messen wäre, und in Bezug worauf das Wort ‚Werth‘ Sinn hät. der Gesammtwerth der Welt ist unabwerthbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge.“ 829 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 830. 830 In den Basler Vorlesungen spricht Nietzsche der Δίκη demonstrativ die Hegemonie über den Streit der divergierenden Eigenschaften und Ansichten zu. Nietzsche zieht die Konzeption einer immanenten δίκη heran, um seiner Kritik an den Lehren eines prädisponierten Telos des Gesamtgeschehens und einer intentionalen Willensausrichtung eines transmundanen Akteurs Nachdruck zu verleihen, ohne auf die gesetzmäßige Regularität der Weltereignisse verzichten zu müssen. Vgl. Nietzsche, Basler Vorlesungen, S. 184f., hier zit. nach Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 258f.: „Hierfür hatte Heraklit ein erhabenes Gleichniss; ein Werden und Vergehen ohne jede moralische Zurechnung giebt es nur im Spiel des Kindes (oder in der Kunst). Als unkünstlerischer Mensch griff er nach dem Kinderspiel. Hier ist Unschuld und doch Entstehenlassen und Zerstören. Es soll kein Tropfen von ἀδικία in der Welt zurückbleiben. Das ewig lebendige Feuer, der αἰών, spielt, baut auf und zerstört: der πόλεμος, jenes Gegeneinander der verschiedenen Eigenschaften, geleitet von der Δίκη, ist nur als künstlerisches Phänomen zu erfassen. Es ist eine rein ästhetische Weltbetrachtung. Ebensosehr die moralische Tendenz des Ganzen als die Teleologie ist ausgeschlossen: denn das Weltkind handelt nicht nach Zwecken, sondern nur nach einer immanenten δίκη. Es kann nur zweckmässig und gesetzmässig handeln, aber es will nicht dies und jenes.“ Wohlfart ist vollkommen zuzustimmen, wenn er im Hinblick auf die obige Passage die bedenkenswerte Diskrepanz zwischen Nietzsches Heraklit-Charakterisierung als eines ‚unkünstlerischen Menschen‘ auf der einen Seite und Nietzsches emphatischer Würdigung der Philosophie Heraklits als eines fulminanten Zeugnisses einer ‚ästhetischen Weltbetrachtung‘ auf der anderen Seite exponiert. In diesem Zuge rekurriert Wohlfart zunächst auf Hölschers Erörterung dieser Interpretationsschwierigkeit, um anschließend seine eigene Problematisierung der von Seiten Nietzsches nicht aufgelösten, ambivalenten Verhältnisstiftung zwischen Heraklit und der Kunst darzulegen. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 258, FN 283: „Überraschend ist und bleibt für mich Nietzsches Kennzeichnung des Heraklit als eines ‚unkünstlerischen Menschen‘. Hölscher versucht folgende Erklärung: ‚Eine Veränderung bemerkt man vor allem auch in der Beurteilung seiner [scil. Heraklits, G.W.] Persönlichkeit. Denn während er [scil. Nietzsche, G.W.] ihn anfangs zu den ‚Nicht-Künstlern‘ zählt [GA X 101], sogar seine Kunstfremdheit, ja Feindschaft, zusammen mit der ‚gefühllosen‘ ‚Feindseligkeit‘ gegen das Dionysische hervorhebt [GA XIX 170–172, 184], sieht er ihn mehr und mehr als den Philosophen der ‚ästhetischen Weltbetrachtung‘ [GA XIX 184–186] und rühmt in einer Notiz zur Fortsetzung den ‚Kunstwert‘ seiner Philosophie [GA X 133f.].‘ Hölscher, 169f. – Gegen diesen Erklärungsversuch einer Veränderung der Nietzscheschen Einstellung zu Heraklit von einer anfänglichen Einschätzung Heraklits als eines unkünstlerischen Menschen zu einer späteren gegenteiligen Einschätzung spricht nicht nur, daß ja noch im selben Absatz des Kolleg-Manuskripts von der ‚ästhetischen Weltbetrachtung‘ die Rede ist (Basl. Vorl. 185.1), sondern auch, daß Nietzsche bereits vor dem Sommer 1872 in einem nachgelassenen Fragment (Winter 1869/70 bis Frühjahr 1870) notiert: ‚Heraclit. Künstlerische Weltbetrachtung.‘ KSA 7, 83.2 (3[84]). Ich sehe hier nicht klar.“

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

gezwungen, angesichts der Negativität des leidvollen Daseins den asketischen Weg der Willensverneinung zu postulieren: Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein üppiges, ja triumphierendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.831

Heraklit verspürt keine Neigung, seine Theorie allererst noch in eine Kompatibilität mit einer polytheistischen Theodizee zu überführen. Dies lässt sich anhand der Figur des Künstlers untermauern, der – um eine Formulierung aus Heideggers erster Nietzsche-Vorlesung aufzugreifen – für Nietzsche die „durchsichtigste Gestalt“832 des Spiels exemplifiziert. Der Künstler wird als Bindeglied profiliert, durch welches der Nexus zwischen dem Spiel und der Gerechtigkeit plausibilisiert werden kann. Im Kunstwerk vermählen sich das Bedürfnis des Künstlers und dessen drängende Unbewusstheit mit der höchsten Plastizität und einer gesetzmäßigen Gestaltungskraft. In struktureller Vergleichbarkeit rekurriert das weltenschaffende Kind, „sobald“833, d. h. immer wenn es bauend und spielend seiner jeweiligen Laune folgt, unweigerlich auf nicht erzwingbare und nicht eigens reflektierte Formprinzipien.834 Es wird in diesem Kontext transparent, dass sich Nietzsches Nachlassfragment, welches die Welt als „sich selbst gebärendes Kunstwerk“835 porträtiert, der Auseinandersetzung mit Heraklit und der sich in dieser festigenden, kunstbezogenen Lesart verdankt. Nietzsche führt die von Heraklit gegebene Beschreibung der „vorhandne[n] Welt“836 auf eine ästhetische Betrachtungsweise zurück:

831 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 34f. 832 Vgl. Heidegger, N I, S. 66: „‚Das Phänomen ‚Künstler‘ ist noch am leichtesten durchsichtig.‘ Wir lesen zunächst nicht weiter und bedenken nur diesen Satz. ‚Am leichtesten durchsichtig‘, d. h. uns selbst am zugänglichsten in seinem Wesen, ist das Phänomen ‚Künstler‘– das Künstlersein. An diesem Seienden, nämlich am Künstler, leuchtet uns das Sein am unmittelbarsten und hellsten auf. Warum? Nietzsche sagt es nicht ausdrücklich; doch wir finden den Grund leicht. Künstlersein ist ein Hervorbringen-können. Hervorbringen aber heißt: etwas, das noch nicht ist, ins Sein setzen. In der Hervorbringung wohnen wir gleichsam dem Werden des Seienden bei und können da sein Wesen ungetrübt ersehen. […] Künstlersein ist eine Weise des Lebens.“ 833 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 831. 834 In diesem Sinne zieht Heidegger das Fragment 52 in seiner Vorlesung Der Satz vom Grund (Wintersemester 1955/56) heran, um die nicht auf eine tiefere Legitimation oder eine unwiderruflich zu befolgende Ursachenkette angewiesene Grund-Losigkeit der geheimnisvoll mit sich selbst spielenden Welt zu exemplifizieren. Ob Heideggers Parallelisierung des königlichen Kindes mit dem Seinsgeschick wahrhaft zu überzeugen vermag, möge hier dahingestellt bleiben. Vgl. Heidegger, Der Satz vom Grund, 2. Aufl., Pfullingen 1958, S. 188: „Was sagt Heraklit vom αἰὼν? Das Fragment 52 lautet: αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη. Seinsgeschick, ein Kind ist es, spielend, spielend das Brettspiel; eines Kindes ist das Königtum – d. h. die ἀρχή, das stiftend verwaltende Gründen, das Sein dem Seienden. Das Seinsgeschick: ein Kind, das spielt. Somit gibt es auch große Kinder. Das größte, durch das Sanfte seines Spiels königliche Kind ist jenes Geheimnis des Spiels, in das der Mensch und seine Lebenszeit gebracht, auf das sein Wesen gesetzt wird. Warum spielt das von Heraklit im αἰὼν erblickte große Kind des Weltspieles? Es spielet, weil es spielet. Das ‚Weil‘ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne ‚Warum‘. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste.“ 835 Nietzsche, KSA 12, S. 119. 836 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 832.

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3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens

So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen.837

Erstaunlich ist die erstmalige Erwähnung der Notwendigkeit, die in den Heraklit gewidmeten Kapiteln bislang nicht namentlich838 vermerkt wurde. Aufgrund der ostentativen Bezugnahme auf das Gegensatzpaar von Notwendigkeit und ungebundenfreiem Spiel verlagert sich der Schwerpunkt der Überlegungen. Nietzsche ist im weiteren Verlauf daran interessiert, die Verfassung und das Ethos des in das Weltspiel verschlungenen Menschen zu erörtern. Nietzsche prononciert von Anfang an, dass anthropologische Wesensaussagen für Heraklit nur eine sekundäre Bedeutung besitzen. Weil der Mensch der Notwendigkeit, die in jeder Wiederaufnahme des Spiels automatisch aktiviert wird, „bis in seine letzte Faser hinein“839 unterworfen sei, könne eine imperativische Ethik oder eine Indifferenzfreiheit in Heraklits Philosophie keinen Fuß fassen. Der Grund, weswegen sich dennoch viele Menschen frei dünken und nicht im Einklang mit dem λόγος in die Ἀνάγκη einwilligen, wird von Heraklit physikalisch-physiologisch rekonstruiert. Nietzsche zufolge begreift Heraklit die menschliche Verkennung der notwendigen Ereignissequenz aus dem geringen Feueranteil und der damit korrespondierenden Feuchtigkeit der Seele, die den Intellekt und die Sinne trübe. Nietzsches Heraklit hinterfragt die Legitimität dieser physiologischen Erklärung nicht.840 Dass das Unverständnis, die Insistenz auf Privatmeinungen und die hedonistische Impulsivität der meisten Menschen nicht in einen Widerspruch mit der universalen Gerechtigkeit und regierenden Vernunft geraten oder deren Faktizität gar widerlegen, klärt Nietzsche in seiner frühen Heraklit-Rezeption aus zwei Perspektiven auf: In der

837 Ebd., S. 831. Vgl. den Heraklit-Bezug in Nietzsches späterer Transferierung des Gedankens einer Vereinigung von Notwendigkeit, Widerstreit und Spiel in ein Pathos der ‚tragischen Weisheit‘: Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 312f: „Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die tragische Weisheit, – ich habe vergebens nach Anzeichen davon selbst bei den grossen Griechen der Philosophie, denen der zwei Jahrhunderte vor Sokrates, gesucht. Ein Zweifel bleibt mir zurück bei Heraklit, in dessen Nähe überhaupt mir wärmer, mir wohler zu Muthe wird als irgendwo sonst. Die Bejahung des Vergehens und Vernichtens, das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden, mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ‚Sein‘– darin muss ich unter allen Umständen das mir Verwandteste erkennen, was bisher gedacht worden ist.“ 838 Semantisch und funktionell ist der Gedanke der Notwendigkeit im Heraklit-Abschnitt des Werkes Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen freilich stets präsent, was sich paradigmatisch in Nietzsches Charakterisierungselementen der „unfehlbaren Sicherheiten“ (Nietzsche, KSA 1, S. 822) und in der Betonung der unverbrüchlichen Formen „ewiger Gesetze“ (Ebd., S. 825) widerspiegelt. 839 Ebd., S. 831. 840 Vgl. ebd., S. 831. Hinsichtlich der Valenz dieser physiologischen Herleitungsstrategie von Erkenntnisstufen bilanziert Nietzsche in seiner frühen Heraklit-Rezeption, dass es für Heraklit unwesentlich sei, warum die Seelen der Menschen „naß“ seien und weswegen „ihr Intellekt ein schlechter Zeuge“ (ebd., S. 831) sei. Die naturphilosophischen Fragen „Warum giebt es aber Wasser, warum giebt es Erde?“ seien für Heraklit von größerer Wichtigkeit als die anthropologische Beantwortung der Problematik, warum „die Menschen so dumm und so schlecht seien“ (ebd., S. 832).

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

ideell-metaphysischen Hinsicht stabilisiert sich die Gerechtigkeit unter dem Gesichtspunkt der Zusammengehörigkeit aller Gegensätze, Abstufungen und Unterschiede in der Gestalt einer verborgenen Harmonie. Deren unaufhebbare Wirkungsmacht beweise sich in ihrem höchsten Grad, indem sie sowohl in dem unvernünftigsten als auch in dem kenntnisreichsten und hellsichtigsten Menschen in ungeteilter Weise pulsiere.841 In der physiologischen Rekonstruktionshinsicht respondiert jene Mischung der Anteile des Feuers, des Wassers und der Erde, die aus der „Nothwendigkeit“842 der φύσις deriviert, der Entfaltungsweite der Vernunft im Individuum.843 Wenn das Vernehmen des λόγος an eine nicht beeinflussbare und auch durch umfangreiche Studien nur schwerlich zu revidierende Notwendigkeitsdisposition gebunden ist, wird neben der Möglichkeit einer Begründung von ethischen Handlungsnormen auch die kognitiv-normative Forderung einer erfolgreichen Einsicht in die Enantiodromie obsolet: „Eine Verpflichtung daß er den Logos erkennen müsse, weil er Mensch sei, existirt nicht.“844

Nietzsche unterstreicht ausdrücklich, dass Heraklit den Menschen, von dem er nichts erwartet oder fordert, massiv deprivilegiert. Der Mensch kann inmitten des von der Gerechtigkeit durchzogenen Weltschauspiels keineswegs die Position des Gipfelpunktes beanspruchen, an dem der λόγος zu sich selbst kommt. Gegen jeden Anthropozentrismus beharrt Nietzsches Heraklit darauf, dass das Feuer als „höchste Erscheinung“ 845 der Natur tituliert werden muss. Im Feuer verbinden sich das Spiel von Einem und Vielem, das eschatologische Prinzip und die physikalische ἀρχή. Demgemäß kann das „Gestirn“846 die Natur des Feuers eher repräsentieren als der Mensch.847 Das Spiel avanciert endgültig zum zweiten Schlüsselbegriff neben der Gerechtigkeit, weil es die Dialektik von Einheit und Vielheit aus der Metaphysik atomisierter Qualitäten in das Werden zurückholt und im Verbund mit der Notwendigkeit das Kunstwerk der Welt zeugt. Die notwendige Zuteilung der Elementkonstellation und die Frage nach der temporären Erscheinungsform der Elemente – „warum ist das Feuer nicht immer Feuer, warum ist es jetzt Wasser, jetzt Erde?“848 erläutert und erschließt Nietzsche durch den Verweis auf das Spiel, das in seiner Heraklit-Lektüre 841 842 843 844 845 846 847

Vgl. ebd., S. 832. Ebd., S. 832. Vgl. ebd., 831f. Ebd., S. 832. Ebd., S. 831. Ebd., S. 831. Die ostentative Zurückstufung der menschlichen Relevanz gegenüber dem freien Spiel des Kosmos, des Feuers und der Δίκη kann als durchdringender Grundtenor in Nietzsches früher Heraklit-Interpretation beurteilt werden. Nietzsches im Gewand eines biographisch-philosophischen HeraklitPorträts vorgetragene Kritik am moralisch-teleologisch ausgerichteten Anthropozentrismus kann als relativierendes Moment dienen, um den von Heidegger an Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht adressierten Vorwurf der absoluten Vermenschlichung des Seienden im Ganzen als endgültige Klassifikation der Philosophie Nietzsches zu revozieren. 848 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 832.

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3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens

durchaus als antimetaphysische Chiffre für den Verzicht auf einen fatalen Begründungswillen849 fungiert. Das Motiv des Spiels gestattet nach Nietzsche eine vorurteilslose und anti-instrumentelle Beschreibung des Kosmos, die darauf verzichtet, moralische Maßstäbe und kalkulierte Kausalitäten an das All heranzutragen. Folgerichtig lässt Nietzsche Heraklit triumphierend ausrufen: „[…] es ist ein Spiel, nehmt´s nicht zu pathetisch, und vor Allem nicht moralisch!“850

Die von Heidegger in der ersten Nietzsche-Vorlesung851 eingehend untersuchte Dichotomie zwischen der Kunst auf der einen Seite und der Philosophie und der Moral auf der anderen Seite ist in diesem Diktum aus Nietzsches Frühwerk präfiguriert; auch wenn die Moral noch nicht durch eine intelligible Wirklichkeit fundiert wird.852 Der Vorrang der Kunst zeigt sich nicht nur darin, dass das vorrationale Schaffen und Zerstören, Verwerfen und Wählen, mit dem das Kind die Welt nach Maßgabe innerer Gesetzmäßigkeiten aufbaut und einreißt, im Entstehungsprozess des Kunstwerkes seine Beschreibungsgrundlage findet. Heraklit offenbart sich die „vorhandne Welt“853 als in sich gerechtes Spiel: Sein Gesichtspunkt ist der des Künstlers, für den die Welt zu jedem Zeitpunkt gerechtfertigt ist, weil sich in ihr das „werdende Werk“854 abzeichnet. Es ist wichtig, sich die Grenzen des Vergleichs mit dem Künstler bewusst zu machen: Das „beschauliche Wohlgefallen“855, das Heraklit bei dieser Betrachtung empfindet, ist keines, das sich daran nährt, in dem aktuellen Zustand der Welt die spätere Vollendung, das Durchscheinen des Telos wahrzunehmen. Die durch die Gerechtigkeit geprägte Welt ist stets vollendet, sodass schon die Rede von einem ‚aktuellen Zustand‘ oder einer ‚Vollendung‘ irreführend ist. Dergestalt wird ein progressives Entwicklungsmodell aufgerufen, das Heraklit – und mit ihm Nietzsche – mit der Konzeption des Spiels, das kein ‚Früher‘ oder ‚Später‘, kein ‚Besser‘ oder ‚Schlechter‘ kennt und zulässt, unbedingt vermeiden möchte. Der daraus resultierende Ausschluss jedweder werthaften Qualifizierbarkeit des Geschehens konterkariert auch die Diskreditierung des Weltursprungs als Produkt der Hybris. Die von Heraklit perzipierte und beschriebene, selbstgenügsame Welt wurde weder direkt für die Menschen entworfen noch von einem Gott geschaffen, der angesichts des zu konstatierenden Übels der theologischen Entlastungsargumentation bedürftig wäre. Da die ewige Gerechtigkeit nicht als „Funktion einer weitumherschau849 In diesem metaphysikkritischen und fundierungsskeptischen Aspekt könnte sich eine fruchtbare Nähe zwischen Nietzsches früher Auseinandersetzung mit Heraklit auf der einen Seite und dem Seinsdenken Heideggers auf der anderen Seite abzeichnen. 850 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 832. 851 Vgl. Heidegger, N I, S. 143ff. 852 Die Gültigkeitsbehauptung einer solchen Abgrenzungslinie für die Philosophie Heraklits wäre natürlich anachronistisch, da der geistesgeschichtliche Schritt zu einer Legitimation der Moral durch unverbrüchliche, allein im Medium des Denkens erkennbare Ideen noch nicht im Zeitalter Heraklits, sondern erst bei Platon erfolgte. 853 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 832. 854 Ebd., 832. 855 Ebd., S. 832.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

enden Macht“856 firmiert, die der menschlichen Subjektivität die Aneignung des Seienden beföhle, vollzieht sich eine Entbindung von jeder Güteermittlung und Abschätzung der Welt. Dieses anti-axiologische Befreiungsszenario tendiert trotzdem nicht dazu, die in ihrem intrinsischen Eigenwert aufleuchtende Welt als Reservoir für die menschliche Herrschaft freizugeben. Wenn das Werden sich aufgrund seiner Unschuld jeder Klassifikation entzieht, ist folgerichtig keine Legitimation der Vielheit vonnöten. Umgekehrt signalisiert auch der Nachweis der bestmöglichen Beschaffenheit der Welt ein überambitioniert-überflüssiges Vorhaben, welches das reine und erfüllte Dasein der Dinge verkennt: Heraklit hat ja keinen Grund nachweisen zu müssen (wie ihn Leibniz hatte) daß diese Welt sogar die allerbeste sei, es genügt ihm daß sie das schöne unschuldige Spiel des Aeon ist.857

Damit erreicht Nietzsches Heraklit-Auslegung ihren philosophischen Abschluss. Nietzsche bekräftigt die bereits zu Beginn proponierte Apologie der Heiterkeit und Lebensbejahung gegen die mit dem ewigen Werden assoziierbare Vorstellung der Sinnlosigkeit und der Furchtbarkeit. Nietzsche ruft die pessimistische Heraklit-Lesart an dieser Stelle nochmals auf, um sie als Position der Gegner Heraklits zu illuminieren. Den an die Person Heraklits adressierten Vorwurf der Düsternis und Dunkelheit erschließt Nietzsche aus dem anthropozentrischen Ressentiment jener Antipoden, die eine andere Weltkonzeption favorisieren: Heraklit beschreibt nur die vorhandne Welt und hat an ihr das beschauliche Wohlgefallen, mit dem der Künstler auf sein werdendes Werk schaut. Düster, schwermüthig, thränenreich finster schwarzgallig, pessimistisch und überhaupt hassenswürdig finden ihn nur die, welche mit seiner Naturbeschreibung des Menschen nicht zufrieden zu sein Ursache haben.858

Neben einer Anmerkung zur vermeintlichen Opazität und Rätselhaftigkeit Heraklits, in der Nietzsche emphatisch dessen Luzidität und Klarheit apostrophiert, ist eine rezeptionsgeschichtliche Notiz Nietzsches von Interesse. So wie er Heraklits Philosophie vor einer Vermengung mit einem nicht tragischen, sondern lebensverneinenden Pessimismus schützt, so versucht er sie auch vor einer Identifikation mit dessen Gegenteil, einem seichten und „kruden Optimismus“859, zu verteidigen. Diese nach Nietzsche von der Stoa inaugurierte860 Auslegungstendenz beharrt zwar auf Heraklits Theorem des sich in den Gegensätzen koordinierenden Werdens, das von einer mundanen Gerechtigkeit dirigiert wird. Nietzsche moniert jedoch, dass die stoische Lesart der Hegemonie der Δίκη den emblematischen Spielcharakter einer „aesthetische[n] Grundperception“861 entziehe, indem sie eine „gemeine Rücksicht auf Zweck-

856 857 858 859 860 861

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Vgl. Heidegger, N I, S. 582. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[149]. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 831. Ebd., S. 832. Ebd., S. 833. Vgl. ebd., S. 833. Ebd., S. 833.

3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens

mäßigkeiten der Welt“862 implementiere.863 Diese Teleologie entspricht nach Nietzsche nicht der von Seiten des Weisen erkannten Zusammengehörigkeit von Entzweiung und Einheit. Stattdessen werde der prozessuale Weltverlauf „für die Vortheile des Menschen herabgezogen“.864 Auf diese Weise werde jene anthropologische, den Menschen zum Maßstab und Bewertungszentrum der Dinge erhöhende Sonderstellung restituiert, die Heraklit vehement zu vermeiden suchte. In den abschließenden Ausführungen des achten Abschnitts profiliert Nietzsche Heraklit als hervorstechendes Musterbild eines Philosophen, der mit seiner Lehre Unsterblichkeit erlangt. Heraklit lebt ein Ethos aristokratischer Einsamkeit und elitärer, „königlicher Selbstachtung“.865 Als „Gestirn ohne Atmosphäre“866 hat sich Heraklit in seinem Stolz degoutiert von seinen Mitmenschen abgekapselt, kein „Band des Mitleidens“867 reicht zu ihnen hinüber. Die bekannte Anekdote, die Heraklit beim Würfelspiel mit Kindern schildert, dient als anschauliches Beispiel für die Freilegung des göttlichen Weltspiels in dem lokalen Umkreis des Nächstbegegnenden.868 Die in dem Heraklit-Fragment 101 artikulierte Selbstbesinnung des „Mich selbst suchte und erforschte ich“869 ist nach Nietzsche nicht mit der Bannung der kosmisch ausgreifenden Wahrheit in einen individualistischen Fallibilismus gleichzusetzen. Vielmehr gewinnt 862 Ebd., S. 833. 863 Im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit wird anhand der Philosophie Marc Aurels veranschaulicht, dass der Begriff der Zweckmäßigkeit – anders als Nietzsche es suggeriert – für die Stoa keineswegs mit einem nützlichkeitsorientierten Anthropozentrismus zusammenfällt. In der stoischen Tradition korrespondiert die Zweckmäßigkeit vielmehr der in der All-Natur gründenden Notwendigkeit aller Geschehnisse. Das Handlungsziel der All-Natur kulminiert primär in ihrer Selbsterhaltung und keineswegs in einer Konzentration und Ausrichtung auf die „Vortheile des Menschen“ (vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 833). Im fünften Kapitel soll außerdem gezeigt werden, dass Nietzsches Vorwurf, die Stoiker hätten Heraklit „ins Flache umgedeutet“ (Nietzsche, KSA 1, S. 833) seinerseits als unterkomplexe Beurteilung der stoischen Heraklit-Rezeption dechiffriert werden kann. Vielmehr kommt Marc Aurel Nietzsches heraklitisch-immanenter, mit der Notwendigkeit verflochtener Konzeption der Gerechtigkeit sehr nahe, wie aus der folgenden Aufzeichnung der Selbstbetrachtungen erhellt: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IV. Buch, Nr. 10, S. 42: „Alles, was geschieht, geschieht mit Recht. Wenn du sorgfältig beobachtest, wirst du es so finden; ich sage nicht nur der natürlichen Ordnung, sondern vielmehr der Gerechtigkeit gemäß, und wie von einem Wesen ausgehend, das alles nach Würdigkeit verteilt. Fahre nun fort zu beobachten, wie du begonnen hast, und was du nur tust, das tue mit dem Bestreben, gut zu sein, gut in der eigentlichen Bedeutung des Worts! Das halte fest bei deiner gesamten Tätigkeit.“ 864 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 833. 865 Ebd., S. 834. 866 Ebd., S. 834. Günter Wohlfart betrachtet diese Charakterisierung Heraklits als ‚Gestirn ohne Atmosphäre‘ nicht nur als eine ins Überzeitlich-Ideale gehobene Schilderung des einsam-stolzen Typus des vorbildlichen Philosophen, sondern auch als autosuggestive Phantasieskizze jener Persönlichkeit, die Nietzsche selbst sein wollte. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 214f.: „In Nietzsches Imagination werden Heraklit-Portrait und Selbst-Portrait in eins gebildet; Nietzsches Heraklit nimmt die Züge von Nietzsches Nietzsche an: ‚Von dem Gefühl der Einsamkeit aber, das den Einsiedler des ephesischen Artemis-Tempels durchdrang, kann man nur in der wildesten Gebirgsöde erstarrend etwas ahnen. Kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen und retten zu wollen, strömt von ihm aus: er ist ein Gestirn ohne Atmosphäre.‘“ 867 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 834. 868 Vgl. ebd., S. 834. 869 Vgl. ebd., S. 835. Vgl. Heraklit, DK 22 B 101, S. 260: ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν.

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

Heraklit mit seiner Selbsterforschungsintention den Zugang zu jenem Ort, an dem sich die Manifestation der Gerechtigkeit unmittelbar ablesen lässt. Mit seiner auf sich selbst zurückgezogenen, einsamen Beratung betont Heraklit die grundstürzende Novität und Aura seiner Lehre, die sich von tradierten Autoritäten, Meinungen und Konventionen emanzipiert: Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn, unmittelbar an die Feste seines Stolzes, schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit: mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mit fühlender Brust weichen einer solchen wie aus Erz gegossenen Larve aus; in einem abgelegnen Heiligthum, unter Götterbildern, neben kalter ruhig-erhabener Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen.870

Wie Nietzsche überzeugend plausibilisieren konnte, folgt Heraklit Anaximander zwar in der Substitution physikalischer Ursprungserörterungen zugunsten einer ethischen Gesamtbetrachtung der Welt. Deren nihilistische Prägung kehrt er jedoch unter der Signatur der Gerechtigkeit in eine sowohl kontemplativ wie schaffend erfahrene Interaktion mit dem Weltspiel um.871 Dabei vereinigen sich die beiden Auslegungsrichtungen, sodass sich das ‚Ich‘ und die ‚Welt‘ versöhnen: Indem der „ephesische Einsiedler des Artemistempels“872 sich als ‚großer Einzelner‘ selbst regiert, vermag er das ungezwungene Regiment zu entdecken, das den Kosmos durchwaltet. Weil umgekehrt das globale Sich-selbst-Schaffen der Welt in Heraklit hervortritt und sich personalisiert, kann er den λόγος im Ganzen wiedererkennen. Dergestalt streift Heraklit seine Individualität im Sinne eines Nexus persönlich eingefärbter Anschauungen ab. Der Nachruhm und die Anerkennung der Sterblichen, die in die Gesetzmäßigkeit von Entstehen und Vergehen eingebunden sind und die Interdependenz der Gegensätze nicht durchschauen, bedeuten ihm nichts. Nietzsches Heraklit weiß, dass die Welt ihn als Verkünder der Wahrheit benötigt, ohne dass er selbst auf sie angewiesen ist: Denn die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit; obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht ihn sein Ruhm an? Der Ruhm bei ‚immer fort fließenden Sterblichen‘!, wie er höhnisch ausruft. Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn, die Unsterblichkeit der Menschheit braucht ihn, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit.873 870 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 834. 871 In gewisser Weise ist in dieser von Nietzsche skizzierten, philosophiegeschichtlichen Inversion der soteriologisch aufgeladenen Frage nach der Entstehung des Werdens hin zur intuitiven, aus dem Geiste der Gerechtigkeit vollzogenen Gutheißung alles Geschehenden Nietzsches eigene Gedankenentwicklung in ihrem Übergang von Anaximander und Schopenhauer hin zu Heraklit und Spinoza präfiguriert. 872 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 834. 873 Ebd., S. 835. Auch Günter Wohlfart konstatiert, dass weder eindeutig beantwortet werden könne, worin die genuine ‚Wahrheit‘ Heraklits für den frühen Nietzsche des Werkes Die Philosophie im tragischen Zeitalter bestehe; noch abschließend zu bestimmen sei, welche ‚Wahrheit‘ seiner Philosophie Heraklit selbst ursprünglich verkündet habe. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 217: „Und was war die Heraklitische ‚Wahrheit‘, möchte man mit Nietzsche fragen. Wie verhält sich Heraklits ‚Wahrheit‘– bzw. das, was wir als solche ansehen – zu dem, was Nietzsche als ‚Heraklits Wahrheit‘ ansah, und inwieweit ist in diese Ansicht Nietzsches von ‚Heraklits Wahrheit‘ Nietzsches ‚Wahrheit‘ eingeblendet? Handelt es sich bei dem Verhältnis Nietzsches zu Heraklit um eine wirkliche geistige Wahlverwandtschaft, die Nietzsche nach dem Motto: ‚Gleiches durch Gleiches!‘ Heraklit erkennen

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3.3. Die Kosmodicee des Weltspiels und die Hybris des Werdens

Indes ist abschließend zu diskutieren, ob sich die von Heraklit entdeckte Wahrheit aufgrund ihrer inhaltlichen Beschaffenheit nicht selbst aufhebt. In diesem Zusammenhang wird eine von Nietzsche in seiner frühen Heraklit-Rezeption nicht eigens thematisierte Frage virulent, die später in seiner eigenen Wahrheitstheorie aufkeimt: Wie oben ausführlich demonstriert, ist das Werden nach Heraklit einem Gesetz und einem dirigierenden Maß unterworfen, das es in klaren Formen erscheinen lässt. Darüber hinaus gewährt das Werden keine Beständigkeit. Wie kann unter diesen Voraussetzungen eine ewige Gültigkeit beanspruchende Wahrheit promulgiert werden, die als Wahrheit des Werdens nicht selbst in den Sog der Veränderung gerissen wird und in das verschlungen ist, was sie als einzige Wirklichkeit behauptet? Diese von Nietzsche nicht direkt kommentierte Problematik schält sich besonders in der Konfrontation zwischen der zeitlichen Fluidität der zerrinnenden Augenblickshaftigkeit und der überzeitlich-unhistorischen Wahrheit der Grundgesetze des Flusses heraus: Seine [des Philosophen, J.K.] Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andre; und doch kann Niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen – weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weit ausgebreiteten Fittigen aller Zeiten; denn die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt im Wesen der großen philosophischen Natur. Er hat die Wahrheit: mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehn können.874

Um die scheinbare Widersprüchlichkeit der heraklitischen Wahrheitsthese erklären und auflösen zu können, ist zum einen zu akzentuieren, dass Heraklit keine transzendente oder auktoriale Metaebene für sich vindiziert. In seinem Vernehmen der sich in den Widersprüchen entfaltenden Vernunft erfährt und versteht er sich explizit als Teilnehmer im Weltspiel, wobei er sich von dogmatischen Vorgaben und von privaten Vorstellungen distanziert. Zum zweiten honoriert Heraklit die Offenheit und Varianz des Werdens innerhalb der richtenden Gesetzmäßigkeiten, die jene Wesenszüge der Veränderlichkeit gerade durch die rhythmische Dissoziation und Vereinigung der und vieles in ihm finden läßt, oder handelt es sich um eine bloße Erfindung Heraklits durch Nietzsche, ist die Verwandtschaft beider nur eine Nietzschesche Fiktion? Ist Heraklit ein wirklicher Vorläufer Nietzsches oder läßt ihn erst Nietzsches Rückprojektion eigener Philosopheme auf Heraklit als solchen erscheinen?“ In einem fortgeschrittenen Stadium seiner exzellenten Studie offeriert Wohlfart dennoch eine profunde Antwort auf die gestellte Frage. Die von Nietzsche emphatisch gepriesene ‚Wahrheit‘ Heraklits entdeckt Wohlfart in jener artistisch-ästhetischen Welterfassung, die der frühe Nietzsche als Zentrum der heraklitischen Philosophie markiert. Vgl. ebd., S. 268f.: „Daß sich in Nietzsches ‚Zukunftsphilosophie‘ die disiecta membra des Ephesiers zu neuer Gestalt – etwa zu der des Nietzscheschen Anti-Zoroaster – vereinigten und das ideale Portrait des Philosophenkopfes jenes Alten schon früh die Züge eines idealisierten Selbst-Portraits Nietzsches annahm, ist schwerlich in Abrede zu stellen. Eine buchstabengetreue Heraklit-Rezeption geriet bei Nietzsche schon früh zugunsten produktiver geistiger Aneignung in Mißkredit. Das Heraklit-Buchstabieren war nicht seine Sache. Das Interesse des Altphilologen Nietzsche war kein altphilologisches. Ihm kam es weniger auf Richtigkeit dieser oder jener Lesart an als auf die ‚Wahrheit‘ Heraklits. Nietzsches Wahrheit Heraklits ist untrennbar verbunden mit dem, was Nietzsche die ‚ästhetische Weltbetrachtung‘ Heraklits nannte. Diese ästhetische bzw. artistische Heraklit-Deutung Nietzsches ist ein Verdienst seiner Heraklit-Rezeption. […] Das Verdienst von Nietzsches ästhetischer Heraklit-Deutung liegt nicht eigentlich darin, daß wir dadurch Heraklit besser zu deuten gelernt hätten, sondern vielmehr darin, daß sie uns lehren kann, ästhetische Phänomene unserer Zeit besser zu deuten.“ 874 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 833f. [von mir kursiv, J.K.]

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3. Die kosmische Δίκη in Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen

Kräfte zu erhalten suchen. So lässt die Gerechtigkeit des Spiels viele Auslegungen, Stabilisierungsansätze und Verfälschungen zu. Entscheidend ist jedoch, dass das Weltspiel stets und unausweichlich die offene Grundlage für die Ausprägung aller potenziellen, menschlichen Interpretationen bildet. Die Notwendigkeit wiederum garantiert einen wiederkehrenden Takt innerhalb des Naturgeschehens, der als „Gesetz im Werden“875 die φύσις verborgen durchherrscht. Ähnlich wie es Nietzsche später in der Exposition der Lehre der ewigen Wiederkehr illustrieren wird, so besitzt auch die überdauernde Wahrheit des Werdens einen zeitlich datierbaren Ursprung ihrer Entdeckung. Gleichwohl vermag die historisierbare Tatsache der ersten Niederschrift einer Wahrheit ihre Allgemeingültigkeit und ihre prospektive Wirkungseminenz nicht zu konterkarieren. Den Ewigkeitsgehalt der Wahrheit des gesetzmäßigen Werdens unterstreicht Nietzsche mit Nachdruck, wenn er zum Ende seiner Auseinandersetzung mit Heraklit und in der Überleitung zu Parmenides´ Philosophie hinsichtlich der heraklitischen Lösung des Welträtsels schreibt: Das, was er [Heraklit, J.K.] schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Nothwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen.876

875 Ebd., S. 835. 876 Ebd., S. 835.

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten 4.1. Einführung und Leitthesen Rasch ist des Rechtes Verlauf, wohin es auch käufliche Männer Zerren und schleppen, indem unehrlich sie fällen das Urteil. Dike durchwandelt mit Klagen die Stadt und die Sitze der Menschen, Dicht von Nebel umhüllt, das Verderben den Menschen zu bringen, Welche verdrängt sie hatten und nicht nach Gebühr sie verteilten. Die dagegen den Fremden sowie den Einheimischen geben Ehrlichen Spruch und nie abweichen von dem, was Gesetz ist, Denen gedeihet die Stadt, und es blühen darin die Bewohner.877

In diesem Kapitel soll der Gehalt derjenigen Fragmente Heraklits, in denen die Δίκη explizit erwähnt und charakterisiert wird, mit den anderen Leittiteln Heraklits – dem λόγος, dem Feuer und dem Kosmos – zusammengedacht werden. Dabei sollen gliedernde Zwischenüberschriften die Abfolge der Argumentationsschritte veranschaulichen. In dem Versuch, die wesentlichen Grundworte Heraklits zu verknüpfen und sie in ihrer Zusammengehörigkeit sichtbar zu machen, weiß sich die folgende Exposition durchaus in einer wesentlichen Nähe zu den Intentionen der heideggerschen HeraklitDeutung. Darüber hinaus soll in diesem Kapitel auch ein Verwandtschaftsbezug zu Nietzsches Entschlüsselung der Δίκη als kosmischer Elementarkraft angestrebt werden. Dementsprechend sollen die von Heraklit ausdifferenzierten Ausstrahlungsbereiche der Δίκη entfaltet und die Beschaffenheit ihrer Einheitsfügung analysiert werden. Damit soll einer Lesart vorgebeugt werden, welche die Δίκη als eine primitive Vorform der politischen Gerechtigkeit desavouiert, die mythologischen Vorstellungen verhaftet bleibe. Die thematischen Präferenzen und Erkenntnisziele dieses Kapitels werden anhand der folgenden Fragmente (nummeriert nach der Zählung von Diels) entwickelt und dokumentiert: 1, 2, 11, 23, 28, 30,33, 41, 44, 51, 52, 53, 54, 66, 80, 94, 102 und 114. Heraklit, der den Beinamen „der Dunkle“ (ὁ Σκοτεινός) erhielt, stammt aus der kleinasiatischen Stadt Ephesus und wurde wahrscheinlich um 520 v. Chr. geboren. Er starb etwa 460 v. Chr. in Ephesus. Es ist in der Forschung nach wie vor umstritten, ob und in welcher Weise er Kenntnis von der milesischen Naturphilosophie nahm. Hingegen muss gegenüber verbreiteten Forschungstendenzen eindeutig dafür plädiert werden, dass er seine Philosophie vor Parmenides gestaltete. Heraklit kritisiert Pythagoras, Homer und Hesiod in aller Schärfe. Er wendet sich jedoch nie gegen die typisch-eleatische Behauptung eines statischen Seins. Stattdessen richtet er das Haupt877 Hesiod, Werke und Tage, Griechisch/deutsch, Ditzingen 1995, V. 220–227.

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

augenmerk seiner Polemik stets gegen das Nichtdurchschauen der gegensätzlichen Verfasstheit alles Seienden: οὐ ξυνιᾶσιν, ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῶι ὁμολογέει. Sie verstehen nicht, wie Sichabsonderndes sich selbst beipflichtet.878

Umgekehrt gilt für Parmenides, dass der Eleate – in der beiden Denkern eignenden Haltung des unverbrüchlichen Wahrheitsanspruches und des souveränen Stolzes879 – die von Heraklit apostrophierte Gleichzeitigkeit des Zusammengehens und Auseinanderweisens der Gegensätze im sechsten Fragment zitiert und diese Auffassung kompromisslos zurückweist: χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ' ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ' οὐκ ἔστιν· τά σ' ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα. πρώτης γάρ σ' ἀφ' ὁδοῦ ταύτης διζήσιος , αὐτὰρ ἔπειτ' ἀπὸ τῆς, ἣν δὴ βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν πλάττονται, δίκρανοι· ἀμηχανίη γὰρ ἐν αὐτῶν στήθεσιν ἰθύνει πλακτὸν νόον· οἱ δὲ φοροῦνται κωφοὶ ὁμῶς τυφλοί τε, τεθηπότες, ἄκριτα φῦλα, οἷς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται κοὐ ταὐτόν, πάντων δὲ παλίντροπός ἐστι κέλευθος. Man soll es aussagen und erkennen, dass es Seiendes ist; denn es ist [nun einmal der Fall], dass es ist, nicht aber, dass es Nichts ist; ich fordere dich auf, dies gelten zu lassen. Denn der erste Weg der Untersuchung, von dem ich dich zurückhalte, ist jener. Ich halte dich aber auch zurück von dem Weg, den die nichtswissenden Menschen sich bilden, die Doppelköpfigen. Denn Machtlosigkeit lenkt in ihrer Brust den irrenden Verstand; sie treiben dahin, gleichermaßen taub wie blind, verblüfft, Völkerschaften, die nicht zu urteilen verstehen, denen das Sein und das Nichtsein als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe gilt und für die es eine Bahn gibt, auf der alles in sein Gegenteil umschlägt.880

Es lässt sich nicht leugnen, dass Parmenides mit der Nennung der Bahn, „auf der alles in sein Gegenteil umschlägt“, ostentativ auf das Proprium der Philosophie Heraklits anspielt. Zudem wirft er Heraklit die Verletzung des Satzes vom Widerspruch vor, insofern in dem permanenten Umschlagen der Gegensätze das Sein und das Nichtsein nicht dasselbe und zugleich dasselbe sein sollen.881

878 Heraklit, DK 22 B 51, S. 265. 879 Die biographischen, charakterlichen und philosophischen Parallelen zwischen Parmenides und Heraklit werden von Karl Jaspers meisterhaft porträtiert. Vgl. Jaspers, Die grossen Philosophen I, S. 653f.: „Sie [Heraklit und Parmenides, J.K.] wußten ihr eigenes Wesen als Sprache des Seins. Durch ihren Mund sprach die Wahrheit selber, eingegeben von der Göttin (im Bilde des Parmenides), eingeatmet von der alldurchdringenden Weltvernunft (in der Vorstellung Heraklits). Sie sahen den unüberbrückbaren Abstand zwischen ihrer Einsicht in den Grund der Dinge und der gewohnten Denkungsart aller anderen Menschen. Daher setzten sie sich in eine Distanz zu den Menschen, die, trotz des beschwörenden Wirkungswillens in ihren Schriften, sie die Kommunikation zu allen anderen abbrechen ließ. Sie verlangten Gehorsam, nicht Freundschaft. Sie verwirklichten die Lebensform des einsamen aristokratischen Denkers, steigerten den Sinn ihrer adligen Herkunft in einer aristokratischen Welt durch den neuen Anspruch ihrer geistigen Überlegenheit.“ 880 Parmenides, DK 28 B 6, S. 324. 881 Zur Rivalität zwischen Heraklit und Parmenides und zum ‚doppelten Anfang‘ der abendländischen Philosophie vgl. Margot Fleischer, Anfänge europäischen Philosophierens, S. 115ff.

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4.1. Einführung und Leitthesen

Im Rahmen dieses Kapitels sollen im Wesentlichen vier Thesen vertreten und belegt werden: Erstens soll nochmals unterstrichen werden, dass die Gerechtigkeit bei Heraklit die Stellung des Weltprinzips einnimmt, das nicht als metaphysische Substanz zu privilegieren ist. Die Gerechtigkeit kann als Beschreibungstitel eines immerwährenden Geschehens verstanden werden. Daher kann sie nicht von der Immanenz des Werdens abgehoben werden. Die Gerechtigkeit, so ist zu zeigen, versinnbildlicht die Koordinationsform der Enantiodromie. In dieser Funktion repräsentiert die Gerechtigkeit den wiederkehrenden und doch niemals stillstehenden Rhythmus der Welt. Sie ist die in den Anschein hineingereichte Sichtbarwerdung des Weltgesetzes. Einen ähnlichen Deutungspfad beschreitet auch Bertrand Russell, wenn er die erstaunliche These wagt, Heraklits Gott sei „zweifellos als Verkörperung der kosmischen Δίκη“882 aufzufassen. Zweitens ist die Δίκη als Mittelbegriff transparent zu machen, in dem die Segmente des Ritus, der Politik, des Religiösen und die Kosmologie vereinigt sind. Drittens soll die Δίκη als höchste Gattung der besänftigenden, die Gegensätze vereinigenden Erkenntnis exponiert werden. Es soll bekräftigt werden, dass allein der Gott und der auf den λόγος hörende Weise imstande sind, sich in der Kultivierung dieser außergewöhnlichen Erkenntnisart zum Weltganzen zu verhalten. Aus dieser allumfassenden Betrachtungshöhe beurteilt, kann die ewige Ordnung in ihrer Unabänderlichkeit als gerecht und wünschenswert empfunden werden. Viertens soll demonstriert werden, dass Heraklit die Gerechtigkeit nicht aus einer Idealvorstellung der politischen Verfahrungsweise gewinnt. Heraklit verfolgt den umgekehrten Ableitungsweg, indem er die Allgemeinheit und faktische Stabilität des Gesetzes aus der angemessenen Einsicht und Befolgung der Klarheit des widerwendigen λόγος erschließt. Indes stellt sich auch hier die bereits von Nietzsche aufgeworfene Frage, ob es im Hinblick auf eine kosmische Weltgesetzlichkeit Formen der Ungerechtigkeit, moralische Phänomene und werthafte Hierarchien geben kann. Wenn auch der Gegenwurf, der Widerstand und die Auflehnung zum Kosmos gehören, ist jedes Geschehen prinzipiell gerechtfertigt, da die darin zum Austrag kommende Gerechtigkeit dem Spiel des Brettsteine verrückenden Kindes entspricht. Läuft die Einsicht in eine unbeeinflussbare Gerechtigkeit, die alles durchherrscht, auf einen Fatalismus hinaus? Um diese Frage zu beantworten, soll dafür votiert werden, dass in der Δίκη eine normative Komponente insofern mitschwingt, als die Orientierung an einem Geschehen, das Widersprüche aufrechterhält, sie befördert und zusammenbringt, keine Insistenz auf 882 Um Bertrand Russells Dekodierung der kosmischen Gerechtigkeit als Chiffre des Gottes und die Privilegierung zum Haupttitel des heraklitischen Denkens zu veranschaulichen, seien an diesem Ort zwei Zitate angeführt. Vgl. Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung, Frankfurt a. M. 1950, S. 54: „In Heraklits Metaphysik herrscht wie bei Anaximander ein Begriff der kosmischen Gerechtigkeit vor; sie verhindert es, dass jemals einer der Gegensätze im Kampf den vollen Sieg davonträgt.“ Vgl. ebd., S. 55: „Heraklit spricht wiederholt von ‚Gott‘ zum Unterschied von ‚den Göttern‘. […] Gott ist zweifellos die Verkörperung kosmischer Gerechtigkeit.“

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

privaten Einsichten gewährt. Illegitim sind in Heraklits Konzeption allein jene dogmatischen Verfestigungen, die das Spiel der Widersprüche zu bändigen und aufzulösen suchen, die jeweils entgegengesetzte Qualität tilgen wollen oder einem der Relate ein Übergewicht verleihen. Wenn sich die Gerechtigkeit tatsächlich als Verfasstheit des Kosmos kundgibt und etabliert, wird eine ernsthafte Verhältnisklärung der Δίκη im Hinblick auf die anderen Haupttitel des heraklitischen Denkens unausweichlich. In diesem Kapitel wird für die Ansicht optiert, dass Heraklit ein Geflecht oberster Begriffe wählt, die jeweils die gleiche Grundgesetzmäßigkeit des Auseinandergehens und der Zusammenfügung in verschiedenen Seinsbezirken ausdrücken und beleuchten sollen. Somit opponieren den scheinbar rein kosmologischen Termini des Feuers und des Blitzes weder die Abstrakta (λόγος) noch die Faktoren einer vermeintlich politischen Semantik (Δίκη und Streit). Vielmehr wird das Eine und Ganze in all denjenigen Bereichen nachgewiesen, die erst menschliche Trennung in divergierende Sphären aufspaltete. Die im λόγος hinterlegte Wesensgleichheit von Gerechtigkeit, φύσις, Feuer, Kosmos, Blitz und Streit (Ἔρις/Πόλεμος) kann anhand einiger Fragmente dokumentiert werden. Nichtsdestotrotz lässt sich diese Kernverwandtschaft niemals nach Maßgabe einer schlichten Identifikation interpretieren. Angesichts dieser Sachlage ist es unumgänglich, die mit den einzelnen Grundworten verknüpften Verhaltensarten, Wirkungsfelder und Attribute zu konkretisieren, um Parallelen aufzuspüren. Wenn der Nachweis gelingt, dass Heraklit die Gerechtigkeit, das Feuer und den Streit in einen gemeinsamen begrifflichen Kontext rückt, ist der Schlüssel für das Verständnis der Gerechtigkeit gewonnen. Selbstverständlich hat jede Heraklit-Deutung mit der Problematik der sachgerechten Auswahl und der jeweiligen Gewichtung der Fragmente zu kämpfen und ist daher von vornherein dem Einwand der Überinterpretation und Interpolation ausgesetzt. Um die Gefahr der Rückübertragung eigener Gedanken möglichst gering zu halten, sollen besonders diejenigen Fragmente des Heraklit besprochen werden, in denen die Δίκη namentlich oder zumindest thematisch erwähnt wird. Aufgrund der unverzichtbaren Kontextualisierung werden unweigerlich auch Fragmente zitiert werden müssen, die bereits in dem Kapitel zu Heideggers Heraklit-Lektüre herangezogen wurden. In diesem Kapitel sollen sie im Horizont der Δίκη analysiert werden, wohingegen sie von Heidegger unter der Signatur der φύσις betrachtet werden.

4.2. Der λόγος und die Natur der Gegensätze Nietzsches Auffassung, dass die kosmogonische Frage bei Heraklit in den Hintergrund tritt, kann durchaus beigepflichtet werden. Obschon Anaximander die mythische Vorstellung einer Theogonie und die Möglichkeit einer demiurgischen Schöpfung abgelehnt hatte, geriet er in das Dilemma, die Individuation der Lebewesen nicht einwandfrei mit dem ἄπειρον vermitteln zu können. Deswegen musste er die Verzeitlichung der Dinge und die Vielfalt des Werdens mit einer Art Abfallstheorem erklären. Wie im Kapitel zu Nietzsches Werk Die Philosophie im tragischen Zeitalter 204

4.2. Der λόγος und die Natur der Gegensätze

der Griechen validiert werden konnte, existiert für Heraklit keine ursprüngliche, transzendent-abstrakte oder räumlich unbeschränkte Einheit, aus der sich die Myriaden der seienden Dinge entwickeln. Einheit und Vielheit gehören aufgrund der Verschränkung und Interdependenz der Gegensätze immer schon zusammen. Die Attraktion und Repulsion des Widersprüchlichen wirkt sich im Einzelnen und im Ganzen gleichermaßen aus. Vor diesem Hintergrund kann das Fragment 30 nochmals gelesen werden: κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ' ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα. Die gegebene schöne Ordnung [Kosmos] aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach [denselben] Maßen erlöschend.883

Das ewig lebendige Feuer mitsamt seiner periodischen Entflammungsbewegung und deren Rückgang wird von Heraklit zwar als das primäre Element hervorgehoben. Wenn das Feuer die Bewegungsform des Kosmos in all seinen Filiationen illustriert, kann es jedoch nicht ausschließlich physikalisch-stofflich verstanden werden. Die Periodik von Sättigung und Erlöschen mündet niemals in eine Stagnation ein, weil sie in ihrer Unerschöpflichkeit die Alteration des in mannigfaltigen Kraftkonstellationen organisierten Weltganzen veranlasst. Das Gefüge der Abwechslung, Anreicherung, Auflösung und das Wiederanbranden von Gegensätzen betrifft alle Ebenen des Lebens.884 Daher ist das allgemeingültige und permanente Vorgangsszenario prinzipiell der menschlichen Erkenntnis zugänglich, wie Heraklit bereits am Anfang seiner verschollenen Schrift im Fragment 1 exponiert: τοῦ δὲ λόγου τοῦδ' ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων, ὅκως ἔχει. τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει, ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται. Gegenüber der hier gegebenen, unabänderlich gültigen Auslegung [Logos] erweisen sich die Menschen als verständnislos, sowohl bevor als auch wenn sie sie einmal gehört haben. Denn obwohl alles in Übereinstimmung mit der hier gegebenen Auslegung geschieht, gleichen sie Unerfahrenen, sobald sie sich überhaupt an solchen Aussagen und Tatsachen versuchen, wie ich sie darlege, indem ich jedes Einzelne seiner Natur gemäß zerlege und erkläre, wie es sich damit verhält. Den anderen Menschen aber entgeht, was sie im Wachen tun, genau wie das, was sie im Schlaf vergessen.885

Die den λόγος charakterisierenden Gegensätze können nur aufrechterhalten und in die notwendige Konfrontation mit dem jeweils Anderen gesteuert werden, wenn eine 883 Heraklit, DK 22 B 30, S. 269. 884 Vgl. Heraklit, DK 22 B 10, S. 263: συνάψιες· ὅλα καὶ οὐχ ὅλα, συμφερόμενον διαφερόμενον, συνᾷδον διᾷδον, καὶ ἐκ πάντων ἓν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα. „Verbindungen: Ganzheiten und keine Ganzheiten, Zusammentretendes – Sichabsonderndes, Zusammenklingendes – Auseinanderklingendes; somit aus allem eins wie aus einem alles.“ 885 Heraklit, DK 22 B 1, S. 249. Zur ausführlichen Deutung des ersten Heraklit-Fragments vgl. Geyer, Die Vorsokratiker zur Einführung, S. 71–76.

