Ästhetik und Politik der Zerstreuung 9783770563487, 9783846763483

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Ästhetik und Politik der Zerstreuung
 9783770563487, 9783846763483

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Tobias Lachmann (Hg.)

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Umschlagabbildung: Kathrin Heyer, „Übergänge“, Zeichnung, 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6348-7 (paperback) ISBN 978-3-8467-6348-3 (e-book)

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Inhalt 1

Ästhetik und Politik der Zerstreuung. Ausgangspunkte  . . . . . . . . . Tobias Lachmann

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Wortfindung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frederik „Schlakks“ Schreiber

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Praktiken 3

Radfahren in der Stadt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Eßmann

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„Mit einigen kleinen Umschweifen“. Zum egressiven Erzählen in Seumes Spaziergang nach Syrakus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christof Hamann und Julian Osthues

5

Amsterdam 64 oder Wie das magische Denken in den Kulturwissenschaften die Wiederkehr der Dinge sehr befördert hat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Lethen

6

Die Fernschule. Perspektiven zerstreuten Lernens  . . . . . . . . . . . . . . Michael Niehaus

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Räume 7

„2015 sind sehr viele Asylsuchende nach Deutschland eingereist.“ – Der Flüchtlingsdiskurs in „Informationsfilmen“ des BAMF und des Bundesministeriums des Innern unter besonderer Berücksichtigung der Inszenierung von Nicht-Orten  . . . . . . . . . . . . 89 Deniz Bayrak und Sarah Reininghaus

8

Lagerzeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Willi Benning

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Zur Literarisierung der Hotelgesellschaft. Anmerkungen zu Heterotopien bei Joseph Roth mit einem Seitenblick auf Thomas Mann und Franz Kafka  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Peter Friedrich

10

Seelenbildung an der Grenze: Ein kommentiertes Interview mit dem triestinischen Autor Veit Heinichen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Walter Grünzweig

11

Mein Leben und Joseph Roth I  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Christof Hamann

Diskurse 12

Die romantische Liebe und ihre Folgen im langen 19. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker

13

Die Rückkehr der Alphafrauen: Geschlecht, Macht und Geld im Mediendiskurs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Karin Bruns

14

Schuh und Wolke. Zur materialistischen Symbolik in Brechts „Der Schuh des Empedokles“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Jürgen Link

15

Kontingenz und Verunsicherung in F. M. Klingers Sturm und Drang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Claas Morgenroth

16

Stückwerk. Zur Poetik des Kleinen bei Robert Walser  . . . . . . . . . . . 251 Marianne Schuller

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Mein Leben und Joseph Roth II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Christof Hamann

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Subjektivitäten 18

Elise Richters Summe des Lebens (1940): wissenschaftliche Persona und Leidenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ursula Link-Heer

19

‚Verbriefte Passion‘. Zu Madame de Sévignés epistolärer Zerstreuung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Annette Runte

20

Das Unheimliche, Technik und heimgesuchte Räume – Schatten. Eine nächtliche Halluzination des Weimarer Kinos  . . . . 313 Ellen Risholm

21

Warum Schatten im Kerzenlicht nicht flackern. Eine kleine nachträgliche Zerstreuung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Martin Stingelin

22

(Literarische) Zerstreuung und Resistenz: Thomas Pynchons Vineland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Tobias Lachmann Namenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

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Ästhetik und Politik der Zerstreuung. Ausgangspunkte Tobias Lachmann Das Verb „zerstreuen“ bezeichnet eine mehr oder minder einfache Operation: etwas wird in unterschiedliche Richtungen verteilt. In der Regel handelt es sich dabei entweder um Lebewesen, natürliche Gegenstände oder um Artefakte, die auseinander getrieben werden, wodurch sich ihre ursprüngliche Formation verändert, lockert und tendenziell auflöst. Daneben ist auch das Sem der ‚Vertreibung‘ Teil des Signifikanten, das seinerseits den spezifischeren Umstand beschreibt, dass die Objekte aus einem zuvor definierten Raum verjagt werden. Der begriffsgeschichtliche Blick auf das als „Zerstreuung“ bezeichnete Phänomen zeigt, dass zunächst die objektbezogene Redeweise dominierte, bevor von der „Zerstreuung“ zunehmend auch in metaphorischer Hinsicht Gebrauch gemacht wurde. Dementsprechend verzeichnet das DWDS seit etwa 1700 einen steilen Anstieg der Worthäufigkeit des Verbs „zerstreuen“, die nach einem Höhepunkt in der Zeit um 1800 im anschließenden Jahrhundert stark abfällt und heutzutage geringer ist als noch um 1600.1 Etwas anders sieht es beim Substantiv „Zerstreuung“ aus, dessen Benutzung nach 1800 weniger stark schwindet als die des Verbs, um 1900 noch doppelt so häufig verwendet wird wie um 1600 und auch in der Gegenwart zumindest noch zum gängigen Sprachgebrauch gezählt werden kann.2 Insgesamt verlagert sich die Bezeichnung von äußeren auf innere Vorgänge. So lässt sich etwa seit dem 18. Jahrhundert davon sprechen, dass Bedenken oder Zweifel „zerstreut“ und damit zum Verschwinden gebracht werden. Was sich zuvor insbesondere auf physische Objekte bezog, wurde nun auf psychische Prozesse übertragen. In diesem Zusammenhang und unter Einfluss des französischen Adjektivs distrait entwickelt sich in der Sattelzeit auch der noch heute geläufige, reflexive Gebrauch des Verbs im Sinne von „jemanden oder sich zerstreuen“, der mit Phänomenen der Ablenkung, des Vergnügens oder des Zeitvertreibs assoziiert ist. 1  DWDS. Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Vgl. die Verlaufskurve der Worthäufigkeit des Verbs „zerstreuen“ unter (29. 3. 2020). 2  Vgl. die Verlaufskurve des Substantivs „Zerstreuung, die“ unter (29. 3. 2020).

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_002 .7

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Sucht man nach spezialisierten Formen des Wortgebrauchs, so stößt man zum einen auf die religiöse Mystik, in der der Begriff auf die psychische Dimension zurückverweist. Allerdings löst sich die Bedeutung ‚die Seele oder das Gemüt von der Gemeinschaft mit Gott ablenken‘ im Verlauf des 15. Jahrhunderts teilweise von ihren religiösen Konnotationen und bezeichnet im Folgenden eher Störungen des seelischen Gleichgewichts im allgemeineren Sinn. An diese Semantik kann schließlich auch die Psychiatrie des bürgerlichen Zeitalters anschließen. Dabei ist jedoch zu vermerken, dass sich die ursprüngliche Bedeutung in pietistischen Diskursen noch länger hält. Unter den Vorzeichen der im 18. Jahrhundert entstehenden Psychiatrie kann sich dann allerdings auch die allgemeine, im Sinne von: weit verbreitete, dabei aber wenig informierte Pathologisierung des Phänomens der Zerstreuung durchsetzen. Hier liegen die Wurzeln der hartnäckigen kulturpessimistischen Topoi, die das Phänomen der Zerstreuung in der Moderne so nachhaltig geprägt haben. In Zeiten, die (medial) dermaßen stark von einem Krisenbewusstsein geprägt sind, wie die heutigen, mag es fast müßig erscheinen, angesichts einer nach wie vor omnipräsenten ‚Flüchtlingskrise‘ eigens auf die ungebrochene Relevanz der wohl ältesten, weil biblischen Bedeutung der Zerstreuung für moderne Gesellschaften hinzuweisen. Aber schon der Artikel zum Verb „zerstreuen, (unter die heyden)“ in Zedlers Universal-Lexicon hebt damit an, dass die Bedeutung des Verbs in der Bibel, paradigmatisch in Jeremias IX, 16, auf eine göttliche Strafe zurückzuführen ist. Als Beleg dafür wird ebenjene Stelle angeführt, „wo es heisset: Ich will sie unter die heyden zerstreuen, welches nach dem Hebräischen und Deutschen eine solche unordentliche Absonderung eines von dem andern bedeutet, da das eine da, das andere dort hinaus geworffen und getrieben wird, wie etwa die Stoppeln vom Winde.“3 Mit Ausnahme der göttlichen Legitimation hat sich in der longue durée bis in die Gegenwart nichts an der gesellschaftlichen Bedeutung der Prozesse von Flucht und Vertreibung geändert; ganz im Gegenteil: Was sollen wir heute noch sagen, wenn Michel Foucault schon 1979 ein Gespräch führte, das unter dem beredten Titel „Das Flüchtlingsproblem ist ein Vorbote der großen Wanderungsbewegungen des 21. Jahrhunderts“ publiziert wurde?4 Bestenfalls 3  Art. „zerstreuen (unter die heyden)“, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Welches bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Halle und Leipzig: o. A. 1731–1754, Band 61, S. 874. 4  Michel Foucault, „Das Flüchtlingsproblem ist ein Vorbote der großen Wanderungsbewegungen des 21. Jahrhunderts“ (1979), aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, herausgegeben von Daniel Defert und François

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lassen sich historisch mehr oder weniger dramatische Phasen der Zerstreuung von Menschenmassen durch Flucht und Migration unterscheiden. Die ‚Zerstreuung‘ von Gruppen, ob im Großen oder im Kleinen, ist ein Phänomen, das uns begleitet. In der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung zu Kulturen der Moderne spielt die Zerstreuung aber noch eine andere Rolle: Das Paradigma, in das die Zerstreuung als eine Komponente miteinbezogen wird, ist dabei die Massenkultur. Massen gelten als Signatur der Moderne. Massen bestehen allerdings aus Individuen, und beide, Individuen wie Massen, gehören zum Dispositiv der modernen (Massen-)Medien. Gelten erlebbare Massenphänomene mit ihren eigenen Dynamiken (Menschenaufläufe, Massenstreiks u. a. m.) für das 19. und 20. Jahrhundert noch als charakteristisch, so ist für das 21. Jahrhundert – Massenereignissen, wie publikumsträchtigen Sport- und Musik-Veranstaltungen, zum Trotz – doch eine qualitative Veränderung zu konstatieren: Bei den Massen unserer Gegenwart handelt es sich in stärkerem Maße als in der Vergangenheit um individuierte Massen, oder anders gesagt: um eine „Gesellschaft der Singularitäten“.5 Darin liegt ein gewisses Paradox: Eigentlich sind alle Teil der Masse – und gemäß einem elaborierten System ‚feiner Unterschiede‘ bemühen sich auch alle darum, über geringfügige Distinktionen eine unverwechselbare Individualität zu erzeugen –,6 aber diese Masse existiert realiter größtenteils in der Zerstreuung. Und dies in gleich doppelter Hinsicht: zum einen nämlich in ihrer sozialen Vereinzelung und zum anderen, aber eng damit gekoppelt, unter dem Einfluss jener Spektakel der Zerstreuung, die von den Massenmedien induziert auf sie einwirken. Natürlich ist die Lage letztlich viel komplexer. Tatsächlich sind die Individuen in einer zerstreuten Massenkultur vielfältigen Mechanismen ausgesetzt, die sich als „Gouvernementalität der Gegenwart“ beschreiben lassen.7 Nichtsdestotrotz Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Band  3: 1976–1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 996–999. 5  Dazu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2017. 6  Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979), aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 658). 7  Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität  I.  Vorlesung am Collège de France  1977–1978 (2004), aus dem Französischen übersetzt von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1808); Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 (2004), aus dem Französischen übersetzt von Jürgen Schröder, Frankfurt am Main: Suhrkamp  2004 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1809).

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ist das Moment der Zerstreuung in diesem Dispositiv nicht so dominant, dass die zerstreute Masse „in einem Zustand tagträumerischer Geistesabwesenheit“8 dahindämmert, auch wenn die Ablenkungs- und Entpolitisierungsfunktion der Massenmedien gewiss nicht ohne Folgen bleibt. So zeigt Hannelore Bublitz auf, „dass Massenkultur, unauffällig in das Programm der Zerstreuung eingelassen, in die Register der sozialen Ordnung vordringt und Ökonomien organisiert, die nicht nur Waren, sondern auch – sozialisierte – Subjekte ‚produzieren‘.“ Das führt zu dem Schluss: „Massenkultur zerstreut zwar in alle Winde, doch sie liest die verstreuten Kräfte wieder zusammen und sichert ihre Nutzbarmachung in den Kräftefeldern gesellschaftlicher Machtstrukturen.“9 An diesem Punkt wird die Verschränkung von statistischen Verfahren, politischen Maßnahmen und biopolitischen Dimensionen des Bevölkerungswachstums unübersehbar. Wie sich zeigt, ist die Zerstreuung natürlich auch für normalistische Diskurse von außerordentlicher Bedeutung.10 Unabhängig davon, ob die gegenwärtige gesellschaftliche Formation eher als Normalisierungs- oder als Kontrollgesellschaft beschrieben werden kann, hat Gilles Deleuze zumindest einen Aspekt der problematischen Verschränkung von ‚Kapitalismus und Schizophrenie‘ eindeutig erfasst, wenn er in „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“ schreibt: Der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ist einer des Eigentums und, was die Produktion betrifft, der Konzentration. […] In der aktuellen Situation ist der Kapitalismus jedoch nicht mehr an der Produktion orientiert […]. Dieser Kapitalismus ist nicht mehr für die Produktion da, sondern für das Produkt, das heißt für Verkauf oder Markt. Daher ist sein wesentliches Merkmal die Streuung [Meine Hervorhebung, T.  L.], und die Fabrik hat dem Unternehmen Platz gemacht.11

Ein kulturkonstitutives Prinzip wie die Zerstreuung bleibt nicht auf einen einzelnen gesellschaftlichen Teilbereich beschränkt. In das Dispositiv der Zerstreuung sind auch naturwissenschaftliche Diskurse integriert. Besonders augenscheinlich wird das am Beispiel der Optik, die transparente (Glas-) Scheiben nutzt, um einfallendes und durchgehendes Licht entweder zu 8  9  10  11 

Hannelore Bublitz, In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur, Bielefeld: Transcript 2005, S. 24. Ebd., S. 25. Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (1997), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. Gilles Deleuze, „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen.  1972–1990 (1990), aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= edition suhrkamp 1778) S. 254–262.

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bündeln oder aber zu zerstreuen: Während sogenannte Sammellinsen das Licht aufgrund ihrer konvex geformten Oberfläche konzentrieren, sorgen Konkavlinsen für eine Zerstreuung des einfallenden Lichts nach dem Brechungsgesetz. So fungieren die Erkenntnisse und Gerätschaften der Optik als wichtige Voraussetzungen für die Entstehung und Weiterentwicklung visueller Medien, vom Fernrohr bis zum Kinematographen und darüber hinaus. Überhaupt besteht eine enge Verknüpfung von Wahrnehmung und Zerstreuung. So zeigen die Forschungen des US-amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James  J.  Gibson zur ökologischen Theorie der Wahrnehmung, dass alle für die Wahrnehmung erforderlichen Informationen in der Umwelt enthalten sind und dass es die Struktur des Lichts ist, das von Objekten und Ereignissen im Raum reflektiert wird, die unsere Wahrnehmung ermöglicht.12 Die unverzichtbare Grundlage dafür allerdings ist die jeweilige Streuung der elektromagnetischen Strahlung des Lichts, die für das menschliche Auge wahrnehmbar ist. Ohne in die physikalischen Feinheiten von Modellen der Strahlenoptik, Wellenoptik oder der Quantenphysik eintauchen zu wollen, die das Licht als Photonenstrom beschreibt, gilt es ganz allgemein festzuhalten, dass sich ein spezifisch physikalisches oder, grundlegender gesprochen: naturwissenschaftliches Wissen als konstitutiv erweist, wenn es darum geht, symbolische Formen zu prägen, mit denen sich das Phänomen der Zerstreuung allgemeinverständlich vermitteln lässt. Dazu zählen etwa auch die Mechanik mit ihren Konzeptionen von Druck, Überdruck und Unterdruck oder, bezogen auf Flüssigkeiten und Gase, Vorrichtungen wie das Ventil, das Elemente durch Absperrung zu konzentrieren und sich durch Öffnung zu ergießen, zu verflüchtigen bzw. zu zerstreuen vermag. Darüber hinaus wäre an die Entropie zu denken, die in statistischer Mechanik und Thermodynamik eine ähnlich bedeutsame Rolle spielt wie in der Informationstheorie. Geht es in den ersten Fällen um die Stabilität von Systemzuständen bzw. um die Umwandlung von mechanischer in thermische Energie, die in geschlossenen Systemen zwangsweise, etwa durch Vermischung oder Reibung, zu einem Anstieg der Entropie und damit zu einem Energieverlust führt, ist es unter den Vorzeichen der Kommunikation eher die drohende Zerstreuung einer eindeutigen Botschaft auf dem Wege ihrer Übermittlung, wenn der Kanal durch ein wachsendes Rauschen gestört oder anderweitig beeinträchtigt wird. Über 12 

Vgl. James  J.  Gibson, Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung (1966), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ivo und Erika Kohler, Bern, Stuttgart und Wien: Hans Huber 1982 sowie ders., Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung (1979), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Gerhard Lücke und Ivo Kohler, München, Wien und Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1982.

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die Jahre hat es sich eingebürgert, diese Phänomene mittels der Opposition von Ordnung vs. Unordnung, oder populärer noch: als Chaos, zu umschreiben. Für den Bereich der Kulturwissenschaften ist festzustellen, dass sich die Forschung – insbesondere seit Siegfried Kracauers intensiv rezipierten Arbeiten zum „Kult der Zerstreuung“ in der Weimarer Republik13 – nach wie vor sehr stark auf den Zusammenhang von Zerstreuung und Mediennutzung konzentriert. Dabei dominiert noch immer der kulturpessimistische Topos der (medial induzierten) Zerstreuung als Reduktion der Kapazitäten von Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung. Aus historischer Sicht fällt auf, dass selbst Versuche, eine Mediengeschichte der Zerstreuung zu schreiben, ihren Gegenstand nur selten über den von Siegfried Kracauer in seinen Feuilletons so prominent beschriebenen Zeitraum hinaus verfolgen.14 Taucht der Begriff doch einmal auf, wie sich exemplarisch an der jüngeren Forschung zum ‚Gaming‘ zeigt, dann wird das Konzept der Zerstreuung zumeist unreflektiert genutzt15 oder auf die altbekannten Topoi beschränkt. Dabei ist es ein Merkmal des Dispositivs der Zerstreuung, dass es jederzeit neues Wissen aus den unterschiedlichsten Spezialdiskursen integrieren kann. So reüssiert etwa das distrait des 18. Jahrhunderts zu Beginn des 21. im Gewand eines vermeintlich neuen, „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom“ getauften Störungsbilds, kurz AD(H)S,16 das urplötzlich ubiquitär ist und Medizinern wie Psychiatern den Vorwand für eine weitgehende „Psychiatrisierung der Alltags“ liefert.17

13 

14  15  16 

17 

Vgl. Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karsten Witte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963 und dort vor allem den Essay „Kult der Zerstreuung. Über die Berliner Lichtspielhäuser“, ebd., S. 311– 317. In diesem Kontext verortet sind auch die soziologischen Studien Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971 sowie ders., Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1971 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 297). Petra Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung, Zürich und Berlin: Diaphanes 2014. Vgl. etwa Christoph Deeg, Gaming und Bibliotheken, Berlin und Boston: Walter de Gruyter oder Sabine Hahn, Gender und Gaming. Frauen im Fokus der Games-Industrie, Bielefeld: Transcript 2017. Dazu die einleitenden Beobachtungen in Ute Gerhard, „Literarische Zerstreutheiten – Zwischen Vergessen und Erinnern“, in: Günter Butzer und Manuela Günter (Hrsg.), Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht  2004 (= Formen der Erinnerung 21), S. 151–164. Françoise Castel, Robert Castel und Anne Lovell, Psychiatrisierung des Alltags. Produktion und Vermarktung der Psychowaren in den USA (1979), aus dem Französischen übersetzt von Christa Schulz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

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Vor der Epoche der ‚Neue Medien‘, war es die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen, vor allem dem Satelliten- und Kabel-TV, und seinen neuen Formaten, in der die Zerstreuung eine bedeutende Rolle spielte.18 In der damaligen Diskussion blieb eine Stimme wie diejenige Manfred Schneiders allerdings die Ausnahme. Schneider wies nämlich eigens darauf hin, dass „das Fernsehen“ im Grunde genommen „mit der gleichen Methode der Zerstreuung/Sammlung [arbeitet] wie der menschliche visuelle Cortex.“19 Mehr noch: „Während unser Fernsehbild“ schon seinerzeit „nach der CCIR-Norm in 625 Zeilen und rund 500 000 Pixels zerlegt (zerstreut)“ wurde, „arbeitet die optische Wahrnehmung des menschlichen Auges mit einer noch höheren Auflösung“. Schließlich verfügt jedes Auge allein „über 125 Millionen Stäbchen und Zapfen, über die alle Signale verarbeitet werden.“20 Hat man die damalige Debatte noch im Ohr, dann ist es ein Genuss zu lesen, wie Schneider am Ende seines Aufsatzes „Was zerstreut die Zerstreuung“ die aktuellen Erkenntnisse der Sinnesphysiologie referiert und schließlich ein pointiertes Fazit zieht: Das Auge selbst bewegt sich bei der Abtastung seiner Objekte auch keineswegs in sanften Kamerafahrten, sondern in den sogenannten Sakkaden. Sakkaden sind rasche, in Zeiteinheiten von Sekundenbruchteilen operierende ruckartige Augenbewegungen, die dafür sorgen, daß die Informationen aus dem Sehfeld in die beste Auflösungsregion der Netzhaut, in die Fovea, fallen. Da das visuelle System in solchen Sakkaden auch bewegte Gegenstände fixiert, Augen- und Objektbewegungen korreliert, stellt es die plötzlich auf die Wahrnehmung einstürzende Welt für sich still. Damit nicht genug. Die Erforschung der Augenbewegungen im Zehntelsekundenbereich hat ergeben, daß auch während solcher kontinuierlichen Halbsekunden-Sequenzen immer noch kleinste Bewegungen ausgeführt werden – Mikrosakkaden –, die noch einmal eine komplexere Verarbeitungsweise erlauben. Mit Frequenzen von nahezu 500 Hertz vermag die Steuerungsmuskulatur das Auge ziemlich genau in der Frequenz der Nervensignale zu justieren. Doch diese hochentwickelte Fähigkeit verdankt die menschliche Spezies nun keineswegs einer Entwicklungsgeschichte, in deren Verlauf sie unablässig ins Tal blickte, die Aura dieses Berges oder jenes Zweiges atmete oder nach dem umsichtigen Entdecken der Werkwelt ausruhend verweilend das Aussehen ‚der Welt‘ besichtigte.21

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Einen Überblick bieten Karin Bruns und Ramón Reichert (Hrsg.), Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld: Transcript 2015. Manfred Schneider, „Was zerstreut die Zerstreuung?“, in: Wolfgang Tietze, Manfred Schneider und Institut für Medienanalyse Essen (Hrsg.), Fernsehshows. Theorie einer neuen Spielwut, München: Raben Verlag von Wittern 1991, S. 9–24, hier S. 20. Ebd. Ebd., S. 21.

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In der jüngsten kulturwissenschaftlichen Forschung haben sich denn auch Positionen bemerkbar gemacht, die mit Schneiders Befund, dass es die „extreme Zerstreuung allein“ ist, die „der Wahrnehmung ein Auflösungsvermögen [sichert], das der Orientierung auch hinreichend differenzierte Daten zur Verfügung stellt[,]“ in Einklang stehen.22 So wendet Petra Löffler, die Zerstreuung in ihrer Habilitationsschrift als „verteilte Aufmerksamkeit“ fasst, das Konzept erkennbar ins Positive.23 Hervorzuheben ist darüberhinaus ein Beitrag Löfflers, der den Versuch unternimmt, die Zerstreuung als (Kultur-) Technik der Verteilung noch differenzierter zu fassen und charakteristische Operationen der Zerstreuung zu beschreiben, denen – so ließe sich sagen – sogar ein Moment der Widerspenstigkeit innewohnt. Dabei handelt es sich um das Ablenken, das Verteilen, das Streuen, das Umleiten und das Mischen.24 Obwohl der Text mit seinen Ausführungen zur Zerstreuung im Kontext von menschlichen Technologien der Selbst- und Fremdführung einerseits und natürlichen Prozessen des Werdens andererseits durchaus Denkanstöße liefert, wie sich die Zerstreuung produktiv fassen ließe, bleiben die genannten Operationen doch eher dem Passiven oder Reaktiven verhaftet. Demgegenüber möchten die Beiträge dieses Bandes entschiedener der produktiven Dimension der Zerstreuung nachgehen. Es geht dabei um die Grundannahme, dass die eigentlich produktive Instanz von Kultur ein anonymer Prozess diskursiver Zerstreuung und Zerstreutheit ist. Wer Michel Foucaults Abhandlung über die Methode Archäologie des Wissens studiert hat, wird bemerkt haben, dass die darin entwickelte Diskurstheorie bestrebt ist, dieser Herausforderung auch analytisch gerecht zu werden.25 Das Problem stellt sich jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen verstellen überkommene Begriffe und Paradigmen wie „Geist“ oder „Mentalität“ eine unvoreingenommene Sicht auf die Geschichte. Zum anderen scheint die schiere Masse an diskursivem Material die historische Untersuchung zu behindern. Und dann verstreuen sich die diskursiven Ereignisse zu allem Überfluss auch noch auf eine Art und Weise in Zeit und Raum, die eine Erfassung nur schwer möglich erscheinen lässt. Foucault begegnet dieser Herausforderung systematisch, indem er zunächst davor warnt, die gewohnten Konzepte „spontan gelten“ zu lassen. Stattdessen müsse man 22  23  24  25 

Ebd., S. 21 f. Vgl. Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit (Anm. 7). Vgl. Petra Löffler, „Zerstreuung. Techniken der Verteilung“, in: Figurationen 16 (2015), H. 2, S. 11–24. Michel Foucault, Archäologie des Wissens (1969), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1973 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 356).

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„aus methodischen Erwägungen und in erster Instanz annehmen, daß man es nur mit einer Menge verstreuter Ereignisse [Meine Hervorhebung, T. L.] zu tun hat[,]“26 woraus folgt, dass man diesen verstreuten diskursiven Formationen auch nicht mit den immer gleichen Instrumenten beikommen kann, sondern die methodischen Zugangsweisen an ihren jeweiligen Gegenständen entwickeln muss. Hat man das begrifflich-methodische Werkzeug, das sich dabei als untauglich erwiesen hat, erst einmal aus der Hand gelegt und mit Vorstellungen wie derjenigen der historischen Kontinuität aufgeräumt, öffnet sich der Analyse ein vom terminologischen Ballast befreites Gebiet: Ein immenses Gebiet, das man aber definieren kann: es wird durch die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (énonces) (ob sie gesprochen oder geschrieben worden sind, spielt dabei keine Rolle) in ihrer Dispersion von Ereignissen [Meine Hervorhebung, T. L.] und in der Eindringlichkeit, die jedem eignet, konstituiert. Bevor man in aller Gewißheit mit einer Wissenschaft oder mit Romanen, mit politischen Reden oder dem Werke eines Autors oder gar einem Buch zu tun hat, ist das Material, das man in seiner ursprünglichen Neutralität zu behandeln hat, eine Fülle von Ereignissen im Raum des Diskurses im allgemeinen [Meine Hervorhebung, T.  L.]. So erscheint das Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten.27

Symbolisch gesprochen haben wir es bei der Zerstreuung also mit jenem unkontrollierbaren ‚Wuchern der Diskurse‘ zu tun, von dem so oft zu lesen ist. Geht man nun aber davon aus, dass man nach Aussagen suchen kann, die sich auf ein und denselben Gegenstand beziehen, und erkennt man überdies, dass das Feld der diskursiven Ereignisse in seiner historischen Ausdehnung sehr wohl durch die Gegenwart begrenzt wird, dann mögen die Aussagen zwar noch immer zahllos sein, konstituieren aber nichtsdestotrotz eine endliche Menge. Daraus ergeben sich, hier und in der weiteren Entwicklung der Diskurstheorie, gewisse Folgerungen, die etwa auf das genealogische Verfahren und seine vektorielle Orientierung in Richtung Gegenwart hinauslaufen. Jürgen Link hat die engeren Zusammenhänge zwischen diskursiven Ereignissen, Zyklologie und Kairologie im Rahmen des Hamburger FoucaultKolloquiums des Jahres  1988 eingehend erläutert.28 In unserem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass es die aufgrund des Phänomens der Zerstreuung empirisch gegebene Notwendigkeit ist, die dazu führt, dass sich mit der 26  27  28 

Ebd., S. 34. Ebd., S. 41. Jürgen Link, „ereignis, zyklologie, kairologie. überlegungen nach foucault“, in: Spuren in Kunst und Gesellschaft 34/35 (1990), S. 78–85.

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Diskursanalyse in den Kulturwissenschaften ein variables Verfahren etabliert, das neben den Aussagen auch ihre spezifischen sprachlich-literarischen Formen zu analysieren erlaubt.29 Daher rührt die Idee, diese Verstreuungen selbst zu beschreiben [Meine Hervorhebung, T. L.]; zu untersuchen, ob unter diesen Elementen, die sich mit Sicherheit nicht wie ein fortschreitend deduktives Gebäude, noch wie ein maßloses Buch, das allmählich durch die Zeit hindurch geschrieben würde, noch als das Werk eines kollektiven Subjekts organisieren, man keine Regelmäßigkeit feststellen kann. Eine Ordnung in ihrer sukzessiven Erscheinung, Korrelationen in ihrer Gleichzeitigkeit, bestimmbare Positionen in einem gemeinsamen Raum, ein reziprokes Funktionieren, verbundene und hierarchisierte Transformationen. Eine solche Analyse würde nicht versuchen, kleine Flecken der Kohärenz zu isolieren, um deren innere Struktur zu beschreiben; sie würde sich nicht die Aufgabe stellen, die latenten Konflikte zu vermuten und ans volle Licht zu bringen; sie würde Formen der Verteilung untersuchen [Meine Hervorhebung, T. L.]. Oder auch: anstatt Ketten von logischen Schlüssen (wie man es oft in der Geschichte der Wissenschaften oder der Philosophie tut) zu rekonstruieren, anstatt Tafeln der Unterschiede (wie es die Linguisten tun) aufzustellen, würde sie Systeme der Streuung beschreiben [Meine Hervorhebung, T. L.].30

Dass die Diskurstheorie Systeme der Zerstreuung untersucht, hat übrigens auch Wolf Kittler feststellen müssen, als er der Frage nachgegangen ist, welchen methodologischen und terminologischen Stellenwert Wissenschaften wie die „Historiographie der langen Dauer“, „die Thermodynamik, die mathematische Informationstheorie und die Theorie des modernen Krieges“ für die Diskursanalyse besitzen.31 Als einer der ersten hat er explizit darauf hingewiesen, dass die „Streuung (‚dispersion‘)“ in Archäologie des Wissens ein dominant-rekurrentes Sem ist. Aus dieser und weiteren Beobachtungen schließt Kittler, dass das „Ziel“ der Archäologie des Wissens „– ähnlich wie das der Statistik – nicht die Konstruktion einer Geschichte mit Anfang, Mitte 29 

30  31 

Vgl. Jürgen Link, Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München: Wilhelm Fink 1983; Joseph Vogl, „Mimesis und Verdacht. Skizze zu einer Poetologie des Wissens nach Foucault“, in: François Ewald und Bernhard Waldenfels (Hrsg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (= edition suhrkamp 1640), S. 193–204; ders., „Für eine Poetologie des Wissens“, in: Karl Richter, Jörg Schönert und Michael Titzmann (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Walter MüllerSeidel zum 75. Geburtstag, Stuttgart: M & P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1997, S. 107–127 sowie ders., „Einleitung“, in: ders., Poetologie des Wissens um 1800, München: Wilhelm Fink 1999, S. 7–16. Foucault, Archäologie (Anm. 25), S. 57 f. Wolf Kittler, „Thermodynamik und Guerilla. Zur Methode von Michel Foucaults Archäologie des Wissens“, in: Trajekte. Newsletter des Zentrums für Literaturforschung Berlin  2 (2002), H. 4, S. 16–21.

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und Ende“ ist, sondern „die Erschließung und Beschreibung eines Datenraums.“32 Daher macht auch Kittler die Herausforderung für die Diskurstheorie Foucaults darin aus, Mannigfaltigkeiten beschreiben zu müssen, deren Merkmale in ihrer Ereignishaftigkeit und in dem Grad der Wahrscheinlichkeit ihrer Erscheinung zu suchen sind: „Deshalb betont Foucault beides, die Mannigfaltigkeit der in den Archiven gespeicherten Daten und ihre Seltenheit, ihre Rarität. […] Die Archäologie untersucht beides, sowohl die Patterns und die Singularitäten, die sich in solchen Häufungen abzeichnen, als auch das Rauschen, das sie löscht.“33 Foucault selbst hat nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung von Archäologie des Wissens, und zwar am 2. 12. 1970, im Rahmen seiner Inauguralvorlesung am Collège de France unter dem Titel „Die Ordnung des Diskurses“ eingehender untersucht, wie man in okzidentalen Gesellschaften dem ‚Wuchern der Diskurse‘ Herr zu werden versucht, und dabei Operationen der Konzentration, der Regelung und Begrenzung ausgemacht.34 Foucault: Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere, bedrohliche Materialität zu umgehen.35

Die sich hier abzeichnenden Formen von Sammlung und Konzentration lassen sich jenen Operationen zurechnen, die der diskursiven (Zer-)Streuung entgegenwirken. Sie übernehmen die Funktionen der Hierarchisierung, Totalisierung und Identifizierung, stiften also Ordnung in Bereichen, die eigentlich vom Prinzip der Dispersion gekennzeichnet sind. Demgegenüber interessieren sich die Beiträge des vorliegenden Bandes für ebenjene Momente kultureller Produktion, in denen das Prinzip der Zerstreuung entfesselt wird, Schlupflöcher findet, Grenzen überwindet und Fluchtlinien eröffnet. Angeregt von Überlegungen der Dortmunder Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Ute Gerhard widmen sie sich in exemplarischen Studien den Praktiken, Räumen, Dingen, Diskursen, Subjekten und Subjektivitäten der Zerstreuung und tragen so dazu bei, deren spezifische Ästhetik und Politik genauer zu konturieren. 32  33  34  35 

Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970 (1972), aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main: S. Fischer 1991 (= Fischer Taschenbuch Wissenschaft 10083). Ebd., S. 11.

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Nicht zuletzt möchte der Band dabei auch Lust darauf machen, sich in der Lektüre selbst zu zerstreuen. Er nimmt daher die in Foucaults Archäologie des Wissens formulierte Einsicht beim Wort, dass die „archäologischen Gebiete […] ebenso durch ‚literarische‘ oder ‚philosophische‘ Texte gehen wie durch wissenschaftliche Texte“ und dass Wissen daher „nicht nur in Demonstrationen eingehüllt“, sondern auch „in Fiktionen, in Überlegungen, in Berichten, institutionellen Verordnungen, in politischen Entscheidungen“ in Erscheinung treten kann“36 – ein wichtiger Punkt, den Gilles Deleuze im Satz „Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen“ bündig zusammenfasst.37 Weil dem so ist, finden sich im Band verstreut kleine poetische und prosaische Miniaturen, die sich unserer gewohnten, linearen Leseweise in den Weg stellen und dazu einladen, gedanklich ab-, aus- und umherzuschweifen. Den Auftakt dazu macht Frederik Schreiber, der in Dortmund als Schlakks bekannt ist, mit einem Text zur „Wortfindung“. Im Abschnitt „Räume“ finden sich lyrische Texte, die Willi Benning „Lagerzeiten“ überschrieben hat. Und die Zwischenräume zwischen den Abschnitten „Räume“ und „Diskurse“ sowie „Diskurse“ und Subjektivitäten“ besiedeln Prosa-Miniaturen von Christof Hamann, die auf ein literarisches Projekt mit dem Titel „Mein Leben und Joseph Roth“ zurückgehen. Retrospektiv zeigt sich, dass Ute Gerhards literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung schon früh um das Phänomen der Zerstreuung kreiste. An ihren Qualifikationsschriften lässt sich dies illustrieren: So zeigt Gerhard in ihrer Dissertation am Beispiel der Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert, dass die pragmatische Applikation institutioneller Literatur das ‚Werk‘ der ‚Klassiker‘ in kleine Fragmente, jene „berühmten Stellen, die jeder auswendig weiß“, zerlegt, um sie (besser) rezipierbar zu machen.38 Die gesellschaftliche Konsumtion von Literatur verläuft über die Wiedereinspeisung solcher isolierter Diskursparzellen – das können Zitate, Sentenzen, Figuren, Deskriptionen, Subjektsituationen oder sonstiges sein – in andere Diskurse. In dem Maß, in dem die übliche Fixierung auf den Gesamttext aufgegeben wird, zerstreut dieser sich im diskursiven Raum der Kultur. In diesem diskursiven Prozess der Zerstreuung manifestiert sich nicht zuletzt auch die ‚Anonymität‘ der Applikation und die Bedeutung der (anonymen) diskursiven 36  37  38 

Foucault, Archäologie (Anm. 25), S. 261. Gilles Deleuze, Foucault (1986), aus dem Französischen übersetzt von Hermann Kocyba, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1023), S. 34. Ute Gerhard, Schiller als „Religion“. Literarische Signaturen des XIX. Jahrhunderts, München: Wilhelm Fink 1994, hier S. 26.

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Praxis für die Generierung von Wissensbeständen, wie Foucault sie anhand der „Achse diskursive Praxis – Wissen – Wissenschaft“ aufzeigt.39 Die von Ute Gerhard entwickelte, empirisch orientierte Rezeptionstheorie kann sich damit auf die Intertextualitätstheorie Julia Kristevas genauso stützen wie auf die Interdiskurstheorie. Zuletzt zeigte sich, dass sie auch unter den Prämissen der Kulturtechnikforschung nicht an Plausibilität verliert.40 In Gerhards Habilitationsschrift Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik41 verlagert sich ihr Interesse an Prozessen der Zerstreuung hin zur Zerstreuung von Menschenmassen, der sie insbesondere am Beispiel der Flucht und Vertreibung der Ostjuden nachgeht. Daneben und darüber hinaus leistet sie mit ihren Überlegungen über die diskursiven Fluchtlinien, die sich von den Wanderungsbewegungen als einem interdiskursiven Gegenstand aus eröffnen, aber auch einen grundlegenden Beitrag zur Ästhetik und Politik der Zerstreuung. Sie hat damit Mut gemacht, dem Phänomen der Zerstreuung in den Bereichen der kulturellen Praktiken, der kulturellen Räume, der Diskurse und der Subjektivierungsweisen weiter nachzugehen. Diese Anregung haben die Beiträge dieses Bandes aufgenommen. So zeigt sich zunächst im Hinblick auf die kulturellen Praktiken, die ein Forschungsfeld darstellen, dem zu Recht eine wachsende Aufmerksamkeit zukommt,42 dass Zerstreuung in den Dimensionen der Aktivität, der Passivität und der Reflexivität gedacht werden kann. Zu Beginn des Bandes philosophiert Bernd Eßmann über eine kulturelle Praxis, der, eigentlich alltäglich, im Ruhrgebiet doch nur mit einem gewissen Wagemut nachgegangen werden kann: dem „Radfahren in der Stadt“. Dabei betont Eßmann die Differenz zwischen körperlicher Praxis und geistiger Freiheit. Wer mit dem Rad dahingleitet, anstatt unbedingt ein Ziel erreichen zu wollen, hat den Kopf frei, um Blicke und Gedanken schweifen zu lassen. Ohne künstliche Distanz zur unmittelbaren Umwelt erleben Radfahrer ihre Sinne als offene Kanäle, die eine synästhetische Wahrnehmung ermöglichen. Dabei spielen materielle wie semiotische Prozesse gleichermaßen eine Rolle. In der 39  40  41  42 

Foucault, „Archäologie“ (Anm. 4), S. 260. Das zeigt die Arbeit von Harun Maye, Blättern/Zapping. Studien zur Kulturtechnik der Stellenlektüre seit dem 18. Jahrhundert, Zürich: Diaphanes 2019. Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen und Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. Einen frühen Anstoß dazu lieferte Michel de Certeau, Kunst des Handelns (1980), aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988 (= Internationaler Merve Diskurs  140). Vielversprechend erscheint der Ansatz von Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2004), H. 4, S. 282–301.

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körperlichen Erfahrung des Fahrradfahrens konstruieren Radler aktiv das semantische Gewebe der Stadt, während sie sich zugleich darin zerstreuen. Am Beispiel von Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus beschäftigen sich Christof Hamann und Julian Osthues mit drei unterschiedlichen Formen des Reisens um 1800: Neben der ‚klassischen‘ Italienreise in der Kutsche stehen dabei – gewissermaßen in absteigender Reihenfolge – die Wanderung durch Deutschland und angrenzende Regionen sowie der von Jean-Jacques Rousseau in den Rêveries gepflegte Spaziergang im Zentrum des Interesses. Dabei sind Hamann und Osthues insbesondere an Korrelationen zwischen Fortbewegungsart und Schreibweise interessiert. Auch wenn die unterschiedlichen kulturellen Praktiken der Fortbewegung in Seumes Projekt miteinander kombiniert werden, bleibt es, so der Befund, dominant am Paradigma der Selbstfindung orientiert. Dementsprechend lässt sich Seumes literarische Strategie weniger dem digressiven, als vielmehr dem egressiven Erzählen zuschlagen; einer Erzählweise, die sich sanft, harmlos, anschmiegsam und formbar gibt, anstatt die Konfrontation zu suchen, dabei die politische Dimension aber dennoch nicht außer Acht lässt. Ausgehend von einer autobiographischen Szene im Amsterdam des Jahres 1964 entwickelt Helmut Lethen seine (selbst-)ironischen Überlegungen darüber, „Wie das magische Denken in den Kulturwissenschaften die Wiederkehr der Dinge sehr befördert hat“. Grundlegend ist dabei der Befund, dass auch in den Kulturwissenschaften eine mitunter ‚paranoisch‘ wirkende Semiose am Werk ist: „Paranoia ist nicht teuer“, würde Ute Gerhard wohl kalauern. Und tatsächlich ist Lethens „Verdacht“ nicht von der Hand zu weisen, dass Kulturwissenschaftler nämlich nicht eben selten Kontingenz in Kausalität und Koinzidenz in Intentionalität ummünzen. Wenn Lethen sich diesem Denken überlässt und ebenso assoziativ wie digressiv den Gründen dafür nachgeht, weshalb es kein Zufall gewesen sein kann, dass er als Riesman-, Gehlen- und Benjamin-Leser nahezu zeitgleich eine Schallplatte von Strawinskys Petruschka und eine Single der Beatles ersteht, dann führt diese von Kurzschlüssen und Geistesblitzen gespickte Erinnerungsarbeit nicht bloß vom Privaten zum Politischen, sondern hilft auch dabei, die „Aufspaltung der Rebellion in die Lebensstilexperimente der alternativen Szene“ als Zerstreuung einer Massenbewegung zu begreifen. Nicht bloß um Science Fiction, sondern um einen auf unheimliche Weise aktuellen Beitrag zum Lernen in der Zerstreuung, handelt es sich bei Michael Niehaus’ Aufsatz „Die Fernschule“. Am Beispiel der gleichnamigen Erzählung des Futurologen Kurd Laßwitz (1848–1910) sondiert Niehaus die Abgründe und Untiefen der Online-Lehre. Die  1899 imaginierten medientechnologischen Innovationen eines Bildtelefons und einer aus Phonograph und

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Grammophon bestehenden Sender-Empfänger-Einheit bestimmen 2020 den Arbeitsalltag einer binnen kürzester Zeit von Webex-Konferenzen und zoom fatique ausgemergelten Gesellschaft. Ähnlich wie die Erzählungen Laßwitz’ ist Niehaus’ Text seit Einreichung des Typoskripts gleich in doppelter Hinsicht von aktuellen Entwicklungen überholt worden: War es zunächst die Entdeckung, dass ein österreichischer Künstler das von Laßwitz eigentlich erst für das Jahr 2371 in Aussicht gestellte Ododion 2016 längst einer interessierten Öffentlichkeit präsentiert hatte, so ist es im zweiten Fall die völlig unerwartete Universalisierung des Prinzips der ‚Fernuniversität‘, die uns die Relevanz der kulturellen Praxis der Zerstreuung vor Augen führt. Mit Blick auf die Räume der Zerstreuung ist zu beobachten, dass das Prinzip dazu tendiert, Oppositionen zu irritieren bzw. aufzulösen oder gar zum Verschwinden zu bringen. Zwischen ‚außen‘ und ‚innen‘ oder ‚offenen Räume der Exteriorität‘ und ‚geschlossenen Räumen der Innerlichkeit‘ lässt sich unter den Vorzeichen der Zerstreuung nicht mehr unterscheiden. Vielmehr akzentuiert die Zerstreuung Zwischen- und Transiträume, Schwellenräume und Schwellen, Grenzgebiete und Prozesse der Grenzüberschreitung. Das zeigen auch die den Räumen der Zerstreuung gewidmeten Beiträge des vorliegenden Bandes. Die politische Kommunikation unmittelbar vor und nach dem Höhepunkt der später sogenannten „Flüchtlingskrise“ des Jahres  2015 steht im Mittelpunkt des Beitrags von Deniz Bayrak und Sarah Reininghaus. Darin widmen sie sich einer Konstellation aus vier unterschiedlichen, im Regierungsauftrag entstandenen ‚Informationsfilmen‘ aus dem Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge sowie dem Bundesministerium des Innern. Trotz der zum Teil erheblichen Unterschiede in Machart und Haltung zeichnet die Filme ihr geteiltes Interesse aus, das integrierte Flüchtlingsmanagement der BRD als ebenso adäquate wie humane Reaktion auf empirische Prozesse der Zerstreuung zu inszenieren, die durch Flucht und Vertreibung ausgelöst werden. Wie sich zeigt, folgen die Filme dabei dem Prinzip einer doppelten Adressierung, die sich zugleich an (potentielle) Migranten, in erster Linie jedoch an die heimische Bevölkerung zu richten scheint. Das strategische Ziel dieser Kommunikation ist es, der medial vermittelten Erfahrung des ‚Kontrollverlusts‘ sowie der grassierenden Denormalisierungsangst entgegenzuwirken. Dies zeigen Bayrak und Reininghaus an unterschiedlichen Aspekten der Filme auf, wobei deren visuelle Inszenierung, das linguistische Spektrum der Übersetzung in vermeintliche Migrationssprachen, die Darstellung von Individuen und (Flüchtlings-)Massen ebenso eine Rolle spielen wie die hygienischen Maßnahmen oder identifikatorischen Praktiken der biometrischen Fotografie und Daktyloskopie. Orientiert an Marc Augés Theorie der „Nicht-Orte“ sondieren

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Bayrak und Reininghaus dabei vor allem die filmisch inszenierten Räume, die sich als Räume der bürokratischen Verwaltung und des ‚Managements‘ von Migration entpuppen: Behörden und Einrichtungen wie Zwischenlager und Zollstellen, sogenannte ‚Ankunftszentren‘, bei denen es sich zumeist um umgewidmete Kasernen handelt, und Wohnheime, in denen man versucht, die zerstreuten Massen wieder zu konzentrieren. Auch diskursive Praktiken wie die Asylantragsverfahren und die Praxis der Abschiebung sind Teil dieses Dispositivs. In seinem Beitrag zur „Literarisierung der Hotelgesellschaft“ greift Peter Friedrich eine Anregung Ute Gerhards auf, der er zurecht attestiert, eine der ersten gewesen zu sein, die sich daran machte, Michel Foucaults Traum von einer Heterotopologie in wissenschaftliche Praxis zu überführen. Im Sinne jener von Gerhard am Beispiel von Literatur und Kultur der Weimarer Republik entworfenen nomadologisch-heterologischen Raumtheorie analysiert Friedrich in einem ersten Schritt die Hotelexistenz in Romanen und Feuilletons Joseph Roths, um den Blick in einem zweiten Schritt dann auf exemplarische Texte Franz Kafkas und Thomas Manns zu konzentrieren. Dabei erhärtet sich die These, dass sich die Texte Roths dadurch auszeichnen, dass sie Gegenplatzierungen zu den Raumkonzepten des chez soi, also dem nationalen Lebensraum, der Heimat oder dem väterlichen Haus, markieren, indem sie die räumliche Ordnung des Gasthauses ins Transitorische wenden, ohne dabei Aspekte wie Dignität oder Vertrautheit zu opfern. So entwickelt Roth in der Feuilleton-Reihe Hotelwelt zugleich die Idee einer Gemeinschaft in der Zerstreuung und die Existenzweise der „unverwandte[n] Zeitgenossenschaft“. Der Roman Hotel Savoy, strukturell betrachtet selbst ein Hotel im Sinne eines Schwellenraums, der das Nebeneinander und die Simultaneität zu seinen Prinzipien erhebt, löst den transitorischen Raum des Hotels aus den Ordnungs- und Kausalitätszwängen der Zeit. Einen ironischen Kontrapunkt zu Roths Verklärung der transitorischen Hotelwelt bildet die auf Formen der Anonymisierung, Bürokratisierung und Machtausübung abhebende Darstellung des „Hotel Occidental“ in Franz Kafkas Fragment gebliebenem Roman Amerika oder Der Verschollene. Thomas Manns Mario und der Zauberer hingegen dekonstruiert die Heterotopie des Hotels als kosmopolitische Utopie und weist auf den Massenwahn des sich formierenden (italienischen) Faschismus’ voraus. Die plots von Veit Heinichens ‚kulturwissenschaftlichen‘ Proteo-LaurentiKrimis sind in einem Grenzraum situiert: der in der Region Friaul-Julisch Venetien gelegenen Stadt Trieste, einer literarischen Hauptstadt, die Heinichen zufolge stärker von Grenzziehungen gekennzeichnet ist als jede andere europäische Stadt. Im Lauf ihrer gut zweitausendjährigen Geschichte haben

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dort zahllose Kulturen ihre Spuren hinterlassen und Stadt und Region als einen transitorischen Raum der Vermischung und Zerstreuung konstituiert. Wie das von Walter Grünzweig geführte Gespräch mit dem Autor zeigt, bildet dieser multikulturelle Raum auch in ‚materialistischer‘ Hinsicht die eigentliche Basis für Heinichens Kriminalromane, die ihm den willkommenen Anlass dafür bieten, die globalen Verstrickungen von Weltwirtschaft und -politik im Regionalen mit den Mitteln der Literatur zu erforschen. Entsprechend prägt die Politik der Grenze auch Heinichens Poetik. Sein literarisches Projekt funktioniert über Grenzüberschreitungen, über das Wechselspiel von Prozessen der Begrenzung und Entgrenzung. Auf diese Weise öffnet es sich aktualpolitischen wie historischen Dimensionen gleichermaßen. Nach wie vor sind die komplexen Migrationsprozesse dabei ein entscheidender Faktor, führen sie uns doch eindrücklich die Paradoxien der Politik in der Europäischen Union vor Augen. Von Grünzweig nach Strategien im Umgang mit dieser hochnotpeinlichen politischen Lage gefragt, wechselt Heinichen zu den Feldern der Kulinarik und Önologie: Die „Seelenbildung an der Grenze“ erschöpft sich nicht in der Recherche. Sie bedarf auch der Sinnlichkeit – und mitunter eines einfachen Tellers pasta aglio, oglio, peperoncino. Unter Diskursen der Zerstreuung lassen sich Diskurse fassen, die (in sich) zerstreut sind oder die der Zerstreuung dienen. Sie sind unmittelbar mit der allgemeinen Streuung der Aussagen verknüpft, die Wissen und Kultur hervorbringt. Die Auflösung der Ständegesellschaft markiert den Ausgangspunkt der Untersuchung „Die romantische Liebe und ihre Folgen im langen 19. Jahrhundert“ von Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker. In diesem Kontext entstehen „Freiheit“ und „Individualität“ als Leitwerte okzidentaler Gesellschaften. Was in der öffentlichen Sphäre als größere soziale Mobilität, als Vervielfältigung von Lebensentwürfen und als Lohnarbeit oder Unternehmertum beobachtbar wird, bleibt dem Blick im Privaten oft entzogen. Für Becker und Reinhardt-Becker ist dies Anlass genug, um dem Konzept der romantischen Liebe nachzuspüren, das die Freiheit des Individuums auch für die sozialen Beziehungen, das gemeinschaftliche Zusammenleben und die Ehe nicht bloß proklamiert oder literarisch imaginiert, sondern in neuen Lebensformen zu erproben sucht. Wie aber etabliert und pflegt man ebenso freie wie verbindliche (Liebes-)Beziehungen in einer von funktionaler Differenzierung, Modernisierung, Urbanisierung und neuen Subjektivierungsweisen geprägten Welt? Folgt man den aufgrund der engen Kopplung von Liebe und Sexualität nicht selten skandalisierten Schriften der Romantiker, so verspricht die romantische Liebesbeziehung, die Gefahr des modernen Selbstverlusts zu

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heilen, indem sie die geteilte oikonomia mit emphatischer Freundschaft und leidenschaftlichem Begehren verschwistert. Inwiefern damit ein Ideal formuliert wird, das aufgrund seiner eigenen Voraussetzungen genauso oft zum Scheitern verurteilt ist wie aufgrund der Beharrlichkeit des bürgerlichen Familialismus’, bleibt eine herausfordernde Frage; eine Frage allerdings, die der Proliferation des Konzepts der romantischen Liebe keinen Abbruch getan hat. Ein Beitrag fehlt in diesem Band. Es ist derjenige, an dem Karin Bruns bis vor ihrem Tod unter dem Titel „Die Rückkehr der Alphafrauen: Geschlecht, Macht und Geld im Mediendiskurs“ gearbeitet hat. Eine kurze Skizze dieses Projekts über „ein rudimentäres psychologisches Profil, das im Kern durch Machtgebaren und Machtbewusstsein charakterisiert ist[,]“ verdanken wir Barbara Paul. Die anwesende Abwesenheit von Karin Bruns schmerzt und tröstet zugleich.43 Der Empedokles-Stoff aus Diogenes Laertius’ Leben und Meinungen berühmter Philosophen ist Gegenstand von Jürgen Links Analyse der materialistischen Symbolik in Bertolt Brechts Gedicht „Der Schuh des Empedokles“. Wie vor ihm schon Hölderlin greift Brecht aus den überlieferten Fragmenten über den Agrigenter die Legenden von Empedokles’ mysteriösem Verschwinden heraus. Dabei ließe sich die Erzählung vom Verschwinden in der Darstellung des ersten Teils von Brechts Diptychon auch als Erzählung von der Zerstreuung und Transformation eines Diskurses lesen. Schließlich raubt der ‚Aufstieg‘ der Schüler, die ihrem Lehrer auf den Ätna folgen, den liebenden Geliebten die Luft. Auf dem Gipfel jedoch finden sie ihre Stimmen wieder. Und schon kurz nachdem sie das Fehlen der Worte des heimlich verschwundenen Empedokles’ gewahr werden, beginnen die ersten von ihnen damit, nach eigenen Antworten zu suchen, anstatt weiter auf die Unterweisung des Meisters zu warten. Wie Link zeigt, hebt Brecht in seinem Gedicht – anders als Hölderlin, der Empedokles’ mutmaßlichen Sprung in den Schlund des Vulkans in Der Tod des Empedokles als Symbol einer retour à la nature in seinem zwischen Privatem und Politischem changierenden Konnotationsreichtum auffächert – ein skurriles Detail der Überlieferung besonders hervor: den Schuh, den Empedokles in Kraternähe zurücklässt, um seinen Abgang zu kaschieren. Diesem materialistischen Ding, das bei Diogenes Laertius für die bzw. eine „Wahrheit“ steht,44 ist Links Gedichtanalyse ebenso gewidmet wie 43  44 

Vgl. Ute Gerhard und Ernst Schulte-Holtey, „Wir denken an Karin Bruns (1957–2016)“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 72 (2017), S. 5. Vgl. Diogenes Laertius, „Empedokles“, in: ders., Leben und Meinungen berühmter Philosophen, in der Übersetzung von Otto Apelt unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu herausgegeben sowie mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Reich, Hamburg: Felix Meiner  2008, Band  2 (= Philosophische Bibliothek  54), S.  126–138, hier S. 134.

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der Wolke, über die Brecht Basis und Überbau symbolisch miteinander verknüpft: „Langsam, wie Wolken / Sich entfernen am Himmel, unverändert, nur kleiner werdend / Weiter weichend, wenn man nicht hinsieht, entfernter / Wenn man sie wieder sucht, vielleicht schon verwechselt mit andern / So entfernte er sich ihrer Gewohnheit, gewöhnlicherweise.“ Der Befund, dass zentrale Figuren der Theorie von einer (inneren) Verunsicherung, Zerstreuung, Kontingenz und Notwendigkeit zeugen, bildet den Ausgangspunkt von Claas Morgenroths Analyse von Friedrich Maximilian Klingers Sturm und Drang, an dessen Beispiel er das Drama der Kontingenz und Verunsicherung als Drama untersucht. Der Grund für diese Textauswahl besteht darin, dass an diesem nominell ‚epochemachenden‘ Text „die Selbsterschöpfung und […] Kontingenz der literarischen Selbstermächtigung des Individuums vor 1800“ beobachtbar werden. Das veranschaulicht Morgenroth an einer Bestandsaufnahme, die zutage fördert, dass das Drama von Unordnung, Unstimmigkeit und mangelnder Authentizität gekennzeichnet ist, was nicht zuletzt dazu führt, dass die Figuren eher als Typen denn als Charaktere auftreten, also schematisch – mit einem Hang zum Parodistischen – agieren. Daran macht Morgenroth die Modernität von Klingers Sturm und Drang fest: an seiner grundlegenden Ambivalenz, die zwischen euphorischer Selbstüberschätzung und lähmender Verunsicherung schwankt, und sich daher in die Simulation flüchtet. So gesehen scheint der Text auf die postmoderne Lage vorauszuweisen. Doch wie die sozialhistorische Kontextualisierung von Sturm und Drang zeigt, ist auch die Entstehungszeit des Textes von tiefgreifenden Antagonismen geprägt, die – etwa in Gestalt des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges – den Hintergrund für die exzentrische Handlung abgeben. Der Welt im Kriegszustand entspricht die seelische Unausgeglichenheit der Figuren. Zu kompensieren versuchen sie die verlorene Seelenruhe durch Zerstreuung: „Mit ‚Zerstreuung‘ ist […] die raumzeitliche Drift der Körper, Herzen und Seelen gemeint, die Unordnung des Ich, schließlich der Drang, die zerstreute Identität durch weitere Zerstreuungen zu kompensieren.“ Sie ist Ausdruck einer Sehnsucht nach der Abschaffung von Kontingenz und Verunsicherung. Marianne Schuller beschäftigt sich mit dem Korpus der kurzen Prosatexte Robert Walsers, die als Feuilletons über viele Publikationsorte verstreut veröffentlicht wurden und dazu neben dem Kriterium der Kürze auch einen wiedererkennbaren Ton aufweisen mussten, um ihrem Autor zugerechnet werden zu können. Wie Schuller zeigt, lassen sich an den Prosastücken wichtige Verlagerungen nachweisen, die für das Selbstverständnis Walsers als Schreibenden entscheidend gewesen sind: Indem er sich statt als Autor als „Zeitungsschreiber“ und Verfasser von Prosastücken positioniert und indem sich seine Literatur von der Vorstellung verabschiedet, ein ‚Werk‘ hervorbringen

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zu müssen, und stattdessen Texte für den Tagesgebrauch liefert, beginnen ‚Walser‘ und seine Texte, sich zu zerstreuen. Das ‚Ich‘ dieser Texte ist ein fiktives Aussagensubjekt und es produziert ein „mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch“. Mitausschlaggebend für das Schwebende der Walserschen Prosa ist auch das der Sprachstruktur immanente Verfahren der Digression als Performanz des Aufschubs. Es prägt die Walsersche Prosa ebenso wie die zu konstatierenden rhizomatischen Wucherungen, die auf kontingente Ereignisse zurückgeführt werden können, und immer weitere Digressionen, Abweichungen und Abzweigungen, ausbilden: „Das schönste Ziel sind Ziellosigkeiten“, sagt eine Figur in „Salonepisode“ ganz in diesem Sinne. An einer beispielhaften Analyse von „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“ zeigt Marianne Schuller auf, dass sich Walsers Prosa nicht nur den kleinen Dingen, dem Übersehenen, widmet, sondern zugleich auch eine kleine Prosa ist. Im heutigen Sprachgebrauch bezieht sich die Zerstreuung am ehesten auf Subjektivitäten. Dass die Zerstreuung ein ambivalentes Phänomen ist, wird dabei oftmals übersehen. Zu dominant erscheinen die lange gepflegten kulturpessimistischen Topoi der Zerstreuung. Die Beiträge zu Subjektivitäten der Zerstreuung sind nicht so voreingenommen. Sie setzen sich mit deren Faszinationskraft auseinander und eröffnen neue Sichtweisen. Für Subjektivierungsprozesse hält die Praxis des autobiographischen Schreibens traditionell ein wichtiges Format für Erinnerung und Vergegenwärtigung bereit. Die Autobiographie Summe des Lebens von Elise Richter ist aus zweierlei Gründen ein ebenso bemerkens- wie bedenkenswertes Dokument dieser Gattung: Zum einen schildert es die ‚Universitätskarriere‘ der ersten habilitierten Frau im Fach „Romanische Philologie“ in Europa als eine Geschichte des kontinuierlichen Kampfes mit den patriarchalischen Institutionen der höheren Bildung. Zum anderen zeugt es von der Verfolgung jüdischer Wissenschaftlerinnen unter den Vorzeichen des Nationalsozialismus’, der Elise Richter und ihre ältere Schwester Helene zum Opfer gefallen sind. Umso bemerkenswerter erscheint vor diesem Hintergrund, dass die Systematik, die Richter für ihre Autobiographie wählt, ganz andere Kategorien zur Gliederung ihrer persönlichen Bilanz wählt: Es ist die Opposition zwischen ‚Lebensfreude‘ und ‚Lebensleid‘. An ausgewählten Beispielen aus dem Text veranschaulicht und kommentiert Ursula Link-Heer die Liebe Richters zu ihrem Beruf sowie das Spannungsfeld, das sich dabei zwischen dem wissenschaftlichen und dem privaten Leben aufbaut. Dabei lassen Aspekte wie die déformation professionelle, das Verhältnis von Sexualität und Zölibat, die berufliche Ausgrenzung aufgrund von Krankheitszuständen, die monetäre

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Ungleichbehandlung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt sowie die politische Organisation von Frauen in der Wissenschaft die Frage nach der Aktualität der Vita Elise Richters laut werden. Gerade in der „Verschränkung von wissenschaftlicher Persona und überkomplexer Subjektivität“ regt diese Autobiographie zum Nachdenken über das Thema der leidenschaftlichen Zerstreuung in die Wissenschaft an. Auch wenn der literarische Brief als Medium der raum-zeitlichen Grenzüberschreitung und des literarischen Experiments im Laufe der Literaturgeschichte zu einer kanonisierten Kunstform avancierte, verbleibt ein Großteil der Briefkunst im Privaten, wird kaum archiviert, geschweige denn erforscht. Dieser Befund trifft auch auf Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné (1626–1696), zu, jene Épistolière des 17. Jahrhunderts, aus deren weit verstreuter Korrespondenz inzwischen immerhin eine historisch-kritische Edition von Roger Duchêne (La Pléiade, 3 Bände, 1973–1978) vorliegt. Dieses Konvolut unterzieht Annette Runte in ihrem Beitrag „‚Verbriefte Passion‘. Zu Madame de Sévignés epistolärer Zerstreuung“ einer symptomatischen Lektüre und rückt dabei die mütterliche Perspektive ins Zentrum der Betrachtung. Die berühmten Briefe Sévignés an ihre Tochter, die Comtesse de Grignan, zeugen nämlich von einer Schreibweise der Zärtlichkeit, in der sich Mutterliebe bereits vor dem Zeitalter der Empfindsamkeit mitunter in unverhohlener Offenheit äußert. Auslöser dafür ist die als traumatisch erlebte Trennungsszene Sévignés von ihrer einzigen Tochter, die ihrem südfranzösischen Ehemann, von Louis XIV. zum Gouverneur der Provence ernannt, in seine Heimat folgt. Daher soll ein Pakt zwischen Mutter und Tochter einen kontinuierlichen Briefverkehr sicherstellen. Tatsächlich aber ist diese Korrespondenz von Krisen geprägt, die sich im Verlaufe wechselseitiger Kränkungen, ausgelöst durch die auf ihr Liebesobjekt fixierte Mutter, ebenso dramatisch wie komisch ausnehmen. Der kulturpoetische Vergleich dieser frühneuzeitlichen Korrespondenz mit jener vorgängigen der Dames des Roches, die vor dem Hintergrund weiblicher Autorschaft in der französischen Renaissance eine untrennbare MutterTochter-Einheit bildeten, beruht auf der in beiden Korrespondenzen geteilten Applikation des matriarchalischen Mythos von Ceres und Proserpina und illustriert die Differenz zwischen den ungleichen Mutter-Tochter-Paaren. So konstituiert sich Madame de Sévigné, trotz ihrer postumen Aufnahme in den französischen Schulbuch-Kanon, letztlich als eine außenseiterische Nomadin des Grand Siècle, eine nonkonformistische Figur der Grenzüberschreitung, deren abweichendes Begehren, ihre exzessive Mutterliebe, durch die räumliche Trennung im Briefwechsel mit ihrer Tochter einen imaginären ZwischenRaum ambivalenter ‚Textlust‘ generiert.

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Die durch aktuelle Serienproduktionen zu neuer Popularität gelangte Ästhetik des Kinos der Weimarer Republik steht im Mittelpunkt von Ellen Risholms Auseinandersetzung mit Arthur Robisons Stummfilm Schatten. Eine nächtliche Halluzination. Das Forschungsfeld ist durch die immer engere Integration von kulturellen, technologischen und sozialgeschichtlichen Paradigmen gekennzeichnet. Diese Dimensionen verdichten sich nicht zuletzt in der filmischen Hervorbringung und Inszenierung von Räumen, bei denen neben den öffentlichen insbesondere Räume des Privaten zentral sind. Risholm widmet sich ihrem Untersuchungsgegenstand, indem sie zwei bislang zumeist getrennt voneinander untersuchte Perspektiven miteinander verknüpft. Dabei verschränken sich die Fragen nach der filmischen Inszenierung von Technik und der Relevanz von Sigmund Freuds Abhandlung über „Das Unheimliche“ in Risholms eingehender Untersuchung der kinematographischen Mittel, mit denen in Schatten eine unheimliche Privatsphäre hervorgebracht wird. Indem Risholm illustriert, „wie der Film Illusionen durch die schiere materielle Präsenz des kinematographischen Apparates hervorruft“, legt sie zudem eine autoreflexive Dimension des Films frei. Schatten ist deshalb ein geeignetes Beispiel für diese Lesart, weil darin über die Figur eines Schattenspielers, der mit seinen optischen Tricks eine gesellige Herrenrunde um ein adeliges Ehepaar zerstreut, gewissermaßen ein Film im Film inszeniert wird, so dass – mit Luhmann gesprochen – eine Beobachtung zweiter Ordnung möglich wird. Während die ausschließlich psychoanalytisch argumentierende Forschung hier eine Komplizenschaft zwischen der Technik des kinematographischen Apparates und den männlichen Phantasien über Penetration und Kastration nahelegt, die um die Gattin des Hausherrn kreisen, erweist sich die Lage aus Risholms Sicht als komplizierter. Denn der technische Apparat entpuppt sich als unberechenbar und kann selbst von der Figur des Schattenspielers, die zumindest potentiell eine Autorität über die Mittel des Lichtspiels beanspruchen könnte, nicht unter Kontrolle gehalten werden. So ist der Schattenspieler seinerseits in die suggestiven Manipulationen der Illusionsmaschine verstrickt und stets im Bild, also für die Zuschauer jederzeit beobachtbar. Daher kann sich das Spiel der Sinnestäuschungen und Halluzinationen als mise en abyme ungehemmt verselbstständigen. Dies ereignet sich in der Peripherie des Raumes. Dort ‚tanzen‘ die Gespenster des Halbdunkels als bizarre Halbschatten auf den Wänden, Strukturen und Grundfesten eines Heims, das zum Schauplatz einer unheimlichen Zerstreuung wird. Die ‚Nachbemerkung des Übersetzers‘, mit der Martin Stingelin den Beitrag zu Robisons Schatten versieht, den er aus dem amerikanischen Englisch übertragen hat, ergänzt diesen um eine kleine Kulturgeschichte des Schattens

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als Zerstreuung. Sie kontextualisiert einen Aspekt, der sich als blinder Fleck der Forschung zu diesem Stummfilm erwiesen hat: den Umstand, dass die projizierten Schatten in Schatten – anders als suggeriert – eben nicht flackern, sondern bedrohlich an der Wand stehen und den Effekt des Unheimlichen noch intensivieren.

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Wortfindung Frederik „Schlakks“ Schreiber Greif mir die Gedanken und halte sie fest Leite sie durch Schranken und entfalte Geflecht Zeige ihnen den Verstand, wenn sie Bock darauf haben Tunk sie triefend durch den Bauch und es tropft auf den Magen Lass das Herz noch rein, denn es pocht eben gerade Lass sie dann nochmal durch den Kopf gehen und baden Bis es dann schließlich das Wort für Wort gibt Sie machen zusammen ’nen Satz, wenn sie in Form sind Fallen in den Mund und sie drehen eine Runde Ballen sich zum Punkt und ich leg sie auf die Zunge Und sie brennt und sie brennen und sie brennen heiß Und sie kämpft und sie drängen und sie schwemmen Schweiß Und es kitzelt, Tänze auf geschlängtem Seil Doch die Hitze befängt, sie wollen endlich frei Feuchtes Glitzern vermengt, doch sie kämpfen, spei! Sonst ist der Moment schon längst vorbei Und jetzt?

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Radfahren in der Stadt Bernd Eßmann Spricht man übers Radfahren rein unter utilitaristischen Aspekten, hat man eigentlich gar nichts verstanden.1

Es gibt verschiedene Arten Rad zu fahren. Für Einige bedeutet dies den Einsatz von viel körperlicher Energie, um etwa möglichst schnell das Ende der Fahrtstrecke zu erreichen; nach vorne gebeugt, mit eingeschränktem Blickwinkel, fokussiert auf das Ankommen. Es gibt aber auch Andere, die zu gleiten scheinen, ohne offensichtlichen Kraftaufwand. Vielleicht ja, weil deren Art zu fahren mehr Kraft gibt, als sie nimmt. Diese Art des Radfahrens scheint – ich denke, in mehr als nur energetischer Hinsicht – zu bereichern. Hier ist der Zweck nicht nur das Ankommen, sondern vielmehr auch während der Fahrt das Aufnehmen (sowohl im Sinne des Hereinlassens, aber auch des Festhaltens, wie etwa in der Fotografie oder bei Tonaufnahmen). Deswegen sitzen sie meist aufrecht, gelassen, aber aufmerksam; sie schauen nicht nur nach vorne, ein fixes Ziel im Blick, sondern lassen den Blick schweifen, lassen sich inspirieren, kommunizieren mit der Umgebung (still, oder weniger still). Dieses kommunikative Gleiten wird dadurch ermöglicht, dass, im Gegensatz zu fast allen anderen Transportmöglichkeiten, das Radfahren nichts Trennendes hat, wie beispielsweise Fensterscheiben, die hochgekurbelt werden können. Das Radfahren zwingt einen förmlich zur Teilhabe; das kann schlicht die Witterung sein, aber auch die Teilhabe an dem Raum, der durchquert wird. Es geht um die Offenheit, die Bereitschaft der Aufnahme. Beinah unmerklich verknüpft sich der Blick mit den Geräuschen und Geschmäcken. Die Gerüche verschmelzen mit der Welt der Ohren und Augen.2

Das Radfahren ist somit nicht nur ein Ausgleich zum Sitzen und Reflektieren am Schreibtisch, sondern auch eine Ergänzung. Radfahren gehört zu den Praktiken, die für einige „zu alltäglichem Ablauf und unauffälliger Kreativität 1  Steen Nepper Larsen, „Radfahrer werden“, in: Jesús Ilundáin-Agurruza, Michael  W.  Austin und Peter Reichenbach (Hrsg.), Die Philosophie des Radfahrens, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017 (= suhrkamp taschenbuch 4743), S. 45–58, hier S. 48. 2  Ebd., S. 50.

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geworden sind“.3 Dem städtischen Raum werden auf diese Weise ständig neue Bedeutungen zugeschrieben. Meine Identität befindet sich in einem ständigen Prozess des Werdens, zwischen dem Rad, den Erlebnissen und einem Ozean an Interpretationsmöglichkeiten. Radfahren wird zu einem ausgedehnten, den Geist stimulierenden Rendezvous mit und in der Natur [wie auch der Stadt; B.E.], wo uns ein universelles und altersunabhängiges Vergnügen erwartet. Nach einer Radtour ist man bereichert und verwandelt.4

Bezeichnend ist, dass es sich beim Radfahren um eine Alltagspraxis handelt. Es ist ein aktives sich Einschreiben in den Raum, eine Partizipation an der Schaffung des „Textgewebes“ (de Certeau) der Stadt. Es geht nicht um die distanzierte Draufsicht, die teilnahmslose Analyse, sondern das Praktizieren, die Teilhabe ist hier der zentrale Aspekt. „[D]ie Innenstadt ist widersprüchlichen Bewegungen ausgesetzt, die sich jenseits der panoptischen Macht ausgleichen und verbinden“,5 diese widersprüchlichen Bewegungen helfen dem Radfahrenden, Bedeutung zu schaffen, keine statische, in Stein gemeißelte, sondern eine, die in Balance, aber auch in Bewegung ist, und damit das Radfahren spiegelt. Das ist die neue Freiheit, die neue Inspirationsfreiheit, die das Fahrrad ermöglicht. Das Radfahren ist ein Schreiben, ein oft freies oder sogar wildes Schreiben.6

Schaut man sich beispielsweise das lebhafte Treiben an einem Sommerabend in der multikulturellen Nordstadt an und vergleicht dieses mit dem ‚hippen‘ Treiben im nur wenige Radminuten entfernten Kreuzviertel, dann ist in beiden eine große Lebendigkeit zu erkennen, die aber mit durchaus unterschiedlichen Bedeutungen versehen ist. Man wird sich damit auch der Grenzen bewusster, die hier überschritten werden. (Anders als beispielsweise in der U-Bahn, in die man einsteigt, um wenig später – beinahe magisch – an einem ganz anderen Ort wieder aufzutauchen.)

3  Michel de Certeau, „Gehen in der Stadt“, in: ders., Kunst des Handelns. Berlin: Merve 1988 (= Internationaler Merve Diskurs 140), S. 179–208, hier S. 186. 4  Larsen, „Radfahrer werden“ (Anm. 1), S. 47 f. 5  De Certeau, „Gehen in der Stadt“ (Anm. 3), S. 185. 6  Marc Augé, Lob des Fahrrads (2010), aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischof, München: C. H. Beck 2016, S. 64.

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3 Radfahren in der Stadt

Spannungen, die diesen Grenzen in der Stadt oft zugeschrieben werden, können somit auch anders betrachtet werden. Ein Überschreiten dieser Grenzen kann kreative Verbindungen herstellen, kann helfen, „die reale Stadt – die der alltäglichen Nutzungsformen, Austauschprozesse und Begegnungen – neu zu konfigurieren“.7 Es kann die Stadt gerade durch die unmittelbare Erfahrung von heterogenen Eindrücken (wie etwa Bildern oder Geschichten, die aufgeschnappt werden,) auf neue Art wieder spannend machen. Es geht ganz einfach darum, […] die physischen, sozialen und mentalen Barrieren einzureißen, die die Stadt lähmen, und dem schönen Wort ‚Mobilität‘ wieder einen Sinn zu verleihen.8

Das Radfahren hat das Potential, die Stadt erneut in ein Land der Abenteuer zu verwandeln; wie es auch schon für Kinder, die das Radfahren lernen, der Fall ist, so Augé. Radfahren lernen, das verweist auf besondere Augenblicke in der Kindheit und Jugend. Durch das Rad entdeckt jeder ein wenig von seinem Körper, seinen körperlichen Fähigkeiten, und erlebt die damit verbundene Freiheit. Über das Fahrrad sprechen heißt daher für jemanden meiner Generation [ich denke, dies gilt für jede Rad fahrende Generation; B.E.] unvermeidlich auch, Erinnerungen heraufzubeschwören.9

Neben dem kreativen Potential, das im Radfahren angelegt ist, ist hier die Wichtigkeit zu erkennen, diese kulturelle Praxis, die Räume eröffnet und Grenzen überschreitet, auch an die nächsten Generationen weiterzugeben.

7  Ebd., S. 70 f. 8  Ebd., S. 60. 9  Ebd., S. 7.

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„Mit einigen kleinen Umschweifen“. Zum egressiven Erzählen in Seumes Spaziergang nach Syrakus Christof Hamann und Julian Osthues Eine παρεκβασις ist, wie ich wenigstens es auffasse, die Behandlung eines Ereignisses, das jedoch zum Interesse des Falles gehört, in einer außerhalb der natürlichen Abfolge verlaufenden Form. Quintilian, Institutio oratoria

„Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen.“1 Mit diesem Satz beginnt Johann Gottfried Seume seinen Reisebericht Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, den er bereits kurz nach seiner Rückkehr im April 1803 publiziert. Zwischen dem 6. Dezember 1801 und Ende August 1802 legt Seume in 250 Tagen überwiegend zu Fuß und anfangs in Begleitung eines Freundes, des Malers Hans Friedrich Schnorr von Carolsfeld,2 eine Strecke von ungefähr 6000 Kilometer zurück,3 die ihn von Grimma über Dresden, Prag, Wien, Triest, Venedig, Rom und Neapel bis nach Sizilien und von dort über Mailand, Basel und Paris wieder in die Heimat führt. Ziel seiner „Pilgerschaft“ (SP 461) ist das südöstlich auf Sizilien gelegene Syrakus, Geburtsort des griechischen Dichters Theokrit – einer von vielen antiken Autoren, der in Seumes Spaziergang mehrfach erwähnt wird. Seumes Bericht sind zwei, u.  a. poetologischen Überlegungen gewidmete „Vorreden“ vorangestellt. Im Unterschied zu einem Großteil der zeitgenössischen Reiseliteratur habe er, wie es an späterer Stelle heißt, der 1  Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, in: ders., Werke und Briefe in drei Bänden, Band 1, herausgegeben von Jörg Drews, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 155–540, hier S. 165. Nachfolgend zitiert unter der Sigle SP und Seitenzahl. 2  Vgl. Inge Stephan, Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung, Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1973, S. 35. 3  Vgl. Jörg Drews, „Ein Mann verwirklicht seine ‚Lieblingsträumerey‘. Beobachtungen zu Details von Seumes ‚Spaziergang‘ nach Syrakus“, in: Wolfgang Albrecht und Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, Tübingen: Max Niemeyer 1999, S. 200–214, hier S. 202 f.

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Christof Hamann und Julian Osthues

„poetischen Phantasie“ (SP 490) keinen Spielraum gelassen. Vielmehr gebe er „Tatsachen“ (SP 158) wieder: „Faktisch waren die Dinge so, wie ich sie erzähle“ (SP  164). Entgegen Positionen der älteren Forschung, die das Originelle von Seumes Bericht in der „Entdeckung der italienischen Wirklichkeit“ sehen,4 haben aktuellere Studien plausibel die Unzuverlässigkeit des Erzählers und die „beachtliche poetische Qualität“5 des Reiseberichts herausgestellt. An diese anknüpfend, wird Der Spaziergang nach Syrakus von uns nicht als ein durch ‚Autopsie‘6 zu charakterisierender Reisebericht gelesen, sondern als imitatio und aemulatio eines synchronen kulturellen Archivs,7 wobei unser besonderes Interesse Seumes Kombination von drei kulturellen Praktiken der Bewegung um 1800 bzw. ihren gattungstypologischen Diskursmustern gilt. Es sind dies erstens die vornehmlich mit dem Vehikel der Kutsche unternommene Reise nach Italien um der künstlerischen Selbstfindung willen, als dessen Prototyp Goethes Italienische Reise fungiert. Eine zweite Praxis, die weniger auf eine künstlerische Neudefinition als vielmehr auf Kritik an sozialen Missständen abzielt, besteht in der um 1800 zunehmend auch von bürgerlichen Intellektuellen durchgeführten Fußreise in deutschen Ländern oder angrenzenden Regionen 4  Gunter  E.  Grimm, Ursula Breymayer und Walter Erhart, „Mit den Augen eines Außenseiters: Johann Gottfried Seume und die Entdeckung der italienischen Wirklichkeit“, in: dies., „Ein Gefühl von freierem Leben“. Deutsche Dichter in Italien, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990, S. 102–112. 5  Albert Meier, „Polemisches Reisen. Über die Unzuverlässigkeit von Johann Gottfried Seumes Beschreibung seiner Reise durch Italien und Frankreich“, in: Jörg Drews (Hrsg.), Seume: „Der Mann selbst“ und seine „Hyperkritiker“. Vorträge der Colloquien zu Johann Gottfried Seume in Leipzig und Catania  2002, Band  2, Bielefeld: Aisthesis  2006, S.  323–333, hier S.  324; vgl. auch Dirk Sangmeister, „Einzelgänger auf viel befahrenen Straßen. Zu Theorie und Praxis von Fußreisen um 1800 sowie Seumes Erfindung seiner selbst“, in: ders., Seume und einige seiner Zeitgenossen. Beiträge zu Leben und Werk eines eigensinnigen Spätaufklärers, Erfurt und Waltershausen: Ulenspiegel 2010 (= Deutschlands achtzehntes Jahrhundert, Studien 2), S. 113–175; Jörg Drews, „Selbststilisierung, Selbstbetrug oder Leserbetrug? Johann Gottfried Seumes Bericht vom Wendepunkt seiner Italienreise im Jahr 1802“, in: Johannes Cremerius, Wolfram Mauser, Carl Pietzcker und Frederick Wyatt (Hrsg.), Über sich selbst reden. Zur Psychoanalyse autobiographischen Schreibens, Würzburg: Königshausen & Neumann  1991 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psycholanalyse 11), S. 9–24. 6  Vgl. Manfred Pfister, „Autopsie und intertextuelle Spurensuche. Der Reisebericht und seine Vor-Schriften“, in: Gisela Ecker und Susanne Röhl (Hrsg.), In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur, Berlin und Münster: LIT 2006 (= Reiseliteratur und Kulturanthropologie 6), S. 11–30. 7  Zum Begriff des Archivs und seinen Interferenzen zu Intertextualität vgl. ausführlich Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche TextKontext-Theorie, Tübingen: A. Francke 2005 (= KULI. Studien und Texte zur Kulturgeschichte der deutschsprachigen Literatur 1).

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4  „ Mit einigen kleinen Umschweifen “

über einen längeren Zeitraum hinweg, für deren Verschriftlichung u. a. Georg Friedrich Rebmanns Bericht Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands (1793) als repräsentativ gelten kann. Die dritte, vorrangig von bürgerlichen Männern unternommene und u.  a. von Jean-Jacques Rousseau (u.  a. in den Rêveries d’un promeneur solitaire [1782]) reflektierte Praxis des Spaziergangs meint eine spezifisch digressive Form des Gehens. Seume, so unsere These, kombiniert in seinem Spaziergang nach Syrakus die drei kulturellen Praktiken der Fortbewegung auf eine Weise, dass sich seine Reiseschrift – in den Worten von Ute Gerhard – vor allem dem Ordnungsmuster der „Selbstfindung“8 zuordnen lässt. Seume überschreibt die Bildungsreise nach Italien, mit der sich der Reisende zu einem homo aestheticus entwickelt, indem er das darin tradierte kulturelle Wissen sowie dessen Topoi und Symbole imitiert und zugleich parodistisch überbietet: Die Reise in den Süden dient so der Konstituierung eines homo politicus (1.). Als entscheidend für die Organisation des Textes um diese Art der Selbstfindung erweist sich die Reise zu Fuß, die im synchronen Text-Archiv generell mit Kritik an sozialer Ungerechtigkeit verbunden ist (2.). Dieser Selbstfindungsprozess korrespondiert schließlich darüber hinaus nicht mit einer geradlinigen Reisebewegung, sondern er verdankt sich im Gegenteil vielfältigen Um- und Irrwegen. In Bezug auf die Seumes Bericht zugrunde liegende Textstruktur realisiert Der Spaziergang nach Syrakus nicht nur Verfahren der Kontinuität, Linearität und Kausalität, sondern auch Verfahren der Fragmentarisierung und Abschweifung, die auf den ersten Blick das Handlungsmuster politischer Selbstfindung irritieren.9 Dennoch liegt kein digressives, vielmehr ein egressives Erzählen vor: Die Abweichungen bedrohen die Ordnung nicht, sondern ergänzen sie, oder anders formuliert: Statt ein Risiko für das Muster der Selbstfindung darzustellen, sind sie für ihre politische Neuorganisation mitverantwortlich (3.). I

Der Spaziergang nach Syrakus im Kontext zeitgenössischer Italienreisen

Seume rekurriert sowohl zu Beginn als auch gegen Ende von Spaziergang nach Syrakus (vgl. SP 166, 472) auf Goethes erstmals 1783 in Wilhelm Meisters theatralische Sendung publiziertes und damit vor dessen Reise nach Italien 8  Vgl. Ute Gerhard, „Literarische Reisen zwischen Selbstfindung und Selbstentäußerung. Exemplarische Blicke auf Texte von Sterne, Eichendorff und Traven“, in: Der Deutschunterricht, Lesen – Reisen – Schreiben 4 (2003), S. 27–36, hier S. 31. 9  Vgl. ebd., S. 29.

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Christof Hamann und Julian Osthues

(3. September 1786 bis 18. Juni 1788) entstandenes Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“.10 Das von Mignon gesungene „Liedchen“11 avancierte zum Prototyp „einer poetisch verdichteten, romantischen Italiensehnsucht“,12 obwohl es „in seinem Dreischritt vom touristischen Postkartenmotiv über die Palladio-Architektur zur bedrohlichen Drachenhöhlenwelt ein eher zwiespältiges Italienbild“ entwirft.13 Seumes zweifacher intertextueller Verweis ruft gemeinsam mit der Alliteration „wärmste[ ] Wünsche“ (SP 166) und dem Synonym für Italien, „Hesperien“ (SP 472),14 das Paradigma eines arkadischen Südens auf, dem sich äquivalente Lexeme wie z.  B. ‚ewiger Frühling‘, Idylle, Harmonie, Schönheit und Sinnlichkeit (auch Leidenschaft)15 zuordnen lassen. Johann Joachim Winckelmanns Plädoyer für den Vorrang antiker Kunst etwa basiert auf klimatheoretischen Prämissen, denen zufolge das gemäßigte südliche (hier: das griechische) Klima die Körperbildung ebenso wie die künstlerische Produktion positiv beeinflusst.16 Unter „Nordische[m] Himmel“17

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Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Band 9, herausgegeben von Wilhelm Voßkamp, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 1–354, hier S. 181. Ebd. Rolf Selbmann, „Noch einmal und immer wieder. Ein erneuter Versuch zu den Liedern in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Walter Hettche und ders. (Hrsg.), Goethe und die Musik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 51–66, hier S. 51. Ebd., S. 52. Die mythologische Geschichte Hesperiens oder der Hesperiden interferiert mit der der u. a. in Goethes Mignon-Lied aufgerufenen ‚Goldfrüchte‘ oder ‚goldenen Äpfel‘, d. h. der Orangen, die dort wuchsen. Obwohl die Früchte, „deren Genuß ewige Jugend versprach“ (Dieter Richter, Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung, Berlin: Wagenbach 2009, S. 110), von drei Hesperiden gehütet wurden, konnte Herakles sie rauben. „Eine gelehrte Legende […] spinnt dazu den alten Mythos weiter: Sie erzählt, daß die drei Hesperiden, aus Verdruß über die Schändung ihres Gartens durch Herakles ihre Heimat verlassen hätten und mit drei kleinen Orangen-Pflänzchen nach Italien geflüchtet seien“ (ebd.). Hesperien wird so zum „hymnischen Epithteton für das gelobte Land Italien“ (ebd.). Vgl. ebd., S. 131–137. Vgl. Lucas Marco Gisi, Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert, Berlin und New York: Walter de Gruyter  2007 (= Spectrum Literaturwissenschaft 11), S. 93. Johann Joachim Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“, in: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, herausgegeben von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1991 (= Bibliothek der Kunstliteratur 2), S. 11–50, hier S. 13. Vgl. zu Winckelmanns Konzept von Nord und Süd Richter, Der Süden (Anm. 14), S. 131–133.

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4  „ Mit einigen kleinen Umschweifen “

hingegen herrschen, wie nicht nur Tacitus in seiner Germania betonte, Kälte und Gefühllosigkeit vor.18 Seumes Reisebericht, Goethes Mignon-Lied und unzählige weitere Texte sind Bestandteile eines Archivs, in dem ein bestimmtes kulturelles Wissen (z. B. von Routen nach und durch Italien, von Sehenswürdigkeiten etc.) ebenso wie spezifische Topoi und Symbole von Italienreiseliteratur versammelt sind. Dieses Archiv geht erstens über markierte Intertextualität hinaus, wenn in Spaziergang nach Syrakus durchaus auch – wie im Falle von Goethe – Namen von Autoren und Werken genannt werden. Zweitens ist es selbstverständlich keineswegs auf deutschsprachige Texte beschränkt, sondern umfasst ebenso z.  B. auf englisch verfasste Reiseberichte (z.  B. Patrick  Brydones Reise durch Sizilien und Malta in Briefen an William Beckford zu Sommerly in Suffolk [1777; vgl. SP 490]). Drittens schließlich enthält das Archiv auch Texte, die lange vor Spaziergang nach Syrakus publiziert wurden. Zu ihnen gehören antike Literatur wie z.  B. Oden von Ovid und Idyllen von Theokrit, aber auch Texte antiker Geschichtsschreiber wie z. B. von Thukydides und Lucian. Darüber hinaus bewegt sich Seumes Text in den Spuren historischer Vorfahr(t)en, die bis zu den mittelalterlichen Pilgerreisen ab dem 13. Jahrhundert zurückreichen,19 und ihre Fortsetzung ab dem 16. Jahrhundert mit den die Erziehung beschließenden, oft aber um des Vergnügens willen unternommenen Kavalierstouren junger Adliger und später junger wohlhabender Bürgerlicher20 sowie ab dem frühen 18. Jahrhundert mit den enzyklopädischen Bildungsreisenden etwa eines

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Richter, Der Süden (Anm. 14), S. 16–20. Richter macht aber auch auf Transformationen des negativen Bilds des Nordens aufmerksam (vgl. ebd., S. 19 f.). Vgl. Johann-Günther König, Zu Fuß. Eine Geschichte des Gehens, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2013, S. 108–119. Dass abgesehen von dem Grund, Seelenheil zu erlangen, auch andere eine Rolle spielen, erörtert Justin Stagl (Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens  1550–1800, Wien, Köln und Weimar: Böhlau 2002, S.  71). Hanns-Josef Ortheil zeigt, inwiefern es sich bei einem Pilger um einen Reisenden handelt, „für den sich die scheinbare Fremde immer wieder in etwas (durch lange, wiederholte Lektüren klassischer Texte) Vertrautes und Bekanntes verwandelt.“ Hanns-Josef Ortheil, „Schreiben und Reisen. Wie Schriftsteller vom Unterwegs-Sein erzählen“, in: Burkhard Moenninghoff, Wiebke von Bernstorff und Toni Tholen (Hrsg.), Literatur und Reise, Hildesheim: Hildesheimer Universitätsschriften 2013 (= Hildesheimer Universitätsschriften 28), S. 7–31, hier S. 18. Vgl. Hilde de Ridder-Symoens, „Die Kavalierstour im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Peter J. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1989 (= suhrkamp taschenbuch materialien 2097), S. 197–223; Winfried Siebers, „Ungleiche Lehrfahrten. Kavaliere und Gelehrte“, in: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer und Gottfried Korff (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München: C. H. Beck, S. 47–57, hier S. 48.

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Johann Caspar Goethes finden.21 Allein durch das seit dem Ende des 17. Jahrhunderts mehr und mehr üblich gewordene Reisen mit der (Post-)Kutsche sind Routen und Haltestationen, auch bei den Fahrten nach Italien, vorgegeben.22 Anstelle des kaum vorhandenen speziellen Kartenmaterials dienen Reiseberichte und -handbücher, sogenannte ‚Apodemiken‘, der Orientierung,23 was ebenfalls dazu führt, in vorgegebenen Bahnen zu reisen. Bereits lange vor Seumes Reise etablierte sich dieses Land somit als ‚Mnemotop‘,24 zu dessen Bestandteilen bestimmte Landschaften wie z. B. Regionen des Apennins und Städte wie Venedig, Florenz und Rom, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auch Neapel und Orte auf Sizilien (z.  B. Palermo, Syrakus) zählen. Aufgrund der „feste[n] Reiseroute mit stabilen Wegmarken“ gewinnen Italien-Texte wie diejenigen Seumes „eine redundante Struktur […], die wiederum innerhalb der Texte reflektiert wird, so daß die jeweiligen Wahrnehmungen von Natur und Kultur immer schon mit intertextuellen Erinnerungen verbunden sind.“25 Einen wichtigen Kontext bilden neben „Kennst du das Land“ eine Reihe anderer Texte Goethes, allgemeiner, dessen weitere prototypische Über- und Fortschreibungen des Topos Italien. Zwar erlebt Seume die Veröffentlichung der Italienischen Reise, mit der der Süden endgültig zum „Magnetpol der deutschen Literatur“26 avanciert, nicht mehr mit – er stirbt 1810, während der erste Teil erst im Herbst  1816, der zweite im Herbst  1817, und der dritte und letzte Teil (Zweiter Römischer Aufenthalt) im Herbst  1829 erschienen. Die Publikation u.  a. von Der römische Karneval (1789), von Auszüge aus einem Reisejournal (1788), von Rosaliens Heiligtum (1788), von Christus und die zwölf 21  22 

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Zum auf Italienisch verfassten enzyklopädischen Reisebericht, Viaggio per l’Italia, von Goethes Vater vgl. Albert Meier, „Nachwort“, in: Johann Caspar Goethe, Reise durch Italien im Jahre 1740, München: C. H. Beck 31988, S. 487–500. Vgl. Klaus Laermann, „Raumerfahrung und Erfahrungsraum. Einige Überlegungen zu Reiseberichten aus Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Hans Joachim Piechotta (Hrsg.), Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976 (= edition suhrkamp 766), S. 57–97, hier S. 72 f. Vgl. Sangmeister „Einzelgänger auf viel befahrenen Straßen“ (Anm. 5), S. 132 f. Das Konzept des Mnemotops, das Raum- und Gedächtnis- und Erinnerungstheorie verknüpft, hat Nicolas Pethes in Anlehnung an Jan Assmann für literaturwissenschaftliche Perspektiven konkretisiert: „Als Mnemotope bezeichnet man Landschaften oder Stadträume, die entweder als ganze oder hinsichtlich einzelner Bestandteile den identitätsstiftenden Vergangenheitsbezug einer Gruppe oder Kultur sichtbar machen bzw. zu etablieren und aufrechtzuerhalten helfen.“ Nicolas Pethes, „Mnemotop“, in: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin und Boston: Walter de Gruyter  2015 (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie  3), S.  196–204, hier S. 196. Ebd., S. 199. Jan Röhnert, Nord liegt so nah wie West. Kleine Poetik der Himmelsrichtungen, Göttingen: Wallstein 2014 (= Kleine Schriften zur literarischen Ästhetik und Hermeneutik 3), S. 28.

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Apostel (1789), von den Römischen Elegien (1795) oder Venezianischen Epigrammen (1796) sowie von Winckelmann und sein Jahrhundert (1805) jedoch fiel in die Lebenszeit Seumes. Auch wenn Seume keinen dieser Texte wörtlich zitiert oder explizit auf sie anspielt, vielleicht auch nicht jeden von ihnen gelesen hat, so lässt sich sein Reisebericht doch auch als Auseinandersetzung mit dem darin artikulierten Italien- bzw. Kunst- und (Selbst-)Bildungskonzept Goethes lesen. Goethes Gedichte, Berichte und Abhandlungen über Italien überbieten die Vorgängertexte vor allem insofern, als dass sie die Betrachtung antiker Kunst mit Identitätsbildungskonzepten kombinieren und auf die Weise die Tradition der enzyklopädischen Bildungsreise in Richtung des Projekts „einer vollkommenen Erneuerung der eigenen Person“27 sowie der eigenen Kunst fortschreiben. Aus dem umfangreichen Archiv, das für diese rite de passage konstitutiv ist, möchten wir zwei produktive Lektüren etwas genauer betrachten. Zum einen werden antike Schriftsteller wie z. B. in den Römischen Elegien das „Triumvirn“28 Properz, Tibull und Catull oder am Ende der Italienischen Reise Ovid rezipiert.29 Dabei werden unterschiedliche, für die römischen Autoren relevante Motive wie Exil und Liebe bzw. Erotik aktualisiert. Das geschieht einerseits, indem entsprechend dem spielerischen Umgang mit der Biographie in den Liebeselegien z. B. eines Properz oder den Gedichten aus der Verbannung eines Ovids die eigene Biographie literarisch inszeniert wird, und andererseits, indem eine poetologische Lyrik entwickelt wird, in der Verfahren der römischen Literatur, etwa die Zyklenstruktur30 und die elegische Form, als Maßstab dienen. Bereits die erste Römische Elegie offenbart ein lyrisches Ich, das nicht nach Rom gekommen ist, um einzelne touristische

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Sigrid Weigel, „Der Ort als Schauplatz des Gedächtnisses. Zur Kritik der ‚Lieux de mémoire‘ mit einem Ortstermin bei Goethe und Heine“, in: Georg Bollenbeck, Jochen Golz, Michael Knoche und Ulrike Steierwald (Hrsg.), Weimar – Archäologie eines Ortes, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 2001, S. 9–22, hier S. 9. Johann Wolfgang Goethe, „Fünfte Elegie“, in: ders., Gedichte  1756–1799, herausgegeben von Karl Eibl, Berlin: Deutscher Klassiker Verlag  2010 (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 44), S. 405–407, hier S. 407. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise, herausgegeben von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz, Berlin: Deutscher Klassiker Verlag 2011 (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 48), Band 1, S. 596 f. Vgl. Reiner Wild, „Italienische Reise“, in: Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto und Peter Schmidt (Hrsg.), Goethe Handbuch in vier Bänden, Band 3, herausgegeben von Bernd Witte und Peter Schmidt, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler 1997, S. 331–369, hier S. 354. Vgl. Wulf Segebrecht, „Klassik“, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 202–227, hier S. 206.

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Sehenswürdigkeiten wie „Paläst und Kirchen, Ruinen und Säulen“31 zu protokollieren, sondern sich nach literarischer Produktivität sehnt. Realisiert werden soll dieser Wunsch über das „Initiationserlebnis“32 sinnlicher Liebe: „O! wer flüstert mir zu, an welchem Fenster erblick ich / Einst das holde Geschöpf, das mich versengt und erquickt?“33 Diese besitzt die Funktion, die Trennung von Antike und Gegenwart zu überwinden: „Die konkrete Liebe zu einer Römerin führt in ‚Amors Tempel‘; da Amor aber ein Gott der Alten ist, so suggeriert es der implizite Dreischritt der ersten Elegie, wird durch diese Liebe zugleich die Antike lebendig.“34 Wie sehr das „holde Geschöpf“ und die mit ihr bewirkte Verlebendigung der Antike eine „Neudefinition künstlerischer Identität“35 ermöglichen, zeigt sich vor allem in der fünften Elegie. „Froh empfind’ ich mich nun auf klassischem Boden begeistert“, heißt es zu Beginn dieses Gedichts, „Lauter und reizender spricht Vorwelt und Mitwelt zu mir.“36 Der „Kontakt zu antiker Kunst und Kunstanschauung der Alten“ und die „gleichzeitige liebevoll-sinnlich-lebendige Anschauung“ gehen über zur „produktiven Anwendung der eben erlernten Ästhetik.“37 Die Römischen Elegien können somit als imitatio römischer Poesie und zugleich als deren aemulatio charakterisiert werden, sie führen gleichsam die Genese einer neuen „ästhetischen Konzeption“ vor.38 Mehr noch als durch die Rezeption der „Werke der Alten“39 erfolgt eine ‚Neudefinition künstlerischer Identität‘ durch den Rekurs auf die Schriften Winckelmanns. In Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) sowie in Geschichte der Kunst des Altertums (1764) wird an die Stelle der in den enzyklopädischen Bildungsreisen praktizierten möglichst vollständigen Erfassung der Sehenswürdigkeiten Roms eine auf der Betrachtung der dort vorhandenen Altertümern basierende 31  32  33  34  35 

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Johann Wolfgang Goethe, „Erste Elegie“, in: ders., Gedichte  1756–1799, herausgegeben von Karl Eibl, Berlin: Deutscher Klassiker Verlag  2010 (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 44), S. 393. Jörg Schuster, Poetologie der Distanz. Die ‚klassische‘ deutsche Elegie 1750–1800, Freiburg i. Br.: Rombach 2002 (= Rombach Wissenschaften, Reihe Cultura 25), S. 198. Goethe, „Erste Elegie“ (Anm. 31), S. 393. Schuster, Poetologie der Distanz (Anm. 32), S. 199. Benedikt Jeßing, „Sinnlichkeit und klassische Ästhetik. Zur Konstituierung eines poetischen Programms“, in: Bernd Witte (Hrsg.), Gedichte von Johann Wolfgang Goethe, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1998 (= Reclams Universal-Bibliothek  18519), S.  129–148, hier S. 142. Goethe, „Fünfte Elegie“ (Anm. 28), S. 405. Jeßing, „Sinnlichkeit und klassische Ästhetik“ (Anm. 35), S. 144. Ebd., S. 145. Goethe, „Fünfte Elegie“ (Anm. 28), S. 405.

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Ästhetik gesetzt.40 Winckelmann plädiert in diesen Schriften für eine „Nachahmung“ antiker Kunstproduktion, deren Signum darin besteht, im Rekurs auf ein geistiges „Urbild“ wahre schöne Natur zu schaffen, und die auf das Ziel hinausläuft, „unnachahmlich“ zu werden.41 Die nur auf den ersten Blick paradoxe Formulierung einer ‚unnachahmlichen Nachahmung‘ macht deutlich, wie sehr sich Winckelmann der Historizität des Vergangenen bewusst ist,42 sich seine Ästhetik also keineswegs im bloßen Kopieren der Alten, in der imitatio von Äußerlichkeiten oder Einzelheiten erschöpft.43 Zu den Charakteristika einer „im Verstande entworfene[n] geistige[n] Natur“44 der Schönheit zählen bekanntlich die „Einfalt“ bzw. Einheit in der „Mannigfaltigkeit“, „Stille“, „innere Größe“, „Ruhe“ und „Harmonie“, also Qualitäten, die für Goethes nach-italienisches, klassisches Kunstverständnis maßgeblich sind und auf die er auch bei Beschreibungen neuerer Kunst zurückgreift, u.  a. in der von Apostel-Fresken auf Pfeilern der Abtei alle Tre Fontane, die im „Zweiten Römischen Aufenthalt“ abgedruckt ist, zuvor aber bereits im Teutschen Merkur publiziert wurde.45 An der Apostelbeschreibung lässt sich, wie Ernst Osterkamp gezeigt hat, nachvollziehen, wie Goethe in Italien mit Hilfe von Winckelmanns Schriften eine neue Ästhetik entwickelt, in deren Zentrum die „Formel von der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘“46 steht. Das mit dieser römischen Ästhetik korrespondierende Programm der 40  41  42 

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Vgl. Benedikt Jeßing, „Das Rom-Bild in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: Der Deutschunterricht LI (1999), H. 2, S. 16–27, hier S. 16–18. Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung“ (Anm.  17), S.  14 f. Vgl. Christian Begemann, „Der steinerne Leib der Frau. Ein Phantasma in der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts“, in: Aurora 59 (1999), S. 135–159, hier S. 136. Vgl. Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, herausgegeben von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 40), S. 24. Vgl. Barbara Bauer, „Aemulatio“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 1, Tübingen: Max Niemeyer 1992, Sp. 141–187, hier Sp. 144 f.; Gert Ueding, „Von der Rhetorik zur Ästhetik. Winckelmanns Begriff des Schönen“, in: ders.: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung, Tübingen: Max Niemeyer 1992, S. 139–154. Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung“ (Anm. 17), S. 20. Vgl. Goethe, Italienische Reise (Anm.  29), S.  480–484; der Artikel aus dem Teutschen Merkur ist ebenfalls in dieser Ausgabe zu lesen (ebd., S.  910–915). Ernst Osterkamp zeigt ausführlich, wie sich Goethe gerade mit dieser Beschreibung als gelehriger Schüler Winckelmanns erweist (vgl. Ernst Osterkamp, „Bedeutende Falten. Goethes Winckelmann-Rezeption am Beispiel von Marcantoni Raimondis Apostelzyklus“, in: Thomas  W.  Gaehtgens (Hrsg.), Johann Joachim Winckelmann  1717–1768, Hamburg: Felix Meiner 1986 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 7), S. 265–288, hier S. 278). Ebd., S. 282.

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‚Wiedergeburt‘ als Künstler in Rom, die in seinen Briefen ebenso wie in der Italienischen Reise leitmotivisch aktualisiert wird, erinnert von daher nur vordergründig an den gleichnamigen Topos christlicher Pilgerreisen.47 Durch die Interferenzen mit der Ästhetik Winckelmanns, der selbst „das Motiv von ‚Wiedergeburt und neuem Leben‘ auf Rom und auf seine neue Sicht der Antike bezogen“ hat,48 avanciert der Reisende zu einem „homo aestheticus“,49 der über das Studium der Antike zu sich selbst findet. Wie die Zeitreise mit der „allegorischen Bedeutung der Lebensreise“50 überblendet wird, hat Goethes Reisebegleiter in Rom, Karl Philipp Moritz, in Ueber den Werth des Studiums der Alterthümer mit Hilfe des Symbols des Spiegels wie folgt veranschaulicht: „Rufen wir nun vor unsre Einbildungskraft ein Volk wieder ins Leben hervor, das einmal alles war, was der Mensch durch vereinigte Kräfte seyn kann, so blicken wir dadurch in einen Spiegel, der unser eignes Bild weit vollständiger und wahrer, als unsre Zeitgenossenschaft, uns entgegenwirft.“51 Seume partizipiert an einem durch Goethe und Winckelmann präformierten „Erinnerungsraum“ einerseits,52 weil er wie diese in den Spuren antiker Autoren reist, andererseits aufgrund der von ihm gewählten Route, die weitgehend der des „klassische[n] Besichtigungsprogramm[s]“53 entspricht und ihn zu u. a. in Venedig, Florenz, Neapel, Sizilien und insbesondere in Rom ausgestellter (antiker) Kunst und Architektur führt. Wenn der altphilologisch

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Vgl. Philipp Mehne, Bildung versus Self-Reliance? Selbstkultur bei Goethe und Emerson, Würzburg: Königshausen & Neumann  2008 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft  605), S. 35. Vgl. Wild, „Italienische Reise“ (Anm.  29), S.  353. Vgl. z.  B. den  Brief Winckelmanns an Friedrich Wilhelm Marpurg (Johann Joachim Winckelmann, Briefe, in Verbindung mit Hans Diepolder herausgegeben von Walter Rehm, Band  2, Berlin: Walter de Gruyter  1954, S. 274–277, hier S. 275). Günter Oesterle, „Elegie der schönen Jugend. Der klassizistische Traum von Italien“, in: Günter Oesterle, Bernd Roeck und Christine Tauber (Hrsg.), Italien in Aneignung und Widerspruch, Tübingen: Max Niemeyer  1996 (= Reihe der Villa Vigoni  10), S.  15–21, hier S. 16. Weigel, „Der Ort als Schauplatz des Gedächtnisses“ (Anm. 27), S. 9. Karl Philipp Moritz, „ΑΝΘΟΥΣΑ oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit. Die heiligen Gebräuche der Römer“, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe, herausgegeben von Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann und Christof Wingertszahn, Band  4/1, Tübingen: Max Niemeyer  2005, S.  7–258, hier S. 18. Pethes, „Mnemotop“ (Anm. 24), S. 199. Vgl. Linda Maria Pütter, Reisen durchs Museum. Bildungserlebnisse deutscher Schriftsteller in Italien (1770–1830), Hildesheim, Zürich und New York: Georg Olms  1998 (= Germanistische Texte und Studien 60), S. 224.

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geschulte54 Seume gegenüber einem italienischen Beamten als Grund seiner Reise nach Syrakus nennt, er wolle „den Theokrit dort studieren“ (SP 196), so bewegt er sich damit durchaus in den Spuren vorheriger Sizilienreisender. Der in Goethes Italienischer Reise gewürdigte55 Johann Hermann von Riedesel etwa reklamiert im „erste[n] deutsche[n] Sizilienreisebericht im 18. Jahrhundert überhaupt“,56 Reise durch Sizilien und Großgriechenland (1771), zwar das Verfahren der Autopsie für sich,57 doch die von ihm geschilderte Landschaft ähnelt der in Theokrits Idyllen – eine Ähnlichkeit, die Riedesel selbst konstatiert: In der Viehzucht findet man den Theocrit und viele Beschreibungen desselben; […] die Hirten singen noch mit einander um die Wette und stellen einen Stab oder Tasche zum Preiß aus; das gelinde und glückliche Clima erlaubt denselben, das ganze Jahr auf dem Felde zu wohnen.58

Bei Seume allerdings wird das Vorhaben der Theokrit-Lektüre bereits im Vorfeld relativiert. Denn der eigentliche Grund der Reise, den er aber dem Beamten verschweigt, bestehe darin, „daß ich bloß spazierengehen wollte, um mir das Zwerchfell auseinanderzuwandeln, das ich mir über dem Druck von Klopstocks Oden etwas zusammengesessen hatte“ (SP 196). Die zuerst genannte banale Wahrheit stellt die später geäußerte anspruchsvolle bloß, mit der Konsequenz, dass Seume nicht allein sein eigenes Vorhaben, sondern implizit die KlassikerVerweise zuvor publizierter Reiseberichte ironisiert. Das Verfahren der Satire findet auch später, während des Sizilien-Aufenthalts, Anwendung, als Seume vorgibt, Theokrits elfte Idylle nur deshalb zu übersetzen, weil er seine Stiefel 54  55 

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Vgl. Jörg Drews, „Nachwort“, in: Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jörg Drews, Frankfurt am Main: Insel 2001 (= Insel Taschenbuch 3483), S. 443–454, hier S. 444. „Ich genoß des herrlichsten Morgens am Fenster, meinen geheimen, stillen, aber nicht stummen Freund an der Seite. Aus frommer Scheu habe ich bisher den Namen nicht genannt des Mentors, auf den ich von Zeit zu Zeit hinblicke und hinhorche; es ist der treffliche von Riedesel, dessen Büchlein ich wie ein Brevier oder Talisman am Busen trage“ (Goethe, Italienische Reise (Anm. 29), S. 297). Ernst Osterkamp, „Johann Hermann von Riedesels Sizilienreise. Die Winckelmannsche Perspektive und ihre Folgen“, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.), Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1992 (= Neue Bremer Beiträge 7), S. 93–106, hier S. 94. Vgl. ebd., S. 99. Johann Hermann von Riedesels Reise durch Sizilien und Großgriechenland, mit einer Einführung und Anmerkungen herausgegeben von Arthur Schulz, Berlin: Akademie Verlag  1965, S.  74; vgl. Ernst Osterkamp, „Johann Hermann von Riedesels Sizilienreise“ (Anm. 56), S. 102 f.

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besohlen lassen musste und „barfuß nicht wohl ausgehen kann“ (SP  380). Doch der anschließende Abdruck der Übersetzung (vgl. SP 318–322) kann zumindest als Indiz dafür gelten, dass Seume die Auseinandersetzung mit dem Idyllendichter zumindest auch als produktiven Wettstreit etwa unter den daktylischen Hexameter beherrschenden Spezialisten inszeniert. Insgesamt jedoch, das belegen u. a. die ‚schulmeisterlichen‘ (vgl. SP 415) Korrekturen an Virgils Georgika (vgl. ebd.) oder an Horaz’ Oden (vgl. SP 284), beurteilt Seume literarische Texte eher kritisch, da sie, wie mancher zeitgenössische Reisebericht auch, der „poetischen Phantasie zu viel Spielraum“ (SP  490) lassen. Den Literaten gegenüber kann er sich als „gewissenhaft[er]“ (ebd.) Berichterstatter profilieren, der nichts als die Wahrheit erzählt. Dieses in Spaziergang nach Syrakus rekurrente Wahrheitspostulat (vgl. SP  163, 490) gehört zu den wichtigen historiografischen Topoi, die erstmals bei klassischen griechischen und römischen Geschichtsschreibern, u.  a. bei Thukydides und Titus Livius, erklärtermaßen Seumes „Lieblinge“ (SP  246), Verwendung finden.59 Bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt der Reise werden denn auch nicht die Werke eines Literaten, sondern die noch vorhandenen Schriften Livius’ zum eigentlichen Vorbild erkoren: Das „Schätzbarste“ (SP  247) davon ist Seumes Überzeugung nach der Zensur zum Opfer gefallen, weil der Autor darin als „erklärter Feind der Despotie […] die Tyrannei der Cäsarischen Familie insbesondere mit sehr grellen Farben gezeichnet“ (SP 246) hätte und ein Großteil des Werks deshalb für die Nachwelt verloren gegangen sei. Mit „Livius im Kopfe“ zieht Seume „in das klassische Land hinein“ (SP 245), d. h. die eigenen Beobachtungen und Urteile wollen eher an dessen Werk gemessen werden als an dem der Dichter.60 Die rhetorische Strategie der aemulatio findet sich also auch bei Seume, allerdings verschiebt sich die Bewunderung ebenso wie der Wettstreit verstärkt auf einen Klassiker, der sich den Ansprüchen des Nachfolgers – wahrheitsgemäß über Tyrannei und daraus resultierende soziale Ungerechtigkeit zu berichten – als kompatibel erweist. Ebenso wie mit den intertextuellen Verweisen auf antike Autoren ein Transfer von Fantasie hin zu ‚Wahrheit‘ und, damit einhergehend, zu Kritik an sozialer Ungerechtigkeit angekündigt wird, resultiert aus der Auseinandersetzung 59  60 

Vgl. Beat Näf, Antike Geschichtsschreibung. Form – Leistung – Wirkung, Stuttgart: W. Kohlhammer 2010 (= Urban Akademie), S. 145–147. Vgl. Pütter, Reisen durchs Museum (Anm. 53), S. 238: „Daß Seume hier identifikatorisch liest, daß auch er angetreten sein will, unbequeme Wahrheiten über soziale Mißstände und Fehlentwicklungen auszusprechen, zeigt sich an den Parallelen, die er zwischen Antike und Jetztzeit erkennt. Die Vorstellung, welche Rezeption Livius als Gegenwartsautor erführe, unterstreicht nicht nur die Aktualität des Klassikers, sondern auch den Wahrheitsanspruch des loyalen Schriftstellerkollegen aus dem 18. Jahrhundert.“

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mit antiker Kunst und Architektur, wenn sie denn erfolgt, vorrangig eine Verschiebung von ästhetischen hin zu politischen Belangen. Nur auf den ersten Blick spielt dabei der für die Antikerezeption Goethes so relevante Winckelmann keine Rolle. In Spaziergang nach Syrakus wird er explizit nur während Seumes Aufenthalts in Triest erwähnt, von seiner Ermordung ist die Rede und davon, dass sein Grab nicht aufzufinden sei (vgl. SP  226f.). Dass Seume mit Winckelmanns Schriften dennoch vertraut ist, implizieren nicht allein unmarkierte Zitate aus dessen Schriften, wie z.  B. „stille Größe“ (SP  453), oder eine, wenn auch, wie zu sehen sein wird, Winckelmann parodierende Beschreibung des Laokoon und des Apoll von Belvedere, sondern auch seine enthusiastische Betrachtung von Antonio Canovas Statue der Hebe in Venedig. Die Ekphrasis des „marmonen Mädchen[s]“ (SP 241) ruft nicht nur das auch von Winckelmann rezipierte Pygmalion-Motiv auf,61 sie erfolgt zudem in Worten – „reinste Schönheit“, „des Ganzen würdig“ (ebd.) –, die an dessen Kunstkonzept erinnern. Doch während Goethe eher in einem bewundernden Wettstreit mit Winckelmann steht, so Seume in einem eher diffamierenden, für den vor allem zwei rekurrente Strategien verantwortlich sind: Entweder halten den Fußgänger mal ein nebensächlicher Umstand, mal ein Zufall und mal eine bewusste Entscheidung62 von der Besichtigung ab oder aber er beschreibt Kunst und Architektur auf eine Weise, die teils implizit, teils unverhohlen explizit eine kritische Differenz zu Winckelmanns bzw. Goethes Rezeption markiert. Beide Strategien werden bereits bei Seumes Ausführungen über Dresden ersichtlich, der Stadt, die Winckelmann zu Beginn von Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst als das „Athen für Künstler“ gewürdigt hat, weil dank des Kurfürsten August III. (1696–1763) in den Museen „wahrhafte untrügliche Wercke Griechischer Meister“63 zu sehen seien. Wenn aber Seume die Staatliche Gemälde-Galerie nicht besucht, weil er sich „dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen“ (SP  169), und wenn er sich über Gipsabgüsse antiker Plastiken in der von Anton Raphael Mengs64 zusammengestellten Sammlung seine „ganz eigenen Gedanken“ macht, „die mir wohl schwerlich ein Antiquar mit seiner Ästhetik 61  62  63  64 

Vgl. Begemann, „Der steinerne Leib der Frau“ (Anm. 41), S. 136. Seume parodiert herkömmliche zeitintensive bildungsbürgerliche Kunstbetrachtungen, wenn er für sich reklamiert: „Ich habe nicht Zeit, gelehrt zu werden.“ (SP 331 f.; vgl. Pütter, Reisen durchs Museum (Anm. 53), S. 222) Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung“ (Anm. 17), S. 14. Zum Verhältnis von Winckelmann und Mengs vgl. Steffi Roettgen, „Winckelmann, Mengs und die deutsche Kunst“, in: Gaehtgens (Hrsg.), Johann Joachim Winckelmann (Anm. 45), S. 161–178.

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austreiben wird“ (SP  171), dann rekurriert er nicht zustimmend auf das klassische Kunstverständnis, sondern ironisch bzw. kritisch. Besonders offensichtlich werden die Strategien ironisch-kritischer aemulatio in den Äußerungen über Rom, derjenigen Stadt, die spätestens seit Winckelmann als „physisches Konzentrat der antiken Welt“65 gilt und die Seume sowohl auf dem Hinweg nach Syrakus als auch auf dem Rückweg besucht. „Wider meine Absicht bin ich nun hier“ (SP 267). So beginnt der Eintrag, der mit „Rom, den 2ten März“ überschrieben ist. Im Anschluss an den ersten, nur drei Tage dauernden Aufenthalt (vgl. SP 287) schreibt er: „Du siehst, daß ich aus den Sümpfen heraus bin“ (SP  289). Rom wird von Seume nicht als Ziel oder zumindest wichtige Station der Reise markiert. Im Gegenteil: Ursprünglich hatte er entlang der Adria hinunter nach Sizilien spazieren wollen, doch von diesem Vorhaben lässt er nach eindringlichen Warnungen vor auf dem Weg drohenden Gefahren für sein Leben ab (vgl. SP 267). Im Vergleich mit anderen Italien-Texten um 1800 lassen sich seine Aussagen als Invektive gegen die dort formulierten Wünsche lesen, in Rom nicht nur antike Kunst zu bewundern, sondern die eigene künstlerische Karriere voranzutreiben bzw. sich als Künstler (wieder) zu entdecken. Entsprechend fehlt auch, zumindest in den Aufzeichnungen über den ersten Rom-Aufenthalt, jegliche Bemerkung über (antike) Kunst: „Übrigens bin ich nicht nach Italien gegangen, um vorzüglich Kabinette und Galerien zu sehen […]“ (SP 288). Beachtung schenkt er stattdessen vornehmlich sozialen Missständen und sozialer Ungleichheit, für die er die katholische Kirche verantwortlich macht. Bereits vor der Stadt „spürt man die Folgen des päpstlichen Segens, die durchaus wie Fluch aussehen“ (SP  285), die päpstlichen Wachen an den Toren lassen sich bestechen (vgl. ebd.), und Kardinal Borgia, dem Seume seine Aufwartung macht, entpuppt sich weniger als Geistlicher denn als an die römischen Kaiser Tiberius und Nero erinnernder „Mönchsgeneral[ ]“ (SP 287). Die durchaus zu den gängigen Topoi von Italienreisen gehörende, in dieser Ausführlichkeit und Schärfe aber unübliche Kritik66 an der katholischen Kirche steigert sich beim zweiten, un65 

66 

Helmut  J.  Schneider, „Rom als klassischer Kunstkörper. Zu einer Figur der Antikewahrnehmung von Winckelmann bis Goethe“, in: Paolo Chiarini und Walter Hinderer (Hrsg.), Rom – Europa. Treffpunkt der Kulturen:  1780–1820, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 (= Stiftung für Romantikforschung 36), S. 15–28, hier S. 15. Die Empfindung des Schönen in der Kunst, schreibt Winckelmann, könne „allein in Rom völlig, richtig und verfeinert werden.“ (Johann Joachim Winckelmann, „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, und dem Unterrichte in derselben“, in: ders., Kleine Schriften. Vorreden, Entwürfe, herausgegeben von Walther Rehm, Berlin und New York: Walter de Gruyter 2002, S. 211–233, hier S. 225). Vgl. Meier, „Polemisches Reisen“ (Anm. 5), S. 328.

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gefähr vier Tage dauernden Rom-Besuch zum vernichtenden Urteil, diese Stadt sei „oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als jetzt“ (SP  443). Der umfangreiche polemische Kommentar über die katholischen Verbrechen wider die „Humanität“ (SP 445) enthält ein Langgedicht, in dem Tiberius und Nero gleichermaßen wie die Päpste als Despoten erscheinen. Schließlich aber folgen doch noch zumindest teilweise bewundernde Anmerkungen über Roms „Kunstschätze[  ]“ (SP  446). Unbeachtet bleiben zu diesem Zeitpunkt von Winckelmann sehr geschätzte Skulpturen in den Vatikanischen Museen, etwa der „eine vollkommene Regel der Kunst“67 verkörpernde Laokoon und der als „höchste[s] Ideal der Kunst“68 gefeierte Apollo von Belvedere, weil sie von den französischen Besatzern ins Louvre geschafft worden waren. Während seines Paris-Aufenthalts führt ihn gleich sein „erster Gang“ in dieses Museum, zunächst „zum Laokoon“ (SP 507). Die Statue will er vor allem wegen eines möglichen „Fehlers“ (ebd.) sehen, der ihm bei der Betrachtung von Kopien des Kunstwerks in Dresden und Florenz aufgefallen war: Die Sache war, das linke Bein, um welches sich an der Wade mit großer Gewalt die Schlange windet, war im Abguß und in der Marmorkopie durchaus gar nicht eingedrückt. Ich weiß wohl, daß die große Anstrengung der Muskeln einen tiefen Eindruck verhindern muß: aber eine solche Bestie, wie diese Schlange war, und auf dem Kunstwerk ist, mußte mit ihrer ganzen Kraft der Schlingung den Eindruck doch ziemlich merklich machen. Hier sah ich die Ursache der Irrung auf einen Blick. Das Bein war an der Stelle gebrochen, und so auch die Schlange; man hatte die Stücke zusammengesetzt: aber eine kleine Vertiefung der Wade unter der Pressung war auch noch im Bruche sichtbar. Beim Abguß und der Kopie scheint man darauf nicht geachtet zu haben, und hat die Wade im Druck der Schlange so natürlich voll gemacht, als ob sie nur durch einen seidenen Strumpf gezogen würde. Ich überlasse das Deiner Untersuchung und Beurteilung; mir kommt es vor, als ob die so verschönerte Wade deswegen nicht schöner wäre. (SP 507)

Seumes Beobachtung, dass die Wade des Laokoon im Original eingedrückt gewesen war und sie im Nachhinein „natürlich voll gemacht“ wurde, als sei sie „nur durch einen seidenen Strumpf überzogen“, ist im Kontext der frühklassizistischen Ästhetik keine unerhebliche, steht deren Körperideal doch im Zeichen der Glätte: „Die Haut“ der griechischen Meisterwerke, heißt es bei Winckelmann, „wirft niemahls, wie an unsern Cörpern, besondere und von dem Fleisch getrennete kleine Falten.“69 Diese ebenso wie Runzeln, Knorpel 67  68  69 

Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung“ (Anm. 17), S. 15. Johann Joachim Winckelmann, „Apollo-Beschreibung in Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764“, in: Frühklassizismus (Anm. 17), S. 165 f., hier S. 165. Winckelmann, „Gedancken über die Nachahmung“ (Anm. 17), S. 22.

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oder eben auch „kleine Vertiefungen“ oder gar ‚Brüche‘ verunstalten die Oberfläche der menschlichen Gestalt: „Die Form der wahren Schönheit hat nicht unterbrochene Theile.“70 Seumes Urteil hingegen favorisiert Unebenheit, das Fragment; Schönheit kann für ihn, entgegen der klassisch-ästhetischen Kodierung des Körpers, durchaus mit Deformation einhergehen.71 Die daran sich anschließenden Äußerungen zum Apollo von Belvedere parodieren ebenfalls Winckelmanns euphorische Ekphrasis, zu der Lexeme wie z.  B. „ewiger Frühling“, „sanfte[  ] Zärtlichkeiten“, „Friede“ oder „Süße“ gehören.72 Die Statue, schreibt Winckelmann in Geschichte der Kunst des Alterthums, sei „gänzlich auf das Ideal gebauet“ und der Künstler habe „nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig war, seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen.“73 Bei Seume hingegen verwandelt sich die leblose Statue nicht in etwas gleichsam Göttliches, sondern nimmt Züge des römischen Kaisers Nero an (vgl. SP 508). Statt idealisiert zu werden, rückt antike Kunst somit in die Nähe von Tyrannei und Unterdrückung. In Rom zieht sich durchaus auch für Seume „das ganze Alterthum in Eins“74 zusammen, allerdings in der Hinsicht, dass sich hier in der Gegenwart ebenso wie in der Antike soziale Hierarchien und Ungerechtigkeiten konzentrieren.

70 

71  72  73  74 

Johann Joachim Winckelmann, „Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst“, in: ders., Kleine Schriften (Anm.  65), S.  149–157, hier S.  152. Vgl. zur Konstruktion des idealschönen Körpers im Frühklassizismus Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1999 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1634), S. 76–159. Vgl. zu fragmentierten und geöffneten Körpern um 1800 Irmela Marei Krüger-Fürhoff, Der versehrte Körper: Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen: Wallstein 2001. Texte von Seume sind allerdings nicht Gegenstand der Studie. Winckelmann: „Apollo-Beschreibung“ (Anm. 68), S. 165. Ebd. Wilhelm von Humboldt, „An Goethe: Über Rom. Zeitgenössische Literatur. Pestalozzi [Marino, 23. August 1804]“, in: ders., Werke in fünf Bänden, herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft  2002, Band  5, S. 212–221, hier 216. Goethe übernimmt dieses Zitat in seiner Schrift „Winckelmann und sein Jahrhundert“ (Johann Wolfgang Goethe: „Winckelmann und sein Jahrhundert“, in: ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, herausgegeben von Friedmar Apel, Hendrik Birus, Anne Bohnenkamp, Dieter Borchmeyer u.  a., Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1998, Band 19, S. 10–233, hier S. 189.

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II

Spaziergang nach Syrakus als Wanderung nach Italien und Frankreich

Von Winckelmann und Goethe favorisierte antike Kunst wird in Spaziergang von Syrakus entweder unmittelbar desavouiert oder aber, wie u. a. von Linda Maria Pütter untersucht, in einen diese dominierenden und so zur unbedeutenden „Nebensache“75 herabsetzenden Kontext gerückt, der soziale Ungerechtigkeit fokussiert. Diese sozialkritische Neujustierung des Ordnungsmusters von (Selbst-)Bildungsreisen korrespondiert mit der prominent im ersten Satz von Spaziergang nach Syrakus genannten kulturellen Praxis der Wanderung: „Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen“ (SP 165). Freiwillig in den Süden zu gehen, ist um 1800 aus zweierlei Gründen außergewöhnlich: Bis dato wird in der Regel entweder aus militärischen oder religiösen Gründen über die Alpen gewandert, oder aber, im Falle sowohl der Kavaliers- und Bildungsreisenden als auch der Kaufleute, man überwindet die beschwerlichen Etappen mit der Kutsche. Generell gilt das zwanglose Unterwegssein zu Fuß als Tätigkeit jenseits sozialer Normen: Wenn Seume gelegentlich, etwa von Gastwirten, Ablehnung und Missachtung erfährt, dann auch deshalb, weil mit Ausnahme der Handwerker vor allem diejenigen wanderten, die nicht in die Ständegesellschaft integriert waren, nämlich u. a. „Schauspieler und Gaukler, Landstreicher, Bettler und Briganten“.76 Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend populärere, „von äußerlich-pragmatischen Zwecksetzungen entlastete[ ] und freiwillig gewählte[ ]“77 Fortbewegung zu Fuß steht zum einen im engen Zusammenhang mit technischen Innovationen. Ihre Popularität resultiert aus dem schnell wachsenden Postkutschen-, später dem Eisenbahnnetz, das

75  76 

77 

Pütter, Reisen durchs Museum (Anm. 53), S. 222. Wolfgang Griep, „Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert“, in: Rolf Grimminger (Hrsg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München: Deutscher Taschenbuch Verlag  1984, Band III.2, S.  739–764, hier S.  752. Zur Geschichte der Wanderung vgl. ausführlich Wolfgang Kaschuber, „Die Fußreise. Von der Arbeitswanderung zur bürgerlichen Bildungsbewegung“, in: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer und Gottfried Korff (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München: C. H. Beck 1991, S. 165–173. Helmut J. Schneider, „Selbsterfahrung zu Fuss. Spaziergang und Wanderung als poetische und geschichtsphilosophische Reflexionsfigur im Zeitalter Rousseaus“, in: Jürgen Söring und Peter Gasser (Hrsg.), Rousseauismus. Naturevangelium und Literatur, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Brüssel, New York und Wien: Peter Lang 1999, S. 133–154, hier S. 135.

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Orte städtischer Zivilisation miteinander verbindet.78 Der schnellen Fahrt in einem abgeschlossenen Gehäuse werden bewusst langsame Verkehrsformen entgegengesetzt, die für einen kürzeren oder längeren Zeitraum aus der Enge urbaner Behausungen hinaus in die Natur führen. Zum anderen wohnt dem Gehen ein emanzipatorisches, die sozialen Normen verkehrendes Moment inne: „Der Aufbruch ‚ins Freie‘ verlieh der aufklärerischen Forderung, sich aus den überkommenen, jetzt als einengend erfahrenen religiösen und ständischen Strukturen zu lösen, eine konkrete Evidenz.“79 Entsprechend werden um 1800 zahlreiche „politische oder […] sozialkritische“80 Wanderberichte publiziert, z. B. David Christoph Seybolds anonym publizierte Wanderungen des Marquis St. A. … durch Deutschland (1777), Johann Pezzls Reise durch den Baierischen Kreis (1784) oder Georg Friedrich Rebmanns Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands (1793). Darüber hinaus findet eine theoretische Reflexion über die emanzipatorische Kraft des Gehens statt, bekanntermaßen etwa in Seumes Mein Sommer 1805: Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossemen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvolleste und Selbstständigste in dem Manne, und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. […] So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann.81

Die in diesem Zitat artikulierte Opposition zwischen Kutsch- und Fußreise82 ist zugleich eine, jedenfalls den Äußerungen des Berichterstatters zufolge, zwischen Unselbständigkeit und Selbständigkeit sowie zwischen Distanz und Nähe zum ‚einfachen Volk‘. Mit der Entscheidung, zu Fuß zu gehen, geht 78 

79  80  81  82 

Christian Moser und Helmut J. Schneider, „Einleitung. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs“, in: Axel Gellhaus, Christian Moser und Helmut J. Schneider (Hrsg.), Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2007, S. 7–27, hier S. 8. Schneider, „Selbsterfahrung zu Fuss“ (Anm. 77), S. 136. Hans-Wolf Jäger, „Reisefacetten der Aufklärungszeit“, in: Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht (Anm. 20), S. 261–283, hier S. 272. Johann Gottfried Seume, „Mein Sommer 1805“, in: ders., Werke und Briefe in drei Bänden (Anm. 1), S. 541–736, hier S. 543 f. Kaschuber, „Die Fussreise“ (Anm.  76), S.  170 f. Dass Kutsche aber nicht gleich Kutsche war, betont Dirk Sangmeister (vgl. Sangmeister, „Theorie und Praxis von Fußreisen um 1800“ (Anm. 5), S. 122 f.).

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darüber hinaus in der Regel eine Kritik an sozialen Missständen einher, eine Kritik, die die Fahrenden, allein weil sie sich „einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt“83 haben, nicht üben können. Seumes in Wien geäußertes, mit den Intentionen der in Kutschen fahrenden Bildungsreisenden konformgehendes Vorhaben, im Süden die Idyllen Theokrits zu studieren, steht während des Aufenthalts dort ebenso wenig im Vordergrund wie die Besichtigung antiker Architektur. Sein Reisebericht widmet sich stattdessen in immer stärkerem Maße der „entsetzliche[n]“ (SP 325) Armut etwa im Inneren Siziliens und beschreibt ausführlich deren Ursachen, die er in der „unheilige[n] Allianz von katholischer Kirche und Feudaladel“84 erkennt. Mit dieser eindringlichen Ursachenforschung reiht sich Spaziergang nach Syrakus ebenfalls in die Tradition der Fußreiseberichte ein. Denn in ihnen äußert sich ein in der Regel allerdings keineswegs homogenes politisches Engagement: Auf der einen Seite rangieren den aufgeklärten Absolutismus unterstützende Autoren, auf der anderen Sympathisanten der Französischen Revolution und Verfechter einer republikanisch-demokratischen Verfassung. Letztere ‚wallfahren‘ ab 1789, allerdings keineswegs immer zu Fuß, oft nach Frankreich, um vor Ort das epochale „‚Schauspiel‘“ von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mitzuerleben.85 Seumes Spaziergang nach Syrakus variiert das Genre der Fußreise insofern, als er nach Italien wandert, einem Ziel, zu dem bis dahin vor allem Kaufleute, Kavaliere und Bildungsreisende aufbrachen. Der Bericht imitiert jedoch das Ordnungsmuster zugleich, weil er sich zunehmend um die Beschreibung sozialer Ungerechtigkeit und der Verurteilung ihrer Ursachen bemüht. Damit korrespondiert, dass Seume nicht nur nach Italien, sondern auch nach Frankreich wandert, weshalb sein Text auch dem Genre der Revolutionsreise zugeordnet werden kann. Die von Beginn an geplante (vgl. SP 165, 198) Variation der Bildungsreiseroute wurde zurecht als „aufklärerische[  ] Allegorie“86 gedeutet, mit der das Frankreich der Revolution als wichtigeres Ziel erscheint als das Rom der Kunst, welches von Seume in erster Linie als „Kloake der Menschheit“ (SP 443) wahrgenommen wird. Beim zweiten Besuch werden die in Rom vorherrschende „Unordnung der Dinge“ (SP  442) und das ‚hungernde Volk‘ (vgl. ebd.) mit dem Abzug der Franzosen aus dem Kirchenstaat sowie dem Konkordat (1801) zwischen 83  84  85  86 

Seume, „Mein Sommer 1805“ (Anm. 83), S. 544. Meier, „Polemisches Reisen“ (Anm. 5), S. 328. Thomas Grosser, Reiseziel Frankreich. Deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 219. Meier, „Polemisches Reisen“ (Anm. 5), S. 331.

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Napoleon und Pius VII. in Verbindung gebracht (vgl. SP 438): „Ich will das Betragen der Franzosen hier und in ganz Unteritalien nicht rechtfertigen: aber dadurch, daß sie die Sache wieder aufgegeben haben, ist die Menschheit in unsägliches Elend zurückgefallen. […] Durch ihren unbedingten, nicht notwendigen Abzug ist die schrecklichste Anarchie entstanden“ (SP  444). In Frankreich dagegen „war alles merklich wohlfeiler und man war durchaus höflicher und billiger“ (SP 499), „überall sah man Fleiß und zuweilen auch Wohlstand“ (SP  500). Allerdings erweist sich Napoleon als „unwürdiger Erbe“87 der Französischen Revolution. Seumes Generalabrechnung mit Napoleon (vgl. SP  511–520) bringt zugleich seine Enttäuschung über Frankreich zum Ausdruck: Die Franzosen „haben während der ganzen Revolution viel republikanische Aufwallung, oft republikanischen Enthusiasmus, zuweilen republikanische Wut gezeigt, aber selten republikanischen Sinn und Geist, und noch nie republikanische Vernunft. Nicht, als ob nicht hier und da einige Männer gewesen wären, die das letzte hatten; aber der Sturm verschlang sie“ (SP 514). Mit der Kritik an Frankreich im Allgemeinen und der an Napoleon im Besonderen verbindet sich aber ein politisches Lippenbekenntnis: „Seitdem Bonaparte die Freiheit entschieden wieder zu Grabe zu tragen droht, ist mirs, als ob ich erst Republikaner geworden wäre“ (ebd.). Seumes Bericht seiner Reise nach Italien und Frankreich lässt sich so durchaus als Selbstfindungsprojekt lesen, in dessen Fokus im Unterschied zu demjenigen Goethes und denjenigen anderer Bildungsreisender allerdings kein homo aestheticus, sondern ein homo politicus steht. Die schriftliche Fixierung dieses Projekts erfolgt jedoch zumindest auf den ersten Blick, wie abschließend gezeigt werden soll, mittels Verfahren der Abschweifung, die sich einer eindeutigen Ordnung und „eindeutigen Identitätsbildungen eher widersetzen“.88 III

Egression statt Digression: Seumes Reisebericht und der Spaziergangstext

Verfahren der Digression werden seit Ciceros De Oratore in der Rhetorik erörtert, und zwar innerhalb des Produktionsstadiums der dispositio einer Rede. Zur Organisation des Stoffs kann durchaus auch die Abschweifung gehören, wenn sie denn dazu dient, die Zuhörer von der eigenen Sache zu überzeugen: „Damit wird das Phänomen der Abweichung in die Ordnung der Rede integriert, oder anders gesagt: es wird ein Begriff von Abweichung entwickelt, der der Ordnung 87  88 

Meier, „Polemisches Reisen“ (Anm. 5), S. 332. Gerhard, „Literarische Reisen“ (Anm. 8), S. 31.

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nicht widerspricht, sondern ihr dient.“89 Dass diese Integration keineswegs immer gelingt, die digressio vielmehr eher den Konflikt zwischen Ordnung und Abweichung heraufbeschwört, hat u.  a. Quintilian als bedrohlich wahrgenommen.90 In den Genres des Essays und des Romans, die Andreas Härter als „Digressionsgattung[en]“91 bezeichnet, entfalte sich hingegen offensiv ein „ausschweifendes Erzählen, dem geschlossene Ordnungen fremd sind“.92 Die Verschriftlichung von Reisen, gleichgültig ob sie mit dem Transportmittel der Kutsche oder zu Fuß erfolgen, geht ebenfalls vielfach mit digressiven Verfahren einher: Das Ordnungsmuster, von einem Ausgangspunkt über diverse Stationen an ein Reiseziel zu gelangen und sich währenddessen selbst zu bilden, scheint prädestiniert für Abschweifungen zu sein, die zufälligen Beobachtungen oder Begegnungen geschuldet sind, oder für aufgrund von neuen Wahrnehmungen vorgenommene Fragmentierungen von Handlungssequenzen. Ute Gerhard sieht dieses Muster prototypisch in Laurence Sternes A Sentimental Journey Through France and Italy (1768) realisiert. Statt den Roman ausschließlich ausgehend von der deutschen Übersetzung93 des Titels als Gründungstext der Empfindsamkeit bzw. als Initiationstext einer neuen „Schreibweise“ von Reiseliteratur zu lesen, „die der traditionellen Aufzählung geographischer und historischer Fakten die Subjektivierung und Psychologisierung der Reise entgegensetzt“,94 würdigt sie ihn auch aufgrund des darin dominierenden ordnungsstörenden Prinzips des Witzes: A Sentimental Journey kombiniere „die ‚empfindsame Reise‘ […] mit der Sprache des Witzes“.95 Konstitutiv hierfür seien „Verfahren der Fragmentarisierung und der Digressionen (Abschweifungen)“:96 Die Ich-Erzählung bestehe „aus zahlreichen Episoden, die häufig genug auch ihrerseits Fragment bleiben. Handlungssequenzen werden nicht nur durch Abschweifungen

89  90  91  92  93 

94  95  96 

Andreas Härter, Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel, München: Wilhelm Fink 2000 (= Figuren 8), S. 20. Vgl. ebd., S. 51 f. Ebd., S. 10. Ebd. Mit der auf einen Vorschlag Gottfried Ephraim Lessings zurückgehenden Übersetzung von ‚sentimental journey‘ als ‚empfindsame Reise‘ wurde das neue Genre im deutschsprachigen Raum auf den Begriff gebracht. Vgl. Gerhard Sauder, „Sternes ‚Sentimental Journey‘ und die ‚Empfindsamen Reisen‘ in Deutschland“, in: Wolfgang Griep und HansWolf Jäger (Hrsg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1983, S. 302–319. Gerhard, „Literarische Reisen“ (Anm. 8), S. 28. Ebd., S. 29. Ebd.

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unterbrochen, sondern auch gänzlich abgebrochen und im gesamten Text nicht weitergeführt, ja sie scheinen einfach vergessen.“97 In der deutschsprachigen Reiseliteratur thematisieren etwa Georg Friedrich Rebmann und Georg Forster verschiedentlich ihr digressives Schreiben.98 Joachim Heinrich Campe vermag den „kreisenden Wirbel meiner Vorstellungen und Empfindungen“ während eines Aufenthalts in Paris kurz nach Ausbruch der Revolution weder in eine „Ordnung“ noch in einen „Zusammenhang“ zu bringen.99 Die Briefe in David Christoph Seybolds Wanderungen des Marquis St. A. … durch Deutschland schließlich vereinigen, wie Wolfgang Griep beobachtet, die unterschiedlichsten Menschen- und Naturbeobachtungen des Marquis’, vielfach gebrochen, teils aphoristisch verkürzt, immer in bewusst subjektiver Auswahl und Analyse. Ihr Abdruck beginnt sicher nicht zufällig mitten in einer Beschreibung mit dem 19. Brief und endet ebenso abrupt sieben Briefe später: „das Fragmentarische, Unabgeschlossene ist die logische Folge der neuen Erfahrungsstruktur.“100 Wenn also Verfahren der Fragmentarisierung und der Digressionen in Reiseliteratur generell oft Verwendung finden, so scheinen sie eine besondere Attraktivität für Texte zu besitzen, in denen die Protagonisten zu Fuß unterwegs sind. Jean-Jacques Rousseau z. B. macht in Les Confessions auf die Analogie zwischen seinen Wanderungen und seinem Erzählen aufmerksam: Wenn ich von meinen Reisen erzähle, geht mir’s wie beim Reisen selbst; ich komme nie zum Ziel. Das Herz schlug mir vor Freude, da ich mich meiner teuren Mama näherte, und dennoch ging ich nicht schneller. Ich wandre gern nach meinem Gefallen und mache halt, wenn es mir paßt. Ein Wanderleben ist das, was ich brauche. Zu Fuß meinen Weg machen, bei schönem Wetter, in schöner Landschaft, ohne Eile, als Ziel meiner Reise vor mir etwas Angenehmes, diese Lebensweise ist am meisten von allen nach meinem Geschmack. Man weiß ja, 97  98 

Gerhard, „Literarische Reisen“ (Anm. 8), S. 29. Georg Friedrich Rebmann, „Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands“, in: ders., Werke und Briefe, herausgegeben von Hedwig Voegt, Werner Greiling und Wolfgang Ritschel, Berlin: Rütten & Loening 1990, Band 1, S. 59–155, hier S. 120, 140; Georg Forster, „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790“, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: Akademie Verlag 1958, Band 9, S. 6. 99  Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, mit Erläuterungen, Dokumenten und einem Nachwort herausgegeben von Hans-Wolf Jäger, Hildesheim: Gerstenberg 1977, S. 4. 100  Wolfgang Griep, „Schritte im Unbekannten. Zur Entstehung der sozialkritischen Fußreise am Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Ulrich Kronauer und Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. Festgabe für Jörn Gaber zum 65. Geburtstag, Eutin: Lumpeter & Lasel 2007, S. 105–125, hier S. 114.

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was ich unter einer schönen Landschaft verstehe. Niemals erschien mir ebenes Land so, mochte es an sich noch so schön sein. Ich brauche Gießbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge, bergauf und bergab holpernde Wege, Abgründe neben mir, daß ich Angst bekomme. Dieses Vergnügen kostete ich in seinem ganzen Reiz aus, als ich mich Chambery näherte.101

Stärker noch als zwischen einer Wanderung und bestimmten ‚unordentlichen‘ Schreibweisen scheint zwischen einer anderen kulturellen Praxis, der des Spaziergangs, und digressivem sowie fragmentierendem Erzählen eine systematische Beziehung zu existieren.102 Da sich der Gehende bei der Wanderung weiter vom Zuhause entfernt, sich in die Ferne und damit in die Fremde begibt, kann diese eher mit Risiken einhergehen: Dem Wandern wohnt die Gefahr der (bzw. der Wunsch nach) Denormalisierung in stärkerem Maße inne, zum Verirren, zu Unfällen und Abenteuern. Beim Spaziergang hingegen bleibt das Zuhause, oftmals – wie z.  B. in  Rousseaus Rêveries d’un promeneur solitaire (posthum 1782) – ein Raum urbaner Zivilisation und zumindest in mittelbarer Nähe. Die Umgebung bleibt vertraut, selbst wenn andere Wege als die gewohnten gegangen werden, und somit die Möglichkeit von Risiken geringer, wenn sie auch nicht ausgeschlossen werden.103 Aufgrund des vertrauten Terrains erweist sich der Spaziergang als noch offener für Träumereien, für ein unsystematisches Nachdenken.104 Rousseau setzt in seinen Rêveries nicht nur ein am Spazieren orientiertes Erzählen um, sondern stellt ihm poetologische Überlegungen wie z. B. die folgende zur Seite: Die vorliegenden Blätter sind, genau betrachtet, nur ein formloses Tagebuch meiner Träumereien. Es wird darin viel von mir die Rede sein, weil, wer einsam ist und dabei nachdenkt, sich zwangsläufig viel mit sich selbst beschäftigt. Es sollen aber auch jene mir auf meinen Spaziergängen durch den Kopf strömenden Gedanken, die nicht unmittelbar mich betreffen, darin Platz finden. Ich schreibe meine Ideen so nieder, wie sie kamen, und stifte unter ihnen nicht mehr logische 101  Jean-Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse (1789), aus dem Französischen übersetzt von Alfred Semerau, München: Deutscher Taschenbuch Verlag  2012, S.  172. Vgl. Moser und Schneider, „Einleitung“ (Anm. 78), S. 7 f., S. 16. 102  Vgl. ebd., S. 16. Ein ausführlicher Vergleich zwischen den beiden Verkehrsformen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden; vgl. Schneider, „Selbsterfahrung zu Fuss“ (Anm. 77), S. 146–148. 103  Vgl. z. B. Rousseaus „Unfall“ in den Rêveries (Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1782), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Bossier, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2003 (= Reclams Universal-Bibliothek 18244), S. 27). 104  Vgl. Thomas Koebner, „Versuch über den literarischen Spaziergang“, in: Wolfgang Adam (Hrsg.), Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche. Festschrift für Rainer Gruenter, Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1988, S. 39–76, hier S. 40.

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Christof Hamann und Julian Osthues Verknüpfung, als zwischen den Gedanken des Vortages und denen des anderen Morgens zu bestehen pflegt.105

„Reflexion[en] auf den Schreibprozeß“106 finden sich zwar auch, wie gesehen, in den Reisetexten eines Georg Forsters oder Joachim Heinrich Campes, doch weitaus weniger zahlreich als in denen, die von Spaziergängen handeln. Die regelmäßig stattfindende, gegebenenfalls zum „Ritual“107 gewordene Bewegung auf vertrautem Terrain erweist sich als in stärkerem Maße offen für die Verknüpfung von (schweifendem) Gehen und (schweifendem) Schreiben, mit anderen Worten: für eine ‚peripatetische Poetik‘.108 Im Archiv solcher Spaziergängertexte sind neben Rousseaus Rêveries u. a. Essays von Montaigne (z. B. De trois commerce),109 Romane von Jean Paul (z. B. Die unsichtbare Loge [1793])110 und Adalbert Stifter (z. B. Der Nachsommer), Prosa von Robert Walser (z. B. Der Spaziergang)111 sowie von Peter Handke112 gespeichert. Seume bewegt sich zwar anders als ein Spaziergänger weitgehend auf unbekanntem Terrain, dennoch überschreibt er seinen Bericht mit Spaziergang nach Syrakus und aktualisiert dieses Lexem auch wiederholt im Text selbst (vgl. z. B. SP 196, 323, 333, 348). Anders als Drews, der darin eine Replik auf Schillers geschichtsphilosophische Gedanken in Der Spaziergang (1795) erkennt,113 spielt unserer Ansicht nach eher Rousseau, als dessen „gelehriger Schüler“114 Seume bekannt ist, und dessen digressive Poetik für die Reisebeschreibung nach Italien und Frankreich eine Rolle. In mindestens dreierlei Hinsicht 105  Rousseau, Träumereien (Anm. 102), S. 15. 106  Schneider, „Selbsterfahrung zu Fuss“ (Anm.  77), S.  148. Vgl. Claudia Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, Tübingen und Basel: A. Francke 1999. 107  Ebd., S. 15. 108  Vgl. Moser und Schneider, „Einleitung“ (Anm. 78), S. 16–18. 109  Vgl. Angelika Wellmann, Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 70), S. 34–37. 110  Vgl. Kurt Wölfel, „Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung“, in: ders., Jean Paul-Studien, herausgegeben von Bernhard Buschendorf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 742), S. 102–139. 111  Zu Stifter und Walser vgl. Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell (Anm. 105), S. 165–270. 112  Vgl. Volker Georg Hummel, Die narrative Performanz des Gehens. Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ und „Der Bildverlust“ als Spaziergängertexte, Bielefeld: Transcript 2007 (= Lettre). 113  Vgl. Drews, „Ein Mann verwirklicht seine „Lieblingsträumerey“ (Anm. 3), S. 211 f. 114  Marcel Mouseler, „Johann Gottfried Seume und Frankreich“, in: Jörg Drews (Hrsg.), „Wo man aufgehört hat zu handeln, fängt man gewöhnlich an zu schreiben“. Johann Gottfried Seume in seiner Zeit. Vorträge des Bielefelder Seume-Colloquiums 1989 und Materialien zu Seumes Werk und Leben, Bielefeld: Aisthesis 1991, S. 186–208, hier S. 197.

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wird diese Abweichungs-Poetik entfaltet, allerdings auf eine Weise, dass sie die Ordnung der politischen Selbstfindung weniger desavouiert als vielmehr mit hervorbringt. Mit Quintilian ist daher eher anstelle von digressivem von egressivem Erzählen bzw. statt von ‚bedrohlichen‘ von „sanften, harmlosen, anschmiegsamen und formbaren“115 Abweichungen zu sprechen; sie stehen in „ergänzendem, nicht störendem Verhältnis zur Haupt-narratio“.116 Erstens interferieren die kurzen (und dann oft diffamierenden), die angekündigten, dann aber entweder nicht stattfindenden bzw. nach wenigen Worten abbrechenden oder die gänzlich fehlenden Beschreibungen von Kunst und Architektur und die selbstreferentiellen Aussagen Seumes, die den Bericht mal fragmentarisch (vgl. SP 170, 490), mal unsystematisch und unordentlich nennen (vgl. z.  B. SP  260, 331, 349, 378). Als Grund wird fehlende Zeit genannt, verschiedentlich wird ironisch auch auf den Bescheidenheitstopos zurückgegriffen: „Was ich aus dem sogenannten Grabmal Hierons machen soll, weiß ich nicht; ich überlasse es mit dem Übrigen ruhig den Gelehrten. Ich habe nicht Zeit, gelehrt zu werden“ (SP 331 f.; vgl. z. B. SP 372). Die selbstreferentiellen Passagen stehen in engem Zusammenhang mit der Umstellung von Kunst auf Sozialkritik: Für die Betrachtung von Skulpturen und Architektur muss keine Zeit bleiben, weil sie in den Augen des Berichterstatters weniger relevant ist und bereits genug über sie gesagt wurde. Zweitens tendiert Seumes Berichterstattung zum anekdotischen Exkurs: Immer wieder wird das Ordnungsmuster einer um der politischen Selbstbildung erfolgenden Reise von „drollige[n]“ (SP 363; vgl. 417), ‚unglaublichen‘ (vgl. SP 367), ‚wahrscheinlichen‘ (vgl. SP 474), „nicht unangenehm[en]“ (SP 476), „heilige[n]“ (SP 308) und „sonderbare[n]“ (SP  519) Anekdoten unterbrochen. Diese allerdings ergänzen das Ordnungsmuster der Selbstfindung insofern, als sie selbst wieder etwa die Wissenschaft der Archäologie lächerlich machen (vgl. z.  B. SP  325, 363) oder die Lektüre antiker Klassiker parodieren (vgl. SP  478 f.). Drittens schließlich werden in Sizilien, dem „Ziel meines Spaziergangs“ (SP 333), abschweifendes Erzählen und schweifende Bewegung zueinander in Beziehung gesetzt. Er habe, so Seume, von „hier nach Syrakus […] nichts zu tun, als an der südlichsten Küste hinzustreichen; das kann in einigen Tagen geschehen“ (SP  323). Danach wolle er „mit einigen kleinen Umschweifen wieder nach Hause“ (SP  333) gehen. Doch statt auf schnellstem Weg nach Syrakus zu 115  Härter, Digressionen (Anm. 88), S. 50. Der Satz lautet vollständig: „Es scheint, daß in der Institutio oratoria am Begriff egressio das Phänomen der Abweichung in der Perspektive der sanften, harmlosen, anschmiegsamen und formbaren Redeerweiterung durchgespielt wird, während dasselbe Phänomen unter dem Begriff digressio in seiner Bedrohlichkeit, Eigenwilligkeit und Divergenz erscheint.“ 116  Ebd., S. 68.

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gelangen, geht der Reisende immer wieder „irre“ (SP  344). Den mehrfachen Ankündigungen117 zum Trotz gelangt er erst nach einigen Tagen, über viele Umwege, die ihn durch das Innere der Insel führen, ans Ziel.118 Die Forschung hat dieses auffällige ‚Irregehen‘ auf die mangelnden geographischen Kenntnisse Seumes und seiner Reiseführer sowie auf das schlechte, teilweise nicht vorhandene Straßennetz zurückgeführt.119 Unserer Argumentation nach aber sind die Umwege und ihre Beschreibungen Teil der rhetorischen Strategie der egressio, über die die Umstellung von Kunst auf Sozialkritik erfolgt. Denn während sich die Lektüre Theokrits in Syrakus immer mehr verzögert und die Betrachtung antiker Architektur großteils ausbleibt, lernt Seume auf dem „heillosen Weg“ (SP 325) die Armut der Bewohner Siziliens kennen und beschreibt sie eindringlich: Nie habe ich eine solche Armut gesehen, und nie habe ich mir sie nur so entsetzlich denken können. Die Insel sieht im Innern furchtbar aus. Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das Ganze ist eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe. Zu Mittage war im Wirtshause durchaus kein Stückchen Brot zu haben. Die Bettler kamen in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen welche die römischen auf der Treppe des spanischen Platzes noch Wohlhabenheit sind: sie bettelten nicht, sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends nur mit Blicken flehend in stummer Erwartung an der Türe. Erst küßte man das Brot, das ich gab, und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um mich her über den reichen Boden, und hätte in diesem Augenblicke alle sizilische Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können. Es ist heillos. (SP 325 f.)

Albert Meier zufolge zeigt gerade dieses Zitat Seumes „Stilisierungsabsicht“: „Die unbestrittene Tatsache sizilianischer Armut wird mit rhetorischen Mitteln auf die Spitze getrieben, um einen weiterführenden Kommentar zu stützen und die Sympathie des Lesers zu garantieren.“120 Meier zufolge tragen die rhetorischen Mittel dazu bei, die Schuld für die Armut der „unheilige[n] Allianz von katholischer Kirche und Feudaladel“121 zuzuschieben. Darüber 117  „Von hier aus wollte ich nach Noto gehen, und von dort nach Syrakus“ (SP 342); „[v]on hier aus wollte ich nach Syrakus“ (SP 343); „[v]on hier aus wollte ich nun nach Syrakus (SP 344); „[v]on hier wollte ich endlich nach Syrakus“ (SP 346); [u]m nicht noch einmal in den Bergen herumzuirren, nahm ich nun endlich einen Maulesel mit einem Führer hierher nach Syrakus“ (SP 347). 118  Der Bericht der Wanderung durch Sizilien nach Syrakus umfasst 25 Seiten, der z. B. des ersten Rom-Aufenthalts drei. 119  Vgl. Mitella Carbone: „Das Bild Siziliens in der deutschen Reiseliteratur“, in: Jörg Drews (Hrsg.), Seume (Anm. 5), S. 283–308, hier S. 290 f. 120  Meier, „Polemisches Reisen“ (Anm. 5), S. 327. 121  Ebd., S. 328.

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hinaus dienen sie aber auch der Positionierung Seumes als politisches Subjekt, das Ungerechtigkeit scharf verurteilt. Die Abschweifungen auf dem Weg nach Syrakus, mit denen der erste Teil des Berichts endet, ergänzen so nicht nur das Ordnungsmuster der Selbstfindung, sie machen Seumes Entwicklung zum homo politicus vielmehr erst möglich. Wenn Drews von Seumes „launig-trotzige[r] Unsystematik“ spricht, von einer „manchmal geradezu an Laurence Sterne erinnernde[n] Subjektivität“,122 wenn Burkhard Moenninghoff Seumes „nicht systematisch aufbauenden, sondern sprunghaften und assoziativen Stil[ ]“123 hervorhebt, dann trifft das unserer Argumentation nach nur bedingt auf Seumes Erzählen zu. Zwar distanziert sich der Reisende auf der Ebene der histoire wiederholt von antiken Klassikern und er versichert, dass sein Bericht nicht auf Rhetorik – er enthalte „keine Sylbe Redekunst“ (SP 443) – aufgebaut sei. Doch entpuppt sich unserer Lektüre nach Spaziergang nach Syrakus als kunstvoll gebaute Rede, die Abschweifungen gezielt in das „Interesse des Falles“124 stellt, d. h. in den Dienst der Umstellung des Selbstbildungsprojekts von Kunst auf Sozialkritik. Seumes Erzählen ist statt einem digressiven eher einem egressiven Erzählen verpflichtet: Spaziergang nach Syrakus inszeniert gerade auch mit Hilfe selbstreferentieller, anekdotischer und retardierender Abschweifungen die Entwicklung hin zu einem homo politicus.

122  Jörg Drews, „Nachwort“ (Anm. 56), S. 443–454, hier S. 448 f.; vgl. auch ders., „Ein Mann verwirklicht seine Lieblingsträumerey“ (Anm. 3), S. 213. 123  Burkhard Moenninghoff, „Wer geht, sieht viel. Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus“, in: Moenninghoff, von Bernstorff und Tholen (Hrsg.), Literatur und Reise (Anm. 19), S. 32–50, hier S. 43. 124  Marcus Fabius Quintilianus, Institutio oratoria. Zwölf Bücher, herausgegeben und übersetzt von Helmut Rahn, 6. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft  2015, Band 1, S. 492 f. (Buch IV, Kap. 3, §14).

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Amsterdam 64 oder Wie das magische Denken in den Kulturwissenschaften die Wiederkehr der Dinge sehr befördert hat Helmut Lethen I

Der Verdacht

Der Philosoph Arnold Gehlen erläuterte in seinem Buch Die Seele im technischen Zeitalter (1957) in einem lapidaren Satz das Wesen des „magischen Denkens“: „Magisches Denken besteht in der Überschätzung des Ordnungsgedankens in der Natur“.1 Ein willkürliches Beispiel: eine Nacht im Gebirge, der Vollmond scheint, ein Käuzchen krächzt, das Licht im Kühlschrank erlischt, ein Luftzug bläht die Vorhänge, der Milchkrug fällt vom Tisch, das Kind fiebert, der Vater stürzt mit dem Auto in einen Gebirgsbach – und alles ist irgendwie verknüpft. Die Natur umfasst unendlich viele Gesetzmäßigkeiten, wir kennen nur einen Ausschnitt davon. Dabei ist unklar, ob es sich bei dem erfundenen Beispiel nur um eine Verdichtung der Ordnung oder um einen kausalen Zusammenhang handelt. Diese Art der magischen Verknüpfung machen sich nicht nur der HorrorFilm oder die Verschwörungstheorie zunutze, man findet sie auch in den deutschen Kulturwissenschaften. Dort wird die Suggestion eines Zusammenhangs oft mit der Phrase eingeleitet „Es ist kein Zufall, dass …“. Es ist zum Beispiel kein Zufall, dass eine Waffenfabrik die ersten Schreibmaschinen produziert. Es macht allerdings einen Unterschied, ob es sich wie im Beispiel der Nacht im Gebirge um Ereignisse handelt, die sich simultan abspielen, oder ob ein Zusammenhang von Ereignissen unterstellt wird, die auf einer zeitlich langgestreckten Kette aufgereiht sind, wie in folgendem Fall: Um den Klangzauber zu perfektionieren, mußte nur noch ein anderer Weltkrieg ausbrechen. Sein Innovationsschub gab den Ingenieuren Deutschlands die Tonbandmaschine und den Ingenieuren Britanniens eine Hifi-Schallplatte ein, die auch subtilste Klangfarbenunterschiede zwischen deutschen und britischen UBoot-Motoren hörbar machte – natürlich zunächst nur für die Ohren angehender Air Force-Offiziere. Mit der Kriegsbeute Tonband beschenkt, konnte Amerikas 1  Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1957 (= rowohlts deutsche enzyklopädie 53), S. 130.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_006 .7

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Helmut Lethen verschlafene Schallplattenindustrie […] einen neuen Standard setzen: […] Aber auch die britische Industrie begriff alsbald, daß ihre kriegsentscheidenden Fortschritte bei der U-Boot-Ortung zu friedlicher Nutzung einluden. 1957 stellten die Electrical and Mechanical Industries (EMI), die nicht von ungefähr auch Pink Floyd unter Vertrag haben, die erste Stereoplatte vor.2

Peter  T.  Struck hat einmal die unheimliche Dimension des mit Bedeutung aufgeladenen Zufalls wie folgt erklärt: The very notion of meaningful coincidence contains from the beginning a contradiction. It requires both chance and intention. Two things that happen at once become such a coincidence only when two criteria are met; logic must dictate the event as purely accidental, but simultaneity must nevertheless tempt one to assume some more remote, mysterious connection between them. Pure chance does not make for portent; rather, chance must be combined with an uncanny sense of meaningfulness that underwrites the happening.3

Wo die Logik versagt, springt die Einbildungskraft ein. Das gilt für Situationen, in denen die Sinne, wie in Räumen des Schauerromans, nicht klar zwischen lebendig und tot, nah oder fern, Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden können. Dort werden Vorstellungen von Zusammenhängen, die logisch betrachtet absurd erscheinen, in gespenstische Wirkungsketten umgelegt.4 Nicht-Wissen wird zu einem „wichtigen Faktor epistemischer Formation“.5 Das mögen Rationalisten verurteilen, aus ihrem Blickwinkel ein Skandal. Die Entzweiung von der logischen Wahrheit erzeugt Erzählmuster, die in „dunkler Erkenntnis“ das Daseinsgefühl erhöhen. In ihrer Konsequenz führt das zu einer aufregenden Schlussfolgerung: „Nicht-Wissen und unsicheres Wissen werden zu Konstitutionsbedingungen der Versuche, Einzelwissenschaften aus der hergebrachten disziplinären Struktur herauszulösen“.6 Das deutet auf einen Grundzug magischen Denkens der Kulturwissenschaften. So ließe sich 2  Friedrich A. Kittler, „Der Gott der Ohren“, in: Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hrsg.), Das Schwinden der Sinne, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1984 (= edition suhrkamp 1188), S. 140–155, hier S. 144. 3  Peter  T.  Struck, Birth of the Symbol: Ancient Readers at the Limits of their Text, Princeton: Princeton University Press 2004, S. 94 f. Hinweis von Mario Wimmer (Berkeley). 4  Rainer Godel, „Anthropologische Kontingenz. Neue Erklärungsversuche für das Unheimliche am Beispiel von Carl Grosses  Der Genius“, in: Barry Murnane und Andrew Cusack (Hrsg.), Populäre Erscheinungen. Der deutsche Schauerroman um 1800, München: Wilhelm Fink 2011 (= Laboratorium Aufklärung 6), S. 81–98. 5  Rainer Godel, „Literatur und Nicht-Wissen im Umbruch, 1730–1810“, in: Michael Bies und Michael Gamper (Hrsg.), Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen  1730–1930, Zürich und Berlin: Diaphanes 2012, S. 39–57. 6  Ebd., S. 45.

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auch die Nähe kulturwissenschaftlicher Methoden zum ROMANTISCHEN OCCASIONALISMUS erklären. Da der Terminus ein Verfahren bezeichnet, das Carl Schmitt analysierte,7 hat es zu Unrecht einen dubiosen Ruf. Es lohnt sich, die von Schmitt in der Romantik erkannten Wahrnehmungsmuster genauer ins Auge zu fassen. Occasio ist für Schmitt ein Begriff für den Zufall, der die Causa, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, verneint. Der Romantische Occasionalist löst alles auf, was dem Geschehen eine logische Ordnung und Konsequenz gibt. Er genießt in jedem Ding den „Schauer unberührter Möglichkeiten“ und entleert das Sein gerade dadurch von überprüfbarer Empirie des Faktischen.8 II

Amsterdam 1964

Gemessen an den Beispielen der Verknüpfung von Waffenfabrik und Schreibmaschine, Aufspüren von U-Boot-Geräuschen und Pink-Floyd-Schallplatten ist mein autobiographischer Ausgangspunkt harmlos. Es gehört zu den Gesetzen des Genres Autobiographie, aus dem Nicht-Wissen der Zusammenhänge Erzählmuster zu schöpfen, die in „dunkler Erkenntnis“ das Daseinsgefühl erhöhen. Die Geschichte beginnt folglich mit der Wendung: Es kann kein Zufall sein, dass ich 1964 auf dem Flohmarkt von Amsterdam eine zerkratzte Schallplatte von Igor Strawinskys Petruschka erstehe, im selben Monat die Single Twist and Shout kaufe, währenddessen David Riesmans The Lonely Crowd (1958) lese, Arnold Gehlens Die Seele im technischen Zeitalter studiere und zur gleichen Zeit Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit mein Kultbuch wird. Nicht von ungefähr besichtige ich im gleichen Jahr die erste POP ART Ausstellung im Stedelijk Museum, sammle Zeichnungen von Ad Veldhoen aus der Provo-Bewegung in Amsterdam und Horst Janssen aus Hamburg und renne schließlich am 5. Juni mit meiner Freundin Loes und 10 000 anderen die Grachten entlang, um die Beatles (leider war Ringo Star erkrankt und wurde ersetzt) leibhaftig auf einem Grachtenboot zu sehen. Ich hatte doch David Riesmans Die einsame Masse gelesen, warum sollte ich mich also in einer Massenbewegung entlang der Amsterdamer Grachten nicht glücklich fühlen? Was könnte die genannten Faktoren, Lektüreerfahrungen, Hörerlebnisse, Straßenbündnisse, Tanzformen, sexuellen Freiheiten etc. verknüpfen? Früher hätte man sich auf den „Zeitgeist“ berufen, die materielle Basis der BRD und 7  Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin: Duncker & Humblot 1998. 8  Ebd., S. 99.

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der Niederlande oder den Pillenknick zitiert – heute könnte man an seine Stelle die „mediale Umwelt“ oder die Disposition einer Nachkriegsgeneration in Westdeutschland nennen – höchst unsichere Formen des Wissens. Auf jeden Fall begann zu diesem Zeitpunkt die Wanderung der Single, eines Dings mit Schall, um die es mir im Folgenden geht. Allerdings dauerte es ziemlich lange, bis der Transgression von Dingen wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. III

Das Auftauchen der Dinge

Eine der seltsamsten Wendungen in den an Wendungen nicht armen Kulturwissenschaften war die „Wiederkehr der Dinge“ (wo hatten sie sich zuvor versteckt?). In den Kulturwissenschaften bedurfte es eines großen Reflexionsaufwands, um ihre Ankunft zu begrüßen. Schwieriger noch, sie zu legitimieren. Anders als in der Volkskunde, wo die Dinge als Sammelobjekte immer schon ein Heimrecht hatten, waren sie bei uns lange ausgesperrt. Wer von den Dingen sprach, sah sich, wie Friedrich Balke sich erinnert, schnell dem Ontologieverdacht ausgesetzt.9 Die Dinge blieben im Vorraum wissenschaftlicher Vermittlung oder fristeten als mathematisch-physikalische Objekte, als Fakten jenseits der Lebenswelt, ihr Dingsein. Die klassifizierenden Netze, von denen sie umhüllt waren, mussten vergessen werden, um sie in ihrer taktilen Präsenz wieder zu gewinnen. Jetzt hieß es: Schluss mit dem Konstruktivismus, der die Dinge nur als adressierte, mental zugerichtete existieren ließ. Aber aus allen Klassifikationen gerettet, mutterseelenallein, ausgesetzt und von allen guten Geistern der Funktion und des Gebrauchs verlassen vor sich hin fröstelnd sollten die armen Dinge auch nicht bleiben. Sie haben ihre eigenen Tücken. Sogar Wirkkraft wird ihnen – nicht ohne Berufung auf Spinoza und Deleuze – zugebilligt. Schließlich werden sie Agenten im Handlungsraum. Das ist ihre Rache. So auch die der Single Twist and Shout im Frühsommer 1964, der ich mich als einem durch mein Leben wandernden Ding widme. Die Arbeit der Erinnerung tendiert, wie gesagt, zu einer Überschätzung des Ordnungsgrads der Vorfälle, neigt dazu, die Zeitachse, die die Ereignisse von einander trennt, umzulegen, um alle Dinge, Vorfälle und Wahrnehmungen, kurz: alle Zufälle in einen Rahmen der Gleichzeitigkeit zu bringen Die Rhetorik der Kontingenz (Zauberwort des Realismus-Ticks, von dem Goethe 9  Friedrich Balke, „Einleitung“, in: ders., Maria Muhle und Antonia von Schöning (Hrsg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012 (= Kaleidogramme 77), S. 7–16.

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anerkennend sprach, und den Nietzsche aufgriff) fingiert dabei nachträglich Vorfälle als Zufälle, um den Schein des Realen zu erzeugen. Dabei stärkt sie paradoxerweise die magische Gewissheit der Zusammenhänge aus dem Nicht-Wissen. IV

Spiegelgracht 22

1962 bis 1964 studierte ich in Amsterdam Germanistik und lief mit einem Mantel der niederländischen Luftwaffe herum, was nichts zu bedeuten hatte, und einer Aktentasche, in der sich das jeweils aktuelle Buch befand. Ich hörte Twist and Shout und Petruschka in einem Grachtenhaus, in dem ich mit meiner Freundin wohnte. Spiegelgracht  22, in der Nähe des Rijksmuseums (inzwischen bis zur Unkenntlichkeit renoviert). Es gehörte der Schwester des Freundes Dick Kwakkelstein und hatte eine Breite von ca. 2 Meter 50. Eine Besonderheit des Hauses bestand darin, dass wir alle paar Monate die Türen abhobeln mussten, weil es unaufhaltsam in Amsterdams sumpfigen Untergrund zu sinken drohte. Das große Fenster zur Gracht klemmte, es wie vorgesehen nach oben aufzustemmen, war nicht mehr möglich. Alles war verbraucht. Der Geruch von Kaffee, verbranntem Öl des Heizofens und dem Brackwasser der Gracht erfüllte das einzige Zimmer. Kurz: wir waren glücklich. Nichts, so wird man sagen, spricht für den Zusammenhang von Strawinskys Ballettmusik Petruschka, uraufgeführt im Juni 1911, und der Single der Beatles. Ich war in den 1950er Jahren fern vom Milieu der Rock ’n’ Roll-Musik aufgewachsen, hatte mich vielmehr im Milieu „vergifteter Harmonien“, wie Adorno zu sagen pflegte (und damit wahrscheinlich die ganze Atmosphäre der 1950er Jahre traf), befunden. Mein Vater besaß eine Schallplatte mit dem B-Moll Klavierkonzert von Tschaikowski, gespielt von van Cliburn; mein Bruder hörte Mantovani, ich liebte Caterina Valente und hörte die Hitparade von Chris Howland, der als Radio-DJ neben deutschem Liedgut auch HarryBelafonte-Platten auflegte. Allerdings hatte mich der Film Saat der Gewalt (Blackboard Jungle) tief beeindruckt. Der Film beginnt und endet mit dem Song Rock Around the Clock von Bill Haley & His Cornets. Er wurde dank der Einspielung im Film weltweit zur „Marseillaise der Teenager Revolution“ (Lillian Roxon). Als ich jetzt an den Film dachte, erinnerte ich mich an Bilder der schwarzen Lederjacken der Gang, bis mir klar wurde, dass meine Erinnerung Bilder aus dem Film On the Waterfront (Die Faust im Nacken, 1953/54) mit Bill Haleys Rockmusik kombiniert hatte. Das Opfer der Verwechslung war Glenn Ford, den ich gegen den markanteren Marlon Brando austauschte.

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Rock Around the Clock hatte ich ins Milieu der Faust im Nacken transplantiert. Die Überblendung hatte zur Folge, dass die Rock ’n’ Roll-Musik in die Ferne einer proletarischen Welt rückte, zu der ich keinen Zugang hatte. V

Twist and Shout und Petruschka

War es die schäbige Atmosphäre des Hauses Spiegelgracht 22, die beide Schallplatten miteinander verknüpfte? Adorno attestiert der Petruschka eine „Imago des Schäbigen, Verfallenen“.10 Für die Pop-Musik stellte Diedrich Diederichsen später die „Nähe zum Schmutz, die Vertrautheit mit dem verfemten Dreck“ fest, in der man die „Aura des Wirklichen“ erfahren habe.11 1958 war Adornos Buch Philosophie der Neuen Musik erschienen. Ich kannte seine vernichtende Kritik von Strawinskys Musik. Man wurde vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder schloss man sich dem progressiven Lager Schönbergs an, oder man entschied sich für die regressive Musik des Russen. Die Wahl für Strawinsky fiel mir nicht schwer. Erst heute habe ich, wenn ich Adornos Urteil über Petruschka wieder lese, eine Ahnung davon, was mich damals daran fesselte und wie sich die Verbindung mit Twist and Shout herstellte. Wenn man die von Adorno negativ beurteilten Eigenschaften Petruschkas positiv umpolt und in seinen Negationen die Impulse des Aufruhrs erspürt, kann man die Pluspunkte für Petruschka leicht aufzählen: – Adorno kritisiert, dass in Strawinskys Musik „Die rhythmische Gliederung nackt“ hervortritt;12 – Strawinsky zieht es Adorno zufolge unaufhaltsam dorthin, „wo Musik hinter dem entfalteten bürgerlichen Subjekt zurückgeblieben, als intentionsloses fungiert und körperliche Bewegungen anregt, anstatt noch zu bedeuten.“13 So wollten wir es haben! Da ich gerade von Benjamins Reproduktions-Traktat gelernt hatte, dass die Versenkung in die Bedeutung des Kunstwerks eine Schule asozialen Verhaltens sei, empfand ich die „Intentionslosigkeit“ der Körperbewegungen, in die der Russe mich führte, als Befreiung von der Schwerkraft des Tiefsinns der Väter. Der „Weg in die vaterlose Gesellschaft“ (Mitscherlich 1963) war auch ein 10  11  12  13 

Theodor  W.  Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1995 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 239), S. 135. Diedrich Diederichsen, Über POP-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 42. Adorno, Philosophie der neuen Musik (Anm. 10), S. 131. Ebd., S. 135.

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Abschied von der Suggestion der Bedeutungstiefe der Kunstwerke. Tiefsinn erschwert die Bewegung. Wir waren keine denkenden Schuster mehr. Insofern begrüßte ich Strawinskys „Oberflächenkunst“, sein „Sekundengeschwirr des Jahrmarkts“, seine „verhöhnende Nachahmung aller von der offiziellen Kultur verworfenen Musik“.14 Der „Abbau des Inwendigen“, den Adorno in Strawinskys Musik fürchtet, könnte den Bewegungsraum ausweiten. Ich wünschte eine Gesellschaft mit mobileren Gliedern und offenen Fenstern, aus der die Stickluft, die die alte Funktionselite des NS-Staates im Rechts- und Verwaltungsapparat der BRD der 1950er Jahre immer noch verbreitete, wegströmen konnte. Die inneren Steuerungsorgane (das „Inwendige“, von dem Adorno spricht) hatten, dachten wir, beinahe generationenweit versagt. Der von den Vätern kulturkritisch verteufelte Markt bot mehr Spielräume, die Signalwelt der Medien versprach Ferne und Abschied vom Deutschsein. Die von Adorno gefürchtete „Erosion des Subjekts“ enthielt keinen Schrecken. In der „einsamen Masse“ konnte man sich auf „tertiärem Sektor“ wohlfühlen – das lernte ich bei David Riesman. Die ambivalenten Züge, die er den großstädtischen Massen zuschreibt, durften überlesen werden. Von Gefühlen der „Entfremdung“, die wir in der Masse hätten haben müssen, konnte in der Masse der Beatles-Fans keine Rede sein. Kurz, wir waren Leute, die für Adorno schrecklich waren, Leute, die „Detektivromane goutierten“ und Glück in der „unartikulierten Menge“ fanden.15 VI

Die Single aus dem Labor und die Anziehungskraft der Performer

„Pop-Musik ist ein Nachrichtenkanal, der über Mobilität informiert“,16 bemerkt Diederichsen. Petruschka und Twist and Shout waren für mich Speichermedien kinetischer Impulse. Erinnere ich mich an den Text zur Musik? Ich hatte ihn offenbar nicht nötig. Eine Single  45 UM diktiert bekanntlich eine Zeitstruktur von 2,5 bis 4 Minuten. Twist and Shout dauerte 2 Minuten und 27 Sekunden, auf anderen Aufnahmen  2 Minuten und 32 Sekunden. Die  45er Single ist auf Wiederholbarkeit angelegt. Twist and Shout war als Cover-Version ohnehin eine Wiederholung. Wie die meiste Pop-Musik wurde die Platte in einer künstlichen, von der Welt des Massen-Konzerts getrennten Laborsituation aufgenommen, abgemischt, 14  15  16 

Ebd., S. 132. Adorno, Philosophie der neuen Musik (Anm. 10), S. 134. Diederichsen, Über POP-Musik (Anm. 11), S. 242.

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soundmanipuliert und produziert.17 In diesem Fall am 11. Februar 1963. Dank Wikipedia kursiert folgende Legende von ihrem Herstellungsprozess. Die Beatles hätten an diesem Tag in 10 Stunden 11 Songs aufgenommen. The producer George Martin knew Lennons voice suffer from performance, so he left it until last, with only 15 minutes of scheduled recording time remaining. Lennon was suffering from a cold, and was drinking milk and sucking on cough drops to soothe his throat. His coughing is audible on the album, as is the cold’s effect on his voice.

Die Legende ist lehrreich. Die Single ist ein technisches Produkt, hergestellt in dem vom Publikum abgeschirmten Aufnahmestudio. Die Technizität des Vorgangs ist darauf abgestellt, ein „Zeugnis für die Körperlichkeit des Stars“ auszustellen.18 Die Rauheit der aufgezeichneten beinah versagenden Stimme ist so zu einem „existenziellen Index“ geworden, sie verbürgt in ihrer Ausstellung angerauter Stimmbänder und erschöpften Kehlkopfs „echte“ Präsenz.19 Gleichzeitig ermöglicht die Schwäche der nicht für Kunstlieder oder Opernarien geeigneten oder trainierten Stimme „das Gleiten vom Musikalischen ins Außermusikalische“.20 Sie suggeriert die Berührbarkeit des Sängers. Das heizt den Wunsch des Publikums an, den Star außerhalb des Studios leibhaftig zu haben. Darum rannten wir mit 10 000 anderen an den Grachten entlang, um die Performer einzufangen. Besonders Wagemutige sprangen ins Wasser, um ins Boot der Musiker zu klettern. Sie machten die Erfahrung der Unberührbarkeit ihrer Idole – und der Berührbarkeit der Polizei. VII

Objects of Rebellion?

„Pop-Musik stellt kleine Ensembles des Aufbruchs her, die nie über ihre langjährige Konsequenz Auskunft geben müssen“21 – ein lapidarer Satz von Diedrich Diederichsen – mit weitgehenden Konsequenzen. Ich halte das down-scaling, das Diederichsen hier mit dem Begriff der Rebellion vornimmt, indem er von „kleinen Ensembles des Aufbruchs“ ohne Langzeitperspektive spricht, für realistisch. Phasen des Aufbruchs haben ihre zeitlichen Grenzen, eben die Grenzen eines vergänglichen Ensembles. 17  18  19  20  21 

Ebd., S. 41. Ebd., S. 271. Ebd., S. 241. Ebd. Ebd., S. 245.

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Die Impulse der Single blieben 1964 für mich in einem relativ geschlossenen Kreis von literarischen Erfahrungen, gesittetem Sex, medientheoretischen Erkenntnissen und der Einübung eines Lässigkeitskults. Sie unterliefen in Amsterdam das Kontrollauge der sittlichen Norm in Deutschland, entfernten sich aus der Schamkultur der Eltern und waren nicht auf Zukunft ausgerichtet. Der Richtungsvektor der Studentenrevolte war ihnen bis Oktober 1964 noch nicht eingepflanzt. Im Twist als Tanzform erschöpfte sich das Bewegungspotential – kreisförmig. Das Ganze blieb geschlossen, aber heterogen gemischt. Im Kino fesselten mich Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais, Wilde Erdbeeren von Ingmar Bergmann und der James Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau. Im September 1963 nahm ich zum ersten Mal an einer politischen Demonstration in Amsterdam teil. Anlass war die Ermordung Kennedys. Erst nach der Übersiedlung nach Westberlin im September  1964 wurden die Bewegungsenergien mit einem eindeutigen Richtungsvektor versehen, der im kinetischen Traum von Twist and Shout nicht vorgekommen war. Im Kino sahen wir Viva Maria, Außer Atem und Leichen pflastern seinen Weg als Wahrnehmungsschulung für die korrekte Revolte, die uns Experten des Berliner SDS zu verstehen gaben. Unter den politischen Freunden stand man als Anhänger der Beatles auf verlorenem Posten. Hier herrschten die Rolling Stones – weil sie dem Proletariat näher standen. Hier wurden die Bewegungsenergien von der Klassentheorie des Marxismus, der Soziolinguistik, Herberts Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft (großes Gelächter im Argumentclub als wir erfuhren, wie Marcuses Titel Eros and Civilisation ins Deutsche übersetzt worden war), Wilhelm Reichs Massenpsychologie und Benjamins ReproduzierbarkeitsThesen und vieles mehr für den Richtungsstreit der Studentenbewegung zugerichtet. Die Musik geriet ins Handlungsfeld des Protests gegen den Vietnam-Krieg. Die Archive der schweigenden Väter mussten in der Forschung aufgebrochen werden. Ab und zu mit Gewalt. Auch eine glückliche Zeit – aber im vergänglichen Ensemble des Aufbruchs. Ende der 1960er Jahre dann die endgültige Aufspaltung der Rebellion in die Lebensstilexperimente der alternativen Szene, die militante Szene der RAF und die Zähmung der Energien in den Apparaten verschiedener Parteibildungen (KPD/ML, KPD/AO, KBW, DKP und andere). Pop-Musik, einmal „Negation jeder Sesshaftigkeit“,22 (Paul McCartney/John Lennon, She’s Leaving Home) gab es weiter, sie füllte statische Räume, animierte WGs, verband sich mit Strömungen des Tunix der „Postmoderne“. Ein stillstehendes Ensemble, vielleicht ein Tümpel, schien mir, in den man zur Regeneration von Energien, die man politisch verbraucht hatte, eintauchen konnte. Eigentlich eine Zeit 22 

Ebd., S. 249.

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der Erfahrung, die man verpasste, wenn man fünf Jahre in dem total unmusikalischen Milieu eines maoistischen Parteiapparats verschwand. Die Rekonstruktion dieser kurzen Geschichte wird hier durch einen ominösen Energiebegriff (als Platzhalter für Nicht-Wissen) in einem Erzählmuster zusammengehalten, das in „dunkler Erkenntnis“ das Daseinsgefühl erhöht. VIII

Das Ding

Meine Single ist bei rund zwanzig Umzügen verloren gegangen. Ich kann mich ihm jetzt als einem technischen Objekt widmen, das der Aufmerksamkeit entging, als es noch ein Träger von Bewegungsenergien war. Die Pop-Musik war in den 1960er Jahren noch primär eine Single- und keine Album-Musik. Die  1949 vom Elektronik Konzern RCA Victor auf dem amerikanischen Markt eingeführte „kleine schwarze Scheibe mit dem großen Loch“ (Wolfgang Hagen) hatte die 78er Schellackplatte abgelöst.23 Sie dominierte bis Ende der 1960er Jahre. Singles sind Schallplatten, die in Serie gehört werden wollen. Das Gesetz der Serie bestimmt ihre Materialität. Das große Mittelloch machte sie zum „world fastest changer“.24 Sie konnte schnell in der Jukebox gewechselt werden, sie gehörte zur Praxis des Jukeboxhörens. Mit der Single setzte sich der Grundsatz zeitweilig durch, dass nicht die Performance den Ausschlag gab, „[r]ecords were the music’s initial medium“.25 Sie diktierten den Zeitrahmen von durchschnittlich 2,5 Minuten, ein Zeitraum der den athletischen Mühen des Twist-Tanzes z. B. angemessen war. Transparenz und Klangtreue der Aufnahmen waren sekundär. Primär war die Lautstärke. PS I 1967 traf ich im Rahmen einer Tagung über Adornos neues Buch Negative Dialektik zum ersten Mal den berühmten Kulturphilosophen persönlich. Es war in einer Burg an dem Fluss Nahe, woher berühmte Weinsorten stammen. In dem Weinlokal, in dem wir uns abends nach der Konferenz trafen, stand 23  24  25 

Jens Gerrit Papenburg, Hörgeräte. Technisierung der Wahrnehmung durch Rock- und Popmusik, Diss. HU Berlin  2012, S.  143, (20.09.2017). Ebd., S. 156. Ebd., S. 145.

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glücklicherweise eine Jukebox. Um den Verächter der Massenmusik zu quälen, legten wir – eine kleine Gruppe von Studenten des SDS, die Stipendiaten der Deutschen Studienstiftung (die von nichts wusste) waren – pausenlos Platten wie Hey Jude, Ruby Tuesday etc. auf. Der Philosoph widmete sich seelenruhig dem Wein und seiner kleinen Freundin. Das hat mir imponiert. PS II Nach allen spirituellen Abenteuern der 45er Platte Twist and Shout ist es erholsam, sie wieder als schieres Ding, als brechbares Stück Plastik zu betrachten, wie ein kleiner Film von Karl Valentin demonstriert. Er betritt einen Schallplattenladen und treibt die Verkäuferin mit seiner Bitte, eine Platte mit Schall zu kaufen, in Verzweiflung, weil keine der vorgespielten Musikstücke seinen Geschmack trifft. Im Grunde ist er gar nicht an der Klangdimension des neuen Tonträgers interessiert. Bis ihm Liesl Karlstadt die neueste Errungenschaft der Schallplattenindustrie demonstriert: Biegsame Vinyl-Scheiben. Das enthusiasmiert ihn. Und während Liesl Karlstadt im Lager nach weiteren Exemplaren sucht, überprüft Valentin die vor ihm liegenden Schallplatten auf ihre Biegsamkeit. Die meisten brechen. Die Bruchstücke schmecken nicht einmal. Was ist das für ein Zeug, auf dem die symbolischen Medien beruhen. Man kann es noch nicht einmal in den Kreislauf der Ernährung bringen. Es ist kein Zufall, dass dieser Film 1934 gedreht wurde. Kann kein Zufall sein.26

26 

Vgl. auch meine Autobiographie Helmut Lethen, Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen, Berlin: Rowohlt 2020 sowie Helmut Lethen, „Amsterdam 64: The Magic Transgression of the Single Twist and Shout“, in: Katja Müller-Helle (Hrsg.), The Legacy of Transgressive Objects, Berlin: August Verlag 2019, 21–37.

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Die Fernschule. Perspektiven zerstreuten Lernens Michael Niehaus I Die Fernschule – so lautet der Titel einer recht unbekannten Erzählung aus der Feder von Kurd Laßwitz. Sie erschien erstmals in der Berliner Zeitschrift Die Woche im Jahre  1899 und dann in einem Band mit Erzählungen von Kurd Laßwitz mit dem Titel Nie und Nimmer im Jahre 1902. In der deutschen Literaturwissenschaft hat die Erzählung – wie es scheint – bislang keinerlei Interesse erregt. Allerdings wurde ihrer in einer Ausstellung mit dem Titel Zur Geschichte des Fernstudiums gedacht, die das Deutsche Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen im Sommer 1992 gezeigt hat. Unter den Exponaten war ein Exemplar der Erzählung, versehen mit der Legende: „Science Fiction und Fernstudium: das ‚telephonische Gymnasium‘ des Jahres  1999 aus der Sicht der Jahres  1899“. Der dem Exponat beigegebene Kommentar enthält nicht nur einen kleinen Charakterisierungsversuch der Erzählung, sondern gibt auch sehr gut Auskunft darüber, welchen Platz der Diskurs der Historiker – in diesem Fall mit dem ausgefallenen Spezialgebiet ‚Geschichte des Fernstudiums‘ – einem fiktionalen literarischen Text einzuräumen gewillt ist: In dieser geradezu prophetischen Erzählung des Gymnasialprofessors Dr. Kurd Laßwitz (1848–1910) in Gotha, einem der Väter der Science-fiction-Literatur, wird nicht nur ein bedeutend verbesserter ‚Phonograph‘ vorgestellt, der alle Eigenschaften des modernen Kassettenrecorders aufweist, sondern auch die Verwendung des Bildtelefons (oder sollte man es ‚interaktives TV‘ nennen?) im Fernunterricht vorhergesagt. Es gibt überdies keine bisher bekannte frühere literarische Quelle für das Wort ‚Fernschule‘. Und auch die geschilderte Fernunterrichtspraxis läßt sich mit modernen Definitionen des Fernstudiums mühelos vereinbaren.1

Eines fällt an diesem Kommentar besonders auf. Dem literarischen Text wird bescheinigt, Dinge vorweggenommen zu haben: Das Wort „Fernschule“ ist im Laufe des 20. Jahrhunderts gebräuchlich geworden, aber zuerst taucht es in einem literarischen Text auf; die Erzählung ist – so wird nahegelegt – prophetisch, weil sie einen verbesserten Phonographen (oder genauer: eine 1  Rudolf Manfred Delling (Hrsg.), Zur Geschichte des Fernstudiums, Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien 1992, S. 58.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_007 .7

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Kombination von Phonograph als Aufnahmegerät und Grammophon als Abspielgerät) und sogar das Bildtelefon imaginiert, das dann auch noch mit dem modernen Begriff des ‚interaktiven TV‘ in Verbindung gebracht werden kann. Solche Würdigungen literarischer Einbildungskraft, die sich insbesondere auf die Verwendung von Medien beziehen, sind stets zweischneidig. Sie setzen sozusagen ein Primat der Realgeschichte über die Fiktion voraus: Der Beweis dafür, dass die literarische Einbildungskraft keine bloßen Hirngespinste ausgebrütet hat, ist der weitere Realverlauf der Mediengeschichte mit den Entwicklungen von Kassettenrecorder und interaktivem TV. Bei dem literarischen Genre, das sich Science Fiction nennt, ist eine solche Sichtweise natürlich besonders naheliegend. Es stimmt in der Tat, dass Kurd Laßwitz der erste bedeutende deutsche Science-Fiction-Autor gewesen ist (weshalb von der Zunft auch jährlich ein Kurd-Laßwitz-Preis vergeben wird).2 Schon 1879 hat er sich beispielsweise in der im Jahre  2371 spielenden Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins ein sogenanntes Geruchsklavier (Ododion) ausgedacht, auf dem die Protagonistin namens Aromasia bei ihren berühmten Konzerten fulminante Kompositionen zum Besten gibt. Man sollte meinen, dass solch abwegige Ideen von der Geschichte widerlegt werden. Aber die Geschichte widerlegt solche Dinge immer nur vorläufig (und insofern überhaupt nicht). Im Sommer  2016 präsentierte der österreichische Künstler Wolfgang Georgsdorf der Berliner Öffentlichkeit die elektronisch gesteuerte Geruchsorgel Smeller  2.0, um sogenannte Osmodramen aufzuführen.3 Aber nicht erst diese (späte) Realisierung macht die literarische Phantasie interessant. Die Literatur ist nicht gehalten, sich auf die Realgeschichte festzulegen oder auf Wahrscheinlichkeiten zu konzentrieren, sie kann sich ‚zerstreuen‘. Wenn die Wirklichkeit ihr darin folgt, kann sie sich freuen. Entsprechendes gilt auch für die Erzählung Die Fernschule. Im Folgenden soll zwar auch das Funktionieren des Textes in Betracht gezogen werden, vor allem aber soll es darum gehen, etwas über die Logik der Institution Fernschule herauszufinden. Denn dies ist die Sache, um die es in diesem Text geht und über die es mit seiner Hilfe nachzudenken gilt.

2  Vgl. Dietmar Wenzel (Hrsg.), Kurd Laßwitz. Lehrer, Philosoph, Zukunftsträumer. Die ethische Kraft des Technischen, Meitingen: Corian-Verlag Wimmer 1987 (= Edition Futurum 10). 3  Kurd Laßwitz, „Bis zum Nullpunkt des Seins“, in: ders., Traumkristalle. Utopische Erzählungen, Märchen, Bekenntnisse, Berlin: Das Neue Berlin 1982 (= SF Utopia), S. 157–201; vgl. für die zeitgenössische Geruchsorgel die Website von Wolfgang Georgsdorf und dort zum OsmodramaFestival (www.georgsdorf.com).

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II Die Erzählung beginnt damit, dass ein Gymnasialprofessor namens Frister an einem Sommertag des Jahres 1899 etwas ermüdet zu Fuß von der Schule nach Hause kommt und in Erwartung des Mittagessens am Schreibtisch nach und nach in zerstreute Gedankengänge und dann in eine Träumerei verfällt. Man sei doch, sinniert er zunächst, „in der Schultechnik noch sehr zurück“ (70).4 Vor allem sollte man doch „einmal etwas Besseres finden als diese alte Praxis, daß Lehrer und Schüler in einer Klasse zusammenlaufen“ (70). Dieses Präludium deutet bereits an, dass das Gedankenexperiment der Fernschule in diesem Text nicht zu Nutzen und Frommen von Schülern unternommen wird, die nicht in den Genuss einer Präsenzschule kommen können, sondern der Überbürdung der Lehrkräfte durch die Interaktionssituation Unterricht abhelfen soll: Das „viele Reden und das Aufpassen und der Ärger über dieselben Dummheiten und der Weg“ – das sind die vier Monita, die der Geographielehrer Frister in seinem Selbstgespräch namhaft macht. In hundert Jahren, so erwartet er – einer unspezifischen Technikgläubigkeit huldigend – gäbe es eine „Lehrerschaft, die sich der modernsten Technik bedient; keine Entschuldigungen, keine Täuschungsversuche, keine Kindereien, keine Missgriffe, keine Überbürdung“ (70). Mithilfe neuer Medientechniken sollen also die Ineffizienz und Dysfunktionalität der Institution Schule als einem Ort sozialer Interaktion gelöst werden. An dieser Stelle geht der innere Monolog des Professors Frister – ohne dass es im Text eigens markiert würde – in einen Traum über, in dem unvermittelt sein Kollege mit dem verheißungsvollen Namen Voltheim bei ihm eintritt, um ihm die „Fernschule“ als eine „ganz vorzügliche Einrichtung“ (70) anzupreisen.5 Der Rest der Erzählung spielt – bis auf das obligatorische Erwachen am Schluss – mithin als Traum im Jahre  1999, in dem sich Professor Frister unversehens mit den Anforderungen des Fernunterrichts als „Fernlehrer der Geographie am zweihundertundelften telefonischen Realgymnasium“ (71) konfrontiert sieht, wobei Voltheim die Rolle des Erklärers und Ratgebers übernimmt.

4  Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf: Kurd Laßwitz, „Die Fernschule“, in: ders., Traumkristalle (Anm. 3), S. 69–79. 5  Dies ist die Stelle des unmarkierten Übergangs: „[…] keine Entschuldigungen, keine Täuschungsversuche, keine Kindereien, keine Mißgriffe, keine Überbürdung – ideale Zustände! Warum kann ich nicht bis dahin – vielleicht – Urlaub nehmen; komisch, daß mir das noch nie eingefallen ist – sehr komisch –, ich muß noch einmal fragen … Hat es eben nicht geklopft – Ach Sie sind es, Kollege Voltheim – das ist ja sehr nett! […]“ (70).

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Man kann sich fragen, ob man dieses Setting eigentlich dem Science-FictionGenre zurechnen will. Schließlich spielt nicht die Erzählung in der Zukunft, sondern – und das ist entscheidend – nur der Traum. Auf diese Weise werden die Konsistenzerwartungen, die an das Gedankenexperiment einer ScienceFiction-Erzählung geknüpft sind, zugunsten einer spielerischen Phantastik preisgegeben. Weil die Erzählung einen Traum erzählt, erscheint sie selbst als eine zerstreute Träumerei,6 in der die Zukunftsvision von vornherein in ein satirisches Licht getaucht ist. Unversehens ist der Gymnasialprofessor Frister, wie ihn der Kollege Voltheim aufklärt, jemand, der schon im Jahre  1977 eine Broschüre über die Institution Fernschule verfasst und im Übrigen seinen Vortrag für die gleich beginnende Geographiestunde schon gestern auf den Phonographen gesprochen hat. Die mediale Anordnung für diese exemplarische Fernlehrstunde sieht folgendermaßen aus: An der Stelle des Bücherregals im Arbeitszimmer – Gutenberggalaxis ade – befinden sich nunmehr „einige dreißig rechteckige Rahmen“: Bildschirme, auf denen die Schüler von Fristers Abiturientenklasse zu sehen sind, „in bequemer Haltung, jeder auf seinem Lehnsessel“ (72). Denn sie befinden sich, wie Voltheim erläutert, „in Wirklichkeit nicht etwa in einem Klassenzimmer, sondern die meisten von ihnen sitzen in ihren eigenen Wohnungen, geradeso wie Sie selbst. Nur wo die Eltern nicht die Mittel haben, den gesamten Fernlehrapparat im Hause unterzubringen, begeben sich die Schüler zu den dazu eingerichteten öffentlichen Fernlehrstellen“ (72). Möglich ist dies, weil in den Jahren zwischen 1899 und 1999 nicht nur „der Fernsprecher, sondern auch der Fernseher […] so vervollkommnet worden“ ist, „daß man mit den Worten des Redenden zugleich seine Gestalt, seine Bewegungen, jede seiner Gebärden aufs deutlichste wahrnehmen kann“ (72). Insoweit wird also das Unterrichtsgeschehen im Klassenzimmer als eine Art Videokonferenz technisch vollständig implementiert. Die elektronischen Medien machen die Ferne zur Nähe, wie es McLuhan mit seinem Schlagwort vom globalen Dorf verkündet hat. Aber es geht natürlich um mehr als um die Simulation eines Klassenzimmers. Die elektronischen Medien eröffnen die Möglichkeit, die Interaktionen vorab zu strukturieren bzw. zu kanalisieren. 6  Indem an die Stelle der mit Konsistenzerwartungen verbundenen Zukunft in der ScienceFiction-Erzählung eine (bloß) geträumte Zukunft gesetzt wird, in der die Konsistenzerwartungen heruntergeschraubt sind, erweist sich die Erzählung als jenen „literarische[n] Verfahren“ zugehörig, „die sich gerade auf die Seite der Zerstreutheit und Vergesslichkeit zu schlagen scheinen.“ Ute Gerhard, „Literarische Zerstreutheiten – zwischen Vergessen und Erinnern“, in: Günter Butzer und Manuela Günther (Hrsg.), Kulturelles Vergessen. Medien – Rituale – Orte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (= Formen der Erinnerung 21), S. 151–164, hier S. 153.

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Das reale Klassenzimmer ist zumindest insofern tendenziell demokratisch bzw. symmetrisch, als jeder jeden in Lebensgröße sehen und hören kann. Das bringt die Kommunikation unter Anwesenden so mit sich. In der Fernschule à la Laßwitz ist das anders. Dass der Lehrer den Schülern „in einem bedeutend größeren Rahmen“ (73) erscheint, mag man noch als plakative Entsprechung des erhöhten Lehrerpults im Klassenzimmer durchgehen lassen. Weniger harmlos ist der Umstand, dass die Schüler „sich untereinander nicht sehen, sondern nur hören“ können, aber „was sie reden“ – so Voltheim – „das hören Sie dann auch alles. Sie brauchen nur auf die Taste dort vorn zu drücken, so sind Sie angeschlossen, und der Unterricht kann beginnen“ (73). Man muss sich diese Anordnung aus der Sicht der Schüler plastisch vorstellen (was dem Text von seiner Logik her versagt bleibt, da es sich ja um einen veritablen Lehrer-Traum handelt): Die Schüler sitzen in ihrem Sessel frontal vor einem Lehrer in Lebensgröße und sonst sehen sie nichts. Die Simulation des Klassenzimmers existiert nur für den Lehrer. Zwar können die Schüler hören, was andere Schüler sagen, aber dies ermöglicht keine Interaktion – keine Kommunikation unter Anwesenden. Jeder Sprechakt, der nicht an den Lehrer adressiert ist, geht ins ganz und gar Ungefähre (was andere Schüler sagen, kommt für den Schüler sozusagen ebenfalls aus der Richtung des Lehrermonitors). Wie soll man da Revolution machen? Was sich dieser Lehrer erträumt, ist die technisch implementierte Vervollkommnung des Frontalunterrichts. III Insoweit lässt sich das, was die Erzählung von Kurd Laßwitz für uns entwirft, als Karikatur eines Dispositivs bezeichnen – in dem Sinne, wie Giorgio Agamben im Anschluss an Foucault das Dispositiv bestimmt hat als „etwas, in dem und durch das ein reines Regierungshandeln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird“.7 Das Dispositiv definiert Agamben zufolge „eine Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken“.8

7  Giorgio Agamben, Was ist ein Dispositiv? (2006), aus dem Italienischen übersetzt von Andreas Hiepko, Zürich und Berlin: Diaphanes 2008 (= TransPositionen), S. 23. 8  Ebd., S. 24.

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Es liegt an dieser Stelle natürlich nahe, sich über das von der Erzählung entworfene Dispositiv zu erheben und festzustellen, dass die Phantasie (bzw. der Traum) eines Gymnasialprofessors um 1900 eben nur dazu ausreicht, die neuen Medien in den Dienst einer überkommenen Didaktik zu stellen. Aber das wäre vorschnell. Zum einen vermag gerade die Karikatur vor Augen zu stellen, dass jede mediale Anordnung zur Implementierung eines Klassenzimmers ein Dispositiv darstellt, das die Regelungsmöglichkeiten eines Unterrichtsgeschehens in die technologisch-medialen Voreinstellungen verlagert. Das gilt ebenso für das heutige ‚virtuelle Klassenzimmer‘ mit seinen ‚Videokonferenzen‘ mit ‚dozentengeführtem Modus‘, mit den ‚Kooperationsmedien‘, ‚ApplicationSharing‘ oder dem ‚interaktiven Whiteboard‘. Heutzutage werden zwar anders als in dieser Erzählung Dispositive ersonnen, mit denen die zu bildenden Subjekte zum Austausch untereinander angeregt werden sollen – aber eben doch auf kontrollierte, vorstrukturierte Art und Weise (mit Wikis, Workshops usw.). Kein Unterricht ist so wenig kontrolliert, d. h. so kontingent wie derjenige zwischen Anwesenden, insofern es dort keine technischen Voreinstellungen, sondern nur Regeln und Verbote gibt, die übertreten oder umgangen werden können. Zwar kann man den Lernenden verbieten, im Unterricht miteinander zu reden, aber wenn sie dieses Verbot missachten, können sie sich jedenfalls hören und sehen. Zum anderen spiegelt sich in dem in der Erzählung entworfenen Dispositiv natürlich nur die strukturelle Voraussetzung der Schule als einer Institution wider, die am Ende dem Einzelnen bescheinigt, eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen zu haben. Die Lehre dieses Gymnasialprofessors beruht auf einem Vortrag und seine Interaktion mit den Schülern im Abhören des durch den Vortrag vermittelten Wissens. Idealiter besteht die Interaktion zwischen den Schülern (Schülerinnen gibt es in diesem zukünftigen Realgymnasium anscheinend nicht) nur darin, dass sie jederzeit zu Zeugen des jeweiligen Abhörprozesses gemacht werden. Jeder Abhörprozess wird dadurch nebst der in ihm gebotenen Wiederholung zu einem warnenden oder ermunternden Beispiel für die übrigen Schüler. Die durch die mediale Implementierung vorgenommenen Voreinstellungen haben nur den Zweck, die Interaktivität des Unterrichtsgeschehens auf dieses unablässige Beispielgeben zu reduzieren, während alle anderen Interaktionen innerhalb der Gruppe im Hinblick darauf als bloße Störungen zu klassifizieren sind. IV Es lohnt sich, an dieser Stelle einen kurzen Blick auf die Geschichte des Fernunterrichts zu werfen. In der spärlichen Literatur darüber spricht man

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teilweise – recht fragwürdig – von drei ‚Generationen‘9 technologischer Innovation, die diese Geschichte geprägt hätten. Die erste Generation ist die „Korrespondenz-Generation“:10 Kursunterlagen werden verschickt, der Stoff wird im Selbststudium bearbeitet und auf die eine oder andere Weise geprüft; bei diesen Formen des Selbstunterrichts wird der Ehrentitel Fernunterricht mangels „bidirektionaler Kommunikation“ bisweilen noch in Parenthese gesetzt;11 die Briefe gingen in der Regel nur in eine Richtung, obwohl das Medium Post durchaus Briefe in beide Richtungen transportiert. Dies war die vorherrschende Form des Fernstudiums von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre. Das beispielgebende Abhören, in dem eine bidirektionale Kommunikation zwischen Lehrendem und Lernendem mit einer unidirektionalen Kommunikation eben dieses Vorgangs an die übrigen Schüler als Zeugen kombiniert wird, findet dabei natürlich überhaupt nicht statt. Es erscheint entbehrlich, weil diese Art des Korrespondenz-Unterrichts ein selbstgesteuertes (nicht mehr zu disziplinierendes) Subjekt voraussetzt und daher im Grunde nur für den zweiten Bildungsweg bzw. die Weiterbildung gedacht war. Die zweite Generation nach den 1960er Jahren wird als „Telekommunikations-Generation“ bezeichnet. Die neuen Medien ermöglichen, heißt es, „die elektronische Übertragung von Kommunikation in Form von Ton, Bild und Text über Telefon und Fax, Fernsehen, Video und Radio sowie über Audio-, Video- und auch schon Computerkonferenzen“; „Multimedia Distance Teaching“ heißt das dann auch.12 Die elektronischen Medien bringen in dieser zweiten Etappe die Idee des synchronen Fernunterrichts hervor. Der Übergang zur dritten Generation (oder der dritten Phase), in welcher der Personal Computer zum entscheidenden Instrument der Vernetzung wird, ist fließend: Computer Assisted Learning, Computer-Mediated Communication, E-Learning usw. sind hier bekanntlich die Stichworte. Interessant ist, dass die Idee (oder das Phantasma) des synchronen Fernunterrichts weiterhin durch die Konzeptionen geistert, wovon allein schon der Begriff des ‚virtuellen Klassenzimmers‘ oder des ‚Live E-Learnings‘ Zeugnis ablegt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Schon innerhalb der Telekommunikations-Generation gab es dezidierte Einsprüche gegen den synchronen Fernunterricht à la Laßwitz: „Group teaching in front of remote TV screens? 9  10  11  12 

Donn Randy Garrison, „Three generations of technological innovation in distance education“, in: Distance Education 6/2 (1985), S. 235–241. Olaf Zawacki-Richter, „Geschichte des Fernunterrichts – Vom brieflichen Unterricht zum gemeinsamen Lernen im Web 2.0“, in: Martin Ebner und Sandra Schön (Hrsg.), L3T. Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien, Berlin: epubli 2011, S. 45–53, hier S. 46. Ebd. Ebd., S. 49.

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This is not only an awful way to undertake distance learning, but flies in the face of everything we have learned while conducing successful open and supported learning“.13 Warum? Ganz einfach, weil die Synchronizität des Unterrichts die Beteiligten – mit ganz unterschiedlichen Folgen – unter Nichtbeachtung der Unterschiedlichkeit ihres Kontexts in der Zeit zusammenzwingt und dem Diktat des Lernens hier und jetzt unterwirft. Synchroner Unterricht ist strukturell gesehen immer eine Zwangsveranstaltung – ganz gleich, ob sie sich in Form von Präsenzunterricht realisiert oder in medialen Surrogaten. Die Erzählung von Kurd Laßwitz ist also zu Zeiten der KorrespondenzGeneration verfasst und springt – in Vorwegnahme der Weiterentwicklung einiger um 1900 erfundener technischer Medien – als Träumerei nach vorn in die Phase der Telekommunikations-Generation. Erst für sie kommt der Fernunterricht als Rückgriff auf die Institution Schule im früheren Sinne in Frage, also auf einen präsenzbasierten Unterricht, in dem die Interaktion einerseits auf Vortrag und beispielhaftes Abhören beschränkt wird und andererseits eben jene schon genannten Störungen und Dysfunktionalitäten erzeugt werden, die es im Fernunterricht der Korrespondenz-Generation nicht gibt: „Entschuldigungen“ und „Täuschungsversuche“ beim Abhören, weil man nicht aufgepasst oder gelernt hat, „Kindereien“, weil man sich langweilt, „Missgriffe“ des gestressten Lehrers und „Überbürdung“ aller Beteiligten. Dass all dies und noch mehr geschehen kann – dass die Schule nicht nur ein Ort der Sammlung, sondern auch der Zerstreuung ist –, gehört, möchte man sagen, zu ihrem Wesen. Und es macht, möchte man hinzufügen, die Schule zu etwas Wesentlichem. Nicht zuletzt dies ist es, was Literatur und Film immer wieder zur Darstellung bringen. Nur ein Unterricht mit Störungen, Unfällen, unvorhergesehenen Ereignissen und unerlaubten Interaktionen ist ein würdiger und in gewisser Weise auch ‚lehrreicher‘ Gegenstand für Erzählungen. Dies gilt auch für Die Fernschule von Kurd Laßwitz. Vor allem deshalb wäre es vorschnell, diesen Text als Zeugnis einer veralteten Didaktik in neuem technischen Gewande zu den Akten zu legen. Denn nun beginnt die geträumte Unterrichtsstunde, die das vorgestellte Dispositiv mit seinen medialen Voreinstellungen nach und nach dekonstruiert bzw. ad absurdum führt. Dies gilt es im Folgenden zu kommentieren.

13 

John Daniel, „Can you get my hard nose in focus? Universities, mass education and appropriate technology“, in: Marc Eisenstadt und Tom Vincent (Hrsg.), The Knowledge Web – Learning and Collaborating on the Net, London: Kogan Page 1998, S. 21–29, hier S. 21.

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V Die Stunde beginnt wie in einer ‚echten Schule‘ mit einem Klingeln. Wie sollte sonst auch Synchronizität hergestellt werden? Im Imperativ des Klingelns manifestiert sich der Zwangscharakter des synchronen Unterrichts in reiner Form. Nach Maßgabe der Voreinstellungen ist es allerdings bezeichnend, dass Frister seine Schüler auf den Monitoren schon sieht, bevor er – wie es heißt – „auf dem Wege der Fernwirkung in die Klasse getreten“ (74) ist. Da der Lehrer nicht in corpore eintritt, ‚sieht‘ er sein Zugeschaltetwerden nur an den veränderten Verhaltensweisen der Schüler: „Rathenberg steckte seine Zeitung fort, Meyer brachte schleunigst seinen Zigarrenstummel beiseite, Suppard und Neumann schluckten die letzten Bissen ihrer Frühstücksbrötchen hinunter“ (74). Hinter diesen banalen Mitteilungen verbirgt sich natürlich ein sehr allgemeines Problem: das der Abgrenzung der Institution Schule von ihrer Umgebung – man kann auch sagen: das Problem der Schule als Ort. Auf der einen Seite wird die Schulstunde als eine Veranstaltung mit allgemeingültigen Verhaltensregeln anerkannt (Zeitung, Zigarrenstummel usw. werden weggeräumt), auf der anderen Seite wird sichtbar, dass die Schüler von unterschiedlichen Voraussetzungen aus in die Schulstunde eintreten. Auch wenn sich heutige Schüler und Studierende an einer Präsenzuniversität zu Beginn der Schulstunde bzw. der Sitzung ähnlich gebärden wie Rathenberg, Meyer, Suppard und Neumann, so gilt gleichwohl, dass in der Fernschule, in der es beispielsweise statt eines Klassenzimmers mit seiner normierenden Sitzordnung nur einen auf einen Monitor ausgerichteten bequemen Lehnsessel gibt, die individuell verschiedenen Umwelten der Schüler in ganz anderer Weise in den Unterricht eindringen. Die gewissermaßen institutionalisierte Form dieses Eindringens ist die Entschuldigung, das Vorbringen besonderer Umstände, die der Lehrer gelten lassen kann oder nicht. Mit einer Kaskade von Entschuldigungen beginnt daher die geträumte Geographiestunde des Gymnasialprofessor Frister. Meyer bringt vor, er habe in der letzten Stunde gefehlt, weil er sich die zweite Gehirnwindung habe massieren müssen: „meine Eltern haben meine Träume fotografieren lassen, und dabei zeigte sich, dass ich immer von Pferden träume“ (74); Heinz entschuldigt seine Verspätung damit, dass er noch die von der Mutter im Frauenklub auf Spitzbergen liegengelassene „Tascheneiweißmaschine“ (75) habe holen müssen; Schwarz hingegen kommt zu spät aufgrund von Komplikationen mit dem Anschluss an die „Zentralsektleitung“ (76) im Rahmen einer Familienfeier; Brandhaus, der über den Stoff der letzten Sitzung abgehört werden soll, lässt auf Knopfdruck eine Phonographenaufzeichnung

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seines Vaters erklingen, der zufolge er „gestern wegen Übermüdung der Armmuskeln die Schularbeiten nicht machen“ (75) konnte, und auf den Einwand des Gymnasialprofessors, man brauche doch die Arme nicht zum Repetieren, erwidert er: „Unser Motor ist nicht in Ordnung, und so hätte ich den Phonographen, womit ich nachgeschrieben hatte, selber drehen müssen, und das konnte ich eben nicht“ (75). Frister reagiert auf diese erste Unterrichtsphase mit der resignierten Feststellung zu seinem Begleiter Voltheim: „Na, hören Sie, Herr Kollege, Entschuldigungen scheint’s in der Fernschule nicht weniger zu geben als zu meiner Zeit“ (76). Das ist wohl reichlich untertrieben. Tatsächlich bietet jede vom Text genüsslich eingeführte bzw. ‚schnell hingemachte‘ neue Technologie aufgrund ihrer möglichen Dysfunktionen ungeahnte Möglichkeiten neuer – unüberprüfbarer – Entschuldigungen (ein Befund, den wohl jeder Lehrende bestätigen kann). Noch schlimmer kommt es dann aber, als Frister mit der Aufforderung zum Abhören bzw. Repetieren endlich Erfolg hat. ‚Nun, denn, Rathenberg, was haben wir durchgenommen?‘ ‚Die Lichtfernsprechstellen mit Amerika. Aber die gibt’s nicht mehr. Sie sind alle wieder eingezogen, weil man sie durch den chemischen Ferntaster ersetzt hat. Die neuentdeckten chemischen Lösungsstrahlen durchdringen nämlich das heiße Innere des Erdballs, und man ist somit in der Lage, durch die Erde hindurch auf chemischem Wege zu sprechen.‘ (76)

Ob das naturwissenschaftlicher Unfug ist, tut nichts zur Sache. Vielmehr ist zu konstatieren: Wenn die Erde zum globalen Dorf wird, muss sich der Geographielehrer ständig neu orientieren. Das Wissen von Gymnasialprofessor – im Jahre 1999 trägt er den Titel „Naturrat“ – Frister ist eindeutig von gestern. Dass die letzte noch existierende Lichtfernsprechverbindung „seit heute früh auch eingezogen“ ist, hat Rathenberg, wie er hinzufügt, just dem zu Unterrichtsbeginn weggelegten „Berliner Fernanzeiger“ (76) entnommen. Wenn die Technik erst einmal so weit fortgeschritten ist, dass man telekommunikative Fernschulen einrichten kann, dann ist Wissensvermittlung per Vortragskonserve inklusive Abhören offensichtlich keine probate Unterrichtsmethode mehr: Zum Beispiel kann das zur Information gewordene Wissen schneller und verlässlicher anderen Medien entnommen werden. Da also die Schüler ebenfalls mit den neuen technischen Medien ausgerüstet sind, können sie auch das voreingestellte Dispositiv ad absurdum führen. Dies geschieht in einer Art technologischem Slapstick. Der nächste abgehörte Schüler beginnt seine Repetition mit einer Geläufigkeit, „daß Frister den Worten kaum zu folgen“ vermag und schließlich fragt:

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‚Aber, Schwarz, Sie bewegen ja gar nicht die Lippen beim Sprechen. Und warum spielen Sie denn immerfort mit den Fingern da auf Ihrem Tisch? Sie lesen wohl gar ab?‘ ‚Bitte sehr, Herr Naturrat‘ – und Schwarz fingerte weiter auf seinem Platze – ‚ich spiele ja auf der Sprechmaschine. Ich kann nämlich nicht selbst sprechen, weil ich mir die Zunge verbrannt habe.‘ (77)

Die Sprechmaschine ist eine weitere technische Errungenschaft, mit der der Text aufwartet, um die Idee des telekommunikativen Präsenzunterrichts zu zersetzen. Auch auf der Lehrerseite ist das nicht anders. Naturrat Frister, der nach diesen Erfahrungen nicht mehr recht weiter weiß, wird vom Kollegen Voltheim auf den gestern aufgenommen Vortrag verwiesen: „Lassen Sie Ihren Phonographen reden“ (77). Aber dieser Rückzug auf die Konserve misslingt ebenfalls, da sie in Heimarbeit entstanden ist. Die fehlende Abgrenzung von schulischer Institution und Privatleben gibt es in der Laßwitz’schen Fernschule nämlich ebenso für den Lehrer: Mitten in den nun abgespielten Lehrervortrag ist die Gattin des Naturrats mit einer albernen Frage zum Abendessen hineingeplatzt, was bei den Schülern ein schallendes Gelächter auslöst. Es sei doch „etwas fatal bei dieser Fernschule“ (78), bemerkt Frister daraufhin zu seinem Kollegen Voltheim. Und da er sich nun nicht mehr an den Phonographen traut, weiß er nicht, wie er diese Unterrichtsstunde zu Ende bringen soll. Voltheim antwortet mit dem Patentrezept: „Lassen Sie sie doch das Vorgetragene wiederholen“ (78). Die Umsetzung dieses Vorschlags führt dann aber zum finalen Kollaps bzw. Kurzschluss des Dispositivs: Er sah jetzt, wie alle Schüler fast gleichzeitig auf ihre Phonographen drückten, auf denen sie den Vortrag fixiert hatten. Die Apparate schnurrten ab. In ungeregeltem Zusammenklange brausten die vorgetragenen Worte von zwei Dutzend Phonographen an sein Ohr, immer schneller und schneller summte und brummte es, er fühlte, wie ihm in diesem betäubenden Gewirr schwindlig wurde, er stöhnte auf, griff nach seinem Kopf, und auf einmal war es still – ganz still. (78 f.)

Der Witz ist, dass die Schüler nicht den Vortrag in sich aufnehmen, um ihn später in eigenen Worten wiedergeben zu können, sondern dass sie ihn mit dem Phonographen aufnehmen, um ihn später unverändert wieder abspielen zu können. Wenn in der Fernschule Wissen abgehört bzw. abgefragt wird, so ist dies das Telos der Fernschule: Die Lehrkraft hört ausschließlich sich selbst; in vierundzwanzigfacher Verstärkung brandet der von ihr selbst abgespielte Vortrag an ihr Ohr. Der telekommunikative Präsenzunterricht findet zwischen Apparaten statt.

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Es erübrigt sich die Antwort auf die Frage, ob dies mit der Charakterisierung von Laßwitz’ Text in der Ausstellung zur Geschichte des Fernunterrichts – dass sich nämlich „die geschilderte Fernunterrichtspraxis […] mit modernen Definitionen des Fernstudiums mühelos vereinbaren“ lasse – vereinbar ist. Die Literatur hat, indem sie Modelle zusammenbaut und wieder demontiert, etwas mehr zu bieten als diese Vereinbarkeit mit ‚modernen Definitionen‘. Freilich muss man die Texte dafür ernst nehmen. VI Was die Erzählung insbesondere demontiert, ist die Erwartung, dass der telekommunikative Fernunterricht – ich zitiere den zu Anfang noch erwartungsfrohen Frister – „keine Entschuldigungen, keine Täuschungsversuche, keine Kindereien, keine Missgriffe, keine Überbürdung“ (70) kennen werde. Von Entschuldigungen, Täuschungsversuchen, Kindereien und Missgriffen haben wir nun gehört. Bleibt die Frage der Überbürdung, die ich bis jetzt vorenthalten habe und nun abschließend behandeln möchte. Es handelt sich hier um den vielleicht erstaunlichsten Aspekt dieser satirischen Erzählung. „Überbürdung“ ist um 1900 ein Modebegriff.14 Er gehört in den großen Komplex der Klagen über die moderne Beschleunigung als Ursache und Auslöser für Erschöpfung und Nervenschwäche. Überbürdung meint in diesem Zusammenhang, dass diejenigen, die sich nicht dagegen wehren können, unter widrigen Umständen mit Aufgaben überfordert und mit Stoff vollgestopft werden. Das sind vor allem die Schüler, deren drohende Überbürdung vor allem im Rahmen der sogenannten Schulhygiene thematisiert wird. Das ist um 1900 ein weiterer Modebegriff. Das Wort Hygiene ist in diesem Zusammenhang noch in einem umfassenderen Sinne zu nehmen, der die richtige Ernährung der Schüler und die ausreichende Luftzufuhr im Klassenzimmer ebenso einschließt wie das Problem des zu Beginn des 20. Jahrhunderts vieldiskutierten Schülerselbstmords oder eben das Problem der Überbürdung.

14 

Vgl. etwa: Anonymus, Die Wahrheit in der Frage der Überbürdung unserer Schüler. Allen Eltern, allen Lehrern und den Freunden der Erziehung zur Erwägung dargebracht von einem erfahrenen Schulmanne, Dresden: Verlag und Druck von Julius Reichel 1891. Für die Überbürdung als Thema der Literatur dieser Zeit vgl. Gwendolyn Whittaker, Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne 1880–1918, Göttingen: V & R unipress 2013 (= Literatur- und Mediengeschichte der Moderne 2). Leider diskutiert diese Arbeit vor allem kanonische Literatur (Wedekind, Thomas Mann, Conrad Ferdinand Meyer, Musil usw.).

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Es handelt sich also um eine Sache, die unter anderen Namen seitdem nicht aufhört, unsere Köpfe und unsere Diskurse heimzusuchen. Das sorgende Nachdenken darüber, wie die Gesundheit der kommenden Generation bewahrt werden, wie trotz Synchronizität des Unterrichts das individuelle Leistungsvermögen der einzelnen Schüler berücksichtigt und der unziemlichen Zerstreuung vorgebeugt werden kann usw., gehört in den Bereich des Regierungshandelns bzw. der Biopolitik im Sinne von Agamben oder Foucault. Es geht dabei um das Entwerfen von Vorrichtungen oder Voreinstellungen – also wiederum um ein Dispositiv –, die die Überbürdung verhindern sollen. Es wundert daher nicht, dass auch die Frage der Überbürdung in der Fernschule à la Laßwitz technisch gelöst ist. Dieser Teil des in der Erzählung entworfenen Dispositivs wurde bisher nicht berührt. Der Kollege Voltheim erklärt dem Protagonisten vor Beginn der Schulstunde: Natürlich hat die Schulhygiene nicht geringere Fortschritte gemacht. Die Überbürdungsfrage ist erledigt. Die Sessel, auf denen die Schüler ruhen, sind in sinnvollster Weise mit selbsttätigen Messapparaten versehen, die das Körpergewicht, den Pulsschlag, Druck und Menge der Ausatmung, den Verbrauch von Gehirnenergie anzeigen. Sobald die Gehirnenergie in dem statthaften Maß aufgezehrt ist, lässt der Psychograph die dadurch eingetretene Ermüdung erkennen, die Verbindung zwischen Schüler und Lehrer wird automatisch unterbrochen und der betreffende Schüler damit vom weiteren Unterricht dispensiert. Sobald ein Drittel der Klasse auf diese Weise ‚abgeschnappt‘ ist, haben Sie die Stunde zu schließen. (73)

Die Lösung, die hier vorgeschlagen wird, ist ebenso absurd wie konsequent (und daher lehrreich). Als synchroner Unterricht ist eine Schulstunde zumindest in unserer Kultur kein sich selbst regulierendes Interaktionssystem, das z. B. durch seine eigenen Operationen festlegt, wann sie zu Ende ist. Die Dauer des Unterrichts ist vielmehr voreingestellt. Was liegt – so gesehen – näher, als diese starre Voreinstellung durch eine flexible zu ersetzen, die sich nach der verbleibenden Aufnahmekapazität der Beteiligten richtet? Wenn es aber den regierten Subjekten (und auch der Lehrkraft) nicht zuzutrauen ist, selbst über ihre verbleibenden Aufnahmekapazitäten zu befinden, dann muss diese Aufgabe von Apparaten übernommen werden, die den Zustand über Parameter abtasten, welche den Beteiligten selbst nicht zugänglich sind.15 Es gehört zur Logik des biopolitischen Dispositivs, dass man selber nicht wissen und nicht entscheiden kann, ob man ‚überbürdet‘ ist. 15 

Vgl. zur Rolle von Apparaten in der zeitgenössischen Erziehungswissenschaft Caroline Hopf, Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaften in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2004, S. 186–192.

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Dass die gemeinsame Schulstunde nicht fortgesetzt wird, wenn ein Drittel der Schüler – wie es so schön heißt – „abgeschnappt“ ist, darf man dann als einen Kollateralschaden des synchronen Unterrichts auffassen. Der Text unterlässt es selbstredend nicht, die strukturelle Fehlerhaftigkeit dieses Verfahrens vorzuführen. Wer das Bisherige sehr konzentriert (und nicht zerstreut) gelesen hat, mag bemerkt haben, dass am Ende nur von „zwei Dutzend Phonographen“ die Rede ist, die dem Naturrat Frister in den Ohren brausen, während am Anfang von „einige[n] dreißig“ Monitoren bzw. Schülern die Rede war. Einige Schüler sind zum Zeitpunkt dieses Finales nämlich bereits ‚abgeschnappt‘. Und wobei? Kollege Voltheim weist darauf hin: Der „Lachkrampf“ im Anschluss an Fristers Missgeschick mit dem Phonographen, „hat die Schüler so angestrengt, dass acht Klappen herabgefallen sind. Diese Schüler sind übermüdet. Noch drei, und Sie müssen den Unterricht schließen“ (78). Das ist nur folgerichtig. Wie sollten auch Apparate zwischen der durch Unterrichtung erzeugten Übermüdung und der durch Störungen der Unterrichtung erzeugten Übermüdung unterscheiden können? Zu guter Letzt sei hinzugefügt, dass Unterricht natürlich auch die entmächtigte Lehrkraft überbürden kann – freilich weniger durch die Unterrichtung selbst als durch deren Störungen. Der Naturrat Frister ist ein leibhaftiges Beispiel dafür. Die zitierte Stelle, in der es nach dem Brausen der vierundzwanzig Phonographen plötzlich ganz still wird, markiert nicht, wie man erwarten würde, das Erwachen des Naturrats. Vor Beginn der Unterrichtsstunde hat ihm Kollege Voltheim nämlich die der Lehrkraft zustehende „gestempelte Gehirnschutzbinde“ gereicht, um ihn vor der Gefahr zu bewahren, seine „Gehirnkraft“ (73) über Gebühr zu beanspruchen. Und als es plötzlich still um ihn wird und er sich an den Kopf greift, fällt ihm diese „Hirnbinde“ wieder ein: „Gewiß bin ich zu ermüdet, da ist der Unterricht von selbst geschlossen – ich bin ausgeschaltet. Gott sei Dank!“ (79).

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„2015 sind sehr viele Asylsuchende nach Deutschland eingereist.“ – Der Flüchtlingsdiskurs in „Informationsfilmen“ des BAMF und des Bundesministeriums des Innern unter besonderer Berücksichtigung der Inszenierung von Nicht-Orten Deniz Bayrak und Sarah Reininghaus In einem Artikel in der Tageszeitung Die Welt vom 30. 8. 2015 macht Stefan Aust auf zwei Filme der Bundesregierung aufmerksam, zum einen auf einen Werbefilm des BAMF aus dem Jahr  2014 und zum anderen auf einen Abschreckungsfilm des Ministeriums des Innern aus dem Jahr  2015.1 Während der erste Film2 für Asylsuchende einladend wirkt, warnt der zweite Film3 Menschen aus sogenannten Westbalkan-Ländern davor, mit der Hoffnung auf Asyl nach Deutschland einzureisen. Der erste Film begleitet einen jungen Iraker auf den Stationen seines Asylantragsverfahrens und erläutert diese damit exemplarisch für potentiell Asylsuchende im Detail. Der zweite Film zeigt vorrangig Abschiebeprozesse, die beispielhaft anhand von WestbalkanGeflüchteten visualisiert werden. Der sich hier exemplarisch abzeichnende Wandel der Haltung der Bundesrepublik mag u. U. der Entwicklung der Zahl der Asylanträge in beiden Produktionsjahren geschuldet sein, denn laut Statistik des BAMF ist von 2014 bis 2015 mehr als eine Verdoppelung zu verzeichnen.4 Bereits seit Beginn der Fluchtbewegungen in Richtung Mitteleuropa wird dieses Phänomen im Mediendiskurs als Flüchtlingskrise bezeichnet. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass die Asylsuche in Deutschland in beiden Filmen eine vorwiegend nicht krisenhafte Darstellung erfährt, auch wenn sich die einladende Botschaft aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 zu einer Ausladung 1  Vgl. Stefan Aust, „Der Werbefilm für das gelobte Asylland Germany“, , (2. 11. 2017). 2  Im Folgenden „Asylantragsvideo“ genannt. 3  Im Folgenden „Abschiebungsvideo“ genannt. 4  Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), „Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe Juli  2016“, S.  4, (2. 11. 2017).

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_008 .7

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ungebetener Gäste verkehrt. In unserer unter anderem raumtheoretisch vorgehenden Analyse fokussieren wir insbesondere die Inszenierung von NichtOrten im Sinne von Marc Augé und die damit verbundenen unterschiedlichen Wirkungen beider Filme. Neben der Wirkungsweise muss auch die Frage nach den Adressat*innen beider Filme diskutiert werden: Auf den ersten Blick handelt es sich hierbei scheinbar um Geflüchtete; auch aufgrund der Tatsache, dass beide Filme in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Auf den zweiten Blick müssen aber auch (und vielleicht besonders) Deutsche als potentielle Adressat*innen genannt werden. In einem zweiten Schritt werden zwei weitere Filme aus dem Jahre 2016 diskursanalytisch betrachtet, wobei auch hier raumtheoretische Überlegungen Berücksichtigung finden. Der Fokus auf einer raumtheoretischen Analyse liegt aufgrund der Tatsache nahe, dass alle vier Videos Migrationssituationen darstellen und sich damit räumlich oftmals auf Orte des Transits fokussieren. Die Filme lehnen sich thematisch scheinbar an die bereits genannten an: Ein Film, der Geflüchtete aus Eritrea in Deutschland zeigt,5 erinnert an das bereits genannte Abschiebungsvideo: Busse und Ankunftszentrum bzw. Zollbehörde ähneln sich hinsichtlich ihres Settings, allerdings werden diese unterschiedlich inszeniert, denn die genannten Nicht-Orte werden weder als absolut anonym dargestellt, wie es überwiegend im Abschiebungsvideo der Fall ist, noch erscheint die Ankunft der Geflohenen aus Eritrea als bedrohlich. Sie sind im Gegensatz zum Abschiebungsvideo willkommene Geflüchtete. Das Animationsvideo6 aus dem Jahr  2016, das das Integrierte Flüchtlingsmanagement thematisiert, wirkt wie eine Adaption des pseudodokumentarischen Films (Asylantragsvideo), der einen fiktiven Geflüchtenen bei seiner Ankunft in Deutschland begleitet: Statt eines Schauspielers nutzt der neuere Film animierte Figuren; thematisch zeigt er wie sein Vorgänger die Abläufe des Asylantragsverfahrens, jedoch in scheinbar „neutralerer“ Form. Nichtsdestotrotz soll auch bei diesem Film untersucht werden, inwiefern es sich tatsächlich um ein Zeigen und Beschreiben handelt oder ob mit dem Film nicht vielmehr andere Absichten verfolgt werden. Zudem sollen die dazu genutzten Strategien identifiziert werden.

5  Im Folgenden „Erstaufnahmevideo“ genannt. 6  Im Folgenden „Flüchtlingsmanagementvideo“ genannt.

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Nicht-Orte Marc Augé konstatiert für den Raum, dass er eine Gestalt des Übermaßes der Übermoderne sei. Durch sie komme es verstärkt zur Entstehung von Nicht-Orten,7 dem Gegenmodell des anthropologischen Ortes. Könne man an anthropologischen Orten authentische Erfahrungen sammeln, echte Kommunikation erfahren und über eine geteilte Geschichte als Form „gemeinsamer Identität“ verfügen,8 so seien die Nicht-Orte hingegen dadurch gekennzeichnet, dass sie nur eine provisorische, „geteilte Identität“ böten,9 durch den Eindruck der „ewigen Gegenwart“ gekennzeichnet seien und das Individuum weitestgehend anonymisierten,10 dabei aber paradoxerweise zahlreichen Verfahren der Registrierung unterzögen. Darunter können insbesondere Räume des Transits und der temporären Verweildauer verstanden werden, so z. B. Flughäfen, Autobahnkreuze, Raststätten oder Durchgangslager.11 Im Folgenden wird ein Hauptaugenmerk darauf gelegt, wie Orte des Transits inszeniert werden. Asylantragsvideo des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (2014) Der „Informationsfilm“12 erläutert die einzelnen Schritte des Asylverfahrens in Deutschland, wobei aufgrund der euphemistischen Darstellungsweise der Eindruck entsteht, das BAMF würde für die Bundesrepublik als das Asylland erster Wahl werben.13 Dabei wird der fiktive Iraker Abbas bei seinem Asylverfahren begleitet. Die Übersetzung des Films in die Sprachen Albanisch,

7  8  9  10  11  12  13 

Marc Augé, Nicht-Orte (1992), aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff, München: C. H. Beck 2012, S. 42. Augé, Nicht-Orte (Anm. 7), S. 60. Ebd., S. 102. Ebd., S. 105. Ebd., S. 102 ff. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), „Imagefilm zum Asylverfahren in Deutschland“, (2. 11. 2017). Während dieser Film noch bis Herbst 2016 auf der offiziellen Homepage des BAMF verfügbar war, ist er dort seit März 2017 nicht mehr abrufbar. Auf Nachfrage der Autorinnen wurde auf die nicht mehr bestehende Aktualität des Films verwiesen und gleichzeitig eine Nutzung untersagt. Eine Zugriffsmöglichkeit besteht über den oben genannten Link bei YouTube.

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Serbisch, Arabisch, Russisch, Dari, Farsi und Paschtu lässt darauf schließen, dass der Film eben diese Flüchtlingsgruppen einlädt. Er beginnt mit der Ankunft des jungen Abbas in der Erstaufnahmeeinrichtung, wobei seine Vorgeschichte ausgespart wird. Mit seinem hellen Oberteil und seiner Jeans sieht er frisch und ausgeruht aus, sein einziges Gepäckstück ist ein Koffer, so dass er in seiner Inszenierung nicht wie vielleicht erwartbar als exotisch und orientalistisch inszeniert wird, sondern sehr touristisch wirkt, wodurch er auch für deutsche Zuschauer*innen Identifikationspotential besitzt. Die Erstaufnahmeeinrichtung erscheint einladend, auch der Eindruck eines nur temporär beabsichtigten Aufenthalts wird nicht erweckt. Es handelt sich um einen gepflegten Massivbau, nomadisch wirkende Zelt- oder Containerlandschaften werden nicht gezeigt. Zwar wird Abbas registriert, ansonsten werden jedoch sämtliche Eigenschaften eines Wohnheims als prototypischem Nicht-Ort ausgeblendet: Da es scheinbar keine Sprachbarrieren gibt, kann von Beginn an „echte“ Kommunikation stattfinden. Das Zimmer wirkt nicht anonym und wird als Ort von Gemeinschaft inszeniert, der ein Gefühl von Geborgenheit suggeriert, nicht zuletzt durch den entspannt im Bett liegenden Abbas, für den ganz im Sinne von Spivaks Can the Subaltern Speak? in Form des Voice-Overs das Wort ergriffen wird: „Ich bin froh, nach meiner langen Reise endlich ein Dach über dem Kopf zu haben.“14 Negative Erfahrungen bleiben unberücksichtigt und auch die Bezeichnung „lange Reise“ muss wohl als Euphemismus für eine u. U. strapaziöse Flucht gedeutet werden. Folglich wird er auch an dieser Stelle eher als Tourist dargestellt. Als nächste Station wird der Transit-Ort Ausländerbehörde gezeigt. Auch hier ist die Registrierung das einzige Merkmal, das an eine Inszenierung als Nicht-Ort erinnert. Weiter wird der Eindruck eines Transit-Ortes dadurch reduziert, dass der Umgang miteinander zu keiner Zeit anonym wirkt. Denn die deutsche Voice-Over-Stimme stellt für Abbas fest: „Obwohl die Mitarbeiterin meine Sprache nicht spricht […], schaffen wir es trotzdem uns zu verständigen.“15 Die medizinische Untersuchung, der sich Abbas unterziehen muss, erscheint nicht wie eine solche. Kommentiert wird die Situation durch ein verständnisvolles, nahezu naiv klingendes Voice-Over: „Er schaut nach, ob ich ernsthafte Krankheiten habe, die behandelt werden müssen […], mit denen ich andere Menschen in der Unterkunft anstecken könnte.“16 Es muss die Frage danach gestellt werden, wem diese Information vorrangig gilt, potentiellen 14  15  16 

BAMF, „Imagefilm“ (Anm. 12), 0:2:56. Ebd., 0:04:07. Ebd., 0:04:27.

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Asylbewerber*innen oder aber beunruhigten Deutschen, die Krankheiten aus den Herkunftsländern der Flüchtlinge befürchten und deren Furcht im Sinne von Link als Denormalisierungsangst zu bezeichnen ist, d. h. als „Angst, die Normalität zu verlieren und über die Normalitätsgrenze in den bedrohlichen Bereich des Anormalen zu geraten.“17 „Diese Angst symbolisiert sich typischerweise als Angst vor Ansteckung“;18 mit Bezug auf das genannte Beispiel im wahrsten Sinne des Wortes. Zwischen den einzelnen Stationen wird immer wieder die Aufnahmeeinrichtung gezeigt. Die immer ähnlichen Bilder, nicht zuletzt durch die iterativ verwendete Einstellung auf die bereits bekannte Fassadenansicht des Wohnheims, erscheinen dem Zuschauer*innen bald vertraut und evozieren eine Suggestion von Heimat. Darüber hinaus wird das Heimischwerden von Abbas durch Szenen innerhalb der Einrichtung gezeigt, beispielsweise beim gemeinsamen Essen im Speiseraum. Der sich anschließende Besuch beim BAMF umfasst erneut prototypische Handlungen, wie sie an einem Nicht-Ort vorgenommen werden: Abbas muss sich einer Registrierung unterziehen, wobei er sowohl vermessen als auch fotografiert wird und seine Fingerabdrücke dokumentiert werden. Darüber hinaus erhält er ein Ausweisdokument und die Anweisung, den Bezirk nicht verlassen zu dürfen. Trotz der Assoziation des Kriminellen, die durch die genannten Identifizierungsmaßnahmen erweckt werden könnte – von anderen Assoziationen, die insbesondere durch den Akt des Vermessens hervorgerufen werden, der stark das deutsche kollektive Gedächtnis geprägt hat, abgesehen – wirkt die Darstellung nicht bedrückend. Abbas’ Interesse für Deutschland wird demonstrativ betont, wenn er mit einem Deutschlandatlas gezeigt wird, obwohl er den Bezirk ohnehin nicht verlassen darf. Diese Inszenierung ist als Aufnahme des medialen Integrationsdiskurses zu verstehen, dem Link eine „Dramatisierung von Integrationsunwilligkeit“ und „Integrationsunfähigkeit“19 insbesondere von Muslim*innen attestiert. Abbas’ Integrationsbereitschaft wird überzeichnet und unbeabsichtigt ad absurdum geführt, so dass ein tragisch-komischer Effekt entsteht. Als letzter Schritt des Asylantragsverfahrens wird schließlich Abbas’ Anhörung beim BAMF gezeigt. Die Entscheiderin wird als sehr hilfsbereit dargestellt, was jedoch eine negative Konnotation dadurch erhält, dass Abbas 17  18  19 

Jürgen Link, Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz: Konstanz University Press 2013, S. 69. Ebd., S. 196. Link, Normale Krisen? (Anm. 17), S. 197.

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durch die folgenden Äußerungen übertrieben dankbar und zugleich kindlichnaiv erscheint: „Sie bietet mir auch ein Glas Wasser an“20 und „Aber die Entscheiderin beruhigt mich mit ihrer freundlichen Art und gibt mir Sicherheit.“21 Hierdurch wird ein altbekanntes rassistisches Narrativ von Migrierten als unterlegen und von der Mehrheitsgesellschaft als wohlwollend und Hilfestellung leistend reproduziert. Der Anhörungsraum wird als Ort inszeniert, in dem echte Kommunikation stattfindet. So scheint die Mitarbeiterin des BAMF alle Zeit der Welt zu haben, um das Gespräch mit Abbas zu führen, bei dem er sehr private Erfahrungen preisgibt. Zum ersten Mal entsteht der Eindruck, dass Abbas auch eine Vergangenheit hat. Die „ewige[…] Gegenwart“22, die Augé als ein Charakteristikum des Nicht-Ortes betrachtet, wird durch Abbas` Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit im Irak überlagert. Dieser Fokus auf Erinnerungen, auch wenn sie nicht im Detail in dem Film ausgeführt werden, spricht für eine Inszenierung des Büros als anthropologischem Ort. Der Film endet mit einem Spaziergang Abbas’ an der Elbe, wobei die einzelnen Schritte des Asylantragsverfahrens in Deutschland zusammengefasst werden. Sein Blick in die Ferne weist auf die Zukunft hin: „Ich hoffe sehr, dass ich in Deutschland bleiben kann. […] Am meisten wünsche ich mir aber, dass sich die Situation in meinem Heimatland wieder verbessert.“23 Mit dieser Aussage wird der Wunsch nach Heimkehr betont, dessen Äußerung insbesondere für deutsche Zuschauer*innen einen Beruhigungseffekt besitzt, indem die Migration als Transitsituation und somit nicht als Gefahr einer dauerhaften Denormalisierung und damit einer möglichen Krise im Aufnahmeland Deutschland dargestellt wird. Abschiebungsvideo des Ministeriums des Innern (2015) Bei diesem Film handelt es sich um eine sichtbar kostengünstige und wenig professionelle Eigenproduktion der Bundespolizei. Sie zeigt scheinbar eine Auswahl authentischen Bildmaterials. Nach Angaben des Innenministeriums zielt der Film vorrangig auf die Information von potentiell Migrierenden aus den sogenannten Westbalkan-Staaten. Bezug genommen wird hier vorwiegend auf Südosteuropa. Diese Bezeichnung wäre im Übrigen als wertfreier und 20  21  22  23 

BAMF, „Imagefilm“ (Anm. 12), 0:10:27. Ebd., 0:12:32. Augé, Nicht-Orte (Anm. 7), S. 105. BAMF, „Imagefilm“ (Anm. 12), ab 0:16:24.

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daher zu präferieren zu bezeichnen. Neben der deutschsprachigen Version wurde der Clip in die jeweiligen Landessprachen wie Albanisch, Serbisch usw. übersetzt und soll so einer geplanten Migration vorbeugen. Der Film beginnt mit einer Sequenz, die Menschen zeigt, die in einen Bus steigen. Von hinten gefilmt sind ihre Gesichter nicht erkennbar, sie erscheinen anonym und austauschbar, ein Merkmal, das oftmals für die Darstellung von Migrierten Verwendung findet. Gleichzeitig entspricht diese Darstellung damit dem entindividualisierten Menschen am von Augé skizzierten Nicht-Ort, als welcher der Bus bzw. die Haltestelle davor identifiziert werden muss. MediumLong-Shots ermöglichen keine Kontextualisierung der Situation. Das VoiceOver macht jedoch das Thema schnell deutlich: Es geht um die Abschiebung von Asylantragstellenden aus den sog. Westbalkanstaaten. Bemerkenswert ist die Ton-Bild-Schere, die beim ersten gesprochenen Satz einsetzt: Während berichtet wird, dass in den vergangenen Monaten viele Menschen nach Deutschland aufgebrochen seien, zeigt die visuelle Ebene Bilder von Menschen in einer Aufbruchssituation, nämlich an der bereits genannten Bushaltestelle. Selbstverständlich handelt es sich hier aber nicht um den Aufbruch aus der Heimat, sondern bereits um einen Abschnitt der durchgeführten und präsentierten Abschiebung aus der BRD. Der Effekt ist eine Verharmlosung der Situation, die hiermit auch in eine Reihe von scheinbar mehreren durchgeführten Aufbrüchen eingeordnet und somit weniger als Einschnitt gewertet wird. Die Gruppe der Abzuschiebenden wird weiterhin als anonym präsentiert, indem eine Verrasterung ihrer Gesichter vorgenommen wird. In den Händen tragen sie Tüten als Koffer, was sie einerseits als nomadisch Umherziehende wirken lässt, sie andererseits aber auch als sozial mittellos festgelegt erscheinen lässt, was aber selbstverständlich auch impliziert, dass sie ungeordnet oder chaotisch sind, kurz: Sie werden als sozial fremd markiert. Erwachsene mit Kindern verstärken diesen Eindruck und ergänzen ihn um die Assoziation, dass einzelne Asylsuchende direkt für eine ganze Gruppe von Hilfesuchenden gelesen werden müssen. Damit verbunden ist die Angst vor der überflutenden Fertilität von Menschen einer als niedrig eingestuften Normalitätsklasse. Zudem appelliert der Sprecher an das Verantwortungsbewusstsein der Eltern, ihren Kindern doch keine Abschiebungserfahrung zuzumuten. Die Tonebene thematisiert zu den Bildern deutsches Gesetz. Es wird betont, dass die Suche nach Arbeit kein Grund sei, einem Asylantrag stattzugeben, wer dies ignoriere, müsse mit Strafen rechnen. Darüber hinaus warnt man vor den Schleppern: sie übernehmen eine Sündenbockfunktion für Asylsuchende und Deutsche gleichermaßen. Wer ihnen Glauben schenkt, tauscht sein Vermögen gegen Illusionen ein. Die Verwendung des Begriffes Vermögen erscheint hier als ein besonders bitterer Euphemismus, wird die betroffene Menschengruppe doch

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zuvor mit den Konnotaten ‚ärmlich‘ und ‚ungeordnet‘ versehen. Allerdings wird auch hier ein bekanntes Muster benutzt und darin liegt ein Widerspruch, der sich stets in der Beschreibung von Geflüchteten finden lässt, nämlich einerseits die Betonung der wirtschaftlichen Rückständigkeit, andererseits aber auch die These bzw. Anklage, dass Asylsuchende noch immer ein Zuviel an Besitz und somit keinen Anspruch auf Hilfe hätten. An diese Vorstellung knüpft auch das nächste Bild an: Es wird ungehemmt an Besitztümer in geöffneten Koffern herangezoomt. Neben die Annahme, dass die Asylsuchenden noch immer zu viel Geld hätten, tritt so auch der Verdacht, dass sie in kriminelle Machenschaften verwickelt sein könnten. Auch die bereits erwähnte Verrasterung der Gesichter trägt hierzu bei, erinnert diese Darstellungsweise doch oftmals an Aufnahmen von Täter*innen in Überwachungsvideos. Damit wird im Gegensatz zum ersten Film der Eindruck des Dokumentarischen erweckt. An der Zollstation erweist sich diese in ihrer Inszenierung als Nicht-Ort, indem dort die Registrierung der Menschen stattfindet. Zudem dient die Aufschrift auf den Westen der Mitarbeiter*innen als Beschilderung und Machtinstanz gleichermaßen. Der Kommentar des Sprechers macht deutlich, dass hier keine Ausnahmesituation zu sehen ist: „Die Bundesregierung organisiert regelmäßig Charterflüge.“24 Hiermit werden zweierlei Wirkungen erzeugt: Während den potentiell Migrierenden deutlich gemacht wird, dass die Abschiebung den Regelfall darstellt, wird denjenigen BRD-Bürgern, die der Einwanderung skeptisch oder feindlich gegenüber stehen, vergewissert, dass die Regierung aktiv wird gegen illegitimes Asyl. Die Tatsache, dass die Kosten der Abschiebung selbst getragen werden müssen und eine Wiedereinreise nach Deutschland oder in einen anderen Schengen-Staat nur nach Begleichen der Kosten möglich wird, wirkt für Ausländer*innen abermals abschreckend. Gegner*innen von aus wirtschaftlichen Gründen Asylsuchenden in der BRD hingegen werden beruhigt. Eine Thematisierung der Kostenübernahme im Falle von zahlungsunfähigen Personen findet nicht statt, würde sie doch nur das bisher absichtlich hervorgerufene Bild einer funktionierenden und ‚gerechten‘ Abschiebung unterminieren. Besiegelt wird der Abschiebungsakt schließlich noch vor der physischen Entfernung der Menschen aus Deutschland: Ein Close-Up eines Stempelvorgangs präsentiert das Wort ‚Abgeschoben/ Deported‘, wobei der Stempel mit dem Bundesadler den englischen Begriff 24 

Bundesministerium des Innern (BMI), „Rückführung von Personen aus dem Westbalkan“,  (3. 10. 2016), 0:01:35. Mittlerweile wurde auch dieses Video entfernt, es kann aber unter (2. 11. 2017) eingesehen werden.

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weitestgehend verdeckt, könnte er doch im deutschsprachigen Raum negative Konnotationen auslösen. In Warnwesten wirken die Beamt*innen zahlenmäßig vollkommen überrepräsentiert, sie sichern Ein- und Ausgänge, obgleich es sich bei den von ihnen Bewachten um Familien handelt, von denen keine Gefahr auszugehen scheint. Im Anschluss präsentiert das Video das Gepäckband, auf dem die bereits genannten billigen Plastiktaschen in den Frachtraum transportiert werden: Symbolisch stehen diese als Vorschau der Wegführung ihrer Eigentümer und bestätigen in metaphorischer Weise den entindividualisierten, anonymen Nicht-Ort. Der Himmel erscheint hierzu in unwirtlichem Grau – ein Gegensatz zum Asylantragsvideo, das den deutschen Sommer als Kulisse verwendet. Erneut wird die Form der Wiederholung genutzt, um den Inhalt – einer Didaktik der Repetition und somit einer Belehrung entsprechend – einzuschleifen und den Ernst der Lage zu betonen: Bitte nehmen Sie diese Informationen sehr ernst. Schon zu viele Menschen haben einen beschwerlichen und teuren Weg auf sich genommen, der zur schnellen und zwangsweisen Rückkehr in ihre Heimat führte und der damit endete, dass sie weniger hatten, als zu Beginn ihrer Reise und dadurch sich und ihre Familie für viele Jahre in eine ruinöse wirtschaftliche und finanzielle Lage in ihrem Heimatland geführt haben.25

Neben der Beschönigung der beschwerlichen Fahrt mittels Schleppern als einer Form der Reise und der aus dieser ableitbaren Implikation, diese sei also vollkommen freiwillig geschehen und sei lediglich auf den Wunsch nach wirtschaftlicher Besserstellung zurückzuführen, und neben dem bewusst besorgten Ton des Sprechers, ist es vor allem der Hinweis darauf, dass die Asylsuchenden anschließend weniger besitzen könnten als vorher, der ins Auge fällt. Ausgehend von der Unterstellung, die Migrationswilligen wollten sich bereichern und das ohnehin vorhandene Eigentum vermehren, und nicht etwa vor unhaltbaren Zuständen und lebensbedrohender Armut in der Heimat fliehen, fokussiert dieser Teil die angebliche Habgier der Geflohenen und versucht hiermit eine abschließende Begründung für die Rückführung zu geben. Der Schluss des Films impliziert auch einen Vorwurf an die Asylsuchenden, die Wirtschaft ihrer Heimat im Stich gelassen zu haben und fordert ein aktives Einbringen in die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage des Herkunftslandes. So scheint die Rückführung ins Heimatland wie in dem Asylantragsvideo auch die wünschenswerteste Lösung für alle Beteiligten zu sein.

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Ebd., 0:02:34.

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Erstaufnahmevideo des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (2016) Bei dem Informationsvideo, das seit November 2016 auf den Internetseiten des BAMF abgerufen werden kann, handelt es sich wie bei dem Abschiebungsvideo ebenfalls um eine kostengünstige unprofessionelle Produktion, die scheinbar authentisches Bildmaterial nutzt. Thematisiert wird das so genannte Relocation-Verfahren, wobei beispielhaft die Ankunft von Menschen aus Eritrea in Bayern gezeigt wird, die aus Rom angereist sind und von Deutschland für das Asylverfahren „übernommen“ werden. Da der Film nur auf Deutsch verfügbar ist, liegt die Vermutung nahe, dass er in erster Linie als Informationsvideo für Deutschsprachige dient. Dabei sollen, so scheint es, zwei Botschaften vermittelt werden: Zum einen soll dem Zuschauer*innen versichert werden, dass die BRD die Anzahl der aufgrund des Relocation-Verfahrens ankommenden Geflüchtete (und auch diese selbst) unter Kontrolle habe, es also keinerlei Grund zur Beunruhigung gebe und keine mögliche Krise bevorstehe. Zum anderen wird die Rolle Deutschlands als humanitärer Hilfsdienstleister betont. Wie in dem Abschiebungsvideo aus dem Jahre  2015 werden zu Beginn Bilder eines ankommenden Busses gezeigt, aus dem Geflüchtete aussteigen. Im Gegensatz zum vorherigen Video gibt es dabei keine Polizei oder anderes Sicherheitspersonal, lediglich DRK-Kräfte, die durch ihre orangefarbenen Jacken sofort als solche identifiziert werden können. Wie an späterer Stelle deutlich wird, scheint es auf den ersten Blick weniger um Kontrolle durch die Exekutive zu gehen, als vielmehr um die Betonung der humanitären Hilfe, die notwendiger- und freundlicherweise geleistet wird. Insofern wird die Anonymität des präsentierten Nicht-Ortes nicht verstärkt in den Fokus gerückt. Die Kleidung markiert die ankommenden Personen aus Eritrea nicht als sozial fremd: Sie tragen überwiegend Jeans, Sweat-Shirts, (Winter)jacken und Sportschuhe, teilweise sind Koffer, Taschen oder Rücksäcke zu sehen. Insofern wirken sie eher touristisch als nomadisch, scheinen sie sich doch bequem für eine geplante Reise gekleidet zu haben. Fast scheint es, als müsse die aufgrund der durchweg schwarzen Hautfarbe hervorgerufene Fremdheit durch die dargebotene Kleidung minimiert werden. Auch eine mögliche Gefahr von ‚Ausbreitung‘ durch hohe Fertilität wird im Gegensatz zum zuvor analysierten Abschiebungsvideo nicht hervorgehoben: Es werden nur einmal Kinder gezeigt, der überwiegende Teil der Geflüchteten sind junge Erwachsene (im arbeitsfähigen Alter), deren Asylanträge schnell bearbeitet werden, wie versprochen wird, da ihre Chancen für eine Bewilligung aufgrund ihres Herkunftslandes Eritrea gut stehen. Folglich wird ebenfalls konträr zum

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Abschiebungsvideo suggeriert, dass sie schnell arbeiten können und somit dem Sozialstaat nicht ‚auf der Tasche liegen‘. Auch werden die gezeigten Flüchtlinge nicht als potentiell kriminell inszeniert, eine Verrasterung der Gesichter erfolgt nicht. Allerdings tragen einige der Gezeigten Kapuzen, sie werden teilweise von hinten gefilmt oder aber die Kamera fokussiert lediglich die Beine, wodurch ein Anonymisierungseffekt hervorgerufen wird. Zwar wird diese Darstellung eher als Versuch inszeniert, die Privatsphäre der gefilmten Personen zu gewährleisten, letztlich ist der Effekt jedoch der, dass Zuschauer*innen eine Distanz wahren und eine zu starke Identifikation, beispielsweise durch ein Close-Up eines Gesichts mit all der emotionalen Ausdruckskraft seiner Mimik, vermieden wird. Im Gegensatz dazu erhält der Sprecher aus dem Off nach wenigen Sekunden ein ‚Gesicht‘, indem er durch ein Close-Up sichtbar gemacht wird. Hierbei handelt es sich um den Leiter des präsentierten Warteraums Erding, wodurch die Institution als persönlicher und weniger anonym inszeniert werden soll. Im Hintergrund sind Karten sichtbar, auf denen schematisch die Geflüchtetenunterkunft skizziert ist und somit als absolut kontrollierbar präsentiert wird. Der Warteraum wird überwiegend als Nicht-Ort inszeniert, allerdings nicht in dem Ausmaße wie in dem zuvor analysierten Beispiel. Zwar erfolgt eine Registrierung und auch Sicherheitsüberprüfung, es werden beispielsweise Fingerabdrücke gespeichert, die Anonymität scheint aber reduziert zu sein, wird doch ein humaner und zuvorkommender Umgang mit den Geflüchteten versprochen: Sie dürfen sich erst einmal ausruhen, bevor sie in die Erstaufnahmeeinrichtungen weitergeleitet werden, außerdem werden familiäre Verbindungen bei der örtlichen Verteilung berücksichtigt. Die Registrierung erfolgt zwar durch die Bundeswehr, allerdings scheint der Fokus bei den Aufgaben der Bundeswehr in erster Linie auf humanitärer Hilfe zu liegen. Des Weiteren wird der Eindruck von Humanität verstärkt durch das Zeigen der Essensausgabe sowie der Ausgabe von Hygieneartikeln und Decken. Auffällig ist, dass die Menschen teilweise in Decken gehüllt gezeigt werden, was den Zuschauer unweigerlich an Bilder von ankommenden ‚boat people‘ denken lässt. Tatsächlich kommen sie aber nicht gerade von einer lebensbedrohlichen Reise. Sie sind kurz zuvor mit dem Flugzeug aus Rom in Deutschland angekommen und auch das mitteleuropäische kalte Klima dürfte somit nicht vollkommen neu sein. Dass sie dennoch in Decken gehüllt sind, betont die Bedürftigkeit der Menschengruppe und inszeniert sie als Schutzbedürftige, die der humanitären Hilfe bedürfen. Zumeist werden die Geflüchteten im Warteraum Erding als für den NichtOrt charakteristische, entindividualisierte Masse ohne Gemeinschaft inszeniert, sitzen doch alle beim Essen in Reihen hintereinander. Somit wird eine

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Kommunikation untereinander erschwert bzw. unmöglich. Dominanter als der Eindruck von Anonymität ist hier jedoch zweifelsohne die Suggestion von Ordnung, Kultiviertheit und Disziplin, Merkmalen, die in vielen rassistischen Diskursen Schwarzen abgesprochen wurden. Die intendierte Botschaft ist offensichtlich: Die gezeigten Geflüchteten werden durch ihr Verhalten nicht als sozial fremd markiert und sind somit für die deutsche Ordnung nicht als ‚gefährlich‘ zu betrachten. Der stärkste Eindruck von Anonymität entsteht, wenn die Schlafräume als absolute Nicht-Orte gezeigt werden: Noch nicht einmal als Container sind die nischen- und abteilartigen Abtrennungen zu bezeichnen, in die den Zuschauer*innen nur ein flüchtiger und eingeschränkter Blick auf Metalletagenbetten gewährt wird. Zudem sind diese Räumlichkeiten nummeriert, Symbole und Hinweise in mehreren Sprachen zeigen, was erlaubt ist und was verboten, ihre Funktion als Transit-Orte ist offensichtlich und sie erscheinen außerdem aufgrund ihrer Kargheit als übersichtlich und kontrollierbar. Diese Kontrollierbarkeit scheint auch für die Menschen an diesem Nicht-Ort zu gelten, da sie objektifiziert werden, wenn betont wird, dass sie „zusammen mit ihrem Gepäck in die Unterkunftsbereiche gebracht [werden].“26 Die Suggestion von Kontrolle geht einher mit genauen Zahlen, die hinsichtlich der zu erwartenden Asylantragssteller*innen genannt werden: Es handelt sich um 187 Menschen aus Eritrea, die soeben in Erding angekommen sind, es werden 1.000 Geflüchtete pro Monat erwartet, d. h. in der Woche ein oder zwei Flieger. Der Leiter des Warteraums Erding erklärt, dass sich die EU verpflichtet habe, aus Griechenland und Italien  160.000 Geflüchtete aufzunehmen, 27.500 entfielen auf die BRD. Die vielen Zahlen, die in diesem nur rund zweiminütigen Film genannt werden, sollen belegen, dass die Fluchtbewegungen kontrollierbar sind und alles ‚normal‘ und dem ‚Regelbetrieb‘ entsprechend sei und somit nicht die Gefahr einer Denormalisierung und eines Kontrollverlusts bestehe, denn wie Link betont, sichern scheinbar kontrollierbare Daten den Eindruck einer Aufrechterhaltung von Normalität: Es gibt ein ‚klassisches‘ Symptom für den Charakter der Massenflucht als Denormalisierung: Das ist der Kollaps der Verdatung. Normalität in modernen Gesellschaften westlichen Typs, die nicht zuletzt verdatete Gesellschaften sind, beruht auf möglichst transparenter statistischer Verdatung von Massen.27 26  27 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), „Relocation-Verfahren“, (2. 11. 2017), 0:01:19–0:01:23. Jürgen Link, „Die Massenflucht zwischen Denormalisierung, Normalisierung und transnormalistischen Alternativen“, in: DISS-Journal. Zeitschrift des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung 31 (2016), S. 7–8, hier S. 7.