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

Einheit waltet. Angesichts ihrer Zusammengehörigkeit in dem Einen können die Pole nicht kontradiktorisch verschieden sind. Stattdessen muss jedem als mikrokosmische Einheit betrachteten Relat seinerseits die stets zweiseitige Selbigkeit inhärieren, sodass es seinen Gegensatz in sich selbst verwahrt. Auf der einen Seite wird die Einheit von den Gegensätzen ermöglicht. Auf der anderen Seite gehen die Gegensätze zugleich aus der Einheit hervor. Heraklits entscheidende Pointe lautet, dass die Gegensätze niemals indifferent in der Einheit zusammenfallen dürfen, weil dergestalt auch und gerade die Einheit aufgelöst würde, die sich einzig in der dynamischen Bogenspannung zu konsolidieren vermag: τὸ ἀντίξουν συµφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρµονίαν καὶ πάντα κατ' ἔριν γίνεσθαι. Das Widerstreitende zusammentretend und aus dem Sichabsondernden die schönste Harmonie.886

Die Reziprozität, Gleichursprünglichkeit und Ebenbürtigkeit von Einheit und Gegensatz wird besonders in Heraklits Kritik an Homer und an Hesiod transparent. So wendet sich Heraklit gegen Homer, weil dieser den Urgegensatz zwischen den Göttern und den Menschen zugunsten einer Priorität der Harmonie zu versöhnen trachtete: Heraklit verübelt es [Homer], dass er schrieb: ‚Schwände doch jeglicher Zwiespalt unter Göttern und Menschen.‘887

Hesiod wird von Heraklit kritisiert, weil er – gewissermaßen die Gegenposition zu Homer beschreibend – nicht in die Tiefe der inneren Kohäsionskraft der Gegensätze sieht und ihre wechselseitige Ermöglichung verkennt. Deswegen achtet Hesiod – wie die meisten Menschen, die von ihm lernten oder unbewusst in diesem Gedankenkreis stehen – nach Heraklit allein auf die vermeintliche Unvereinbarkeit und Entzweiung der Gegensätze: διδάσκαλος δὲ πλείστων Ἡσίοδος· τοῦτον ἐπίστανται πλεῖστα εἰδέναι, ὅστις ἡµέρην καὶ εὐφρόνην οὐκ ἐγίνωσκεν· ἔστι γὰρ ἕν. Lehrer der meisten ist Hesiod; sie sind überzeugt, jener wisse das meiste, der Tag und Nacht nicht kannte: Die sind ja doch eins!888

Heraklit hingegen ist überzeugt, dass das Eine und Alles sowohl die Einheit von TagNacht als auch ihre Trennung ist: ὁ θεὸς ἡµέρη εὐφρόνη, χειµὼν θέρος, πόλεµος εἰρήνη, κόρος λιµός (τἀναντία ἅπαντα· οὗτος ὁ νοῦς), ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ (πῦρ), ὁπόταν συµµιγῇ θυώµασιν ὀνοµάζεται καθ΄ ἡδονὴν ἑκάστου. Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger; er wandelt sich, genau wie Feuer, wenn es sich mit Duftstoffen verbindet, nach dem angenehmen Eindruck eines jeden [der Dufstoffe] benannt wird.889

886 887 888 889

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Heraklit, DK 22 B 8, S. 265. Heraklit, DK 22 A 22, S. 253. Heraklit, DK 22 B 57, S. 255. Heraklit, DK 22 B 67, S. 263.

4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer

Diese epochale Einsicht bezeichnet Heraklit stolz und triumphierend als die Auslegung, den λόγος, das Walten der Welt.

4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer Für die Bedeutungsübereinkunft der Gerechtigkeit mit dem Streit ist das Fragment 80 von grundlegender Relevanz: εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ' ἔριν καὶ χρεών. Es gehört sich, dass man weiß, dass der Krieg etwas Allgemeines ist und Recht Zwiespalt und dass alles geschieht in Übereinstimmung mit Zwiespalt und so auch verwendet wird.890 890 Heraklit, DK 22 B 80, S. 265. In diesem sachlichen Kontext verdient Klaus Helds Kommentar zum Heraklit-Fragment Nr. 80 eine explizite Berücksichtigung, weil Held das für Heideggers Anaximander-Interpretation von 1946 unschätzbar wichtige Signalwort χρεών (mit dem auch Heraklits Fragment 80 endet) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rückt. Durchaus mit Heideggers philosophischem Anliegen im Aufsatz Der Spruch des Anaximander vergleichbar, deutet Held das χρεών als irreversible Notwendigkeit einer zeitlichen Bemessung der Weileaktualität. Da jede vorprädikativlebensweltliche Ansicht dieser Regelmäßigkeit des Umlaufs unterstellt ist und dennoch auf der Beständigkeit ihres Eigenrechts insistiert, muss sie – darin überschneidet sich Helds Interpretation des Fragmentes 80 mit Heideggers Auslegung des Fuges im Originalspruch des Anaximander – den anderen Gestalten der Ansicht unweigerlich das Recht einer endlichen Weile konzedieren und sich selbst in konturierten Grenzen befestigen. Vgl. hierzu Held, Heraklit, S. 296f.: „Zu wissen tut not, daß der Krieg gemeinsam ist und Recht Streit und daß Jegliches geschieht gemäß Streit und so wie es sich gehört. ‚Mit ‚so wie es sich gehört‘ ist hier kata…chreon übersetzt, das meist entweder mit ‚gemäß der Schuldigkeit‘ oder mit ‚gemäß der Notwendigkeit‘ wiedergegeben wird. Was besagt kata chreon? Es gehört in den Zusammenhang des letzten Teils des Spruches. Dieser Schlußteil macht zunächst die Aussage: ‚Alles geschieht gemäß dem Streit.‘ ‚Alles‘ bezeichnet, wie früher dargelegt, alle Ansichten, und d. h. […] alles Sich-Zeigende im situationsbedingten Wie seines Vernommenseins. ‚Streit‘ in diesem Teil des Spruches besagt, entsprechend dem ebenfalls bereits geklärten Doppelsinn des Wortes bei Heraklit, nicht die eine der beiden einseitigen Ansichten von der Identität, zwischen denen der Vollzug des Ansichtenhabens beständig schwankt, sondern die Identität als Identität. […] ‚Alles geschieht gemäß dem Streit‘ besagt: das ‚Geschehen‘ der Ansichten, und das kann nur heißen: ihr Auftreten in Form der Jeweiligkeit, ist durch die Identität als Identität geregelt. Welcher Art diese Regelung ist, wird durch das erläuternde kai (kata) chreon (kai im Sinne von ‚und zwar‘) ausgesprochen: Die Regelung durch die Identität von Recht und Streit schlägt sich in einer gewissen Notwendigkeit (daher das relative Recht dieser Übersetzung) nieder, die die zeitliche Folge der Ansichten beherrscht: Diese Notwendigkeit ist die eben festgestellte Hin- und Rückläufigkeit des Umschlagens der Zustände, d. h. der vorprädikativen Gestalten von Ansicht ineinander. Durch die Wechselseitigkeit des Umschlagens ist für jeglichen Ansichtsvollzug einerseits gewährleistet, daß die Ansichten einander ihre Weile (ihr Recht) einräumen, anders gesagt, daß sie einander das überlassen, was sie sich gegenseitig schuldig sind (daher das relative Recht der Übersetzung ‚gemäß der Schuldigkeit‘), andererseits, daß sie sich gegenseitig im Streite der Selbstbehauptung in ihre Grenzen einweisen. Auf diese Weise geschieht jeglicher Ansichtsvollzug ‚so wie es sich gehört‘.“ In der Fortsetzung seines stringenten Gedankenganges apostrophiert Held, dass die von Heraklit geschilderte Notwendigkeit des Streits nicht als numinos-mythische Entität verstanden werden darf. χρεών ist nach Held als Ausdruck der immanenten Prozessualität zu definieren, die sich im temporal koordinierten Wechsel der aufeinander referierenden Ansichten aufbaut und spiegelt. Zudem ist es angesichts der in der vorliegenden Arbeit diskutierten Autorenauswahl von fundamentalem Interesse, dass Held einen möglichen Einfluss der von Anaximander und Heraklit thematisierten Notwendig-

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

Der Streit ist das Universal-Allgemeine, das überall Vorzufindende, weil er die höchste Verkörperung einer Intensität der Anziehung, des Aufeinanderprallens und des Abstoßens feindlicher Komplexe deskribiert. Diese suchen und brauchen sich trotz ihres antagonistischen Wesens. In der konsequenten Anwendung dieser Lesart lässt sich auch das berühmte Fragment 53 entschlüsseln und auf Heraklits weitreichende Ausblendung der Kosmogonie zurückbeziehen: Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.891

Die Vaterschaft des Krieges manifestiert sich nicht in einem vorweltlichen Schöpfungsvorgang. Die Hegemonie des Streites bezeugt sich in der mit königlicher Befehlsgewalt ausgeübten, unumstößlichen Einschreibung und Wahrung einer jedes Seiende trennscharf konturierenden Differenz. Dadurch wird verfügt, dass sich jede Parteiung nur bei gleichzeitigem Einbezug ihrer Negation aufrechterhalten kann. Der Streit ist dem λόγος in einem doppelten Sinne verbunden: Zum einen baut sich der zwiespältige λόγος immer wieder im Medium des Streites der Ansichten auf. Zum an-

keitschiffre des χρεών auf die stoische Konzeption der kosmischen heimarmene ernsthaft erwägt. Im Hinblick auf die Herausschälungsintention eines potentiellen Brückenschlages zwischen den Grundgedanken Anaximanders, Heraklits und Marc Aurels ist darüber hinaus erwähnenswert, dass Held die Verfügungsart des Schicksals mit der einräumend-abgrenzenden Formierung der Zeit zusammenbringt. Vgl. Held, Heraklit, S. 297: „Doch der Notwendigkeitscharakter der Regelung ist dem Vollzugsgeschehen nicht von einer geheimnisvollen Instanz außerhalb seiner auferlegt, sondern liegt in der dargestellten eigentümlichen rechtlich-strittigen Bezogenheit der gegensätzlichen Ansichten aufeinander von vornherein beschlossen. Es ist nicht auszuschließen, daß Heraklit die recht verstandene Notwendigkeit in der Regelung des Nacheinander der Gegensätze durch eine oder mehrere dem chreon äquivalente Wendungen zum Ausdruck gebracht hat. So lassen sich die Äußerungen des Sextus Empiricus und Skythinos über die Rolle der Zeit, die wir angeführt haben, vielleicht auf verlorengegangene Heraklit-Stellen zurückführen, an denen die besagte Regelung in irgendeiner (von uns nicht rekonstruierbaren) Form der Zeit zugeschrieben wurde, so ähnlich wie dies im erhaltenen Originalsatz des Anaximander geschieht. Einen wesentlich höheren Grad von Wahrscheinlichkeit hat die Vermutung, daß die Stoiker das Vorbild für den in ihrem Denken so wichtigen Begriff der heimarmene in einer Wendung bei Heraklit gefunden haben, die selbstverständlich noch nicht die spezifisch stoische Bedeutung von heimarmene hatte, sondern eben dem chreon sinnverwandt war.“ 891 Heraklit, DK 22 B 53, S. 265. In den Beiträgen zur Philosophie würdigt Heidegger das Heraklit-Fragment 53 als eine der „größten Einsichten der abendländischen Philosophie“, weil darin die Eröffnung des ‚Zwischen‘ (d. i. der durch das Sein gewährte Aufriss des offenen Bereiches) genannt werde. Nichtsdestotrotz sei das innere Gewicht des Spruches bei Heraklit selbst ungedacht geblieben, da Heraklit inmitten des Wesens des Streites nicht die intrinsische Zugehörigkeit des Nichts zum Sein erfahren habe und deswegen die Stellung des Nichts nicht eigens zu erfragen wusste. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 144, S. 265: „Der Streit als Wesung des ‚Zwischen‘, nicht als das Auchgeltenlassen des Widrigen. Zwar liegt im πόλεμος-Spruch des Heraklit eine der größten Einsichten der abendländischen Philosophie, und dennoch konnte sie nicht für die Frage nach der Wahrheit so wenig wie für die nach dem Sein entfaltet werden. Woher aber die Innigkeit des Nicht im Seyn? Woher solche Wesung des Seyns? Immer wieder stößt sich das Fragen hieran; es ist die Frage nach dem Grunde der Wahrheit vom Seyn.“

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4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer

deren exemplifiziert der Streit als von der Einsicht erfasste Identität892 von Recht (Zusammengehen der Ansichten) und Krieg (Auseinanderstreben der Ansichten) den sich ungehindert ausfaltenden Selbstwerdungsprozess der Welt.893 Diese widerwendige Autopoiesis muss die sachgerechte Auslegung des λόγος als wahr verkündigen, wenn sie sich auf das immerwährend Gültige richtet. Als allgemeines Gesetz des Zwiespalts verhindert der Streit eine einseitige Harmonie im Sinne des bloßen Ausgleichs, der Ruhe und der Stagnation. Ein solches Equilibrium müsste insofern unweigerlich in Disharmonie und Ungerechtigkeit umschlagen, als es das Selbstbehauptungsstreben der Gegensätze erstarren ließe und ihre agonale Natur unterdrücken müsste. Im Kontrast dazu, evoziert das zugelassene, freie Spiel der Widersprüche eine Form der zusammenklingend auseinandergehenden Disharmonie, die in sich die verborgene, tiefe und echte Harmonie repräsentiert. Die Gerechtigkeit ist zwiespältig, weil sie weder ein bloßes Geltenlassen im Sinne der beidseitig-quantitativen Durchschnittsverteilung offeriert noch in einem präferenzorientierten menschlichen Richten vollständig habitualisiert werden kann. Die Gerechtigkeit vollzieht und arrangiert permanent das Mithervorgehenlassen des Strittig-Entgegengesetzten. Wie Klaus Held in seiner brillanten Heraklit-Untersuchung eindrucksvoll und kenntnisreich gezeigt hat, kann die privilegierte Einsicht diese mit dem Streit identische Gerechtigkeit entdecken, wenn sie darauf verzichtet, ‚Recht‘ (im Sinne von ‚Frieden‘ und ‚Ausgleich‘) und ‚Streit‘ (in der Bedeutung von ‚Trennung‘ 892 Zur heraklitischen Semantik des prima facie einseitigen Verhältnisbegriffs des Streits als Indikator und Titel der privilegierten Identität der Gegensätze vgl. Held, Heraklit, S. 242: „Es ist nämlich nicht in jedem Fragment dieselbe Einseitigkeit, deren Bezeichnung Heraklit zugleich als Titel für die Identität geeignet erscheint, sondern Heraklit benennt die Identität bald mit dem Begriff für das Auseinandergehen der Ansichten als ‚Streit‘, bald mit dem für ihr Zusammengehen als ‚Recht‘.“ 893 In seiner scharfsinnigen Übersetzung und Deutung des Fragments B 8 exemplifiziert Klaus Held, dass für den adäquaten Austrag des Streites zwischen divergierenden (jeweils mit einem ultimativen Sendungsbewusstsein auftretenden) Parteien eine unerbittliche Verteidigung der zugeteilten Positionen konstitutiv ist. Weil die Konfliktpartner dergestalt das ‚ihnen Zustehende‘ zu konservieren streben, erfüllen und generieren sie unwillkürlich die Wesensart der Δίκη, insofern diese als Sachwalterin der Zuteilungsmaßstäbe figuriert. Dass die – einer oberflächlichen Betrachtung nur als chaotisches Gegeneinander subjektiver Meinungen zugängliche – lebensweltliche Erfahrung des Streites in sich die Perpetuierung des von der Gerechtigkeit geleiteten Verteilungsvollzuges ist, kann freilich erst von der philosophischen Einsicht reflektiert werden. Vgl. die entsprechenden Erläuterungen bei Held, Heraklit, S. 171f.: „(B 8) Das Wider[einander]stehende zusammengehend. […] Der Streit ist dasjenige Verhältnis der Ansichten untereinander, in dem jede Ansicht mit unversöhnlichem Ausschließlichkeitsanspruch das ihr Eigene (idion), d. h. die ihr gegebene Sicht, als die richtige behauptet. Im Austrag des Streites also gelangt jede Ansicht zu dem ihr Eigenen. Dieses verteidigt sie jeweils als die Erfahrung, die sie sich durch die gegenteilige Ansicht nicht nehmen läßt. Der ein ihm Eigenes als ein solches beansprucht, das ihm nicht genommen werden darf, behauptet, daß es ihm ‚zusteht‘. Der Austrag des Streites der Ansichten hat demnach den Charakter einer Zuteilung des den Ansichten jeweils Zustehenden. ‚Zuteilung des Zustehenden‘ aber ist nichts anderes als eine Bestimmung dessen, was ‚Recht‘ überhaupt und auch im Sinne des griechischen Wortes dike heißt. Dike kann deswegen auch ‚Rechtsstreit, Prozeß‘ heißen, weil ‚Recht‘ seiner einfachen Grundbedeutung nach von vornherein einen Vollzug bezeichnet, in dem die Verteilung bzw. Übereignung des jeweils Zustehenden vorgenommen wird. Im Streit der Ansichten fällt jedem Erfahrenden ‚das Seine‘ zu, und demnach tritt der Rechtszustand im Verhältnis der Ansichten nicht erst nach einer (im übrigen ja von der Verfassung der Ansichten her unmöglichen) Schlichtung ihres Streites ein, sondern ist dasselbe wie dieser.“

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

und ‚Zwietracht‘) einseitig als umfassende, sich jedoch gegenseitig ausschließende Ordnungsbestimmungen des reziproken Verhältnisses der Ansichten zueinander zu verwenden. In seiner Interpretation des Fragmentes 80 demonstriert Held dies paradigmatisch für die Synthesekraft des Streits: Wenn es am Ende von Fragment 80 heißt, daß alles gemäß dem ‚Streit‘ geschieht, so kann ‚Streit‘ hier nur das von der Einsicht begriffene Verhältnis der Ansichten bezeichnen. Der von der Einsicht begriffene Streit ist nicht das bloße Auseinandergehen der Ansichten, sondern im Sinne der gegenspännigen Zusammenfügung Auseinandergehen als Zusammengehen. Wenn die Einsicht das Verhältnis der Ansichten untereinander als solches durchschaut, dann begreift sie Krieg als Frieden und Unrecht als Recht. Das heißt aber: sie bringt die sich im Felde der Ansicht ausschließenden Einstellungen des Auch und des Oder, des sich Öffnens und des sich Verschließens gegenüber der feindlichen Ansicht zusammen. Sie ist so die Befreiung aus der Befangenheit der Ansichten in einem Streit, den sie nicht als solchen durchschauen können. Der nicht als Frieden begriffene, sondern als dessen Gegenteil verstandene Krieg ist der Titel für die Einstellung des ausschließenden Oder, für die (vermeintlich) private Einsicht, idia phronesis. Und umgekehrt: Der nicht als Krieg begriffene Frieden bezeichnet die Einstellung des kraftlos einschließenden Auch, der schwachen Zusammenfügung. Das Entsprechende gilt für das Gegensatzpaar ‚Recht‘ – ‚Unrecht‘ bzw. ‚Streit‘. Indem die Einsicht den Gedanken der gegenspännigen Zusammenfügung vollzieht, identifiziert sie also zwei Einstellungen zum Verhältnis von Ansicht und Ansicht, die im Felde der Ansicht überhaupt nicht in dieser Einheit, sondern alternativ auftreten. Zwei Einstellungen zu einer Sache, die abwechselnd eingenommen werden, sind aber nichts anderes als – Ansichten.894

Diese Äquivozität der verhältnisordnenden Zentralbegriffe veranschaulicht Held auch im Hinblick auf das heraklitische Grundwort der ‚Gerechtigkeit‘. In Strukturanalogie zum Streit zeigt Held auf, dass Heraklit diesen Terminus einerseits in der Bedeutungseinheit mit dem im Medium der überlegenen Einsicht erschlossenen Streit gebraucht, in welchem sich die Identität der vermeintlichen Widersprüche gerade in ihrer Distanzierungsbewegung bewährt. Andererseits verwendet Heraklit den Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ nach Held als Kennzeichnungshabitus für eine ihrerseits ansichtshafte Verhältnisbestimmungsweise der Gesamtheit der Ansichten. Deren Zusammenhalt wird im einseitig-ausschließenden Gerechtigkeitsverständnis über die positiv ausgezeichneten und normativ aufgeladenen Phänomene des Friedens, der Moralität und des Einklangs fundiert. Durch diese Hegemonialprätention der Ausgleichsgerechtigkeit wird die scheinbar diametral entgegengesetzte Ansicht, die den Streit – im ansichtshaften Sinne der permanenten Erscheinung neuer Gegensätze respektive in der Gestalt des immer wieder aufkeimenden Dissens der Positionierungen zum Ganzen des Seienden – für die wahre Konfigurationsform der Lebenswelt hält, jedoch unterminiert und zugleich am Leben gehalten. Gerade in ihrer Ausblendung und Leugnung durch die einseitige Gerechtigkeitskonzeption wird es der bellizistischen Gegensatzentschlüsselung als Streit nämlich ermöglicht, gegen die harmonische Einheitsversion der Gerechtigkeit zu streiten. Die unter der Signatur des als Zwietracht verstandenen Streites vollzogene Systematisierung der Ansichten kann sich dergestalt in einem Gegensatzverhältnis zu 894 Held, Heraklit, S. 195.

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4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer

der pazifistischen Kohäsionshypothese situieren und das Scheitern ihres übergreifenden Versöhnungsanspruches herbeiführen. Erst der wahren, selbstbewusst von Heraklit reklamierten Einsicht ist es vergönnt, das Sowohl-als-auch der konfligierenden Synthesehinsichten der Ansichtsmannigfaltigkeit zu begreifen. Die Einsicht versetzt sich dadurch in die Lage, die Gerechtigkeit und den Streit jeweils als in sich gleichbedeutende Verbindungstitel der ansichtshaften Gegensatzkomplexe von Recht und Krieg zu instantiieren: Die Begriffe ‚Krieg‘ und ‚Recht‘ […] haben bei Heraklit eine genau zu fassende Doppelbedeutung: ‚Krieg‘ bezeichnet einmal den Krieg als Verbundenheit bzw. Frieden, und entsprechend ‚Recht‘ das Recht als Streit bzw. Unrecht, d. h. das Verhältnis der strittigen Ansichten als Verhältnis, mit anderen Worten: das Verhältnis als von der Einsicht durchschautes und begriffenes. ‚Krieg‘ und ‚Recht‘ bezeichnen aber andererseits auch die eine von zwei möglichen Einstellungen der Ansicht in ihrem jeweiligen und undurchschauten Verhältnis zur feindlichen Gegenansicht, eine Einstellungsmöglichkeit, die in einem ausschließenden Gegensatz zu ihrem Gegenteil, nämlich ‚Frieden‘ und ‚Unrecht‘, steht und also selbst eine Ansicht darstellt. Kurz gesagt: ‚Krieg‘ und ‚Recht‘ verwendet Heraklit einmal als Titel für das von der Einsicht verstandene Verhältnis als Verhältnis, sie bedeuten bei ihm zum anderen mögliche Ansichten, die mit den entsprechenden Gegenansichten im Streit liegen.895

Im Ausgang von Fragment 80 lässt sich also mit Klaus Held konstatieren, dass nach Heraklit alles unausweichlich im Einklang mit dem Zwiespalt geschieht, weil der Zwiespalt die einzige Art des Einklangs selbst ist. Wenn keine höhere, jenseits der Übereinstimmung mit dem Kosmos angesiedelte Instanz nominiert werden kann und 895 Ebd., S. 195f. In dem abrundenden Fazit seiner großangelegten Heraklit-Interpretation argumentiert Klaus Held, dass Heraklits philosophisch-polemische Suprematsbegründung der reflektierten Einsicht über die alltägliche Ansicht gerade aufgrund ihrer ‚Lebensweltnähe‘ scheitern müsse. Dadurch habe Heraklit jedoch den strikten, von jeglicher Orientierung an der empirischen Realität radikal abstrahierenden Neuansatz der eleatischen Philosophie maßgeblich befördert. Als Kernproblematik des heraklitischen Denkens diagnostiziert Held die unumgängliche Referentialität, wonach sich der Verhältnisvollzug der Zusammengehörigkeit der Gegensätze stets auf die Diskrepanz zur alltäglich-ansichtshaften Erfahrung der Nicht-Identität beziehen müsse. Auf diese Weise werde die prätendierte Gegensatzenthobenheit der Einsicht gerade im Akt ihrer Bewährung durch sich selbst negiert und ihrerseits in den Konflikt der Ansichten hineingezogen. Vgl. ebd., S. 467f.: „Heraklit entläßt den Interpreten mit einem zuletzt offenkundig gewordenen Widerspruch: Die intendierte Selbstunterscheidung der Einsicht von der Ansicht macht in letzter Konsequenz ein ansichtshaftes Verhältnis der Verwiesenheit der höchsten Einsicht auf die Ansicht notwendig. Die vermeintlich schlechthin vollendete Einsicht schlägt damit in Ansicht um und erweist sich als das, was sie nicht sein dürfte. Daraus kann nur geschlossen werden, daß der Ansatz des heraklitischen Denkens trotz allem, was er in seiner Durchführung an fruchtbaren Erkenntnissen über die Lebenswelt, von der sich das philosophisch-wissenschaftliche Denken in seinem Ursprung abhebt, ermöglicht, selbst revisionsbedürftig ist. Gerade die Lebensweltnähe des reinen Verhältnisdenkens ist dasjenige, was es scheitern läßt. Die ständige Rückbezogenheit der Identität, um die es der Einsicht geht, auf die ansichtshafte Nicht-Identität verkehrt zuletzt die Einsicht, an deren Überlegenheit über die Ansicht Heraklit, wie der grundlegend polemische Charakter seine Denkens zeigte, alles gelegen war, in Ansicht. Von daher ergibt sich für ein konsequentes Weiterdenken unmittelbar die Aufgabe, die Identität, um die es der Einsicht beim Verhältnisdenken zu tun ist, radikal von der Bezogenheit auf die Ansicht, anders gesagt: von ihrer Bestimmung als Leben, zu befreien. Diesen Schritt hat das philosophisch-wissenschaftliche Denken in seiner Frühzeit bei Parmenides getan und damit zugleich die endgültige Vergessenheit der lebensweltnahen Lebensweltkritik in der beginnenden Metaphysik vorbereitet.“

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

die Gerechtigkeit keinem übergeordneten, moralischen Maßstab sekundiert, gruppiert sich notwendigerweise alles Seiende unter der vormoralischen Botmäßigkeit der strengen Gesetzmäßigkeit des Zwiespalts. Die Ordnung mündet daher nie in eine beruhigte Gleichförmigkeit ein. Vielmehr tituliert Heraklit diejenige Ordnung, die den Gehalt des Fragmentes 54 (ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων: „Nichtoffenkundige Harmonie ist stärker als offenkundige“896) am ehesten veranschaulicht, als die herrlichste Ausgestaltung des Weltspiels: σάρμα εἰκῇ κεχυμένον ὁ κάλλιστος, φησὶν Ἡράκλειτος, [ὁ] κόσμος Die Ordnung des aufs Geratewohl Zerronnenen [oder Aufgeschütteten] ist laut Heraklit die schönste.897

Weil die ‚schönste Ordnung‘ innerhalb des Zwiespalts das vermeintlich Zufällige, Widerspenstige und Abseitige einschließen und freilassen muss, verschließt sich das Wesen des λόγος den meisten Menschen. Diesen erscheint er zunächst disparat-immoralisch, fremd und kontraintuitiv. Wer hingegen dazu übergegangen ist, die untrennbare Verbundenheit des Begrüßten und des Abgelehnten, des Affirmierten und des Degoutierten, zu durchschauen, entdeckt das Leben als Spiel. In dem wohl berühmtesten Heraklit-Fragment 52 heißt es: αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη Das ewige Leben ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind.898

Wie im Kapitel zu Nietzsches Heraklit-Rezeption untermauert werden konnte, folgt dieses Spiel keineswegs einer aleatorischen Beliebigkeit. Das Spiel hält sich innerhalb der vorgegebenen Maße, die eine beständige Wiederkehr des gegensatzgeprägten Werdens garantieren. Um seine Wirksamkeit beweisen zu können, muss der Streit auf die einhegenden Maße rekurrieren, die das Setzen der Brettsteine bestimmen und bändigen. Das Wesen dieser Maße kann – so die zentrale These – als die in den λόγος eingesenkte Gerechtigkeit entziffert und definiert werden. Dass das Hauptsignum der Gerechtigkeit folglich im liebend-streitenden, gemäß präfigurierten Ordnungskriterien koordinierten Einschluss des Gegensätzlichen reüssiert899, soll anhand einiger Fragmente verdeutlicht werden, in denen Heraklit den Fokus explizit auf die Δίκη 896 897 898 899

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Heraklit, DK 22 B 54, S. 265. Heraklit, DK 22 B 124, S. 289. Heraklit, DK 22 B 52, S. 289. Mit Klaus Held ist zur Verständniserhellung der hier bevorzugten Gerechtigkeitscharakterisierung als liebend-streitender Einschluss des Gegensätzlichen zu unterstreichen, dass Recht und Streit keineswegs nur als prädikativ ausgearbeitete Summierungsarten der Ansichtsrelationen zu fassen sind. Stattdessen bekunden sich ihre einseitigen Derivate in der Lebenswelt, indem sie den jeweiligen Vorrang des Sich-Öffnens oder Sich-Verschließens gegenüber den empirisch erfahrbaren Gegenpositionen dokumentieren. Vgl. Held, Heraklit, S. 243: „Zu ihrem Verständnis ist noch einmal daran zu erinnern, daß die Unterscheidung von Recht und Streit ursprünglich nicht die Unterscheidung zweier prädikativ artikulierter Ansichten ist, die in Sätzen zum Ausdruck gebracht würden wie z. B. ‚das Verhältnis (S) der Ansichten ist ausschließlich ein Auseinandergehen, d. h. Streit (p).‘ Vielmehr bezeichnen ‚Recht‘ und ‚Streit‘ ursprünglich die beiden einseitigen Weisen des vorprädikativen Vollzugs einer jeweiligen Ansicht, nämlich das Sich-Öffnen und das Sich-Verschließen gegenüber der Gegenansicht.“

4.3. Überlegungen zur Gemeinsamkeit der Δίκη mit dem Streit und dem Feuer

richtet. Dabei ist die Δίκη sowohl durch den von ihr aufrechterhaltenen, kosmischen Strukturholismus als auch durch die intellektuelle Einsicht in ihre Nomologie charakterisiert und umfasst somit zwei Ebenen: Die Einsicht in das Wesen der Δίκη ist das Wesen der Einsicht. Es ist der Gott, der als nahezu Einziger bis zu diesem Erkenntnisgrad vorzudringen vermag. Er hat erkannt, dass in der Vielfalt der Gegensätze eine universale Gesetzmäßigkeit waltet. Dies stellt der Anfang des auch von Nietzsche einbezogenen Fragments 102 markant heraus: τῷ µὲν θεῷ καλά πάντα καὶ ἀγαθὰ καὶ δὶκαια Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht….900

Der Gott begreift, dass sich die Gegensatznatur des Seienden nicht erst in einem prozessualen Nacheinander ergibt, d. h. einer alternierenden Abfolge von Leben und Tod, warm und kalt, gut und böse. Dagegen ist es das Zugleichsein von Hinauf und Hinab, Anfang und Ende, wodurch das Eine auf das Andere seiner selbst hindeutet.901 Dem Gott erscheint alles – auch das Furchtbare und Sinnwidrige – als gut und gerecht, weil er in die Welt mit dem λόγος hineinsieht, indem er sie aus der richtigen Erkenntnisweise heraus betrachtet. Diese eine Kosmodizee bewährende Durchsicht findet jene Ordnung vor, die sie selbst in sich zu bringen und zu gewinnen vermochte.

900 Heraklit, DK 22 B 102, S. 283. In seiner Erläuterung des Fragmentes 102 betont Klaus Held mit Nachdruck, dass das Vermögen der göttlichen Einsicht, die alles als ‚gut‘ und ‚gerecht‘ begreift, keineswegs mit einem naiven Optimismus identifiziert werden dürfe. Held deutet den von Heraklit im Fragment 102 thematisierten Unterschied zwischen dem Gott und den Menschen dahingehend, dass die Vielen Rechtmäßiges und Ungerechtes in einem lebensweltlich beglaubigten Exklusionsverhältnis ansetzen, während die Einsicht in der Erfahrung des vermeintlich Ungerechten die Zuteilung der als Streit figurierenden Gerechtigkeit entdeckt. Vgl. Held, Heraklit, S. 197: „Wenn wir […] von der Annahme ausgehen, daß wir die menschliche Einsicht qua sophon mit der göttlichen Einsicht parallelisieren dürfen, so sagt der Satz unter anderem, daß die Einsicht alles als gerecht begreift. Das kann nicht heißen, daß die Einsicht in blindem Optimismus vor allem Ungerechten die Augen verschließt, sondern es besagt das Gleiche wie die Aussage in Fragment 80: Die Einsicht begreift Unrecht als Recht; sie sieht ein, daß die Zuteilung des Eigenen der Sichten der Streit ist. Was sie denkt, ist die Identität beider, und sie denkt diese Identität unter dem Titel des Rechts. Auf der anderen Seite bezeichnet ‚Recht‘ im Bereiche der zerfallenen Identität, d. h. im Felde der Ansicht, eine der beiden möglichen Ansichten, in die diese Identität zerfällt. Dies geht aus der zweiten Hälfte des Spruches hervor: Wenn Heraklit hier von der Erkenntnisart der Menschen im Unterschied zu der Gottes spricht, so sagt er damit […] etwas über die Erkenntnisart der Vielen aus. Die Menschen als die Vielen unterscheiden Gerechtes, d. h. Rechtmäßiges, und Ungerechtes, d. h. Unrechtmäßiges. Sie verteilen das Rechtmäßige und Unrechtmäßige auf verschiedenes ihnen Begegnende, was offenbar darin seinen Grund hat und nur haben kann, daß sie der Ansicht sind, Verhältnisse, Situationen u. dergl., in denen Recht herrscht, könnten nicht zugleich und in derselben Hinsicht solche sein, in denen Unrecht herrscht. Die Verteilung der Prädikate ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ auf Verschiedenes beruht darauf, daß ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘ selbst als gegensätzliche und sich ausschließende Verhältnisse auseinandergehalten werden.“ Die nahezu göttliche Betrachtungsweise der Gerechtigkeit drückt sich auch in dem Spruch Emersons aus, den Nietzsche als Motto für die Erstausgabe der Fröhlichen Wissenschaft wählte. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. S. 343: „Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.“ 901 Vgl. Heraklit, DK 22 B 60.

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

Der Gott und der Weise lassen die Welt in der Fülle und Gemeinsamkeit ihrer Gegensätze auf sich wirken und trüben ihre Sichtbarwerdung nicht durch eine persönlich-egozentrische Vorteilserwartung. Die meisten Menschen, die diese Simultaneität des Diametralen nicht zu registrieren vermögen, trennen die Gegensätze in ein Davor und Danach.902 Dergestalt können die Menschen sowohl in der Kosmologie als auch in der Ethik eindeutige Aussagen treffen, die aber gegenüber der Gerechtigkeit als Weltgesetz unangemessen sind. Die antithetische Fortsetzung des Fragments 102 lautet dementsprechend: ἄνθρωποι δὲ ἅ µὲν ἄδικα ὑπειλήφασιν ἃ δὲ δίκαια. …die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angesetzt.903

Der Weise hört hingegen auf die jedes Seiende rechtfertigende Gerechtigkeit des zwiespältigen, alles durchherrschenden und miteinander verbindenden λόγος und erlangt dadurch ein wohlwollendes Zutrauen zu dem Künftigen. In seiner Milde und Zuversicht lässt er sich weder von situativen Affekten beeinflussen noch von der Hoffnung leiten. Ebenso wenig glaubt der wahre Philosoph, die tiefe Einsicht durch eine mengenmäßige Ansammlung von Kenntnissen ersetzen zu können:

902 Insofern die Unverständigen die Gegensätze allein in einer alternierenden Disjunktion erblicken können, konsolidiert sich nach Margot Fleischer ihr Gegensatz zu den wenigen Weisen. Fleischer erörtert, dass Heraklits intellektuell-anthropologische Fundamentaldifferenzierung eine ausgezeichnete Nennkraft besitzt, weil es die einzige der von Heraklit erwähnten Polarkonfrontationen sei, die sich nicht in einer Einheit zusammenfügen lasse oder in einem gegenseitigen Umschlagen angeordnet werden könne. Vgl. Fleischer, Anfänge europäischen Philosophierens, S. 46: „Die (wenigen) Weisen und die (vielen) Unverständigen sind, wie schon gesagt, ein Gegensatz ohne Einheit. Weisheit und Unverstand schließen einander schlechthin aus. Hier gibt es auch kein Umschlagen […]. Die Unverständigen wissen alles das nicht, was die Weisen wissen.“ 903 Vgl. Heraklit, DK 22 B 102, S. 283. In ihrer Interpretation des Fragments 102 stuft Fleischer die epistemisch-metaphysische Lesart zurück, die durchaus in die Richtung einer Kosmodicee weist, indem die göttliche Einsicht als Gutheißung aller Ereignisse dechiffriert werden könnte. Dass die Menschen etwas als ‚gerecht‘ und ein Anderes als ‚ungerecht‘ titulieren müssen, beurteilt Fleischer keineswegs als Ausdruck eines anthropologischen Erkenntnisdefizits. Vielmehr plädiert Fleischer für die Unverzichtbarkeit derartiger Unterscheidungsmuster, da nur dadurch der Nomos der Polis begründet und die politische Stabilität gesichert werden könne. Vgl. Fleischer, Anfänge abendländischen Philosophierens, S. 43f.: „Und wie steht es mit dem zweiten Teil von Fragment 102: ‚die Menschen aber fassen das eine als ungerecht auf, das andere als gerecht‘? Gemeint sein könnte, daß ‚die‘ Menschen (im Gegensatz zu dem Gott und auch zu den nach Heraklits Auffassung immer nur sehr wenigen weisen Menschen) im Blick auf solches, das für den Gott schön, gut und gerecht ist, anders werten, dann nämlich, wenn es ihnen abträglich ist (womit man beim malum physicum wäre). Ich halte eine andere Deutung des im Fragment Gesagten für möglich und gebe ihr den Vorzug. […] Meine bevorzugte Deutung geht davon aus, daß es bei Heraklit ganz offensichtlich einen genuin menschlichen Bereich gibt, für den die Menschen selbst als gründend und bewahrend in Anspruch genommen sind: die Polis, den Staat. Einer Polis liegt menschlicher Nomos zugrunde. Die Menschen, die ihn stiften und für seine Bewahrung Sorge tragen, können sich am göttlichen Nomos orientieren. […] Das Gerechte im Bereich der Polis ist das, was dem gründenden Nomos dieser Polis sowie ihren übrigen Gesetzen gemäß ist. Und da zeigt sich nun klar: In diesem Bereich müssen die Menschen die Gegensätze ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ als sich ausschließende festhalten, wollen sie nicht ihren Lebensbereich ‚Polis‘ aufs Spiel setzen. Sie müssen ‚das eine als ungerecht, das andere als gerecht auffassen.‘ Und unter diesem Aspekt sind sie der Gegensatz zum Gott, der in dem von ihm mittels des Blitzes gesteuerten Bereich alles für schön, gut und gerecht befindet.“

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4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung

εἶναι γὰρ ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώµην, ὁτέη ἐκυϐέρνησε πάντα διὰ πάντων. Es gibt nur eine Weisheit: ein vertrautes Verhältnis zu der Einsicht, nach der überall alles gelenkt wird.904

4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung Ein typisches Merkmal der Philosophie Heraklits wird in der offensiv-elitären Abgrenzung zwischen den wenigen Verstehenden und den vielen Uneinsichtigen palpabel. Während sich die seltenen Denker in den λόγος integriert haben und die Welt in ihrer Zerrissenheit akzeptieren, schreiten die meisten Menschen zur Negation der widerwendigen Binnentension des λόγος fort und positionieren sich gerade durch diese Verkennung unweigerlich in jenem Gegensatzverhältnis, das die Wahrheit des λόγος bestätigt. Die paradigmatische Distinktion intellektueller Gradstufen prägt auch das Fragment 28, das als wichtigstes Zeugnis der heraklitischen Gerechtigkeitslehre umrandet werden kann. Es sei hier in jener Übersetzung noch einmal zitiert, die Heidegger in der Auslegung der Historienschrift wählt. Zum Vergleich soll auch die Übertragung von Mansfeld und Primavesi beigefügt werden: δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει· καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας. Denn nur Scheinhaftes ist es, was erkannt (das ihm gerade Sichzeigende, Erscheinende); erkennt auch der Berühmteste (am meist in Erscheinung und Ansehen Tretende), und er hält dieses fest (nimmt es als das Feste). Doch wahrlich die Gerechtigkeit wird auch die Zimmerer und Zeugen der Verrechnungen (Irrtümer) und (Verfestigungen) zu fassen wissen (von oben her fassen und unter sich bringen, d. h. überwinden).905 Das Annehmbare ist es, was der am meisten Bewährte erkennt und verteidigt; Δίκη wird aber ganz gewiss die Zimmerer und Zeugen der Lüge strafen.906

Es bieten sich zwei verschiedene Interpretationsoptionen an. Die erste lässt sich im Ausgang von Heideggers hermeneutischer Übersetzung entwickeln, während sich die zweite auf die wörtliche Übersetzung von Mansfeld stützt. Erstens könnte in wahrheitsskeptischer Absicht die Unausweichlichkeit des Scheinhaften, der bloßen Meinungen, betont werden: Sofern der Mensch erkennt, ist das einzig für ihn Erkennbare der Schein. In seiner Übersetzung federt Heidegger die Schärfe der Opposition zwischen dem „Berühmtesten“ auf der einen Seite und den „Zimmerern und Zeugen der Irrtümer und Verfestigungen“ auf der anderen Seite ab.

904 Heraklit, DK 22 B 41, S. 263. 905 Heidegger, GA 46, S. 196. 906 Heraklit, DK 22 B 28, S. 255.

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

Dadurch wird die von Heraklit besonders in den Fragmenten 78907, 79908, 83909 und im oben diskutierten Fragment 102 exponierte Kluft zwischen dem Wissen des Gottes und den Ansichten der Menschen zementiert. Im Rekurs auf Heideggers Übersetzung kann die Interpretation vorgeschlagen werden, dass auch der Berühmteste (als der am meisten in die Erscheinung hervortretende) aufgrund der Unergründlichkeit des Werdens wie jeder andere Mensch gezwungen ist, das Sichzeigende für das Beständige, Feste und Gültige zu halten und es als solches festzuhalten.910 Auch der Ruhmreichste ist dem von der Gerechtigkeit ausgeübten, kurzzeitig der Fluidität des Werdens entzogenen Arrangement des festgewordenen Seins ausgeliefert. Diesen Schein der Beständigkeit nimmt er in den sensuellen Wahrnehmungen und in den ein immanentes Substrat erfordernden Gedanken unweigerlich auf und bestätigt dergestalt das Feste. Der Berühmteste wäre demnach ebenfalls ein notgedrungener Zeuge der Lüge (im Sinne der Hemmung des Werdens), die von der Gerechtigkeit gezimmert wird. Die vollkommen autonome Gerechtigkeit überwindet ihre eigene Verfertigung des Irrtums und „fasst“ den Zeugen der Lüge, indem sie das für wahr gehaltene Sein wieder in das Werden auflöst und es damit als Schein kenntlich macht. Zweitens kann der am meisten Bewährte beziehungsweise der Angesehenste im Rekurs auf die Übersetzung von Mansfeld und Primavesi mit dem Weisen identifiziert werden, der eine nahezu göttliche Kognitionsweite besitzt. Flankiert von dem Inhalt der Fragmente Nr. 113911 und 116912, in denen Heraklit es generell als menschenmöglich bezeichnet, den allwaltenden λόγος zu vernehmen, lässt sich die epistemische Differenz zwischen dem Weisen und dem Gott verringern.913 Der am meisten 907 Heraklit, DK 22 B 78 : ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γνώμας, θεῖον δὲ ἔχει. „Denn menschliches Wesen hat keine Einsicht, göttliches aber hat sie.“ 908 Heraklit, DK 22 B 79, S. 266: ἀνὴρ νήπιος ἤκουσε πρὸς δαίμονος ὅκωσπερ παῖς πρὸς ἀνδρός. „Mit einem Gott verglichen darf der Erwachsene unmündig heißen, wie das Kind verglichen mit dem Erwachsenen.“ 909 Heraklit, DK 22 B 83, S. 266: ἀνθρώπων ὁ σοφώτατος πρὸς θεὸν πίθηκος φανεῖται καὶ σοφίαι καὶ κάλλει καὶ τοῖς ἄλλοις πᾶσιν. „Der weiseste Mensch schneidet, mit dem Gott verglichen, wie ein Affe ab, in Weisheit, in Schönheit und in allen anderen Dingen.“ 910 Vgl. Heidegger, GA 46, S. 204: „Schein ist das Aufscheinen des Ungekannten und dessen, was alles Vorhandene (Seiende) überholt und verklärt, was das Feste in seiner Verfestigung wieder in das Werden zurücknimmt und somit das eigentlich Wirkende, Werdehafte, zugleich aber meint es auf das Feste beschränkt das nur Scheinhafte, Täuschende.“ 911 Vgl. Heraklit, DK 22 B 113, S. 258: ξυνόν ἐστι πᾶσι τὸ φρονέειν. „Einsicht zu haben ist etwas Allgemeines.“ 912 Vgl. Heraklit, DK 22 B 116, S. 258: ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν. „Es ist allen Menschen gegeben, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein.“ 913 In seiner Analyse des Fragmentes 78 deutet Marcel van Ackeren die heraklitische Fundamentaldisjunktion zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Wissen als metaphorische Umschreibung der unüberbrückbaren Distanz zwischen der philosophischen und der alltäglichen Anschauung des Weltzusammenhanges. Vgl. Van Ackeren, Heraklit, S. 30: „Entscheidend ist die Überlegung, dass Heraklit noch nicht namentlich zwischen philosophischen und nicht-philosophischen Sichtweisen der Dinge unterscheidet. Vielmehr verwendet er (wie viele Philosophen nach ihm) zur Beschreibung dieser zwei menschlichen Perspektiven Attribute der Göttlichkeit und Menschlichkeit. Indem er die menschliche Position, von der aus unterschieden und kritisiert wird, als göttlich charakterisiert, wird die angenommene Überlegenheit dieser Reflexion ausgedrückt. Diese zeichnet sich […] durch eine wahre Beurteilung der Dinge und durch eine bessere Praxis aus.“

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4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung

Bewährte hat eingesehen, dass nichts eine absolute, dem Werden enthobene Geltung beanspruchen kann. Alles, was ihn affiziert, was er sieht und begreift und wie die meisten anderen Menschen als wahr erachten müsste, wird von ihm – gegen den einzigen Maßstab des λόγος gehalten – als beschränkte Empfindung, als einseitige Meinung, als scheinhafte δόξα durchschaut. Dennoch hält er es innerhalb des zeiträumlichen Umkreises fest, solange die innewohnende Gegensätzlichkeit einer vermeintlich eindeutigen Ansicht noch nicht für die Meisten zum Vorschein gekommen ist. Er verteidigt diese unterbestimmte Erscheinung als eine durchaus Annehmbare, obgleich in ihr nur das Überwiegen eines Gegensatzaspektes kulminiert. Der Ruhmreichste hat – wie Heraklit selbst – rekognosziert, dass die in den Oberflächenphänomenen pulsierende Wahrheit des λόγος für die meisten Menschen unerreichbar ist. Nichtsdestotrotz vermag er jede temporär gültige und situativ gewonnene Ansicht zu verteidigen, zu hüten und zu respektieren, weil er sie in ihrer Zugehörigkeit zum λόγος würdigt.914 914 Während in diesem Interpretationsstrang die Figur des „Ruhmreichsten“ (ὁ δοκιμώτατος) als Agent einer kritischen Selbstbescheidung und als Vorreiter einer verständnisvoll-reflektierten Verteidigung des temporär aufleuchtenden, ansichtshaft Erscheinenden durchaus positiv gewürdigt wird, existiert in der Forschung auch die diametral entgegengesetzte, zugegebenermaßen naheliegendere Deutungsvariante. In dieser Auslegungstendenz des Fragmentes 28, die beispielsweise von Karl-Heinz Volkmann-Schluck und von Klaus Held verfochten wird, wird die Überlegenheit des „Ruhmreichsten“ nicht an einen faktischen Einsichtsvorsprung geknüpft, der den δοκιμώτατος dazu befähigte, den erscheinenden Charakter des Begegnenden im Gegensatzgefüge des Streites zu verorten und dementsprechend zu relativieren. Stattdessen gewinnt der δοκιμώτατος sein Prestige gemäß diesem Ansatz allein aus dem kollektiv-meinungsbasierten Zuspruch der Vielen. Dieser Zuspruch gründet sich nicht auf eine wahre Einsicht in die Allgemeinheit des λόγος, sondern konstituiert sich aus dem eindrucksvollen, auf die Mitmenschen wirkenden Schein der Selbstbehauptung seiner Position (diese Deutung wählt Karl-Heinz Volkmann-Schluck) oder basiert auf der Eingängigkeit der Urteile des δοκιμώτατος (diese These wird von Klaus Held vertreten). Deswegen sei es die Aufgabe und das Vermögen der Δίκη, dieses imaginierte Wissensvermögen des ‚Lügenschmieds‘ (ψευδῶντέκτονες) selbst als eine bloße Ansicht durchsichtig zu machen, indem sie dem intellektuellen Supremat des Ruhmreichsten eine temporär begrenzte Gültigkeit zuteilt und den ‚Zimmerer der Lüge‘ in den Streit der Gegensätze reintegriert. Vgl. zu dieser ‚strafenden‘ Funktion der Δίκη im Fragment 28 paradigmatisch Volkmann-Schluck, Die Philosophie der Vorsokratiker, S. 105: „Indem Heraklit sagt, Δίκη werde die Lügenschmiede und ihre Parteigänger ergreifen, stellt er das Denken unter den Anspruch, die Δίκη walten zu lassen, d. h. daran mitzuarbeiten, daß jedem das Seine zuerteilt, daß die φρόνησις im Menschen zu sich selbst befreit und das wahre Wesen des λόγος freigelegt werde.“ Volkmann-Schluck charakterisiert den δοκιμώτατος als maßgeblichen ‚Architekten‘ einer täuschenden Überdeckung des allgemeingültigen λόγος sowie als hauptsächlichen ‚Baumeister‘ der δόξα, sodass er sich als gefährlichster Antipode der Δίκη herauskristallisiert: Vgl. ebd., S. 104f.: „Der Superlativ δοκιμώτατος (dokimotatos) vereinigt in sich zwei zusammengehörige Bedeutungen: ὁ δοκιμώτατος ist derjenige, der es in seinen Ansichten am weitesten gebracht hat und der daher bei denen, die in das Ansichthafte, δοκέοντα (dokeonta) eingeschlossen sind, als der Angesehenste gilt. Als solcher dünkt er sich den anderen überlegen. Der Umfang und die Art dessen, was sich dem einzelnen oder einer einzelnen Gruppe in der δόξα zeigt, sind verschieden. Daher tritt die δόξα immer schon in der Pluralität auf, als eine Vielfalt von δόξαι, die miteinander im Streit liegen. Die des Angesehensten gilt als die stärkste. Aber der δοκιμώτατος ist in Wahrheit der Unverständigste von allen; denn er geht ganz in der Selbstbehauptung seiner δόξα auf und schließt sich in sie ein. […] So tritt die δόξα unter dem Schein einer eigenen φρόνησις in den Gegensatz zu dem λόγος als dem Gemeinsamen dergestalt, daß die ständige Vergabe des Denkens an das Ansichthafte verborgen bleibt und sich die eigene Einsicht, die ίδια φρόνησις, für das allgemeine Richtmaß hält und erklärt. Die Gemeinsamkeit dieses Allgemeinen ist eine Scheingemeinsamkeit, und der λόγος, auf den sie