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Scheinen die gezeigten Bilder auch vergleichbar mit dem bereits untersuchten Abschiebungsvideo aus dem Jahre  2015, so ist die Aussage doch eine vollkommen andere: Die BRD signalisiert eine Willkommenskultur für Menschen, die tatsächlich schutzbedürftig seien. Als problematisch ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass im Laufe der Monate des Jahres  2015 die Gruppe, die im mediopolitischen Diskurs als „echte Flüchtlinge“ bezeichnet wurde, immer kleiner wurde.28 Als tatsächlich schutzbedürftig werden Menschen aus Eritrea in dem Informationsfilm immerhin noch klassifiziert. Es handelt sich um keine für Deutsche ‚bedrohlichen‘ Bilder, es erfolgt keine krisenhafte Darstellung durch unkontrolliert einströmende Geflüchtetenmassen, entsprechend auch keine Verwendung von Symbolen der Überflutung o. Ä., wie es bereits in der Medienberichterstattung zum Asyl in den 1990er üblich war.29 Stattdessen bemüht man sich um politische Korrektheit auf sprachlicher Ebene: Es werden neutrale, nicht negativ konnotierte Begriffe verwendet. Es ist von Menschen aus Eritrea und von Geflüchteten Flüchtlingen die Rede, aber selbst diese wertfreien Bezeichnungen scheinen tabuisiert zu werden, wenn zur Bezeichnung dieser Gruppe von Geflohenen zumeist das Personalpronomen „sie“ verwendet wird, auch wenn der grammatische Bezug bisweilen nicht immer eindeutig ist. Die verwendete Sprache, die den kontrollierten Ablauf der Registrierung am Nicht-Ort Warteraum beschreibt, entspricht der Suggestion, hier sei alles unter Kontrolle: Nach Ankunft der Geflüchteten „werden sie kurz, zunächst über einen Dolmetscher, eingewiesen“,30 dann wird in der medizinischen Abteilung „ein kurzes Screening durchgeführt“,31 wodurch der Eindruck evoziert wird, dass die Personen komplett durchleuchtet werden. Jegliche gesundheitliche Gefahrenquellen scheinen somit eingedämmt. Weiter wird betont: „Anschließend werden sie [die Geflüchteten] bei uns im Registrierungsbereich erkennungsdienstlich behandelt“,32 es erfolgt sogar eine zweifache Sicherheitsüberprüfung. Neben dem Fokus auf Kontrolle wird hier auch auf im Mediendiskurs so oft erwähnte Geflüchtete als ‚Sozialschmarotzer‘ oder ‚Kriminelle‘ rekurriert. Denn der

28 

29  30  31  32 

Vgl. Margarete Jäger, Regina Wamper und Isolde Aigner, „Verengungen, Verschiebungen und Auslassungen. Vorläufige Anmerkungen zum Fluchtdiskurs  2015/2016 in den Medien“, in: DISS-Journal. Zeitschrift des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung 31 (2016), S. 11–12, hier S. 11. Vgl. Ute Gerhard, „Die Inszenierung der Katastrophe. Rassismus im Mediendiskurs“, in: Udo Rauchfleisch (Hrsg.), Fremd im Paradies. Migration und Rassismus, Basel: Lenos Verlag 1994, S. 115–130, hier S. 123. BAMF, „Relocation-Verfahren (Anm. 26), 0:00:43. Ebd., 0:00:50. Ebd., 0:00:54.

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„mediopolitische Diskurs skandalisiert einzelne Aspekte wie die VielfachIdentitäten von ‚Schnorrern‘ oder gar ‚terroristischen Schläfern‘.“33 Abschließend wird die Humanität der deutschen Behörden noch einmal betont, wenn versprochen wird, dass bei der Verteilung der Ausländer*innen auf die einzelnen Bundesländer auch Rücksicht auf familiäre Bezüge genommen und die Geflüchteten „so dicht wie möglich an ihre Familien herangebracht“ werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Nicht-Ort Warteraum bzw. Flüchtlingslager als solcher dargestellt wird, dadurch dass er als ein kontrollierter und von Registrierungen geprägter Raum gezeigt wird, wodurch die Inszenierung von Krise und Denormalisierung, wie sie im aktuellen Fluchtdiskurs typisch zu sein scheint, durch Kontrolle und Normalisierung ersetzt wird. Das Merkmal der Anonymität, das dem prototypischen Nicht-Ort zu eigen ist, wird nicht übermäßig hervorgehoben, da humanitäres Handeln im Mittelpunkt der Darstellung steht. Die humanitäre Aufgabe von Deutschland wird im Hinblick auf tatsächlich schutzbedürftige Geflüchtete betont, als welche Menschen aus Eritrea klassifiziert werden. Entsprechend halten Jäger, Wamper und Aigner allgemein für den aktuellen Flüchtlingsdiskurs fest: Die Debatte um Flucht und Migration ähnelt durchaus der in den 1990er Jahren – ebenso wie die Massivität rechter Gewalt an diese Zeit erinnert. Dennoch gibt es Unterschiede: So hören wir heute nicht nur Abschreckungsrhetoriken, sondern auch eine human gewendete Rhetorik, die durch Angela Merkel und ihre Unterstützer_innen vertreten wird. […] Die Äußerung von Angela Merkel ‚Wir schaffen das‘ und ihre menschenrechtliche Rhetorik geben der tatsächlich herrschenden restriktiven Asylpolitik einen antirassistischen bzw. humanen Anstrich.34

Flüchtlingsmanagementvideo des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (2016) Im Folgenden wird ein sog. Erklärfilm des BAMF aus dem Jahr 2016 vorgestellt. Er zeigt mit Illustrationen die verschiedenen Phasen, die Asylantragstellende in Deutschland bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens durchlaufen auf und visualisiert die Arbeitsabläufe der beteiligten Behörden sowie Abläufe und Hintergründe.35 33  34  35 

Link, „Massenflucht“, (Anm. 27), S. 7. Jäger, Wamper und Aigner, „Verengungen“, (Anm. 28), S. 12. Das Video und die dazugehörige Seite wurden zwischenzeitlich aufgrund erneuter Änderungen im Asylverfahren von der Homepage des BAMF entfernt. Einige Passagen, darunter auch das im Video gesprochene Voice-Over, lassen sich aber nun in Form

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Die Tatsache, dass der Film – im Gegensatz zum Asylantragsvideo lediglich in den Sprachen Deutsch und Englisch erschien, verdeutlicht dessen Adressierung. Er wendet sich nicht in erster Linie an potentiell Migrationswillige, als Zielpublikum kann die Bevölkerung der BRD angenommen werden. Lediglich die Version in englischer Sprache lässt darauf schließen, dass der Film auch Nicht-Deutschsprachige und möglicherweise Geflüchtete adressiert. Als Animationsfilm simpelster Form realisiert, da nur auf einfachste Zeichnungen vor minimal angedeuteten Hintergründen reduziert, erweist sich eine raumtheoretische Analyse des Videos als wenig gewinnbringend. Festgehalten werden muss jedoch, dass gezeigte Nicht-Orte nicht explizit inszeniert werden bzw. eine möglichst neutrale, wenig aussagekräftige Darstellung gewählt wird. Möchte man überhaupt von einer Inszenierung der als Nicht-Orte anzusehenden Institutionen und Gebäude sprechen, so kann festgehalten werden, dass durch die Verwendung der alleinigen Farbe Grün in Form von Bäumen und Pflanzen die Schwarz-Weiß-Tristesse der sonstigen Darstellung durchbrochen wird. Auffällig sind auch hier die Parallelen zum Asylantragsvideo, in dem auch Abbas’ Erstaufnahmeeinrichtung umgeben ist von Grün. Wie die anderen Filme setzt das Video mit einem Sprecher ein: „2015 sind sehr viele Asylsuchende nach Deutschland eingereist“36. Möglichst neutral gehalten klingt hier „sehr viele“ als Mengenangabe für die Geflüchteten, die zum Zeitpunkt ihrer Ankunft und bis heute medial zumeist als „Flut“ oder „Flutwelle“37 bezeichnet werden, als kaum noch zu bewältigende Masse etikettiert werden und scheinbar eine „Krise“ auszulösen drohen. Hierbei handelt es sich um ein Bild, das in diesem Video nicht heraufbeschworen wird. Zeitgleich sieht man in dem gezeichneten Erklärfilm, der an eine PowerPoint-Präsentation erinnert,38 gezeichnete Spielfiguren, die denen des Spiels Mensch ärgere Dich

36  37  38 

einer Broschüre einsehen unter Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), „Integriertes Flüchtlingsmanagement“, (2. 11. 2017). Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), „Integriertes Flüchtlingsmanagement“, http://www.bamf.de/SharedDocs/Videos/DE/BAMF/integriertes-fluechtlings management.html?nn (14. 5. 2017), 0:00:05. Gerhard, „Inszenierung“, (Anm. 29), S. 123. Vgl. BAMF, „Integriertes Flüchtlingsmanagement (Anm. 37), 0:00:28. Auch die Blenden im Video erinnern an einigen Stellen an die Übergänge der Slides in PowerPointPräsentationen. Dies evoziert den Eindruck einer Vorlesung, einer Schulung, eines Referats oder eines Meetings, also einer Veranstaltung, in der Fakten und Informationen vermittelt werden. So wird zumindest dieser Kontext für den vorliegenden Erklärfilm aufgerufen.

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nicht ähneln; sie müssen vor dem Hintergrund des Sprechertextes als Geflüchtete verstanden werden. Auf Pfeilen platziert, erreichen diese die ebenfalls gezeichnete Deutschlandlandkarte aus Richtung Süden. Gleitend wie die Bewegungen eines Schiffes bewegen sich die Pfeile und symbolisieren durch ihre Pfeilspitze eine zielgerichtete Bewegung. Im Anschluss werden auf die Deutschlandkarte verteilt nun 16 gezeichnete Häuser sichtbar, die stellvertretend für die 16 Bundesländer gelesen werden können. Neben den meisten der Häuser steht jeweils ein Baum, dessen grüne Baumkrone die einzige verwendet Farbe darstellt, ist der Rest der Zeichnung doch mit schwarzen Linien auf weißem Untergrund realisiert. Der Zuschauer*innen, die der bereits das Asylantragsvideo kennen, stellen mit dem Anblick der grünen Bäume eine Verbindung zu dem bereits bekannten Film her, wodurch die Vermutung nahe liegt, dass es sich bei diesem Film um eine Adaption handelt, die sich am Vorgänger orientiert. Es folgt der Blick auf die Landkarte Europas, auf der die BRD nun ein Land unter vielen ist. Auffällig erscheint hierbei, dass keine Landesgrenzen eingezeichnet sind, ein Fakt, der wohl die Einheit und Offenheit Europas in Erinnerung rufen soll. Die Anzahl der Figuren auf Pfeilen hat sich nun entsprechend dem vergrößerten Territorium erhöht. Es befinden sich auch neben den Pfeilen Figuren, die, verstärkt durch Linien, die wohl gesetzt wurden, um die Darstellung graphischer erscheinen zu lassen, allerdings auch als Menschen in Wellennähe bzw. im Wasser gedeutet werden könnten. So assoziieren die Zuschauer*innen unfreiwillig Bilder ertrinkender Geflüchteter im Mittelmeer. Gleichzeitig aber wird an die bereits in den 1990er Jahren verwendete Kollektivsymbolik39 der Überflutung durch Geflüchtete40 erinnert. Der Sprecher fährt fort: „Einige sind in andere EU-Länder weitergereist, andere sind geblieben.“41 Dazu bewegen sich die Spielfiguren diffus hin und her auf der Landkarte, die endgültige Verteilung aber wird schnell ausgeblendet, durch einen Blendeneffekt verblasst und endet schließlich mit einem Zoom auf jenen Kartenteil der BRD, den man zu Beginn des Videos bereits sah. Die Aussage also soll lauten, dass einige der Flüchtlinge bereits Deutschland verlassen haben. Die Verbliebenen sieht man im Anschluss verteilt auf die 16 Häuser mit den Bäumen davor. Es folgt eine Beschreibung, die sich auf die damals in den Medien als katastrophal bezeichneten Umstände 39 

40  41 

Frank Becker, Ute Gerhard, Jürgen Link, „Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II)“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997), H. 1, S. 70–154, hier S. 71. Vgl. Gerhard, „Inszenierung“, (Anm. 29), S. 123. BAMF, „Integriertes Flüchtlingsmanagement (Anm. 37), 0:00:11.

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in den Behörden und Aufnahmestellen bezieht, hier aber beschönigend wirkt, wenn der Sprecher die Situation wie folgt skizziert (0:00:15): „Diese Situation stellte die Landes- und Bundesbehörden, aber auch die Kommunen vor große Herausforderungen. Um die Steuerung und Bewältigung dieser Herausforderungen zu gewährleisten, wurde ein Integriertes Flüchtlingsmanagement etabliert.“42 Begrifflichkeiten wie ‚Probleme‘ oder ‚Krise‘ werden bewusst vermieden, statt von einer ‚Überforderung‘ ist mehrfach von „Herausforderungen“ die Rede, jedoch, dies wird deutlich, ist für die Bewältigung dieser Aufgabe ein neues System vonnöten. Dieses gilt es, in dem Erklärfilm darzustellen. Zu dem gesprochenen Text bewegen sich auf der Bildebene die Figuren zunächst leicht hin und her, dann stärker und schließlich wechseln sie ihre Standorte, also auf die Zeichnung bezogen von einem Haus zu einem anderen hin. Auf die reale Lebenssituation bezogen wird der Wohnort bzw. das Bundesland verlassen und stattdessen ein anderes aufgesucht. Bemerkenswert ist, dass die Bewegung, also das Spiel der Richtungen, die scheinbar großen „Herausforderungen“, sprich das Problem, darstellen soll. Die nomadische Bewegung als „Irritation der Identitätsvorstellung“43 wird als nicht wünschenswert klassifiziert, sie ist ein Übel, hier getarnt als sog. Herausforderung, die es durch das neue Verfahren einzudämmen gilt, auch wenn sie nicht als Krise der vergangenen Monate eingestanden wird. Näher bestimmt wird das Problem der Bewegungen von Menschen nicht, obgleich es doch leichter benannt werden kann als die Angst vor nicht verortbaren, dazu fremden Individuen, die nicht an feste Plätze gebunden werden können und somit scheinbar Identifizierungen aus dem Wege gehen (wollen). Im Folgenden wird das Integrierte Flüchtlingsmanagement für die Rezipient*innen sichtbar. Ein Komplex von Gebäuden, nun mit fünf Bäumen versehen, wird sichtbar, der Sprechertext dazu lautet wie folgt: „Den Kern bilden die Ankunftszentren, in denen viele bisher auf mehrere Stationen verteilte Schritte im Asylverfahren gebündelt werden. Nach Möglichkeit findet das gesamte Asylverfahren unter dem Dach des Ankunftszentrums statt.“44Dazu erscheinen gleichzeitig und nicht nummeriert die Begriffe „Aufnahmeeinrichtung“, „Asylverfahren“, „Gesundheitscheck“ und „Registrierung“. Obwohl sie für die Zuschauer*innen ungeordnet und unerläutert stehen, signalisiert das Flüchtlingsmanagementvideo, dass die auf der Tonebene angesprochene 42  43  44 

Mit der Verwendung des Begriffs wird eine gewisse ökonomische Professionalität suggeriert, die auch auf effizientes Handeln und Verwalten verweist. Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen und Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 11. BAMF, „Integriertes Flüchtlingsmanagement (Anm. 37), 0:00:29.

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„Bündelung“ und damit verbunden eine Engmaschigkeit erstrebenswert sind und ausschließlich sie dabei helfen können, die zuvor als „Herausforderungen“ beschriebenen Probleme zu beheben. Um Gesagtes bei Zuschauer*innen zu verankern, nutzen die Verantwortlichen des Videos die Methode der Verschriftlichung. Hier wird ohnehin Knappes noch einmal prägnant gerafft, graphematisch wiedergegeben, um es sich besser merken zu können und schließlich ein grüner To-Do-Haken hinter den einzelnen Begriff gesetzt. Dieser Check-Haken impliziert das erfolgreiche Abhaken einer Pflicht, Aufgabe oder Anforderung und steht somit in diesem Fall an falscher Stelle bzw. wirkt bewusst irreführend. Während lediglich die Ankunftszentren beschlossen und eingerichtet worden sind – dies kann der Haken allenfalls bestätigen, lässt das Einfügen des grünen Check-Häkchens die Zuschauer*innen bewusst denken, dass bereits eine Aufgabe erledigt worden sei, zudem in erfolgreicher oder befriedigender Weise. Im Weiteren konzentriert sich der Film auf einen exemplarischen, ebenfalls gezeichneten Geflüchteten. Mit einem Koffer in der Hand, ein Motiv, das als klassisch im Kontext von Migration bezeichnet werden kann, jedoch bei Kenntnis des Asylantragsvideos auf touristische Bewegungen reduziert wird, erscheint dieser als Reisender wie Abbas auch. Die Figur steht vor einem Wegweiser mit der Aufschrift „Ankunftszentrum“, dieser deutet auf einen von Bäumen umgebenen Gebäudekomplex nebenan. Auf der Tonebene erfährt das Publikum: „Die Ankunftszentren sind nun der Zugangspunkt zum Asylverfahren in Deutschland und zu allen damit verbundenen Leistungen.“45 Auch dieser Fakt wird verschriftlicht und wiederholt damit die Essenz des Gesagten für die Zuschauer*innen – ein Vorgehen, das das gesamte Video durchzieht und exemplarisch noch einmal an der Anschlusssequenz verdeutlicht werden soll: Die Überschrift „Integriertes Flüchtlingsmanagement“ erscheint, dazu gibt es sechs untereinander stehende Kästchen zu sehen. Nacheinander erscheinen Stichworte neben den Kästchen, die die einzelnen Verfahrensschritte darstellen. Nach jedem genannten Schritt erscheint ein grüner Check-Haken im quadratischen, vor dem Begriff stehenden Kästchen, so dass nach Abhaken aller Kästchen erneut der Eindruck evoziert wird, wichtige Aufgaben seien erledigt. Die Sprachverwendung bzw. Begrifflichkeiten betreffend kann angemerkt werden, dass ähnlich wie im Asylantragsvideo gesondert auf die Phase „Registrierung“ eingegangen und diese besonders fokussiert wird. Implizit soll mit der Feststellung, dass jemand registriert werden muss, zum Ausdruck gebracht werden, dass Ordnung und Disziplin herrschen, während Chaos, Betrug und Missbrauch – auf diese verwiesen die Medien in der Berichterstattung 45 

Ebd., 0:00:47.

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über Asylsuchende nur allzu oft – mithilfe des neuen Systems ausgeschlossen werden können. Hierdurch entsteht der Eindruck, die gesamte Flüchtlingssituation in der BRD sei unter Kontrolle und verlaufe geregelt und kontrolliert. Auf Kontrollierbarkeit scheint auch der in nahezu allen Bereichen verwendete Terminus „systematisches Clusterverfahren“ abzuzielen, der zunächst allerdings nur in den Raum gestellt und nicht weiter erläutert wird. Die AllAussage, dass alle (!) Asylsuchenden registriert werden, versucht den Eindruck zu erwecken, das neue System sei unfehlbar und nicht zu unterlaufen. Gleichzeitig gewährleiste es „hohe Sicherheits- und Qualitätsstandards“, jedoch steht auch hier eine Definition dessen, was „gesichert“ werden und „Qualität“ haben muss, auch nach Rezeption des Clips aus. Die Vermutung liegt nahe, dass der Aspekt „Sicherheit“ zur Beruhigung der deutschen Bevölkerung verwendet wird und in Richtung Illegaler, Betrüger, Straftäter, aber auch sog. Gefährder oder Terroristen zielen soll. Von den Verfasserinnen als unwahrscheinlich erachtet wird die Annahme, dass hiermit der Qualitätsstandard der Unterbringung und Betreuung der Geflohenen gemeint ist, den es doch insbesondere seit den Vorkommnissen in Geflüchtetenwohnheimen, die von Deutschnationalen oder denen nahestehenden Personen betrieben wurden, verstärkt ins Visier zu nehmen gilt. Und doch bleibt die Aussage in ihrer Knappheit uneindeutig genug, um anschließend behaupten zu können, einen solchen Anspruch selbstverständlich zu enthalten. Im Anschluss werden die Phasen des Integrierten Flüchtlingsmanagements aufgezeigt. „Ankunft und Registrierung“ stellen die erste Phase dar: Das dazugehörige Bild zeigt einen Mann mit einem Kind an der Hand, der vor einem Balken mit einem Pfosten in den Farben der deutschen Flagge steht. Dies soll den Schlagbaum an der Grenze darstellen, im Hintergrund sollen die Zuschauer*innen Deutschland identifizieren, zu erkennen an der kleinen, idyllischen Ortschaft mit Kirchturm (!) und Bäumen. Der zweiten Phase „Asylverfahren“ folgt die dritte Phase „Integration/Rückkehr oder Rückflug“. Dem Begriff der Integration soll wohl die Zeichnung auf der Linken entsprechen: Die männliche Figur, die wir bereits öfter gesehen haben und die stellvertretend für einen Geflüchteten steht – sie hat dunkles Haar –, steht vor einem Wohnhaus und unterhält sich mit einer – blonden – Figur. Somit wird ein prototypisches Bild von Integration hervorgerufen. Jedoch handelt es sich, entsprechend der Überschrift, um ein zweigeteiltes Bild: Die rechte Bildhälfte zeigt eine gezeichnete Europakarte, dazu bewegt sich ein Flugzeug von seiner Position über der BRD in Richtung Osten, zudem deutet ein Pfeil die wahrscheinliche Flugrichtung Südost an, wobei die Pfeilspitze in Richtung Balkan zu zielen scheint. Dieser Umstand nimmt somit den Diskurs um den sog. ‚Westbalkan‘ als Herkunftsregion jener Geflüchteten wieder auf, die in den Medien

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zumeist als Krisen auslösende „Armutsflüchtlinge“ bezeichnet und denen jegliche Anrechte auf eine neue Heimat versagt werden (vgl. Abschiebungsvideo). Dem Asyl skeptisch gegenüberstehenden Bürger*innen wird so relativ subtil vergewissert, dass diese Leute keine Chance auf Anerkennung ihres Asylgesuches in Deutschland haben. Insgesamt impliziert das zweigeteilte Bild auch, dass es nur zwei Optionen für Geflohene zu geben scheint: Integration oder erzwungene Heimkehr. Zunächst erscheint das Begriffspaar „Integration/ Rückkehr“ als eine Opposition. Bei genauerer Betrachtung stellt sich dies aber als inkorrekt heraus, entspräche doch dem Gegenteil der Rückkehr eigentlich der Begriff des Bleibens, der Bleibeerlaubnis, der Duldung oder Ähnlichem, während mit dem gewählten Terminus der „Integration“ nur ein bereits fortgeschrittener Status gemeint werden kann, für den zunächst einige Bedingungen erfüllt werden müssen. Es kann vermutet werden, dass die Verwendung des Begriffs der Integration hier bewusst favorisiert wurde: Zunächst einmal verdeutlicht die Verwendung des Terminus in Abgrenzung von seinem nur vermeintlichen Gegenteil „Rückkehr“, dass es nur diese eine (!) Entwicklung geben kann, wenn man nicht zurückgeschickt werden möchte. Integration ist Pflicht und alternativlos, möchte man in der BRD verweilen. So lautet die Botschaft, die prophylaktisch sog. Parallelgesellschaften auszuschließen vorgibt. Es wird somit auf die Geflohenen und deren Integrationsbereitschaft abgezielt, die ihnen abverlangt wird. Zudem wird evoziert, dass alle, die also bleiben dürfen, integriert werden und dieser Prozess auch reibungslos ablaufen wird. Obwohl sachlich falsch, erscheint es, als würden nicht Integrierbare zurückgeschickt. Im Weiteren wird der ‚Grenzübertritt‘ Geflüchteter in den Blick genommen. Dort hat man es – der Zeichnung nach – mit einer weiblichen Bundes- oder Landes-Polizistin zu tun, die einen blonden Pferdeschwanz trägt und an die Beamtin zu Beginn des Asylantragsvideos erinnert. Neben der Tatsache, dass die Wahl eines Zeichentrickfilms/Animationsfilms bereits auf eine geplante Simplifizierung und den Willen zur Abstraktion hinweist (mit Strichmännchen umgeht man Scripted Reality oder pseudodokumentarische Produktionen wie das Asylantragsvideo), ist insbesondere in dieser Sequenz eine Komplexitätsreduktion zu erkennen, indem beinahe jeder Sachverhalt simplifiziert wird, bis er so erscheint, als sei er Teil eines Lehrfilmes für Kinder, in dem die einfache Formel aufgestellt wird, dass ein Geflüchteter mit einem Kind von genau einer Polizeibeamtin überwacht wird – ein Betreuungsverhältnis, das erneut Kontrolle über die Fluchtsituation vorgibt. Auch die Wahl einer weiblichen Polizistin erscheint auffällig. Deutschland, so erweckt das Bild den Anschein, bringt Frauen in traditionell frauenuntypische Berufe, ihnen kommt das Recht zu, Männer zu kontrollieren und verantwortungsbewusste Arbeiten zu übernehmen. Eine Botschaft über die Gleichberechtigung von Frauen in

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der BRD, die es aufgrund der Hysterie um angeblich frauendiskriminierende und -verachtende Asylsuchende aus überwiegend muslimischen Herkunftsländern scheinbar unbedingt zu vermitteln gilt. Hiermit soll erneut betont werden, dass die BRD im Umgang mit Gelüchteten alles unter Kontrolle hat. Der weitere Umgang mit den soeben an der Grenze Angekommenen scheint reibungslos organisiert, wenn die beiden Figuren mit einem plötzlich auftauchenden Bus abgeholt werden, um in eine Erstaufnahmeeinrichtung gefahren zu werden, in der sie, so wird es erneut betont, registriert werden. Die weiteren Vorgänge dort fasst der Sprecher zusammen, indem er betont, dass die Daten der Asylsuchenden im Ankunftszentrum in ein deutschlandweites, zentrales Kerndatensystem eingegeben würden, auf die später alle öffentlichen Stellen zugreifen könnten. In der Zeichnung erscheinen die Wörter „BAMF“, „Bundespolizei“, „Bundesagentur für Arbeit“ sowie die nicht weiter differenzierte Angabe „und weitere Behörden“. In den Fokus gerückt wird somit das Thema Sicherheit, Aufsicht und Kontrolle. Eine zentrale Speicherung von Daten kann Asylmissbrauch entgegen wirken, so die Botschaft. Hierdurch entsteht der Eindruck einer Verdatung, die normale Zustände gewährleistet.46 Indem betont wird, dass Daten lediglich einmalig aufgenommen werden müssen, um mehrfach verwendet werden zu können, verlagert sich die Aussage des Videos erneut in Richtung einer Betonung der Effizienz und Ökonomie des neuen, zu bewerbenden Verfahrens. Über Schutz der Persönlichkeitsrechte inklusive Datenschutz für Asylsuchende hingegen wird kein Wort verloren. Im Weiteren wird demonstriert, wie die Geflohenen auf die BRD verteilt werden. Dass dies eine aktiv ausgeführte Organisation und Exekutive erfordert, wird durch die sich scheinbar wie von selbst bewegenden Spielfiguren verschleiert, erscheint diese Bewegung doch magisch und problemlos vonstatten zu gehen. Das System, mit dessen Hilfe dieser Verschiebungsprozess von Menschen geplant und durchgeführt wird, nennt sich, passender- oder vielmehr peinlicherweise „EASY“ und arbeitet mit anonymisierten Daten – ein Umstand, der nun eine Akzentuierung erfährt, erschien der Datenschutz für Geflüchtete zuvor doch vernachlässigenswert. Dass die bisher mehrfach genannte Registrierung nicht ausreicht, verdeutlicht der nächste gezeigte Schritt im Umgang mit den Gelüchteten: Während man sieht, wie von der dem Publikum bereits bekannten männlichen Figur Fingerabdrücke genommen werden und ihre „Ausweispapiere auf Echtheit überprüft“47 (0:03:37) werden, ist auf der Tonebene zu vernehmen: „Zugleich werden die

46  47 

Vgl. Link, „Massenflucht“, (Anm. 27), S. 7. BAMF, „Integriertes Flüchtlingsmanagement (Anm. 37), 0:03:37.

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Asylsuchenden erkennungsdienstlich behandelt“48. Die transitive Ausrichtung der Wendung „Menschenbehandlung“, die Sternberger, Storz und Süskind 1957 in ihrer politischen Sprachkritik und Analyse einer Sprache der Nationalsozialisten Aus dem Wörterbuch des Unmenschen bereits als Strategie eines Entmündigungs- sowie eines Entmenschlichungsprozesses identifizieren,49 objektifiziert hier die Geflohenen zum wiederholten Male. Bereits im Erstaufnahmevideo wird diese Wendung genutzt. Der Anlass, nämlich die Arbeit des BAMF als engmaschig, praktikabel und vor allem als funktionierend darzustellen, scheint dieses Opfer rechtfertigen zu müssen. Zudem rufen die Bilder einer Registrierung der Fingerabdrücke einer Person seit der Einführung des Reisepasses mit ebensolchen auch nicht mehr dieselbe Sensibilität hervor, wie noch vor einigen Jahren. Indem allerdings die ‚Echtheit von Papieren‘ überhaupt angezweifelt wird, als echte Gefahr und nennenswertes Risiko benannt wird, werden beim Publikum Bilder von Kriminalität aufgerufen. Der Fall eines ‚unberechtigten‘ Asylantrags wird dann sogleich auch am gezeichneten PC durchgespielt: Für den Fall, dass die entsprechende Person einen DublinFall darstelle, also in einem anderen europäischen Land angekommen ist und somit dieses Land auch für diesen Fall zuständig wäre oder sie in der Vergangenheit straffällig geworden ist, kann das Computersystem dies herausfinden, so die Darstellung. Realisiert wird ein solcher Fund im Video durch das plötzlich auf dem Monitor erscheinende, rot unterlegte Wort „Treffer“, das das Finden von Übereinstimmungen als Erfolg konnotiert. Die Identifizierung von Straftäter*innen, und damit gemeint sind auch sog. Gefährder*innen und mutmaßliche Islamist*innen, so erscheint es, erfolgt durch Automatismen und auf eine kinderleichte Art. Das Flüchtlingsmanagementvideo entscheidet sich dann aber doch für das andere denkbare Szenario, nämlich einen nicht vorbelasteten Geflohenen. Bei ihm meldet die Schrift auf dem Monitor grün unterlegt „Kein Treffer“. Dies mutet unfreiwillig komisch an und stellt erneut die als Ziel verfolgte Simplizität des Videos heraus, sieht man sich doch gezwungen, in dem Bereich des Spiels entlehnten Begrifflichkeiten zu sprechen („Treffer“ statt beispielsweise „Übereinstimmung“) und im Ampelfarbsystem Sachverhalte deutlich zu machen. Dies rekurriert auch auf die Verwendung von Spielfiguren zur Visualisierung von Geflüchteten. Erneut werden die Geschehnisse des Sommers 2015 aufgerufen, diese Zeit aber als vergangen, die derzeitige Vorgehensweise als optimiert dargestellt: 48  49 

Ebd., 0:03:28. Vgl. Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Neue erweiterte Ausgabe mit Zeugnissen des Streites über die Sprachkritik, Hamburg und Düsseldorf: Claassen 1968, S. 126.

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„Seit Sommer  2015 hat das Bundesamt durch ein systematisches Clusterverfahren die Verfahrensdauer für Personen aus bestimmten Herkunftsländern auf wenige Wochen verkürzt.“50 Abermals erfährt die eigene vermeintliche Effizienz eine Betonung. In einem weiteren Schritt werden die vier Gruppen des Clusters genannt und anschließend kurz umrissen, wobei Definitionen, die ein umfassendes Verständnis ermöglichen könnten, leider ausbleiben. So bleiben die Termini „Länder mit hoher/niedriger Schutzquote“, leere Worthülsen, auch erschließt sich nicht, was eine „komplexe Profillage“ wohl ausmacht. Dass es darum aber auch nicht in erster Linie geht, macht die folgende Sequenz deutlich. Im Vordergrund wird demonstriert, dass ein Clustern dazu führen soll, dass die Zuständigkeit von Einrichtungen jederzeit benennbar ist. Es folgen die Ausführungen zu Antragstellung und zur Anhörung. Während die Antragstellung bei einer Sekretärin erfolgt, geschieht die Anhörung bei einer sog. „geschulten Entscheiderin.“51 Nach positiv erfolgter Entscheidung werden Asylsuchende zu einem Integrationskurs „eingeladen“: „Das BAMF bietet allen Geflüchteten, deren Antrag anerkannt wurde, einen Integrationskurs an, damit sie deutsche Sprachkenntnisse und Wissen über die deutsche Kultur erwerben.“52 Als problematisch, da als essentialistisch zu klassifizieren, ist die undifferenzierte Formulierung „die deutsche Kultur“, die Deutschland als homogen darstellt. Dies kann zum einen einer intendierten Komplexitätsreduktion dienen, zum anderen auf mangelndes kulturelles Wissen oder auf eine eingeschränkte, konservative Geisteshaltung hindeuten. Die zweite Option wäre besonders tragisch, handelt es sich beim BAMF doch um eine Institution, die Expertise im Bereich von Migration und somit Kulturen aufweisen sollte. Die zeichnerische Darstellung des Integrationskurses verweist bereits auf die nächste Phase, nämlich die der Arbeitssuche und -vermittlung. Auf der Schultafel im Kursraum vermerkt wird die Überschrift „Leben und Arbeiten in Deutschland“. Scheinbar ist Arbeit ein wesentlicher Bestandteil einer zu erlernenden „deutschen Kultur“ und somit Bleibebedingung. Das Versprechen einer „nahtlose[n] Aufnahme in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt“53 50  51 

52  53 

BAMF, „Integriertes Flüchtlingsmanagement (Anm. 37), 0:03:50. Ebd., 0:06:44. Die Arbeitsteilung von Interviewer und Entscheider hat sich in der Zwischenzeit verstärkt. Entscheider hatten in der Folge keinen Kontakt mehr zu den Geflohenen, ihnen standen lediglich Akten und Protokolle zur Sachbearbeitung und Entscheidungsfindung zur Verfügung. Auch dieser Schritt kann als Folge von verstärkten Effizienzbemühungen verstanden werden. Mittlerweile ist auch dieses Verfahren nicht mehr aktuell. Ebd., 0:07:23. Ebd., 0:07:54.

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versichert, dass keine krisenhaften Folgen für den deutschen Sozialstaat entstehen werden, alle Geflüchteten ist schnellstmöglich für ihren Lebensunterhalt selbst verantwortlich. Die sich anschließende Sequenz in der Arbeitsagentur demonstriert eine Unterhaltung zwischen einem Jobvermittler und einem Flüchtling. Die präsentierte Sprechblase wird dominiert durch einen gezeichneten Kopf mit Doktorhut, wodurch impliziert werden soll, dass es auch Asylsuchende mit akademischer Laufbahn gibt. Damit soll stereotypen deutschen Befürchtungen entgegengewirkt werden, Flüchtlinge seien unzureichend oder gar nicht ausgebildet. Den Doktorhut im Vordergrund zu platzieren, erweckt den Eindruck, bei den Flüchtlingen handle es sich in erster Linie um Akademiker und spiegelt somit nur einen Teil der Realität wider. Als letzte Instanz eines Integrierten Flüchtlingsmanagements ist die sog. kommunale Lotsenstruktur zu nennen. Eine institutionelle Professionalisierung wird durch die Bezeichnung „kommunale Lotsenstruktur“ versucht zu vertuschen: Denn diese Bezeichnung lässt eine organisierte kommunale Institution als Handelnde vermuten, stattdessen verbergen sich hinter dieser Bezeichnung in erster Linie Ehrenamtliche. Das bedeutet, dass Hilfestellung bei alltäglichen Tätigkeiten der Geflüchteten, z. B. Behördengängen, nicht langfristig durch eine Institution gesichert, sondern von der Bereitschaft und den Möglichkeiten einzelner, unbezahlter Freiwilliger abhängig ist, die laut BAMF „auch künftig wichtige Partner für BAMF und BA dar[stellen].“54 Fazit und Ausblick Es kann festgehalten werden, dass die Inszenierung der Transit-Orte im Asylantragsvideo überwiegend als Orte der Kommunikation, des Austauschs und der Menschlichkeit erfolgt. Potentiell negativ konnotierte Registrierungsmaßnahmen werden als Notwendigkeit und Wohl aller dargestellt und somit euphemisiert. Im Gegensatz dazu werden im Abschiebungsvideo Nicht-Orte mit Attributen wie Anonymität und zwangsweiser Kontrolle ausgestattet und als solche auch inszeniert. Zwar werden in dem Erstaufnahmevideo die gezeigten Nicht-Orte nicht vorrangig positiv inszeniert, jedoch kann auch hier festgehalten werden, dass die damit verbundenen Negativattribute, wie z.  B. die  Registrierungsmaßnahmen, als logistische Notwendigkeit inszeniert werden, um humanitäre Hilfe leisten zu können. Es kann also festgehalten werden, dass Nicht-Orte überwiegend nicht als solche inszeniert werden und somit auch nicht als krisenhafte Orte erscheinen. 54 

Ebd., 0:08:30.

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Scheinen das Asylantrags- und das Abschiebungsvideo auf den ersten Blick unterschiedliche Geflüchtetengruppen zu adressieren, nämlich zum einen Iraker*innen und zum anderen Südosteuropäer*innen, muss diese Vermutung bei Berücksichtigung der Sprachen, in die die Filme übersetzt wurden, revidiert werden. Beide Filme wurden u. a. in Albanisch und Serbisch übersetzt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Albaner*innen und Serb*innen für beide Filme als potentielle Zielgruppen vorgesehen sind. Auffällig ist, dass das Erstaufnahme- und das Flüchtlingsmanagementvideo aus dem Jahr 2016 lediglich auf Deutsch und Englisch abrufbar sind – es kann also vermutet werden, dass als primäre Zielgruppe Deutschsprachige der bundesdeutschen Gesellschaft zu nennen sind. Neben der zunehmenden Rede von krisenhaften Entwicklungen im medialen Diskurs kann auch eine andere Darstellungsweise beobachtet werden, die sich auch in den untersuchten Videos niederschlägt: Die BRD als humanitäre Hilfe Leistende, die dabei die Kontrolle über mögliche Geflüchtetenmassen wahrt und somit sich selbst vor einer krisenhaften Entwicklung zu schützen weiß. Damit soll einer Panikmache innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft entgegengewirkt werden. Als ein möglicher Grund hierfür ist die Tatsache zu nennen, dass insbesondere in den letzten zwei Jahren Einzelereignisse, wie beispielsweise die Silvesternacht 2015/2016 in Köln, als Symptome einer allgemeinen großen sog. Flüchtlingskrise proklamiert werden. Zwar wird in dem Abschiebungsvideo vor einer überhand nehmenden Zuwanderung aus Südosteuropa gewarnt, jedoch wird suggeriert, dass Deutschland mit dieser „Problematik“ durch „protonormalistische“55 Lösungen, nämlich Abschiebung, umzugehen weiß. Ländern in Südosteuropa, deren wirtschaftliche Rückständigkeit häufig in den Medien betont wird, wird hingegen eine echte (wirtschaftliche) Krise abgesprochen, obwohl das Asylantragsvideo diese Gruppe noch als erbetene Gäste in Deutschland berücksichtigte. Krisenhafte Zustände im Jahr 2015 werden auch rückblickend im Flüchtlingsmanagementvideo negiert, wenn dieses nur von „Herausforderungen“ zum damaligen Zeitpunkt spricht. Hiervon ausgehend muss die Frage nach gouvernementalen Strategien56 gestellt werden. Das Asylantragsvideo zielt darauf ab, dass Geflüchtete das Prozedere der Asylantragstellung befolgen, als Notwendigkeit akzeptieren und 55  56 

Link, Normale Krisen? (Anm. 17), S. 123. Zum Konzept der Gouvernementalität und der Regierungstechnologie sei an dieser Stelle aus textökonomischen Gründen lediglich Folgendes festgehalten: Medien (und hierzu sind auch die Videos, die zur Analyse stehen, zu zählen) sind als Regierungstechnologien zu verstehen, wenn auch nicht in dem Sinne, dass ein Einzelmedium in bestimmter Weise wirkt. Vgl. Markus Stauff, „Regierungstechnologie“, in: Christina Bartz, Ludwig

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von Beginn an Integrationsbereitschaft zeigen. Darüber hinaus sollen mögliche Differenzen aufgrund unterschiedlicher kulturell-religiöser Provenienz von Geflüchteten und Deutschen als minimal erscheinen, sodass die deutschen Zuschauer*innen keine sog. Überfremdung befürchten müssen. Auch wenn es sich bei den im Erstaufnahmevideo Gezeigten um Schwarze, und somit für einen Großteil der mitteleuropäischen Bevölkerung um phänotypische Fremdheit schlechthin handelt, wird dem Gefühl von Überfremdung vorgebeugt, indem die gezeigten Geflüchteten als hilfsbedürftig und folglich ohnmächtig und dadurch unbedrohlich sowie kontrolliert präsentiert werden. Ohnehin liegt der Fokus bei allen Filmen darauf, Kontrolle und Macht der Bundesregierung zu demonstrieren. Insbesondere im Flüchtlingsmanagementvideo kulminiert der Wille zur eigenen Selbstdarstellung und -behauptung, wenn das neue System des Integrierten Flüchtlingsmanagements als ebenso unfehlbare wie sichere Optimallösung präsentiert wird, die zudem effizient ist. Der Umgang mit den Geflohenen erscheint hier unproblematisch, da gänzlich





Jäger, Marcus Krause und Erika Linz (Hrsg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München: Wilhelm Fink 2012, S. 227–236, hier S. 229. Unter ‚Regieren‘ sind nach Foucault alle Versuche zu fassen, die „Verhaltensweisen (die eigenen, die der Familie, die einer Bevölkerung) [zu] modifizieren, insofern dies nicht vorwiegend durch schlichte Vorgaben, von ‚außen‘ erfolgt, sondern durch eine sorgfältige Erforschung, Ausnutzung und Anreizung der einem Gegenstandsbereich ‚innerlichen‘ Gesetzmäßigkeiten. Regieren impliziert somit (etwa im Kontrast zum Modell der Souveränität) nicht eine Beziehung, sondern eine Vielfalt an Beziehungen zwischen Regierung und Regierten. ‚Technologien‘ haben dabei einen doppelten Status: Erst durch bestimmte Technologien kann ein Wissen von einem Gegenstandsbereich erworben werden, und nur durch Technologien kann in dessen Regelhaftigkeiten interveniert werden. Die zu regierenden Gegenstandsbereiche und die Regierungstechnologien korrelieren miteinander in dem Sinne, dass die einen durch die anderen konstituiert werden, Plausibilität und eine spezifische historische Rationalität erhalten. […] ‚Technologie‘ bezieht sich dabei zunächst v. a. auf den systematischen, reflektierten und Rationalität generierenden Einsatz der Verfahren.“ (Ebd., S. 227 f.) Medientechnologien haben eine starke Bedeutung dabei, Regierungstechnologien zu etablieren, sie „fungieren dabei u. a. als Übersetzungen zwischen den Programmatiken und Gegenstandsbereichen mit ihren spezifischen Regelhaftigkeiten. […] Insbesondere durch die (massen-)medialen Distributions- und Inszenierungsformen ergeben sich so spezifische und vielfältige Verschränkungen zwischen Regierungs- und Selbsttechnologien. Während bspw. mittels statistischer Verfahren ‚innere Gesetzmäßigkeiten‘ moderner Gesellschaften (wie etwa Einkommensverteilung, Kriminalitätsraten, Sexualverhalten, Meinungen) zugänglich gemacht werden, bieten gleichzeitig popularisierende Visualisierungen dieser Daten in Verlaufsgrafiken oder Kollektivsymbolen den Individuen einen Anlass und ein Instrumentarium, sich mit Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Verteilung von Verhaltensweisen zu positionieren. Mit Statistik wird somit kein Verhalten vorgeschrieben […]; sie bildet aber ein Scharnier, in dem sich die Praktiken auf einander beziehen und miteinander ‚rechnen‘ können.“ (Ebd., S. 229.)

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emotionslos. Die abzuschiebenden Spielfiguren werden auf Pfeilen zurückverfrachtet, für die bleibenden Animationsfiguren bringt das Publikum weder Sympathie noch Ablehnung auf. Nicht zuletzt ist dies der Tatsache geschuldet, dass diese keiner Ethnie oder Religion zugeordnet werden können. Vermutlich ist diese recht neutrale Darstellungsweise als Reaktion auf die negative mediale Resonanz hinsichtlich des Vorgängervideos, des Asylantragsvideos, zu deuten; wahrscheinlich darf es deshalb auch nicht mehr verwendet werden bzw. wurde aus diesem Grund aus dem Archiv des BAMF entfernt. Technologien des Selbst werden in dem Abschiebungsvideo insbesondere durch die Aufbereitung von Daten zu scheinbar allgemeingültigen Aussagen, aber auch durch die Verwendung von Kollektivsymbolen insofern genutzt, als dass Südosteuropäer*innen sich nach der Rezeption des Films zu den gezeigten menschlichen Schicksalen in Relation setzen bzw. sich positionieren und schließlich für sich selbst (hoffentlich) beschließen, Deutschland fern zu bleiben. Darüber hinaus muss das Abschiebungsvideo aber ebenfalls als Regierungstechnologie mit Blick auf BRD-Bürger*innen verstanden werden: Es soll diese beruhigen und Denormalisierungsangst reduzieren, indem betont wird, dass reinen sog. Wirtschaftsflüchtlingen eine Asylgewährung verwehrt wird.

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Lagerzeiten Willi Benning Meer Land Sonne im unendlichen morgendlichen Blau des Meers. Nahe eine schlanke Landzunge. Die Bucht. Dahinter die Silhouette einer kleinen bergigen Insel vor der breit ausgestreckten Masse Euböas. (Gibt es dort Höhlen? Wurde in den Berg hinein gebaut? Geröll ist auf diese Distanz nicht sichtbar.) Der Umriss getrübt durch weißgrauen hell im Meer verschwimmenden Dunst. Zerfließend. Eine nuancierende Grenzziehung. Nicht Linie. Expressionistisch: Fläche. Doch diese Tiefenwirkung. Dimensionen lassen sich nicht übersehen, in der Natur. Geistigkeit des Gegebenen. Farbtönend übergängig sich nur verhalten behauptend vor diesem Meer. Und herein in die Berge Mir die reizende Ferne schien … In welcher Kraft gründet die Verhaltenheit? Meer Wasser Text. Da ist kein Satz mit Ausrufezeichen. Alle Interpunktion zugedeckt. Der Dunst Schleier. Eine dem Betrachter Leser gnädige Unbestimmtheit. Ein fruchtbarer Augenblick.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_009 .7

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All das fast unbeschwert notiert, wenn man die brennende Nase ignoriert. Schreibt sich hier Natur? Außen und innen? Ein neuer Zugang? Man zweifelt. Nicht ohne das Gefühl schrumpfender innerer Haut ums Zwerchfell herum. Zeit des Puzzles Ist es die Zeit des Puzzles? Schnell, fast unwillkürlich fügen die Teile sich ein, fugenlos, bunt. Noch immer schüttelt man abends den Karton. Noch immer bringt jeder Tag ein neues Bild. Haben die Bilder Simulacren des Realen sich angeglichen? Eine grüngekleidete Dame schaut einmal freundlich dann wild aggressiv. Eine Hexe am linken Bildrand mal größer, mal kleiner. Doch immer wieder die gleichen Bildelemente. Oben scheint immer ein ganzer Bildteil zu fehlen. Man schaut nicht mehr hin. Man sitzt am Spalt aufmerksam diszipliniert schaut über die Geröllfläche auf den Berg. Bewegung überall. Dämonen laufen wuseln herum. Nicht mit Sicherheit zu erkennen auf diese Entfernung. Man merkt sich, in welche Höhle sie gehen.

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Legt das aktuelle Puzzle, füllt Lücken. Man springt ins Bild Labyrinth, findet Wege, immer kreisförmig, zieht den Zirkel um den Sinn, wieder und wieder. Hermeneutik des labyrinthischen Seins. Bei jedem Rundgang ein wenig weiter hinaus? hinein? Es ist nicht klar, wo das Ziel liegt, doch es geht weiter, immer weiter. Noch eine geschlossene Lücke im Puzzle, eine neue Wegstrecke. Am Rande: Blüten des Sinns, noch zweckhaft. Bewundert, nicht gepflückt. Man sieht das Kleine, Einzelne, widmet sich den Notizen zum Ganzen, geht zurück zu den Staubpartikeln des erodierenden Gerölls. Empirie. Denken des Denkens. Vor und zurück im Zirkel. Jedes Mal neue Details, überraschende Wendungen. Noch immer. Ganze Bildteile aber bleiben konstant. Ist das sich Erhaltende die Struktur? Auf der Karte des Labyrinths ist der gangbare Weg rot eingezeichnet. Natürlich verbessert man, doch jetzt seltener. Man erweitert. Enrichment. Dämonen helfen, unfreiwillig, vor allem die ganz dummen, verschwinden dann wieder in ihren Höhlen. Oder sitzen verschlossen schweigend vor den Bücherregalen.

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Jetzt: Ein Spiel mit Lust und Unlust. Beklemmung breitet sich im Brustkorb aus. Nur leicht. Man geht darüber hinweg. Ist diese Sicherheit des Konstanten der Stimmung geschuldet? Kühl denkt man nach. Das kann man in diesen Tagen. Insgeheim setzt man hinzu: leider. Man denkt: Es gelang, das Ganze zu ordnen. Logisch chronologisch psychologisch. Empirie Sinne Erinnerung passten sich ein. Berichte häuften sich, flossen ein. Natürlich sind da nun die Fragen. Doch sie wiederholen nuancieren sich. Man spitzt sie zu. Hier und da stößt man auf Antworten. Einiges belässt man bewusst im Ungewissen. Alle Hermeneutik hat ihre Grenzen. Manche Fragen beantwortet das Leben. Nein, es ist keine Stimmung. Keine Euphorie. Es ist die Zeit des Puzzles. Vorsichtig bewegt man sich im Zirkel, der Spirale vorwärts aufwärts, legt bunte Bilder zusammen. Nachtrag: Man fragt sich: Sah man den Kern des Ganzen, die Ambivalenz? Hoffte man auch zu wirken? Ist die Wahrheit der Erkenntnis letztlich eine Wahrheit der Wirkung? Wirkungen berechnet man taktisch.

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Eine Taktik kann richtig sein, aber nicht wahr. Wahrheit lässt sich nicht berechnen. Verlor man sich ohne es recht zu merken im Instrumentellen? Jene Blüten des Sinns, wann blühen sie auch jenseits des Zwecks? Denken, über die Mauer Die Mauer bröckelt. Mücken sind kaum zu sehen. Zunächst die Protokollsätze. Man will das Reale einfangen. Schon bei der Formulierung versieht man jedes Wort mit einem Fragezeichen. Die Buchstabenwolke. Sprachnebel. So die Angst. Die Sprache als Schleier? Es gibt keine Alternative. Die Frage ist unproduktiv, wenn es um Handlungsrelevanz geht. Hier ist Kriminalistik gefragt. Man mag wissen: das geschah. Meist gilt das Fragezeichen dem Urheber. Manchmal erschließt sich seine Identität über den Kontext. Oft muss geprüft nachgefragt werden. Man ist behilflich zu klären: das Was und Wie. Close reading, am Text des Geschehens. Die Arbeit der Detektive. Man sitzt am Spalt, lauschend. Der Nebel lichtet sich gibt den Blick frei auf

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den Berg die Höhlen über erodierendes Geröll hinweg. Gedankenverloren schaut man den wandelnden Dämonen zu, bemüht um Disziplin des Denkens. Man ordnet. Protokollaussagen in Gruppen. Bestimmt Oppositionen Hierarchien Motive, unter Vorbehalten auch Namen. Erstaunlicherweise in dieser Reihenfolge. Man ordnet. Man seziert, selegiert, kombiniert. Es ergibt sich ein Geflecht Rankenwerk von Handlungen Motiven. Hier und da sieht man nur Gestrüpp. Narrativik. Plot, Sujet. Text. Ein Funktionsgefüge. Ziele. Zwecke. Immer wieder: große Taschen, Sex, Macht. Motive wiederholen sich. Handlungen wiederholen sich. Redundanz. Man ist unzufrieden. Man tröstet sich mit der Vorstellung von Niveaus. Sucht. Gibt es einen Text hinter dem Text? Wer stellte die erste Frage? Gibt es neben den bekannten Motiven noch einen Sinn? Hermeneutik. Literatur. Ethik. Text. Man tastet sich voran, kommt voran. Vermutet spekuliert ahnt. Über Ahnungen spricht man jetzt nicht.

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Eros, noch einmal Lagerzeiten. Eros im Käfig. Die Dämonen werden übermütig. Man spürt es, fühlt es, somatisch, psychisch. Es gibt keine funktionierende Abwehr. Man sagt ihnen, dass sie unerwünscht sind. Beschimpft sie. Es nützt nichts. Der eine will’s wild, der andere homoerotisch. Einer von ihnen ist erregt, wenn ihm ein unzureichendes ästhetisches Urteil nachgesagt wird. Man fragt sich: Was hat all das mit mir zu tun? Bei ihr sind es die Folien, auch das Dämonen, natürlich, schnell wechselnd, widersprüchlich. Die Kommunikation verläuft äußerlich über die Körper, die Münder. Der zwei. Innerlich sprechen Dämonen miteinander, mehrere. Man fragt sich, wie viele. Der eine bei ihr weiß, was der andere bei mir hören will. Das gilt wohl auch umgekehrt. Du hast keinen Geschmack! Mein Körper windet sich in Genuss. Man steht draußen vor, wundert sich. Ich wollte eigentlich protestieren. Es zerfällt. Immer mehr. Das Ich ist kaum mehr als Erstaunen.

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Man ist verärgert, mahnt sich zur Toleranz. Man weiß um den Rhythmus der Sexualität. Man kennt den Drang. Und anders scheint es eben nicht zu gehen. Man nimmt es mit Humor. Das geht, aber wo bleibt die Erregung? Blicke Blicke. Bilder. Objekte. Dasselbe Objekt mal schön, mal hässlich. Wie kann das Schöne hässlich, das Hässliche schön sein? Dämonischer Blick. Warm. Kalt. Oder auch sachlich. Keine Veränderungen im Objekt. Stimmungen schweigen. Der Blick, noch normal. Warm: bindendes Objekt, erotisch fixierend, nicht erregend. Kalt: abstoßendes Objekt, erotisch abweisend, nicht erregend. Sachlich: entferntes Objekt, emotional neutral, detailliert. Der Blick, extrem: Ins Objekt springend, intensiv. Somatisch. Feindliche Körper. Der Blick als Körper? Drohend. Beängstigend. Mensch oder Konstrukt.

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Ins Objekt springend, intensiv. Somatisch. Absorbierender Körper. Der Blick als Körper? Singular. Anziehend. Erregend. Frau. Marmorbruch Penteli Schroff alles. Schneidend. Stechend. Schroff geschnitten in den Berg der Bruch. Der Marmor gestochen schmutzig weiß. Stellenweise rötlich-braun vor Staub. Schroff geschnitten ins Fleisch der Schmerz. Der Stromstoß blitzhell stechend. In Gelenk Muskeln Sehnen Organe. Schroff geschnitten in die Umarmung der Kick. Die Erregung stechend eruptiv. Sich bäumender Körper. Schroff alles. Geschnitten. Gestochen. Schreiben Auch das Schreiben in Abwehr, als Abwehr. Man trotzt den Dämonen. Trotzt den Schmerzen, der Unruhe und all jenen Tricks gemäßigten Psychoterrors. Schreibt trotzend, in Hast oft,

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unter dem Druck des Willens: einen Text zu schaffen, abzuschließen. Im Ringen stellt man fest: Man wehrt sich heftiger. Man insistiert auf dem Eigenen. Schreibend. Im Trotz, unter Druck Zwang, innen, schreiben Dämonen Poesie. Hackende Hast. Hackende Interpunktion. Ein Wort muss reichen. Nur nichts Überflüssiges. Konzentriert. Gestückelt. Lückenhaft. Schmerzen verschieben fokussieren die Aufmerksamkeit. Schlagen sich nieder in Schrift. Den Körper kann man nicht ignorieren. Getroffen, verärgert registriert man die Fragmentarisierung als Artikulation des Dämonischen. Eine Art écriture automatique, erzwungen durch Reales. Der Text zerfällt. Wie Kafka klagte: Ohne Anfang, ohne Ende. Ohne Wurzeln, ohne Frucht. Fotografie eines Stengels. Im Wind. Von der Mitte an aufwärts. Kahl. Wie gern möchte man die Geschichte vollständig erzählen. Stattdessen: Harsche Verse. Man wehrt sich, man insistiert.

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Den Körper kann man nicht ignorieren. Das Reale will man nicht verleugnen. Der Körper wird Schrift. Disparater Text. Man drängt auf Einheit, Kohärenz. Immer schon mittendrin. An klassische Schönheit denkt man nicht einmal. Bemüht sich um Disziplin des Denkens. Auch des Fühlens – ein Unding. Man will. Das ist kein Voluntarismus. Das Wissen, die Zeit. Texte in hackender Zeit. Poesie der gehackten Zeit. Jetzt wieder: Schmerzen, aus dem Nacken aufsteigend in den Kopf. Man kann nicht ignorieren, man will nicht verleugnen. Der Körper wird Text. Man wehrt sich. Man will. Immer wieder der Bruch. Immer wieder jenes Jetzt. Der Körper. Der Text. Jetzt der Schmerzen. Des Drucks Zwangs. Brutal schneidet der Terror den Text. Wird Text. Wird das, was er verhindern will. Manchmal auch die Paranoia. Dämonen mit ihrer kleinen Sucht nach Selbst. Dieses Suchen. Wiedererkennen. Sie wird Text. Man korrigiert.

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Man will denken und fühlen, will schreiben ohne Schmerzen. Ohne Dämonen. In Einheit. Will schreiben als das, was man ist. Man ist durch Geschichte, das bestätigende Ja zu sich selbst (auch eine Frage der Moral), das abwehrende Nein gegen dämonische Besetzung (auch eine Frage der Wahrnehmung). Wissen. Wille. Entscheidung. Kraft. Man wehrt sich. Man insistiert. Als Opfer ist man durch die Revolte. Gegen den Terror. Man schreibt. Hacktexte. Trotztexte. Körpertexte. Besuch im Lager Immer mal wieder im Lager. Mit schmerzendem Knie, pochendem Kopf. Einiges hat sich geändert. Es gibt Tage ohne Nebel, besonders nach heftigen Niederschlägen. Sonnige Tage sind kein Wunder mehr. Die Nebelmaschinen sichtbar. Nur sehr langsam gelingt es ihnen, wieder jenes Breiig-Weiße zu produzieren. Die Lagerinsassen arbeiten nicht. Sie sprechen in Gruppen, singen, führen Einakter auf. Sie verlassen das Lager,

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tanzen auf der Geröllfläche. Einige freudig, andere zornig. Die Dämonen haben ihre Höhlen verlassen, streifen durchs Lager. Noch immer in ihren weiten weißen Gewändern, die Kapuze ins Gesicht gezogen, den Arm mit hängendem Ärmel vor dem Mund. Man sieht sie, sieht ihre Gesichter nicht. Unter ihnen scheint Unruhe zu herrschen. Das bunte Treiben verfolgen sie aufmerksam. Man hat den Eindruck: misstrauisch; argwöhnisch. Sie mischen sich ein. Tanzende verlieren den Rhythmus, wenden sich vom Partner ab. Obszöne Gesten. Die Aufführung stockt. In den Gesprächen kommt Aggressivität auf. Immer stärker, heißt es. Beunruhigte Dämonen, sagt man, triebhaft. Nachts ziehen sich die Dämonen in ihre Höhlen zurück. Oft folgt ihnen eine Ratte. Doch die Träume der Insassen drehen sich nur um sie, die Dämonen. Manchmal ist nachts ein magisches Leuchten am Himmel zu sehen. Unter den Insassen munkelt man von fliegenden Drachen.

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Sie sollen es auf die Dämonen abgesehen haben. Doch was zu sehen ist, ist kein Feueratem. Eher ein Wetterleuchten. Man vermutet Technik. Doch die Träume werden von den Dämonen geprägt. Am Tag sprechen die Insassen darüber. Man sieht, man hört, man denkt. Man verlässt das Lager mit schmerzendem Knie, pochendem Kopf. Trotz allem weitgehend befriedigt. Kobanê Amazonen in Waffen. In Erbil, in Kobanê (die Araber sagen Ain al-Arab). In Abu Dhabi, Al Taweelah. Amazonen im Kampf gegen den Terror. Was tun die Amazonen hier? Attische Vasen1 Eine Archäologin entzifferte die bisher unverstandenen Inschriften auf attischen Vasen. Darstellungen von Amazonen. 1  Angelika Franz, „Forscher entschlüsseln seltsamen Vasen-Code“, in: Spiegel Online, (17. 3. 2018).

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Spätarchaisch oder frühklassisch. Altgriechische Schrift für Fremdsprachen wohl phonetisch zu verstehen. Altiranisch, Abchasisch, Tscherkessisch, Ubychisch, zum Beispiel. Aus Kaukasus-Gegenden. Immer wieder Amazonen. Die Inschriften oft Namen. Ihrer Rüstung wert, zum Beispiel. Bildliche Namen, üblich bei den Nomadenvölkern der Steppe. Besonders interessant, so heißt es: Zwei Amazonen mit Hund. Eine Unterhaltung auf Altabchasisch: Wir helfen einander. – Lass den Hund los. Ekel Man liest wieder Sartre. La Nausée. Zu Beginn stellt man fest: Man versteht die Liebe zum Papier, nicht den Ekel. Dieser Ekel hier gilt nicht den Dingen. Man bedenkt: Ekel ist nicht Hass. Hass schlägt Wurzeln, wächst. Ekel ist nicht Wut. Wut brennt, bricht aus, wird Hass. Dieser Ekel schleicht sich ein.

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Langsam. Man bemerkt ihn immer später. Gift, tropfenweise verabreicht. Das spießig Theatralische zum Beispiel. Die verlogene Dramatik. La Nausée weitergelesen. Erheblich ergänzt. Existenz. Existenz des Dämonischen. Von überallher strömt die Existenz auf mich ein, durch die Augen, durch die Nase, durch den Mund. Bürokratie des Erotischen. Korrupte Verwaltung. Der Dämon als Apparatschik. Menschliches als Ware abgepackt. In kleinsten Mengen. Im Regal gezählt, gewogen, Käufer betrogen. Krämer-Mentalität. Liebe? Man muss lachen. Da schleicht er sich ein. Der Ekel. Der Blick wird kalt. Das Objekt hässlich. Der Ekel verstärkt sich. Und immer wieder wird man angespuckt. Man wischt sich den Speichel aus dem Gesicht.

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Man wendet sich anderen Dingen zu. Die Negerin singt … Some of these days You’ll miss me, honey. Denkgrenzen Es sollte gesagt sein: Nicht alles ist zu denken zu bedenken. Aus Gründen der Moral. Im weitesten Sinn. Anerkennung. Achtung. Person. Institution. Aus Feingefühl heraus, welches schon politisch genannt werden muss. Das ist eine Erinnerung an den Zyklus. Die aktive Zeit. Verbindlich auch jetzt. Es gibt Dinge Zusammenhänge, die diskutiert man nicht. Man hat bereits abgewägt. Funktionales dem Spiel. Der Sinn dem Ganzen. Der obere Teil des Puzzles. Man schaut nicht mehr hin. Man setzt dem Denken Grenzen, grenzt ab, grenzt aus. Man beschränkt sich. Auf das Hiesige. Übergibt fiktionales Wissen Lethe. Auch so.

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Verbannt es aus der Sprache. Mein Unsagbares. Mein Undenkbares. Denkt es nur noch ahnend. Wenn nötig. Disziplin des Denkens, anders herum. Auch das Ahnen will gelernt sein. Lethe schlängelt sich durchs Gelände. Bewässert. Blumen. Man musste einmal wissen: Wer macht die Musik? A chase in the clouds. Weiß es. Vergisst es. Ahnt. Über Kontinente. Der Vogelflug. Hält sich an das Hiesige. Wundert sich. Auch hier wird übermittelt geschickt: Es gibt Wissen. Man fragt sich: Wissen, Hypothesen, Spekulation? Was sind die Indizien? Die Insassen des Lagers sahen Drachen. Auch Mahbub? Jenes Wetterleuchten, was war es? Gibt es Spatzen, die es vom Dach pfeifen? Es? Das Problem mit den Personalpronomen. Man badet in Lethe. Man ahnt.

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Man achtet. Den Anderen. Achtet jene, die antworten sollten auf Fragen der Hiesigen. A chase in the clouds. Die Musik aus der Ferne. Gitarre, Trompete. Fern, nicht fremd. Fremd sind die Mongolen. Fremd ist der Schmerz. Vertraute Fremde. Vertraute Melodie. Der Text. Vertraut, nicht bestätigt. Wo blieb die Bestätigung, Wochen nun schon? Erinnerung Erinnerung. Wesentlich: Bilder, Empfindungen. Denken ist etwas anderes. Auch Denken kann erinnert werden. Verstandeserinnerung. Empfindungen. Bilder. Gerade noch. Jener wilde beeindruckende Montagmorgen. Die Hochzeit der Trucks. Die Schönheit des Schlanken. Partikular. Fixierend. Fixierte Empfindung. Begehren. Jetzt verschwunden, unterdrückt. Verarmte Erinnerung.

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Dämonisch die Hochzeit, dämonisch der Verlust. Das Bild aber, noch da. Diese unbedeckten Schenkel. Prägend als Empfindung, prägend als Bild. Noch da. Jetzt verliert sich das Plastische. Dann auch die Form. Schon weg. Dämonisch die Hochzeit, dämonisch der Verlust. Es bleibt: der Gedanke. Verstandeserinnerung. Hilft das Wort? Es ist zu überlegen. Zwar bleibt das Denken, erinnert. Doch: Auf dem alten Blatt, welches man sorgfältig fast liebevoll aufbewahrte, steht noch immer der Titel: Erinnerung. Begehren. Ausradiert sind die eleganten Linien das warme Kolorit. Man sieht Spuren der Kohle des Gummis. Jetzt gibt es das Gedicht. Kann es die Erinnerung retten? Später einmal?

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Ursprung Poesie beginnt nicht in jenem Spiel, das man gewinnen will. Konzentriert. Verbissen. Poesie beginnt mit einem andern Spiel. Von Leere und Fülle. Stimmung, Empfindung, Denken, Ahnen. Mit dem, was da ist. Dem, was nicht da ist. Dem, was da sein könnte. Poesie ist nur insgesamt. Im Ganzen. Worte, Geschichten, Modi … Schweigen. Ungezähmtes vor mattem Grün. Offener Ursprung, der nicht erklärt. In Lagerzeiten. Denn da ist immer schon das falsche Spiel. Der Terror. Das Opfer wehrt sich. Trotzend. Wortloser Zorn aus Angst. Sich selbst verzehrendes Denken. Prosa. Theorie. Abwehr Notwehr werden Poesie. Die Spiele greifen ineinander. Die Not, jenes Ganze. Trotz im Vogelflug – hinaus, hinan … und auf Lethes blumenübersäten Niederungen. Nur aus diesem Ursprung wird Widerstand Poesie. In verbindender Rückkehr. Im falschen, im großen Spiel. Dame, Pferdchen, Turm.

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Vielleicht auch verbissen. Die Züge, die Quadrate. Kästchen, klein. In besseren Momenten gelöst schwebend bewegt. Denkend, handelnd. Ins Weite hinaus. Trotzend schreibend. Öffnend. Das Protokoll. Die Chronik. Die Utopie. Hugenotten Auf Idealismus, auf Faust folgte Verwirrung und dann das überwachte Labyrinth. Die Ratten sind Hugenotten, sagt man sich, sinnierend, nach einem Gespräch auf dem Genfer See. Nicht Ronsards peuple oder die Affen des Jan Hus. Schon gar nicht jagende fantômes qui viennent hanter les vivants. Verschworene, frei, wie die Väter waren, Genossen des Tell, Eidgenossen. Rütli. Aignossen. Eugenots. Die Brillenträger Vogte. Folterknechte. Tyrannen. Louis XIV. Die Dragonaden in den Cevennes. Die Camisarden. Kontrolle, feinmaschig, nah, schon damals. Verboten: die Psalmen, der Text. Das Labyrinth verlassen, den Käfig. Flucht, Kampf, Flucht. Genf. Stockholm. Berlin. Europa. Ein lebendiger Gott gegen die Mechanik der Macht, die Verfolgung, die Hatz.

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Gegen die Apparatschiks, schon damals. Gegen den terreur. Alt und neu. Gott des Textes. Des Gefühls. Bei aller Disziplin. Geheime Kirche. Auch gegen Wallensteins Astrologie. Später die Bürger, Hugenotten, gegen Kabale und Kalkül – Max und Thekla. Ein warmes Herz in glühender Brust. Eingegeben. Die orthodoxe Tradition. Auf einem Bahnhof im Westen. Schweifende Rêveries von der Petersinsel. Publiziert in Lausanne. Einsame Rede, vernehmlich? Keine schwarzen Kameras mehr. Ratten im Weiten. Eine Ratte mit Gretchen. Samsas Aufbruch. Ihm zeigt ein Gott ins Freie … Am Horizont das nicht Fassbare. Zugänglich nunmehr dem unbeschränkten Blick. Über den See, die Berge. Das Meer, die Inseln. Liebe Natur Gott. Ratten im historischen Gewand. Kein 18. Brumaire. Keine Komik. Aber doch Wissen. Gott ist tot. Übrigens seit Kant. Seine Stelle frei. Ein Namensschild auf dem Mont Blanc. Vielleicht. Verdeckt von Wolken. Wirkender Name. Nicht menschlich. Und jene Unschuld des Begehrens … Man weiß um die Verführung. Seit Gretchen. Mephistopheles. Das Gold. Die Macht.

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Jetzt: Diese Spiele im Kopf, mit der Erinnerung. Nackenschmerzen. Eine Erklärung? Trotzendes Schreiben. Die Gefahren der Hingabe. Grenzenlos? Am Horizont das Unfassbare. Metaphysik des Begehrens. Man erinnert sich an die Hugenotten.

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Zur Literarisierung der Hotelgesellschaft. Anmerkungen zu Heterotopien bei Joseph Roth mit einem Seitenblick auf Thomas Mann und Franz Kafka Peter Friedrich I Ute Gerhards Buch zur „Nomadischen Bewegung“1 ist eine der ersten Untersuchungen in der germanistischen Literaturwissenschaft, die mit Michel Foucaults Forderung nach einer Wissenschaft von anderen Räumen, einer sogenannten Heterotopologie, deren Gegenstand die Orte wären, die eine „mythische oder reale Negation des Raumes, in dem wir leben“ vornehmen,2 ernst gemacht hat. Foucault hatte 1967 in einem Rundfunkbeitrag gewissermaßen avant la lettre einen kulturwissenschaftlichen spatial turn erträumt: Ich träume nun von einer Wissenschaft – und ich sage ausdrücklich Wissenschaft – deren Gegenstand diese verschiedenen Räume wären, diese anderen Orte, diese mythischen oder realen Negationen des Raumes, in dem wir leben. Diese Wissenschaft erforscht nicht die Utopien, denn wir sollten diese Bezeichnung nur Dingen vorbehalten, die tatsächlich keinen Ort haben, sondern die Heterotopien, die vollkommen anderen Räume. Und ganz folgerichtig hieße und heißt diese Wissenschaft Heterotopologie.3

Gerhard hat – ohne primär auf Foucaults Terminus der Heterotopie zu rekurrieren – in mehreren Untersuchungen, Möglichkeiten und Richtungen einer literaturwissenschaftlichen Raumanalyse am Beispiel der Literaturen der Weimarer Republik erprobt, denn der Antagonismus zwischen ‚homologischen‘ und ‚heterologischen‘ Symboliken ist ein Grundzug von Politik,

1  Ute Gerhard, Nomadische Bewegung und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen und Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. 2  Ebd., S. 11. 3  Michel Foucault, „Die Heterotopien“, in: Michel Foucault, Die Heterotopien. Die utopischen Körper. Zwei Radiovorträge (2004), aus dem Französischen übersetzt von Michael Bischoff, mit einem Nachwort versehen von Daniel Defert, Frankfurt am Main: Suhrkamp  2005, S. 9–22, hier S. 11.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_010 .7

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Peter Friedrich

Wissenschaft und Literatur in der sogenannten ‚Zwischenkriegszeit‘.4 Im biopolitischen Konzept eines ‚nationalen Lebensraums‘ mit seinen entsprechenden symbolischen Aufheizungen und Markierungen erkennt Gerhard jenen interdiskursiven Mechanismus, der in den 1920er Jahren die Bevölkerungs- und Wanderungspolitiken Europas dominiert hat. Untersucht werden Verfahren zur kulturellen Verankerung und kollektivsymbolischen Plausibilisierung flüchtender Menschen als anonyme Masse und als schmutzige Flut, die den Heimatraum als Wurzelgrund biologischer Reproduktion durch ‚Überschwemmung‘ und ‚Ansteckung‘ zu zerstören droht. Ziele des biopolitischen Interdiskurses waren die Legitimierung von Segregations- und Kanalisierungsvorstellungen sowie zahlreicher bevölkerungspolitischer Interventionspraktiken. Die Bildkomplexe Baum, Verwurzelung, Scholle, Heimat, Heimkehr und Vaterland schließen sich dabei zu einem synchronen System von Kollektivsymbolen zusammen, welches die Werthaltigkeit des durch die Zeit entwickelten homogenen Lebensraumes zementiert und in gleichem Maße die kriegs- und armutsbedingten Flucht- und Wanderungsbewegungen der 1920er Jahre zum Krisen-Moment umformt.5 In diesen bedrohlichen Bildentwurf einer zügellosen, richtungslosen Bewegung nomadisierender Massen werden seit dem Ersten Weltkrieg ikonographische Stereotype von ‚Juden‘ als parasitären, entwurzelten Gästen eingespeist; das Resultat dieser „Konservativen Revolution“ war, dass die diskursive und vor allem interdiskursive Abwertung des Nomaden zunehmend antisemitische Züge annahm, wodurch besonders die ins Deutsche Reich migrierenden Ostjuden zum Objekt realer und symbolischer Gewalt wurden.6 Telse Hartmann, deren Studie zu Raumkonzepten bei Joseph Roth kritisch an Ute Gerhard anschließt, fasst die binäroppositionelle Raumlogik folgendermaßen zusammen:

4  Ute Gerhard, „‚Zerstreuung‘ – ‚Verdichtung‘ – ‚Konzentration‘. Die symbolische Konstituierung von Wanderungsbewegungen in der Weimarer Republik“, in: Friedrich Balke und Benno Wagner (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil historischer Vergleiche. Der Fall Bonn-Weimar, Frankfurt am Main und New York: Campus 1997, S. 191–213; Ute Gerhard, „Von Paßfälschern und Illegalen – Literarische Grenzüberschreitungen bei Joseph Roth“, in: Thomas Eicher (Hrsg.), Joseph Roth: Grenzüberschreitungen, Oberhausen: Athena  1999 (= Übergänge – Grenzfälle 1), S.  65–87 sowie Ute Gerhard, „Literarische Transit-Räume. Ein Faszinosum und seine diskursive Konstellation im 20. Jahrhundert“, in: Sigrid Lange (Hrsg.), Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film, Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 93–110. 5  Gerhard, Nomadische Bewegungen (Anm. 1), S. 19 ff. 6  Ebd., S.  253 ff. Vgl. außerdem Telse Hartmann, Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths, Tübingen und Basel: A.  Francke  2006 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 10), S. 162.

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9 Zur Literarisierung der Hotelgesellschaft

In den Texten der konservativen Revolution etwa […] erscheint ‚Zerstreuung‘ als Kennzeichen der ‚unfruchtbaren‘ modernen Massengesellschaft und werde ursächlich den städtischen Nomaden zugewiesen, den anonymen Großstadtmassen, die sich – anstatt im ‚Heim‘ oder ‚Garten‘ zu verweilen – durch Großstadtverkehr und Hotelhallen, Cafés und Mietshäuser bewegten, die ‚durcheinander wimmelten‘, weil sie nicht in der ‚Erde wurzelten‘, kein ‚Ganzheitsgefühl‘ entwickeln könnten.7

Bezeichnend und von besonderer Relevanz für die nomadologisch-heterologische Raumbeschreibung ist die Marginalisierung der extrem dominanten und einseitigen Bedeutung der Zeit in literatur- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen. Ute Gerhards Studie über „Nomadische Bewegung“ steht demnach auch im Zusammenhang mit einer Wende, die von der traditionellen Betrachtung des literarischen Erzählens unter dem Gesichtspunkt gestalteter Zeit (Entwicklung, Sozialisation, Biographie, Dauer, historischer Wandel) zu einer vermehrten und genaueren Betrachtung von Bewegungen in literarischen Räumen überging. Foucault hatte die interdiskursive Evokation einer qualitativen vektoriellen Entfaltung von Zeit als große Obsession des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet.8 Reifungs- und Kreislaufmodell bzw. Konzepte der Akkumulation von Vergangenheit als Ausfaltung kultureller Identität, die „Überlast der Toten“ im Geschichtsverlauf als krisenhafte Notwendigkeit und als Humus nationaler Schicksalsgemeinschaft – alle diese Symboliken 7  Ebd., S. 164. 8  Das Konzept der „Anderen Räume“ korrespondiert natürlich mit Foucaults Überlegungen zur Verzeitlichung des Wissens, wie er es 1966 in Les mots et les choses entwickelt hat. Um die Wende zum 19. Jahrhundert ereignet sich demnach eine der drei berühmten Transformationen des Wissens, und zwar die Ablösung einer hauptsächlich räumlich ausgerichteten Welt- und Wissensordnung durch die qualitative Zeit und ihre Wirkung auf die Dinge und Prozesse; die Sprache büßt ihre besondere Stellung ein und wird „Gestalt der Geschichte in ihrer Kohärenz mit der Mächtigkeit ihrer Vergangenheit.“ Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1971 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 96), S.  26. Wichtig ist auch Reinhart Koselleks Theorem der „Verzeitlichung“. In der Spiegelung der menschlichen Erfahrung im Modus ihrer Verzeitlichung sieht Kosellek das eigentlich konstitutive Element der Moderne. Vgl. Theo Jung, „Das Neue der Neuzeit ist ihre Zeit. Reinhart Koselleks Theorie der Verzeitlichung und ihre Kritiker“, in: Moderne .Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 6 (2010/2011), S. 172–184. Dirk Göttsche hat vor dem Hintergrund der Koselleckschen Theorie von der Verzeitlichung des Denkens und der gleichzeitigen Beschleunigung der Geschichte untersucht, wie im Roman des späteren 18. Jahrhunderts eine grundlegende ‚Entdeckung der Zeit‘ stattfindet, die eine neue „Anthropologie des Zeitbewußtseins“, ein neuzeitliches Geschichtsverständnis und Poetiken als Formen künstlerischer Reflexion von Zeit im Roman hervorbringt. Vgl. Dirk Göttsche, Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und Die Geschichte des Zeitromans im späten 18. Und im 19. Jahrhundert, München: Wilhelm Fink 2001 (= Corvey-Studien 7).

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machen einer dringend erforderlichen Erforschung von Raumphänomenen Platz, die dann auch alternative Zeitvorstellungen mit sich bringen: Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes, wir sind in der Epoche des Simultanen, der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, dass seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.9

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung des „Hotels“ oder der literarischen „Hotelexistenz“ in den Romanen und den Feuilletons von Joseph Roth, insofern diese paradigmatisch für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts stehen. Das Motiv der Hotelexistenz bei Roth wird nicht mehr als Dystopos von Heimatlosigkeit oder als Verwurzelungssehnsucht ihres unglücklichen Autors thematisiert, sondern als räumliche Affirmation von kultureller Diversität oder Hybridität. Zahlreiche Arbeiten über literarische Hotels knüpfen zwar bei Foucault an, indem sie behaupten, er habe die Brisanz der Hotelexistenz als logischen Ort der Hybridität oder als Beobachtungsraum sogenannter Diasporakulturen oder als Topos einer neuen Ordnung vorgeschlagen, aber das ist nicht korrekt, weil Foucault das Hotel zum einen nur en passant erwähnt und zum anderen in diesem Sinne auf das Hotel gar nicht eingeht.10 Für Foucault sind Heterotopien „wirksame Orte, die in die Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb der Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.“11 Foucault subsummierte unter ‚Heterotopos‘ nahezu sämtliche Spezialräume des öffentlichen Lebens; als solches sind es Orte, die nicht dem privaten Wohnen dienen, also vorrangig Räume des nicht bei sich seins (chez soi).12 Dadurch wird die Anwesenheit am fremden Ort, das bloße Nicht-Wohnen zum Ereignis der 9  10  11  12 

Michel Foucault, „Andere Räume“, in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig: Reclam 1992 (= Reclam-Bibliothek 1352), S. 34–46, hier S. 34. Die unlogische Behauptung, Foucault behandle das Hotel als Krisenheterotop, findet sich etwa bei Olga García, „Das Hotel im Spiegel deutschsprachiger Literatur – Motiv, Kulisse, Bühne und Schauplatz“, in: Anuario des Estudios Filológicos 34 (2011), S. 23–37, hier S. 32. Foucault, „Andere Räume“ (Anm. 9), S. 39. Foucault, „Les Hétérotopies“, in: Foucault, Die Heterotopien. Die utopischen Körper (Anm. 3), S. 39–52, hier S. 40.

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Deplatzierung. Hinzu gesellt sich die Heterochronie, das Herausfallen aus dem Zeitmaß, d. h. dass „die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen.“13 Wenn die Wohnung die Materialisierung der Person und ihrer Intimität ist (schlafen, essen, trinken, lieben usw.), dann umfasst die Heterotopie zunächst all jene Orte der Menschen, an denen die Person deplatziert erscheint, weil sie dort nicht Herr im eigenen Haus ist und als Gast, Kunde, Patient, Delinquent nur eine Facette oder eine Seite ihrer Existenz in Erscheinung bringen kann. Das Transitorische im Sinne eines Unterwegsseins oder als Heimatlosigkeit findet sich in Foucaults Heterotopologie nur nebenher. Tatsächlich kann man für Roths Romane und Feuilletons den nationalen Lebensraum, den Heimatraum oder das väterliche Haus als jene Raumkonzepte des chez soi benennen, denen gegenüber das Gasthaus nomadologische Gegenplatzierung sein könnte, denn in ihm wird in der Tat die Dignität und Vertrautheit des symbolischen Vaterhauses sowohl repräsentiert als auch bestritten und ins Transitorische gewendet.14 Zugleich wäre der Gastraum natürlich auch das Widerlager, also die Stütze und Affirmation jeder homogenen Raumkonstellation, weil sie die massenhafte Mobilität und kommerzielle Gastlichkeit ermöglicht, die arbeitsteilig organisierte und massenhaft bewohnte Räume nun einmal zwingend benötigen. Der für die postkolonialen Studien so relevante Zugriff auf den Chronotopos der Reise, den James Clifford in den 1990er Jahren entwickelt hat, und der die Hotelexistenz bzw. den Raum des Hotels zur exemplarischen Folie für kosmopolitische, hybride Lebensformen machte, zielte unabhängig von Gerhards Vorschlag, in die gleiche Richtung. Eine Zusammenfassung dieses Konzepts findet sich bei Hartmann: Clifford selbst tauscht probeweise das traditionelle ethnographische Feld des Dorfes gegen das Hotel aus. Die Untersuchung von wissenschaftlichen, literarischen oder autobiographischen Repräsentationen eines Ortes, an dem sich Menschen begegnen, die sich – ob für immer, ob nur für eine begrenzte Dauer – von ihrer Heimat distanziert haben, erscheint ihm als möglicher Pfad in die komplexen Historiographien von travelling cultures bzw. cultures of travel,

13  14 

Foucault, „Andere Räume“ (Anm. 9), S. 43. Denn in Hotels, Schänken usw. finden wir Raumkonzepte, welche eine gehegte innere Homogenität nicht durch Abwehr des Außen, des Fremden, der Vielheit, Massenhaftigkeit, Mannigfaltigkeit generieren, sondern durch deren (kommerzielle) Aufnahme. Anders gesagt: Wenn man nach einer räumlichen Verwirklichung sozialen Gelingens ohne Verwurzelungen und Verwandtschaft und geschichtlichem Werden sucht, dann bieten sich kommerzielle und nichtkommerzielle Gastlichkeit an, denn sie beruhen geradezu auf dem Konzept des Nomadentums und dessen moderner Trivialisierung im Tourismus bzw. auf einer positiven Idee der Deplatzierung.

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Peter Friedrich als Pfad in die Vielfalt von Reiseerfahrungen, in die Formen von Macht/Wissen, das beim Reisen entstehen kann.15

II In Joseph Roths Texten kann man den Versuch sehen, die Wanderungs- und Massentheorien sowie die Rassen- und Heimatpolitiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts subversiv zu untergraben. Gerhard verweist auf die Reisefeuilletons von Roth, in denen der populäre Journalist den essentialistischen Auffassungen von Raum, Identität und Zeit am Beispiel des Meeres Fluidität und Ent-Zeitlichung entgegenstellt: Hier ist fortwährend Aufbau und Zerstörung. Keine Zeit, keine Macht, kein Glaube, kein Begriff ist ewig. Was nenn’ ich Fremde? Die Fremde ist nah. Was nenn’ ich Nähe? Die Welle trägt es fort. Was ist das Jetzt? Schon ist es vergangen. Was ist das Tote? Schon schwimmt es wieder heran.16

Hatte man darüber hinaus in Roths autobiographischer und literarischer Stilisierung einer „Hotelexistenz“ vielfach lediglich eine Sehnsucht nach der Heimat, den Wunsch nach einem bürgerlichen Zuhause, also (allein) den rückwärtsgewandten Konservativismus des Konvertiten aus Orientierungslosigkeit und des Legitimisten aus Verzweiflung sehen wollen, so erkennt man nun in der Ästhetisierung der Hotelwelt Reflexionen über ein politisches Konzept der Deterritorialisierung des transnationalen Zusammenlebens.17 Die literarischen und journalistischen Beschreibungen von Deplatzierung bei Roth sind demnach Affirmationen von (nationaler) Bindungslosigkeit.18 Roth schildert Entgrenzung von Heimat, Verflüssigung von Identität aus 15 

16  17 

18 

Telse Hartmann, „Zwischen Lokalisierung und Deplazierung. Zur diskursiven Neuverhandlung kultureller Identitäten in den Kulturwissenschaften“, in: Germanistische Mitteilungen. Zeitschrift für deutsche Sprache, Literatur und Kultur  50 (1999), S.  17–40, hier S. 33. Joseph Roth, „Die weißen Städte“ (1925), in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 2, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 456–506, hier S. 502. Zit. nach Gerhard, Nomadische Bewegungen (Anm. 1), S. 225. „Die Vorliebe für transitorische, provisorische Räume scheint Roth wiederum auf Seiten der kulturellen Modernisierung in den 20er Jahren zu situieren. […] Roths transitorische Räume konstituieren sich ihrerseits gerade in Opposition zur ‚Transparenz‘. Sie sind durch Unbestimmtheit und widersprüchliche Platzierungen gekennzeichnete Heterotopien.“ Gerhard, Nomadische Bewegungen (Anm. 1), S. 225. „Die bewegten und bewegenden Momente der Rothschen Texte verdanken sich dabei häufig genug nicht der Suche nach Heimat und Identität, sondern der Formulierung von

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Abstammung sowie alles Transitorische nicht als pathologische Zerstreuung, sondern bejahend. Roths […] Feuilleton-Serie ‚Hotelwelt‘ kommt langsam und ohne technische Sensation daher, macht jedoch tatsächlich das Hotel zum paradoxen ‚Vaterland‘ nomadischer Tendenzen, das die Menschen ‚von der Enge ihrer Heimatliebe befreit‘, Ort der ‚glückliche[n] Mischung‘ und des ‚großen Glücks, ein Fremder zu sein‘.19

Diese Überlegungen haben die Roth-Forschung verändert, aber doch zumindest den Anstoß gegeben, Roth nicht länger allein als heimatsuchenden Reaktionär aufzufassen, sondern einen weitsichtigen Kritiker biopolitischen Wissens zu sehen.20 Darüber hinaus wirkte die nomadologische Raumtheorie auch in die neue literaturwissenschaftliche Gastlichkeitsforschung hinein.21 Besonders relevant erscheint in letzterem Zusammenhang das Motiv bzw. Theorem der Verwandlung des Vaterhauses, des Ganzen Hauses, in den kommerziellen Gastraum. Ein derartiger Transformationsprozess wird etwa in Roths Roman Die Kapuzinergruft ausführlich geschildert. Roth erzählt die

19  20 

21 

Positionen, die sich den neuen Identifizierungsstrategien widersetzen oder wenigstens entziehen.“ Ebd., S. 205. Ebd., S. 226. Vgl. hierzu auch Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 6), S. 183 f. Brittnacher bezeichnet Gerhards Veröffentlichung „Von Paßfälschern und Illegalen“ sehr zu Recht als einen der wichtigsten Forschungsbeiträge der letzten Jahre, „Von Heimkehrern, Vagabunden und Hochstaplern. Glück und Fluch des improvisierten Lebens bei Joseph Roth“, in: Wiebke Amthor und Hans Richard Brittnacher (Hrsg.), Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2012 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte  142), S.  165–183, hier S.  173. Vgl. auch Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 6); Wiebke Amthor, „An den Toren Europas. Heterotopie und Passage im Werk Joseph Roths“, in: Wiebke Amthor und Hans Richard Brittnacher (Hrsg.), Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks, ebd., S. 117– 138; Imke Wiebke Heuer, „Nicht-Ort Hotel – Hochstapler im ‚Rausch der Verwandlung‘“, in: Miriam Kanne (Hrsg.), Provisorische und Transiträume: Raumerfahrung „Nicht-Ort“, Berlin, Münster, Wien, Zürich und London: LIT 2013 (= Literatur: Forschung und Wissenschaft  25), S.  63–90; Lars Wilhelmer, Provisorische und Transiträume in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen, Bielefeld: Transcript 2015; Daniel Romuald Bitouh, Ästhetik der Marginalität im Werk von Joseph Roth. Ein postkolonialer Blick auf die Verschränkung von Binnen- und Außerkolonisation, Tübingen: Narr Francke Attempto  2016 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 19). Vgl. hierzu und auch zu den folgenden Ausführungen meinen Beitrag Peter Friedrich, „Ortlose Heimat – Gäste, Gastgeber und Gasträume bei Joseph Roth“, in: Peter Friedrich und Rolf Parr, Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation, Heidelberg: Synchron 2009, S. 157–181.

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Verwandlung des Elternhauses von Franz Ferdinand von Trotta in eine Pension, in der die Freunde als zahlende Gäste logieren.22 Für die Zeitschrift Das Tagebuch hat Roth 1930 einen Essay mit dem Titel „Das Vaterhaus“ verfasst und hier die in Die Kapuzinergruft erzählte Transformation bereits theoretisch vorweggenommen. Roth bezeichnet das ‚Vaterhaus‘ als wandelbare Einrichtung, die es freilich längst nicht mehr gäbe. Lediglich in abgeschiedenen Dörfern, fänden sich noch bäuerliche Häuser, über die sich das Dach noch so selbstverständlich wölbe wie der Himmel über der Erde. Diese verwehten Vaterhäuser bestanden – so Roth – aus dem haltbaren Kitt des Sentiments und den Balken der Autorität; Städte, Dörfer und Vaterländer hätten sich aus solchen Häusern zusammengesetzt, unterbrochen allein von Waisenhäusern. Seit dem „großen Kriege“ freilich seien Vaterhäuser nur noch „windige Wortgerüste“; die Kinder kämen nunmehr als Kollektive in Kreißsälen zur Welt, an ihren Wiegen stünde keine Fee, sondern die weiße karbolduftende Schutzgöttin Hygiene; das Leben dieser Kinder ende regelmäßig im Kollektivtod in Generalkatastrophen und im Giftgas, und zwar als „logischer Abschluß einer Existenz, die mit der Kollektivgeburt begonnen hat.“23 Dann heißt es: Allmählich verwandelten sich die Vaterhäuser in Gasthäuser, in denen Gleichgültige nebeneinander schlafen, trinken und essen. Ja, in vielen solcher Häuser bezahlt jeder seinen Tribut, es fehlt nicht viel, und alle Glieder einer Familie erhalten Wochenrechnungen und müssen sie pünktlich begleichen. Schweigsam und eingefangen in ihre eigenen Sorgen und Wünsche, sitzen sie noch zuweilen an einem gemeinsamen Tisch, einer vom anderen getrennt durch eine gläserne Wand aus Fremdheit.24

Es ist evident, dass diese Antithese zwischen Vater- und Gasthaus – wonach das familiär-verwandtschaftliche System des Hauses der monetären Logik einer kommerziellen Gastbeziehung Platz macht – den antithetischen Nomina Gemeinschaft und Gesellschaft nachgebildet zu sein scheint, die im literarisch-politischen Interdiskurs der Vorkriegszeit und der Weimarer Republik einen wirklich heißen symbolischen Komplex darstellte, indem sie einer weit verbreiteten Sehnsucht nach familiärer Gemeinschaftlichkeit im symbolischen ‚Vaterhaus‘ Ausdruck verlieh. Die semantisch enorm expansionsfähige, bildkräftige Spannung zwischen dem mythisch-juridischen Konstrukt des ganzen Vaterhauses in der Gemeinschaft und dem symbolischkommerziellen Konstrukt des Gasthauses in der Gesellschaft emergiert zu 22  23  24 

Joseph Roth, Die Kapuzinergruft. Roman, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 6, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 329. Joseph Roth, „Das Vaterhaus“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 193–195, hier S. 193. Ebd., S. 194.

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einem binären-axiologischen Schematismus, zu einer Matrix von Gegensätzen, die – wie selbst Ferdinand Tönnies 1930 mit Bitterkeit eingeräumt hat25 – auch die völkisch-rassistischen Pamphlete erfolgreich zur Denunziation der technisch-industrialisierten Großstadt und der urbanen Massengesellschaft verwenden konnten. Wir treffen im Deutschland der Weimarer Republik auf eine breit angelegte Rede der Gemeinschaftseuphorie und der Gesellschaftsverachtung, die die gemeinschaftliche Lebensform zu einem Sehnsuchtsort der Entdifferenzierung der Welt und einer Beheimatung der Menschen in nicht-entfremdeten Räumen und Beziehungen, deren zentrales Symbol das Haus wäre, aufwertete.26 Telse Hartmann hat auf diesen wichtigen Einfluss hingewiesen: Was Roths Texte präsentieren, ist die ambivalente Überlagerung eines Ethos der Gemeinschaft mit einem Ethos der Gesellschaft, historisch betrachtet ist dieses Szenarium signifikant, denn die begrifflich-konzeptuelle Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft fungierte im Diskurs der Weimarer Republik als dominantes Deutungsmuster des Sozialen […]. ‚Zurück zur Gemeinschaft!‘ lautete das vorherrschende Programm, während die moderne Gesellschaft mit ihren vermittelten statt unmittelbaren, ihren abstrakten statt persönlichen und ihren künstlichen statt organischen Beziehungen, für die diagnostizierte Krise der Kultur verantwortlich gemacht wurde.27

Ferdinand Tönnies beschreibt das Vaterhaus dementsprechend als Idealtyp des Zusammenwohnens einer Gemeinschaft des Ortes, dem eine abstammungsmäßige oder stammesgeschichtliche Zeitkonzeption (die verwandtschaftliche Ähnlichkeit und die Gegenwart der Vorfahren) zugehört: Verwandtschaft hat das Haus als ihre Stätte und gleichsam als ihren Leib; hier ist Zusammenwohnen unter einem schützenden Dache; gemeinsamer Besitz und Genuß der guten Dinge, insonderheit Ernährung aus demselben Vorrate, Zusammensitzen an demselben Tische; hier werden die Toten als unsichtbare Geister verehrt, als ob sie noch mächtig wären und über den Häuptern der Ihrigen schützend walteten. […] Darum findet sich der gewöhnliche Mensch […] am wohlsten und heitersten, wenn er von seiner Familie, seinen Angehörigen umgeben ist. Er ist bei sich.28 25 

26  27  28 

Vgl. Dirk Käsler, „Erfolg eines Mißverständnisses? Zur Wirkungsgeschichte von Gemeinschaft und Gesellschaft in der frühen deutschen Soziologie“, in: Lars Clausen und Carsten Schlüter (Hrsg.), Hundert Jahre Gemeinschaft und Gesellschaft. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen: Leske und Budrich 1991, S. 517–526, hier S. 526. „Das Studium des Hauses ist das Studium der Gemeinschaft, wie das Studium der organischen Zelle Studium des Lebens ist“. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin: Karl Curtius 1920, S. 21. Hartmann, Kultur und Identität (Anm. 6), S. 187 f. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 26), S. 12.

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Im chez soi ereignet sich das harmonische Moment der Versöhnung der Innerlichkeit des Ich mit dem Nicht-Ich, das als innere Sättigung und äußerer Schutzwert, also als Körpersensation innerhalb eines Besitzraumes, den Verwandte bewohnen, unmittelbar erfahren werden kann. Soweit ich sehe, erwähnt Roth Ferdinand Tönnies nirgends, aber es gibt – abgesehen von der zitierten Transformation des Vaterhauses in ein Gasthaus – zahlreiche Äußerungen, die mit den Variablen und Konstanten der Axiologie von Gemeinschaft und Gesellschaft ostentativ operieren. Roth ‚profaniert‘ das Haus, und damit die quasi-sakrale Emphase, die die Rede über das Haus oft begleitet. Häuser, so heißt es in Der Antichrist, empfangen nicht den Gast, sondern nötigen die Heimatlosen sich in sie einzuschleichen: „Nicht die Armen wird der Herr richten. Auch wird er zum Unterschied von den irdischen Gesetzgebern keineswegs die Armen richten, die sich in die Häuser einschleichen, in die fremden Häuser.“29 „Unsere wahre Heimat“, schreibt Roth wenig später, „ist nämlich der Himmel – und Gäste nur sind wir auf Erden“. Ein weiterer Hinweis darauf, dass die genealogische Lebensdramaturgie des Vaterhauses für Roth auch Gegenstand einer Problematisierung ist und nicht Sehnsuchtsort, findet sich in einem Artikel, in dem er den Stammgast des Kaffeehauses verteidigt: „Ich verstehe die Verachtung der mit häuslichem Herd Versehenen für penatenlose Existenzen nicht.“30 Eben diese penatenlose Existenz deutet auf den zweiten Tönniesschen Begriff, den der Gesellschaft. Der Unterschied zwischen dem Zeitalter der Gemeinschaft und dem der Gesellschaft lässt sich geradezu vom Gast oder Fremden her denken, und zwar insofern der Fremde in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft verschwindet und alle Menschen sich permanent zu Gast sind. Zur ausdifferenzierten Gesellschaft schreibt Tönnies: „Der Unterschied von Einheimischen und Fremden wird gleichgültig. Jeder ist, was er ist, durch seine persönliche Freiheit, durch sein Vermögen und durch seine Kontrakte.“31 Durch diesen berühmten Übergang von status to contract, wie der Rechtshistoriker Henry Maine, Tönnies wichtiger Gewährsmann, diesen Hiatus zwischen Tradition und Moderne bestimmt hat, gerät nach Tönnies in der Groß-, Haupt- und zumal der Weltstadt „das Familienwesen in Verfall.“32 Vielmehr verortet die Theorie der Gesellschaft „einen Kreis von Menschen, 29  30  31  32 

Joseph Roth, „Der Antichrist“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 563–665, hier S. 619. Joseph Roth, „Das Ende“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 563 und 601. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (Anm. 26), S. 205. Ebd. Zu Maine vgl. ebd., S. 152 f.

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welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten.“33 Diese ungesellige Geselligkeit der Menschen in der Gesellschaft, ihr Zusammenleben im juxtapositionalen Gefüge, die den Organismus als Leitmetapher der Gemeinschaft ablöst, ist an die reziproke Logik des Tausches gebunden. Die nicht durch Blut und Haus sondern durch Tausch Verbundenen sind Urheber einer wechselseitigen Entäußerung von etwas, durch das sie sich aufeinander beziehen: „die Annahme ist gleich der Hingabe eines angenommenen Ersatzes; so daß der Tausch selber, als vereinigter und einziger Akt, Inhalt des fingierten Sozialwillens ist.“34 Das symbolische Raumgebilde der Gemeinschaft, die Extraterritorialität des Hauses, das stets dem Acker benachbart ist, räumt dem symbolischen Raumgebilde des Hotels das Feld. Gaston Bachelard hat in seiner Poetik des Raums davon gesprochen, dass das Traumhaus des Menschen die Krypta des Elternhauses sei, denn hier habe sich erstmals die Erfahrung des chez soi zu Traumwerten verdichtet und die Erinnerung und die dichterische Phantasie bewohnt.35 Das Traumhaus Joseph Roths ist das Hotel, und zwar als Ort, der (in der dichterischen Phantasie) eine penatenfreie Existenz und eine gewandelte Erfahrung einer Gemeinschaft öffentlicher Gäste ermöglicht. Zu diesem ‚öffentlichen Gast‘, dem das Hotel als Negation der phylogenetischen Dauer in der Gesellschaft dient, schreibt Hans-Dieter Bahr: Man hat als hervorragenden Platz dieser Öffentlichkeit weder das Land noch das Haus, sondern die Stadt bezeichnet, die zugleich als ‚polis‘ das Band zwischen ‚physis/natio‘ und ‚oikos‘ knüpfen soll. Und während der Gast auf dem Land oder im Haus stets auffiel, verschwindet er in der Stadt im Überall und Nirgends. Und zumal die Weltstadt wird zum paradox erinnerungslosen Archiv des ‚verwußten‘ Gastes. Sie ist der Ort, wo sich niemand mehr um den öffentlichen Gast kümmert, weil er der x-beliebige Mitgast ist, auf den es nicht ankommt und der doch als Publikum nie fehlt.36

33  34  35  36 

Ebd., S. 33. Ebd., S. 35. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes (1957), aus dem Französischen übersetzt von Kurt Leonhard, Frankfurt am Main: S. Fischer 1987 (= Fischer Taschenbuch Wissenschaft 7396), S. 41. Hans Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig: Reclam 1994 (= ReclamBibliothek 1500), S. 304.

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Die Architektur des Hotels ist eine „Art Stadt unter einem Dach“ und ist von Siegfried Kracauer als die „leerste Hülse einer verschwundenen sakralen Gemeinschaft“ und als „Raum an sich“ bezeichnet worden.37 Man könnte auch sagen, im Hotel als Ort des Nebeneinanderlebens der Unverwandten wird das heiße Medium des Blutes, das im häuslichen Zusammenleben pulsiert, abgekühlt. Tatsächlich könnten die Binäroppositionen Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Vaterhaus vs. Gasthaus auch im Gegensatz Nationalstaat vs. Habsburger Monarchie wiedererkannt werden. Roths Bekenntnis zur Figur des Kaisers als symbolische Mitte des Vielvölkerstaates ist der mehr oder weniger verzweifelte Versuch, das von Robert Musil sogenannte Kakanien als einen Gegenentwurf zum Nationalstaat zu denken. Der kosmopolitische Grundgedanke, das nachbarschaftliche Zusammenleben von 14 Sprachund Volksgruppen ohne österreichische Nationalität, diese übernationale Dimension ist es, die Roth interessiert. Roth imaginiert den österreichischen Reichsgedanken als übernationale Harmonie im Sinne einer Sozio-Logik des Hotels.38 Tatsächlich hat Roth in diesem Sinne ausführlich über das Hotel nachgedacht und geschrieben. Es handelt sich um sieben Feuilletonartikel aus dem Jahre 1929, die unter der Überschrift Hotelwelt veröffentlicht wurden. Die ersten Sätze über die „Ankunft im Hotel“ lauten: Das Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe, liegt in einer der großen europäischen Hafenstädte […]. Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier – und es gelingt mir immer, die Zeremonie der Heimkehr so vollendet abrollen zu lassen, daß die einer förmlichen Einkehr ins Hotel gar nicht beginnen kann. Der Blick, mit dem mich der Portier begrüßt, ist mehr als eine väterliche Umarmung. Und als wäre er wirklich mein Vater, bezahlt er aus eigener Westentasche den Chauffeur.39

Roth parodiert die Heimkehr in das Vaterhaus und benutzt entsprechende Mittel der Stilisierung und Übertreibung, aber die entsprechenden Formeln geben eine allgemeine theoretisch-thematische Richtung an, die Licht auf 37  38 

39 

Ebd., S. 324, 327 und 162. Wie diese Konstruktion des Reichsgedankens als Vielvölkerstaat sowie als Gegenentwurf zu nationalistischen und faschistischen Mächten und dem immer bedrohlicher werdenden Antisemitismus in Roths Schreiben zusammenhängen, hat Hansotto Ausserhofer untersucht. Vgl. Hansotto Ausserhofer, Joseph Roth und das Judentum. Ein Beitrag zum Verständnis der deutsch-jüdischen Symbiose im zwanzigsten Jahrhundert, Diss. Universität Bonn 1970, S. 182 ff. Joseph Roth, „Hotelwelt“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 3–31, hier S. 3.

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die Vorstellung des Raumes als Möglichkeit der Einkehr in eine spezifische Form der Gastlichkeit wirft: „Hier in der Halle bleibe ich sitzen. Sie ist die Heimat und die Welt, die Fremde und die Nähe, meine ahnenlose Galerie! Hier beginne ich über das Hotelpersonal, meine Freunde zu schreiben.“40 Es geht Roth ersichtlich um die Marginalisierung der Paternität, um die Freude an der Ent-Genealogisierung der menschlichen Bleibe, um die Transformation der Verwandtschaft in Freundschaft, die freilich eine reine Schreibszene ist. Als ließe sich Verwandtschaft simulieren, drückt das Auge des Empfangschefs aus: „Sie sind unser Gast, unser Kind! Sie bleiben es.“41 Aus dieser Fiktion, der Gast könne das Kind ersetzen, speist sich dann auch der bereits eingangs von Roth unterstrichene Patriotismus, der gleichfalls nur das Als-Ob eines genealogischen Versprechens und Anspruchs umfasst: „Mein Interesse hinwiederum gilt allem, was das Hotel betrifft, als hätte ich wirklich einmal Anteile zu ererben. […] Ich bin ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot.“42 Roth poetisiert dementsprechend auch das penatenfreie Hotelzimmer; er liest den Raum als die Möglichkeit einer gastlichen offenen Heimat, die zielsicher an das Tönniessche Gesellschaftsaxiom eines in Trennung-VerbundenSeins anknüpft. Der „Alte Kellner“ schließlich, dessen Blick auf „irgendein Jenseits gerichtet zu sein schien“, liefert Roth auch den Anlass zu einer letzten und, wie ich finde, sehr präzisen Darstellung, die sich mit dem Motiv der substituierten oder verschobenen Paternität sowie mit dem der Ahnenlosigkeit deckt. Zum Verhältnis des Alten Kellners und seinen Gästen heißt es: Es besteht eine uralte Beziehung zwischen ihnen und ihm, sie und er stammen aus einer ganz bestimmten Zeit, […] die wichtiger und teurer sein kann als ein Vaterland, weil die Zeiten schnell verschwinden und die Vaterländer gewöhnlich bleiben, weil man diese wechseln und verlieren kann und jene uns festhalten. Die Gäste und der Alte: sie sprechen alle die Muttersprache ihrer vergangenen Epoche. Deshalb verstehen sie einander, deshalb warten sie aufeinander.43

Der Hoteltopos erhält hier eine präzise Definition als unverwandte Zeitgenossenschaft, die die Landsmannschaft des Vaterlandes substituiert. In dem Aufsatz „Unser Vaterland, unsere Epoche“ wiederholt Roth wenige Monate vor seinem Tod den Gedanken, wonach Menschen gemeinschaftlich ihre Lebenszeit bewohnen können und als Fremde in einem ko-memorativen Erlebnisraum,

40  41  42  43 

Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Ebd., S. 5f. Ebd., S. 13.

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der einer Verräumlichung der Zeit, einer koextensiven Verräumlichung von Mannigfaltigkeiten gleichkommt, verbunden sind: Die Zeitgenossenschaft, muß man sagen, ist bindender, charakteristischer als eine beliebige Landsmannschaft. Entgegen allem Anschein liegt mehr Schicksalhaftigkeit im Zeitpunkt als im Ort der Geburt, und kein Vaterland gibt seinen Kindern so viele nachweisbare gemeinsame Merkmale wie eine Epoche den ihrigen. […] und nicht umsonst spricht man von ‚Zeiträumen‘ – als sei der Mensch auf der Suche, einen Begriff für jene Vaterländer zu finden, die nicht von Raum, sondern von Zeitgrenzen umgeben sind.44

III Plakativ macht der Erzähler gleich zu Beginn des Romans Hotel Savoy klar, dass die Ordnungs- und Kausalitätszwänge der Zeit im transitorischen Hotelraum des Romans nicht (länger) die maßgeblichen Kategorien sind: Das fünfte Stockwerk sieht genauso aus wie das sechste, man kann sich leicht irren; dort oben und hier hängt eine Normaluhr gegenüber der Treppe, nur gehen die beiden Uhren nicht regelmäßig. Die im sechsten Stockwerk zeigt sieben Uhr und zehn Minuten, hier ist sieben Uhr, und im vierten Stock sind es zehn Minuten weniger.45

Ersichtlich ist die Zeit im emphatischen Wortsinne genommen nicht mehr das, was den Menschen zur gemeinsamen Orientierung dient. An die Stelle der genetischen Filiation und der historischen Entwicklung treten die räumlichen Relationen unter den Bewohnern. Roths berühmter Roman ist nicht nur einer der komplexesten Hotel-Romane in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, sondern er zeigt auch deutlich, dass es bei der Verwendung des Hotelsymbols explizit um eine Kritik der Gemeinschaftseuphorie, um eine Dekonstruktion des Topos von der nationalstaatlichen Schicksalsgemeinschaft geht. Der jüdische Kriegsheimkehrer und Protagonist des Romans, Gabriel Dan, räsoniert hinsichtlich des patriotischen Gemeinschaftsideals der soldatischen Schicksalsgemeinschaft folgendes:

44  45 

Joseph Roth, „Unser Vaterland, unsere Epoche“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 877– 880, hier S. 878. Joseph Roth, Hotel Savoy, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 4, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 147–242, hier S. 152.

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Ich habe keine Gemeinschaft mit einer Menge und nicht mit einzelnen. Ich bin ein kalter Mensch. Im Krieg fühlte ich mich nicht eins mit der Kompagnie. Wir lagen alle im gleichen Dreck und warteten alle auf den gleichen Tod. Aber ich konnte nur an mein eigenes Leben denken und an meinen eigenen Tod. Ich ging über Leichen, und manchmal tat es mir weh, dass ich keinen Schmerz empfand. Jetzt lässt mir der Tadel von Zwonimir keine Ruhe – ich muss über meine Kälte nachdenken und über meine Einsamkeit. ‚Jeder Mensch lebt in irgend einer Gemeinschaft‘, sagte Zwonimir. In welcher Gemeinschaft lebe ich? – Ich lebe in Gemeinschaft mit den Bewohnern des Hotels Savoy.46

Gewiss ist die Topographie des Hotels ein Symbol der Gesellschaft, ein gleichwertiges heterotopisches Gegenbild zur Gemeinschaft, in dem sich Intimität und Öffentlichkeit überlagern: „‚Ein herrliches Hotel‘, sagt Zwonimir und fühlte nicht das Geheimnisvolle dieses Hauses, in dem fremde Menschen, nur durch papierdünne Wände und Decken geschieden, nebeneinander leben, essen und hungern.“47 Hier und auch an anderen Stellen des Textes wird immer wieder die Struktur des Hotels als Realisationsform des Nebeneinander, wenn man so will der Apposition, Juxtaposition oder nachbarschaftlichen Ordnung ausgewiesen und dem genealogisch-familiären System des Vaterhauses entgegengesetzt. Der Roman ist in Aufbau und formaler Konstruktion selbst ein Hotel. Man kann als Leser von Hotel Savoy durchaus die Erfahrung machen, dass auch Literatur ein Heterotop ist, etwa in dem Sinne, in dem es Achim Geisenhanslüke definiert hat: „Wie Foucault in Die Ordnung der Dinge und seinen frühen Schriften zur Literatur andeutet, wäre die Literatur der Moderne als der Ort zu verstehen, an dem die homogene Ordnung der Grenze sich auflöst und die heterogene Ordnung der Schwelle beginnt.“48 In diesem Sinne hatte bereits Gotthard Wunberg Hotel Savoy als Aufenthalt auf einer Simultanbühne, als Aufriss im Sinne des Gutzkowschen Konzepts des Romans des Nebeneinanders analysiert.49 Wenn man so will hatte der berühmte Programmatiker des Jungen Deutschlands, Karl Gutzkow, das Konzept des „Romans des Nebeneinanders“ bereits in Analogie zur Soziologik des 46  47  48 

49 

Ebd., S. 193 f. Ebd., S. 199. Achim Geisenhanslüke, „Von anderen Räumen“, in: Thomas Ernst und Georg Mein (Hrsg.), Literatur als Interdiskurs. Realismus, Normalismus und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart. Eine Festschrift für Rolf Parr zum 60. Geburtstag, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 33–40, hier S. 39. Gotthart Wunberg, „Joseph Roths Roman Hotel Savoy (1924) im Kontext der Zwanziger Jahre“, in: Michael Kessler und Fritz Hackert (Hrsg.), Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions  1989. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Tübingen: Stauffenburg 1990 (= Stauffenburg Colloquium 15), S. 449–462, hier S. 454.

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Gasthauses oder Hotels als Symbol der modernen Gesellschaft konzipiert, etwa wenn er formuliert: Wie hier das nebeneinander existierende Leben von hundert Kammern und Kämmerchen, die eine von der anderen keine Einsicht haben, doch zu einer überschauten Einheit sichtbar wird, so glaubt der Aufsteller jenes Begriffs im Roman des Nebeneinander den Versuch gemacht zu haben, den Einblick zu gewähren in hundert sich kaum sichtlich berührende und doch von einem einzigen Pulsschlag des Lebens ergriffene Existenzen.50

Wunberg hat in diesem Zusammenhang auch auf ein Scheitern der allusiven Techniken des Schreibens sowie des Metapherngebrauchs in Hotel Savoy hingewiesen.51 Metaphern sind im Text oft derart nebeneinandergestellt, dass sich zwei gegebene Bilder wechselseitig durchkreuzen und damit den Übertragungsprozess des Fremden auf das Vertraute oder umgekehrt stören. Beispielsweise heißt es: „Das Hotel Savoy […] ist ein reicher Palast und ein Gefängnis.“52 Die Gleichzeitigkeit zweier sich ausschließender Bedeutungskonzepte, die die Plausibilisierung des Fremden durch ein Bild des Vertrauten stört, ist ein wesentliches Element der Schreibweise des Romans. Die in diese Sprache eingelassene Frage, die eigentliche Frage des Romans, ist die nach dem Gastgeber. Die Befremdlichkeit des Gastgebers, die Unmöglichkeit ihn anders als Leerstelle oder Unbekannte zu begreifen, findet sich gleich nach Ankunft und Einkehr des Heimkehrers. Zu Dans Zimmer berichtet der Ich-Erzähler: Alles heimisch, wie in einer Stube, in der man eine Kindheit verbracht, alles beruhigend, Wärme verschüttend, wie nach einem lieben Wiedersehn. Neu war nur der Zettel an der Tür, auf dem zu lesen stand ‚Nach zehn Uhr abends wird um Ruhe gebeten. Für abhanden gekommene Schmuckstücke keine Haftung. Tresor im Hause. Hochachtungsvoll Kaleguropulos, Hotelwirt‘. Der Name war fremd, ein griechischer Name, ich bekam Lust, ihn zu deklinieren: Kaleguropulos, Kaleguropulu, Kaleguropulo.53

Die Gegenwart des Wirts allein als Nomen und als grammatikalische Kategorie, als Gegenstand einer Formenbeugung, die zugleich seine Abwesenheit 50  51 

52  53 

Karl Gutzkow, „Vom Deutschen Parnaß II“ (1854). Zit. n. Irene Schroeder, Experimente des Erzählens. Joseph Roths frühe Prosa 1916–1925, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris und Wien: Peter Lang 1998 (= Narratio 13), S. 136 (Anm.). „Es bauen sich Bedeutungen auf, die nicht einzulösen sind, Bedeutungen, die sich nicht halten lassen; nicht durchgespielte Allusionen bestimmen die Darstellung. Immer wieder zerreißt das Bedeutungsgeflecht.“ Wunberg, „Joseph Roths Roman Hotel Savoy“ (Anm. 49), S. 450. Roth, Hotel Savoy (Anm. 45), S. 236. Ebd., S. 151.

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markiert, wird im weiteren Verlauf des Romans immer stärker in Richtung Unheimlichkeit verschoben. Das ganze Hotel wartet unablässig auf seine Ankunft, die sich freilich nie ereignet, obwohl das Haus um seiner Ankunft willen komplexen Säuberungsritualen unterzogen wird und die Menschen in freudige Erwartung, aber auch – etwa die säumigen Schuldner – in Angst und Schrecken versetzt werden. Kaleguropulos ist ebenso zwielichtig und unscharf wie die Masse der anflutenden Heimkehrer, der Juden und der streikenden Arbeiter, die die Welt außerhalb des Hotels bevölkern und die das Hotel schließlich in Brand setzen und damit den abwesenden Gastgeber Kaleguropulos als permanent Anwesenden, nämlich als den „alten Liftknaben“ Ignatz, im Feuertod sichtbar machen. Der Gastwirt ist in Hotel Savoy ein rein sprachliches Phänomen und andererseits das Motiv, das Gabriel Dan bindet, ihn hindert seine Reise fortzusetzen, ihn veranlasst seine Heimkehr aufzuschieben: Dieser Aufschub der Heimkehr dient dazu, das Geheimnis der Möglichkeit der kommerziellen Einkehr bei einem grammatikalischen Phänomen als Existenzform zu lüften: Da war das Hotel Savoy – ein prachtvolles Hotel, mit einem livrierten Portier, mit goldenen Schildern, es versprach Lift, reinliche Stubenmädchen in weiß gestärkten Nonnenhauben. Da war Ignatz der alte Liftknabe, mit höhnischen biergelben Augen […]. Da war Kaleguropulos, gewiß der Übelsten einer – den kannte ich noch nicht, den kannte niemand. Dieses einzigen Kaleguropulos wegen hätte es sich gelohnt hierzubleiben – Geheimnisse haben mich immer gelockt, und es ergab sich bei längerem Aufenthalt gewiß Gelegenheit, Kaleguropulos, dem Unsichtbaren, auf die Spur zu kommen. Gewiß, es war besser zu bleiben.54

Gabriel Dans Versuch einer Spurenlektüre, einer Hermeneutik des abwesenden Wirts ist das Motiv für sein Verweilen als Gast und vermittelt ihm zum ersten Mal ein Gemeinschaftserlebnis in der Fiktion der Anwesenheit eines unmöglichen Dritten: Lange war ich einsam unter Tausenden gewesen. Jetzt gibt es tausend Dinge, die ich teilen kann: den Anblick eines krummen Giebels, ein Schwalbennest im Klosett des Hotels Savoy, das irritierende, biergelbe Aug’ des alten Liftknaben, die Bitterkeit des siebten Stockwerks, die Unheimlichkeit eines griechischen Namens, eines plötzlich lebendigen grammatikalischen Begriffs, die traurige Erinnerung an einen boshaften Aorist.55

Der Aorist – wörtlich übersetzt der Unbestimmte oder Unbegrenzte – kennzeichnet im Altgriechischen einen Aspekt des Verbs. Der Aorist steht im 54  55 

Ebd., S. 186. Ebd., S. 160.

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Gegensatz zum Imperfekt, der eine nicht abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit ausdrückt, ohne dass etwas über Anfang und Ende des Geschehens ausgesagt wird. Der Aorist bezeichnet demgegenüber eine momentane oder klar beendete, nicht andauernde Handlung und ist im Griechischen die erzählende Zeitform, die es so im Deutschen nicht gibt. Er kennzeichnet ein geschichtliches Ereignis, eine in der Vergangenheit tatsächlich erfolgte Handlung, die nur noch als Erinnerung fortleben kann und der Erfahrung unzugänglich bleibt. In diesem Sinne hat etwa Rudolf Bultmann davon gesprochen, dass die geschichtliche Sendung Jesu als ein zweideutiges Faktum aufzufassen wäre, weil sie einerseits als rein geschichtliches Ereignis ausgesagt werden könne, dann könne man im Aorist von ihr reden, und man könne im Perfektum von ihr reden, d. h. als von einer Gegenwart. Bultmann formuliert zur theologischen Bedeutung des Aorist in den Evangelien: „Dadurch, daß Jesus gekommen ist, ist er da. Aber dieses perfektische Präsenz seines Da-Seins wird vom Unglauben zum Präteritum des Vergangenseins, des Vorhandenseins in der Vergangenheit, gemacht und damit würde das eschatologische Ereignis verstellt.“56 Neben der Tatsache, dass es sich bei der Schreibweise in Roths Hotel Savoy in signifikanter Weise um nebengeordnete Parataxen handelt, dass sich wechselseitig aufhebende Bilder oder logische Beziehungen nebeneinander stehen, die wiederum ihre Entsprechung im architektonischen Aufriss des Nebeneinander der Zimmer im Hotel haben, was sich wiederum in der asyndetischen Reihung von Einzelepisoden niederschlägt, findet sich in Roths Roman als Besonderheit der Erzählform die Simultaneität von Präsenz und Präteritum. Hieran ist wohl am deutlichsten die Dissoziation des Zeitphänomens im Erzählkosmos markiert. In ihrer Untersuchung zu Erzählstrategien der frühen Prosa Roths schätzt Irene Schroeder, dass mindestens zweimal auf jeder Seite ein Tempuswechsel stattfindet. Dies gilt nicht allein für den Unterschied von Erzählzeit und erzählter Zeit, sondern auch innerhalb einer abgeschlossenen Episode wird die Szene im Präsenz eingeführt und geht, scheinbar willkürlich, ins Präteritum über. „Durch die Mischung von Präsens und Präteritum verlieren beide ihren temporalen Charakter und werden so zu gleichwertigen epischen

56 

Rudolf Bultmann, „Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums“, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Band  1, Tübingen: Mohr Siebeck  1954, S.  134–152, hier S.  146. Vgl. Michael Moxter, „Erzählung und Ereignis. Über den Spielraum historischer Repräsentation“, in: Jens Schröter und Ralph Brucker (Hrsg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, Berlin und New York: Walter de Gruyter  2002 (= Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft  114), S. 67–88.

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Tempora.“57 Vergangenheit und Gegenwart existieren nebeneinander, sie stehen keineswegs mehr in einem chronologischen Abhängigkeitsverhältnis, etwa im Sinne einer Verzeitlichung von Ursache und Wirkungsbeziehungen, sondern es sind Mitgäste im Hotel. Die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart hat so ihre verwirrende Entsprechung in der Gleichzeitigkeit zweier Gastgeber, dem Aorist Kaleguropulos und dem Liftknaben Ignatz, der sich gegen Ende des Romans als die maskierte permanente Gegenwart des Kaleguropulos herausstellt. Die Hotelgäste geraten also in den Zustand des permanenten Wartens, das eigentliche Motiv ihres Zusammenseins, infolge eines Bluffs oder einer Fiktion bezüglich des Wirts als den Empfangenden, als des ökonomischjuristischen Ermöglichungsgrundes ihres Zusammenseins. Dieser Ignatz wäre also die permanente Gegenwart des Wirtsprinzips als Gegenwärtigkeit einer abgeschlossenen Handlung, die aber selbst eine Figur ist, die nach dem parataktisch-paradoxen Antiprinzip konstruiert ist. „Ignatz“, so wird er an einer Stelle charakterisiert, „war ein lebendiges Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe.“58 Der Wirt ist aus nebengeordneten Gegensätzen zusammengesetzte Kopräsenz des Unvereinbaren: Er ist alt und Knabe, Geschichte und Gegenwart, Anwesenheit und Abwesenheit, Leben und Tod zugleich. Die eschatologische Parusie verfinstert sich zum Motiv der lebenden Toten. Dieser Ignatz, der sich im Bluff des abwesenden Dritten Macht verschafft, und sein Gefährt, der Lift, sind in der Gegenwart des Romanhotels die einzigen verbindenden Elemente; Ignatz bindet die Gäste, die das monetäre Äquivalent ihres Aufenthaltes nicht erbringen können, durch die Fesselung ihres Gepäcks mit einem selbst erfundenen Patentschloss, und zwar derart, als fessele er die Körper der Gäste selbst.59 Neben dem vergeblichen Warten auf die Ankunft des Aorists, der zugleich in einer spähenden, lauernden Polizeiexistenz unerkannt gegenwärtig ist, alludiert Roth auch in der Figur des Henry Bloomfield jüdischen Messianismus und christliche Eschatologie.60 Die trügerische Sehnsucht der Menschen des 57  58  59  60 

Schroeder, Experimente des Erzählens (Anm. 50), S. 162. Roth, Hotel Savoy (Anm. 45), S. 183. Ebd., S. 168. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Hotel Savoy erwähnt Roth das Hotel erneut, und zwar in dem Essay „Der liebe Gott in Russland“ (1926). Roth lässt Gott als Gast des postrevolutionären Russlands im Lande spazieren gehen und sich mit den Menschen unterhalten; gegen Ende der Darstellung wird Gott nach seinen Aufgaben gefragt und er antwortet: „Ich wohne im Savoy, zahle zwanzig Rubel täglich und lasse mich verleugnen.“ Joseph Roth, „Der liebe Gott in Russland“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 2, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 681– 683, hier S. 683.