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

In der zweiten Interpretation offenbart sich der Zimmerer der Lüge als derjenige, der den pendelnd-aufglänzenden Charakter des Begegnenden nicht in seinem Verweisungszusammenhang mit dem vermeintlich Beharrenden erfahren kann. Er ist nicht imstande, die Macht des permanenten Wandels zu honorieren. Er kann sich nicht mit der Einwilligung in den unablässigen Streit zwischen Ansichnehmen und Frei-Lassen, Sättigung und Zeugung, begnügen, weil er die Gegensätze niemals in ihrer gegenseitigen Bedingtheit beleuchtet. Deswegen versucht er, gegenüber dem ihn fortziehenden Spiel des αἰών eigene Ankerpunkte und Überzeugungen zu verfestigen. Diese fungieren keineswegs als Sprungbrett oder als kurzweiliger Aufenthaltsort, der durchlässig wäre für belebende Einflüsse. Vielmehr erwecken diese Surrogate den Anschein der Unzerstörbarkeit, den die Zeugen der Lüge beglaubigen und zur Wahrheit aufrichten. Gegen diesen Irrtum schreitet die Δίκη ein: Heideggers Übersetzung des καταλήψεται mit „fassen“ und den beigestellten Attributen „unter sich bringen“ und „überwinden“ ist daher besonders im Rahmen der zweiten Interpretationslinie des Fragmentes 28 triftig. Die Δίκη hält nichts statisch fest, sondern überwindet das Hemmende, das die im kosmischen Gleichgewicht vorgesehenen Maße der anderen Mitspieler restringiert. Auf diese Weise bestreitet sie das zuvor freigesetzte Überwindende, sobald es in seiner aufflammenden Maßlosigkeit seinerseits zum gewaltausübenden Hemmnis der noch verborgenen Gegensatzkomplexe wird. Der Mensch, der sich dem Gang der Zeit und dem allgemeingültigen λόγος verweigert, indem er von ihm Bevorzugtes zu verewigen sucht und den Dingen scheinbar unabänderliche Namen verleiht, wird von der Gerechtigkeit bestraft und unter sich gebracht, indem er in den Fluss zurückgeholt wird. Die Δίκη reaktiviert die Ausgewogenheit der Verflechtung, indem sie das vermeintlich relationslos Einzelne, an welchem sich die Zeugen der Lügen orientieren, in sein Gegenteil übergehen lässt. Das scheinbar Isolierte, Autsich in der Vergabe des Denkens an den Schein beruft, ist ein Schein-Logos, ein ψευδο-λόγος. […] Der δοκιμώτατος wird als Baumeister, als τέκτων (tekton), als Archi-tekt des Verdeckenden entlarvt: als Lügenschmied. Er verdeckt das wahre Gemeinsame, das wahre κοινόν, in welchem auch die wahre Gemeinsamkeit der Menschen beruht, durch seine δόξα. Die Zeugen, μάρτυρες (martyres), von denen die Rede ist, sind die Anhänger des δοκιμώτατος, die Parteigänger.“ Eine ähnliche Definitionsklärung des δοκιμώτατος gibt auch Klaus Held. Er hebt hervor, dass der Ruhmreichste eine situativ aufscheinende Ansicht mit einem exklusiven Wahrheitsanspruch versieht und diese individuellrestringierte Erfahrung in der Folge zu einer immerwährenden Erscheinungsgesetzmäßigkeit hypostasiert. Weil er diese Transformation des ephemeren Scheins zum wesenhaften Sein mit vermeintlich stichhaltigen Argumenten fundieren könne, überzeuge der δοκιμώτατος schließlich seine Mitmenschen und werde von ihnen zum ‚Angesehensten‘ erkoren. Vgl. Held, Heraklit, S. 189: „Ho dokimotatos bezeichnet denjenigen, der am angesehensten ist, weil seine Meinungen und Urteile am meisten einleuchten. Den so verstandenen Angesehensten folgen auch die Vielen. Das, woran diese Angesehensten eine feste Orientierung, eine zuverlässige Erkenntnis finden zu können glauben […], ist Ansichtshaftes, dokeonta. Dokeonta – das meint: solches von der Art, wie es jeweils Jemandem ‚erscheint‘, d. h. in der jeweiligen Situation zu Gesicht kommt. Das Wort bezeichnet genau das, was in dieser Untersuchung ‚Ansicht‘ genannt wird, d. h. solches, was sich zeigt, offenbar ist, und doch nur occasionell für Jemanden in seiner beschränkten Erfahrungslage gegeben ist, mithin durch den Ausschließlichkeitsanspruch, den solche Erfahrung notwendigerweise mit sich führt, unwahr wird. So kann Heraklit hier an den Doppelsinn von Anschein (im Sinne des Offenkundigen) und bloßem Schein anknüpfen, den das griechische dokei (ähnlich wie das deutsche ‚es scheint‘) hat.“

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4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung

arke und Monolithische wird aufgrund dieser Polarität als wesenszugehöriges Ingredienz des Ἓν καὶ Πᾶν rehabilitiert. Das Wesen der Δίκη selbst ist dem menschlichen Nennen zunächst und zumeist entzogen. Diese Unverfügbarkeit und Anonymität beruht indes keineswegs darauf, dass sie sich absichtlich verbergen würde. Stattdessen wird ihr Walten von den meisten Menschen ignoriert, weil die Gerechtigkeit kein attributiv aufgeladenes Wesen jenseits der Welt des λόγος besitzt. Auch die vollkommene Absenz der Ungerechtigkeit könnte die Gerechtigkeit nach Heraklit nicht zum Vorschein bringen, da sie weder als Legalität oder Moralität begriffen werden kann noch als Qualifikationsmerkmal menschlicher Handlungen prädiziert werden darf. Die Menschen erhaschen nur eine dunkle Ahnung der Δίκη, wenn sie diese von ihrem mutmaßlichen Gegenteil (der Ungerechtigkeit, der Schuld, der Strafe, dem Bösen) abgrenzen. Gerade in der kategorischen Scheidung beider Geltungsregionen verkennen die Menschen die unauflösliche Zusammengehörigkeit zwischen der kosmisch-richtenden, versöhnendstrafenden Gerechtigkeit einerseits und den als ungerecht, sinnwidrig und furchtbar diskreditierten Vorgängen andererseits. Diese paradoxale Synthese, welche die moralisch-konventionellen Disjunktionen transzendiert, konstituiert allererst die wahre Gestalt der Δίκη. Daher heißt es im Fragment 23: ∆ίκης ὄνοµα οὐκ ἂν ᾔδεσαν, εἰ ταῦτα µὴ ἦν. Sie würden nicht einmal den Namen der Δίκη kennen, wenn es jenes [das Ungerechte] nicht gäbe.915

Dass die Gerechtigkeit die Zimmerer der Lüge irgendwann fassen, verurteilen und überwinden wird, äußert Heraklit in einer frappierend ähnlichen Weise auch von dem Feuer. Das Feuer kann als unentrinnbare Notwendigkeit der Einfügung markiert werden. Außerdem weist es eine eschatologische Komponente auf, weil es zwangsläufig über jedes Lebewesen und über alles Seiende richten wird:

915 Heraklit, DK 22 B 23, S. 283. Klaus Held beschreitet einen etwas anderen Deutungspfad. Er interpretiert das Fragment 23 dahingehend, dass die von Heraklit beschriebenen ‚Vielen‘ den ‚Namen der Δίκη‘– im Sinne der konventionellen Bezeichnung des Rechts – tatsächlich kennen. Dieses Wissen gewinnen sie jedoch nur durch die Unterscheidungspraxis der Gesamtheit kodifizierter Rechtsnormen von den als ungerecht klassifizierten Handlungen, sodass sie das in der Identität von Recht und Streit gründende, wahre Wesen der Gerechtigkeit nicht mehr erfassen können. Vgl. Held, Heraklit, S. 200f.: „Fragment 23 sagt: Über der geltenden und im Namen ausdrücklich geltend gemachten Ansicht vergessen die Vielen die unausgesprochene, doch ebenso mögliche Gegenansicht. Worin besteht dieses Vergessen: Die Ansicht hat sich derart beschränkt und sich in der ihr eigenen Sicht verfestigt, daß sie nicht bemerkt, daß die Möglichkeit ihrer eigenen Sicht allein auf ihrem Einbehaltensein in die Auseinandersetzung der Sichten beruht. Die eigene Sicht wäre überhaupt nicht als solche vollziehbar, wenn sie nicht im Streit mit der Gegensicht aufgestellt wäre. Eben dieses Verhältnis bringt Heraklit mit der ihm eigenen Genauigkeit zum Ausdruck, indem er darauf hinweist, daß ‚sie‘, d. h. die Vertreter der im Namen geltend gemachten herrschenden Ansicht, diese Ansicht gar nicht vollziehen könnten, d. h. den Namen des Rechts nicht wissen würden, wenn es das Gegenteil nicht gäbe. Der Spruch bezeugt demnach unmißverständlich, daß der Begriff des Rechts bei Heraklit nicht nur in der Bedeutung vorkommt, wie er von der Einsicht verstanden wird (Recht als Streit), sondern auch als Name einer Ansicht in ihrer Beschränktheit und Einseitigkeit, deren Verwiesenheit auf die Gegensicht von der Einsicht aufgedeckt werden muß.“

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

πάντα γάρ, φησί, τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. Über alles wird das Feuer, sagt er, einmal herankommen, urteilen und es verurteilen.916

Es ist aufschlussreich, dass Heraklit sowohl in dem der Δίκη gewidmeten Fragment 28 als auch in dem von Hippolytos überlieferten Fragment 66, in dem das Feuer als zentraler Akteur proklamiert wird, dasselbe Wort verwendet, um die Restitution des Gleichgewichts und die bedrohliche Verwandlung der Δίκη in Νέμεσις zu beschreiben: καταλήψεται. Derjenige, der sich den periodischen Maßen dieses Feuers zu entziehen und sich übermütig von dem angestammten Platz (als in das weltbildende Feuer verschlungener Teilnehmer) zu entfernen sucht, begeht Hybris: ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαιήν. Hybris soll man noch viel mehr löschen als ein Großfeuer.917

Mit Anaximander gesprochen: Der Megalomane versucht, sich der Ordnung der Zeit zu widersetzen. Aus dem Fragment 64 geht hervor, dass das Feuer mit dem λόγος konvergiert, weil es vernünftig ist.918 Da Heraklit dem Feuer konzediert, wie die Gerechtigkeit über alles Seiende urteilen und richten zu können, ist logisch zu schließen, dass auch die Gerechtigkeit in eine prinzipielle Nähe zur Vernunft respektive zum λόγος rückt. Es ist nochmals darauf zu insistieren, dass die Δίκη nicht nur das hybride Fehlverhalten des Einzelnen korrigiert, zurückweist und bestraft. Sie bezeugt ihre Herrschaft im gesamten Kosmos, wobei ihr die unaufhörlich Vergeltung übenden Erinnyen zur Seite stehen: Ἥλιος γὰρ οὐχ ὑπερβήσεται μέτρα· εἰ δὲ μή, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν. Die Sonne wird die [ihr gegebenen] Maße nicht überschreiten; sonst werden sie die Erinnyen, die Helferinnen der Δίκη, ausfindig machen.919 916 Heraklit, DK 22 B 66, S. 271. 917 Heraklit, DK 22 B 43, S. 281. 918 Vgl. Heraklit, DK 22 B 64, S. 270: φρόνιμον τοῦτο εἶναι τὸ πῦρ. „Das Feuer sei vernünftig“. Indem Klaus Held den alles steuernden Blitz mit dem Feuer gleichsetzt und zugleich akzentuiert, dass die korrekt ausgeübte Tätigkeit des Steuerns mit der Erkenntnis der herrschenden oder anzustrebenden Maßverhältnisse konvergiert, kann er die von Heraklit bekräftigte ‚Verständigkeit‘ des Feuers untermauern und den Verdacht eines Animismus ausräumen. Vgl. Held, Heraklit, S. 414: „Das Vermögen, das Maß zu erkennen und einzuhalten, bezeichnen die Griechen längst vor der terminologischen Festlegung auf diese Bedeutung bei Aristoteles als phronesis. Es kann also nicht überraschen, daß Heraklit das lenkend-regelnde Feuer als pyr phronimon, ‚verständiges Feuer‘ bezeichnet hat.“ Die konkrete Ausgestaltung dieses Steuerungsvermögens manifestiert sich für Held in der periodischen Lokalisierung des Elementaren sowie in dem Wandel zwischen Helligkeit und Dunkelheit, der durch die jeweiligen Verlagerungen des Himmelsfeuers erwirkt wird: Vgl. ebd., S. 416: „Was gesteuert wird, sind die Heraufkunft oder der Schwund der lebenswelt-durchdringenden Wärme, Beweglichkeit, Helligkeit, Dunkelheit, Feuchtigkeit usw.: ‚es wird warm‘, ‚es wird lebendig‘, ‚es wird hell‘, ‚es tagt‘, ‚es dämmert‘, ‚es schmilzt‘, ‚es taut‘ usw. Was in dieser gegenwendigen Bewegung periodisch zum Vorschein kommt, ist der Einzug des Elementaren – des Himmelsfeuers als Luft oder Sturm, des Wassers als Regen, Schnee oder Nebel – in eine Weltgegend.“ 919 Heraklit, DK 22 B 94, S. 273. Klaus Held exponiert in seiner Deutung des Fragments 94, weswegen der von Heraklit entfaltete Nexus zwischen der irreversiblen Maßeinhaltung der Sonne und der Zuteilungskraft der Δίκη keineswegs als naiver Anthropomorphismus aufgefasst werden darf. Vgl. Held, Heraklit, S. 410f.: „Und schließlich, wenn der Bewegungscharakter des Himmelsfeuers durch das Maßverhältnis zwischen den ‚Elementen‘ geregelt ist, ist es nicht weit hergeholt, die Regelmäßig-

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4.4. Das Fragment 28 als wichtigstes Dokument der heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung

Zur Veranschaulichung greift Heraklit auf die mythische Überlieferung zurück, wonach der Sonnenwagen des Helios jeden Tag in einer maßvollen, das kosmische Gleichgewicht gewährleistenden Bewegung rotiert, die sich der menschlichen Wahrnehmung als Sonnenaufgang präsentiert. Die Gerechtigkeit gibt dem Wechsel von Tag und Nacht das Maß vor, leitet das Licht und konterkariert jedweden Überschreitungsversuch. Auf diese Weise hütet und bewacht sie das Seiende. In Anbetracht dieser kosmisch-ubiquitären Obhut der Δίκη können die im Fragment 11 thematisierte „Peitsche“ und das „niemals Untergehende“ aus dem von Heidegger bevorzugten Fragment 16 als Chiffren der Gerechtigkeit verstanden werden: πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέµεται. Jedes über die Erde hinkriechende Lebewesen wird mit der Peitsche gehütet.920 τὸ µὴ δῦνόν ποτε πῶς ἄν τις λάθοι; Wie könnte einer dem nie Untergehenden je verborgen bleiben?921

Die Gerechtigkeit regiert die Lebewesen auf Erden und herrscht über die Himmelskörper. Diejenige Instanz, die alles Seiende in die geordneten Bahnen des einheitsbildenden Umschlagens zurückführt und es in diesen Fugen hält, übernimmt offensichtlich die Funktion des Steuerns. Darin kommt die Gerechtigkeit mit dem Feuer überein, das die Kräfte im Kosmos reguliert. Angesichts ihrer emblematischen Lenkungsgewalt bezeugt sich die Allianz der Δίκη mit dem Blitz, dessen keraunologische Suprematie Heraklit im Fragment 64 prägnant schildert: τὰ δὲ πάντα οἰακίζει Κεραυνός. Alles steuert der Blitz.922

keit des Sonnenlaufs irgendwie (wir wissen nicht genau, wie) von der Geregeltheit des Bewegungscharakters des in ihr gesammelten Feuers her verständlich zu machen (Fragment 94). Das zuletzt genannte Fragment erscheint außerdem bemerkenswert, weil in ihm die Regelung des Maßverhältnisses (metra) mit dem Titel dike, Zuteilung des Zustehenden, benannt wird. Dieser Titel ist bereits aus früherem Zusammenhang als eine Bezeichnung für die in der Einsicht begriffene Identität von Auseinander- und Zusammengehen der Ansichten bekannt. Sofern er im vorliegenden Fragment im Zusammenhang einer heraklitischen Aussage über die Sonne auftaucht, bezeugt er, daß eine Unterscheidung von Themenbereichen wie ‚allgemeine Gegensatzlehre‘ einerseits und ‚Kosmologie‘ andererseits dem heraklitischen Denken ganz unangemessen bleiben muß. Die Aussagen über die Sonne gehören in den Kontext der heraklitischen Gedanken über das geregelte Verhältnis von Himmelsfeuer und unterer Welthälfte. Diese Gedanken sind nicht Bestandteil einer heraklitischen ‚Naturphilosophie‘ oder ‚Naturwissenschaft‘ und insofern von einer ‚allgemeinen Gegensatzlehre‘ zu unterscheiden, sondern haben ebenso wie alle Sprüche Heraklits über Gegensätze die gegensätzlichen Ansichten, nur diesmal in ihrer vorprädikativen Urgestalt als Weisen der Erschlossenheit des Befindlichkeitsspielraums, d. h. der Welt, zum Thema. Demgemäß kann von einer Verwendung des Wortes dike in einer ‚übertragenen‘ (nämlich auf ‚bloße Naturvorgänge‘ angewandten) Bedeutung im vorliegenden Spruch nicht die Rede sein. Begreift man das Denken Heraklits in seiner Einheitlichkeit als Rechenschaftsablage der Einsicht über die lebensweltliche Ansicht, kann das Auftreten desselben Wortes in den beiden (vermeintlich) verschiedenartigen Zusammenhängen nicht überraschen.“ 920 Heraklit, DK 22 B 11, S. 273. 921 Heraklit, DK 22 B 16, S. 259. 922 Heraklit, DK B 22 B 64, S. 271.

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

4.5. Die Gerechtigkeit und das menschliche Gesetz (Δίκη und νόμος) Weil die kosmische Gerechtigkeit generell darauf kapriziert ist, jedwede obstinate Einseitigkeit sowie die atavistische Dogmeninstallierung zu destruieren, erweist sie sich als entscheidende Ermöglichungsbedingung der Zivilisationsausbildung. Erst durch den Einfluss der Δίκη kann es gelingen, die Herrschaft von Privatmeinungen zugunsten des Gesetzes zurückzudrängen und das Politische zu stiften. Heraklits Geistesaristokratismus steht dieser Revokation der Individualansichten nicht entgegen. Gemäß seiner Philosophie besitzen nur wenige Einzelne das erforderliche Vernunftvermögen, um die Einheitsfülle der Gegensätze zu durchschauen und die Sphäre willkürlich-alltäglicher Meinungsgewinnung zu verlassen. Dies lässt sich anhand von zwei thematisch verwandten Fragmenten belegen. Zum einen unterstreicht Heraklit im Fragment 49 die unüberbietbare Relevanz und Deutungshoheit jenes Einzelnen, der sich – so ließe sich ergänzen – aus dem Privaten hin zum Allgemeinen bewegt hat, um von dort die Privatannahmen der Vielen zu unterminieren: εἷς ἐμοὶ μύριοι, ἐὰν ἄριστος ᾖ. Einer gilt mir Unzählige, so er der Ausgezeichnetste ist.923

Dergestalt verbindet sich die Gerechtigkeit, deren Verfasstheit Heraklit erblickt hat und von der er zugleich als Künder auserwählt wurde, mit dem politischen Gesetz der Polis.924 Das Gesetz fordert die Befolgung seiner Direktiven, sofern diese dem λόγος entsprechen. Angesichts seines elitären und skeptischen Menschenbildes kann Heraklit durchaus dafür votieren, die legislatorische Befugnis und die Exekutivgewalt in einer monarchischen Regierungsform zu verwalten. Aufgrund der Anbindung des Regenten an die Gesetzesnorm darf Heraklit nicht als Verfechter eines voluntativen Dezisionismus klassifiziert werden, auch wenn er im Fragment 33 stipuliert: νόµος καὶ βουλῇ πείθεσθαι ἑνός. Gesetz ist es auch, dem Willen eines einzelnen zu gehorchen.925

Weil die Gerechtigkeit jeden Anmaßungseifer bändigt und die Hybris zum Erlöschen bringt, kann die potentielle Peripetie einer monarchischen Herrschaftsform in die Tyrannis niemals von Dauer sein. Retrospektiv kann bilanziert werden, dass diese philosophisch gewonnene und aus dem Walten der Δίκη begründete Einsicht sich in einer historisch-empirischen Betrachtung vollkommen bestätigt. Schließlich lässt sich der selbstsüchtige Usurpator als personalisierter Inbegriff des Trotzes gegen das unerschütterliche Maß des allgemeingültigen λόγος illustrieren. An diesem Ort zeigt sich, weswegen Marc Aurel in seiner Konzeption der universalen Vernunft, in der Exposition der gebotenen Herrschertugenden und in der Erörterung der organisch verfassten Allnatur auf die Autorität heraklitischer Philosopheme zurückgreifen konnte. Zudem wird im Ausgang von der Motivlage der Tyrannis die gewichtige Nähe zwischen Ana923 Heraklit, DK 22 B 49, S. 285. 924 Zu Heraklits politischer Tätigkeit in Ephesos vgl. Charlotte Schubert, Heraklit und die ionischen Isonomien, in: Enrica Fantino u.a. (Hrsg.): Heraklit im Kontext, S. 129–150. 925 Heraklit, DK 22 B 33, S. 285.

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4.5. Die Gerechtigkeit und das menschliche Gesetz (Δίκη und νόμος)

ximander und Heraklit palpabel. Beide Denker begreifen das innerzeitliche Beharren des egozentrisch Vereinzelten auf einem sich selbst illegitim zugesprochenen Recht als Signum und Beweis der Ungerechtigkeit. Anaximander und Heraklit teilen somit die feste Überzeugung, dass sich die Gerechtigkeit als unerschöpfliches, göttliches Gesetz im Medium der menschlichen Gesetze immer durchsetzen wird. Heraklit postuliert darüber hinaus, dass es den politischen Gesetzen Kraft verleihen wird, wenn sie in dem anerkennenden Verständnis des zugrundeliegenden Gemeinsamen verwurzelt sind. Das Fragment 114 ist diesbezüglich von stichhaltiger Tragweite: ξὺν νόῳ λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῷ ξυνῷ πάντων, ὅκωσπερ νόμῳ πόλις, καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως. τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου· κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον, ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσι καὶ περιγίνεται. Indem man sich mit Verstand ausdrückt, muss man Kraft schöpfen aus dem, was allen gemeinsam ist, wie eine Stadt aus ihrem Gesetz, und noch viel stärker. Denn alle menschlichen Gesetze speisen sich aus dem einen, göttlichen Gesetz; dessen Kraft ist unbegrenzt, und es reicht für alles aus und setzt sich durch.926

Daraus leitet sich der Gedanke ab, dass die Bürger ihr Gesetz, das sich als Wesen und als kodifizierte Willensrichtung ihrer Polis konturiert, unbedingt verteidigen müssen. Das Gesetz signalisiert die Wirksamkeit des Vernünftigen, indem es die im permanenten Streit evozierte, verlässliche Periodizität von Schuld, Strafe und Sühne sichert. Das menschliche Gesetz prolongiert die omnipräsente Δίκη in den sozialen Zusammenhang. Dennoch darf das göttliche Gesetz nicht voreilig als unveränderliches Naturrecht definiert werden. Es erscheint plausibler, Δίκη als Stifterin einer politischen, Gegensätze vereinenden Solidität zu interpretieren, die sich verschiedenartig ausprägen kann und permanenten Formwandlungen unterliegt. Das in der konkreten Einheit der Polis kultivierte Gesetz ist das Schutzgewährende, das die Bürger vor der irritierenden Vielstimmigkeit genauso bewahrt wie vor der schematischen Einförmigkeit. Heraklit fordert die Bürger der Polis daher im Fragment 44 auf: μάχεσθαι χρὴ τὸν δῆμον ὑπὲρ τοῦ νόμου ὅκωσπερ τείχεος. Die Bürger sollen für ihr Gesetz kämpfen wir für die Mauer.927

926 Heraklit, DK 22 B 114, S. 285. 927 Heraklit, DK 22 B 44, S. 285. Margot Fleischer bezieht Heraklits Vergleich des Kosmos mit einem Mischkrug überzeugend auf die Kohäsionserhaltung der Gesellschaft und arbeitet die im Fragment 44 anklingende Unausweichlichkeit einer permanenten Wiedergewinnung des Einheitssinnes heraus. Vgl. Fleischer, Anfänge europäischen Philosophierens, S. 29: „Die Mischung ist aus einer (in diesem Fall von außen) erfolgten Bewegung, einem Vereinigen, hervorgegangen; und sie bleibt als Mischung bestehen, wenn die Bewegung in regelmäßigen Abständen wiederholt wird. Von sich her streben das Trockene und das Feuchte hier auseinander; sie bedrohen so die Mischung mit Zerfall. Vermutlich soll man das Gesagte auch als Gleichnis nehmen. Und vielleicht deutet es gar auf Gesellschaft und Staat und fordert dazu auf, gestiftete Gemeinschaft (zwischen Ständen, zwischen Volksgruppen unterschiedlichster Herkunft und mit ‚entgegengesetzten‘ Lebensweisen usw.) nicht sorglos sich selbst zu überlassen, sondern drohendem Zerfall durch tätigen Vollzug des Einigens immer wieder entgegenzuwirken. In diesen Zusammenhang hinein spricht das Fragment: ‚Kämpfen muß das Volk für den Nomos wie für die Stadtmauer‘ (B 44 / 138).“

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4. Eigenständige Interpretation des Motivs der Δίκη in ausgewählten Heraklit-Fragmenten

Durch die ungebrochene Freigabe der Gegensätze und die zulassende Gestaltung des souveränen Werdens sorgt die Gerechtigkeit dafür, dass sich weder das eine Extrem der autokratisch-schrankenlosen Willkürherrschaft noch die entgegengesetzte Gefahr einer demagogieanfällig-unkontrollierten Präeminenz des Majoritätsprinzips durativ befestigen können. Deswegen ist jener νόμος928, welcher die Erfahrung des Widerstreitenden berücksichtigt und mit diesem koexistiert, der Garant für die Zurückweisung dessen, was im Kosmos Chaos und im Bereich des Politischen Anarchie heißt. Resümierend kann die Bilanz gezogen werden, dass erst aus der Universalität des λόγος die Möglichkeit eines übergreifenden, sich im Gesetz verbürgenden Sinngehalts zu schließen ist, der den Egozentrismus abstreift: διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ [ξυνῷ, τουτέστι τῷ κοινῷ· ξυνὸς γὰρ ὁ κοινός. τοῦ λόγου δ' ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν. Daher hat man sich dem Allgemeinen anzuschließen – d. h. dem Gemeinschaftlichen, denn der gemeinschaftliche [Logos] ist allgemein; ungeachtet der Tatsache aber, dass die Auslegung eine allgemeine ist, leben die Leute, als ob sie über eine private Einsicht verfügten.929

Damit verwirklicht sich im Gesetz die spannungsvolle, stets auf die Probe gestellte Harmonie von Kosmos und Polis, die von der Gerechtigkeit gehütet und gegen Ausläufer verteidigt wird.

928 Vgl. zu diesem Begriffspaar die klassische Studie von Felix Heinimann, Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Darmstadt 1987. Zu der durch den Nomos gestifteten ‚Einheit von Ortung und Ordnung‘ vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, 4. Aufl., Berlin 1997, S. 36: „Das griechische Wort für die erste, alle folgenden Maßstäbe begründende Messung, für die erste Landnahme als die erste Raum-Teilung und -Einteilung, für die Ur-Teilung und Ur-Verurteilung ist: Nomos.“ 929 Heraklit, DK 22 B 2, S. 249.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels Was dir auch immer widerfahren mag, es ist dir von Ewigkeit her so vorher bestimmt, und die Verkettung der Ursachen hat von Anfang her dein Dasein und dieses dein Geschick miteinander verknüpft.930

5.1. Einleitende Bemerkungen In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, einige Kernaspekte der stoischen Philosophie Marc Aurels im dezidierten Hinblick auf die Konstellation von Δίκη und φύσις zu präsentieren. In diesem Kontext soll besonders die Verbindung zwischen dem praktischen Einübungscharakter sich wiederholender Meditationen931 und bildreicher Erinnerungsbrücken auf der einen Seite und der Ausarbeitung einer geschlossenen, theoretischen Weltsicht auf der anderen Seite thematisiert werden. Es soll ein antidogmatischer Wesenszug des Denkens Marc Aurels aufgezeigt werden. Der römische Kaiser, so die leitende These, sucht den stoischen Lebensweg als den bestmöglichen und glücksversprechenden zu profilieren, selbst wenn eine der stoischen Doktrin zuwiderlaufende, atomistische oder zufallsbasierte Physik wahr sein sollte. Die folgenden Darlegungen gliedern sich in vier Abschnitte, wobei jeweils mögliche Widersprüche in Marc Aurels Lehre als Orientierungsmarken dienen sollen. Anschließend soll expliziert werden, wie Marc Aurel die vermeintlich aporetischen oder gar fatalistischen Konsequenzen der stoischen Philosophie innerhalb seines Entwurfs einer Lebenskunst der Erhabenheit verortet. Marc Aurels Sentenzen, die der Nachwelt in den 12 Büchern der auf Altgriechisch verfassten Selbstbetrachtungen übereignet worden sind, tragen das Gepräge stilistischer Meisterschaft und unvergleichlicher Eleganz.932 Da die einzelnen Notizen und Abschnitte in sich teilweise sehr dicht formuliert und inhaltsreich sind, soll in diesem Kapitel eine möglichst textnahe Lektüre und Kommentierung ausgewählter Aphorismen erfolgen.

930 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, X. Buch, Nr. 5, S. 150. 931 Zur Biographie und zum Verhältnis zwischen dem Kaiseramt und der Philosophie bei Marc Aurel vgl. besonders die exzellente und materialreiche Untersuchung von Alexander Demandt, Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt, München 2018; sowie die prägnante und instruktive Studie von Klaus Rosen, Marc Aurel, Hamburg 1997. 932 Vgl. diesbezüglich die hervorragende Stilanalyse von Marcel von Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels. 2 Bände, Berlin/New York 2011.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

5.2. Die Disziplinierung des Handlungsantriebs und der Determinismus der Allnatur In diesem Abschnitt wird ein Grundtopos der stoischen Philosophie diskutiert, der zugleich einen der tradierten Zentraleinwände gegen diese Lehre in sich birgt: Die Theorie einer durch die All-Natur besiegelten, kosmischen Notwendigkeit, die alle Geschehnisse zusammenfügt. Zunächst ist in klärender Absicht voranzuschicken, dass die von Marc Aurel diskutierte φύσις in ihren Wesensmerkmalen kaum Gemeinsamkeiten mit der heideggerschen Seynseinheit von Verbergung und Entbergung besitzt. In ihrem Gehalts- und Bezugssinn entspricht die Allnatur Marc Aurels viel eher der von Nietzsche profilierten, anaximandrischen Notwendigkeit der Zeitordnung und der kosmischen Δίκη Heraklits, wie sie im vierten Kapitel dieser Arbeit analysiert und bestimmt wurde. Die virulente Hauptfrage lässt sich wie folgt formulieren: Wie ist angesichts der unausweichlichen Determination natürlicher Prozesse, die sich nicht nur auf passive, menschliche Widerfahrnisse erstreckt, sondern auch den Horizont der aktiven Handlungen, der Motivwahl und der Gedankenassoziation umgreift, die Verwirklichung der Freiheit und der Tugendhaftigkeit möglich? Schließlich ist es die gelingende Ausübung des moralisch Guten, die Zenon, Chrysippos, Epiktet und Marc Aurel einhellig als Ziel und Grund eines glücklichen Lebens apostrophieren.933 Um die These plausibilisieren zu können, dass Marc Aurel die Freiheit vornehmlich in der Disziplinierung des Handlungsantriebes aufspürt, der allein dasjenige will und erstrebt, was für die universal ausgerichtete Erhaltung der Allnatur günstig ist, soll zunächst kurz auf die Freiheitstheorie der älteren Stoa934 eingegangen werden. Dazu sei die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit bereits zitierte Lehrüberlieferung des Hippolytos hier noch einmal wiedergegeben: Und sie selbst versichern, dass alles gemäß dem Schicksal sei, indem sie folgendes Beispiel verwenden: es ist, wie wenn ein Hund an einen Wagen gebunden ist: wenn er folgen will, wird er gezogen und folgt mit seinem freien Willen gemäß der Notwendigkeit des Schicksals. Wenn er aber nicht folgen will, wird er gänzlich gezwungen werden. Genau so verhält es sich mit den Menschen. Auch wenn sie nicht folgen wollen, werden sie gezwungen werden, gänzlich ins Vorbestimmte einzutreten.935

Schon an diesem paradigmatischen Zitat lässt sich trefflich veranschaulichen, weswegen für die stoische Philosophie die drei Disziplinen Logik, Ethik und Physik synthetisch ineinandergreifen.936 Eine sachgerechte Kenntnis der immerwährenden Verknüpfungsgesetze der Natur (Physik) ermöglicht es, das affektorientierte Begehren der unabhängigen Faktoren abzumildern, indem äußere Ereignisse aus der Perspektive 933 Vgl. zu dieser eudämonistischen Grundorientierung der Stoa: Anna Schriefl, Stoische Philosophie. Eine Einführung, Ditzingen 2019, S. 121ff. 934 Einen lehrreichen Einblick in die geschichtlichen Stadien und Wandlungen der stoischen Theoriebildung bietet die luzide Textauswahl von Wolfgang Weinkauf (Hrsg.), Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Texte, Ditzingen 2001. 935 Hippolytus, Haer. 1.21 (SVF 2.975) LS1 386 / LS2 382 (A). 936 Vgl. zu dieser Dreiteilung der Philosophie in die Komponenten der Logik, der Physik und der Ethik sowie zu ihrer Begründung: Maximilian Forschner, Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik, Darmstadt 2018.

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5.2. Die Disziplinierung des Handlungsantriebs und der Determinismus der Allnatur

des sich selbst liebenden und wollenden Ganzen beurteilt werden. Die Logik erlaubt es, durch folgerichtige Schlüsse unpassende Wertkategorien aus den eigenen Urteilen zu entfernen und die Disziplinierung der Zustimmung937 durch die methodische Formierung objektiver Vorstellungen zu befördern. Die Ethik sichert in der Disziplinierung des Wollens einen autonomen Handlungsrahmen, der nach Maßgabe der allgemeinen Menschennatur gestaltet werden kann. Diese durch eine fortschreitende Differenzierung und in einer selbstkritischen Analyse der eigenen Willensmaxime zu gewinnende Autonomie wird von Epiktet prägnant geschildert: Unbesiegbar kannst du sein, wenn du dich auf keinen Kampf einläßt, in dem der Sieg nicht von dir abhängt. […] Du selber willst doch kein Prätor, Senator oder Konsul sein, sondern ein freier Mensch. Nur ein einziger Weg aber führt dahin: Alles zu verachten, worüber wir nicht gebieten.938

Trotzdem ist nicht zu leugnen, dass die in Hippolytos‘ Lehrbericht gewählte HundWagen-Analogie auf den ersten Blick etwas abstrakt wirkt und sich der in der Formulierung „wenn er aber nicht folgen will, wird er gänzlich gezwungen werden“939 lancierte Zwangscharakter sowohl phänomenal als auch psychologisch-motivational schwerlich ausweisen lässt. Um sich ebendiesen begrenzten Aktionsradius der conditio humana und die Einrichtungskraft des Schicksals vor Augen zu führen, ruft Marc Aurel immer wieder das Gleichnis des Schauspiels auf, das die ewige Wiederkehr der gleichen Szenen und die Invarianz des Geschichtlichen allegorisiert: Denke stets daran, daß alles, wie es jetzt ist, auch ehemals war, und dann denke auch daran, daß es einst ebenso sein werde. Stelle dir alle die gleichartigen Schauspiele und Auftritte, welche du aus deiner eigenen Erfahrung oder aus der früheren Geschichte kennst, vor Augen, zum Beispiel den ganzen Hof Hadrians, den ganzen Hof Antonins, den ganzen Hof Philipps, Alexanders, des Krösus. Überall dasselbe Schauspiel, nur von anderen Personen ausgeführt!940

Jegliche affektive Erregung und jeder Wunsch einer abweichenden Ereignisgestaltung indizieren für Marc Aurel einen fundamentalen Irrtum, insofern sich in ihnen ein impliziter Vorwurf gegen das Notwendige verbirgt. Wie sich der auf der Hybris seiner unreflektierten Privatansicht beharrende Einzelne in Heraklits Philosophie der Δίκη widersetzt, so überschreitet der Affektgeleitete, Trotzige und Aufbegehrende bei Marc 937 Zum stoischen Theoriezusammenhang zwischen der Zustimmung, der adäquat erfassenden Vorstellung und dem differenzierenden Urteilsvermögen vgl. Schriefl, Die stoische Philosophie, S. 53: „Die Zustimmung bleibt auch bei den erfassenden Vorstellungen ein freiwilliger Akt. Entscheidend ist jedoch, dass sich die erfassenden Vorstellungen als so evident präsentieren, dass es unserer Natur zuwiederliefe, ihnen unsere Zustimmung zu verweigern. Viele erfassende Vorstellungen mögen weniger leicht zu identifizieren sein als die von Tageslicht verursachte Vorstellung, dass Tag ist. Doch den Stoikern zufolge kann es gelingen, das eigene Urteilsvermögen zu schulen. Die Herausforderung liegt dabei weniger darin, eine erfassende Vorstellung zu ‚übersehen‘ als unvorsichtigerweise einer unverlässlichen Vorstellung seine Zustimmung zu gewähren. Es gilt also, seine Zustimmung konsequent zu verweigern, wenn eine Vorstellung in irgendeiner Hinsicht zweifelhaft ist. Die entsprechende Tugend heißt ‚Nicht-Übereiltheit‘ oder ‚Nicht-Voreiligkeit‘ (aproptosia).“ 938 Epiktet, Handbüchlein der Moral, Nr. 19, Griechisch/deutsch, hrsg. u. übers. von Kurt Steinmann, Ditzingen 2004, S. 27. 939 Vgl. Hippolytus, Haer. 1.21 (SVF 2.975) LS1 386 / LS2 382 (A). 940 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, X. Buch, Nr. 27, S. 159.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Aurel die präfigurierten Maßbahnen der Allnatur. Illustrierend sei hier auf Marc Aurels Einschätzung der Position des Zorns im Kosmos hingewiesen, die er luzide im XI. Buch vorträgt: […] So gehorchen demnach auch die Grundstoffe dem Ganzen und bleiben da, wo sie einmal hingestellt worden sind, notgedrungen, bis ihnen von dorther wieder das Zeichen zur Auflösung gegeben wird. Ist es nun nicht arg, daß nur der vernünftige Teil deines Wesens ungehorsam und über den ihm angewiesenen Posten ungehalten ist? Und doch wird diesem gerade nichts mit Zwang auferlegt, sondern das nur, was seiner Natur angemessen ist. Und dennoch läßt er sich’s nicht gefallen, sondern neigt sich zum Gegenteil hin; denn jeder Schritt zu Ungerechtigkeiten, Ausschweifungen, Ausbrüchen von Zorn, Schwermut und Furcht ist nichts anderes, als ein Abfall von der Natur. Und so oft deine Vernunft über irgendein Ereignis mißmutig wird, verläßt sie jedesmal ihren Posten. Bist du ja zur Gleichmütigkeit und Gottesfurcht nicht minder, als zur Gerechtigkeit geschaffen; denn auch jene Tugenden sind im Begriffe des Gemeingeistes enthalten, ja sie sind sogar noch älter als rechtliche Handlungen.941

Im Hinblick auf die Δίκη Heraklits beruht der erwähnenswerte Befund dieser Sentenz besonders auf Marc Aurels Akzentuierung der Primordialität der Gerechtigkeit gegenüber den positiv-rechtlichen Handlungsarten. Gleichwohl lässt sich ein einschneidender Unterschied im Gerechtigkeitsbegriff beider Denker statuieren. Während Heraklit die Gerechtigkeit als immanente Organisationskraft des Werdens und als Synonym der Wohlordnung erfährt, wird sie von Marc Aurel auch als subjektive Kardinaltugend begriffen, die sozialethisch und gemeinschaftspolitisch angereichert wird.942 941 Ebd., XI. Buch, Nr. 20, S. 177. 942 Marcel van Ackeren unterstreicht den exzeptionellen Rang der Gerechtigkeit bei Marc Aurel. Van Ackeren führt diese Hochschätzung der Gerechtigkeit auf Marc Aurels praktisch-politische Orientierung zurück. Vgl. Van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels, S. 637f.: „Nicht nur wenn man die Häufigkeit der Nennung vergleicht, fällt auf, dass Marc Aurel der Gerechtigkeit einen besonderen Stellenwert einräumt. Wie lässt sich diese herausragende Rolle verstehen? Einerseits hält Marc Aurel wie Platon in der Politeia Gerechtigkeit für die basale Tugend: ‚von ihr gegen die übrigen Tugenden aus.‘ Das erklärt, warum vorrangig die Gerechtigkeit erwähnt wird. Andererseits folgt Marc Aurel Platons Bestimmung in den Büchern II-IV der Politeia nur sehr eingeschränkt. Platon hatte die Gerechtigkeit dort als Kraft in der Seele aufgefasst, derzufolge jeder Seelenteil das Seinige tut, und die somit die Kraft ist, die die anderen Tugenden schafft. Platon versteht sie daher nicht unmittelbar (aber natürlich mittelbar) als Tugend, die den Umgang mit anderen Menschen oder eine Gemeinschaft betrifft. Für Marc Aurel hingegen ist Gerechtigkeit als Tugend viel stärker politisch-praktisch auf die Gemeinschaft und den Umgang mit anderen Menschen bezogen. Es ist also wahrscheinlich, dass seine über andere Stoiker hinausgehende Wertschätzung der Gerechtigkeit kein platonisches Einsprengsel ist, sondern ebenfalls seiner Akzentuierung des Gemeinschaftsgedankens geschuldet ist und sonach anzeigt, dass seine Ethik als Sozialethik verstanden werden kann.“ Auch Pierre Hadot optiert für einen Vorrang der Gerechtigkeit gegenüber den beigeordneten Tugenden der Wahrheit und der Mäßigung. Vgl. Hadot, Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels, Frankfurt a. M. 1997, S. 324: „Denn die Unfrömmigkeit gegen die Natur besteht in der Ungerechtigkeit, nicht nur, wenn man sich weigert, gegenüber den anderen Menschen gerecht zu sein, sondern auch, wenn man sie anlügt, und selbst wenn man unwillentlich das Wahre vom Falschen nicht zu unterscheiden weiß, bricht man doch so die Ordnung der Natur und stellt einen Mißton in der umfassenden Harmonie dar. Und auch, wenn man die Natur bezichtigt, ihre Lose ungerecht unter die Bösen und die Tugendhaften auszuteilen, begeht man eine Ungerechtigkeit. Eine ähnliche Idee läßt sich in Buch XI (10, 4) wiederfinden: ‚Die Gerechtigkeit wird nicht bewahrt, wenn wir Unterschiede zwischen gleichgültigen Dingen machen oder uns beim Betrachten der Dinge leicht täuschen lassen oder überstürzt oder unstet urteilen.‘“

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5.2. Die Disziplinierung des Handlungsantriebs und der Determinismus der Allnatur

Bei dem römischen Kaiser vereinigt sich die Gerechtigkeit innerhalb des harmonischen Sinnverbundes des Gemeingeistes mit der Gleichmütigkeit und der Gottesfurcht. Die derivierte Hegemonie des Unausweichlichen wird von Aurel im VII. Buch seiner Selbstbetrachtungen aus einem Willensakt der Allnatur hergeleitet, nach dessen Aktualisierung alles Seiende unter der Ägide des Satzes vom Grunde organisiert wird: Die Allnatur fühlte den Drang zur Weltschöpfung. Nun aber geschieht alles, was geschieht, nach dem Gesetz der notwendigen Folge, oder es ist auch das wichtigste, dessen Verwirklichung die weltbeherrschende Vernunft eigens anstrebt, ohne Grund vorhanden. In vielen Fällen wird es deine Geistesruhe erhöhen, wenn du dessen eingedenk bist.943

Dass die vermeintlichen Schicksalsschläge als Bewährungsproben und Vorrichtungen der Allnatur zu verstehen sind, die sie zuteilt, um dem Menschen ein Exemplifizierungsfeld seiner Ataraxie zu gewähren, kann als eine der zentralen Einsichten Epiktets und Marc Aurels gewertet werden.944 Dies soll durch einige thematisch verwandte Zitate abgebildet werden. In der Aufzeichnung Nr. 49 des IV. Buches erörtert der Philosophen-Kaiser die axiologische Indifferenz des vordergründigen Unglücks, das dem Einzelnen erstens seit jeher von der Allnatur vorbestimmt war (Physik), ihn zweitens nicht davon abhält, eine gerechte und umsichtig zustimmende Urteilsdisposition (Logik) zu bewahren und ihn drittens nicht daran hindern kann, gegenüber den Mitmenschen bescheiden und großzügig zu agieren (Ethik): Sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen! Er bleibt stehen, und rings um ihn legen sich die angeschwollenen Gewässer! Ich Unglücklicher, daß mir dieses Schicksal widerfahren mußte! Nicht doch, sondern glücklich bin ich, daß ich trotz diesem Schicksal kummerlos bleibe, weder von der Gegenwart gebeugt, noch von der Zukunft geängstigt! So etwas hätte ja jedem begegnen können, aber nicht jeder wäre dabei kummerfrei geblieben. Warum wäre nun jenes eher ein Unglück als dieses ein Glück? Nennst du aber überhaupt etwas ein Unglück für einen Menschen, was doch mit der Natur des Menschen in keinem Widerspruch steht? Oder scheint dir etwas der Natur zu widersprechen, was nicht gegen den Willen seiner Natur ist? Was ist aber dieser Wille? Du kennst ihn. Hindert dich nun wohl dein Schicksal, gerecht, hochherzig, besonnen, verständig, vorsichtig im Urteil, truglos, bescheiden, freimütig zu sein und die anderen Eigenschaften zu haben, in deren Besitz die Eigentümlichkeit der Menschennatur besteht? Erinnere dich also, bei jeder Veranlassung zur Unlust die Wahrheit geltend zu machen: dies ist kein Unglück, vielmehr es mit edlem Mute zu tragen, ein Glück.945

Es ist unschwer zu erkennen, dass Marc Aurel mit der Fels-Metapher eines der anschaulichsten Sinnbilder der stoischen Ataraxie aufruft. Die Gewinnung der Seelenruhe darf keineswegs als weltfremde Illusion verworfen werden. Marc Aurel ist sich der Schwierigkeit ihrer Erlangung für ein endliches Lebewesen vollkommen bewusst. In den Selbstbetrachtungen exemplifiziert die Unerschütterlichkeit der Seele die Gipfelhöhe und seltene Vollendung einer ausgefeilten Programmatik, deren logisch-methodische Grundoperation Pierre Hadot in seinem Werk Die innere Burg sehr treffend

943 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VII. Buch, Nr. 75, S. 111. 944 Zu Marc Aurels Epiktet-Rezeption vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 87–108. 945 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IV. Buch, Nr. 49, S. 54f.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

als „physikalische Definition“946 klassifiziert hat. Im Akt der Perzeption vorgeblicher Unglücksfälle appelliert Marc Aurel an eine Ausklammerung sämtlicher Werturteile. Er nimmt den widrigen Ereignissen ihr Schwergewicht, indem er sie auf die Normalform ihrer naturalen Genese und Faktizität reduziert, wie sie in der bereinigten Rezeptivität der sinnlichen Wahrnehmung erscheint: Zu dem, was die sinnlichen Wahrnehmungen dir unmittelbar – in erster Linie – verkündigen, dichte dir nicht noch etwas in Gedanken hinzu. Man hat dir hinterbracht, dieser und jener rede schlimm von dir. Gut! Das aber, daß du hierdurch Schaden leidest, hat man dir nicht hinterbracht. Ich sehe, daß mein Kind krank ist. Gut! Das aber, daß es in Gefahr schwebt, sehe ich nicht. So, nun bleibe immer bei den ersten Eindrücken stehen und setze nichts aus deinem Innern noch selbst hinzu, und dir wird nichts geschehen. Oder vielmehr, setze etwas hinzu, als ein Mann, der alle Weltbegebenheiten durchschaut!947

Insofern die Menschen die Beurteilung notwendig erfolgender Geschehnisse nach Maßgabe der perspektivenabhängig-persönlichen Wertbegriffe von „gut“, „schlecht“, „nützlich“ und „schädlich“ gewohnheitsmäßig und nahezu mechanisch habitualisieren, enthüllen sie sich für Marc Aurel – ähnlich wie für Heraklit – als unfreie Diener und Vollstrecker täuschender Vorurteile. Gerade in dem ruhigen Verzicht auf derartige, assoziative Urteile manifestiert sich für Heraklit und Marc Aurel das Aufscheinen einer tieferen, den wahren Seinsgründen zugewandten Freiheit. In einer für ihn typischen, logisch-dialogischen Disjunktionskette grenzt Marc Aurel im IX. Buch den menschlichen Wirkungsradius differenziert ein, um die innewohnende Ursächlichkeit der Seele freizulegen. Er gelangt zu dem Resultat, dass die Attribute der Unabhängigkeitsauslotung, der Bedürfnislosigkeit und der Furchtlosigkeit gänzlich in das Bestimmungsvermögen des Einzelnen fallen. Als das lichtvollste und philosophisch ambitionierteste Merkmal der ἀπάθεια kann indes die von Marc Aurel konzipierte, negative Freiheit von der Performativität des eigenen Befreiungswillens gewürdigt werden: Entweder vermögen die Götter nichts, oder sie vermögen etwas. Wenn sie nun nichts vermögen, warum betest du? Vermögen sie aber etwas, warum flehst du sie nicht, statt um Abwendung dieses oder jenes Übels, oder um Verleihung dieses oder jenes Gutes, vielmehr um die Gabe an, nichts von all dem zu fürchten oder zu begehren oder darüber zu trauern? Denn wenn sie überhaupt den Menschen zu helfen vermögen, so können sie ihnen auch dazu verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du: ‚Das haben die Götter in meine Macht gestellt.‘ Nun, ist es da nicht besser, das, was in deiner Macht steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als zu dem, was nicht in deiner Macht steht, mit sklavischer Erniedrigung dich hinreißen zu lassen? Wer hat dir denn aber gesagt, daß die Götter uns in dem, was von uns abhängt, nicht beistehen? Fange doch nur einmal an, um solche Dinge zu beten, 946 Zur Begründung, Verfahrungsweise und Ausübung der ‚physikalischen Definition‘ vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 191: „Wir finden stets dieselbe Methode der Kritik der Vorstellungen und der Werturteile wieder, die darin besteht, den Dingen ihren falschen Schein zu entreißen, der uns Furcht einflößt, sie adäquat zu definieren, ohne unserer ersten und objektiven Vorstellung von ihnen fremde Vorstellungen beizumischen. Diese Methode haben wir Methode der physikalischen Definition genannt. Nach Marc Aurel besteht sie nicht nur darin, eine Wirklichkeit auf das zu reduzieren, was sie ist, sondern auch darin, sie in ihre Teile zu zerlegen, um zu entdecken, daß sie lediglich eine Ansammlung von jenen Teilen und nichts anderes ist. Kein Objekt kann uns die Selbstbeherrschung verlieren lassen, wenn wir es dieser Methode der Teilung unterziehen.“ 947 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VIII. Buch, Nr. 49, S. 126f.

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5.2. Die Disziplinierung des Handlungsantriebs und der Determinismus der Allnatur

und du wirst sehen! Der fleht: ‚Wie komme ich doch zu dem Genusse jener Geliebten?‘ Du: ‚Wie entreiße ich mich dem Verlangen danach?‘ Der: ‚Wie fange ich’s an, um von jenem Übel frei zu werden?‘ Du: ‚Wie fange ich’s an, um der Befreiung davon nicht zu bedürfen?‘ Ein anderer: ‚Was ist zu tun, daß ich mein Söhnchen nicht verliere?‘ Du: ‚Was ist zu tun, daß ich seinen Verlust nicht fürchte?‘ Mit einem Worte: Gib allen deinen Gebeten eine solche Richtung, und du wirst sehen, was geschieht!948

Vor diesem Hintergrund sind auch Marc Aurels enigmatische Aussagen aus dem V. Buch und XI. Buch der Selbstbetrachtungen zu verstehen, dass die Seele niemals unmittelbar durch die Außendinge tangiert werde, sondern dass es primär ihre Meinungen über die Außendinge seien, die in ihr eine ablehnende Gemütslage evozieren: Die Außendinge selbst berühren die Seele auf keinerlei Weise. Sie haben keinen Eingang zu ihr und können die Seele weder umstimmen noch irgendwie bewegen. Sie erteilt sich vielmehr selbst allein Stimmung und Bewegung, und nach Maßgabe der Urteile, welche sie über ihren eigenen Wert fällt, gestaltet sie auch die ihr vorliegenden Dinge.949 Die Außendinge, welche du mit leidenschaftlicher Unruhe suchst oder fliehst, kommen nicht zu dir, vielmehr kommst du gewissermaßen zu ihnen. Laß also doch dein Urteil über sie ruhen, und auch sie werden dann ruhig bleiben, wo sie sind, und dich wird man sie weder suchen noch fliehen sehen.950

Marc Aurels thematisch verwandte Auffassung, dass alles Vorstellung sei, darf also keinesfalls im Sinne eines subjektiven Idealismus interpretiert werden. Der korrespondierende Aphorismus, mit dem Marc Aurel auf eine Grundlehre Epiktets rekurriert, ist in der Nr. 22 des XII. Buches situiert: Alles ist Vorstellung, und diese hängt von dir ab. Räume denn, wann du willst, die Vorstellung aus dem Wege, und gleich dem Seefahrer, der das Vorgebirge umschifft hat, wirst du unter Windesstille auf ruhigere See in die wogenfreie Bucht einfahren.951

Der Terminus ‚Vorstellung‘ bezeichnet eine inadäquate Idee, die sich in der Seele des Rezipienten äußerer Einwirkungen und Wahrnehmungseinflüsse generiert und in der Gestalt eines Werturteils fälschlicherweise auf die insinuierte Wesensverfassung einzelner Dinge, Lebewesen und Personen projiziert wird. Demgegenüber versetzt sich 948 Ebd., IX. Buch, Nr. 40, S. 145f. 949 Ebd., V. Buch, Nr. 19, S. 66. 950 Ebd., XI. Buch, Nr. 11, S. 171. Anna Schriefl profiliert das Vermögen der Zustimmungsverweigerung gegenüber extern verursachten Vorstellungen und die stoische Einsicht in die Abhängigkeit aller Gefühle von der jeweiligen Beschaffenheit der Seele als privilegierte Manifestationsformen der menschlichen Freiheit innerhalb des determinierten Alls. Vgl. Schriefl, Die stoische Philosophie, S. 49f.: „Die Stoiker betonen, dass die Zustimmung ‚bei uns‘ liegt (eph’ hemin), d. h. freiwillig erfolgt. Die Vorstellungen, die sich in uns bilden, liegen im Gegensatz dazu nicht ‚bei uns‘: Sie werden von externen Gegenständen jenseits unserer Kontrolle in uns ausgelöst. […] Die Zustimmung ist eine wichtige Funktion der Vernunft und spielt in der stoischen Philosophie eine Schlüsselrolle. Sie steht im Zusammenhang mit der Frage, auf welche Weise unsere Freiheit in einem deterministischen Universum möglich ist. […] Der Akt der Zustimmung ist außerdem für die Gefühlstheorie bedeutend. In diesem Zusammenhang betonen die Stoiker, dass nicht die äußeren Gegenstände Gefühle in uns auslösen, sondern wir selbst, indem wir aktiv einer werthaft gefärbten Vorstellung unsere Zustimmung erteilen. […] Da die Zustimmung allein bei mir liegt, bin ich verantwortlich für die Gefühle, die ich empfinde, und imstande, sie zu ändern.“ 951 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, XII. Buch, Nr. 22, S. 189.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

die Tugend der Weisheit – wie in Heraklits λόγος-Lehre – in ihrer höchsten Ausprägung in eine auktoriale Perspektive.952 Die vernünftige Seele begreift nicht nur alle Fährnisse als Glieder einer ewigen Harmonie und als personal spezifizierte Beziehungsmomente. Vielmehr erhebt sie sich sogar zu der majestätischen Einsicht, dass sich das Weltganze von sich selbst dissoziierte, wenn der als potenzieller Repräsentant der Vernunft figurierende Einzelne das ihm Zugeteilte nicht ergeben und leidenschaftslos ertragen würde. Das prima facie von einer kosmischen Notwendigkeit erdrückte Individuum erhält im Angesicht seines Vermögens der bewussten Einwilligung eine Statthalterfunktion, durch die es zum Knotenpunkt des gesamten Seins avanciert: Gerade wie der Ausdruck zu verstehen ist: der Asklepiade habe diesem oder jenem Kranken das Reiten oder ein kaltes Bad oder das Barfußgehen verordnet, ebenso auch der: die Allnatur habe diesem oder jenem eine Krankheit oder Verstümmelung oder einen Verlust oder etwas anderes derart verordnet. Denn dort bedeutet der Ausdruck: ‚Er hat´s verordnet‘ soviel: ‚Er hat es ihm als zur Gesundheit dienlich angeordnet‘, hier aber soviel als: ‚Was jedem Menschen begegnet, ist für ihn als der Naturnotwendigkeit gemäß angeordnet.‘ In ähnlicher Weise sagen wir ja, dieses und jenes füge sich für uns, wie die Baukünstler von den Quadersteinen in den Mauern oder Pyramiden sagen: ‚Sie fügen sich‘, wenn sie durch irgend eine Zusammensetzung ineinander passen. Denn durch alles geht eine Harmonie; und gleichwie aus allen Körpern zusammengenommen die Welt ein so vollendeter Körper wird, so wird auch aus allen wirkenden Ursachen zusammengenommen eine so vollendete ursächliche Kraft, das Schicksal. […] Aus zwei Gründen mußt du also mit deinem Geschicke zufrieden sein: fürs erste nämlich, weil es dich traf und dir verordnet wurde und in Verkettung mit einer langen Reihe vorhergegangener Ursachen auf dich irgendwie Bezug hatte; fürs andere aber, weil es für den Beherrscher des Ganzen Grund seines gedeihlichen Wirkens, seiner Vollkommenheit, ja sogar seiner Fortdauer ist. Denn das Weltganze würde verstümmelt, wenn du am Zusammenhang und Zusammenhalt wie der Bestandteile, so denn auch der wirkenden Ursachen auch nur das geringste lostrennen wolltest. Du trennst es aber los, soviel an dir ist, wenn du damit unzufrieden bist und es gewissermaßen wegzuräumen suchst.953

Im Rekurs auf die Semantik des abgehärteten, alles Überwältigende souverän abweisenden Felsens ist anzumerken, dass Marc Aurel die vernünftige Seele auch einem Feuer vergleicht, welches in der Begegnung mit dem Fremden und vermeintlich Exis-

952 Ähnlich wie Marc Aurels Einsicht in die harmonisch verfasste All-Natur, basiert auch Nietzsches Philosophem des amor fati auf einer sowohl zeitlichen, die Ewigkeit umfassenden Einordnungsfähigkeit jedes scheinbar isolierten Ereignisses in die gewesene und künftige Verflechtung der Dinge als auch auf einem räumlich-vertikalen Verständnisvollzug der Gleichberechtigung der nebeneinander existierenden Lebewesen. Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 297: „Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anderes haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –, sondern es lieben.“ Vgl. auch Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 436: „Ich habe mich oft gefragt, ob ich den schwersten Jahren meines Lebens nicht tiefer verpflichtet bin als irgend welchen anderen. So wie meine innerste Natur es mich lehrt, ist alles Nothwendige, aus der Höhe gesehn und im Sinne einer grossen Ökonomie, auch das Nützliche an sich – man soll es nicht nur tragen, man soll es lieben… Amor fati: Das ist meine innerste Natur.“ 953 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V. Buch, Nr. 8, S. 59f.

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5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen

tenzbedrohenden nicht erlischt, sondern sich das Zuwiderlaufende einverleibt und es als Vehikel der eigenen Stärkung nutzt: Wenn der in uns herrschende Geist sich in einem naturgemäßen Zustande befindet, so nimmt er den Ereignissen gegenüber eine solche Stellung ein, daß er sich jederzeit in das Mögliche und Gegebene mit Leichtigkeit zu finden weiß. Denn er hat ja alsdann keine Vorliebe zu einem für ihn besonders auserlesenen Stoffe der Tätigkeit, sondern die wünschenswerten Dinge sind nur mit Einschränkung Gegenstände seines Strebens; was ihm aber an deren Statt in den Weg tritt, das macht er sich selbst zu einem Mittel der Übung, der Flamme gleich, wenn diese einen in sie fallenden Stoff überwältigt, wovon ein schwächeres Licht erlöschen würde; aber ein flammendes Feuer pflegt das, was ihm zugeführt wird, sich gar schnell anzueignen und zu verzehren und lodert gerade davon nur um so höher empor.954

5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen Nachdem in der vorigen Sektion dargestellt wurde, wie Marc Aurel die menschliche Willensfreiheit austariert und stabilisiert, soll in diesem Abschnitt die Konzentration auf einen zweiten Problempunkt der stoischen Ethik erfolgen. Neben der Frage nach der Versöhnbarkeit des Weltgeschicks mit dem individuellen Handlungsvermögen kann die Umkreisung einer Faktizität des Bösen als größte Herausforderung des Stoizismus betrachtet werden kann. Die Schwierigkeit verdichtet sich in jener schwergewichtigen Frage, die Nietzsche in vergleichbarer Weise an Heraklit955 adressierte: Existiert das Böse und kann es ungerechte Handlungen geben, wenn alle menschlichen Taten letztendlich auf eine ubiquitäre Ursachenverkettung und auf eine Metamorphose der Urstoffe zurückzuführen sind, die aus dem Selbsterhaltungswillen der Allnatur entspringt? Darauf aufbauend, lassen sich zwei weitere Kerneinwände imaginieren. Müsste der konsequente Stoiker erstens nicht sogar die zynische Exkulpationsgeste des überzeugten Deterministen dulden, der sich der Verantwortung für seine moralisch intolerablen Handlungen mit dem Hinweis auf das irreversible, kosmische Fundament entzieht, das gewissermaßen durch ihn hindurch gewirkt habe?956 Ist zweitens eine sachgegründete Distinktion zwischen „gut“ und „böse“ überhaupt noch legitim, 954 Ebd., IV. Buch, Nr. 1, S. 38. 955 Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 830: „Ist jetzt nicht der ganze Weltprozeß ein Bestrafungsakt der Hybris? Die Vielheit das Resultat eines Frevels? Die Verwandlung des Reinen in das Unreine Folge der Ungerechtigkeit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt, und somit zwar die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu tragen immer von Neuem wieder verurtheilt? Jenes gefährliche Wort, Hybris, ist in der That der Prüfstein für jeden Herakliteer; hier mag er zeigen, ob er seinen Meister verstanden oder verkannt hat. Giebt es Schuld Ungerechtigkeit Widerspruch Leid in dieser Welt?“ 956 Anna Schriefl votiert für die Auffassung, dass die Freiheitslehre der Stoiker als kompatibilistische Position gekennzeichnet werden kann. Um diese These zu plausibilisieren, rekurriert Schriefl auf die wichtige Unterscheidung zwischen der vorausgehenden und der hauptsächlichen Ursache. Als hauptsächliche Ursache wird die innere Qualität des Charakters markiert, wohingegen die vorausgehendverursachenden Zustände und Körper nur den allgemeinen Reaktionsrahmen umranden können.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

wenn die sich notwendigerweise und unumstößlich durchsetzende Allnatur (beziehungsweise die Δίκη Heraklits) den übergeordneten Bewertungsmaßstab repräsentiert? Können sinnwidrige oder gar grausame und menschenfeindliche Gesinnungen und Taten noch als an sich schlechte Handlungsweisen definiert und bestraft werden, wenn normative Klassifikationen allein der Vorstellungswelt der uneinsichtigen Seele entstammen sollen? Wie kann Marc Aurel das kosmopolitische957 Ethos und die aufrichtige Emphase für eine disziplinierte Pflichterfüllung, für die tätige Förderung des Gemeinwohls und für die Privilegierung der Nächstenliebe gegenüber dem privaten Rückzug als ethisch geboten aufrichten, wenn der Eigensüchtige auf den ersten Blick der Ursachenordnung ebenso folgt wie der Hochherzige und Sanftmütige? Um die folgenden Überlegungen zu plausibilisieren, sei an diesem Ort zuvorderst daran erinnert, dass das Ziel der stoischen Philosophie in der glücklichen und unabhängigen Lebensführung kulminiert, die sich im Einklang mit der Allnatur bewegt. Bereits in der ersten Aufzeichnung des II. Buches der Selbstbetrachtungen entwickelt der römische Kaiser einen für die hier thematische, neuralgische Problemkonstellation ausgesprochen aufschlussreichen Bestimmungszusammenhang. Der wichtige Passus lautet: Vgl. Schriefl, Die stoische Philosophie, S. 116f.: „Die Stoiker verstehen die kausale Interaktion von Einzelkörpern als Zusammenspiel mehrerer Ursachen und unterscheiden dabei zwischen einer vorausgehenden (auch: helfenden) Ursache und einer hauptsächlichen (auch: vollendeten) Ursache. Die Unterscheidung wird in einem Text bei Cicero anhand eines berühmten Beispiels erläutert: Eine Walze wird angestoßen und rollt. Die vorausgehende Ursache ist ein Körper, der von außen auf sie einwirkt. Ohne diese Ursache würde sie nicht ins Rollen geraten. Doch die hauptsächliche Ursache für ihr Rollen liegt in ihrer eigenen Beschaffenheit, nämlich in ihrer runden Form. […] Ebenso verhält es sich mit unseren Handlungen: Die vorausgehenden Ursachen unserer Handlungen sind Körper, die von außen auf uns einwirken. Die hauptsächliche Ursache liegt jedoch in unserer eigenen, inneren Verfassung. Diese innere Verfassung ist die maßgebliche Ursache dafür, dass wir auf den äußeren Körper in bestimmter Weise reagieren. Von ihr hängt ab, welche Überzeugung wir bilden und welche Handlungen wir wählen.“ Auf dieser Grundlage gelangt Schriefl zu dem Schluss, dass die äußeren Ursachen für die Stoiker keineswegs hinreichend sein können, um eine handlungswirksame Motivlage vollständig zu bestimmen und die entsprechenden Willensakte zu generieren. Vgl. ebd., S. 118: „Die Annahme, die vollständige kausale Vernetzung der Dinge führe dazu, dass unsere Handlungen durch die äußeren Ursachen vollkommen determiniert sind, liegt somit daran, dass die stoische Ursachenlehre missverstanden wird. […] Inwiefern ist vor dem Hintergrund dieser Theorie also persönliche Verantwortung und Freiheit möglich? Sicherlich besteht unsere Freiheit nicht darin, dass wir uns in jeder Situation auch hätten anders verhalten können. Unter der Voraussetzung, dass sowohl mein Charakter als auch die äußeren Ursache dieselbe ist, werde ich stets unweigerlich dieselbe Handlung ausführen. Allerdings sind wir für unseren Charakter verantwortlich und angehalten, ihn stets zu verbessern.“ 957 Zu dieser kosmopolitischen Ausrichtung Marc Aurels vgl. besonders Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IX. Buch, Nr. 9, S. 136f.: „Alle Dinge, die an etwas Gemeinschaftlichem teilhaben, streben zum Gleichartigen hin. Alles Erdige senkt sich zur Erde, alles Feuchte und gleichermaßen alles Luftige fließt zusammen, sodaß es der Gewalt bedarf, um solche Stoffe auseinander zu halten. Das Feuer zwar hat, vermöge des Elementarfeuers, seinen Zug nach oben, aber doch ist es zugleich geneigt, mit jedem hier befindlichen Feuer sich zu entzünden, sodaß alle Stoffe, die nur einigermaßen trocken und also weniger mit dem gemischt sind, was der Entzündung wehrt, leicht in Brand geraten. Ebenso nun, oder auch noch mehr, strebt alles, was an der gemeinschaftlichen Natur teilhat, dem ihm Verwandten zu. Denn je edler es ist, als alles übrige, um so geneigter ist es auch, mit dem Verwandten sich zu vermengen und zusammenzufließen.“

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5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen

Gleich in der ersten Morgenstunde sage zu dir: Heute werde ich mit einem vorwitzigen, undankbaren, übermütigen, ränkevollen, verleumderischen, ungeselligen Menschen zusammentreffen. Alle diese Fehler haften an ihnen wegen ihrer Unkenntnis des Guten und des Bösen. Ich hingegen sehe es ein, daß das Gute seinem Wesen nach schön, das Böse häßlich ist, und weiß von der Natur selbst des Fehlenden, daß sie mit der meinigen verwandt ist, nicht sowohl desselben Blutes und Samens, als vielmehr derselben Vernunft, des gleichen göttlichen Funkens teilhaftig. Auch weiß ich, daß weder er, noch sonst ein Mensch mich beschädigen kann; denn niemand vermag es, mich in etwas Schändliches zu verwickeln; aber ebensowenig kann ich dem, der mir verwandt ist, zürnen oder ihm gram sein; sind wir ja vielmehr zu gemeinschaftlicher Wirksamkeit da, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die oberen und unteren Reihen der Zähne. Einander entgegenwirken wäre mithin naturwidrig, auf jemand aber ungehalten sein und von ihm sich abwenden, hieße ihm entgegenwirken.958

Ein signifikanter Bestandteil des praktischen Übungsprogramms Marc Aurels wird bereits in der protreptischen Anfangssequenz sichtbar. In der mit Hilfe der schöpferischen Einbildungskraft vollzogenen Antizipation alltäglicher Negativerfahrungen wird deren Überraschungspotenzial abgemildert, indem sie vor dem geistigen Auge als bereits gegenwärtige Vorgänge entworfen werden. Für den hier verfolgten Fragenkomplex sind vor allem die darin anschließenden Gedankengänge Marc Aurels von Interesse. Aurel befindet sich gänzlich im Einklang mit dem sokratisch-platonischen Intellektualismus, wenn er exponiert, dass niemand freiwillig das für ihn Unvorteilhafte, d. h. das Böse, anstrebe und hervorbringe, sondern derartige Handlungen allein durch eine Unkenntnis der Charakteristika des Guten und des Bösen motiviert sind.959 Der Einzelne handelt gemäß dieser platonischen Lehradaption Marc Aurels 958 Ebd., II. Buch, Nr. 1, S. 18. 959 Vgl. den locus classicus bei Platon, Protagoras 358b-d, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 1, hrsg. von Ursula Wolf, 32. Aufl., Hamburg 2011, übers. von Friedrich Schleiermacher, S. 331: „Wenn nun, sprach ich, das Angenehme gut ist, so wird ja niemand, er wisse nun oder glaube nur, daß es etwas Besseres als er tut und auch ihm Mögliches gibt, noch jenes tun, da das Bessere in seiner Macht steht; und dieses Zuschwachsein gegen sich selbst ist also nichts anderes als Unverstand, und das Sichselbstbeherrschen nichts anderes als Weisheit. […] Wie nun? Nennt ihr das Unverstand, falsche Meinungen zu haben und sich zu täuschen über wichtige Dinge? – Auch dem stimmten alle bei. – Ist es nicht auch so, daß niemand aus freier Wahl dem Bösen nachgeht oder dem, was er für böse hält? Und daß das, wie es scheint, gar nicht in der Natur des Menschen liegt, dem nachgehn zu wollen, war er für böse hält, anstatt des Guten, wenn er aber gezwungen wird, von zwei Übeln eins zu wählen, niemand das größere nehmen wird, wenn er das kleinere nehmen darf?“ Zur stoischen Rezeption des sokratisch-platonischen Intellektualismus und zur damit einhergehenden Leugnung des Sachverhalts der Willensschwäche vgl. Schriefl, Die stoische Philosophie, S. 127f.: „Wissen – und somit Tugend – ist nicht erreicht, sobald man einzelne Erkenntnisse gewinnt. Vielmehr liegt Wissen erst dann vor, wenn man ausschließlich wahre Überzeugungen besitzt, die miteinander in Einklang stehen und sich gegenseitig stabilisieren. Tugend wird von den Stoikern daher auch als Wissenschaft bezeichnet, d. h. als ganzes System an Erkenntnissen (Diog. Laert. 7.89 – 90 = teilw. LS 61 A). Mit der Gleichsetzung von Tugend und Wissen übernehmen die Stoiker eine weitere sokratische Position: Sokrates betont, dass niemand wissentlich schlecht handelt (Platon, Men. 78a-b; Prot. 358c-d). Wer weiß, was gut und richtig ist, wird das Entsprechende tun. Sokrates bestreitet damit das Phänomen der Willensschwäche. Ist diese Position überzeugend? Erfahren wir nicht häufig an uns selbst, dass wir zwar wissen, was gut und richtig ist, aber dennoch das Gegenteil tun? Die Stoiker würden entgegen, jede derartige Inkonsequenz beweise, dass wir nie über Wissen verfügten. Vermutlich hatten wir lediglich eine Meinung darüber, was gut und richtig ist. Meinungen sind instabil und lassen sich in Frage stellen. Kennzeichen von Wissen ist dagegen die Unwiderleglichkeit: Wer wirklich

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

nur deswegen böse, weil er seine Stellung im Kosmos falsch taxiert. Er begreift nicht, dass sich die Beweggründe seiner Mitmenschen aus einer tieferen Notwendigkeit herschreiben und sich nicht direkt gegen ihn wenden. Der Einzelne fügt anderen Personen Leid zu, weil er sich von seinen situativen Leidenschaften überwältigen lässt und den Appell der Vernunft (willentlich) überhört. Es ist unbedingt zu berücksichtigen, dass Marc Aurel in dieser Sentenz an der klaren Unterscheidbarkeit des Guten und des Bösen und an einer eindeutigen, ästhetisch-moralischen Hierarchisierung festhält, wenn er das Gute als „seinem Wesen nach schön“ lobt und das Böse ostentativ als „häßlich“ tituliert. Hervorstechend ist des Weiteren, dass Marc Aurel durchaus ein Kriterium angibt, wie das Gute spezifiziert werden kann. Es lässt sich die These vertreten, dass sich das Gute in der praktischen Beachtung jenes „göttlichen Funkens“960 äußert, der nach Marc Aurel jedem Menschen innewohnt. Dass der göttliche Funken, den Marc Aurel an anderen Stellen auch als Ausfluss des Göttlichen in der menschlichen Seele beschreibt961, keinesfalls als allein theoretisch bedeutsame Kollektivverwurzelung ohne praktische Valenz marginalisiert werden kann, wird im weiteren Fortgang des obigen Zitats ersichtlich. Gerade aufgrund der Einsicht in die gemeinsame Partizipation an der gleichsam organisch konstituierten Vernunft kann Marc Aurel selbst den vernunftwidrigen Akteur als Teil des Ganzen erfassen. Er verzichtet generös darauf, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Im Falle der kompromisslosen Anwendung des Talionsprinzips wäre nämlich er selbst derjenige, der sich von der Natur dissoziierte, indem er den Anderen – der trotz seiner Verfehlung die Zugehörigkeit zur allgemeinen Vernunft niemals einbüßt – als Exkludierten betrachtete. Für Marc Aurel gibt es demnach nur zwei Möglichkeiten, mit den vernunftkonträr agierenden Menschen zu koexistieren, ohne das Weltgesetz zu verletzen: Die Uneinsichtigen sind entweder zu dulden oder vorsichtig und rational zu belehren.962

weiß, was gut ist, wird entsprechend handeln und sich nicht von Begierden oder gegenteiligen Meinungen davon abbringen lassen. Die Stabilität von Wissen zeigt sich auch physikalisch: Die Seele des Tugendhaften weist einen hohen Grad an Spannung auf und besitzt somit größere Festigkeit als die Seele eines gewöhnlichen Menschen.“ 960 Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, II. Buch, Nr. 1, S. 18. 961 Vgl. z. B. ebd., II. Buch, Nr. 4, S. 19f.: „Bedenke, wie lange du diese Betrachtungen verschoben und wie oft du die von den Göttern dir hierzu gebotenen Gelegenheiten nicht benutzt habest. Du solltest es doch endlich einmal empfinden, von welcher Welt du ein Teil, von welchem Weltregenten du ein Ausfluß seiest, daß für dich die Grenze der Zeit bereits festgestellt sei und daß, wenn du sie nicht zur Aufheiterung deines Gemütes benutzest, dieselbe dahingehe und du auch dahingehest und sie nicht wiederkehre.“ 962 Dieses Ethos der Nachsicht entfaltet Marc Aurel in mehreren Aufzeichnungen der Selbstbetrachtungen. Vgl. ebd., VIII. Buch, Nr. 59, S. 130: „Die Menschen sind für einander geboren. Also belehre oder dulde sie! Vgl. ebd., IX. Buch, Nr. 11, S. 137: „Vermagst du es, so belehre den Fehlenden eines Bessern, wo nicht, so erinnere dich, daß dir für diesen Fall Nachsicht verliehen ist. Sind doch auch die Götter gegen solche nachsichtig, ja sie sind ihnen zu einigem, wie Gesundheit, Reichtum, Ehre, behilflich. So gütig sind sie! Auch dir steht es frei; oder sage: Wer hindert dich daran?“ Vgl. ferner ebd., X. Buch, Nr. 4, S. 150: „Irrt sich jemand, so belehre ihn mit Wohlwollen und zeige ihm, was er übersehen hat! Vermagst du das aber nicht, so klage dich selbst an, oder auch dich selbst nicht einmal?“

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5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen

Neben der Lokalisierung in der alldurchwaltenden Vernunft entwickelt der römische Kaiser ein zweites aussagekräftiges Argument, weswegen er nicht nach der Proportionalitätsmaxime verfahren muss. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang das Theorem der uneinnehmbaren, „feste[n] Burg“.963 Dieses Prinzip begegnete oben bereits in der Formulierung, dass die Außendinge die Seele nicht berühren können. In einer wutgeleiteten Reaktion auf das Verhalten des Unbedachtsamen und des Zürnenden würde der Stoiker seine Souveränität verlieren, weil er sich dazu verführen ließe, seine eigene Erkenntnis der notwendigen Weltbegebenheiten situativ auszuklammern. Der stoische Philosoph würde in diesem Falle vergessen, dass eine individuell ausgerichtete Vorsehung ihm jede Einschränkung durch die Mitmenschen, jedes Leiden und jede Verletzung unweigerlich zugeteilt hat. Entsprechend heißt es im XII. Buch: Trägst du an irgend etwas schwer, so hast du vergessen, daß alles sich der Allnatur gemäß ereigne und daß fremde Vergehungen dich nicht anfechten sollen, ferner vergessen, daß alles, was geschieht, immer so geschehen sei, immer so geschehen werde und überall jetzt so geschehe, vergessen, welch innige Verwandtschaft zwischen dem einzelnen Menschen und dem ganzen Menschengeschlecht bestehe; denn hier findet nicht sowohl eine Gemeinschaft von Blut oder Samen, als vielmehr von Denkkraft statt. Du hast aber auch das vergessen, daß der denkende Geist eines jeden ein Gott und ein Ausfluß der Gottheit sei, vergessen, daß niemand etwas ihm ausschließlich Eigenes besitze, sondern sein Kind sowohl, als sein Leib und selbst seine Seele aus jener Quelle ihm zugekommen sei, vergessen endlich, daß jeder nur den gegenwärtigen Augenblick lebe und folglich auch nur diesen verliere.964

In der Aufzeichnung Nr. 16 aus dem III. Buch der Selbstbetrachtungen entfaltet Aurel seine anthropologische Unterteilung der epistemischen Resonanzvermögen und liefert eine konkrete Programmatik des tugendhaften Ethos, das gleichbedeutend mit dem guten Leben ist. Auch hier folgt Marc Aurel sokratischen Pfaden, indem er den inneren Genius als Garanten der grundsatzmotivierten Gerechtigkeitsrealisierung und der wahrheitsbezogenen Redlichkeit965 markiert: 963 Vgl. ebd., VIII. Buch, Nr. 48, S. 126: „Erinnere dich daran, daß die herrschende Vernunft, wenn sie, in sich selbst gesammelt, daran ein Genüge findet, nichts zu tun, was sie nicht will, unüberwindlich wird, selbst wenn sie einmal ohne genügenden Grund eine solche kriegerische Stellung nimmt. Wie nun, wenn sie mit Grund und mit Bedacht über etwas urteilt? Deshalb ist die denkende Seele, von Leidenschaft frei, eine feste Burg. Denn der Mensch hat keine stärkere Schutzwehr, wohin er seine Zuflucht nehmen könne, um fortan unbezwinglich zu sein. Wer nun diese nicht kennt, ist ungelehrig, wer sie aber kennt, ohne zu ihr seine Zuflucht zu nehmen, der ist unglücklich.“ 964 Ebd., XII. Buch, Nr. 26, S. 190f. 965 Nietzsche charakterisiert die Redlichkeit in seinem Werk Jenseits von Gut und Böse als höchste Tugend und porträtiert sich in diesem Kontext selbst als den ‚letzten Stoiker‘, dem alles an der Realisierung dieses Ethos der Aufrichtigkeit liegt. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 227, KSA 5, S. 162f.: „Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister – nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu ‚vervollkommnen‘: mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur an Teufelei in uns haben – unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser ‚nitimur in

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Leib, Seele, Geist – dem Leibe gehören die Empfindungen an, der Seele die Triebe, dem Geiste die Grundsätze. Das Vermögen, durch Eindrücke von außen Vorstellungen zu empfangen, besitzen auch unsere Haustiere. […] Wenn nun nach dem Gesagten dies und anderes derart allen gemeinschaftlich ist, so bleibt als eigentümlich für den Guten nur das übrig, daß er zu allem, was ihm als Pflicht erscheint, die Vernunft zu seiner Führerin habe, alles, was ihm durch die Verkettung der Geschicke begegnet, mit Liebe umfasse, den im Innern seiner Brust thronenden Genius nicht beflecke, noch durch ein Gewirre von Einbildungen beunruhige, sondern ihm seine Heiterkeit bewahre mit Anstand, wie einem Gotte ihm folge, und ebensowenig etwas rede, was der Wahrheit, als etwas tue, was der Gerechtigkeit widerstreitet. Sollte aber auch alle Welt in sein einfaches, sittsames und wohlgemutes Leben Zweifel setzen, so wird er darüber weder jemand zürnen, noch auch von dem Pfade abweichen, welcher zu einem Lebensziele führt, bei dem man rein, ruhig, bereit und mit ungezwungener Ergebung in sein Schicksal anlangen muß.966

Die gravierende Quintessenz, die sich aus der Theorie der vernunftbegründeten Seelenverwandtschaft aller Menschen ziehen lässt, ist, dass auch die weniger intelligenten, egoistischen oder boshaften Menschen zur Allnatur gehören müssen, weil diese nur so die größtmögliche Vielfalt und Bandbreite ihrer Erscheinungsformen zu evozieren vermag. Im Umkehrschluss könnte proponiert werden, dass es gerade auf einen Mangel und eine einseitige Merkmalsverteilung indizieren würde, wenn sie nur Philosophen und Weise entstehen ließe. Dieses Argument lässt sich zunächst mit einer Aufzeichnung Marc Aurels stützen, die sich auf mögliche Gradunterschiede innerhalb der Flora und Fauna bezieht und auf dieser Basis eine Kosmodizee entwickelt: Ebenso verdient der Umstand unsere Beachtung, daß auch Erscheinungen, welche sich Naturerzeugnissen zufällig beigesellen, für uns etwas Reizendes und Anziehendes haben. So fallen uns die Risse und Spalten, welche sich hin und wieder am gebackenen Brot zeigen, obleich sie der Absicht des Bäckers einigermaßen zuwider sind, doch in einem gewissen Grade angenehm auf und erregen in eigentümlicher Weise die Eßlust. […] Die niederhängenden Ähren, die in Falten gelegte Stirnhaut des Löwen, der aus des Ebers Rachen triefende Schaum und viele andere Erscheinungen sind, an und für sich betrachtet, fern von allem Liebreiz, und doch, weil sie im Anschluß an Werke der Natur sich zeigen, tragen sie mit zu deren Schmuck bei und üben dadurch eine gewisse Anziehungskraft aus. Hat daher jemand Empfänglichkeit und ein tieferes Verständnis für alles, was im Weltganzen geschieht, so wird ihm auch unter solchen Nebenumständen kaum etwas begegnen, das sich ihm nicht auf gewisse Weise empfehlen sollte. […] Solcher Dinge nun gibt es viele, die nicht jedermann, sondern nur denjenigen ansprechen werden, der sich mit der Natur und mit ihren Werken in ein echtes Einverständnis gesetzt hat.967

Im ostentativen Rekurs auf Heraklits Lehre des sich widerstrebend vereinigenden λόγος968 überträgt Marc Aurel diese ästhetisch und zoologisch koordinierte Kritik an anthropozentrischen Rangabstufungen auf den Bereich der menschlich-sittlichen vetitum‘, unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, – kommen wir unserm ‚Gotte‘ mit allen unsern ‚Teufeln‘ zu Hülfe!“ 966 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, III. Buch, Nr. 16, S. 37. 967 Ebd., III. Buch, Nr. 2, S. 27f. 968 Marcel van Ackeren arbeitet heraus, dass das Konsistenzprinzip für die Stoa das formale Grundkriterium der Handlungsausrichtung bildet. Als inhaltlich-bestimmende Orientierungsmarke der tugendhaft-weisen Lebenspraxis firmiert allerdings nicht die Natur im Sinne des basal-allumfassenden Ereignisspielraums, sondern allein die monistische φύσις, insofern sie in ihrer Identität mit der allge-

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5.3. Die Problematik der Faktizität des Bösen

Ordnung. In einer analogen Figur statuiert er, dass auch der Unzufriedene, Unbesonnene und selbst der Trotzige, der dem notwendig Geschehenden aktiv Widerstand zu leisten sucht, nicht nur subliminal von dem göttlichen Willen der übermächtigen Allnatur dirigiert werden. Vielmehr werden diese Charaktere sogar nachdrücklich von der Allnatur zugelassen, um das Weltganze anzureichern.969 Die Universalvernunft versetzt sich durch diese Pluralisierung in die Lage, in einer zentripetal koordinierten meingültigen Wahrheit des vernünftigen λόγος durchschaut wird. Auf dieser Basis beleuchtet und untermauert van Ackeren die heraklitische Provenienz der für die Stoa konstitutiven Verschränkung von φύσις und λόγος. Vgl. Van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels, S. 619f.: „In einigen Fragmenten erwähnt Heraklit, dass man dem Allgemeinen oder der Wahrheit folgen oder entsprechend handeln soll. Konsistenz oder Korrespondenz mit einem monistischen Prinzip oder allgemein der Physis, sind also bereits bei ihm Bestimmungsmerkmale von Tugend und Signum von Praxis. […] Für die Stoiker ist die Übereinstimmung mit einem vernünftigen harmonischen λόγος nicht nur eine Frage der formalen Konsistenz. Da sie mit dem λόγος auch das aktive Prinzip meinen, das alles bestimmt, ist ein Leben in Übereinstimmung mit dem Logos auch notwendig ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Aber es gilt auch der umgekehrte Fall: Wer in Übereinstimmung mit der Natur lebt, lebt auch in Übereinstimmung mit der Vernunft, die die Natur bestimmt.“ In seinem einschlägigen Aufsatz zur stoischen Heraklit-Rezeption akzentuiert A. A. Long besonders den gravierenden Einfluss heraklitischer Gedanken auf die Oberhäupter der älteren Stoa (Zenon von Kition und Kleanthes). Zu dieser Amalgamierung vgl. A. A. Long, Heraclitus and Stoicism, in: ders: Stoic Studies, S. 35–57, hier S. 56, zitiert nach: Van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels, S. 618: „Kleanthes‘ interest in Heraclitus, probably stimulated by Zeno, was so strongly imprinted in what he wrote that later Stoics inevitably accepted Heraclitus as precursor of comparable stature to Socrates or Diogenes of Sinope. Thus the Stoics themselves helped to propagate that confused amalgam of Stoic and Heraclitean notions which permeates the later Greek tradition of the history of philosophy.“ Als markantes Zeugnis der heraklitischen Tendenz Marc Aurels kann die Aufzeichnung Nr. 46 aus dem IV. Buch der Selbstbetrachtungen hervorgehoben werden. In dieser Aufzeichnung entwickelt Marc Aurel im Medium des Selbstdialoges einen Handlungsimperativ, der sich aus der kunstvollen Zusammenfügung mehrerer Fragmente Heraklits generiert. Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IV. Buch, Nr. 46, S. 53: „Stets erinnere dich des Ausspruchs von Heraklit, daß es der Erde Tod sei, zu Wasser zu werden, des Wassers Tod, zu Luft zu werden, der Luft, zu Feuer zu werden, und umgekehrt. Erinnere dich aber auch jenes Menschen, der es vergaß, wohin sein Weg führe, und so vieler anderen, welche mit der alles regierenden Vernunft, mit der sie doch allermeist ununterbrochen verkehren, sich im Zwiespalt befinden, weil ihnen dasjenige, worauf sie doch täglich stoßen, als fremd erscheint; ferner, daß wir nicht wie Schlafende handeln und reden müssen; denn auch in diesem Zustand scheinen wir zu handeln und zu reden, und daß wir es endlich ebensowenig wie Muttersöhnchen machen sollen, bei denen es heißt: Wir bleiben eben schlechtweg bei dem uns Überlieferten.“ 969 Nichtsdestotrotz fügt sich Marc Aurel auch in diesem Aspekt einer Gesamtbeurteilung der menschlichen Natur keineswegs der komplikationslosen Subsummation unter ein stoisches Lehrgebäude. Dies wird transparent, wenn Marc Aurel die Todesfurcht in einer anderen Aufzeichnung der Selbstbetrachtungen mit dem Argument ablehnt, dass der Tod insofern zu begrüßen sei, als er von der Interaktion mit den zumeist keineswegs tugendhaft handelnden Menschen befreie. Aus dem thematischen Zitat, das dem IX. Buch der Selbstbetrachtungen entnommen ist, spricht also durchaus Marc Aurels klares Bewusstsein einer moralischen Überlegenheit gegenüber seinen Mitmenschen sowie eine reflektierte Skepsis gegenüber einem lebensbejahenden Sinnoptimismus. Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IX. Buch, Nr. 3, S. 134f.: „Willst du aber ein allbekanntes, herzstärkendes Mittel anwenden, so wird der Hinblick auf die Gegenstände, von denen du dich trennen sollst, und auf die Menschen, mit deren Sitten deine Seele nicht mehr in Berührung kommen soll, dich mit dem Tode vollkommen aussöhnen. Denn du sollst zwar an ihnen möglichst wenig Anstoß nehmen, vielmehr für sie sorgen und sie mit Sanftmut tragen, indessen darfst du doch daran denken, daß es nicht eine Trennung von gleichgesinnten Menschen gelte. Dies allein nämlich, wenn irgend etwas, könnte uns anziehen und im Leben festhalten, wenn es uns vergönnt wäre, mit Menschen zusammenzuleben,

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Versammlung auf ein und dasselbe Telos zuzustreben.970 Nichtsdestotrotz spricht Aurel allein dem Philosophen die genuine Freiheit zu, sich entweder aus eigener Willenskraft den reflektierten Mitagenten der Selbsterhaltung der Natur beizugesellen oder sich weiterhin den Taumelnden, Ungefestigten und Schlafenden zu assoziieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Marc Aurel zur Fundierung dieser Disjunktion explizit auf Heraklits erstes Fragment referiert: Wir alle wirken zusammen auf ein Ziel hin, die einen mit Bewußtsein und Einsicht, die anderen unbewußterweise. Ja, sogar die Schlafenden sind, wie, glaube ich, Heraklit sagt, Arbeiter und Mitarbeiter an dem, was in der Welt geschieht. Jeder arbeitet aber auf andere Art mit, selbst im Übermaß der Tadler, welcher dem, was geschieht, entgegenzutreten und es wegzuräumen sucht. Denn auch eines Menschen von solchem Gelichter bedurfte die Welt. Siehe du nun übrigens zu, welchen du dich anschließen willst! Zwar wird der Beherrscher des Alls dich auf jeden Fall gehörig zu verwenden wissen und dich als ein Glied unter die Zahl der Mitarbeiter und Gehilfen aufnehmen. Du aber hüte dich, daß du ein solches Glied darunter werdest, wie jener schlechte und lächerliche Vers in dem Schauspiele, dessen Chrysipp gedenkt!971

Es wäre vermessen, die Komplexität des aurelianischen Gerechtigkeitsdenkens und seine durchaus vielschichtige Wesensumrandung des Bösen in der gebotenen Brevität adäquat entfalten zu wollen. Nachdem ansatzweise demonstriert wurde, dass Marc Aurel die Triebfeder guter Handlungen in der sittlichen Orientierung am Einklang mit dem organischen Gemeinwohl entdeckt, soll zum Abschluss dieser Sektion noch die ambivalent zu beurteilende Marginalisierung des Bösen exemplifiziert werden, die sich in den Selbstbetrachtungen ebenfalls findet. Die auktoriale Weltsicht beibehaltend, welche sich dieselben Grundsätze angeeignet haben. Nun aber siehst du ja mit Augen, wie viel Unannehmlichkeiten aus dem Zwiespalt mit Zeitgenossen entspringen, sodaß du wohl ausrufen möchtest: ‚Komm doch schneller heran, lieber Tod, damit ich nicht etwa noch meiner selbst vergesse!‘“ 970 Zur stoischen Konzeption der auf die passiv-unbestimmte Materie einwirkenden Lenkungstätigkeit der Allvernunft und zur Stofflichkeit der kooperierenden Prinzipiendyas vgl. die instruktiven Darlegungen von Anna Schriefl, Die stoische Philosophie, S. 88f.: „Nach stoischer Ansicht lassen sich alle körperlichen Einzeldinge (und somit alles, was existiert) auf zwei Prinzipien (archai) zurückführen, nämlich auf ein aktives (to poioun) und ein passives (to paschon) Prinzip. Im Gegensatz zu den einzelnen Körpern unserer Erfahrungswelt, die entstehen und vergehen, sind diese Prinzipien ewig. Gemeinsam konstituieren sie den Kosmos und alles in ihm. […] Das passive Prinzip […] wird mit der Materie (hyle) gleichgesetzt. Es ist völlig unbestimmt. Das aktive Prinzip wird hier mit der Vernunft (logos) und Gott (theos) identifiziert. In anderen Texten erhält es noch eine Reihe weiterer Namen, etwa ‚Fatum‘, ‚Zeus‘, ‚Vorsehung‘, ‚kreatives Feuer‘ oder ‚heißer Luftstrom‘ (pneuma). Dieses Prinzip wirkt auf die Materie ein, durchdringt sie überall und konstituiert dadurch die einzelnen Körper – den Kosmos als Ganzen sowie alles, was er enthält: Steine, Artefakte, Pflanzen, Tiere, Menschen, ihre Seelen, ihre Vernunft, ihre Tugend oder Schlechtigkeit und ihre stimmlichen Äußerungen. […] Während die beiden Prinzipien unvergänglich und unzerstörbar sind, unterliegen alle einzelnen Körper dem Entstehen und Vergehen. Dies gilt nicht nur für Lebewesen und Artefakte, sondern auch für den Kosmos als Ganzen, der in zyklischen Abständen in einem Weltbrand untergeht und sich anschließend wieder neu konstituiert (Diog. Laert. 7.141 – 2 = LS 46 J). Die Stoiker sind der Ansicht, dass die beiden ersten Prinzipien ebenfalls Körper sind. Dies folgt aus der Annahme, dass sie kausal interagieren. Die kausale Beziehung zwischen den beiden Prinzipien ist zwar asymmetrisch: Das aktive Prinzip wirkt auf die Materie ein, das passive Prinzip ist für diese Einwirkungen empfänglich. Dennoch können beide nach stoischer Ansicht ihre jeweilige kausale Rolle nur deswegen übernehmen, weil sie körperlich sind.“ 971 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 42, S. 86.

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5.4. Der ewige Zyklus und die menschliche Vergänglichkeit: Marc Aurels Philosophie der Erhabenheit

stellt Marc Aurel energisch in Frage, dass egozentrische oder destruktive Handlungen den Gesamtnexus der Allnatur ernsthaft bedrohen oder verändern könnten. Zudem hebt er hervor, dass die situativ oder habituell ausgeübte Bosheit eines Individuums weder holistisch noch interpersonal von Relevanz ist, weil sie den vernünftigen Seelenteil des passiv Betroffenen nicht streifen und verletzen kann. Die Bosheit kann offenbar nur denjenigen negativ beeinflussen, der in dem oben thematisierten Zwischenstadium zwischen Schlafen und Wachen angesiedelt ist und an sich das Erkenntnispotenzial besäße, den entfremdeten Zustand seiner selbst zugunsten der Ausübung der Tugendhaftigkeit aufzuheben: Die Bosheit schadet weder der Welt im allgemeinen, noch dem Nebenmenschen insbesondere. Sie ist nur dem schädlich, der es ganz in seiner Gewalt hat, sich, sobald er zuerst nur will, von ihr loszumachen.972

5.4. Der ewige Zyklus und die menschliche Vergänglichkeit: Marc Aurels Philosophie der Erhabenheit Ein prägendes Leitmotiv in Marc Aurels Selbstbetrachtungen bilden die anhaltenden Reflexionen über den transitorischen Gang der Dinge, über die Unbedeutsamkeit des sich verflüchtigenden Ruhmes und über die permanenten Metamorphosen der Allnatur. Vor dem Hintergrund der Konstanz der conditio humana führt die Allnatur eine endlose Iteration der gleichen Szenen auf, in der einzig die Masken und die konkreten Gestaltwerdungen variieren. Marc Aurels Apostrophierung des permanenten, flusshaften Wandels inmitten der endlosen Zeit gemahnt unzweifelhaft an Heraklit.973 Dieser heraklitische Rezeptionsstrang kann besonders durch die folgende Schlüsselaufzeichnung aus dem VI. Buch der Selbstbetrachtungen belegt werden: Jenes eilt ins Dasein, dieses aus dem Dasein, und doch ist von dem, was im Werden begriffen ist, manches bereits wieder verschwunden. Eine unaufhörliche Flut von Veränderungen erneuert stets die Welt, sowie der ununterbrochene Lauf der Zeit uns immer wieder eine neue unbegrenzte Dauer in Aussicht stellt. Wer möchte nun in diesem Strome, wo man keinen festen Fuß fassen kann, irgend etwas von den vorübereilenden Dingen besonders wertschätzen? Gerade wie wenn jemand in einen vorüberfliegenden Sperling sich verlieben wollte, der ihm schon wieder aus den Augen entschwunden ist. Ist doch selbst jegliches Menschenleben von ähnlicher Art, nichts anderes, als da Aufdampfen von Blut und das Einatmen der Luft. Denn ganz dasselbe ist es, die Luft einmal einzuziehen und sie dann wieder von sich zu geben, was wir alle Augenblicke tun, oder dein ganzes Atmungsvermögen, das du gestern oder ehegestern mit deiner Geburt bekamst, wieder dahin zurückzugeben, von woher du es anfänglich an dich gezogen hast.974 972 Ebd., VIII. Buch, Nr. 55, S. 129. 973 Die heraklitischen Reminiszenzen in Marc Aurels Philosophie würdigt auch Wilhelm Capelle in seiner Einleitung zu den Selbstbetrachtungen. Vgl. Capelle, Einleitung zu den Selbstbetrachtungen, XXXIX: „Neben der stoischen Welt- und Lebensanschauung, die durch jenen eudämonistischen Zug besonders stark beeinflußt ist, hat auf das Denken des Kaisers besonders die Lehre des Herakleitos von dem Fluß der Dinge, von ihrer ständigen Veränderung und Erneuerung, nachhaltig eingewirkt.“ 974 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 15, S. 77.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Hingegen weist Marc Aurels Deutung der Metamorphosensequenz auf Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen voraus.975 Marc Aurels Bereitschaft, alle Schicksalsschläge nicht nur hinzunehmen, sondern sie als weise Vorrichtungen der All-Natur sogar zu lieben, kann mit Nietzsches Motiv des amor fati parallelisiert werden.976 Im Gegensatz zu Nietzsche, sind Marc Aurels Reflexionen über die keinerlei Neuanfang initiierenden Umwandlungsprozesse allerdings von einem resignativen Tenor durchzogen. Dergestalt erinnern Marc Aurels tiefsinnige Aufzeichnungen an die melancholische Weisheit des Predigers Salomo, wonach auf der Welt und in der Zeit nichts Neues geschehe.977 Es lässt sich die These vertreten, dass die im weiteren Verlauf dieses Abschnittes herangeführten Aphorismen aus den Selbstbetrachtungen eine innige Geistesverwandtschaft mit jener desillusionierten Betrachtung der weltumfassenden Wiederholungsstruktur und der sich über alles Seiende legenden Macht des Vergessens besitzen, die der Koheleth vorträgt: 975 Diesbezüglich ist Nietzsches Rekonstruktion der ersten Erwähnung der Lehre der ewigen Wiederkehr von gewichtiger Bedeutung, weil Nietzsche ihre Entstehung nicht nur mit dem Namen Heraklits in einen Zusammenhang setzt, sondern auch die Möglichkeit einer stoischen Initiierung dieser Lehre erwägt. Vgl. nochmals Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 313: „Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. Zum Mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon.“ In seinem direkten Kommentar zu dieser Stelle bejaht Günter Wohlfart die Interpretationsoption, dass Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr stoische Wurzeln haben könnte und Nietzsche diese Provenienz in dem obigen Zitat auch als solche anerkennt. Dieser Befund ist für die vorliegende Arbeit von höchstem Interesse, da sich auf diese Weise die Geistesverwandtschaft zwischen Marc Aurel und Nietzsche hinsichtlich der ihnen gemeinsamen Exposition der Verkettung aller Ereignisse und der limitierten Kombinationsvielfalt der Weltvorgänge erklären ließe. In seiner differenzierten Analyse bespricht Wohlfart noch weitere Deutungsvarianten des geheimnisvollen ‚könnte‘, mit dem Nietzsche die Potenzialität der heraklitischen Urheberschaft des Gedankens der ewigen Wiederkehr in der Schwebe hält. Vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 337f.: „In der Zusatz-Bemerkung über die Stoa könnte man dann einen Anhaltspunkt dafür sehen, daß auch in Nietzsches Selbsteinschätzung die Spuren seiner Wiederkunftslehre zu den stoischen Heraklit-Erben zurückführen, und zwar insbesondere zu deren Ekpyrosis-Lehre. […] Der Konjunktiv ‚könnte‘ erklärte sich dann so, daß Nietzsche bei der Suche nach Spuren seiner Wiederkunftslehre nur bis zu der erst von den Stoikern – wie Nietzsche aber weiß –, noch nicht von Heraklit so genannten ἐκπύρωσις-Lehre zurückgelangte, sowie zu der damit in Zusammenhang gebrachten Lehre vom μέγας ὲνιαυτος, deren Authentizität als genuin Heraklitische von Nietzsche ebenfalls in Zweifel gezogen wurde. ‚Diese Lehre Zarathustras könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein‘ wäre dann zwar ein Ausdruck der faktischen Irrealität: ‚Sie ist aber in Wirklichkeit nicht von ihm gelehrt worden – zumindest wissen wir nichts genaues darüber –, sondern erst von Zarathustra bzw. von mir, Nietzsche‘, aber auch ein Ausdruck der theoretischen Possibilität: ‚sie könnte möglicherweise auch von Heraklit gelehrt worden sein, aber wir können den sicheren Nachweis dafür nicht erbringen und müssen deshalb vorsichtiger im Konjunktiv sprechen‘.“ 976 Die beruhigend-gelassene Denkhaltung der Selbstbetrachtungen Marc Aurels beschreibt bereits der junge Nietzsche in einem Brief an Erwin Rohde vom 22. März 1873. Vgl. Nietzsche, BVN-1873,300: „Ich wünsche Dir reinen Himmel, heitres Gemüt und empfehle, als mein Stärkungsmittel, Dir den Marcus Antoninus [Marc Aurel, J.K.]; man wird so ruhig dabei.“ 977 Vgl. zu dieser thematischen Parallele mit dem Prediger Salomo: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VIII. Buch, Nr. 6, S. 114: „Es ist die Aufgabe der Allnatur, die vorhandenen Dinge von einer Stelle zur anderen zu versetzen, sie umzuwandeln, sie von hier wegzuräumen und dorthin zu verpflanzen. Alles Wechsel! Man darf also nichts Neues befürchten. Alles gewöhnlich! Aber alles auch gleichmäßig verteilt!“ [Von mir kursiv, J. K.].