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Romans nach der vertikalen Ankunft des Anderen, Gastgeber des Zufluchtsortes, in den die Heimatlosen einkehren könnten, wird in der Trivialität des Geschehens gelöscht. IV 1929 – fünf Jahre nach dem Erscheinen von Hotel Savoy – notiert Roth zum Hotel: „Von der Enge ihrer Heimatliebe befreit, von der Dumpfheit ihrer patriotischen Gefühle gelöst, von ihrem nationalem Hochmut ein wenig beurlaubt, kommen hier die Menschen zusammen und scheinen wenigstens, was sie immer sein sollten: Kinder der Welt.“61 Man erkennt deutlich, dass Roth in seinen Feuilletons das Hotel überhöht und es zum kosmopolitischen Transit-Ort verklärt. Roth ästhetisiert oder transzendiert den Raum des Hotels und modelliert ihn zu einem dritten Weg zwischen Shtetl und jüdischem Ghetto. Die Abweichungsheterotopie des Ghettos, eine durch das Prinzip der Segregation, Kennzeichnung, Verbot, Strafe und Grenzmarkierung hergestellte Homogenität, soll einer kosmopolitischen Allianzheterotopie weichen. Es wäre etwas genauer zu prüfen, ob und wie die Topologie des Hotels in Relation zum Shtetl und zum Ghetto steht und wie darin die jüdische Bevölkerung verortet wird. Je näher die Menscheitskatastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft rückt, desto stärker idealisiert Roth die Hotelexistenz, so als fände sich Europa in höchster Not noch in ein kosmopolitisches Gesellschaftsdenken des kooperativen Nebeneinanders. Cordula Seger hält diese Auffassung der Hotelexistenz für ein Kennzeichen der Literatur der Weimarer Republik insgesamt. Zum literarischen Heterotopos des Schweizer Grand Hotels als „Schauplatz der Literatur“ schreibt sie: Im Augenblick als das Grand Hotel als Modell einer kosmopolitischen Gemeinschaft gelebt wird, kommt es einer ‚tatsächlich realisierten Utopie‘ gleich. Hier kann auf engem, überschaubarem Raum eingelöst werden, was sonst, durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, prekär bleiben muss. Im gastlichen Haus unter der neutralen Verwaltung des Schweizer Hoteliers, der als guter Geschäftsmann den Wert des Geldes über jenen von Nationalität und Adel stellt, kommen erstmals Menschen aus verschiedenen Welten mit unterschiedlichen kulturellen Kontext zusammen.62 61  62 

Joseph Roth, „Hotelwelt“, in: ders., Werke, herausgegeben von Fritz Hackert und Klaus Westermann, Band 3, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989–1991, S. 5. Cordula Seger, Grand Hotel. Schauplatz der Literatur, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2005 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Große Reihe 32), S. 123.

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Hotel Savoy entwirft insgesamt doch eine deutlich ambivalentere Haltung zum Hotel als Kollektivsymbol einer offenen Gesellschaft als die um 1930 entstandenen Texte zur „Hotelwelt“. Der Roman thematisiert auch, dass die moderne „Hotelexistenz“, die nomadische Lebensform und das Wohnen jenseits des Vaterhauses, nicht den ‚Himmel auf Erden‘ versprechen können. Das Himmelwärts in der Vertikalität des Raumes, welches in Hotel Savoy durch den Aufzug (und seinen alten Liftknaben) symbolisiert wird, erweist sich nämlich sehr schnell als Bewegung ins Bodenlose und das Wohnen im Hotel firmiert als Beerdigung: Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drin in Gottesnähe, was oben stand lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leicht gezimmerten Särgen. Ich gehörte zu den hoch Begrabenen. Wohne ich nicht im sechsten Stockwerke nur? […] Wie hoch kann man noch fallen?63

Die sozialen Beziehungen sind an diesem Ort selbstredend zuerst rein kommerzielle Interaktionen, die also auf ökonomischem Kalkül beruhen, nicht allen offenstehen und soziale Abhängigkeit herstellen; zweitens imaginiert der Roman die Heimkehrer als Ankunft einer Naturkatastrophe für die Gesellschaft und aus der Sicht der Ankommenden als unfreiwilligen Akt: Sie werden herangespült wie bestimmte Fische zu bestimmten Jahreszeiten. […] Dann, wochenlang, fluten sie herbei aus Rußland und Sibirien und den Randländern. […] Sie werden nach dem Westen gespült wie Fische zu gewissen Jahreszeiten. […] Sie kamen aus Rußland, sie brachten den Atem der großen Revolution mit, es war, als hätte sie die Revolution nach Westen gespuckt wie ein brennender Krater seine Lava.64

Die vielen Heimkehrer stehen darüber hinaus auch in Hotel Savoy in einer kollektivsymbolischen Relation zu gelbem Schlamm, zur stinkenden Kloake und zu ansteckenden Krankheiten.65 Hierbei verarbeitet Roth ersichtlich Versatzstücke des von Gerhard untersuchten biopolitischen Hygienediskurses der 1920er Jahre, der allerdings durch massendynamisches Vokabular konterkariert wird. So heißt es etwa zu den Ursachen für den Streik der Arbeiter, die Gabriel Dan in einer Tageszeitung liest: „Der Schreiber erklärte, dass alles Unheil von 63  64  65 

Ebd., S. 168. Roth, Hotel Savoy (Anm. 45), S. 202. Ebd., S. 203.

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den Heimkehrern stamme, die den Bazillus der Revolution in das keimfreie Land verschleppten. Der Schreiber war ein jämmerlicher Mensch, er spritzte Tinte gegen Lawinen, er baute Dämme aus Papier gegen Sturmfluten.“66 Es ist eher unwahrscheinlich, dass Roth den ‚Osten‘ und den ‚asiatischen Raum‘, deren Lebenswelt er in so vielen Texten zu Idyllen der Hybridität verklärt hat, an die biopolitische Segregationsterminologie und die rassehygienischen Gewaltphantasie anschließen möchte. Vielmehr geht es Roth darum, den Objektcharakter der Heimkehrermasse zu betonen und hierbei insbesondere die Aspekte der Unfreiwilligkeit, ja der historischen Notwendigkeit dieser Massenbewegung herauszustellen. Anders formuliert: Massenmigration oder Flucht gehören zu den wichtigsten Bewegungsmetaphern in der Literatur der Weimarer Republik, aber sie ordnen sich bei Roth nicht so ohne weiteres in die reichhaltige Tradition literarischer Bewegungsmodelle zur Sinnsuche wie das Pilgern, Wandern, Spazierengehen, Flanieren, Reisen und Streunen, was sie ihrer politischen-menschlichen Tragik entkleiden würde.67 Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass es sich bei der beschriebene flutartigen nomadischen Bewegung um Heimkehrer handelt, also um ehemalige Soldaten mit inneren Verletzungen, die nach ihrer Traumatisierung in Krieg und Gefangenschaft und dem Verlust ihrer Vaterhäuser zu Gästen im Hotel werden sollen, die vergeblich auf die Ankunft des Dritten warten. Dieser Aspekt einer ästhetischen Nutzung der Hotelexistenz zur Modernekritik, die der Beschreibung der Gesellschaft durch Ferdinand Tönnies punktuell ähnelt, rückt Roths Text in die Nähe von Franz Kafkas Roman Der Verschollene,68 der als Fragment und Nebeneinanderordnung von Ausschnitten keine Gestaltung von Zeit, sondern von nomadischer Bewegung im Raum ist. In Kafkas  1912 begonnenem Roman wird im Kapitel „Hotel Occidental“ die Hotelexistenz als Kollektivsymbol der amerikanischen Gesellschaft in den Mittepunkt gerückt. Bei Kafka ist überdeutlich, was bei Roth nur andeutungsweise klar wird, nämlich dass das Hotel für „Amerika“ bzw. für die westliche Gesellschaftsordnung, ihre Industriekultur und ihren ökonomischen 66  67 

68 

Ebd., S. 234. Hans Richard Brittnacher sieht in dem Kriegsheimkehrer Gabriel Dan einen späten Nachfahren des „romantischen Wanderers“. Vgl. Hans Richard Brittnacher, „Von Heimkehrern, Vagabunden und Hochstaplern. Glück und Fluch des improvisierten Lebens bei Joseph Roth“, in: Amthor und Brittnacher (Hrsg.), Joseph Roth (Anm. 20), S. 165–182, hier S.  173. Vgl. zur Figur des romantischen Wanderers, der ein ästhetisches Moment der „Individualisierung und Identitätsbildung“ ist, Gerhard, Nomadische Bewegungen (Anm. 1), S. 257. Franz Kafka, Der Verschollene. In der Fassung der Handschrift, in: ders., Gesammelte Werke in zwölf Bänden, nach der Kritischen Ausgabe herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Band 2, Frankfurt am Main: S. Fischer 1994, S. 133–162.

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Liberalismus steht. Das Hotel widersetzt sich bei Kafka freilich einer impliziten romantischen Ästhetisierung als deterritorialisierter Wunschraum. Zunächst ist bei Kafka klar, dass der Ankommende, hier Karl Roßmann, der ein Vertreter der historischen jüdischen Auswanderungswelle nach Amerika ist, im Hotel Occidental nicht – wie Gabriel Dan – als Gast ankommt, sondern als Arbeitender, konkret als Berufskollege des Ignaz, dem alten Liftknaben. Das Hotel stellt eine ungeheure Maschinerie der Arbeit dar und ruft allein dadurch in Erinnerung, dass alle Heterotopien auch Wirtschaftsräume sein müssen. So wie in Roths Hotel bleibt der Gastgeber, also diejenige Instanz, die zu den Menschen im Hotel „Willkommen“ sagt, im Dunkeln. Es handelt sich um einen undurchschaubaren Verwaltungsapparat mit anonymen übergeordneten Instanzen. In der obskuren Hoteldirektion findet sich die Rätselhaftigkeit des Kalegoroupolos noch erheblich gesteigert. Die Arbeit Karls soll nach Auskunft der Oberköchin, die ihn einstellt, verhindern, dass er weiter durch die „Welt bummelt“.69 Der Grund für die Anstellung ist die „Landsmannschaft“, die erinnerte Territorialität, die die Einwanderer verbindet. Zur entsprechenden Reaktion der Oberköchin bemerkt der Erzähler: „Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend rief sie und faßte dabei Karls Hände: ‚Jetzt da es sich herausgestellt hat, daß sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z. B. Lust  Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und sie sind es.‘“70 Das Hotel Occidental ist ein unüberschaubares Labyrinth, denn es hat außer dem Haupteingang noch „10 Nebentore“ und insgesamt „30 Fahrstühle“.71 Hier wohnen und arbeiten Entfremdete, es existiert eine strikte Kommerzialisierung und Hierarchisierung („in der ungeheuren Stufenleiter der Dienerschaft dieses Hotel“72) der sozialen Beziehungen. Bürokratismus erscheint als Mechanismus der Herrschaft und die Taylorisierung der Arbeitsabläufe ist weit entwickelt. Im Vergleich zum gesellschaftlichen Kontext des Hotel Savoy sind die Gesetze, in denen sich Ökonomie und Herrschaft verschränken, ins Überdimensionale gesteigert. „Wo bei Roth ein ‚Einzelner‘, Ignaz nämlich, das ‚lebendige Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe‘ verkörpert, gehört zum Hotel Occidental […] ein komplexes Netzwerk gesellschaftlicher Abhängigkeit

69  70  71  72 

Ebd., S. 134. Ebd., S. 134. Ebd., S. 145. Ebd., S. 166.

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und verdinglichter Machtverhältnisse, die – bei Strafe – keinerlei Abweichung dulden.“73 Während Ignaz die Liftboy-Tätigkeit noch zwischen Arm und Reich, Gottesnähe und Gottesferne, Leben und Tod, ja als groteske Variante der Unterweltfahrten des Charon ausübt, indiziert (wie Frey zu Recht hervorhebt) Karl Rossmanns Arbeit als Liftknabe nichts weiter als den Umstand, dass der Mensch Anhängsel einer Technologie ist, die er nicht mehr selbst beherrscht, sondern die sich ihm entzieht.74 Die permanente scharfe Konkurrenz und Ausbeutung im Hotel führt zur Monotonie der Arbeitsabläufe, zu Schlaflosigkeit und zur Anonymität. Das Hotel ist also eine ideale tayloristische Maschine, ein komplex ausdifferenziertes und hierarchisches Machtgebilde bzw. Bürokratiemonster, welches auch von detektivischen heimlichen Blicken durchleuchtet und von „Hotelbeamten“ geleitet wird;75 und es hat zugleich Züge eines totalitären Staates, etwa dann, wenn nicht nur mit Entlassung auf die Verfehlung Karls – er hatte seine Position als Rädchen im Getriebe verlassen, um einen maladen Heimatlosen, der nicht arbeiten oder zahlen kann, im Hotel unterzubringen – reagiert wird, sondern durch Folter.76 Kafkas Text liefert eine gesellschafts- oder modernekritische Darstellung der Hotelexistenz. Sie zeigt Elemente der Anonymisierung/Bürokratisierung ehemals souveräner oder paternalistischer Machtausübung und beschreibt die Ökonomisierung sozialer Beziehungen (die aber fast durchweg in HerrschaftKnechtschaft-Abhängigkeiten verharren). Kafkas Ästhetisierung der Hotelgesellschaft fungiert als konventionelle Modernekritik und wäre an die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft als einer Verlustgeschichte anschließbar. Die soziale Moderne mit ihren Großstadtschilderungen, ihren Hotelexistenzen, Menschenmassen, ihrer technischen Arbeitswelt und dem tosenden Verkehr steht im Verschollenen für die inhuman durchrationalisierte Gesellschaft. Interessant ist, dass Thomas Mann bis zum Beginn der Weimarer Republik das Hotel bzw. die Hotelgesellschaft durchaus kritisch als Abbild des 73  74 

75  76 

Reiner Frey, Kein Weg ins Freie. Joseph Roths Amerikabild, Frankfurt am Main und Bern: Peter Lang 1983 (= Europäische Hochschulschriften: Deutsche Sprache und Literatur 623), S. 21. Ebd. „Enttäuscht war Karl vor allem dadurch, daß ein Liftjunge mit der Maschinerie des Aufzugs nur insofern etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotels verwendet wurden.“ Kafka, Der Verschollene (Anm. 68), S. 145. Ebd., S. 166. Vgl. etwa ebd., S. 183.

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Niedergangs der Gemeinschaft ästhetisiert, also den Verlust an verwandtschaftlicher Homogenität, Bildung, Kultur und Werten künstlerisch gestaltet hat. In der Erzählung Mario und der Zauberer aus dem Jahre 1930 hat sich dies grundlegend gewandelt und Mann beschreibt die Zerstörung einer kosmopolitischen Utopie im Heterotop des Hotels. Man könnte auch sagen: Vor dem Hintergrund des aufziehenden Nationalsozialismus und der Herrschaft des Italienischen Faschismus’ beschreibt Mann den Entzug der Heterotopien Hotel und Strand als Räume hybrider oder kosmopolitischer Gemeinschaft. Thomas Mann, so hat Cordula Seger festgestellt, „leistet in seinen Texten eine Zuspitzung und Verdichtung zahlreicher Aspekte, wie sie für die Hotelliteratur im Allgemeinen bestimmend sind.“77 Wie Roth beschreibt Thomas Mann das Hotel als transitorischen Raum, in dem die Nationen aufeinandertreffen und dadurch angehalten sind über entsprechende Differenzen und Unterschiede selbstkritisch nachzudenken. Während er in früheren Texten die „kosmopolitische Zivilisation“ des Grand Hotels noch als oberflächlich, sinnentleert und rein erlebnisorientiert diskreditiert hatte, findet sich in Mario und der Zauberer eine Kritik des nationalen Chauvinismus als des Hotels unwürdig. In der Novelle findet sich der Topos der (Italien)Reise des Intellektuellen als bildungsbürgerliche Variante nomadologischer Modernität: Es geht um die touristische Herstellung von Internationalität durch Grenzüberschreitung, natürlich von Personen, die im Besitze echter Pässe sind.78 Der Ich-Erzähler in Mario und der Zauberer ist also Tourist, er reist mit seiner Familie in ein Grand Hotel in Italien, dem Sehnsuchtsort psychosozialer Zerstreuung und kultureller Sammlung zugleich. Die Erzählung, die im faschistischen Italien spielt, zerfällt in zwei Teile, die aber eng miteinander verwoben sind. Der erste Teil ist eine Hotelerzählung, die paradoxerweise nicht von Einkehr und (vorläufiger) Heimkehr in den transitorischen Raum handelt, sondern von einem Auszug, von einer Verdrängung oder Ausquartierung. Rückblickend auf die Ereignisse bemerkt der Erzähler: „Dennoch wollte kein rechtes Behagen aufkommen. Vielleicht ging der törichte Anlass unseres Quartierswechsels uns gleichwohl nach, – ich persönlich gestehe, dass ich schwer über solche Zusammenstöße mit dem landläufig Menschlichen, dem naiven Missbrauch der Macht, der Ungerechtigkeit der kriecherischen 77  78 

Seger, Grand Hotel (Anm. 62), S. 183. „Die Weltenbummelei einer Grand-Hotel-Existenz überschneidet sich mit dem Exilantendasein im Transitären und Rastlosen. Doch während der Hotelgast trotz fremder Umgebung in der allgemeinen Konvention des Wohllebens verankert ist, wir der Exilant durch den politischen Zwang des Unterwegsseins zum Außenseiter gegenüber einer ansässigen Mehrheit gestempelt.“ Seger, Grand Hotel (Anm. 62), S. 251.

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Korruption hinweg hinwegkomme.“79 Die Entscheidung, die zum Umzug der Familie führt, wird zuvor auch als „Byzantinismus“, also als Ausdruck von Servilität, geistigem Despotismus und Intrigenwirtschaft, bezeichnet.80 Auch wenn der Ich-Erzähler bemerkt, dass er diese Vorwürfe dem Allgemeinmenschlichen und nicht dem Gesellschaftskonzept ‚Grand Hotel‘ anlastet, so lässt der Text dennoch kein Zweifel daran, dass das Hotel durch Nationalismus und Chauvinismus unbewohnbar geworden ist. Denn der Auszug der deutschen Familie ist das Resultat nationaler Borniertheit, die sich gerade an Kleinigkeiten zeigt. Es beginnt bereits mit einer „atmosphärisch unangenehm[en]“ Erinnerung, die auch damit zusammenhängt, dass Torre, eine der beliebten Badeorte am Tyrrhenischen Meer, längst kein Idyll mehr für Freunde des „unverweltlichten Elements“ ist.81 Dafür sorgen schon das riesige Grand Hotel selbst und der Umstand, dass man sich im Monat August mitten in der italienischen Saison, die den Ort in eine chaotische Ungastlichkeit durch nationale Homogenität verwandelt, befindet: Auch in der Vor- und Nachsaison ist es nicht leer dort, aber gedämpfter geht es dann zu und weniger national. Das Englische, Deutsche, Französische herrscht vor unter den Schattentüchern der Capannen und in den Speisesälen der Pensionen, während der Fremde noch im August wenigstens das Grand Hȏtel […] so sehr in den Händen der florentinischen und römischen Gesellschaft findet, daß er sich isoliert und augenblicksweise wie ein Gast zweiten Ranges vorkommen mag.82

Dementsprechend wird der deutschen Touristenfamilie beim Diner im Speisesaal ein feierlich geschmückter Tisch auf der dem Meer zugewandten Glasveranda verweigert, weil er den italienischen Gästen – „ai nostri clienti“ – vorbehalten bleibt, womit den Deutschen ein uraltes und internationales Grundrecht der Hospitalität vorenthalten bleibt, nämlich die Pflicht des Gastgebers, die Gäste für die Zeit ihres Aufenthaltes als „Hauszugehörige, Pensionäre“ zu behandeln.83 Eine Steigerung des Machtmissbrauchs und der Ungastlichkeit erfolgt noch dadurch, dass die Familie auf Wunsch einer Dame des römischen Hochadels (die zu der Veranda-Klientel gehört) aus ihren Zimmern vertrieben werden. Die Begründung ist interessant und deutet schon 79  80  81  82  83 

Thomas Mann, „Mario und der Zauberer“, in: ders., Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main: S. Fischer 1963 (= Die Bücher der Neunzehn 98), S. 523–565, hier S. 527. Ebd., S. 526. Ebd., S. 523. Ebd., S. 524 f. Ebd., S. 525.

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auf den massenpsychologischen zweiten Teil der Erzählung hin: Die Restspuren eines Keuchhustens der Kinder des Erzählers wird von der römischen Dame als Bedrohung für ihre eigenen Kinder gesehen: Das Wesen der Krankheit ist wenig geklärt, dem Aberglauben hier mancher Spielraum gelassen, und so haben wir es unserer eleganten Nachbarin nie verargt, das sie der verbreiteten Meinung anhing, der Keuchhusten sei akustisch ansteckend, und einfach für ihre kleinen das schlechte Beispiel fürchtete.84

Zwar widerspricht der hinzugezogene Arzt dieser magischen Vorstellung von Kontagiösität, von animistischer Kausalität und Fernwirkung durch Geräusch, wie sie ja für das massenpsychologische Denken seit dem 19. Jahrhunderts als typisch behauptet wird, dennoch führt die Angst der römischen Aristokratin vor dem kontagiösem Fremden zu dessen Auszug. Ganz offensichtlich funktioniert das Hotel nicht als Heterotop kosmopolitischen Gemeinschaft. Der Fremde wird auch hier als Träger ansteckender Krankheit halluziniert. Während es in Hotel Savoy nicht gelingen will, einen symbolischen Dritten zu etablieren, einen Gastgeber für die Hotelgesellschaft zu finden, nutzt der Ich-Erzähler in Mario und der Zauberer die Hotelexistenz mehrfach, um die anonyme Hoteldirektion als „servilen Gastgeber“85 zu entlarven. Es gibt also gerade keine ökonomisch gesteuerte oder pekuniär motivierte Neutralität gegenüber der Nationalität, nur weil man sich im Grand Hotel befindet. Im Hotelleben steht die italienische Oberschicht, die Hocharistokratie, im Mittelpunkt und die anonyme Hotelverwaltung schütz ihre Privilegien. Die Gesetze des Liberalismus oder des globalen Kapitalismus jedenfalls sind (ähnlich wie bei Kafka) keineswegs Garanten eines globalisierten Heterotops, indem alle Menschen als gleichwertige Akteure im ökonomischen Feld betrachtet werden. Jedenfalls führt die Ungastlichkeit, die nationalgemeinschaftliche Borniertheit zum Auszug in die Pension, in der Mario als Kellner arbeitet, also in ein Familienhaus, welches sich der kommerziellen Versorgung des zahlenden Gastes geöffnet hat. Den Quartierwechsel schildert der Ich-Erzähler folgendermaßen: Wir konnten es leichten Herzens tun, denn schon mittlerweile hatten wir zur Pension Eleonora, deren freundlich privates Äußere uns gleich in die Augen gestochen hatte, im Vorübergehen Beziehung angeknüpft und in der Person ihrer Besitzerin, Signora Angiolieri, eine sehr sympathische Bekanntschaft gemacht.86 84  85  86 

Ebd., S. 526. Ebd. Ebd., S.  526. Es sei nur am Rande erwähnt, dass der Auszug Karl Rossmanns aus dem Hotel gleichfalls in eine Pension erfolgt.

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Die häufig zu Recht als Parabel auf den italienischen Faschismus interpretierte Strandszene wiederholt die innere Logik der Segregation des Fremden an einem weiteren Heterotop. Der Strand, der die Utopie von Freizeit, körperlicher Ungezwungenheit, ja pseudoparadiesischer Unbefangenheit im Umgang der Menschen untereinander symbolisiert, wird zu einer Kritik an der faschistischen Einstellung der italienischen Mittelschicht benutzt. Die unschuldige Nacktheit der kleinen Tochter des Erzählers wird in der hitzigen Atmosphäre des sommerlichen Strandes von italienischen Nationalisten als Anschlag auf die „Würde“ und die „Idee der Nation“ bzw. als Verletzung der italienischen „Gastfreundschaft“ sowie der „Ehre des Landes“ aufgefasst.87 Hieraus resultiert die Verachtung der italienischen, patriotisch-faschistischen Mittelschicht, die den Strand bevölkert, als „menschliche Mediokrität“ und „bürgerliche[s] Kroppzeug“ durch den Erzähler.88 Das faschistisch-patriotische Denken zerstört die Heterotope Hotel und Strand als räumlich verwirklichte kosmopolitische Utopie, in der Individualität und Identität marginal sind. Erst durch das Ende der Hochsaison, durch die Abreise der italienischen Mittelschicht, „entnationalisierte“ sich der Strand wieder.89 Im ‚dritten Akt des Dramas‘ wird dann eine massenpsychologische oder willensmetaphysische Erklärung für das Geschehen nachgeliefert: der auf Massenhypnose fußende faschistische Führerstaat hat sich an die Stelle des Hotels gesetzt: „[U]nd zum Schluss kam dann der Choc mit diesem schrecklichen Cipolla, in dessen Person sich das eigentümlich bösartige der Stimmung auf verhängnishafte und übrigens menschlich sehr eindrucksvolle Weise zu verkörpern und bedrohlich zusammenzudrängen schien.“90 Der mit Fremdenhass und Sittenstrenge verbundene faschistische Nationalismus verdankt sich, der vielinterpretierten Versuchsanordnung in der „Sala“ nach, einem Massenwahn, der durch Suggestion durch einen Verführer ausgelöst wird. Der Bühnenerfolg des Zauberkünstlers fußt demnach auf einer „Willensleere“ des europäischen Publikums.91 Selbst die Personen im Saal, die Widerstand leisten wollen, sind der unbezwingbaren Energie Cipollas ausgeliefert. Der charismatische Künstler-Politiker hält sein hypnotisiertes Publikum mit der Peitsche in Schach. 1937 sprach Thomas Mann tatsächlich 87  88  89  90  91 

Ebd., S. 530 f. Ebd., S. 528. Ebd., S. 532. Ebd., S. 523. Helmut Spelsberg, Thomas Manns Durchbruch zum Politischen in seinem kleinepischen Werk. Untersuchungen zur Entwicklung von Gehalt und Form in „Gladius Dei“, „Beim Propheten“, „Mario und der Zauberer“ und „Das Gesetz“, Marburg: Elwert 1972 (= Marburger Beiträge zur Germanistik 41), S. 34.

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vom „Tierbändigertyp mit Peitsche und Revolver, dem Typ des Hypnotiseurs, der heute als Staats- und Volkführer die Zukunft für sich zu haben schein.“92 Diese politische Analyse der Zwischenkriegsgesellschaften beruht nicht zuletzt auf einer Übernahme willensmetaphysischer Philosophie wie sie sich in Gustave Le Bons Psychologie der Massen93 trivialisiert hat. Der Erzähler nennt keine Gründe für die Faszination, die Cipolla auf das „Volk“ ausübt, außer den Zaubertrick der Hypnose und die spielt auf zwei der berühmten Eigenschaften der seelischen Einheit der Masse und ihrer Form und Knetbarkeit an: Der contagion mentale (geistige Übertragung) und der hiervon eigentlich kaum zu trennenden suggestibilité (Beeinflussbarkeit, Ausschaltung des Willens); beide Ursachen für die Ausprägung typischer Masseeigenschaften wurzeln in der Idee der Hypnose und bringen einen Zustand der „Verzauberung“ hervor, der die bewusste Persönlichkeit, den Willen und das rationale Unterscheidungsvermögen massetypisch auslöschen soll.94 Suggestion und geistige Übertragung im Verständnis Le Bons gehören in den Bereich des animistischen Denkens; sie sind wie der bereits eingangs erwähnte Gedanke, Keuchhusten könne sich durch Schallwellen epidemisch ausbreiten, ein Relikt magischen (oder trivialisierten neoplatonischen) Denkens. Der irrationale Grund für den Auszug der Erzähler-Familie aus dem Hotel, die contagion mentale, firmiert auch als Grund für die Manipulation der Masse in den Faschismus hinein und damit bleibt das Bewusstsein des Erzählers auf einem infantil-magischanimistischen Niveau stecken. Die kosmopolitische Masse fällt als Akteur der Geschichte und als Bewohner einer offenen Gesellschaft weg, denn sie erzwingt durch ihre Trägheit, Willenlosigkeit und Amorphität, ihre Tendenz zur Zerstreuung und Überschwemmung geradezu das Subjekt, den einsamen Einzigen als Gegenbild und ihren Führer. Gerade zur Massevermeidung sind demnach (auch literarische) Strategien Verfahren der Individualisierung und Identitätsbildung entstanden, die die Vermassung der Gesellschaft und die nomadische Subjektivität zu hintertreiben versuchen. Ute Gerhards auf Zygmunt Bauman bezogenes Resümee lässt sich hier abschließend hervorragend anfügen:

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Thomas Mann, „Altes und Neues“, S.  621. Zit. n. Spelsberg: Thomas Manns Durchbruch zum Politischen (Anm. 90), S. 36. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895), aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Eisler und mit einer Einführung versehen von Peter  R.  Hochstätter, Stuttgart: Alfred Kröner 1982 (= Kröners Taschenausgabe  99). Vgl. auch Bernd Hamacher, Erläuterungen und Dokumente. Thomas Mann: Mario und der Zauberer, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2006 (= Reclams Universal-Bibliothek 8153), S. 47 ff. Le Bon, Psychologie der Massen (Anm. 92), S. 16–18.

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Peter Friedrich Wenn anhand von ‚Flaneuren‘, ‚Spieler[n]‘ und ‚Touristen‘ die ‚postmodernen Lebensformen‘ wiederum unter dem Paradigma von Intersubjektivität und Handlung als Interaktion gedacht werden, zeigen sich trotz allen interessanten Beobachtungen die Einschränkungen, die sich mit dem Verzicht auf die ‚verrufene Gestalt‘ [des Nomaden, P.  F.] einstellen. Der sich durch die ‚zerstreute Masse‘ eröffnende diskursive Raum jenseits der traditionellen Dichotomien von Subjekt/Identität und Masse schließt sich wieder.95

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Gerhard, Nomadische Bewegungen (Anm. 1), S. 258.

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Seelenbildung an der Grenze: Ein kommentiertes Interview mit dem triestinischen Autor Veit Heinichen Walter Grünzweig Mit dem Erscheinen des ersten Bandes der Proteo Laurenti-Serie im Jahr  2001, Gib jedem seinem eigenen Tod, wurde klar, dass hier eine neue Stimme in der Welt des internationalen Kriminalromans hörbar wurde. Sehr schnell bildete sich eine Veit-Heinichen-Lesergemeinde, die die intensiv erwarteten weiteren Bände einen nach dem anderen im Netz kommentierte. Die Romane verbreiteten sich bald auch in populären Taschenbuchausgaben mit attraktiven Umschlägen, die Lust auf die Lebenswelt dieser Bücher machten. Die Verfilmungen durch die ARD erhöhten das Interesse an Heinichens spektakulären Fällen noch weiter. In einer Rezension in der Wiener Tageszeitung Der Standard zum zweiten Band der Serie Die Toten vom Karst wurde vom Erscheinen eines „kulturwissenschaftlichen Krimis“ gesprochen. Tatsächlich sind die Themen, denen sich Veit Heinichen verschrieben hat, auch wichtige Fragen der Cultural Studies. Die Stadt Trieste ist der europäische melting pot, die Europäische Stadt, der Hafen Mitteleuropas, die k.u.k. Handelsmetropole, ein Ort an der Nahtstelle des Kalten Krieges. Trieste ist eine der Literaturstädte, ja Literaturhauptstädte Europas und der Welt, was durch den Triestiner Germanisten und Autor Claudio Magris zusammen mit Angelo Ara in ihrem Werk Triest: Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa dargestellt wurde, in dem das glückliche Zusammentreffen von James Joyce und dem italienischen Modernisten Italo Svevo im Zentrum steht. Aber bei Veit Heinichen werden noch eine Reihe anderer wichtiger kulturwissenschaftlicher Diskurse um Ethnizität, Globalisierung, und globale Flüchtlingsbewegungen angesprochen, darüber hinaus auch noch Fragen der Ernährung und der Önologie. Veit Heinichens Bücher sind zentrale Narrative unserer Kultur. Sein achter Roman in der Serie, Die Zeitungsfrau (2016), beschäftigt sich mit der internationalen Kunstkriminalität. Hier wird eine zweite wichtige Qualität dieses Autors deutlich: seine Aufdeckungsarbeit. Die Bücher basieren allesamt auf umfangreichen Recherchen und könnten in Anlehnung an investigativen Journalismus als investigative detective fiction bezeichnet werden. Dabei geht Heinichen mit seiner literarischen Methode, die seinen Protagonisten große Freiheit gibt, noch über die Aufklärungsarbeit des Journalisten hinaus. Der vorliegende Text basiert auf einem langen Interview mit Veit Heinichen am Dortmunder Phönix-See am 27. 9. 2016. Es verbindet Fragen nach der Poetik von Veit Heinichens Romanen mit seiner Recherchetätigkeit in Bezug auf zentrale © Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_011 .7

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Probleme unserer Gesellschaft. Durch den Ort des Interviews, den Phönix-See, Ikone der De-Industrialisierung und Neustrukturierung des Ruhrgebietes und der alten Binnenhafenstadt Dortmund, wird eine Verbindung zur Hafenstadt Trieste hergestellt, wo sich die Probleme der Globalisierung mit traditionellen Herausforderungen einer multinationalen Hafenstadt vereinen. Charakteristisch sind für beide Orte nicht nur die Konflikte, sondern auch die Möglichkeiten, die sich aus dieser Situation ergeben. Veit Heinichen ist Dortmund eng verbunden. Er hat hier mehrmals gelesen und diskutiert – an der Universität, im Literaturhaus und im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte. Im Jahr 2007 veranstaltete die Fakultät Kulturwissenschaften das erste Symposium zu seinem Werk. Trieste und sein Autor Dass ein Deutscher, der als Wirtschaftskaufmann (Daimler-Benz), Buchhändler und Verleger (Mitbegründer des Berlin-Verlages) tätig war, plötzlich seine erfolgreiche geschäftliche Karriere in Deutschland aufgibt, nach Trieste übersiedelt und dort eine neue mid-life-Karriere als Schriftsteller beginnt, ist nicht nur außergewöhnlich, sondern auch eine große Herausforderung. Die hohe Affinität zu oder, wie Heinichen sagt, „Kompatibilität“ mit seiner Wahlheimat spielt hier sicherlich eine große Rolle. Dabei geht es aber nicht bloß um die Liebe zur Stadt, ihren Bewohnern, ihrer Geschichte und Literatur, ihrer Küche und ihrem Wein, sondern um die mentale und intellektuelle Herausforderung, die sie für den Deutschen aus dem badischen Dreiländereck bietet. Zwischen Trieste und mir gibt es eine große Kompatibilität, denn ich bin ein Kind der Grenze. Ich habe lange gebraucht, bis ich das entschlüsseln konnte, denn ich wurde natürlich auch tausende Male gefragt: Warum gerade Trieste? Und die Kompatibilität ist: Es gibt keinen Ort in ganz Europa, der über mehr Grenzen verfügt als Trieste. Ich bin ein Kind der Grenze und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wer an einer Grenze oder an mehreren Grenzen zivilisiert und groß wird, eine andere Seelenbildung hat, als ein Mensch aus dem Binnenland. Schon dadurch, weil die Kontraste größer sind. Diversität ist Reichtum, sage ich immer. Es gibt aber Leute an der Grenze, die genau das beängstigend finden und sich verschließen. Für mich ist es eine Chance. Umso mehr um mich herum ist, umso reicher bin ich, umso mehr lerne und verstehe ich, wie bunt, wie vielfältig die Welt ist. Nicht bloß um uns herum. Es ist meine Welt. Und deswegen besteht darin die Kompatibilität zwischen Ort und Autor. Ich habe 13

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Umzüge in vier europäischen Ländern hinter mir. Es ist nicht so, dass es mir an Erfahrung fehlt. Seit 36 Jahren bin ich mit Trieste verbunden und seit 20 lebe ich fix dort. Trieste ist eine Migrationsstadt, in der über 90 Ethnien ihre Spuren hinterlassen haben. Das waren vor allem Leute, die aus wirtschaftlichen Gründen aus allen Ländern Europas und dem gesamten Mittelmeerraum dahin gekommen sind und zum Wachstum der Stadt beigetragen haben. Trieste hat über zwei Jahrhunderte gezeigt, dass ein konstruktives Zusammenleben ohne Ansehen der ethnischen oder religiösen Herkunft möglich war. Das Einzige, was zählte, war, wo man ankam, nämlich welche soziale Klasse man erreicht hatte, erreichen konnte, aber es gab damals bis zum Ausbruch des nationalistischen Zeitalters keine Diskriminierung. Das sieht man, wenn man über die sieben Teile des Zentralfriedhofes geht. Der größte ist der Katholische, der zweitgrößte der Jüdische, es gibt einen Serbisch-Orthodoxen, den British Cemetery, den Griechisch-Orthodoxen, den Protestantischen und den Muslimischen. Wenn man über diese Felder geht, erkennt man, dass sich stets alles miteinander vermischt hat. Es mag schon sein, dass ich das Bild von Trieste durch meine Romane geprägt habe. Aber das ist nicht mein Problem. Wenn ein Deutscher oder ein Franzose auf den Spuren meiner Romane nach Trieste reist, dann macht er sich sein eigenes Bild daraus, ich kann ihm nur Lust machen am Entdecken und seiner Neugier zu folgen. Es gibt natürlich auch Leute, die auf meinen Spuren nach Trieste gefahren sind und enttäuscht waren, weil sie auf der Suche nach einer einzigen klaren Identität waren, in der sie ihre Sehnsucht zu finden trachteten. Ich zeige die Kontraste in allen Facetten auf und weigere mich, Idyllen zu zeichnen. Mein Commissario, Proteo Laurenti, ist kein Privatdetektiv, der mal hierhin und mal dahin reisen kann, sondern er ist ganz auf Trieste konzentriert. Diese Stadt macht es einem leicht, weil alles durch sie durchläuft und sie ein großer europäischer Schnittpunkt mit der mediterranen Welt ist. Das meiste, das hier von größerer Relevanz ist, hat immer einen europäischen Bezug. Rein lokalen Trieste-Krimis würde ich mich verweigern, das interessiert mich nicht. Follow the Money: Zum Aufspüren von Themen Jeder der acht Proteo Laurenti-Romane befasst sich mit einem Thema, das die europäische und globale Gesellschaft unmittelbar berührt, gleichzeitig ist es organisch mit dem Standort Trieste verbunden. Vom Schmuggel über den Handel mit menschlichen Organen, zu den Hintergründen der weltweiten Finanzkrise,

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dem Technologiediebstahl, den Nachwirkungen faschistischer Verbrechen, bis hin zur internationalen Korruption reicht diese faszinierende und gleichzeitig bedrohliche Palette. Dabei wird die unmittelbar gesellschaftliche Relevanz dieser Verbrechen – ihr Ursprung und ihre Wirkungen – sehr deutlich. Veit Heinichens Themenfindung zeichnet sich durch ein konsequent „materialistisches“ Herangehen aus, nämlich der Spur des Geldes zu folgen. Mein letztes Buch, Die Zeitungsfrau, spielt im Freihafen von Trieste. Es gibt Freihäfen, von denen man gar nicht weiß, dass sie Freihäfen sind. Einer ist in Luxemburg, ein zweiter, der größte, ist Genf, und auch Singapur ist wichtig. Sie haben alle denselben Betreiber. Da werden Gegenstände mit ungewissen Werten und unter idealen Bedingungen gehortet, sowohl was die Bewachung anlangt, aber auch – im Zollfreigebiet – dem Zugriff des Fiskus entzogen. Vor allem wird über den Kunsthandel sehr viel Geld gewaschen. Schwarzgeld en masse, das steckt auch hinter der gesamten Entwicklung des Kunstmarktes in den letzten Jahrzehnten. Das bezieht sich nicht nur auf große Maler wie Caravaggio oder Bellini, sondern auch auf zeitgenössische Kunst. In einer Welt, in der über den automatischen Datenausgleich der internationalen Staaten die finanzielle Kontrolle vordergründig immer enger wird, die ja mittlerweile auch Finanzparadiese wie die Virgin Islands umfasst, ist das die große Leerstelle. Die Kontrolle bezieht sich auf den Geldverkehr, aber Wertgegenstände wie Diamanten, Gold, oder Kunst sind zur Gänze ausgeschlossen. Daraus finanziert sich zum Beispiel auch der IS: nicht nur über den illegalen Export von Öl, sondern auch über Kunstwerte, Antiquitäten – auch dafür gibt es immer Abnehmer. Dazu kommt, dass bei dem automatischen Informationsabgleich natürlich bestimmte Länder überhaupt keine Rolle spielen. Die USA sind das größte Finanzparadies, vier Staaten von Delaware bis North Carolina sind komplett ausgeschlossen. Die Amerikaner wollen zwar Daten, aber selber liefern sie keine. Und dann haben wir ja auch die City of London, die seit der Magna Carta von der englischen Regierung unabhängig ist und auch von der EU nicht reglementiert werden kann. Und die größten Finanzparadiese sind die Inseln, die Gebiete, die der Queen selbst gehören, wie die Isle of Man und Guernsey oder Jersey. Werden mit Schwarzgeld erstandene Kunstwerke gestohlen, dann kann der Bestohlene das nicht einmal anzeigen, weil er dann sofort die Finanz am Hals hätte und erklären müsste, womit er seine Schätze bezahlt hat. Das ist einer der Tricks von Diego Colombo und Lino La Rosa in der Zeitungsfrau. Dieser Geschäftsbereich ist sehr groß, ich bin mit dem Thema Kunsthandel auch noch lange nicht am Ende. Ich habe mittlerweile eine enorme Dokumentation und werde das noch sehr intensiv bearbeiten.

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Kunstkriminalität betrifft uns unmittelbar – nicht nur dort, wo diese Werke gestohlen werden, also bei den wahren Eigentümern, sondern auch über die Finanzierung durch die falschen Eigentümer. Das Prinzip meiner Arbeit, meiner Recherchen, ist immer: Follow the money, folge der Spur des Geldes, damit kommst Du den Ursachen näher. Und das kann man tun, über verschiedenste Methoden und Recherchestrategien, wobei man natürlich noch hinzufügen muss, dass die behördlichen Möglichkeiten deutlich größer wären als meine, wenn nur ein Wille zur Aufklärung bestünde. Der Schriftsteller und seine Herde: Eine Poetik des Kriminalromans Im Unterschied zu seiner „Nachbarin“ Donna Leon und ihrem venezianischen Commissario Guido Brunetti, pocht Veit Heinichen auf die faktenbasierte und verifizierbare Verankerung seiner Fälle in der Triestiner Wirklichkeit. Die wiederholte Auszeichnung seiner Romane mit dem Premio Franco Fedeli der italienischen Polizeigewerkschaft ist für ihn der sichtbarste Ausdruck dieser Authentizität. Damit ist jedoch keine naive Mimesis und auch kein eindimensionaler Realismus gemeint. Ute Gerhard stellt in Bezug auf die Dortmunder Gruppe 61 „die Problematik authentischer Literatur“ dar: „Denn für einen Text heißt das in letzter Konsequenz, er muss seine Sprachlichkeit und Literarizität vergessen machen. Er steht also vor dem Problem, sich zugleich als Literatur und als nichtliterarisch darzustellen.“1 Die Poetik von Heinichens Romanen setzt auf das Eigenleben, die Eigendynamik seiner Figuren, was Authentizität vermittelt und gleichzeitig Einsichten erschließt, die vom Willen oder der „Intention“ des Autors unabhängig sind. Der Schriftsteller kommt nicht leichter an unzugängliche Informationen als andere – woran ich komme, an das könnte eigentlich auch jeder andere kommen. Was zählt, ist die Erfahrung bei der Recherche. Er muss sich auf etwas konzentrieren. Für den Autor ist eine Grundneugier wichtig, er muss einen Drang nach Erkenntnis entwickeln. Das ist der Ausgangspunkt von allem. Die Muster und Zusammenhänge dieser Welt zu erklären und sich eben nicht nur zum Opfer zu machen, wie das bequemerweise viele tun. Zu versuchen, möglichst den Kontext, in dem wir leben, zu verstehen. 1  Ute Gerhard, „Bewegung an den Rändern der Literatur – die Dortmunder Gruppe  61 und die Frage des Authentischen“, in: dies. und Hanneliese Palm (Hrsg.), Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Die Dortmunder Gruppe 61, Essen: Klartext 2012 (= Schriften des FritzHüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt 25), S. 173–185, hier S. 176.

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Das ist wie ein Screenshot, der aber nach der Geschichte und der Perspektive fragt; eine Momentaufnahme, aber mit Tiefe und Ausblick. Man wird nicht nur beschreiben, dass jetzt hier zwei Gläser auf dem Tisch stehen und eine Flasche Wasser. Das kommt ja von irgendwo her. Wie fand das hierher? Man muss überlegen: Wo fängt man an, welcher Zeitraum ist dabei wichtig, dass wir hierher gekommen sind, und reicht es, dass der Kellner das gebracht hat? Allein wie wir dem Kellner Bescheid sagen mussten, bis er endlich mit dem Richtigen kam, ist schon eine lustige Geschichte. Oder fängt es damit an, dass ich nach Dortmund gekommen bin, oder mit dem, was ich heute Früh an der Universität gemacht habe? Oder damit, wie wir uns kennen gelernt haben, oder dass wir uns kennen gelernt haben, weil ich mein erstes Buch geschrieben habe, oder gar damit, dass ich 1957 geboren bin? Es geht um den Ausschnitt der Wirklichkeit, den ich glaube, als Autor begreifen zu können, vielleicht besser als andere, und der für die Geschichte wichtig ist. Und dann kommt es natürlich bei der Entwicklung des Stoffes bis zum Jetzt zu einer Vertiefung des Materials, die auch zu einer Perspektive in die Zukunft führt, die viele logische Auswirkungen schon jetzt aufzeichnet, die kommen werden und bereits absehbar sind. Und wenn sie nicht logisch sind, dann sind sie psycho-logisch fassbar. Spannungen, die aufgebaut werden, müssen sich irgendwann einmal entladen. So etwas ist absehbar. Es ist nicht absehbar, ob es morgen oder erst übermorgen passiert, aber gewiss vor dem nächsten Jahr. Und mit der intensiven Beschäftigung mit der Materie, mit ihrer Analyse, kommt man auch zur schriftstellerischen Perspektive. Ich gebe meinen Kreaturen viel Freiheit. Ich habe das in allen meinen Büchern so gemacht. Anfangs hatte ich mir, vielleicht aus Unsicherheit, überlegt, wie es ausgehen könnte, aber nie habe ich den Schluss geschrieben, den ich ursprünglich vielleicht für möglich hielt. Die Protagonisten, wenn sie starke und keine starren Figuren sind, wenn sie einen starken Charakter haben – und ich glaube, das kann man von allen meinen Figuren sagen –, dann machen sie Dinge, die der Autor nicht weiß. Sie bestimmen dann die Interaktion und die kriminelle Handlung, auch wie sie ausgeführt wird. Wenn es dann noch eine Ermittlung gibt, wenn etwa der eine Knallkopf etwas ganz anderes macht, als der Autor sich das vorgestellt hat, dann ist auch der Ermittlungsansatz zwangsläufig anders. Abgesehen davon, dass es natürlich auch rechtliche Normen gibt. Ich erzähle eben keine Märchen à la Derrick oder Agatha Christie. Mein Protagonist lebt in der heutigen Welt, muss sich an die gesetzlichen Normen halten, die unsere Demokratie sichern. Es kann nicht despotisch ermittelt werden gegen jeden, sondern alles muss gesetzlich untermauert sein. Das wollen sehr viele Leute nicht wissen, aber das ist die Realität und die schützt uns.

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Mir geht es darum, starke Charaktere zu entwickeln, auch in ihrer Brüchigkeit, ihrer Widersprüchlichkeit. Und ich kann als Autor nichts anderes tun, als dem zu folgen, was dann auch den Ausgang bestimmt. Ich wusste nicht, wie dieses Buch ausgeht und ich wusste es nicht bei seinem Vorgänger und ich wusste es nicht bei den anderen. Ich will das auch gar nicht wissen: Warum sollte ich mich bevormunden? Das versuchen schon andere. Und wenn ich die Figuren bevormunde, verlieren sie an Charakterkraft. Sonst würde ich auswechselbare Romane schreiben. Dann würde ich mich langweilen und es sein lassen. Ich weiß nicht, ob das die Einbildungskraft ist. Ich arbeite im Grunde wie ein Schäfer, der seine Herde vollständig von A nach B bringen muss. Was die unterwegs machen, ist ihr Problem. Wenn sie versuchen, abzuhauen, muss ich sie wieder zurückholen, sonst geht der Erzählstrang verloren. Sie kopulieren, sie streiten, sie fressen, sie schlafen, sie zanken. Und sie dürfen und sollen das, ich habe kein Recht, sie einzuschränken. Ich glaube deshalb nicht, dass ich sie erfinde, denn sie folgen Logiken. Die „Zeitungsfrau“ Teresa hatte mich schon lange fasziniert, aber ich entdeckte erst mit der Zeit, dass sie drei Kinder hatte. Ich entdeckte auch die entfernten verwandtschaftlichen Beziehung zu ihrem Ex-Mann, Diego, dem Italo-Argentinier aus Mar del Plata, erst später. Da gibt es Dinge, auf die der Schriftsteller erst mit der Zeit draufkommt. Die Politik der Grenzen Auch wenn Veit Heinichen sich gegen Grenzen ausspricht, leben seine Romane genau davon. Trieste war früher von Jugoslawien und ist heute von den Grenzen des Staates Slowenien umgeben, die von jedem Punkt der Stadt immer nur wenige Kilometer entfernt sind. Nicht weit entfernt, allerdings nicht unmittelbar angrenzend, sind auch Grenzen zu Kroatien und Österreich; mittelbar grenzt der gesamte Balkan an Trieste. Die Stadt liegt im Herzen Europas und der Welt des Mittelmeers. Die Entfernungen nach Mailand, München, Wien, Bratislava, Budapest oder Sarajevo divergieren unwesentlich. Dieses Mit- und Gegeneinander, die Möglichkeiten der Be- und Entgrenzung, spielen in den Laurenti-Romanen eine zentrale Rolle. Sie machen deutlich, dass internationale Machtkartelle und -gruppen mit und ohne Grenzen agieren und dass es um den politischen Willen geht, diese zu kontrollieren. Ich wurde in der Vergangenheit als politischer Autor bezeichnet, doch was ist das? Ich sperre mich gegen diesen Begriff, weil er nicht präzise ist. Ich bin kein dogmatischer Autor, ich benenne die Dinge und stelle sie dar. Das mag

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vor allem bei politisch missbrauchten, tabuisierten Themen manchem nicht schmecken. Werten muss der Leser selbst, ich stelle ihm die Information zur Verfügung. Politisch ist doch alles, sobald man nicht allein ist – die Polis, die Gemeinschaft eben. Wenn jemand sagt, ich bin ein unbequemer Autor, ein streitbarer Autor, so sind das positive Ausdrücke. Ich bin ein Autor, der aufdeckt, der die Gegenwart in die Mitte rückt und nicht Märchen erzählt. Es gibt Menschen, die fernsehen, abschalten und am nächsten Tag sich schon nicht mehr dran erinnern können, weil es mit der Wirklichkeit nicht korrespondiert. Meinen Lesern gegenüber fühle ich mich zur Authentizität verpflichtet, und mein Werk steht in einem bestimmten geographischen Raum und handelt in einer bestimmten Epoche und ist damit wie alle Romane ein Spiegel einer Gesellschaft. Mein geographischer Rahmen ist der des europäischen Kontinents mit seinen Außenbeziehungen, ob in die USA, den Nahen Osten oder nach Afrika. Die Epoche, die ich zu überschauen glaube, beginnt in etwa mit der fast zeitgleichen Gründung zweier großer europäischer Nationalstaaten, Italien und Deutschland. Thomas Schmid, damals Chefredakteur der Welt, rief mich 2007 zum Fall der Schengen-Grenzen mit den Worten an: Herr Heinichen, wir hätten gerne einen Beitrag von Ihnen, denn jetzt wird überall Stimmung gegen die Grenzaufhebung gemacht, die Kriminalität würde drastisch ansteigen usw. Ich möchte von Ihnen einen Beitrag haben, wie es da wirklich aussieht. Ich fragte, wie viel Platz er mir einräume und er sagte: So viel Sie wollen. Das Ergebnis war ein langer Essay über den sogenannten Schengen-Rave im Dezember 2007. Dieser Text, den er dann ungekürzt in der Welt gebracht hat ist heute noch im Internet zu finden und wurde in viele Sprachen übersetzt, was mich überrascht hatte. Mit dem Fall der internen Grenzen im Schengenraum erhöhten sich die an seinen Rändern um ein Vielfaches. Trotzdem wurde keine europäische Politik damit geschaffen. Wir müssen uns vor allem über eines klar werden: Eine Grenze ist eine politische Linie, die jung ist und die, egal wo, Länder und Ländereien, Familien durchschneidet. Wer direkt an der Grenze lebt, kennt diese Tatsache. Es gibt keine natürliche Grenze. Ich glaube, die einzige natürliche Grenze in Europa, wo Nationalität und Geographie übereinstimmen, ist die um Island. Alles andere sind willkürliche Grenzen, die aus politischen Gründen entstanden sind. Ich bin in der Nähe zu Frankreich und der Schweiz groß geworden. Bei Flächenbombardements hat der Pilot Streuverluste und dass der Storch mich auf dieser Seite abgeworfen hat, ist nicht mein Verdienst. Wer Grenzprobleme hat und sich dann als Deutscher oder Italiener oder Österreicher oder was auch immer fühlt, weil er sich auf seinem Einsiedlerhof bedroht fühlt oder in seiner städtischen Mietswohnung, der hat den Kontext nicht begriffen. Er

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hat vor allem seine eigenen Mitbürger nicht begriffen, seine eigenen Staatsangehörigen. Die haben genauso viel Dreck am Stecken, wie jeder. Schon der Bibel lässt sich entnehmen: Der Mensch ist korrupt seit es den Menschen gibt – was sich die katholische Kirche mit 2000 Jahren Managementerfahrung natürlich meisterhaft zu Nutzen gemacht hat. Aber wer dann von sich behauptet, er sei besser oder sein Volk sei sauber, sitzt bereits der Gefahr auf, die Dinge nicht in den Griff zu bekommen. Weil er sich selbst ausnimmt. Wenn man etwa mit erfahrenen Polizisten redet, legt keiner für sich selbst die Hand ins Feuer. Das ist ganz wichtig, alles andere ist Hochnäsigkeit. „Jeder Mensch ist ein Abgrund“, heißt es bereits im Woyzeck. Das bin ich und das ist jeder. Wenn wir das ignorieren, dann haben wir ein hausgemachtes Problem. In Deutschland scheitert die Sicherheitspolitik bereits bei der Koordinierung der Bundesländer, da könnte man in manchen Fällen von Baden-Württemberg nach Bayern ins Exil gehen. Und was die Organisierte Kriminalität angeht, ist das gesamte Land ermittlungstechnisch und strafrechtlich nicht in der Gegenwart angekommen. Das ist politischer Wille. In meinem Roman Die Ruhe des Stärkeren war der Fall der Grenzen rund um Trieste die Befreiung einer Stadt, die von Grenzen umgeben war, von politischen Grenzen. Man muss sich das vorstellen – 10 Kilometer vom Stadtzentrum begann das Schlangestehen an der Grenze. Es stimmt schon, meine Bücher zeigen die extreme Vermischung von Wirtschaft, Politik und organisiertem Verbrechen, die grenzenlos ineinander übergehen. Das organisierte Verbrechen hat keinen Respekt vor Grenzen. Bei Mafia denken gleich alle an Italien, aber es gibt auch eine deutsche Mafia. Man muss sich das wie einen internationalen Großkonzern vorstellen, der kein Geschäftsfeld unbestellt lässt und nur profitiert, wenn er international zusammenarbeitet, das heißt effizient ist. Und dieser Konzern ist dabei weder rassistisch, noch ist er gegen Behinderte, noch ist der diskriminierend, solange sie alle im Geschäftssinn arbeiten und demselben Geschäftsziel dienen. Das ist das Fundament. Das hat man aber in Deutschland noch nicht begriffen. In anderen Ländern weiß man das, vor allem in mediterranen Ländern ist das längst im Bewusstsein jedes einzelnen. Und es widerspräche jeder kaufmännischen Logik, wenn ausgerechnet die stärkste Volkswirtschaft in Europa davon nicht befallen sein sollte. Deutschlands Finger: EU-Kritik im Europa-Krimi Veit Heinichen ist Vertreter eines relativ neuen Krimigenres, des Europa-Krimis. Dabei geht es nicht nur um das internationale Figureninventar seiner Romane,

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sondern um die Möglichkeiten vor allem der Wirtschaftskriminalität im Vereinten Europa. Heinichen, der immer wieder – und auch hier – sehr deutlich gegen europäische Korruption und die Vernetzung von wirtschaftlichen, politischen und bürokratischen Mächten Stellung bezieht, macht allerdings klar, dass er nicht populistischen Anti-EU-Instinkten folgt. Ganz im Gegenteil, Europa-Kritik ist notwendig, um zu verhindern, dass „dumpfe“ politische Kräfte aus dem Misstrauen und der Unzufriedenheit der Bevölkerung Nutzen ziehen. In Deutschland zeigt man leidenschaftlich mit den Fingern auf die anderen. Wir kennen ja den Ursprung des deutschen Föderalismus, aber der hinkt heute leider auf vielen Beinen. Es gibt keine nationale Bildungs- und keine nationale Kulturpolitik, erst recht keine nationale Sicherheitspolitik. Schon unterschiedliche Polizeiautos und Uniformen in verschiedenen Bundesländern sind ein Sicherheitsproblem. Dazu arbeiten Landeskriminalämter in Konkurrenz zueinander und sind auch technologisch schlecht vernetzt. Es gibt in Deutschland keine Einrichtung wie die Direzione Investigativa Antimafia oder andere in Italien, die sich mit dem organisierten Verbrechen beschäftigen und der der Gesetzesrahmen die nötige Kompetenz einräumt. Da ist die italienische Polizei mit Sicherheit die spezialisierteste in ganz Europa und auch der Welt, besser auch als die Amerikaner. Aber es gibt einen Grund dafür und der ist, dass die italienische Staatsanwaltschaft als einzige in Europa unabhängig von politischen Weisungen ist. Deshalb kommt in Italien sehr viel auf den Tisch, was in anderen Ländern bereits im Ansatz der Ermittlungen abgewürgt wird. Das muss man wissen, sonst ist es leicht, auf Italien zu zeigen. Der Unterschied ist aber der: Gegen Andreotti wurde über 20 Jahre im Licht der Öffentlichkeit prozessiert und auch wenn er mit verschiedenen Tricks immer wieder herauskam, wurde in den Medien darüber berichtet. Das Volk wusste Bescheid, weiß Bescheid, ist informiert. Dadurch sind die Menschen zwar auch desillusioniert, was fatale politische Auswirkungen haben kann, aber das ist ein anderes Thema. Die Ermittlungen gegen Helmut Kohl und seine schwarzen Kassen dagegen wurden im Vorfeld erstickt. Ein deutscher Bundeskanzler hat die Verfassung mit den Füßen getreten und durfte, während jeder andere von uns in Beugehaft gekommen wäre, sagen, es läge angeblich im europäischen Interesse. Keine unserer großen Zeitungen hat diesen Skandal aufgezeigt. Da befinden wir uns immer noch im Deutschland von Heinrich Manns Professor Unrat. Damit werden wir den Dingen nicht Herr. Die Unglaubwürdigkeit der Institutionen, der Regierung wird immer größer und den extremistischen Parteien, die mit dumpf-populistischer Politik arbeiten, die Tür sperrangelweit geöffnet. Das ist ein Problem, ein großes Problem, das unser aller Demokratie

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gefährdet. Der größte Wert, den wir zu verteidigen haben, ist doch die Demokratie. Aber da wird beschwichtigend darüber hinweg gespielt. Nach der Brexit-Abstimmung hätte die Europäische Union sofort an Glaubwürdigkeit gewonnen, hätte sie die Arbeit an der von den Briten blockierten Gesetzgebung gegen das Unwesen der Finanzinstitute und der freien unkontrollierten Spekulationen wieder aufgenommen. Das wäre die Chance gewesen. Es ist nichts passiert und man darf auch nicht vergessen, dass Deutschland bis zuletzt nicht die europäischen Antikorruptionsgesetze ratifiziert hat, und auch nicht die Geldwäschegesetze. Aus wohlweislichem, wirtschaftlichem Interesse. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Herr Ackermann seinen Geburtstag bei Frau Merkel im Kanzleramt begangen hatte. Riesenskandale wie der Bau der neuen BND-Zentrale oder auch der Großflughafen in Berlin sind doch sowenig nur von einer Führungspersönlichkeit zu verantworten, wie der Papst der Alleinherrscher im Vatikan ist. Das sind Zeugnisse einer Mentalität, die so tut, als hätte sie mit nichts zu tun. Die engen Verbindungen der Wirtschaft zur Politik sind eklatant. Es gibt keine rechtlichen Regelungen, sie sorgsam zu trennen. Der Steuerzahler musste die Hypo Real Estate mit 45 Milliarden retten, bis heute sind nahezu 20 Milliarden davon offen. Frau Merkel machte dafür mal kurz ihr Handtäschchen auf, während Finanzminister Schäuble weiterhin seine scharfe Politik gegen Griechenland fährt. Mit einem Bruchteil dieser Summe hätte man die auch menschliche Katastrophe in Griechenland verhindern können, ohne auf Reformforderungen zu verzichten. Ich betreibe kein EU-Bashing und auch kein Deutschland-Bashing. Alle versuchen, ihre lächerlichen egoistischen Positionen zu vertreten. Jetzt verlangen die Višegrad-Länder, man möge die Briten beim EU-Austritt sanft behandeln, denn eine Million ihrer Bürger arbeiten in England. Meine Kritik richtet sich nicht gegen die Institutionen der EU, sondern gegen die Menschen, die in diesen Institutionen diese Politik zulassen und fördern. Ich bin ein überzeugter Europäer, auch ein überzeugter Verfechter der Europäischen Union, die aus zwei Weltkriegen heraus entstanden ist. Sie wurde einen Tag vor meinem Geburtstag, am 25. März 1957 mit den Römischen Verträgen zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begründet. Die Wirtschaft stand also im Vordergrund, das ist klar. Die Wirtschaft ist nicht nur ein Wohlstandsfaktor, sondern auch ein kultureller, und ohne den geht es nicht. Das Paradies, in dem sie den berühmten Apfel vom Baum geklaubt haben, kommt auch nur aus dem Bereich der Märchen, daraus ist dann später die Abstraktion der Vertreibung aus dem Paradies entstanden, das war das Schlaraffenland. Aber ich habe mich nie gegen die EU gewendet, sondern immer nur gegen den Missbrauch, die Bequemlichkeit. Wir müssen in allem differenzieren und auch unsere eigene Gleichgültig und Nichtpartizipation ins Visier nehmen.

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Der Mensch ist, wie gesagt, seit Anbeginn korrupt. Das können wir in allen überlieferten Schriften nachlesen, über Tausende von Jahren. Was verwunderlich ist, ist, dass wir daraus nichts lernen. Wir lassen den freiwildernden Kapitalismus genauso zu wie die freiwildernde Bürokratie in Brüssel. Die Kontrollsysteme haben versagt. Die Menschen werden nicht müde, sich am Stammtisch, in der Bar, unter Freunden, zu beklagen, aber sie nehmen nicht teil an der Geschichte. Teilnehmen bedeutet nicht kandidieren. Teilnehmen heißt auch vorschlagen und kontrollieren. Wenn jemand nichts sagen will, braucht er nichts vorschlagen, aber er kann versuchen, Kontrolle auszuüben, indem er schon mal konsequenter die Politik an ihren Wahlversprechen misst und seinem Unwohlsein Ausdruck gibt. Heute hat fast jeder Internetzugang und die Möglichkeit, sich auf kurzem Weg zu äußern. Die übliche Antwort, die ich darauf bekomme ist: Ja, aber wenn ich meinen Abgeordneten kontaktiere, antwortet der mir ja nicht. Dabei gibt es dafür ein einfaches Mittel: Setze Deinen gesamten Verteiler sichtbar in Kopie und setze eine Frist für eine Antwort und wenn bis dann keine Antwort vorliegt, frage nach und setze wieder den gesamten Verteiler in Kopie. Eine andere Möglichkeit ist, statt nicht zu den Wahlen zu gehen, einen weißen Stimmzettel abzugeben, also als Partei derjenigen aufzutreten, die sich wehren dagegen, das kleinste Übel zu wählen. Wenn wir statt einer hohen Enthaltung fast 50 Prozent solcher Proteststimmen hätten, wäre das ein Problem, über das kein Politiker hinwegsehen kann oder gar sagen, ja die Leute interessieren sich nicht und sind lethargisch. Er müsste sich an die eigene Nase fassen. Wenn es fast 50 Prozent der Stimmzettel sind, dann ist das eine ganz klare Meinungsäußerung von Menschen, die teilnehmen, die zur Wahl gegangen sind und die man nicht mehr wegreden kann. Die Normalität der Völkerwanderung: Flüchtlinge, Kriminalität und Krimi Flüchtlinge bilden die Kulisse fast aller Romane Veit Heinichens. Sie spielen nicht immer eine zentrale Rolle, aber es wird deutlich, dass alles, was passiert, vor diesem Tableau abläuft und damit zu tun hat. Heinichen kritisiert, dass sich in der jüngsten Gegenwart die Länder Europas, die nicht am Mittelmeer liegen, lange kaum für das Problem interessiert haben und erst im Gefolge der Öffnung der sogenannten „Balkan-Route“ auf die gesamteuropäische Dimension aufmerksam geworden sind, während vorher die Mittelmeerrouten nach Spanien oder Italien belächelt wurden. In Bezug auf die Stadt Trieste ist, wie Ute Gerhard am Schluss ihres Buches über nomadische Bewegungen feststellt, insbesondere

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zu bedenken, dass man heute „nur bedingt über das Transitorische reflektieren“ kann, „ohne die Transiträume an See- und Flughäfen als Orte der Macht zu erfassen“.2 Dies trifft nicht nur auf Internierungsräume zu, sondern auf viel breitere Bereiche. Heinichens Romane spielen in unserem Zeitalter der neuen Flüchtlingsbewegungen, machen aber – wie Ute Gerhard aufgezeigt hat – gleichzeitig deutlich, dass diese Bewegungern in der europäischen Geschichte keineswegs neu sind. Die Ubiquität von Flüchtlingen und ihre Auseinandersetzung mit komplexen Machtstrukturen ist eines der wichtigsten Kennzeichen seiner literarischen Lebenswelten. Flüchtlinge sind in Europa eine Realität seit Menschengedenken und kein neues Phänomen. Europa entstand aus Völkerwanderungen und ist ein Vielvölkergemisch. Über Jahrtausende hinweg hat sich immer alles verschoben; Menschen, die Kriegen, Diktaturen und wirtschaftlicher Not zu entkommen versuchten. Flüchtlingsströme ziehen sich auch durch das gesamte 20. Jahrhundert: Nach der russischen Revolution floh die Oberschicht nach Paris und an die Côte d’Azur, dann kam die Flucht vor der Tyrannei Nazideutschlands, Rassenhass, Verfolgung und Vertreibungen. Trieste wurde Scha’ar Zion genannt, das Tor nach Zion, nach Palästina. Die Schiffsverbindung Trieste–Haifa war eine der Hauptverbindungen des Exodus. Und nach den beiden Weltkriegen kamen weitere große Ströme. Auch damals waren die Flüchtlinge in den neuen Gegenden nicht willkommen und wurden mit Vorurteilen belegt. Mit der Teilung Europas in zwei große ideologische Blöcke kamen Systemflüchtlinge hinzu, für die man im sogenannten „freien Westen“ etwas mehr Verständnis gezeigt hat. Selbst in der Zeit des Faschismus hat man übrigens bestimmte Flüchtlinge aufgenommen, so sie sich entsprechend ideologisch angepasst haben und den rassischen Dogmen entsprachen. Es gab stets Einwanderung aus anderen Kontinenten. Erinnern wir uns an die vietnamesischen boat people, die in Deutschland, Italien und natürlich auch in Trieste aufgenommen worden sind. Bereits 1972 fand man in einem kargen Gebiet hinter der Stadt direkt an der Grenze zum damaligen Jugoslawien die Leichen von vier erfrorenen Afrikanern. Und ich ging noch zur Schule, als in Deutschland kurdische Flüchtlinge aufgenommen wurden. Nach Italien und Trieste sind bis in die 1960er Jahre Menschen aus Dalmatien und Istrien gekommen. Nicht nur ethnische Italiener, sondern auch Kroaten oder Slowenen, die nicht im Sozialismus leben wollten. Anfangs wurden sie generell als Faschisten verschrien, was eine Verallgemeinerung war, 2  Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen und Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 259.

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die natürlich nicht auf alle zutraf. Nicht unähnlich lief es ja auch in Österreich und in Deutschland mit den Sudetendeutschen und Donauschwaben. Da ist damals meine Idee für den Roman Die Toten vom Karst entstanden. Ich hatte das ganze Phänomen zum zweiten Mal gesehen, zuerst in Deutschland, dann in Italien. Der Schmerz dieser Vertriebenen und Flüchtlinge wurde politisch ausgeschlachtet und missbraucht. Von Rechts bis Links. Den Opfern half das nicht, davon profitierten nur die Demagogen und nationalistischer Extremismus wird bis heute damit geschürt. Wir sollten uns darauf besinnen, dass es kein System gibt, um Grenzen hermetisch dicht zu machen. Trotz der Mauer haben es Leute geschafft, aus der DDR zu fliehen, was bis heute heroisiert wird. Es gab von der Bundesrepublik systematisch geförderte Fluchthelfer, bei denen die westdeutschen Geheimdienste die Hand im Spiel hatten und hinter den Kulissen gewaltige Geldströme von Westen nach Osten flossen. Allerdings scheint man bei Flüchtlingen der eigenen Nationalität mehr Verständnis aufzubringen, als bei jenen, die dem Elend weiter entfernt zu entkommen versuchen. Die Flüchtlingsströme sind nie abgebrochen und eine Sache ist klar: Solange nach Ende der Kolonialisierung der Westen seine Kolonialisierungspolitik auf ökonomische Art weitertreibt, wird sich das nicht ändern. Niemand, kein Bauer, verlässt sein Land ohne Not. Das ganze System unserer Entwicklungshilfe muss überdacht werden. Entwicklungshilfe ist ein Alibi des Westens, das sehr häufig zu weiterer Not in den betroffenen Gebieten führt. Wenn ein Sack Getreide aus einem Hilfsprogramm weniger kostet als das lokal angebaute Getreide, versanden in der Sahelzone weitere Brunnen und der Kreislauf setzt sich fort. Und wenn man sich fragt, woher dieser gespendete Sack Getreide kommt, dann sind wir wieder bei unseren multinationalen Großkonzernen, Monsanto, Bayer usw. Kriege sind auch Kämpfe um Ressourcen. Man denke an die unfaire Ausbeutung der Bodenschätze, das Versagen in der Bildungspolitik und fehlende pragmatische Unterstützung vor Ort. Man sieht es am Fall Libyen. Trotz aller Attentate, die Gaddafi und sein Regime in anderen Ländern, unter anderem in Deutschland, oder beim Flugzeugabsturz von Lockerbie usw., nachweislich verübt hatten, hatte man an Gaddafi festgehalten, anstatt die in den 1970er und 1980er Jahren durchaus noch vorhandenen Demokratiebewegungen in Libyen zu stärken. Man hat den Tyrannen gestärkt, weil er angeblich für Stabilität im Rohölmarkt sorgte – und für die Spaltung der arabischen Welt. Auch hier ist der Spur des Geldes zu folgen: Ziehen wir heute eine Gesamtbilanz, stellt sich heraus, dass der Krieg und die Unsicherheit danach dazu geführt haben, dass der Aufwand insgesamt wesentlich höher war. Eigentlich kam das, auf den Rohölpreis umgelegt, sehr viel teurer, als wenn man von Anfang an eine

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weitsichtige Politik geplant hätte, die auf der Einhaltung der Menschenrechte aufbaute. Die Flüchtlingsproblematik bestimmt heute unseren Alltag. Sie dominiert inzwischen den Verlauf der Politik und wurde zum geschundenen Dauerthema. Die Verlogenheit der politischen Argumentation, ob mit oder ohne Flüchtlinge, bleibt zwar immer die gleiche, wird aber noch plastischer. Das Schlimmste war die Verlogenheit der Deutschen und anderer nordeuropäischer Staaten, so zu tun, als wäre die Ankunft von Flüchtlingen aus Afrika in Süditalien kein europäisches Problem. Man kann sich, wie man sieht, ganz schön täuschen. Ich erinnere mich, wie die deutsche Presse zum Teil mit großem Hohn auf Italien gezeigt hat, Titel rauskamen, wo es hieß, 2000 Flüchtlinge wurden in der Adria „gefasst“ – gefasst, statt gerettet! Italien hat damals die Kosten von monatlich 330 Millionen Euro für die Aktion Mare Nostrum allein getragen. Die italienische Marine wäre eigentlich ein sehr, sehr seriöser Kandidat für den Friedensnobelpreis gewesen, wie Rupert Neudeck, der Begründer der humanitären Hilfsorganisation Cap Anamur gefordert hatte, weil sie Hunderttausenden Menschen das Leben gerettet hat. Mare Nostrum wurde auf Druck nordeuropäischer Länder durch Frontex ersetzt, ein Programm auf europäischer Ebene. Frontex hat den Sitz in Warschau und ist keine Rettungsinstitution, sondern tritt verteidigungspolitisch auf. Der Flüchtlingsstrom ist dadurch nicht abgebrochen, kostete aber zusätzliche Menschenleben. Und weitere Routen kamen hinzu: durch die Türkei über Griechenland und dann über die Balkan-Route nach Norden. Mit dem Effekt, dass heute wieder überall Mauern gebaut und Zäune gezogen werden, statt dieses Problem tatsächlich anzugehen und auch zuzugeben, dass es in den nächsten Jahrzehnten nicht abbrechen wird und nicht abbrechen kann. Komischerweise fehlt es nie an Geld für hunderte Kilometer an Stacheldraht, der nach Ungarn und Österreich, nun sogar selbst die früheren jugoslawischen Bruderstaaten Slowenien und Kroatien an einer Grenze trennt, über deren Verlauf sie eigentlich seit Jahrzehnten streiten. Noch besorgniserregender sind jene Länder, die sich in der Flüchtlingsfrage komplett verweigern und wo es einen nationalistischen Rechtsruck gegeben hat. Doch sorgen sie sich, wie wir gerade gesehen haben, um ihre Million Staatsbürger in England, deren Status vom Brexit bedroht sind. Und warum leben die da? Sie sind Wirtschaftsflüchtlinge! Und ausgerechnet diese Länder sind die größten Nettobezieher in der EU. Aber das führt zur Frage, wie die EU eigentlich geführt wird. An der Flüchtlingsproblematik lässt sich sehr viel Geld verdienen, man braucht nur an die Rückführung von Flüchtlingen zu denken. Dafür werden Fluggesellschaften verpflichtet, die höhere Einnahmen aus den

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Flüchtlingsrückführungen haben, als bei ihren normalen Linienflügen. Ich kenne den sehr konkreten Fall einer kleinen staatlichen Fluglinie aus Zentraleuropa, wo Staaten wie die Schweiz dieser Fluglinie tatsächlich sehr hohe Preise zahlen. Dazu gibt es „Fluglinien“ mit vielversprechenden Namen, bei denen man denkt, sie brächten Urlauber auf die Malediven oder in die Karibik, die aber nur mit den Rückführungen Geld verdienen. Ähnlich läuft es mit der Unterbringung. In Italien wird Hoteliers angeboten, ihre Häuser mit Flüchtlingen zu belegen, Ein/Zwei/Drei-Sterne Hotels, die vielleicht eine Jahresauslastung von 50 Prozent haben und auch sonst nicht viel kosten würden. Mit 30 Euro pro Flüchtling pro Tag, vier bis sechs Menschen in einem Zimmer, verdienen diese Hotels im Jahresdurchschnitt deutlich mehr als an regulären Gästen. Und nicht zu vergessen die Ausbeutung zu Sklavenlöhnen für Schwarzarbeit in der südeuropäischen Großlandwirtschaft: ein ausgeklügeltes System der Organisierten Kriminalität, die übrigens auch bei der Waffenbeschaffung für die Extremisten in den jeweiligen Herkunftsländern tätig ist. Daran wird das globale System deutlich, umso größer der Terror dort, desto höher die Gewinne hier. Das Problem bleibt aber auch nach der Ankunft bestehen – Deutschland und Österreich betreiben die Gettoisierung von Flüchtlingen, die alleine gelassen werden. Damit werden neue Problemfälle geschaffen, die vielleicht auch noch in die Illegalität abdriften. Es gibt kein Interesse, das Problem durch nach vorne weisende Maßnahmen zu lösen. Übrigens hat Deutschland Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre bereits denselben Fehler begangen, als Helmut Kohl die sogenannten Russlanddeutschen ins Land gerufen hat, weil er Wählerstimmen brauchte. Von einer zentralen Aufnahmestelle wurden sie schließlich nach einem unerklärbaren Schlüssel weitergeschickt in Gegenden, zu denen sie keinen Bezug hatten und wo man sie sich selbst überließ. Mit dem Effekt, dass seinerzeit fast dreiviertel der inhaftierten minderjährigen Straftäter russischer Abstammung waren. Warum? Sie sprachen kein Deutsch und sie sprachen kein Russisch, sie entwickelten unter sich einen Slang. Sie sind allein gelassen worden und lebten gettoisiert nach ihrem eigenen Regelwerk. Obwohl das 20 oder 30 Jahre her ist, hat man nichts daraus gelernt. Aber es wird dann zum allgemeinen, gesellschaftlichen Problem, wenn die Illegalität zunimmt. Und das ist zwangsläufig so. Wer sich selbst überlassen bleibt oder sogar zurückgewiesen oder zurückgestoßen wird, wird sich zwangsläufig anders organisieren. An der Illegalität verdienen alle. Sehr viele Gelder von Schlepperorganisationen werden in Deutschland geparkt, aber Deutschland ist bei der Untersuchung von Geldwäsche rückständig, wird von manchen gar als

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Steuerparadies bezeichnet. Durch mangelnden politischen Willen hat es weder das kriminalistische Instrumentarium noch die nötigen Personalreserven, das aufzudecken. Und bei den Leuten, die daran verdienen, geht es nicht bloß um immigrierte Bosse, sondern es bedarf vor allem der Komplizität bei der Geldverwaltung, der Geldanlage, der Beschaffung von Immobilien und Aktienpaketen. Das betrifft nicht nur die Gelder, die an den Flüchtlingen verdient werden, etwa durch Schleuserorganisationen, sondern auch andere Delikte der Organisierten Kriminalität. Pasta aglio, olio, peperoncino: Das Private als Überlebensstrategie Veit Heinichens Romane bestechen durch die genaue Kenntnis der lokalen Gastronomie und ihrer Produkte. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ami Scabar, einer der bekanntesten Gastronominnen der Stadt, hat er eine kleine Kulturgeschichte von Trieste, Triest. Stadt der Winde, geschrieben, die sich auch in den „Kochtöpfen wiederfindet“: „Essen und Trinken sollen Genuss sein“ und mit „Leidenschaft zelebriert“ werden. Es ist mehr als nur eine Tröstung, es ist die Hoffnung, aus dem Umgang mit den grundlegenden Lebens-Mitteln zu einem neuen Verständnis der Welt und ihrer Probleme zu kommen. Man fragt sich bei den Missständen in unserer Gesellschaft ja oft, welche Perspektiven und welche Hoffnungen es noch gibt. Manche Menschen werden depressiv darüber. Anderen genügt eine einfache, sehr gute Pasta wie Aglio, Olio, Peperoncino, die pro Kopf weniger als einen Euro kostet, schmackhaft ist, satt macht und einen zumindest für den Moment tröstet. Kleinigkeiten sind im Grunde überlebenswichtig. Man fragt sich doch, wie Menschen, die sehr viel größere Tragödien durchlebt haben, weiterleben können. Ich glaube, dass auch das Teil der menschlichen Psyche ist, dass man noch aus den kleinsten Dingen Hoffnung zieht. Das private Leben der Protagonisten eines Romans, das sie von der Tristesse ablenkt, kann dabei von Bedeutung sein. Das ist etwas, das Daria Bono in der Zeitungsfrau komplett fehlt. Diese Daria ist mir nicht unsympathisch; doch ist sie ein verdammt hartes Stück. Verhärmt und ungerecht gegenüber allen und gegen sich selbst. Eine ganz brüchige Figur, die eigentlich nur eins bräuchte: Wärme. Die meidet sie jedoch wie der Teufel das Weihwasser. Und sie hofft, sie paradoxerweise dadurch zu erlangen, dass sie sich durch eine brutale Tat befreit. Aber das bringt die Lösung nicht; sie hätte sich längst anders emanzipieren müssen. Daria ist 40 Jahre alt. Sie hätte alle Chancen dafür gehabt, doch sie betreibt ausschließlich Schuldzuweisungen und verschanzt sich in ihrer Opferrolle. Sie beruft sich

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auf die Vergangenheit, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen und sich der Gegenwart zu verweigern. Sie wäre eine klassische Wählerin extremistischer Parteien. Proteo Laurentis Sohn Marco serviert in einem Roman bei einem größeren Abendessen bei Laurenti zu Hause, wo viele verschiedene Menschen anwesend sind, ein Quallengericht. Die Besucher essen gerne jede Form von Pasta, aber wenn sie Qualle hören, springen sie im Viereck. Deshalb sagt er es ja auch am Anfang nicht und es wird darüber gerätselt, er behauptet lediglich, die feinen hellen Streifen seien Tagliatelle. Für seine Kochkunst wird er gelobt und als er die Wahrheit sagt, glaubt ihm keiner. Von seit Jahrzehnten in der Stadt ansässigen Chinesen hatte er gelernt, dass die großen weißen Lungenquallen prima schmecken, wenn sie delikat angerichtet werden. Die Art zu leben, umfasst auch die Art sich zu ernähren, sie ist täglicher Bestandteil auch von Romanfiguren. Abgesehen davon, dass man sich beim Essen oft genug mit anderen austauscht, und die Zubereitung und das Mahl selbst Gemeinsamkeiten schmiedet. Und in Trieste spielt das Essen sowieso eine immense Rolle. In einer Hafenstadt hat man täglich das köstliche Problem entscheiden zu müssen, ob man aus dem Meer oder von der Erde essen möchte. In einer klassischen Immigrantenstadt, in der über neunzig Ethnien ihre Spuren hinterlassen haben, findet man diese schon bei den gängigen Rezepten und den Zutaten. Und wieder gilt: Diversität ist Reichtum. Und Marco hat daraus seinen Beruf gemacht und schafft sowohl Trost als auch Erstaunen.

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Mein Leben und Joseph Roth Christof Hamann I Hiob ist ein baufälliger Mensch, heißt es im Roman von Joseph Roth. Die Kunst meines Erwachsenwerdens bestand darin, diesen Satz vor mir zu verbergen. Indem ich mir vorplapperte, daß der Ärmel, an dem ich meine Brille abwischte, zu mehr taugte. Zu Halt, zu Trost, lebenslänglich. Indem ich laut und lauter wünschte, daß der Sessel, in den ich meinen Hintern quetschte, das Sprungbrett zu Höherem war. Von ganz oben würde der Blick zurückgehen, geradlinig, ohne Schnörkel. Die Sprüche halfen. Sie legten sich so über den Satz, daß er zurücktrat und mir höchstens gelegentlich als Lufthauch um die Fersen fuhr. Jetzt ist er grundlos aufsässig geworden, dieser Hiobssatz, und hat mir die Sprüche, in denen ich ein Nest für mein Leben gebaut hatte, verwüstet. Was blieb mir übrig, als ihn anzunehmen und zu einem Anderen zu werden? Mit Erwartungen, nach wie vor. Erwartungen an Zufälle, die in die Hände gespült werden und dann zwischen ihnen zerrinnen. Erwartungen an Blicke, die so leicht sind, daß ihr Ziel, sobald sich die Augen abwenden, im Vergessen verschwindet. Erwartungen an Landschaften, die sich in tausend Welten zerstreuen. Erwartungen an mich, als kleines, aber unverwüstliches Tier.

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Die romantische Liebe und ihre Folgen im langen 19. Jahrhundert Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker I

Freiheit und Individualität in der Privatsphäre: das romantische Liebeskonzept

Jede Untersuchung zu den politisch-sozialen Leitwerten des 19. Jahrhunderts nennt – wenn nicht an erster Stelle, so doch knapp dahinter – die „Freiheit“ und das „Individuum“, oft verknüpft zu den Formeln von der „Freiheit des Individuums“ oder der „individuellen Freiheit“. Die Auflösung der Ständegesellschaft, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts durch Revolution und Reform in Gang gekommen sei, habe die Fremdbestimmung des Einzelnen durch seine Standeszugehörigkeit mehr und mehr abgeschwächt; stattdessen erhöhte sich nun die soziale Mobilität, wurden Lebensentwürfe für das Individuum wählbar. Einher ging dieser Prozess mit vergrößerten politischen Partizipationschancen: Die Freiheit äußerte sich nicht nur in einem Freiwerden von äußeren Zwängen, sondern auch in einem Freisein zur Mitbestimmung in öffentlichen Angelegenheiten. Im Wirtschaftsleben bedeutete sie die vermehrte Chance zur unternehmerischen Initiative, zumindest zum freien Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Die Liberalen, die diese Entwicklung wie kein anderer politischer Akteur im 19. Jahrhundert forcierten, führten die Freiheit schon in ihrem Namen. Wie war es aber um die Freiheit des Individuums in seinen privatesten Angelegenheiten bestellt, in der intimen Sphäre von Partnerwahl, Liebe und Ehe? Kulturgeschichtliche Studien belehren uns darüber, dass diese Sphäre um 1800 von der Romantik grundlegend umgestaltet wurde; die Romantik sei gleichsam die „Französische Revolution der Liebe“ gewesen, die der individuellen Freiheit auch auf diesem Feld zum Sieg verhelfen wollte.1 Ihre Vertreter protestierten gegen die arrangierten, politischen oder wirtschaftlichen 1  Vgl. exemplarisch Monika Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München: C.  H.  Beck  2014, S.  21; Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1982 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1124); Peter Gay, Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter (1986), aus dem Englischen übersetzt von Holger Fließbach, München: C. H. Beck 1987 und Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München: C. H. Beck 1983, S. 118–120.

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Kalkülen unterworfenen Eheschließungen der Vergangenheit, sie forderten für jeden Menschen das Recht, seinen Partner nach Maßgabe der eigenen Gefühle frei zu wählen.2 Von dieser Grundoption aus ließ sich eine Liebesheirat3 fordern, die auf anderer (nämlich emotionaler) Basis geschlossen, aber ebenso auf die Ewigkeit4 hin entworfen wurde wie die traditionelle christliche Ehe.5 Dies führte bei den weiblichen Vertretern der Romantik jedoch zunächst zu Trennungen von ihren Ehemännern, die sie noch gemäß den alten Prinzipien geehelicht hatten. Von Dorothea Schlegel, geb. Brendel Mendelssohn, heißt es, sie sei zwar nicht direkt von ihrem Vater gezwungen worden, den ungeliebten Kaufmann und Bankier Simon Veit zu heiraten, aber massiv überredet.6 Als sie im Salon von Henriette Herz den jüngeren Friedrich Schlegel kennenlernte, wurde sie zunächst seine Geliebte und verließ ihren Mann. Erst nach Jahren einer skandalträchtigen ‚wilden Ehe‘ heiratete das Paar  1804. Eine Liebesehe wünschte sich auch Sophie Mereau-Brentano, geb. Schubart, wobei sie um einiges selbständiger als Dorothea erscheint, befreite sie sich doch aus einer lieblosen Ehe mit dem Bibliothekar und Juraprofessor Friedrich Ernst Karl Mereau, ohne einen neuen, wenn auch geliebten, Versorger zur Seite zu haben. Möglich wurde dies, weil sie als erfolgreiche Schriftstellerin im Herzogtum Sachsen-Weimar mit ihrer Tochter Hulda ökonomisch unabhängig leben konnte. Erst später knüpfte sie an ein früheres Verhältnis mit dem jungen Clemens Brentano an, der ihr zweiter Ehemann wurde.7 Um den Kreis der berühmten geschiedenen Romantikerinnen zu komplettieren, sei noch Caroline Schlegel-Schelling, geb. Michaelis verw. Böhmer, genannt. Auch sie trat in den Stand der Ehe ein, ohne tiefere Gefühle für den Berg- und Stadtmedikus Böhmer zu empfinden. Nach seinem Tod und einer unehelichen Schwangerschaft geriet sie in eine schwierige Lebenslage, aus der sie August Wilhelm Schlegel befreite. Dankbarkeit und der Wunsch, sich und ihre Kinder zu versorgen, ließen sie seinen Heiratsantrag annehmen. Die ‚wahre Ehe‘ erlebte sie 2  Zum literarischen Diskurs der Eheschließung in den Texten der deutschen Romantik vgl. Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit, Frankfurt am Main und New York: Campus 2005, S. 84–87. 3  Ebd., S. 162–175. 4  Ebd., S. 111–116. 5  Siehe Gay, Die zarte Leidenschaft (Anm. 1), S. 103–104. 6  Siehe Carola Stern, „Ich möchte mir Flügel wünschen“. Das Leben der Dorothea Schlegel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 32. 7  Siehe Katharina von Hammerstein, „‚In Freiheit der Liebe und dem Glück zu leben‘. Ein Nachwort zu Sophie Mereaus Romanen“, in: Sophie Mereau-Brentano, Das Blütenalter der Empfindung. Amanda und Eduard, herausgeben und kommentiert von Katharina von Hammerstein, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 263–286, hier 265–267.

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12 Die romantische Liebe und ihre Folgen …

dann aber erst mit dem Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, für den sie sich von Schlegel scheiden ließ.8 Das romantische Liebeskonzept stellte das Individuum aber nicht nur insofern in den Mittelpunkt, als es auf seiner Entscheidungsfreiheit bestand. Individualität war einerseits die Voraussetzung der Liebe, indem ein Einzelner sich das Recht herausnahm, die eigenen Gefühle zur alleinigen Richtschnur seines Handelns zu machen, sie war andererseits aber auch Produkt und Ziel einer romantischen Partnerschaft. Das Individuum, gerade erst aus den Fesseln der Ständeordnung befreit, sah sich nämlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer neuen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Zersplitterung seiner Persönlichkeit im Zeichen dessen, was die Systemtheorie als Funktionsdifferenzierung beschreibt. Um 1800, so Luhmann, wurde die Stratifikation als primäre soziale Differenzierungsform von der Funktionsdifferenzierung abgelöst,9 das heißt, die horizontale Auffächerung der Gesellschaft in verschiedene Handlungsfelder wie Politik, Ökonomie, Recht oder Wissenschaft erhielt tendenziell größeres Gewicht als die Hierarchie der sozialen Schichten.10 Der Einzelne musste die Erfahrung machen, dass seine Identität nicht mehr eindeutig durch seinen gesellschaftlichen Status definiert war, sondern sich durch die Teilhabe an den verschiedenen Funktionssystemen erheblich verflüssigte.11 In jedem 8  9  10 

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Siehe Eckart Kleßmann, „Ich war kühn, aber nicht frevelhaft“. Das Leben der Caroline Schlegel-Schelling, Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe 1992. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 73 f. Dazu exemplarisch Niklas Luhmann, „Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdung einstellen? Ein Vortrag, Universität Bielefeld, 15. Mai 1985“, in: Vorträge. Schriftenreihe der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, G 278, Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 17–31, hier S. 22. Zur Entwicklung moderner Individualität siehe Heinz-Günter Vester, Die Thematisierung des Selbst in der postmodernen Gesellschaft, Bonn: Bouvier  1984; Uwe Schimank, „Funktionale Differenzierung und reflexiver Subjektivismus“, in: Soziale Welt  36 (1985), S.  447–465; Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München und Wien: Carl Hanser 1987; Alois Hahn, „Biographie und Lebenslauf“, in: Hanns-Georg Brose und Bruno Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Leske und Budrich  1988 (= Biographie und Gesellschaft 4), S. 91–105; Thomas Luckmann, „Persönliche Identität und Lebenslauf – gesellschaftliche Voraussetzungen“, in: Hanns-Georg Brose und Bruno Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Leske und Budrich 1988 (= Biographie und Gesellschaft 4), S. 73–86; Uwe Schimank, „Biographie als Autopoiesis – Eine systemtheoretische Rekonstruktion von Individualität“, in: Hanns-Georg Brose und Bruno Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Leske und Budrich 1988 (= Biographie und Gesellschaft 4), S. 55–72; Hans-Georg Soeffner, „Luther – Der Weg von der Kollektivität des Glaubens zu einem lutherischprotestantischen Individualitätstyp“, in: Hanns-Georg Brose und Bruno Hildenbrand

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Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker

sozialen Subsystem wurde nach dessen spezifischen Regeln kommuniziert, ohne dass die Rolle, die eine Person in den jeweils anderen Subsystemen spielte, noch von maßgeblicher Bedeutung war. Die Erzeugung eines ganzheitlichen Selbst wurde unter diesen Voraussetzungen zum Problem.12 So drohte ein Verlust der Eigentümlichkeit des eigenen Ichs, der sich bis zur Sinnenverwirrung steigern konnte. In den literarischen Texten ist der Selbstverlust oft mit einer Reise vom Land in die Stadt verbunden, wo die Funktionsdifferenzierung schon weiter fortgeschritten ist. Eine solche Szene entwirft der Revolutionsroman Die Familie Seldorf von Therese Huber. Die Heldin Sara kommt zum ersten Mal in ihrem Leben nach Paris: Sara’s Gedanken verwirrten sich in der Neuheit ihrer Lage. Sie hatte noch nie in einer Stadt übernachtet, sie hatte nur einmal in Saumür einer Nonneneinkleidung beigewohnt, und war aus dem Klostersaale wieder in den Wagen gestiegen; sie war gewohnt, mit allen Menschen, die sie umgaben, wie mit ihrer Familie zu leben, in aller herzlichen Einfalt, Theilnahme und Gastfreiheit patriarchalischer Sitten; Liebe oder Hülfsbedürftigkeit war das Band zwischen ihr und allen Wesen ausser ihr gewesen, von allen hatte sie empfangen, oder ihnen gegeben […]. Wo war sie jetzt? Dieser ganze weite Häuserhaufen, dieses zahllose Volk umher, dieses Gewühl auf den Strassen, das in der einbrechenden Dämmerung dahinwogte, alle diese fremden Gestalten, die ihr ungeübtes Auge doch immer mit ehemals gekannten zu vergleichen versucht war – Bald glaubte sie Roger an dem festen schnellen Gang eines jungen Nationalgarden zu erkennen, dann bemerkte sie eine zierliche leichte Figur, die auf einem raschen Pferde daher eilte: so ritt Theodor […]. Sara fieng an, sich ängstlich und einsam zu fühlen: sie war, mitten unter Menschen, wie auf einer wüsten Insel.13



12  13 

(Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen: Leske und Budrich 1988 (= Biographie und Gesellschaft 4) S. 107–149; Niklas Luhmann, „Individuum, Individualität, Individualismus“, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1093), S. 149–258. Mittner kommt zu dem Schluss, dass im 18. Jahrhundert die Freundschaft die dominante persönliche Beziehung ist. Geheiratet wird oft die Schwester des (Seelen-) Freundes, indem der Freundschaftsbund auf sie ausgedehnt wird (siehe Ladislao Mittner, „Freundschaft und Liebe in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: Albert Fuchs und Helmut Motekat (Hrsg.), Stoffe, Formen, Strukturen. Studien zu deutschen Literatur. Hans Heinrich Borcherdt zum 75. Geburtstag, München: Max Hueber  1962, S.  97–138). Klaus Lankheit sieht sogar noch in der Romantik die Vorstellung am Werk, dass der Künstler seine aus der Gesellschaft resultierende Leere und Haltlosigkeit in der Freundschaft überwinden kann (siehe Klaus Lankheit, Das Freundschaftsbild in der Romantik, Heidelberg: Carl Winter 1952 (= Heidelberger Kunstgeschichtliche Abhandlungen N. F. 1)). Vgl. Luhmann, Liebe als Passion (Anm. 1), S. 13–19. Therese Huber, Die Familie Seldorf [1795], Hildesheim, Zürich und New York: Georg Olms 1989 (= Frühe Frauenliteratur in Deutschland 7), Teil 2, S. 77 ff. Zu Therese Huber und ihren Briefen siehe Brigitte Leuschner, „Therese Huber als Briefschreiberin“, in: Helga

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12 Die romantische Liebe und ihre Folgen …

In diesem Zitat wird der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen, dem ländlichen und dem städtischen Leben, der alten Selbstgewissheit und der neuen Gefahr des Selbstverlusts deutlich. Das alte patriarchalische Leben war geprägt durch Vertrautheit mit allen Menschen, die dem Einzelnen / Sara begegneten. Zu jedem ihrer Nächsten hatte Sara eine Beziehung, sie war Tochter, Schwester, Freundin, Christin, Wohltäterin etc. Sie kannte jeden und jeder kannte sie – als ganze Person. Sie konnte sich nicht verlieren, weil alle anderen sie fest hielten. Jeder konnte ihr sagen, wer sie war, wer sie zu sein hatte und wer sie in Zukunft sein würde. In der Großstadt funktioniert diese Ich-Stabilisierung nicht mehr. Sara fühlt sich einsam, wie auf einer wüsten Insel, obwohl tausende und abertausende Menschen in ihrer Nähe sind. Sie ist allein, weil niemand sie kennt, Anteil an ihr nimmt und ihr sagt, wer sie ist. Die Einsamkeit könnte nicht größer sein. Der Ort, an dem die zersplitterten Teile des Menschen wieder zusammengefügt werden sollten, war die romantische Liebesbeziehung. So geht dem Protagonisten in Schlegels Lucinde, Julius, sein eigenes Wesen und das Wesen der Welt durch die Liebe auf: Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr gelang, was er zuvor durch kein Streben und Arbeiten erringen konnte: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne daß er eigentlich wahrnahm, wie es geschah. Es ward Licht [Hervorhebung F. B. u. E. R.-B.] in seinem Inneren, er sah und übersah alle Massen seines Lebens und den Gliederbau des Ganzen klar und richtig, weil er in der Mitte stand. Er fühlte, daß er diese Einheit nie verlieren könne, das Rätsel seines Daseins war gelöst, er hatte das Wort gefunden, und alles schien ihm dazu vorherbestimmt und von den frühsten Zeiten darauf angelegt, daß er es in der Liebe finden sollte.14

Der oder die Geliebte nahm nicht nur Teile der Persönlichkeit zur Kenntnis, sondern den ganzen Menschen, dem es durch diese Wahrnehmung ermöglicht wurde, sich als vollständiges Individuum zu konstituieren. Auch wenn Friedrich hier noch sagt, dass er kaum realisierte, wie seine Selbstwerdung und -wahrnehmung, seine „Geburt“, um eine übliche romantische Metapher für diesen Prozess zu bemühen,15 von statten ging, reflektiert er dies an anderer Stelle doch ganz konkret. Es ist das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte,

14  15 

Gallas und Magdalene Heuser (Hrsg.) Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, Tübingen: Max Niemeyer 1990 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 55), S. 203–212. Friedrich Schlegel, Lucinde. Ein Roman, Frankfurt am Main: Insel 1985 (= Insel Taschenbuch 817), S. 98. Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? (Anm. 2), S. 80.

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das letztlich seine Individualität erzeugt: Im Erzählen schafft er ein Bild seiner selbst: „Er erinnerte sich an die Vergangenheit und sein Leben ward ihm, indem er es ihr erzählte, zum erstenmal zu einer gebildeten Geschichte.“16 Im Erzählen muss der Liebende auswählen, er kann nicht sein gesamtes Leben schildern. Und seine Wahl wird durch den Blick auf das Jetzt, auf seine Geliebte gesteuert. Er wird sein Leben so erzählen und so sehen, dass das, was er jetzt verkörpert, ein konsequentes Ergebnis seiner gesamten Entwicklung ist.17 Dann wird die Vergangenheit nicht mehr länger als eine sinnlose Suche erscheinen, die von Irrtümern geprägt war, sondern als eine zielgerichtete Entwicklung, die letztlich zur Liebe geführt hat und damit zur Erkenntnis der eigenen Identität. Aber nicht nur die Vergangenheit wird von ihrer unübersehbaren Komplexität befreit, auch die Zukunft erhält klarere Konturen,18 denn die absolute Freiheit wird durch die Geliebte – durchaus im positiven Sinne – beschränkt. Ihr Blick auf den Liebenden, ihr Bild von ihrem Geliebten schränkt dessen Handlungsmöglichkeiten einerseits auf die Grenzen dieses Rahmens ein, andererseits auf die Grenzen ihres Interesses, das ja auch – mittels Perspektivübernahme – das Interesse des Geliebten ist. Der geliebte Mensch heilt die Differenzierungsschäden, die sein Gegenüber im gesellschaftlichen Leben erleidet, durch sein holistisches Verstehen, das ihn zum universellen „Weltentwurfsbestätiger“ macht.19

16  17 

18 

19 

Schlegel, Lucinde (Anm. 14), S. 92. Emilie aus Tiecks William Lovell sieht diese konsequente Entwicklung in Karls Lebensgeschichte und seiner jetzigen Erscheinung (siehe Ludwig Tieck, William Lovell, herausgegeben von Walter Münz, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1986 (= Reclams UniversalBibliothek 8328), S. 229). Im Brentano-Roman Godwi hat die Geliebte Otilie sogar so viel gestalterische Kraft, dass Godwis „ganzes verflossenes Leben […] in ungestalten, farblosen Massen hinter“ ihm liegt (Clemens Brentano, Godwi oder das steinerne Bild der Mutter, herausgegeben von Ernst Behler, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1995 (= Reclams Universal-Bibliothek  9394), S. 129), während die Zukunft, die von seiner Liebe und Geliebten bestimmt wird, klar vor seinen Augen steht: „Vor mir wird alles so deutlich, so groß im Kleinsten“ (ebd., S. 129). Zu diesem Begriff siehe Elke Reinhardt-Becker, „Liebe als Roman? Skizzen zu ihrer Semantikgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Frank Becker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien, Frankfurt am Main und New York: Campus 2004 (= Campus Historische Studien 37), S. 246–277, hier S. 247.

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12 Die romantische Liebe und ihre Folgen …

II

Realgeschichtliche Folgen – Das Spannungsfeld von Ideal und Wirklichkeit

Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive ist schon mehrfach angemerkt worden, dass dieses Modell keineswegs mit Notwendigkeit emanzipatorisch wirken musste. Dass die Voraussetzung für wechselseitiges Verstehen eine Gleichheit der Bildung und der Lebenserfahrung sein müsse, war nur eine mögliche Schlussfolgerung; sie wurde schon von einigen Paaren der romantischen Bohème gezogen, die ihre Liebe auf identische künstlerische Interessen, ja denselben künstlerischen Beruf gründeten. Als Beispiele seien neben Friedrich und Dorothea Schlegel sowie Sophie Mereau und Clemens Brentano auch Percy und Mary Shelley genannt. Außerhalb der Sphäre der Kunst waren solche Verbindungen jedoch kaum denkbar, da die bürgerlichen Ausbildungsberufe den Frauen noch lange verschlossen blieben.20 Allenfalls bei der schöngeistigen Bildung konnten die Frauen mithalten, ja die Männer sogar in den Schatten stellen. Gerade dieses Wissen, das die historisch-hermeneutische Schule des 19. Jahrhunderts zu einem Wissen um den Menschen und seine seelischen Regungen machte, war aber funktional für eine verstehensorientierte Partnerschaft. Trotzdem wies die Romantik nicht immer den Weg zu einer Anähnelung von Mann und Frau, wie sie Ann-Charlott Trepp für das Hamburger Bürgertum gezeigt hat: zu größerer Sensibilität bei den Männern und vermehrter Selbständigkeit bei den Frauen.21 Vielen – vor allem bürgerlichen – Männern erschien als ideale Geliebte vielmehr die sogenannte Naturfrau, die sich aus der Gesellschaft zurückzog und ihr Sinnen und Trachten, unterstützt von schöngeistiger Bildung, ganz auf das Verstehen ihres Mannes – und die Erziehung der Kinder – richtete;22 zudem kam sie ganz profan ihren Pflichten als Hausfrau nach.23 Ob sie selbst verstanden wurde, stand auf einem anderen Blatt. 20  21  22 

23 

Deswegen wurde die Partnerwahl für die Frauen im 19. Jahrhundert lebensentscheidend. Siehe Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (Anm. 1), S. 49. Siehe Anne-Charlott Trepp, „Sanfte Männlichkeit“ und „selbständige Weiblichkeit“. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 284–315 und S. 400. Der Lebenskreis der Handwerkerfrauen im Biedermeier war noch nicht auf das Haus beschränkt, da sie weiterhin in den arbeitsteiligen Prozess eingebunden waren und z. B. mit den Marktfrauen oder Knechten verhandelten (siehe Ingeborg Weber-Kellermann, Frauenleben im 19. Jahrhundert. Empire und Romantik, Biedermeier, Gründerzeit, München: C. H. Beck 1993, S. 48). Sie ließen sich also nicht so leicht zur Naturfrau stilisieren. Vgl. auch Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866 (Anm. 1), S. 115–116. Dazu exemplarisch Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (Anm. 1), S. 14 und S. 154 f.; Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft  2009 (= Geschichte kompakt), S.  30 f.; Weber-Kellermann,

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Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Frauen des Bürgertums zur Naivität erzogen, um künstlich beinahe in einem kindlichen Zustand zu verbleiben. Die Welt wurde ihnen durch ihre Väter und Ehemänner vermittelt.24 Diese Modelle wurden schon von der literarischen Romantik vorbereitet, die jedoch noch drei verschiedene Ideen für die Konstruktion der Geschlechterdifferenz kennt. Die erste schließt direkt an die romantische Liebe an, die, um einen vorläufigen systemtheoretischen Befund zu formulieren, mit der Vorstellung einer Funktionsäquivalenz zwischen Religion und Liebe verbunden ist. Es geht also um die Funktion von Liebe in einer säkularisierten Gesellschaft. Hier werden den Frauen und den Männern ihre Rollen in Form von religiösen Metaphern zugeschrieben: die Frau als Engel,25 der Mann als Priester. Und in dem Begriff der Metapher deutet sich schon ein zweiter, konkurrierender Befund an, der die religiösen Symbole als Interdiskurs26 beschreibt.27 Der religiöse Interdiskurs stellt den Bildraum bereit, um die neue Funktion der Liebe, Herstellung von Identität und Orientierung in der Welt, sichtbar werden zu lassen. Das zweite und dritte Modell bereiten dann viel konkreter bestimmte Partnerschaftskonzepte vor, die aus der historischen Distanz heraus als einander ablösende beschrieben werden können. Das erste Modell ist weniger utopisch als das zweite, hat aber heute kaum noch Bedeutung. Das zweite, vornehmlich von den Schriftstellerinnen geprägte Modell ist also für den

24  25 

26 

27 

Frauenleben im 19. Jahrhundert (Anm. 22), S. 49 und Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1989, S. 345–347. Vgl. Weber-Kellermann, Frauenleben im 19. Jahrhundert (Anm. 22), S. 100. Die Engelsmetaphorik spielt auch im französischen Liebesdiskurs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Siehe Alain Corbin, „Intimität und Vergnügen im Wandel“, in: Philippe Ariès und Georges Duby (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens 4: Von der Revolution zum großen Krieg, herausgegeben von Michelle Perrot, Frankfurt am Main: S. Fischer 1992, S. 515–577, hier 536–538. Der Begriff Interdiskurs wurde von dem Literaturwissenschaftler Jürgen Link geprägt, der damit an die Diskurstheorie Michel Foucaults anschließt. Link geht davon aus, dass es in der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft der Moderne immer schwieriger wird, Wissen über sämtliche Handlungsfelder zu erwerben. Deswegen haben sowohl Spezialisten, als auch Laien Probleme, sich miteinander zu verständigen. Der Interdiskurs übernimmt nun die Aufgabe, zwischen den verschiedenen Spezialdiskursen zu vermitteln, indem er einen Bildraum bereit stellt, auf den jeder Spezialdiskurs per Analogie bezogen werden kann. Dadurch wird die Verständigung erleichtert bzw. überhaupt erst ermöglicht. Siehe Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? (Anm. 2), S. 136–146.

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12 Die romantische Liebe und ihre Folgen …

gesellschaftsevolutionären Ausdifferenzierungsprozess vom Standpunkt einer funktional differenzierten Gesellschaft aus betrachtet fruchtbarer gewesen.28 Ein glühender Vertreter des Naturfrauenideals – also des ersten Modells – ist übrigens Clemens Brentano, was nicht wenig paradox ist, vertritt seine Frau Sophie doch die gegenteilige Position. Er wünscht sich – zumindest in seinem Roman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter von 1801 – für seinen Helden die Heilung von Identitätsproblemen durch die liebende Frau. Dies bietet sich an, denn anders als die Männer bleiben die meisten Frauen von den Folgen der beginnenden funktionalen Differenzierung weitgehend verschont.29 Die Frauen verbleiben im Haus und spüren insofern nicht das radikale Auseinanderfallen von privatem und öffentlichem Raum.30 Das Ich der Frau ist noch nicht zerstückt und fragmentiert, es ist noch ganz und harmonisch. Diese Ganzheit und damit auch ‚Gesundheit‘ von Otiliens Ich ist für Godwi ein wichtiger Grund, sie zu lieben: Tilien liebe ich, weil sie so [gesund] ist, denn die Gesundheit allein ist liebenswürdig. Sie war nie anders, sie ist nie so geworden, und wird nie anders werden. Sie ist so, und ewig so. Sie schafft sich ewig selbst, und weiß es nicht. Jede Minute ihrer Schönheit wird durch sie, und sie ist das Kind jeder Minute ihrer Schönheit. Wie die Liebe ihren Busen hebt, so ist ihr Busen das göttliche Gefäß ihres liebenden Herzens. 28 

29 

30 

Diese Verschiedenheit der Geschlechtermodelle und damit die Relativierung der Gleichheit von Mann und Frau werden in der Romantikforschung oftmals übergangen. Dort wird einseitig der emanzipatorische Aspekt der romantischen Geschlechterdifferenzierung betont, wie bei Huch, Mann, Dischner und Behler. Bei diesen Autoren wird die Geschlechtsverschiedenheit zur reinen Äußerlichkeit (Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall, Tübingen: Rainer Wunderlich  1951 (= Die Bücher der Neunzehn  112), S.  190 f. und Otto Mann, Der junge Friedrich Schlegel. Eine Analyse von Existenz und Werk, Berlin: Junker & Dünnhaupt 1932 (= Neue Forschungen. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker 16), S. 235), die Frauengestalten werden als gleichberechtigt (Gisela Dischner, Friedrich Schlegels Lucinde und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs, Hildesheim: Gerstenberg 1980, S. 14 f. und S. 16) und ebenbürtig interpretiert (Ernst Behler, Frühromantik, Berlin und New York: Walter de Gruyter 1992 (= Sammlung Göschen 2807), S. 229). Siehe Karin Hausen, „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart: Klett-Cotta 1976 (= Industrielle Welt. Schriften des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte  21), S. 363–393; Weber-Kellermann, Frauenleben im 19. Jahrhundert (Anm. 22), S. 96 f. Dieses Auseinanderfallen von öffentlichem und privatem Raum, von „Erwerbs- und Familienleben“ lässt neue Geschlechterrollen als notwendig erscheinen, welche den „Mann für den öffentlichen, die Frau für den häuslichen Bereich [als] von Natur aus prädestinier[en]“ (Hausen, „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“ (Anm.  29), S. 367).

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Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker Aeußere Dinge bestimmen sie nur, in sofern sie in die unwandelbare treue Folge der Lebensaussprache tritt, in deren Sittewechselnden [sic] Bildungen sie eine wunderbar ehrwürdige Urgeberde geblieben ist.31

Die Gesundheit Otiliens resultiert aus der Unwandelbarkeit ihres Ichs. Wird das romantische Subjekt stets von äußeren Ereignissen und neuen Gedanken fortgerissen, wechselt sein Ich täglich seine Gestalt, sind seine gestrigen Lebensäußerungen die eines Toten, (denn dieses gestrige Ich existiert schon nicht mehr),32 so ist Otilie ewig gleich und unveränderbar. Zudem ist sie fähig, ihre eigene Identität selbstreferenziell zu konstituieren. Durch sie hofft Godwi, den Lady Hodefield als einen „Spiegel der trübbarsten und beweglichsten Fluth, und nichts als einen Spiegel“33 bezeichnet, dem „die Welt“, [die] vor ihm liegt […], aus den Augen [sieht]“,34 von seinem unsteten Wesen geheilt zu werden. Und in einem Brief an seinen Freund Römer berichtet Godwi von dieser Heilung, die ihm ein „reines kunstloses Weib“35 gewährte: „Sie hat alle Krankheiten einer Welt in mir geheilt, die sie nicht kannte“.36 Otilie kennt die Welt nicht, und damit hat sie einiges gemeinsam mit anderen idealen Geliebten. Um diesem Ideal nahe zu kommen, kann es sogar zum Erziehungsziel werden, den Mädchen durch den Schutz vor der Welt ihre Ganzheit zu bewahren.37 Vor allem die Literatinnen waren es dann, die dieser Vorstellung von konsequenter Häuslichkeit ein anderes Geschlechtsrollenmodell entgegensetzten: Sie propagierten die unabhängige, emanzipierte Frau. Vor allem in den Texten Sophie Mereau-Brentanos ist die Freiheit und Gleichberechtigung der Frau ein wichtiges Thema.38 In dem Roman Das Blütenalter der Empfindung fordert die Protagonistin Nanette die „gleiche[n] Rechte mit dem Manne, den

31  32  33  34  35  36  37  38 

Brentano, Godwi (Anm. 18), S. 158. Vgl. Siehe Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? (Anm. 2), S. 73–76. Brentano, Godwi (Anm. 18), S. 97. Ebd. Ebd., S. 133. Ebd. Weitere Beispiele siehe Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? (Anm.  2), S. 141–146. Siehe Hammerstein, „‚In Freiheit der Liebe und dem Glück zu leben‘“ (Anm. 7), S. 262. Jacqueline Vansant weist darauf hin, dass Sophie Mereau-Brentano von ihrer Heldin Amanda verlangt, dass sie „nicht nur das Objekt der Liebe sein soll, sondern auch ein Subjekt in der Liebe“ (Jacqueline Vansant, „Liebe und Patriarchat in der Romantik. Sophie Mereau Amanda und Eduard“, in: Sylvia Wallinger und Monika Jonas (Hrsg.), Der Widerspenstigen Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Innsbruck: Institut für Germanistik 1986 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 31), S. 185–200, hier S. 197).

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12 Die romantische Liebe und ihre Folgen …

sie lieben wollte“.39 In der Liebesbeziehung zu dem namenlosen Icherzähler des Romans findet sie diese Gleichberechtigung, ist sie ein freies Wesen neben dem geliebten Mann40 und setzt sich gegen die Beschränkungen der Gesellschaft, hier: die Pläne des Bruders durch, der sie zur Mätresse eines kirchlichen Würdenträgers machen wollte. Die Gleichheit von Mann und Frau41 beschränkt sich natürlich nicht nur auf das Recht der freien Wahl des Partners und das Recht auf ein Liebesleben vor der Ehe,42 sondern umfasst auch das Recht, vom Mann dieselbe Heilung von der Liebe zu erfahren, die man auch ihm selbst gewährt. So beginnt für Agnes von Lilien aus Caroline von Wolzogens gleichnamigem Roman der Frühlingsmorgen ihres Lebens erst durch die Liebe zu Nordheim43 – diese Liebe lässt sie ihr eigentliches Wesen erkennen;44 auch Amanda aus Sophie Mereaus Briefroman Amanda und Eduard entdeckt das verlorene Paradies in der Liebe zu Eduard.45 Frauen, für die ein solcher Anspruch auf Heilung wichtig werden könnte, sind arbeitende Frauen, die den Folgen der funktionalen Differenzierung direkt ausgesetzt sind. Gegen den allgemeinen Trend der Zeit begegnen uns 39  40  41 

42  43  44  45 

Sophie Mereau-Brentano, „Das Blütenalter der Empfindung“, in: dies., Ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt. Gedichte und Erzählungen, herausgegeben und kommentiert von Katharina von Hammerstein, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 42. Siehe Mereau-Brentano, „Das Blütenalter der Empfindung“ (Anm. 39), S. 43. Eine solche Rechtsgleichheit ist natürlich nur ein literarisches Phänomen. Die gesellschaftliche Realität ist eine andere und wird auch von der Rechtsprechung abgebildet. Das  1794 erlassene „Allgemeine Preußische Landrecht“ sagt an einschlägiger Stelle: „Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder“ (Allgemeines Preußisches Landrecht, Teil II Tit 1 § 1, zit. n. Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Tübingen: Max Niemeyer  1966, S.  150). Die Frau ist als Ehefrau und Mutter definiert. Sie ist dazu angehalten, den Haushalt zu führen. „Die Pflichten der Frau als Mutter werden ausführlich beschrieben, und es wird betont, dass die ‚körperliche Pflege und Wartung, solange die Kinder deren bedürfen, die Mutter selbst oder unter ihrer Aufsicht besorgen‘ muß […]. Das Gesetz regelt sogar, wie lange die Mutter stillen soll, nämlich so lange wie der Vater das bestimmte [sic]“ (Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1989, S. 60). Vgl. Sophie Mereau-Brentanos Erzählung „Flucht nach der Hauptstadt“, in: dies., Ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt (Anm. 39), S. 203 ff. Siehe Caroline von Wolzogen, Agnes von Lilien. 1. Teil, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1798 mit einem Nachwort von Peter Boerner, Hildesheim, Zürich und New York: Georg Olms Verlag 1988, S. 416. Siehe Wolzogen, Agnes von Lilien, S. 66 f. Siehe Sophie Mereau-Brentano, „Amanda und Eduard“, in: dies., Das Blütenalter der Empfindung (Anm. 7), S. 86.

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solche selbständig arbeitenden Frauen in Agnes von Lilien, die sich nach Unabhängigkeit sehnt und die Kunst der Porträtmalerei als reine Brotkunst erlernt,46 in Mereaus Figur Marie, die ihren Geliebten Seeberg verlässt und Schauspielerin wird,47 oder in Lucinde, die schon Malerin ist, als Julius sie kennen lernt.48 Mit dieser Figurenzeichnung ist Friedrich Schlegel die Ausnahme unter seinen männlichen Kollegen. Er porträtiert in Julius und Lucinde ein Paar, das sich aber nicht nur in der Tätigkeit als Maler ähnlich ist; sie haben auch beide eine ‚Vergangenheit‘: „Sie sei schon Mutter gewesen von einem schönen starken Knaben, den ihr der Tod bald wieder entrissen […], gestand sie (ihm) nicht ohne gewaltsame Erschütterung“49 – eine Beichte, die Julius nicht pikiert, sondern nur an seine eigene Vergangenheit denken lässt. In der Liebe entwickeln die beiden dann wechselseitig ihr Wesen.50 Ob Lucinde ihr Ich, ihre Heilung erst durch Julius erfährt, bleibt jedoch durch die Monoperspektivität des Textes offen. Ein bestimmter Hinweis spricht dagegen: Julius geht davon aus, dass Lucinde der Liebe nicht bedarf, um sich als ein ganzes Wesen zu empfinden, denn die Frauen bleiben „mitten im Schoß der menschlichen Gesellschaft Naturmenschen“.51 Bei allen emanzipatorischen Aspekten in der Lucinde wird 46  47  48  49  50  51 

Siehe Wolzogen, Agnes von Lilien, S. 149 f. „In dieser selbsterworbenen freien Existenz fühlte sie sich, wenn doch nicht beglückter, doch ruhiger, als je“ (Mereau-Brentano, „Marie“, in: dies., Ein Glück, das keine Wirklichkeit umspannt (Anm. 39), S. 79 f.). Schlegel, Lucinde (Anm. 14), S. 90. Ebd., S. 92. Ebd., S. 97. Ebd., S.  94. Diese Textstelle könnte ein Hinweis auf ein eher konservativ orientiertes Frauenbild in Schlegels Roman Lucinde sein, welches die Frau wieder nur einseitig zur Heilerin des Mannes erklärt: Eine Einschätzung, die in Kontrast zu den emanzipatorischen Aspekten des Romans steht. Diese Widersprüchlichkeit führt in der Forschung zu gegensätzlichen Positionen. Der Roman wird entweder als Kampfschrift für die Emanzipation der Frau gelesen (Dischner, Friedrich Schlegels Lucinde (Anm. 28), S. 14 f.; Behler erkennt in der Lucinde den Ursprung für eine neue Sehweise der Frau in der Liebe, sie ist dem männlichen Liebespartner absolut ebenbürtig; siehe Behler, Frühromantik (Anm. 28), S. 229), oder als willkürlicher Akt einer Männerfantasie, der den Frauen eine anstrengende Beschäftigung zum Wohle des Mannes anweist. Siehe Henriette Beese, „Lucinde oder die neue Liebesreligion“, in: Alternative 143/144 (1982), S. 89–100, hier S. 90; Eva Domoradzki, „Und er erschuf die Frau nach seiner Sehnsucht. Zum Weiblichkeitsentwurf in Friedrich Schlegels Frühwerk unter besonderer Berücksichtigung des Romans Lucinde“, in: Wallinger und Jonas (Hrsg.), Der Widerspenstigen Zähmung, (Anm. 38), S. 169–184, hier S.  169 ff. und 184; Vansant, „Liebe und Patriarchat in der Romantik“ (Anm.  38), S.  197). Eine differenzierte Sicht auf das Problem der Un-/Gleichheit von Julius und Lucinde legte jüngst Matthias Bickenbach vor; siehe Matthias Bickenbach, „Friedrich Schlegels Lucinde und das Problem romantischer Liebe“, in: Christof Hamann und Filippo Smerilli

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die Frau hier doch in einseitiger Weise zur Heilerin des Mannes. Sie scheint eine besondere Natur zu haben und ist gegen die veränderten Bedingungen in der Gesellschaft resistent. Das weibliche Geschlecht wird zu einer Kategorie, die von sozialen Veränderungen nicht beeinflusst wird. Der Mann als Kulturwesen hingegen ist den gesellschaftlichen Umbrüchen machtlos ausgeliefert. Die von den Romantikerinnen vorgestellte Rollenverteilung von Mann und Frau in der romantischen Liebesbeziehung verweist schon auf die Probleme bei der Realisierung des romantischen Modells, wenn man so will: bei seiner gesellschaftlichen Durchsetzung, denn die Ungleichheit der Geschlechter durchzieht noch das gesamte 19. Jahrhundert. Zudem ist es kein Geheimnis, dass auch im 19. Jahrhundert noch arrangierte Ehen geschlossen wurden52 – übrigens auch Ursache für viele dramatische Verwicklungen in der romantischen Literatur.53 Realhistorisch bürgerte es sich erst seit der Jahrhundertmitte in der Mittelschicht ein, in den angelsächsischen Ländern früher als in Kontinentaleuropa, den frei geäußerten, auf Emotionen reflektierenden Willen der Brautleute zur Grundlage einer Eheschließung zu machen. Auch wenn die heiratswilligen Männer noch bei den Eltern ihrer Auserwählten um deren Hand anhalten mussten – die Eltern hatten ihrerseits die Pflicht, die Meinung ihrer Töchter zu hören.54 Aufgezwungene Ehen machten nun Skandal, sie schienen per se zum Unglück verdammt zu sein. Die alte christliche Vorstellung, dass die Liebe in der Ehe entstehen könne und müsse, dass es den Eheleuten geradezu zur Aufgabe gemacht werden könne, diese Liebe zu entwickeln, hatte weitgehend ausgedient. Den stärksten Gegensatz zu einer arrangierten Ehe bildete eine durch den Zufall herbeigeführte Partnerschaft. Prompt hatten die den Regeln der Romantiker Folgenden den Zufall zum Ursprung jeder Liebesbeziehung erklärt. Bei zufälligen Begegnungen verliebten sich die Partner ineinander, erlebten sie die schicksalhafte Initialzündung einer Liebe, der sie künftig folgen mussten, um ihr Lebensglück zu sichern. Trotzdem versuchten die Eltern oft den Zufall zu kontrollieren, indem sie Orte

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(Hrsg.), Sprachen der Liebe in Literatur, Film und Musik. Von Platons „Symposion“ bis zu zeitgenössischen TV-Serien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015 (= KONNEX. Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur 8), S. 125–150, hier S. 135. Gerade im Wirtschaftsbürgertum spielte die Einheirat in eine gute Familie eine große Rolle, um den Kreis derjenigen, mit denen man privat UND geschäftlich verkehrte, zu erweitern (siehe Budde, Blütezeit des Bürgertums (Anm. 23), S. 28 f.). Siehe Siehe Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? (Anm. 2), S. 162–172. Vgl. Budde, Blütezeit des Bürgertums (Anm.  23), S.  26 f. Zum fehlenden Zwang bei der bürgerlichen Eheschließung siehe auch Gunilla Budde, „Wohltemperierte Begierden. Bürgerliche Vorstellungen von Liebe und Leidenschaft um 1900“, in: Ortrud Gutjahr (Hrsg.), Theater und Universität im Gespräch: Reigen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 83–94, hier S. 92.

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des Kennenlernens wählten, „die sozial und kulturell distinkten Gruppen vorgehalten waren.“55 Die bürgerliche Tochter lernte mögliche Heiratskandidaten im elterlichen Hause, bei einem Kuraufenthalt oder einer Bildungsreise kennen,56 für Frauen niederer Schichten war der begleitete Jahrmarktsbesuch eine übliche Lokalität,57 an der der Zufall wirken konnte. Es ging um eine Verbindung von Rationalität und Emotion. Peter Gay kommentiert dies wie folgt: Am sichersten war es, sich mit einem voraussichtlichen Lebenspartner emotional einzulassen, der strengsten Ansprüchen genügte. Geregelte romantische Bindungen, im eigenen Kreis eingegangen oder nur geringfügig über ihn hinauszielend, hatten am wenigsten mit dem strikten Veto der Familie zu rechnen.58

Trotz dieser Fremd- und Selbstkontrollversuche geriet die Macht der Liebe häufig mit den weltlichen Mächten der politischen und ökonomischen Interessen in Konflikt; Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts haben davon viele dramatische Stoffe bezogen. Die Literatur war ohnehin das Medium, das den Siegeszug des romantischen Modells im 19. Jahrhundert maßgeblich beförderte. Schlegels Lucinde bildete nur den spektakulären Auftakt für eine lange Reihe von Romanen, die romantische Liebesbeziehungen vorführten und zu ihrer Nachahmung einluden. Die grenzüberschreitende Lektüre dieser Romane – man denke nur an den Erfolg von Charles Dickens in den USA oder die Popularität der skandalumwitterten französischen Romanciers in der gesamten Lesewelt – sorgte dafür, dass sich die kulturellen Standards innerhalb der Bildungsschichten von Russland bis in die USA immer stärker anglichen.59 Dazu trugen auch spektakuläre Liebesbeziehungen bei – Lord Byron und Caroline Lamb, George Sand und Alfred de Musset, Richard Wagner und Cosima von Bülow –, die über die Ländergrenzen hinweg diskutiert und für viele Rezipienten zu Modellen für ihr eigenes Verhalten wurden.60 Zusätzlich brachte die Medienrevolution des 19. Jahrhunderts eine breit gefächerte Zeitschriftenliteratur hervor, die mit 55  56  57  58  59  60 

Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (Anm. 1), S. 51. Siehe Budde, Blütezeit des Bürgertums (Anm. 23), S. 27 f. Ebd. Gay, Die zarte Leidenschaft (Anm. 1), S. 102. Zur Rolle der Erzählliteratur vergleiche auch Gay, Die zarte Leidenschaft (Anm. 1), S. 101 und S. 104 f. Verklärende Biografien über große Liebende wurden im 19. Jahrhundert ein populäres Genre. Sie verbreiteten „die willkommene Kunde, daß Liebe erreichbar ist, daß sie aufregend sein sollte und daß sie sogar den disziplinierenden Zwang und den Alltagstrott der Ehe überstehen kann“ (Gay, Die zarte Leidenschaft (Anm. 1), S. 121).

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ihren Fortsetzungsromanen, Gedichten und Bildern auf die Vorstellungswelt des Publikums Einfluss nahm. Die romantische Gefühlswelt, die dort propagiert wurde, sorgte im Leben der Leserinnen und Leser allerdings bisweilen auch für Verheerungen. Dort, wo immer noch arrangierte Ehen geschlossen wurden, machte die Lektüre nun den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit schmerzlich sichtbar. Wer auf Romantik nicht verzichten wollte, wurde anfällig für den Ehebruch. Der realgeschichtlich gleitende Übergang von den Vernunft- zu den Liebesehen drückte sich im kollektiven Imaginären in der Ehebruchsfantasie aus; der Ehebrecher zeigte, wie unzulänglich die alte Heiratspraxis war und bewies gleichzeitig, dass gegen die Macht der Liebe ohnehin nicht anzukommen war. Die großen Ehebruchsromane des 19. Jahrhunderts spielten virtuos auf dieser Klaviatur. Tolstois Anna Karenina, Fontanes Effi Briest, Flauberts Madame Bovary, Clarins Präsidentin, Queiroz’ Vetter Basilio – sie alle zeigten Frauen, die sich in (Versorgungs-)Ehen mit zumeist deutlich älteren Männern langweilten und in der Folge außereheliche Verbindungen eingingen. Interessant ist dabei die Rolle, die der Literatur zugeschrieben wird: Madame Bovary, Luiza aus Vetter Basilio und die Präsidentin Dona Ana sind leidenschaftliche Leserinnen. Es ist offensichtlich, dass die Lektüre allzu vieler Romane ihre Sinne verwirrt hat und sie gerade deshalb zum willfährigen Opfer eines geschickten Verführers werden, der die Codes der romantischen Liebe strategisch einzusetzen weiß. III

Die Rolle der Sexualität

Zu den revolutionären Veränderungen, die das romantische Liebesideal mit sich gebracht hatte, gehörte auch eine grundlegende Neubewertung der Sexualität. Die Romantiker stilisierten sie zu einer intersubjektiven Erfahrung von äußerster Intensität, die dazu dienen könne – und müsse –, die auf wechselseitigem Verstehen basierende Intimbeziehung zweier Liebender zusätzlich zu stabilisieren. Wie eine „unio mystica“ ließ der Geschlechtsakt die Liebenden, die sich schon durch ihre Verstehenskommunikation, durch die permanente wechselseitige Perspektivübernahme denkbar nahe kamen, endgültig zu einer Einheit verschmelzen. In Friedrich Schlegels von den Zeitgenossen nicht umsonst skandalisiertem Roman Lucinde wird dies wie folgt dargestellt: O so laß mich dich die Schläge deines Herzens lauschen [sic], die Lippen in dem Schnee des Busens kühlen!…. Kannst du mich wegdrücken? Ich werde mich

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Frank Becker und Elke Reinhardt-Becker rächen. Umarme mich fester, Kuß gegen Kuß; nein! nicht mehre, einen ewigen. Nimm meine Seele ganz und gib mir deine!… O schönes herrliches Zugleich!61

Hier findet sich ein eindeutiger Hinweis darauf, warum der körperliche Vollzug der Liebe zur romantischen Liebe dazugehören kann und muss. Sinnlichkeit ist nicht nur das „Gefühl des Übergehens eines anderen Wesens und seines Genusses in mich und den meinigen“,62 wie es Godwi in Brentanos Bildungsroman beschreibt – es ist nicht nur der Genuss, der sich vermischt, sondern es sind auch die Seelen. Friedrich Schleiermacher konkretisiert diese Idee in seinen Vertrauten Briefen über die Lucinde: „In den höchsten Momenten der Liebe ist das Vertauschen des Bewußtseyns, das gänzliche Hineinversetzen in den Andern das Höchste und Nothwendigste.“63 Zur körperlichen Vereinigung gehört notwendig die geistige Vereinigung. Sie zieht diese geradezu nach sich. So bei Brentano, wenn Godwi ein Mädchen so lange küsst, dass es „kein Kuß [war], der sich getreu blieb, er verweilte so lange, daß die Gemüther sich wechselten.“64 Im rauschhaften Zustand des Kusses bzw. der Sexualität erlebt der Liebende nicht nur die sinnlichste Seite der Liebe, sondern auch ihre geistigste. Fast erscheint es so, als wäre auch die geistige Einheit nie stärker spürbar als während des körperlichen Aktes. Sie erfährt darin geradezu ihre höchste Steigerung: „Es ist alles in der Liebe: Freundschaft, schöner Umgang, Sinnlichkeit und auch Leidenschaft; und es muß alles darin sein, und eins das andre verstärken und lindern, beleben und erhöhen.“65 Wenn die Körper eins sind, wird die Einheit der Geister fühlbar. Die diffuse Intimkommunikation, die sich in den Texten oft in sprachlosen Blicken zeigt, wird durch die Begegnung der Körper ergänzt. Diese Verortung der Sexualität im Kern der Liebesbeziehung unterschied sich kategorial vom christlichen Eheverständnis, das zwar ebenfalls die Sexualität auf die Ehe beschränkt sehen wollte, ihr aber keine sonderliche Erlebnisqualität, ja konstitutive Bedeutung für die seelische Verbindung der Eheleute zuerkannte. Im Gegenteil: Je stärker es seine Sexualität auf ihre biologische Funktion der Zeugung von Nachwuchs reduzierte, desto näher kam ein Ehepaar dem christlichen Ideal. Vor dem Hintergrund der sozialkulturellen Gegebenheiten, die die Romantiker im späten 18. Jahrhundert vorfanden, erscheint ihr Konzept wie ein umfassendes Integrationsmodell. In 61  62  63  64  65 

Schlegel, Lucinde (Anm. 14), S. 54. Brentano, Godwi (Anm. 18), S. 21. Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über die Lucinde, Stuttgart: In Commission der Christ. Hausmann’schen Antiquariatsbuchhandlung 1835, S. 101 f. Brentano, Godwi (Anm. 18), S. 464. Schlegel, Lucinde (Anm. 14), S. 61.

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der Ehe, so die zuvor bestehende Ordnung, wurde gemeinsam gewirtschaftet; sie beschrieb den sozialen Status und bot den Rahmen für die Aufzucht der Kinder; wechselseitiges Verstehen war Ziel der Herzensfreundschaften, die seit der Empfindsamkeit kultiviert wurden; sexuelle Leidenschaft war kurzen Begegnungen vorbehalten und musste nicht auf den Prüfstand einer lang währenden Partnerschaft gestellt werden. In der romantischen Liebe sollte all dies zusammenfließen: Die Partner sollten gemeinsam wirtschaften, sei es in einer bürgerlichen Ehe, sei es in einer so genannten Naturehe ohne Trauschein, sie sollten eine emphatische Freundschaft pflegen und sich leidenschaftlich begehren.66 Schon einigen Zeitgenossen und Literaten dämmerte, dass Liebe und Ehe hier mit Ansprüchen befrachtet wurden, denen die Wirklichkeit nur schwer, zumal über größere Zeiträume hinweg, standhalten konnte. So wird Luiza aus Queiroz’ Ehebruchsroman Vetter Basilio zur Ehebrecherin, obwohl sie ihren Mann Jorge durchaus liebt; sie schwärmte nämlich schon vor der Eheschließung für ihn und mochte es, für ihn zu sorgen. Aber die Langeweile des Ehealltags und Jorges lange beruflich bedingte Abwesenheit lassen sie ihre alte Jugendliebe Basilio in allzu verführerischem Licht erscheinen. Möglicherweise hatte die Trennung der Sphären, die zuvor Usus war, von größerer Lebensklugheit gezeugt. Das romantische Ideal war nun aber in der Welt, und eine stetig wachsende Zahl von Menschen eiferte ihm nach: sich zu verlieben in ein Gegenüber, das einem der Zufall zugeführt hatte, und mit dem man eine innige geistige wie körperliche Beziehung aufbaute, die sich gleichzeitig im Alltag bewährte. Das Glücksversprechen, das von dieser Utopie ausging, in einem Menschen alles zu finden, war so eminent, dass die Liebe zu einem Höchstwert avancierte, dass ein fast schon religiöse Züge annehmender Kult um sie betrieben wurde. In manchen der Briefe und Tagebücher von Männern und Frauen aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts, die Peter Gay erschlossen hat, wird etwas sichtbar von dem Paradies, dessen Pforten offen standen, wenn sich eine romantische Liebe verwirklichen ließ.67 Wenn das Ideal, was weit häufiger geschah, verfehlt wurde, indem das Verstehen dem Desinteresse und das Begehren der Kälte wich, war die Enttäuschung 66  67 

Siehe Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? (Anm. 2), S. 154–176. Der Briefwechsel des Ehepaares Alfred und Emma Roe (verh. von 1860 bis zum Tod 1901) ist ein Beispiel für diese um die körperliche Liebe erfolgreich bereicherte Seelengemeinschaft. Siehe Gay, Die zarte Leidenschaft (Anm. 1), S. 131–138. Zum Ideal einer glücklichen Verbindung körperlicher und geistiger Liebe im Bürgertum siehe ebd. S. 124–130. Auch Corbin geht davon aus, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts „ein neuartiges erotisches Einvernehmen“ – auch in der Ehe – möglich wird (siehe Corbin, „Intimität und Vergnügen im Wandel“ (Anm. 25), S. 562).

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allerdings umso größer – und wurde es umso schwieriger, gesellschaftlich akzeptierte Formen der Kompensation zu finden. Verstehensdefizite ließen sich noch über Freundschaften ausgleichen. Sexuelle Defizite aber, die nicht nur der Gewöhnung, sondern auch der Unaufgeklärtheit der zumeist jungen Ehefrau geschuldet waren,68 die in der Hochzeitsnacht oftmals einen Schock erlitt, der das weitere Eheleben beherrschte,69 führten in einen Teufelskreis: Gerade weil geschlechtliche Beziehungen in den bürgerlichen Schichten exklusiv der romantischen Liebe vorbehalten sein sollten, konnten sie innerhalb der eigenen Gesellschaftsschicht nirgendwo angeknüpft werden – es sei denn, parallel zur Ehe begann eine neue Liebesbeziehung, die aber eine hohe soziale Sprengkraft besaß.70 Vor allem für die weibliche Ehebrecherin, die ohnehin der „Sexualisierungsstrategie des bürgerlichen Familialismus“ unterlag, durch den „jede nicht-familialistische Weiblichkeit als anormal ausgegrenzt und pathologisiert“ wurde,71 bot sich keine wirkliche Wahlmöglichkeit an. Der primäre Grund dafür, die sexuelle Erfüllung in der Ehe zu suchen, lag aber nicht in den fehlenden Alternativen, sondern darin, dass hier ein Glück zu winken schien, das man schmählich verriet und verwirkte, wenn man andere Wege beschritt. Die von der Romantik geprägten Menschen des 19. Jahrhunderts mussten nun selbst im Interesse ihres eigenen Lebensglücks wollen, was früher die strengen Vorgaben der Religion durchzusetzen versuchten: die

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Die bürgerlichen Mädchen, meist mehr als 10 Jahre jünger als ihre Ehepartner (vgl. Karin Hausen, „‚… eine Ulme für das schwankende Efeu‘. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeit im späten 18. und 19. Jahrhundert“, in: Ute Frevert (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Zwölf Beiträge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht  1988 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft  77), S.  104), gingen jungfräulich in die Ehe, während die Männer schon vorher Erfahrungen, meist mit Frauen niederen sozialen Ranges, gesammelt hatten. Vgl. ebd., S.  98 f.; auch Budde, „Wohltemperierte Begierden“ (Anm.  54), S.  85. Zum „Hang zum Küchenpersonal“ siehe auch Corbin, „Intimität und Vergnügen im Wandel“ (Anm.  25), S. 564 f. Dazu Corbin, „Intimität und Vergnügen im Wandel“ (Anm. 25), S. 553–557; Budde, Blütezeit des Bürgertums (Anm. 23), S. 29; sowie Wienfort, Verliebt, verlobt, verheiratet (Anm. 1), S. 107. Ist der Mann der Ehebrecher, ist die soziale Sprengkraft jedoch als geringer anzusehen, wird sein Seitensprung doch im Zuge der bürgerlichen Doppelmoral eher als ‚Kavaliersdelikt‘ bewertet. Siehe Budde, Blütezeit des Bürgertums (Anm. 23), S. 32. Ute Gerhard, „Die Masse als Weib. Kollektivsymbolische Verfahren als Strategien des politischen und literarischen Diskurses im 19. Jahrhundert“, in: Annegret Pelz, Marianne Schuller, Inge Stephan, Sigrid Weigel und Kerstin Wilhelms (Hrsg.), Frauen, Literatur, Politik. Dokumentation der Tagung in Hamburg im Mai 1986, Hamburg und Berlin: Argument 1988 (= Argument Sonderband 172/173), S. 145–153, hier S. 148.

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Fokussierung des Begehrens auf den einen und einzigen Lebenspartner.72 Aus dieser Perspektive gesehen fügt sich die Geschichte der Liebe im 19. Jahrhundert möglicherweise in jenen Disziplinierungsprozess ein, den Foucault zum Konstituens der europäischen Neuzeit erklärt hat: Ein Fremdzwang verwandelt sich in einen Selbstzwang; jene produktive Macht, die den Einzelnen diszipliniert, indem sie ihm suggeriert, die Anpassung an bestimmte Normen liege in seinem eigenen Interesse, sorgt dafür, dass der eheliche Geschlechtsverkehr alle anderen Formen von Sexualität beiseite drängt.73 Romantisch Liebende sind die Erfüllungsgehilfen eines Prozesses, der die Kleinfamilie zum einzigen Ort legitimer sexueller Betätigung macht. Philipp Sarasins Studien zur Körpergeschichte des 19. Jahrhunderts haben gezeigt, wie sehr diese Kanalisierung von Sexualität auch mit hygienischen Postulaten verknüpft war.74 Abweichende sexuelle Praktiken wurden nicht nur selbst pathologisiert,75 sondern auch zur Brutstätte von Krankheiten und Seuchen erklärt. Foucaults Interpretation der Moderne, mithin auch des 19. Jahrhunderts, als eines gigantischen Kerkers,76 mit der er dem gängigen Interpretament vom Fortschritt im Zeichen eines sukzessiven Zuwachses an Freiheit so effektvoll widersprochen hat, vermag in diesem Fall aber nur teilweise zu überzeugen. Sicherlich hatten die romantisch programmierten Individuen ein Interesse daran, den besonderen Erfahrungswert nicht zu beschädigen, den eine dem Liebespartner vorbehaltene Sexualität versprach. Andererseits war nicht zu übersehen, dass viele Menschen – und ihre Partnerschaften – durch diese Vorgabe massiv überfordert wurden. Bei den Frauen führte die Enttäuschung meistens zu Verweigerung und Abstinenz; den Männern wies sie den Weg ins 72 

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Eine mögliche Kälte der Frau wird von einer Reihe von Medizinern, z. B. Richard von Krafft-Ebing und Otto Adler, als natürlich und als Zeichen einer guten Erziehung beschrieben. Siehe Budde, „Wohltemperierte Begierden“ (Anm.  54), S.  89 f. Anscheinend will man die Ehemänner ‚trösten‘, gleichzeitig erhalten sie aber auch einen Freifahrtschein für sexuelle Libertinage, denn ihr Sexualtrieb sei ungleich ausgeprägter ist als derjenige ihrer Frauen (siehe ebd. S. 91). Siehe Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit  1 (1976), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 716). Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1524). Hierbei spielten auch die Werke der ersten Generation von Sexualwissenschaftlern eine große Rolle. Zu nennen sind beispielsweise Moll, Hirschfeld und Krafft-Ebing. Was vormals nur als amoralisch galt, wurde nun als pathologisches Verhalten gekennzeichnet. Siehe Corbin, „Intimität und Vergnügen im Wandel“ (Anm. 25), S. 560. Vgl. u. a. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 184).

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Bordell. Dort beschädigte der Bürger vielleicht seine Seele, erweiterte aber das Spektrum der für ihn zugänglichen körperlichen Genüsse.77 Auch im Hinblick auf die Hygiene bewirkte diese Praxis realiter das Gegenteil von dem, was die Romantik, mit Foucault gesprochen, bezweckte: Das Bordellwesen blühte im 19. Jahrhundert wie kaum je zuvor, und trotz der verschärften gesundheitspolizeilichen Überwachung blieb die käufliche Liebe der Quell grassierender Geschlechtskrankheiten.78 Möglicherweise trieb also die romantische Exklusivitätsforderung die Männer tatsächlich viel stärker in die Arme der Prostituierten, als es eine sozialkulturelle Norm getan hätte, von der Liebe und Sexualität von vornherein deutlicher getrennt worden wären. IV

Romantik als Konsum und Spiel

Die Freiheit bei der Partnerwahl, die es dem Zufall überlassen wollte, wann und wo sich Männer und Frauen ineinander verliebten, löste gegen Ende des 19. Jahrhunderts im bürgerlichen Milieu die traditionellen sozialen Formen der Anbahnung von Bekanntschaften mehr und mehr auf. Die privaten Einladungen und Geselligkeiten, die Salon, Musikzimmer und Gartenlaube zu den bevorzugten Begegnungsstätten der Geschlechter gemacht hatten, kamen aus der Mode, auch deshalb, weil der Umgang hier noch zu stark von den Familien, von Eltern und kupplerischen Tanten gesteuert und auch beobachtet werden konnte. In den USA begann um 1900 eine Entwicklung, die neue Foren für das Kennenlernen im öffentlichen Raum schuf. Eva Illouz hat in ihrer Studie über den Konsum der Romantik herausgearbeitet, wie sich in den Vereinigten Staaten zur Zeit der Jahrhundertwende ein neuer Wirtschaftszweig darauf verlegte, Restaurants und Tanzbars, Kinosäle und andere Freizeitstätten so zu gestalten oder umzugestalten, dass sie ideale Gelegenheiten für Rendezvous außerhalb des Gesichtskreises der Familie schufen. Der Preis dafür bestand allerdings in dem Zwang, das zugehörige Konsumangebot wahrzunehmen. Gleichzeitig verlegten viele Anbieter von Konsumartikeln ihre Werbestrategien darauf, diese Artikel in die Liebeskommunikation zu integrieren, sie vor allem zu Elementen jener Zeichensprache zu machen, welche die Phase der ersten Verliebtheit prägte, den Zeitraum also, mit dem die stärksten Glücksgefühle assoziiert wurden. Die willfährigen Verbraucher drückten ihre Gefühle nun durch den strategischen Einsatz von Geschenkund anderen Konsumartikeln aus, von denen sie wussten, dass ihre Images 77  78 

Vgl. Corbin, „Intimität und Vergnügen im Wandel“ (Anm. 25), S. 572 ff. Vgl. ebd., S. 552 f.

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allgemein bekannt waren, so dass die Botschaft vom Gegenüber auch verstanden werden würde. Die starke Rahmung der Begegnung der Geschlechter durch Konsumpraktiken hatte jedoch zur Folge, dass die Freiheit, die man den jungen Leuten gewährte, indem man sie aus der Obhut ihrer Elternhäuser herausführte, schnell in eine neue Unfreiheit mündete. Das finanzielle Niveau, auf dem jeweils konsumiert wurde, steckte neue soziale Kreise, in der Konsequenz auch Heiratskreise, ab. Die Frauen waren nach wie vor zur Passivität verdammt, weil die Einladung – ebenso wie das Aufkommen für Eintritt und Zeche – in der Hand des Mannes lag. Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich schon früher auf diesem Markt kennen gelernt hatten, weil die Wohnungen ihrer Eltern als Treffpunkte gar nicht in Frage kamen, sahen sich mehr und mehr verdrängt, seit die Kinder des Bürgertums dort ihre größere Kaufkraft zur Geltung brachten. Das ökonomische Prinzip, das traditionell die Eheschließungen bestimmt hatte und durch das romantische Postulat der freien Partnerwahl gerade überwunden werden sollte, fand also aufs Neue, wenn auch in gewandelter Form, Eingang in die Anbahnung der Partnerschaften.79 Die Verknüpfung der Liebe mit dem Konsum hatte aber auch noch andere Folgen. Der Konsumismus strahlte gleichsam von den Artikeln, die in die Liebeskommunikation eingebaut wurden, auf den Gegenstand ab, den sie umkreisten. Verliebtheit wurde zu einem Gefühl, das man gerne erleben wollte, so wie man auch nach anderen Genüssen strebte, die die schöne neue Konsumwelt anbot. Wurde es in der Partnerschaft, in der man lebte, nicht immer wieder neu entzündet, lag es nahe, auch außerhalb dieser Partnerschaft oder in einer ganz neuen Beziehung danach zu suchen. Das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg sah die erste große Scheidungswelle in den USA, und als Trennungsgrund wurde immer häufiger die Langeweile in der Ehe angegeben.80 Der Gegensatz konnte nicht größer sein: Die Romantik hatte die Verliebtheit noch zu einem Rausch stilisiert, zu einem schicksalhaften Erleben, dessen Intensität notwendig war, um zwei Menschen jede Distanz überwinden zu lassen, die das wechselseitige Verstehen behindern könnte, um die Kraft zu entwickeln, alle gesellschaftlichen Widerstände zu überwinden, und um der Beziehung einen immer wieder erinnerbaren Gründungsmythos zu verschaffen, der sie für die Zukunft stabilisierte. Die Konsumkultur der Liebe hingegen goutierte die Verliebtheit tendenziell als ein Gefühl, das man um seiner selbst willen genoss; aus der pathetischen Initialzündung mit weit reichenden Folgen wurde ein Nervenkitzel, der zu schön war, um ihn nur einmal zu erleben oder nicht 79  80 

Eva Illouz, Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1858), S. 51–72. Ebd., S. 48–51.

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zumindest durch seine Darstellung in den Medien der Populärkultur immer wieder simulativ nachzuempfinden. Aber nicht nur die Populärkultur verschrieb sich dieser neuen Sicht, sondern – aus anderen Gründen, aber mit bemerkenswert ähnlichen Ergebnissen – auch die Elitenkultur, zumindest jene Strömung in der Kunst und Literatur der Jahrhundertwende, die allgemein unter dem Begriff der ‚Décadence‘ firmiert. Der Abscheu vor der bürgerlichen Ehe, und sei sie auch romantisch grundiert, die doch immer in Langeweile münde oder jene ernste Lebensaufgabe der Versorgung einer Familie stelle, der man sich nicht gewachsen fühlte oder der man doch zumindest keinen Sinn mehr abgewinnen konnte, führte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu, dass aus dem romantischen Verlaufsmodell, das den Weg vom Verlieben zur Liebe als Lebensgemeinschaft wies, der erste Abschnitt heraus gebrochen und als Selbstzweck kultiviert wurde. In den Werken der Décadence, man denke nur an Schnitzlers Reigen, wird die Liebe zu einem Spiel, das sich die Aufgabe stellt, die Verliebtheit als einen interessanten seelischen Zustand möglichst wirkungsvoll erlebbar zu machen, aber sofort beendet wird, wenn der Rausch nachlässt oder Verbindlichkeiten zu entstehen drohen.81 Die Freiheit der Partnerwahl, die die Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts den neuen Freiheitsrechten des Menschen beigesellt hatte, mündete am Ende des Säkulums mit der Konsumkultur auf der einen, dem ästhetizistischen Spiel auf der anderen Seite also in ein regelrechtes Paradox: Die Gefühle, auf die das Individuum sich berufen können sollte, um seine Freiheit gegen die Zumutungen der Gesellschaft durchzusetzen, wurden ihrerseits zum Gegenstand freier Verfügung, das heißt willkürlich inszeniert. Dass diese Freiheit ein Zuviel an Freiheit bedeutete, ja zu Beliebigkeit und Haltlosigkeit führte, machte einen guten Teil der tragischen Grundstimmung des Fin de Siècle aus. Immerhin hatte die Funktion der romantischen Liebe in der Selbstfindung und Stabilisierung des Individuums gelegen; der Leitwert der Freiheit wucherte nun gleichsam zu Lasten des Leitwertes der Individualität – scheinbar verschwistert, rivalisierten die beiden Werte plötzlich miteinander. In der Kultur der Décadence bestand der Ausweg aus diesem Dilemma in der Verflüssigung der Ich-Identität zu einer Abfolge von seelischen Zuständen, die nicht als Persönlichkeitsverlust bedauert, sondern als Erweiterung des Erfahrungsspektrums goutiert wurde; in der Konsumkultur darin, dass aus Individuen mit 81 

Zum Verhältnis von Schnitzlers Reigen und dem romantischen Liebesmodell jüngst Henriette Herwig und Miriam Seidler, „Von der romantischen Liebe zur virtuell gestützten Liebespragmatik“, in: dies. (Hrsg.), Nach der Utopie der Liebe. Beziehungsmodelle nach der romantischen Liebe, Würzburg: Ergon 2014, S. 7–11.

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12 Die romantische Liebe und ihre Folgen …

dem Hinweis auf die Gleichheit ihrer Bedürfnisse Massenmenschen gemacht wurden, die nicht mehr das eine Gegenüber finden mussten, das sie in ihrer Einzigartigkeit zu verstehen vermochte, sondern davon ausgehen konnten, ihrem potenziellen Weltentwurfsbestätiger auf Schritt und Tritt zu begegnen. In beiden Fällen wurde das Mehr an Freiheit letztlich mit einem Verzicht auf Individualität erkauft. Das amerikanische Konsummodell findet dann ab den 1920er Jahren in der ‚sachlichen Liebe‘ seine deutsche Fortsetzung.82 In der Form, in der es Freiheit und Individualität positiv aufeinander bezog, steht das romantische Konzept des 19. Jahrhunderts also einzig da. Auch in dieser Hinsicht war das bürgerliche Jahrhundert viel mehr als ein Durchgangsstadium von Modernisierungsprozessen, die sich linear von der Französischen Revolution bis ins 20. Jahrhundert, ja bis in unsere Gegenwart hinein fortgesetzt haben.

82 

Siehe Elke Reinhardt-Becker, „The American Way of Love. Zur Amerikanisierung des deutschen Liebesdiskurses in der Weimarer Republik“, in: Frank Becker und dies. (Hrsg.), Mythos USA. „Amerikanisierung“ in Deutschland seit 1900, Frankfurt am Main und New York: Campus 2006, S. 99–133.

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Die Rückkehr der Alphafrauen: Geschlecht, Macht und Geld im Mediendiskurs Karin Bruns Karin Bruns, seit 2003 Professorin für Medientheorien an der Kunstuniversität Linz mit Forschungsschwerpunkten zu Theorien digitaler Medien, Kulturen des Gerüchts im World Wide Web, Gender und Medien, Kinogeschichte u. a. m., hat sich verschiedentlich mit dem Thema „Alphafrauen im Mediendiskurs“ beschäftigt. Für die vorliegende Publikation hatte sie einen Beitrag zur „Rückkehr der Alphafrauen“ geplant. Dieses Vorhaben konnte sie leider nicht mehr realisieren. Sie ist am 7. 10. 2016 in Linz gestorben. Im Zentrum des geplanten Beitrags mit aktuellen Beispielen aus Blogs, Printmedien, Fernsehserien und/oder Spielfilmen standen Repräsentationsoptionen und Visualisierungsstrategien von Geschlecht, Macht und Geld, die in bildpolitischen Kontexten der „Chefin“, des „She Boss“ bzw. der „Alphafrau“ ausgelotet und diskutiert werden sollten. Dabei interessierten Fragen der neuerlichen Aktivierung, Remodulierung und Funktionalisierung des Konzepts der Alphafrauen, das in den 1990er Jahren in Managementtheorien populär geworden war. In expliziter Anlehnung an den Spezialdiskurs in der Biologie bezeichnet das Konzept ‚Alphafrau‘ ein rudimentäres psychologisches Profil, das im Kern durch Machtgebaren und Machtbewusstsein charakterisiert ist. Welche Mikropolitiken und Distinktionen scheint die Alphafrau in den Sphären der Ökonomie zu vertreten oder zu ersetzen? Welche Ermächtigungen werden praktiziert? Und: Wie wird vor allem das Problem gelöst, die komplexen Konstellationen ökonomischer Verflechtungen und globalisierter Handelsnetze in Bild, Ton, Interaktion und Erzählung zu übersetzen? Die Thematik der rückgekehrten Alphafrauen wie auch die zahlreichen übrigen Forschungsfelder von Karin Bruns werden uns weiter begleiten.

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Schuh und Wolke. Zur materialistischen Symbolik in Brechts „Der Schuh des Empedokles“ Jürgen Link Der Schuh des Empedokles 1 Als Empedokles, der Agrigenter Sich die Ehrungen seiner Mitbürger erworben hatte zugleich Mit den Gebrechen des Alters Beschloß er zu sterben. Da er aber Einige liebte, von denen er wieder geliebt ward Wollte er nicht zunichte werden vor ihnen, sondern Lieber zu Nichts. Er lud sie zum Ausflug, nicht alle Einen oder den andern ließ er auch weg, so in die Auswahl Und das gesamte Unternehmen Zufall zu mengen. Sie bestiegen den Ätna. Die Mühe des Steigens Erzeugte Schweigen. Niemand vermißte Weise Worte. Oben Schnauften sie aus, zum gewohnten Pulse zu kommen Beschäftigt mit Aussicht, fröhlich, am Ziel zu sein. Unbemerkt verließ sie der Lehrer. Als sie wieder zu sprechen begannen, merkten sie Noch nichts, erst später Fehlte hier oder da ein Wort und sie sahen sich um nach ihm. Er aber ging da schon längst um die Bergkuppe Nicht so sehr eilend. Einmal Blieb er stehen, da hörte er Wie entfernt weit hinter der Kuppe Das Gespräch wieder anhub. Die einzelnen Worte Waren nicht mehr zu verstehen: das Sterben hatte begonnen. Als er am Krater stand Abgewandten Gesichts, nicht wissen wollend das Weitere Das ihn nicht mehr betraf, bückte der Alte sich langsam

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Löste sorglich den Schuh vom Fuß und warf ihn lächelnd Ein paar Schritte seitwärts, so daß er nicht allzu bald Gefunden würd, aber doch rechtzeitig, nämlich Bevor er verfault wär. Dann erst Ging er zum Krater. Als seine Freunde Ohne ihn und ihn suchend zurückgekehrt waren Fing durch die nächsten Wochen und Monate mählich Jetzt sein Absterben an, so wie er’s gewünscht hatte. Immer noch Warteten einige auf ihn, während schon andere Ihn gestorben gaben. Immer noch stellten Einige ihre Fragen zurück bis zu seiner Wiederkehr, während schon andere Selber die Lösung versuchten. Langsam wie Wolken Sich entfernen am Himmel, unverändert, nur kleiner werdend Weiter weichend, wenn man nicht hinsieht, entfernter Wenn man sie wieder sucht, vielleicht schon verwechselt mit andern So entfernte er sich aus ihrer Gewohnheit, gewöhnlicherweise. Dann erwuchs ein Gerücht. Er sei nicht gestorben, da er nicht sterblich gewesen sei, hieß es. Geheimnis umgab ihn. Es wurde für möglich gehalten Daß außer Irdischem anderes sei, daß der Lauf des Menschlichen Abzuändern sei für den einzelnen: solches Geschwätz kam auf. Aber zu dieser Zeit wurde dann sein Schuh gefunden, der aus Leder Der greifbare, abgetragene, der irdische! Hinterlegt für jene, die Wenn sie nicht sehen, sogleich mit dem Glauben beginnen. Seiner Tage Ende War so wieder natürlich. Er war wie ein anderer gestorben. 2 Andere wieder beschreiben den Vorgang Anders: dieser Empedokles habe Wirklich versucht, sich göttliche Ehren zu sichern Und durch geheimnisvolles Entweichen, durch einen schlauen Zeugenlosen Sturz in den Ätna die Sage begründen wollen, er Sei nicht von menschlicher Art, den Gesetzen des Verfalls Nicht unterworfen. Dabei dann Habe sein Schuh ihm den Possen gespielt, in menschliche Hände zu fallen (Einige sagen sogar, der Krater selber, verärgert Über solches Beginnen, habe den Schuh des Entarteten

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Einfach ausgespien). Aber da glauben wir lieber: Wenn er den Schuh tatsächlich nicht auszog, hätte er eher Nur unsere Dummheit vergessen und nicht bedacht, wie wir eilends Dunkles noch dunkler machen wollen und lieber das Ungereimte Glauben, als suchen nach einem zureichenden Grund. Und dann hätte der Berg Zwar nicht empört über solche Nachlässigkeit oder gar glaubend Jener hätte uns täuschen wollen, um göttliche Ehren zu heimsen (Denn der Berg glaubt nichts und ist mit uns nicht beschäftigt) Aber doch eben Feuer speiend wie immer, den Schuh uns Ausgeworfen, und so hielten die Schüler Schon beschäftigt, großes Geheimnis zu wittern Tiefe Metaphysik zu entwickeln, nur allzu beschäftigt! Plötzlich bekümmert den Schuh des Lehrers in Händen, den greifbaren Abgetragenen, den aus Leder, den irdischen.1 Den Stoff für dieses Gedicht, das 1935 im dänischen Exil entstand und wie die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ und die „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ zu den großen „Chroniken“ der Svendborger Gedichte gehört, fand Brecht in den Leben und Meinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laertius. Aus der gleichen Quelle hatte schon Hölderlin stoffliche Motive für sein Empedoklesprojekt geschöpft – und wie Brecht vor allem das Motiv vom Selbstmord durch Sturz in den Ätna. Während aber Hölderlin dieses Motiv zum großen und stark polysemischen Symbol einer „Rückkehr zur Natur“ nicht nur im persönlich existentiellen, sondern auch im politischen Sinne entfaltete, wobei ihn die Anekdote vom Schuh als Albernheit nur hätte stören können, fokussierte Brecht seine „Chronik“ ganz auf diese scheinbare Lappalie, die bereits Diogenes mit deutlich ironischer Distanz als höchst kuriose Überlieferung offensichtlich voreingenommenen Ursprungs relativiert. Für Hölderlin konnte der luzide Suizid eines großen Philosophen und Politikers auf keinen Fall ein stummer und absurder Gestus gewesen sein – er forderte also zwingend eine vorherige Erklärung, also ein Testament. Als solches dient bei Hölderlin die große Abschiedsrede, in der der Mythos des Empedokles – außer dominant mit dem modernen Mythos von Rousseau – zusätzlich mit antiken Mythen von Christus 1  Bertolt Brecht, „DER SCHUH DES EMPEDOKLES“, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Band  12, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 30–32.

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und anderen kombiniert wird, vor allem aber mit dem von Lykurg, der durch den Suizid seine republikanische Verfassung auf Dauer stellen wollte, indem er den Spartanern einen Eid abnahm, diese Verfassung bis zu seiner Wiederkehr von einer Reise nicht zu ändern – von einer Reise, von der er dann nie zurückkam. Was konnte Brecht am kuriosen Motiv vom entweder belehrend oder manipulativ hinterlassenen („hinterlegten“) oder aber kontingent vergessenen Schuh faszinieren? Zum einen vermutlich eben diese Unsicherheit durch eine dreifache Alternative, worauf zurückzukommen sein wird. Zum anderen aber eben die erste, belehrende Alternative: Denn in dieser Alternative bildet der Schuh das Testament. Nicht also ein Diskurs, sondern ein grob materieller Gegenstand – nicht ein Wort, sondern ein Ding ist das Testament. Der Schuh ist die Botschaft – als Dingsymbol, womöglich als materialistisches Symbol. Der Schuh wird bei Brecht auch in anderen Kontexten als Motiv verwendet. „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“, heißt es in „An die Nachgeborenen“, dieser testamentarischen Summe des aus Deutschland vertriebenen Marxisten – und auch der vertriebene Weise Laotse „gürtete den Schuh“. Da der Schuh seinen Gegensatz, die Barfüßigkeit, konnotiert, konnotiert er eine „Basis“ für das Lebewesen mit dem aufrechten Gang und dem sprechenden und denkenden Kopf – und zwar eine selbstgemachte, erarbeitete, nicht natürlich gegebene Basis. Im Empedokles-Gedicht rückt der Schuh ins Zentrum der gesamten Struktur. Zweimal begegnet die erweiterte Schuh-Formel, einmal davon als Pointe des gesamten Diptychons am Schluss: Plötzlich bekümmert den Schuh des Lehrers in Händen, den greifbaren Abgetragenen, den aus Leder, den irdischen.

Die gleiche Formel leitet auch den Schluss des ersten Teils ein: Aber zu dieser Zeit ward dann sein Schuh gefunden, der aus Leder Der greifbare, abgetragene, der irdische!

Ledern, greifbar, abgetragen, irdisch: Der Sinn dieser tetradischen Formel lässt sich durch seine Antithese verdeutlichen: Immateriell, unsichtbar, ewig, himmlisch. Empedokles inszeniert (in der ersten Version) seinen Tod als materialistisches Lehrstück mittels des Schuhs. Denn bevor der Schuh gefunden wird, proliferiert bereits die spiritualistische, metaphysische Antithese: Dann erwuchs ein Gerücht. Er sei nicht gestorben, da er nicht sterblich gewesen sei, hieß es.

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14 Schuh und Wolke Geheimnis umgab ihn. Es wurde für möglich gehalten Daß außer Irdischem anderes sei, daß der Lauf des Menschlichen Abzuändern sei für den einzelnen: solches Geschwätz kam auf.

Schon bei Hölderlin wird Empedokles in einigen Hinsichten mit Christus assoziiert, und die Schlussverse des ersten Teils bei Brecht zitieren nahezu das Neue Testament, wenn sie es auch umfunktionieren: […] Hinterlegt für jene, die Wenn sie nicht sehen, sogleich mit dem Glauben beginnen.

Nach Johannes XX, 24 ff. hatte der ungläubige Thomas gesehen und sogar gegriffen – die Botschaft lautete jedoch (in Luthers Übersetzung, die Brecht so liebte): „Spricht Jhesus zu jm / Dieweil du mich gesehen hast Thoma / so gleubestu / SELIG SIND / DIE NICHT SEHEN / VND DOCH GLEUBEN.“ Diese Botschaft wird durch den Schuh des Empedokles als „Geschwätz“ desavouiert, obwohl bzw. gerade weil Jesus vor seiner Himmelfahrt nichts „hinterlegt“ hat. Obwohl bzw. („dialektisch“) gerade weil: Hätte Jesus wie Empedokles ein materielles Testament wie einen Schuh hinterlassen, so wäre der Mythos der Himmelfahrt entmythologisiert worden – da es aber statt eines solchen Testaments nur die Geschichte vom ungläubigen Thomas gibt, entmythologisiert diese Geschichte, die bloß auf ihre von Brecht „entlarvte“ Pointe hin erzählt zu sein scheint, sich selbst. In Brechts Entmythologisierungsgeschichte sind die, die nicht sehen, und doch glauben, nicht selig, sondern Schwätzer und dumm („hätte er eher nur unsere Dummheit vergessen“), weil sie nicht „suchen nach einem zureichenden Grund“: Materialismus bedeutet spontane Naturwissenschaft. Eine Parallele zu dieser Geschichte des Neuen Testaments stellt nun die farcenhafte zweite, alternative Version vom Verschwinden des Empedokles dar. Dass Brecht vor Blasphemie nicht zurückschreckte, hatte er in der Hauspostille vielfach bewiesen. So ist alles über den Empedokles der zweiten Version Gesagte konnotativ auch auf Christi Auferstehung und Himmelfahrt nach dem Bericht der Jünger zu beziehen: […] die Sage begründen wollen, er Sei nicht von der menschlichen Art, den Gesetzen des Verfalls Nicht unterworfen.

Zu dieser zweiten Version gehört als extreme Pointe die Unterversion, nach der der Ätna den Schuh ausgespien habe. Sarkastisch setzt Brechts Gedicht diese Unterversion in Klammern und bezeichnet einen Empedokles als

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Gottesschwindler mit dem Nazibegriff des „Entarteten“ – ein solches Verhalten des großen Philosophen wäre derartig pervers, dass es nicht glaubhaft ist – womit die dritte Version eingeleitet wird: […] Aber da glauben wir lieber: Wenn er den Schuh tatsächlich nicht auszog, hätte er eher Nur unsere Dummheit vergessen und nicht bedacht, wie wir eilends Dunkles noch dunkler machen wollen und lieber das Ungereimte Glauben, als suchen nach einem zureichenden Grund.

Während die Perspektive des Gedichts bisher „objektiv“ („personal“) war, taucht hier eine („auktoriale“) Wir-Perspektive auf, die das lyrische Ich, die Leserinnen und darüber hinaus alle Durchschnittsmenschen umfasst. Humoristisch wird auch die Unterversion vom den Schuh ausspeienden Vulkan materialistisch reduziert: […] Und dann hätte der Berg – Zwar nicht empört über solche Nachlässigkeit […] (Denn der Berg glaubt nichts und ist mit uns nicht beschäftigt) Aber doch eben Feuer speiend wie immer – den Schuh uns Ausgeworfen […].

Will sagen: Dann wäre es Zufall gewesen, dass der Schuh gefunden werden konnte – und die Lehre wäre eben durch Zufall angekommen. Ein Zufall wäre von Seiten der Natur hinzugekommen – ganz im Sinne des Empedokles, der schon die Auswahl der Begleiter teilweise dem Zufall überlassen hatte: Einen oder den andern ließ er auch weg, so in die Auswahl Und das gesamte Unternehmen Zufall zu mengen.

Der materialistische Philosoph scheint nun doch (wie bei Hölderlin) den Tod als definitive Rückkehr zur Natur bewusst zu antizipieren, indem er kurz zuvor bereits Natur spielt und auf sehr paradoxe Weise Zufälle plant. Aber damit ist ja das Problem des Materialismus nicht gelöst, sondern eher vergrößert: Wenn der Schuh sicherlich ein sowohl einleuchtendes wie schönes Symbol einer materiellen Basis ist – muss nicht der sprachliche Überbau in Gestalt der geistigen Lehre (Philosophie) als eine „andere“, zweite Substanz anerkannt werden – muss nicht, trotz des Hohns, „tiefe Metaphysik entwickelt“ werden? Auf diese berechtigte Frage antwortet ein zweites zentrales und ebenfalls materialistisches Symbol: das Symbol der Wolke:

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14 Schuh und Wolke […] Langsam, wie Wolken Sich entfernen am Himmel, unverändert, nur kleiner werdend Weiter weichend, wenn man nicht hinsieht, entfernter Wenn man sie wieder sucht, vielleicht schon verwechselt mit andern So entfernte er sich aus ihrer Gewohnheit, gewöhnlicherweise.

Was ist die Subscriptio dieser Pictura? Denotativ ist es zunächst „er“, also Empedokles. Gemeint ist aber nicht seine Person, sondern seine Lehre, also sein Diskurs, anders gesagt: sein „Geist“. […] Immer noch stellten Einige ihre Fragen zurück bis zu seiner Wiederkehr, während schon andere Selber die Lösung versuchten.

Der Diskurs überlebt, weil er von der Person unabhängig ist: Er kann von den Schülern eigenständig fortgesetzt werden, wodurch er sich selbstverständlich ändert, bis er (wie die Wolken) seine Identität verloren hat. Anders gesagt: Auch der Geist (der Diskurs) wird wie der Schuh abgetragen, auch er ist auf die Dauer sterblich, und diese seine Friktivität und Sterblichkeit beweist, dass auch er materiell ist – wenn auch von einer anderen Materialität: andere Materialität, nicht andere – immaterielle – Substanz. So erklärt sich die Ausführlichkeit der Darstellung eines besonderen Todes im ersten Teil des Gedichts. Es handelt sich um einen luziden und gewollten Selbstmord, einen wirklichen Freitod – schon das gegenüber der Mehrzahl pathologischer Suizide eine große Ausnahme. Als große Ausnahme musste ein solcher Selbstmord so oder so eine Aura von Geheimnis projizieren – und Brechts Empedokles antizipiert das und plant den Verlauf, wie bereits gesagt, als materialistisches Lehrstück mit der Pointe des materialistischen Testaments mittels eines Schuhs. Aber warum überhaupt ein solcher Selbstmord? […] Da er aber Einige liebte, von denen er wieder geliebt ward Wollte er nicht zunichte werden vor ihnen, sondern Lieber zu Nichts.

Auch hier ist der neutestamentliche Ton nicht zu überhören. Empedokles erscheint als ein Anti-Christ. Er will keinen spektakulären Tod, nicht einmal einen sokratischen, sondern er will wie eine in der Ferne verschwindende Wolke unbemerkt zu Nichts werden: „Unbemerkt verließ sie der Lehrer“. Das soll die Alternative sein gegenüber „zunichte werden vor ihnen“. Wenn er aber den Jüngeren den Anblick des Verfalls ersparen will – verstößt er damit nicht

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gegen den Materialismus? Ganz wie Laotse („bogen sie um jene Föhre ins Gestein“) bringt sich Empedokles unbemerkt und unspektakulär ‚um die Ecke‘: Er aber ging da schon längst um die Bergkuppe Nicht so sehr eilend. Einmal Blieb er stehen, da hörte er Wie entfernt weit hinter der Kuppe Das Gespräch wieder anhub. Die einzelnen Worte Waren nicht mehr zu verstehen: das Sterben hatte begonnen.

Wenn wir, wie Hölderlin sagt, „ein Gespräch sind“, dann ist das Herausfallen aus dem Gespräch tatsächlich der Tod. Der Ton des Gedichts erspart keineswegs eine große Melancholie: „Als er am Krater stand / Abgewandten Gesichts“. Noch schaut Empedokles ins Leben zurück – oder will er sich rückwärts fallen lassen? – und in dieser wahrhaften Grenzsituation erfolgt die Geste mit dem Schuh. Ob es ein spontaner letzter Einfall war, bleibt ungewiss. Jedenfalls ist es ein semiotischer, wenn auch nicht länger sprachlicher „Wink“, wie Hölderlin das nannte. Die „abgetragene“ Basis signalisiert den ausgedienten Körper und sendet gleichzeitig eine Botschaft in das von Empedokles nicht mehr hörbare, aber von den Schülern weitergeführte Gespräch: „Dann erst / Ging er zum Krater.“ Es ist die durch keinen Mythos wegzubekommende materialistische Redligkeit Ludwig Feuerbachs und Gottfried Kellers: „Augen, meine lieben Fensterlein / Einmal werdet ihr geschlossen sein.“ Dieser Ton des So-ist-es scheut inzwischen aber jeden Rest von Pathos und sucht die einfachst mögliche Sprache: Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte Müssen genügen. Wenn ich sage, was ist Muß jedem das Herz zerfleischt sein.2

Es gehört zum Grad Null dieses Pathos, dass es sich in einen ermöglichenden, passenden, Grundton fügt. Dieser Ton ist gespannt zwischen Elemente eines hohen und eines niedrigen Tons. Zum hohen Ton gehören die Biblizismen („ward“, „anhub“, „erwuchs“) wie auch die klassischen Latinismen („nicht wissen wollend das Weitere“) und die Anklänge an antike Rhythmen (Hexameter: „Waren nicht mehr zu verstehen: das Sterben hatte begonnen“ – „War so 2  Bertolt Brecht, „UND ICH DACHTE IMMER“,in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Band 15, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 295.

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wieder natürlich. Er war wie ein andrer gestorben“ – „Nur unsere Dummheit vergessen und nicht bedacht, wie wir eilends“; Sapphicus: „Lieber zu Nichts“, „Zufall zu mengen“). Dazu gehören ebenso die Alliterationen und Assonanzen: „Die Mühe des Steigens / Erzeugte Schweigen“, „Weise Worte. Oben“. Zum niedrigen Ton zählen Familiarismen („Schnauften sie aus“, „Bevor er verfault wär“) und der „gestische Rhythmus“, also verfremdet vorgeführte Prosaismen („merkten sie / Noch nichts, erst später / Fehlte hier und da ein Wort“, „so daß er nicht allzubald / Gefunden würd, aber doch rechtzeitig, nämlich / Bevor er verfault wär“). Dabei folgt die Ausführung der Taktik des Empedokles: Einen oder den andern ließ er auch weg, so in die Auswahl Und das gesamte Unternehmen Zufall zu mengen.

Das gilt auch für die Integration hoher und niederer Töne in einen Gesamtton, der ohne heftige Chocks auskommt. Zwar ist der Gegensatz zwischen „wurde“ und „ward“ durchaus motiviert eingesetzt, aber er erscheint gleichzeitig auch wie zufällig – unbemerkt wie das Verschwinden des Empedokles. Dieses kontingente Nebeneinander des Divergenten, diese „Parataxis“ (Adorno über Hölderlin) betrifft auch die verschiedenen Versionen der „Chronik“: Keine Chronik kann erzählen, was wirklich passiert ist, „wir“ müssen uns einen Reim darauf machen, statt „das Ungereimte / Glauben“ – so können zwei Versionen nebeneinander bestehen, während eine dritte ironisch abgewiesen wird. Nochmals aber: Verstößt der Gestus, den Anblick des langen tödlichen Verfalls zu entziehen, nicht gegen den Materialismus? Jedenfalls ist es ein ästhetisches „Unternehmen“: Es macht den Tod nicht weniger schmerzlich, wohl aber weniger hässlich.

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Kontingenz und Verunsicherung in F. M. Klingers Sturm und Drang Claas Morgenroth I

Vorspiel

Verunsicherung ist immer. Und wer verunsichert ist, der weiß nicht, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinanderstehen, wie das eine Bedingung des anderen sein kann. Man ist irritiert, trägt sich mit Bedenken, zögert und zaudert, zweifelt, verliert die Gewissheit, hadert. Wenn eine solche Verunsicherung auf sich selbst zurückfällt, wird die Sache bedenklich, psychologisch, poetologisch, kulturwissenschaftlich. Zentrale Figuren des westlichen Theoriediskurses im 20. Jahrhundert – Perspektivismus, Existenzialismus, Nihilismus, Modernismus usf. – handeln von einer nach innen gekehrten Verunsicherung und Zerstreuung, Kontingenz und Notwendigkeit.1 Das Drama, Probebühne jeder Individualisierung, ist dafür ein gutes Beispiel, von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Man denke an Aristoteles: Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht.2

Raubt man der Bemerkung die Gewissheit des Mythos’, dann gewinnt man, wie in einem Zaubertrick, Roman Jakobsons Begriff der poetischen Funktion: „die Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen“.3 Etwa so: Der Mangel an Notwendigkeit führt dazu, dass der Anfang auf sich selbst zurückfällt; die Natur der Folge beschränkt sich auf 1  Siehe dazu die DWDS-Verlaufskurve zu ‚Verunsicherung‘, https://www.dwds.de/r/plot?q= Verunsicherung (10. 3. 2020). 2  Aristoteles, Poetik, Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1982 (= Reclams Universal-Bibliothek 7828), S. 25. 3  Roman Jakobson, „Linguistik und Poetik“ (1960), aus dem Englischen übersetzt von Heinz Blumensath und Rolf Kloepfer, überarbeitet von Jens Ihwe, in: Literaturwissenschaft und Linguistik, herausgegeben von Jens Ihwe, Band 1, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer 1972, S. 99–135, hier S. 108.

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Claas Morgenroth

die Folgerichtigkeit als solche; das Ende bezieht seine Notwendigkeit aus der Definition des Anfangs, die Mitte ergibt sich aus der Schnittmenge von Anfang und Ende. Wenn nun Anfang, Mitte und Ende (oder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Parallele sei erlaubt) ihre Gewissheit aus der Differenz zueinander gewinnen, dann realisieren sie nur sich selbst, dann sind sie nur – aber immerhin – Funktion ihrer Funktion. Wer die strukturalistische Lesart der aristotelischen Poetik poststrukturalistisch erweitert, stößt auf die allgemeine Instabilität oder auch Verunsicherung der Begriffe, deren Notwendigkeit dem Mangel an Notwendigkeit geschuldet ist. Das dramatische Beispiel schlechthin ist Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug. Nicht nur, weil es Aristoteles’ bevorzugte Quelle, die Ödipus-Tragödie, komödiantisch verwandelt und so der Poetik den verlorenen Teil über die Komödie zurückgibt. Der Krug führt am Begriff der Bedeutung vor, welche Folgen die referentielle Verunsicherung der Zeichen für deren Verwendung haben kann.4 Wenn die Bedeutung eines Zeichens allein aus der Differenz zu allen anderen Zeichen hervorgeht, dann bleibt das Zeichensystem, will man/es beobachten, auf seine Differenz als Differenz verwiesen. Mit einer kleinen Veränderung nur, dem Verlust der Referenz, verwandeln sich die Sicherheiten der tragischen Ordnung in eine bodenlose, in jedem Fall aber zersplitterte Vorstellung des Ganzen. Und so nimmt Kleists Spiel mit den Tücken der Zweiwertigkeit, der Ambivalenz der Bedeutung, der Geschlechterverhältnisse, der Symbole, der Vermischung von Alter und Ego vorweg, was im post- oder antiaristotelischen Theater des 20. Jahrhunderts sprichwörtlich wird. Bei Max Frisch etwa, der die dereferentialisierte Semiotik als Ausdruck (postmoderner) Selbstreferenz bestimmt. Tatsächlich sehen wir, wo immer Leben sich abspielt, etwas viel Aufregenderes: es summiert sich aus Handlungen, die zufällig bleiben, es hätte immer auch anders sein können, und es gibt keine Handlung und keine Unterlassung, die für die Zukunft nicht Varianten zuließe. […] So bleibt, damit eine Geschichte trotz ihrer Zufälligkeit überzeugt, nur eine Dramaturgie, die eben die Zufälligkeit akzentuiert.5

4  Dazu David  E.  Wellbery, „Der zerbrochene Krug. Das Spiel der Geschlechterdifferenz“, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Interpretationen. Kleists Dramen, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1997 (= Reclams Universal-Bibliothek 17502), S. 11–32. 5  Max Frisch, Tagebuch 1966–1971, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 87 f. (Eintrag aus dem Jahr 1967); in gleicher Weise und mit vergleichbaren Absichten zitiert von Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, (1977), erweiterter und bibliographisch aktualisierter Nachdruck der durchgesehenen und ergänzten Auflage 1988, München: Wilhelm Fink 2001, S. 268.

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Frisch übersieht allerdings, dass der aristotelischen Dramenordnung bereits die Kontingenz der Form innewohnt. Wo der Mythos verschwindet, und sei es als Erdichtetes (nach einer Nebenbedeutung des grch. µυθος), verwandeln sich die Regeln der Poetik in eine Reihe von Setzungen, die ihre Gewissheit aus der Differenz zueinander gewinnen. Damit rückt der Begriff der ‚Kontingenz‘ in den Vordergrund, der anders als ‚Verunsicherung‘ weit weniger mit dem Gefühl eines Einzelnen oder eines Kollektivs verbunden ist als mit dem Selbstbild einer Gesellschaft. Für Niklas Luhmann, dem Vordenker jeder kommunikativen Verunsicherung, gehört daher „das Problem der doppelten Kontingenz zu den Bedingungen der Möglichkeit von Handlungen“.6 Ihre Entdeckung markiert den Übergang zur Moderne, ihr Modus zeichnet soziale Systeme aus. Luhmanns Ausgangspunkt ist der Zusammenstoß von Alter und Ego, der prozessiert, was jedem Anfang und jeder Kommunikation innewohnt. „Alter bestimmt in einer noch unklaren Situation sein Verhalten versuchsweise zuerst. Er beginnt mit einem freundlichen Blick, einer Geste, einem Geschenk – und wartet ab, ob und wie Ego die vorgeschlagene Situationsdefinition annimmt. Jeder darauf folgende Schritt ist dann im Lichte dieses Anfangs eine Handlung mit kontingenzreduzierendem, bestimmendem Effekt – sei es nun positiv oder negativ.“7 Und weiter: „Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt.“8 Das Drama ist dafür ein interessantes Beispiel, weil es im Dialog erprobt, wie Äußerung und Anschlussäußerung zusammenhängen, wie durch ihre Verkettung eine Struktur entsteht. Es ist zugleich ein Paradestück inszenierter Kommunikation, weil es – mit Luhmanns Worten, Aristoteles, Kleist und Frisch im Sinn – stets unklar und voraussetzungslos beginnt, um dann mit Worten und Gesten eine Situation zu schaffen, in der Alter und Ego ins Gespräch kommen, über dies und jenes, immer aber über die Bedingungen des Sprechens selbst (die phatische und metasprachliche Funktion der Rede). Was folgt, ist wieder nur im Lichte des Anfangs zu verstehen und fortzusetzen. Das Drama ist so gesehen ein soziales System en miniature. Jede Szene, jeder Akt versucht die Kontingenz des Anfangens so zu prozessieren, dass Sinn entsteht, oder Unsinn, eine Mitte und ein Ende.

6  Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (1984), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 666), S. 149. 7  Ebd., S. 150. 8  Ebd., S. 154.

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Historisch gesehen sind Verunsicherung und Kontingenz Ausdruck eines „spezifisch literarischen Faszinationstyp“, der sich spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend ausbreitet. Gotthold Ephraim Lessings Unterscheidung von Genie und Witz weist, so Ute Gerhard, die Richtung: Das Werk des Genies – so heißt es hier [in Lessings Hamburgische Dramaturgie] – zeichne sich als organisches Ganzes aus, mit ‚Anfang, Mitte und Ende‘ und einheitlicher, natürlicher, auf Kausalität gegründeter – konzentrierter Handlung. Der Witz dagegen halte sich bei Begebenheiten auf, ‚die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen‘, um sie schließlich so miteinander ‚zu verbinden, ihre Faden so durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestürzt werden […]. Aus der beständigen Durchkreuzung solcher Fäden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, grün oder gelb ist; der beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheint; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz für Kinder.‘ Mit Kontingenz statt Kausalität, Heterogenität statt Einheitlichkeit und schließlich der konnotierten Oberfläche sind hier die Bestimmungen des Witzes realisiert, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine Abwertung gegenüber dem ‚Genie‘ begründen.9

Vor dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Epochenbildung wird man sagen können, dass der Sturm und Drang Lessings Unterscheidung verkehrt, indem er dem Genie die Eigenschaften des Witzes unterschiebt.10 Friedrich Maximilian Klingers Drama Sturm und Drang ist dafür ein bemerkenswertes Beispiel, weil es die Grundzüge der Epoche noch einmal aufruft: das Ende der Regelpoetik, die Zufälligkeit der Handlungsmuster, das Gewimmel der Einfälle und Szenen, die Erschöpfung der Rhetorik, die hochfahrende Sprache des Helden usf., all dies aber komödiantisch hintertreibt. Die Form, die Konventionen und die Versprechen der Epoche bleiben lesbar, werden aber so wiedergegeben, dass am dramatischen Schema die Selbsterschöpfung und schließlich Kontingenz der literarischen Selbstermächtigung

9 

10 

Ute Gerhard, „Literarische Zerstreutheiten“, in: Günter Butzer und Manuela Günter (Hrsg.), Kulturelles Vergessen. Medien – Rituale – Orte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (= Formen der Erinnerung 21), S. 151–164, S. 153. Das Lessing-Zitat stammt aus: Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 30. Stück (1767), in: ders., Werke, in Zusammenarbeit mit Karl Eibl herausgegeben von Herbert G. Göpfert, Band 4: Dramaturgische Schriften, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 358 f. Dazu Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985, S. 78–95.

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des Individuums vor 1800 sichtbar wird.11 Das zeichnet, so die allgemeine These der weiteren Ausführungen, die anhaltende Modernität von Klingers Drama aus. In den Worten Wilds, seiner Hauptfigur: „Daß ihr nichts seht! Um aus der gräßlichen Unbehaglichkeit und Unbestimmtheit zu kommen, mußt’ ich fliehen. Ich meinte die Erde wankte unter mir, so ungewiß waren meine Tritte.“12 II

Auftakt: Geräusch, Illusion, Normalisierung

Wild (oder auch Carl Bushy) ist der Prototyp des ungezügelten Genies, zumindest an der Oberfläche. „Heyda! nun einmal in Tumult und Lermen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. Das wilde Geräusch hat mir schon so viel Wohlseyn entgegen gebrüllt, daß mir’s würklich ein wenig anfängt besser zu werden. So viel Hundert Meilen gereiset um dich in vergessenden Lermen zu bringen – Tolles Herz!“ (5). So versammelt Klinger die Themen und Klischees des Sturm und Drang: den Lärm, das Vergessen, das wilde und ungezügelte Auftreten des Helden, das Herz als Zentrum des Fühlens und Sprechens. Formal handelt es sich um einen dramatischen Auftakt ohne Exposition; auf „die Vergabe von Informationen über die in der Vergangenheit liegenden und die Gegenwart bestimmenden Voraussetzungen und Gegebenheiten der unmittelbar dramatisch präsentierten Situationen“ wird verzichtet.13 Klingers Stimmungsbild richtet sich stattdessen gegen die Verständlichkeit der Sprache. Der Kanal ist besetzt durch Lärm und Geräusch, die Anschlussfähigkeit erschwert oder ausgesetzt. Vorbild ist William Shakespeares The Tempest (Der Sturm), nur dass auf den Auftakt keine erklärende Exposition folgt.14 Sie muss mühsam zusammengesucht werden, aber auch dann herrscht Ratlosigkeit. Worum es geht, weiß niemand so recht zu sagen. In einer anonym publizierten Rezension des Stückes heißt es dazu: „Aber wie kann ein Stük bei einem solchen Plane erträglich genant werden? Ein Lord Berkley hat durch einen gewissen Bushy seinen Sohn verloren. Wo aber, wie, wann und warum? 11  12 

13  14 

Mit Luhmann gesprochen: „Belegt diese Geschichte, daß der Aufstieg des Individuums ein Niedergang war und daß die Zumutung an das Individuum, sich selbst als Individuum zu beschreiben, ins Sinnlose führt?“ Luhmann, Soziale Systeme (Anm. 6), S. 362. Friedrich Maximilian Klinger, Sturm und Drang. Ein Schauspiel (1776), mit einem Anhang zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, herausgegeben von Jörg-Ulrich Fechner, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2005 (= Reclams Universal-Bibliothek  248), S.  9. Fortan zitiert unter Angabe der Seite im Text. Pfister, Das Drama (Anm. 5), S. 124. Zur Unterscheidung von dramatischem Auftakt und Exposition ebd. S. 124 f.

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das erfährt kein Mensch.“15 Den Figuren geht es nicht anders. La Feu, neben Blasius einer der beiden Freunde Wilds, fragt: „Wo sind wir in der würklichen Welt jetzt. In London doch?“, um die irreführende Antwort zu bekommen: „Freylich. Merktest du nicht daß wir uns einschiften?“ (6). Als er Blasius mit den Worten angeht „wo sind wir?“, heißt es: „Was weiß ich.“ Zwar reicht Wild einige Sätze später den rechten Ort („auf Amerikanischem Boden“) und die entsprechende Vorgeschichte nach („Um euch auf einmal aus dem Traum zu helfen, so wißt; daß ich euch […]“), aber besonders weit führt seine Erklärung nicht (7). Duplizität der Ereignisse in der zweiten Szene: Auch hier steht die Unordnung der Verhältnisse im Vordergrund. Neben Wild, La Feu und Blasius befinden sich im selben Gasthof noch Lord Berkley und seine Tochter Jenny Caroline. Berkley versucht sich an einem Kartenhaus, „bedeutend Sinnbild meines verworrnen Lebens!“ (11); Caroline dagegen greift im Klavierspiel nach der Harmonie des Lebens. Beide probieren also die fundamentale Verunsicherung der eigenen Existenz durch konventionalisierte, formelhafte Bilder verständlich zu machen. Schließlich geht Berkley daran, die Vorgeschichte des gemeinsamen Unglücks zu erzählen (parallel zum Dialog zwischen Prospero und Miranda, 1. Akt, 2. Szene in Shakespeares Sturm) – ohne Erfolg. Grund und Folge, Anfang und Ende wollen nicht zusammenpassen. Weder das sprachliche Bild noch die auf Ursache und Wirkung aufbauende Erzählung können an die Stelle des zerpflückten Lebens treten. Verraten wird nur, dass Vater und Tochter „Haus und Hof“, „Weib und Gut“ (11) verloren haben und ein Lord Bushy dafür verantwortlich sein soll, zu dem sie mal in einem vertrauten Verhältnis gestanden haben müssen. Auch eine Liebesgeschichte deutet sich an. Caroline erinnert sich voller Sehnsucht an Bushys Sohn Carl (also Wild). Entsprechend zerstreut gibt sich die anschließende 3. Szene. Caroline trifft auf Louise (Nichte) und Kathrin (oder auch Lady Katharine, die Tante). Sie halten sich nicht lange mit dem Zusammenhalt des Lebens auf, sondern wollen sich einen schönen Tag machen. Auf die „Ungewissheit“ (Wild) der Existenz reagieren sie mit dem Wunsch nach Zerstreuung. Louise: „Wenn sie [die vermeintlich unbekannten Engländer im Haus, Wild, La Feu und Blasius] mich nur amusiren, mir die lange Weile vertreiben, meine Launen und Caprizen ausführen, ist’s schon gut“ (18).

15 

Anonymus, „Sturm und Drang. Ein Schauspiel von Klinger […]“, in: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Literatur, Band 14, Lemgo: Meyersche Buchhandlung 1778, S. 126– 129, zitiert nach Klinger, Sturm und Drang (Anm. 12), S. 105–107, hier S. 105 („Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“).

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Der zweite Akt führt die Figuren zusammen, erst Blasius, La Feu, Lady Kathrin und Louise, dann in zwei Erkennungsszenen Wild und Caroline, schließlich Wild, Caroline und Berkley. Zum ordnenden Prinzip wird die Symmetrie der Figuren und die routinierte Sprache. Die Charaktere sind weitgehend gesetzt, jeder und jede hat seinen Ton gefunden. Dieser Umstand rückt die Reden ins Schematische, oder wie Blasius – als verdecktes alter ego der Literaturkritik – zu Wild bemerkt: „es ist schändlich, was du dich ewig mit Gespenstern herum treibst“ und „daß du ewig nach Phantomen rennst – ich haß dich!“ (20). Mit den Gespenstern und Phantomen sind zwar die Geister der Vergangenheit gemeint, insbesondere die verlorene Jugendliebe Caroline, ansonsten aber Wilds phrasenreiches Vokabular. Beispielhaft im Dialog mit der Geliebten. „Ich fühl’s so tief – Ihre Augen – ja Ihre Augen voll Seel und Leiden – und dieses Herz hier – zerrissen und tief!“ Caroline ist nicht beeindruckt. „So verworren – o Sir, leiden Sie?“ (26). Die Begeisterung steigt im Anschluss zwar sprunghaft an, schließlich erkennen beide endlich, wer sie sind, aber Wilds Charme des verwirrten Genies versiegt zusehends. Spätestens im Schlagabtausch mit Schiffcapitain Boyet (Berkleys Sohn, auch Harry genannt) im dritten Akt ist er vollends verstummt. Als die beiden Rivalen nach langer Zeit aufeinandertreffen, fallen sie folgendermaßen übereinander her: „Kapitain: Brav daß ich sie find. Wild: Gut! sehr gut! Kapitain: Sie wissen doch daß ich sie nicht leiden kann? Wild: Darnach hab ich noch nicht gefragt“ (40). Erst kurz vor dem vierten Akt kommt Klinger auf die Geniepoetik zurück, in einer empfindsamen, naturpoetischen Szene, die allerdings in der Form hängenbleibt, weil sie nichts bewirkt, weder bei Wild noch in der Handlung. Wild: „So hieng ich oft an dir, Mond! […] Wohl dir! daß du wieder das Rauschen der Bäume verstehst! […] daß alle Sprache der Natur dir deutlich ist“ (45). Komisch daran ist (wie in Klingers Drama insgesamt) die Dominanz der Konnotation. Was gesagt wird, ist das, was nachts von einem verzweifelt Liebenden gesagt werden muss. Wild ist darum keine typische Figur des Sturm und Drang mehr, und wenn doch, dann deren Parodie. Ungezügelt ist seine Rede nur ab und an, zuweilen verrutscht sie ins Sentimentale, ist flach, dann redundant, nur selten echt verzweifelt. Vergleicht man Wild mit dem Vorbild der Bewegung, Goethes Prometheus, fällt das besonders auf. Prometheus kann von sich sagen: „Hier sizz ich, forme Menschen/Nach meinem Bilde“16, Wild dagegen zitiert die Heilige Schrift mit den Worten „Laß mich wandern in Todesthälern“ (46). Daneben ist seine Wortwahl und Syntax so überakzentuiert, 16 

Johann Wolfgang Goethe, „Prometheus“ (1773/75), in: ders., Gedichte, herausgegeben von Bernd Witte, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2001 (= Reclams Universal-Bibliothek 18519), S. 69–71, hier S. 71.

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dass vieles an ihm „angelesen“ wirkt.17 Zwang statt Individualität macht sich breit und versetzt Sturm und Drang in die Welt der Typenkomödie. Es dominiert, in den Worten Manfred Pfisters, die „poetische Funktion“ zum Nachteil der „expressiven Funktion“.18 Dieser Umstand, also der Mangel an sprachlichem Eigensinn, verschafft der Figurenkonstellation einen anderen Akzent. Das gilt insbesondere für das Dreigestirn Wild, La Feu und Blasius: Nachdem Wild seinen ersten großen Auftritt beendet hat, treten die Mitstreiter La Feu und Blasius auf; sie sekundieren, wenn auch in zwei entgegensetzte Richtungen. La Feu ist ein Vertreter der ungezügelten Phantasie und Illusion, die jede „stinkende Mistlache“ (5) in eine antike Schönheit verwandelt. Blasius dagegen Nihilist, „ewig am Bratspieß“ (8), ein Enttäuschter. Man kann sie für sich betrachten, als Typen einer bestimmten Sentimentalität: Dann ist Wild „der ungestüme Abenteurer“, La Feu „der Galante (Parodie auf die Schäfer- und Feendichtung)“, Blasius der „apathische Melancholiker“; man kann sie aber auch als Varianten ein und derselben Person ansehen.19 Hinweise dazu gibt es. „Sieh! Blasius“, sagt La Feu im dritten Akt, „in meiner Jugend war ich ein Poet, hatte glühende, schweifende Phantasie, das haben sie mir so lange mit ihren eißkalten Waßer begoßen, bis der letzte Funken verlosch.“ (35) La Feu inszeniert die Zukunft des jungen Wild (oder des Sturm und Drang, wenn man Wild als dessen Sinnbild versteht, was sich aufdrängt) als die altersgerechte Farce eines überholten Genies. La Feus neu aufwallende Lust und Euphorie ist schließlich nicht echt, sondern nur aufgetragen. Louise hat dies nüchtern erkannt. Als ihr Lady Kathrin von La Feus Augen und Haaren vorschwärmt, bemerkt sie: „Er trägt ja eine Perücke“ (42). Die Perücke verdeckt nicht nur den Mangel an Authentizität, sie gibt auch das rechte Bild für La Feus Phraseologie ab, zumal er in lichten Momenten weiß, dass die Poesie nur von der Lüge etwas versteht. „O die Romanen! o die Feenmärchen! Ach wie herrlich um all die Lügen! Wie wohl dem der sich vorlügen kann!“ (21). Diese Regression ins Schematische (wenn La Feu „in Extase“ dichtet, kommen Zeilen zustande wie „Lieblich strahlt dein Auge! Die dumme Reimen! Auge, 17 

18  19 

„Klingers Gestalten reden verdächtig oft ziemlich formelhaft über ihre ungestillten Sehnsüchte und Wünsche, als hätten sie sich den Sturm und Drang bereits anderswo angelesen.“ Helmut de Boor und Richard Newald (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur, Band IV: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789, herausgegeben von Sven Aage Jørgensen, Klaus Bohnen und Per Øhrgaard, München: C. H. Beck 1990, S. 473. „Bei sprachlicher Homogenisierung dominiert die poetische Funktion, bei sprachlicher Differenzierung [wenn also „jeder Figur ihr ganz individueller Sprachstil zugeordnet“ ist] die expressive.“ Pfister, Das Drama (Anm. 5), S. 172. „Sie erscheinen, jedenfalls zeitweise, als Segmente einer einzigen Person.“ Volker Meid, Metzler Chronik Literatur. Werke deutschsprachiger Autoren, 3., erweiterte Auflage, Stuttgart und Weimar: Metzler 2006, S. 254.

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lauge, brauche, sauge. Aus denen Lieb ich sauge. Ja so –“, 36, 38) kompensiert Blasius mit Müdigkeit: „Ich bin todt und schläfrig (gähnend)“; „nichts bin ich. (schläft ein.)“; „ich bin so müd – kann nicht von der Stelle“ (36, 38, 47). Sie bewahrt ihn davor, am Spiel der anderen teilzunehmen; sie ist zugleich Ausdruck mangelnder Produktivität. Blasius bringt nichts hervor, er zieht sich zurück. Er verharrt, bleibt passiv und bildet das Gegenstück – oder das fehlende Drittel – zu Wilds Aufruhr und La Feus Simulation. Man kann darin eine historische Konstellation erkennen, deren Soziologie erst das 19. Jahrhundert etablieren wird. Überraschend hilfreich erweist sich an dieser Stelle der Umweg in die Geschichte des Normalismus’, genauer zu Auguste Comte, der sich und die Mechanik der gesellschaftlichen Entwicklung nach dem gleichen Prinzip geordnet hat. Nachdem er erst dem Wahnsinn und dann der Melancholie verfallen war, nahm Comte mit der Wiederkehr der Vernunft seine eigene Lebensgeschichte zum Vorbild einer allgemeinen Entwicklungslogik, die sich sowohl am Menschen wie an der Geschichte des Wissens zeigen sollte. „Insgesamt deutete er [Comte] seine manisch-depressive Phase als Überschreitung einer Normalitätsgrenze zuerst nach oben (durch ‚Überhitzung‘ und ‚exzessives Tempo‘ des Denkens), danach nach unten (durch extreme Verlangsamung und Einschlafen des Denkens in der Depression).“20 Das eine wie das andere ist für Comte ein Schritt auf dem Weg zur Normalisierung, der geglückten Synthese und Aufhebung der Überund Unterschreitung der Normalitätskurve. Dieser Dreischritt ist nicht ohne Vorbild, ja er gehört(e) lange zum common sense, in der Dialektik, in der Lehre der Zeitalter, schließlich im Verlauf der dramatischen Akte. Comtes Innovation war nur, dass er der Logik von Über- und Unterhitze eine Normalkurve unterschob, und damit für die Natur der Abweichung und Wiederannäherung eine statistische Entsprechung fand.21 Kürzen wir die Sache ab. Was ist, wenn man Comtes Modell an Klingers Drama ausprobiert? Ohne Zweifel vertritt Blasius die Depression/Melancholie, Wild die Überhitzung/den Wahnsinn – und La Feu die goldene Mitte? Das Modell mag zuerst nicht recht passen, weil es keine normalisierende 20 

21 

Jürgen Link, Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart (mit einem Blick auf Thilo Sarrazin), Konstanz: Konstanz University Press 2013, S. 126. Link bezieht sich auf Auguste Comte, „Système de politique positive“, in: ders., Sociologie, herausgegeben von Jean Laubier, Paris: Presses Universitaires de France 1963. Zur ‚statistischen‘ Literatur siehe Ute Gerhard, „Siegfried Kracauers Ginster – ein Text zur ‚Zerstreuung‘. Versuch über nomadische Diskursformen“, in: Gabriele Cleve, Ina Ruth, Ernst Schulte-Holtey und Frank Wichert (Hrsg.), Wissenschaft Macht Politik. Interventionen in aktuelle gesellschaftliche Diskurse. Siegfried Jäger zum 60. Geburtstag, Münster: Westfälisches Dampfboot 1997, S. 139–152.

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Synthese gibt, nicht unter den Figuren, nicht in der Handlung (dazu später). Die Unordnung der Geschichte und die Verunsicherung der Figuren hält keine vernunftgemäße Regulierung der Charaktere bereit, aber – und das unbedingt – einen Witz auf ihre Normalisierung in der Formensprache des Sturm und Drang. La Feu macht in Klingers dramatischem Syllogismus also sehr wohl den dritten Schritt aus, indem er die Normalisierung der überhitzten Sprache durch ihre beständige Übertreibung und Wiederholung spiegelt und dadurch den Wahnsinn des Genies und der Epoche als Farce präsentiert. Er überschreitet damit jene „Ambivalenz“, die Armin Nassehi zufolge „die kulturelle Selbstbeschreibung der Moderne“ prägt: Die kulturelle Selbstbeschreibung der Moderne war stets von einer erheblichen Ambivalenz geprägt: Zum einen konnte man sich das erste Mal in der abendländischen Geschichte mit der Selbstzumutung ausstatten, man sei selbst der Urheber des innerweltlichen Geschehens. Die moderne Kultur ist geradezu beseelt davon, an die Gestaltbarkeit der Welt […] zu glauben. Zum anderen aber prägt die moderne Kultur eine grundlegende Verunsicherung: Die Enttraditionalisierung der Lebensführung und die radikale Erosion von Erfahrungswissen aufgrund der Beschleunigung von Ereignissen […] haben ein kulturelles Syndrom hervorgebracht, das in der Moderne eher eine Lähmung denn aktive Gestaltungskräfte freizulegen scheint. Diese beiden hier nur angedeuteten Wurzeln der Moderne – die titanische Selbstüberschätzung und die paralysierende Verunsicherung – haben die Selbstbeschreibungen der modernen Kultur stets mitbegleitet22

– indem er die ‚titanische Selbstüberschätzung‘ und ‚paralysierende Verunsicherung‘ um das Spiel der Simulation ergänzt, einer dritten Figur im Zeichen des Simulakrums, die Kleist in Auftrag gegeben hat und die erst in der zweiten Hälfte 20. Jahrhundert zu Ende gedacht worden ist.23 22 

23 

Armin Nassehi, „Das Problem der Optionssteigerung. Überlegungen zur Risikokultur der Moderne“ (1996), in: Claudia Rademacher und Gerhard Schweppenhäuser (Hrsg.), Postmoderne Kultur? Soziologische und philosophische Perspektiven, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 37–58, hier S. 37. „Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein ‚Objekt‘ derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine ‚Funktionen‘ sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, ‚interessiertes‘ Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, was im natürlichen Objekt unsichtbar, oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb.“ Roland Barthes, „Die strukturalistische Tätigkeit“ (1963), in: Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus. Mode, Methode, Ideologie, aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969 (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie 310), S. 153–158, hier S.  154. Man könnte sagen, wenn auch nicht mit vollem Ernst, Klingers Drama rekonstruiert den Leerlauf der individualisierten Genie-Sprache und zeigt damit, was die Ideologie des Sturm und Drang zu verstecken suchte.

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III

Zwischenspiel I: Programm und Rezeption

So gesehen nimmt Klingers Drama die reflexive (Post-) Moderne (Anthony Giddens: „Die Lage ist verworren“)24 bereits vorweg – und ist zugleich typisch für die gleichnamige Epoche, die mit Shakespeare, aber gegen Aristoteles und die französische Klassik den Aufruhr der Welt ins Poetische übertragen hat, im Versuch, die Deutungshoheit der Theologie auf die Dichtung zu übertragen. Literaturgeschichtlich ist das etwa so verstanden worden: „Erst die Säkularisation, die die Kritik an der Religion mit der Aneignung ihres Erbes abschließt, legte die poetischen Möglichkeiten einer religiösen Sprache frei, die ihrerseits der Dichtung stets mißtraut hatte.“25 Das Drama der Welt verlässt die kosmische Ordnung und gerät ins Innere des Individuums, oder wie Jochen Schulte-Sasse am Beispiel von Sturm und Drang formuliert: Es „variiert ein einziges, auf den ersten Blick rein literarisches Thema in immer neuen Anläufen: das des Weltschmerzes, der psychischen Zerrissenheit und des Fadenrisses zwischen Welt und Ich.“26 Formal stellt sich der Fadenriss vor den dramatischen Auftrag, mit den Mitteln der Nachahmung die Möglichkeiten der Realität so nachzubilden oder zu imaginieren, dass das Verhältnis von Welt und Ich, von Realität und Fiktion erst in Frage gestellt und dann wieder bestätigt wird. Auch hier lohnt der Vergleich mit der antiken Tragödie, die ihre Figuren erst radikal verunsichert, um sie dann vor ihr Schicksal zu stellen, das fest und unveränderlich die Portionen des Lebens (Anfang, Mitte und Ende) bestimmt. Sophokles’ Ödipus ist Opfer der Vorsehung, aber auch ein Opfer der Form, der dramaturgischen Übersetzung göttlicher Macht. Mimesis der Handlung heißt in der antiken Tragödie eben auch Mimesis der mythischen Ordnung. Die Säkularisierung und Psychologisierung der literarischen Sprache im Sturm und Drang führt dagegen dazu, dass die Nachahmung nicht mehr an äußeren Zwängen sich orientiert, sondern an inneren Zuständen (des Menschen). Die dramatische Form ändert sich, weil sich der Bezug ändert. Johann Wolfgang Goethe hat diesen Wandel in seinem „Anhang“ zu Louis 24 

25  26 

Zitiert nach Johannes Saltzwedel, „Intellektuelle. Ratlos unterm Regenbogen“, in: Der Spiegel 28 (1997), S. 160–164, hier S. 160. Der Artikel wird eingeleitet durch das folgende Motto Ludwig Wittgensteins: „Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben“ (aus Über Gewißheit). Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München und Wien: Carl Hanser 2002, S. 77. Jochen Schulte-Sasse, „Drama“, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, herausgegeben von Rolf Grimminger, 2. Teilband: Sozialer Wandel und literarische Gattungen, 2. durchgesehene Auflage, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 423–499, hier S. 481.

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Sébastien Merciers Neuer Versuch über die Schauspielkunst am Unterschied von innerem und äußerem Sinn so bestimmt: Es ist endlich einmal Zeit, daß man aufgehört hat, über die Form dramatischer Stücke zu reden, über ihre Länge und Kürze, ihre Einheiten, ihren Anfang, ihr Mittel und Ende, und wie das Zeug alles hieß. Auch geht unser Verfasser [d. i. Mercier] ziemlich stracks auf den Inhalt los, der sich sonst so von selbst zu geben schien. Deswegen giebts doch eine Form, die sich von jener unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußeren. […] Das Zusammenwerfen der Regeln giebt keine Ungebundenheit, und wenn ja das Beyspiel gefährlich seyn sollte, so ists doch im Grunde besser ein verworrenes Stück zu machen, als ein kaltes.27

Das Programm des Sturm und Drang ist deutlich zu erkennen: Das überkommene ‚Zeug‘ der klassischen Poetik und Rhetorik soll abdanken, um einer Form Platz zu machen, die sich am Inhalt orientiert, nicht umgekehrt.28 Nur so könne man die wahren Zustände des inneren Sinns (des Individuums, des Einzelnen, des Herzens) nachahmen und zum Ausdruck bringen. Die Formel, lieber ein verworrenes Stück zu machen als ein kaltes, liest sich auch wie eine Vorschrift zu Klingers Drama, das ins selbe Jahr fällt wie Goethes „Brieftasche“. Eine Vorschrift allerdings, die ihren Ernst ans Spiel der Simulation abgibt. Die Rezeption hat dies geflissentlich übersehen und sich stattdessen darum bemüht, Sturm und Drang in die Entwicklungslogik von Mensch und Geschichte einzuspannen, oder anders: Den Skandal der Simulation zu normalisieren. Auch hier ist Comtes Modell von Nutzen: Es ist eine Blaupause für all die Literaturgeschichten, die den Sturm und Drang als notwendige und jugendliche Sünde vor der Reife des Alters ansehen,29 die also die Hitze des Sturms als Durchgangsstation in der menschlichen und kulturellen Evolution ansehen.30 Klinger hat diese Lesart im Rückblick selbst angeregt: „Ich kann heute so gut darüber lachen, als einer; aber so viel ist wahr, daß jeder junge Mann die Welt, 27 

28  29  30 

Johann Wolfgang Goethe, „Anhang aus Goethes Brieftasche“, in: Louis Sébastien Mercier, Neuer Versuch über die Schauspielkunst, aus dem Französischen übersetzt von Heinrich Leopold Wagner, mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche, Leipzig: Schwiekert 1776, S. 483–508, hier S. 485. Auch wenn Goethe im weiteren Verlauf seiner Argumentation betont, dass es keine formlose Kunst geben kann. Dazu zusammenfassend und kritisch Andreas Huyssen, Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München: Winkler 1980, S. 20–30. Dazu Comte, Sociologie, S.  90 und folgende; am Beispiel der Literatur Jürgen Link, „Erzählen, wie man in andere Zustände kommt: Mentale Denormalisierung in der Literatur (mit einem Blick auf Zola und Musil)“, in: Andere Bilder. Von der Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur, herausgegeben von Beate Ochsner und Anna Grebe, Bielefeld: Transcript 2013, S. 179–194.

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mehr oder weniger, als Dichter und Träumer ansieht. Man sieht alles höher, edler, vollkommener; freylich verwirrter, wilder und übertriebener.“31 Dieses Schicksal teilt die Jugend mit der Germanistik und der Pädagogik. Auf den Traum folgt der Lauf der Geschichte, die denormalisierende „Unterbrechung des Kontinuums“32. Oskar Erdmann kommt daher, stellvertretend für die Rezeption des Stückes, zum Schluss: „Und so kann man das Stück für Klinger selbst als den zusammenfassenden Abschluss seiner Jugendperiode betrachten, ja als dasjenige Werk, mit dem er selbst für sich die Sturm- und Drangperiode innerlich auskämpfte und überwand.“33 Bei wikipedia heißt es 143 Jahre später: „Für Klinger selbst bedeutete dieses Stück die Zusammenfassung und endgültige Abkehr von der Genie-Epoche. Die Handlungsführung wirkt insgesamt sehr verkrampft und konstruiert; alles passt immer dann zusammen, wenn es dramaturgisch gerade gebraucht wird.“34 Fassen wir zusammen: Aufruhr und Abkühlung – Klingers Drama ist auch ein Lehrstück für die ordnende Macht der Rezeption.35 Nach einigen Inszenierungen und reservierten bis ablehnenden Besprechungen zu Beginn, verschwand Sturm und Drang im Dunkel der Literaturgeschichte, nur dann zitiert, wenn die Erfindung der gleichnamigen Epoche erzählt werden sollte. Der Epochentitel wiederum verkürzte und normalisierte eine in sich heterogene Bewegung, die zwar eine Anzahl an Themen, Motiven, Vorbildern, Fragestellungen und sprachlichen Vorlieben miteinander teilte, ansonsten aber radikal verschieden war.36 Ergebnis war und ist eine bildungspolitisch konsumierbare Urszene der deutschen Nationalliteratur, die im Bruch historische Kontinuität entdeckt. Heinz Schlaffer beschreibt in diesem Sinne 31  32 

33  34  35  36 

Friedrich Maximilian Klinger, „Vorrede“, in: F. M. Klinger’s Theater, Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1786–87 (1786), Blatt A 2–A 5, hier A 2, zitiert nach Klinger, Sturm und Drang (Anm. 12), S. 112 („Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“). Zum Begriff der Denormalisierung und der „Unterbrechung des Kontinuums“ Link, Normale Krisen?, S. 90 sowie Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Jürgen Link und Rolf Parr (Hrsg.), (Nicht) normale Fahrten. Faszinationen eines modernen Narrationstyps, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2003 (= Diskursivitäten. Literatur. Kultur. Medien 6). Oskar Erdmann, Ueber F. M. Klinger’s dramatische Dichtungen, Königsberg: Nürnberger 1877, S.  26. Zitiert nach Klinger, Sturm und Drang (Anm.  12), S.  123 („Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“). Https://de.wikipedia.org/wiki/Sturm_und_Drang_(Schauspiel) (9.03.2020). Man kann sagen, dass das Motiv der ungleichen Brüder, ob in Goethes Götz (1773), Klingers Zwillinge (1776), Leisewitz’ Julius von Tarent (1776) oder Schillers Die Räuber (1781), auf vergleichbare Weise die Dialektik von Aufruhr und Abkühlung zum Thema hat. Dazu zusammenfassend Matthias Luserke-Jaqui, „Einleitung – Sturm und Drang. Genealogie einer literaturgeschichtlichen Periode“, in: ders. (Hrsg.), Handbuch Sturm und Drang, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2017, S. 1–28.

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den Aufbruch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – am Beispiel der Universitäten, die zweifellos ein zentraler Bestimmungsort des Sturm und Drang sind – als „euphorischen Ausnahmezustand einer jugendlichen Entdeckungslust“, der „in der deutschen Literatur eine Tradition der Traditionslosigkeit [begründet], der ständigen Abbrüche und des ständigen Neubeginns.“37 IV

Zwischenspiel II: Krieg und Zerstreuung

In welchem Verhältnis steht der innere Sinn zum äußeren (Goethe), wie stehen Ich und Welt (die sozialen, politischen und ökonomischen Umstände des literarischen Schreibens) zueinander? Das Durcheinander, der „Wirrwarr“ der poetischen Welt (so Klingers ursprünglicher Titel, bevor er, angeregt durch den von Lavater angepriesenen „Kraftapostel“ Christoph Kaufmann, sein Drama in „Sturm und Drang“ umtaufte) hat nicht nur eine Reihe poetologischer Quellen, sondern auch sozialgeschichtliche: den Abstieg des französischen Feudalsystems, die Kleinstaaterei in ‚Deutschland‘, schließlich den Krieg in der Neuen Welt von Amerika, der für Klingers Drama die historische Kulisse abgibt. Neu am Sturm und Drang war, dass er der politisch-sozialen Unordnung einen ästhetischen Ausdruck verlieh, einen Ausdruck, der sich im Kanon der deutschen Kultur so festgesetzt hat, dass er zuweilen als Anfang der modernen deutschen Literatur angesehen wird. Das Genie personalisiert darin eine Kraft, die unabhängig von gesellschaftlichen Ordnungsbildern schafft – ohne geschaffen zu sein; die also eine politische Utopie der programmatischen Ziellosigkeit entwirft. Wild spricht dafür den oft zitierten Satz: „Unser Unglück kommt aus unserer eigenen Stimmung des Herzens, die Welt hat dabey gethan, aber weniger als wir“ (8). Unter den zeithistorischen Umständen des Sturm und Drang spielt nun die Freiheitsbewegung in Amerika eine interessante Rolle. Mit dem Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1775 machten sich zahlreiche deutsche Soldaten auf, um auf Seiten der britischen Krone oder der rebellierenden Kolonien zu kämpfen. Die einen nahmen die Reise freiwillig auf sich, die anderen wurden zwangsrekrutiert oder von ihren Landesfürsten vermietet. Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel tat sich hier besonders hervor. Er stellte seinem Schwager König Georg III. von Großbritannien gleich 12.000 Soldaten zur Verfügung, um seine Finanzen aufzubessern. Ein Skandal, den später Johann Gottfried Seume in Mein Leben und Friedrich Schiller in Kabale und Liebe aufgegriffen haben. Allerdings, auch das sollte man nicht 37 

Schlaffer, Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 25), S. 66 bzw. 68.

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vergessen, sahen zahlreiche Rekruten im Dienst an der Waffe die Möglichkeit, ihre Familien zu ernähren, dem eigenen Land einen Dienst zu erweisen oder schlichtweg etwas zu tun, das sie aus der Enge ihrer eigenen Existenz führte. Ob nun Zwang, Not, nationaler oder persönlicher Eifer dazu motivierten, die hessische Provinz zu verlassen, Friedrich Maximilian Klinger, am 17. Februar  1752 in Frankfurt am Main geboren und später Student in Gießen, wusste wovon er sprach, als er seine Helden nach Amerika schickte. Zumal sich seine Biographie zuweilen mit den Absichten seiner Figuren deckt; Klinger selbst wollte erst für das britische Empire antreten, dann für die Kolonien. Entsprechend beiläufig rückt die Kriegsgeschichte in die Kulisse. Sie ist da, sie führt die Figuren vor dem 5. Akt ins Feld, aber bewegt nicht die Handlung, nicht die Sprache, nicht die Kommunikation. Dem Krieg kommt die gleiche Aufgabe zu wie der Zeit und dem Ort des Dramas. „Auf seltsame Art verwendet Klinger alle Wirklichkeitsverweise. Amerika – London […] schaffen eine bunt zusammengewürfelte, phantastisch verwirrende Geographie, deren Welt trotz der welthaften Namen eben durch die Art der Anordnung einen weltlosen Eindruck hinterläßt.“38 In dieser Hinsicht ist der amerikanische Bürgerkrieg Ausdruck einer verdrehten Welt. Weder Wild noch die anderen Kombattanten verfolgen ein politisches Ziel. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, auf welcher Seite sie kämpfen. Das Feld ist Ventil der inneren Unruhe und Rastlosigkeit. Er soll Schicksal spielen, die Richtung weisen, die den Figuren fehlt. Der Freiheitskampf wird zur Station der inneren Suche und Schau.39 Blaise Pascal, der erste Ratgeber unter den Philosophen der persönlichen Krise, hat diesen Zustand einmal so beschrieben. Wenn ich mich zuweilen damit beschäftigt habe, die vielgestaltige Unrast [agitations] der Menschen zu betrachten, die Gefahren und Mühsale, denen sie sich aussetzen: am Hofe, im Kriege, woraus so viele Streitigkeiten[,] Leidenschaften, kühne und oft böse Unternehmungen entstehen, habe ich entdeckt, daß das ganze Unglück der Menschen aus einer einzigen Ursache kommt: nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können.40

Die Ruhe des Zimmers ist auch die Ruhe der Seele, des Gewissens, des Einzelnen im Konflikt mit sich selbst. Wer sich nicht erträgt, der erträgt auch die 38  39  40 

Jörg-Ulrich Fechner, „Nachwort“, in: Klinger, Sturm und Drang (Anm. 12), S. 149–171, hier S. 165. Dazu Wolfgang Stellmacher, „Klingers Sturm und Drang“, in: Weimarer Beiträge 29 (1983), S. 140–160. Blaise Pascal, Gedanken, nach der endgültigen Ausgabe übertragen von Wolfgang Rüttenauer, Einführung von Romano Guardini, Bremen: Carl Schünemann 1964 (= Sammlung Dieterich 7), S. 72 f. (Nr. 178).

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Stille und Einsamkeit nicht, der muss die drückende Last seiner Existenz an die Umwelt abgeben, um zu vergessen. Die „Zerstreuung“ übernimmt dabei eine wichtige Aufgabe, in zwei Richtungen: Sie lenkt ab, sie verstellt den Weg in die innere Einkehr, und ist doch ein Abbild des Mangels und der Angst vor sich selbst, der zutiefst kümmerlichen, ja jämmerlichen Existenz des Menschen; „sie liegt in dem natürlichen Unglück unseres schwachen und sterblichen Zustandes, der so erbärmlich ist, daß nichts uns trösten kann, wenn wir es näher betrachten.“41 Für den katholischen Pascal liegt das Problem im Glauben. Aber es zeichnet die Pensées aus, dass sie auch säkular und analytisch gelesen ihre Schärfe behalten. Mit ‚Zerstreuung‘ ist dann die raumzeitliche Drift der Körper, Herzen und Seelen gemeint, die Unordnung des Ich, schließlich der Drang, die zerstreute Identität durch weitere Zerstreuungen zu kompensieren. Klingers Krieg ist so gesehen die literarische Verdoppelung der existentiellen „Digression“ der Figuren.42 Sturm und Drang kann man dementsprechend auch anders lesen, als experimentelle Anordnung: Wie verhält sich der Mensch, wenn er freigesetzt wird von allen Besitztümern, wenn er allein auf sich stößt, ohne Bindung an Heimat und Vergangenheit, ohne Aussicht auf eine Zukunft, ohne Aufgabe, ohne Ziel, ohne äußerlichen Antrieb? Wenn ihm also nichts anderes bleibt, als über sich selbst zu fallen? Und wenn es ihm auch an weiteren Haltepunkten mangelt, ob nun religiös oder politisch? V

Schluss. Reden oder geredet werden, Happyend oder Katastrophe?

Der 5. Akt des Dramas ist häufiger als Happyend ausgelegt worden. In Volker Meids Chronik der deutschsprachigen Literatur liest man: „Geglückte Selbstverwirklichung und Versöhnung statt Scheitern und Untergang der Gefühls- und Kraftmenschen – damit setzt K[linger] einen neuen Akzent in der Dramatik des Sturm und Drang.“43 Jörg-Ulrich Fechner deutet in seinem Nachwort zur Reclam-Ausgabe den Schluss des Stückes als Sieg des Einzelnen: „Klingers Gestalten sind Individuen im vollen Sinne des Wortes: unabhängige einzelne, die, aus den geordneten Bahnen eines herkömmlichen Lebens gerissen, im Selbsteinsatz ein ihnen gemäßes Leben suchen.“44 Und für Schulte-Sasse ist Klingers Stück ein Prototyp der Epoche: „Das Motiv der Zerrissenheit 41  42  43  44 

Pascal, S. 73 (Nr. 178). Zum Begriff bzw. zum „Verfahren der Digression“ in der Literatur siehe Gerhard, „Literarische Zerstreutheiten“ (Anm. 9), S. 154 und folgende. Meid, Metzler Chronik Literatur (Anm. 19), S. 254. Fechner, „Nachwort“, in: Klinger, Sturm und Drang (Anm. 12), S. 149–171, hier S. 166.

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korrespondiert – wie im Sturm und Drang üblich – mit dem der Harmonie, der Liebe, der Freundschaft. […] Das Schauspiel hat ein Happy-End, die persönlichen Feindschaften und der Weltschmerz lösen sich auf in wiederhergestellten Freundschaften, Liebschaften und Familienbanden.“45 In dieser Lesart ist Klingers Sturm und Drang eine Schmonzette, abzurunden durch ein Ballett, das in den Tagen der Erstaufführung ans Ende der Theateraufführung gehängt wurde, zur Unterhaltung und Auskehr der Besucher.46 Verschwunden ist damit – unter dem Schutz der Liebe – das Unglück der Nebenfiguren, der Tumult, das Durcheinander, die Verzweiflung und die Disharmonie, das Gewusel der Szenen und die wortreiche Arbeit am und gegen den Zufall. Wie ist es aber, wenn man Sturm und Drang nicht als geschlossenes, sondern als offenes Drama liest und unter dieser Voraussetzung der Szenenfolge des letzten Aktes Wort für Wort folgt? Die Grausamkeiten des Krieges haben kaum Platz an der Peripherie. Aber sie sind da. Zu Beginn des 5. Aktes warten die Frauen des Hauses auf die Männer, ungewiss, ob sie wiederkehren werden. Betty weiß zu berichten: „O, Gott! es kommen so viele Verwundete! gar schöne Leute, Miß! da war eben einer mit einem halben Kopf. Das Herz möchte einem brechen“ (58). Gegen dieses Spiel im Spiel ist der Mohr wirklich verzweifelt, nicht nur, weil ihn das Geschick seiner Herrschaft bewegt. Er wird im Traum durch sein eigenes Schicksal eingeholt, den Verlust der Eltern, der Heimat. „Wie ich aufwachte, war mir recht lustig, da hatt’ ich eben die ganze Nacht meinen Vater, den Zukai und meine Mutter besucht. […] Sie wollten mich nicht fort lassen […]. Jetzt bin ich traurig.“ Darauf Caroline: „Armer Knabe!“ (59 f.). In der Tat. Schiffscapitain Boyet, dem der Mohr gehört, ist ein Sklavenschinder, der seine Zuneigung mit Schlägen verteilt, hündische Verehrung erwartet und auch sonst eine seltsame, sexuell aufgeladene Beziehung zu seinem Diener führt. Konkret im 3. Akt. Mohr: „Schinde mich! zieh mir die Haut übern Kopf wilder Lord! bin dein Junge, bin dein Affe, dein Soley, dein Hund“. Kapitain: „Zuckerrohr von einem Mohrjungen! Willst du Schläge haben?“ (37). Im Vergleich zu den beiden weißen, alteuropäischen Familien ist der Mohr der eigentlich Entwurzelte, dessen Solidarität und Traurigkeit weder entlohnt noch bedacht werden. „Ach ich habe oft zu weinen! wir Schwarzen lernen weinen gar früh von Euch, aber ihr lacht dann!“ (60). 45  46 

Schulte-Sasse, „Drama“ (Anm. 26), S. 482 f. Heinrich Leopold Wagner, Briefe, die Seylerische Schauspielergesellschaft und Ihre Vorstellungen zu Frankfurt am Mayn betreffend, Frankfurt am Mayn: bei den Eichenbergischen Erben 1777, S. 131–167, zitiert nach Klinger, Sturm und Drang (Anm. 12), S. 78–97, hier S. 97 („Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“).

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Einen anderen Traum hat La Feu, der gleich im Anschluss die Szene betritt. Er singt mit Lady Kathrin das hohe Lied der Dichtung, deren phantastische Gestalt stärker sei als die Realität. Er steigert sich hinein in einen „poetischen, arcadischen Traum“, den Klinger ausstaffiert mit den Elementen der Bukolik. Lady Kathrin weiß wohl, was dazu gehört: „O Mylord! und Schäfchen, einen Schäferhut, Schäferstab, Schäferkleid weiß mit roth! Ich hab noch solche eine Maske aus London mitgebracht.“ Darauf La Feu: „Und so wollen wir das Leben wegphantasiren. Ewig in Friede, ewig in Liebe leben! o der Seligkeit“ (61). Hier bissige Ironie, dort Verlust und wahre Not. Die Szenenfolge lässt keinen Zweifel aufkommen an Klingers kritischer Haltung. Die Dichtung kommt dabei schlecht weg, zumindest die, die sich in die Formen und Konventionen der Vergangenheit kleidet. Ganz anders, und doch ähnlich, verhalten sich Blasius und Louise. Blasius gibt sich als vollendeter Langweiler, der im Ehestand die institutionelle Verstetigung des Ennui sieht. Louise mag ihm nicht folgen, sondern lieber tanzen und fröhlich sein. Zu den verwundeten Soldaten bemerkt sie: „Die armen Leute! was werden sie so müde vom Schiessen seyn.“ Blasius dagegen will Eremit werden und in einer Höhle wohnen. „Himmel und Erde sind mir Freunde worden diese Nacht, und die ganze Natur“ (63). Damit treten die Nebenfiguren ab, nur der Mohr übernimmt noch einmal eine tragende Rolle. Er verrät, dass der vermeintlich tote Lord Bushy, Wilds Vater, durch seine Hand am Leben geblieben ist und gleich auftreten wird. Erst damit wird die Versöhnung am Ende des Stückes möglich. Denn Bushy, der nach seinen Worten vor der Vollendung einer „Pilgrimschaft […] voller Kummer und Leiden“ (71) steht, nimmt der tragischen Rachsucht die Schärfe des Hasses und will versöhnen. Berkley und sein Sohn zögern noch, sie wollen nicht nachgeben, sondern kämpfen. Als aber Bushy die Formel spricht „Laß uns alles gut machen, laß uns in Liebe leben“ (73) und die beiden Liebenden, Wild und Caroline, das Hoffnungspaar dazu abgeben, gibt Berkley nach. „Komm, Bushy, die Allee hinab, ich will versuchen, ob ich mich mit Dir vertragen kann. Ich kann Dir noch über keine meiner Empfindungen Wort geben, haß ich dich noch, und – es fällt mir so vieles ein – Komm nur!“ (74). Von einem glücklichen Ende aber kann keine Rede sein. Schließlich sind „die Überwindung des jahrelangen Hasses und das offene Reden über Gefühle […] Momente, die sich im dramatischen Off abspielen und lediglich als kommunikativer Versuch bewertet werden können“.47 Mehr nicht. Zwar hebt der 5. Akt die Regeln und Affekte der Tragödie auf – Schauder und Jammer, oder in Bushys Übersetzung:

47 

Constanze Baum, „Sturm und Drang (Klinger)“, in: Luserke-Jacqui (Hrsg.), Handbuch Sturm und Drang (Anm. 36), S. 590–600, hier S. 598.

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Kummer und Leiden – zu Gunsten des in Liebe vereinten Paares. Aber nur als Versprechen. Wie steht es dann, bei so viel Leid, um das Verhältnis von Komödie und Tragödie? Auch da, wo es komisch wird, in den seltsam krummen Liebesverhältnissen von La Feu und Blasius, wird die tragische Grundstimmung der Figuren nicht aufgehoben. Sie wird vielmehr hervorkehrt durch die unwahrscheinliche Zuneigung und Weltferne, die zu empfinden sie sich einbilden. Im Grunde sind Klingers Figuren gescheiterte Existenzen, Opfer der willkürlichen Geschichte, gestrandet im Nirgendwo. Was sie zusammenführt, ist die Form des Dramas, die Symmetrie der Figurenanordnung, die Gefälligkeiten der dramatischen Lust, nicht aber die Logik der Handlung.48 Dementsprechend verlaufen die Zusammenkünfte, die Auf- und Abschwünge der Handlung, die Erkennungsszenen, die vielfach gestufte Spannungskurve, schließlich das (nur vermeintlich) glückliche Ende. Die Handlung folgt nicht einer Dramaturgie, die an der Wahrscheinlichkeit der Ereignisse oder der Einheitlichkeit der Charaktere interessiert wäre. Die Figuren handeln nicht folgerichtig; sie sind nicht von bestimmten Absichten geleitet; viele Äußerungen und Taten scheinen unmotiviert. Die Wirklichkeit, in der sie leben, ist so unbestimmt wie die lakonische Beschreibung des Schauplatzes: ‚Die Scene Amerika.‘49

In Anlehnung an Aristoteles könnte man sagen: Hier verdient das Unmögliche, das unglaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das glaubwürdig ist.50

48 

49  50 

Dazu Gerhard Kaiser, „Friedrich Maximilians Klingers Schauspiel ‚Sturm und Drang‘“ (1973), in: Manfred Wacker (Hrsg.), Sturm und Drang, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985 (= Wege der Forschung 559), S. 315–340, und zuletzt Anna Poeplau, Selbstbehauptung und Tugendheroismus. Das dramatische Werk Friedrich Maximilian Klingers zwischen Sturm und Drang und Spätaufklärung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 (= Epistemata 751): „Die intendierte ‚Überhitzung der Leidenschaften‘ [Kaiser, 321], zu der auch die sprachliche Gestaltung des Dramas beiträgt, verknüpft der Autor mit einem geradezu demonstrativen Verzicht auf eine stringente, kausal schlüssige Handlungsführung: Eklatante Motivationsdefizite – etwa im Hinblick auf die Hintergründe der Familienfehde – und zahlreiche Zufälle, wie das Zusammentreffen der in alle Welt verstreuten Familienmitglieder in einem amerikanischen Gasthaus, bestimmen die Szene.“ (S. 126). Ulrich Karthaus, Sturm und Drang. Epoche – Werk – Wirkung, zweite, aktualisierte Ausgabe, München: C. H. Beck 2007, S. 106–112 („Ein Wirrwarr von Komik und Tragik. Friedrich Maximilian Klinger: Sturm und Drang“), hier S. 109. Nach Aristoteles, Poetik (Anm. 2): „Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist.“ (S. 93).

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Sehen wir uns vor diesem Hintergrund die Grundzüge von Klingers Drama noch einmal an: Klinger übertreibt die Konventionen der Typenkomödie so rigoros, dass sie in den Vordergrund rücken. Er betreibt einen ernsten Scherz, den er an seinen Figuren exekutiert. Wild etwa, den man sich als Genie vorstellen darf, ist verworren, zerstreut, durcheinander, unsortiert, ohne Anfang und Ende. Wenn er versucht, seine Lebensgeschichte zu erzählen, also eine Begründung dafür abzugeben, warum er sich genau dort befindet, wo er sich befindet, scheitert er. Er kann weder einen richtigen Anfang, eine treffende Mitte oder ein gültiges Ende zusammenfinden. Das gleiche gilt auch unter etwas anderen Bedingungen und mit wechselndem Niveau für die anderen Figuren. Sie sind zwar bemüht, sich als Subjekte zu konstituieren, indem sie im Laufe des Dramas versuchen, ihren Werdegang und ihr Schicksal zu erzählen, es gelingt ihnen aber nicht, jedenfalls nicht zufriedenstellend. Dieser Umstand wird durch die dramatische Form und den Spielort gespiegelt. Kein Wunder, dass die eher träge bis negative Rezeption des Stückes bis heute mehr oder weniger geschlossen unsicher ist, worum es in Klingers Drama eigentlich geht. Klinger selbst hat sich darüber avant la lettre lustig gemacht. „Ich hab die tollsten Originalen zusammengetrieben. Und das tiefste tragische Gefühl wechselt immer mit Lachen und Wiehern.“ Oder: „Dann hab ich ein Drama geschrieben das toll ist und dich amüsiren wird, und das noch nicht fertig ist […]. Es kommt noch auf einige Scenen an – denn kannst du comisch und tragisch mit einer bittren Sauce zusammen verschlukken.“51 Woran man sich verschluckt, ist erstens die Vermischung von Tragödie und Komödie, zweitens die Korrespondenz zwischen dem zerrissenen Ich und der zerrissenen Sprache bzw. zwischen Geschichte und dramatischer Form. Das Thema [der „Fadenriss zwischen Welt und Ich“] wird nicht nur hundertfach variiert, es setzt sich bis in den Stil hinein fort. Die zahlreichen Anakoluthe und Ellipsen der Klingerschen Sätze erschweren das spontane Verständnis des Schauspiels, was freilich ein weniger auf Wirkung als auf Selbstausdruck bedachter Dichter wie Klinger nicht als Nachteil empfindet.52

Warum auch: Gegenstand des Dramas ist, das verunsicherte Subjekt und die Kontingenz von Ort, Zeit und Handlung sprachlich zu imitieren. Auf die

51  52 

Klinger, Briefe an Ernst Schleiermacher, vom 4. 9. bzw. 12. 9. 1776. Zitiert nach ders., Sturm und Drang (Anm. 12), S. 75 („Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte“). Schulte-Sasse, „Drama“ (Anm. 26), S. 481 f.

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„Deterritorialisierung der Reise“ folgt die Deterritorialisierung der Sprache.53 Dass man nicht mehr weiß, worum es geht, ist kein Problem, sondern Thema der Dramaturgie und Handlungsführung. Der elliptische Stil markiert diesen Verlust der Referenz – ohne ihn zu ersetzen. Dass Klinger sich dabei ständig wiederholt (oder variiert), erschöpft zwar, führt aber dazu, dass der Bruch mit der Normalsprache von Szene zu Szene an Komik gewinnt, bis zur Langeweile der Wiederholung. Nichts wird wirklich ernst genommen, und wenn doch, dann verliert es sich wieder im Gerede. Reden ist geredet werden. Kurz: Es sind die Gesten einer Epoche, die man zu lesen bekommt. Insofern bewegt sich Klingers Drama bereits am Abgrund seiner literaturgeschichtlichen Periode. Es ist das Fanal einer Bewegung, deren Witz und Übertreibung. Gleichwohl gibt es ein Ziel in diesem Drama, das beständig angerufen und ausgerufen wird: das Herz. Es soll an die Stelle der verlorenen Sicherheiten treten, es soll die zerstreuten Seelen, die gescheiterten Existenzen, die erlittenen Schicksalsschläge, schließlich die verlorengegangenen familiären und gesellschaftlichen Bindungen wieder vereinen. Es soll also jene Kontingenz zum Verschwinden bringen, die dem Anfang und der Geschichte innewohnt (einer Geschichte mit vakanter Zeit, Handlung und vakantem Ort). Dafür bedarf es einer entsprechenden Sprache, der es gelingt, Ausdruck und Kanal jener erneuerten Gemeinschaft zu sein, nach der die beiden verfeindeten Familien suchen. Vielleicht ist Klingers Stück deshalb so handlungsarm. Es befindet sich noch, erst oder wieder im Raum der phatischen Kommunikation; es sucht nach einem Medium, das es ermöglicht, die Figuren wieder zusammenzuführen. Das Herz ist dieses Medium, allerdings, und das zeichnet Sturm und Drang aus, ist Klinger schon aus der Herzeuphorie der Empfindsamkeit und des frühen Sturm und Drang herausgetreten. Die Zuversicht der Liebe, die es noch Anfang der 1770er Jahre zu bewundern galt, ist der Pathologie und Übertreibung des Sentiments gewichen. Kein Wunder, dass nach Klingers Drama eine ganze Reihe an Herz- und Genieparodien entstehen. Man denke nicht zuletzt an Klingers Plimplamplasko, der hohe Geist (heut Genie). Eine Handschrift aus den Zeiten Knipperdollings und Doctor Martin Luthers selbst (1780, mit Lavater und Jakob Sarasin gemeinsam verfasst). Das Herz ist nicht nur Sehnsuchtsort einer kommenden, neuen Gesellschaftsform, sondern auch Modus der Wiedereinholung und Normalisierung der verwundeten, zerstreuten Körper und Seelen, die uns Sturm und Drang vor Augen führt. Die 53 

Ute Gerhard, „Literarische Reisen zwischen Selbstfindung und Selbstentäußerung. Exemplarische Blicke auf Texte von Sterne, Eichendorff und Traven“, in: Der Deutschunterricht 4 (2002), S. 27–36, hier S. 36.

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Normalisierung führt über die Sprache, an der sich die Figuren ausdauernd üben und reiben. Dass sie hier scheitern, macht Klingers Drama so interessant. Sie scheitern nicht nur, weil sie vergeblich üben, sondern auch und zuerst, weil die versprochene Individualität und Freiheit des Herzens bereits eingefangen und formalisiert worden ist. Sie ist zur Phrase und zum bitteren Witz ihres Versprechens geworden. Sie ist schon normal. Ihre ‚Linie‘ übt noch einmal jene Gewalt aus, die die Figuren an den Gasthof irgendwo in Amerika gespült hat.54

54 

Zum Begriff der Linie in der Normalismusforschung siehe Ute Gerhard, „Linien und Kurven – zur Normalisierung autobiographischer Narration zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, in: dies., Grünzweig, Link und Parr, (Nicht) normale Fahrten (Anm. 32), S. 179– 191, insbesondere S. 187–190.

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Stückwerk. Zur Poetik des Kleinen bei Robert Walser Marianne Schuller I

Stücke

Robert Walser hat eine unübersehbar große Zahl von kurzen Prosatexten geschrieben, die vornehmlich im Feuilleton unterschiedlicher Zeitungen und Zeitschriften publiziert worden sind. Nicht zuletzt haben die Forschungen von Peter Utz die grundlegende Bedeutung des Feuilletons als Publikationsort und als Bezeichnung eines Text-Genres für die Ausrichtung der literarischen Produktion Walsers herausgearbeitet. Dies betrifft die Frage des Umfanges des einzelnen Textes – er muss ‚kurz‘ sein –, sowie deren durch die verschiedenen Publikationsorte veranlasste Zerstreuung, die die Ausbildung eines auf Wiedererkennbarkeit des Verfassers abgestellten ‚Tones‘ zur Folge hat. Darüber hinaus hat der Publikationsort Feuilleton Auswirkungen auf das mit ‚der Literatur‘ als codiertem eigengesetzlichen Bereich verbundenen Konzept von Autorschaft: Das Feuilleton als flüchtiges, dem Tag und dem Alltag verschriebenes Genre rechnet weniger mit einem Autor als vielmehr mit einem Schreiber bzw. einem Verfasser, der zugleich Textlieferant ist. Dazu einige über die Produktion Walsers Aufschluss gebende Daten: Dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zufolge hat Robert Walser allein der Berner Zeit von 1921 bis 1933 ungefähr eintausend Texte verfasst, die er, mit unterschiedlichem Erfolg, an Zeitungen zu liefern sich bemüht hat. Und diese Produktion hat Robert Walser vornehmlich dem Titel ‚Prosastück‘ unterstellt. Das hat dazu geführt, dass Robert Walser vor allem als Verfasser von Prosastücken bekannt geworden ist. Was aber macht das Stückhafte am Prosastück aus? Zunächst einmal scheint zu gelten, dass die Bezeichnung ‚Prosastück‘ wegen der großen verschiedene Genres unter sich versammelnden Allgemeinheit favorisiert wird. Sozusagen als Passepartout. Um der Allgemeinheit zu entkommen, reicht es auch nicht, die Frage des Umfangs ins Feld zu führen. Klar scheint, dass um als ‚Stück‘ zu fungieren, der Text kurz bzw. nicht lang sein muss. Aber was heißt das? Ist es eine Frage der Messbarkeit? Wie es ‚längere Texte‘ unter dem Signum ‚Prosastück‘ gibt, so darf umgekehrt ein Text auch nicht ganz kurz sein, um als Stück etikettiert werden zu können. Im Gegenzug zu diesen den Texten eher äußerlich bleibenden Messlatten hat Michael Niehaus den Vorschlag gemacht, die

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_017 .7

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Spezifik des Prosastücks aus der Spannung zum Werk-Begriff zu entwickeln. Danach wird durch die Zuschreibung als Prosastück dem Text ein Status verliehen, der ihm einen Platz und etwas Eigenes, von anderem Abgegrenztes zuweist. Jedoch ist dieses ‚Eigene‘ nicht von der Art eines ‚Werkes‘, sofern damit ein Gebilde gemeint ist, „was als für sich selbst stehend aufgefasst wird.“ Davon unterscheidet sich das Prosastück insofern, als es etwas ist, das „seinen Platz oder seinen Ort in einer Umgebung beansprucht.“1 Nach dieser Bestimmung, die auch eine Unterscheidung zum Fragment als einem unvollendeten Werk impliziert, bringt das Stückhafte in seiner Verwiesenheit auf den Begriff ‚Umgebung‘ ein Moment von Kontingenz ins Schreib-Spiel, das der Platzierung im Feuilleton entgegen kommt: Das Feuilleton ist, da es stets eine dem ‚Stück‘ notwendige und zugleich kontingente Umgebung mitliefert, dem Walserschen Prosastück keineswegs äußerlich, sondern inhärent. Die im Entstehen begriffene Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte Robert Walsers, die nicht mehr von ‚Werk‘ spricht, bringt diesen für die Stückhaftigkeit der Prosastücke entscheidenden Zug zur Geltung, wenn sie die dem jeweiligen Text zugehörende Umgebung auf der Feuilletonseite rekonstruiert und schematisch darstellt: Nicht als Teil, nicht als Splitter oder Mosaik eines unterstellten Ganzen, sondern in seinem Anspruch auf eine Umgebung wird das Prosastück zu einer die literarische Produktion Walsers hervorbringenden und bestimmenden Figur des Kleinen. Die die Kontingenz des Schreibanlasses bejahende Figur des Kleinen führt nicht nur zu einer seriellen, sich performativ endlos fortsetzenden „Proliferation“2 von Prosastücken, sondern bringt auch die textanalytischen Bemühungen in ihren verschiedenen Spielarten in Bedrängnis: In dem Maße wie sie sich der Unterstellung einer Grundstruktur, auf die hin das einzelne Stück interpretiert werden könnte, widersetzt, setzt sie auch die aufs Paradigmatische zielende Beweiskraft des Zitats tendenziell außer Kraft. Wenn nämlich im Zuge der unendlichen Wortmenge und der Überfülle an „Sprachgirlanden“3 für jedes ausgemachte Strukturmerkmal ein zitierbarer Beleg dem 1  Michael Niehaus, „Das Prosastück als Idee und das Prosastück verfassen als Seinsweise: Robert Walser“, in: Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche (Hrsg.), Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textsfeldes im Literatursystem der Moderne, Tübingen: Max Niemeyer 2007, S. 173–186, hier S. 174. 2  Samuel Frederick, Narratives Unsettled. Digression in Robert Walser, Thomas Bernhard and Adalbert Stifter, Evanston, Illinois: Northwestern University Press 2012. 3  Walter Benjamin, „Robert Walser“, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor  W.  Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 932), S. 324–328, hier S. 326.

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riesigen, durch „Spuren, Falten, Einschnitte“4 sich fortsetzenden Textgebiet entnommen werden kann, dann wird ironischer Weise nicht zuletzt durch den Beweis das festgestellte Strukturmerkmal ins Gleiten gebracht. Es ist nicht zuletzt diese ironische Geste, welche, indem sie der Textanalyse einen metasprachlich gesicherten Halt entzieht, das Gleiten und Verschwimmen initiiert und fortsetzt. Damit ist eine Bewegung in Gang gebracht, die sich im wiederkehrenden Motiv der Kahnfahrt spiegelt: Im Gleiten des Bootes auf der Wasseroberfläche gibt es ein Verschwimmen von grundloser Tiefe und der Nähe des Wasser, das unfassbar und unerreichbar zugleich ist.5 „Sie glitten und gingen unter den übrigen Dahingleitenden und -gehenden wie ein Geträumtes in einem Geträumten“.6 In diesem abgründigen Sinne sind nicht nur die Walserschen Figuren, sondern sind die Prosastücke in ihrer „Geschwätzigkeit“ von einer, wie es bei Walter Benjamin heißt, „unbeirrbaren Oberflächlichkeit“, die „den Wahnsinn hinter sich“ hat. „Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. […] Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, sogar ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben“.7 Wenn Benjamin die Beobachtung einer „scheinbar völlig absichtslosen und dennoch anziehenden und bannenden Sprachverwilderung“ macht, so markiert diese einen Gegenpol zu den „mehr oder minder durchgebildeten, absichtsvollen Kunstwerken“, sofern deren Stil an die Bearbeitung von Inhalten gebunden ist. Für Walser dagegen gelte „das Wie der Arbeit so wenig Nebensache, daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. Man möchte sagen, daß es beim Schreiben draufgeht“.8 Die Bedeutung des Schreibens, das jeden Inhalt gleichsam verzehrt, ist genauer zu bestimmen: Wenn das Inhaltliche bei Walser im Prozess des Schreibens draufgeht, dann nicht zuletzt deswegen, weil die schier unübersehbare, in alle Winde zerstreute literarische Produktion ganz auf den Vorgang des Aussagens und nicht, wie beim ‚Werk‘ auf die Seite des Ausgesagten als Inhalt fällt. Ist also die Unterscheidung von Kunst als Werk und der Literatur Walsers 4  Robert Walser, „Das ‚Tagebuch-Fragment‘ von 1926“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band  18: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit. 1926, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 59–110, hier S. 108. 5  Vgl. Michael Niehaus, „Ich, die Literatur, ich spreche  …“. Der Monolog der Literatur im 20. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 302. 6  Robert Walser, „Schützenfest“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, Band 19: Es war einmal. Prosa aus der Berner Zeit. 1927–1928, S. 42–45, hier S. 45. 7  Benjamin, „Robert Walser“ (Anm. 3), S. 327. 8  Ebd., S. 325.

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mit dem Vorgang des Aussagens verbunden, so schiebt sich notwendiger Weise eine die Walsersche Literatur bestimmende Figur in den Vordergrund: die Figur des Schreibenden, die Figur des die Aussage machenden ‚Ichs‘. Robert Walsers Prosatexte indizieren sich selbst als Sprechakte, wobei sogar das, was erzählt werden könnte, gesprochen wird.9 Dabei weiß das ‚Ich‘, das hier spricht, dass es spricht, und es spricht davon: „Ich schreibe hier ein Prosastück, worin ich jeden Satz mit einem selbstbewußten Ich anfangen will“.10 II

‚Ich‘ und „Ich-Buch“

Die Differenz von Kunst als Werk und Walsers Prosastücken, nicht zuletzt durch die Verlagerung vom Ausgesagten zum Subjekt des Aussagens hervorgebracht, kommt in zahllosen Reflexionen auf das Text-Ich, zumal in der Prosa der Berner Zeit zur Sprache. Wenn die endlose Proliferation dieser ‚Ich‘-Reflexionen als Proliferation ebenso entscheidend wie nicht zitierbar ist, so macht die folgende Sequenz doch Züge der Selbstpositionierung Walsers lesbar. Das längere Zitat, das dem unveröffentlichten Prosastück Meine Bemühungen von 1928 entnommen ist, lautet: Vor ungefähr zwanzig Jahren verfaßte ich mit einer gewissen Behendigkeit drei Romane, die dies unter Umständen gar nicht sind, die vielmehr Bücher sein mögen, worin allerlei erzählt wird […]. Als ich zur Schule ging, lobte einer meiner Erzieher oder Lehrer meine Handschrift, die aller Wahrscheinlichkeit nach eine ausgesprochene Prosastückhandschrift ist, die mir zahlreiche Skizzen usw. auszufertigen half und mich meinen Schriftstellerberuf aufrechtzuerhalten befähigte, worüber ich mich selbstverständlich freute. Ich ging seinerzeit vom Bücherverfassen aufs Prosastückschreiben über, weil mich weitläufige epische Zusammenhänge sozusagen zu irritieren begonnen hatten. Meine Hand entwickelte sich zu einer Art Dienstverweigerin. Um sie zu begütigen, mutete ich ihr gern nur noch geringere Tüchtigkeitsbeweisablegungen zu, und siehe, mit derartiger Rücksichtnahme gewann ich sie mir allmählich wieder. Wie ich glaube, besaß ich einst einen bessern Namen; doch gewöhnte ich mich auch an einen weniger ausgezeichneten, indem ich wünschte, ich erklärte mich mit der Bezeichnung ‚Zeitungsschreiber‘ einverstanden. Nie beeinträchtigte mich die sentimentale Idee, man könnte mich für artistisch irregegangen halten. Die Frage ‚Ist’s nicht mehr Kunst, was du treibst?‘ schien mir mitunter sachte die Hand auf die Schulter zu legen, ich durfte mir jedoch sagen, daß sich einer, der 9  10 

Vgl. Niehaus, „Ich, die Literatur, ich spreche …“ (Anm. 5), S. 288. Robert Walser, „Die leichte Hochachtung“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band  19: Es war einmal. Prosa aus der Berner Zeit.  1927–1928, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 112–116, hier S. 112.

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mit Bemühtbleiben weiterfährt, nicht von Forderungen behelligen zu lassen braucht, deren idealistische Last ihn beunlustigte.11

Wenn Walser den Übergang vom Roman zum Prosastück als eine Art Drehpunkt seiner Literatur herausstellt, führt er die mit dem Roman als Gattung verbundene Forderung eines epischen, an Handlung ausgerichteten Zusammenhanges als Grund für seine Abwendung von dieser Form an. Zugleich aber zieht Walser in Zweifel, ob die Orientierung an einer handlungsgesteuerten Werkeinheit für seine Romane überhaupt Geltung hätten: Enthalten nicht schon die Romane die Tendenz zum Prosastück, indem sie sich weniger im Zeichen einer abgeschlossenen Werkeinheit als vielmehr, „dies und jenes“ erzählend, über Abweichungen und Digressionen fortsetzen?12 Zugleich wird die Tendenz zum Prosastück mit dem Verweis auf das Handwerkliche des Schreibens verbunden. So heißt es in einer späten Erzählung: „Bin ich gut aufgelegt, d. h. bei guter Laune, so schneidere, schustere, schmiede, hoble, klopfe, hämmere oder nagle ich Zeilen zusammen […] Man kann mich, falls man Lust hiezu hat, einen schriftstellernden Drechsler nennen. Indem ich schreibe, tapeziere ich“.13 Jenseits jeder Reflexion auf eine das Schreiben motivierende Innerlichkeit wird die dem Schreibvorgang vermeintliche Äußerlichkeit der Handschrift wie die der Hand ins Feld geführt: Wenn die Handschrift als materielle Spur des Schreibens14 und die Hand als dessen Instrument und Medium gefasst werden, dann deutet sich in diesen scheinbar beiläufigen Bemerkungen an, dass der die Geschichte des Schreibens bestimmende ausschließende Gegensatz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit für Walser seine theoretische Geltung verloren hat. Diese auch theoretisch folgenreiche Erweiterung des Denkens des Schreibens und der Schrift, die sich in den Prosastücken ereignet, hat jedoch, wie der oben zitierten Sequenz zu entnehmen, zumindest zu Walsers Publikationszeiten eine Kehrseite: Wenn die Prosa in der von Walser selbst gemachten Zuschreibung als Prosastück den Status des Werkes und damit die Zugehörigkeit zur ‚Kunst‘ verliert, verblasst auch der ‚bessere Name‘, nämlich 11  12  13  14 

Robert Walser, „Meine Bemühungen“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 20: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit. 1928–1933, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 428–430, hier S. 428 f. Vgl. Frederick, Narratives Unsettled (Anm. 2). Robert Walser, „Eine Art Erzählung“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 20: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit. 1928–1933, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 322–326, hier S. 322. Vgl. Davide Giuriato und Kammer, Stephan (Hrsg.), Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension von Literatur, Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld  2006 (= Nexus. Die kulturwissenschaftliche Bibliothek 71).

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der Name ‚Autor‘. An die Stelle tritt die Bezeichnung ‚Zeitungsschreiber‘ mit all ihren bezogen auf die Kategorien Kunstwerk und Autor depravierenden Konnotationen. So heißt es in dem ebenfalls unveröffentlichten Prosastück von 1928/29 Für die Katz: Ich schreibe das Prosastück, das mir hier entstehen zu wollen scheint, in stiller Mitternacht und ich schreibe es für die Katz, will sagen für den Tagesgebrauch. / Die Katz ist eine Art Fabrik oder Industrieetablissement, für das die Schriftsteller täglich, ja vielleicht sogar stündlich treulich und emsig arbeiten oder abliefern.15

Dagegen ragen, wie es ironisch heißt, die „Meisterwerke der Kunst […] hoch über das Summen, Brummen, Sausen, Brausen des Tages hinaus“, um schließlich im „Hafen fernliegender Nachwelt“ zu landen. Daraus zieht der im Text als ‚Ich‘ namhaft gemachte Schreiber den Schluss: „Ich nenne die Mitwelt Katz; für die Nachwelt erlaube ich mir nicht, eine familiäre Bezeichnung zu haben“.16 In der Selbstpositionierung als ‚Zeitungsschreiber‘ und Verfasser von Prosastücken tritt deutlich eine Verschiebung des Konzepts von Literatur hervor: Aus dem Autor, der ein Werk hervorbringt, ist ein Lieferant von Texten für den Tagesgebrauch geworden, die flüchtig und zerstreut, dem Vergessen anheim gegeben sind. Dass die Zerstreutheit, von der Walser spricht, sich keineswegs nur durch den empirischen Publikationsort Zeitung erklärt, zeichnet sich mit der inzwischen grundlegend veränderten Publikationssituation ab: Die Versammlung der Texte zu Werkausgaben (Jochen Greven), vor allem das große Projekt der Kritischen Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte nämlich macht lesbar, dass die Texte in sich zerstreut sind. Das Schreiben „für die Katz“ erweist sich damit als eine tiefgreifende Verabschiedung des Werkkonzeptes, deren Unheimlichkeit und Abgründigkeit nicht zuletzt aus der Walserschen Geste der Bejahung rührt. Dabei ist Bejahung nicht als Kritiklosigkeit, sondern im Sinne Nietzsches als ein wachsames Aufnehmen und Auf-Sich-Nehmen der Wirklichkeit zu verstehen.17 Dazu gehört auch die Konstitution des ‚Ich‘, das sich in nahezu allen ProsaStücken als Verfasser indiziert und das die Prosastücke verbindet. Dieses als Verfasser indizierte ‚Ich‘ ist das fiktive Aussagesubjekt, demgegenüber der Schreibende notwendig außerhalb des Textes bleibt. Als fiktives Aussagesubjekt 15  16  17 

Robert Walser, „Für die Katz“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 20: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit. 1928–1933, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 430–432, hier S. 430. Ebd., S. 430–431. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), aus dem Französischen übersetzt von Bernhard Schwibs, München: Rogner & Bernhard 1976, S. 197.