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5.4. Der ewige Zyklus und die menschliche Vergänglichkeit: Marc Aurels Philosophie der Erhabenheit

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen. Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, daß sie dort wieder aufgehe. Der Wind geht nach Süden und dreht sich nach Norden und wieder herum an den Ort, wo er anfing. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller; an den Ort, dahin sie fließen, fließen sie immer wieder. Alles Reden ist so voll Mühe, daß niemand damit zu Ende kommt. Das Auge sieht sich niemals satt, und das Ohr hört sich niemals satt. Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem sagen könnte: ‚Sieh, das ist neu‘? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Man gedenkt derer nicht, die früher gewesen sind, und derer, die hernach kommen; man wird auch ihrer nicht gedenken bei denen, die noch später sein werden.978

In den Selbstbetrachtungen verwendet Marc Aurel zwei Perspektiven, um die abweichungslose Gleichförmigkeit der Weltordnung mit der chronischen, das Dasein des Menschen radikal limitierenden Sukzessionszeit979 zusammenzudenken. Diese sich wechselseitig ergänzenden Sichtweisen sollen durch ausgewählte Zitate verdeutlicht werden. Auf der einen Seite nimmt Marc Aurel seinen Ausgang von dem Kombinationsnexus des jeweils Anwesenden, um den ewigen Zyklus des Seins im Minimalpanorama des Augenblicks aufzuzeigen. Die Gesamtlage der in der Gegenwart versammelten Kräfte ist für Marc Aurel – wie in Heraklits Konfiguration der Gegensätze und in Nietzsches Konzeption der ewigen Wiederkehr – identisch mit dem einstmals Geschehenen und dem Sinnhorizont des zukünftig zu Erwartenden:

978 Koh, 1, 2–11, in: Die Bibel nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Wiesbaden 1964, S. 664f. 979 Vgl. dazu zwei zeittheoretische Aufzeichnungen Marc Aurels, deren heraklitisches Gepräge hervorsticht: Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V. Buch, Nr. 23, S. 67: „Denk‘ oft daran, wie schnell alles, was ist und geschieht, fortgerissen und entführt wird! Ist ja doch das Wesen der Dinge in einem stetigen Flusse, und sind ihre Wirkungen einem unaufhörlichen Wechsel und deren Ursachen unzähligen Veränderungen unterworfen. Fast nichts hat Bestand, und uns nahe liegt jener gähnende Abgrund der Vergangenheit und Zukunft, in dem alles verschwindet. Sollte also der nicht ein Tor sein, welcher mit diesen Dingen sich brüstet oder ihretwegen sich quält oder darüber jammert, als über eine Beschwerde, die einige Zeit und nicht nur kurz dauere.“ Vgl. ebd., IV. Buch, Nr. 43, S. 52: „Ein Fluß, der aus dem Werdenden hervorgeht, ein reißender Strom ist die Zeit. Kaum war jegliches Ding zum Vorschein gekommen, so ist es auch schon wiederweggeführt, ein anderes herbeigetragen, aber auch das wird weggeschwemmt werden.“ Demgegenüber akzentuiert Seneca, dass der Eindruck einer rastlos dahinfließenden Lebenszeit vor allem aus der nachlässigen Nutzungsart der verfügbaren Zeit entspringe. Vgl. Seneca, De brevitate vitae / Von der Kürze des Lebens, Lateinisch/Deutsch, übers. u. hrsg. von Marion Giebel, Ditzingen 2008, S. 7f.: „Aber nein, wir haben keine zu geringe Zeitspanne, sondern wir vergeuden viel davon. Lang genug ist das Leben und reichlich bemessen auch für die allergrößten Unternehmungen – wenn es nur insgesamt gut angelegt würde. Doch sobald es in Verschwendung und Oberflächlichkeit zerrinnt, sobald es für keinen guten Zweck verwendet wird, dann spüren wir erst unter dem Druck der letzten Not: Das Leben, dessen Vergehen wir gar nicht merkten, ist vergangen. So ist es nun einmal: Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es kurz gemacht; keinen Mangel an Lebenszeit haben wir, sondern gehen verschwenderisch damit um. Es ist wie mit reichen und königlichen Schätzen: Sobald sie an einen schlechten Herrn kommen, sind sie im Nu vergeudet, während ein auch noch so bescheidenes Vermögen, wenn es einem tüchtigen Verwalter anvertraut ist, durch Nutzung wächst.“

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Wer das jetzt Vorhandene gesehen, der hat alles überschaut, was von jeher war und was in alle Ewigkeit sein wird. Denn alles ist gleichbürtig und gleichartig.980

Diese augenblickszentrierte Betrachtungsart wählt Marc Aurel auch in der Aufzeichnung Nr. 14 des II. Buches, um dem Menschen die Angst vor dem Tode zu nehmen und den megalomanen Beharrungswillen auf der endlosen Perpetuierung der eigenen Existenz mit rationalen Argumenten zu problematisieren. Erstens bekräftigt Marc Aurel in therapeutisch-existenzieller Absicht, dass der Einzelne im Tod allein die jeweilige Gegenwart verlieren könne, da niemand jemals in der Vergangenheit oder in der Zukunft gelebt habe. Zweitens prononciert der römische Philosophenkaiser auf einer metaphysischen Wegbahn, dass das erreichte Lebensalter irrelevant sei, da bereits das junge Individuum aufgrund der kreisförmig-periodischen Allbewegung und der immer gleichen Handlungsweisen, Denkpräferenzen und Lebensläufe der Menschen alle überhaupt möglichen Szenarien perzipiert habe: Solltest du auch dreitausend Jahre und ebensoviele Myriaden noch dazu leben, so bleibe doch dessen eingedenk, daß niemand ein anderes Leben verliere, als dasjenige, welches er wirklich lebt, und kein anderes lebe, als dasjenige, welches er verliert. Das längste Leben ist also hierin dem kürzesten gleich. Ist ja doch der gegenwärtige Zeitpunkt bei allen derselbe, und der verloren gehende sollte nicht gleich sein? Wirklich erscheint auch der, den man verliert, nur so wie ein Augenblick; denn weder den vergangenen, noch den künftigen kann eigentlich jemand verlieren; denn wie sollte man ihm das, was er nicht hat, entreißen können? Folgende zwei Wahrheiten muß man sich also merken: einmal, daß von Ewigkeit her alles gleich sei und sich im Kreise bewege und daß es keinen Unterschied mache, ob einer dieselben Dinge hundert oder zweihundert Jahre oder eine grenzenlose Zeit hindurch beobachte; zum anderen, daß der Längstlebende und der sehr bald Dahinsterbende gleichviel verlieren; denn nur der gegenwärtige Augenblick ist es, dessen jeder verlustig gehen kann, da er ja diesen doch allein besitzt; was aber einer nicht besitzt, das kann er auch nicht verlieren.981

Auf der anderen Seite flankiert Marc Aurel diese bewusste Restriktion auf die Gegenwart mit der gegenläufigen Methode, in der sich seine Einbildungskraft in die grenzenlosen Räume der Unendlichkeit aufschwingt, um von dort die Nichtigkeit der irdischen Güter mit umso größerer Signalkraft untermalen zu können. Mit dieser Philosophie der Erhabenheit982 verfolgt Aurel das Kernziel, die affektauslösende, begeh980 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 37, S. 84. 981 Ebd., II. Buch, Nr. 14, S. 24f. 982 Auch Wiebrecht Ries honoriert Marc Aurels Einklammerung des Endlichen durch den philosophisch-vernunftgeleiteten Aufschwung zum Ewigen. Erwähnungswert ist, dass Ries die während der Feldzüge gesammelten Erfahrungen und die Wirrungen des Politischen als Erkenntnishintergrund für Marc Aurels Intonierung des ‚leeren Nichts‘ etabliert. Vgl. Ries, Die Philosophie der Antike, S. 146: „Spürbar wird der verzweifelte Kampf, den er geführt hat, der radikalen Entwertung aller menschlichen Angelegenheiten vor dem Sog des Verschwindens unzähliger Menschen, ganzer Völker und aller Dinge in die Unheimlichkeit eines leeren Nichts Widerstand zu leisten. Widerstand und Ergebung kommt in einer philosophisch gefassten Haltung zum Ausdruck, welche die Bedeutungslosigkeit des eigenen Daseins vor der Ewigkeit durch das Mittel der auf Vernunft gestützten Würde des Menschlichen kompensiert. Als Kompensation beruft sich dieser ‚Widerstand‘ der Humanität auf ruhige vernünftige Überlegung des in der Möglichkeit des Menschen Liegenden einerseits und der frommen Verehrung eines alle menschliche Vernunft übersteigenden göttlichen Geschicks andererseits.“

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5.4. Der ewige Zyklus und die menschliche Vergänglichkeit: Marc Aurels Philosophie der Erhabenheit

renserweckende, urteilstrübende Herrschaft umstandshafter Vorgänge oder verführerischer Dingmotive über die menschliche Wahrnehmung durch eine strategische Einübungsmethode präventiv und durativ zu durchbrechen. Exemplarisch für diese Verfahrungsweise lässt sich die erste Sentenz des XI. Buches heranziehen. Hervorzuheben ist, dass Aurel sich im Medium der erhabenen Kontemplation der periodischen „Wiedergeburt der Dinge“983 zugleich den ethischen Geboten der Nächstenliebe, der ehrlichen Bescheidenheit und der kategorischen Befolgung des in der eigenen Vernunft hinterlegten Sollens zuwendet. Diese Tugenden sollen wiederum den „Eigentümlichkeiten der vernünftigen Seele“ korrespondieren, deren besonnenes Denken sich schließlich dem λόγος der „gerecht wirkenden Vernunft“ angleicht: Die Eigentümlichkeiten der vernünftigen Seele sind: Sie beschaut sich selbst, zergliedert sich selbst, bildet sich selbst nach eigenem Gefallen. Die Frucht, die sie trägt, genießt sich selbst, während von den Früchten der Pflanzen und der diesen Entsprechenden, der Tiere, nur andere den Genuß haben. […] Außerdem umwandelt sie die ganze Welt samt dem diese umgebenden leeren Raum und versteht die Form derselben; sie breitet sich über die grenzenlose Zeit aus, sie begreift und betrachtet allseitig die periodisch eintretende Wiedergeburt aller Dinge und erkennt daraus, daß unsere Nachkommen nichts Neues schauen werden, so wenig, als unsere Vorfahren etwas weiteres gesehen haben, sodaß gewissermaßen schon ein vierzigjähriger Mann, wenn er auch nur einigen Geist besitzt, nach dem Gesetze der Gleichförmigkeit in alles Vergangene und Zukünftige sein Einsehen hat. Endlich gehört auch das zu den Eigenthümlichkeiten der vernünftigen Seele, daß sie den Nächsten, sowie die Wahrheit und Bescheidenheit liebt und, was auch dem Gesetze eigen ist, nichts höher achtet als sich selbst. So findet mithin zwischen der richtig denkenden und der gerecht wirkenden Vernunft kein Unterschied statt.984

In der Aufzeichnung Nr. 28 aus dem IX. Buch verknüpft Marc Aurel die Schilderung des ewigen Kreislaufs mit der eingangs erwähnten, durchaus theorieoffenen Ausrichtung seiner Philosophie. Er stellt die stoische Doktrin, dass alles Seiende durch einen als immanente Ursache wirkenden Gott vernunftvoll geleitet werde, gravitätisch zur Disposition, indem er sie mit dem demokritisch-epikureischen Atomismus und Agnostizismus konfrontiert. Was vordergründig als Konzession an die konkurrierende Philosophenschule gelesen werden könnte, enthüllt sich bei genauerer Untersuchung als nachdrücklicher Aufruf zur stoischen Lebensgestaltung: Alles in der Welt ist in demselben Kreislauf, aufwärts, niederwärts, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Entweder ist nun die Vernunft des Weltganzen bei jedem Dinge wirksam, und wenn sie dies dann ist, so sei dir, was sie hervortreibt, willkommen, oder sie hat sich nur einmal schöpferisch erzeigt, das übrige aber ist, eines in dem anderen, nach einer notwendigen Aufeinanderfolge gewissermaßen enthalten, oder es ist das Ganze nur ein Gewirr von Atomen oder unteilbaren Teilchen. Kurz, gibt es einen Gott, so steht alles gut; herrscht aber das Ungefähr, so folge du doch keinem blinden Ungefähr. Bald wird die Erde uns alle bedecken; hierauf wird auch sie selbst sich verwandeln und so auch jene Gegenstände wieder von einem Unendlichen ins andere. Denn wer diese übereinander wogenden Fluten von Verwandlungen und Veränderungen mit ihrer reißenden Schnelligkeit erwägt, der wird alles Sterbliche gering achten.985 983 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, XI. Buch, Nr. 1, S. 166. 984 Ebd., XI. Buch, Nr. 1, S. 166f. 985 Ebd., IX. Buch, Nr. 28, S. 141.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Selbst wenn der gesamte Kosmos als Austragungsort eines „Gewirrs von Atomen“986 erkannt und bestimmt werden könnte, kann dies den Einzelnen nach Marc Aurel nicht daran hindern, sich auf seine unabänderliche Sterblichkeit zu besinnen, mit einem tugendhaften Lebenswandel zu beginnen und der chaotischen Mannigfaltigkeit die innere Ordnung seiner Vernunft entgegenzusetzen. Zu berücksichtigen ist, dass Aurel ein entscheidendes Trumpfargument in der Hinterhand behält, das auf der Teil-Ganzes-Konstellation beruht. Wenn der Mensch trotz der Myriaden zufällig aneinanderstoßender Atome in der Lage ist, sich selbst in einer ruhigen Haltung dem „blinden Ungefähr“987 zu entziehen, dekuvriert dies für Marc Aurel gerade, dass bereits die theoretische Prämisse des Atomismus falsch und inkompatibel mit der Weltverfassung sein musste. Wird nämlich zugestanden, dass der Mensch ein Teil des Ganzen ist – sei es der göttlich beherrschten Allnatur, sei es des atomistischen Attraktions- und Repulsionszusammenhanges – muss er das überzeugend unter Beweis gestellte Vermögen der Vernunft auch aus dem Alldurchwaltenden gewonnen haben. Dass das Ganze in einem seiner Teile die rationale Seelenbefähigung erzeugt hat, indiziert gemäß dem Gesetz der qualitativen Asymmetrie von Ursache und Wirkung darauf, dass das tragende und erste Prinzip selbst mehr sein muss als ein bloßes Konglomerat aus Atomen und dem zwischen ihnen existierenden Vakuum. Die Notiz Nr. 36 aus dem VI. Buch verdient aus zwei Gründen eine dezidierte Würdigung. Zum einen transzendiert Marc Aurel sogar die Betrachtung der kosmischen Irrelevanz des Individuums, indem er die für den finiten Geist unendlich und unerschöpflich erscheinenden Naturphänomene und Elementkombinationen ihrerseits mit der unübersteigbaren Größenkategorie des Alls kontrastiert. Diese Heuristik der Marginalisierung verwendet Aurel ebenfalls hinsichtlich der sowohl zeittheoretisch dimensionierten als auch historisch-taxonomisch einzuordnenden Komponente der Gegenwart, die immer wieder im ewigen und endlosen Fluss untergeht. Zum anderen unterstreicht Marc in dem Aphorismus Nr. 36 den gemeinsamen Ursprung und die Verbundenheit aller Dinge. Daraus ergibt sich, dass selbst das Schöne und Imposante nur subsistieren kann, wenn es mit den auf den ersten Blick schädlichen und geringfügigen Erscheinungen kooperiert. In einer deutlichen Wortwahl verwirft Aurel die Behauptung einer naturimmanenten, wertmäßigen Bifurkationslinie zwischen dem Prächtigen und dem angeblich Verwerflichen als „Wahn“: Asien, Europa – Winkel der Welt; der ganze Ozean – ein Tropfen des Alls! Der Athos – eine winzige Scholle des Weltganzen; die ganze Gegenwart – ein Augenblick der Ewigkeit! Alles klein, veränderlich, verschwindend! Alles hat einerlei Ursprung, von demselben gemeinsamen Allbeherrscher unmittelbar oder infolge seiner Wirksamkeit herrührend. Also auch der Rachen des Löwen, das Gift, alles Schädliche, wie Dornen und Sümpfe, sind ein Zubehör jener prachtvollen und schönen Welt. Fort also mit dem Wahne, als stünden sie mit dem Wesen, das du verehrst, in keiner Verbindung; beachte vielmehr die Quelle aller Dinge!988 986 Ebd., IX. Buch, Nr. 28, S. 141. 987 Ebd., IX. Buch, Nr. 28, S. 141. 988 Ebd., VI. Buch, Nr. 36, S. 84.

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5.5. Zur Gesamtbeurteilung der Weltsicht Marc Aurels: Pessimismus oder Liebe zum Schicksal?

5.5. Zur Gesamtbeurteilung der Weltsicht Marc Aurels: Pessimismus oder Liebe zum Schicksal? Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht z u w ic h t i g zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt Alles viel zu viel werth zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für Jegliches: dürfte man die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen? – und mein Trost ist, daß Alles was war ewig ist: – das Meer spült es wieder heraus.989

Im Zuge der bisherigen Zitatpräsentation konnte herausgearbeitet werden, dass Marc Aurel einerseits die verschwindende Partikularität des Individuums im Ganzen des Alls, die ewige Wiederkehr der gleichen Metamorphosen und die unverrückbare Prädisposition der individuellen Schicksalsschläge und Unglücksfälle analysiert. Andererseits erweist sich der römische Kaiser als gedankenreicher Apologet des praktisch-aktiven Einsatzes für das Gemeinwohl. Marc Aurel ist ein zuversichtlicher Verehrer des geringfügigen, moralischen Fortschritts990 sowie ein überzeugender und überzeugter Repräsentant humaner Güte, der an die Möglichkeit des tugendhaften Lebenswandels und an eine durch konsequente Vernunftübung habitualisierte Autarkie des Einzelnen glaubt. Diese scheinbar konträren Positionen, Wesenseinstellungen und Beurteilungen Marc Aurels haben in der Forschung eine lebhafte und kontroverse Debatte ausgelöst. Während Ernest Renan den resignativen und pessimistischen Tenor der Selbstbetrachtungen betont, vertritt Pierre Hadot in direkter Opposition zu Renan die These, dass Marc Aurels Werk vornehmlich durch die Stimmungen der Freude, der moralischen Generosität und des amor fati geprägt sei.991 Aus einer schopenhauerschen Perspektive ließe sich freilich argumentieren, dass jede tiefschürfende und rea989 Nietzsche, NF-1887,11[94]. Dieses Zitat des späten Nietzsche verdeutlicht zum einen, dass er die Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen in seiner letzten Werkperiode rehabilitiert. Zum anderen dokumentiert das bemerkenswerte Nachlassfragment, dass Nietzsche die im ‚schwersten Gedanken‘ implizierte, ewige Zukunftshaftigkeit des Gewesenen nicht nur zum Remedium des halterodierenden Flusses Heraklits stilisiert, sondern auch als Wendung gegen die von Marc Aurel in das Zentrum gerückte Daseinsverflüchtigung begreift. Die von Seiten Nietzsches kolportierte Antithese „Vergänglichkeit aller Dinge“ (Marc Aurel) versus „Ewigkeit für Jegliches“ (Nietzsche) darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Denker mit ihren jeweiligen Grundlehren das gemeinsame Ziel der reflektierten Gelassenheit verfolgen. Während Marc Aurel die Irrelevanz der Dinge betont, um „zwischen ihnen“ Ruhe zu finden, so sucht Nietzsche „Trost“ in der Vorstellung, dass das scheinbare Verschwinden der Dinge in Wahrheit das Eintauchen in das Medium ihrer iterierten Resurrektion bedeutet. 990 Zu Marc Aurels Konzentration auf den moralischen Fortschritt vgl. besonders Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IX. Buch, Nr. 29, S. 142: „Hoffe auch nicht auf einen platonischen Staat, sondern sei zufrieden, wenn es auch nur ein klein wenig vorwärts geht, und halte auch einen solchen kleinen Fortschritt nicht für unbedeutend. Denn wer kann die Grundsätze der Leute ändern? Ohne eine Änderung der Grundsätze aber, was ist anderes zu erwarten, als ein Knechtesdienst unter Seufzen, ein erheuchelter Gehorsam?“ 991 Um diese Forschungsauffassung zu validieren, zitiert Pierre Hadot eine Aufzeichnung aus dem V. Buch der Selbstbetrachtungen, in der Marc Aurel ein Ethos der Dankbarkeit gegenüber allen lebensweltlichen Erfahrungen artikuliert. Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V, 8, 12, hier zit. nach Hadot, Die innere Burg, S. 304: „[…] du mußt das dir Begegnende lieben, [...] weil es dir geschah und dir zugeordnet wurde und zu dir in einer gewissen Beziehung stand als etwas, das von oben aus den ältesten Ursachen mit dir zusammengesponnen war.“ Hadot gründet seine Exposition der Freude

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

listische Sicht auf die Welt notwendigerweise pessimistische Züge beinhalten muss. Ähnlich wie Marc Aurel, gründet Schopenhauer seine Diagnose der Nichtigkeit des Lebens im Kapitel 46 des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung auf die Dominanz einer stets unbefriedigenden Gegenwartserfahrung: Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen. Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wann wir uns haben hinäffen lassen. Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiß, die Vergangenheit unwiederbringlich. Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn.992

Sekundierend könnte auf einer psychologisch-biographischen Plausibilisierungsebene an das aristotelische Diktum erinnert werden, wonach alle Genies Melancholiker gewesen seien. Zuvorderst ist indes zu klären, welche Konnotationen mit dem Begriff ‚Pessimismus‘ verknüpft werden. Um einen höheren Anschaulichkeitsgrad zu erreichen, soll diese Sachfrage in einer direkten Bezugnahme auf eine ausgewählte Aufzeichnung Aurels erörtert werden. Selbstverständlich lässt sich hier insofern ein hermeneutischer Zirkel konstatieren, als die Selektion der Sentenz Nr. 17 aus dem II. Buch der Selbstbetrachtungen bereits durch eine zumindest diffuse Bedeutungsahnung des Pessimismus geleitet ist: Ein Punkt ist die Lebensdauer der Menschen, ihr Wesen in stetem Flusse, ihre Empfindung dunkel, das ganze Gewebe ihres Körpers der Fäulnis unterworfen, ihre Seele ein Kreisel, ihr Schicksal schwer zu bestimmen, ihr Ruf zweifelhaft: kurz, alles, was den Körper betrifft, ist ein Strom, was die Seele angeht, Traum und Dunst, das Leben ein Krieg und die Wanderung eines Fremdlings, der Nachruhm endlich Vergessenheit. Was kann nun dabei den Menschen sicher geleiten? Einzig und allein die Philosophie. Diese aber besteht darin, den Genius in seinem Innern unentweiht und unverletzt zu bewahren, erhaben über Lust und Unlust, sodaß er nichts ohne Zweck, noch mit Trug und Verstellung tue, mit seinen Bedürfnissen von fremdem Tun und Lassen unabhängig sei, überdies alle Beals Kernbefindlichkeit der Philosophie Marc Aurels auf die Verheißung einer kairologischen Glückserfüllung, die durch die Güte und Reinheit der moralischen Intention verwirklicht werden kann. Vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 209: „Gleicherweise ist das moralisch Gute, im gegenwärtigen Augenblick gelebt, ein Absolutes von unendlichem Wert, einem Wert also, den weder die Dauer noch sonst irgend etwas Äußerliches vergrößern können. Auch hier kann und muß ich die Gegenwart, die ich in diesem Moment lebe, wie den letzten Augenblick meines Lebens leben. Denn selbst wenn kein anderer mehr auf ihn folgt, werde ich aufgrund des absoluten Wertes der moralischen Absicht und der Liebe zum Guten, die ich in diesem Augenblick lebe, in eben diesem Augenblick sagen können: Ich habe mein Leben verwirklicht, alles gehabt, was ich vom Leben erwarten konnte. Ich kann also sterben.“ 992 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 46, S. 670f.

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5.5. Zur Gesamtbeurteilung der Weltsicht Marc Aurels: Pessimismus oder Liebe zum Schicksal?

gegnisse und das ihm zugeteilte Los als von daher kommend aufnehme, woher er selbst gekommen ist, zu allem dem aber mit gelassenem Sinne den Tod erwarte, der ja nichts anderes ist, als eine Auflösung in die Urstoffe, woraus jedes lebende Wesen zusammengesetzt ist. Wenn aber für diese Urstoffe selbst nichts Schreckliches darin liegt, daß jeder von ihnen immerfort in einen andern umgewandelt wird, warum sollte man die Umwandlung und Auflösung aller zusammen mit furchtsamen Blicke ansehen? Auch sie geschieht ja der Natur gemäß, ist kein Übel. Geschrieben zu Carnatum.993

Folgende Aspekte eines hypothetischen Pessimismus994 können aus dem Aphorismus Nr. 17 destilliert und systematisch aufgelistet werden: 1. Zuerst ist die punktuelle Lebensdauer des Menschen inmitten des indifferenten Universums herauszustreichen, die durch das einem kosmischen Augenschlag gleichende Ereignis des Todes jäh und unüberholbar beendet wird. Jegliches Streben nach Ruhm, nach dem Lob der Mitmenschen, nach großen Werken erweist sich als eitel und leer, da der Fluss der Zeit das Erworbene und Erinnerte mitsamt dem sich Erinnernden erbarmungslos verschlingt. 2. Während Marc Aurel das sittliche Ideal an zahlreichen Stellen der Selbstbetrachtungen in der praktischen Vereinigung der vernünftigen Seele mit der Weltvernunft entdeckt, untermalt er in der obigen Aufzeichnung die grundlegende Fremdheit des Menschen, der auf der Erde einer mühseligen, durch Schmerz, Rivalität und Krieg beherrschten Wanderschaft unterworfen ist.995 993 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, II. Buch, Nr. 17, S. 26. 994 Wilhelm Capelle optiert in seiner sehr lesenswerten Einleitung zu den Selbstbetrachtungen dafür, den philosophischen Pessimismus Marc Aurels nicht als genuin stoische Tonalität aufzufassen. In einem direkten Vergleich mit der eudämonistischen Freiheitsemphase Epiktets, gelangt Capelle zu dem Resultat, dass Marc Aurels Infragestellung einer lebensimmanenten Sinnhaftigkeit aus seiner charakterlichen Disposition entsprungen sei. Vgl. Capelle, Einleitung zu den Selbstbetrachtungen, XLIVf.: „Es muß aber doch gesagt werden, daß diese quasi pessimistische Grundstimmung des Marc Aurel gegenüber dem gesamten Erdendasein nicht im Wesen der stoischen Philosophie, sondern in seiner eigenen Veranlagung begründet ist. Das kann schon ein Vergleich mit der Grundstimmung des von ihm so hoch verehrten Epiktet zeigen. […] Dieser phrygische Freigelassene, […] ist so sehr von dem Evangelium der inneren Freiheit des Menschen, wie es Sokrates und Platon, Kynismus und Stoa verkünden, und von dem Vertrauen in die Weisheit und Güte der Vorsehung durchdrungen, daß pessimistische Stimmungen bei ihm gar nicht aufkommen. Eine tapfere, hochgemute Zuversicht diesem Leben gegenüber erfüllt ihn und all seine Diatriben, die der oft urwüchsige Eindruck seiner starken Persönlichkeit sind, auf Grund der in jeden Menschen gelegten seelisch-geistigen Anlagen und seines guten Willens und des geruhigen, frohen Vertrauens auf die Weisheit und Güte der Gottheit.“ 995 Pierre Hadot lehnt die Prädizierung eines pessimistischen Grundtenors ab, indem er Marc Aurels desillusionierte Beschreibung der Dinge stattdessen als probates Mittel exponiert, um die seelische Fokussierung von den körperlich-materiellen Vorgängen oder der täuschenden Anziehungskraft irdischer Güter abzulenken. Im Gegenhalt dazu, könne alsdann der unvergleichlichen Wertigkeit der wahren Tugend die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden. In einem weiteren Argumentationsstrang führt Hadot gegen die Subsummation Marc Aurels unter den Index des Pessimismus ins Feld, dass für die Stoiker materielle Phänomene weder genuin schlechte noch wahrhaft gute Eigenschaften besitzen könnten. Das Kriterium des Nichtseinsollenden und Verwerflichen kann gemäß dieser Lesart allein auf antimoralische Triebfedern und Affekte angewendet werden. Vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 235f.: „Wenn man die Dinge so sehen will, wie sie sind, ist man auch gezwungen, ebenfalls die Wirklichkeiten, die unauflöslich mit dem Alltagsleben verbunden sind, so zu sehen, wie sie sind, d. h. die physikalischen und physiologischen Aspekte der Funktionsweise unseres Körpers und der ständigen Verwandlung der Dinge in und um uns, als da sind: Staub, Schmutz,

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

3. Es findet sich auch bei Marc Aurel die platonisch-gnostische Diskreditierung des Körpers, der dem Zerfall, dem Leiden und der Schwäche nicht entrinnen kann und als Rezeptionsfeld der Empfindungen die rationale Klarheit des Hegemonikons irritiert. 4. Ein typisches Moment einer pessimistischen Lebensanschauung prägt sich bei Marc Aurel aus, wenn er die traumartige Beschaffenheit der Welt erwähnt und die irreversible Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis profiliert. In diesem skeptischen Moment überschneidet sich Marc Aurel erneut mit der Weisheit des Predigers Salomo, wenn dieser die Unergründlichkeit der inneren Prinzipien des Weltlaufs und das unaufhebbare Nichtwissen des Gedankenreichen eingesteht: Ich richtete mein Herz darauf, zu erkennen die Weisheit und zu schauen die Mühe, die auf Erden geschieht, daß einer weder Tag noch Nacht Schlaf bekommt in seine Augen. Und ich sah alles Tun Gottes, daß ein Mensch das Tun nicht ergründen kann, das unter der Sonne geschieht. Und je mehr der Mensch sich müht, zu suchen, desto weniger findet er. Und auch wenn der Weise meint: ‚Ich weiß es‘, so kann er’s doch nicht finden.996

Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass der stoische Philosoph in der Mitte der Aufzeichnung Nr. 17 einen fulminanten Umschlag einleitet, der durchaus mit dem Motiv des amor fati parallelisiert werden kann und den resignativen Anfangsgehalt in eine affirmative Haltung der Gelassenheit konvertiert. An dieser Stelle seien einige Ingredienzien dieser Inversion benannt. Vorrangig ist es die Beschäftigung mit der Philosophie, die dem Leben nach Marc Aurel einen verheißungsvollen Sinn zu geben vermag.997 Der sich auf die disziplinierte Zweckverfolgung kaprizierende, innere Genius erhebt sich über die Nänie, die Trostlosigkeit und die Müdigkeit. Die kontrollierschlechter Geruch, Gestank. Dieser realistische Blick wird uns erlauben, dem Leben, so wie es ist, zu begegnen. […] Diese gnadenlose Sichtweise wird die Objekte des Lebens aller falschen Werte berauben, mit denen unsere Urteile sie verkleiden. Der wahre Grund jenes angeblichen Pessimismus liegt darin, daß für Marc Aurel alles gemein, kleinlich, wertlos ist, wenn man es mit jenem einzigen Wert, nämlich mit der Reinheit der moralischen Absicht, mit dem Glanz der Tugend vergleicht. Aus dieser Perspektive gesehen ist das Leben ‚Schmutz‘ (VII, 47). Aber gleichzeitig fordert uns dieser Blick auf das Leben dazu auf, über den relativen und subjektiven Charakter des Begriffs von Schmutz und Abstoßendem nachzudenken. Wirklich abstoßend sind nicht gewisse Aspekte der Materie, sondern die Leidenschaften, die Laster. In der Tat: Wenn wir gewisse Aspekte der physischen Wirklichkeit als abstoßend betrachten, so weil und insofern wir Opfer eines Vorurteils sind und sie nicht aus der weiten Perspektive der Allnatur zu betrachten wissen. Alle diese Aspekte sind nichts anderes als notwendige, aber zusätzliche Folgen des ursprünglichen, am Anfang aller Dinge einmal von der Natur gegebenen Antriebs.“ 996 Koh, 8, 16–18, S. 670. 997 Auch Lucius Annaeus Seneca, der dritte wesentliche Vertreter der jüngeren Stoa (neben Epiktet und Marc Aurel), widmet sich ausführlich dem Topos der eng bemessenen Lebenszeit. Seneca entdeckt in der in Muße ausgeübten Beschäftigung mit den großen Werken der Philosophie einen Weg zur zeitüberschreitenden Weisheit, welche den Einzelnen von der punktuellen Dauer der Existenz emanzipiert. Erstaunlich ist, dass Seneca in diesem Zusammenhang eine perspektivenreiche Offenheit gegenüber den einzelnen philosophischen Schulen der Vergangenheit beweist und das therapeutische Moment der Philosophie hervorhebt. Die verheißungsvolle Wahl des jeweiligen Weisheitslehrers müsse sich an dem spezifischen Zweck orientieren, den der Einzelne in seiner aktuellen Lebenssituation verfolge. Vgl. Seneca, De brevitate vitae / Von der Kürze des Lebens, S. 51: „Nur die

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te Gestaltung des Begehrungstriebes gestattet eine Unabhängigkeit von der Perturbation fremder Einflüsse. Der Tod verliert Marc Aurel zufolge seine ehrfurchtgebietende Gewalt über das Leben, wenn er nur eine physiologisch lückenlos erklärbare Umwandlung der Urstoffe und eine Rückkehr in den Naturnexus repräsentiert. Was jedoch unabänderlich erfolgen muss, so lautet das Kernargument Aurels, kann kein Übel sein, weil es stets der Allnatur zuträglich ist, die niemals etwas gegen ihren eigenen Willen unternimmt und erwirkt. Auf dieser Basis lässt sich die werkumfassende These proponieren, dass Marc Aurels Selbstbetrachtungen generell durch einen ambivalenten Duktus getragen werden. In den Selbstbetrachtungen verbinden sich die pessimistisch-desillusionierten Deskriptionen des Weltlaufs in einer faszinierenden Spannungseinheit mit der Privilegierung der seelischen Souveränität und Serenität, die sich von den widrigen Umständen emanzipiert und diese sogar gutzuheißen vermag. Wenn die Seele jedoch trotz des ubiquitären Determinismus über eine solch großartige, machterfüllte Fähigkeit verfügt, so ließe sich die Gedankenfolge fortsetzen, kann die Welt nicht als ein gerechtigkeitsberaubter Verblendungszusammenhang oder gar als ein gottloser Ort definiert werden. In diesem Kapitel der vorliegenden Arbeit soll keineswegs die Prätention lanciert werden, Marc Aurels reichhaltige Weisheit könne auf die starre Alternativformel ‚melancholischer Pessimismus‘ oder ‚willige Bejahung des Schicksals‘ reduziert werden. Stattdessen erscheint es ergiebiger, Marc Aurel zum Abschluss des fünften Kapitels noch einmal selbst zu Wort kommen zu lassen, um die These einer für ihn typischen Umkehrbewegung zu untermauern. Diesbezüglich bietet sich die Sentenz Nr. 10 aus dem V. Buch an, da dort einige der oben anhand der Aufzeichnung Nr. 17 aus dem II. Buch exemplifizierten Schilderungen und Attribute wiederkehren. Der stufenartig gegliederte Aphorismus lautet: Die Dinge in der Welt sind gewissermaßen in ein solches Dunkel gehüllt, daß sie nicht wenige Philosophen, und zwar nicht alltägliche, für durchaus unbegreiflich halten. Selbst den Stoikern kommen sie wenigstens schwer begreiflich vor. […] Geh nun mit deiner Betrachtung auf die vorliegenden Gegenstände selbst über! Wie kurzdauernd und wertlos sind sie und können sogar das Eigentum eines Unzüchtigen, einer Buhlerin oder eines Straßenräubers werden! Lenke nach diesem deinen Blick auf den Geist deiner Zeitgenossen! Man hat Mühe, selbst die Art und Weise des einnehmendsten unter ihnen erträglich allein leben in Muße, die ihre Zeit der Weisheit widmen: Sie allein leben. Sie hüten nämlich nicht nur ihre eigene Lebenszeit gut, sie fügen ihr auch noch jede Zeitepoche hinzu. Alle Jahre, die vor ihnen gelebt wurden, haben sie für sich gewonnen. Wenn wir nicht ganz und gar undankbar sind, dann sind doch all die berühmten Schöpfer des ehrwürdigsten Gedankengutes für uns geboren, haben uns den Weg zum rechten Leben gebahnt. Zum Edelsten und Schönsten, das uns durch die Mühe anderer aus der Finsternis ans Licht gebracht wurde, werden wir hingeführt. Kein Zeitalter ist uns verschlossen, zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir hochgemut die Schranken menschlicher Schwäche überschreiten wollen, dann tut sich ein großer Zeitraum auf, den wir durchwandern können. Wir dürfen disputieren mit Sokrates, zweifeln mit Karneades, Ruhe finden mit Epikur, die menschliche Natur überwinden mit den Stoikern, mit den Kynikern sie hinter uns lassen. Da die Natur es uns gestattet, als Zeitgenosse in jede Epoche einzutreten, warum sollten wir uns da nicht von unserer kurzlebigen Augenblicksexistenz weg und mit ganzer Seele dem zuwenden, was unermesslich, was ewig ist, was uns mit Besseren in Verbindung bringt?“

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

zu finden, zu geschweigen, daß mancher sich selbst kaum ertragen kann. Was nun bei solchem Dunkel und solcher Widerlichkeit der Zustände und dem so raschen Verlauf der Dinge und der Zeit, der Bewegung und des Bewegten, wohl der Hochschätzung oder des Strebens überhaupt noch wert sein könne, vermag ich nicht zu begreifen. Im Gegenteil ist es ja Pflicht, die natürliche Auflösung getrost zu erwarten und über ihren Verzug sich nicht zu beklagen, sondern mit folgendem allein sich zu beruhigen: ‚Erstens, es kann mir nichts begegnen, was nicht der Natur des Ganzen gemäß wäre, und dann, von mir selbst hängt es ab, meinem Gott und Genius nichts zuwider zu tun; denn niemand kann mich zwingen, diesen außer acht zu lassen.‘998

Ähnlich wie in der oben zitierten Aufzeichnung Nr. 17, beginnt Marc Aurel seine Überlegung zunächst mit einer pessimistischen Note, die hier allerdings nicht primär auf die temporale Flüchtigkeit des Daseins und die Nacht des Vergessens abzielt. Stattdessen weist die Aufzeichnung Nr. 10 anfangs einen wahrheitsskeptischen Grundton auf, indem sie die Undurchdringlichkeit, Schattenhaftigkeit und Unbegreiflichkeit der Objektwelt akzentuiert. Marc Aurel forciert in der Folge einen Nihilismus einer Wertlosigkeit der Dinge, dessen Kernaussage als desparates „Es lohnt sich nichts“999 und als mephistophelisches „Denn alles, was entsteht, // ist wert, daß es zugrunde geht; // Drum besser wär's, daß nichts entstünde“1000 zusammengefasst werden könnte. Trotz der ethischen Diskrepanzen der Menschen scheint das Schicksal eine wahllose Zuteilungslotterie zu befolgen, insofern sowohl den Gerechten als auch den Ungerechten Fährnisse wie auch Glücksserien treffen können. Dies legt zunächst eine fundamentale Gleichgültigkeit der Natur nahe. In Wahrheit ist es auch an dieser Stelle die Intention Marc Aurels, den innerweltlichen Gegenständen im Medium der Versinnbildlichung ihres unaufhaltsamen Verschwindens und ihrer willkürlichen Besitzbarkeit durch jeden beliebigen Menschen die repressive Gewalt über die Seele zu nehmen. Das Begehren irdischer Dinge soll 998 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V. Buch, Nr. 10, S. 62. 999 Vgl. zu diesem Motiv des „Es lohnt sich nichts“ die Lehre des Wahrsagers, die Nietzsche im Zarathustra-Stück Der Nothschrei entfaltet: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Der Nothschrei, KSA 4, S. 300: „Und wie er [Zarathustra, J.K.] schnell um sich blickte und aufstand, siehe, da stand der Wahrsager neben ihm, der selbe, den er einstmals an seinem Tische gespeist und getränkt hatte, der Verkündiger der grossen Müdigkeit, welcher lehrte: ‚Alles ist gleich, es lohnt sich nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.‘ Aber sein Antlitz hatte sich inzwischen verwandelt; und als ihm Zarathustra in die Augen blickte, wurde sein Herz abermals erschreckt: so viel schlimme Verkündigungen und aschgraue Blitze liefen über dieses Gesicht.“ Für das Untersuchungsziel der vorliegenden Arbeit ist immens aufschlussreich, dass der Wahrsager im gleichnamigen Zarathustra-Stück die Diagnose des Nihilismus durch das Gleichnis des erlöschenden Feuers versinnbildlicht. Während das Feuer bei Heraklit – der nach Nietzsche den Gipfel der intuitiv geschauten Bejahung des ewigen Werdens erreicht hat – in einem unerschöpflichen Rhythmus und in ubiquitär entflammter Aktivität die Geschehnisse des Alls lenkt, verkündet der Wahrsager (als Inkarnation Schopenhauers) am anderen Ende der Philosophiegeschichte, dass die Kraft des Feuers im Zuge des sich ausbreitenden Eindruckes der Sinnlosigkeit jeglichen Strebens ‚ermüdet‘ sei. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Der Wahrsager, KSA 4, S. 172: „Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick sengte unsere Felder und Herzen gelb. Trocken wurden wir Alle; und fällt Feuer auf uns, so stäuben wir der Asche gleich: – das Feuer selber machten wir müde.“ 1000 Vgl. Goethe, Faust I, Vers 1338ff: „Ich bin der Geist, der stets verneint! // Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, // Ist wert, daß es zugrunde geht; // Drum besser wär's, daß nichts entstünde. // So ist denn alles, was ihr Sünde, // Zerstörung, kurz das Böse nennt, // Mein eigentliches Element.“

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5.5. Zur Gesamtbeurteilung der Weltsicht Marc Aurels: Pessimismus oder Liebe zum Schicksal?

relativiert werden, um der Vernunft zur Autonomie zu verhelfen und das glückselige Leben der Tugendhaftigkeit zu realisieren. Entscheidend ist allerdings, dass Marc Aurel die prima vista negativistische Sicht in der Aufzeichnung Nr. 10 des V. Buches nicht mehr nur auf die innerzeitlichen Vorgänge beschränkt. In der oben erörterten Sentenz Nr. 42 aus dem VI. Buch hatte Aurel exponiert, dass selbst der uneinsichtige, widerspenstige und ungerechte Mensch unweigerlich das übergreifende Ziel der Allnatur verfolge1001 und die Differenz zum vernünftigen Individuum sich nur in dem Grad des Bewusstseins dieser globalen Zweckhaftigkeit manifestiere. Hingegen ist die Aufzeichnung Nr. 10 von einer markanten Klage des hochbegabten Kaisers über die kognitive, moralische und charakterliche Qualität der Mitmenschen durchdrungen. Hervorstechend ist die sehr leicht misanthropisch fehlinterpretierbare Formulierung, dass selbst die geistige Disposition und der Charakter des sympathischsten und angenehmsten Menschen „schwer erträglich“1002 sei und sich die meisten Menschen selbst kaum ertragen könnten. Indes könnte der Deutungsansatz aufgebaut werden, dass sich Marc Aurel – in Analogie zur schwankenden und unbeständigen Verfassung der Dinge – auf die Täuschungsaffinität der menschlichen Meinungen inmitten des in Dunkelheit gehüllten Weltgeflechts bezieht, um den Mitmenschen einerseits mit aufrichtiger Nachsicht, mit einem einfühlsamen Verständnis und mit gerechter Milde begegnen zu können.1003 Andererseits kann Marc Aurel dergestalt die Einflusskraft ihrer Ansichten, ihrer Vorurteile und der immer wiederkehrenden Verhaltensmuster auf seine eigene Vernunft reduzieren und diese zur Tenazität sollizitieren. Zudem ist zu registrieren, dass Marc Aurel auch in der Aufzeichnung Nr. 10 des V. Buches eine eklatante Wende vollzieht, indem er auf den Begriff der Pflicht und den Schlüsselterminus des inneren Genius rekurriert. Es ist die maßgebende Zentraleinsicht in die Ausweglosigkeit und Natur-

1001 Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 42, S. 86: „Ja, sogar die Schlafenden sind, wie, glaube ich, Heraklit sagt, Arbeiter und Mitarbeiter an dem, was in der Welt geschieht. Jeder aber arbeitet auf andere Art mit, selbst im Übermaß der Tadler, welcher dem, was geschieht, entgegenzutreten und es wegzuräumen sucht. Denn auch eines Menschen von solchem Gelichter bedurfte die Welt.“ 1002 Ebd., V. Buch, Nr. 10, S. 62. 1003 Im Rekurs auf diesen Korrespondenzbezug illustriert Pierre Hadot, dass die menschliche Freude für Marc Aurel vornehmlich auf dem harmonisch-tätigen Mitvollzug jener Bewegung der Natur beruht, in der sich ihre Liebe zum Ganzen ausdrückt, ausweitet und nährt. Vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 329: „Diese Freude, die die naturgemäße Handlung gewährt, läßt teilhaben an der Liebe der Natur zum Ganzen, das sie hervorbringt, und an der wechselseitigen Liebe der Teile dieses Ganzen. Glücklich zu sein heißt für den Menschen, das Gefühl zu haben, Teil einer unvermeidlichen Bewegung zu sein, die vom Antrieb ausgeht, welcher dem Ganzen von der Urvernunft verliehen wurde, damit es sein Wohl verwirkliche. Das von uns mit ‚Natur‘ übersetzte griechische Wort physis vermittelte den Griechen die Idee einer Bewegung des Wachstums, von Entfaltung und ‚Aufgeblasensein‘ (emphusesis), wie die Stoiker sagten. Glücklich sein heißt, eins zu werden mit dieser sich nach außen ausdehnenden Bewegung, heißt also, sich im gleichen Sinn wie die Natur zu bewegen, gleichsam die Freude nachzufühlen, die die Natur selbst bei ihrer schöpferischen Bewegung verspürt. Darum beschreibt Marc Aurel die Freude in Bildern, die auf das Voranschreiten auf dem guten Weg, in die richtige Richtung, auf die Übereinstimmung der Begierden, Willen und Gedanken mit dem Weg der Natur anspielen.“

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gebundenheit des „raschen Verlaufes der Dinge und der Zeit“1004, die zu einer geduldigen Erwartung der natürlichen Metamorphose animiert. Selbst wenn es den Anschein erweckt, als würde die Allnatur dem Einzelnen das Prätendierte entziehen, das Erarbeitete nicht vergönnen und das Verdiente desavouieren, so kontert Marc Aurel auch hier mit dem paradigmatischen Monitum, dass nichts geschehen kann, was nicht in einem Entsprechungsverhältnis zur Allnatur situiert ist.1005 Als wesentliche Hintergrundannahme des in der Aufzeichnung Nr. 10 promulgierten, metaphysischen Nezessitarismus lässt sich markieren, dass die scheinbar kohärent wirkende Logik, wonach der gerechte und tugendhafte Charakter durch die Folgen seiner Handlung belohnt werden müsse und das rücksichtslos und agonal agierende Individuum lebensimmanent bestraft werde, einer regional verengten Weltsicht entspringt. Im gewissen Sinne ist selbst die Gedankenführung des Predigers Salomo ex negativo noch dem Proportionalitätsideal des Tun-Ergehen-Zusammenhanges unterworfen. Im Koheleth wird der Vorrang des Nicht-Geboren-Seins mitsamt dem Mühseligkeitsgepräge des Daseins aus einer unumstößlichen, von Gott selbst verfügten Prädetermination hergeleitet, die sich lebensweltlich in einer undurchschaubaren Indifferenz der Leidenszuteilung äußere. Aus der Beobachtung, dass nicht nur der gottlose Egoist von einschneidenden Vulnerabilitätserfahrungen getroffen werden kann, sondern auch der gutherzige und freigebige Mensch denselben Bedrohungen und Schmerzen unterworfen ist, folgert Salomo eine ubiquitäre Negativdiagnose des Lebens. Nach seiner langen Wahrheitssuche muss Salomo schließlich in das konsternierende Resultat einwilligen, dass im faktischen Dasein die Ungerechtigkeit und die menschliche Bosheit herrschen: Denn ich habe das alles zu Herzen genommen, um dies zu erforschen: Gerechte und Weise und ihr Tun sind in Gottes Hand. Auch über Liebe und Haß bestimmt der Mensch nicht; alles ist vor ihm festgelegt. Es begegnet dasselbe dem einen wie dem andern: dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen, dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert. Wie es dem Guten geht, so geht’s auch dem Sünder. Wie es dem geht, der schwört, so geht’s auch dem, der den Eid scheut. Das ist das Unglück bei allem, was unter der Sonne geschieht, daß es dem einen geht wie dem andern. Und dazu ist das Herz des Menschen voll Bosheit, und Torheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben; danach müssen sie sterben.1006

1004 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, V. Buch, Nr. 10, S. 62. 1005 Zur Spezifikation der stoischen Zentraldoktrin eines Lebens im ‚Einklang mit der Natur‘ vgl. die bereichernden Ausführungen von Anna Schriefl, Die stoische Philosophie, S. 140: „Die Stoiker unterscheiden terminologisch zwischen dem Leben ‚im Einklang mit der Natur‘ und dem ‚naturgemäßen Leben (kata physin). Ein naturgemäßes Leben führen auch Tiere, indem sie beispielsweise für sich und ihren Nachwuchs sorgen. Auch die gewöhnlichen Menschen leben lediglich ein naturgemäßes Leben: Sie kümmern sich um ihr Wohlergehen, verhalten sich dabei aber häufig irrational und inkonsistent. Im Unterschied dazu lebt der Tugendhafte nicht nur naturgemäß, sondern im Einklang mit der Natur, weil er in allen seinen Handlungen dem Standard der Vernunft folgt.“ 1006 Koh, 9, 1–4, S. 670.

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Auch Salomos Klage über die Absenz des Trösters und die Exposition der Asymmetrie zwischen dem Erleiden und der Zufügung von Gewalt widerspricht dem stoischen Vertrauen auf die autarke Bastion der eigenen Vernunft: Wiederum sah ich alles Unrecht an, das unter der Sonne geschieht, und siehe, da waren Tränen derer, die Unrecht litten und keinen Tröster hatten. Und die ihnen Gewalt antaten, waren zu mächtig, so daß sie keinen Tröster hatten. Da pries ich die Toren, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben haben. Und besser daran als beide ist, wer noch nicht geboren ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.1007

Nach Marc Aurel wird die moralisch untermauerte Folgenerwartung der künftigen Belohnung respektive der Bestrafung von einem anthropozentrischen Zwecksetzungskalkül flankiert. Im Gegensatz dazu, offenbart sich die glücksaffine Tugendhaftigkeit und die einzige konsistente Form moralischer Güte nach Marc Aurel gerade darin, Widerfahrnisse, die jeden Menschen hätten treffen können, mit einer umsichtigen Würde und mit Anstand zu tragen, anstatt sie als vermeintlich unverdiente Unglücksfälle zu diskreditieren.1008 Wie herausgearbeitet werden konnte, prononciert Marc Aurel, dass sich die spekulativen Verlaufsantizipationen und die menschliche Präjudikation des Schicksals einer unkontrollierten Selbstbezüglichkeit des Begehrungstriebes verdanken. Nichtsdestotrotz soll zum Abschluss dieses Kapitels die Frage aufgeworfen werden, ob in den letzten Zeilen des Aphorismus Nr. 10 aus dem V. Buch eine theoriesubversive Rivalitätskonstellation zwischen der Allnatur und dem Individuum konzipiert wird. Wenn Marc Aurel expliziert, dass keines der äußeren Geschehnisse und keine der aufkeimenden Unzuträglichkeiten, die sich allesamt aus der Urquelle des Schöpfungsdranges der Allnatur speisen, seinen inneren Genius zwingen könnten, so vindiziert er einen Emanzipationsstatus der vernünftigen Seele, der sich nur schwerlich kausal aus der Allnatur ableiten lässt: Aufwärts, niederwärts, im Kreislauf bewegen sich die Grundstoffe. Die Bewegung der Tugend aber geht nach keiner von diesen Richtungen; sie ist vielmehr etwas Göttlicheres und schreitet auf guter, wenn auch schwer zu begreifender Bahn vorwärts.1009

Marc Aurel gelingt es also, einen Ort der wahren Freiheit einzugrenzen, dessen Genese und Realität sich nicht vollständig in der allgemeinen Notwendigkeitsordnung auflöst. Vielleicht ist es die innere Haltung des mit der Weltvernunft korrespondierenden Genius, die nicht von den unvorhersehbaren (wenn auch gedanklich zu antizipierenden) Fährnissen des Schicksals umgriffen, geleitet und instantiiert wird. In dieser Entdeckung könnte Marc Aurels weitreichender Nachruhm begründet sein, welcher der von ihm diagnostizierten Vergänglichkeit der großen Namen und Lehren eindrucksvoll Widerstand leistet. Nach einem bekannten Worte Schellings ist die Freiheit der 1007 Koh, 4, 1–3, S. 666. 1008 Diesen Aspekt der praktischen Bewährung der Gemütsruhe, deren gelungene Ausübung den intrinsischen Lohn der Glückseligkeit vollkommen in sich trägt, würdigt auch Marcel von Ackeren. Vgl. Van Ackeren, Die Philosophie Marc Aurels, S. 626ff. 1009 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 17, S. 78f.

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5. Allnatur, menschliche Vernunft und Gerechtigkeit in der stoischen Philosophie Marc Aurels

Anfang und das Ende der Philosophie.1010 In dieser Hinsicht gewährt Marc Aurels Stoizismus ein unschätzbares Potenzial, indem er das Individuum vorbereitet und gestärkt in die abenteuerlichen Gefilde einer praktischen Lebensführung entlässt.1011 Dies sei durch ein letztes Zeugnis der Weisheit Marc Aurels bekräftigt, das den Geist der kosmopolitischen Liberalität in sich trägt. Marc Aurel unterstreicht die Immunität, Gleichgültigkeit und Souveränität des Weisen gegenüber der Bosheit der Anderen, ohne die wesensmäßig-natürliche Verbundenheit mit den Mitmenschen zu leugnen: Für meine Willensfreiheit ist die Willensfreiheit meines Nebenmenschen ebenso gleichgültig als sein ganzes geistiges und leibliches Wesen; denn sind wir auch in vorzüglichem Sinne für einander geboren, so haben doch die in uns herrschenden Kräfte je ihr eigenes Gebiet. Widrigenfalls müßte ja die Bosheit meines Nebenmenschen auch für mich etwas Böses sein, was jedoch der Gottheit nicht gefallen hat, damit nicht mein Unglück von der Willkür eines anderen abhänge.1012

1010 Vgl. Schelling, Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, § 6, SW I/1, S. 177: „Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!“ 1011 Wilhelm Capelle sieht gerade in dem praktischen Impetus eines angemessenen Umgangs mit den eigenen Schwächen, Ängsten und Zweifeln die ‚ewige Bedeutung‘ der Persönlichkeit Marc Aurels und seiner Selbstbetrachtungen. Vgl. Capelle, Einleitung zu den Selbstbetrachtungen, LIV: „Eine Persönlichkeit steht hinter diesem Buch, die ewige Bedeutung hat für alle Menschen, die ihrer Unvollkommenheiten und Mängel wohl bewußt, doch oder vielmehr gerade darum immer aufs neue an ihrer sittlichen Läuterung und Vervollkommnung, an ihrer sittlichen Wiedergeburt arbeiten, die das ‚Stirb und Werde‘ gerade auf ihr ethisches Leben anwenden, eine Persönlichkeit, die ewige Bedeutung haben wird für alle, ‚die immer strebend sich bemühen‘, auf daß ihnen der innere Friede, die ‚Erlösung‘ zuteil werde.“ 1012 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VIII. Buch, Nr. 56, S. 129.

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges In diesem Schlusswort soll der in der Einleitung entworfene Leitfaden noch einmal aufgenommen werden. Allerdings sollen die Unterschiede und Ähnlichkeiten der jeweiligen Gewichtungen von Δίκη und Φύσις nicht einfach rekapituliert werden. Vielmehr konnte in dieser Studie herausgearbeitet werden, dass alle besprochenen Autoren innerhalb des bestimmenden Begriffsnexus von Δίκη und Φύσις auf die Problematik der Legitimität des Werdens und auf die Herausforderung des menschlichen Umgangs mit der verrinnenden Zeit stießen. Die zunächst disparat erscheinende Auswahl der Autoren konnte angesichts dieses gemeinsamen Bezugssinns eine variantenreiche Erhellung und profunde Rechtfertigung erfahren. In diesem Resümee soll die Zentralität der Zeitlichkeit zunächst anhand der diskutierten Deutungen des Anaximander-Spruches eingeholt werden. Im Vergleich der Interpretationen Nietzsches und Heideggers kristallisierte sich im zweiten und im dritten Kapitel die entscheidende Frage heraus, ob die δίκη, die Ordnung der Zeit oder τὸ χρεών die richtende Gewalt über das All des Seienden beanspruchen können. Da Heidegger 1946 den Zusatz κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν im Rekurs auf eine philologische Konjektur1013 entfernt, scheint sich der Fokus seiner Überlegungen auf die Grundbegriffe des τὸ χρεών, der δίκη und der ἀδικία zu konzentrieren. Indes konnte gezeigt werden, dass Heidegger die metaphysikkritische Latenz des ersten abendländischen Metaphysikers vor allem deswegen zu prononcieren vermag, weil er in seinem Aufsatz Der Spruch des Anaximander das seinsgeschichtliche Narrativ einer Eschatologie des Seins mit der Zeitlichkeitsanalyse aus Sein und Zeit zusammenschließt. Dass die seienden Dinge einander „Fug und Ruch gewähren“1014, indem sie den „Un-fug verwinden“1015, bedeutet nichts anderes, als dass sich die endlichen Wesen gegenseitig akzeptieren, indem sie je für sich den Primat der Zukunft (und damit die eigene Sterblichkeit) entdecken und würdigen. Die horizontale Ektase der Zukunft1016, die aus Sein und Zeit bekannt ist, erhält in dem Aufsatz Der Spruch des Ana1013 1014 1015 1016

Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 340f. Vgl. ebd., S. 361. Vgl. ebd., S. 361. In Sein und Zeit wird der Ekstase der Zukunft eindeutig die Superiorität gegenüber der Vergangenheit und der Gegenwart vindiziert, insofern sich die Gegenwart allererst durch die Zeitigung der im Modus ihrer Gewesenheit zu sich selbst zurückkommenden Zukunft auszufächern vermag. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 65, S. 329: „Bei der Aufzählung der Ekstasen haben wir immer die Zukunft an erster Stelle genannt. Das soll anzeigen, daß die Zukunft in der ekstatischen Einheit der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit einen Vorrang hat, wenngleich die Zeitlichkeit nicht erst durch die Anhäufung und Abfolge der Ekstasen entsteht, sondern je in der Gleichursprünglichkeit derselben sich zeitigt. Aber innerhalb dieser sind die Modi der Zeitigung verschieden. Und die Verschiedenheit liegt darin, daß sich die Zeitigung aus den verschiedenen Ekstasen primär be-

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

ximander ein Pendant in der Figur des künftigen Hinweggangs in das AbwesendGrenzenlose (ἄ-πειρον).1017 1946 konnte Heidegger in seiner Kontraposition der „übergänglichen Weile“1018 gegenüber dem „Aufstand in das bloße Andauern“1019 auf die 1927 geleistete, existentiale Bestimmung des Todes zurückgreifen. So wie die seienden Dinge in ihrem Erscheinen sofort in den Hinweggang übergehen und in ihrem Vergehen in das Abwesende ent-stehen, so beginnt das Dasein schon mit seiner Geburt zu sterben.1020 Während Heidegger das eigentliche Seinkönnen in Sein und Zeit mit einem isolierten Zurückgeworfensein auf die jemeinige Möglichkeit des Todes verbindet und einen „existenzialen Solipsismus“1021 favorisiert, so bricht er im Anaximander-Aufsatz mit dieser Desozialisierung des Todes. In Sein und Zeit soll sich das Dasein von den täuschenden Sinnangeboten und den Verallgemeinerungen des Man

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stimmen kann. Die ursprüngliche und eigentliche Zeitlichkeit zeitigt sich aus der eigentlichen Zukunft, so zwar, daß sie zukünftig gewesen allererst die Gegenwart weckt. Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft. Der Vorrang der Zukunft wird sich entsprechend der modifizierten Zeitigung der uneigentlichen Zeitlichkeit selbst abwandeln, aber auch noch in der abkünftigen ‚Zeit‘ zum Vorschein kommen.“ Insofern der Notwendigkeitsindikator des κατὰ τὸ χρεών in Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander über die Weiledauer des jeweils Anwesenden verfügt, kann eine aufschlussreiche Parallele zwischen dem κατὰ τὸ χρεών und der weiterentwickelten, in den Beiträgen zur Philosophie vorgetragenen Konzeption des Seins zum Tode dargelegt werden. In den Beiträgen lässt Heidegger das Sein zum Tode – ähnlich wie die Verwindung des Unfugs im Anaximander-Aufsatz – auf einer Notwendigkeit beruhen, die wiederum im Sein selbst wurzelt. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 160, S. 282f.: „Sein zum Tode aber, entfaltet als Wesensbestimmung der Wahrheit des Da-seins, birgt in sich zwei Grundbestimmungen der Zerklüftung und ist deren meist unerkannter Widerschein im Da. Einmal verbirgt sich hier die wesenhafte Zugehörigkeit des Nicht zum Sein als solchem, was hier, im ausgezeichneten Da-sein als Gründung der Wahrheit des Seins, nur in einer einzigen Schärfe zu Tage kommt. Dann verbirgt das Sein zum Tode die unergründliche Wesensfülle der ‚Notwendigkeit‘, wiederum als der einen Kluft des Seins selbst; Sein zum Tode wieder daseinsmäßig. Der Zusammenstoß von Notwendigkeit und Möglichkeit.“ Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355. Ebd., S. 356. Vgl. ebd., S. 357: „Das je-weilig Anwesende west an, insofern es weilt, weilend ent-steht und vergeht, weilend die Fuge des Übergangs aus Herkunft zu Hingang besteht. Dieses je weilende Bestehen des Übergangs ist die fügliche Beständigkeit des Anwesenden.“ Zu dieser Zusammengehörigkeit zwischen der Geworfenheit und dem Sein zum Ende in Heideggers Hermeneutik des Daseins vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 50, S. 251: „Das Sein zum Ende entsteht nicht erst durch eine und als zuweilen auftauchende Einstellung, sondern gehört wesenhaft zur Geworfenheit des Daseins, die sich in der Befindlichkeit (der Stimmung) so oder so enthüllt. Das je im Dasein herrschende faktische ‚Wissen‘ oder ‚Nichtwissen‘ um das eigenste Sein zum Ende ist nur der Ausdruck der existentiellen Möglichkeit, in verschiedener Weise sich in diesem Sein zu halten.“ Um Missverständnissen vorzubeugen, ist unbedingt zu betonen, dass der ‚existenziale Soplisismus‘ nach Heidegger nicht aus einer dauerhaften Habitualisierung der Einsamkeit resultiert, sondern die bedeutsamen Möglichkeiten des auf sich selbst zurückgeworfenen Daseins in der Welt enthüllen soll. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, Ebd., § 40, S. 188: „Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ‚solus ipse‘. Dieser existenziale ‚Solipsismus‘ versetzt aber so wenig ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, daß er das Dasein gerade in einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es selbst vor sich selbst als In-der-Weltsein bringt.“

6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

befreien, um zu der „eigenste[n], unbezügliche[n], unüberholbare[n] Möglichkeit“1022 des Todes vorzulaufen. In Der Spruch des Anaximander soll das jeweils Anwesende umgekehrt die kollektive Sterblichkeit anerkennen, um sich von seiner Egozentrizität zu emanzipieren. Solange die Seienden auf der vermeintlich ungetrübten Wirklichkeit ihres reinen Gegenwärtig-Seins verharren, scheint der eigene Tod für sie nicht zu existieren. Aus dieser Position des unbedingten Leben-Wollens bestreiten sie das Recht des jeweils Anderen und suchen den gefügten Raum der Anwesenheit für sich allein zu besitzen. Unter einer archaisierenden Sprache verborgen, dekuvriert Heidegger in seiner Lektüre des Spruches des Anaximander existenziell-lebensbedrohliche Streitvorgänge eines bellum omnium contra omnes.1023 Erst wenn die Seienden

1022 Ebd., § 50, S. 250. Ein weiterer, fundamentaler Unterschied zur Bestimmung der Endlichkeit im Anaximander-Aufsatz besteht 1927 darin, dass sich das Dasein – nach Maßgabe der causa-sui-Figur – in Sein und Zeit die Vereinzelung seines eigentlichen Seinkönnens „von ihm selbst her […] ermöglicht“, während ein wahrhaftes Verhältnis zum Tode im Anaximander-Aufsatz durch die individualisierende Entdeckung dieser „ausgezeichneten Möglichkeit“ gerade verschlossen würde. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 53, S. 263: „Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins. Das Sein zu ihr erschließt dem Dasein sein eigenstes Seinkönnen, darin es um das Sein des Daseins schlechthin geht. Darin kann dem Dasein offenbar werden, daß es in der ausgezeichneten Möglichkeit seiner selbst dem Man entrissen bleibt, das heißt vorlaufend sich je schon ihm entreißen kann. Das Verstehen dieses ‚Könnens‘ enthüllt aber erst die faktische Verlorenheit in die Alltäglichkeit des Man-selbst. […] Der Tod gehört nicht indifferent nur dem eigenen Dasein zu, sondern er beansprucht dieses als einzelnes. Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung ist eine Weise des Erschließens des ‚Da‘ für die Existenz. Sie macht offenbar, daß alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.“ 1023 Dass Heidegger im Aufsatz Der Spruch des Anaximander einen wogenden Kampf der Seienden inszeniert, der um die Erhaltung der jeweiligen Dauerfähigkeit kreist und allein durch die richtende Zeit reguliert wird, hat Klaus Held hellsichtig dekodiert. In seiner Bezugnahme auf Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander akzentuiert Held besonders das Motiv der Pleonexie, das gleichsam als Inzitamentum des Streits fungiert. Vgl. Held, Heraklit, S. 97f.: „In gewisser Weise hat Heidegger, in Aufnahme von Anregungen bei Hölderlin und Nietzsche, als erster das Wesentliche der Verfassung der in der Vorsokratik vortranszendental thematisierten Gegebenheitsweisen von Welt erkannt. Er hat diese Erkenntnis in seinem vielgeschmähten Anaximander-Aufsatz zum ersten Mal veröffentlicht. Durch den auf die Spitze getriebenen Manierismus gerade dieses Aufsatzes verständlicherweise abgeschreckt, hat die philologische Forschung aber meines Wissens bis heute darauf verzichtet, sich seinen einfachen Grundgedanken für die Vorsokratiker-Interpretation zunutze zu machen. Dieser einfache Grundgedanke ergibt sich, wenn man die eigentümliche (und für unseren Zeitbegriff ganz ungewohnte) Rolle beachtet, die die Zeit im überlieferten Satz des Anaximander spielt. Der auffallendste Gedanke in jenem ersten erhaltenen Satz der Philosophie ist ja die Behauptung, die Zeit sei der Richter beim Rechtsausgleich für eine pleonexia von Gegensätzlichem. Nun ist der Gedanke, daß die Zeit den Hochmut des immer-mehr-Haben-Wollens (die pleonexia) vor den Fall bringt und alle Wunden heilt, so nur eine aus der Erfahrung abgelesene Lebensweisheit und noch keine philosophische These. Eine solche liegt erst dann vor, wenn die pleonexia sich auf die Zeit als Dauer selbst bezieht, d. h. wenn der Satz des Anaximander von Gegensätzlichem handelt, das sich wechselseitig die Dauer seiner Anwesenheit streitig macht.“ Vgl. darüber hinaus die lebensweltnahe Charakterisierung der wechselseitigen Feindschaft zwischen den jeweils Anwesenden und Helds fruchtbare Identifikation der Zeit mit der Δίκη, die in ihrer Kernfunktion als schlichtende Rechtsinstanz erfasst und beschrieben wird: Held, Heraklit, S. 98: „Die Jeweiligkeit solchen Seins ist in diesem Sinne Übergänglichkeit. Nun ist das so verstandene

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

(τὰ ὄντα) erkennen, dass auch sie selbst in das „Nichts hineingehalten“1024 sind, können sie ihre vormalige Ungerechtigkeit überwinden und den anderen Lebewesen und Dingen ihre Wertschätzung schenken. Dass eine desillusionierte Einsicht in die eigene Sterblichkeit nicht in die pessimistische Vanitas-Motivik des Koheleth einmünden muss, sondern zur gelassenen Nachsicht gegenüber den Mitmenschen sowie zum Verzicht auf eine schrankenlose Pleonexie motivieren kann, ist eine Auffassung, die Heideggers Anaximander-Interpretation mit Marc Aurel teilt. Im zweiten Kapitel konnte transparent gemacht werden, dass in dieser harmonisierenden Lesart von Heideggers Text Der Spruch des Anaximander jedoch eine maßgebliche Frage unterschlagen wird: Können die Seienden ihren Geltungsanspruch und ihren Selbsterhaltungstrieb aus eigener Kraft kritisch reflektieren und freiwillig eingrenzen? Sollte dies nicht der Fall sein, eröffnet sich die Problematik, wer oder welche Instanz sie zu dieser Reduktion ihres Machtwillens bewegt. Es konnte demonstriert werden, dass die jeweils Anwesenden nach Heidegger von sich aus in ihrem konativen „Eigensinn des Beharrens“1025 stagnieren würden. Deswegen neigt Heidegger zunächst dazu, die ἀδικία – wie es auch eine wörtliche Übersetzung des Spruches des Anaximander nahelegen würde – als die existenzielle Vollzugsweise des endlich-jeweiligen Seienden innerhalb des Fügungszusammenhanges der Lebenswelt aufzufassen. Folgerichtig gelangt Heidegger 1946 zu der Einschätzung: Der Spruch sagt eindeutig, das Anwesende sei in der ἀδικία, d. h. aus der Fuge. Das kann jedoch nicht bedeuten, es sei nicht mehr anwesend. Aber es sagt auch nicht nur, das Anwesende sei gelegentlich oder vielleicht hinsichtlich irgendeiner seiner Eigenschaften aus der Fuge. Der Spruch sagt: Das Anwesende ist als das Anwesende, das es ist, aus der Fuge. Zum Anwesen als solchem muß die Fuge gehören samt der Möglichkeit, aus der Fuge zu sein.1026

Heidegger verweigert sich aber von vornherein gegen eine Auslegung, die den Tod als Buße und Abzahlung einer Daseinsschuld intoniert. Weil Heidegger die erste Interpretationsoption, wonach die jeweils Anwesenden durch eine selbstgewonnene ErJeweilige aber als Übergängliches nicht rein verschwindend, sondern es behauptet sich im Verweilen mit einer gewissen Dauer. Damit aber macht es, und das ist durchaus unmetaphorisch gesprochen, dem entgegengesetzten Jeweiligen die Dauer seiner ihm zustehenden jeweiligen Anwesenheit streitig. Die Jeweiligen sind füreinander enantioi in der ursprünglichen Bedeutung dieses griechischen Wortes, d. h. sie sind einander als Feinde ‚entgegengesetzt‘. So befindet sich das solchermaßen Jeweilige in einem Streit um die den Gegensätzen zustehenden Weilen. Ein Streit um Zustehendes ist ein Rechtsstreit. Die Richterin in diesem Streit, d. h. die Instanz, die den Rechtsausgleich schafft, kann aber, da sich die Auseinandersetzung auf die Weilen bezieht, nur die Zeit sein. Mir scheint, daß Heidegger mit der Aufdeckung dieser Zusammenhänge für die gesamte VorsokratikerAuslegung einen entscheidenden Hinweis gegeben hat.“ 1024 Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: Heidegger, Wegmarken, S. 118: „Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst macht den Menschen zum Platzhalter des Nichts. So endlich sind wir, daß wir gerade nicht durch eigenen Beschluß und Willen uns ursprünglich vor das Nichts zu bringen vermögen. So abgründig gräbt im Dasein die Verendlichung, daß sich unserer Freiheit die eigenste und tiefste Endlichkeit versagt. Die Hineingehaltenheit des Daseins in das Nichts auf dem Grunde der verborgenen Angst ist das Übersteigen des Seienden im Ganzen: die Transzendenz.“ 1025 Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 355. 1026 Ebd., S. 354.

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kenntnis oder durch eine reziproke Kontaktaufnahme auf ihre anfängliche Kontraktion verzichten könnten, zurückweist, musste geklärt werden, ob die δίκη oder τὸ χρεών über die Seienden richten, indem sie deren Ort und ihre Verlaufsform innerhalb des gegenwärtigen Anwesens selektieren. An diesem Scheideweg konnte die Auffassung verfochten und bekräftigt werden, dass die Seienden allein innerhalb der Ordnung der Zeit das sein können, was sie notwendigerweise sein müssen – endliche Wesen. Nur das Un-Endliche, das Grenzen-lose kann jenseits der zeitlichen Bestimmungen verortet werden.1027 Da Heidegger die „Un-fuge“1028 in einem fortgeschrittenen Textstadium des Anaximander-Aufsatzes als Sinnbild für den Impetus der Seienden dechiffrierte, jenseits der Gesetzmäßigkeiten der Zeit existieren zu wollen, konnte er einen substantiellen Status der Un-fuge ausschließen und sie zur bloßen Denkmöglichkeit zurückstufen, die im Freiheitsvollzug des Einzelnen niemals einen realen Seinsmodus darstellt. Durch die Exklusion des Un-fugs verzweigte sich die Wesensumrandung der δίκη. Es konnten zwei mögliche Charakterisierungen der δίκη gewürdigt werden: 1. Da Heidegger den Gegenpol des Unfugs am Ende des Anaximander-Aufsatzes nicht mehr im Sinne eines realen Vermögens zum Bösen fasst, wird die δίκη zur singulären Normaleinstellung jedes Seienden und bildet die unumgängliche, interrelationale Bezugsart inmitten des Wirkradius der Zeit. Jedes Seiende muss den ewigkeitsprätendierenden, den Hervorgang und das Verschwinden (und damit die Zeit als solche) vollkommen negierenden Un-fug je schon verwunden haben, um überhaupt in die Ordnung der Zeit gelangen und um distinkt-individuelle Eigenschaften annehmen zu können. Die These, dass das jeweils Anwesende als Anwesendes den Un-Fug immer schon beseitigt haben muss, lässt sich anhand eines aussagekräftigen Passus aus Heideggers Anaximander-Interpretation der Grundbegriffe-Vorlesung belegen: Das Anwesende läßt sich nicht auf das Unwesen ein, sofern es ein Anwesendes ist. Die Verwindung des Unfugs gehört zum Wesen des jeweilig Anwesenden als eines solchen; denn als ein solches fügt es sich in den Übergang. Dieses Sichfügen aber ist 1027 Zu Heideggers Kritik der Definitionsweisen des Seins mithilfe der quantitativen Temporalbestimmungen „unendlich“ und „endlich“ vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 147, S. 268f.: „Was heißt: das Sein ‚ist‘ un-endlich? Die Frage ist gar nicht zu beantworten, wenn das Wesen des Seyns nicht mit in Frage steht. Und das gleiche gilt vom Satz: das Sein ist endlich, wenn Un-endlichkeit und Endlichkeit als vorhandene Größenbegriffe genommen werden. Oder ist damit eine Qualität gemeint und welche? Die Frage nach der Wesung des Seyns steht am Ende außerhalb des Streits jener Sätze; und der Satz: das Seyn ist endlich, nur gemeint als übergängliche Abwehr des ‚Idealismus‘ jeglicher Art. Bewegt man sich aber im Streit jener Sätze, dann wäre zu sagen: Wenn das Seyn als unendlich gesetzt wird, dann ist es gerade bestimmt. Wird es als endlich gesetzt, dann wird seine Ab-gründigkeit bejaht. Denn das Un-endliche kann ja nicht gemeint sein als das verfließende, nur sich verlaufende Endlose, sondern als der geschlossene Kreis! Dagegen steht das Ereignis in seiner ‚Kehre‘! (strittig).“ 1028 Vgl. zu dieser Dispensation des mit dem ἄπειρον identifizierten τὸ χρεών von innerzeitlichen Grenzbezügen: Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 368: „Der Brauch aber, der, den Fug verfügend, das Anwesende be-endet, händigt Grenze aus und ist so als τὸ χρεών zugleich τὸ ἄπειρον, das, was ohne Grenze ist, insofern es darin west, die Grenze der Weile dem je-weilig Anwesenden zu schicken.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

ein Entsprechen gegenüber dem Anspruch, der in jeder Übergänglichkeit liegt. Der Übergang ist je die Anwesung, in der das Hervorgehen und das Entgehen zumal wesen. Der Übergang enthält so in sich jenes Selbe, woraus das Hervorgehen und wohin die Entgängnis wesen, ja, der Übergang ist der reine Hervorgang jenes Selben. Dieses Selbe ist das Sein selbst.1029

Zur Verhaltensweise einer notwendigen Anerkennung herabgestuft, symbolisiert der Begriff der δίκη nunmehr den Sachverhalt, dass die seienden Dinge „einander Fug und Ruch“1030 innerhalb eines gemeinsam ausgefüllten Zusammenhanges gewähren müssen, dessen Regulierung durch zeitliche Grenzlinien erfolgt. 2. Wenn die δίκη als Fug gedacht wird, in den die je-weilig Anwesenden unausweichlich eingesenkt sind, sobald sie existieren, und wenn die Dinge allesamt unter zeitlichen Bestimmungen stehen, ergibt sich, dass die δίκη / der Fug in Heideggers Interpretation selbst zur Ordnung der Zeit avanciert. Sie kann als lenkend-waltende Instanz innerhalb des Horizonts der Veränderungen beleuchtet werden. Weil sie die menschlichen Möglichkeiten in zeitlichen Maßen konditioniert und die drei Ekstasen von Hervorgang, Weile und Hinweggang aufrechterhält, könnte ihr sogar die Funktion der „ursprünglichen Zeitlichkeit“1031 aus Sein und Zeit konzediert werden. Diese These kann mit dem Argument gerechtfertigt werden, dass die „Bestrafung des Gewordenen“1032 beziehungsweise „das Buße zahlen für ihre Ungerechtigkeit“1033 nichts anderes ist als die zeitlich fundierte

1029 Heidegger GA 51, S. 120. 1030 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 361. 1031 So könnte die Konstitution der endlichen Sorgestruktur, die Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit in der ursprünglichen Zeitlichkeit fundiert, mit jener zuteilenden Bemessung des Hervorganges und der Entgängnis der ebenfalls endlichen Weile verglichen werden, welche der richtenden Zeit in Heideggers Auseinandersetzung mit Anaximander zugesprochen wird. Vgl. dazu Heidegger, Sein und Zeit, § 65, S. 331: „Die bisherige Analyse der ursprünglichen Zeitlichkeit fassen wir in folgenden Thesen zusammen: Zeit ist ursprünglich als Zeitigung der Zeitlichkeit, als welche sie die Konstitution der Sorgestruktur ermöglicht. Die Zeitlichkeit ist wesenhaft ekstatisch. Zeitlichkeit zeitigt sich ursprünglich aus der Zukunft. Die ursprüngliche Zeit ist endlich.“ Freilich ist zu konstatieren, dass Heidegger die daseinszentrierte, transzendentalphilosophische Ausrichtung der Zeitigung im Aufsatz Der Spruch des Anaximander aufgibt. Indes lässt sich diesbezüglich bereits in Sein und Zeit eine folgenreiche Ambivalenz feststellen. Einerseits hebt Heidegger nämlich in transzendentalphilosophischer Begründungsabsicht hervor, dass die Faktizität der Welt erst durch das Dasein generiert wird, wobei diese im Verstehen erschlossene Freigabe der Verweisungszusammenhänge im Modus der Zeitigung geschieht. Andererseits erhält die Zeit in einer gewissermaßen hypertemporalen Wende dieses transzendentalphilosophischen Ansatzes eine bemerkenswerte Autonomie, insofern sich das Dasein seinerseits in der – vormals scheinbar von seiner Existenz abhängigen – Welt nur einfinden kann, wenn es „auf dem Grunde“ der Zeitlichkeit existiert und von deren ‚ekstatisch-horizontaler Verfassung‘ ‚gezeitigt‘ wird. Diese Ambiguität mitsamt den beiden hier exponierten Optionen der Hierarchiegewichtung kristallisiert sich besonders in dem folgenden Passus aus Sein und Zeit heraus: Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 69, S. 365: „Sofern Dasein sich zeitigt, ist auch eine Welt. Hinsichtlich seines Seins als Zeitlichkeit sich zeitigend, ist das Dasein auf dem Grunde der ekstatisch-horizontalen Verfassung jener wesenhaft ‚in einer Welt‘. Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit. Sie ‚ist‘ mit dem Außer-sich der Ekstasen ‚da‘. Wenn kein Dasein existiert, ist auch keine Welt ‚da‘.“ 1032 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822. 1033 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 356.

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Steuerung der Seienden. Dieses verläuft – in der Terminologie Heideggers gesprochen – von dem Hinweggehen der Verborgenheit (Geburt / Entstehen) über das Aufgehen der Anwesenheit (Wachstum) bis hin zum Heraufkommen der Abwesenheit (Tod / Untergehen). Wenn die δίκη jedoch nicht nur als existenzermöglichende Anerkennungsart der Seienden oder als anwesenheitserfüllende Folie gedacht wird, sondern mit der ursprünglichen Zeitlichkeit1034 identifiziert wird, hat dies maßgebliche Konsequenzen für Heideggers Seinsbegriff in Der Spruch des Anaximander. Heidegger beschreibt das τὸ χρεών als grenz-verwehrende Entität. Die Grenzen innerhalb der Ordnung des Fuges und der drei Dimensionen des möglichen Aufenthaltes dürfen nicht als materielle Schranken konzeptualisiert werden. Sie sind allein zeitlicher Natur. Daher erweist sich τὸ χρεών 1946 als das vollkommen zeitunabhängige Aushändigungsgeschehen1035 des Seinszusammenhanges.1036 Deswegen wird es von Seiten Heideggers der δίκη / dem Fug / der ursprünglichen Zeitlichkeit vorgelagert. Folglich kann 1946 – anders als in Heideggers fundamentalontologischem Hauptwerk – nicht mehr davon gesprochen werden, dass die Zeit den „Horizont des Seins“1037 markiert und es ein genuines Seinsverständnis nur für und durch die menschliche Endlichkeit geben 1034 Zur umgreifenden, existenzbestimmenden Funktion der ursprünglichen Zeitlichkeit, die sich ohne sekundierende Bezugnahme auf andere Entitäten oder fundierende Daseinsmodi selbst die Maßgabe ihrer Zeitigung erteilt, vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 65, S. 328: „Die Zeitlichkeit ermöglicht die Einheit von Existenz, Faktizität und Verfallen und konstituiert so ursprünglich die Ganzheit der Sorgestruktur. Die Momente der Sorge sind durch keine Anhäufung zusammengestückt, so wenig wie die Zeitlichkeit selbst sich erst aus Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart ‚mit der Zeit‘ zusammensetzt. Die Zeitlichkeit ‚ist‘ überhaupt kein Seiendes. Sie ist nicht, sondern zeitigt sich. […] Zeitlichkeit zeitigt und zwar bestimmte Weisen ihrer selbst. Diese ermöglichen die Mannigfaltigkeit der Seinsmodi des Daseins, vor allem die Grundmöglichkeit der eigentlichen und uneigentlichen Existenz.“ 1035 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 366: „τὸ χρεών ist dann das Einhändigen des Anwesens, welches Einhändigen das Anwesen dem Anwesenden aushändigt und so das Anwesende als ein solches gerade in der Hand behält, d. h. im Anwesen wahrt.“ 1036 In dieser Dispositionseigenschaft der zeit-räumlichen Konturierung des Seienden entspricht τὸ χρεών der lichtenden Verbergung, insofern Heidegger diese in den Beiträgen zur Philosophie als gründende Wahrheit der „Einheit der Zeitigung und Räumung“ klassifiziert. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 242, S. 383: „Der Ab-grund als erste Wesung des Grundes gründet (läßt den Grund als Grund wesen) in der Weise der Zeitigung und Räumung. […] Woher hat das Zeitigen und Räumen seinen einigen Ursprung und sein Geschiednis? Welcher Art ist die ursprüngliche Einheit, daß sie sich in diese Scheidung auseinanderwirft, und in welchem Sinn sind die Geschiedenen hier als Wesung der Ab-gründigkeit gerade einig? […] Das Gefüge dieser Wesung muß immer wieder in den Entwurf gestellt werden: Das Wesen der Wahrheit ist lichtende Verbergung. Diese nimmt das Ereignis auf und läßt, es tragend, seine Schwingung durchragen durch das Offene. […] Die Wahrheit als Grund gründet aber ursprünglich als Ab-grund. Und dieser selbst gründet als die Einheit der Zeitigung und Räumung. Sie haben somit ihr Wesen aus dem, woher der Grund der Grund ist, aus dem Ereignis.“ 1037 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 83, S. 437: „So etwas wie ‚Sein‘ ist erschlossen im Seinsverständnis, das als Verstehen zum existierenden Dasein gehört. Die vorgängige, obzwar unbegriffliche Erschlossenheit von Sein ermöglicht, daß sich das Dasein als existierendes In-der-Welt-sein zu Seiendem, dem innerweltlich begegnenden sowohl wie zu ihm selbst als existierendem, verhalten kann. Wie ist erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich? Kann die Frage ihre Antwort im Rückgang auf die ursprüngliche Seinsverfassung des Sein-verstehenden Daseins gewinnen? Die existenzial-ontologische Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der Zeitlichkeit.

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

kann. Die Zurückstufung der Autarkie der Zeit gegenüber τὸ χρεών ist vor allem von Bedeutung, weil Heidegger noch in seiner Anaximander-Interpretation der Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 das Sein selbst aus der Zeit erschließt. Dies konnte im II. Exkurs der vorliegenden Arbeit erhärtet werden. Als „Zuweisung des Anwesenden in seine jeweilige Anwesung“1038 und als „Entbreitung der je verfügten Weile“1039 kann die Zeit in der Grundbegriffe-Vorlesung von 1941 jene fügende Positionierungskraft1040 beanspruchen, die Heidegger 1946 der Figuration τὸ χρεών attribuiert: χρόνος aber meint griechisch das Entsprechende zu τόπος, zum Platz, an den je ein Seiendes gehört. χρόνος ist die je günstige und gegönnte Zeit im Unterschied zur Unzeit. τάξις meint niemals die Aufreihung der Jetztpunkte im Nacheinander, sondern den Zuweisungscharakter, der in der Zeit selbst als der schicklichen, schickenden, gönnenden und fügenden Zeit liegt. […] Zeit ist die Zuweisung des Anwesenden in seine jeweilige Anwesung. Die Zeit ist die Entbreitung der je verfügten Weile, der entsprechend das Anwesende je ein je-weiliges ist. Indem das jeweilig Anwesende αὐτά, von sich selbst her, den Unfug verwindet, entspricht es der gefügten Weile des Übergangs. Indem das jeweilig Anwesende Fug gibt der Verfügung und wechselweise eines dem anderen die Anerkennung, entspricht es der Zuweisung der Weile. Daß das Seiende ist, indem es je in seinem ‚Sein‘ der ‚Zeit‘ entspricht, das sagt nichts anderes als: das Sein selbst ist Verweilung, Anwesung. Ungesagt bleibt, daß das so wesende Sein in der Zeit selbst die Verfügung seines Wesens hat. Warum der Spruch über das Sein von der Zeit sagt, dies hat seinen Grund (seinen unausgesprochenen) darin, daß das Sein selbst als Anwesung und diese als der Übergang des Hervorgangs in die Entgängnis ‚erfahren‘ ist. Die Anwesung ist die Weile, und ihr Unwesen liegt in der Verweilung, die auf eine endgültige Beständigung bestehen möchte. Das Wesen des Seins wehrt dieser Grenze. In der Weile, die wesenhaft je nur eine Weile ist, entwindet sich das Sein dem Unfug und rettet durch die Entgängnis jenes Eine und Selbe als das einzig Verfügende, was Ausgang und Durchwaltung und Eröffnung ist jeglichem Seienden.1041

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1041

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Demnach muß eine ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit selbst den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt ermöglichen. Wie ist dieser Zeitigungsmodus der Zeitlichkeit zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“ Heidegger, GA 51, S. 121. Ebd., S. 121. Als den jeweiligen Platz des Seienden innerhalb der Anwesung zuweisende Macht ist der Zeit im Anaximander-Aufsatz also durchaus der Primat über den Raum zu vindizieren. In eine ähnliche Richtung zielt Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie, wenn er das entrückend-eröffnende Element der Zeitigung unterstreicht und sie ostentativ als „einräumend“ kennzeichnet. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 98, S. 191f.: „Seiend ist, was so, in Beständigkeit und Anwesenheit, sich zeigt. Die Seiendheit wird mit dieser Hervorhebung ihres verborgenen Entwurfsbereiches der Zeit zugewiesen. Wie hier aber ‚Zeit‘ zu verstehen und in welcher Rolle die rechtverstandene Zeit hier zu begreifen sei, bleibt zunächst dunkel. Die Antwort auf diese beiden Fragen lautet aber: Zeit ist hier verhüllt erfahren als Zeitigung, als Entrückung und somit Eröffnung; und sie west als solche im Wesen der Wahrheit für die Seiendheit. Die Zeit als entrückend-eröffnende ist in sich damit zugleich einräumend, sie schafft ‚Raum‘. Dieser ist nicht gleichen Wesens mit ihr, aber ihr zugehörig, wie sie ihm.“ Heidegger, GA 51, S. 120f.

6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1932 markiert Heidegger die Zentralposition der Zeit noch stärker, indem er sie direkt mit der φύσις parallelisiert, die das Seiende erscheinen und verschwinden lässt. In der Anaximander-Interpretation von 1932 wurde die Zeit – durchaus in der Leitbahn von Sein und Zeit – als „Maß-gabe des Seins“1042 und als das „Anweisende überhaupt“1043 begriffen. Indem Heidegger zugleich das ἄπειρον als „die ermächtigende Macht des Erscheinens“1044 interpretierte, bezeugt sich jene noch ungelöste Konkurrenz zwischen der Zeit und dem Sein1045 (beziehungsweise zwischen χρόνος und τάξις auf der einen Seite und ἄπειρον, ἀρχή und τὸ χρεών auf der anderen Seite), die Heidegger 1946 eindeutig zugunsten des Seins entscheidet. Insofern die Zeit die Dinge ins Licht führt und sie in die Verborgenheit zurückleitet, bestimmt sie das Sein des Seienden und ermöglicht überhaupt erst die Polarität von Umrissenheit (Unfug) und Umrißlosigkeit (ἄ-πειρον). Wie im I. Exkurs gezeigt werden konnte, erfüllt die aktiv lenkende Zeit alle Machtanforderungen, um die Funktionsstelle der – von Heidegger mit dem ἄπειρον identifizierten – ἀρχή als „herrschaftlicher Ausgang“1046 einzunehmen. Es lässt sich jedoch auch der Versuch Heideggers registrieren, das ἄπειρον bereits 1932 von dem Bedeutungsumfang der Zeit zu distanzieren und es zu priorisieren.1047 Zur Veranschaulichung der Dignität der Zeit in der Anaximander-Interpretation von 1932 sei die entscheidende Passage hier noch einmal zitiert: Danach steht die Zeit im engsten Zusammenhang mit allem, was erscheint, was als Erschienenes hervorgekommen und vorhanden ist. Zum Erscheinen gehört aber, wie sich ergab, als seine eigene Weise das Verschwinden; was verschwindet, zieht sich zurück, wird un1042 1043 1044 1045

Heidegger, GA 35, S. 20. Ebd., S. 20. Ebd., S. 31. Dass Heidegger selbst in der Beantwortung des Verhältnisses zwischen der Zeit und dem Sein schwankt und im Rahmen seines Denkweges verschiedene Optionen auslotet, wird besonders in der Aufzeichnung Nr. 95 aus den Beiträgen zur Philosophie sichtbar. Obgleich Heidegger an diesem Ort konzediert, dass die ekstatische Zeit durchaus als die gesuchte Wahrheit des Seyns expliziert werden könne, bezieht er die Zeit jedoch alsdann auf das erschlossene Da der Räumlichkeit, fusioniert beide Entitäten zum Zeit-Raum und ordnet die Zeit schließlich dem Sein respektive der Wahrheit unter, weil sich „das Ursprünglichere ihrer Zusammengehörigkeit [von Zeit und Raum, J.K.]“ einzig aus der lichtenden Verbergung verstehen lasse. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 95, S. 189: „Daß uns aus dem ersten Anfang für die wiederholende Besinnung zunächst die Zeit als Wahrheit des Seyns aufleuchtet, sagt nicht, daß die ursprüngliche volle Wahrheit des Seyns nur auf die Zeit gegründet werden könnte. Zwar muß zunächst überhaupt versucht werden, das Wesen der Zeit so ursprünglich (in ihrer ‚Ekstatik‘) zu denken, daß sie als mögliche Wahrheit für das Seyn als solches begreifbar wird. Aber schon dieses Durchdenken der Zeit bringt sie in der Bezogenheit auf das Da des Da-seins mit der Räumlichkeit des Da-seins und somit mit dem Raum in wesentlichen Bezug (vgl. Die Gründung). Aber Zeit und Raum sind hier, an der gewöhnlichen Vorstellung von ihnen gemessen, ursprünglicher und vollends der Zeit-Raum, der keine Verkopplung, sondern das Ursprünglichere ihrer Zusammengehörigkeit. Dieses aber weist in das Wesen der Wahrheit als lichtende Verbergung.“ 1046 Heidegger, GA 35, S. 28. 1047 Zu dieser sich schon in der Vorlesung von 1932 ankündigenden Präeminenz des ἄπειρον vgl. ebd., S. 26: „Die Umriß- und Grenzenlosigkeit kommt in allem Erscheinen (Herkunft und Schwund) zuerst und zuletzt zum Vorschein – sie hat den Vor- und Überrang. Das Grenzenlose ist das über Fug und Un-fug, d. h. das Sein des Seienden Verfügende.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

offenbar; d. h. alles Un-offenbare ist entweder solches, was noch verschwunden bleibt, oder wieder verschwunden ist. Erscheinen aber in diesem ganz weiten Sinne ist der Charakter, der dem Seienden als Seienden von Anaximander zugesprochen wird; er kennzeichnet dessen Sein. Bei Sophokles wird nun gesagt, mit diesem Sein des Seienden steht die Zeit im Zusammenhang. Und zwar ist der ein wesentlicher, sofern gerade durch die Zeit das Erscheinen und Verschwinden geschieht. Wohlgemerkt – nicht etwa nur, daß dieses Erscheinen ‚in der Zeit‘ verläuft, davon ist gar nicht die Rede, sondern die Zeit läßt das Verschwinden geschehen. Sie ist es, von der gesagt wird – κρύπτεθαι, sie verbirgt – das vordem in der Erschienenheit Offenbare. Ebenso ist es die Zeit, die das Un-offenbare, Verborgene zum Erscheinen bringt. Dafür gebraucht Sophokles einen höchst bemerkenswerten Ausdruck: χρόνος – φύει. φύειν heißt Wachsen lassen – φύσις Wachstum – das Gewachsene und Wachsende – ‚Natur‘.1048

Im Aufsatz Der Spruch des Anaximander wird die Rangfolge invertiert, insofern das Sein – τὸ χρεών respektive τὸ ἄπειρον – zur Ermöglichungsbedingung der ursprünglichen Zeitlichkeit aufsteigt, die sich als δίκη entfaltet. Damit taucht aber das gewichtige Problem auf, ob Heidegger das anfängliche, im τὸ χρεών zum ersten Mal genannte Sein in seinem Anaximander-Aufsatz noch zeitlich denkt oder überhaupt denken kann, wenn es als das Grenzverleihende beziehungsweise als zeitsetzende Instanz konzipiert wird. An diesem Ort zeichnet sich eine weitere Weggabelung ab: Entweder muss Heidegger das Sein – wie der historische Anaximander und wie Nietzsche in seiner Interpretation des Spruches – selbst als ewig oder zumindest als un-zeitlich definieren, was seiner philosophischen Urintention diametral zuwiderläuft. Oder er müsste das ἄπειρον / τὸ χρεών und damit auch das ursprüngliche, vor-metaphysische Sein als zeitstiftende und in diesem Sinne sogar geschichtsgestaltende Macht präsentieren, die nicht nur dem konkreten Einzelnen das zeitliche Maß vorhält und die conditio humana des Sterbenmüssens garantiert. Darüber hinaus würde in diesem Schema τὸ χρεών verschiedene Zeitschichten und divergierende, sich geschichtlich wandelnde Seinsmodi generieren, in denen sich die jeweils zugeteilte Zeitigungsweise der ursprünglichen Zeit expliziert und sinnhaft erschlossen werden kann.1049 Mit der Vergabe und Bemessung der Zeit würde das vor-zeitliche Sein zugleich die Selbsterfahrung des Menschen, den Bezug zur Wahrheit des Seienden und die Struktur des Sich-Einfügens in die epochalen Ordnungen präjudizieren.1050 Das Sein würde das menschliche Zeitbewusstsein in der Geschichte prägen. In diesem Falle 1048 Ebd., S. 18f. 1049 Demgegenüber votiert Heidegger in Sein und Zeit für eine Aufstufung der Zeitlichkeit zur Ermöglichungsbedingung der Weltbedeutsamkeit, die sich im Horizont der Zeitekstasen erschließt. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 69, S. 364f.: „Das Sein des Daseins bestimmten wir als Sorge. Deren ontologischer Sinn ist die Zeitlichkeit. Daß und wie diese die Erschlossenheit des Da konstituiert, wurde gezeigt. In der Erschlossenheit des Da ist Welt miterschlossen. Die Einheit der Bedeutsamkeit, das heißt die ontologische Verfassung der Welt, muß dann gleichfalls in der Zeitlichkeit gründen. Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont hat.“ 1050 Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass Heidegger an einigen Stellen der Beiträge dafür optiert, die ekstatische Zeit als ‚ent-rückenden Spielraum‘ zu fassen, sodass es die Zeit ist, welche die Lichtung für die Wesenserfüllung des Seyns allererst eröffnet. In diesem Sinne könnte die oben geschilderte Verhältnisordnung auch umgekehrt werden: Die Unberechenbarkeit der Zeit würde dem Sein sei-

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würde sich Heideggers seinsgeschichtliches Narrativ auch im Anaximander-Aufsatz als die dominante Gestalt unter allen Interpretationsebenen herauskristallisieren. Allerdings könnten auch die δίκη (Fug) und die ἀδικία (Unfug) historisiert werden. Im Sinne Heideggers könnte beispielsweise statuiert werden, dass sich die Griechen noch als wesenhaft Endliche verstanden, die vor dem Aufgehen der φύσις nicht verborgen bleiben und – genau wie es Anaximander selbst thematisierte – nur in der Weile einer vorbestimmten, festgesetzten Zeitspanne ihren Platz im Kosmos bewahren konnten.1051 In dem prämetaphysisch-vorchristlichen Zeitalter Anaximanders hätte also noch die δίκη regiert, weil die ursprünglich-endliche Zeitlichkeit von den Menschen akzeptiert wurde. Demgegenüber würde der moderne Mensch und mit ihm die Formation der Metaphysik in der hauptsächlichen Orientierung an der Zeitdimension der Gegenwart und unter Anwendung aller technischen Instrumente und wissenschaftlicher Methoden danach trachten, die eigene Existenz ins Unendliche zu verlängern. In einer kohärenten Applikation der heideggerschen Geschichtskonzeption ließe sich das Zeitalter der Neuzeit demnach als Ägide des Un-fuges, der ἀδικία, des Aufstandes gegen die Endlichkeit dekuvrieren.1052 ne geschichtliche ‚Wesung‘ gestatten, die deswegen wie ein „Stoß erwartet“ werden muss. Die Präponderanz der Zeit wird von Heidegger freilich am Ende der Aufzeichnung Nr. 125 relativiert, indem er das Ereignis als tragenden Grund der Geschichte privilegiert. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 125, S. 242: „Die ‚Zeit‘ sollte erfahrbar werden als der ‚ekstatische‘ Spielraum der Wahrheit des Seyns. Die Ent-rückung in das Gelichtete sollte die Lichtung selbst gründen als das Offene, in dem das Seyn sich in sein Wesen sammelt. Solches Wesen kann nicht wie ein Vorhandenes nachgewiesen werden, seine Wesung muß wie ein Stoß erwartet werden. Das Erste und Lange bleibt: in dieser Lichtung warten zu können, bis die Winke kommen. Denn das Denken hat nicht mehr die Gunst des ‚Systems‘, es ist geschichtlich in dem einzigen Sinne, daß das Seyn selbst als Er-eignis jede Geschichte erst trägt und deshalb nie errechnet werden kann.“ 1051 Tadashi Otsuru exponiert die verschiedenen Konnotationen, die das von Anaximander geschilderte, hervorgehende Werden aus dem Ursein für Nietzsche beziehungsweise für Heidegger besitzt. Während Nietzsche gegenüber dem ‚ewigen Fluss‘ eine soteriologische Haltung einnehme, entdecke Heidegger in dem wachsenden Aufgehen des Werdens die anfängliche Bewunderung der Griechen für die Entbergung der Φύσις. Unter der Eigenschaftssignatur des ‚überwältigenden Waltens‘ identifiziert Otsuru alsdann die Φύσις und die Δίκη. Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, sucht Heidegger eine solche direkte Gleichsetzung von Φύσις und Δίκη fast immer zu vermeiden. Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Δίκη, S. 165: „Was meinen wir Heutigen mit ‚Werden und Vergehen‘? Nietzsche hört in diesen Worten immer die Frage (oder besser: die Sehnsucht) nach der Erlösung vom ‚ewigen Werden‘. Heidegger macht aber klar, daß die Griechen von ‚Werden und Vergehen‘ (besser mit Heidegger: ‚Hervorgang und Entgängnis‘) nur aus ihrem Erstaunen vor dem überwältigenden Walten der Φύσις bzw. Δίκη sprechen.“ 1052 Entsprechend dekuvriert Christian Iber in der von Heidegger entworfenen Verhältnissetzung zwischen dem ‚Brauch‘ und dem Eigenwillen des jeweils Seienden einen klandestinen Aufruf zur Selbsteinfügung in das zeitlich bestimmte Anwesen des Anwesenden. Iber stellt mit Recht heraus, dass das Gewähren des Fuges und die Kapitulation des Un-Fugs letztlich einer Notwendigkeit entspringen, die das Sein als „Ereignis der Seins-Zeit“ evoziert. Es könnte sich als durchaus fruchtbringend erweisen, diese Konstellation auf Heideggers Beziehungsumrandung zwischen der Seinsgeschichte und der Epoche der Metaphysik anzuwenden. Vgl. Iber, Interpretationen zur Vorsokratik, S. 204: „Das, was gebraucht, ist das Sein selbst, das das Anwesende in sein Anwesen aushändigt und gehören lässt. Wir sollen unsere Selbstmächtigkeit fahren lassen, uns dem Sein, das uns gebraucht, fügen. Heideggers Interpretationsthese lautet demnach: Vom Anwesen des Anwesenden genötigt und gebraucht, lassen schließlich die ἐόντα von ihrer Unfugsamkeit, von ihrer Ruchlosigkeit gegeneinander ab in Verwindung ihres Un-Fugs entsprechend der Zuweisung durch die Zeit,

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Gemäß der hier vertretenen Deutung müsste Heideggers Versuch, das Kommende im „Einst der Frühe des Geschickes“1053 sichtbar zu machen, also nicht allein auf die durchaus verheißungsvolle Binnenspannung zwischen dem ersten und dem anderen Anfang bezogen werden. In seiner geschichtlichen Rekonstruktion hätte Heidegger dem ältesten Spruch der Philosophie das Potenzial einer dystopischen Prophetie abgewonnen. Diese verwirklicht sich in dem Augenblick, in dem der Endlichkeit keine Gerechtigkeit mehr widerfährt und der Einzelne nur noch zum Repräsentanten der übergeordneten Willenssubjektivität geworden ist. Wird Nietzsches Interpretation des Anaximander-Spruches unter der gewählten Frageperspektive beleuchtet, wird palpabel, dass er im Gegensatz zu Heidegger die Bedeutung des τὸ χρεών merklich abschwächt, indem er es als „nach der Nothwendigkeit“1054 übersetzt. Anders als bei Heidegger, ist τὸ χρεών für Nietzsche keine limitierende, grenzgestaltende, aktive Macht. In Nietzsches Werk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen umschreibt τὸ χρεών den innerhalb der Sphäre des Werdens unumgänglichen Vorgang perennierender Seinsminderung. Entscheidend ist, dass Nietzsche auf dieser Basis die von Heidegger entworfene Hierarchie invertiert (beziehungsweise Heidegger auf Nietzsches frühere Verhältnisgewichtung durch ihre Umkehrung reagiert). Es konnte im dritten Kapitel demonstriert werden, dass Nietzsche die Gerechtigkeit – und nicht τὸ χρεών – als die ausgleichende und vergeltende Gewalt deutet, welche die „Bestrafung des Gewordenen“1055 vollstreckt. Die Gerechtigkeit kann in Nietzsches Anaximander-Deutung im Kontrast zu Heidegger indes nicht beanspruchen, als Fügungsbereich und Positionierungssubtrat des Seienden zu figurieren oder gar eine Form ursprünglich-revelatorischer Zeitlichkeit zu bewähren. Des Weiteren wird sie von Nietzsche nicht als gegenseitiges Verhaltensethos der (bei Heidegger freilich durch das Sein selbst im Medium des Hinwegganges des jeweils Anwesenden erzwungenen) Toleranz etabliert. Dies bezeugt sich auch darin, dass Nietzsche das wichtige Relationswort ἀλλήλοις unübersetzt lässt.1056 Stattdessen konturiert sich die Gerechtigkeit als kumulativer Generalisierungstitel für die Tilgung der Schuld und für die Buße, die in der sukzessiven Aufhebung des Lebens geleistet und durch den Tod vollendet wird. Anders als in seiner Heraklit-Interpretation, reüssiert die Gerechtigkeit in Nietzsches Deutung des Spruches des Anaximander also nicht als diejenige Kraft, die das Werden aufrechterhält, indem sie die Gegensätze koordiniert und den Streit entfacht. Vielmehr manifestiert sie sich zuvorderst in dem irreversiblen Reduktionsgeschehen, durch welches das Gewordene aus dem Werden in das Nichtsein zurückgedrängt wird. Die δίκη rückt in den Hintergrund, insofern für Nietzsche das ἄπειρον und die Ungerechtigkeit des Gewordenen die beiden Knotenpunkte und fundierenden

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die ihnen eine bloß übergängliche Jeweiligkeit anweist. Das Seiende erweist sich somit als Ereignis der Seins-Zeit, die Heidegger als kairologische Schicksalszeit versteht.“ Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 327. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 818. Ebd., S. 822. Vgl. ebd., S. 818.

6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

Grundpfeiler seiner Anaximander-Auslegung bilden. Das ἄπειρον ist als „ewiges Sein“1057 und als „Unbestimmtes“1058 von herausragender Signifikanz, weil es zum Maßstab avanciert, von dem aus das Entstandene als Spaltungsprodukt eines Frevels zu erkennen ist. Die Gerechtigkeit, die darin besteht, dass jedes Seiende vergehen muss – wobei dieses Faktum nach den von Nietzsche imaginierten Worten Anaximanders bezeugt, dass es niemals das Recht hatte1059 zu sein – äußert sich als notwendige Reaktion auf die Ungerechtigkeit, die sich im Entstehen der seienden Dinge bejaht und aufbaut. In Nietzsches Anaximander-Deutung ist folglich die allgemeine Vollzugsweise der Gerechtigkeit noch gänzlich von der vorhergehenden Ungerechtigkeit der Einzelnen abhängig, während es in seiner Heraklit-Auslegung die zum ersten Prinzip aufsteigende Gerechtigkeit ist, welche die Ungerechtigkeit und die Schuld für immer aus dem Bereich des Werdenden und Gewordenen verbannt. Dass die Daseinsbejahung und die distinkte Individualität nicht gerechtfertigt sein konnten, schließt Anaximander nach Nietzsche einerseits aus dem Faktum, dass alles Seiende nach einer gewissen Zeitspanne in jenen grenzenlosen Ursprung zurückbeordert wird, aus dem es zuvor in das Werden übergegangen war. Für Nietzsche artikuliert sich die Gerechtigkeit also im Medium der Zeit, welche das Aufkeimende und Gewachsene annihiliert. Andererseits ist Anaximander – und deswegen kann er durchaus als Initiator der Metaphysik benannt werden – nicht nur auf die empirische Beobachtung angewiesen, dass sich das Bestimmte und Entstandene innerhalb der πέρας sukzessive aufhebt, um von dort auf eine natale Verschuldung zu schließen. Vielmehr vergleicht Anaximander die Fluidität des Werdens auch mit seiner „metaphysische[n] Burg“1060 und entdeckt, dass das ἄπειρον als ewige Quelle des Werdens selbst nicht von dem „Fluch“1061 betroffen sein kann, einstmals ebenfalls zu vergehen. Das Grenzenlose ist also die einzige Entität, die ruhend und autark in sich selbst bleibt, weil sie nicht in den Auflösungszusammenhang von Streben, Überwältigung, Not, Leiden und Bedürfnis verschlungen ist. Die von Nietzsche stilisierte Flucht des Anaximander aus der Vielheit des Werdens und der schützende Rückzug in eine in-

1057 Ebd., S. 819. 1058 Ebd., S. 819. 1059 Vgl. zum Kriterium der Dauerhaftigkeit der Existenz als Ausweis der Rechtfertigung: Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 1, Nr. 229, S. 192f.: „Mass der Dinge bei den gebundenen Geistern. – Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vorteil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, weshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald erst Opfer gebracht sind. – Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vorteil bringen; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punkt bewiesen zu haben.“ 1060 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 820. 1061 Ebd., S. 820.

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nere Burg, die dem ewigen Prinzip der Dinge entspricht, ist ein Motivkomplex, der später auch für Marc Aurel von immenser Anziehungskraft sein wird. Weil in Nietzsches Anaximander-Interpretation die Ausübungsart der Gerechtigkeit erst durch die vorgängige Ungerechtigkeit aktualisiert wird, lassen sich aus seiner Herleitung und Bestimmung jener Schuld direkte Schlüsse für die Machtumgrenzung der δίκη ziehen. Die erste Erklärungsmöglichkeit der Ungerechtigkeit gründet ihre Plausibilität auf der Natalität, die mit dem Eintritt in das Reich des Werdens koinzidiert. Es ist das Sterbenmüssen, das die mit der Geburt zugezogene Schuld indiziert und besiegelt. Die zweite Deutung spürt die Schuld der Dinge nicht in der intelligiblen Tat ihrer Selbstbejahung auf. Sie lokalisiert die ἀδικία vielmehr in dem periodischen Sich-aufzehren und Bekämpfen der Gegensätze. So muss zum Beispiel der Winter dem Sommer Ungerechtigkeit widerfahren lassen, um entstehen und existieren zu können. Alsdann muss er selbst Buße tun, indem er von dem Frühling schrittweise zugunsten des Sommers überwunden wird.1062 Die Ungerechtigkeit ist in dieser zweiten Lesart ein Begleitfaktor des Existierenden, weil das Lebendige erstens klare Gegensatzkonturen setzen und forcieren muss. Zweitens ist es qua eigener Selbsterhaltung auf den Eingriff in fremde Willenssphären angewiesen. Aufschlussreich ist, dass Schopenhauer ebendiese Expansion und Überwölbung der Alterität durch den egoistischen Willen definitorisch als Ungerechtigkeit begreift.1063 In Nietzsches hamartiologisch-ethischer, an Schopenhauer geschulter Auslegung des Anaximander-Spruches wird die Schuldfrage fast vollständig unter der Signatur einer das Ewige exkludierenden, selbstsüchtigen Affirmation des principii individuationis diskutiert.1064 Dabei konnte sich Nietzsche nur im übertragenen Sinne auf den Spruchgehalt stützen, da Anaximander nicht explizit von Geburt und Tod spricht. 1062 Dieser Gedanke einer agonal strukturierten Ablösung der Gegensätze findet sich auch und gerade bei Heraklit. Vgl. z. B. Heraklit, DK 22 B 76: ζῇ πῦρ τὸν γῆς θάνατον καὶ ἀὴρ ζῇ τὸν πυρὸς θάνατον, ὕδωρ ζῇ τὸν ἀέρος θάνατον, γῆ τὸν ὕδατος. „Denn Feuer lebt der Erde Tod und Luft lebt Feuers Tod, Wasser lebt der Luft Tod, Erde den des Wassers.“ 1063 Vgl. Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, Zürcher Ausgabe, Bd. VI, hrsg. von Arthur Hübscher, Zürich 2007, S. 256: „Die Ungerechtigkeit, oder das Unrecht, besteht demnach allemal in der Verletzung eines Andern. Daher ist der Begriff des Unrechts ein positiver und dem des Rechts vorhergängig, als welcher der negative ist und bloß die Handlungen bezeichnet, welche man ausüben kann, ohne Andere zu verletzen, d. h. ohne Unrecht zu thun.“ 1064 Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, dass Nietzsche der Verfestigungsprätention einer illusionären Individualität in seinem Werk Die Geburt der Tragödie die Zelebration des lustvollen Einswerdens mit dem dionysisch-ewigen Abgrund (der strukturell durchaus mit dem ἄπειρον Anaximanders verglichen werden könnte) gegenüberstellt. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 108f.: „In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an: ‚Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!‘ Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die

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Anaximander erwähnt lediglich den abstrakten Zusammenhang von γένεσίς und φθορά. Bereits in der Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie (1872) wird die Tragik des Geborenseins nachdrücklich entfaltet, wenn Nietzsche die Weisheit des Silens referiert und den furchtbaren Abgrund der griechischen Kultur aufdeckt: Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: ‚Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.‘ Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen Peinigungen. Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen.1065

Hingegen weist die zweite Lesart der Ungerechtigkeitsanamnese für Nietzsche keine Attraktivität auf, obwohl sie – wie er selbst in seiner Heraklit-Lektüre – maßgeblich auf das Phänomen der Gegensatzinterferenz abzielt. Mit seiner Entstehung besiegelt das Individuum die Teilhabe an dem aufzehrenden Konkurrenzkampf zwischen dem Warmen und Kalten, dem Licht und dem Schatten, der Freundschaft und der Feindschaft. In dieser Oszillation erschöpft sich die Kraft des Individuums. Entweder wird es durch die Gewalt der Gegensätze immer wieder aus den lebensnotwendigen, einseitigen Positionierungen vertrieben, oder es wird durch neugeborene Lebewesen verdrängt. Es ist ein Signum der abzuleistenden Buße, dass das Individuum selbst auch nur existieren konnte, indem sich bislang Lebendiges in das Nichtsein wandelte. Es ist zu ergänzen, dass sich beide Interpretationsansätze sinnvoll verknüpfen ließen. Insofern nämlich die transzendental generierte Ungerechtigkeit gerade in der Rastlosigkeit von vielversprechendem Wunsch und enttäuschender Erfüllung ihre adäquate Bestrafung finden könnte, müsste sie sich in jenem tantalisch-absurden Nexus von temporärer Befriedigung und unersättlicher Begierde habitualisieren, der im Bereich des Zeitlichen herrscht. Dass die Seienden allerdings in diese Dimension aufgenommen werden und sich trotz der erlebten Leiden in ihr zu halten suchen, ist in der tragischen, von Nietzsche favorisierten Lesart allein ihre eigene Schuld. Im Zuge der zweiten Deutung des Spruches – die Marc Aurel wahrscheinlich teilen würde – bilden die Konflikte, Erschütterungen und Glückswechsel die unumkehrbare Mitgift des menschlichen Geworfenseins. Indes muss die lebenslange Konfrontation mit dem Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen.“ 1065 Ebd., S. 35f.