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ist das ‚Ich‘ das, worauf die Worte des Textes zugerechnet werden und gleichzeitig das, was sich durch diese Worte allererst konstituiert. Das ‚Ich‘ als Figur des Verfassers kann nur figurativ von sich sprechen oder anders: der Verfasser ist nicht mehr der Autor, der sich im Werk verwirklicht, sondern der sich im einzelnen Prosastück entzieht.18 Insofern das Verfasser-‚Ich‘ bei Walser sich stets als das markiert, das den Text aussagt, kann es im „Hervorrupfen von Schreibanläßlichkeiten“, auch und gerade „aus einem fremden Erzeugnis“,19 in Funktion treten. In dem Maße wie es nie durch das gerechtfertigt ist, was innerhalb des Textes geschieht, wie es sich niemals in den Rollen, die es annimmt und nicht in dem erschöpft, was es von sich sagt,20 kann es alles zum Anlass eines Schreibens machen. Dieses Schreiben produziert das, was Walser als „Ich-Buch“ bezeichnet. So heißt es in dem ebenfalls unveröffentlichten Prosastück Eine Art Erzählung von 1928/29: Meine Prosastücke bilden meiner Meinung nach nichts anderes als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte. Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können.21

Weit davon entfernt ein schlichter, die Rätsel der Walserschen Prosa erläuternder oder gar lösender Kommentar zu sein, gibt diese häufig zitierte Sequenz selbst Rätsel auf. Das „Ich-Buch“ wird zwar als Summe der Prosastücke entworfen, aber es bildet kein Ganzes. Vielmehr setzt es sich durch Schnitte fort: Jedes Prosastück fügt einen Schnitt hinzu. In dem Maße wie es keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende hat, subvertiert es nicht nur die Konzeption von ‚Werk‘, sondern ebenso die im Zeichen von Einheit stehende Konzeption von ‚Buch‘. Aus dem, wie hier als ‚Geschichte‘ und ‚Roman‘ aufgerufen wird ist nicht nur auf eine, vielleicht ironische Abgrenzung gegenüber den großen Erzählungen als Autobiographie und Roman zu schließen, vielmehr ist es die Koppelung von Weiterschreiben und Selbigkeit, die Fragen aufwirft. Das IchBuch zeichnet sich als das ab, das sowohl das ‚Ich‘ als auch das ‚Buch‘ erzeugt, sofern sich beides gegenseitig bedingt: Einerseits verleiht die formale Kategorie ‚Ich‘ den Texten einen als ‚Buch‘ etikettierten Zusammenhang und zugleich wird das ‚Ich‘ durch das ‚Buch‘ konstituiert. Es ist das ‚Buch‘, das dem 18  19  20  21 

Vgl. Niehaus, „Das Prosastück als Idee“ (Anm. 1), S. 185. Walser, „Das ‚Tagebuch‘-Fragment von 1926“ (Anm. 4), S. 76. Niehaus, „Ich, die Literatur, ich spreche …“ (Anm. 5), S. 292. Walser, „Eine Art Erzählung“ (Anm. 13), S. 322.

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‚Ich‘ seine leere „Selbigkeit“ zuführt, weil es sich als fiktives Aussagesubjekt in keinem einzelnen Werk „sättigt“.22 Wie der damit notwendig bleibende ‚Hunger‘ das Weiter- und Weiterschreiben notwendig macht, so wird auch eine Nuancierung der Rede von der Positionierung des Schreiber-Ichs notwendig: Es ist, wie sich jetzt herausstellt, nicht einfach außerhalb, sondern in der anwesenden Abwesenheit des ausgesagten Aussagesubjekts auch innerhalb des Textes angesiedelt.23 In dem Maße wie sich die Walserschen Prosastücke in einem übergänglichen Zwischenraum zwischen Innen und Außen bewegen, geraten sie nicht nur in eine zarte, kleine, leichte Schwebe,24 sondern darüber stellt sich zugleich eine Beziehung zum ‚wirklichen‘ Leben her. Die Weise dieser Beziehung deutet sich in Walsers Rede vom „Lebensparallelismus“ an,25 den er mehrfach für seine Schriften in Anschlag bringt: In der Rede vom „Lebensparallelismus“ ist jener Schwellenraum des Zwischen bewahrt, der die angesprochenen Bereiche notwendig trennt und als getrennte verbindet. III

Aufschub

Die Schwebe der Walserschen Prosa wird nicht zuletzt durch das der Struktur von Sprache immanente Verfahren des Aufschubs hervorgebracht.26 Das Verfahren des Aufschiebens prägt das versammelte Erzählwerk auch in der Weise, dass es immer wieder, in unzähligen Stücken zum Gegenstand des Erzählens gemacht wird. Wenn es das Wiederkehren des Aufschubs ist, welches die Prosa auszeichnet, dann stellt sich erneut der Verweis auf einen Text als ein dem Walserschen Erzählen gegenüber ebenso unangemessenes wie unvermeidliches Verfahren heraus. Unter diesem Vorbehalt kommt gleichwohl ein häufig zitiertes, ein, ironisch gesagt, gleichsam kanonisches Prosastück mit dem sprechenden Titel Der heiße Brei in den Blick. Dort heißt es: 22  23  24  25 

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Niehaus, „Ich, die Literatur, ich spreche …“ (Anm. 5), S. 293. Niehaus, „Das Prosastück als Idee“ (Anm. 1), S. 182. Vgl. Jörg Kreienbrock, Kleiner. Feiner. Leichter. Nuancierungen zum Werk Robert Walsers, Berlin und Zürich: Diaphanes 2010. Robert Walser, „Brief an einen Besteller von Novellen“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 20: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit.  1928–1933, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp  1985–1986, S.  424–427, hier S. 426. Jacques Derrida, Grammatologie (1967), aus dem Französischen übersetzt von HansJörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 417).

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Besteht nicht schriftstellern vielleicht vorwiegend darin, daß der Schreibende beständig um die Hauptsächlichkeit herumgeht oder -irrt, als sei es etwas Köstliches, um eine Art heißen Brei herumzugehen? / Man schiebt schreibend immer etwas Wichtiges, etwas, was man unbedingt betont haben will, auf, spricht oder schreibt vorläufig in einem fort über etwas anderes, das durchaus nebensächlich ist.27

Ist hier ausdrücklich von Aufschieben die Rede, so erscheint es nicht als eine dem Schreiben äußerliche Manier, sondern als das, was das Schreiben in Gang bringt und hält. Wenn der Aufschub in der Prosa Walsers als das erscheint, was der Sprache implizit ist, so wird er sich als ostentativ ausgestellte Digression darstellen. Im Unterschied zu einem Konzept, das Abweichung und Abwege in Bezug auf ein vorausgesetztes Schema entwirft, folgt die Digression bei Walser einer Bewegung, die sich, ohne eine Entwicklung zu indizieren, als Digression der Digression fortsetzt. Dabei ist die Digression bei Walser ein paradoxes Verfahren: Wenn nämlich die Digression anzeigt und performativ zur Darstellung bringt, dass in der der Verschiebungsstruktur unterstellten Aussage immer etwas verfehlt ist, so ist es genau dieses Verfe hlen, welches die Vorstellung von etwas Köstlichem und Erwünschtem erzeugt. Im gleichen Zug wird das Ausgesagte zu etwas Nebensächlichem, das zu weiteren Digressionen veranlasst. Die Digression als Performanz des Aufschubs bestimmt das Erzählen Walsers grundsätzlich und erst recht in der Berner Zeit. Wie in dem nur als Mikrogramm überkommenen sogenannten Räuberroman28 nimmt das Erzählen als Aufschub des Erzählens im Modus der Digression seinen Lauf. Dies gilt, neben unzählig vielen anderen Prosastücken, auch für die 1931 im Berliner Tageblatt erschienene kurze Erzählung Einmal erzählte Einer,29 der Samuel Frederick unter dem Titel Narratives Unsettled eine größere Studie gewidmet hat.30 Schon das im Titel intransitiv gebrauchte Verb ‚erzählen‘ indiziert ein Erzählen, das nicht auf ‚Handlung‘ im Sinne von ‚Fabel‘ oder ‚plot‘ als einer narratologisch grundlegenden Kategorie zielt. Wenn in der Poetik des Aristoteles ‚Handlung‘ (Mythos) im Zeichen der Herstellung von Ganzheit und Einheit des erzählten Verlaufs verhandelt wird, dann muss sich das Erzählen durch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende auszeichnen. Dieser narratologischen Grundforderung widerspricht Walsers Erzählen schon dadurch, dass es zwar mit jedem Stück neu einsetzt, dieses Einsetzen jedoch 27  28  29  30 

Robert Walser, „Der heiße Brei“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 19: Es war einmal. Prosa aus der Berner Zeit. 1927–1928, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 89–92, hier S. 91. Robert Walser, Der Räuber. Roman. Transkription des Faksimiles, Zürich: Suhrkamp 1986. Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“ (Anm. 37), S. 251–254. Vgl. Frederick, Narratives Unsettled (Anm. 2), S. 28–36.

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ebenso wie sein Ende als kontingent ausgewiesen werden: Als kontingent insofern als aus dem Anfang keine stringente Handlung folgt, die in einem sich erfüllenden Ziel, dem Ende, zur Ruhe und zum Abschluss kommen könnte. Diese in Walsers Prosa sich ereignende einschneidende Verschiebung wird wiederum innerhalb des jeweiligen Prosastückes reflektiert, das sich damit als sein eigener Metatext erweist.31 So beginnt etwa die in der Zeitschrift Sport im Bild 1929 publizierte Erzählung Spaziergang im Park mit der Reflexion darauf, wie denn ein „vielleicht“ handlungsloses Erzählen beginnen könnte: „Kaum weiß ich, wie ich eine Geschichte anfangen soll, die vielleicht handlungslos verläuft“.32 Anfangend mit der Reflexion des Verfasser-Ichs auf die Un/ Möglichkeit eines Erzählanfangs jenseits eines am plot orientierten Erzählens, macht er mit dem zweiten Satz einen neuen Versuch, indem er einen klassischen, den Märchenton anschlagenden Erzähleingang ins Spiel bringt: „Es war einmal ein Mädchen, das in einem Park spazieren ging“.33 In seiner Allgemeinheit und den Märchenton, scheint dieser Anfang insofern günstig als er, wie die folgenden flüchtig aufgeblendeten Szenen vorführen, eine Fülle von Erzählmöglichkeiten zulässt. Und in der Tat: Der den Anfang eines Anfangs zitierende, also wiederholende Satz nimmt eine unvorhergesehene Wendung, insofern das erwähnte Mädchen wie der erwähnte Park gleichsam individualisiert werden: „Es war einmal ein Mädchen, das in einem Park spazierenging, der so schön war, daß sie ihn mit ihrer Seele essen zu können meinte“.34 Wenn diese Wendung jedoch nicht zu einer durch sie motivierten Handlung führt, kommt das „vielleicht“ des ersten Satzes zur Geltung: Danach entwirft sich das Verfasser-Ich als eines, welches das Erzählen nicht allein aktiv beherrscht, vielmehr passivisch der Sprache und ihren Wendungen Folge leistet. „Die Worte“, so verzeichnet Walser in einem Mikrogramm, „die ich hier aussprechen will, haben einen eigenen Willen“.35 Durch diese passivische Beimischung verschiebt sich auch die Frage nach dem Status des Einspruches gegenüber dem klassischen Erzählen bei Walser: In dem Maße wie der Einspruch nicht als selbstherrliche Geste des Ichs erscheint, wird er als Reflexion auf die historischen Bedingungen von Schreiben in der Moderne lesbar. 31  32  33  34  35 

Vgl. Niehaus, „Das Prosastück als Idee“ (Anm. 1), S. 180. Robert Walser, „Spaziergang im Park“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 20: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit. 1928–1933, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 127–129, hier S. 127. Ebd., S. 127. Ebd., S. 127–128. Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme aus den Jahren  1924–1933, herausgegeben von Bernhard Echte und Werner Morlang, Band  1: Mikrogramme aus den Jahren 1924/1925, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 198.

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Wenn also das Prosastück Einmal erzählte Einer schon im Titel auf ein Erzählen ohne Handlung als Fabel oder plot verweist, so nimmt es, wie der sogenannte Räuberroman als Aufschub des Erzählens im Modus der Digression seinen Lauf.36 Dabei macht auch hier der Anfang eine besondere Figur: „Ich wohnte eine Zeitlang, wie ich mich zu meiner erinnere, bei zwei Frauen, die ich übrigens erst später erwähnen will, indem ich meine Geschichte nicht mit etwas Erlesenem und Ausgezeichneten beginnen möchte“.37 Wenn das Prosastück mit einem Aufschub beginnt, so stellt sich ein Paradox ein: Um stattfinden zu können, wird das erwähnt, was erst später erwähnt werden soll. Diese Unterbrechung könnte noch als rhetorischer Trick durchgehen, indem sie die Erwartung auf etwas Erlesenes und Ausgezeichnetes weckt, das später narrativ entfaltet würde. Wenn jedoch die folgenden Sätze den Aufschub eines Anfangs jeweils neu beginnen lassen, dann zerstreut sich nicht nur die zielgerichtete Erwartung, sondern ebenso die narrative Grundkategorie ‚Anfang‘ als Ausgangspunkt einer Handlung. Der zweite ebenfalls einen Absatz einnehmende Satz, also bringt wiederum den Aufschub ins Spiel: „Zunächst tritt ein Hund auf, den ich zwar lieber einstweilen noch ein bisschen aufsparen will, ähnlich wie es kleine Kinder mit Schmackhaftigkeiten tun, die sie vor Esslust nicht zu essen fähig sind“.38 Zwar wiederholt sich der Aufschub, indem auch dieser ‚Anfang‘ abbricht, aber es geschieht in einer gegenüber dem ersten Satz nuancierten Weise: Während das Ich des ersten Satzes davon spricht, dass es den Abbruch herbeiführen will und dafür eine Begründung liefert, so heißt es jetzt, dass es den erwähnten Auftritt des Hundes lieber ein bisschen aufsparen wolle. Ist damit eine gewisse Unentschlossenheit des Erzähler-Ichs angesprochen, so ist es die keineswegs sparsame Reihung der Worte „zwar lieber einstweilen noch ein bisschen“, die den Aufschub rhetorisch bereits vollzieht.39 Mit dem performativ erzeugten Aufschub entsteht Raum für eine vom Auftritt des Hundes wegführende Reflexion, die, in Form eines weitläufigen Vergleichs, der Lust am Aufschub als Modus des Erzählens gilt. Was besagt der Vergleich? Die Kinder sparen das Essen der Süßigkeiten auf, weil sie den Wunsch haben, sie zu verzehren. Bezogen auf den Aufschub als Modus des Erzählens heißt das: Der Aufschub erzeugt Lust, weil er das 36  37 

38  39 

Vgl. Frederick, Narratives Unsettled (Anm. 2), S. 28–36. Robert Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“, in: ders., Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte, herausgegeben von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz, Band III.1: Drucke im Berliner Tageblatt, herausgegeben von Hans-Joachim Heerde, Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/Schwabe 2013, S. 252. Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“ (Anm. 37), S. 251. Vgl. Frederick, Narratives Unsettled (Anm. 2), S. 29.

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Begehren nach dem Objekt ausstellt und erhält. Der Vergleich aber überbietet noch diese sich abzeichnende Dialektik des Begehrens, wenn es heißt, dass es nicht ein Wollen ist, dass die Kinder vom Essen abhält, vielmehr sind diese aus Esslust nicht fähig zu essen. In dieser leichten Verschiebung erweist sich der Aufschub als Performanz eines Begehrens, das sich in seiner Objektlosigkeit als Begehrens des Begehrens erzeugt. In der späten, 1929 im Berliner Tageblatt erschienenen Erzählung Auflauf findet sich eine paradoxe Bemerkung, in der sich dieser dem Erzählverfahren Walsers inhärente Begehrens-Zug zu reflektieren scheint: „Sollte ich nicht den Beweis erbracht haben, dass der Hunger in gewisser Hinsicht vollständiger sättigt, als es das kompletteste Essen imstande ist?“.40 Es ist nicht zuletzt das Paradox einer Sättigung durch Hunger, welches das Signum einer Poesie des Kleinen ausmacht. Walser bejaht dieses Paradox so rückhaltlos, dass selbst der Mangel, den der Signifikant ‚Hunger‘ mit sich führt, in einem Genießen aufgeht: Es ist ein Genießen, das sich in der unersättlichen Proliferation der Prosa als Stückwerk genießt. So macht der Ich-Erzähler beim dritten Anlauf eines Anfangs, der wiederum einen Absatz bildet, kurzen Prozess: „Ein Lakai, doch nein, vorerst von etwas anderem, nämlich davon, dass ich mir ziemlich lange einbildete, ich sei seriös und ehrsam wie kaum irgendeiner“.41 Ebenso wie die den Eindruck des Seriellen erzeugenden ersten beiden Sequenzen, macht das Abrupte des bereits nach zwei Worten erfolgenden Schnitts lesbar, dass sich die Frage des ‚Anfangs‘ und folglich die der ‚Mitte‘ und des ‚Endes‘ als Kriterien einer sich entwickelnden Handlung für das Prosastück erledigt haben: In dem Maße wie die Erzählung unvermittelt einsetzt und unvermittelt abgeschnitten wird, kann mit jedem Schnitt ein neues Stück hinzugefügt werden. Damit kommt eine digredierende, sich rhizomhaft ausbreitende Textur in Gang, die gleichermaßen innen wie außen wirksam ist: Sie konstituiert den Text als zerstreuten in sich wie sie die Summe der Texte im Zeichen der Zerstreuung zusammentreten lässt. Wie Erzählobjekte fallen gelassen werden und als fallen gelassene nochmals erwähnt werden können, so können sie ebenso wieder auftauchen: der Hund etwa oder der Lakai. Versetzt wie sie sind, sind sie nicht mehr die identischen Objekte, sondern haben sich verändert. So wird der Lakai zum Element einer kleinen, flüchtig wie im Traum schwebenden Erzählung. Das Ich erzählt, es

40  41 

Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“ (Anm. 37), S. 236. Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“ (Anm. 37), S. 252.

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sei eines Tages in eine wundersame Stadt gekommen, worin die Häuser rosig, die Luft in den Gassen kristallblau und die Strassen teppichbedeckt waren. Ging man hier spazieren, so konnte von Ermüdung keine Rede sein, vielmehr ruhte man während des Gehens reizend aus, als säße man in einer Sänfte oder schaukele als Mücke oder Käfer auf einem Blatt. Ich traf den blassen Lakaien, auf einem Kutscherbock sitzend, an, mit dem ich mich, treuherzig zu seiner Eleganz hinauflächelnd, eine Weile unterhielt. Mit welch angenehmer, weil durchaus statthafter Herablassung er mit mir sprach! Ich fand ihn von mädchenhafter Liebenswürdigkeit.42

IV

Tanzen

Nach einem als Absatz markierten Schnitt, wird ein anders geartetes Sujet platziert: Gemsen, die von Feld zu Fels springen. Doch wie kommt dieses Sujet ins Spiel? Gemsen, bringe ich nun unerwarteterweise vor, tanzten und hüpften von Feld zu Fels, eine Redeweise, die eklatant beweist, dass mich der Lebensstrom, auf dessen seidenweichfliessendem Rücken mir’s gefiel, in die Berge gebracht hatte, wo Hütten standen, die an Zierlichkeit mit Fenstervorhängen oder Schleiern wetteiferten.43

Das Erzähl-Ich tut sich hervor, indem es sein eigenes Erzählen kommentiert. Wird damit erneut im Prosastück ein Metatext zum Prosastück eingebracht, so bleibt unentscheidbar, ob der Kommentar dem unvorhergesehenen Auftauchen des Sujets oder dem Unvorhergesehenen der Redeweise gilt, welche die Gemsen tanzen und hüpfen lässt. Steht die Schwebe im Kontrast zur Rede vom „eklatanten Beweis“, so ist damit ironisch auf den erzähltheoretisch zu fassenden Umstand verwiesen, dass das Erzähl-Ich (immer schon) an einem anderen als dem erzählten Schauplatz ist. Aber nicht genug damit: Sofort nimmt das Erzähl-Ich den Schauplatz, der sich durch die Redeweise eingestellt hat, zum Anlass einer neu einsetzenden Erzählung, die, indem sie wiederum abgebrochen wird, zu neuen Objekten aufbrechen kann, aber nicht muss. Die Rede vom Tanzen und Hüpfen erweist sich damit als eine, in der sich in der Tat unerwarteter Weise die Redeweise des Prosastückes im Sinne einer mise en abyme selbst reflektiert. Spiegelt sich Walsers Schreiben häufig im Bild des

42  43 

Ebd., S. 253. Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“ (Anm. 37), S. 253.

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Tanzes,44 so wird vor allem das Spazieren zum Sujet vieler Erzählungen wie zum Emblem der Schreibweise. So auch in der Erzählung Einmal erzählte Einer: „Beim Erzählen geht es ähnlich zu wie in der Wirklichkeit. Man nimmt sich allerlei vor, denkt an bestimmte Personen und Gegenden, aber beim Wandern verändert sich’s, Voreingenommenes verschwindet, das Ungesuchte findet sich ein, Unerwünschtes wird willkommen“.45 Und wird man nicht in die Freude einstimmen, die das Erzähl-Ich im letzten von einer Ankunft sprechenden Satz bekundet: „Wie freue ich mich, mit meinem Prosastück bei etwas Bedeutsamen angelangt zu sein“?46 Betritt man also den Textraum, dann beginnt diese „kleine Prosa“, vom Erzähl-Ich als „ärmliche kleine Dichtungen“ beurteilt, rhizomhaft zu wuchern. Nicht zuletzt sind es die „Abweichungen und -zweigungen“,47 die das Einfallen unvorhergesehener und unvorhersehbarer Erzählgegenstände und deren mögliches Verschwinden bewirken, das im Zuge der sprachlichen Wendungen, Rhythmen und Tönungen bejaht und ausgekostet wird. Wenn eine erzählte Figur in einem Prosastück einmal sagt: „‚Das schönste Ziel sind Ziellosigkeiten‘“,48 so erschöpft sich der Satz nicht im Diktum von der Unerreichbarkeit des Zieles, das eben deswegen angestrebt wird. Vielmehr enthält der kurze, kleine, gleichsam ärmliche Satz eine Abweichung, die über die im Unerfüllbarkeitstopos aufscheinende Dialektik des Begehrens hinausführt. Dieses Hinausführen geschieht nicht durch eine inhaltlich ausgeführte Korrektur, sondern in der sprachlichen Operation. Wenn die Zusammenstellung von Singular ‚Ziel‘ und Plural ‚Ziellosigkeiten‘ im Satz eine grammatische Unebenheit erzeugt, so wird diese gleichsam gerechtfertigt, indem sie ein semantisches Potenzial entfaltet: Während die Wendung ‚Ziellosigkeit‘ als Gegenpol von ‚Ziel‘ auf das ‚Ziel‘ bezogen bleibt, wird dieser Bezug durch das pluralisierte Abstraktum gleichsam pulverisiert: Nicht länger ist die Ziellosigkeit das Ziel, sondern die Ziellosigkeit (selbst) wird ziellos. Dabei erinnert die Pluralisierung an das, was durch sie aufgehoben wird: In diesem Fall an das Ziel und seinen Gegenpart, die Ziellosigkeit, die nicht einfach negiert, sondern in den pluralisierten Abstrakta eher dekonstruiert werden. Wie das Medium des Allgemeinen, die Sprache, nicht aufhören kann, sich unablässig 44  45  46  47  48 

Peter Utz, Tanz auf den Rändern. Robert Walsers „Jetztzeitstil“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Walser, „Drucke im Berliner Tageblatt“ (Anm. 37), S. 253–254. Ebd., S. 254. Robert Walser, „Salonepisode“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 18: Zarte Zeilen. Prosa aus der Berner Zeit. 1926, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 42–45, hier S. 44. Ebd., S. 49.

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auf das Besondere zu beziehen, so ruft die Pluralisierung von Abstrakta das der Wahrnehmung per definitionem entzogene Allgemeine auf wie sie zugleich die Erinnerung an Einzelvorgänge und Dinge bewahrt.49 In dieser Funktion, die Walser einmal unter dem Signum der „individuellen Individualitätslosigkeit“ verzeichnet,50 bildet die exzessiv wiederkehrende Operation der pluralisierten Abstraktionen eine Schaltstelle des Erzählens, die auch die handelnden Subjekte einbeziehen kann: „Hie und da ermutigten ihn seine Ursprünglichkeiten, ein Glas Bier zu trinken“.51 V

Kleine Dinge

Wenn sich herausgestellt hat, dass die Prosa Walsers sich nicht zuletzt darüber als kleine Prosa hervorbringt, dass sie niemals im Ausgesagten als Handlung Halt findet und deswegen wucherndes Stückwerk wird, dem ein ebenso wuchernder Leseprozess entspricht, dann ist damit keineswegs die Frage nach den Erzähl-Dingen erledigt. Dabei ist es offenkundig, dass vor allem ‚kleine‘ Dinge im Sinne des Alltäglichen, des Unscheinbaren und Randständigen auftauchen.52 In einer neueren, dem Stillleben gewidmeten Studie werden diese Dinge als das „Übersehene“ zusammengefasst, dem eine ‚rhopographische‘ Darstellungsweise entspricht. Abgeleitet von rhopos als dem Trivialen ist damit die Darstellung von Dingen bezeichnet, denen es an „Wert fehlt“. Während mit „Megalographie“ die „Darstellung der großen Dinge der Welt – Götterlegenden, Heldenschlachten geschichtliche Krisen“ – gemeint ist, widmet sich die Rhopographie jener Welt, die das menschliche Bedürfnis, Größe zu schaffen, ignoriert“.53 Walsers kleine Prosa ist ‚klein‘ auch deswegen, weil sie ganz im Zeichen des „Übersehenen“ in der Form der kleinen Dinge des täglichen Lebens steht. Wenn Walser die trivialen Dinge weder ignoriert noch aber einer Aufwertung zuführt, so ist das weniger in einer vorausgesetzten Haltung zur 49  50 

51  52  53 

Vgl. Niehaus, „Ich, die Literatur, ich spreche …“ (Anm. 5), S. 299–300. Robert Walser, „Ferienreise“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 17: Wenn Schwache sich für stark halten. Prosa aus der Berner Zeit.  1921–1925, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp  1985–1986, S.  429–438, hier S. 431. Robert Walser, „Der Europäer“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 20: Für die Katz. Prosa aus der Berner Zeit. 1928–1933, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 287–290, hier S. 288. Vgl. Marianne Schuller und Gunnar Schmidt, Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld: Transcript 2003. Norman Bryson, Stilleben. Das Übersehene in der Malerei (1990), aus dem Englischen übersetzt von Christiane Spelsberg, München: Wilhelm Fink 2003 (= Bild und Text ), S. 66.

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Welt als vielmehr darin begründet, dass alles, das Trinken eines Bieres oder das Verzehren einer Wurst, zum Anlass des Sprechens werden kann. 1915, also in der Berner Zeit, erscheint in der Zeitschrift Die Ähre ein Prosastück, das die kleinen Dinge, das Übersehene und Unerhebliche schon im Titel „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“ führt. „Ich schrieb einmal eine Abhandlung über Asche, die mir nicht geringen Beifall eintrug und in welcher ich allerlei Kurioses zutage förderte, unter anderem die Beobachtung, daß Asche keinerlei nennenswerte Widerstandskraft besitze“.54 Als erstes beschreibt sich das Ich wiederum als Schreibendes, das sich, wie die indirekte Rede in Form des ‚besitze‘ anzeigt, sich selbst zitiert. Was aber hat, dem Zitat zufolge, das als Verfasser von Prosa eingeführte Ich geschrieben? Eine AbHandlung, also etwas, das von Handlung im Sinne von plot wegführt.55 Dieses Verfahren jedoch hat dazu geführt, über den scheinbar so uninteressanten Gegenstand etwas, wie es in doppelter Verneinung heißt, zu sagen, „was durchaus nicht uninteressant ist“.56 Nach der Abhandlung ist das Interessante der Asche in ihrer Widerstandslosigkeit zu sehen: „Wird Asche angeblasen, so ist nicht das Geringste an ihr, das sich weigert, augenblicklich auseinanderzufliegen“.57 Bleibt unentschieden, ob die Rede vom ‚Geringsten‘, das als Wertung traditionell dem Kleinen verbunden ist,58 auf einen Gegenstand zielt oder als adverbielle Wendung fungiert, so ist in jedem Falle auf der rhetorischen Ebene etwas geschehen: das Verfahren der Anthropomorphisierung ist zum Einsatz gekommen und dieses rhetorische Mittel hat den Gegenstand in einen nicht uninteressanten verwandelt. Es hat dem toten Gegenstand Leben eingehaucht und mit menschlichen Tugenden ausgestattet. Asche ist die Demut, die Belanglosigkeit und die Wertlosigkeit selber, und was das Schönste ist: sie ist selbst durchdrungen von dem Glauben, daß sie zu nichts

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55  56  57  58 

Robert Walser, „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 16: Träumen. Prosa aus der Bieler Zeit. 1913–1920, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp  1985–1986, S.  328–330, hier S. 328. Vgl. Frederick, Narratives Unsettled (Anm. 2), S. 87. Robert Walser, „Moissi in Biel“, in: ders., Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, Band 16: Träumen. Prosa aus der Bieler Zeit. 1913–1920, Zürich und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985–1986, S. 318–321, hier S. 320. Walser, „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“ (Anm. 54), S. 328. Marianne Schuller, „Robert Walsers Poetik des Winzigen. Ein Versuch“, in: Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel und Dirk Göttsche (Hrsg.), Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen: Max Niemeyer 2007, S. 75–82, hier S. 76.

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taugt. […] Wo Asche ist, da ist eigentlich überhaupt nichts. Setze deinen Fuß auf Asche, und du wirst kaum spüren, daß du auf irgendetwas getreten bist.59

Die Verlebendigung jedoch hat nicht dazu geführt, aus dem kleinen einen großen Gegenstand zu machen, sondern umgekehrt: Das Belanglose, Wertlose, Geringe selbst ist es, das sich als etwas Schönes entdeckt. Das Schöne dieses Fast-Nichts an Gegenstand ist nicht zuletzt der Umstand, dass es zu nichts nutze ist, dass es keinen Zweck und kein Telos außer sich hat. Wird damit die Kategorie ‚Wert‘ als das dekonstruiert, was sich einzig durch ein Bezugsgeschehen herstellt, dann entdeckt sich das Kleine gefasst als ästhetische Kategorie als das, was sich erzeugt, indem das Bezugsgeschehen aussetzt wird. „[I]ch glaube nicht, daß ich mich sehr stark irre, wenn ich der Überzeugung zu sein wage, daß man nur die Augen aufzutun und recht aufmerksam um sich herum zu schauen braucht, um Dinge zu sehen, die wert sind, daß man sie mit einiger Innigkeit und Sorgfalt betrachtet“.60 Hatte der kleine Text seinen Ausgang von der Reminiszenz an eine mit ‚Beobachten‘, ‚Sehen‘, ‚Schauen‘ korrelierte ‚Abhandlung‘ genommen, so läuft der erste Absatz auf eine ‚Betrachtung‘ zu. Sofern diese mit ‚Innigkeit‘ und ‚Sorgfalt‘ verknüpft wird, kommt die im Signifikanten ‚betrachten‘ mitschwingende Doppeltheit aus optischem und mental-reflexivem Vorgang sowie der Umstand zum Zuge, dass die ‚Betrachtung‘ auch ein Genre im Sinne eines literarischphilosophischen Essays bezeichnet. Wenn sich das Prosastück zwischen den verschiedenen Bedeutungsdimensionen bewegt, dann sind die aufgerufenen Erzähl-Objekte in eine Schwebe versetzt, welche sie ihrem angestammten Referenzbezug und Verwendungszusammenhang entzieht und sie insofern in einer Nutzlosigkeit präsentiert. Bei den zur Sprache gebrachten Objekten handelt es sich um kleine Gegenstände wie Nadel, Bleistift und Zündhölzchen. Hatte Walser eine gewisse Vorliebe für die stichelnde Nadel, auf deren Spitze, einem anderen WalserBild zufolge, Kunst und Leben auf der Lauer gegenseitiger Beobachtung liegen,61 so kann sie in der Verbindung von Stich/Wunde und Vernähen/ Verknüpfen dem Bereich des Gewebes, der Textur zugeschlagen werden. Die Anthropomorphisierung nun ermöglicht den Entwurf eines kurzen Porträts, nach dem die Nadel in einen komischen Gegensatz zum Walserschen Kleinen tritt: Sie nimmt eine gewisse hoffärtige Eitelkeit an, weil und indem sie sich auf 59  60  61 

Walser, „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“ (Anm. 54), S. 328. Ebd., S. 328. Vgl. Robert Walser, Das Gesamtwerk in zwölf Bänden, herausgegeben von Jochen Greven, Band XII/2: Briefe, herausgegeben von Jörg Schäfer, Genf und Hamburg: Helmut Kossodo 1975, S. 50.

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ihre Nützlichkeit und Werthaftigkeit beruft: „Da ist z. B. die Nadel, die bekanntlich ebenso spitz wie nützlich ist und nicht duldet, daß man sie grob behandelt, weil sie, so winzig sie ist, doch ihres Wertes bewußt zu sein scheint“.62 Dem gegenüber erscheint der Bleistift, der als Schreibinstrument seinen bekannten Wert ganz und gar aus der Nützlichkeit gewinnt, in einem Licht von walserscher Schönheit: Was den kleinen Bleistift betrifft, so ist dieser insofern beachtenswert, als man ja zur Genüge wissen muß, wie er gespitzt und gespitzt wird, bis es nichts mehr an ihm zu spitzen gibt, worauf man ihn, unbrauchbar wie er durch unbarmherzigen Gebrauch geworden ist, auf die Seite wirft, wobei es niemandem nur von Ferne einfällt, ihm für die vielfachen Dienstleistungen ein Wörtchen der Anerkennung und des Dankes zu sagen. Bleistifts Bruder heißt Blaustift, und wie da und dort schon erzählt worden ist, lieben die beiden bedauernswerten Stifte einander brüderlich, indem sie eine zarte und innige Freundschaft für das ganze Leben miteinander geschlossen haben.63

Zunächst gerät der Bleistiftstummel, also das, was vom instrumentellen Gebrauch übrig geblieben ist, in den Blick. Dann aber kommt die Betrachtung im Sinne einer reflexiven Dimension ins Spiel, in der sich das Erzähl-Objekt verwandelt: In dieser Reflexion wird das Objekt zum Emblem einer Poetik des Kleinen, welche nicht nur den messbar kleinen Dingen gilt, sondern dem Kleinen als dem als Rest dargestellten Übersehenen, das hervortritt, sofern die Dinge aus ihrem Verwendungszusammenhang herausgelöst werden. So losgelöst können sie, ohne die Bezugsinstanz des Großen zu restituieren, zum Anlass für weitere und immer weiter gehende Reflexionen und Erzählungen werden. Einmal tut sich eine Abzweigung zu Walsers eigener Schreibtechnik auf: zum Bleistiftverfahren oder Bleistifteln, oder auch eine zur Anspielung auf das brüderliche Duo Karl und Robert Walser, in der sich überdies die Konstellation Malerei/Zeichnung und Literatur figuriert. Die nicht zuletzt durch die Anthropomorphisierung ermöglichte Referenzierbarkeit setzt sich also nicht fest, sondern bringt ihrerseits eine digredierende schwebende Bewegung in Gang, in der jeder beliebige Gegenstand, einer so gut wie der andere, ergriffen und verwandelt werden kann: „Das sind nun schon drei, wie man sicher allgemein sagen wird, höchst sonderbare, merkwürdige und anteilerweckende Gegenstände, die sich, einer so gut wie der andere, womöglich einmal, d. h. bei passender Gelegenheit, zu speziellen Vorträgen eignen werden“.64 62  63  64 

Walser, „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“ (Anm. 54), S. 329. Ebd. Ebd.

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Der folgende Gegenstand ist ein Zündhölzchen, das zum Anlass einer neuen Betrachtung über das Kleine wird. Was sagt der Leser erst zu Zünd- oder Streichhölzchen, das ein ebenso liebenswürdiges wie zierliches, niedliches und eigentümliches Persönchen, welches in der Streichholzschachtel neben zahlreichen Genossinnen geduldig, manierlich und artig liegt, wo es zu träumen oder zu schlafen scheint. Solange Zündhölzchen in der Schachtel ruht, unbenutzt und unangefochten, besitzt es ohne Frage noch keinen sonderlichen Wert. Es harrt sozusagen der Dinge, die kommen sollen.65

Getragen von einem ausgeprägten Märchenton wird auch dadurch, dass der Gattungsname ‚Zündholz‘ als Eigenname fungiert, eine Personifizierung erzeugt. Wie der Märchenton, so ruft auch die im Diminutiv stehende Personifizierung die mit dem Kleinen verknüpften Bedeutungen des Niedlichen und Possierlichen auf. Vor allem aber kommt das Motiv des Unnützen und Wertlosen erneut ins Spiel, das aber, indem es mit einem zeitlichen Index versehen wird, eine Verschiebung erfährt: Solange das Zündhölzchen träumt oder schläft hat es noch keinen Wert, doch wird vielleicht in Zukunft einen annehmen. Wie aber sieht diese Zukunft aus? Eines Tages aber so nimmt man es heraus, drückt es gegen die Reib- oder die Streichfläche, streicht mit seinem armen, guten lieben Köpfchen so lange an derselben, bis das Köpfchen Feuer gewinnt, und nun zündet und brennt Zündhölzchen. Dies ist das große Ereignis im Leben von Zündhölzchen, das, wo es seinen Daseinszweck erfüllt und seinen Liebesdienst erweist, den Feuertod sterben muß.66

In dem Maße wie sich die Betrachtung selbst zu einem märchenhaften, poetischen, träumerischen Objekt wandelt, hält es eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten bereit: Es scheint, dass das mit dem Diminutiv ‚Zündhölzchen‘, also das mit einem Neutrum versehene Persönchen als Kind figuriert ist, das dem sexuellen Erwachen entgegenträumt. Lassen sich die von der Figur der Gegensätzlichkeit bestimmten Symboliken des Feuers67 als Erhellen, Entflammen und Zerstören entfalten, so kommt zugleich eine poetologische Reflexion zum Zuge: Eine Reflexion auf jenes Verfahren, das sich in der Figur des Aufschubs als entscheidend für Walsers Prosastücke herausgestellt hat. Im Moment der Erfüllung, des Zieles, des Werkes und des Wertes nämlich ist zugleich das Ende 65  66  67 

Ebd. Ebd., S. 330. Gaston Bachelard, Psychoanalyse des Feuers (1938), aus dem Französischen übersetzt von Simon Werle München und Wien: Carl Hanser 1985 (= Edition Akzente).

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aller ‚Werte‘ herbeigeführt. Genauer: Um überhaupt die Möglichkeit einer Entfaltung, eines Zieles, einer Bedeutung und einer Erfüllung herzustellen sind Prozesse des Abweichens und Abzweigens notwendig. Und sie sind lustvoll, sofern sie sich „außerhalb jeder vorstellbaren Finalität“ bewegen.68 Wo Zündhölzchen sich über seine Bestimmung freut, stirbt es auch schon, und wo es seine Bedeutung entfaltet, kommt es auch schon um. Seine Lebensfreude ist sein Tod und sein Erwachen auch schon sein Ende. Wo es liebt und dient, stürzt es auch schon entseelt zusammen.69

Als Figurierung des Aufschubs zeichnet sich nun auch die Abfolge des Prosastückes als signifikant ab: Während Asche das ist, was vom aufflammenden, erhellenden und zerstörenden Feuer übrig bleibt, also am Ende auftauchen müsste, ist mit ihrer Erwähnung der Anfang gemacht. Die Poetik des Kleinen fordert die Wiederholung, um nicht zu sagen den ‚Wiederholungszwang‘70 im Modus der Digression, die das Leben unter Einschluss des Todes im Aufschub hervorbringt. Und das Bleistiftgebiet der Mikrogramme? Die Assoziation eines Aschefeldes, aus dem heraus den Buchstaben und den Prosa-Stücken, Stück für Stück, ein Leben eingehaucht wird, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen.

68  69  70 

Roland Barthes, Die Lust am Text (1973), aus dem Französischen übersetzt von Traugott König, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (= Bibliothek Suhrkamp 378), S. 77. Robert Walser, „Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen“ (Anm. 54), S. 330. Sigmund Freud, „Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester, Mass., September 1909“, in: ders., Gesammelte Werke, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland herausgegeben von Anna Freud, Band 8: Werke aus den Jahren 1909–1913, Frankfurt am Main: S. Fischer 1976, S. 3–60.

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Mein Leben und Joseph Roth Christof Hamann II Der Zeltplatz liegt so sehr am Rand der Stadt, daß er aus ihr herausfallen würde, wären da nicht die Autobahn, der Supermarkt und der Flugplatz. Die rotgrünen Zelte stechen aus dem Gebüsch hervor, und sofort fühle ich mich wie so oft schon an den Wanderzirkus von Joseph Roth erinnert, wo trockene Wäsche leichtsinnig auf einer Schnur weht. Vergebens! Zwischen all den lebensfroh hier festsitzenden Menschen sind die Zitate Vögel, die man nicht halten kann. Und wenn ich auch entmutigt vor den bunten Trainingsanzügen und Transistorradios stolpere, so ahne ich doch, meine Urteile sind allein der mangelnden Phantasie zuzuschreiben, die dem Offensichtlichen die Lust verweigern. Beim einen fällt mir nur tagealter Staub ein und kurz darauf ein Wischtuch. Beim zweiten Autowaschanlage. Beim dritten Chefsessel. Daß ich aus ihnen keine Tiere machen kann, die von ganz woanders kommen, liegt an der Verwandtschaft.

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Subjektivitäten

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Elise Richters Summe des Lebens (1940): wissenschaftliche Persona und Leidenschaft Ursula Link-Heer Summe des Lebens lautet der Titel, den die Wiener Romanistin Elise Richter (1865–1943) den 329 Blättern ihrer im Jahr  1940 niedergeschriebenen Autobiographie gegeben hat.1 Wie bereits der erste Blick in diese aus der Barbarei geretteten, erst am Ende des 20. Jahrhunderts vom Verband der österreichischen Akademikerinnen herausgegebenen Seiten zeigt, rubriziert Elise Richter, die erste Frau, der es gelang, sich in im Fach „Romanische Philologie“ zu habilitieren, nicht nach Karriere und Nicht-Karriere, sondern nach „Lebensfreude“ und „Lebensleid“. „Was war, was enthielt dieses Leben von fünfundsiebzig Jahren?“, fragt sie auf dem einleitenden Blatt mit Datum des 29. 4. 1940: „Sollte sich nicht jeder, ehe er abgeht, die Rechnung stellen nach Soll und Haben, in diesem Fall nach Lebensleid und Lebensfreude?“ Ohne in der Lage zu sein, von ihren zahlreichen Notizen und Dokumenten Gebrauch machen zu können, schreibt Elise Richter aus dem Gedächtnis: „Ich tauche in die Erinnerung und trachte zu erfassen, von woher und in welchem Maße mir Gutes und Böses zugekommen ist. Für dieses Erfassen der Daseinskomponenten hätte Unterschlagung so wenig Sinn wie Dichtung“.2 Mir ist kein anderer Fall der Selbstdarstellung einer Persönlichkeit des universitären Lebens bekannt, in der „die Rechnung“, die Bilanz, so unbeirrt nach Freud und Leid aufgestellt wird. Woher bezieht dieser erste weibliche Dozent3 an der Universität Wien, diese zähe Pionierin einer romanistischen Karriere ihre Gewissheit, dass es „in diesem Fall“ auf das „Erfassen der Daseinskomponenten“ ankommt? Aus ihrem Frausein? Oder aus der Desillusionierung, sich zuletzt als – übrigens christliche – Wiener Jüdin aus der 1  Elise Richter, Summe des Lebens, herausgegeben vom Verband der Akademikerinnen Österreichs, Wien: WUV-Universitätsverlag 1997. 2  Ebd., einleitendes Blatt (nicht paginiert). – Seitenangaben aus Richters Summe des Lebens erfolgen ansonsten im Text in direktem Anschluss an die Zitate. 3  Erst in meiner Generation (ich bin Jahrgang 1948) kam der Usus auf, Dozenten, Professoren, oder auch Studenten durch grammatische Marker geschlechtlich differenzieren zu wollen oder zu müssen (was im Deutschen im Falle der „Studenten und Studentinnen“ kurioserweise, nach der graphischen, doch schwer zu sprechenden Erfindung „StudentInnen“, zu der Neubildung „Studierende“ geführt hat, die heute als politically correct gilt und viele komische Komposita – wie „Studierendenakzeptanz“ u. a. m. – generiert hat).

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_019 .7

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allererst eroberten Universität wieder vertrieben zu sehen? Fragen, die zum Nachdenken über die Inkongruenzen von Leben und Karriere auffordern. „Lebensfreude“ steht über dem ersten der insgesamt 32 Kapitel, das „1 Sonne“ betitelt ist, „Lebensleid“ steht über „2 Schmerz und Krankheit“, „Zwischen Leid und Freude“ über „3 Erziehung und Behütung“ sowie „4 Rührung“. Auf der Haben-Seite der Lebensfreude werden ferner aus der Zeit der Kindheit und Jugend verbucht: „5 Blumen, 6 Spiel, 7 Französisch und andere Sprachen, 8 Tanz, 9 Musik, 10 Wasser“, aus der Zeit als Dozentin „24 Haus und Garten, 25 Lehrer – Schüler – Kollegen, 26 Wissenschaftliche Arbeit, 27 Unterricht: Vorlesungen – Kongresse“. „Zwischen Leid und Freude“ notiert die Autobiographin über dem Kapitel „21 Äußere Erscheinung – Ehe – Kinder“ wie auch „28 Veranstaltungen von Ehrungen“. Auf der Soll-Seite des „Lebensleids“ verbucht sie unter anderem „13 Angst“, „23 Studien- und andere Kämpfe“, „29 Soziale und politische Geschicke“. Das bitterste Leid, das der damals fünfundsiebzigjährigen Autobiographin und ihrer dreieinhalb Jahre älteren ebenfalls hochgebildeten Schwester Helene zugefügt wurde, war der „Anschluß“ Österreichs an Nazideutschland und die Aufforderung, sich „aller Amtshandlungen zu enthalten“ und „im Dekanat den Ariernachweis zu erbringen“. – „Ich sagte dem Dekan Christians“, schreibt Elise Richter, „ich hätte das Geheimnis nicht erfahren, wie man sich seine Großeltern aussuche“ (218). Und sie beschreibt, wie sie „abgebaut“ wurde und wie die gegen so viele Widerstände errungene Lehrbefugnis ihr entzogen, die Bücherausleihe verboten, ein Ruhegehalt für 31 Dienstjahre, in denen sie „46 verschiedene Kollegien, 82mal gehalten“ hatte, verweigert wurde. Die Richter-Schwestern ertrugen „die gänzliche Willkür aller Akte“ (221), wachsende Mittellosigkeit und Verelendung im Gedanken „Alte Bäume verpflanzt man nicht“ und schlugen Hilfsangebote zur Flucht in die Emigration aus. So weit reicht die Autobiographie, deren Manuskript einer Freundin anvertraut wurde. Elise und Helene Richter wurden in hohem Alter zuletzt noch in das KZ Theresienstadt, das sog. „Altersghetto“, deportiert und galten seither als verschollen. Erst viele Jahre später konnten die Todesdaten ermittelt werden, über die genaueren Umstände ihres Todes ist nichts bekannt.4 Elise Richters Summe des Lebens ist neben den Tagebüchern Victor Klemperers ein großes und erschütterndes Dokument über die Verfolgung daheim gebliebener jüdischer Wissenschaftler. Zugleich handelt es sich um 4  Die Herausgeber der Summe nennen im Anschluss an den Text folgende Daten: „Abholung in ein Sammellager; am 10. Oktober 1942 mit dem letzten Transport – in einem Viehwaggon – nach Theresienstadt. Tod von Helene Richter am 8. November 1942. Tod von Elise Richter am 21. Juni 1943.“

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ein einzigartiges, ungeschöntes Dokument einer weiblichen Universitätskarriere, die in allen Phasen den Stempel der Erstmaligkeit trägt. Wie ihre ältere Schwester Helene hatte die 1865 in Wien geborene Elise nur Privatunterricht genießen können, da Frauen erst 1896 zur Matura (Reifeprüfung) zugelassen wurden. Während Helene das weibliche Privatgelehrtentum weiter kultivierte und sich „zu Hause“ als Autorin anglistischer Bücher und als Theaterkritikerin einen Namen machen sollte, begab sich Elise in einen Kampf mit den Institutionen der höheren Bildung, den sie nicht heroisch verklärt, sondern – wie bereits erwähnt – unter „Lebensleid“ verbucht. Als Zweiunddreißigjährige legte sie am gestrengen Akademischen Gymnasium in Wien als erste externe Privatistin weiblichen Geschlechts die Matura ab. Gegenüber dieser Tortur beschreibt sie „die Universitätsstudien als solche“ als „eine ungetrübte Freude“ (103). In der Fachgeschichte der Romanischen Philologie, die in Wien mit Adolfo Mussafia und Wilhelm Meyer-Lübke eine große sprachwissenschaftliche Schule gebildet hatte, ist Elise Richter in jeder Hinsicht die erste Frau. Im Deutschen Reich hinkte die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium dem deutschsprachigen Ausland (Zürich, Wien) um etliche Jahre hinterher. In Österreich folgte auf das Zugeständnis des Abiturs für Frauen ein Jahr später auch das Zugeständnis des Universitätsstudiums. Elise Richter war „die erste Frau“, mit Frank-Rutger Hausmann gesprochen, „die nach ordnungsgemäßem Studium in Wien promovierte, die erste, die in der romanistischen Fachgruppe promovierte, die erste, die sich nach längerem Widerstand eines Teils der Fakultät habilitierte (3. 6. 1905), die erste, die auf Grund ministerieller Entscheidung vom 25. 8. 1907 zur Privatdozentur zugelassen wurde, die erste, die den Titel, nicht aber die Anstellung und das Gehalt, einer außerordentlichen Professorin (29. 8. 1921) erhielt.“5 Wie schon diese kruden Daten zeigen, machte Elise Richter zwar Karriere, gar eine unerhörte Karriere, doch handelte es sich dabei gleichzeitig auch um eine Nicht-Karriere. „Daß ich vierzehneinhalb Jahre warten mußte, um endlich – den Titel (!) des a.o. Universitätsprofessors zu erhalten, war bitter […]“ (110), schreibt die schon im Abitur Zuspätgekommene. Dass sie zwar Dozent, aber nicht Prüfer mit den Einflussmöglichkeiten einer Schulenbildung war, stellte eine weitere Kränkung dar, der sie jedoch ein selbstbewusstes Statement abgewinnt: „Ich hatte im ganzen recht anhängliche Schüler. […] Zum Dozenten geht nur, wer Lust hat und überschüssige Zeit. Der Student muß schon gewiß sein, daß er sich da etwas holen kann, und die jungen Leute sind erstaunlich scharfe Kritiker“ (135). Schließlich 5  Frank-Rutger Hausmann, „Vom Strudel der Ereignisse verschlungen“. Deutsche Romanistik im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann  2000 (= Analecta Romanica  61), S. 286–295, hier S. 287.

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noch ein drittes Zeugnis zur Ambivalenz ihrer Karriere: „Nur ein einziges Mal durfte ich mich als ordentlicher Professor fühlen, an meinem siebzigsten Geburtstage, der in einem Ausmaße gefeiert wurde, wie es für Dozenten niemals üblich war“ (111). Elise Richter war sich ihrer Rolle als Pionierin nicht bloß in Österreich, sondern auch im Hinblick auf Deutschland, wo die Frauen erst nach dem Ersten Weltkrieg das Recht auf Habilitation bekamen, sehr bewusst. Für den von Elga Kern im Jahr 1928 herausgegebenen Band Führende Frauen Europas steuerte sie eine Selbstdarstellung bei, in der sie sich ohne Larmoyanz und mit ziemlich viel Humor und einem Hauch Selbstironie als „Novum“ in der akademischen Männerwelt beschreibt. Ihr Fazit lautet: „Die ‚erste‘ zu sein ist nicht uninteressant, aber mancher Kräfteaufwand hätte, rein wissenschaftlich verwertet, mehr gelohnt“.6 In solch bemühter Trockenheit klingt einiges an Enttäuschung darüber an, dass ihrem „ungewöhnlich reiche[n] Lebenswerk“ „äußere Anerkennung nur spät und spärlich zuteil geworden ist“, wie Eugen Lerch es ein paar Jahre zuvor in einer Hommage zu ihrem 60. Geburtstag formuliert hatte.7 Tatsächlich ist es Elise Richter mit all ihrer „Sehnsucht nach dem Recht auf höhere Pflichten“ (110) und in einem überaus arbeits- und auch publikationsreichen Leben nicht gelungen, sich in die Liga der „großen Romanisten“ hineinzuschreiben.8 Einer dieser Großen, der ungleich virtuosere Leo Spitzer, dessen Anfänge wie die Elises in der Wiener Romanistik liegen, schreibt nach dem zweiten Weltkrieg an der Johns Hopkins University, wohin die 1933 erzwungene Emigration ihn nach einer ersten Station in Istanbul geführt hatte, einen bemerkenswerten Gedenkartikel, in dem er sich als ihren wohl ältesten noch lebenden Schüler bezeichnet, um sie folgendermaßen zu charakterisieren: „Elise Richter war eine stolze Schülerin des großen Positivisten im Kreise gleichgesinnter Adepten (Zauner, Herzog, Ettmayer, Puscariu, Gamillscheg – Bartoli und ich durften, vom Meister unbehelligt, 6  Elise Richter, „Erziehung und Entwicklung“, in: Elga Kern (Hrsg.), Führende Frauen Europas. In sechzehn Selbstschilderungen, München: Ernst Reinhardt 1929, S. 70–93, hier S. 92. 7  Eugen Lerch, „Elise Richter. Zu ihrem 60. Geburtstag am 2. März 1925“, Die neueren Sprachen  33 (1925), S.  81–88, hier S.  81 und S.  88. – Für eine sprachwissenschaftliche Würdigung aus späterer Sicht vgl. Hans Helmut Christmann, Frau und „Jüdin“ an der Universität. Die Romanistin Elise Richter, Mainz und Wiesbaden: Franz Steiner 1980 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 198, 2). 8  Deren ebenfalls von der „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus’ auf verschiedene Weise fundamental betroffene Viten erzählt Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Buch Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München und Wien: Carl Hanser 2002.

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eigene Weg gehen)“.9 Die Forschungsweise des großen Positivisten, gemeint ist der in der Tradition der Junggrammatiker stehende romanisch-vergleichende Sprachwissenschaftler Wilhelm Meyer-Lübke, sieht Spitzer als einen „abstraktsachlichen, nüchtern-wissenschaftlichen, fast naturwissenschaftlichen“ Zugang in geflissentlichem Kontrast zu allem eigentlich Wienerischen, Leichten, Spielerischen, Beflügelten, „Schnitzlerischen und Johann-Straußischen“. Und das heißt auch zu allem, wozu der eher exzentrische und geniale als grundsolide Spitzer selbst neigte, den der Meister eigene Wege gehen ließ, während Elise – so Spitzer – ihre Wissenschaftlichkeit „als entsagungsvolle Schwerarbeit im Dienste einer objektiven historischen Realität“ auffasste.10 Die Lektüre von Elises erst ein halbes Jahrhundert später publizierter Summe des Lebens zeigt, dass Spitzer mit dieser Einschätzung nicht völlig schief lag. Sein Abgesang auf „diese glorreiche Wiener positivistische Schule“ als Ergebnis „eines im Geistigen zagen, weil klerikal gelenkten Österreich“, wo „die Erforschung des Menschen“ und damit alles Geisteswissenschaftliche „abgebremst“ worden sei, nimmt allerdings Elise auf eine zweischneidige Weise aus dieser Begrenztheit heraus: „Elise Richter unterschied sich nun von ihren Lehrern und Mitforschern dadurch, daß sie persönlich das weltoffene und reiche kulturelle Leben Wiens in vollen Zügen genoß und ausdrückte, – in ihrem Privatleben allerdings, nicht in ihrer Wissenschaft“.11 Die autobiographischen Aufzeichnungen bestätigen den Scharfsinn von Spitzers Urteil. So trocken „die abstrakte Sprachvergleicherin […] im Hörsaal, in sachlichem, etwas schüchtern monotonem Vortrag, die Spracherscheinungen klassifizierte, wie ihr Lehrer die Romania von Altportugiesisch bis Istrorumänisch virtuos durchquerend“, soweit Spitzer,12 wobei sie sich jede erdenkliche Mühe gab, nur nicht als weibliches Wesen aufzufallen, war sie von Haus aus, nämlich dank ihrer bildungsbürgerlichen Herkunft überaus kunst-, musik-, und theaterliebend, gar, so die Autobiographin, „meiner Umgebung entsprechend, rein literarisch eingestellt gewesen“ und verfügte über all jene Eigenschaften, die weiblich konnotiert sind, wie schwärmerische Begeisterung, Einbildungskraft und Sensibilität, in reichem Maße. Nun nimmt es allerdings nicht wunder, dass die erste Frau in einer so harten Disziplin wie der Romanischen Philologie nicht eigene Wege im Sinne eines Auslebens ihres „mentalen Hermaphroditismus“ im Sinne einer Colette gehen 9  10  11  12 

Leo Spitzer, „In memoriam Elise Richter“, in: Romance Philology 1 (1947–1948), S. 329–338, hier S. 330. Leo Spitzer, „In memoriam Elise Richter“ (Anm. 9), S. 337. Ebd. Ebd.

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konnte.13 Die patrilineare Vergabe des Wissens, die den galanten Dekan Eugen Bormann, „der jeder Dame verbindlichst die Hand küßte“, außer Fassung geraten ließ, als Elise ihr Habilitationsgesuch einreichte, weil er es für „gänzlich unmöglich“ hielt, „daß Männer sich von einer Frau unterrichten lassen“ (88), machte sie zu einer dankbar Empfangenden, die sich um so mehr der männlichen Mimikry befleißigte, als sie ihre Förderer, und zuallererst ihren verehrten Lehrer Wilhelm Meyer-Lübke, die ihr im Kampf gegen die Institutionen die Stange hielten, auf gar keinen Fall enttäuschen wollte. Es hatte zermürbend lange – nämlich zwei Jahre gedauert – bis der Unterrichtsminister der Habilitierten die Venia legendi bestätigte. Um das Klatschinteresse des ‚Publikums‘, der Kaffeegesellschaft hintanzuhalten, zu verhüten, daß die weibliche Antrittsvorlesung zum gesellschaftlichen Ereignis herabgewürdigt würde und eine Gegendemonstration der klerikalen und nationalen Studenten auslöse“ (107), wurde sie nahezu klandestin abgehalten. Hier die Worte, die Elise Richter in der Selbstdarstellung des Jahres  1927 benutzt: Um Zeitungslärm zu verhüten und wohlgemeinte Teilnahme, die leicht Veranlassung zu Gegenmaßnahmen geben konnte, wurde Tag und Stunde des Kollegs erst am letzten Abend angeschlagen, und so gelang es, dem ‚Novum‘ das häßlich Sensationelle zu nehmen, und die ‚weibliche‘ Antrittsvorlesung auf den Maßstab einer ‚männlichen‘, wenn auch einer besonders gut besuchten, zu bringen. Ein paar Spötter hatten sich eingefunden; aber das Lachen verging ihnen. In der Angst, man könnte von mir eine seichte Plauderei erwarten oder zur Befriedigung gemeiner Neugier zu mir kommen, hatte ich ein ganz abstraktes Thema gewählt (Geschichte der Indeklinabilien im Französischen) und mutete den Hörern Schwereres zu als jemals später.14

Wie fern sind uns heute jene Zeiten der weiblichen Geschlechtsauslöschung und der Erfüllung eines männlichen Übersolls gerückt, denen wir in der Ära der Frauenquote und der Frauenförderung glücklich entronnen sind. Und dennoch steht die Vita Elise Richters aufgrund der Verschränkung von wissenschaftlicher Persona und überkomplexer Subjektivität uns auch heute noch eigentümlich nah. Die wissenschaftliche Persona, auch und gerade dort, wo sie Maske ist, beruht nicht etwa auf einem leidenschaftslosen Kalkül, sondern ist das leidenschaftlich begehrte Ziel. Elise Richter ist ersichtlich stolz, dass sie die weibliche Antrittsvorlesung auf den Maßstab einer besonders gut besuchten männlichen gebracht hat. Von der Vita aus betrachtet, schließt der Genuss des reichen kulturellen Lebens, den Spitzer auf Elise Richters private

13  14 

Vgl. dazu Julia Kristeva, Le génie féminin. Tome III: Les mots. Colette ou la chair du monde, Paris: Fayard 2002. Selbstdarstellung im Sammelband Kern, Führende Frauen Europas (Anm. 6), S. 90.

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Vita beschränkt sieht, die „Sehnsucht nach dem Recht auf höhere Pflichten“ bzw. die Schwerarbeit mit ein. Es sind vor allem folgende Aspekte der Wissenschaft als Beruf, die in der prekären conditio des Dozenten Elise Richter symptomatisch sichtbar werden und die sich, jedenfalls insofern es um die Humanwissenschaften oder die (nur in Deutschland so genannten) Geisteswissenschaften geht, nicht einer ein für allemal bewältigten Vergangenheit zuschlagen lassen. I

Die Liebe zum Beruf

Elise Richter beschreibt das, was Spitzer als ihre „entsagungsvolle Schwerarbeit“ ansah, in Termini der Liebe: „Einunddreißig Semester genoß ich die Früchte meines einstmaligen Kampfes. Schon mit der ersten Vorlesung waren mir alle Leiden und Aufregungen aufgewogen. Ich liebte den Beruf, wie eine Frau liebt: in voller Hingebung, in Demut, in Idealisierung“ (171). Wie altmodisch, anachronistisch, möglicherweise gar kompensatorisch diese Formulierung heute anmuten mag, so bleibt das Problem, dass die affektive Besetzung jeder humanwissenschaftlichen Forschung so lange nicht aus der Welt geschafft werden kann, wie der Mensch nach einer berühmten Formulierung Michel Foucaults eine empirisch-transzendentale Doublette ist, d. h. sowohl das empirische Objekt der Erkenntnis wie zugleich sein subjektives Konstitutionsprinzip. Daraus erklärt sich nicht nur die Instabilität der Humanwissenschaften, ihr Schwanken zwischen Empirismus/Positivismus und Spekulation, wie auch zwischen Anpassung und Kritik bis hin zur Revolte. Sondern dieser Dualismus, der vom Markt nicht geregelt werden kann (deshalb die wohlbekannten Abschaffungstendenzen) fällt vor allem auf die Subjekte selbst zurück und prägt deren Psychismus, der sich gleichsam in jedem Akt des Schreibens als angepasster oder unangepasster mitausliefert. II

Die Spannung zwischen Wissenschaft und ‚Privatleben‘

1 Die „déformation professionnelle“ Die Spitzersche Beobachtung, dass Elise weltoffener und vielseitiger gewesen sei, als ihre trockene Arbeit im Banne des Wiener Instituts für Romanische Philologie vermuten lasse, kann als Hinweis auf die sprichwörtliche déformation professionnelle verstanden werden, die aus der Unterwerfung unter eine Disziplin folgt, also ein Disziplinierungsresultat ist. Es kann nicht erstaunen, dass diese déformation professionnelle an Frauen, vor allem an den ersten

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Frauen, scharf wahrgenommen wurde, und zwar als ein Mangel, man möchte formulieren: als ein Schönheitsfehler, während sie doch im Falle der Herren Professoren zur Grundausstattung gehörte und nicht selten ein Ruhmestitel war. Dies hängt damit zusammen, dass Frauen als Ehefrauen und Mütter, nicht selten zugleich Karrierebegleiterinen ihrer Männer, traditionellerweise den entdifferenzierenden Gegenpart zur Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung zu spielen hatten. 2 Der Zölibat Die ledigen „Richter-Tanten“ (wie Spitzer einmal formuliert) hatten die Lebensform eines schwesterlichen Haushalts gewählt, in dem zugleich „das Nebeneinander der Schwester-Wissenschaften“, Romanistik und Anglistik, „viel Anlaß zu Verwechslung und Neckerei“ gab, wie Elise schreibt.15 Für ihren Zölibat gibt sie verschiedene Begründungen. Sie fand sich hässlich, ohne sex appeal. Sie wurde zwar „gepeinigt von erotischen Gedanken“, doch hatte sie „die große Frage im Leben der Frau: Heiraten oder nicht?“ schon sehr früh für sich beantwortet. Sie fürchtete sich, ihre Krankheiten und die der Familie weiter zu vererben. Vielleicht wäre sie in ihrem Entschluss wankend geworden, wenn ein Mann in ihr Leben getreten wäre, der sie an sich „zu fesseln vermochte.“ – „Dazu kam es aber nie“. Sie bejaht zwar die damals viel diskutierte Frage, ob eine Frau Beruf und Ehe verbinden könne, und nennt zwei Vorbilder, Dr. Gertrud Herzog, und Dr. Agnes Zahn-Harnack, hat aber doch auch Zweifel, ob die Zeit es gestatte, „zwei Herren zu dienen, von denen jeder die ganze Lebenszeit und -kraft in Anspruch nehmen möchte“ (70 f.). Der Zölibat und die Kinderlosigkeit haben eine Geschichte, die noch nicht hinreichend aufgearbeitet ist. Ich selber erinnere mich, dass die Lehrerinnen meiner Volksschulzeit sämtlich „Fräulein“ waren, die eindrucksvollste unter ihnen wurde von einem Tag auf den anderen entlassen, weil sie als in ‚wilder Ehe‘ lebend denunziert worden war. In Sozialgeschichte der deutschen Lehrer von Rainer Bölling ist nachzulesen: „Bis zum Ersten Weltkrieg […] hatte nach der Verwaltungspraxis in Preußen und den meisten anderen deutschen Staaten die Verheiratung einer Lehrerin unweigerlich ihre Entlassung zur Folge“.16 Dieser Zwangszölibat fand seine Fortsetzung in dem freiwilligen Zölibat der Wissenschaftlerinnen als gleichsam säkularisierten Nonnen. Wie sexuell freizügig unsere derzeitige Gesellschaft auch sein mag, die Kinderlosigkeit als (heute

15  16 

Selbstdarstellung in Kern, Führende Frauen Europas (Anm. 6), S. 70, Fußnote. Rainer Bölling, Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 1495), S. 96.

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freilich hintergehbare) Folge des Zölibats bleibt für Wissenschaftlerinnen und wissenschaftlich arbeitende Paare eine aktuelle Problemlage. 3 Weibliche Hysterie Die Spannungen zwischen dem Beruf, der kein „Brotberuf“ war, und dem, was man die Privatsphäre nennt, brachten die Richter-Schwestern immer wieder aus der Balance. Auffälligerweise befiel Elises Gelenkrheumatismus, der sie fast zwei Jahrzehnte lang zum Tragen eines „Celluloidmieders mit angeschraubten Krücken“ (5) gezwungen hatte, sie immer dann besonders heftig, wenn sie – beginnend mit der Matura – die hohen Treppen zu den Institutionen der höheren Bildung erklimmen musste. Aber auch Helene, die sich den Gang durch die Institutionen erspart hatte, musste sich „die Arbeit, die ihr über alles ging, mit schwersten Nervenleiden erkaufen“ (5) und bedurfte der Krankenpflege. „Schmerz und Krankheit“, das zweite Kapitel von Elisens Autobiographie, bietet eine Liste so krude beschriebener, imponierender und seltsamer Krankheiten, dass man sich unwillkürlich fragen muss, ob die bodenständige Wienerin Elise Richter in der gleichen Stadt wie ein gewisser Doktor Freud gewohnt hat. „Ich habe es insgesamt auf hundertsechs verschiedene Schmerzarten gebracht. Ich dachte mit solcher Intensität an Meerbrise, Waldluft, Seebad, daß ich sie fast körperlich empfand. Ebenso konnte ich mir hungerstillendes Essen vorstellen, allerdings nicht durstlöschendes Trinken“ (9). Zum Glück war es den Schwestern jedoch „immer so gnädig beschieden gewesen, daß die eine gerade so weit leistungsfähig war, wenn es die andere ereilte“ (11). Sind wir heute vielleicht gesünder als diese Pionierinnen? Zumindest würden wir uns hüten, über Krankheiten so unnarzistisch zu schreiben wie Elise. Hier nur eine Kostprobe: 1924 infizierte ich mich in Gastein an Typhus. Durch den anschließenden Aufenthalt in Lussinpiccolo modifizierten sich die Bazillen zu Paratyphus. Mit schwerem Fieber und Schüttelfrost kam ich in Wien an und konnte mich lange nicht erholen. Ich hatte ganz deutliche Sprechstörungen. Da eben Anatole France gestorben war und die ‚Neue Freie Presse‘ von mir einen Nachruf verlangte, wollte ich Helene sagen, wo sie einen fast fertigen Nachruf über Anatole France finden werde und, kaum imstande, die Worte zu finden, war ich nachher vor Anstrengung einer Ohnmacht nahe. Dann eine Metastase: ein Geschwür an der Brust, das operiert werden mußte. Vielleicht mit dem Typhus in Zusammenhang standen die seitdem auftretenden Darmspasmen, die mich oft sehr belästigten. (7)

Das Problem der Ausgegrenztheit von Krankheitszuständen aus der Wissenschaft, mögen sie als somatisch oder hysterisch gelten, ist geblieben. Erklärt

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sich von daher die anhaltende Faszination der gender-Forschung an der proteiformen Hysterie? 4 Karriere und Geld ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘, lautete eine Emanzipationslosung der Arbeiterbewegung. Elise und Helene Richter glaubten sich dank des väterlichen Wohlstands frei von Lohnarbeit, und damit zugleich um so befähigter zum Dienst an ‚reiner‘ Wissenschaft und Bildung. Allerdings zeigt die Verweigerung einer auch bezahlten Professur exemplarisch, dass Karriere und Nicht-Karriere ungeachtet der jeweiligen Leistungen graduell auch von der Besoldung und den Ressourcen abhängen, die zur Verfügung gestellt werden. Es muss nicht eigens ausgeführt werden, dass im Verlaufe des gesamten 20. Jahrhunderts ein weiblicher Idealismus der Teilnahme an akademischen Aktivitäten vorausgesetzt wurde, der unbezahlte oder gering bezahlte Arbeit, oder aber ein überaus hohes Lehrdeputat für Frauen als ‚normal‘ erscheinen ließ. Der weibliche Idealismus wird damit zu einer Falle. Die Kluft zwischen Frauenbewegung und weiblichen Wissenschaftlern Elise Richter hat immer wieder betont, dass sie sich aus den Kämpfen der Frauenrechtlerinnen herausgehalten habe, was sie zum einen auf Zeitmangel, zum anderen jedoch auf das Begehren zurückführt, ausschließlich als Wissenschaftlerin anerkannt zu werden. So vermied sie „alles Frauenrechtlerische“ wie in einem weiteren Sinne Politische, doch ließ sie sich immerhin dazu herab, den Verband der Akademikerinnen Österreichs  1922 mitzubegründen, dem sie bis 1930 angehörte. Die letzten Zeilen der Summe lauten: „Ich gab den Frauenrechtlerinnen das erste Beweisstück, auf das sie sich stützen konnten, eben weil ich alles Frauenrechtlerische und ‚Kriegerische‘ ganz vermied und mich rein sachlich vorarbeitete. In der Geschichte der Frauenbewegung wird daher mein Name eine gewisse Bedeutung behalten“ (240). Es waren die Frauenrechtlerinnen oder doch zumindest die organisierten Frauen, konkret die International Federation of University Women, die Elise und ihrer Schwester zur Emigration verhelfen wollten. Doch anders als der ebenfalls hochbetagte Sigmund Freud, der im Aufbruch nach London lakonisch notierte „finis Austriae“, wollten die Schwestern nicht glauben, dass es keinen anderen Weg als die Flucht mehr gab. 5

6 Der „Abbau“ Für ihre Entlassung und Vertreibung aus der Universität benutzt Elise Richter das schlichte und uns auch heute wohlvertraute Wort des Abbaus:

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Einunddreißig Semester genoß ich die Früchte meines einstmaligen Kampfes. […] Da ich im Fach der Phonetik nicht leicht ersetzt werden konnte, wurde ich im siebzigsten Jahre als ‚unabkömmlich‘ beim Ministerium angefordert und las über das akademische Abgangsalter hinaus, bis ich durch den Umbruch abgebaut wurde. Ich hatte eben die Perseveration als unbewußte Sprachkraft erfaßt und wollte den Gedanken, während ich ihn für die ‚Mélanges Bailly‘ ausarbeitete, im Rahmen des lautpsychologischen Kollegs erörtern. Als ich am 10. März 1938 die Dekanatstreppe hinanstieg, die ich in ihrer künstlerischen Schönheit mit allen auf ihr möglichen Lichteffekten stets so geliebt habe, dachte ich mir, wie so oft, wer weiß wie lange noch? Und: weiß der Teufel, wie gerne ich es noch immer tue! Mit einem frohgemuten ‚Nächstes Mal mehr davon‘ stieg ich vom Katheder herab, um nie wieder zu kommen. Das war an sich eine gute Fügung. Einem bewußten Abschied, einer offiziellen Abgangsfeier hätte meine Nervenkraft nicht standgehalten. (171)

Ich möchte nun abschließend noch einen kurzen Blick auf die Geschichte weiblicher akademischer Karrieren der Philologischen Fakultäten im Verlauf des 20. Jahrhunderts werfen. Wie Barbara Hahn in der Einleitung des von ihr herausgegebene Sammelbandes Frauen in den Kulturwissenschaften. Von LouAndreas Salomé bis Hannah Arendt17 gezeigt hat, war das Jahr 1933 das Aus für weibliche Karrieren. Zwar betraf der Wille zum Ausradieren der Intelligenz Frauen wie Männer gleichermaßen. Doch hatte er genderhistorisch betrachtet in den sprach- und literaturwissenschaftlichen Fächern die zusätzliche Auswirkung, dass nahezu alles von Frauen Begonnene abbrach und die Beweisstücke ihres Lebens und Wirkens im Dunkeln blieben. Die sechzehn Lebensläufe, die in den Recherchen, die Barbara Hahn versammelt hat, erkundet worden sind, zeigen die Verluste: Sieben Frauen hatten 1933 eine Stelle, und alle verloren sie in den ersten Monaten des nationalsozialistischen Regimes. Acht emigrierten – da drei vor 1938 gestorben waren, ein ungeheuer hoher Anteil. Nur eine kehrte nach 1945 zurück; sie bekam ebensowenig wie die, die in Deutschland geblieben waren, eine angemessene Stelle.18

Unter den Emigrantinnen, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrten, fällt nur Käte Hamburger19 dadurch auf, dass sie eine angemesse 17  18  19 

Barbara Hahn, „Einleitung: ‚Laßt alle Hoffnung fahren …‘ Kulturwissenschaftlerinnen vor 1933“, in: dies. (Hrsg.), Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou-Andreas Salomé bis Hannah Arendt, München: C. H. Beck 1994 (= Beck’sche Reihe 1043), S. 7–25. Ebd., S. 12. Sie ist in dem Band von Hahn, dessen vorbildliche Studien nach Fortsetzungen verlangen, nicht vertreten. Vgl. jedoch Helmut Kreuzer, „Laudatio zum wissenschaftlichen Werk von Käte Hamburger anläßlich ihrer Ehrenpromotion an der Universität-Gesamthochschule

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Stellung und unbestrittene Anerkennung ihres Werks erlangte. Besonders ihr Buch Die Logik der Dichtung (Stuttgart 1957) erfuhr eine breite Rezeption und spielte in den literaturtheoretischen Debatten der sechziger und siebziger Jahre, die den Status von Literatur im Rekurs auf das Fiktionalitätsproblem zu klären suchten, eine wichtige Rolle. Interessanterweise wurde Käte Hamburgers überaus origineller Beitrag jedoch nicht als die Position einer Frau wahrgenommen, sondern als eine der relevanten Positionen innerhalb der Konfiguration einer ganz und gar genderunabhängigen theoretischen Problematik. So markiert am Ende auch noch eine solche Ausnahmeerscheinung wie die berühmte Käte Hamburger die Logik der Absenz von Frauen in den akademischen Wissenschaftsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Trotz Käte Hamburger – genauer: mit ihr – können und müssen wir verstehen, warum wir in unseren Fächergeschichten nur Väter, aber keine Mütter haben. Als ich 1968 an der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum Romanistik und Germanistik zu studieren begann, gab es an deren philologischer Fakultät dennoch drei Ordinariae (mit hervorragender personeller und sachlicher Ausstattung): die Romanistin Ilse Nolting-Hauff, die meine Doktormutter wurde und deren frühen Tod wir zu beklagen haben, die seither in hohem Alter ebenfalls verstorbene Germanistin Ingrid Strohschneider-Kohrs und die sehr jung berufene Slavistin Renate Lachmann. Es war mir damals nicht bewusst, in wie hohem Grade diese Frauen Ausnahmeerscheinungen waren.20 Eine solch hohe Repräsentanz institutionell hoch plazierter und höchst namhafter Professorinnen haben spätere sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultäten in Deutschland trotz großer Anstrengungen zur Frauenförderung und trotz der aufopferungsvollen Arbeit der Frauenbeauftragten kaum jemals wieder erreicht. Elise Richters rigoros ungeschminkte Summe des Lebens macht nachdenklich. Wie viel wissen wir eigentlich über die Lebensbilder und die Spielarten der wissenschaftlichen Leidenschaft in den verschiedenen Generationen von wissenschaftlich tätigen Frauen? Seitdem es sich durchgesetzt hat und weiter durchzusetzen scheint, sämtliche Lebens-, Produktions- und Konsumtionskreise statistisch zu verdaten und sich von diesen Datennetzen optimale Regulierungen zu erhoffen, schwindet die Chance, der Daseinskomponenten von Leid und Freude noch innezuwerden und sich auf sie zu besinnen.

20 

Siegen am 25. Juni 1980“, in: Johannes Janota und Jürgen Kühnel (Hrsg.), Ehrenpromotion Käte Hamburger am 25. Juni 1980. Dokumentation, Siegen: Universität-Gesamthochschule 1980. Vgl. Elisabeth Boedecker und Maria Meyer-Plath (Hrsg.), 50 Jahre Habilitation in Deutschland. Eine Dokumentation über den Zeitraum von 1920–1970, Göttingen: Otto Schwartz 1974 (= Schriften des Hochschulverbandes 27).

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‚Verbriefte Passion‘. Zu Madame de Sévignés epistolärer Zerstreuung Annette Runte Ainsi, ma bonne, je pense, donc je suis; je pense avec tendresse, donc je vous aime.1 („Nun, meine Liebe, ich denke, also bin ich; ich denke mit Zärtlichkeit, also liebe ich Sie.“)2

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‚Weibliche‘ Korrespondenzen

Als Stellvertreter des Gesprächs wäre der Brief eher dessen schriftliches Supplement, kennzeichnet das postalische Medium doch eine ‚Phasenverschiebung‘,3 die im Sinne differentiellen Aufschubs, der Kluft zwischen Sendung und Empfang, gelegentlich zum Drama werden kann. Daher sei der Brief, so Eva Meyer, in einer „primären Teilbarkeit“4 gegeben. Das Subjekt wird diesem Text nicht Herr, zumal ein Briefwechsel potentiell unabschließbar ist. Dennoch avancierte ein heterogenes, ‚unreines‘ Genre, in dem sich gleichsam Gattungen und Geschlechter vermischten, zu einer kanonisierten Kunstform. Briefe dienten bekanntlich nicht nur der Überwindung räumlicher Grenzen, sondern auch dem literarischen Experiment. Davon zeugt die französische Salon- und Konversationskultur des 17. Jahrhunderts ebenso wie die fiktionalisierten ‚Briefbücher‘ der Romantikerin Bettine von Arnim. Obwohl sich Privatbriefe aus weiblicher Feder im Kontext bürgerlicher Empfindsamkeit, gerade wegen ihrer ‚Natürlichkeit‘ und ihres Alltagsbezugs, ästhetisch aufgewertet sahen, wurden sie von der Nachwelt kaum archiviert, vielmehr eher vernichtet, und wenn sie doch erhalten blieben, dann oftmals zensiert oder bearbeitet. Im Fall der schon zu Lebzeiten berühmten Épistolière Marie de RabutinChantal, Marquise de Sévigné (1626–1696) mussten die verlorenen Originale 1  Madame de Sévigné, Correspondance II (juillet 1675–septembre 1680), Texte établi, présenté et annoté par Roger Duchêne, Paris: Gallimard 1974, Band 2 [fortan zit. mit der Sigle C II], S. 922 (Brief Nr. 762 an Madame de Grignan vom 6. 5. 1680). 2  Alle Übersetzungen sind, falls nicht anders angegeben, von A. R. 3  Reinhard M. G. Nickisch, Brief, Stuttgart: J. B. Metzler 1991 (= Sammlung Metzler 260), S. 6. 4  Eva Meyer, Briefe oder die Autobiographie der Schrift, Bern: Benteli 1986, S. 13.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_020 .7

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im Zuge editorischer Manipulationen sogar durch ‚Kopien von Kopien‘ ersetzt werden. Ihre Briefe waren sozusagen ‚in alle Winde zerstreut‘, und die Publikationen kamen meist per Zufall zustande. Wenn auch kein absoluter Verlass auf die Authentizität des Veröffentlichten besteht, nicht einmal in der historisch-kritischen Pléiade-Ausgabe, liegt mit Roger Duchênes jüngster Revision immerhin ein akribisch rekonstituiertes Konvolut von mehreren tausend Seiten Briefmaterial vor, dessen Textstatus zwar problematisch bleibt, aber nach heutigem Forschungskonsens ausreicht,5 um für diskurshistorische Analysen ebenso relevant zu sein wie für ‚symptomatische Lektüren‘. Steht im Mittelpunkt von Sévignés Schreiben der Briefwechsel mit ihrer einzigen Tochter, entbehrt es nicht der Ironie, dass deren Briefe fast in Gänze von ihrer eigenen Tochter, Pauline de Simiane, verbrannt wurden. Die sich daraus ergebende einseitige Quellenlage bietet jedoch die Gelegenheit, die mütterliche Perspektive gegenüber der in der Frauenforschung bislang privilegierten töchterlichen dezidiert in den Vordergrund zu rücken.6 Hinsichtlich der ein Vierteljahrhundert währenden Korrespondenz zwischen Madame de Sévigné und ihrer Tochter Françoise de Grignan,7 die ihrem Gatten in die Provence folgte, müssen die fehlenden Antworten also aus den vorhandenen Sendschreiben herausgelesen werden. Doch ob „ein Brief angekommen ist“, wisse man ohnehin nie genau, gibt Barbara Hahn zu bedenken, denn er verfehle „seinen Adressaten immer schon, insofern er Prozessen ausgesetzt ist, die kein Schreiber kontrollieren kann“,8 am wenigsten wohl psychische. Für die Marquise erlangt der schriftliche Austausch mit der weit entfernten Tochter die existenzielle Bedeutung eines Lebensmittels: 5  Cécile Lignereux, „Méthodes, enjeux et horizons de lecture du texte épistolaire“, in: dies. (Hrsg.), Lectures de Madame de Sévigné. Les lettres de 1671, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2012, S. 7–16, hier S. 15. 6  Marianne Hirsch, „A Mother’s Discourse: Incorporation and Repetition in La Princesse de Clèves“, in: Yale French Studies 62 (1981), S. 67–87, hier S. 68. 7  Vgl. Roger Duchêne, Madame de Sévigné et la lettre d’amour. Réalité vécue et art épistolaire, Paris: Bordas 1970, S. 18: Der Briefwechsel bestand zwischen 1671, dem Abschied der Tochter, und 1696, dem Todesjahr der Mutter, mit mehrmaliger Post pro Woche. Doch Sévigné lebte ein Drittel dieser Zeitspanne mit ihrer Tochter zusammen, wodurch dann längere Unterbrechungen entstanden. Zu den 764 erhaltenen Briefen treten 136 verlorene, so dass diese Korrespondenz (ca. 900 Briefe) den größten Teil des Gesamtkorpus ausmacht. Vgl. Roger Duchêne, Madame de Sévigné ou la chance d’être femme, Paris: Fayard 2002, S. 578 ff. Zwei Drittel der 120 Adressaten sind adelig, davon die Hälfte Frauen. Vgl. Fritz Nies, Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sévignébriefe, München: Wilhelm Fink 1972, S. 47. 8  Barbara Hahn, „‚Weiber verstehen alles à la lettre‘. Briefkultur im beginnenden 19. Jahrhundert“, in: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.), Deutsche Literatur von Frauen, Band 2, München: C. H. Beck 1988, S. 13–27, hier S. 26.

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„[…] lire vos lettres et vous écrire font la première affaire de ma vie.“9 („Ihre Briefe zu lesen und Ihnen zu schreiben, sind der Sinn meines Lebens.“) Muss das dialogische Modell der brieflichen Kommunikation im Unterschied zu sonstigen Ego-Dokumenten mit der Verstörung durch den Anderen rechnen, hängt der individuelle Stil der persönlichen Letter, die buchstäblich fixierte Rede des Subjekts, davon ab, wie sich sein Verhältnis zu Fremdem gestaltet.10 So wie ‚weibliches Schreiben‘ mündlicher Geselligkeit entsprang, lag in der Briefkultur eine Chance für weibliche Autorschaft. Als femme honnête aus der Provinz war Sévigné in zwei berühmten Pariser Salons zur femme d’esprit kultiviert worden, demjenigen des Hôtel Rambouillet und jenem um Madeleine de Scudéry, wo der galante Diskurs in einen preziösen transformiert wurde, dessen Spiel- und Entzugscharakter dem epistolären Austausch entgegen kam. Geschätzt wurden „geistreiche […] Pointe, kurzweiliger Einfall und Improvisiertalent“11 auf der Folie eines Code tendre als raffinierter Liebespsychologie mit ethischem Anspruch, die den von Niklas Luhmann verzeichneten Wechsel der Liebessemantik von der Idealisierung zur Paradoxierung artikuliert, was deren Temporalisierung und Instabilisierung einschließt, etwa als Alternanz von An- und Abwesenheit oder dem Hang zu rhetorischem Exzess.12 Während die Salonkultur ein „Schutz- und Fluchtraum“13 für eine Elite beider Geschlechter wurde, bildete sie für das weibliche zudem einen Ort kultureller Sozialisation, der über das humanistische Programm mimetischer Gelehrsamkeit hinausging. Im preziösen Umfeld kam eine ‚subtilere‘ Form von „Intellektualität“ zum Zuge, die auch ein „Recht auf eigene Gefühle“ zu beanspruchen begann.14 Obwohl Sévigné mit dem literarischen und philosophischen Repertoire dieses Milieus vertraut geworden war,15 legte sie stets 9  10  11  12  13  14  15 

Madame de Sévigné, Correspondance I (mars 1646–juillet 1675), Texte établi, présenté et annoté par Roger Duchêne, Paris: Gallimard 1972 [fortan zit. mit der Sigle C I], S. 189 (Brief Nr. 146 an Mme. de Grignan vom 18. 3. 1671). Duchêne, Lettre d’amour (Anm. 7), S. 34. Renate Baader, Dames de Lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und ‚modernen‘ Salons (1649–1698): Mlle de Scudéry – Mlle de Montpensier – Mme d’Aulnoy, Stuttgart: Metzler 1986, S. 45. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 52, 75 und 84. Baader, Dames de Lettres (Anm. 11), S. 17. Renate Kroll, Femme poète. Madeleine de Scudéry und die ‚poésie précieuse‘, Tübingen: Max Niemeyer 1996, S. 43–51. Man denke an die intertextuelle Bandbreite ihrer Lektüren, von Antike und Patristik über die Ritterepik (z. B. Tasso) und den galanten Roman, Honoré D’Urfés L’Astrée, eine ‚Bibel‘ der Preziösen, bis zu Corneilles Tragödien und den (jansenistischen) Moralisten, deren Maximen sie allerdings burleske Genres, wie Scarrons Satirik, vorzog (vgl. Baader, Dames de lettres (Anm. 11), S. 65–69).

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Wert darauf, einen „unakademische[n]“ Eindruck16 zu machen und intuitiven Argumenten Vorrang zu geben, um zumindest den Anschein der bienséance einer ‚Frau von Stand‘ zu wahren.17 Versteht man Gattungen im Rahmen einer „Affektpoetik“ als „Medien spezifischer basaler Emotionen“,18 dann hätte das Genre des halböffentlichen familiären Privatbriefs, wie es Sévigné im Austausch mit ihrer Tochter benutzte, auch zur Entwicklung einer ‚empfindsamen Innerlichkeit‘ beigetragen, die vor dem Hintergrund des französischen Absolutismus anderen soziokulturellen Bedingungen unterstand als etwa ihr pietistischer Wegbereiter in Deutschland. Vor allem war sie vom Stilmodus der badinage (Plauderei) geprägt, mit der Sentimentalität durch ironische Distanzierung und scherzhaften Witz in Schach gehalten wurde. Insofern skizzieren die Sévigné-Briefe den Entwurf einer „écriture de la tendresse“19 im Siècle Classique, der sich auch auf eine neue Konzeption von Mütterlichkeit beziehen lässt, ein performatives „doing emotions“,20 das Domna  C.  Stanton zugleich als weibliches ‚self-fashioning‘ (Stephen Greenblatt) versteht. Im Folgenden möchte ich am Beispiel der ‚Tochterbriefe‘ einer von Marcel Proust verehrten Grande Dame der französischen Literatur zunächst dem Zusammenhang von traumatischem Verlust und melancholischer Objektkonstitution nachgehen, um dessen narrative, argumentative und rhetorische Inszenierung anhand paradigmatischer Briefstellen diskurshistorisch auf eine neue Konzeption von Mutterschaft und Mütterlichkeit zu beziehen, die sich vornehmlich im katholischen Frankreich zu profilieren begann. Der anschließende kulturpoetische Vergleich des Mutter-Tochter-Paars mit einem Vorläufer der Renaissance, den Dames des Roches aus Poitiers, die als erste französische Autorinnen ihre Privatbriefe unter eigenem Namen veröffentlichten, dreht sich um eine ihnen gemeinsame Mythenapplikation am Beispiel des ‚matriarchalischen‘ Narrativs von Ceres und Proserpina, das im Verweis auf den ‚dunklen Kontinent‘ der präödipalen Mutter-Tochter-Beziehung unter psychoanalytischen Aspekten betrachtet werden soll. Die signifikanten Echound Spiegelstrukturen in der brieflichen Selbst- und Fremdinszenierung, die die Präponderanz des imaginären Registers erhellen, lassen zudem einen Blick auf die Ambiguität der klassizistischen Zeichenökonomie zu, die in der 16  17  18  19  20 

Kroll, Femme poète (Anm. 14), S. 58. Ebd., S. 73. Burkhard Meyer-Sickendiek, Zärtlichkeit. Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, S. 13. Nach Cécile Lignereux, zit. in Meyer-Sickendiek, Zärtlichkeit (Anm. 18), S. 13. Domna C. Stanton, The Dynamics of Gender in Early Modern France. Women Writ, Women Writing. Farnham: Ashgate 2014, S. 159.

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epistolären Routine auf die Ambivalenz jener ravage (Jacques Lacan) der Mutter-Tochter-Beziehung hindeutet, die sowohl ‚Zerrüttung‘ wie ‚Verzückung‘ signifiziert. Dabei wird sich Mme. de Sévigné als eine frühneuzeitliche Figur des „Dazwischen“21 erweisen, da sie Grenzen eher ‚zerstreut‘ als überschreitet, indem sie die moderne Spaltung zwischen der ‚Funktion der Mutter‘ und dem ‚Effekt Frau‘ durch eine ‚mütterliche Passion‘ (Julia Kristeva) subvertiert. II

Traumatische Trennung(en): Mütterliche Liebesbriefe an die Tochter

Marie de Rabutin-Chantal (1626–1696) entsprang einer mésalliance zwischen altem Schwertadel und dem in der Finanzwelt reüssierenden Stadtpatriziat, in dessen Milieu das früh verwaiste Einzelkind familiäre Geborgenheit und eine liberale Erziehung genoß. Während sie sich gern zur Tochter eines legendären Vaters stilisierte, den sie sehr früh verloren hatte, erwähnte sie ihre einige Jahre später verstorbene Mutter nur ein einziges Mal.22 Maries Wahlehe mit dem aus der bretonischen Hocharistokratie stammenden Henri de Sévigné, ebenfalls elternlos, währte nur kurz, da ihr Gatte im Duell um eine Geliebte fiel. Der Marquise gab sein Tod die Möglichkeit, als Witwe maximale Selbständigkeit zu bewahren23 und aus der Provinz nach Paris zurückzukehren, um am kulturellen Leben teilzunehmen. Ihre lockeren Kontakte zur Fronde (1648–1653), dem Aufstand des Schwertadels gegen die Errichtung der absolutistischen Monarchie, sowie kleinere Verwicklungen aus politischer Naivität verhinderten zwar eine Hofkarriere, aber ließen die honnête femme, die sich allmählich einen Ruf als brillante Briefschreiberin erwarb, zur femme d’esprit à la mode werden, die Schönheit und Charme vor allem ihrem Geist verdanke. Insbesondere der Briefwechsel Sévignés mit ihrem Cousin Bussy-Rabutin, der als Satiriker das Burleske an ihr schätzte,24 nahm sich als eine ‚hohe Schule‘ des Schreibens aus, die den epochalen Bruch mit einer epistolären Regelpoetik nach dem Vorbild der Briefsteller zugunsten galanter und preziöser Muster markierte. Nach der Verheiratung ihrer Tochter in die Provence zog sich Sévigné, das stets 21  22  23  24 

Vgl. Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen und Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 254 und 257 ff. Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 38, 46, 55 ff., 68 f. und 127. Der Witwenstand implizierte die größte juridische Freiheit für das unmündige Geschlecht, vgl. Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt am Main und New York: Campus 2006, S. 27–37. Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 137, 168, 193 ff.

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anpassungsfähige ‚Chamäleon‘, plötzlich aus den mondänen Kreisen zurück, um sich fortan dem Kult einer Verlorenen zu widmen. Die liebte sie, wie ein älterer Mann eine junge Mätresse liebt, die ihn peinigt. Es war eine […] morbide Leidenschaft; sie trug ihr viele Demütigungen ein […]. Denn von der Tochter aus gesehen, war es […] peinlich, der Gegenstand solch heftiger Empfindung zu sein, und nicht immer war sie der Erwiderung fähig. […] Sie war gezwungen, […] ihre eigene Identität geltend zu machen.25

Was Virginia Woolf mit Anspielung auf Petrarca und neuplatonische Traditionen26 andeutet, bedarf des Kunstgriffs einer Maskulinisierung, die aus der Mutter gleichsam einen Transvestiten macht, wirkt sie doch als aktiver Part, dessen affektive Maßlosigkeit bald auch der näheren Umgebung auffallen wird. Dabei war von der Tochter, die Sévigné einst ganz alleine zur Welt gebracht hatte, vor deren Abschied kaum die Rede gewesen. Allerdings findet man einige Indizien mütterlicher Zuneigung, etwa darin, dass sie ihrer Tochter die damals übliche klösterliche Erziehung ersparte. Seitdem sie in der Pubertät zum Hofstar aufgestiegen war und in Balletten neben dem König tanzte, der ein Auge auf sie geworfen haben soll, bemühte sich Mme. de Sévigné, die auf ihren ‚guten Ruf‘ bedacht war, darum, die Tochter zu verheiraten. Die Konvenienzehe mit einem älteren Witwer wurde zur Liebesehe, aber für die Mutter zur privaten Tragödie, denn sein Amt als königlicher Generalgouverneur verpflichtete den Schwiegersohn zur Residenzpflicht in Südfrankreich. Damit war die Trennung Sévignés von ihrer Tochter vorprogrammiert. Nachdem die frisch Angetraute ihr erstes Kind im Stadtpalais der Mutter geboren hatte, was die vornehme Welt etwas befremdete, stieg sie am 4. Februar 1671, dem Todestag ihres Vaters, in die Kutsche, um sich endlich zu ihrem Gatten zu begeben.27 Sévigné hat diese traumatische ‚Urszene‘ einen Monat später in einem Brief an die Verschwundene zum Ausdruck gebracht: Ich versichere Ihnen, meine liebe Gute, dass ich unablässig an Sie denke […]. Wenn man nicht darüber hinweggleiten würde, wäre man ständig in Tränen. […]. Es gibt keinen Ort in diesem Hause, der mir nicht das Herz verwundet. Ihr ganzes Zimmer bringt mich um; ich habe genau in der Mitte einen Wandschirm aufstellen lassen, um ein wenig die Sicht aus dem Fenster zu verdecken, auf jene Stufe, von der aus ich Sie in d’Hacquevilles Kutsche habe steigen sehen und von der aus ich Sie zurückrief. Ich mache mir selbst Angst, wenn ich daran denke, 25  26  27 

Virginia Woolf, „Madame de Sévigné“, in: Der Tod des Falters. Essays (1942), aus dem Englischen übersetzt von Hannelore Faden und Joachim A. Frank, Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 50–57, hier S. 51. Stanton, The Dynamics of Gender (Anm. 20), S. 162, unter Rekurs auf Ovids Heroides. Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 128, 253 ff., 259–312 und 320 ff.

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dass ich damals wahrhaftig fähig gewesen wäre, mich aus diesem Fenster zu stürzen, denn manchmal bin ich ganz von Sinnen […]. Ich komme also darauf zurück: Man muss über all das hinweggleiten und sich wohl davor hüten, sich seinen Gedanken und den Regungen des Herzens hinzugeben. Ich beschäftige mich lieber mit dem Leben, das Sie gegenwärtig führen. Das lenkt mich ab, ohne mich jedoch von […] meinem Gegenstand zu entfernen, der das ist, was man in der Poesie das Liebesobjekt nennt.28

Liegt die paradoxe Zeitlichkeit des Traumas als psychisch nicht zu bewältigendem Ereignis darin, das es sich nur nachträglich in seinen Wirkungen zeigt, verdeutlicht die oben zitierte Passage die Konstitution des Objekts durch Verlust, da es als verlorenes immer schon ein wieder gefundenes darstellt.29 Sévignés Versuch, das Unerträgliche zu verdrängen, führt in der Sublimierung durch den erotisch tangierten Briefverkehr zu einer ‚Zerstreuung‘, die ausgerechnet aus der Fixierung auf dasjenige besteht, von dem der Trieb abgelenkt werden soll. In der zitierten Stelle macht sich die mütterliche Trauer zunächst an jenem Ort fest, der sich, als usuelle Metapher des Weiblichen, zur Synekdoche töchterlicher Absenz entleert, um mit dem rhetorischen Verfahren der Hypotypose aus ihm hinauszutreten. Denn Sévigné, die mit dieser Figur etwas vor Augen stellen möchte, beschreibt zunächst, wie sie im ehemaligen Gemach der Tochter einen Paravent aufstellen lässt, der ihr den Blick auf das fatale Fenster verdeckt, durch das sie die ‚Schwelle‘ der Haustür, Emblem eines todesähnlichen Abschieds, zu sehen vermag. Die Abwehrfunktion der freudschen ‚Deckerinnerung‘ realisiert sich im Schutz und Schirm eines Möbelstücks. Zugleich wird das Fenster, Rahmen des visuellen Grenzübertritts von Innen nach Außen, konnotativ zu jenem abgründigen ‚Loch‘, in dem die Tochter dem mütterlichen Blick als Bild entschwand und durch das sich die Erinnernde vom Leben in den Tod stürzen möchte. In dieser mehrfach verschränkten Vergegenwärtigung stellt die Mutter der Tochter ihre melancholische Verzweiflung vor Augen, indem sie unter der realistischen Oberfläche einen rhetorischen Subtext anlegt, dessen narrative Entfaltung die Wiederkehr des Verdrängten in Szene setzt. Lässt sich die aristotelische Figur der Hypotypose als ein ‚Zusatz‘ zur Metapher definieren, welcher deren illokutionäre Kraft umkehrt und sich

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Brief vom 3. März 1671, zit. in: Christiane Solter-Gresser, Leben im Dialog. Wege der Selbstvergewisserung in den Briefen von Marie de Sévigné und Isabelle de Charrière, Königstein im Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2000, S. 212 f., hier S. 213, ins Deutsche übersetzt von Theodora von der Mühll (1966), vgl. „Anmerkung zu den Übersetzungen“, S. 224. Vgl. Jacques Lacan, Le Séminaire. Livre IV. La relation d’objet. 1956–1957, herausgegeben von Jacques-Alain Miller, Paris: Seuil 1994, S. 25 und 53.

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dabei zum „eigene[n] Syntagma“30 zu verselbständigen vermag, das gleichsam einen ‚vertikalen‘ Zugriff auf die analogische Achse erlaubt, dann kann man ein solches ‚Einhaken‘ oder ‚Skandieren‘ – Rüdiger Campe zufolge – als Spiel(-Raum) zwischen Denken und Phantasma begreifen. Da sich dieses Verfahren bezeichnenderweise an zwei signifikanten, von der Forschung ebenso oft erwähnten Briefstellen wiederholt, möchte ich sie auch im Hinblick auf ihre thematische bzw. semantische Nachbarschaft (Kontiguität) einbeziehen. Denn in ihnen wird das Motiv der Verschleierung sowohl aus dem Mund der Tochter wie demjenigen der Mutter aufgegriffen, wobei sich die aggressive Seite der symbiotischen ‚Idylle‘ zeigt. Mais je ne veux point que vous disiez que j’étais un rideau qui vous cachait. Tant pis si je vous cachais; vous êtes encore plus aimable quand on a tiré le rideau. Il faut que vous soyez à découvert pour être dans votre perfection; […]. Pour moi, il me semble que je suis toute nue, qu’on m’a dépouillée de tout ce qui me rendait aimable.31 („Aber ich möchte keinesfalls, dass Sie sagen, ich sei ein Vorhang, der Sie verbirgt. Und wenn ich Sie verborgen haben sollte! Sie erscheinen nur umso liebenswerter, nachdem man das Stück Stoff weggezogen hat. Sie müssen entblößt sein, damit sich ihre Vorzüge offenbaren, […]. Was mich angeht, so fühle ich mich ganz nackt, weil man mir alles wegnahm, was mich liebenswert machte.“)

Die Symbolik der Ver- bzw. Enthüllung enthüllt eine Dialektik der Rivalität. Wieder handelt es sich rhetorisch um eine Hypotypose, mittels derer sich die konventionelle Metapher der töchterlichen Klage auf dem Wege ihrer Verwörtlichung zum erotischen Bild einer Enthüllung entfaltet, und zwar unter dem Vorwand, sie als perfektes Kunstwerk ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Offen bleibt, ob es sich dabei um Körper oder Seele handelt, was der Tochter als Descartes-Adeptin in den Sinn kommen könnte. Während die Debütantin sich also beklagt hätte, von der illustren Mutter in den Schatten gestellt zu werden, wird ihr mit dem gegenteiligen Effekt gekontert. Wenn die durchaus zweideutige Vorhangs-Metapher neben ihrer ostentativen auch eine Schutzfunktion hat,32 wirkt der mütterliche Schlusskommentar wie eine Retourkutsche, weil er die töchterliche Wendung aufnimmt, um sie umzukehren. Denn nicht die Tochter, sondern die Mutter sei die wirklich Beraubte, habe man ihr doch den einzigen Schmuck, nämlich ihr Kind, weggenommen. 30  31  32 

Rüdiger Campe, „Vor Augen stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in: Gerhard Neumann (Hrsg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart und Weimar: Metzler 1997, S. 208–228, hier S. 214. C I, S. 155 (Brief Nr. 133 vom 11. 2. 1671). Duchêne, La lettre d’amour (Anm. 7), S. 196.

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Dessen eigene Verluste, etwa des früh verstorbenen Vaters, bleiben in der mütterlichen Litanei so lange unerwähnt, bis das Verdrängte aus fremdem Munde wiederkehrt. So erinnert ein Freund Mme. de Sévigné, die von ihrem Gatten keinerlei Andenken, weder ein Bild noch eine Haarlocke besaß, an ein kindliches Spiel, in dem bezeichnenderweise wieder eine Trennscheibe die Hauptrolle spielt, diesmal als Grenze zwischen väterlicher und mütterlicher Welt, höfischem Theater und bürgerlichem Publikum, Traum und Wirklichkeit. M.  de  Pomponne se souvient d’un jour que vous étiez petite fille chez mon oncle de Sévigné. Vous étiez derrière une vitre avec votre frère, plus belle, dit-il, qu’un ange; vous disiez que vous étiez une princesse chassée de chez son père. […] vous aviez neuf ans.33 („Herr von Pomponne erinnert sich daran, dass Sie eines Tages, während Sie als kleines Mädchen bei meinem Onkel von Sévigné weilten, mit Ihrem Bruder hinter einer Glastür waren, schöner als ein Engel, wie er sagte; Sie sagten, dass Sie eine Prinzessin seien, die aus Ihres Vaters Haus verjagt worden wäre; […] Sie waren neun Jahre alt.“)

Der auffällige Befund, dass die Figur der Mutter in dieser anekdotischen Reminiszenz fehlt, was Jacqueline Duchêne zufolge daran läge, dass sie realiter „allgegenwärtig“34 gewesen sei, gemahnt an Lacans Diktum, dass es nicht die Abwesenheit, sondern die ständige Anwesenheit der Mutter sei, die problematisch werde. Wenn die Mutter-Kind-Dyade nur durch den Einbruch eines Dritten den Eintritt in die symbolische Ordnung erlaubt, hätte vielleicht das mondäne Universum die Funktion eines väterlichen Gesetzes übernommen. Während Mme. de Sévigné in extremer Weise unter der Trennung von der erwachsenen Tochter leiden wird, bedeutet die ‚Abnabelung‘ für diese eine Art von ‚zweiter Geburt‘. Dafür gibt es im Briefkonvolut zahlreiche Indizien, obzwar ausschließlich aus egozentrischer Sicht, wenn es ebenso kontrafaktisch wie polemisch heißt, dass es „doch verrückt“ sei, „eine […] gute Mutter zu verlassen“, „um einem Mann bis ans andere Ende Frankreichs zu folgen“.35 Im Rahmen einer Hermeneutik der Empathie, die aus unbewussten Identifikationen und imaginären Projektionen besteht, changieren die auf phantasmatischen Annahmen beruhenden Urteile Sévignés über die Authentizität der töchterlichen Zeichen ständig zwischen Euphorie und Depression. So verlautet etwa, dass Sévigné durch ein Liebesbekenntnis Mme. de Grignans zu Tränen gerührt worden sei,36 dann wieder, dass sie sich durch 33  34  35  36 

C I, S. 668 (Brief Nr. 362 vom 15. 1. 1674). Jacqueline Duchêne, Françoise de Grignan ou le mal d’amour, Paris: Fayard 1985, S. 13. Zit. in: ebd., S. 24. Zit. in: ebd., S. 25.

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die Aversion ihrer Tochter tödlich verletzt gefühlt habe.37 Insbesondere für die mittlere krisenhafte Phase der Korrespondenz zwischen 1675 und 168038 ließe sich diese Reihe endlos fortsetzen. Da die Mutter sich an die Stelle des Gatten wünscht, liefert sie ihr Idol einem double bind aus, denn je harmonischer die töchterliche Ehe verläuft, desto unwahrscheinlicher wird eine Rückkehr zur Kohabitation, die sich erst in den letzten Lebensjahren der Mutter noch einmal realisiert. So ist aus der lebenslustigen Salondame eine mater dolorosa geworden, aber dadurch auch eine Schriftstellerin, wie Roger Duchêne meint.39 Und immerhin scheint sie unbewusste Mobile zu erahnen: „C’est une chose bien étrange que la tendresse que j’ai pour vous; je ne sais si contre mon dessein j’en témoigne beaucoup, mais je sais que je cache encore davantage.“40 („Ein ziemlich seltsames Ding ist diese Zärtlichkeit, die ich für Sie empfinde; ich weiß nicht, ob ich entgegen meiner Absicht viel davon kundtue, aber ich weiß, dass ich noch mehr verberge.“) Obwohl die briefliche Kommunikation viele Missverständnisse und andere Formen des Widerstreits produziert, eignet sie sich als Liebesbeweis41 und Präsenzillusion.42 Da Sévigné zu diesem Zweck auf die Kooperation ihrer Tochter angewiesen ist, hat sie mit ihr einen Pakt geschlossen, der den regelmäßigen Briefverkehr, auch unter Berücksichtigung des gerade zur rechten Zeit reformierten Postwesens, sichern soll. Der Skandal dieser Korrespondenz liegt vielleicht weniger in der verdächtig intensiven Mutterliebe denn in der ungewöhnlichen Offenheit, mit der diese sich äußert.43 Obwohl das Genre Brief ein zentrales Element der mondänen „Ästhetik der Zerstreuung“44 war, erfüllte es diese Funktion in Sévignés Tochterbriefen nur beiläufig. Den Grund dafür bildete nicht nur die historische Evolution von der heroisch-galanten Epistel zum individualisierten Familienbrief,45 sondern das kompensatorische Interesse der Mutter. Dennoch realisiert es sich weniger 37  38  39  40  41  42  43  44  45 

Zit. in: ebd., S. 28. Vgl. Marie-Magdeleine Lessana, Entre mère et fille: un ravage (2000), Paris: Fayard 2010, S. 41. Duchêne, La lettre d’amour (Anm. 7), S. 161. Zit. in: ebd., S. 190 f. Bernard Bray, Épistolières de l’âge classique. L’art de la correspondence chez Madame de Sévigné et quelques prédécesseurs contemporains et héritiers, Tübingen: Gunter Narr 2006, S. 284. Ebd., S. 251. Die illusorische Figur des anderen sei der wichtigste Ansprechpartner des „Narcisse-épistolier“ (S. 323). Monika Kulesza, Le romanesque dans les ‚Lettres‘ de Mme. De Sévigné, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford und Wien: Peter Lang 2014, S. 73. Nies, Gattungspoetik (Anm. 7), S. 38. Ebd., S. 42.

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im empfindsamen Pathos bürgerlicher Vertraulichkeit als im aristokratischen Gestus einer négligence délibérée,46 der zu Sévignés ciceronischem Markenzeichen wurde. Bernard Bray zufolge beherrschte sie die Technik der Unterhaltung, ohne sie zum bloßen Spiel zu machen, und ihren Episteln wohne ein Zug melancholischer Heiterkeit inne. Pflegte die Mutter demnach ‚natürliche Einfachheit‘ noch als künstlich kalkuliertes Konstrukt,47 so die Tochter bereits Vorformen einer „echten Natürlichkeit“48 rousseauistischer Couleur. Doch von einem divertir (‚zerstreuen‘) im Verständnis des Grand Siècle, nämlich oberflächlicher Tändelei, kann nur bedingt die Rede sein, weil das dezentrierende Variationsprinzip bei Sévigné einer monomanischen Totalisierung unterstand. Semantisch wurde der flexible Schlüsselbegriff der ‚Zärtlichkeit‘49 tendenziell durch die Freundschaftstopik entschärft.50 So beruft sich Sévigné auf Madeleine de Scudérys Konzeption der tendresse, wenn sie sich auf affektiver Ebene mit dem Schwiegersohn vergleicht, spricht ihm aber zugleich das Recht auf diesen Code ab.51 Obwohl aus diskurshistorischer Sicht eine Hybridisierung zeitgenössischer Beziehungsmodelle durch Interferenzen zwischen ‚Zärtlichkeits‘-, ‚Freundschafts‘- und ‚Liebessemantik‘ stattfand,52 täuscht Sévignés „zur Schau […] getragene Lässigkeitsattitüde“53 nicht darüber hinweg, dass ihre eskapistische Suche nach divertissement immer wieder bei ein und derselben fixen Idee anlangt: „ma tendresse me tue“54 („meine zärtliche Liebe bringt mich um“). Insofern pflichtet die Jansenistin Pascal wohl

46  47  48  49  50 

51 

52  53  54 

Ciceros neglentia diligens. Duchêne (La lettre d’amour, S. 99) versteht darunter eine „allure dégagée“ (S. 99), die natürliche Spontaneität artifiziellen Codes und Ritualen vorzieht. Nies, Gattungspoetik (Anm. 7), S. 66. Bray, Épistolières (Anm. 41), S. 328. Ebd., S. 284. Vgl. Eckhardt Meyer-Krentler, „Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur Einführung in die Forschungsdiskussion“, in: Wolfram Mauser, Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.), Frauenfreundschaft – Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer  1991, S.  1–23, hier S.  11: „In Frankreich wird über amitié anders verhandelt – schon im 17. Jahrhundert wird der Begriff viel stärker emotionalisiert, an die passion angegliedert.“ Vgl. Meyer-Sickendiek, Zärtlichkeit (Anm. 18): Nach Norbert Elias war die „Soziogenese“ der Galanterie, als aristokratischer ‚Romantik‘, ein „Protest gegen die Verhofung“ (zit. S. 33), aber sie sei „nicht vom alten Schwertadel, sondern von der noblesse de robe“ ausgegangen, die auf höfische Zwänge sozusagen mit Empfindsamkeit reagiert habe. Cécile Lignereux, À l’origine du savoir-faire épistolaire de Mme de Sévigné. Les lettres de l’année 1671, Paris: PUF 2012, S. 29 und 12. Nies, Gattungspoetik (Anm. 7), S. 37. Zit. in: Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 211.

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bei, wenn er postuliert, dass Zerstreuung nur eine ‚illusorische Antwort auf die menschliche Misere‘ sei.55 III

Spekuläre Beziehungen: Krisen und Kränkungen auf dem Papier

Wenn Familienhistoriker heute geneigt sind, die Entstehung der intimen Mutter-Kind-Beziehung vom ‚bürgerlichen‘ Jahrhundert der Aufklärung ins absolutistische Frankreich vorzuverlegen, dann deswegen, weil sich auf makro- wie mikrostruktureller Ebene dafür gute Gründe finden lassen. Die amerikanische Romanistin Domna C. Stanton hält Sévignés Briefwerk für einen ‚Meilenstein‘ in der Genealogie der Konstruktion des mütterlichen Subjekts56 und widerspricht damit den bekannten Thesen Elisabeth Badinters, die die Emergenz der anthropologischen Konstante ‚natürlicher‘ Mutterliebe unter dem Einfluss rousseauistischer Diskurse mit der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft beginnen lässt.57 Zwar gebe es im 17. Jahrhundert noch kaum Anzeichen für eine solche Naturalisierung moderner ‚Mütterlichkeit‘, aber dennoch zahlreiche Spuren starker Muttergefühle in literarischen Texten, die das Umfeld der ‚Tochterbriefe‘ darstellen, z. B. in  Mme. de La Fayettes La princesse de Clèves oder Racines Iphigénie. Soziale Ursachen dafür scheinen greifbar. Ludwig XIV. setzte sich für eine pronatalistische Familienpolitik ein, wobei ihn gegenreformatorische wie protestantische Trends zum ‚maternalism‘ unterstützten.58 Die Tendenz, Frauen aus höheren Schichten für die Erziehung ihrer Kinder, insbesondere der Töchter verantwortlich zu machen,59 schlug sich in einer Fülle von moralischen Traktaten und sonstiger Ratgeberliteratur nieder.60 Daher stieß auch Sévignés extravagante „performance of maternal emotion“,61 die man bei Müttern niederer Herkunft kaum akzeptiert hätte, auf eine relative Toleranz im Rahmen des aristokratischen Privilegs. 55  56  57  58  59  60  61 

„[…] la réponse illusoire à la misère humaine“, zit. in: Lignereux (Hrsg.), Lectures de Mme de Sévigné (Anm. 5), S. 105. Stanton, The Dynamics of Gender (Anm. 20), S. 151. Elisabeth Badinter, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute (1980), aus dem Französischen übersetzt von Friedrich Griese, München: Deutscher Taschenbuch Verlag ³1987, S. 113 ff. Stanton, The Dynamics of Gender (Anm. 20), S. 156 f. und 152. So etwa bei Fénelon (1687). So suggeriert Quillet (La callipédie ou l’art d’avoir de beaux enfants, 1655 f.) den Müttern das Glück des nursing und vergleicht es mit dem Formen eines Teigs. Stanton, The Dynamics of Gender (Anm. 20), S. 159.

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Doch obwohl die Tochter bei Sévigné zum konstitutiven Moment der mütterlichen Identität geworden war, wurde das Band, das beide vereinte, immer von neuem auf eine harte Probe gestellt. Denn gerade weil die Mutter affektiv am stärksten an ihrer einzigen Tochter hing, die die Enkelkinder keineswegs zu vertreten vermochten, ertrug sie, außer der Trennung von ihr auch deren Schwangerschaften nicht. Sévigné verwarf sie, weil sie nicht nur das Leben der Tochter bedrohten, sondern auch ihre Schönheit zerstören würden. Taktlos stellte sie indiskrete Fragen, empfahl getrennte Schlafzimmer und richtete, nach der Geburt des Stammhalters, einen Verhütungsappell an den Erzeuger: „Ayez pitié de votre aimable femme; laissez-la reposer comme une bonne terre.“62 („Haben Sie Mitleid mit Ihrer liebenswürdigen Frau; lassen Sie ihr eine Ruhepause wie einem guten Acker.“) So kam es in der Kampf-Arena der Korrespondenz zu einer regelrechten Fortpflanzungskontrolle, die der Komik nicht entbehrt, zumal ein leicht zu entschlüsselnder Geheimcode die Umwertung der normalen Werte verlangt: Il est aujourd’hui le 6 mars […]. Si vous vous portez bien, vous êtes malade, mais si vous êtes malade, vous vous portez bien.63 („Heute ist der 6. März. […]. Wenn es Ihnen gut geht [d. h.: keine Menstruation], sind Sie krank [d. h.: schwanger], aber wenn es Ihnen schlecht geht [d. h.: Menstruation], sind Sie gesund [d. h.: nicht schwanger].“)

Wird dem Signifikanten ‚krank‘ in diesem Binärcode ein doppeltes Signifikat (‚nicht-/ schwanger‘) zugeordnet, antwortet die Cartesianerin Grignan auf diesen Unsinn nur lakonisch mit dem biblischen Vermehrungsgebot. Sollte sie für die Mutter eine ‚ewige Tochter‘ bleiben? Obgleich beide in dem Vierteljahrhundert zwischen dem Abschied der Tochter und dem Tod der Mutter immerhin acht Jahre lang wieder zusammenlebten, weil Françoise de Grignan von 1680 bis 1688 in Paris Prozesse führte, erlebten sie im Zeitraum von 25 Jahren immerhin sieben Trennungen. Fast alle verliefen aus mütterlicher Sicht dramatisch, zumal sich die z. T. längeren Perioden des Zusammenseins in keiner Weise friedlich gestalteten. Sobald sie sich wieder sahen, wurden sie leidend, wenn sie es nicht ohnehin schon waren. Als die schwangere Tochter 1674 ihre Mutter besuchte, erlitt die Marquise einen Schlaganfall. Bei einem erneuten Treffen zu Weihnachten 1676 erschien die Tochter völlig abgemagert, während die Mutter sich vor Rheuma kaum zu bewegen vermochte. Wechselseitige Sorgen arteten in Belästigungen aus, Kränkungen machten dermaßen krank, dass Nachbarn und Verwandte 62  63 

Zit. in: Duchêne, Françoise de Grignan (Anm. 34), S. 45 (Brief vom 15. 11. 1671). Zit. in: ebd., S. 42.

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einen imperativen Rat erteilten: „Il faut vous séparer. Vous vous faites mourir toutes deux.“64 („Man muss Sie voneinander trennen. Sie töten sich sonst noch gegenseitig.“) Zwanghafte Wiederholungen kennzeichnen den Teufelskreis der anschließenden Rationalisierungen in Form von (Selbst-)Vorwürfen und (Ver-)Besserungsplänen. Aber gelegentlich geäußertes Schuldbewusstsein ändert nichts an der Briefsucht Sévignés, deren Beständigkeit sich in ihrem Credo reflektiert: „Jamais rien n’a paru à mon goût et à mes yeux comme Mlle de Sévigné.“65 („Niemals war etwas so sehr nach meinem Geschmack wie Fräulein von Sévigné.“) Als Resümé ergibt sich ein quasi-automatischer Chiasmus manisch-depressiver Viktimisierung: Während jede Trennung die Mutter mit Melancholie und die Tochter mit Euphorie erfüllt, ist es bei jeder Wiedervereinigung genau umgekehrt. Die zirkuläre Dynamik einer ambivalenten Haß-Liebe-Relation entspräche der imaginären ‚Dialektik‘ des lacanschen ‚Spiegelstadiums‘, als Theoriemetapher intra- wie intersubjektiver Verkennung. Deren Logik der Ent/Täuschung findet sich als Mimesis höfischer Dis/Simulation aber auch in der konstitutiven Ambiguität der Zeichen des klassizistischen Theaters, insbesondere bei Racine, wieder, dessen ‚Eros‘ Roland Barthes zufolge die ‚Urszene‘, die ihn geprägt hat, endlos reproduziert. So besteht sein tragisches Paradox darin, dass das Zeichensystem sich unentscheidbar verdoppelt, in totales Vertrauen wie totalen Verdacht.66 Diese spekuläre Disposition ist den rekurrenten Echo- und Spiegelstrukturen der epistolären Mutter-Tochter-Dyade geradezu eingeschrieben, von gebräuchlichen topisch-thematischen Wiederaufnahmen über narrativ-argumentative Zyklen- oder Serienbildung67 und den semantischen Aufbau von Analogien (z. B. reziproker  Liebe) oder Oppositionen (z. B. mütterlicher  Schwäche vs. töchterlicher Stärke)68 bis hin zu illokutionären Signalen69 und affirmativen oder kritischen Rückverweisen auf die töchterliche Rede,70 wenn es etwa heißt:„Je vous renvoie quasi votre lettre; c’est que vous avez si bien tourné ma pensée, que je prends plaisir à la répéter.“71 („Ich sende Ihnen gleichsam Ihren eigenen Brief in meinen Worten zurück; denn Sie haben meine Gedanken so 64  65  66  67  68  69  70  71 

Zit. in: ebd., S. 97. Zit. in: Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 264 (Brief vom 24. 5. 1690). Roland Barthes, Sur Racine, Paris: Seuil 1963, S. 18 und 58. Lignereux (Hrsg.), Lectures de Mme de Sévigné (Anm. 5), S. 32 ff. So z. B. die Polemik in den den Briefen vom 31. 3. 1671 und vom 9. 2. 1671, vgl. Lignereux, À l’origine du savoir-faire épistolaire (Anm. 52), S. 43. So in der Reaktion auf den töchterlichen Ratschlag, nicht alles so schwer zu nehmen (Brief vom 3. 3. 1671), vgl. ebd., S. 53f. Vgl. ebd., S. 53. C I, S. 643 (Brief Nr. 353 vom 18.12.1673), zit. in: Bray, Épistolières (Anm. 41), S. 284.

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gut verstanden, dass es mir ein Vergnügen ist, sie zu wiederholen.“) Obwohl spontanes Verstehen im Verlauf von Krisen manchmal in Unverständnis umschlägt, überwiegt die Artikulation affektiver Ähnlichkeiten, die bis zum Vergleich mit anderen Mutter-Tochter-Beziehungen bzw. -Korrespondenzen geht. So könne sich die Tochter der Mme. de Rohan, meint Sévigné, zwar intellektuell nicht mit ihrer eigenen messen, aber zeige in ihren Briefen dieselben Gefühle gegenüber ihrer Mutter, die ihrerseits entsprechende Emotionen bekunde: „Cette fille n’écrit pas comme vous, elle n’a pas l’esprit comme vous; mais elle a la tendresse et de l’amitié comme vous … Je fus surprise hier de voir dans un endroit de sa lettre, le fond de son cœur pour Mme de Rohan, et aussi quelle tendresse naturelle Mme de Rohan sent pour elle.“72 („Diese junge Dame schreibt nicht wie Sie, Sie besitzt nicht Ihren Geist, aber Ihre freundschaftliche Zärtlichkeit … Ich war gestern überrascht, an einer Stelle ihres Briefes ihre tiefe Zuneigung zu Mme. de Rohan zu entdecken und ebenso deren natürliche Zärtlichkeit für die Tochter.“)

Zweifel an eigenen Unterscheidungen kennt diese Beobachtung erster Ordnung, die sich als solche nicht in Betracht zieht, kaum, weil sie Selbstbilder durch Fremdbilder bestätigt sehen möchte, z. B. eine fatale Unzertrennlichkeit: „Mme de Montlouet a la petite vérole […]. Les regrets de sa fille sont infinis; la mère est au désespoir aussi de ce que sa fille ne veut pas la quitter pour aller prendre l’air […]. Pour de l’esprit, je pense qu’elles n’en ont pas du plus fin ; mais pour des sentiments, ma belle, c’est tout comme chez nous, et aussi tendres et aussi naturels.“73 („Mme. de Montlouet hat die Pocken […]. Ihre Tochter ist untröstlich; die Mutter ist ebenfalls verzweifelt, weil ihre Tochter sie nicht einmal alleine lassen will, um an die frische Luft zu gehen […]. Was das Geistige anbelangt, so glaube ich, dass sie sich mit uns nicht messen können, aber auf der Ebene der Gefühle, meine Liebe, haben sie ganz ähnliche wie wir, ebenso zärtliche und natürliche.“)

In diesem Konkurrenzkampf um die stärkeren Affekte tragen weibliche Privatbriefe offensichtlich zur Evolution der Mütterlichkeitssemantik bei. Bemerkenswert daran ist, dass der Topos der ‚natürlichen‘ Zärtlichkeit für die Gefühle der Mütter reserviert zu sein scheint, was auf die Naturalisierung der Mutterliebe vorverweist.

72  73 

C II, S. 336 (Brief Nr. 197 vom 2. 9. 1671). C II, S. 19 (Brief Nr. 404 vom 24. 7. 1675).

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Michèle Longino Farrell hat detailliert herausgearbeitet, in welchem Maße zeitgenössische Erziehungs-Ratgeber die Spiegel-Topik74 benutzten, um die Vorbildfunktion der Mütter für ihre Töchter zu veranschaulichen: […] the mother was to serve as exemplary mirror to her daughter, the daughter was to be a reflection of her mother’s behaviour; and thus the mother in her daughter was to be seen as an image of herself. Little wonder that identity confusion and separation anxiety should plague their relationship.75

So findet sich im pädagogischen Handbuch L’Honneste fille (1639 f.) von François de Grenaille sogar die christliche Eheformel für das Mutter-TochterBand wieder: Une Dame et sa fille ne semblent avoir qu’un corps qui néanmoins se trouve à même temps mis en deux lieux, ou divisé en deux parties, elles n’auront aussi qu’une âme.76 (Wenn es so scheint, als hätten eine Dame und ihre Tochter nur einen einzigen Leib, der sich nichtsdestotrotz zur selben Zeit an zwei Orten befindet, so werden sie auch nur eine Seele haben.)

Bei Sévigné ertönt ein leiser Widerhall solcher Diskurse, wenn auch in fragmentarischer und verzerrender Form. Sie meint zu wissen, dass ihr ideales Ebenbild, das sie liebt, sie ebenso vollkommen wiederliebe: „Vous êtes pour moi toutes choses, et jamais on n’a été aimée si parfaitement d’une fille bien-aimée que je le suis de vous.“77 („Sie sind alles für mich, und niemals ist jemand von einer geliebten Tochter so vollkommen geliebt worden wie ich von Ihnen.“)

Im Echo der Partnerin wird der Briefwechsel zum papierenen Spiegel einer spaltenden Verdoppelung, die mit der Ambivalenz von Freud und Leid einhergeht: „Je reçois vos lettres, ma bonne, comme vous avez reçu ma bague. Je fonds en larmes en les lisant ; il semble que mon cœur veuille se fendre par la moitié.“78 („Ich empfange Ihre Briefe, meine Liebe, wie Sie meinen Ring, und breche beim Lesen in Tränen aus. Es ist, als ob mein Herz in zwei Hälften zerspringen wollte.“) 74  75  76  77  78 

Man denke an die politische Pädagogik der ‚Fürstenspiegel‘. Michèle Longino Farrell, Performing Motherhood. The Sévigné Correspondence, Hanover und London: University Press of New England 1991, S. 17. Zit. in: ebd., S. 98. Zit. in: Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 479 (Brief vom 20. 9. 1684). Zit. in: Longino Farrell, Performing Motherhood (Anm. 75), S. 88.

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Longino Farrell geht noch einen Schritt weiter, indem sie die in den Briefen geäußerten Aussagen über Mutter-Tochter-Spiegelungen auf den Akt des (weiblichen) Briefschreibens als solchen überträgt: „[…] the epistolary figures the generic form into which the […] self-image of women translates textually. Writing letters corresponds to the mirroring function.“79 Sévigné aber hat sich im Laufe der Zeit auch mit dem Dritten im Bunde, dem Schwiegersohn, verbündet, mit dem sie sich in der gemeinsamen quasi-liturgischen Anbetung der Tochter identifiziert: „Ne soyez point jalouse, ma chère enfant; nous nous aimons en vous, et pour vous, et par vous.“80 („Seien Sie nicht eifersüchtig, mein liebes Kind; wir lieben uns in Ihnen und für Sie und durch Sie.“) „Je dis toujours nous, car les sentiments du chevalier et les miens sont si pareils que je ne saurais les séparer.“81 („Ich sage immer wir, weil die Gefühle des Grafen und die meinigen so ähnlich sind, dass ich sie nicht einmal zu trennen vermöchte.“)

IV

Ceres & Proserpina: Ein mythopoetisches Schreiben

Während Sévigné nur selten auf mythologische Vorlagen rekurriert, wird sie zuweilen von anderen durch antikisierende Allegorien dargestellt, so etwa in den Memoiren des Abbé Arnauld, der seine erste Begegnung mit der jungen Mutter im Jahr 1657 als Erscheinung der einst von Niobe provozierten Göttin Latona inmitten ihrer Kinder erinnert, die er in ihrer Schönheit und Anmut mit dem ‚jungen‘ Apollo und der ‚kleinen‘ Diane vergleicht.82 Dass der patriarchalische Kern derartiger Mythisierungen schon in der Renaissance in Frage gestellt wurde, zeigen die Dames des Roches, ein schreibendes MutterTochter-Paar, das diverse Werke (1571 ff.) und private Briefe (1596),83 die im Kontext eines städtischen Salons entstanden, unter der Ägide humanistischer Mentoren zu veröffentlichen vermochte. Dadurch dass beide Autorinnen „über ihre intellektuelle Gleichgestimmtheit“ eng miteinander verbunden waren, 79  80  81  82 

83 

Ebd., S. 18. Zit. in: Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 499 (Brief vom 22. 10. 1688). Zit. in: ebd., S. 499 (Brief vom 25. 10. 1688). Zit. in: C I, S.  1386, Brief Nr.  362, FN  4. Ihre vier Porträts (als Prinzessin „Clarinthe“ in Scudérys Clélie (1657), als ‚Mme. de Sévigné‘ im anonymen Porträt durch Mme. de La Fayette in den von Mlle de Montpensier hrsg. Divers Portraits (1659), als „Sophronie“ im Preziösen-Lexikon von Antoine de Somaize (1660) und in Bussy-Rabutins Satire Histoire amoureuse des Gaules (1665) enthalten keine Erwähnungen bzw. Fokussierungen von Mütterlichkeit. Es handelt sich um 26 Briefe der Mutter und 70 der Tochter.

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entwickelten sie „eine Sonderform der Kontinuität weiblichen Schreibens“,84 indem nämlich die Tochter Catherine Fradonnet (1542–1587) das Werk ihrer Mutter Madeleine Neveu (1520–1587) gewissermaßen fortsetzte. Doch geben beide dabei im Unterschied zu Sévigné „kaum autobiographisch-private Details“ preis, sondern schaffen literarische „Bravourstücke“.85 Hatte sich die verwitwete Mutter just in jenem historischen Moment der töchterlichen Erziehung angenommen, als die humanistische Pädagogik der mütterlichen Primärsozialisation einen großen Rang verlieh, machen sich deren Spuren in Idealen geschlechtlicher Egalität und weiblicher Autonomie bemerkbar, etwa in der Weigerung der Älteren, sich wieder zu verheiraten, oder der Ehescheu der Jüngeren. Catherine, so der Hausfreund Estienne Pasquier, trete alle Bewerber mit Füßen und sei „entschlossen, mit ihrer Mutter zu leben und zu sterben.“86 Letzteres erfüllte sich, denn beide kamen am selben Tag durch die Pest ums Leben. Im Nekrolog wurden sie als „ein einziger Geist, der in zwei Körpern wohnt“,87 gepriesen. In diesem Fall, der in mehrfacher Hinsicht von jenem Sévignés differiert, hat die Kooperation der beiden Frauen nicht nur ihre materielle und emotionale Unabhängigkeit gesichert, sondern auch ihr aufeinander bezogenes Schreiben inspiriert, das seine inhaltlichen Schwerpunkte auf die Promotion weiblicher Bildung und Autorschaft legte, ohne den Generationenunterschied dabei zu verleugnen. Während die Mutter nämlich noch den Konflikt zwischen ‚Spindel und Feder‘ problematisierte, plädierte die Tochter bereits für eine zölibatäre Lebensform zugunsten des Schriftstellertums.88 Trotz wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, welche die ledige Tochter mit panischer Furcht vor dem Tod ihrer Mutter erfüllte,89 gelang die „gemeinsame Konstruktion“ eines „Mikro-Universums, in dessen Zentrum die unauflösbare Einheit von Mutter und Tochter steht.“90 Angesichts dieser gelebten Utopie, die Sévigné nur im Imaginationsraum des Briefwechsels erlebte, soll auf zwei intertextuelle Referenzen eingegangen werden, die gewisse 84  85  86 

87  88  89  90 

Margarete Zimmermann, Salon der Autorinnen. Französische ‚dames de lettres‘ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005, S. 164 f. Ebd., S. 173. Julia Pieper, „Désir et Vertu. Bildung und weibliche Identität im Werk der Dames des Roches“, in: QuerElles. Jahrbuch für Frauenforschung  1997, Band  2, herausgegeben von Gisela Bock und Margarete Zimmermann, Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler 1997, S. 57– 78, hier S. 58. Zit. in: ebd., S. 58. Zimmermann, Salon der Autorinnen (Anm. 84), S. 166. Referenzen dazu finden sich in den Briefen Nr.  21, 22, 53, 68, 69. Vgl. Anne  R.  Larsen: „Avant-Propos“, in: dies. (Hrsg.), Madeleine & Catherine Des Roches. Les Œuvres. Édition critique, Genf: Droz 1993, S. 16–47, hier S. 37, FN 59. Zimmermann, Salon der Autorinnen (Anm. 84), S. 173.

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Überschneidungen in der poetischen bzw. anekdotischen Mythenapplikation verdeutlichen. Zum einen übersetzte Catherine Des Roches 1585 den Raub der Proserpina (De Raptu Proserpinae) des lateinischen Dichters Claudianus, ein Stoff, dem Sévigné etwa ein Jahrhundert später anlässlich der Pariser Uraufführung von Lullys Oper Proserpine, tragédie en musique (am 3. 2. 1680) begegnete und aus dem sie ein moralisches Lehrstück für ihre Tochter gewann. Zum anderen machte Catherine Des Roches die antike Fabel Agnodice des Hyginus, die bei Sévigné lediglich implizit in einer Wunschvorstellung anklingt, zur feministischen Lektion. Der plot des Proserpina-Mythos besteht bekanntlich aus der Entführung der einzigen Tochter der Getreidegöttin Ceres durch Pluto, den Gott der Unterwelt, und ihrer saisonalen Rückerstattung an die Mutter, nachdem diese die Erde aus Protest unfruchtbar gemacht hatte. Proserpina muss auf Weisung Zeus’ den Winter im Hades verbringen, kehrt aber mit dem Frühling in die mütterliche Welt zurück, was der archaischen Natursymbolik entspricht und auf eleusinische Fruchtbarkeitsriten zurückgehen soll. Im Rahmen der bis ins 16. Jahrhundert doppelten, moralischen oder ästhetischen Exegese dieser Mythe greift Catherine des Roches nicht auf die geschlossene Form der Ovidschen Tradition zurück, sondern auf die fragmentarische, die bei Claudianus mit dem Verlust-Narrativ endet, so dass der Raub als Vergewaltigung erscheint.91 Sévigné ihrerseits kommt in den Besitz der vollständigen Fassung, nämlich Quinaults Libretto zur Lully-Oper, das sich an Alexandre Hardys Ravissement de Proserpine par Pluton (1611) orientiert, der das erotische Motiv mit dem kriegerischen verbindet und die Tochter vor die Entscheidung zwischen Mutter und Mann stellt. Daher verwundert es nicht, dass die Marquise ihrer Tochter das Textbuch schickte und den Klatsch kolportierte, der sich damals um diese Geschichte rankte: Je veux parler de l’opéra. Je ne l’ai point vu (je ne suis point curieuse de me divertir), mais on dit qu’il est parfait. Bien des gens ont pensé à vous et à moi. Je ne vous l’ai point dit, parce qu’on me faisait Céres, et vous Proserpine ; tout aussitôt voilà M. de Grignan Pluton, et j’ai eu peur qu’il ne me fît répondre vingt mille fois par son chœur de musique : Une mère / Vaut-elle un époux ? C’est cela que j’ai voulu éviter, car pour le vers qui est devant celui-là: Pluton aime mieux que Céres, je n’en eusse point été embarrassée.92

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Vgl. Tilde Sankovitch, „Catherine des Roches’s Le Ravissement de Proserpine. A Humanist/ Feminist Translation“, in: Anne  R.  Larsen (Hrsg.), Renaissance Women Writers. French Texts, American Contexts, Detroit: Wayne State University Press 1994, S. 55–66, hier S. 58 und 61 f. C II, S. 857 (Brief Nr. 740 vom 1. 3. 1680).

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Annette Runte (Ich möchte über die Oper sprechen. Ich habe sie nicht gesehen (ich bin nicht erpicht darauf, mich zu zerstreuen), aber man sagt, dass sie perfekt sei. Viele Leute haben dabei an Sie und an mich gedacht. Ich habe es Ihnen nicht gesagt, weil man mich zu Ceres und Sie zu Proserpina machte, und flugs darauf Herrn Grignan zu Pluto, und ich hatte Angst davor, dass der Chor mich vielleicht 20.000 mal dazu aufrief, seine Frage zu beantworten: ‚Eine Mutter / Ist sie einen Mann wert? Das war es, was ich vermeiden wollte, denn der vorherige Vers, Pluto liebt besser als Ceres, hätte mich nicht in Verwirrung versetzt.)

Mit der Projektion mütterlichen Schuldbewusstseins auf die richtende Instanz eines höfischen Über-Ichs, lässt Sévignés Phantasma ironisch durchblicken, in welchem Maße die Marquise mit dem Schwiegersohn rivalisierte, über dessen zeitweilige Untreue sie die Tochter wie nebenbei informierte,93 um ihr zum Trost mütterliche Treue entgegen zu setzen. Damit verwirft sie nicht nur des Grafen Begehren, sondern auch dasjenige der Gräfin, das die Marquise nicht wahrhaben will, wenn sie ihr immer wieder zur Abstinenz rät, wie in jenem Schlüsselbrief, in dem Sévigné einen skandalösen Wunsch ausdrückt, der den ersten Herausgeber der Pléiade-Ausgabe, Gérard-Gailly, so schockierte, dass er ihn als Ausdruck lesbischer Perversion betrachtete.94 Im Kontext einer spöttischen Plauderei über die Impotenz ihres Sohnes gegenüber der Kurtisane Ninon de Lenclos,95 die schon sein Vater frequentierte, und unmittelbar vor einer Erkundigung über das eventuelle Ausbleiben der Regel ihrer Tochter schreibt sie: Adieu, ma très aimable bonne. Vous me baisez et vous m’embrassez si tendrement ! Pensez-vous que je ne reçoive vos caresses à bras ouverts? Pensez-vous que je ne baise point aussi de tout mon cœur vos belles joues et votre belle gorge? […] Mandez-moi comme vous vous portez le 6e de ce mois.96 (Adieu, meine Liebste. Sie küssen und umarmen mich so zärtlich! Denken Sie, dass ich Ihre Zärtlichkeiten nicht mit offenen Armen empfange? Denken Sie, dass ich nicht von ganzem Herzen Ihre schönen Wangen und Ihren schönen Busen [Ihr schönes Dekolleté] küssen würde? […] Berichten Sie mir, wie es Ihnen am 6. diesen Monats gesundheitlich erging.)

Der affektierte Tonfall und die erotisierten Formeln lassen sich durchaus auch in religiösen Korrespondenzen der Epoche finden, wie in einem Brief der 93  94  95  96 

Vgl. Duchêne, Françoise de Grignan (Anm. 34), S. 159–169. Zit. in: ebd., S. 43. Mit einem Spottvers Condés: „Son dada demeura court à Lérida“ (C I, S. 210, Brief vom 8. 4. 1671, vgl. S. 1047). C I, S. 215 (Brief vom 8. 4. 1671).

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heilig gesprochenen Äbtissin Jeanne de Chantal (1572–1641), Sévignés gefühlskalter Großmutter väterlicherseits, der sich an eine Novizin richtet: „Déchargez toujours hardiment la superfluité de votre lait naturel dans le sein de votre vieille maman“.97 („Schütten Sie Ihren Überfluss an natürlicher Milch immer nur tüchtig in den Schoß Ihrer alten Mama.“) Verwandelt der mystische Diskurs gewagte Vorstellungen des mütterlichen Leibes in christliche Metaphern, inszeniert Catherine Des Roches in ihrer Verserzählung L’Agnodice (1578) einen moraldidaktisch legitimierten Geschlechtertausch. Denn in diesem Schlüsseltext bringt eine als Mann verkleidete Ärztin kranken Frauen das Heilmittel in Form von Büchern, d. h. verbotenem Wissen, wofür sich die Genesenden mit einem Kuß auf ihre Brust bedanken, die ihnen der vermeintliche Doktor als Beweis seines wahren Geschlechts enthüllt. Tilde  A.  Sankovitch deutet diese Liebkosung der ‚Zwillingsäpfel‘ weniger als sexuellen Übergriff denn als Zeichen weiblicher Solidarität: The ‚twin apples‘ are a sign of bonding with other women in pleasure and nourishment, and in the shared body/mind experience of victimization and of desire: the desire of the forbidden Book which the mother may restore to her deprived daughters.98

Doch der Marquise wurde die Tochter-Fixierung als Sünde ausgelegt. Schon 1671 erhob der kirchliche Würdenträger Arnauld d’Andilly einen Idolatrie-Vorwurf; sie sei eine ‚hübsche Heidin‘, die ihre Tochter vergötze. Zum Pfingstfest 1675 verweigerte man ihr die Absolution, was in der Öffentlichkeit wie eine Strafe für inzestuöses Verlangen gewirkt hätte.99 Zwar erkannte die Jansenistin an, dass sie mütterliche Liebe zu Leidenschaft werden ließ, bedauerte dies aber kaum, denn diese Passion stecke ihr nun einmal im Blut („dans la moelle de mes os“100):

97  98 

Zit. in: Stanton, The Dynamics of Gender (Anm. 20), S. 162, FN m. Tilde A. Sankovitch, „The Dames Des Roches. The Female Muse“, in: French Women Writers and the Book. Myths of Access and Desire, Syracuse (N.Y.): Syracuse University Press 1988, S. 43–71, hier: S. 64. Dass die weibliche Brust aufgrund des menschlichen Dimorphismus auch als Synekdoche des Mutter-Tochter-Paars agesehen werden kann, vermutet Pierre Faucherey, La destinée féminine dans le roman européen du XVIIIe siècle, Paris: Colin 1972, der bemerkt: „Le couple mere-fille, ce ‚petit kyste jumeau‘ de féminité au sein du monde viril“ (S. 140). 99  Duchêne, La lettre d’amour (Anm. 7), S. 215; Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 437. 100  Zit. in: Duchêne, La lettre d’amour (Anm. 7), S. 215.

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Annette Runte „C’est ma folie de vous voir, de vous parler, de vous entendre. Je me dévore de cette envie.“101 („Ich bin verrückt danach, Sie zu sehen, zu hören, zu sprechen. Die Lust darauf verschlingt mich förmlich.“)

Die rationalistische Tochter drückt sich hingegen in terms einer ‚Wahl‘ aus, denn falls sie sich zwischen Mutter und Mann entscheiden müsse, zögere sie nicht, ihrem Gemahl den Vorrang zu verleihen: „O mon Dieu! ne viendra-t-il pas une année où je puisse voir mon mari sans quitter ma mère ? […] quand il faut choisir, je ne balance pas à suivre mon très cher Comte, que j’aime […] de tout mon cœur.“102 („Oh, mein Gott! Gibt es denn kein Jahr, wo ich meinen Mann sehen kann, ohne meine Mutter zu verlassen ? […] falls ich mich entscheiden muss, zögere ich nicht, meinem vielgeliebten Gatten zu folgen, den ich aus ganzem Herzen liebe.“)

V

Verwüstungen, Verzückungen: Eine Nomadin im Grand Siècle?

War Mutterschaft in der höfisch-aristokratischen Gesellschaft des französischen Absolutismus von affektengagierter Mütterlichkeit weitgehend abgekoppelt, indem sie in der Praxis an verschiedene Sozialisationsinstanzen (Hauslehrer, Gouvernanten usw.) delegiert wurde, unterlag sie zudem als sentimentale Äußerung mit Authentizitätsanspruch einem Redeverbot wie andere Passionen, die die hegemonialen Rituale strategischer Dis/Simulation störten. Insofern bildete Mme. de Sévigné, die sich zwischen Hof- und Stadtkultur bewegte, eine frappierende Ausnahme, weil sie sich nonkonformistisch erlaubte, ihr abweichendes Begehren, ‚exzessive Mutterliebe‘, nicht nur auszuleben, sondern auszustellen: „Je veux qu’on voie que vous m’aimez.“103 („Ich möchte, dass man sieht, dass Sie mich lieben.“) Ihr Narzissmus, der dem Verdikt ihres Leitbilds Blaise Pascal, das Ich sei ‚hassenswert‘, widersprach, befremdete die Zeitgenossen ebenso stark wie die Zweideutigkeit einer ins Monströse verzeichneten Neigung. Seit dem biographischen Wendepunkt des Verlusts ihrer Tochter, der diese nachträglich zu ihrem existenziellen ‚Stützphantasma‘ (Slavoj Zizek) erhob, wäre Mme. de Sévigné vielleicht trotz ihrer äußerlichen Sesshaftigkeit – Ute Gerhard gemäß – als eine einsame

101  Zit.in: Duchêne, Françoise de Grignan (Anm. 34), S. 30. 102  Zit. in: Duchêne, La lettre d’amour (Anm. 7), S. 175. 103  C I, S. 182 (Brief vom 11. 3. 1671).

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‚Nomadin‘,104 wenn auch der Frühen Neuzeit, zu betrachten. In dem Maße, wie die Marquise ihre einzige Heimat in ihrer abwesenden Tochter fand, musste sie sie ständig suchen, sei es auf Reisen oder in Briefen: „Je ne songe qu’à vous aller trouver.“105 („Ich denke an nichts anderes als daran, Sie zu finden.“) Hätte sich diese Deterritorialisierung auf dem Wege der Sublimierung reterritorialisiert? Wie die raumzeitliche Entfernung hält das symbolische Medium Schrift eine Distanz aufrecht, die nur imaginär überbrückt werden kann, denn das Zeichen ist der Tod der Sache (Hegel). Insofern entspräche die Pendelbewegung manisch-depressiver Hassliebe von töchterlicher Seite deren redundanter Idealisierung mütterlicherseits in der Oszillation einer Spiegelbeziehung. Deren Aporie manifestiert sich vielleicht im paradox106 definierten Briefstil der „négligence étudiée“,107 d. h. der ‚künstlichen Natürlichkeit‘, ebenso wie in der labilen Positionierung der Marquise zwischen bürgerlicher Mütterlichkeit und adeligem ‚Effekt Frau‘.108 Prekärer Fixpunkt dieses ‚Dazwischen‘109 bleibt die Schimäre der Tochter. Obwohl metatextuelle Kommentare in den Briefen zeigen, dass Sévigné mit ästhetischen Codes vertraut war, gibt sie meist mehr Eindrücke als Reflexionen wieder.110 Als Kompensativ für die verlorene Präsenz zeugt die inszenierte ‚Textlust‘ von der Sublimierung der Melancholie als ‚unabschließbarer‘ Trauer, bei der das Verlorene als identifikatorisches Moment des eigenen Ichs111 eine innerpsychische ‚Krypte‘ (Kristeva) bildet. Daher halten sich Elegisches und Burleskes bei der Marquise die Waage. Sévignés widersprüchliches Streben nach sozialer Distinktion als aristokratischer Norm der Auszeichnung einerseits und nach der preziösen Distanzierung von derartigen Konventionen andererseits hätte ermöglicht, dass sich mütterliche Gefühle explizit auf Kosten heterosexueller Liebe profilierten.112 104  Als Einzelgängerin wie andere Außenseiterinnen der Frühen Neuzeit, z. B. ‚passing women‘ oder ‚Picara‘; vgl. zu diesem deleuzianischen Begriff Gerhard, Nomadische Bewegungen, S. 50 ff. 105  Zit. in: Duchêne, Françoise de Grignan (Anm. 34), S. 24. 106  Schon Pomponne sprach vom „style naturel et dérangé“ (C I, S. 428, Brief vom 3. 2. 1672). 107  Bray, Épistolières (Anm. 41), S. 328. 108  Nach Julia Kristeva, „Produktivität der Frau. Interview von Eliane Boucquey“, aus dem Französischen von Lily Leder, in: alternative 108/109 (1976), S. 166–173. 109  Gerhard, Nomadische Bewegungen, S. 259. 110  Lignereux, À l’origine du savoir faire épistolaire (Anm. 52), S. 118. 111  Sigmund Freud, „Trauer und Melancholie“ (1917 [1915]), in: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe, Bd. III, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt am Main: Fischer 1975, S. 193–213, hier S. 200 ff. 112  Lignereux, À l’origine du savoir faire épistolaire (Anm. 52), S. 18.

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Noch im hohen Alter hegt Sévigné dieselben Empfindungen für ihre Tochter wie früher, als „jener Person“, die ihrem „Geschmack“ am meisten entspreche und ihr Innerstes berühre,113 wobei sie die Wechselseitigkeit dieses Eindrucks meist voraussetzt. „Je n’ai jamais vu amitié si tendre, si solide, ni si agréable que celle que vous avez pour moi […] laquelle a toujours été la chose que j’ai uniquement et passionément désirée.“114 („Nie sah ich eine so zärtliche, beständige, angenehme Freundschaft wie diejenige, die Sie für mich empfanden und die das einzige war, was ich mir jemals leidenschaftlich wünschte.“)

Rationalisierend meint sie, der ‚Wahrheit‘ ihrer eigenen Gefühle, als einem anthropologischen analogon rationis, aus Erfahrung vertrauen und deshalb auch Zukünftiges voraussagen zu können. „Je n’ai point été trompée dans les douleurs d’être séparée de vous: je les ai imaginées comme je les sens; j’ai compris que rien ne me remplirait votre place, que votre souvenir me serait toujours sensible au cœur […]. Je sens tout cela comme je l’avais prévu.“115 („Ich habe mich über die Gefühle hinsichtlich der Trennung von Ihnen nicht getäuscht; ich habe sie mir so vorgestellt, wie ich sie jetzt fühle; auch begriff ich, dass niemand Ihren Platz einnehmen könnte, dass mich die Erinnerung an Sie stets im Herzen berühren würde […]. All das empfinde ich so, wie ich es mir vorstellte.“)

So sehr sich diese Rede als Gewissheit geriert, so genau scheint die Marquise zu wissen, dass es etwas jenseits des ego cogitans geben müsse, auch wenn sie es sensualistisch verbrämt. Denn dass sie die Tochter nicht als ‚Subjekt‘ im Sinne eines (schuldigen) Agens, sondern als ‚Objekt‘ des ‚Begehrens des Anderen‘ begreift,116 verweist bereits auf jene Dimension, die sich ihr entzieht, das ‚Begehren des Begehrens des Anderen‘. Psychoanalytische Deutungen einer asymmetrischen Mutter-TochterBeziehung, die keine Symbiose, sondern nur das einseitige Verlangen danach präsentiert, befassten sich vornehmlich mit der Differenzqualität einer ‚gleichgeschlechtlichen‘ Verbindung, die dann gern als ‚emotionaler‘ bzw. ‚platonischer

113  Brief vom 28. 12. 1680: „la personne […] qui m’est la plus chère, qui touche mon goût, mon inclination, mes entrailles“, zit. in: Duchêne, La chance d’être femme (Anm. 7), S. 437. 114  Zit. in: Duchêne, La lettre d’amour (Anm. 7), S. 263. 115  Zit. in: ebd., S. 213. 116  „[…] ce que je souffre, c’est par rapport à vous, et point par vous“ („[…] ich leide nicht durch Sie, sondern in Bezug auf Sie“), zit. in: ebd., S. 220 (Hervorhebung von A.R.).

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Inzest‘ gewertet wurde117, ohne dies ätiologisch erhellen zu können. Obwohl der Befund einer starken Mutterbindung Freud zur Revision seiner Theorie der parallelen Sexualentwicklung beider Geschlechter veranlasste, blieb ihm der ‚dunkle Kontinent‘ des Weiblichen ein Rätsel, verglich er doch die „präödipale Vorzeit des Mädchens“ mit der „minoisch-mykenischen Kultur hinter der griechischen“,118 deren ‚matriarchalische‘ Matrix noch zu dechiffrieren sei. Lacan reformulierte diese Problematik ähnlich aporetisch, wenn er darauf verwies, dass das freudsche Theorem des weiblichen Ödipuskomplexes, der durch den Kastrationskomplex eingeleitet wird, in scharfem Kontrast zum Faktum jener ‚Verwüstung‘ (ravage) stehe, die die Beziehung der Tochter zu ihrer Mutter in den meisten Fällen kennzeichne.119 Die französische Psychoanalytikerin Marie-Magdeleine Lessana hat dieses Diktum zum Ausgangspunkt ihrer Sévigné-Lektüre genommen, um zu dem Schluss zu kommen, dass sich die ravage-Dynamik bei der Marquise und ihrer Tochter in der Disharmonie einer Bindung kundtue, deren Beweggrund letztlich die Unmöglichkeit sexueller Realisierung sei. Als Indiz dafür zieht sie etwa einen Albtraum der Mutter heran, der den inzestuösen Wunsch verwirkliche und beim Erwachen eine Art von hysterischem Anfall auslöste, obzwar Sévigné nur auf naive Weise das barocke Motiv erotischen Besitzes in der Imagination zitiert:120 […] après avoir songé à vous la nuit […], il me sembla bien plus fortement qu’à l’ordinaire que nous étions ensemble, et que vous étiez si douce, si aimable, si caressante pour moi que j’en étais toute transportée de tendresse. Et sur cela je m’éveille, mais si triste et si oppressée d’avoir perdu cette chère idée que me voilà à soupirer et à pleurer d’une manière si immodérée que je fus contrainte 117  So Caroline Eliacheff und Nathalie Heinich, Mères – filles. Une relation à trois, Paris: Albin Michel 2002, S. 54 ff., wobei sie sich auf die Anthropologin Françoise Héritier berufen, die in der Mutter-Tochter-Reproduktionsreihe „ad infinitum“ (zit. S. 146) die affektive Basis für einen ‚fundamentalen‘ Inzest sieht. Ethnologisch wird darüber spekuliert, ob die leicht nachweisbare leibliche Abstammung von der Mutter vielleicht der Grund dafür sei, „dass das Inzestverbot“ bezüglich der Mutter „als einziges Tabu universell verankert ist.“ So Barbara Rendtorff, „Geschlechteraspekte im Kontext von Familie“, in: Handbuch Familie, hrsg. von Jutta Ecarius, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 94–111, hier S. 107. 118  Sigmund Freud, „Über die weibliche Sexualität“ (1931), in: Sexualleben. Studienausgabe, Band V, Frankfurt am Main: Fischer 1972, S. 273–295, hier S. 276. 119  Vgl. Jacques Lacan, „L’étourdit“ (1973), in: Autres Écrits, Paris: Seuil  2001, S.  449–479: „À ce titre l’élucubration freudienne du complexe d’Oedipe, qui y fait la femme poisson dans l’eau, de ce que la castration soit chez elle le départ (Freud dixit), contraste douloureusement avec le fait de ravage qu’est chez la femme, pour la plupart, le rapport à sa mère, d’où elle semble bien attendre comme femme plus de substance que de son père, – ce qui ne va pas avec lui étant second, dans ce ravage“ (S. 465). 120  Vgl. dazu den Kommentar des Herausgebers, in: C II, FN 1, S. 1196.

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Annette Runte d’appeler Marie et [me] débarrasser de l’horrible oppression […] jamais en ma vie je ne m’étais trouvée en un tel état.121 ([…] nachdem ich abends an Sie gedacht hatte […], schien es mir in viel stärkerem Maße als sonst, dass wir zusammen waren und Sie so süß, so lieb, so sanft zu mir waren, dass ich vor Zärtlichkeit ganz überwältigt war. Und daraufhin erwache ich, aber dermaßen traurig und bedrückt darüber, dieser teuren Idee verlustig gegangen zu sein, dass ich so maßlos seufzen und weinen musste, bis mich die herbei gerufene Marie von den entsetzlichen Traumbildern erlöste […]. Niemals in meinem Leben habe ich mich in einem solchen Zustand befunden.)

Da die Deutung schriftlicher Träume problematisch bleibt, möchte ich abschließend auf Julia Kristevas Alteritätskonzeption der Mutterschaft122 verweisen, weil sie aus der ‚mütterlichen Passion‘ – im Vergleich zur ‚väterlichen Funktion‘ – ohnehin eine genuine Leidenschaft macht, denn bereits während der Schwangerschaft trage eine Frau etwas anderes als ihr eigenes in sich, was ihren Narzissmus zugleich stärkt und aus der Fassung bringt. Es sei, um mit Hannah Arendt zu sprechen, die Möglichkeit, einen neuen Anfang zu setzen, im Sinne des utopischen Potentials menschlicher ‚Gebürtigkeit‘. Indem mütterliche Liebe ihren ambivalenten Affekt auf sprachlichem Wege in Zärtlichkeit verwandelt, knüpfe sie ein Band, das das Kind durch die Kraft einer stets aufgeschobenen Sexualisierung gleichermaßen zur Sublimierung anregt, nicht etwa, um die Mutter zu repräsentieren, sondern im Gegenteil deren Abwesenheit, die sie zeichenhaft präsent sein lässt, was sowohl der Lust wie dem Denken eben jenen imaginären Raum des ‚Dazwischen‘ schaffe, aus dem wohl letztlich auch der Briefwechsel zwischen Madame de Sévigné und ihrer Tochter hervorging.

121  C II, S. 216 (Brief vom 8. 1. 1676), zit. in: Marie-Magdeleine Lessana, Entre mère et fille: Un ravage (2000), Paris: Fayard 2010, S. 77. 122  Julia Kristeva, „La passion maternelle et son sens aujourd’hui“ (2005), in: Seule une femme. Vorwort von Marie-Christine Navarro, Paris: Éditions de l’Aube 2007, S. 170–183, hier S. 180.

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Das Unheimliche, Technik und heimgesuchte Räume – Schatten. Eine nächtliche Halluzination des Weimarer Kinos Ellen Risholm Das Weimarer Kino, wie es einer der lebhaftesten Epochen der deutschen Geschichte entspringt, bietet ein fruchtbares Untersuchungsfeld sich zusehends annähernder kultureller, technischer und soziohistorischer Spannungen. Nützlich für eine solche Untersuchung1 erweisen sich die verschiedenen aktuellen Theorien ‚räumlicher Praxis‘. Kurz gesagt setzen diese Theorien Raum nicht als a priori gegeben voraus, als vorgegebene Bühne, auf der sich Geschichte abspielt, sondern als soziale und historische Konstruktion. Einer der Schlüsselschauplätze für diese räumlichen Praktiken ist die sogenannte Privatsphäre, ein Bereich, der augenscheinlich für den Film von besonderer Bedeutung ist. Was ereignet sich, wenn der kinematographische Apparat die Privatsphäre reflektiert, ja geradezu in sie eindringt?2 Was geschieht, wenn im 1  Der vorliegende Beitrag wurde 1997 auf Englisch als Vortrag am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Dortmund gehalten. Unter den Hörerinnen und Hörern war Ute Gerhard. Diese Begegnung markiert den Beginn unserer gemeinsamen Zeit, und so scheint es passend, diesen Artikel endlich in seiner ursprünglichen Form der vorliegenden Sammlung beizufügen. Mein herzlicher Dank für die Übersetzung ins Deutsche gebührt unserem gemeinsamen Kollegen und Freund Martin Stingelin und schließt auch Tobias Lachmann mit ein, der ihn dabei unterstützt hat.   In den letzten zwanzig Jahren ist wenig über diesen Film geschrieben worden; er wurde aber kürzlich restauriert und rekonstruiert und 2016 in der Arte Edition auf DVD zugänglich gemacht. Vgl. Schatten. Eine nächtliche Halluzination, D 1923, R: Arthur Robison, K: Fritz Arno Wagner, B: Albin Frau, Rudolf Schneider und Arthur Robison), ZDF/ARTE. DVD, Fridolfing: absolute MEDIEN 2016. Eine bemerkenswerte Veröffentlichung ist diejenige von Anjeana K. Hans, Gender and the Uncanny in Films of the Weimar Republic, Detroit: Wayne State University Press  2014, insbesondere das Kapitel mit dem Titel „Warning Shadows (Schatten: Eine nächtliche Halluzination, Arthur Robison  1923): Transgression, Abjection, Projection“, S. 147–178. 2  Theorien zum kinematographischen Apparat haben in der Filmwissenschaft eine lange Tradition. Um hier nur einige der untersuchten Aspekte anzuführen: die Maschinerie, die Industrie, Psychoanalyse und das Publikum, Konstruktion von Geschlechterdifferenz und viele mehr. Im vorliegenden Beitrag stehen der technische Apparatepark des Filmemachens und die damit einhergehende Frage, wie Darstellungsweisen in ihm neu befragt werden können, im Vordergrund. Den kinematographischen Apparat untersuchen genauer etwa Teresa de Lauretis und Stephen Heath (Hrsg.), The Cinematic Apparatus, London: Macmillan 1980, und zwei zukunftsweisende Artikel von Jean-Louis Baudry, „The Apparatus“,

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Weimarer Kino die Technik (Kamera, Beleuchtung und so weiter), herkömmlicherweise ein Indiz für den geschichtlichen Wandel, den ‚Fortschritt‘ oder ‚Rückschritt‘ (décadence), den traditionell ahistorischen – ja heiligen, gar jungfräulichen – Raum des Heims nicht nur darstellt, sondern konstruiert, durchkreuzt und neu bestimmt? Die folgende Studie wird diesen Fragen in zweifacher Weise nachgehen: erstens indem sie zur Diskussion stellt, wie das Kino Technik inszeniert; und zweitens indem sie den Punkt untersucht, an dem zwei Texte der frühen Weimarer Periode, Arthur Robisons Film Schatten3 von 1923 und Sigmund Freuds Abhandlung „Das Unheimliche“4 von 1919, sich kreuzen. Eine bestimmte Lesart des Weimarer Kinos soll hier neu bewertet und ergänzt werden, indem die theoretischen Implikationen des ‚Unheimlichen‘ im Spiegel des kinematographischen Apparates in Robisons Film überdacht werden. Tatsächlich ist Freuds Begriff lange mit diabolischen Figuren in Zusammenhang gebracht worden (Vampiren, feindlichen Doppelgängern, dämonischen väterlichen Figuren), wie sie in namhaften Weimarer Filmen wiedererweckt worden sind (Nosferatu, Der Student von Prag, Das Cabinet des Dr. Caligari, und andere); dies ist unausweichlich, untersucht das ‚Unheimliche‘ doch bekanntermaßen das innige Verhältnis des Familiären und Alltäglichen zum Monströsen. Doch in Schatten ist das unheimliche Moment kein ‚Monster im eigenen Haus‘, sondern der ‚kinematographische Apparat im eigenen Haus‘. Wie sich herausstellen wird, löst diese Verschiebung vom unheimlichen Monster zur unheimlichen Maschine weitreichende räumliche Veränderungen aus: Trennungslinien zwischen privat und öffentlich, zwischen innen und außen werden gleichzeitig aufgehoben und überschritten; der Raum wird auf- und eingeteilt, nicht bloß widergespiegelt; Grenzen und Ränder erhalten neue Bedeutungen. Weder spiegelt Technik in Robisons Film den Raum des ‚Daheims‘ wider noch repräsentiert sie ihn, sondern sie „bringt“ ihn – um eine Formulierung von Henri Lefebvre zu entleihen – erst „hervor“. in: Camera Obscura 1 (Herbst 1986), S. 104–126, und Jean-Louis Baudry, „Ideological effects of the basic cinematic apparatus“, in: Film Quarterly 28, H. 2 (Winter 1974/1975). 3  Hier ist zu betonen, dass die englische Übersetzung von Schatten als „Warning Shadows“ dem Film einen moralischen Unterton verleiht, dessen Ziel gewesen zu sein scheint, dem Werk einen pädagogischen Zweck vorzugeben, der die Protagonisten des Films, und damit gleichermaßen das Publikum, ermahnt und erzieht. Dies wird noch offensichtlicher, als 1928 Zwischentitel, welche die Bilder und Geschichte kommentieren, der englischen Version hinzugefügt worden sind. 4  Vgl. Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ (1919), in: ders., Gesammelte Werke, herausgegeben von Anna Freud u. a. (London: Imago Publishing Co. 1940–1987), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1999, Band XII, S. 227–268.

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Schatten ist sicherlich einer der mehr als nur faszinierenden Filme der deutschen Stummfilmära. Was folgt, ist ein kurzer Abriss des Inhalts: Ein adliges Paar erwartet Gäste zum Abendessen, drei sogenannte Kavaliere und einen jungen Mann, der in die einem Flirt nicht abgeneigt zu sein scheinende Gattin verliebt ist. Die Spannung steigt, als sich der Gatte eine Affäre zwischen den beiden einbildet und dadurch das Schauspiel zerrissener Wahrnehmungen und verwirrter Wünsche eröffnet. Ein Gaukler auf Wanderschaft gelangt zum Haus und beginnt die Protagonisten des Films mit seinem Schattenspiel zu zerstreuen. Die Lage gerät allerdings schnell außer Kontrolle, und der Schattenspieler hypnotisiert die Versammelten. Es folgt ein Spiel im Spiel, in dem der junge Mann und die Gattin eine Affäre haben. Der außer sich geratene Ehemann entdeckt die Freveltat und nötigt die Kavaliere, seine Gattin mit drei Schwertern zu durchbohren, um sie hinzurichten. Er selbst wird darauf von einer Fensterbank gestoßen, worauf die Versammelten aus ihrem geteilten Alptraum erwachen, und sowohl die Gäste wie der Schattenspieler den Ort des Geschehens verlassen. Zurück bleibt das holde Paar in seinem augenscheinlich wiederhergestellten häuslichen Glück. Die obige Zusammenfassung erweckt den Eindruck, Schatten drehe sich um männliche Phantasien. Private und intime Sphären (nicht nur das ‚Daheim‘, sondern, wie wir sehen werden, Räume im Haus) scheinen als unvermittelte, unberührte Rückzugsorte zu dienen, auf denen sich männliche Ängste und Wünsche entfalten können, etwa von Penetration und Kastration. Aber der kinematographische Apparat (die Kamera, die montierten, das heißt zusammengeklebten und vernähten Bilder, die Beleuchtung, die Projektion und so weiter), der den Schauplatz einnimmt, drückt die Phantasien zur Seite, beherrscht er doch die Szene, in die er verwickelt ist, sowohl als Maschine wie als technisches Wunder ebenso, wie er sie gelegentlich verschattet. Tatsächlich stellt das technische Medium selbst einen der Schauspieler des Films bzw. einen Protagonisten dar; mit anderen Worten, die eindringenden technischen Voraussetzungen des Filmemachens setzen das Spiel männlicher Wünsche außer Kraft und wenden es ab, indem sie es an den Rand verbannen. So wird offenbar, dass der herkömmlicherweise gänzlich außerhalb der Szene gehaltene kinematographische Apparat hier der scheinbaren Selbstbestimmung männlicher Phantasien in die Quere kommt und dadurch im nächsten Schritt auch die Unverrückbarkeit der eigenen vier Wände in Frage stellt. Durch die Art und Weise, wie die vertraute Geschichte mit ihrem melodramatischen Unterton von Dreiecken der Verliebtheit und des Missverständnisses dargestellt und entfaltet wird, gerät sie ins Abseits. Was auf dem Spiel steht, ist die ausgreifendere Frage nach der Autorschaft innerhalb eines Kunstwerks und wie diese verfährt. Herkömmlicherweise

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verortet die Narratologie ‚den Autor‘ außerhalb des Erzählten; diese Figur erhebt sich über den Text und übersteigt diesen, um die Szene von einem privilegierten Standpunkt zu reflektieren und zu erhellen.5 Im Film mögen die Kamera und andere technische Vorkehrungen diesen Platz des Autors wenn nicht einnehmen, so doch annähernd ersetzen. Oft genug scheinen diese Mechanismen sich außerhalb der Szene, im Jenseits dessen zu bewegen, was sie doch zutage bringen, indem sie Licht auf die gegebene Situation werfen.6 In Schatten aber beschleicht das kinematographische Medium den Schauplatz 5  In zukunftsträchtigen Artikeln haben Foucault und Barthes aus unterschiedlichen Perspektiven den Tod dieses traditionellen Autors diskutiert. Wichtig zu verstehen ist, dass nicht einfach der positivistische Begriff des Künstlers als Sammler und Schöpfer des Kunstwerks den Brennpunkt ihrer Kritik bildet; vielmehr greifen sie die diesem Begriff zugrunde liegende Ideologie an, im Autor den Inhaber einer Position transzendentaler Autorität sehen zu wollen. Daraus ziehe ich in der vorliegenden Studie den Schluss, dass alles, was im Verhältnis zum Text die Position transzendentaler Autorität einnimmt, ein Autor (oder was ich eine ‚Autoräquivalenz‘ nenne) ist. Vgl. Roland Barthes, „Der Tod des Autors“ (1968), in: ders., Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, aus dem Französischen übersetzt von Dieter Hornig, Frankfurt am Main: Suhrkamp  2006, S.  57–63, und Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ (1969), aus dem Französischen übersetzt von Hermann Kocyba, in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Auswahl und Nachwort von Martin Stingelin, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 234–270. Eine kurze Diskussion des Verhältnisses zwischen dem ‚Autor‘ und dem kinematographischen Apparat findet sich bei Kaja Silverman, The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1988, S. 10–13. 6  In seinem Artikel über den Begriff des Realismus in Bezug auf den Film erörtert Colin McCabe den Roman des 19. Jahrhunderts als einen klassischen realistischen Text und wendet seine Gestaltung der Wirklichkeit – „durch eine Hierarchie zwischen den Diskursen, die den Text konstituieren“ – auf den Film an. Ohne auf die Abstufungen seiner Argumentation einzugehen, möchte ich auf einen Aspekt von McCabes Artikel hinweisen, der für meine Diskussion besonders relevant ist: den Diskurs der Metasprache. Ihm zufolge ist die Metasprache (im klassischen realistischen Roman ist es narrative Prosa, im Kino ist es das, was er lose als „Erzählung von Ereignissen“ bezeichnet) so strukturiert, dass sie außerhalb der Materialität des Textes zu liegen und somit, von der empirischen Realität unbelastet, die Wirklichkeit zu beherbergen scheint. Andere Sprachen wie Zitate, obwohl vielleicht in eigenem Widerspruch zur Bedeutung, finden „erkennbaren Ausdruck in der Metasprache selbst. Erkennbar in dem Sinne, dass die Metasprache nicht als materiell angesehen wird; sie wird entmaterialisiert, um eine perfekte Darstellung zu erreichen – um die Identität der Dinge durch das Fenster der Wörter scheinen zu lassen“. Die Metasprache befindet sich also außerhalb, vielleicht könnte man sogar sagen: über dem Text. Wie wir in Schatten sehen werden, ist der Autor des Textes, die Stimme der Autorität, weder transparent noch scheint „die Identität der Dinge durch das Fenster der Worte“ – die materielle Präsenz des Filmapparates kann nicht geleugnet werden und folglich können auch die Widersprüche des Realitätseffekts nicht überwunden werden. Vgl. Colin MacCabe, „Realism and the Cinema: Notes on Some Brechtian Theses“, in: Antony Easthope (Hrsg.), Contemporary Film Theory, London: Longman 1993, S. 53–67, hier S. 54.

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(vielmehr, als über diesem zu lauern) und verzichtet so auf eine übergeordnete Autorität; die herausgehobene, unbefragbare Autorposition wird gerade dadurch geräumt, dass sie umzieht. Autorität wird, genau genommen, nur eine ‚Autor‘-Instanz unter anderen; die Sichtbarkeit des Autors auf dem Bildschirm untergräbt und demystifiziert die Macht, die seinem überkommenen transzendeten Status zuzukommen schien. Diese Neuordnung gewährt nun aber nicht nur dem technischen Apparat, sondern auch anderen Figuren, seien sie menschlicher, seien sie nicht-menschlicher Natur, die Regie über die verschiedenen Szenen zu übernehmen. Die Autorität reiht sich in einen Reigen ein: Es gibt keinen archimedischen Punkt mehr, sei es innerhalb oder außerhalb des Films, der eine übergeordnete Perspektive gewähren würde. Frühere Untersuchungen zu Schatten bestreiten nicht, wie kunstvoll der kinematographische Apparat bei seinen Manipulationen verfährt, gibt das Erzählte doch vor, die geheimen Wünsche und Begierden einer Reihe versammelter Individuen zu enthüllen; genauer aber einer Männerhorde, die das Weib eines anderen wünscht und begehrt.7 Leidenschaftlich entbrennt die Leinwand, kommt der Gatte doch nicht umhin, sich unablässig das Schlimmste vor Augen zu führen und geradezu zu ‚sehen‘ (es ist oft betont worden, wie sehr Wahrheit im Abendland erst durch Sichtbarkeit hervorgebracht zu werden scheint,8 was nun allerdings für Schatten, wie wir noch sehen werden, äußerst bedeutsam ist): eine betrügerische Gattin, die ihn hintergeht. Nun sind der Brennpunkt dieser Diskussionen aber thematische Aspekte des plots, unterzieht der Schattenspieler doch alle Beteiligten einer Hypnose, um ihnen ihre Irregeleitetheit vor Augen und somit eine geordnete, ‚eigentliche‘ und 7  John Barlow, German Expressionist Film, Boston: Twayne Publishers 1982, S. 94–98, bemerkt: „Dies ist ein Film, der seine Künstlichkeit freiherzig offenlegt, ja geradezu ausstellt“, und erörtert das Vorherrschen des Schattengebrauchs; letztlich aber hält Barlow daran fest, dass die Schatten nur den Hintergrund der Story und ihrer zu guter Letzt „schattenlosen Welt“ bilden. Auch behauptet er, dass „dieser Film nahezu eine Fallstudie psychoanalytischer Aufklärung ist; eine Reise ins Unbewusste führt die wechselseitige Übereinkunft herbei, Trieb und Leidenschaft zu überwinden“ (S. 96). Vgl. hierzu gleichzeitig Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1947), aus dem Englischen übersetzt von Ruth Baumgarten und Karsten Witte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, 1984, S.  123: „Ihrer Umwandlung ganz am Schluß des Films entspricht der Anbruch eines neuen Tages, dessen nüchterne Beleuchtung das Licht der Vernunft glänzend symbolisiert.“ Seither ist kaum mehr etwas über diesen Film geschrieben worden. 8  Diese Diskussion hat eine lange Tradition; hier soll nur eine Theoretikerin und Philosophin angeführt werden, Luce Irigaray, die, anhand von Texten Platons und Freuds, die Stellung des Visuellen in der Art und Weise untersucht hat, wie die westliche Kultur sexuelle Differenzen etabliert; vgl. Luce Irigaray, Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts (1974), aus dem Französischen übersetzt von Xenia Rajewsky, Gabriele Ricke, Gerburg Treusch-Dieter und Regine Othmer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980.

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wahrhaftige Perspektive herbeizuführen. Zwar wird durchaus zugestanden, dass diese Wiederherstellung der Ordnung etwa durch die geschickte Handhabung der Licht- und Schattenführung mittels Kameraeinstellungen und Kadrierung erfolgt; letztlich dient der Hinweis auf diese meisterhafte Wahrnehmungsführung aber nur dazu, die thematischen Aspekte in den Vordergrund zu rücken. In diesem Szenario wäre der kinematographische Apparat nicht viel mehr als ein Katalysator, um den Status quo wiederherzustellen und die Privatsphäre aufs Neue zu heiligen. Gemeinsam mit dem Schattenspieler würde sich die Technik am Ende des Films, wenn die Vorhänge von den Fenstern zurückgezogen werden, zurückziehen (mit anderen Worten, das unheimliche Monster ist ausgemerzt). Gegenüber dieser allzu offensichtlich auf der Hand liegenden Analyse unterscheidet sich die hier vorgeschlagene Lesart dadurch, dass sie mitberücksichtigt, wie zusätzliche, halbschattige Fragmente die sich oben abzeichnende Ordnung unterbrechen, die auf eine strahlende Erfüllung zusteuert. Die Akteure von Schatten – seien sie menschlicher, seien sie technischer Natur – haben am Käfig gerüttelt, und Überbleibsel von etwas Unheimlichem verbleiben im ‚Abseits‘,9 verfangen in den vier Wänden des Daheims. Tatsächlich offenbart sich die Zerbrechlichkeit dieses Heims gerade durch seine und mittels seiner Grundfesten: Wie sehr die Wände als Grenzen auch notwendig sein mögen, eindringende Störungen abzuwehren, so sehr zeugt ihre schiere Anwesenheit paradoxerweise doch davon, wie nahe das Fremde ist. Durch die Art und Weise, wie diese Wände ins Bild gerückt werden und gleichzeitig Bilder der eindringenden Technik zurückwerfen, drängen sie sich als ‚Abseits‘ der Aufmerksamkeit auf, als merkwürdig schiefstehende Projektionsflächen. Wie der technische Apparat ins Heim eindringt, führt eine bestimmte Szene höchst geschickt vor Augen. Als der Schattenspieler zu Beginn des Films den Hof mit seiner Tasche betritt (in welcher den Gaukler die unverzichtbaren Utensilien für sein Handwerk begleiten), beobachtet er das Hin und Her des Anwesens. Der Trickster wird nicht unmittelbar vorgelassen; sein Versuch, den anderen Gästen ins Haus nachzuschleichen, misslingt. Es wird also durchaus die Anstrengung unternommen, die häusliche Sphäre vor dem mit Ansteckung drohenden Eindringen dieses Raumwandlers in Schutz zu nehmen. Nur durch einen Trick kann der Schattenspieler vorbei am Diener, der auf sein Klopfen 9  Zur Problematisierung der äußerst fragwürdigen englischen Übersetzung von ‚Abseits‘ mit „remote“ vgl. die exzellente Studie über das Unheimliche von Samuel Weber, „The Sideshow, or: Remarks on a Canny Moment“, in: Modern Language Notes 88 (1973), H. 6, S. 1102–1133. Weber sagt wortwörtlich, „if the Unheimliche is abseits, it is definitely not remote: […] it is off the beaten track and yet still too close for comfort.“

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die Tür öffnet, ins Innere gelangen; er deutet ins Nirgendwo, und als der Diener seinem Blick und Fingerzeig folgt, stiehlt er sich ins Haus, dessen Tür ihm den Eintritt nicht länger verwehrt. Sofort macht er sich in der Vorhalle die künstliche Beleuchtung zunutze und wirft durch sein Fingerspiel Schattenfiguren auf die Wände, die ihm als Spielfläche dienen.10 So werden diese – im Grunde bestimmt, Fremdes abzuwehren – zugleich ein Teil der Technik, des kinematographischen Apparates. Dieses Szenario, das Eindringen desjenigen, der die Technik mit sich führt (also des Schattenspielers als Herr über die Gerätschaften), in die häuslichen, auf den Kopf gestellten Räume, ja der Technik selbst (also die Mittel und Schauplätze der Projektion), wird fortan den ganzen Film tragen (Abb. 20.1–20.3).

Abb. 20.2

Abb. 20.1

Abb. 20.3 10 

Zahlreiche Filme jener Zeit spielen auf die ersten Ausdrucksformen des Kinos an. So bereitet, zum Beispiel, der Doktor in Das Cabinet des Dr. Caligari die Bühne für die Vorstellung von Cesare auf einem Jahrmarkt, also gerade jenem Schauplatz, auf dem die allerersten Kinofilme gezeigt worden sind. In Schatten besteht die Vorführung des Schattenspielers als Vorgänger des Filmkünstlers darin, Stabfiguren durch die geschickte Handhabung einer Lichtquelle so in Szene zu setzen, dass sie Bilder auf eine Leinwand projizieren. Dieser Vorgang erinnert an die frühere Camera obscura, in der Licht in einen dunklen Raum oder eine dunkle Schachtel projiziert wurde, um Lichtbilder, seitenverkehrt und auf dem Kopf stehend, auf die gegenüberliegende Seite zu werfen. Dieser Kasten kann durchaus als Vorgänger des photographischen Apparates gesehen werden.

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Bevor dieser Gedankengang weiterverfolgt werden kann, muss allerdings noch etwas anderes angesprochen werden. Wie sich mehr und mehr zeigt, dient das Heim hier als Schauplatz, auf dem sich bestimmte Probleme der Repräsentation offenbaren. Viele, wenn nicht die meisten Filme pflegen das Zuhause als Teil ihrer Erzählung; aber in Schatten ist die Frage nach der Privatsphäre alles andere als beiläufig, gemessen etwa schon nur an den augenscheinlich in Szene gesetzten historischen Anspielungen. Merkwürdigerweise scheint der Hintergrund, vor dem sich dieser Film abspielt, das Innere eines aristokratischen Heims auf einem ländlichen Anwesen zu sein – nur selten fällt Licht auf die Umgebung des Hauses. Der Zuschauer fühlt sich durch die dargestellten Räume visuell nicht an moderne Zeiten erinnert; tatsächlich vermeidet die Erzählung aufs bedachtsamste alle Zeichen, die als Anspielung auf die Moderne verstanden werden könnten. Auf den ersten Blick mag die vergleichsweise verwickelte Frage, warum der Film die Privatsphäre des Zuhauses in einem ‚aristokratischen‘ Raum verortet, als wenig folgerichtige Herausforderung erscheinen, zumal es zu jener Zeit recht populär war, Filme in ein historisches Gewand zu kleiden. Aber aus zwei Gründen ist es ausschlaggebend, dass der Film einen aristokratisch besetzten Raum in Anspruch nimmt. Erstens war die Privatsphäre der Aristokratie niemals wirklich ‚privat‘, also unabhängig von den vorherrschenden Gepflogenheiten der Repräsentation. Immer mussten der Hof und seine Aristokratie ‚das Gesicht wahren‘; selbst in diesen Privatsphären herrschte vorab der Diskurs der Machtrepräsentation, und sie dienten im Grunde nur als ‚öffentliche Plätze‘ zur Machtentfaltung.11 So wurde im Barock das Bett des Königs auf ein Podest gehoben, um es öffentlich auszustellen; das Öffentliche dringt ins Private des Bettes ein, das der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.12 Zweitens treibt die Frage nach der Repräsentation das kinematographische Medium ganz wesentlich um: Ebenso, wie die Räumlichkeiten am Hof der Ausübung von Macht durch Repräsentation dienen, ist auch das Kino in die Ausübung dieser Macht verwickelt. Das aristokratische Zuhause, wie es als Ort der Repräsentation 11 

12 

Hier trifft Jürgen Habermas die Unterscheidung zwischen ‚repräsentativer Öffentlichkeit‘ und ‚bürgerlicher Öffentlichkeit‘. ‚Öffentliche Plätze‘ zur Machtentfaltung gehörten zur repräsentativen Öffentlichkeit. Ich verwende den Begriff ‚öffentliche Plätze‘ in diesem Sinne. Zu Habermas’ Erörterung dieser Unterscheidung vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 891). Ebd., S.  64 f. Die Erörterung dreht sich um eine Passage aus Richard Alewyn und Karl Sälzle, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung, Hamburg: Rowohlt 1959, S. 14.

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fungiert, bietet dem Kino also eine geradezu ideale Heimstatt, sich selbst als Medium zu inszenieren, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts mächtiger und mächtiger wird. Genau diese autoreflexive Geste von Schatten, Licht auf die eigene Ausübung von Autorität zu werfen, lenkt nun die Aufmerksamkeit auf die Verfahren, wie der Film Illusionen durch die schiere materielle Präsenz des kinematographischen Apparates hervorruft. Die ‚Bühne‘ bzw. ‚Inszenierung‘ sind Metaphern, die in Schatten an diesem Prozess der Enthüllung stetig mitwirken. So führt der Vorspann, zum Beispiel, nicht nur die Schauspielerinnen und Schauspieler ein; er gibt gleichzeitig der Bühne Raum: ein wiederholtes Motiv, das der Film für seine Orchestrierung unablässig in Anspruch nimmt. In dieser Eröffnungssequenz betreten die (Schau-)Spieler eine reale Theaterbühne, nur um sie gleich wieder zu verlassen, indem sie sich in Schatten auflösen, die Szenen dessen nachstellen, was gleich folgen wird.13 Zuvor aber, noch vor diesen Einführungen, tritt der Schattenspieler mit einer Kerze ein, die den ganzen Ausschnitt/Bildschirm in ihr Licht taucht; nur um die Lichtquelle gleich hinter einer Muschel zu verstecken, wie sie herkömmlicherweise die ‚Kerze‘ und andere Requisiten im Theater, allen voran die Souffleuse oder den Souffleur, verbirgt. Mag die Einstellung auch sehr geschickt auf dem ‚Vortechnischen‘ (der Kerze) verharren und so auf den aristokratischen Raum zurückgreifen, lenkt sie doch die Aufmerksamkeit auf eine Quelle/ein Mittel des Filmgeschäfts (das Licht) und damit im nächsten Schritt auf ein Element des kinematographischen Prozesses (die Projektion). Diese Szene von Schatten gilt vorab der Idee, dass filmische Repräsentation mehr vermag als nur gewisse Bilder ‚vor Augen zu führen‘ (daher die Wichtigkeit des Lichts), nämlich gleichzeitig zu verbergen, wie sie dabei vorgeht (indem sie die Kerze dem Blick entzieht); derselbe Vorgang, der Bilder ins Licht rückt, erhellt (diese) nicht nur, sondern verdunkelt (sie) gleichzeitig. Um seine ‚Autorität‘ zu bewahren, muss das Licht sowohl allgegenwärtig wie versteckt sein, gleichzeitig sichtbar und nicht zu sehen. In Schatten wird das Selbstbeharrungsvermögen des kinematographischen Apparates durch die Geste des Schattenspielers gekippt, das Licht auf der Bühne hervorzuzaubern und gleichzeitig hinter der Muschel verschwinden zu lassen; ihre herausgehobene Stellung kann Autorität niemals behaupten, indem sie sich den eigenen Voraussetzungen fügt, als wäre sie selbst im Bann der Regeln, 13 

Seinerzeit war Film in Deutschland noch eng mit der Theatertradition verbunden und Schatten spielt mit der Affinität des Kinos zum Theater. Die Eröffnungsszene ist dieser Tradition verpflichtet, auch wenn Projektion, Sinnestäuschung und andere Illusionen auf die sich wandelnden Schattierungen filmischer Verfahren hindeuten.

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die sie ausübt. Nur indem der abseitige Ort, von dem aus das Licht seine Macht ausübt, verhüllt bleibt, kann es ein bestimmendes Licht bleiben, was der Film in Frage stellt, indem er das Abseits enthüllt und es hervorkehrt (Abb. 20.4–20.5).

Abb. 20.4

Abb. 20.5

Das Verhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist aber nur das blassere Abbild eines deutlich ausgeprägteren: des Verhältnisses zwischen Licht und Dunkel, ein Gegensatz, der viele Filme des frühen deutschen Kinos geprägt hat. Lotte Eisners Vergleich zwischen den expressionistischen Filmen und den deutschen Romantikern in Die dämonische Leinwand ruht auf der Bedeutsamkeit von Schatten und Spiegelbildern.14 Es fällt ins Auge, wie sehr Technik und Form in diesen Filmen zur Schau gestellt werden; augenscheinlich waren die Filmemacher von diesen Möglichkeiten der neuen Kunst gefesselt. So sehr der Film auch älteren Ausdrucksformen wie dem Theater verpflichtet war, hat er doch gleichzeitig seine eigenen technischen Voraussetzungen in den Vordergrund gerückt, die ihn auszeichnen sollten.15 Immer noch aber stand, um Eisner zu zitieren, auf der Kippe, dass „das Kino zum perfekten Medium für romantischen Seelenschmerz, Traumzustände, und 14 

15 

Lotte  H.  Eisner, Dämonische Leinwand. Die Blütezeit des deutschen Films, WiesbadenBiebrich: DER neue FILM Verlagsgesellschaft Feldt & Co.  1955. Im folgenden zitiert nach der überarbeiteten, erweiterten und autorisierten Ausgabe Lotte  H.  Eisner, Die dämonische Leinwand, herausgegeben von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1980. Filmemacher und andere tasteten sich in den Anfangsjahren nicht nur an das neue ‚technologische Wunder‘ heran, sondern waren auch in die weitverbreiteten Debatten über das Kino und seinen Platz in der Kultur verwickelt. Für eine interessante Diskussion über das Verhältnis des Films zur Literatur und die Debatten des zeitgenössischen Kulturbetriebs vgl. Anton Kaes, „Einführung“, in: ders. (Hrsg.), Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929, Tübingen: Max Niemeyer 1978 (= Deutsche Texte 48), S. 1–35.

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all jene flüchtigen Bildwelten werden konnte, die die unendlichen Tiefen der Leinwand schattieren, dieses Fragment eines Raums-außerhalb-der-Zeit.“16 Diese ‚flüchtigen Bildwelten‘ sind von höchster Bedeutsamkeit, wie ‚von selbst‘ der Film sie auch hervorzubringen scheint. In einem von Eisner mit „Die Welt der Spiegel und Schatten“ betitelten Kapitel nimmt sie zwar Bezug auf das Eigenleben der Schatten in Schatten, bleibt aber bei einer mehr oder weniger beschreibenden Untersuchung des Stils stehen. Sie hält die unentscheidbare Zweideutigkeit von Schatten fest, und, als der Illusionist durch seine Hypnose der Versammelten ihre Schatten stiehlt, „öffnet“ er auf diese Weise „die Schleusen all ihrer geheimsten Begierden.“17 Eisner selbst spricht in diesem Zusammenhang von einem „Freudschen Sinn“,18 treten doch erst durch diese Entfesselung des Unbewussten die unterdrückten Wünsche zutage. Patrice Petro hat Eisners Argument in ihrer ebenso erhellenden wie anregenden Studie Joyless Streets noch einen Schritt weitergetragen, indem sie 16 

17  18 

Die Textlage dieses Zitats – wie die Geschichte der Übersetzung von Lotte  H.  Eisners französischem Originaltext L’Écran démoniaque – ist einer eigenen Untersuchung würdig. Die hier zitierte Textstelle findet sich in der englischsprachigen Ausgabe von Die dämonische Leinwand (Lotte  H.  Eisner, The Haunted Screen. Expressionism in the German Cinema and the Influence of Max Reinhardt, Berkeley und Los Angeles: University of California Press 1969) auf S. 40 in einem „Der Student von Prag (The Student of Prague, 1913)“ überschriebenen Unterkapitel des Kapitels „3. The Spell of Light: the influence of Max Reinhardt“. Dort heißt es: „When The Student of Prague came out, it was immediately realized that the cinema could become the perfect medium for Romantic anguish, dream-states, and those hazy imaginings which shade so easily into the infinite depths of that fragment of space-outside-time, the screen.“ Diese Passage folgt auf einen Absatz, in dem es u. a. heißt: „Ewers was evidently inspired by Peter Schlemihl, a story by Chamisso in which a young man sells his shadow, and by Das Abenteuer in der Sylvesternacht in which E. T. A. Hoffmann sends Chamisso’s hero on a journey with his own Erasmus Spikher, ‚the man who lost his reflection‘. […]“ In den deutschsprachigen Übersetzungen findet sich davon nur noch die Passage „E. T. A. Hoffmann läßt in seinem ‚Abenteuer in der Sylvesternacht‘ seinen Erasmus Spikher, den Mann ohne Spiegelbild, mit Chamissos Peter Schlemihl, dem Mann ohne Schatten, reisen.“ Vgl. Lotte H. Eisner, Dämonische Leinwand. Die Blütezeit des deutschen Films, Wiesbaden-Biebrich: DER neue FILM Verlagsgesellschaft Feldt & Co.  1955, S.  61 sowie Lotte  H.  Eisner, Die dämonische Leinwand, herausgegeben von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag  1980, S.  131, die auf der überarbeiteten, erweiterten und autorisierten Neuauflage Lotte H. Eisner, Die dämonische Leinwand, herausgegeben von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Frankfurt am Main: Kommunales Kino 1975 basiert. Die hier zitierte Passage hingegen findet sich weder im 3. noch im 8. Kapitel der deutschsprachigen Ausgaben und auch nirgends sonst in den Büchern. Es muss also auf den französischen Originaltext zurückgehen und wurde im Rahmen der Überarbeitung für die deutschsprachige Übersetzung komplett gestrichen. [Meine Anmerkung, T. L.] Eisner, Die dämonische Leinwand (Anm. 14), S. 134. Ebd.

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das Schattenspiel als denjenigen entscheidenden Moment erkannt hat, in dem die Phantasie buchstäblich „übermannt“ wird: [E]s ist das Schattenspiel (oder der Film-im-Film), das letztlich auf die Geschichte der Frau verzichtet und stattdessen eine männliche Phantasie einführt. In der Umsetzung dieser Phantasie stellt das Schattenspiel nicht nur den weiblichen Körper als Schauplatz männlicher Gewalt und Kontrolle dar, sondern offenbart auch das Filmemachen und Filmeschauen als Mechanismen, um weibliches Verlangen zu unterdrücken und das Frauenbild einem männlichen Kontrollblick zu unterwerfen.19

Hier bezieht sich Petro auf die Szene, in welcher der Schattenspieler die Protagonisten hypnotisiert: Alles scheint hier außer Kontrolle zu geraten. In diesem Spiel-im-Spiel umgarnt die Gräfin den verliebten jungen Mann nicht mehr nur; sie gibt sich ihm geradezu körperlich hin. So nötigt der Gatte die drei Kavaliere, seine Ehefrau mit Schwertern zu durchbohren, worauf diese wiederum, entsetzt durch die eigene Tat, den Grafen aus dem Fenster werfen. Nun mag Petros Schlussfolgerung, dass das Schattenspiel gezielt männliche Phantasien vorführt, durchaus verlockend erscheinen.20 Allerdings kann man nicht übersehen, wie in Schatten alles, was sich ereignet, zu sehen ist und wahrgenommen wird, kopf steht. Wie soll bei diesen zahlreichen Verwerfungen der ‚kontrollierende männliche Blick‘ gezielt etwas ins Auge fassen können?21 Un19  20 

21 

Patrice Petro, Joyless Streets. Women and Melodramatic Representation in Weimar Germany, Princeton: Princeton University Press 1989, S. 146. Interessanterweise kritisiert Petro in ihrer Studie Kracauers Meta-Geschichte des Weimarer Kinos als eine reduzierende Geschichte über die Misere der männlichen Subjektivität: „denn als ‚große Erzählung‘ enthüllt [Kracauers Geschichte des Weimarer Kinos] eine sehr spezifische (wenn auch allgegenwärtige) kollektive Vorstellung, nämlich die von der männlichen Subjektivität in der Krise und ihrer symbolischen Niederlage.“ Vgl. Petro, Joyless Streets (Anm. 20), S. 13. Das ist das gleiche Problem, das sie auch in ihrer scharfsinnigen Analyse von Thomas Elsaessers Essays über das Weimarer Kino wiederfindet. Obwohl Elsaesser von einer komplexeren und prekäreren Zuschauerschaft im Weimarer Kino ausgeht, argumentiert Petro, bleibe letztlich auch er „an eine männliche Zuschauerposition gebunden.“ In ihren Augen bietet Schatten der männlichen Phantasie eine entsprechende Zuschauerposition. Obwohl der Gegensatz zwischen männlicher und weiblicher Zuschauerschaft nicht das Hauptuntersuchungsinteresse dieses Aufsatzes ist, werden wir sehen, dass Schatten einen weiteren, möglichen Weg der Untersuchung bietet, indem der Film die Möglichkeit der Inszenierung männlicher Subjektivität in Frage stellt, so stabil oder instabil sie auch sein mag. Ohne zu weit in psychoanalytische Diskussionen einzudringen, wird die Kohärenz des männlichen Subjekts in diesem Film bestenfalls als gebrochen dargestellt, wenn man sich Kaja Silvermans Diskussion über den Kastrationskomplex und den Ursprung sexueller Unterschiede ins Gedächtnis ruft. Sie weist darauf hin, dass es nicht die männliche

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freiwillig schreibt Petro bei ihrer Wiedergabe des Inhalts die Geschichte denn auch um, will sie diese Störungen doch nicht wahrhaben. Sie behauptet, der Schattenspieler würde erst, nachdem der Höhepunkt der Geschichte bereits überschritten ist, die Szene betreten: „An einem Abend, an dem der Gatte seine Aggressionen kaum mehr zügeln kann, die durch die Bewunderer seiner Ehefrau hervorgerufen werden, tritt ein Schattenspieler dazwischen und bietet seine Unterhaltungskünste an, ein Amüsement, das einen außer Rand und Band zu geraten drohenden Ehekonflikt zu besänftigen verspricht.“22 Wie aber bereits zuvor angeführt worden ist, erscheint der Schattenspieler (und mit ihm seine Wahrnehmungs- und Blicksteuerung) auf der Filmbühne schon mit dem eröffnenden Vorspann, indem er den Zuschauer dadurch ins Repräsentierte miteinbezieht, wie er Licht und Schatten regelt. So ist das Unabweisliche im Film also immer schon da und sichtbar zugleich. Gleichzeitig ist wichtig zu verstehen, dass der Schattenspieler zwar die Technik mit sich geführt und eingeschleppt haben könnte, innerhalb des Films aber keineswegs eine allwissende Instanz oder Autorität verkörpert. Vielmehr zeigt die Totale in der Eröffnungsszene des Films (die unmittelbar auf den Vorspann folgt), wie ein Fremder (der Schattenspieler) das in den Bildausschnitt gefasste Anwesen betritt und auf den Brunnen mitten auf dem Platz zugeht. Ein zweiter Mann (der verliebte Jüngling) betritt die Szene. Die Kamera im Hof erfasst erst den nach oben gerichteten Blick der beiden Männer, dann die Schatten eines Paares im Fenster des Heims, die sich leidenschaftlich zu umarmen scheinen. Es folgt wiederum eine Américaine der beiden Männer, worauf wir mehr oder weniger aus ihrer Perspektive die Schatten im Fenster sehen, was offenbart, wovon ihr Blick gebannt ist. Aber der Anschein kann täuschen; es folgt wiederum eine halbnahe Einstellung innerhalb des Hauses, die preisgibt, wie die Gräfin sich den Zärtlichkeiten ihres Gatten widersetzt,

22 

Erkenntnis ist, dass dem Weiblichen der Penis fehlt, die den Kastrationskomplex auslöst, sondern dass der Mann bereits vor der sexuellen Unterscheidung mit seiner eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert ist. Silverman zufolge ist der „Anblick“ des Mangels das, was Freud „unheimlich“ nennt, weil es etwas ist, was der Mann bereits erfahren hat – nämlich die Konfrontation mit seinem eigenen Mangel als versehrtes Subjekt: „Zuzugeben, dass der Verlust des Objekts auch eine Kastration ist, würde bedeuten, anzuerkennen, dass das männliche Subjekt bereits vor dem Moment, in dem es den anatomischen Unterschied der Frau registriert, durch Abwesenheit strukturiert ist – zuzugeben, dass er, wie das weibliche Subjekt, bereits jenes Seins beraubt wurde und bereits von der Sprache und dem Verlangen des Anderen gezeichnet ist.“ Vgl. Kaja Silverman, The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington: Indiana University Press 1988, S. 15. Petro, Joyless Streets (Anm. 20), S. 145.

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dessen zudringliche Arme sie abwehrt. Sie redet sich auf das Halstuch heraus, das sie sich einstecken möchte, und weist ihren Mann aus dem Bild, es für sie zu holen. Der Schattenspieler hat das Vorgefallene falsch verstanden (oder falsch wahrgenommen); er besetzt nicht den übergeordneten Standpunkt einer alles überblickenden und durchschauenden Autorität. Früh also schon erkennen wir, dass der Betreiber des Apparates selbst genauso in die Fallen der kinematographischen Täuschungen geht wie die anderen Protagonisten des Films. Kommt hinzu, dass der Schattenspieler den Standpunkt der transzendentalen Autorität, per definitionem eine herausgehobene Position, auch deshalb nicht einnehmen kann, weil er sich nicht nur der Wahrnehmung nicht sicher sein kann; er ist vielmehr gleichzeitig in die Vorkehrungen des Apparates und seine Betrügereien verstrickt. Ja selbst die Gäste und die Diener sind an diesem Täuschungen hervorbringenden Wunderwerk beteiligt. Zu Beginn des Films legt die Gräfin vor einem Spiegel ihres Boudoirs letzte Hand an ihre Toilette, indem sie sich Blumen in den Ausschnitt steckt. Eine Nahaufnahme zeigt sie im Spiegel von hinten knapp über ihrer Schulter; aber wiewohl das Bild, das wir von ihr wahrnehmen, ein reflektiertes Bild ist, wird uns diese Verdoppelung durch die Kameraeinstellung vor Augen geführt, ist ihre ‚reale‘ körperliche Präsenz doch gleichzeitig mit ins Bild gerückt. Sie blickt nach rechts, gefolgt von einem Bild des entflammten jungen Mannes, worauf das Geschehen wieder zur ursprünglichen Bildkomposition zurückkehrt. Die Gräfin ist nicht allein in ihrer Privatsphäre; es folgt eine von der Kamera aus der Distanz aufgenommene Totale, welche die drei Kavaliere einfängt, wie sie näherkommen und hinter ihr stehenbleiben. Sie beginnen, anzügliche Gesten zu machen, indem sie ihren Körper mit den Händen nachzeichnen, ohne ihn tatsächlich zu berühren. Sie scheinen ein ähnliches Kunststück aufzuführen wie der Schattenspieler bei seiner Vorführung und Schattenillusionen auf die durch einen Vorhang verdeckte Glastür zur Seite der Gräfin zu werfen. Der nächste Schnitt zeigt den Gatten, wie er im angrenzenden Raum auf und ab tigert. Durch ihre unterkühlten Abweisungen ohnehin schon beunruhigt und von Zweifeln erfüllt, wird er plötzlich des Schattenspiels gewahr, wie die vagabundierenden Hände auf der Trennwand die Umrisse der Silhouette seiner Ehefrau nachzeichnen; es herrscht die Illusion, als würden die drei Männer sie tatsächlich umschmeicheln, berühren und küssen (Abb. 20.6–20.7). Ja seine Pein wächst zusehends, erweist sich sein Blick – der weder die ‚Wahrheit‘ der Bilder verstehen noch den Schattenwurf kontrollieren kann – doch als vollkommene Fehleinschätzung, beherrscht von seinen durch das trügerische Bild irregeleiteten Wahrnehmungen. Dem ‚männlichen Kontrollblick‘ wird die Schau gestohlen.

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Zwar nimmt der Zuschauer selbst nicht am Schauspiel, dem Drama des trügerischen Bildes, teil, weil er sich nicht umstandslos mit den Kavalieren identifizieren und so ihre Phantasien teilen kann. Denn wir wissen ja um die Handgreiflichkeiten der Handelnden, wie sie ihre Phantasie inszenieren, einen weiblichen Körper einer genauen Untersuchung zu unterziehen; aber in der Konstruktion dieser Szene ist ein weiterer Dachziegel gelockert, der den Blick auf ein zusätzliches Element bei der Orchestrierung dieses Täuschungsaugenblicks frei gibt. Im Moment, in dem sich das Geschehen dem intimen Bereich des Boudoirs zuwendet, erblicken wir im Vordergrund den Diener, wie er einen Armleuchter hält, während die Kavaliere im Hintergrund ihre Intrige verfolgen. Die folgende Großaufnahme des Dieners lässt auf seinem Gesicht im auffallenden Licht der Kerze Schadenfreude und Triumphgefühl erkennen; sein Licht war unabdingbar bei der Erzeugung dieser Illusion. Gegen Ende der Sequenz erweckt eine Totale den Eindruck, als würde es sich um eine Bühne handeln, grenzen doch Handläufe den Eingangsbereich zum Boudoir der Frau ab. Nachdem die drei Männer die ‚Bühne‘ verlassen haben, erobert die Gräfin die Situationsmächtigkeit und ohrfeigt den Bediensteten, der daraufhin den Armleuchter auf den Boden stellt. Jedes einzelne Element, aus dem sich der Prozess der Illusionsbildung zusammensetzt – vom Licht als Quelle der Vorführung über die Bühne bis zu den verschiedenen an der Täuschung beteiligten oder von ihr betroffenen Akteure – wird einer genauen Prüfung unterzogen. Es könnte den Anschein erwecken, dass nur der Gatte ‚nicht im Bilde‘ ist, der auf der anderen Seite der Wand verharrt. Die Privatsphäre ist zum Schauplatz der Einbildung geworden, aber diese ist aufgeklärt über ihre Täuschungsgaben. Im Grad, wie jeder Akteur des Films in den Versuch der Illusionsbeherrschung einbezogen wird, sei’s, indem er über die Darstellung von Ereignissen gebietet, sei’s, indem er von ihnen beherrscht wird, zerstreut sich die textuelle Autorität mehr und mehr.

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In vielen anderen Szenen von Schatten hallt das Echo von Bühnenmetaphern wider. So wird zu gegebener Zeit ein Abendmahl in einem großen Speisesaal aufgetragen. Das erste Schlaglicht auf diesen Schauplatz wirft eine extreme Totale; der Tisch ist nur im entfernten Hintergrund zu erkennen, während ein Tor in der Mitte das Bild teilt und den Speisesaal als getrennten Raum abgrenzt. Auf dieser Theaterbühne, zu der auch die Rampe nicht fehlt (der Schauplatz, auf dem getafelt wird, ist leicht erhöht), begegnen wir dem Kino: In der Raummitte lodern Kerzen, die von den am Tisch sitzenden Gästen mächtige Schatten auf die ‚Leinwand‘ hinter ihnen werfen. Diese Nachahmung des Theatralischen gerade dort, wo sich das Kino auf der Bühne materialisiert, vollzieht sich diskursiv: Das Heim versammelt Repräsentationsmedien nicht nur, um die Faszinationskraft des neuen technischen Apparates auszuloten, sondern um gleichzeitig den prekären Status der Privatsphäre zu unterstreichen, in der sich unzählige Inszenierungen abspielen.

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In diesem Augenblick verlässt der ungeduldig werdende Graf den Speisesaal, um nach den pflichtvergessenen Bediensteten zu sehen, und entdeckt den Schattenspieler, der, nachdem er seine Geschicklichkeit vorgeführt hat, in den Saal (oder auf die Bühne) gebeten wird, wo er den Diener anweist, ihm die Tasche mit seinen Utensilien zu bringen. Ein Leintuch wird aufgehängt (Abb.  20.8). Es folgt das Schattenspiel. Die Gäste sitzen mit Blick zur Leinwand, während der Illusionist mit den Stabfiguren hantiert, die er aus seiner Tasche hervorzieht (Abb. 20.9). Während der Aufführung wächst im Ehegatten der Verdacht gegen seine Frau und den jungen Mann bis zum unausweichlichen Punkt, an dem er trennend zwischen sie fährt, weil er glaubt, eine Berührung wahrgenommen zu haben. Der Schattenspieler, der Zeuge dieser Fehlwahrnehmung war, steckt eine weitere Kerze auf den Armleuchter, worauf das Spiel-im-Spiel anhebt. Eine Aufsicht fasst die Tafel ins Bild und zeigt, wie der große Illusionist auf die Schatten zugeht, die sein Publikum innerhalb des

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Films wirft, das wiederum ihn beobachtet, wie er die Schatten wirft (sich also seiner Manipulationen durchaus bewusst ist). Er ‚zieht‘ ihre Schatten auf die Leinwand, während eine Einblendung die Akteure an der anderen Seite der Tafel platziert, nicht länger mit dem Blick zur Wand, auf die das Schattenspiel geworfen worden ist. Nach einem Blindschuss (die Leinwand ist schwarz) scheint sich das Bild in der Mitte zu teilen und horizontal zu öffnen, als würden geschlossene Blenden vor der Kameralinse rauf- und runtergezogen und so den Blick auf die Protagonisten preisgeben, die zu erwachen scheinen. Diese aufwendige Vorkehrung der Neuplatzierung vermittelt dem Zuschauer eindringlich, dass etwas Merkwürdiges vor sich zu gehen im Begriffe ist. Kommt hinzu, dass der Schattenspieler, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, immer mit im Bild ist; die Art und Weise, wie er trügerische Bilder hervorbringt, wurde in Schatten unablässig vor Augen geführt. Man mag darüber streiten, ob der Zuschauer sich des Umstands bewusst ist, dass die Akteure jetzt eine ‚Halluzination‘ teilen oder nicht. Jedenfalls dreht sich, was gezeigt und dargestellt wird, nicht länger um begründete Realität, nicht länger um die Unterscheidung zwischen dem, was wirklich ist und was nicht; sondern alles beginnt sich ums Kino zu drehen, seine Hervorbringungen, seine Materialität. Auch das Spiel-im-Spiel ist als kleines Spiel geprägt von seinen eigenen Trug- und verwechselbaren Doppelbildern, welche die Wahrnehmung ‚narren‘. So verlässt die Gräfin den Saal mit einem über die Schultern zurückgeworfenen Blick, den Spiegel an der Wand des Korridors auffangen, den sie entlangschreitet. Wir sind zurück an der Tafel, und nun erhebt sich auch der junge Mann. Der Graf schleicht ihm zum Boudoir der Gräfin nach, weicht aber, kaum erblickt er die sich im Hintergrund abzeichnende Tür, zurück, um an der Wand Schutz vor Blicken zu suchen. Die Tür springt auf und gibt den Blick auf die Frau und den jungen Mann preis, aber wir erkennen sogleich, dass ihr Bild nur ein Spiegelbild ist. Die schlimmsten Befürchtungen des Ehemanns haben sich ‚bewahrheitet‘, endlich kriegt er ‚die Sache‘ selbst zu sehen – aber es ist nur der Abglanz in einem Spiegel. Zwar fallen seine Phantasien, ganz in der Hand des Schattenspielers, mit der Wirklichkeit zusammen, die er sieht; aber bei der ‚Wirklichkeit‘ handelt es sich nur um ein weiteres Trugbild. Das übrige Spiel-im-Spiel dreht sich um die Gefangennahme, Fesselung und Hinrichtung der Frau, nähert sich die ermüdete männliche Einbildungskraft doch augenscheinlich ihrer Erschöpfung (Abb.  20.10). Wiederum scheint es wenig Zweifel daran geben zu können, dass auch diese Szene den weiblichen Körper dem männlichen Blick und seiner Kontrolle unterwirft, aufs gewaltsamste verkörpert von der Durchbohrung des weiblichen Körpers durch die ihn tötenden Schwerter (Abb.  20.11–20.12). Einerseits scheint die Frau, wie man herausstreichen könnte, ihrerseits das Fehlen des Phallus und dadurch

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die Kastrationsdrohung zu verkörpern; andrerseits dient sie als Objekt der Begierde, als Gefäß oder Heimstatt, in dem bzw. der die Wahrheit haust. Die phallischen Schwerter dringen gleichzeitig in den Körper ein, wie sie ihn zerstören, und lassen so das Begehren ebenso in Erfüllung gehen, wie sie die Bedrohung beseitigen (indem sie die Kastration vorwegnehmen). Diese Lesart ist vollkommen befriedigend – ein bisschen zu befriedigend –, wird das voreilige Einvernehmen doch durch den Umstand in Frage gestellt, dass auch diese Szene sich wiederum nur als Schattenspiel vollzieht: die Kamera fasst nur ihren Schatten auf der Wand ins Auge, während die Schatten der Schwerter ihre Silhouette durchbohren. Wir sehen uns einer Leinwand auf der Leinwand gegenüber: Der Raum verharrt in der Zweidimensionalität, er gewährt keine Tiefe, und so spielt sich die Penetration nur auf der Oberfläche ab, auf der Leinwand. Aufgerufen ist hier die Metapher der Frau als – tiefe, unergründliche, unerschöpfliche – Wahrheit. Die Szene inszeniert augenscheinlich das Eindringen in die Tiefen der Frau, wo, wie man sich einbilden mag, die Wahrheit haust. Die Ironie besteht aber natürlich darin, dass der Schatten der Frau, auf eine schiere Oberfläche geworfen, keinerlei Tiefe hat: Hier lädt nichts zur Penetration ein. Viel mehr als die Enthüllung der Frau, wie sie die Wahrheit zu repräsentieren verspricht, wird hier eine Repräsentation inszeniert, hinter

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der sich nichts verbirgt, ohne ‚Dahinter‘; die Illusion von Tiefe zerschellt. Der Schatten der durchbohrten Frau zieht die Aufmerksamkeit auf sich selbst, und zwar als Bild – ja als bildgewordenes Bild –, nicht weil es zweidimensional ist (nichts leichter für das Kino als die Illusion von Tiefe aufrecht zu erhalten), sondern weil diese zweidimensionale Figur eine dreidimensionale Metapher in Frage stellt: diejenige der Penetration. Patriarchale Gesellschaften bedienen sich solcher Metaphern, um die Wahrheit phallisch zu strukturieren; in Schatten aber wird die Penetration (als phallische Metapher) unablässig durchkreuzt.23 Dieses Schattenbild greift auf die Reihe der vorangegangenen Täuschungen zurück, die der kinematographische Apparat hervorgerufen hat: wie der Ehemann den (projizierten) Körper seiner Gattin sieht (beargwöhnt), der von den Händen der Kavaliere umschmeichelt wird, die Schatten der Hände auf der (Lein-)Wand, die diesen gar zu berühren scheinen, die Kunststücke des Schattenspielers usw. Wie man sieht, gehorcht die verwickelte Anordnung räumlicher Repräsentation in Schatten einem ausgeklügelten (und unheimlichen) Spiel: Die Privatsphäre wird allerlei räumlichen Fehlwahrnehmungen ausgesetzt, die geringsten Verrückungen der Bilder entspringen können. Beurteilt man diese Bilder im Licht herkömmlicher bzw. überkommener Begriffe des Heims und der Privatsphäre, die auf ein Grundgefühl von Sicherheit und Familiarität – abgezirkelte Repräsentationen des Häuslichen – vertrauen, werden Vorkommnisse schnell trügerisch. Vertraut und unverrückbar sollten die Umrisse, die Ordnung dieses Raums sein; alles andere ist der Fall in Schatten. Nicht nur, dass die eingedrungene Illusionsmaschine sich jeglicher Intimität bemächtigt hat oder die Privatsphäre den Machinationen des kinematographischen Apparates unterworfen worden ist; vielmehr stellt sich heraus, dass die Grenzen der Privatsphäre (wie sehr diese auch vorzugeben scheinen, den innigsten Bereich zu schützen) von Anfang an Teil des Spiels der Repräsentation und Fehlwahrnehmung waren. Sie sind hier Teil des Reisegepäcks des kinematographischen Apparates. Nun kann man die Verunsicherung gefestigter Anhaltspunkte für das ZuHause-Sein noch in einem anderen Licht sehen: denn was stört, ist zwar hausgemacht, vielmehr aber noch un-heim-lich. Die Metapher des Heims, des Zuhause, ist höchst bedeutsam, um das Unheimliche und seinen Stellenwert 23 

Zur ausführlicheren Diskussion des Verhältnisses zwischen Metapher, Wahrheit und Patriarchat vgl. Luce Irigaray, „Die hystéra von Platon“, in: dies., Speculum (Anm. 7), S. 301– 464, und Jacques Derrida, „Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text“ (1971), aus dem Französischen übersetzt von Mathilde Fischer und Karin KarabaczekSchreiner, in: ders., Randgänge der Philosophie (1972), Wien: Passagen Verlag 1988 (erste vollständige deutsche Ausgabe), S. 205–289 und S. 344–355.

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für die vorliegenden Erörterungen zu verstehen. Wie unablässig der Film Schatten durch das Spiel seiner unermüdlich alles ins Zwielicht tauchende Inszenierungen die Gewissheit von Wahrnehmungen und dadurch familiäre, ja – um dem Ganzen einen noch moralischeren Unterton zu verleihen – mehr als berechtigte Sicherheitsbedürfnisse an die räumliche Umgebung in Frage stellt: Muten diese Verkehrungen nicht unheimlich an und wecken so ein Gefühl der Angst? Sigmund Freud räumt der Frage nach den zahlreichen Definitionen des Begriffs ‚unheimlich‘ und seinen möglichen etymologischen Wurzeln einen sehr breiten Raum ein. Am interessantesten für unsere Diskussion aber ist, was er zum Begriff heimlich entwickelt. Er führt Lexikoneinträge an, die auf der einen Seite lauten: „zum Hause gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut und traulich“ sowie „das Wohlgefühl stiller Befriedigung etc., behaglicher Ruhe u. sichern Schutzes, wie das umschlossne wohnliche Haus erregend“; auf der anderen Seite lauten sie: „versteckt, verborgen gehalten, so daß man Andre nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will.“24 Im Lichte dieser Definitionen gewinnt Freuds Paraphrase von Schellings Definition ein besonderes Gewicht: „Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“25 Es scheint, hier vermählen sich zwei Vorstellungen: was unheimlich erscheint, ist das Unvertraute, dem man zuhause noch nie begegnet ist; gleichzeitig aber ist es das Unter-denTeppich-Gekehrte, Geheim-Gehaltene, das plötzlich ans Licht gelangt. Freud fährt in seiner Analyse von Hoffmanns Nachtstück „Der Sandmann“ fort, indem er den Mechanismus ans Licht zu bringen versucht, der das Gefühl von Unheimlichkeit auslöst. Das zutage tretende Gefühl des Unheimlichen ist, wie Freud herausstreicht, tatsächlich gekoppelt an die Rückkehr des Verdrängten; zudem durchlebt die von diesen Gefühlen betroffene Person diese dadurch, dass der Verdrängungsprozess dem ursprünglichen Ereignis ein verändertes Gesicht gegeben hat: [W]enn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt (S. 242 f.), denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.26

24  25  26 

Freud, „Das Unheimliche“ (Anm. 4), S. 232 ff. Ebd., S. 236. Ebd., S. 254.

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Wie es scheint, führt Freud einen Ort ins Feld, den man als Heim bezeichnen könnte, von dem sich das Individuum entfremdet, einen Ort vielleicht, dessen Vorgeschichte ihn den üblichen Bedingungen der Repräsentation entzieht.27 Diese Entfremdung tritt zutage (oder kehrt ‚heim‘) durch die Erscheinung des verlorenen Raums mit einem neuen Gesicht, das ein unheimliches Antlitz hat. Für unsere Analyse von Raum und Repräsentation in Schatten ist nun allerdings nicht bedeutsam, dass es ein unberührtes Heim gegeben haben mag (wie Freud zu denken scheint), sondern dass sich schon die Vorstellung von einem vorgegebenen Raum, der sich jedes Außen entziehen würde, als Illusion erweist. In Schatten prallen das Unheimliche als das Zu-Hause-Fremdsein und das Unheimliche als das Ent-Borgene in dem Moment zusammen, als die Illusion des Zuhause – als „dem Seelenleben von alters her Vertrautes“ – exakt zu erkennen gibt, wie verletzlich dieser Ort im Grunde ist. Im und durch den kinematographischen Apparat materialisiert sich ein unheimliches Geheimnis: Auf den Grundfesten der Repräsentation ruht das vermeintlich ‚gefestigte‘ Haus nur jederzeit höchst einsturzgefährdet. Was Freud als „etwas Allgemeines“ bezeichnet, das „aber doch einer besonderen Hervorhebung würdig scheint,“ ist für die gegenwärtige Diskussion grundlegend, „daß es nämlich oft und leicht unheimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt wird.“28 Es ist genau diese Unterscheidung, die Schatten abzutragen sucht; wir unterscheiden die Inszenierung nicht länger von der ‚Realität‘ der Privatsphäre im Film, da die Wände zu Leinwänden werden und nicht einfach als Hindernisse fungieren, sondern als Grenzlinien zwischen unterschiedlichen Räumen. Der kinematographische Prozess selbst steht in diesen Räumen im Vordergrund und ruft so Gefühle des Unheimlichen hervor: Der Raum ist nicht länger vertraut, privat, oder, allen voran, ahistorisch. Der Film schließt nicht die Nähte, die von der Hervorbringung des Heims zeugen, und macht sie somit auch nicht unsichtbar. Stattdessen versucht er, genau diese Zwischenräume (durch Projektionen) sichtbar zu machen, in denen die Kränkungen (die gewalttätigen und doch abgebrochenen Penetrationen) schwelen. Freud wusste, wie mächtig das Daheim als metaphorischer Ort bei der Schaffung einer sicheren Subjektposition ist. Das Heim ist die Zuflucht, der 27 

28 

Freud schreibt: „Es kommt oft vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat.“ Ebd., S. 258 f. Freud, „Das Unheimliche“ (Anm. 4), S. 258.

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Rückzugsort, vielleicht die letzte Bastion des bedrängten Individuums, um die Illusion eines einheitlichen (männlichen) Subjekts aufrechtzuerhalten. Über seine Metapher des psychischen Apparates hat Freud das Subjekt als Orchestrator des Heims „entstellt“, verdrängt: „Das Ego ist nicht länger Herr im eigenen Haus.“ In Schatten dringt die Figur des Schattenspielers mit ihrer Tasche kinematographischer Apparate auf unheimliche Weise in die Szenerie des Hauses ein, um ihren Teil zur Kontrolle der Repräsentation beizutragen, die im Wesentlichen in der Repräsentation der Repräsentation besteht. Der Außenstehende, der Fremdartige, orchestriert nicht bloß die Durchführung des Komplotts, sondern spielt eine Rolle bei der Konstruktion des Heims. Die Machenschaften des Schattenspielers (und anderer Figuren) zeigen, dass das Unheimliche keineswegs im Außen ist, sondern innen (oder, als Leinwände, daneben); immerhin ist die Repräsentation überall im Haus versteckt, überall (‚verhüllt‘) anwesend. In gewissem Sinne läuft die Repräsentation dann Amok: Die Grundfeste bietet keine Grundlage für die Errichtung des Hauses. Im Gegenteil, die Hervorbringung ist ihr Fundament – und dieses Fundament ist eine Täuschung. Mit anderen Worten: Der unheimliche filmische Apparat kann nicht domestiziert werden, er kann nicht so leicht angepasst werden, als dass er qua Definition ‚in enger Verbindung mit oder zum Vorteil des Menschen leben‘ könnte; stattdessen sucht der gespenstische, heim-liche Filmapparat die Privatsphäre heim. In Schatten findet der Prozess der Repräsentation, der Inszenierung des Spektakels, kontinuierlich Widerhall in der Arbeit des kinematographischen Apparates als Täuschung – nicht um dem Zuschauer wiederholten Zugriff auf ‚die unendlichen Tiefen der Leinwand‘ zu gewähren, sondern um diese Täuschung hervorzuheben, nämlich die Illusion, dass sich hinter der Repräsentation eine Tiefe verbirgt und die Repräsentation folglich die Wahrheit abschirmt. Dazu braucht man bloß jene Szene zu betrachten, in der der Ehemann sieht, und zugleich nicht sieht, wie die Kavaliere seine Frau liebkosen. Hier sind die Schatten auf dem Vorhang – der Leinwand – nicht bloß einfache Projektionen der Frau und der Kavaliere: Im Unterschied zum Grafen wissen wir insgeheim, dass es sich um verzerrte Projektionen handelt. Die Wahrheit jedoch verbirgt sich nicht hinter diesen Verzerrungen: Während das ursprüngliche Spektakel projiziert wird, hallt die eine Verstellung in der anderen wider, und es wird deutlich, dass auch der Diener in diesen Vorgang verwickelt ist. Abschließend möchte ich die aufkommende Frage der Wiederholung genauer betrachten. Neil Hertz spricht dieses Problem in einem Essay mit dem Titel „Freud und der Sandmann“ an, wenn er auf Grundlage eines Zitats von Freud Folgendes behauptet:

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Das Gefühl des Unheimlichen entstünde demnach durch das Erinnertwerden an den Wiederholungszwang, nicht durch die Erinnerung an was auch immer wiederholt wird. Unheimlich ist das Bewußtwerden des Vorgangs, nicht das Bewußtwerden irgendetwas Unbewußten, das, einst vertraut, dann unterdrückt, nun ins Bewußtsein zurückgelangt.29

Hertz zufolge möchte Freud das originäre Heim, das ursprüngliche Ereignis; seine „‚Überstabilisierung‘“30 von Hoffmanns Erzählung verlagert dieses Heim und entblößt das einst Vertraute, den Kastrationskomplex. Zudem wiederholt Freud die Erzählung in einer Weise, die die verschlungene Machart der Narration vernachlässigt, wenn nicht gar ausspart. Für Hertz manifestiert sich das Unheimliche daher in der Spannung zwischen dem, was er die „Register des Psychisch-Dämonischen und des Literarischen“ nennt. Allerdings behauptet Hertz, dass das Problem bei Freuds Ansatz darin besteht, dass er „zu einer Verharmlosung der Erzählung gerade dadurch [führt], daß er ihre dunkle, dämonische Seite hervorkehrt.“31 In Freuds Szenario kann das heimische Ungeheuer dann aber erfolgreich herausgeschnitten werden. Hertz möchte von der heim-lichen Positionierung des Texts (der verharmlosenden Domestizierung des Texts) abrücken; er verortet das Unheimliche in der Verhüllung der textuellen Machenschaften. Diese Art von Spannungen sind genau die, die in Schatten am Werk sind. Sie können vielleicht am deutlichsten veranschaulicht werden, indem man sich auf ein anderes Konzept stützt, das Hertz in Bezug auf den Wiederholungsprozess diskutiert: die mise en abyme. Auf einen Aspekt weist er dabei besonders hin: „Schriftsteller oder Maler können die Illusion eines unendlichen Zurückgehens heraufbeschwören, indem sie ihrem Werk ein Werk einverleiben, das die größere Struktur en miniature wiederholt, wodurch eine scheinbar unendliche metonymische Serie entsteht“.32 Die Darstellungsweisen sind von Anfang bis Ende in Schatten eingeschrieben; der sicherste Ort, das Heim, wird im Verlauf des Films vom modernen, technischen Medium durchquert. Im Versuch, das Unheimliche zu domestizieren, können die Machenschaften des Schattenspielers als teuflisch, fremd, unheimlich gelesen werden, ebenso wie das erschreckende Spiel-im-Spiel, in dem die unkontrollierbare Frau, die die Gefahr der Kastration verkörpert, nicht nur von einem, sondern gleich von 29  30  31  32 

Neil Hertz, „Freud und der Sandmann“, in: ders., Das Ende des Weges. Die Psychoanalyse und das Erhabene (1985), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Isabella König, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001 (= edition suhrkamp 1939), S. 127–156, hier S. 132 f. Ebd., S. 136. Ebd., S. 146. [Meine Hervorhebung, E. R.] Ebd., S. 144.

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drei Schwertern durchbohrt wird. Darüber hinaus reitet der Schattenspieler am Schluss des Film auf dem Rücken eines Schweins davon, während sich eine Frau im Hof bekreuzigt; ein kaum verhüllter Versuch, den Schattenspieler als eine schauerlich übernatürliche Figur zu kennzeichnen. Überdies überträgt die englische Übersetzung den deutschen Titel Schatten, indem sie diesen „Warning Shadows“ tauft, und dem Text auf diese Weise einen sinisteren, moralistischen Ton verleiht. Wie es scheint, kann das Heim zur Bühne für die Inszenierung einer warnenden Geschichte werden, indem sie die Schatten dämonisiert, um den Text paradoxerweise so zu verharmlosen, dass das Heim intakt bleibt. Und dennoch ist dies nicht der Fall. Um die Monster in Schatten auszuschalten, müsste die Übertretung (der Flirt des Ehepaares mit dem Moralkodex, mit dem unbewussten Begehren) durch eine weitaus bedrohlichere, weitaus unheimlichere Übertretung ersetzt werden: die Verwerfung des immer schon verworfenen Heims. Aber die Wiederholung der Metaphern der „Inszenierung“ macht diese Ersetzung machtlos und verlagert die Frage nach dem Unheimlichen. Die ständige Einbettung und Wiedereinbettung der Darstellung räumlicher Parameter im Verlauf der Erzählung setzt die von Hertz beschriebene metonymische Reihe ins Werk – eine mise en abyme –, die tatsächlich endlos erscheint; die Ungeheuer können nicht gebannt werden, ohne Spuren im Haus zu hinterlassen. Ein möglicher Einwand gegen meinen Umgang mit diesen Texten könnte damit anheben, auf die Probleme hinzuweisen, die sich dadurch ergeben, so zu tun, als ob das Ende von Schatten keine starke Tendenz zur Wiedergutmachung hätte. Warum aber bleibt, nachdem das Spiel-im-Spiel vorüber ist und die Vorhänge von den Fenstern zurückgezogen werden, immer noch ein Gefühl des Unbehagens, von etwas Unheimlichem, das nicht aus dem Haus zu vertreiben ist? Es gab diesen Moment, an dem das kinematographische Medium gewaltsam in die Privatsphäre eingedrungen ist und so die Unbeständigkeit und widersprüchlichen Strukturen offenbart hat, die in ihren Grundfesten hausen. Der Amoklauf des Bildes (und mit ihm der Amoklauf des kinematographischen Apparates und mit ihm der Amoklauf der weiblichen Sexualität) entzieht dem Herrn im Haus und mit ihm dem männlichen Kontrollblick die Grundlage. Im gleichen Maße wie das Private wird in Schatten auch der kinematographische Apparat, dasjenige, was sich in der Regel hinter der Szene abspielt und verborgen bleibt, ans Licht gezerrt, aber nicht, um auch diese Räume noch durch die Art und Weise, wie sie gezeigt werden, zu erobern und zu kontrollieren. Die Kamera, die Beleuchtung, die Kadrierung, die Leinwand, der Blick usw. werden ebenfalls regelrecht ausgestellt und geben so zu erkennen, wie die Filmtechnik die materielle Wirklichkeit herrichtet, indem sie sich

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gleichzeitig im Prozess der Illusionsbildung versteckt. Kommt hinzu, dass die Ordnung auch deshalb nicht wiederhergestellt werden kann, weil, wie sich herausstellt, das Unheimliche Teil des Zuhause ist: oder, mit anderen Worten, die Repräsentation wird dem Präsens immer schon vorausgegangen sein, das Außen ist das Innen. Zu (un)guter Letzt, trotz der mise en abyme, kann man nicht vernachlässigen, was sich im Abseits abspielt: Die schiere Gegenwart schräger Bilder – die Schatten, die kinematographischen Utensilien, die Technik und die menschlichen Figuren – lenken die Aufmerksamkeit auf die Gespenster des Halbdunkels, die in den Wänden, Strukturen und Grundfesten des Zuhause hocken. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Martin Stingelin unter Mitarbeit von Tobias Lachmann

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Warum Schatten im Kerzenlicht nicht flackern. Eine kleine nachträgliche Zerstreuung Martin Stingelin Der Schatten: Aber die Schatten sind schüchterner, als die Menschen: du wirst Niemandem mittheilen, wie wir zusammen gesprochen haben! Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten (1880)1

Was ist ein ‚Schatten‘? Kein Kunstwerk hat diese Frage dringlicher gestellt als Arthur Robisons Film Schatten. Eine nächtliche Halluzination (1923), wie Ellen Risholms voranstehender Beitrag eindrücklich belegt. Eine kleine Kulturgeschichte des Schattens könnte hier möglicherweise auf Ab-, wenn nicht gar Irrwege führen.2 Zu erinnern wäre aber als Orientierungshilfe daran: Kein Schatten ohne Licht, wie ein Blick in jenes Zeitalter zeigt, das auf Französisch schon in der Epochenbezeichnung sein intimes Verhältnis zu den Quellen des Lichts anzeigt: le siècle des lumières3 – also nicht das uns in vielerlei Hinsicht näherstehende Jahrhundert des Kinos, des Licht- und Schattenzaubers der Gebrüder Auguste und Louis Lumière, sondern die beinahe schon vergessene Aufklärung. Gerade die Spätaufklärung, zu der noch Robisons Film zu rechnen ist und wie sie durch Denker wie Georg Christoph Lichtenberg und Christoph Martin Wieland verkörpert wird, zeichnet sich 1  Friedrich Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten (1880), in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York: Walter de Gruyter 1980, Band 2, S. 535–704, hier S. 539. 2  Vgl. etwa Ernst  H.  Gombrich, Schatten. Ihre Darstellung in der abendländischen Kunst (1995), aus dem Englischen übersetzt von Robin Cackett, Berlin: Klaus Wagenbach  2009 (= SALTO  160); Victor  I.  Stoichita, Eine kurze Geschichte des Schattens (1997), aus dem Französischen übersetzt von Heinz Jatho, München: Wilhelm Fink  1999 (= Bild und Text); Roberto Casati, Die Entdeckung des Schattens. Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung (2000), aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden, Berlin: Berlin Verlag 2001. 3  Vgl. Rolf Reichardt, „Lumières versus Ténèbres. Politisierung und Visualisierung aufklärerischer Schlüsselwörter in Frankreich vom XVII. bis zum XIX. Jahrhundert“, in: ders. (Hrsg.), Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte, Berlin: Duncker & Humblot  1998 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 21), S. 83–170.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_022 .7

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durch jenes Zwielicht aus, das die Aufklärung auf sich selbst zurück- und damit einen doppelten Schatten wirft: Aufklärung ist hier immer zugleich Aufklärung über die Aufklärung, ein Projekt, an das etwa Friedrich Nietzsche und in seinem Anschluss Michel Foucault und Gilles Deleuze unmittelbar angeknüpft haben.4 Daher das Doppelspiel zwischen Licht und Schatten, das sich in zahlreichen Aphorismen und Aufklärungsschriften etwa von Lichtenberg und Wieland,5 aber auch in Robisons Film findet, denn dieser stellt, unvoreingenommenen Blickes, vorab die Frage: Warum flackern die vom Schattenspieler augenscheinlich durch Kerzenlicht erzeugten Schatten in diesem Film nicht? Die Schlüsselszene6 zeigt unseren Schattenspieler, wie er mit dem Gotteshauch spielt, den von ihm durch das Kerzenlicht an die Wand projizierten Schatten Leben einzuhauchen, indem er sein Publikum gleichzeitig hypnotisiert, um dessen Langeweile zuvorzukommen, während zwar noch erotische Zwischenspiele und Eifersuchtständeleien möglich scheinen, aber: Das sich anschließende Schattenspiel, wie es durch Kerzen hervorgezaubert zu sein scheint, setzt sich fort: Die Schatten eines Schattenspiels, auch des Schattenspiels in Schatten. Eine nächtliche Halluzination, flackern nicht. Das Wort ‚Schattenspieler‘ – hier bleibt das Grimmsche Wörterbuch auf insgesamt weniger als einer Spalte für die Lemmata ‚Schattenspiel‘, ‚Schattenspieler‘ und ‚Schattenspielerei‘7 schattenhaft stumm – hätte wohl ebenso Samuel Becketts Bewunderung für den Ausdrucksreichtum der deutschen Sprache gefunden, wie er sie ausdrücklich am Beispiel der Prosodie von ‚Son-nen-unter-gang‘ betont hat, indem er die absteigende Kadenz nahezu sängerisch vortrug, oder am Beispiel von ‚Zwei-fel‘, den er mit gespreiztem Daumen und Zeigerfinger für die Zwei illustrierte. Unser Schattenspieler spielt seinem Publikum durch die von ihm an die Wand geworfenen Schatten mit,

4  Vgl. Verf., „Kriegerische und kämpferische Lektüre. Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und Gilles Deleuze“, in: „… und Nietzsche und …“. Neue Rundschau 111 (2000), H. 1, S. 77–81. 5  Vgl. Verf., „Der Schatten der Rhetorik. Zu Christoph Martin Wielands Satire ‚Der Prozeß um des Esels Schatten‘“, in: Matthias Götz, Bruno Haldner und Matthias Buschle (Hrsg.), Schatten, Schatten. Der Schatten – das älteste Medium der Welt, Basel: Museum für Gestaltung Basel/Schwabe Verlag 2003, S. 96–106. 6  Schatten. Eine nächtliche Halluzination (D 1923, R: Arthur Robison, K: Fritz Arno Wagner, B: Albin Frau, Rudolf Schneider und Arthur Robison), ZDF/ARTE. DVD, Fridolfing: absolute MEDIEN 2016, 30:40 ff. 7  Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Achter Band: R–Schiefe (1893), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, Band 14, Sp. 2266–2267 (es lohnt sich aber die Fortsetzungslektüre, welche Komposita mit ‚Schatten‘ die deutsche Sprache unserem Schatz sonst noch geschenkt hat).

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indem er ihm dabei hypnotisch die diesem Publikum selbst unbewussten Projektionen vor Augen führt. Die naheliegendste Erklärung dafür, warum die durch Kerzenlicht erzeugten Schatten nicht flackern, wäre, jedenfalls im Licht eines ‚realistischen‘ Kunstverständnisses, wohl filmtechnischer Natur: Die Belichtungsvoraussetzungen der Zeit gewährleisten noch nicht, die vermeintlich durch Kerzenlicht erzeugten Schatten tatsächlich, jedenfalls nicht in ‚glaubhafter‘ Illusion, ‚flackern‘ zu lassen. Aber was heißt ‚flackern‘? Hier bleibt das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm noch stummer als zum ‚Schattenspieler‘.8 Der im Schatten eines Kerzenlichts flackernde Schatten scheint der Schatten seiner selbst zu sein. In Tat und Wahrheit wird gerade durch den Umstand, dass die Schatten in Schatten. Eine nächtliche Halluzination nicht flackern, die von Ellen Risholm herausgearbeitete ‚Unheimlichkeit‘ aufs nachdrücklichste betont, indem das Eigenleben der Schatten, das selbst Freud als solches nicht genug hervorgehoben hat, um so deutlicher in den Vordergrund tritt: Sie haben sich von der Quelle ihrer Hervorbringung gänzlich unabhängig gemacht. Man täusche sich aber nicht über den Preis hinweg, den diese hier vorgeschlagene Deutung wiederum rückwirkend filmästhetisch für das Kunstwerk Schatten. Eine nächtliche Halluzination bedeutet: Letztlich steht auch der vermeintliche Manipulator, unser Schattenspieler, der doch – als Trickster, der die Oberklasse überlistet – im Verlaufe des Films so viele unserer Sympathien gewonnen zu haben schien, im Schatten der Schatten. Trauen Sie, nachdem Sie Schatten. Eine nächtliche Halluzination zu Ihrer Zerstreuung gesehen haben, Ihren Augen noch?

8  Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Dritter Band: E–Forsche (1862), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, Band 3, Sp. 1706.

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(Literarische) Zerstreuung und Resistenz: Thomas Pynchons Vineland Tobias Lachmann Eine der wiederkehrenden Überlegungen in Ute Gerhards Arbeiten zur (literarischen) Ästhetik der Zerstreuung kreist um den Nexus des Macht/ Wissens und die Frage nach Subjektivierungsweisen, die es den Individuen ermöglichen, den Anrufungen der Macht zu trotzen.1 Die politische Dimension dieser Überlegungen betrifft den Zusammenhang zwischen Zerstreuung und Widerständigkeit. So veranschaulicht Gerhard am Beispiel von Siegfried Kracauers anonym publiziertem Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben,2 inwiefern „[d]ie literarische Inszenierung der topographischen Ausschweifung und der Zerstreuung, die innerhalb des diskursiven Raums der Macht den produktiven Tendenzen und Fluchtlinien nachgeht,“ daran erinnert, „daß die bekannte und viel diskutierte Aussage Foucaults, es gebe keinen Ort außerhalb der Macht, nicht automatisch Verzicht auf Widerständigkeit und Interventionen zur Folge haben muß.“3 Die ästhetische Dimension geht dabei aus einer detaillierten Analyse jener literarischen Verfahren hervor, durch die es Kracauer gelingt, Ginster als eine ambivalente Figur zu konstituieren, deren irritierende Widerständigkeit darin besteht, dass es ihr immer wieder gelingt, sich den Technologien der Adressierung, Identifizierung und Subjektivierung zu entziehen, die für die moderne Macht kennzeichnend sind. Schon an Ginster kann man ablesen, dass dieser Machttyp dazu neigt, sich zunehmend zu flexibilisieren, dabei sukzessive von den Disziplinierungsformen des 18. und 19. Jahrhunderts abzurücken und sich in das Gewand von „ultra-schnellen 1  Ein theoretischer Bezugspunkt ist dabei Louis Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, in: ders., Gesammelte Schriften, herausgegeben von Frieder Otto Wolf, Band 5/1. Halbband: Michel Verrets Artikel über den „studentischen Mai“, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Notiz über die ISAs, Hamburg: VSA  2010, S.  37–102. Bzgl. der Begriffe „Identifikation“, „Gegenidentifikation“, „Entidentifizierung“, vgl. zudem Michel Pêcheux, „Zu rebellieren und zu denken wagen! Ideologien, Widerstände, Klassenkampf. Teil  1“, in: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 5 (1984), S. 61–65. 2  (Siegfried Kracauer), Ginster. Von ihm selbst geschrieben, Berlin: S. Fischer 1928. 3  Ute Gerhard, „Siegfried Kracauers Ginster – ein Text zur ‚Zerstreuung‘. Versuch über nomadische Diskursformen“, in: Gabriele Cleve, Ina Ruth, Ernst Schulte-Holtey und Frank Wichert (Hrsg.), Wissenschaft Macht Politik. Interventionen in aktuelle gesellschaftliche Diskurse. Siegfried Jäger zum 60. Geburtstag, Münster: Westfälisches Dampfboot 1997, S. 139–152, hier S. 150.

© Wilhelm Fink Verlag, 2021 | doi:10.30965/9783846763483_023 .7

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Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“ zu kleiden.4 Das historische Apriori dieser Normalisierungsmacht ist die Sammlung von Daten, mittels derer sich moderne Gesellschaften analytisch durchdringen. Durch neue statistische Methoden und technologische Entwicklungen wird sie immer rasanter und umfassender. Was Kracauers Roman in diesem Zusammenhang so interessant macht, ist, dass er es vermag, im elaborierten literarischen Interdiskurs eine Position zu etablieren, die sich all dem widersetzt, die entschieden anti-hegemonial perspektiviert ist und sich zugleich im Jenseits jedweder Dichotomisierung bewegt. Wenn sich interdiskursive Formen im Unterschied zu Spezialdiskursen dadurch auszeichnen, dass sie das sektoriell zerstreute Wissen einer Gesellschaft integrieren und durch die Produktion von literarischen Applikationsvorgaben subjektivieren, dann ist mit Ute Gerhard zu konstatieren, dass sich die „Applikationsenergie“ eines Textes wie Ginster nicht in den üblichen „identifikatorischen Effekten“ bündelt, sondern dass er seinerseits zur „diskursiven Zerstreuung und Vermischung“ anstiftet.5 Dementsprechend sind es diskursive Verfahren wie die Imagination einer Position der Exterritorialität, die Umwertung und Akzentuierung von Ambivalenzen, die gewitzte Kombination heterogener semantischer Paradigmen, die narrative Expansion der zeitgenössischen Kollektivsymbolik oder die Dezentrierung und Pluralisierung der Narration, die Ginster zu einem Text der Zerstreuung machen. Nicht zuletzt wird an der Auseinandersetzung mit Kracauers Text deutlich, dass Ute Gerhards Interesse an nomadischen Diskursformen Ausdruck einer geistigen Beweglichkeit ist, die in den 1990er Jahren unter dem Schlagwort der „Nomadologie“6 an einigen Orten zumindest für eine gewisse Zeit für progressive Tendenzen in den Kulturwissenschaften sorgte, bevor auch dieses Projekt sukzessive ‚normalisiert‘ wurde. Gerhard hat dem nomadischen Denken wichtige methodische Impulse gegeben, etwa indem sie im Anschluss an Walter Benjamin stets betont hat, dass die Geschichte „Gegenstand einer 4  Gilles Deleuze, „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“, in: ders., Unterhandlungen.  1972–1990 (1990), aus dem Französischen übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 (= edition suhrkamp 1778) S. 254–262, hier S. 259. 5  Gerhard, „Kracauers Ginster“ (Anm. 3), S. 150. 6  Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, „Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine“, in: dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (1980), aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1992, S. 481– 585. Zur produktiven Rezeption der Nomadologie vgl. die im Rahmen des „Steirischen Herbsts“ entstandenen Bände auf, auf und davon. Eine Nomadologie der Neunziger, Graz: Droschl 1990 (= herbstbuch 1); ENTDECKENVERDECKEN. Eine Nomadologie der Neunziger, Graz: Droschl 1991 (= herbstbuch 2); America nowhere. Eine Nomadologie der Neunziger, Graz: Droschl 1992 (= herbstbuch 3).

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Konstruktion“ ist,7 und die Momente ihrer „Erfassbarkeit oder Erzählbarkeit“ damit nicht einfach gegeben sind.8 Vielmehr müssen sie durch entsprechende Erzählweisen eigens hervorgebracht werden. Dabei treten Vergangenes und Gegenwärtiges in eine ebenso spannungsreiche wie erhellende Konstellation: „Historisches Erinnern als produktives Moment des Zusammentreffens von Gegenwärtigem und Vergangenem ist vielmehr durch Ereignishaftigkeit und damit durch Diskontinuität gekennzeichnet, die alle Kontinuierungen durchkreuzt.“9 Wie aber manifestiert sich eine solche ‚Ereignisgeschichte‘ medial? Benjamin zufolge ist es „[d]as im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzende Bild der Vergangenheit“, oder, anders gesagt, das „Erinnerungsbild“,10 das ebenso spontane wie unwillkürliche Effekte zeitigt. Dazu Gerhard: Bild und Konstellation stehen auf diese Weise vor allem in Opposition zum Kontinuum einer sich linear und kausal nach dem chronologischen Prinzip des Vorher/Nachher ordnenden Geschichte. In diesem Sinne lässt sich auch die ‚Unordnung‘ als ‚Bildraum des unwillkürlichen Eingedenkens‘ verstehen und die Gegenüberstellung von Bild und ‚Verlauf‘, die Benjamin an anderer Stelle betont. Die Diskontinuierung als Auflösung des ‚epischen Moments der Geschichte‘ bezieht sich aber nicht nur auf das zeitliche chronologische Prinzip, sondern auch auf die damit entstehenden Einheiten, auf die ‚Epochen‘ als homogene Zeiträume. Denn während durch die Konstellation die Vergangenheit zum einen als störender Faktor der Gegenwart fungiert […], so zerstört zum anderen die Gegenwart wiederum die Vergangenheit in ihrer Homogenität.11

Fragt man nach Schreibweisen, die es vermögen, diese Einsichten in die literarische Praxis zu überführen, so stößt man unweigerlich auf die Arbeit mit Fundstücken, also mit Diskursfragmenten, die das geeignete Material für eine „literarische Montage“ darstellen. Sie gilt es, im Raum der diskursiven Streuung von Aussagen – in welcher medialen Form sie auch immer vorliegen 7 

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11 

Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor  W.  Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band I.2: Abhandlungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931), S. 691–704, hier S. 701. Ute Gerhard, „Das symbolische Modell der zerstreuten Masse“, in: Jour Fixe Initiative Berlin (Hrsg.), Geschichte nach Auschwitz, Münster: Unrast  2002, S.  207–220, hier insbesondere S. 207–210, hier S. 207. Ebd., S. 209. Walter Benjamin, „Anmerkungen zu ‚Über den Begriff der Geschichte‘“, in: ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor  W.  Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band  I.3: Abhandlungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931), S. 1223–1266, hier S. 1243. Gerhard, „Das symbolische Modell“ (Anm. 8), S. 210.

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mögen – zuallererst aufzufinden, oder besser und im Sinne Benjamins gesagt: aufzupicken wie jene „Lumpen“ und jenen „Abfall“, aus denen er im Passagen-Werk seine historische Untersuchung der Kultur des 19. Jahrhunderts konstruiert, um nicht zu sagen ‚zusammenflickt‘.12 Ein über solche Konstellationen generierter Text ist nicht länger bloß ästhetisch, sondern Teil einer politischen Praxis, die den historischen Blick schult und dabei neue Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen hervorbringt. Eine solche Schreibarbeit ist genealogisch orientiert und braucht die Medienkonkurrenz nicht zu scheuen. Aufgrund ihrer generativen Orientierung vermag sie es, „im Schatten der elektronischen Rhythmen und Sounds, inclusive der Bilderrhythmen und Bildersounds, auf dem Klavier des Schreibens weiter- und mitzuklimpern. Das wäre dann […] prinzipiell montierbar, an- und einkoppelbar in Medienverbünde.“13 Bezogen auf Ästhetik und Politik wirkt dieses Zusammenspiel von diskursiver Zerstreuung und literarischer Verdichtung wechselseitig vernetzend; und zwar in beide Richtungen zugleich: als Ästhetisierung des Politischen und Politisierung der Ästhetik. Ute Gerhard möchte Ihre Arbeiten als „Anregung für die weitere Spurensuche“ verstanden wissen.14 Während sich ihre eigenen Studien aus naheliegenden Gründen auf das frühe 20. Jahrhundert konzentrieren, soll hier daher ein Beispiel aus dem späten 20. Jahrhundert diskutiert werden, das sich auf die revolutionären Ereignisse rund um das Datum ‚1968‘ bezieht und ein eigenständiges Modell für den adäquaten Umgang mit der Geschichte entwickelt. Zu einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Unruhen der Nachkriegszeit in den USA längst in das Kontinuum der Fortschrittsgeschichte einer Nation eingespeist sind, und allenfalls den Stoff historisierender Fernsehdokumentationen abgeben, betont dieser Text die Einsicht, dass die Geschichte aus einer Vielzahl von Geschichten gemacht wird, und bemüht sich in seiner eigenen narrativen Konstituierung des Historischen mit den Mitteln der Literatur um eine entschiedene Pluralisierung und Dezentrierung dieser Perspektive. Um der Normalisierung von ‚1968‘ entgegenzuwirken, entwickelt er in unmittelbarer Auseinandersetzung mit den wirkmächtigen 12 

13  14 

Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien“, in: ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor  W.  Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band  V.1: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main: Suhrkamp  1974 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 935), S. 79–654, hier S. 574. Jürgen Link, „Schreiben als Simulieren? Schreiben gegen Simulieren? Über Literaturkonzepte, ihre gesellschaftlichen Funktionen und das Kreative Schreiben“, in: Diskussion Deutsch 21 (1991), H. 116, S. 600–612, hier S. 606. Gerhard, „Kracauers Ginster“ (Anm. 3), S. 140.

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Bildmedien seiner Entstehungszeit innovative literarische Darstellungsweisen, die das Vergangene in veränderter Weise auf die Gegenwart beziehen. Durch die veränderte Wahrnehmbarkeit der historischen Prozesse wird schließlich auch eine politische Intervention möglich, die sich gegen revisionistische Tendenzen in der Geschichtsschreibung wendet. Es handelt sich hierbei um Thomas Pynchons Prosatext Vineland.15 1990 – und damit siebzehn Jahre nach Gravity’s Rainbow16 – erschienen, erfährt dieser Text eine eigenartige Rezeption.17 Obwohl sich die Kritik einer Vielzahl unterschiedlicher Aspekte rund um das ‚postmodern‘ genannte Schreiben widmet, folgt sie insgesamt dem Diktum Salman Rushdies, der Vineland in einer frühen Rezension für die New York Times Book Review als „die zugänglichste Schreibarbeit“ bezeichnet, mit der der alte ‚Invisible Man‘ jemals herausgekommen ist.“18 Ganz in diesem Sinne stricken auch die übrigen Stimmen tüchtig mit an der Legende vom in die Jahre gekommenen Autor, der einen elegisch-sentimentalen, wenn auch ironisch gebrochenen Blick zurück auf die 1960er Jahre wirft und stark dazu neigt, diese Zeit zu romantisieren. Als nostalgisch wird der Text, der ansonsten als der am leichtesten zu lesende Pynchons und als linear erzählt präsentiert wird, dabei auch in formaler Hinsicht gewertet, etwa wenn ihm die bloße Wiederholung der immer gleichen Topoi unterstellt oder gar ein enttäuschender poetologischer Rückschritt attestiert wird.19 Die Pointe daran ist, dass diese Lektüren selbst identifikatorisch verfahren, indem sie auf etwas rekurrieren, was sie als ‚pynchonesk‘ wiederzuerkennen vermeinen, während sie die eigentlichen Innovationen übersehen.20 15  16  17 

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Thomas Pynchon, Vineland, Boston, London und Toronto: Little, Brown and Company 1990. Thomas Pynchon, Gravity’s Rainbow, New York: The Viking Press 1973. Einen Überblick über die Rezeption vermitteln die Beiträge des Themenhefts Vineland. Critique. Studies in Contemporary Fiction XXXII (1990) H. 2. Insgesamt scheint der Text dabei erkennbar im Schatten von Gravity’s Rainbow zu stehen. In einer bekannten Reihe wie dem Cambridge Companion wird Vineland nicht einmal ein eigenes Kapitel gewidmet. Vgl. Thomas Hill Schaub, „The Crying of Lot 49 and other Californian Novels“, in: Inger H. Dalsgaard, Luc Hermann und Brian McHale (Hrsg.), The Cambridge Companion to Thomas Pynchon, Cambridge: Cambridge University Press 2012, S. 30–43. Salman Rushdie, „Thomas Pynchon“, in: ders., Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken  1981–1991 (1991), aus dem Englischen übersetzt von Gisela Stege, München: Kindler 1992, S. 409–415, hier S. 409. Vgl. Frank Kermode, „That Was Another Planet“, in: London Review of Books 12 (1990), H. 3, S.  3–4, sowie Brad Leithauser, „Any Place You Want“, in: The New York Review of Books (15. 03. 1990), S. 7–10. Hanjo Berressem ist sich dieser Problematik wohl bewusst, denn er proklamiert: „Rather than deal with these variations of old, familiar themes, I will try to trace what is new in

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Im Unterschied zu dieser Rezeption möchte ich im Folgenden eine Lesart vorschlagen, die Vineland als einen Text über und einen Text der Zerstreuung und Resistenz gleichermaßen analysiert. Meinen Beobachtungen zufolge lassen sich die Prinzipien von Zerstreuung und Resistenz in allen generativen Subsystemen des Textes nachweisen, auf den Ebenen der histoire genauso wie auf den Ebenen des discours. Ja, mehr noch, aus meiner Sicht zeigt sich, dass es dem Text sogar gelingt, die Grenze zwischen mots und choses, also die Trennung zwischen der diskursiv verfassten Welt und der ‚wirklichen Welt‘ der Geschichte, verstanden als dem aus einem komplexen Geflecht von Ereignissen und Handlungen hervorgehenden historischen Prozess, verschwimmen zu lassen, indem er Fiktion und Zeitgeschehen kontinuierlich überblendet. Dies ist möglich, weil der Text auf bemerkenswerte Weise auch die medialen Voraussetzungen von Literatur im elektronischen Zeitalter mitreflektiert. Wie zu zeigen sein wird, stützt sich diese Reflexion auf Verfahren der Diskontinuierung, die das epische Moment der Geschichte zerstreuen und mit literarischen Mitteln tatsächlich einen vielfach ineinander verschachtelten „Bildraum des unwillkürlichen Eingedenkens“ hervorbringen. Diese Lesart gilt es, im Folgenden zu plausibilisieren. In Vineland wird, von der Warte des Orwell-Jahres 1984 aus, ein Blick auf die As-Sociation und Dis-Sociation21 der anti-hegemonialen Protestbewegung der 1960er Jahre geworfen. Wie schon in Gravity’s Rainbow folgt das Prosaprojekt dabei dem Verfahren der „Daten-Rückverfolgung“22 und damit dem Versuch einer Ontologie der Gegenwart als Analyse unseres historischen Gewordenseins, wie sie unter dem Vorzeichen einer „Geschichte der Denksysteme“ auch Michel Foucault betrieben hat. Beiden Projekten gemein ist ihre Kairologie, wie Jürgen Link sie genannt hat, da beide der „Aktualität des historischen Moments (Kairos) mit seinem Ereignis-Charakter zwischen szientifischer, tendentieller Gesetzmäßigkeit und kontingenter Singularität nachspüren“.23 Auf diesen Aspekt, der sich an der sagittalen Ausrichtung auf die Aktualität manifestiert und eine darüber hinausweisende prognostische

21  22  23 

Vineland.“ Hanjo Berressem, Pynchon’s Poetics. Interfacing Theory and Text, Urbana und Chicago: University of Illinois Press 1993, S. 206. Ob es aber eine von Lacan inspirierte Lesart ist, die es vermag, die literarischen Innovationen von Vineland adäquat zu erfassen, bleibt fraglich. Zu As-Sociation und Dis-Sociation vgl. as-sociation und interdiskurs. kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie 38/39 (1999). Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Roman (1973), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elfriede Jelinek und Thomas Piltz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt  1981 (= das neue buch 112), S. 909. Jürgen Link, Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht  2018, S.  19. Zur Kairologie vgl. ferner

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Kapazität für die Zukunft impliziert, wird noch zurückzukommen sein. Ganz ähnlich wie das Projekt Foucaults verknüpft der literarische Text eine archäologische mit einer genealogischen Dimension. Die archäologische Dimension besteht dabei in der „Erschließung und Beschreibung eines Datenraums,“24 der durch die Sedimentierung von Konfiguration und Handlung des Textes in eine Vielzahl von (kontingenten oder intentionalen) Ereignissen erzeugt wird, die sich auf den unterschiedlichen ‚historischen‘ Ebenen der histoire ansiedeln und darüber komplexe Konstellationen erzeugen. Die genealogische Dimension hingegen ergibt sich aus der Art und Weise, wie diese unterschiedlichen Ebenen und Elemente im discours narrativ miteinander vernetzt werden. Dabei ist die Verknüpfung der historisch zurückliegenden Elemente mit den Phänomenen der Gegenwart von übergeordneter Bedeutung. Wie noch zu zeigen sein wird, äußert sich dies in Vineland unter anderem in einer Engführung von Fragen der politischen Geschichte Amerikas mit der medialen Evolution von Filmkunst und Rock ’n’ Roll-Musik, die über die mehrdeutige Kategorie der „Generation“ in Bezug zur Konfiguration gesetzt werden. Dabei stehen nicht zuletzt unterschiedliche Formen der Subjektivierung im Mittelpunkt des Interesses, die anhand der einzelnen literarischen Figuren illustriert werden. Insgesamt geht es dabei aber weniger um eine ,Rekonstruktion‘ der Vergangenheit, als um die Frage nach der Relevanz des Vergangenen für das Gegenwärtige. Dementsprechend ist die Haltung, die der Text vertritt, auch die der kritischen Analyse von Regierungsformen,25 die Pynchons literarischem Projekt in diesem Dispositiv die Position eines Gegendiskurses zuweist. Transfenestration Der Text beginnt mit einem Ereignis, dass sich in Vineland alljährlich wiederholt, und er beginnt gewissermaßen gleich in medias res: In ein übergroßes „Partykleid“ mit einem „nostalgisch-hawaiianischen Pagageien- und

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Jürgen Link, „ereignis, zyklologie, kairologie. überlegungen nach foucault“, in: Spuren in Kunst und Gesellschaft 34/35 (1990), S. 78–85. Wolf Kittler, „Thermodynamik und Guerilla. Zur Methode von Michel Foucaults Archäologie des Wissens“, in: Trajekte. Newsletter des Zentrums für Literaturforschung Berlin  2 (2002), H. 4, S. 16–21, hier S. 17. „Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?“ Michel Foucault, Was ist Kritik? (1990), aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Berlin: Merve 1992 (= Internationaler Merve Diskurs 167), S. 11 f.