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ruinösen Umschlagen der sich verzehrenden Qualitäten, Standpunkte und Handlungen gemäß diesem Modell nicht aus einer hybriden Selbstsucht abgeleitet werden. Abschließend kann bezüglich der Forschungsergebnisse des zweiten Kapitels resümiert werden, dass Heidegger die Präeminenz des τὸ χρεών gegenüber der δίκη sichert, weil der Seinstitel des „Brauches“1066 das spezifische Zeitbewusstsein und die menschliche Erfahrung der Wahrheit des Seienden in der vormetaphysischen Epoche des Anaximander bestimmt und konturiert. Indem Heidegger die Vorstellung eines Gerichtshofs, der sich aus der δίκη, der ἀδικία, der Schuld, der τίσις1067 (Buße) und der Ordnung der Zeit zusammensetzt, in seiner Interpretation des Spruches strikt zurückweist, mildert er auch die Bedeutung der δίκη als einer vergeltenden Entität ab, welche die Verbindungsbahn zwischen dem Werdenden und dem Gewesenen knüpft. Gleichwohl gelingt es Heidegger durch den Ausschluss ethischer Auslegungsbezüge, den Spruchgehalt konsequent jenseits der Opposition von Pessimismus und Optimismus verorten zu können. Demgegenüber empfängt Nietzsches Anaximander-Interpretation ihre Lebendigkeit und ihre Intensität primär durch die Zerklüftung des ἄπειρον auf der einen Seite und der ἀδικία auf der anderen Seite. Die δίκη kann in Nietzsches Auseinandersetzung mit Anaximander als Symbol einer tilgenden Zurücknahme des durch die Geburt evozierten Frevels expliziert werden. δίκη bedient sich der Zeit, um die Seienden wieder in die Geborgenheit des unbestimmten Nichtseins zurückzuleiten, sodass die Schuld beglichen und amortisiert wird. Auch im direkten Vergleich zwischen den Heraklit-Deutungen Nietzsches und Heideggers konnten aufschlussreiche Differenzen herausgearbeitet werden, durch die der Bedeutungsbestand des Begriffspaars ‚Δίκη und Φύσις‘ angereichert und vertieft werden konnte. Die divergierenden Zugangsweisen und Erkenntnisinteressen bekundeten sich in dem Faktum, dass sich Nietzsches Fokus auf die einzigartige Person Heraklit richtet, um dessen kräftigen Realismus, den unverbrüchlichen Stolz und die antiessentialistische Kosmodizee zu loben. Heidegger wählt hingegen eine wesentlich minutiösere und eher klassifizierende Methodik, indem er die Fragmente in einer Rangfolge gruppiert und in der kommentierenden Übersetzung das übergreifende Grundmotiv der lichtenden Verbergung herauszuschälen sucht. Das Faktum gravierender Unterschiede kann mithin auch kaum überraschen. Heidegger verfolgt in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 vornehmlich die Intention, seine HeraklitAuslegung explizit gegen Nietzsches emphatische Berufung auf Heraklit in Stellung zu bringen. Heideggers Übersetzung des Fragmentes 123 mit „das Aufgehende dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst“1068 musste zunächst kontraintuitiv wirken. Heidegger proponiert eine interne Aufspaltung der φύσις in zwei gegenwendige Elemente1069, obwohl Heraklit die φύσις in dem angegebenen Satz als einheitliches Subjekt einführt, 1066 Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, S. 366. 1067 Vgl. ebd., S. 358. 1068 Vgl. Heraklit, DK 22 B 123, S. 258: φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ. Mansfeld/Primavesi übersetzen: „Natur, so Heraklit, pflegt sich versteckt zu halten.“ 1069 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 116f. Vgl. dazu auch die Analogie zwischen der widerspännigen Einheit der φύσις und Heideggers eigener Erörterung des Seins als Zusammengehörigkeit von Verbergung,

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dem zuvorderst allein die Disposition des Verbergens zugesprochen wird. Gleichwohl ist offenkundig, dass sich die anhand des Fragmentes 123 untermauerte Struktur eines reziproken Gewährens der Gunst, die sich zwischen dem Aufgehen und dem Untergehen vollzieht, in eine Analogie zu Heideggers Kernaussage aus der AnaximanderInterpretation setzen lässt. So wie die φύσις sich als aufgehendes Walten nur stabilisieren kann, wenn sie aus dem Untergründigen und scheinbar Abwesenden hervorgeht, so können die Seienden nur wahrhaft existieren, wenn sie ihrer Herkunft aus der abwesenden „Verwehrung der Grenze“1070 gedenken. Sie müssen bereit sein, ihr jeweiliges Anwesen einstmals zugunsten der noch abwesenden und verborgenen Lebewesen aufzugeben: Das Anwesende läßt sich nicht auf das Unwesen ein, sofern es ein Anwesendes ist. Die Verwindung des Unfugs gehört zum Wesen des jeweilig Anwesenden als eines solchen; denn als ein solches fügt es sich in den Übergang. Dieses Sichfügen aber ist ein Entsprechen gegenüber dem Anspruch, der in jeder Übergänglichkeit liegt. Der Übergang ist je die Anwesung, in der das Hervorgehen und das Entgehen zumal wesen. Der Übergang enthält so in sich jenes Selbe, woraus das Hervorgehen und wohin die Entgängnis wesen, ja, der Übergang ist der reine Hervorgang jenes Selben. Dieses Selbe ist das Sein selbst.1071

Neben der Fusionierung seiner Anaximander- und Heraklitdeutungen gelingt es Heidegger durch seine eigenwillige Übertragung des Fragmentes 123, eine wesentliche Parallele zum Fragment 161072 herzustellen (und vice versa). In Korrespondenz zu der φύσις-immanenten Duplizität des anerkennenden Aufeinanderberuhens konnte Heidegger die Auffassung plausibilisieren, dass nur deswegen niemand vor dem „niemals Untergehen“1073 beziehungsweise dem „immerdar Aufgehen“1074 verborgen bleiben könne, weil jedem Einzelnen durch das immer Untergehende / niemals Aufgehende die Möglichkeit des perennierenden Hervortretens aus dem Abgründigen bewahrt werde.

1070 1071 1072 1073 1074

Lichtung und Bergung in den Beiträgen zur Philosophie. Die Untrennbarkeit der beiden Pole von Abgründigkeit und Aufgang wird von Heidegger durch den Sachverhalt hervorgehoben, dass die Lichtung das Sichverbergen gestattet, indem das Sichverbergen als Seyn zugleich die von der Lichtung umrissene Offenheit trägt. Erst im Medium dieser Simultaneität kann sich die Lichtung beispielsweise in der Gestalt eines Kunstwerkes bergen (im Sinne von bewahren, sich erhalten). Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 243, S. 389: „Die Bergung ist nicht das nachträgliche Unterbringen der an sich vorhandenen Wahrheit im Seienden, ganz abgesehen davon, daß Wahrheit nie vorhanden ist. Bergung gehört zur Wesung der Wahrheit. Diese ist nicht Wesung, wenn sie nie in der Bergung west. Wenn daher anzeigend das ‚Wesen‘ der Wahrheit genannt wird als die Lichtung für das Sichverbergen, dann geschieht dies nur, um erst die Wesung der Wahrheit zu entfalten. Die Lichtung muß sich in ihr Offenes gründen. Sie bedarf dessen, was sie in der Offenheit erhält, und das ist je verschieden ein Seiendes (Ding – Zeug – Werk). Aber diese Bergung des Offenen muß zugleich und im voraus so sein, daß die Offenheit seiend wird derart, daß in ihr das Sichverbergen und damit das Seyn west.“ Heidegger, GA 51, S. 114. Ebd., S. 120. Vgl. Heraklit, DK 22 B 16, S. 258: τὸ μὴ δῦνόν ποτε πῶς ἄν τις λάθοι;. Mansfeld/Primavesi wählen die folgende Übersetzung: „Wie könnte einer dem nie Untergehenden je verborgen bleiben?“ Heidegger, GA 55, S. 86. Ebd., S. 85.

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Die von Heidegger konstatierte Seins- bzw. φύσις-vergessenheit der abendländischen Tradition negiert demnach die Existenzannahme einer unerkennbar-unscheinbaren Verbergung vollkommen, anstatt sie in ihrem permanenten Untergehen zu würdigen und sie als notwendige Bedingung jedes Erscheinens zu akzeptieren. Auch hier lässt sich eine hermeneutische Beziehung zwischen Heideggers Aufsatz Der Spruch des Anaximander und der Heraklit-Vorlesung aus dem Sommersemester 1943 knüpfen. Genauso wie die sich verbergende Seite der φύσις den erscheinenden Part ihrer selbst aus sich hervorragen lässt und freigibt, so schälen sich die seienden Dinge aus dem Grenzenlosen (ἄπειρον) heraus, ohne innerhalb der Dynamik des Werdens noch ihres abwesenden Ursprungs gewahr zu werden. Der Fundamentaldiagnose einer metaphysisch sanktionierten Ignoranz gegenüber der Λήθη-Dimension1075 der φύσις entspricht im Anaximander-Aufsatz die existenziale Ursprungs- und Todesvergessenheit des Alls der seienden Dinge inmitten der Zeit. Werden die Argumentationsschritte der Heraklit-Vorlesung des Sommersemesters 1943 aus der Distanz beleuchtet, kann stipuliert werden, dass Heidegger implizit vier Verborgenheitsebenen unterscheidet, denen jeweils proportionale Erkenntnisgrade beigeordnet werden. Auf der ersten, an der ontischen Erscheinungswelt orientierten Ebene werden allein die Gegensätze registriert, ohne ihre Einheit zu erblicken. Die vermeintlich in sukzessiver Diremtion angesiedelten Gegensätze gerinnen zu statischen Einheiten, die als unversöhnliche Antipoden vollständig voneinander dissoziiert werden. Auf der zweiten Ebene, welche die genuine Seinsweise des Weltwerdens reflektiert, wird das „zum Vorschein drängende Gefüge“1076 der Gegensätze vernommen und das

1075 Zu dem fundamentalen Ereignis der anfänglichen Selbstverbergung der Λήθη zugunsten der Φύσις und des Λόγος vgl. Heidegger, Moira (Parmenides Fragment VIII 34–41), GA 7, S. 246: „Im Beginn des abendländischen Denkens geschieht der unbeachtete Wegfall der Zwiefalt. Allein, er ist nicht nichts. Der Wegfall gewährt sogar dem griechischen Denken die Art des Beginns: daß sich die Lichtung des Seins des Seienden als Lichtung verbirgt. Die Verbergung des Wegfalls der Zwiefalt waltet so wesenhaft wie jenes, wohin die Zwiefalt entfällt. Wohin fällt sie? In die Vergessenheit. Deren währendes Walten verbirgt sich als Λήθη, der die Ἀλήθεια so unmittelbar angehört, daß jene zugunsten dieser sich entziehen und ihr das reine Entbergen in der Weise der Φύσις, des Λόγος, des Ἕν, überlassen kann und zwar so, als bräuchte es keiner Verbergung. Doch das anscheinend eitel Lichtende ist vom Dunklen durchwaltet. Darin bleibt die Entfaltung der Zwiefalt ebenso verborgen wie deren Wegfall für das beginnende Denken.“ 1076 Heidegger, GA 55, S. 142. Auch Klaus Held arbeitet heraus, dass das vorphilosophische Leben bis zu der Erkenntnis der ‚offenkundigen Zusammenfügung‘ vorzudringen vermag, indem es ähnliche Phänomene unter einem gemeinsamen Nenner versammelt und diesen von seinem vermeintlichen Gegenbegriff abgrenzt. Vgl. Held, Heraklit, S. 202f.: „Welcher Unterschied besteht nach Heraklit zwischen dem philosophischen Denken und dem vorphilosophischen Leben? Und das hieß: Was fehlt der Ansicht gegenüber der Einsicht? Antwort: Die Kraft, den einfachen Verhältnisvollzug, d. h. die unscheinbare, starke Zusammenfügung der strittigen Ansichten als solche zu vollziehen, d. h. die Fähigkeit, die Gegenspännigkeit der Zusammenfügung zu denken, m. a. W.: die Identität von Streit und Recht bzw. von Krieg und Frieden zu begreifen. […] Welches Sich-Unterscheiden kennzeichnet das vorphilosophische Leben? Antwort: Das Sich-Unterscheiden der jeweiligen Ansicht von der zugehörigen Gegenansicht. […] Welche Beziehung zwischen den so Unterschiedenen kennt das vorphilosophische Leben selbst? Antwort: Die offenkundige Zusammenfügung, entweder als unartikuliertes oder als in der polymathie eigens formuliertes Selbstverständnis. Die offen-

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Täuschungsszenario der bloßen Sinneswahrnehmung1077 zugunsten der begründeten Vernunftansicht zurückbeordert. Es wird durchschaut, dass sich die Gegensätze nicht gänzlich ausschließen dürfen. Nur so können sowohl der lähmende Stillstand als auch das Gegenextrem des unkontrollierten, lebensfeindlichen Verfließens des Werdens verhindert werden. Um die Dauer des Werdens zu garantieren, müssen sich die Einzelansichten und Erscheinungsbegebenheiten sowohl in der Natur als auch in der Lebenswelt in einem periodischen Rhythmus abwechseln, dessen Grundverfasstheit die Ansicht entweder als Streit oder als Recht bestimmt.1078 Auf der dritten Ebene wird bereits die „nicht-offenbare Harmonie“1079 polarer Spannungen entdeckt. Jeder Gegensatzqualität inhäriert die opponierende Kraft als das Andere ihrer selbst, welches sie selbst dann befördern muss, wenn sie es aufs Schärfste zu bekämpfen sucht.1080 Heidegger veranschaulicht diese zusammenklingende Harmonie des Ineinanderstrebend-Auseinanderfahrenden anhand der be-

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kundige Zusammenfügung wird von Heraklit als schwach bezeichnet, da sie trennt, indem sie vereint, weil sie im Schwanken zwischen Auch und Oder verharrt. Der ansichtshaft Lebende bleibt im haltlosen Taumel zwischen Recht und Streit, zwischen Auseinander- und Zusammengehen der Ansichten befangen.“ Vgl. allerdings Heraklit, DK 22 B 107, S. 260: κακοὶ μάρτυρες ἀνθρώποισιν ὀφθαλμοὶ καὶ ὦτα βαρβάρους ψυχὰς ἐχόντων. „Schlechte Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, wenn sie unverständige Seelen haben.“ Ähnlich wie im Fragment 28, so exemplifiziert Heraklit auch hier, dass die ‚Zeugen der Lüge‘ dem bloßen Anschein eine nicht mehr hinterfragte Gültigkeit verleihen, wobei diese Verfestigung im Fragment 107 durch die Fokussierung auf die Sinneswahrnehmung erwächst. Zu der Äquivokation der Begriffe von Recht und Streit in den Fragmenten Heraklits sei nochmals an die scharfsinnige Analyse von Klaus Held erinnert. Vgl. Held, Heraklit, S. 201f.: „Aus der Doppeldeutigkeit, mit der Heraklit die Begriffe Recht und Streit verwendet, ergibt sich eine fundamentale Schwierigkeit. […] Nun legt es sich nahe, wenn ‚Krieg‘ und ‚Recht‘ einerseits das von der Einsicht Begriffene bezeichnen und andererseits als Titel zweier gegensätzlicher Sichten (nämlich Ansichten) verwendet werden können, die Gegenbegriffe zu ‚Krieg‘ und ‚Recht‘, d. h. also ‚Frieden‘ und ‚Unrecht‘, als Bezeichnungen für das im Ansichtenhaben überhaupt im Unterschied zur Einsicht Erfaßte zu gebrauchen. Bei diesem Sprachgebrauch blieben ‚Streit‘ bzw. ‚Kampf ‘ und ‚Recht‘ zwar die Titel für das in der Einsicht Begriffene, ihnen würden aber in gleicher Weise, wie es sonst – und dort legitim – innerhalb des Bereiches der Ansicht geschieht, Gegenbegriffe an die Seite gestellt. Dadurch müßte aber der Anschein einer ansichtshaften Relativierung der Einsicht gegenüber dem Gesamtbereich der Ansicht entstehen. Dieselben Begriffspaare würden ja ebenso zur Kennzeichnung der Einseitigkeiten innerhalb des ansichtshaften Lebens wie zur Unterscheidung dieses Lebens im Ganzen von der Einsicht dienen. Und diese Form der Äquivokation wäre für das Gelingen des heraklitischen Denkens in der Tat äußerst bedrohlich. Denn sie würde bedeuten, daß Einsicht und Ansicht im Verhältnis des gleichen Gegensatzes zueinander stünden wie die gegensätzlichen Ansichten untereinander. Damit aber würde sich der Unterschied von Einsicht und Ansicht selbst als ein Unterschied von Ansichten erweisen. Einsicht wäre selbst nichts anderes als eine Ansicht, und das Denken des Heraklit hätte nicht das geleistet, worauf es ihm in erster Linie ankommt: die Abhebung der Einsicht vom Ansichtenhaben der Vielen.“ Vgl. Heraklit, DK 22 B 60, S. 266: ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή. „Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe.“ Vgl. auch Heraklit, DK 22 B 62, S. 66: ἀθάνατοι θνητοί, θνητοὶ ἀθάντατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων θάνατον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεθνεῶτες. „Als Unsterbliche sind sie sterblich, als Sterbliche unsterblich: Das Leben der Sterblichen ist der Unsterblichen Tod, der Tod der Unsterblichen der Sterblichen Leben.“ Vgl. Heraklit, DK 22 B 51, S. 264: οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει· παλίντροπος ἁρμονίη ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης. „Sie verstehen nicht, wie Sichabsonderndes sich selbst beipflichtet: eine immer wiederkehrende Harmonie, wie im Fall des Bogens und der Leier.“

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rühmten Bogenmetapher des Fragmentes 48.1081 Er validiert sie mit den Fragmenten 81082, 501083 und 51. Die Paradoxie der „unscheinbaren Fügung“1084 besteht somit darin, dass jedes Element in seinem Antagonisten gegenwärtig ist1085 (sonst könnte dieses niemals in jenen übergehen) und zugleich nicht in diesem präsent sein darf1086 (andernfalls ließen sich die ringenden Kontrahenten nicht mehr unterscheiden). Die unscheinbare Harmonie verfügt, dass alle Gegensatzpaare in einer kooperativ konstituierten Identität verankert sind und in dieser dennoch als Unterschiedene auseinanderstreben. Auf der vierten Ebene wird schließlich erkannt, dass die Gegensätze sich nicht nur in einem streitenden Spiel der Attraktion und Repulsion öffnen. Die entscheidende Erkenntnis lautet, dass die Gegensätze nur innerhalb des Seienden hervortreten und die Herrschaft der unscheinbaren Fügung bezeugen können, wenn es zuvor und immer wieder jenes reine Aufgehen gibt, welches das Erscheinen des Erscheinens selbst ist. Gemäß Heideggers Analyse des Fragments 123 muss dieses immerwährende Aufgehen, das zur Ermöglichungsbedingung für die sachhaltige Manifestation von Gegensätzlichkeit überhaupt avanciert, seinerseits hinterfragt und tiefer fundiert werden. Die φύσις kann das Erscheinende nach Heidegger nur zutage fördern, wenn sie gegenüber dem Sichverbergen-Wollenden darauf verzichtet, in dessen angestammtes Gebiet einzugreifen. Auf diese Weise ist garantiert, dass der dunkle Grund der φύσις umgekehrt nicht in das Lichthafte vordringen muss. Der sich entziehende Grund wird von der aufgehenden Komponente in jener Verfassung (zu)gelassen, die er selbst in seiner Bergung wahren will. Darauf aufbauend, sucht Heidegger 1943 in seinen Übersetzungen ausgewählter Heraklit-Fragmente zu demonstrieren, dass der Blitz, das Leben, das Feuer und der Kosmos als nahezu univoke Titel für dasselbe Geschehen der φύσις verstanden wer1081 Vgl. Heraklit, DK 22 B 48, S. 264: βιός τῷ τόξῳ ὄνομα βίος ἔργον δὲ θάνατος. „Der Name des Bogens ist ‚Leben‘ [Bios], seine Tat der Tod.“ 1082 Heraklit, DK 22 B 8, S. 264: τὸ ἀντίξουν συμφέρον καὶ ἐκ τῶν διαφερόντων καλλίστην ἁρμονίαν καὶ πάντα κατ' ἔριν γίνεσθαι. „Das Widerstreitende zusammentretend und aus dem Sichabsondernden die schönste Harmonie.“ 1083 Heraklit, DK 22 B 50, S. 262: οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι. „Wenn man – nicht auf mich, sondern – auf die Auslegung hört, ist es weise, beizupflichten, dass alles eins ist.“ 1084 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 142. Vgl. Heraklit, DK 22 B 54, S. 264: ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων. „Nichtoffenkundige Harmonie ist stärker als offenkundige.“ 1085 Vgl. Heraklit, DK 22 B 103, S. 266: ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας. „Auf der Peripherie des Kreises fallen Anfang und Ende zusammen.“ Vgl. ferner Heraklit, DK 22 B 88, S. 268: „Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses.“ 1086 Vgl. Heraklit, DK 22 B 49a, S. 280: ποταμοῖς τοῖς αὐτοῖς ἐμβαίνομέν τε καὶ οὐκ ἐμβαίνομεν, εἶμέν τε καὶ οὐκ εἶμεν. „In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.“ Vgl. Heraklit, DK 22 B 36, S. 276: ψυχῇσιν θάνατος ὕδωρ γενέσθαι, ὕδατι δὲ θάνατος γῆν γενέσθαι, ἐκ γῆς δὲ ὕδωρ γίνεται, ἐξ ὕδατος δὲ ψυχή. „Für Seelen bedeutet es Tod, dass Wasser entsteht; für Wasser Tod, dass Erde entsteht; aus Erde entsteht Wasser, aus Wasser Seele.“ Vgl. Heraklit, DK 22 B 111, S. 264: νοῦσος ὑγιείην ἐποίησεν ἡδὺ καὶ ἀγαθόν, λιμὸς κόρον, κάματος ἀνάπαυσιν. „Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sättigung, Ermüdung das Ausruhen.“

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den müssen. Das Gleißen des Blitzes1087, das Glänzen des Feuers und die Zierde1088 des Kosmos ruhen als Sinnbilder des lichtenden Erscheinens allesamt auf der entzogenen Dimension des prozessualen Sichverbergens. Mit dieser Identifikationskette1089 und durch die Rückgründung jedes Lichtungssignifikats in der Verbergung gelingt es Heidegger, potentielle Anhaltspunkte für die Auffindung einer nahezu unnennbaren, geheimnisvollen Transzendenz in Heraklits Philosophie zu delegitimieren. Dergestalt umgeht Heidegger sowohl eine platonisierend-dualistische als auch eine hermetischtheologische1090 Lesart Heraklits. Die von allen Bereichen des Seienden schlechthin getrennte Transzendenz thematisiert Heraklit besonders in den Fragmenten 32 und 108: Das Fragment 32 lautet: ἕν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα.1091 Das eine Weise, das einzig und allein ist, ist nicht bereit und doch wieder bereit, mit dem Namen des Zeus benannt zu werden.

Im Fragment 108 bestreitet Heraklit sogar die – im Fragment 32 noch in der Schwebe gehaltene – Erfassbarkeit des einen Weisen1092 mit Hilfe tradierter Eminenztitel des Göttlichen:

1087 Vgl. die Erwähnung des Blitzes im Fragment 64: Heraklit, DK 22 B 64, S. 270: τὰ δὲ πάντα οἰακίζει κεραυνός. „Alles steuert der Blitz.“ 1088 Zur Einigkeit von Kosmos und Feuer vgl. Heraklit, DK 22 B 30, S. 268: κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων, οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ' ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα. „Die gegebene schöne Ordnung [Kosmos] aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist, und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach [denselben] Maßen erlöschend.“ 1089 Christian Iber akzentuiert die anamnetische Rekonstruktionsfunktion, welche die von Seiten Heideggers im Denken Heraklits entdeckte Einigungsfiguration von φύσις und λόγος im Hinblick auf den Entwicklungsgang der Metaphysik besitzt. In diesem Kontext nimmt auch Iber eine kritische Haltung gegenüber Heideggers weitreichender Gleichsetzung des Bedeutungsgehaltes der heraklitischen Grundworte ein. Vgl. Iber, Interpretationen zur Vorsokratik, S. 206: „Mit dem ‚entbergend-verbergende[n] Lichten (VA 270) der ἀλήθεια stößt Heidegger in den ontologischen Ursprungs-‚Bereich aller Bereiche‘ (VA 270) vor, in Bezug auf den es zu einer fragwürdigen Einebnung der Grundworte Heraklits kommt, die ihm zu bloßen Exempeln der ‚Wesensfülle des Selben‘ (VA 268) geraten. Während im anfänglichen Denken Heraklits φύσις und λόγος in das Selbe zusammengehören, treten sie auf dem Weg in die Metaphysik auseinander.“ 1090 Vgl. hierzu Günter Figal, Philosophie als hermeneutische Theologie. Letzte Götter bei Nietzsche und Heidegger, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, Frankfurt a. M. 1994, S. 89–107. 1091 Heraklit, DK 22 B 32, S. 262. 1092 Im Fragment 41 wird das Eine Weise (ἓν τὸ σοφόν) allerdings mit dem λόγος identifiziert: Vgl. Heraklit, DK 22 B 41, S. 262: ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων. „Es gibt nur eine Weisheit: ein vertrautes Verhältnis zu der Einsicht, nach der überall alles gelenkt wird.“

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ὁκόσων λόγους ἤκουσα οὐδεὶς ἀφικνεῖται ἐς τοῦτο ὥστε γινώσκειν ὅ τι σοφόν ἐστι, πάντων κεχωρισμένον. Von welchem Leuten ich auch Erklärungen hörte, keiner kommt bis zu der Erkenntnis, dass das Weise etwas von allem Getrenntes ist.1093

Wird das oben entworfene, vierfältige Schema auf Nietzsches Heraklit-Lektüre in der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen appliziert – ohne damit die Intention einer Qualitätsbemessung zu verbinden – so wird sichtbar, dass die vierte Ebene für Nietzsche nahezu keine Bedeutung besitzt. Diese Relevanzverringerung ist bei Nietzsche nicht vorrangig mit einem epistemologischen Zweifel an der phänomenalen Ausweisbarkeit der Verbergung im Sein verschwistert. Die Ausblendung der Latenzdimension wurzelt in Nietzsches Falle primär darin, dass der Topos eines von der Gerechtigkeit unterhaltenen, onnipräsenten und erst in der Synopsis der Antithesen zu entziffernden Spiels sich gegenüber den ostensiven, erscheinenden Gegensät1093 Heraklit, DK 22 B 108, S. 262. In seiner frühen Heraklit-Interpretation aus der Marburger Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie (1926) registriert Heidegger in Heraklits Fragment 108 eine erste Erfahrung der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem. Vgl. Heidegger, Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, S. 231: „‚So vieler Reden ich hörte, keiner erkennt, daß es (eine) Vernunft gibt jenseits aller Dinge.‘ Die bisherige Weltinterpretation blieb beim Seienden stehen. Das Sein liegt über jedes Seiende hinaus und ist nicht mehr ein Seiendes. Erster Vorstoß zur Idee der Transzendenz: Das Sein liegt über alles Seiende hinaus.“ Anders als für Heidegger, repräsentiert das im Fragment 108 genannte τὸ σοφόν für Klaus Held keinen ‚Vorstoß zur Idee der Transzendenz‘, sondern umschreibt das vollendete Wesen der Einsicht. Ob diese Einsicht nur der göttlichen All-Anschauung zu prädizieren ist oder auch von auserwählten Menschen erreicht werden kann, ist für Held von sekundärer Bedeutung. Vgl. Held, Heraklit, S. 186: „To sophon, ‚das Weise‘, bezeichnet einem eigentümlich heraklitischen Sprachgebrauch gemäß die gelingende Gestalt von Einsicht; die vollendete Einsicht ist ein der Ansicht schlechthin Überlegenes, weil durch die Selbstunterscheidung von ihr definiertes, Wissen, das keiner Verwechslungsgefahr mit irgendeinem ansichtshaften Bescheidwissen oder Sich-Auskennen mehr ausgesetzt ist und insofern ein von allen Ansichtsvollziehern (panton als gen. von pantes) bzw. von jeglichem ansichtshaft Erscheinenden (panton als gen. von panta) ‚Abgesondertes‘ heißen kann. Dabei muß für den vorliegenden Spruch, da er ohne seinen Kontext überliefert ist, offen bleiben, ob das Gelingen eines solchen Wissens dem menschlichen Denken nach Heraklit überhaupt möglich ist oder ob es allein Gott vorbehalten bleibt, ob m.a.W. to sophon in diesem Spruch ebenso wie in den später zu erörternden Fragmenten 32 und 41 die lenkende All-Über-sicht Gottes bezeichnet oder so wie das sophon in Fragment 50 auf die menschliche Einsicht zu beziehen ist. Die Unentscheidbarkeit dieses Interpretationsproblems fällt aber deswegen nicht in einer die Heraklit-Auslegung beeinträchtigenden Weise ins Gewicht, weil für diese Auslegung entscheidend ist, daß der Titel to sophon überhaupt doppelt, sowohl auf die Erkenntnisart des Einsichtigen wie auf die Gottes, bezogen werden kann.“ In seiner Diskussion der Theologie Heraklits kommt Held später noch einmal auf die Identifikationsproblematik des to sophon zurück. Er bekräftigt die Position, dass die Einsicht als höchster Modus des Wissens zu verstehen ist, welcher sowohl durch den – sich von der ansichtshaften Erfahrung unterscheidenden – Menschen als auch durch den Gott realisiert werden kann. Vgl. Held, Heraklit, S. 444: „In der Heraklit-Interpretation gibt es eine Kontroverse darüber, ob das im zweiten Spruch genannte Weise sich auf den Einsichtigen oder auf Gott bezieht. Diese Kontroverse ist unentscheidbar, aber nicht deswegen, weil weitere Zeugnisse fehlen, sondern deshalb, weil ‚das Weise‘, d. h. das durch die Selbstunterscheidung von jeglicher Ansicht definierte und ihr darum schlechthin überlegene Wissen, aufgrund des von Heraklit gewählten Ansatzes bei der dargestellten Proportion sowohl dem Einsichtigen wie Gott zugesprochen werden kann. Die Aussage, dieses Wissen sei etwas von jeglicher ansichtshaften Erfahrung, was zugleich heißt: von allem ansichtshaft Erfahrbaren, Abgesondertes (kechorismenon), trifft zu unabhängig davon, ob Gott oder der Einsichtige der Vollzieher des Wissens ist.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

zen in derjenigen ungegenständlichen Position situieren kann, die in Heideggers Heraklit-Auseinandersetzung allein der opaken Seite der φύσις vorbehalten ist. Zudem müsste Nietzsche die Behauptung einer verborgenen Spur des immer Untergehenden angesichts seiner dezidiert diesseitsorientierten Heraklit-Auslegung als ein höchst problematischer Rückfall in die Grundstellung Anaximanders erscheinen, der sich zuletzt in eine „mystische Nacht“1094 hüllt. Den bereits 1872/73 gegen Anaximander gewendeten Gedanken einer heraklitischen „Vergottung des Werdens“1095 hat Nietzsche fünf Jahre später in Menschliches, Allzumenschliches I (1878) aufgegriffen und aktualisiert. Im Aphorismus Nr. 238 entwirft Nietzsche die – nunmehr zum menschlichen Ethos verklärte – Gerechtigkeit als privilegierte Erkenntnismöglichkeit einer sich im Werden aufbauenden Göttlichkeit. Die von der Gerechtigkeit perzipierte Apotheose der Verwandlungen1096 kann sowohl dem pietätslosen Relativismus geschichtlicher Ursprungsvermutungen, der kalten Indifferenz endloser Mechanik als auch der nihilistischen Diagnose einer chaotischen, weltumfassenden Oszillation divergierender Handlungsantriebe ein sinnstiftendes, metaphysisches Versprechen entgegenhalten, ohne – wie etwa Anaximander und Schopenhauer – in die Statuierung einer entwicklungslosen Ewigkeit einwilligen zu müssen: G e r e c h t i g k e i t g e g e n d e n w e r d e n d e n G o t t. – Wenn sich die ganze Geschichte der Kultur vor den Blicken auftut als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Mute wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines w er d e n d e n G o t t e s liegt: dieser enthüllt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick – gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab –, an welchem eine allzuviel historisierende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nicht böse werden, so irrtümlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie Schopenhauer, die Entwicklung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf deshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfnis seiner Annahme Nichts weiß, Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen.1097

In Opposition dazu, ist es gerade Heideggers Proprium, den Kontinuitätsnachweis zwischen Anaximanders ἄπειρον und Heraklits abgründiger φύσις1098 zu erbringen, um die Phalanx der drei bedeutendsten Vorsokratiker Anaximander, Heraklit und 1094 Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822. 1095 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 238, KSA I, S. 200. 1096 Die Wandlungspermanenz des Feuers unterstreicht Heraklit besonders im Fragment 31. Vgl. Heraklit, DK 22 B 31, S. 268: πυρὸς τροπαὶ πρῶτον θάλασσα, θαλάσσης δὲ τὸ μὲν ἥμισυ γῆ, τὸ δὲ ἥμισυ πρηστήρ [...] θάλασσα διαχέεται καὶ μετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον ὁκοῖος πρόσθεν ἦν ἢ γενέσθαι γῆ. „Wendungen des Feuers: an erster Stelle Meer, vom Meere aber die eine Hälfte Erde, die andere Hälfte Gluthauch. […] Meer ergießt sich nach zwei Seiten und wird zugemessen nach demselben Verhältnis, das galt, bevor Erde entstand.“ 1097 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 238, KSA I, S. 200f. 1098 In der Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie identifiziert Heidegger das unbestimmte, nicht in den Streit der Gegensätze einbezogene und unerschöpfliche ἄπειρον mit der φύσις. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie, GA 22, § 16, S. 54: „Wie kann das, was ursprünglich ist, allen Seienden zugrunde liegt, selbst eines von diesen Seienden sein? 1. Weder ein

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

Parmenides geschlossen von dem Gefüge der Metaphysik distanzieren zu können. Die seinsgeschichtliche Leitauffassung einer Einheit zwischen der φύσις-Lehre Anaximanders und Heraklits auf der einen Seite und der von Parmenides inaugurierten Ontologie auf der anderen Seite kommt besonders deutlich in einem Passus aus den Beiträgen zur Philosophie zum Ausdruck. In der Aufzeichnung Nr. 100 illustriert Heidegger das Charakteristikum des ‚waltenden Aufgehens‘ als erste Auslegung des Seins (τὸ ὄν) und unterscheidet diese anfängliche Erfahrung von dem metaphysischen Beständigkeitsentwurf der Seiendheit: Erstanfänglich wird das Seiende als φύσις erfahren und genannt. Die Seiendheit als beständige Anwesenheit ist darin noch verhüllt, φύσις das waltende Aufgehen. […] Für das erstanfängliche Denken ist die Auslegung unbegründet und unbegründbar, und das mit Recht, wenn darunter verstanden wird die erklärende, auf anderes Seiendes (!) zurückleitende Erklärung. Gleichwohl ist diese Auslegung des ὄν als φύσις (und ἰδέα später) nicht grund-los, wohl aber hinsichtlich des Grundes (d. h. der Wahrheit) verborgen. Man könnte meinen, die Erfahrung der Flüchtigkeit, des Entstehens und Vergehens, habe als Gegenhalt die Ansetzung der Beständigkeit und Anwesenheit nahegelegt und gefordert. Aber weshalb gilt das Entstehende und Vergehende als das Un-seiende? Doch nur, wenn die Seiendheit schon als Beständigkeit und Anwesenheit feststeht. Daher ist Seiendheit nicht aus dem Seienden bezw. Unseienden abgelesen, sondern das Seiende ist auf diese Seiendheit entworfen, um erst im Offenen dieses Entwurfs als das Seiende bezw. Unseiende sich zu zeigen.1099

Für Nietzsche benötigt die Funktionalität einer lückenlosen Wechseldurchdringung der Gegensätze keine zugrundeliegende „Seynsfuge“1100 von Verbergung und Lichtung. Für ihn genügt es, dass die Polaritäten im Medium der paradigmatisch von Heraklit geleisteten, intuitiven Zusammenschau in ihrer Einheit aufgeschlossen werden. Demgegenüber sucht Heidegger in seiner Heraklit-Interpretation sowohl die Methodik der intuitiv-vereinigenden Erkenntnisart als auch die dialektisch versierte, auf die Vermittlung des Konträren abzielende Programmatik zu unterminieren. Bilanzierend kann hinsichtlich des dritten Kapitels hervorgehoben werden, dass Nietzsche der richtenden Gerechtigkeit in seiner frühen Heraklit-Rezeption die eminente Souveränität verleiht, die Permanenz des Erscheinens durch das Arrangement der streitenden Qualitäten zu sichern. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche sich – anders als Heidegger – Heraklit insofern noch weitgehend unbefangen widmen kann, als er Heraklit zwar innerhalb eines schopenhauerschen Horizontes betrachtet, den Denker aus Ephesos jedoch nicht an eine eigene, ausgearbeitete Philosophie angleiBestimmtes, Dieses; unbestimmt in dieser Hinsicht, 2. was selbst nicht im Streit liegt, Gegensatz, 3. noch begrenzt; vielmehr unerschöpflich. φύσις.“ 1099 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 100, S. 195. 1100 Den Terminus der „Seynsfuge“ wählt Heidegger in seiner Schelling-Vorlesung aus dem Sommersemester 1936, um Schellings Unterscheidung des Wesens in Grund und Existierendes wiederzugeben. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 188f.: „Wir nennen im Folgenden diese ‚Unterscheidung‘, die nach Schelling das Grundgefüge des in sich selbst stehenden Seienden ausmacht, kurz die Seynsfuge. Die Hauptuntersuchung beginnt mit der Erläuterung dieser Unterscheidung, von der eigens vermerkt wird, daß auf sie ‚die gegenwärtige Untersuchung sich gründet‘. (357 Ende) Der Unterschied von Grund und Existenz betrifft das Seiende als solches in zwei verschiedenen, aber zusammengehörigen Hinsichten; einheitlich also betreffen diese Bestimmungen das Seyn des Seienden.“

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chen muss. In Nietzsches erster Konzeptualisierung der Gerechtigkeit wird jede Frage nach einem vergessenen Anfang, einer verborgenen Quelle oder einem katechontisch hinausgezögerten Ende des Werdens im Ganzen als unberechtigte Spekulation abgewiesen, welche die Ewigkeit und Suffizienz des Werdens verkennt. Diametral dazu können sich sowohl das Werdende als auch das Beständige nach Heidegger überhaupt erst im Erscheinen entfalten, insofern dieses zuvor aus der dunklen Λήθη freigegeben wurde.1101 Erst wenn das Seiende aus dem Sichverbergenden in die Unverborgenheit aufgegangen ist, kann die Δίκη auf es zugreifen und in der Gestalt des Weltkindes das bauend-zerstörende Spiel der Gegensätze an das jeweils Anwesende herantragen. Im vierten Kapitel der Arbeit konnte Nietzsches Grundeinschätzung der heraklitischen Gerechtigkeit bestätigt und in einen systematischen Kontext eingebunden werden. Indem die Fragmentbasis über die von Nietzsche unmittelbar herangezogene Quellenlage hinaus erweitert wurde, konnte das definitorische Merkmalsvolumen der Gerechtigkeit angereichert werden. Zudem konnte Heideggers Exklusion der Gerechtigkeit aus dem Gefüge der heraklitischen Grundworte problematisiert werden, insofern gezeigt wurde, dass die Δίκη die Position und die Tätigkeitsassoziation der φύσις übernehmen kann, wenn auf die immanente Verbergungssphäre verzichtet wird. Δίκη konnte in vier Hinsichten als Kernbegriff der heraklitischen Philosophie umrandet werden, obwohl sie in den meisten Gesamtdeutungen des Ephesiers hinter das Bedeutungsfeld des λόγος, der φύσις oder – in eher physikalisch-naturphilosophischen Interpretationen – hinter dem Feuer zurücktreten muss. Erstens konnte die These verfochten und verifiziert werden, dass die Δίκη in ihrer Kontrolle und Organisation der Widersprüche die Oberherrschaft über den ansichtshaft konstatierten Streit zu prätendieren vermag. Der Streit bekundet sich in den naturperiodischen Parallelzügen von Aufschwung und Niedergang, Sättigung und Mangel, Wärme und Kälte, aber auch in ethisch-kulturellen Antithesen und in der sprachlich dimensionierten Gespanntheit jedes Dialoges. Δίκη konnte dieser ontologische Primat prädiziert werden, weil sie die gegensatzzusammenfügend-trennenden Urelemente des Streits (im Sinne der Spaltung) und des Friedens selbst noch einmal zu überzugreifen und zu lenken imstande ist. Während der Streit die differenzsensitive Scheidung1102 und die Öffnung der Widersprüche evoziert, bewirkt die Harmonie ein Insichzurückgehen 1101 Vgl. Heidegger, GA 55, S. 152f.: „Das Aufgehen verläßt nicht das Untergehen und spannt dieses nicht aus, sondern im Aufgehen geht dieses selbst in das Sichverbergen als das Ermöglichende seines Wesens gerade unter und spannt sich in dieses ein.“ 1102 In diesem Zusammenhang ist auf der Basis der von Klaus Held etablierten Unterscheidung von Einsicht und Ansicht nochmals darauf hinzuweisen, dass der allein in den Trennungen der Gegensätze waltende Streit den ansichtshaften Gegenbegriff des Rechts repräsentiert. Im Kontrast dazu, fasst Heraklit den wahren Streit als Identität der einander scheinbar ausschließenden Ansichten von Recht (Ausgleich/Frieden) und Streit (Trennung/Zwietracht) in den Blick, wenn er ihn im Fragment 80 mit der δίκη (die ihrerseits als Identitätstitel von Streit und Recht auftritt) gleichsetzt und die Wesenseinheit zwischen dem Zwiespalt und der Übereinstimmung apostrophiert. Vgl. Heraklit, DK 22 B 80, S. 264: εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν, καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ' ἔριν καὶ χρεών. „Es gehört sich, dass man weiß, dass der Krieg etwas Allgemeines ist und Recht Zwiespalt und dass alles geschieht in Übereinstimmung mit Zwiespalt und so auch verwendet wird.“

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des Konträren. Dadurch droht sie jegliche Individualität im Einheitszwang des Identischen aufzulösen. Indem die Gerechtigkeit diese Extrembewegungen zur totalen Identität beziehungsweise zur zerrissenen Trennung verhindert und dem endgültigen Triumph einer Seite jeweils die Beförderung der Alterität entgegenhält, sichert sie die Dauerhaftigkeit des Wechsels und garantiert die Beständigkeit des Werdens. Wie Nietzsche in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen luzide darlegt, ist auch das würfelspielende, vermeintlich impulsive Weltkind1103 an die Gerechtigkeit gebunden. Sobald es seiner Neigung zum Arbiträren nachzukommen sucht, d. h. wenn es beginnt 1103 Vgl. Heraklit, DK 22 B 52, S. 288: αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη. „Das ewige Leben ist ein Kind, spielend wie ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind.“ Zu Nietzsches affirmativer Rezeption des heraklitischen Motivs des Kindes ist besonders Zarathustras Rede Von den drei Verwandlungen zu vergleichen: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 31: „Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden? Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“ Klaus Held vertritt die Auffassung, dass Heraklits Bezugnahme auf das Kind im Fragment 52 eine negative Konnotation besitzt, da Heraklit auf diese Weise die Unmündigkeit der beteiligten Streitparteien auszudrücken suche, denen die Regel des mitgetragenen und ausgefochtenen Spiels verschlossen bleibe. Vgl. Held, Heraklit, S. 440: „Heraklit nennt in dem Spruch über den spielenden Knaben aber nicht nur das immerwährende (aion von aei) ansichtshaft geführte Leben im ganzen unter dem Titel aion, sondern er hat vermutlich zugleich auch den Wechsel der Weilen im Blick, der diese Dauer ausfüllt: Die jeweiligen Zustände sind ja nichts anderes als die vorprädikativen Urgestalten strittiger Ansichten. Man darf vermuten, daß das Brettspiel des Knaben, an das Heraklit bei seinem Spruch dachte, agonalen Charakter hatte und dadurch geeignet war, im Gleichnis den Streit der Ansichten darzustellen. Dieser Streit ist allerdings ein kindischer Streit, nicht deswegen, weil er vermeidbar wäre, sondern weil die, die ihn austragen, nicht wissen, was sie tun: Sie vollziehen ihre jeweilige Ansicht im Gegenzug gegen die dagegenstehende Ansicht, so wie im Gleichnis der Knabe jeweils seinen Brettsein setzt; doch sie durchschauen das Gesetz, dem sie im Ansichtsvollzug unterworfen sind, ebensowenig, wie der brettspielende Knabe über die Regel Rechenschaft abzulegen vermag, nach der er bei seinem Spiel unwillkürlich verfährt; das Kind geht wie das Tier im jeweiligen Augenblick auf. Darum kann Heraklit den Spruch mit der Feststellung beschließen, daß nicht derjenige die Herrschaft jenes Gesetzes bzw. der Regel im Spiel ausübt, dem sie aufgrund seiner überlegenen und reifen Einsicht zustünde, sondern – ein Kind.“ Günter Wohlfart widerspricht Helds These, dass das im Fragment B 52 erwähnte Kind von Heraklit als Sinnbild für die Unreife und Uneinsichtigkeit der meisten Menschen verwendet werde, insofern diese zwar an ihren Privatansichten festhalten, in ihrem unreflektierten Handeln jedoch nichtsdestotrotz die allgemeine Gesetzmäßigkeit des λόγος befolgen müssen. Zur positiven Einschätzung des KindesMotivs vgl. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, S. 93f.: „Ich denke, daß Heraklit bei seinem Kindbild in B 52, wie es sich im Kontext seiner anderen Kinder-Fragmente abzuzeichnen beginnt, zunächst von der zeitgemäßen Vorstellung der Unzulänglichkeit des Kindes im Vergleich zum Erwachsenen ausgeht, dann aber unzeitgemäß – wenngleich nicht völlig aus dem Rahmen des frühen griechischen Denkens fallend – über diese Vorstellung insofern hinausgeht, als er dem Kind letztlich mehr Einsicht attestiert als den uneinsichtigen Vielen (Erwachsenen) – von denen in B 52 allerdings nicht die Rede ist. Da in Heraklits Sicht zu diesen Vielen aber auch diejenigen zu zählen sind, die für die Weisesten (cf. B 56) und die Mächtigen (cf. B 121) unter den Menschen gelten, gleicht das Kind insofern dem Gott eher als die (erwachsenen) Menschen. Paradoxerweise wird so das Tun des Kindes – nicht das des Erwachsenen – vorbildlich. Vorgreifend kann man sagen, daß der Knabe in B 52 in seinem Spiel vorbildlich die wirkliche Reife und Einsicht des Mannes (in seiner höchsten königlichen Macht) vorwegnimmt, wobei man versucht ist, über Heraklit hinausgehend das bereits weiter oben herangezogene Wort Nietzsches hinzuzusetzen: ‚Reife des Mannes: das heißt den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spielen.‘“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

zu spielen, muss es automatisch und stets die strikte Regelfolge der Gerechtigkeit akzeptieren.1104 Jeder Wurf bringt aus sich selbst sofort die Möglichkeit der adäquaten Entgegenwirkung hervor, gerade indem er diese zunächst kategorisch von sich ausschließen muss. In dieser Evokation des Gleichgewichts perpetuiert sich der αἰών (beziehungsweise die Weltzeit) als Basilisk des Seienden im Ganzen. Zweitens konnte – zurückdeutend auf Nietzsches heraklitische Kosmodizee und vorausweisend auf Marc Aurels Affirmation der Schöpferkraft der Allnatur – exponiert werden, dass die Zentralität der Gerechtigkeit von Heraklit unterstrichen wird, um die Problematik des Bösen, der Schuld und des Frevels zu lösen. Dies wurde anhand des Fragments 1021105 herausdestilliert. Dem Gott ist alles Gewesene, Gegenwärtige und Künftige „schön und gerecht“1106, weil er es in auktorial-intuitiver Überschau aus der Notwendigkeit der Enantiodromie erschließt. Deswegen ist Heraklits Philosophie niemals auf eine prämonotheistische Variation des physikotheologischen Gottesbeweises angewiesen. Es wurde deutlich, dass Heraklit die Erkenntniskompetenz des Gottes und des Menschen in einigen Fragmenten annähert1107, wohingegen er die intellektuellgöttliche Synthesefähigkeit in anderen Fragmenten in solch inkommensurable Höhen aufrichtet, dass sie keiner der Sterblichen jemals erklimmen kann.1108 Hinsichtlich der Deutung des Fragmentes 102 konnten zwei Optionen favorisiert werden: Zum einen konnte der Zusatz „die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angesetzt“1109 als Kollektivprädikation der Uneinsichtigen gefasst werden. Demnach würden der Gott und die wenigen Weisen die Gerechtigkeit respek1104 Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 831. 1105 Vgl. Heraklit, DK 22 B 102, S. 282: τῷ μὲν θεῷ καλὰ πάντα καὶ ἀγαθὰ καὶ δίκαια, ἄνθρωποι δὲ ἃ μὲν ἄδικα ὑπειλήφασιν ἃ δὲ δίκαια. „Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen aber haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angesetzt.“ 1106 Vgl. Heraklit, DK 22 B 102, S. 282. 1107 Vgl. Heraklit, DK 22 B 116, S. 258: ἀνθρώποισι πᾶσι μέτεστι γινώσκειν ἑωυτοὺς καὶ σωφρονεῖν. „Es ist allen Menschen gegeben, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein.“ Vgl. Heraklit, DK 22 B 113, S. 258: ξυνόν ἐστι πᾶσι τὸ φρονέειν. „Einsicht zu haben ist etwas Allgemeines.“ 1108 Dass die unüberbrückbare Scheidung zwischen der göttlichen und der menschlichen Erkenntnis ein Hauptthema der Philosophie Heraklits repräsentiert, lässt sich daraus ersehen, dass Heraklit diese Distinktion in den Fragmenten 78, 79, 82 und 83 in ähnlichen Variationen wiederholt und durch die Wahl eindeutiger Vergleichsbilder untermauert. Vgl. Heraklit, DK 22 B 78: ἦθος γὰρ ἀνθρώπειον μὲν οὐκ ἔχει γνώμας, θεῖον δὲ ἔχει. „Denn menschliches Wesen hat keine Einsicht, göttliches aber hat sie.“ Vgl. ferner Heraklit, DK 22 B 79, S. 267: ἀνὴρ νήπιος ἤκουσε πρὸς δαίμονος ὅκωσπερ παῖς πρὸς ἀνδρός. „Mit einem Gott verglichen darf der Erwachsene unmündig heißen, wie das Kind verglichen mit dem Erwachsenen.“ Vgl. weiterhin Heraklit, DK B 82, S. 266: πιθήκων ὁ κάλλιστος αἰσχρὸς ἀνθρώπων γένει συμβάλλειν. „Der schönste Affe ist widerwärtig, mit dem Menschengeschlechte verglichen.“ Vgl. schließlich Heraklit, DK 22 B 83, S. 266: ἀνθρώπων ὁ σοφώτατος πρὸς θεὸν πίθηκος φανεῖται καὶ σοφίαι καὶ κάλλει καὶ τοῖς ἄλλοις πᾶσιν. „Der weiseste Mensch schneidet, mit dem Gott verglichen, wie ein Affe ab, in Weisheit, in Schönheit und in allen anderen Dingen.“ In diesem Kontext ist Marc Aurels Adaption der heraklitischen, in den Fragmenten 82 und 83 thematisierte Opposition zwischen dem Affen und dem Gott aufschlussreich, da Marc Aurel die göttliche Lebensform – wie Heraklit – an die Erkenntnis der vernunftgeleiteten Grundsätze anbindet und die mit der Erlangung der Einsicht einhergehende Zäsur schildert. Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, IV. Buch, Nr. 16, S. 43: „Innerhalb zehn Tagen wirst du denen, welchen du jetzt ein affenähnliches Tier zu sein scheinst, als ein Gott vorkommen, wenn du dich zu den Grundsätzen und zur Verehrung der Vernunft bekehrst.“ 1109 Vgl. Heraklit, DK 22 B 102, S. 282.

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

tieren und aktualisieren, indem sie diese als Sinnfolie verwenden und sie als intelligible Anschauungsform über die scheinbar disparate, triste oder furchtbare Wirklichkeit stülpen. Zum anderen konnte die antithetische Wende des Fragments 102 auch als Gattungsbezeichnung begriffen werden. Demnach wären die Sterblichen qua conditio humana genötigt, das Eine als „gut“ und das Andere als „schlecht“ titulieren zu müssen. Die Menschen müssen klare Grenzziehungen wählen und nicht verhandelbare, exkludierende Grundsätze aufstellen, um ihre gesellschaftliche Kohäsion und den politischen Nomos auszubauen und zu perpetuieren. Insgesamt konnte die Gerechtigkeit als göttliches Erkenntnisvermögen rubriziert werden, weil allein sie die Scheidung zwischen dem autonomen, φύσις-haften Geschehen der Welt auf der einen Seite und dem tiefsten, ihren innewohnenden λόγος göttlich Kontemplierenden auf der anderen Seite zur Einheit zusammenfügen kann. Indem der Gott die Widersprüche des Werdens im Horizont der ewigen Gerechtigkeit betrachtet, wird er selbst zur Welt. Diese Vereinigung lässt sich anhand des Fragmentes 67 bekräftigen, in dem es heißt: ὁ θεὸς ἡμέρη εὐφρόνη, χειμὼν θέρος, πόλεμος εἰρήνη, κόρος λιμός [τἀναντία ἅπαντα· οὗτος ὁ νοῦς], ἀλλοιοῦται δὲ ὅκωσπερ πῦρ, ὁπόταν συμμιγῇ θυώμασιν, ὀνομάζεται καθ' ἡδονὴν ἑκάστου. Der Gott ist Tag-Nacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sättigung-Hunger (alle Gegensätze, das ist die Bedeutung); er wandelt sich, genau wie Feuer, wenn es sich mit Duftstoffen verbindet, nach dem angenehmen Eindruck eines jeden [der Duftstoffe] benannt wird.1110

Zugleich bezeugt sich die Welt in ihrem wohlgeformten Spiel, das die Verfestigung und die verklärende Steigerung unaufhörlich kombiniert, als göttlich, autark und zielentbunden. Auf diese Weise spielt die Welt als Gott im ewigen Werden mit sich selbst. Nietzsche hat diesen Kerngedanken Heraklits in seinem Gedicht An Goethe (aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei) in fulminanter Weise aufgenommen und mit seinen Lehren des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen fusioniert: An Goethe Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichnis! Gott, der Verfängliche, Ist Dichter-Erschleichnis… Welt-Rad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel: Not – nennts der Grollende, Der Narr nennts – Spiel… Welt-Spiel, das herrische Mischt Sein und Schein: – Das Ewig-Närrische Mischt uns – hinein!….1111

1110 Heraklit, DK 22 B 67, S. 262. 1111 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 639.

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

Drittens konnte die grenzwahrend-isometrische Schutzfunktion der Gerechtigkeit in der Natur etabliert werden, wobei in diesem Kontext besonders den Fragmenten 28 und 941112 eine wichtige Rolle zukommt. Heraklit untermalt im Fragment 94 mit Nachdruck, dass selbst die Sonne – und mit ihr der gesamte Lauf der Gestirne – in ihrem Aufgehen und Untergehen den vorgegebenen Maßen nicht entfliehen kann, da die Erinnyen (als Figurationen des zurückfügenden Ausgleichs) jegliche Überschreitung respektive Hybris tilgen. Darüber hinaus konnte eine frappierende Strukturanalogie zwischen dem Feuer und der Gerechtigkeit entfaltet werden. Wenn Heraklit im Fragment 43 verlautbaren lässt, dass die sich entzündende Hybris „noch viel mehr gelöscht werden solle als ein Großfeuer“1113, so entspricht dies ex negativo der Formulierung des Fragmentes 94, wonach die mit dem Verlassen der angestammten Maße konnotierte Überhitzung der Sonne durch die Erinnyen gelöscht und die Verschattung der Erde verhindert wird.1114 Auf diese Weise besänftigen die Erinnyen den Übermut der Sonne. Die Gerechtigkeit, so zeigt sich hier, will, dass jedes Seiende das ihm Gebührende empfängt und bewahrt es deswegen vor einer Megalomanie, die autodestruktive Züge annehmen könnte. Aufgrund seiner epistemologischen Referenztiefe und der Dechiffrierung der Gerechtigkeit als Stifterin und Grund der Wahrheit, welche die „Zeugen und Zimmerer der Lüge“1115 überwindet, konnte das Fragment 28 als das merkmalsreichste und aussagekräftigste Diktum zur heraklitischen Gerechtigkeitsauffassung selektiert werden. Zur Orientierung sei der Spruch an diesem Ort noch einmal zitiert: δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει· καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας. Das Annehmbare ist es, was der am meisten Bewährte erkennt und verteidigt; Δίκη [die Göttin des Rechts] wird aber ganz gewiss die Zimmerer [Erzeuger] und Zeugen der Lüge strafen.1116

Die Wesensverwandtschaft zwischen der Gerechtigkeit und dem Feuer konnte anhand des Fragments 28 sowohl lexikalisch als auch semantisch untermauert werden. Im Fragment 28 wird die Kerntätigkeit der Gerechtigkeit mit dem Verb καταλήψεται (strafen/richten) umschrieben. Mit dem gleichen Wort bezeichnet Heraklit im Fragment 66 das eschatologische Weltgericht des Feuers, das über alles Seiende richtet und über es urteilen wird: πάντα γάρ τὸ πῦρ ἐπελθὸν κρινεῖ καὶ καταλήψεται. Über alles wird das Feuer, sagt er, einmal herangekommen, urteilen und es verurteilen.1117

1112 Heraklit, DK 22 B 94, S. 272: Ἥλιος οὐχ ὑπερβήσεται μέτρα· εἰ δὲ μή, Ἐρινύες μιν Δίκης ἐπίκουροι ἐξευρήσουσιν. „Die Sonne wird die [ihr gegebenen] Maße nicht überschreiten; sonst werden sie die Erinnyen, die Helferinnen der Δίκη, ausfindig machen.“ 1113 Vgl. Heraklit, DK 22 B 43, S. 280: ὕβριν χρὴ σβεννύναι μᾶλλον ἢ πυρκαιήν. „Hybris [Übermut] soll man noch viel mehr löschen als ein Großfeuer.“ 1114 Vgl. nochmals Heraklit, DK 22 B 94, S. 272. 1115 Heraklit, DK 22 B 28, S. 254. 1116 Heraklit, DK 22 B 28, S. 254. 1117 Heraklit, DK 22 B 66, S. 270.

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

Die Parallelisierung der Gerechtigkeit mit dem Feuer entspringt keineswegs aus einer animistisch-anthropomorphen Übertragung ideeller Kategorien auf materiell-physikalische Naturphänomene. Im Gegensatz dazu, gelingt es Heraklit durch die duplizierte Anwendung des Attributs „καταλήψεται“, jene Ubiquität der Gerechtigkeit ins Bewusstsein zu rufen, die sich noch nicht in die paradigmatische Binarität von Natur und Kultur aufgetrennt hat. Wenn Heraklit das Feuer als das elementare Prinzip und als ἀρχή alles Seienden denkt – so wie Thales das Wasser hypostasiert und Anaximenes das Element der Luft zum Urgrund erhebt – dann führt die Vergleichbarkeit des Feuers mit der Gerechtigkeit eindeutig vor Augen, dass sie für Heraklit jene grenzauflösende und zugleich stabilisierende Macht ist, die Anaximander im ἄπειρον registriert und die Heidegger im τὸ χρεών entdeckt. Diese limitierend-einhegende und existenzermöglichende Bestimmungsfunktionalität konnte der Gerechtigkeit auch im Rekurs auf das Fragment 11 zugestanden werden, in dem es hieß: „Jedes über die Erde hinkriechende Lebewesen wird mit der Peitsche gehütet“.1118 Signifikant ist, dass die im Fragment 11 ausgedrückte Obhut und Kontrolle direkt auf jene Konfiguration der Maßeinhaltung verweist, über welche die Gerechtigkeit gemäß dem Spruch Nr. 94 akribisch wacht und verfügt. Zudem bekräftigt Heraklits Gleichnis der Geißel, dass die Gerechtigkeit die Lebewesen nicht nur in der – von dem Dämon des eigenen Charakters1119 gewählten – Lebensbahn hält. Vielmehr gibt Heraklit zu erkennen, dass die Gerechtigkeit die Lebewesen auch vorantreibt, ihnen Befehle erteilt und sie in die Notwendigkeit des Zeitlaufs zurücksetzt. Es ist diese Motivik des Unausweichlichen – in das sich der Einzelne leidenschaftslos zu fügen hat, um von der Gerechtigkeit zu sich selbst freigegeben zu werden und um ihrer Gewalt nicht ausgeliefert zu sein – die für die Stoa und besonders für Marc Aurel eine unumschränkte Relevanz gewinnen wird. Viertens konnte in der eigenständigen Interpretation umrandet werden, dass die heraklitische Δίκη den in der Neuzeit zumeist konnotierten Hauptbereich der Gerechtigkeit – das Feld des Politischen – transzendiert. Das Politische artikuliert für Heraklit nur eine jener vielfältigen Perspektiven, in der sich die universelle Macht der Gerechtigkeit offenbart. Diesbezüglich konnte das anvisierte Forschungsergebnis gesichert werden, dass Heraklit eine Trias von Δίκη (1) – göttlichem Gesetz (2) – an-

1118 Heraklit, DK 22 B 11, S. 272: πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται. 1119 Vgl. Heraklit, DK 22 B 119, S. 282: ἦθος ἀνθρώπωι δαίμων. „Des Menschen Verhalten [oder Charakter] ist sein Schicksal.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

thropologisch-politischem Nomos (3) entwickelt. Diese dreifache Stufung konnte im Rekurs auf die Fragmente 441120 und 1141121 justiert werden. Das göttliche Gesetz kann mit einer ewigen Norm identifiziert werden, in deren Gestalt sich die waltende Gerechtigkeit darstellt, sofern sie auf das Segment des Politischen appliziert beziehungsweise eingeschränkt wird. Das göttliche Gesetz besagt, dass derjenige Mensch, der die im Gesamtsystem des Alls befestigte Gegensatzerfüllung des λόγος sinnreich rekognosziert und ordnet, auch die Herrschaft über den gemeinsam1122 geteilten, gesellschaftlichen Mikrokosmos der Polis besitzen sollte.1123 Es ist augenscheinlich, dass sich aus diesem Sachverhalt Heraklits elitäre und intellektualistische Grundkonzeption des Politischen erschließen und ableiten lässt.1124 Das menschliche Gesetz kann als jene positivistisch-kodifizierte Satzungsganzheit definiert werden, die sich eine Polis nach der Maßgabe ihres spezifischen Selbstbestimmungswillens gibt. Folglich darf der menschliche Nomos keineswegs als statische Naturgesetzmäßigkeit betrachtet werden. Es ist gerade die Aufgabe des Nomos der Polis, die Unhintergehbarkeit der Zwietracht und der Freund-Feind-Unterscheidun-

1120 Heraklit, DK 22 B 44, S. 284: μάχεσθαι χρὴ τὸν δῆμον ὑπὲρ τοῦ νόμου ὅκωσπερ τείχεος. „Die Bürger sollen für ihr Gesetz kämpfen wie für die Mauer.“ Zur Veranschaulichung und Begründung des heraklitischen Vergleiches zwischen der Verteidigung der Mauer und der Aufrechterhaltung des Gesetzes vgl. die vorzüglichen Erläuterungen von Held, Heraklit, S. 138: „Der Fall der Polis nach der Niederlage an der Mauer ist ein Zerfall, bedeutet Auflösung der Einheit, die die Bedingung jeglicher Verteidigung ist. Deshalb ist die Verteidigung der Mauer der hartnäckigste und der Angriff auf sie der erbittertste Kampf. Heraklits Vergleiche sind, wie sich noch oft erweisen wird, außerordentlich genau. Wenn er den Nomos mit der Stadtmauer vergleicht, die aus den angeführten Gründen so leidenschaftlich vom Volk verteidigt wird, so sagt er damit, daß der Nomos dasjenige ist, worauf der innere Zusammenhalt, die Einheit des Gemeinwesens beruht. Bedrohlich für den inneren Zusammenhalt der Polis sind weniger die äußeren Feinde als vielmehr alle Tendenzen, Parteiungen, Feindseligkeiten, die zur Auflösung des Gemeinwesens von innen her führen können. Diese Kämpfe, die in den griechischen Stadtstaaten zur Zeit Heraklits toben, sind hinlänglich bekannt und brauchen hier nicht geschildert zu werden. Daß sie auch im Ephesus Heraklits im Gange waren, bezeugen neben dem zuletzt angeführten drei weitere Sprüche Heraklits (B 121, B 33, B 125a), auf die später einzugehen ist. Der Nomos ist der Inbegriff derjenigen Regelungen, die garantieren, daß das Zusammenleben der Menschen in der Polis trotz aller gegensätzlichen Auffassungen darüber, wie es sich zu vollziehen habe, nicht auseinanderfällt. Durch ihn hat die ständig vom Zerfall bedrohte Einheit des Gemeinwesens Bestand.“ 1121 Zum Derivationsverhältnis zwischen dem göttlich-unbegrenzten und dem menschlichen Gesetz vgl. Heraklit, DK 22 B 114, S. 284: ξὺν νόῳ λέγοντας ἰσχυρίζεσθαι χρὴ τῷ ξυνῷ πάντων, ὅκωσπερ νόμῳ πόλις καὶ πολὺ ἰσχυροτέρως· τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου· κρατεῖ γὰρ τοσοῦτον ὁκόσον ἐθέλει καὶ ἐξαρκεῖ πᾶσὶ καὶ τεριγίνεται. „Indem man sich mit Verstand ausdrückt, muss man Kraft schöpfen aus dem, was allen gemeinsam ist, wie eine Stadt aus ihrem Gesetz und noch viel stärker. Denn alle menschlichen Gesetze speisen sich aus dem einen, göttlichen Gesetz; dessen Kraft ist unbegrenzt, und es reicht für alles aus und setzt sich durch.“ 1122 Vgl. dazu Heraklit, DK 22 B 2, S. 249: οῦ λόγου δ' ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν. „Ungeachtet der Tatsache aber, dass die Auslegung eine allgemeine ist, leben die Leute, als ob sie über eine private Einsicht verfügen.“ 1123 Vgl. Heraklit, DK 22 B 33, S. 284: νόμος καὶ βουλῇ πείθεσθαι ἑνός. „Gesetz ist es auch, dem Willen eines einzelnen zu gehorchen.“ 1124 Diese elitäre, durch das Kriterium der Einsicht in den allgemeinen λόγος gestützte Haltung drückt sich besonders plastisch im Fragment 49 aus. Vgl. Heraklit, DK 22 B 49, S. 284: εἷς ἐμοὶ μύριοι, ἐὰν ἄριστος ᾖ. „Einer gilt mir Unzählige, so er der Ausgezeichnetste ist.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

gen1125 zu berücksichtigen.1126 Aus diesem Grunde müssen die formenden Prinzipien und leitgebenden Wesensentscheidungen immer wieder den äußeren Umständen sowie der Bevölkerungsstruktur angepasst werden. Ein wichtiges Ergebnis des fünften Kapitels verdichtete sich in der Auffassung, dass für Marc Aurel Δίκη und Φύσις in der einen Perspektive zusammenfallen, während sich ihre Ausübungssphären in der anderen Perspektive strikt unterscheiden. Unter Anwendung einer überzeugenden Logik koinzidieren für Marc Aurel Δίκη und Φύσις, indem alles, was überhaupt geschehen kann, in der universal-omnipräsenten Allnatur fundiert ist. Marc Aurel zielt darauf ab, dass das Göttliche aus seinen Wirkungen erschlossen werden muss. Folglich muss jedes Widerfahrnis und jeder scheinbare Unglücksfall der Allnatur – in einem für die meisten Menschen verborgenen Sinne – zuträglich und förderlich sein, da sie dessen Faktizität ansonsten nicht zugelassen hätte und die genetische Kausalreihung unterbunden hätte. Diesen Gedanken baut Marc Aurel zu einer fulminanten Kosmodizee aus, die eindeutig ein heraklitisches Gepräge trägt. Im Vergrößerungsspiegel der nietzscheanischen Heraklit-Interpretation konnte im fünften Kapitel veranschaulicht werden, dass die φύσις bereits in der Philosophie des vorsokratischen Denkers keine menschliche Handlung entstehen lässt und kein Naturphänomen hervorbringt, das nicht in irgendeiner Weise zu ihrer Selbsterhaltung und Selbstliebe beisteuern würde.1127 Die ethische und biozentrische Komponente ist unübersehbar: Angesichts der Absenz eines externen Vergleichsmaßstabes ist für die φύσις jedes Lebewesen, das sie erscheinen, gedeihen und wachsen lässt, gerechtfertigt und willkommen. Marc Aurel hebt mit Nachdruck hervor, dass alle Lebewesen Anteil an der All-Natur besitzen, weil sie durch deren vernunfterfüllte Zweck-

1125 Zum Zusammenhang zwischen dem Abgrenzungsszenario der ersten Landnahme, der Maßetablierung und der verfassungsmäßigen Rechtslegitimierung vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 16: „Mit Landnahmen und Städtegründungen ist […] stets eine erste Messung und Verteilung des nutzbaren Bodens verbunden. So entsteht ein erstes Maß, das alle weiteren Maße in sich enthält. Es bleibt erkennbar, solange die Verfassung erkennbar dieselbe bleibt. Alle folgenden Rechtsbeziehungen zum Boden des von dem landnehmenden Stamm oder Volk eingeteilten Landes, alle Einrichtungen der durch eine Mauer geschützten Stadt oder einer neuen Kolonie sind von diesem Ur-Maß her bestimmt. […] Eine Landnahme begründet Recht nach doppelter Richtung, nach Innen und nach Außen.“ 1126 Zu der unterscheidend-zuteilenden (und darin der Δίκη entsprechenden) Rolle des Πόλεμος vgl. Heraklit, DK 22 B 53, S. 264: Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους. „Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.“ 1127 Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822: „Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechts, hinter allen Überschreitungen der Gesetze richtende Erinnyen, die ganze Welt das Schauspiel einer waltenden Gerechtigkeit und dämonisch allgegenwärtiger, ihrem Dienste untergebener Naturkräfte.“ Vgl. auch Heraklit, DK 22 B 51, S. 264: οὐ ξυνιᾶσιν, ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῶι ὁμολογέει· παλίντροπος ἁρμονίη, ὅκωσπερ τόξου καὶ λύρης. „Sie verstehen nicht, wie Sichabsonderndes sich selbst beipflichtet: eine immer wiederkehrende Harmonie, wie im Fall des Bogens und der Leier.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

setzung gewollt sind.1128 Ebenso wie Heraklit, wehrt Marc Aurel auf dieser Basis sämtliche anthropozentrischen Versuche ab, eine gipfelartig zum Menschen hinstrebende Werteordnung des Kosmos zu konstruieren und segmentierte, den jeweiligen Vorlieben widerstreitende Phänomene mit pejorativen Attributen zu bezeichnen. Im Entwicklungsgang des fünften Kapitels konnte bekräftigt werden, dass Marc Aurel dieses Zurückhaltungsethos auch in seiner eigenen Beurteilung anderer Menschen beziehungsweise ihrer Denk- und Verhaltensweisen kultiviert. Dabei greift er direkt auf den Inhalt des Heraklit-Fragmentes Nr. 1 zurück und zitiert das Fragment 75 nahezu wörtlich: Wir alle wirken zusammen auf ein Ziel hin, die einen mit Bewußtsein und Einsicht, die anderen unbewußterweise. Ja, sogar die Schlafenden sind, wie, glaube ich, Heraklit sagt, Arbeiter und Mitarbeiter an dem, was in der Welt geschieht. Jeder aber arbeitet auf andere Art mit, selbst im Übermaß der Tadler, welcher dem, was geschieht, entgegenzutreten und es wegzuräumen sucht.1129

Marc Aurel nimmt Heraklits emblematische Unterscheidung zwischen den Schlafenden und den Wachenden auf und ergänzt als Bemessungskriterium den Einklang mit der All-Natur. Von herausragender Signifikanz ist Marc Aurels Gedanke, dass auch die Schlafenden, d. h. diejenigen Menschen, welche die Notwendigkeit und Vernünf-

1128 In diesem Aspekt der Kritik an einer anthropozentrischen Maßstabsansetzung, in der Exposition der Verkettung aller Zustände und in der Einbettung aller Lebewesen in die All-Natur lässt sich eine gewichtige Nähe zwischen Marc Aurel und Goethes frühem Spinozismus feststellen. Vgl. Goethe, Studie nach Spinoza, Naturwissenschaftliche Schriften Bd. 1, HA 13, 14. Aufl., München 2005, S. 7f.: „Alle beschränkte Existenzen sind im Unendlichen, sind aber keine Teile des Unendlichen, sie nehmen vielmehr teil an der Unendlichkeit. Wir können uns nicht denken, daß etwas Beschränktes durch sich selbst existiere, und doch existiert alles wirklich durch sich selbst, ob gleich die Zustände so verkettet sind, daß einer aus den andern sich entwickeln muß, und es also scheint, daß ein Ding vom andern hervorgebracht werde, welches aber nicht ist, sondern ein lebendiges Wesen gibt dem andern Anlaß zu sein und nötigt es in einem bestimmten Zweck zu existieren. Jedes existierende Ding hat also sein Dasein in sich, und so auch die Übereinstimmung, nach der es existiert. Das Messen eines Dinges ist eine grobe Handlung, die auf lebendige Körper nicht anders als höchst unvollkommen angewendet werden kann.“ 1129 Vgl. Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 42, S. 86. Vgl. Heraklits Fragment DK 22 B1, S. 248: τοῦ δὲ λόγου τοῦδ' ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων, ὅκως ἔχει. τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει, ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται. Das Fragment wird von Mansfeld und Primavesi wie folgt übersetzt: „Gegenüber der hier gegebenen, unabänderlich gültigen Auslegung [λόγος] erweisen sich die Menschen als verständnislos, sowohl bevor als auch wenn sie sie einmal gehört haben. Denn obwohl alles in Übereinstimmung mit der hier gegebenen Auslegung geschieht, gleichen sie Unerfahrenen, sobald sie sich überhaupt an solchen Aussagen und Tatsachen versuchen, wie ich sie darlege, indem ich jedes Einzelne seiner Natur gemäß zerlege und erkläre, wie es sich damit verhält. Den anderen Menschen aber entgeht, was sie im Wachen tun, genau wie das, was sie im Schlaf vergessen.“ Vgl. des Weiteren Heraklit, DK 22 B 75: οὺς καθεύδοντας ἐργάτας εἶναι καὶ συνεργοὺς τῶν ἐν τῷ κόσμῳ γινομένων. „[Die Schlafenden nennt, glaub' ich, Heraklit] Arbeiter und Mitwirker an den Weltereignissen.“

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6. Schluss und Zusammenfassung des Gedankenganges

tigkeit des Weltverlaufs nicht perzipieren können1130 und sich stattdessen von ihren Affekten leiten lassen, von der All-Natur hervorgebracht und auserwählt worden sind, da sie dergestalt ihr allgemeines Ziel in möglichst facettenreichen Filiationen verfolgen kann. Wenn die Menschen in allen ihren Taten nur Agenten der Allnatur sind, lässt sich kein autoritativer Maßstab fixieren und kein Ideal auslagern, durch das sie moralisch verurteilt werden könnten. Angesichts der Alternativlosigkeit der erlittenen Erlebnisse und jedes Willensentschlusses erweist sich die scheinbar reflektierte Klassifikation des Gütegrades beobachteter oder erfahrener, vermeintlicher Ungerechtigkeiten ihrerseits als Produkt einer subjektiven Willkür, einer zweckgebundenen Vorteilserwartung oder einer gesellschaftlichen Konvention. Paradoxerweise würde sich der apodiktisch Urteilende und ethisch Engagierte selbst von der Allnatur entfremden, weil er der Suggestion zum Opfer fiele, seine persönlichen Wertkategorien würden in unmittelbarer Adäquatheit dem Wesen der Dinge inhärieren. Im Grunde würde die erwiderte Missbilligung der anderen Person auf eine affektdominierte Unzufriedenheit des Angegriffenen indizieren, der sich nunmehr aufschwingt, eine unabänderliche Vorbestimmung mit einflusslosen Korrekturwünschen zu konterkarieren. Die Quintessenz des vierten Kapitels, wonach die richtend-ordnende Δίκη selbst nichts anderes ist als die allumfassende φύσις der Notwendigkeit, konnte auch im Denken Marc Aurels aufgespürt werden. Es wurde präzisiert, dass für den römischen Kaiser alle Dinge und Prozesse in der organischen Mereologie der Allnatur vereinigt sind. Diese Verschleifung bekundet sich sowohl in der endlosen Wiederholung des Schauspiels der gleichen Stimmungsbilder, typischer Entscheidungen, analoger Lebensläufe und in der periodischen Naturgestaltung als auch in der Linearsequenz der prospektiv ausgreifenden Providenzmanifestation. Das Proprium dieser erhabenen und zugleich erschütternd-konsternierenden Weltbetrachtung findet sich trefflich in Nietzsches suggestiv-existenziellem Plädoyer für die Wahrheit der ewigen Wiederkehr des Gleichen zusammengefasst: Wer, gleich mir, mit irgendeiner rätselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halbchristlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerschen Philosophie; wer wirklich einmal mit einem asiatischen 1130 In seiner differenzierten Analyse der Entzweiungsart und der weltumspannenden Gegensatzgliederung des λόγος prononciert auch Carl-Friedrich Geyer, dass diejenigen Menschen, welche die konstitutiv-reale Widerwendigkeit des λόγος (bzw. der All-Natur in der Philosophie der Stoa) nicht durchschauen und sich ihr gegenüber auf die Richtigkeit privater oder konventioneller Ansichten berufen, die binäre Wesensgesetzmäßigkeit des λόγος gerade stabilisieren, bedingen und bestätigen. Vgl. Geyer, Die Vorsokratiker zur Einführung, S. 72: „Wenn man die beiden genannten Fragmente als Prosatext liest und dabei als Einführung in die Philosophie Heraklits versteht, eröffnen sich drei Aspekte: zum ersten der Grundgegensatz Heraklits; dieser ist kein bloß gedachter, sondern zerreißt die Welt in lauter Gegensatzverhältnisse, die sich nicht irgendwie mediatisieren lassen, vielmehr im Wesen des ‚logos‘ als eines Zerspaltenden, Auseinanderreißenden selbst gründen. Sodann wird dieses Gegensatzverhältnis ‚sozialisiert‘; die Menschen, wie sie sich darbieten, sind unfähig, den Gegensatz zu erkennen und halten ihn gerade dadurch am Leben. Drittens scheint dieses Unverständnis dem ‚logos‘ gegenüber ebenso wie die daraus resultierende Zerrissenheit als Bedingung des ‚logos‘ an sich auf.“

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und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hineinund hinuntergeblickt hat – jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral –, der hat vielleicht ebendamit, ohne daß er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermütigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wiederhaben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu dem, der gerade dies Schauspiel nötig hat – und nötig macht: weil er immer wieder sich nötig hat – und nötig macht – – Wie? Und dies wäre nicht – circulus vitiosus deus?1131

Bezüglich der zweiten Perspektive konnte sichtbar gemacht werden, dass Marc Aurel die Ausstrahlungskraft der Δίκη und der Φύσις auf verschiedene Seinsregionen verteilt. Obgleich eine sachkundig-philosophische Erkenntnis der ehernen Notwendigkeit in der Lage ist, inmitten des Gesamtzusammenhanges das Aufglänzen der Δίκη zu erblicken, wird die Gerechtigkeit von Marc Aurel dennoch von der Allnatur abgekoppelt und in ein genuin menschliches Ethos verwandelt. Während Heraklit, Heidegger und Nietzsche (zumindest in seinem Werk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen) die Gerechtigkeit wahlweise als kosmisches Ordnungselement, als ausgleichende Instanz innerhalb des Konfliktes der Gegensätze oder als Vollzugsgestalt des zerstörerisch-aufbauenden Laufes der Zeit fassen, profiliert Marc Aurel jene Tugendbedeutung der Gerechtigkeit, die auf den modernen Begriffsbestand vorausweist. Die Gerechtigkeit avanciert bei Marc Aurel zur Bezeichnung für eine moralische, angemessene, überlegte Handlungsweise, die auf der Basis der begründbaren Vernunfteinsicht erfolgt. In diesem Sinne konnte herausgearbeitet werden, dass Marc Aurel einer quasifatalistischen Lesart entgegenwirken kann, welche die menschliche Gerechtigkeit als passive Indolenz des Geltenlassens begreift. Stattdessen sucht Marc Aurel in seinen reichhaltigen Überlegungen zur Gerechtigkeit, zur Frömmigkeit und zur Großmut stets das zentrale Auslotungsprinzip der Stoa zu inkludieren. Gerade weil die Allnatur in permanenter Dynamik ihre schöpferische Kraft bezeugt, ist eine intellektuelle Aktivität innerhalb der Disziplinen der Logik, der Physik und der Ethik unbedingt erforderlich, wenn sich die Menschen adäquat im Organismus des Weltganzen verorten und mit der Natur im Einklang leben wollen. Gemäß dem stoischen Bewertungsmodell müssen die Grenzen zwischen dem – durch die eigene Freiheit tätig zu erwirkenden – Veränderungspotenzial und den nicht in der eigenen Macht stehenden, durch die Allnatur produzierten Schicksalsschlägen eruiert werden, um uneinlösbare, frustrierende Vorstellungen und die Genese trauerstiftender oder unkontrollierbarer Affekte zu vermeiden.1132 Angesichts dieses Distinktionskriteriums offenbaren sich die Realisierung und die Erfüllung der Ge1131 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 56, S. 74f. 1132 Vgl. hierzu Marcel van Ackerens ausgesprochen instruktive und prägnante Schilderung der stoischen Ethik, die das Glück als motivationales Leitziel des Menschen begreift. Die mögliche Realisierung der Identität von Tugendhaftigkeit und Glückseligkeit wird von den Stoikern vor allem deswegen an das Kriterium der Befolgung der Natur geknüpft, weil die tugendsichernde Loslösung von inadäquaten Affekten und die glücksbefördernde Befreiung von hemmenden Privatmeinungen allein durch die Orientierung an einer das Individuum transzendierenden, monistischen Ver-

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rechtigkeit für Marc Aurel als lebenslange Aufgabenkomplexe. Der Appell der Selbstvervollkommnung, welcher der Gerechtigkeit innewohnt, konfrontiert den endlichen und aufrichtig-sensiblen Menschen mit den gespannt-gegensätzlichen Erfahrungen des Scheiterns, des unauslöschlichen Selbstzweifels, des aggressiven Zurückgewiesenwerdens und der zwischenmenschlichen Enttäuschung, schenkt ihm aber auch die beglückende Heiterkeit der wahren Selbstachtung und der wertgeschätzten Großherzigkeit. Insofern das einzelne Individuum in dem Vollendungsakt seines iterierenden Strebens jedoch entweder die Absurdität der vormals motivierenden Zielsetzung perzipieren muss oder die akkumulierte Suspension seiner Hoffnungen die Bodenlosigkeit der Existenz anzeigt, scheint den endlich-zeitbestimmten Wesen der versöhnende Zusammenschluss der Tugendgerechtigkeit mit der kosmischen Gerechtigkeit verwehrt zu sein. Im Gegensatz dazu, scheint Marc Aurels reflektierte Aufmerksamkeit gegenüber den Fährnissen der Endlichkeit und seine desillusionierte Bestandsaufnahme des keineswegs seltenen Triumphes egozentrischer Absichten eher dazu zu disponieren, das Schicksal selbst – als inkarnierte Gerechtigkeit – anzuklagen und die von Seiten der Allnatur errichtete Weltordnung als eine Nichtseinsollende zu analysieren. Im Rahmen des fünften Kapitels konnte allerdings demonstriert werden, dass Marc Aurel – wie sechs Jahrhunderte vor ihm schon Heraklit – eine entscheidende Manifestationsform der Ungerechtigkeit in der Hybris des Einzelnen sieht, der über das Schicksal richtet, den Weltlauf verflucht und das Dasein im Ganzen als Jammertal oder Irrnis bewertet. Nach Marc Aurel verkennt das Individuum in diesem Anathema, dass es noch in seinem Abwendungshabitus und seiner Auflehnungsintention von der Allnatur durchdrungen ist und unweigerlich in ihren Variationsrahmen eingebunden bleibt. Es ist der junge Goethe, der die selbstgerecht-allumfassende Souveränität der Natur in dem frühen Tobler-Fragment durch subtile Paradoxa und durch die doppelte Attribution widersprüchlicher Merkmale hellsichtig schildert. Dabei ist die heraklitische Grundstimmung dieser spannungsreichen Naturanschauung unübersehbar: Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu, und doch immer das Alte. Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. nunftinstanz generiert werden kann, deren lenkend-immanente Kraft sich zugleich permanent in der Lebenswelt bezeugt. Vgl. Van Ackeren, Die Philosopie Marc Aurels, S. 611: „Stoiker nehmen an, dass alle Menschen glücklich sein wollen und dass das Glück für alle dasselbe und zugleich das Ziel jedes Menschen ist, um dessen willen er alles andere tut. Glücklich ist aber derjenige, der in Übereinstimmung mit der Natur lebt, und das heißt, ihr zu folgen. Unter Natur ist sowohl die umfassende allgemeine Natur des Kosmos zu verstehen als auch die eigene Natur des Menschen. Der Natur zu folgen heißt, tugendhaft zu sein. Also ist Tugend dasjenige, was uns glücklich macht. Dem entspricht einerseits die Vorstellung, dass Menschen ein Bestreben haben, der Natur zu folgen und glücklich zu sein, und andererseits die Überzeugung, dass nur die Tugend gut ist (weswegen sie glücklich macht) und nur die Untugend schlecht ist. Alles andere ist indifferent.“

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Wir wirken beständig auf sie und haben doch keine Gewalt über sie. Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. Sie lebt in lauter Kindern, und die Mutter, wo ist sie? – Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoff zu den größten Kontrasten; ohne Schein der Anstrengung zu der größten Vollendung – zur genausten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch macht alles eins aus. Sie spielt ein Schauspiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sies für uns, die wir in der Ecke stehen. Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann. Die Menschen sind alle in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibts mit vielen so im Verborgenen, daß sies zu Ende spielt, ehe sies merken. Auch das Unnatürlichste ist Natur, auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht. Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an sich selbst. Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen. Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz. Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieblinge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Große hat sie ihren Schutz geknüpft. Sie hat wenige Triebfedern, aber, nie abgenutzte, immer wirksam, immer mannigfaltig.1133

Der Abschnitt „Sie hat sich auseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich sich mitzuteilen. Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den straft sie als der strengste Tyrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie wie ein Kind an ihr Herz“1134 kann als prägnante, unübertreffliche Exposition der stoischen Ethik Marc Aurels gelesen werden, insofern deren Hauptziel in dem eudämonistischen Einklang mit der Natur liegt. Zudem hebt auch Goethe hervor, dass jede Wendung gegen die All-Natur notwendigerweise von ihrer Kraft leben muss und dass sie selbst den Insurgenten erscheinen lässt, um sich in diesem Spiel der Abgrenzungen und Illusionen „selbst zu genießen“.1135 Die Natur präjustiert die Lebensbahnen der Individuen nach Maßgabe einer unumkehrbaren Gesetzesordnung und bestraft die Uneinsichtigen nicht, wenn sie ihre zusammenziehende Kohäsionsbewegung nicht erkennen: Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen; die Bahn kennt sie. Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben. Sie hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer, und schüttelt ihn immer wieder auf. Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, daß sie alle diese Bewegung mit so wenigem erreicht. Jedes Bedürfnis ist Wohltat; schnell befrie1133 Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften I, Die Natur (Fragment), HA 13, S. 45f. 1134 Ebd., S. 46. 1135 Ebd., S. 46.

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digt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ists ein neuer Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht. Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an, und ist alle Augenblicke am Ziele. Sie ist die Eitelkeit selbst, aber nicht für uns, denen sie sich zur größten Wichtigkeit gemacht hat. Sie läßt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, Tausende stumpf über sich hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung. Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat, denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumet, daß man sie verlange; sie eilet, daß man sie nicht satt werde. Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles isoliert, um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.1136

Trotz der wohlbegründeten Aushebelung der Ungerechtigkeitsdiagnose und des nachvollziehbaren Verweises auf den Notwendigkeitsnexus der Allnatur mündet Marc Aurels Überlegungsstrang niemals in einen oberflächlichen Optimismus. Gleichwohl setzt er sich durch die gelungene Umschiffung dieser Klippe einer anderen Gefahr aus: Es ist nämlich kaum zu bestreiten, dass Marc Aurels eigenständige, pessimistisch anmutende Dechiffrierung der Eitelkeit des „Es war“1137 (mitsamt der Untermalung der Irrelevanz aller endlichen Dinge) selbst unter die Signatur des Ungerechtigkeits-Verdikts fallen könnte. Marc Aurels edle Melancholie könnte als Seismograph einer antistoischen Entzweiung von der Allnatur entschlüsselt werden. Des Weiteren drängt sich unabweislich die Frage auf, ob Marc Aurels nachsichtige Toleranz nicht konsequenterweise in einen heraklitisch-nietzscheanischen Immoralismus umschlagen oder in einen fatalistischen Relativismus einwilligen müsste. Prima facie scheint Heraklit Marc Aurel auch in der wesentlichen Problematik zu sekundieren, ob es eine Faktizität des Bösen gibt und inwiefern menschliche Handlungen das Prädikat der Ungerechtigkeit zugesprochen werden kann. Wenn alles Seiende aus dem Geschick der All-Natur deriviert – beziehungsweise aus dem λόγος – und die All-Natur stets in Übereinstimmung mit ihrem eigenen, die Erde durchherrschenden Wollen agiert, über welchem keine transzendente, normative Instanz angesiedelt ist, müssen alle Pläne, Vorsätze, Absichten und Taten jenseits von Gut und Böse stehen.1138 Gleichwohl konnte im fünften Kapitel der Deutungsansatz integriert und 1136 Ebd., S. 46f. 1137 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 181: „‚Kann es Erlösung geben, wenn es ein ewiges Recht giebt? Ach, unwälzbar ist der Stein ‚Es war‘: ewig müssen auch alle Strafen sein!‘“ 1138 Angesichts der stoischen Lehre einer in sich vernunftvoll-zweckmäßig ausgerichteten Notwendigkeit des Geschehenden unterstreicht Pierre Hadot den erzieherischen Charakter des ‚Mysteriums der göttlichen Gerechtigkeit‘. Diese teilt dem Einzelnen dasjenige zu, was immer schon für ihn vorherbestimmt war, ihm auch gemäß seinem Verdienst zufallen muss und seine moralische Besserung unterstützen könnte. Wichtig ist, dass Hadot nicht schlichtweg für eine passive Akzeptanz der göttlichen Gerechtigkeit optiert. Da das von Seiten des Gesetzes Zugeteilte nämlich der Seinsweise des jeweiligen Individuums vollkommen korrespondiert, dessen moralische Grundverfassung jedoch sowohl dem zugewiesenen Los als auch der anfänglichen Wahl des δαίμων entspringt, erweist sich das von der göttlichen Gerechtigkeit Zugemessene als partiell selbst verantworteter Ansatzpunkt der menschlichen Freiheitsbewährung. Vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 304f.: „Alles, was geschieht, geschieht zu Recht, weil es uns bringt, was uns gehört, uns zusteht oder, anders ausgedrückt, was unserem persönlichen Wert entspricht und so zu unserem moralischen Fortschritt bei-

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nachgezeichnet werden, dass Marc Aurel sich mit dieser durchaus überzeugenden Lösung nicht begnügt und von dieser frappierend einfachen Negation der Existenz des Bösen abweicht. Diese Devianz wurzelt – so lautete die zu belegende Ansicht – vornehmlich in Marc Aurels Aktualisierung des ethischen Intellektualismus Sokrates´ und Platons. Da das Böse nach Marc Aurel in der gescheiterten Erkenntnis und Verfehlung des Guten gründet, kann der römische Philosophenkaiser der heraklitischen Verflüssigung der statischen Begriffe „gut“ und „böse“ und Nietzsches Akzentuierung des sich selbst bejahenden Spiels keine Absolution erteilen. Marc Aurel gesteht die Realität des Bösen im Sinne eines mangelnden Wissens um das wahrhaft Vorteilhafte also durchaus zu. Im fünften Kapitel konnte jedoch erwiesen werden, dass er das malum morale in dreifacher Hinsicht depotenziert. Erstens wird das Böse von Marc Aurel als dominierendes Übermaß der Leidenschaften betrachtet und an die temporäre oder langanhaltende Suspension des vernünftigen Seelenvermögens gekoppelt. Der Appell der Vernunft musste ungehört bleiben, weil der Einzelne von seinen Affekten überwältigt wurde. Erst Schellings Freiheitsschrift wird mit diesem klassischen Erklärungsparadigma des Bösen radikal brechen. Zweitens mildert Aurel die Wirkungsmacht des Bösen ab. Das Böse sei nicht in der Lage, das Walten und die vernunftgemäß-organische Zweckmäßigkeit der All-Natur zu erschüttern. Außerdem könne es die Freiheit des Weisen nicht ernsthaft gefährden, da dieser die Fähigkeit besitze, sich von den äußeren Vorstellungen nicht beeinflussen zu lassen und sich in seine innere Festung zurückzuziehen: Solltest du je einmal durch die Gewalt der Umstände in eine Art von Gemütsunruhe versetzt werden, so ziehe dich doch rasch auf dich selbst zurück! Laß dich nicht über Gebühr aus dem Takte bringen! Denn wofern du stets wieder zu einer harmonischen Stimmung der Seele zurückkehrst, wirst du ihrer immer mächtiger werden.1139

Nichtsdestominder bleibt die Frage virulent, ob der Ursprung des – als Akzidenz der unvollkommenen Erkenntnis auftretenden – Bösen in der All-Natur zu verorten ist. Um diese Herausforderung dissolvieren zu können, wählt Marc Aurel eine dritte Argumentation, die ebenfalls eine reichhaltige Überlieferungstradition besitzt. Es handelt sich um das holistische Kognitionsargument, dass der menschliche Geist isolierte Geschehnisse nur deswegen als Übel oder als Manifestation des Bösen beurteile, weil er aufgrund seines limitierten Horizontes nicht in der Lage sei, die reziproken Überträgt. Die göttliche Gerechtigkeit ist erzieherisch. Das Ziel, das sie im Auge hat, besteht in dem durch die Weisheit der vernunftbegabten Wesen gesicherten Wohl des Ganzen. […] Hinter diesen Nuancen des Vokabulars scheint das Mysterium der göttlichen Gerechtigkeit durch. Marc Aurel spricht in der Tat (X, 25) vom ‚Verwalter aller Dinge‘, der ‚das Gesetz [nomos] ist, das jedem zuteilt [nemon], was ihm zukommt [to epiballon].‘ ‚Denn was den Gesetzen gemäß zugeteilt wird, ist für jeden gleich‘ (XII, 36, 1). Wenn das göttliche Gesetz also jedem den Teil zukommen läßt, der seinem Wert entspricht, so ist dieser Teil zugleich das, was ihm nach seinem Verdienst zusteht, d. h. nach dem, was er ist, und das, was ihm zufällt, was ihm als Los vom Schicksal gewählt wird. Es ist also zugleich das, was zu sein der Mensch durch seine moralische Entscheidung wählt, und das, was das Gesetz durch seine anfängliche Entscheidung wählt, das er sein soll. Gleicherweise wird der daimon (d. h. das individuelle Schicksal), der jeder Seele beigegeben ist, ihr durch das Los zugewiesen und dennoch von ihr gewählt.“ 1139 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 11, S. 75.

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einstimmungen und die geordnete Güte des durch das scheinbar negative Ereignis miterwirkten Gesamtsinnes zu detektieren. Dieser bereits in Heraklits Fragment 102 anklingende, kosmotheologische Allumfassungsgedanke wurde besonders durch christliche Philosophen (und Bischöfe) – von Augustinus bis zu George Berkeley – immer wieder bemüht. Auch Spinoza verwendet eine ähnliche Überlegung in seiner pantheistisch-stoizistischen Kosmodicee, um die Einsicht in die Notwendigkeit aller Dinge als Vehikel für den Machtgewinn des seine Affekte beherrschenden Geistes auszuzeichnen.1140 Wie im dritten Kapitel erhellt werden konnte, konstatiert Nietzsche diese Entschärfungsstrategie des Bösen schon bei Heraklit und würdigt sie als exzeptionelle Wegmarke eines realistischen und lebenszugewandten Denkens. In Korrespondenz dazu, prononciert auch Marc Aurel, dass sich im Falle einer besonnenen Gesamtübersicht des Alls und durch eine verständnisgeleitete Freilegung der innigen Verwobenheit aller Dinge unweigerlich herausschält, dass die vermeintlich niederstufigen, unbedeutenden und sinnwidrigen Erscheinungen in Wahrheit zur Vervollkommnung des Alls beitragen. Sie bilden dabei nicht einfach die notwendige Bedingung für die Artikulation der Lichtseiten. Diese Dualisierung würde nämlich impli-

1140 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, 7. Buch, 13. Kapitel, übers. von Otto F. Lachmann, Wiesbaden 2008, S. 176: „An dir ist überhaupt nichts Böses, und nicht nur an dir, sondern auch an deiner gesamten Schöpfung; denn nichts ist außer ihr, was einbräche und die Ordnung, die du festgesetzt hast, zerstörte. Im Einzelnen aber hält man das für böse, was mit anderem nicht übereinstimmt; aber dasselbe stimmt mit anderem überein und ist gut und darum auch in sich selbst gut. Und alles das, was nicht miteinander übereinstimmt, stimmt mit Niedrigerem überein, nämlich mit dem, was wir Erde nennen, die ihren entsprechenden wolkigen und stürmischen Himmel hat. […] Und ich erwog nach gesundem Urteil, dass das Erhabenere zwar besser sei als das Niedrigere, dass das Ganze aber doch besser sei als das Erhabenere allein.“ Vgl. George Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, § 153, hrsg. von Arend Kulenkampff, Hamburg 2004, S. 108: „Daß aufgrund der allgemeinen Naturgesetze und infolge der Handlungen endlicher unvollkommener Geister Schmerz und Ungemach in der Welt vorkommen, ist in dem Zustand, in dem wir uns gegenwärtig befinden, für unser Wohlergehen unbedingt erforderlich. Aber unser Horizont ist allzu beschränkt. So sehen wir beispielsweise, wenn wir die Idee eines einzelnen Schmerzes bedenken, in diesem ein Übel. Wenn wir jedoch unseren Blickwinkel erweitern, so daß er die verschiedenen Zwecke, Verknüpfungen und wechselseitigen Abhängigkeiten der Dinge umfaßt, ferner bei welcher Gelegenheit und in welchem Verhältnis wir Schmerz und Lust erleben, wenn wir uns das Wesen der menschlichen Freiheit und den Endzweck vergegenwärtigen, um dessentwillen uns ein Platz in der Welt angewiesen ist, dann werden wir anerkennen müssen, daß jene einzelnen Dinge, die für sich genommen als Übel erscheinen, ihrer Naur nach etwas Gutes sind, vorausgesetzt, sie werden im Zusammenhang mit dem ganzen System des Seienden betrachtet.“ Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik. In geometrischer Ordnung dargestellt, V. Teil, Lehrsatz 6, hrsg. von Wolfgang Bartuschat, 4. Aufl., Hamburg 2015, S. 541f.: „Insofern der Geist einsieht, daß alle Dinge notwendig sind, hat er eine größere Macht über die Affekte, anders formuliert, erleidet er weniger von ihnen. Beweis: Der Geist sieht ein, daß alle Dinge notwendig sind und von einer unendlichen Verknüpfung von Ursachen zum Existieren und Wirken bestimmt werden; mithin bringt er in diesem Maße zuwege, daß er von den Affekten, die ihnen entspringen, weniger erleidet und angesichts der Dinge nicht so leicht in Affekte gerät. W.z.b.w. Anmerkung: Je mehr diese Erkenntnis – daß Dinge notwendig sind – sich auf Einzeldinge erstreckt, die wir deutlicher und lebhafter vorstellen, umso größer ist die mit ihr verbundene Macht des Geistes über die Affekte, was auch die Erfahrung selbst bestätigt. Wir sehen nämlich, daß die Trauer, irgendein Gut verloren zu haben, gemildert wird, sobald der Mensch, der es verloren hat, sich klar macht, daß dieses Gut auf keine Weise erhalten werden konnte.“

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zieren, dass werthafte Unterscheidungen befestigt würden.1141 Vielmehr ist allen Phänomenen innerhalb des Organismus der All-Natur eine eigenständige Dignität zuzusprechen, die den menschlichen Gewohnheitsurteilen enthoben ist. Wenngleich Marc Aurel mit dem dritten Argument die Rückdatierung des Ursprungs des Bösen und des Übels in die Allnatur verhindern kann, so ist diese Exkulpation teuer erkauft: Schließlich wird durch die Ataraxie eines Geltenlassens sämtlicher Ansichten und durch die Leugnung axiologischer Differenzen der Einwand vitalisiert, dass auch bei Marc Aurel ein moralischer Relativismus das letzte Wort behalte. Zur Verteidigung Marc Aurels sei abschließend darauf hingewiesen, dass er – ohne sich stets ostentativ darauf zu berufen – in seinen Sentenzen immer wieder die stoische Doktrin streift, dass das wahrhafte Übel nur dasjenige moralisch Böse ist, das der eigenen Freiheitsausübung und der Habitualisierung der Vernunft schadet. Dergestalt kann das Böse nicht mehr in zwischenmenschlicher Gewaltanwendung, in Naturkatastrophen oder in egozentrischer Hybris registriert werden. Stattdessen wird das Böse gänzlich in den Binnenhaushalt des Einzelnen verlagert: Wenn du irgendeines von den Dingen, welche nicht in deiner Willkür stehen, als ein Gut oder als ein Übel ansiehst, so mußt du notwendig, wenn ein solches Übel dich trifft oder ein solches Gut ausbleibt, über die Götter murren und die Menschen hassen, die schuld daran seien, oder nach deinem Argwohn am Ausbleiben oder Eintreffen in Zukunft schuld sein sollen, und so begehen wir denn ob unserem Interesse für diese Dinge manche Ungerechtigkeit. Wenn wir hingegen bloß die von uns abhängigen Dinge für Güter oder Übel erklären, so bleibt kein Grund übrig, die Gottheit anzuklagen oder gegen irgend einen Menschen eine feindliche Stellung einzunehmen.1142

Zum Abschluss dieser Studie kann bezüglich der Thematik des Bösen das folgende Fazit gezogen werden. Das Böse ist bei Marc Aurel durch den Sachverhalt definiert, den inadäquaten Ideen, den Begierden des Handlungsantriebs oder irritierenden Fehlschlüssen ein solches Übergewicht gegenüber der Vernunft einzuräumen, dass 1141 Auch für Nietzsches Begriff des amor fati ist von höchster Bedeutung, dass den scheinbaren Negativaspekten der Wirklichkeit eine intrinsische Selbstzweckhaftigkeit und Dignität zugestanden wird, sodass sie nicht zu akzidentiellen Begleitfaktoren der affirmierten Seiten nivelliert werden können und sich einer Instrumentalisierung als notwendige Kontraste innerhalb der Manifestation des Schönen und Wohlgeordneten verweigern. Vgl. Nietzsche, KSA 13 (16[32]), S. 492: „Höchster Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati. Hierzu gehört, die bisher verneinten Seiten des Daseins nicht nur als nothwendig zu begreifen, sondern als wünschenswerth: und nicht nur als wünschenswerth in Hinsicht auf die bisher bejahten Seiten (etwas als deren Complemente oder Vorbedingungen), sondern um ihrer selbst willen, als der mächtigeren, furchtbareren, wahreren Seiten des Daseins, in denen sich sein Wille deutlicher ausspricht.“ Nichtsdestotrotz äußert sich für Pierre Hadot die unüberbrückbare Differenz zwischen Marc Aurel und Nietzsche in dem Sachverhalt, dass Marc Aurels Bejahung jedes Einzelvorganges von einem umfassenden Vertrauen zur vernunftgemäßen Lenkung des Kosmos getragen werde, wohingegen Nietzsches dionysische Gutheißung der Ereignisse und Taten eine Verklärung des sinnblinden Triebgrundes des Lebens impliziere. Vgl. Hadot, Die innere Burg, S. 208: „Zwischen den Stoikern und Nietzsche tut sich ein Abgrund auf. Während das stoische ‚Ja‘ Zustimmung zur Vernunftmäßigkeit der Welt ist, ist die dionysische Bejahung des Daseins, von der Nietzsche spricht, ein ‚Ja‘ zur Unvernunftmäßigkeit, zur blinden Grausamkeit des Lebens, zum Willen zur Macht jenseits von Gut und Böse.“ 1142 Marc Aurel, Wege zu sich selbst, VI. Buch, Nr. 41, S. 85f.

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die Angleichung an die Selbstorganisation der All-Natur – und damit auch die Befolgung des genuin menschlichen Vermögens – nachhaltig verhindert wird.

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