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Hulamädchen-Druck in Leuchtorange, fast ultraviolettem Purpur, etwas kreischigem Grün und einem zarten Hauch von Lila“ (21) gehüllt, springt Zoyd Wheeler medienwirksam durch die Fensterscheibe eines lokalen Rasthauses.26 Diese „Transfenestration“ (13) getaufte Aktion, bei der sich die Glasscheibe in zahllose Bruchstücke zerstreut, ist symbolisch gelesen worden: Als Pictura symbolisiert die Scheibe den Text selbst, „der gleich darauf zu Millionen verschiedener Erzählungsscherben zerplatzt“.27 Tatsächlich kann diese Lesart eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, präsentiert der Text seine Handlungselemente doch als eine kaum zu überschauende Fülle kleiner und kleinster Ereignisse, deren raumzeitliche Ordnung gesprengt erscheint, wobei sich ursprünglich miteinander verknüpfte Handlungselemente über die gesamte Textstruktur verstreut haben. Über die histoire hinaus ist dieser Umstand für den discours außerordentlich folgenreich, da der enormen Vielfalt an Narremen im récit ohne den exzessiven Gebrauch der Verfahren von Anachronie und Digression erzählerisch nicht beizukommen ist. So unkonventionell dieser Anfang anmuten mag, so vermittelt er doch eine Einsicht in das Zusammenspiel von Diegese, Konfiguration und Handlung als generativen Subsystemen der histoire einerseits, und récit und narration als Bestandteilen des discours andererseits: So wird zunächst einmal die erzählte Welt Vinelands mit ihren räumlichen Gegebenheiten skizziert; hier dem Schauplatz der Transfenestration, der „Cucumber Lounge“, einem berühmtberüchtigten Etablissement, dessen Dach „eine riesige grüne Neongurke mit blinkenden Warzen“ ziert, „die in einem Winkel aufgerichtet war, der bis auf ein oder zwei Grad ans Vulgäre reichte“ (19). Noch davor wird ein erster Weg Wheelers durch den rhizomatisch strukturierten Raum Vinelands, ein im Norden Kaliforniens angesiedeltes Rückzugsgebiet für die Reste der USamerikanischen Gegenkultur, beschrieben, in dem sich der alleinerziehende Vater als „Wanderdachdecker“ durchschlägt und gemeinsam mit seiner Tochter Prairie und ihrem Hund Desmond ein ‚Haus‘ bewohnt, das er sukzessive, und ohne dabei auf Baubestimmungen oder ähnliches zu achten, aus einem

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Vineland wird im Folgenden im Text zitiert nach der deutschsprachigen Ausgabe Thomas Pynchon, Vineland. Roman (1990), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Dirk van Gunsteren, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993. Englische Zitate folgen der Originalausgabe Pynchon, Vineland (Anm. 15). Rushdie, „Thomas Pynchon“ (Anm. 17), S. 411. Die in Klammern angefügte ‚Beobachtung‘ Rushdies, „(zum Schluß aber springen die Scherben alle wieder vom Boden auf und fügen sich auf wunderbare Weise zusammen, als werde der Film zurückgespult)“ (ebd.), erweist sich indes als unhaltbar und ist wohl dem Versuch geschuldet, der literarisch interessierten Öffentlichkeit einen antagonismusfreien Text schmackhaft zu machen.

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gebrauchten Wohnwagen durch unerlaubte Anbauten zu einer Art lebendem Organismus entwickelt hat. Auch im Hinblick auf die Konfiguration des Textes ist dieser erste Abschnitt bedeutsam. Wie für Pynchon üblich, besteht die Konfiguration aus einer schwer überschaubaren Anzahl an literarischen Figuren, bei denen zwischen Haupt- und Nebenfiguren ohne weiteres nicht unterschieden werden kann. So erscheint Zoyd Wheeler als Teil jener Masse, die in den 1980er Jahren unter der Reagan-Administration als die ‚Unfähigen‘ diskriminiert wurde. Als „Freigänger aus der örtlichen Nervenheilanstalt“ (21) entblödet er sich nicht, sich regelmäßig öffentlich zu erniedrigen, um „durch einen ausgeflippten Akt höheren Kalibers“,28 wie Klaus Theweleit es treffend sagt, sicherzustellen, dass seine Sozialhilfe auch weiterhin fließt. Neben einer Reihe weiterer Figuren, wie Zoyds „Kampfgefährte[n] bei so manchem Unfug“ (16), dem Bassisten und Kommunarden Van Meter, die dem gleichen sozialen Spektrum zuzuordnen sind, werden in der Anfangssequenz des Textes zugleich erste konfigurationskonstitutive Oppositionen angedeutet. So erscheint mit dem DEA-Fahnder Hector Zuñiga ein Vertreter der Staatsmacht auf der Bildfläche, mit dem Zoyd eine an „Tweety und Sylvester“ gemahnende „Romanze“ (30) pflegt, die bis auf die Zeit von Reagans Wahl zum Gouverneur Kaliforniens im Jahr 1967 zurückreicht: Auch wenn Hector von Zeit zu Zeit von einer comicgleichen Vernichtung Zoyds geträumt haben mochte, war ihm schon bald nach dem Beginn ihrer Bekanntschaft klar geworden, daß Zoyd einer von denen war, die zur Strecke zu bringen, er nicht die geringsten Aussichten hatte. Nicht daß er den Widerstand, den ihm Zoyd entgegensetzte, auf etwas wie moralische Integrität zurückgeführt hätte. Er sah die Ursache eher in schlichter Sturheit, flankiert von Drogenmißbrauch, ständigen psychischen Problemen und einer zaghaften Ahnungslosigkeit – vielleicht verbarg sich dahinter auch nur ein Mangel an Phantasie –, was die wahren Dimensionen eines jeden Deals im Leben anging, ob dabei nun Drogen im Spiel waren oder nicht. (ebd.)

Über Zuñiga, der als Mitglied der Drug Enforcement Administration seinerseits eine veritable Fernsehsucht entwickelt hat und aus einer entsprechenden Entzugsklinik getürmt ist, um ein nostalgisches Doku-Drama über die 1960er Jahre zu produzieren, das unter Beweis stellen soll, dass „die wahre Bedrohung Amerikas damals wie heute vom illegalen Drogenkonsum ausgeht“ (67), brechen die Geister der Vergangenheit in die Gegenwart der Erzählung ein. 28 

Klaus Theweleit, „Bemerkungen zum RAF-Gespenst. ‚Abstrakter Radikalismus‘ und Kunst“, in: ders., Ghosts: Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1998, S. 13–99, hier S. 89.

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Die Absurdität dieser die Handlung als Interaktionskette konstituierenden Ereignisse wirft dabei die Frage nach Kontingenz oder Intentionalität als Prinzipien der Handlungsmotivation auf. Informationen zu den ‚wahren‘ Hintergründen eines jeden Ereignisses müssen im Zeitraum der zerstreuten Handlung jedoch erst einmal ausgemacht werden. Als symbolisch wäre die Transfenestration aber vielleicht noch in einer anderen Hinsicht zu lesen: Einem traditionellen Topos zufolge werden Bildmedien mitunter als ‚Fenster zur Welt‘ bezeichnet. In diesem Kontext würde der Sprung durch die Scheibe die Sprengung der schützenden Trennung zwischen Innen und Außen symbolisieren. Zoyd hätte demzufolge die Erfahrung der Innerlichkeit durchbrochen, in die er sich einkapselt hat, nachdem ihn Prairies Mutter, die radikale Filmemacherin Frenesi Gates, verlassen hat, und wäre auf dem Vorplatz, um nicht zu sagen: Parkplatz, der ‚wirklichen Welt‘ gelandet. In jedem Fall wirft der Text die Frage nach der Wahrnehmung und Erfahrbarkeit einer hauptsächlich medial vermittelten Welt auf. Auch dies wird gleich in dieser ersten Handlungssequenz thematisiert, denn die außergewöhnliche Erzählweise des Textes äußert sich nicht bloß in Anachronie und Digression, sondern überdies auch in Strukturen der Wiederholung und Variation. Von der Transfenestration wird nicht als singuläres Ereignis erzählt. Zoyds „Überlebensinstinkte“ beruhen nämlich auf der Frage „Wo sind die Medien?“ (11). Und deshalb ist auch für eine entsprechende Berichterstattung gesorgt. Damit aber liegt eine iterative Erzählung des Fenstersprungs unter den variierenden Vorzeichen des Erzählerberichts, der zeitlich versetzt ausgestrahlten Berichterstattung durch ein lokales TV86-„Hot Shot“-Nachrichtenteam sowie den Formaten konkurrierender Kanäle aus dem Umland vor. Parallel zur ‚biographischen‘ Vergangenheit der Figuren öffnet sich damit zugleich eine medienhistorische Dimension, die in die Vergangenheit der Bildmedien Film und Fernsehen weist. Für diese Dimension spielen auch Zoyds stets gewagte, weil schreiend bunte Fummel eine Rolle: „Anschließend kamen die Highlights aus seinen früheren Versuchen, wobei die Farben mit jedem Schritt zurück in die Vergangenheit schlechter und die übrigen Produktionsdetails liebloser wurden“ (21), bevor die Berichterstattung mit der Podiumsdiskussion einer Fernsehexpertenrunde schließt, darunter ein Physikprofessor, ein Psychologe und ein Leichtathletiktrainer, live zugeschaltet von den Olympischen Spielen unten in Los Angeles, die die Entwicklung von Zoyds Sprungtechnik im Lauf der Jahre analysierten und zu einer grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Typus des defenestrativen, aus einem Fenster schlicht hinausspringenden, und dem der transfenestrativen, nämlich durch das Fenster hindurchzielenden Persönlichkeit gelangten, die ganz unvergleichbare psychische Subtexte aufwiesen. (21 f.)

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Mit dieser Satire auf die Ereignis-Fixiertheit der Programmmacher des US-Fernsehens der 1980er Jahre29 zerstreut sich die Aufmerksamkeit des Protagonisten der Transfenestration, der seiner eigenen Tat gemeinsam mit Prairie retrospektiv noch einmal als Beobachter seiner selbst beiwohnt. Die kommentierende Rezeption der Fernsehsendung durch die Figuren als Inszenierung von Dialogizität ist in ihrer Authentizität dermaßen paradigmatisch, dass sie die eigentlich zur Disposition gestellte Problematik zu verschleiern droht. Es geht dabei um die Frage nach dem Wahrheitsprinzip, also die Frage, inwiefern in einer medial bestimmten Welt authentische Erfahrung überhaupt (noch) möglich ist: Was ist ein Ereignis? Was ist ein Ereignis, wenn es sich als Teil einer Serie mehr oder minder identischer Ereignisse entpuppt? Was bleibt von der Ereignishaftigkeit eines Ereignisses, wenn es archiviert wird? Wann ist ein Ereignis aufgrund der ewigen Wiederkehr des Immergleichen kein Ereignis mehr? An Fragen wie diesen wird deutlich, dass Vineland mit Authentizität, Repräsentation und Simulation von Wirklichkeit eine Problematik in den Mittelpunkt rückt, die komplexer kaum sein könnte. Narratologisch wird dies über die Prinzipien von Wiederholung und Differenz realisiert: Wie all die Jahre zuvor, springt Zoyd auch im Jahr 1984 durch eine Fensterscheibe. Doch diesmal ist etwas anders: „In dem Augenblick, da er [die Scheibe] berührte, merkte er schon, daß irgendetwas nicht stimmte. Er spürte kaum einen Aufprall, und alles fühlte sich anders an und klang auch anders, kein Klirren und Vibrieren, auch kein lauter Krach, nur eine Art zartes, gedämpftes Splittern“ (18). Wie sich herausstellt, hat der Geschäftsführer der Cucumber Lounge die Fensterscheibe im Vorfeld der Aktion durch eine aus transparentem Zucker bestehende Stunt-Glasscheibe austauschen lassen. Die Frage nach Ereignis oder Simulation wird damit unentscheidbar. Denn wenn sich schon das ursprüngliche Ereignis als bloße Simulation entpuppt, was sollen dann erst seine medialen Iterationen sein? An diesem Punkt wird deutlich, was sich an der Transfenestration des Jahres 1984 im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen verändert hat: Waren diese noch Repräsentationen im Sinne Baudrillards, weil sie auf einer Äquivalenz zwischen Zeichen und Realem basierten, so zeigt sich an Zoyds jüngstem Fenstersprung die Auflösung dieses Äquivalenzprinzips: Es geht nicht mehr um die Imitation, um die Verdoppelung oder um die Parodie. Es geht um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen, d. h. um eine dissuative Operation, um die Dissuasion realer Prozesse durch ihre operative 29 

Vgl. John Thornton Caldwell, „Televisualität“, in: Ralf Adelmann, Jan Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff und Matthias Thiele (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK 2001 (= UTB 2357), S. 165–202, hier S. 169 f.

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Tobias Lachmann Verdoppelung, eine programmatische, fehlerlose Signalmaschinerie, die sämtliche Zeichen des Realen und Peripetien (durch Kurzschließen) erzeugt.30

Es ist daher kein Wunder, dass sich die Darstellung der gegenwärtigen und der vergangenen Transfenestrationen so unterschiedlich ausnimmt. Ist einerseits davon die Rede, dass die slow motion offenbart, wie „Millionen von Kristallen […] Flugbahnen“ zogen, „die von so glatter Perfektion waren wie die Tropfen eines Springbrunnens“, so fördern Analysen der auf VHS archivierten Aufnahmen von Zoyds früheren Sprüngen durch Prairies Freund, Jesaja Zwo-Vier, andererseits die enorme Gefahr und das Risiko zutage, dem sich Zoyd all die Jahre ausgesetzt hat: „‚Das Glas fällt schnurgerade von oben aus dem Rahmen runter […] in großen Splittern, scharf wie Speerspitzen, und schwer genug, um dich mitten durchzustechen“ (23). Dem Fernsehzuschauer fällt diese Differenz nicht ins Auge, ist die Transfenestration im Rahmen der Postproduktion doch mit einem entsprechenden Klirren synchronisiert worden. Diese Einsicht in die Problematik von Ereignis und Simulation ändert den Einsatz im Spiel um die Lebensgrundlage von Zoyd und Prairie jedoch ums Ganze. Dabei ist es nicht allein die unbewusste Todesgefahr, die Zoyds Subjektposition dezentriert, sondern auch die Frage nach der Kontrolle über die Inszenierung. Denn wie zu lesen ist, hatte Zoyd ursprünglich geplant, mit der Serie seiner Transfenestrationen zu brechen und stattdessen mit einer geliehenen Kettensäge für Ladys das Inventar einer Holzfällerkneipe zu zerlegen. Erst vor Ort muss er feststellen, dass ein anonymer Anrufer mit den Kamerateams auch ihn selbst längst in Richtung Cucumber Lounge „umdirigiert“ (14) hat. Damit aber wird manifest, dass die Simulation die Realität produziert. Mehr noch: Die Simulation der Medien hat sich der Simulation von Zoyds Nervenleiden bemächtigt. Obwohl sich hinter den Transfenestrationen mit der „SchizzoRegelung“ (380) ein Mittel staatlicher Kontrolle verbirgt, das sehr wohl unter Beweis stellt, dass Zoyd einen einmal getroffenen Deal zu respektieren versteht, da er auf diese Weise sicherstellen kann, dass ihm das Sorgerecht für Prairie nicht entzogen wird, weil bei der Einlösung der „Schizzo-Schecks“ (401) stets auch registriert wird, wo sich der Empfänger zur Zeit der Auszahlung aufhält, wird diese durchaus ‚harte‘ Realität von der Simulation nicht bloß übertüncht, sondern zerstreut und damit tendenziell zum Verschwinden gebracht: Betrachtet man den vollständigen Kreislauf irgendeiner Handlung oder eines Ereignisses durch die Brille eines Systems, in dem es keine lineare Kontinuität 30 

Jean Baudrillard, „Die Präzession der Simulakra“, in: ders., Agonie des Realen (1977/1978), aus dem Französischen übersetzt von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer, Berlin: Merve 1978 (= Internationaler Merve Diskurs 81), S. 7–69, hier S. 9.

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und dialektische Polarität mehr gibt, also durch ein von der Simulation verdorbenes Feld, dann verflüchtigt sich jegliche Determinierung und jede Handlung verstreut sich, nachdem sie allen zu Gute gekommen ist und sich in alle Himmelsrichtungen verflüchtigt hat.31

As-Sociation und Dis-Sociation Wie in allen Texten der erzählenden Literatur lassen sich auch in Vineland vielfältige Bewegungen der literarischen Figuren beobachten. Die Figuren begegnen sich, stoßen aufeinander oder geraten an- und ineinander, um sich anschließend wieder voneinander zu entfernen und den Gesetzmäßigkeiten der Handlung entsprechend in abermals neuen Konstellationen zusammenzufinden. Auf diese Weise bildet die Literatur soziale Prozesse der As-Sociation und Dis-Sociation nach.32 Da diese Textbewegungen auf Konzentration und Zerstreuung beruhen, sollen sie im Folgenden am Beispiel der Massendynamik sowie an unterschiedlichen Konstellationen der Handlung exemplarisch veranschaulicht werden. Vorab sei darauf hingewiesen, dass sich Vineland als ein regelrechtes Laboratorium für unterschiedlichste Formen der Vergesellschaftung entpuppt. Es existiert kaum eine soziale Organisationsform, die einem in diesem Text nicht begegnet. Das Spektrum reicht von Single-Subjekten über Duos und Teams bis hin zu allen denkbaren Familienbanden, es schließt musikalische Bands genauso ein wie Rockergangs, die Mafia oder japanische Yakuza, seine wirtschaftlichen Exponenten reichen von kleinen Agenturen und Dienstleistern über eine Garten- und Landschaftsbauunternehmung und die Kooperative der lokalen Marihuanabauern bis hin zu einer dubiosen Versicherungsgesellschaft und weiter hinauf zum „schattenhaften, weltumspannenden“ (179) Konzern, der den militärisch-industriellen Komplex repräsentiert. Der Orden der Kunoichi-Adeptinnen oder die gespenstische Population der Thanatoiden fallen in dieser Masse kaum auf. So sonderbar sie auch erscheinen mögen, das Gros dieser Socii entwächst dem Geflecht der amerikanischen Sub- und Gegenkultur: „Ihre Existenzform ist die einer Art von Enklavenstaaten, viele kleine halb-exterritoriale Gruppierungen, Familien, Kommunen, Klöster, Farmen, Kleinbetriebe des ganzen Spektrums ‚alternativer‘ Lebensformen“.33

31  32  33 

Ebd., S. 30. Grundlegend zu As-Sociation und Dis-Sociation vgl. Jürgen Link, „As-Sociation und Interdiskurs“, in: as-sociation (Anm. 21), S. 13–22. Theweleit, „Bemerkungen“ (Anm. 28), S. 88.

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Es gehört zum Spiel der Verweiszusammenhänge zwischen erzählter Welt und ‚wirklicher Welt‘, das den Text als grundsätzlich realistisch konstituiert, dass die in den 1960er Jahren angesiedelten Handlungsstränge von associierenden (Massen-)Dynamiken geprägt werden, während die 1980er Jahre als Phase dis-sociativer Tendenzen erscheinen. Ein Instrument, mit dem der Text diese Entwicklungen sondiert, ist das „24fps“-Filmkollektiv, in dem Zoyds Verflossene, die Regisseurin Frenesi Gates, organisiert ist. Im Text wird das Kollektiv durch die sozialen Aggregatzustände ‚lose‘, ‚fest‘, ‚zerstreut‘ charakterisiert. Nach außen erscheint es als ein „loser Haufen“. Tatsächlich besteht es aus einem ‚harten Kern‘, um den sich eine fluktuierende Struktur bildet. „Einen gewissen Prozentsatz machten die Leute aus, die irgendwann dazustießen und irgendwann wieder verschwanden: ungeduldige Neulinge, altgediente Filmfreaks, Spitzel und Provokateure aus den verschiedensten politischen Lagern“ (246). Das Programm des Kollektivs liest sich wie eine Parodie auf anarchistische Manifeste und wird von einer Symbolik geprägt, die die Picturae von Filmkamera und Schusswaffe kombiniert: „‚Eine Kamera ist eine Waffe‘“, heißt es darin, „‚Ein geschossenes Bild ist ein vollstrecktes Todesurteil. Eine Sequenz von Bildern ist der Unterbau von Jenseits und Jüngstem Gericht. Wir sind die Architekten der verdienten Hölle, in der die Faschistenschweine schmoren werden. Alles was grunzt, muß sterben!‘“ (248). Die Produktionen von „24fps“ beruhen auf der (Auto-)Mobilität seines Fuhrparks, „einem lockeren, unauffälligen Verband“, seiner Zerstreuung im geographischen Raum, den es auf Fahrten „kreuz und quer durchs Land“ taktisch besetzt, und der Dokumentation von auf diesen Fahrten beobachteten Szenen sozialer Ungerechtigkeit. Kurz gesagt: „Sie suchten Ärger, fanden ihn, filmten ihn und brachten diese Dokumente dann schleunigst in Sicherheit“ (244 f.). Es ist nicht zu überlesen, dass die dabei gepflegte Vorstellung von der Macht der Medien unter dem Einfluss Jean-Luc Godards steht, der seinem Protagonisten Bruno Forestier in Der kleine Soldat die vielzitierten Worte „Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Kino, das ist die Wahrheit 24 Mal in der Sekunde“ in den Mund legt;34 eine Sentenz auf die sich die Guerillatruppe ganz offensichtlich bezieht. Sie glaubten fest daran, daß Nahaufnahmen entlarven und vernichten konnten. Wenn Macht korrumpiert, wird ihr schleichender Fortschritt im akkuratesten Logbuch, das es gibt, festgehalten: dem menschlichen Gesicht. Wer war imstande, den Scheinwerfern zu trotzen? Welcher Zuschauer konnte noch von der Gerechtigkeit des Krieges und des Systems überzeugt sein oder sich durch die unzähligen Lügen über die Freiheit Amerikas irreführen lassen, wenn man ihm diese Großaufnahmen der Ge- und Verkauften präsentierte? Wenn er die 34 

Vgl. Le petit soldat, FR 1960, R: Jean-Luc Godard.

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standardisierten Stimmen immer dieselben Formeln wiederholen hörte, wenn er diese undurchsichtigen, leblosen Männer sah, abgeschnitten von dem, was sie einst gewesen waren, durch Versprechungen, auf deren Einlösung sie ja doch nie würden hoffen dürfen? (245)

Einem ernsthaften Praxistest unterzogen wird die Programmatik von „24fps“ aber erst in dem Moment, als das Kollektiv in die Geschehnisse am College of the Surf in Trasero County involviert wird und sich dabei aktiv in die gesellschaftspolitischen Kämpfe der 1960er Jahre verstrickt. Das provinzielle College wird durch zweierlei charakterisiert: seine küstennahe Lage auf attraktivem Bauland in unmittelbarer Nähe zu einem Militärstützpunkt und durch das überdimensionale Nixon-Denkmal, das den Campus von einer Klippe aus überblickt. Obwohl dort ausschließlich Studenten aufgenommen werden, die einen „lenkbaren Eindruck“ machen, formiert sich an diesem Ort eine Bewegung von Studenten, deren „vorenthaltene Bildung gefährliche Fortschritte“ macht: „Eine plötzliche Welle der Begeisterung für Wissen ergriff das College, und bald wurde rund um die Uhr geforscht, über alles mögliche, von allem und jedem“ (262). Noch ehe das benachbarte Militär eingreifen kann, sagen sich die Studenten „von Kalifornien los“ und proklamieren „einen eigenen Staat, den sie im Verlauf einer tumultuarischen nächtlichen Vollversammlung nach der einzigen konstanten Größe, die nie vergehen würde, die ‚Volksrepublik Rock ’n’ Roll‘ tauften“ (262 f.). Von hier aus ergeben sich vielfältige historische Bezüge, die auf das Free Speech Movement in Berkeley genauso verweisen wie sie Assoziationen zum Kent-State-Massaker im US-Bundesstaat Ohio wecken.35 Während die Reaktion im Text längst Maßnahmen zur Zersetzung dieser unerhörten Bewegung ergreift, bewegt sich die Gegenkultur noch auf einem euphorischen Hoch. Die subjektive Wahrnehmung dieser Massendynamik wird im Text nirgends so gut beschrieben wie in Frenesis Demonstrationserfahrung: Frenesi träumte von einer mystischen Vereinigung aller Menschen, in der sie gemeinsam ans Licht drängten, und ein- oder zweimal hatte sie das bei einer Demonstration erlebt, in kurzen, zeitlosen Ausbrüchen: alle Vektoren, die der Menschen wie die der bewegten Gegenstände, waren rein und unverfälscht 35 

Zum FSM vgl. Seth Rosenfeld, Subversives. The FBI’s War On Student Radicals and Reagan’s Rise to Power, New York: Farrar, Straus and Giroux 2012. Zum Kent State Shooting vgl. ferner die unmittelbaren Reaktionen Confrontation at Kent State, USA 1970, R: Richard L. Myers; Crosby, Stills, Nash and Young, Ohio/Find the Coast of Freedom, Atlantic Records  1970. Retrospektiv berichten Scott L. Bills (Hrsg.), Kent State/May 4. Echoes Through a Decade, Kent und London: The Kent State University Press  1988 oder Vier Tote in Ohio – Ein amerikanisches Trauma, BRD 2007, R: Claus Bredenbrock und Pagonis Pagonakis.

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Tobias Lachmann gewesen, die Demonstranten ein einziger Organismus, die Polizisten ebenfalls, simpel und direkt wie eine niederfahrende Klinge, und Leute, die bei Versammlungen langweilig oder schlicht Nervensägen waren, transzendierten mit einemmal ihre normale Existenz und warfen sich, fast gegen ihren Willen, zwischen Gummiknüppel oder Opfer, um den Schlag aufzufangen oder legten sich auf die Schienen, wenn der Zug nahte, oder sahen in die Gewehrmündung, ohne sich davon mundtot machen zu lassen – in jenen Tagen konnte man nicht wissen, wer sich wann ganz unerwartet von einer neuen Seite zeigen würde. (148 f.)

Wird hier noch eine Masse im Werden inszeniert, in der Entwicklung einer Bewegung, die eine Gesellschaft fundamental zu verändern vermag, so zeigt der Text, der diese Dynamik in all ihrer Ambivalenz thematisiert, zugleich auch die Gegenbewegung. Statt von Zerstreuung könnte dabei treffender von der Zersetzung einer Resistenzmasse durch staatliche Behörden gesprochen werden. Bei der Lektüre gewinnt man den Eindruck, dass dieses Thema einen der zentralen Dreh- und Angelpunkte dieser literarischen Meditation ausmacht: Wie ließ sich die Gegenkultur der 1960er Jahre so schnell zersetzen? Folgt man dem Text, so scheinen politische Maßnahmen, Drogen und Medien dabei eine Rolle gespielt zu haben. Mit dem Bundesstaatsanwalt Brock Vond gibt es eine Figur, die diese Bestrebungen verkörpert. Vond geht in seiner Funktion voll auf. Als Exponent der staatlichen Pastoralmacht betrachtet er Vertreter der Gegenkultur wahlweise als Herdentiere, die einer Umzäunung bedürfen, oder als Kinder, die sich „nach Disziplin“ sehnen (337). Dementsprechend zielen seine Maßnahmen darauf, all jene Radikalinskis, „die [nur] mal ein bißchen Nervenkitzel erleben, eine Frau aufreißen, ein paar Joints rauchen wollten“, „aus der der breiten Masse“ (338) der Bewegung herauszugreifen, um diese aufzulösen: Brock Vonds Genie bestand darin, daß er die Aktivitäten der Linken in den sechziger Jahren nicht als Bedrohung der Ordnung, sondern als ungestillte Sehnsucht nach ihr erkannte. Während im Fernsehen das Bild einer Jugendrebellion gegen alle möglichen Arten von Eltern verbreitet wurde und die meisten Zuschauer diese Geschichte auch glaubten, sah Brock darin den tiefen – und, wenn er sich dieses Gefühl gestattet hätte, sehr berührenden – Wunsch, für immer Kinder bleiben zu dürfen, geborgen in einer großen, landesweiten Familie. Die Ahnung, auf die er setzte, war, daß diese aufmüpfigen Jugendlichen ohnehin schon halb auf seiner Seite waren und leicht umzudrehen und ohne große Kosten nutzbar gemacht werden könnten. Sie hatten lediglich die falsche Musik gehört, den falschen Rauch inhaliert, die falschen Personen bewundert. Sie brauchten bloß ein bißchen Rekonditionierung. (343)

Das „bißchen Rekonditionierung“ spielt auch für die Opposition zwischen dem ideologischen Konstrukt der Kleinfamilie als Keimzelle der Gesellschaft

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und dem weitverzweigten Familienclan eine Rolle, in den Zoyd, Frenesie und Prairie allen Verwirrungen zum Trotz lose integriert sind. So wird am Beispiel der Kleinfamilie, in die sich Frenesi nach dem Mord am Studentenführer der VR3, dem Mathematikprofessor Weed Atman, und ihrem Abtauchen in die Illegalität flüchtet, deutlich, dass diese Form des Zusammenlebens allen Gefahren ödipaler Dreiecke zum Trotz zumindest dazu taugt, sich den Anschein einer mit der Ideologie der Reagan-Administration konformen Lebensweise zu verleihen. Während Zoyd, den sie mit Baby Prairie zurücklässt, damit hadert, dass ihm „ein Kerl aus Washington“ erklären will, wie er sein Kind zu erziehen hat, ist ihm völlig bewusst, wie sich die „Reagan-Kreaturen“ selbst „um die Keimzelle Familie“ kümmern. Dazu braucht er sich nur anzusehen, „was für eine Scheiße“ (41) sie mit seiner eigenen veranstaltet haben. Zoyd selbst hat stets nach dem Motto „Leben und leben lassen“ gelebt. Deshalb war seine Hochzeit mit Frenesi ein einziges Fest der Vermischung von Familie, Onkels, Tanten, Vettern und Cousinen, mit Bikern und Acidheads, das selbst der örtlichen Sheriff nicht stören konnte, dem man kurzerhand einige miniberockte Schönheiten zur Seite und alkoholische Getränke in Griffweite gestellt hat (vgl. 50 f.). Dieses Simulakrum löst sich jedoch in Luft auf, als ihn Frenesi kurz nach der Hochzeit verlässt. Damit wird Zoyd auf soziale Bande zurückgeworfen, unter denen sich das zu Frenesis Mutter, Sasha Gates, am belastbarsten erweist. Zwar muss er sich mit dieser Frau, „eine[r] alte[n] Gewerkschaftsrote[n] aus der Arbeiterbewegung“,36 erst arrangieren. Aufgrund der geteilten sozialen Randständigkeit findet er in der Schwiegermutter aber auch eine unverhoffte Kampfgefährtin. Denn „zu ihrer Verblüffung standen sie letztlich vereint gegen das Gesetz“: Gezänk vor dem Vormundschaftsgericht war für immer ausgeschlossen, denn beiden war klar, daß sich kein Richter die Mühe machen würde zu entscheiden, wer von beiden den schlechteren Leumund hatte. Bei der Wahl zwischen einer in der Wolle gefärbten kommunistischen Großmutter und einem Kiffervater landete Prairie auf jeden Fall als Mündel in den Armen der Obrigkeit und das, keine Frage, durften sie ihr nicht antun. Sie mußten also, ob es ihnen paßte oder nicht, zumindest hin und wieder ihr Leben koordinieren. (73)

Obwohl er von Frenesis Familie aufgrund seiner „Tätigkeit als Nichtorganisierter, auch wenn Zoyd die Bezeichnung ‚unabhängiger Subunternehmer‘ bevorzugte“ (399), zunächst kritisch beäugt wird, wächst er sukzessive in die Familie seiner Ex-Frau hinein: 36 

Theweleit, „Bemerkungen“ (Anm. 28), S. 89.

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Tobias Lachmann Es waren Gewerkschaftsmitglieder aus Tradition, stolze, unbeugsame Menschen, die in einer der gewerkschaftsfeindlichsten Gegenden der Welt überlebt hatten, als Holzfäller, Seilsetzer, Flößer und Ochsentreiber […], und wenn sie von Zeit zu Zeit einen Gelegenheitsarbeiter wie Zoyd, der in keiner Gewerkschaft war, über ihre Schwelle ließen, dann nur aus Sympathie für seine Frisur und seinen Lebensstil, den sie mit seinem geistigen Defekt entschuldigten, und aus Liebe zu ihrer entfernten Verwandten Prairie, die, als echte Traverse, trotz der offensichtlichen Mängel ihres Vaters ganz gut klarkommen würde. (ebd.)

Die historische Dimension in Vineland öffnet sich nicht allein über die politische Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch über die Familiengeschichte der Beckers und Traverses, von denen Prairie mütterlicherseits abstammt. Nach und nach wird diese Familiengeschichte, die sich in vier Generationen sedimentiert hat und sich von den 1980er Jahren über die 1960er, 1940er und 1920er Jahre genealogisch bis in die Zeit ‚um 1900‘ zurückverfolgen lässt, in ihren Schichtungen freigelegt.37 Anders als die revolutionären Massen der VR3 erweist sich die As-Sociation des Familienclans als langdauerstabil. Weshalb das so ist, das lässt sich an den Voraussetzungen ablesen, die dafür ausschlaggebend sind, dass schließlich auch Zoyd zu den alljährlichen Becker-Traverse-Familientreffen zugelassen wird, die in den Redwoods von Vineland stattfinden. Zum einen ist dies die liebevolle Fürsorge, die er Prairie entgegenbringt im Bewusstsein, „daß er alles tun mußte und alles tun würde, um dieses geliebte kleine Wesen vor Gefahren zu bewahren, bis hin zu der Gefahr, die Brock Vond darstellte, eine Möglichkeit, die ihm angst machte“ (401). Zum anderen ist dies eine geteilte Tradition des Widerstands gegen die Obrigkeit, über die sich die Gemeinschaft der BeckerTraverses, wie sich im Rahmen des Familientreffens zeigt, auch diskursiv als eine entschiedene Position der Resistenz konstituiert: Und andere Alte debattierten über die ewige Streitfrage, ob die Vereinigten Staaten noch im präfaschistischen Dämmerlicht lagen oder ob die Dunkelheit schon vor Jahren über sie hereingebrochen war und das Licht, das man zu sehen glaubte, bloß aus den Millionen von Fernsehern kam, die allesamt dieselben bunten Schatten tanzen ließen. Andere Stimmen mischten sich ein, und dann kamen die Namen – manche wurden geschrien, manche von einem Ausspucken begleitet –, die alten, verläßlichen Namen, die stundenlange Streitereien, Magenprobleme und Schlaflosigkeit garantierten: Hitler, Roosevelt, Kennedy, Nixon, Hoover, Mafia, CIA, Reagan, Kissinger – dieses Sortiment von 37 

Die Vor-Geschichte dieser Familie wiederum ist einer der Gegenstände des 2006 erschienenen Opus Magnum Thomas Pynchon, Against The Day. A Novel, New York: Penguin Press 2006. Als deutschsprachige Ausgabe vgl. Thomas Pynchon, Gegen den Tag. Roman (2006), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008.

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Namen und ihren tragischen Verflechtungen, das nicht in einer Konstellation nächtlicher, entrückter Lichter am Himmel stand, sondern sich hier unten, auf der Erde, zu jenem letzten unentschlüsselbaren amerikanischen Geheimnis verdichtete, welches von den schmutzigsten Schuhsohlen zufälliger Passanten immer tiefer in die Erde getreten wurde, ein schwarzes, vermoderndes Blatt auf dem Waldboden, das niemand aufheben wollte, weil darunter etwas lauerte, etwas Lebendiges, Bösartiges. ‚Eine politische Familie‘, kommentierte Zoyd, ‚das ist mal sicher.‘ (463 f.)

Eingerückt in die urwüchsige Natur der Redwood-Wälder wird die Großfamilie Becker-Traverse im Rückgriff auf die polysemische Symbolik des titelgebenden Lexems ‚vine‘, das mit einem Sem auf die Gattung der Kletterpflanzen verweist, die an anderen Pflanzen, Steinen oder sonstigen Rankhilfen Halt suchen, da sie keinen eigenen Stamm ausbilden können, als eine rhizomatisch strukturierte As-Sociation unter Aufhebung des strikt genealogischen Prinzips dargestellt. Das wird am Ende der Erzählung offensichtlich, als all die vielfältig geschiedenen, wiederverheirateten oder in wilder Ehe lebenden Mitglieder dieser Patchwork-Familie mit ihren jeweiligen Kindern, Kindeskindern und Wahlverwandschaften zu einem Festmahl zusammenkommen, „mit dem jene Verbindung zwischen Eula Becker und Jess Traverse geehrt werden sollte, welche sie alle einte, abgrenzte und mit einer geistigen Heimat versah, diese Menschen, die verstreut von Marin County bis Seattle, von der Coos Bay bis Butte lebten“ (460). Die übrige Zeit des Jahres leben „diese Holzfäller und Seilsetzer, diese Dynamitfischer und Schindelschneider und Straßeneckenredner“ (ebd.) ihre Resistenz in der Zerstreuung. Vineland Obwohl es sich bei Vineland um einen fiktiven Ort in Norden Kaliforniens handelt, zeigt sich an seinem Beispiel doch sehr deutlich, durch welche literarischen Verfahren es Pynchons Text gelingt, die klare Trennung zwischen der diskursiv verfassten Welt der Fiktion und der empirischen Welt der Geschichte zu unterlaufen. Durch die Überlagerung von Elementen der Diegese, insbesondere der Deskription von Landschaften, Orten und Räumen, von Intertexten, die dem fiktiven Ort eine ins Mythologische reichende VorGeschichte verleihen, und von Ereignissen der Zeitgeschichte, gewissermaßen also der ‚wirklichen Welt‘, die mit narrativen Mitteln in die histoire eingelagert werden, vermag es der Text, einen in sich verschachtelten Bild- und Verweisraum zu konstituieren. Zu diesem Zweck montiert er unterschiedliche Fundstücke zu einer interdiskursiven Textur, die man insofern als ‚schillernd‘

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bezeichnen könnte, als sich die unterschiedlichen Ebenen gegenseitig irritieren und in Frage stellen, so dass eine perspektivisch vielfach gebrochene Struktur entsteht. Dieses faszinierende Spiel möchte ich im Folgenden, an deskriptiven Elementen der Verknüpfung von Konfiguration, Handlung und Diegese, an intertextuellen Elementen und an Referenzen zur Zeitgeschichte veranschaulichen. Wie wir bereits sehen konnten, sind gesellschaftliche Unruhen ein wesentliches Moment der Diegese von Vineland. Jede Generation hat ihre Konflikte auszutragen. Die Zeiten ändern sich, die sozialen Spannungen aber bleiben konstant, nur ihre Gegenstände und Formen sind dem historischen Wandel unterworfen. Die Prosa ist eine Erzählung andauernder Kämpfe. Chronologisch folgen auf die vergleichsweise „milden“ 1960er Jahre, eine „langsamer vergehende Zeit, vordigital, noch nicht so zerstückelt, nicht einmal vom Fernsehen“ (50), die Jahre der „Nixonschen Repression“ (92), in denen die emanzipativen Bewegungen immer weiter zerstreut werden. In diese Zeit des beschleunigten Zusammenbruchs fällt auch die Trennung der Wheelers. Sasha erzählt dem nach Halt suchenden Zoyd, dass die „Welle von LanghaarFreaks […], die sich von Los Angeles nach Norden in Bewegung gesetzt haben, in letzter Zeit bis nach Vineland schwappt“ (381), und rät ihm, sich mit Prairie ebenfalls dort niederzulassen. ‚Geographisch‘ betrachtet wird Vineland dabei nicht nur als ein Ort der Vermischung heterogenster sozialer Gruppen, sondern auch als ein rhizomatisch strukturierter Rückzugsraum narrativiert, ein Refugium. Es gibt mehrere Textpassagen, die einzig dem Zweck zu dienen scheinen, eine möglichst realistische Deskription dieser Örtlichkeit zu produzieren. Für Zoyd, der Prairie als Wiegenlied übrigens eine selbstkomponierte, allerdings ein wenig albern geratene Partisanen-Hymne über Lawrence von Arabien vorsingt (385), ist ein exaktes Wissen über die räumlichen Gegebenheiten Vinelands sehr wichtig. Da der Umzug von Gordita Beach nach Vineland aus seiner Sicht einem Rückzug gleichkommt, erkundigt er sich eingehend nach der lokalen Beschaffenheit der Gegend. Ein Punkt ist dabei besonders entscheidend: die Verfügbarkeit von Verstecken. Was er über Vineland erfährt, kommt seinen Bedürfnissen nach Ortsverbundenheit, Bewegungsfreiheit und Unkonventionalität entgegen:38 ‚Die Hälfte der Gegend ist noch nicht mal vermessen. Es gibt noch RedwoodWälder, in denen man sich verlaufen kann, alte und neue Geisterstädte, die von Erdrutschen abgeschnitten sind, die keine Pioniertruppe je beseitigen wird, ein 38 

Tatsächlich zettelt Zoyd im weiteren Verlauf der Handlung (beinahe) einen Guerillakampf um sein Haus an, nachdem ihn Brock Vond zuvor zwangsenteignet hat (vgl. 446 ff. und 465).

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ganzes Netz von Holzfuhrwegen, Brandschneisen und Indianerpfaden, das du auswendig lernen kannst. Man kann sich gut verstecken.‘ (382)

Also siedelt er mit Prairie nach Vineland über, wo er Jahre später zu der Erkenntnis gelangt, „daß dies der beste Ort für sie und ihn war und daß er, für diese paar Jahre wenigstens, zur Abwechslung mal das Richtige getan hatte, indem er mit ihr durch den strömenden Regen und vorbei an Erdrutschen hierhergefahren war, um Zuflucht zu suchen im Hafen von Vineland, dem guten Vineland“ (401). Auf geschickte Art und Weise spielt Pynchon in dieser Darstellung mit der Intertextualität der altnordischen Vínlandsagas, deren Imaginationskraft er nutzt, um einen Meta-Mythos als tertiäres semiologisches System zu generieren.39 Dabei greift er auf die Überlieferung zurück, nach der Leif Eiriksson den Entschluss fasst, das Schiff Bjarni Herjolfssons zu kaufen, um jene Küste zu erkunden, die Herjolfsson Jahre zuvor gesichtet hat. Nach mehreren Tagen auf See entdeckt er ein Land, das nicht bloß von Wiesen und Wäldern bewachsen ist, sondern, der Sage zufolge, sogar von wildem Wein. Aus diesem Grund tauft er es auf den Namen ‚Vínland‘. Archäologisch bedeutsame Punkte wie die Frage, inwiefern die Grœnlendinga saga, nach der Eirikssons spiritus rector Tyrkir die Weinbeeren entdeckt, bei denen es sich theoretisch um Brombeeren handeln könnte, geobotanisch glaubhaft ist, oder die Frage nach der Phonologie des altnordischen ‚i‘, das kurz artikuliert ‚Weideland‘, lang ausgesprochen hingegen ‚Weinland‘ bedeutet, sind für die literarische Imagination nicht entscheidend. Was zählt, ist der Umstand, dass Vínland in der christlichen Tradition der Auseinandersetzung mit dem schon für die Antike belegten Topos der Inseln der Glückseligen aufgrund seiner sagenhaften Fruchtbarkeit, das Anhängsel „hit gođa“ erhält und seither – wie bei Pynchon – als ‚Vínland das Gute‘ firmiert.40 Durch den Rückgriff auf das komplexe semiologische System des altnordischen Mythos’ treibt Pynchon das Spiel der Mythologisierung weiter und expandiert die Bedeutung von Vínland 39  40 

Vgl. Roland Barthes, „Der Mythos als semiologisches System“, in: ders., Mythen des Alltags (1957), aus dem Französischen übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964 (= edition suhrkamp 92), S. 88–96. Als Pioniere der archäologischen Forschung zur Entdeckung Amerikas durch Wikinger gelten Helge und Anne Stine Ingstad. Vgl. Helge Ingstad, Die erste Entdeckung Amerikas. Auf den Spuren der Wikinger (1965), aus dem Norwegischen übersetzt von Karl und Käthe Christiansen, Berlin, Frankfurt am Main und Wien: Ullstein  1966. Die Textlage der Grœnlendinga saga und der Eiríks saga rauđa dokumentiert Else Ebel (Hrsg.), Die Vínlandsagas. Ausgewählte Texte zur Entdeckung Amerikas durch die Wikinger, Tübingen: Max Niemeyer 1973. Eine Revision des Forschungsstands bietet Rudolf Simek, Vinland! Wie die Wikinger Amerika entdeckten, München: C. H. Beck 2016.

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dem Guten um die semantische Ebene von Vineland dem Widerständigen, wobei auch die Konnotation des bewusstseinserweiternden Rauschs fortgeschrieben wird. Generativ betrachtet, schafft er damit neue Möglichkeiten, an diesen alten Stoff anzudocken und ihn literarisch weiterzuspinnen; etwa indem er das Symbol der Weinbeeren selegiert, um kombinatorisch eine Geisterlegende aus dem anglo-irischen Raum einzuflechten: „Irgendwo warnte eine Traverse-Großmutter Kinder davor, die Brombeeren zu essen, die im Oktober in dieser Küstenregion wuchsen. ‚Sie gehören dem Teufel. Alle, die ihr findet und eßt, sind sein Eigentum, und er mag keine Brombeerdiebe – dann kommt er und holt euch‘“ (463). An diesem Umgang mit der Intertextualität wird deutlich, dass Vineland auch ein Ort der diskursiven Vermischung ist, der von ganz unterschiedlichen Erzähltraditionen geprägt wird. So werden über die altisländischen, englischen und gälischen Sagen hinaus auch Mythen der Yurok-Indianer41 adaptiert, wenn es im Rahmen der Deskription heißt: „Neben Bemerkungen über die Größe und Wildheit der Lachse, die Tücken der nebelverhangenen Küste und die Fischerdörfer der Yurok und Tolowa hatten Kapitäne, die nicht gerade für übersinnliche Fähigkeiten bekannt waren“, auf dem Weg nach Vineland „in ihren Logbüchern mehr als einmal notiert, sie hätten das Gefühl gehabt, an eine unsichtbare Grenze zu stoßen, wenn sie sich von See aus näherten“. Diese gespenstische Wahrnehmung verknüpft der Text mit dem apokryphen Wissen der Yurok, wenn die Passage im Folgenden „vorbei an mit düsteren Nadelhölzern bestandenen Kaps, an Wäldern von Redwoods mit ihren lotrecht aufragenden Stämmen und wolkenverhangenen Wipfeln“ führt, „diesen Bäumen, die zu hoch, zu rot waren, um Bäume im eigentlichen Sinne zu sein, und daher gewiß eine andere Bestimmung hatten, welche die Indianer vielleicht kannten, aber nicht preisgaben“ (395 f.). Die Deskription Vinelands als rhizomatischer Nomos und Raum der Resistenz sowie die mythologische Expansion der mit diesem Raum verknüpften Imaginationen werden nun allerdings mit zeitgeschichtlichen Ereignissen kombiniert, die sich gegen eine solche Überhöhung sperren und die Erzählung an die Profanität des historischen Prozesses binden. Diese Ereignisse, so beiläufig sie auch in die Erzählung eingestreut sein mögen, bilden die harte, ‚realistische‘ Grundlage für die bisweilen phantastischen Entgrenzungen des Textes. Während Vineland damit global betrachtet im Kontext von Pynchons Meditationen über das Versprechen ‚Amerikas‘ steht, die faszinierende Passagen von halluzinatorischer Qualität hervorgebracht haben wie jene, in der sich Oedipa Maas auf der Suche nach dem Posthorn des 41 

Vgl. Alfred Louis Kroeber (Hrsg.), Yurok Myths, Berkeley, Los Angeles und London: University of California Press 1978.

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Tristero-Systems durch das nächtliche San Francisco treiben lässt, um dabei immer tiefer in die unwirkliche ‚Wirklichkeit‘ einer unsichtbaren Gegengesellschaft einzutauchen,42 ist es das Signum des Jahres 1984, das Vineland in seiner individuellen Textgestalt prägt. 1984 ist nicht nur das nach dem dystopischen Roman Eric Arthur Blairs benannte Orwell-Jahr, mit dem sich Pynchon in einer Einführung zum Roman eingehend auseinandersetzt,43 1984 ist auch das Jahr der Wiederwahl Ronald Reagans und damit in gewisser Hinsicht emblematisch für dessen gesamte Präsidentschaft, davor und danach. In Vineland, einem Text, der Zerstreuung und Resistenz in ihren ästhetischen wie politischen Dimensionen gleichermaßen inszeniert, ist die Präsidentschaft Reagans ein allgegenwärtiger Referenzpunkt auf jener historischen Ebene, die intradiegetisch als Basisnarration fungiert und damit einsetzt, dass Zoyd Wheeler just „an einem Sommermorgen des Jahres 1984 aus dem Schlaf, hinein in ein Sonnenlicht [dämmert], das durch die Feigenblätter vor dem Fenster sickerte“ (7). Wie wenig repräsentativ diese Idylle am Tag der Transfenestration für die Realität in Reagans Amerika ist, soll am Beispiel der Kürzungen, der Überwachung und der Disziplinierung veranschaulicht werden, die im Text thematisiert werden und – etwa als „Geld-da, Geld-weg, Geld-wieder-da-Spielchen“ (37) – wichtige handlungsstrukturkonstitutive Oppositionen bilden. Unter dem Begriff der ‚Reagonomics‘ werden wesentliche Züge der Wirtschaftspolitik der Regierung Reagan zusammengefasst, die Deregulierungen in einem bis dato unbekannten Ausmaß beinhaltete. Während Unternehmen in der „great decade of deregulated thievery“44 von radikalen Steuersenkungen profitierten, litten die Unter- und Mittelklassen unter einer immer extremeren sozialen Spaltung und wachsendem Elend. Gescheiterte Existenzen wurden von der Reagan-Administration nachgerade produziert, um sie sodann als ‚Wohlfahrtsbetrüger‘ stigmatisieren und verfolgen zu können. Zudem zeichneten sich die Reaganomics durch eine signifikante Steigerung des Militärhaushalts und von Staatsaufträgen für große Konzerne aus. Die Verarmung der Mittelklasse war mit der demonstrativen Protzerei mit Luxusgütern, Vermögen und sonstigem Prunk im Amt nicht in Einklang zu bringen und konnte durch das euphemistische Versprechen des ‚trickle 42  43  44 

Vgl. Thomas Pynchon, Die Versteigerung von No. 49. Roman (1965), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Wulf Teichmann, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973 (= das neue buch 42), hier v. a. S. 100–113. Vgl. Thomas Pynchon, „Introduction“, in: George Orwell, Nineteen Eighty-Four (1949), with an Introduction by Thomas Pynchon and A Note on the Text by Peter Davison, London: Penguin Books 2003, S. v–xxv. Edgar Lawrence Doctorow, „The Character of Presidents“, in: ders., Poets and Presidents. Selected Essays, 1977–1992, London: Papermac 1994, S. 91–101, hier S. 95.

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down‘-Konzepts nur wenig glaubwürdig kaschiert werden. Eine Entwicklung, die Edgar Lawrence Doctorow gezielt pointiert: „the rich got filthy rich, the middle class turned poor, the profession of begging for alms was restored to the streets, and the national debt rose to about $3 trillion.“45 In Vineland wird diese Politik in Übereinstimmung mit dem mediopolitischen Diskurs der Zeit vor allem von der Axt symbolisiert. So muss Frenesi, die sich von Brock Vond zur Destabilisierung der VR3 hat instrumentalisieren lassen, als „Kooperative Person“ (350) später aber im tiefen Staat untergetaucht ist, 1984 begreifen, dass „die Äxte der Reagonomics [plötzlich] überall zuhieben“ (116). Mit Blick auf einen „Computerausdruck“, der alle „Schützlinge und Spitzel und freien Mitarbeiter“ auflistet, die aus dem staatlichen Überwachungsprogramm entfernt wurden, kommt Frenesis Lebensgefährte Flash denn auch zur Einschätzung: „‚Das hier ist ein Massaker‘“ (113). Diese Darstellung entspricht dem modus operandi der Reagan-Administration, die tatsächlich nach dem Muster „Cut, slash, chop“46 verfuhr und es dabei besonders auf Kürzungen in den Bereichen der Arbeitslosenhilfe, Kranken- und Sozialversicherungen, Ausbildungsförderung, Kinderernährungsprogramme, Alleinerziehenden, Menschen mit Behinderung oder Wohlfahrtsorganisationen abgesehen hatte: „‚Cut‘, runter mit drei Millionen Kindern von der Schulspeise. ‚Slash‘, weg mit den Geldern für 340.000 Stellen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. ‚Chop‘, raus mit den behinderten Kindern aus der staatlichen Hilfe.“47 Diese neoliberale Wirtschaftsprogrammatik wurde von Maßnahmen der Überwachung und Kontrolle flankiert, die von der US-Bundespolizei FBI zwar schon im Rahmen des geheimen Counter Intelligence Program mit dem Akronym COINTELPRO aufgelegt worden waren, nach den Unruhen in Watts,48 Newark und Detroit aber etwa im Rahmen der Operation Garden Plot weitergeführt wurden und unter Reagan in Form von Szenarios wie der Readiness Exercise  1984 existierten. Alle diese Programme beinhalteten auf die eine oder andere Weise Strategien zur Zerstreuung oder Konzentration von Widerstand gegen die Staatsgewalt. Von Prairie nach der Existenz von Konzentrationslagern gefragt, antwortet die Ninjette DL Chastain, Frenesis ehemals beste Freundin und Weggefährtin, nur: „Geh mal in eine Bücherei und 45  46 

47  48 

Ebd., S. 96. Vgl. Lloyd de Mause, „Reaganomics als Opferritual“ in: ders., Reagans Amerika. Eine psychohistorische Studie (1984), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Jürgen Freund und Klaus Theweleit, Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1984, S. 76–100. Ebd., S. 96. Vgl. Thomas Pynchon, „A Journey Into The Mind of Watts“, in: The New York Times (12. 6. 1966), S. 34–35, 78, 80–82 und 84.

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lies es nach“, hat sie Frenesi einst doch aus einem solchen von Vond geführten PUP-Lager befreit: „Nixon hatte den ganzen Apparat für so eine Massendeportation aufgebaut, bereit zum Zuschlagen. Reagan hat ihn übernommen und könnte ihn gebrauchen für den Fall, daß er sich entschließt, in Nicaragua einzumarschieren. Du kannst das alles nachschlagen‘“ (331). Im Hintergrund all dessen stand (und steht wohl immer noch) der „krypto-industrielle Komplex“ und die damit verbundene kontinuierliche Ausweitung des Überwachungsstaats, der bereits „unter Kennedy, Johnson und Nixon in eine Domäne des FBI einbrach, um auch US-Bürger auf Drogenhandel, Vietnam-Protest usw. abzuhören“.49 In Vineland wird dies anhand einer kurzen Bildstörung im Nachtprogramm manifest, als „der Bildschirm plötzlich blendend weiß“ wird und „harte, flache, hallende Stimmen“ zu hören sind, bevor „ein Anglo in Uniform“ erscheint und damit beginnt, ein Papier zu verlesen: „‚Als Oberbefehlshaber der staatlichen Verteidigungstruppen in diesem Sektor bin ich gemäß Präsidentenerlaß Nr. 52 zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit vom 6. April 1984 ermächtigt …‘“ (422 f.) – an dieser Stelle läuft der Film jedoch einfach weiter. Das kann er auch, schließlich fahren all diese Maßnahmen in den 1980er Jahren ihre Früchte ein. Disziplinierung und Normalisierung der Gesellschaft sind zwischenzeitlich so weit fortgeschritten, dass Hector vor Frenesi mit den enormen Erfolgen dieser Politik prahlen kann: „‚Sie haben eine Untersuchung in Auftrag gegeben und rausgefunden, daß die Kids seit ’81 ganz von allein kommen und nach Jobs fragen – kein Bedarf mehr an ExtraProgrammen für so was‘“ (432 f.). Der einzige Feind, der so hartnäckig ist, dass ihn die konservative Konterrevolution weiter mit aller Entschlossenheit bekämpft, ist das ‚Vergnügen‘. In diesem Zusammenhang beweist der literarische Text eine bemerkenswerte prognostische Kapazität. Ausgerechnet Mucho Maas, der nach der Trennung von seiner Frau Oedipa eine kometenhafte Karriere vom Radio-DJ zum Boss der Plattenfirma ‚Indolent Records‘ durchläuft und dabei sein Image als „Graf Drogula“ (386) abstreift, erweist sich Anfang der 1970er Jahre als ein unerwartet weitsichtiger Mann: Mucho zwinkerte mitfühlend und ein wenig traurig. ‚Ich glaube, es ist vorbei. Wir leben in einer neuen Welt. Jetzt haben wir die Nixon-Jahre, danach kommen dann die Reagan-Jahre …‘ 49 

Friedrich Kittler, „Jeder kennt den CIA, was aber ist NSA?“, in: ders., Short Cuts, Frankfurt am Main: Zweitausendeins  2002 (= Short Cuts  6), S.  201–210, hier S.  206 f. Kittler bezieht sich auf James Bamford, NSA. Amerikas geheimster Geheimdienst (1982), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hans Jürgen Baron von Koskull, Zürich und Wiesbaden: Orell Füssli 1986.

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Tobias Lachmann ‚Reagan? Nie im Leben wird der Präsident.‘50 ‚Paß bloß auf, Zoyd. Wird nicht mehr lange dauern, dann sind sie hinter allem her, nicht nur Drogen, sondern auch Bier, Zigaretten, Zucker, Salz, Fett – was du willst. Alles was auch nur entfernt geeignet ist, die Sinne zu erfreuen, müssen sie kontrollieren. Und sie werden es kontrollieren.‘ ‚Fett-Bullen?‘ ‚Parfum-Bullen, Fernseh-Bullen, Musik-Bullen, Gutes-Gesundes-Zeug-Bullen. Gewöhn dir das alles jetzt schon ab, dann hast du einen Vorsprung.‘ (391)

Im Zusammenspiel von Elementen der Diegese, intertextuellen Entgrenzungen und Referenzen der Aktualgeschichte konstituieren sich vielfältig ineinander verschachtelte Bildräume, in denen die erzählte Welt mit der ‚wirklichen Welt‘ bzw. der ‚Geschichte‘ (dem historischen Prozess als komplexem Geflecht aus Ereignissen und Handlungen), also dem Zeitgeschehen, enggeführt wird. Zahllose Referenzen auf Ereignisse der Zeitgeschichte belegen das. Zugleich fingiert Pynchon, unmittelbar an der Grenze zwischen Realität und Fiktionalität und diese immer wieder überschreitend, Ereignisse, Figuren und Institutionen, die sich in diesen Zwischenzonen ansiedeln, sie dabei aber zugleich auch parodistisch unterwandern. Dieses Spiel ist ein elementares Verfahren der ‚postmodernen‘ Schreibweise: „Solches Schreiben hat seinerseits längst mit der Ideologie des prädiskursiven Autorsubjekts wie auch mit der Ideologie ‚hoher‘ Literatur gebrochen und prozessiert bewußt umlaufendes Diskursmaterial ironisch und subversiv gegen den Strich.“51 Ein interessantes, mit Vineland vergleichbares Projekt unter den Vorzeichen der Psychohistorie52 stellt daher die parallel zum Verlauf der Ereignisse erstellte Analyse der Reagan-Zeit durch Lloyd de Mause dar, die im Wesentlichen eine Analyse ihrer Kollektivsymbolik ist.53

50  51  52  53 

Man könnte es auch so sagen: Wer vor dem 8. 11. 2016 Vineland gelesen hatte, konnte von der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nicht sonderlich überrascht werden. Link, „Schreiben“ (Anm. 13), S. 609. Lloyd de Mause, Grundlagen der Psychohistorie (1982), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Aurel Ende, Eva Lohner-Horn und Peter Orban, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (= edtion suhrkamp 1175). Vgl. Axel Drews, Ute Gerhard und Jürgen Link: „Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 1. Sonderheft Forschungsreferate, Tübingen: Max Niemeyer 1985, S. 256–375 sowie Frank Becker, Ute Gerhard und Jürgen Link, „Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II)“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997), S. 70–154.

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Lux Unlimited Wirft man einen entfernten Blick auf Vineland, dann wird offensichtlich, dass die Struktur dieses Prosatextes an einen Flickenteppich erinnert. Unterschiedliche historische, intertextuelle und intermediale Fundstücke werden zu einer Textur verknüpft, die – bei genauerer Betrachtung – der Anmutung einer Videoinstallation nahekommt, in die unterschiedliche Apparate aus der Geschichte der Bildmedien integriert sind und die diesen medienarchäologischen Fundus auch ausstellt. Überall werden die Lichter (und Schatten) von historischen Hollywood-Schinken, japanischen Monsterfilmen, PolizeiSerien, Actionfilmen und Roadmovies, Familiendramen, Seifenopern, TVDokumentationen und Independent-Produktionen projiziert. Es sind also tatsächlich ‚Bilderrhythmen und Bildersounds‘, die in Vineland den Takt vorgeben. Der Text avanciert zum interdiskursiven Medienverbund, indem er Text- und Bildmedien unabhängig davon integriert, in welcher medialen Form diese vorliegen oder ob es sich um statische oder bewegte handelt. Aufgrund ihrer Speicherfunktion führen alle diese Medien Vergangenheit mit sich. Durch ihre Verknüpfung ergeben sich daher neue Möglichkeiten, das Vergangene auf das Gegenwärtige zu beziehen. Schließlich bleibt der Text gerade in seiner Beschäftigung mit Phänomenen der Intertextualität und Intermedialität historisch orientiert und der kritischen Analyse von Regierungsformen verpflichtet, in deren Dispositive – nicht zuletzt und immer auch – Medien integriert sind. Es ist daher zu zeigen, wie der Text die Dimensionen der Archäologie und Genealogie miteinander kombiniert, indem er die politische Geschichte Amerikas mit der medialen Entwicklung von Filmkunst und Rock ’n’ Roll-Musik eng führt und über die Kategorie der Generation überdies auch mit der Konfiguration verbindet. Auf dieser Grundlage lassen sich abschließend noch einige systematische Aspekte diskutieren.54 Die Nacht und die Filme surrten weiter, die Spulen drehten sich und trugen Prairie zurück in und durch ein Amerika von früher, ein Amerika, das sie selbst kaum gesehen hatte, außer vielleicht in schnell geschnittenen Sequenzen in der Glotze, die die Atmosphäre jener Zeit vermitteln sollten, oder als angedeuteten Hintergrund in Wiederholungen von ‚Bewitched‘ oder ‚The Brady Bunch‘. Da waren die üblichen Miniröcke, Nickelbrillen und bunten Perlen, außerdem Hippiejungs, die ihre Schwänze schwenkten, irgendein Hund auf Trip, Rock ’n’ 54 

Bedauerlicherweise ließen sich nicht alle eingehender analysierten Konstellationen des Textes in diesen Aufsatz integrieren. Vineland bietet viele weitere Fluchtlinien. Die entsprechenden Passagen zu Aspekten wie „Einsen und Nullen“, „The Tube“, „Thanatoid Village“, „Literarischer Kynismus“ u. a. sollen daher bei anderer Gelegenheit publiziert werden.

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Tobias Lachmann Roll-Bands, die ein Stück nach dem anderen spielten, und manches war ziemlich übel. Vor einem Zaun am Rand eines tiefgrünen, fedrigen Artischockenfeldes prügelten sich, während Sturmwolken durchs Bild jagten, streikende Landarbeiter mit Streikbrechern und Polizisten. Staatspolizisten räumten das Haus einer Kommune in Texas, schlugen mit Gummiknüppeln auf die Männer ein, faßten den mit Handschellen gefesselten Frauen zwischen die Beine, verprügelten kleine Kinder, erschossen die Tiere. Prairie atmete mit Bedacht und zwang sich hinzusehen. Die Sonne ging auf über Feldern und Wanderarbeitern in bunten Hemden, im Hintergrund die Silhouetten von Bussen und transportablen Toiletten auf den Ladeflächen von Lastwagen, sie beschien gnadenlos Haufen von beschlagnahmtem Marihuana, aus denen die Flammen wie blaßorange Verzerrungen des Tageslichts loderten, sie ging unter hinter Universitätsgeländen, die sich in Parkplätze für Militärfahrzeuge verwandelt hatten, welche ölige Schatten warfen. Es gab wenig Barmherziges in diesen Szenen, und wenn, dann nur durch Zufall: Da war der im Gegenlicht glitzernde Schweiß auf dem Arm eines Nationalgardisten, der mit seinem Gewehr auf einen Demonstranten einschlug, da war die Nahaufnahme eines Großfarmers, dessen Gesicht alles verriet, was sein Besitzer zu verschweigen suchte, da waren hier und da grüne Wiesen und Sonnenuntergänge – doch es war zuwenig und bot den Zuschauern keine Möglichkeit dem zu entkommen, was sie, so die Botschaft des Films, sehen und hören mußten. (249 f.)

An anderer Stelle wurde bereits erwähnt, dass Vineland unterschiedliche historische Ebenen überblendet, die jeweils sowohl ‚reale‘, als auch fiktionale Anteile besitzen. Die Art und Weise, wie dieses Verfahren Vergangenes für die Gegenwart rezipierbar macht, lässt sich an der Figur Prairie Wheelers genauer veranschaulichen. Zoyds Versuch, Prairie durch eine topographische Ausschweifung vor dem Zugriff Brock Vonds zu schützen, indem er sie mit Jesaja Zwo-Viers Band Billy Barf and the Vomitones auf Tournee schickt, begründet eine Fluchtbewegung, die nicht nur horizontal die kalifornische Küste hinunter und wieder hinauf führt, sondern vertikal auch weit in die Vergangenheit zurückreicht. Unter Anleitung von DL Chastain und ihrem Partner Takeshi Fumimota sowie gestützt auf das Archiv des „24fps“-Filmkollektivs erschließt sich Prairie die ‚Geschichte‘ nahezu komplett aus den Erzählungen unterschiedlicher Zeitzeugen, aus Fotos oder Filmmaterial. Dabei geraten die Übergänge zwischen der erzählten Handlung im Rahmen der extradiegetischen Erzählerrede und der intra- wie metadiegetischen Darstellung ins Fließen. Texte, Bilder (Fotos), Filme und Videos erscheinen als eine narrativ integrierte Ansammlung von Daten, Informationen, Signalen und Kodes, die einen Bildraum der Erinnerung konstituieren, der letztlich jedoch von Prairie selbst produziert werden muss. Die dominante historische Ebene dieser Thematisierung der Medialität von Erinnerung ist zunächst der Dokumentarfilm der 1960er Jahre. Er verspricht jene Authentizität, die sich die revolutionären Filmemacher erhoffen, und

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bürgt, wie sich an der Relevanz der marxistischen Widerspiegelungsthese für den Theoriediskurs der Zeit leicht ablesen lässt, für den erhofften Realismus. Diese Position wird am prominentesten von Frenesi Gates vertreten. Anders als die an-politisierte „Tussi von der Uni“ (54) verkörpert Zoyd den HippieMusiker, der sich in der regionalen Rock ’n’ Roll-Szene bewegt und für den sich alles um das Leitmedium der Schallplatte dreht. Während sich Frenesi mit der Kamera in der Hand in die gesellschaftlichen Kämpfe stürzt, neigt Zoyd dazu, auf dem Plattenspieler The Best of Sam Cooke aufzulegen, „wenn sich draußen die finstere Ödnis ausbreitete und unsichtbare Konterschläge ausgeteilt wurden und die gnadenlose Macht des Unterdrückungsapparates wuchs, der das grüne, freie Amerika ihrer Kindheit in ein geschundenes, zerstörtes Land verwandelte“ (392). Für Frenesis Eltern, Hub und Sasha Gates, geborene Traverse, stellt sich das Verhältnis zum Staat anders dar. Beide, Sasha als Filmdramaturgin und Hub als Beleuchter, sind ganz unmittelbar in die Geschichte Hollywoods und seines Tonfilms involviert. Zu Zeiten der „Red Scare“ ist ihr Leben geprägt von gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen, Antikommunismus, Spitzelei und der Praxis der Schwarzen Listen:55 „Für Sasha war die Zeit der schwarzen Listen mit ihren komplizierten Hoftänzen voller Anscheißer und Angeschissener, voller Verrat, Zerstörung, Feigheit und Lügen nichts weiter als eine Fortsetzung der traditionellen Praktiken des Filmgeschäfts, nur jetzt in politischer Form“ (104). Die musikalischen Leitmedien dieser Generation sind das Radio und die Jukebox, aus denen der Bebop eines Miles Davis, Dizzy Gillespie oder Charlie Parker schallen. Für die StummfilmGeneration von Sashas Eltern, Eula Becker und Jess Traverse, hingegen sind dies noch die Folksongs des Hobos Joe Hill. Beide, sowohl Eula, deren Familie die Bergwerksgesellschaft in Montana bekämpft, als auch Jess, der die Holzfäller in Vineland, Humboldt und Del Norte organisiert und daher Ziel eines Anschlags von Seiten der Arbeitgebervereinigung wird, sind Wobblies und leben ein „Zigeunerleben“ (98), das auch die nachfolgenden Generationen prägt. Den ‚Nullpunkt‘ der (politischen) Medienarchäologie in Vineland bildet schließlich die Fotografie, deren „antike[] Emulsionen“ die Yurok zur „Zeit der Jahrhundertwende“ (396) auratisieren. Demgegenüber erscheinen die 1980er Jahre tiefgreifend gekennzeichnet von der Expansion des kommerziellen Kabelfernsehens, das sich, seit es in den 1950er Jahren eingeführt wurde, mit rasender Geschwindigkeit verbreitete, so dass in Vineland von „Feuergefechte[n] zwischen rivalisierenden Kolonnen von Kabellegern“ berichtet wird, „die begierig waren, ihren weit entfernt 55 

Eine Überblicksdarstellung dazu bietet Hannes Brühwiler, „Vernehmbare Dissonanzen. Hollywood und die Schwarze Liste – Eine Einführung“, in: ders., (Hrsg.), The Sound of Fury. Hollywoods Schwarze Liste, Berlin: Bertz + Fischer 2020, S. 13–33.

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residierenden Bossen neue Seelen zuzuführen, und um jedes Haus kämpften, bis die Aufsichtsbehörde sich schließlich gezwungen sah, das County in Kabelzonen zu unterteilen, die sich dann später zu eigenständigen politischen Einheiten entwickelten“ (398). Musikalisch betrachtet, mündet die Entwicklung in die Heavy-Metal-Szene, deren Vertreter, wie Billy Barf and the Vomitones, sich nicht zu schade sind, unter dem Namen Gino Baglione and the Paisans sowie mit „glänzendschwarzen kurzen Perücken“, „scharfen minzgrünen Anzügen von europäischem Schnitt“, „einem goldenen Geschmeide“ und „angeklebten Schnurrbärten“ (120), das Simulakrum einer italienischen Orchester-Combo abzugeben. Das Leitmedium des digitalen Zeitalters ist zunächst einmal die Compact Disc, darüber hinaus aber wohl vor allem – und da finden Bild- und Tonmedien einmal mehr zueinander – MTV. Aus naheliegenden Gründen – weil er sich die Mittel dieses Medium nämlich selbst zunutze macht – geht der Text darauf nur am Rande ein. Er antizipiert diese Entwicklung aber in jener Unterhaltung zwischen Zoyd und Mucho Maas, in deren Rahmen letzterer auch die weitere politische Geschichte Amerikas vorwegnimmt, indem er die beiden Figuren über die höheren Einsichten von Acid-Trips philosophieren lässt. Während Zoyd das dabei gewonnene Bewusstsein seiner Generation verklärt, niemals sterben zu müssen, beweist Mucho einmal mehr seine Weitsicht, wenn er im Hinblick auf die Strategien der Zerstreuung sagt: ‚Das ist kein Problem. Sie lassen’s uns einfach vergessen. Geben uns zuviel zu verarbeiten, baggern uns zu, lenken uns ab. Das ist der ganze Sinn der Glotze, und – auch wenn’s mir weht tut, das zu sagen – das ist es auch, zu was Rock ’n’ Roll sich entwickelt: bloß noch ein Ding mehr, das uns ablenkt, damit diese wunderbare Gewißheit, die wir mal hatten, nach und nach verblaßt, und nach einer Weile haben sie uns davon überzeugt, daß wir doch sterben müssen. Und dann haben sie uns wieder im Griff.‘ (391 f.)

Aus diesen Ausführungen sowie weiteren Textstellen ergeben sich einige systematische Aspekte, die es zu thematisieren gilt. Einer dieser Punkte betrifft den Film als Speicher oder als Medium zur Konservierung von Vergangenem. Im literarischen Text realisiert wird er insbesondere anhand des Archivs des „24fps“-Kollektivs, das dessen frühere Cutterin Ditzah Pisk verwaltet. Die Erinnerungsfunktion des Films wird vor allem im Vergleich zum Konzept des Bildgedächtnisses deutlich. Während Zoyd eine Szene mit Frenesi an ihrem Hochzeitstag memoriert, indem er ein mentales Bild abspeichert – „Er dachte: Wenigstens das darfst du nicht vergessen, such einen sicheren Platz in deiner Erinnerung, nur für ihr Gesicht, jetzt in diesem Licht, okay, ihr Blick so ruhig wie jetzt, ihre Lippen im Begriff, sich zu öffnen …“ (52) – fragt DL Prairie, die sich wiederholt nach ihrer Mutter erkundigt: „‚Würdest du dich, bis du sie leibhaftig

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sehen kannst, damit begnügen, sie dir … auf der Leinwand anzusehen?“ (243). Damit macht sie deutlich, dass Film zwar als Speicher von Vergangenem zu fungieren vermag, dabei letztlich aber ein Substitut wirklicher Erfahrungen bleibt, solange diese nicht machbar sind. Dass dieser Ersatz allerdings über die schattenhafte Existenz der Figuren auf der Leinwand hinausweist, das erfährt Prairie beim Studium der zuvor zitierten Dokumentarfilme, die ihre Mutter gedreht hat und die ihr das Archiv zugänglich macht. Hier erweist sich die Erinnerung zumindest insofern als eine körperliche Erfahrung, als sie sich auf ein geschultes Auge stützen kann: ‚Irgendwann begriff Prairie, daß die Person hinter der Kamera meist tatsächlich ihre Mutter war und daß sie, wenn sie sich frei von Gedanken hielt, Frenesi in sich aufnehmen und bis zu einem gewissen Grad sie werden konnte, daß sie durch die Augen ihrer Mutter sehen und, wenn die Kamera vor Erschöpfung oder Angst oder Ekel wackelte, sowohl Frenesis Körper spüren konnte als auch ihren Intellekt, der diesen Bildausschnitt gewählt hatte, und auch ihre Entschlossenheit, die sie hinausgehen, die Kamera laden und abdrücken ließ. (250) [Meine Hervorhebung, T. L.]

Als Kind der 1980er Jahre ist Prairie im Umgang mit Bildmedien durch ihren exzessiven Konsum versiert. Sie weiß, dass die Gedächtnisfunktion von Bildern – ihrer vermeintlichen Objektivität zum Trotz – komplexer ist als etwa die von Texten. Deshalb kann sie auch zwischen einer ‚gefilmten‘ und einer „ungefilmte[n] Realität“ (327) unterscheiden und damit ein Differenzierungsvermögen beweisen, das ihre Mutter, zumindest in den 1960er Jahren, (noch) nicht besitzt. Dieser Umstand, und das wäre ein zweiter Punkt, wird an der Theoretisierung der Diskussion über die Opposition zwischen Kunst und Leben unter den Mitgliedern des „24fps“-Filmkollektivs erkennbar. Die Grundlage für diese Diskussion bildet das Konzept des Engagements. Wie Sasha handelt auch Frenesi aus ihrem Unrechtsempfinden heraus: „Vielleicht müssen wir uns mit dem Gang der Geschichte abfinden, dachte sie, vielleicht aber auch nicht – aber wenn man sich weigert, jede Scheiße zu schlucken, deren Quelle man kennt und benennen kann, dann könnte das schon einen Unterschied machen“ (103). In diesem Bewusstsein greift Frenesi zur Kamera, setzt sich den sozialen Unruhen aus, die sie zugleich filmt, und macht sich damit selbst zur Betroffenen. Diese Herangehensweise, das macht der Text, der die studentisch geprägte Bewegung in ihrer ganzen Ambivalenz darstellt, sehr deutlich, wird in einer vom Pathos getragenen, theoretischen Diskussion messianisch überhöht: „Das inoffizielle Motto von ‚24fps‘ war Che Guevaras Satz ‚Wo immer der Tod uns überrascht‘“ (255). Dass die Darstellung der damaligen Diskussionskultur ironisch

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gebrochen ist, wird an einer anderen Stelle offensichtlich. Dort heißt es: „Die andere endlose Diskussion drehte sich um die Frage, was Vorrang hatte: der Film oder das ‚wirkliche Leben‘? Würde es eines Tages nötig sein, für ein paar Meter Film zu sterben?“ (254). Während die Diskussion unter den Filmemachern heiß läuft, klinkt sich eine der Figuren aus: DL Chastain. Das ist insofern signifikant, als die Ninjette – im Unterschied zu Frenesi – die „Tussi mit ’ner Uzi“ (133) ist und damit für die revolutionäre Praxis steht.56 Für die von Inoshiro Sensei ausgebildete DL ist der Umgang mit Waffen nicht symbolisch, sondern politisch, ein Teil des Lebens. Umgekehrt zeigt sich, dass Frenesis Blick auf die Waffe, mit der Weed Atman ermordet wird, in erster Linie ästhetisch motiviert ist: Sie versuchte sich einzureden, daß die 24-Bilder-pro-Sekunde-Wahrheit, an die sie noch immer glaubte, auf eine neue, intensivere Ebene gehoben würde, wenn ein Revolver im Haus war. Wenn man dieses kleine Miststück hier etwa acht zu eins ausleuchtete, die Reflexionen dämpfte, mit einer extremen Nahaufnahme anfing, dann aufzog, so daß dieses wunderschöne, tödliche Ding in die Totale von der Versammlung heute abend eingebaut war und dann das Bildfeld veränderte, um schließlich doch zu den unsichtbaren Präsenzen und unausweichlichen Bedingungen zurückzukehren, die sie bisher lediglich in Form von Geisterbildern hatte ausleuchten und sichtbar machen können … (302 f.)

Die Kamera kann eben doch lügen, oder zumindest täuschen. Zwar legt die „Tatsache, dass eine optische Kamera teilweise den Naturgesetzen unterworfen ist“, den Glauben an „ein Gefühl von Objektivität“ nahe, „das erlaubt zu glauben, was gezeigt wird“,57 sie bleibt aber doch in Diskurse eingebunden, die sich als mächtiger erweisen als die bloße Optik. Prairie hat das an den körperlichen Auswirkungen der Wahrnehmung auf Frenesis Kameraführung beobachten können. Frenesi wird sich dessen erst nach dem Mord an Weed 56 

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„Wenn Frenesis Reich das Licht war, so war DLs Reich die Dunkelheit. Die meisten bei ‚24fps‘ hatten gesehen, oder vielmehr nicht gesehen, wie sie ohne jede Anstrengung durch von Bullen und ihren Waffen verseuchte Gebiete gegangen war, unterwegs Brüder und Schwestern und ihre Fahrzeuge aufgelesen hatte und seelenruhig am anderen Ende herausgekommen war, als sei nichts gewesen, und danach war ihr leuchtender Haarschopf, den die Bullen irgendwie nie zu sehen schienen, nicht zerzauster gewesen als vorher. Sledge und Howie glaubten an ihre Unsichtbarkeit, so wie man damals an LSD, die unmittelbar bevorstehende Revolution oder asiatische Kampf- und Meditationstechniken glauben konnte.“ (314) John Fiske, „Videotech“, in: Ralf Adelmann, Jan Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff und Matthias Thiele (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK 2001 (= UTB 2357), S. 484–502, hier S. 493.

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bewusst. Zu DL sagt sie: „Kommt mir so vor, als wären wir die ganze Zeit rumgelaufen wie kleine Kinder mit Spielzeuggewehren – als wäre die Kamera wirklich eine Art Pistole, als würde sie uns echte Macht verleihen. Scheiße. Wie konnte es passieren, daß wir die Realität so aus den Augen verloren haben?“ (324). Und es ist wenig verwunderlich, dass es als einzige neben DL die Schwestern Ditzah und Zipi Pisk sind, die diese Illusion durchschauen. Schließlich handelt es sich bei diesen Figuren um die Cutterinnen des Kollektivs, und damit um diejenigen, die aufgrund ihrer Beschäftigung mit der Schnitttechnik als dem ‚Unbewussten‘ des Films genau wissen, dass die ‚Wirklichkeit‘ im Film zurechtgestutzt wird. Eine Desillusionierung, wie die Regisseurin Frenesi sie erlebt, bleibt ihnen erspart: „‚Was haben wir also bewirkt? Wen haben wir gerettet? Sobald die Waffen ins Spiel kamen, war’s vorbei mit dem Filmkunstgewichse‘“ (324). Als dritter Punkt zu ergänzen, wäre ferner, dass der Symbolik des Lichts in Vineland eine kaum zu überschätzende Bedeutung zukommt. Die entsprechenden Textstellen sind zu zahlreich, als dass sie in diesem Rahmen auch nur annähernd diskutiert werden könnten. Eine relativ leicht nachvollziehbare Differenzierung ergibt sich aber, wenn man zwischen natürlichem und künstlichem Licht unterscheidet. Die Symbolik des natürlichen Lichts verweist in erster Linie auf die Wahrnehmung selbst und stellt die Frage nach der ‚Wahrheit‘, Wirklichkeit oder Authentizität menschlicher Wahrnehmung. In diesem Spektrum verortet ist auch der Aspekt der Körperlichkeit der Wahrnehmung, der deren vermeintliche ‚Objektivität‘ zur Disposition stellt. Der Text entwickelt diesen Komplex von der Annahme her, dass Licht gleich Leben ist; zumindest ist einmal die Rede von Dingen, die es noch zu erledigen gilt, „bevor das Licht wegging“ (365). Diese Darstellung steht in Einklang mit der ökologischen Theorie der Wahrnehmung, die Licht ganz elementar als Information begreift und daher an die Erkenntnisse der Informationstheorie anschließbar ist. Diesem Ansatz zufolge ist die sinnliche Wahrnehmung immer aktiv, im Sinne von ‚aktiv hervorbringend‘, und sie kann sich dabei auf die Informationen stützen, die über die räumliche Umgebung bereitgestellt werden. Der Träger der Information ist dabei das Licht, so wie es von den Dingen und Ereignissen im Raum zurückgeworfen wird. Feinste Veränderungen in der Struktur des Lichts informieren uns über die Ereignisse, Invarianten hingegen garantieren die Wahrnehmung der beständigen Eigenschaften der Umgebung. Mit Hilfe der mathematischen Gruppentheorie können solche Muster und Beziehungen beschrieben und näher erforscht werden. Die Wahrnehmung ist dabei aber immer vom individuellen Verhalten der Betrachter abhängig. Ein einfacher Kanal zwischen input und output existiert nicht, wohl aber gibt es

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ästhetische Präferenzen und Idiosynkrasien der Wahrnehmung.58 Derartige Überlegungen fließen in den Text ein und werden literarisch erprobt. Etwa, als Takeshi DL erläutert, dass es sich bei den Thanatoiden in Shade Creek um „Opfer karmischer Diskrepanzen – unerwiderter Schläge, ungerächter Leiden, ungeahndeter Schuld“ (217) handelt, und er nach durchwachter Nacht mit ihr ans Fenster tritt, um hinunter auf das Village zu blicken, das sich ihrem Blick „so unmittelbar wie auf einem naiven Bild, ohne Schatten und Schlupfwinkel“ (217) in absoluter Transparenz offenbart: Hätten sie, während die Sonne aufging, weiter hinausgesehen, so hätten sie bemerkt, daß die Stadt sich veränderte, daß die Ecken der Dinge sich langsam drehten und die Schatten herbeikamen und einige Winkel umklappten, so daß die ‚Gesetze‘ der Perspektive wieder in Kraft treten konnten. Um neun Uhr etwa würde die Tagesversion dessen, was man aus diesem sonderbaren Fenster sehen konnte, wieder intakt sein. (217 f.)

Die Symbolik des künstlichen Lichts in Vineland hingegen fungiert als Symbol der Aufklärung. Die Menschen durch ihre Dokumentationen aufklären, das wollen die radikalen Filmemacher von „24fps“ und dementsprechend benötigen sie ein Konzept dafür, wie sie das Licht in die Welt bringen wollen: „Jeder bei ‚24fps‘ hatte seine eigenen Vorstellungen vom richtigen Licht und einig waren sie sich eigentlich nur in der Leidenschaft dafür“ (253). Als Tochter des professionellen Beleuchters Hub Gates setzt sich Frenesi dafür ein, „aktiv Energie einzubringen, indem sie soviel künstliches Licht verwendeten, wie sie aus der örtlichen Stromversorgung „befreien“ konnten“ (ebd.). Zu diesem Zweck hortet sie Unmengen von Utensilien, um jenem „faschistischen Ungeheuer“, hinter dem sich das staatliche Stromnetz verbirgt, „das Herzblut abzuzapfen“, jener „Zentralmacht“ also, „die, wie Frenesi in jener Zeit aufgrund von Träumen zu entdecken begann, dennoch irgendwie ein Leben, einen Willen, ein persönliches Bewußtsein besaß“ (ebd.). Hub Gates, von dem sich Sasha im Lauf der Jahre getrennt hat, wie es in ihrer Familie üblich ist, ohne dabei den Kontakt abzubrechen, hält sich finanziell über Wasser, indem er „mit seinem kleinen Unternehmen ‚Lux Unlimited‘“ (461) durch die Lande tingelt. So sieht Frenesi ihren Vater noch im Traum: 58 

Vgl. James  J.  Gibson, Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung (1966), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Ivo und Erika Kohler, Bern, Stuttgart und Wien: Hans Huber 1982 sowie ders., Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung (1979), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Gerhard Lücke und Ivo Kohler, München, Wien und Baltimore: Urban & Schwarzenberg 1982.

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Schwankend und klappernd entfernte er sich von ihr, eine schnurgerade alte Landstraße entlang, zwischen Feldern und Hügeln hindurch, die in ein metallisches, durch Wolken gedämpftes Spätnachmittagslicht getaucht waren, von dem er genau wußte, wie viele Stunden und Minuten es noch halten würde und wie viele Lumen es noch hergab, und hinter ihm, wie Entenküken, eine Reihe von Schweinwerfern, Generatoren und Punktstrahlern, jeder auf einem eigenen kleinen Anhänger, unterwegs zum nächsten Job, zum nächsten Rummelplatz, zum nächsten Gebrauchtwagenhändler – und immer noch wollte er nichts anderes, als die tödlichen Amperes in Licht zu verwandeln, in den großen, weißglühenden, todeskalten Guß, Strom, Stoß, ganz gleich, wohin er gehen und welche Bedingungen er akzeptieren mußte, um das weiterhin tun zu dürfen. Sie hatte ihm nachgerufen, doch er hatte sich nicht umgedreht, war in seinem schleppenden Trott weitergezogen, hatte geantwortet, ihr aber sein Gesicht nicht gezeigt. ‚Paß auf dich auf, kleine Chefbeleuchterin. Kümmer dich um deine Toten, sonst kümmern sie sich um dich.‘ (461 f.)

Zerstreuung und Resistenz Vineland ist ein Ereignistext, genauso wie er ein Textereignis ist. In diesem Text treffen Gegenwärtiges und Vergangenes ereignishaft aufeinander. Allerdings haben sich die Bedingungen der Ereignisgeschichte zwischen Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts signifikant verändert. Am Ende des Jahrhunderts ist das historische Gedächtnis dem Einfluss wirkmächtiger Bildmedien ausgesetzt, die traditionelle literarische Formen zu verdrängen und die Erinnerung zu zerstreuen drohen. Mit gängigen Erklärungsmustern lässt sich Vineland daher nicht fassen. Der Text bricht mit dem traditionellen Modell einer chronologisch erzählten Geschichte, die sich linear entwickelt und kausal motiviert ist. An die Stelle des narrativen Kontinuums tritt eine radikale Form der Diskontinuität. Sie zerstreut das ‚epische‘ Moment der Geschichte und ersetzt es durch Konstellationen von literarisch generierten Erinnerungsbildern, in denen die Vergangenheit unvorhersehbar aufblitzt. Um dies zu erreichen, arbeitet der Text mit Diskursfragmenten, die er mit den Mitteln der literarischen Montage zu einer vielfach gebrochenen Textur kleiner und kleinster Handlungselemente zusammenflickt. Damit lenkt er den Blick zugleich auch auf seine Materialität und Medialität. Die Geschichte, die er erzählt, besteht aus einer Vielzahl von Geschichten. Diese liegen in ganz unterschiedlichen medialen Formen und Formaten vor. Die Machart des Textes erlaubt es, diese zu integrieren. Dabei entwickelt er seine eigene Gestalt in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Medien, vor allem jenen Bildmedien, die unser Leben bestimmen und immer weiter durchsetzen.

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Schon im Jahr 1984 wird die Wahrnehmung der ‚Wirklichkeit‘ im Wesentlichen von der Bildästhetik des Kabel- und Satellitenfernsehens geprägt. Sie ist gekennzeichnet durch eine rasche Abfolge bewegter Bilder, durch sprunghafte Schnitte und Montagen. Dabei hat sich die Montagetechnik von ihren medialen Ursprüngen im Filmschnitt längst emanzipiert. Lange Zeit waren Bildmedien untereinander nicht oder nur schwer kompatibel. Das änderte sich Anfang der 1980er Jahre fundamental. Neue Technologien ermöglichten den nicht-linearen Schnitt, der eine Integration aller üblichen Filmformate erlaubte. Dadurch ließen sich neuartige visuelle Collagen herstellen, bei denen es keine Rolle spielte, ob ihr ursprüngliches Material in 8mm, 16mm oder 35mm, in Schwarzweiß oder Farbe vorlag. Waren die Originale erst einmal auf ein elektronisches Band überspielt, dann ließen sie sich nach Belieben schneiden und montieren. Die Variabilität dieses Verfahrens machte jene Linearität obsolet, die den Videoschnitt lange Zeit gekennzeichnet hatte: „Die NichtLinearität ermuntert oder nährt den televisuellen Appetit nach stilistischer Flüchtigkeit und endloser formaler Umstellungen [sic!].“59 Der technologische Fortschritt brachte aber nicht nur den Videoclip hervor, der im „‚Gib ihnen Saures‘-Look von MTV“60 seine ästhetische Entelechie fand, sondern auch neue Formen des Umgangs mit der Bildgewalt der Medien. Mit der Kulturtechnik des Zappings entwickelte sich eine Navigationsweise, die es erlaubt, selbstgewählte Pfade durch das Dickicht eines immer unüberschaubareren Fernsehprogramms zu schlagen, indem man in schneller Folge durch die Kanäle schaltet. Dabei entpuppt sich das Zapping als kontingenter Vorgang, der auf einer unkalkulierbaren Kombinatorik beruht. Nicht nur aus Sicht der Programmmacher, aus deren Perspektive das Hin-und-her-Schalten ein Unding ist, weil es das Kontinuum des programmierten Ablaufs geplanter Sendungen sprengt, erweist sich die „Störung von vorgefertigten Sinnstrukturen“ als das zentrale Merkmal des Zappings.61 Die Bezüge zur generativen Poetik von Vineland sind hierbei kaum zu übersehen. Nun findet sich allerdings die Kritik, dass diese Medien entschieden zur Zerstreuung des historischen Bewusstseins beigetragen hätten und daher einen wesentlichen Anteil an der Enthistorisierung der Postmoderne besäßen. Von einer etwaigen Widerständigkeit ist keine Rede. Es lohnt daher, noch einmal genauer zu betrachten, wie in Vineland Geschichte konstruiert wird und 59  60  61 

Caldwell, „Televisualität“ (Anm. 29), S. 192. Ebd., S. 174. Harun Maye, „Zappen“, in: Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann (Hrsg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln, Weimar und Wien: Böhlau 2014, S. 653–665, hier S. 663.

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welchen Effekt das hat. Bemüht man sich um einen generativ orientierten Blick auf den Text, so stellt man fest, dass dieser in allen Subsystemen von Prinzipien der Zerstreuung und Resistenz durchdrungen ist. Während auf der Ebene der Basishandlung einerseits eine Fluchtbewegung als topographische Ausschweifung im Raum der Macht inszeniert wird, durch die Prairie dem Zugriff Brock Vonds entzogen werden soll, wird diese rasant erzählte und chronologisch in die Zukunft weisende Handlung andererseits mit der medial induzierten historischen Recherche kombiniert, die immer tiefer in die familiäre Vorgeschichte zurückreicht. Diese gegenläufige Textbewegung ist anachronisch orientiert und überdies von einem exzessiven Gebrauch der Digression gekennzeichnet. Auf diese Weise werden Gegenwart und Vergangenheit immer weiter verschachtelt und überblendet. Im Endeffekt entsteht so der Eindruck einer Außerzeitlichkeit oder Simultaneität, in der Vergangenes und Gegenwärtiges gleichzeitig erscheinen. Der Vektor der Geschichte bleibt aber ganz eindeutig auf den Kairos, also die Aktualität des historischen Moments, bezogen. Das ist alles andere als ahistorisch. Ganz im Gegenteil hilft diese ausgesprochen komplexe literarische Verfremdung gewohnter Wahrnehmungsweisen, die Verschränkung von Vergangenem und Gegenwärtigen genauer zu fassen und einen Trugschluss bezüglich der Medialität des Fernsehens aufzulösen. Dazu der Medienwissenschaftler William Uricchio: Die explosive Vermehrung der über Kabel und Satellit verfügbaren Sender hat das Fernsehen in eine ganz andere Zeitmaschine verwandelt, die sofortigen Zugriff auf wahllose Zeitpunkte der im Fernsehen übertragenen (und gefilmten) Vergangenheit erlaubt. Die heutige Fernsehöffentlichkeit kann mithilfe der Fernbedienung durch hunderte von Programmen zappen und sich Nachrichten, Informations- und Unterhaltungssendungen ansehen, die irgendwann in den letzten 100 Jahren hergestellt wurden.62

Für diese medialen Möglichkeiten der Synchronisierung von Vergangenheit und Gegenwart interessiert sich auch Pynchon. Und in Vineland erprobt er sie mit literarischen Mitteln. Das aber erfordert die Literarisierung einer völlig neuen Erfahrung von Simultaneität, die sich von der Wahrnehmung synchron ablaufender Ereignisse zur simultanen Wahrnehmung historisch disparater Zeiten verlagert. Dabei verbinden sich die unterschiedlichen Potentiale von Fernsehen und Film. Während sich die mit einer „Empfindung von Nähe und Kontiguität“ assoziierte Synchronität vor allem in der Frühzeit für das 62 

William Uricchio, „Medien, Simultaneität, Konvergenz. Kultur und Technologie im Zeitalter von Intermedialität“, in: Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff und Matthias Thiele (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz: UVK 2001 (= UTB 2357), S. 281–310, hier S. 300.

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Fernsehens als prägend erweist, besteht eine elementare Voraussetzung des Films darin, dass er zuvor aufgezeichnet wurde. Konnte das Fernsehen damit als eine Art „erweiterter Lebenszustand“ erscheinen, war für den Film stets entscheidend, dass „dessen Bewegungseindruck auf 24 statischen Bildern pro Sekunde beruht“, was unterstreicht, „dass Realität diskontinuierlich, sich selbst widersprechend sowie der offenbare Zusammenhang und Fluss der Dinge nur eine Illusion ist“.63 Uricchio plädiert daher für eine stärkere Berücksichtigung von „Traditionen, die an zentraler Stelle mit Speicherung und Rekonstruktion (Gedächtnistheorie) und mit einer gebrochenen Subjektvorstellung zu tun haben“, weil er darin das eigentliche „Potential des Mediums zur Fragmentierung der Betrachterposition durch das Hinundherschneiden zwischen zahlreichen räumlichen Positionen in Echt- (Simultan-) Zeit“ erkennt.64 Das entspricht ziemlich exakt dem Konzept der Ereignisgeschichte bei Walter Benjamin, in der ‚das Bild der Vergangenheit im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzt‘. Einen solchen ‚Bildraum des unwillkürlichen Eingedenkens‘ bringt mit literarischen Mitteln auch Vineland hervor. Und so wie die zahllosen bruchstückhaften Erzählfragmente und Anekdoten „als Betonung der wahrgenommenen Simultaneität oder ‚Anwesenheit‘ von Repräsentation und Realität verstanden werden“ können,65 ermöglicht es diese ästhetische Verfahrensweise auch, über traditionelle Realismus-Vorstellungen hinauszugehen und die Trennung zwischen mots und choses, also die scheinbar unhintergehbare Trennung zwischen der diskursiv verfassten Welt der Erzählung und der ‚wirklichen Welt‘ der Geschichte, aufzuheben. In Vineland wird die „Diskontinuierung als Auflösung des ‚epischen Moments der Geschichte‘“ über die literarische Montage und Imitation der Bildästhetik des Fernsehens und die Kulturtechnik des Zappings generiert.66 Dieser entschiedene Bruch mit der teleologischen Geschichtsschreibung steht übrigens in einer literarischen Tradition, die weit über Benjamin hinausweist. Wie Benjamin bei seiner Arbeit am Passagen-Werk, beruft diese sich auf die Symbolik des Flickwerks, um ihre Verfahrensweise bildlich zu veranschaulichen. Es geht dabei um den antiken Kynismus, in dessen Genealogie sich Pynchon einschreibt. Über die Haltung der Kyniker, die sich literarisch vor allem im Prosimetrum der Menippeischen Satire niedergeschlagen hat, schreibt Friedrich Nietzsche:

63  64  65  66 

Ebd., S. 302 f. Ebd., S. 304. Ebd., S. 301. Vgl. Gerhard, „Das symbolische Modell“ (Anm. 8), S. 210.

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Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat; auf welchem Wege die cynischen Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des Stils, im Hin und Herschwanken zwischen prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des ‚rasenden Sokrates‘, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht haben.67

Es würde zu weit führen, die Bedeutung dieser viel zu wenig gewürdigten Tradition für Thomas Pynchon an dieser Stelle in all ihren Facetten aufzuzeigen.68 Ich möchte daher nur auf Zoyd Wheelers Rolle als ‚Narrenkönig‘ verweisen, der jede Erniedrigung auf sich nimmt, um seine geliebte Tochter zu schützen. Es erübrigt sich dabei fast, eigens darauf hinzuweisen, dass Hector Zuñiga mit seiner eingangs zitierten Einschätzung von Zoyds Resistenz falsch liegt, und dass der Widerstand, den Zoyd ihm so konsequent entgegenbringt, tatsächlich auf nichts anderem als auf seiner moralischen Integrität beruht. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die ‚Philosophie der Hunde‘ noch viel weitreichendere Spuren in Vineland hinterlassen hat. In gewisser Hinsicht wird der gesamte Text in dieser Tradition verortet, denn neben Zoyd gibt es mit Desmond, dem Hund der Wheelers, im Text einen wortwörtlichen Kyniker, von dem wir am Anfang der Erzählung erfahren, dass er von den aggressiven Blauhähern der Gegend, „die kreischend aus den Redwoods herabstießen[,]“ regelmäßig der Nahrung in seinem Futternapf beraubt wird, die diese „Brocken um Brocken davontrugen“: „Nach einiger Zeit hatte sich diese Hundefutterdiät im Verhalten der Vögel bemerkbar zu machen begonnen, manche waren schon meilenweit hinter Personenwagen und Pick-ups hergejagt und hatten nach allen gehackt, die was dagegen hatten“ (8). Nachdem der gutmütige Verlierer 67 

68 

Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in: ders., Nietzsches Werke. Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Dritte Abteilung, 1. Band: Die Geburt der Tragödie/Unzeitgemäße Betrachtungen I–III (1872–1874), Berlin und New York: Walter de Gruyter 1972, S. 17–152, hier S. 89. Das soll mein Beitrag mit dem Titel „‚Die Geburt der Gegenkultur aus dem Geiste des Raketenstaats.‘ Zur Kunst der Prosa Thomas Pynchons“ übernehmen, der im Band Ralf Simon (Hrsg.), Theorie der Prosa, Berlin und Boston: Walter de Gruyter  2020 erscheinen wird. Bislang ist mir eine einzige Studie bekannt, die darauf hindeutet. Vgl. Theodore  D.  Khapertian, A Hand to Turn the Time. The Menippean Satires of Thomas Pynchon, Rutherford, Madison und Teaneck: Fairleigh Dickinson University Press sowie London und Toronto: Associated University Presses 1990.

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Desmond im Zuge der Zwangsenteignung von Zoyds Haus vertrieben wird und sich einer Meute anderer Hunde anschließt, „die enteigneten Hanfbauern aus Trinity County gehört hatten und nun die Weidegründe durchstreiften und gelegentlich eine unschuldig grasende Kuh rissen, ein Verbrechen, auf das die Todesstrafe durch eine Kugel aus einer Jagdflinte stand“ (445), kehrt er ganz am Ende des Textes – gewissermaßen als deus ex machina – zu Prairie zurück, „das Gesicht voller Blauhäherfedern, schwanzwedelnd und mit den Augen lächelnd,“ im tiefen „Gefühl […] endlich wieder daheim“ zu sein (479).69 Darüber hinaus sei darauf verwiesen, dass den Peritext von Vineland als Motto zwei Verse von Johnny Copeland zieren, die den konzeptionellen Kynismus des Textes programmatisch manifestieren. Sie lauten: „Jeder Hund hat seinen großen Tag / und ein guter vielleicht auch zwei“ (5).70 Damit bleibt, abschließend einige summarische Worte über die Politik der Zerstreuung und Resistenz in Vineland zu verlieren. Auch wenn der Text seine Schreibweise in der dezidierten Auseinandersetzung mit den Erzählformen der populären Bildmedien entwickelt, steht er diesen keineswegs unkritisch gegenüber. Ganz im Gegenteil bietet der Umstand, dass Vineland ausgerechnet von 1984 aus zurück auf die amerikanische Geschichte blickt, die Möglichkeit, sich mit der Ambivalenz der ‚amerikanischen‘ Medien auseinanderzusetzen, die nicht nur Jean Baudrillard nachhaltig faszinierte.71 Die Darstellung schwankt dabei zwischen dem naiven Glauben an die aufklärerisch-emanzipative Funktion des Films, wie man sie beim „24fps“-Filmkollektiv beobachten kann, und dem Privatfernsehen als Mittel des repressiven Staatsapparats. John Fiske bringt diese Ambivalenz auf den Punkt: Video hat jedoch technisch unaufwendige sowie hoch-technische Formen und deshalb widersprüchliche Gebrauchsweisen. Es kann dazu verwendet werden, uns Wissen zu vermitteln und Wissen über uns zu gewinnen, uns Zugang zu einem Macht- und Wissenssystem zu verschaffen, während es uns einem anderen unterordnet. Es ist sowohl ein Instrument der Kommunikation als auch eines der Überwachung. Es kann vom Machtblock genutzt werden, um das Kommen und Gehen der Leute zu kontrollieren, aber genauso gut können die 69 

70  71 

Hieran zeigt sich eine entscheidende Differenzierung: Während die Wurzeln der Widerständigkeit der Becker-Traverses auf den militanten Sozialismus und Anarchismus der Industrial Workers of the World zurückgehen, die damit kollektivistisch orientiert sind, verkörpern Desmond und Zoyd eher den Individualismus der kynischen Tradition. Vgl. Heinrich Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus (1979), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988 (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 713). „Every dog has his day, / and a good dog / just might have two days.“ Pynchon, Vineland (Anm. 15), S. IX. Vgl. Jean Baudrillard, Amerika (1986), aus dem Französischen übersetzt von Michaela Ott, Berlin: Matthes & Seitz 2004.

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Kameras um soziale 180 Grad gedreht werden, um zu zeigen, was der Machtblock mit den Menschen macht.72

Pynchon selbst hat sich in seinem Vorwort zu George Orwells Roman 1984 ausführlich mit dieser verwickelten Lage beschäftigt. Dabei spielen sowohl die von Orwell imaginierten, medialen Möglichkeiten von Big Brother eine Rolle, als auch der Umgang mit der Geschichte, wie er in Ozeanien gepflegt wird. Die ungebrochene Aktualität von 1984 ist in beiden Fällen unübersehbar: Looking around us at the present moment, for example, we note the popularity of helicopters as a resource of ‚law enforcement‘, familiar to us from countless televised ‚crime dramas‘, themselves forms of social control – and for that matter at the ubiquity of television itself. The two-way telescreen bears a close enough resemblance to flat plasma screens linked to ‚interactive‘ cable systems, circa 2003. News is whatever the government says it is, surveillance of ordinary citizens has entered the mainstream of police activity, reasonable search and seizure is a joke. And so forth. ‚Wow, the Government has turned into Big Brother, just like Orwell predicted! Something, huh?‘ ‚Orwellian, dude!‘73

Aber auch die offizielle Geschichtsschreibung ist ein Thema, das Pynchon als Vertreter der US-amerikanischen 1968er-Generation ein Dorn im Auge ist. Ähnlich wie deutschsprachige Autoren seines Alters wendet er sich gegen die um sich greifende ‚Geschichtsklitterung‘, wenn er erklärt: „Every day public opinion is the target of rewritten history, official amnesia and outright lying, all of which benevolently termed ‚spin‘, as if it were no more harmful than a ride on a merry-go-round.“74 Diese Volte richtet sich gegen totalitäre Tendenzen, die sich in Orwells  1984 in jenem Krieg äußern, den das ozeanische Regime gegen die Erinnerung, gegen das Begehren und gegen die Sprache führt: Memory is relatively easy to deal with, from the totalitarian point of view. There is always some agency like the Ministry of Truth to deny the memories of others, to rewrite the past. It has become a commonplace circa 2003 for government employees to be paid more than most of the rest of us to debase history, trivialise truth and annihilate the past on a daily basis. Those who don’t learn from history used to have to relive it, but only until those in power could find a way to convince everybody, including themselves, that history never happened, or happened in a way best serving their own purposes – or best of all that it

72  73  74 

Fiske, „Videotech“ (Anm. 56), S. 500 f. Pynchon, „Introduction“ (Anm. 42), S. xiv. Ebd., S. xi. Vgl. in diesem Zusammenhang exemplarisch die Ausführungen von Peter-Paul Zahl, Schelmenlesung 16.05.1980, Berlin: Stechapfel 1980, Seite B, 14:50–16:56 min.

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Tobias Lachmann doesn’t matter anyway, except as some dumbed-down TV documentary cobbled together for an hour’s entertainment.75

Dieser Tendenz zur Verdummung tritt Vineland entschieden entgegen. Es zeigt sich aber auch an diesem Punkt, dass Pynchon nicht einseitig argumentiert, sondern das Thema in seiner Ambivalenz entfaltet. Mit sensiblem Blick nimmt er wahr, dass mit den neuen Medien auch eine neue Medienkompetenz erwächst. In Vineland zeugen davon sämtliche Figuren aus dem Umfeld der jüngsten Generation der Becker-Traverses: Prairie, ihre Freundin Ché – „Mal kokette Frau, mal gesenkte Sau“ (412) –,76 ihr Halbbruder Justin,77 vor allem aber ihr Freund Jesaja Zwo-Vier, der in einem vielzitierten Dialog zu Zoyd sagt: ‚Das ganze Problem mit eurer Generation‘, meinte Jesaja, ‚ist, daß ihr – nehmt das bitte nicht persönlich – zwar an eure Revolution geglaubt habt, daß ihr euch echt dafür eingesetzt habt, aber von der Glotze leider keine Ahnung hattet. Sobald die euch in den Krallen hatte, war der Fisch gegessen – das ganze alternative Amerika war toto finito, genau wie die Indianer. Ihr habt euch an euren wahren Feind verkauft, und das auch noch zum Kurs von 1970, was sowieso viel zu billig war …‘ (465)

Von dieser medienhistorischen Einsicht auf den komplexen Zusammenhang von Macht, Wissen und Subjektivierung gestoßen, wird offensichtlich, dass im Fluchtpunkt von Vineland die literarische Untersuchung einer neuen Gouvernementalität steht. Die im Text immer wieder zitierten „Einsen und Nullen“ (116) verweisen auf die Normalisierungsmacht: „[D]ie Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden.“78 Demgegenüber verweist die literarische Verschränkung von Archäologie und Genealogie in Vineland darauf, dass die Allgegenwart dieser Macht nicht ‚automatisch Verzicht auf Widerständigkeit und Interventionen‘ zur Folge haben muss, und dass es sich lohnt, weiterhin nach Möglichkeiten der Ent-Subjektivierung und Ent-Identifizierung zu suchen. Sollten diese nicht ohne weiteres zu finden sein, so lassen sich Resistenzformen und Subjektivierungsweisen auch neu entwickeln.

75  76  77  78 

Ebd., S. xx. Vgl. Pynchon, Vineland. Roman (Anm. ), S. 405–412, v. a. S . 409 f. und 411. Vgl. Ebd., S. 113 und 437 f. Deleuze, „Postscriptum“ (Anm. 4), S. 259.

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Mehr denn je gilt dies leider auch für den Universitätskontext.79 Mit ihren Arbeiten zur Nomadologie hat Ute Gerhard jedoch gezeigt, dass eine nomadisierende Wissenschaft, die ihre Gegenstände stets hinterfragt und ihre Werkzeuge und Methoden kontinuierlich modifiziert, selbst dabei helfen kann, den Anrufungen der Macht zu trotzen. Auch die Weitergabe von Erfahrung und (methodischem) Wissen an die jüngere Generation ist dafür essenziell. So eröffnet ihre Spurensuche den Raum für neue Streifzüge. DIE GLOTZE

THE TUBE

Tjaa-ja, die Glot-ze, Vergiftet dir das Hirn! Tjaa-ja die Glot-ze, Sie tut dich nur verwirr’n! Sie schießt die Strahlen auf dich ab, Sie hat dich in der Hand, Sie folgt dir bis ins Badezimmer, Sie dringt durch jede Wand.

Oh … the … Tube! It’s poisoning your brain! Oh, yes… . It’s driving you, insane! It’s shooting rays, at you, Over ev’ry-thing ya do, It sees you in your bedroom, And – on th’ toi-let too!

Holadriaho, Die Glotze, Weiß alles, was du denkst. Obwohl du’s nicht für möglich hältst, Sie hat dich ja schon längst. Du hast dir ‚Lassie‘ angesehen,

Yoo Hoo! The

Tube… . It knows, your ev’ry thought, Hey, Boob, you thought you wouldT’n geht caught – While you were sittin’ there, starin’ at ‚The Brady Bunch,‘ Big fat computer jus’

Da kam sie still und leis, Der Computer hat bloß ‚Schnapp‘ gemacht Und dich mal schnell verspeist – Had you for lunch, now Th’ Jetzt bist du an sie angeschlossen, Tube – Auch wenn du’s noch nicht weißt! (419) It’s plugged right in, to you! (336 f.)

79 

Vgl. die um Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Anti-Ödipus und Tausend Plateaus kreisende Diskussion über den „langen Sommer der Theorie“ zwischen Armen Avanessian und Joseph Vogl, „Universität und Intellektualität. Ein Gespräch“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 69 (2015), H. 6, S. 5–17, v. a. S. 11–14.

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Namenregister Ackermann, Josef 181 Adler, Otto 211 Adorno, Theodor W. 65, 66, 67, 70, 227, 252, 345, 346 Agamben, Giorgio 77, 85 Aigner, Isolde 101, 102 al-Gaddafi, Muammar 184 Albes, Claudia 56 Alewyn, Richard 320 Althusser, Louis 343 Amthor, Wiebke 147 Andilly, Robert Arnauld d’ 307 Ara, Angelo 171 Arendt, Hannah 312 Aristoteles 229, 230, 231, 239, 247, 259 Arnauld, Antoine Abbé 303 Arnim, Bettine von 287 Assmann, Jan 38 Auer, Barbara 41 Augé, Marc 15, 30, 31, 90, 91, 94, 95 August III. 45 Ausserhofer, Hansotto 152 Aust, Stefan 89 Avanessian, Armen 385 Baader, Renate 289 Bachelard, Gaston 151, 269 Badinter, Elisabeth 298 Bahr, Hans-Dieter 151 Balke, Friedrich 64, 142 Bamford, James 367 Barlow, John 317 Barthes, Roland 238, 270, 300, 316, 363 Bartoli, Matteo Giulio 278 Baßler, Moritz 34 Baudrillard, Jean 353, 354, 382 Baudry, Jean-Louis 313, 314 Baum, Constanze 246 Bauman, Zygmunt 169 Bayrak, Deniz 15, 16, 89–115 Beatles, The 14, 63, 65, 67, 68, 69 Becker-Cantarino, Barbara 200, 203 Becker, Frank 17, 104, 193–215, 368 Beese, Henriette 204 Begemann, Christian 41, 45

Behler, Ernst 198, 201, 204 Belafonte, Harry 65 Bellini, Giovanni 174 Benjamin, Walter 14, 63, 66, 69, 252, 253, 344, 345, 346, 380 Benning, Willi 12, 117–140 Bergmann, Ingmar 69 Berressem, Hanjo 347, 348 Bickenbach, Matthias 204 Bills, Scott L. 357 Bitouh, Daniel Romuald 147 Boedecker, Elisabeth 286 Bohrer, Karl Heinz 195 Bölling, Rainer 282 Boor, Helmut de 236 Bormann, Eugen 280 Bourdieu, Pierre 3 Brando, Marlon 65 Bray, Bernard 296, 297, 300, 309 Brecht, Bertolt 18, 19, 219–227, 316 Bredenbrock, Claus 357 Brentano, Clemens 194, 198, 199, 201, 202, 208 Breymayer, Ursula 34 Brittnacher, Hans Richard 147, 162 Brühwiler, Hannes 371 Bruns, Karin 7, 18, 217–218 Brydone, Patrick 37 Bryson, Norman 265 Bublitz, Hannelore 4 Budde, Gunilla 199, 205, 206, 210, 211 Bülow, Cosima von 206 Bultmann, Rudolf 158 Bussy-Rabutin, Roger de 291, 303 Byron, George Gordon Noel 206 Caldwell, John Thornton 353, 378 Campe, Johann Heinrich 54, 56 Campe, Rüdiger 294 Canova, Antonio 45 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 174 Carbone, Mitella 58 Casati, Roberto 339 Castel, Françoise 6 Castel, Robert 6

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388 Catull 39 Certeau, Michel de 13, 30 Chantal, Jeanne Françoise Fremyot de 307 Christie, Agatha 176 Christmann, Hans Helmut 278 Cicero 52, 297 Clarín 207 Claudianus 305 Cliburn, Van 65 Clifford, James 145 Colette 279, 280 Comte, Auguste 237, 240 Cooke, Sam 371 Copeland, Johnny 382 Corbin, Alain 200, 209, 210, 211, 212 Crosby, David 357 Daniel, John 80 Davis, Miles 371 Deeg, Christoph 6 Deleuze, Gilles 4, 12, 64, 256, 340, 344, 384, 385 Delling, Rudolf Manfred 73 Derrida, Jacques 258, 331 Descartes, René 294 Dickens, Charles 206 Diederichsen, Diedrich 66, 67, 68 Diogenes Laertius 18, 221 Dirk Göttsche 143 Dischner, Gisela 201, 204 Doctorow, Edgar Lawrence 365, 366 Domoradzki, Eva 204 Drews, Axel 368 Drews, Jörg 33, 34, 43, 56, 58, 59 Duchêne, Jacqueline 295, 299, 306, 308, 309 Duchêne, Roger 21, 287, 288, 289, 291, 292, 294, 296, 297, 300, 302, 303, 307, 308, 310 Ebel, Else 363 Eiriksson, Leif 363 Eisner, Lotte 322, 323 Eliacheff, Caroline 311 Elias, Norbert 297 Elsaesser, Thomas 324 Erdmann, Oskar 241 Erhart, Walter 34 Eßmann, Bernd 13, 29–31 Ettmayer, Karl von 278

Namenregister Farrell, Michèle Longino 302, 303 Faucherey, Pierre 307 Fechner, Jörg Ulrich 233, 243, 244 Fénelon, François 298 Feuerbach, Ludwig 226 Fiske, John 374, 382, 383 Flaubert, Gustave 207 Fontane, Theodor 207 Ford, Glenn 65 Forster, Georg 54, 56 Foucault, Michel 2, 3, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 16, 77, 85, 114, 141, 143, 144, 145, 155, 200, 211, 212, 281, 316, 340, 343, 348, 349 Fradonnet, Catherine 304 Franz, Angelika 130 Frau, Albin 313, 340 Frederick, Samuel 252, 255, 259, 261, 266 Freud, Sigmund 22, 270, 283, 284, 293, 309, 311, 314, 317, 323, 325, 332, 333, 334, 335, 341 Frey, Reiner 164 Friedrich II. von Hessen-Kassel 242 Friedrich, Peter 16, 141–170 Frisch, Max 230, 231 Gamillscheg, Ernst 278 García, Olga 144 Garrison, Donn Randy 79 Gay, Peter 193, 194, 206, 209 Gehlen, Arnold 14, 61, 63 Geisenhanslüke, Achim 155 Georg III. Friedrich Wilhelm 242 Georgsdorf, Wolfgang 74 Gérard-Gailly, Émile 306 Gerhard, Ute 11, 12, 13, 14, 16, 18, 35, 52, 53, 76, 101, 103, 104, 105, 141, 142, 143, 145, 146, 147, 161, 162, 169, 170, 175, 182, 183, 210, 232, 237, 241, 244, 249, 250, 291, 308, 309, 313, 343, 344, 345, 346, 368, 380, 385 Gibson, James J. 5, 376 Giddens, Anthony 239 Gillespie, Dizzy 371 Gisi, Lucas Marco 36 Giuriato, Davide 255 Godard, Jean-Luc 356 Godel, Rainer 62 Goethe, Johann Caspar 38

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Namenregister Goethe, Johann Wolfgang 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 45, 46, 48, 49, 52, 64, 235, 239, 240, 241, 242 Gombrich, Ernst H. 339 Greenblatt, Stephen 290 Grenaille, François de 302 Greven, Jochen 253, 254, 255, 256, 258, 259, 260, 264, 265, 266, 267 Griep, Wolfgang 49, 53, 54 Grignan, Françoise de 21, 287, 288, 289, 295, 299, 305, 306, 308, 309 Grimm, Gunter E. 34 Grimm, Jacob und Wilhelm 340, 341 Grosser, Thomas 51 Grünzweig, Walter 17, 171–188, 241, 250 Guattari, Félix 344, 385 Guevara, Ernesto 373 Gumbrecht, Hans Ulrich 278 Gutzkow, Karl 155, 156 Habermas, Jürgen 320 Hahn, Alois 195 Hahn, Barbara 285, 288 Hahn, Sabine 6 Haley, Bill 65 Hamann, Christof 12, 14, 33–59, 189, 204, 271 Hamburger, Käte 285, 286 Hammerstein, Katharina von 194, 202 Handke, Peter 56 Hans, Anjeana K. 313 Hardy, Alexandre 305 Härter, Andreas 53, 57 Hartmann, Telse 142, 145, 146, 147, 149 Hausen, Karin 201, 210 Hausmann, Frank-Rutger 277 Heath, Stephen 313 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 41, 309 Heinich, Nathalie 311 Heinichen, Veit 16, 17, 171–188 Héritier, Françoise 311 Herjolfsson, Bjarni 363 Hertz, Neil 334, 335, 336 Herwig, Henriette 214 Herz, Henriette 194 Herzog, Eugen 278 Herzog, Gertrud 282 Hieron 57 Hill, Joe 371 Hirsch, Marianne 288

Hirschfeld, Magnus 211 Hitler, Adolf 317, 360 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 323, 332, 335 Hölderlin, Friedrich 18, 221, 223, 224, 226, 227 Hoover, John Edgar 360 Hopf, Caroline 85 Horaz 44 Howland, Chris 65 Huber, Therese 196 Huch, Ricarda 201 Humboldt, Wilhelm von 48 Hummel, Volker Georg 56 Huyssen, Andreas 240 Illouz, Eva 212, 213 Ingendahl, Gesa 291 Ingstad, Helge und Anne Stine 363 Irigaray, Luce 317, 331 Jäger, Hans-Wolf 50 Jäger, Margarete 101, 102 Jakobson, Roman 229 Janssen, Horst 63 Jean Paul 56 Jeßing, Benedikt 40, 41 Joyce, James 171 Jung, Theo 143 Kaes, Anton 322 Kafka, Franz 16, 126, 141, 162, 163, 164, 167 Kaiser, Gerhard 247 Kammer, Stephan 255 Karlstadt, Liesl 71 Karthaus, Ulrich 247 Kaschuber, Wolfgang 49, 50 Käsler, Dirk 149 Kaufmann, Christoph 242 Keller, Gottfried 226 Kennedy, John Fitzgerald 69, 360, 367 Kermode, Frank 347 Kern, Elga 278, 280, 282 Khapertian, Theodore D. 381 Kissinger, Henry 360 Kittler, Friedrich A. 62, 367 Kittler, Wolf 10, 11, 349 Kleist, Heinrich von 230, 231, 238 Klemperer, Victor 276

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390 Kleßmann, Eckart 195 Klinger, Friedrich Maximilian 19, 229–250 Klopstock, Friedrich Gottlieb 43 Kluckhohn, Paul 203 Koebner, Thomas 55 Kohl, Helmut 180, 186 König, Johann-Günther 37 Kosellek, Reinhart 143 Kracauer, Siegfried 6, 152, 237, 317, 324, 343, 344, 346 Krafft-Ebing, Richard von 211 Kreienbrock, Jörg 258 Kreuzer, Helmut 285 Kristeva, Julia 13, 280, 291, 309, 312 Kroeber, Alfred Louis 364 Kroll, Renate 289, 290 Krüger-Fürhoff, Irmela Marei 48 Kulesza, Monika 296 Kwakkelstein, Dick 65 La Fayette, Marie Madelaine Pioche de la Vergne Comtesse de 298, 303 Lacan, Jacques 291, 293, 295, 300, 311, 348 Lachmann, Renate 286 Lachmann, Tobias 1–23, 313, 337, 343–385 Laermann, Klaus 38 Lamb, Caroline 206 Lankheit, Klaus 196 Laotse 221, 222, 226 Larsen, Anne R. 304, 305 Larsen, Steen Nepper 29, 30 Laßwitz, Kurd 14, 15, 73–86 Lauretis, Teresa de 313 Lavater, Johann Caspar 242, 249 Lawrence, Thomas Edward 362 Le Bon, Gustave 169 Lefebvre, Henri 314 Leisewitz, Johann Anton 241 Leithauser, Brad 347 Lenclos, Ninon de 306 Lennon, John 68, 69 Leon, Donna 175 Lerch, Eugen 278 Lessana, Marie-Magdeleine 296, 311, 312 Lessing, Gotthold Ephraim 53, 232 Lethen, Helmut 14, 61–71 Lichtenberg, Georg Christoph 339, 340

Namenregister Lignereux, Cécile 288, 290, 297, 298, 300, 309 Link-Heer, Ursula 20, 275–286 Link, Jürgen 9, 10, 18, 93, 100, 101, 104, 109, 113, 200, 219–227, 237, 240, 241, 250, 346, 348, 349, 355, 368 Löffler, Petra 6, 8 Louis XIV. 21, 138, 298 Lovell, Anne 6 Lucian 37 Luckmann, Thomas 195 Luhmann, Niklas 22, 193, 195, 196, 231, 233, 289 Lully, Jean-Baptiste 305 Lumière, Auguste und Louis 339 Luserke-Jaqui, Matthias 241 Luther, Martin 195, 223 Lykurg 222 Magris, Claudio 171 Maine, Henry 150 Mann, Heinrich 180 Mann, Otto 201 Mann, Thomas 16, 84, 141, 164, 165, 166, 168, 169 Mantovani, Annunzio 65 Marcuse, Herbert 69 Martin, George 68 Mause, Lloyd de 366, 368 Maye, Harun 13, 378 McCabe, Colin 316 McCartney, Paul 69 McLuhan, Marshall 76 Mehne, Philipp 42 Meid, Volker 236, 244 Meier, Albert 34, 38, 42, 46, 51, 58 Mengs, Anton Raphael 36, 45 Menninghaus, Winfried 48 Mercier, Louis Sébastien 240 Mereau-Brentano, Sophie 194, 199, 202, 203, 204 Mereau, Friedrich Ernst Karl 194, 199, 202, 203, 204 Merkel, Angela 102, 181 Meyer-Krentler, Eckhardt 297 Meyer-Lübke, Wilhelm 277, 279, 280 Meyer-Plath, Maria 286

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Namenregister Meyer-Sickendiek, Burkhard 290, 297 Meyer, Eva 287 Mitscherlich, Alexander 66, 309 Mittner, Ladislao 196 Moenninghoff, Burkhard 37, 59 Moll, Albert 2011 Montlouet, Madame de 301 Montpensier, Anne Marie Luise d’Orleans Duchesse de 303 Morgenroth, Claas 19, 229–250 Moritz, Karl Philipp 42 Moser, Christian 50, 55, 56 Mouseler, Marcel 56 Moxter, Michael 158 Musil, Robert 84, 152, 240 Mussafia, Adolfo 277 Musset, Alfred de 206 Myers, Richard L. 357 Näf, Beat 44 Napoleon Bonaparte 52 Nash, Graham 357 Nassehi, Armin 238 Neudeck, Rupert 185 Neveu, Madeleine 304 Newald, Richard 236 Nickisch, Reinhard M. G. 287 Niehaus, Michael 14, 15, 73–86, 251, 252, 253, 254, 257, 258, 260, 265 Niehues-Pröbsting, Heinrich 382 Nies, Fritz 288, 296, 297 Nietzsche, Friedrich 65, 256, 339, 340, 380, 381 Nipperdey, Thomas 193, 199 Nixon, Richard 357, 360, 362, 367 Nolting-Hauff, Ilse 286 Oesterle, Günter 42 Ortheil, Hanns-Josef 37 Orwell, George 348, 365, 383 Osterkamp, Ernst 41, 43 Osthues, Julian 14, 33–59 Ovid 37, 39, 292, 305 Pagonakis, Pagonis 357 Papenburg, Jens Gerrit 70 Parker, Charlie 371

Parr, Rolf 241 Pascal, Blaise 243, 244, 297, 308 Pasquier, Estienne 304 Paul, Barbara 18 Pêcheux, Michel 343 Pethes, Nicolas 38, 42 Petrarca 292 Petro, Patrice 323, 324, 325 Pezzl, Johann 50 Pfister, Manfred 34, 230, 233, 236 Pieper, Julia 304 Pink Floyd 62, 63 Pius VII. 52 Platon 169, 205, 292, 310, 317, 331, 381 Poeplau, Anna 247 Pomponne, Simon Arnauld Marquis de  295, 309 Properz 39 Proust, Marcel 290 Puscariu, Sextil 278 Pütter, Linda Maria 42, 44, 45, 49 Pynchon, Thomas 343–385 Queiroz, José Maria Eça de 207, 209 Quillet, Claude 298 Quinault, Philippe 305 Quintilian 33, 53, 57, 59 Racine, Jean Baptiste 298, 300 Reagan, Ronald 351, 357, 359, 360, 365, 366, 367, 368 Rebmann, Georg Friedrich 35, 50, 54 Reckwitz, Andreas 3, 13 Reich, Wilhelm 69 Reichardt, Rolf 339 Reichert, Rámon 7 Reinhardt-Becker, Elke 17, 193–215 Reininghaus, Sarah 15, 16, 89–115 Rendtorff, Barbara 311 Resnais, Alain 69 Richter, Dieter 36, 37 Richter, Elise 20, 21, 275–286 Richter, Helene 276, 277, 283, 284 Ridder-Symoens, Hilde de 37 Riedesel, Johann Hermann von 43 Riesman, David 14, 63, 67 Risholm, Ellen 22, 313–337, 339, 341

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392 Robison, Arthur 22, 313–337, 339, 340 Roches, Catherine des 305, 307 Roches, Dames des 21, 290, 303, 304, 305, 307 Roe, Alfred und Emma 209 Rohan-Montbazon, Marie Aimé de 301 Röhnert, Jan 38 Rolling Stones 69 Roosevelt, Franklin Delano 360 Rosenfeld, Seth 357 Roth, Joseph 12, 16, 141–170, 189, 271 Rousseau, Jean-Jacques 14, 35, 49, 54, 55, 56, 221, 297, 298 Roxon, Lillian 65 Runte, Annette 21, 287–312 Rushdie, Salman 347, 350 Saltzwedel, Johannes 239 Sälzle, Karl 320 Sand, George 206 Sangmeister, Dirk 34, 38, 50 Sankovitch, Tilde A. 305, 307 Sarasin, Philipp 211 Sauder, Gerhard 53 Scabar, Ami 187 Schaub, Thomas Hill 347 Schäuble, Wolfgang 181 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 195, 332 Schiller, Friedrich 12, 56, 241, 242 Schimank, Uwe 195 Schlaffer, Heinz 239, 241, 242 Schlegel-Schelling, Caroline 194, 195 Schlegel, August Wilhelm 194, 195 Schlegel, Dorothea 194, 199 Schlegel, Friedrich 53, 194, 197, 198, 201, 204, 206, 207, 208 Schleiermacher, Friedrich 208 Schmid, Thomas 178 Schmidt, Gunnar 265 Schmidt, Jochen 232 Schmitt, Carl 63 Schneider, Helmut J. 46, 49, 50, 55, 56 Schneider, Manfred 7, 8 Schneider, Rudolf 313, 340 Schnitzler, Arthur 214, 279 Schnorr von Carolsfeld, Hans Friedrich 33 Schreiber, Frederik 12, 25

Namenregister Schroeder, Irene 156, 158, 159 Schuller, Marianne 19, 20, 210, 251–270 Schulte-Holtey, Ernst 18, 237, 343 Schulte-Sasse, Jochen 239, 244, 245, 248 Schuster, Jörg 40 Scudéry, Madelaine de 289, 297, 303 Segebrecht, Wulf 39 Seger, Cordula 160, 165 Seidler, Miriam 214 Selbmann, Rolf 36 Seume, Johann Gottfried 14, 33–59, 242 Sévigné, Henri de 291 Sévigné, Marie de Rabutin Chantal Marquise de 21, 287–312 Seybold, David Christoph 50, 54 Shakespeare, William 233, 234, 239 Shelley, Mary 199 Shelley, Percy Bysshe 199 Siebers, Winfried 37 Silverman, Kaja 316, 324, 325 Simek, Rudolf 363 Simiane, Pauline de 288 Simon, Ralf 381 Soeffner, Hans-Georg 195 Solter-Gresser, Christiane 293 Somaize, Antonie de 303 Spelsberg, Helmut 168, 169 Spinoza, Baruch de 64 Spitzer, Leo 278, 279, 280, 281, 282 Spivak, Gayatri Chakravorty 92 Stagl, Justin 37 Stanton, Domna C. 290, 292, 298, 307 Stauff, Markus 113 Stellmacher, Wolfgang 243 Stephan, Inge 33, 210 Stern, Carola 194 Sternberger, Dolf 110 Sterne, Laurence 35, 53, 59, 249 Stifter, Adalbert 56, 252 Stills, Stephen 357 Stingelin, Martin 22, 313, 316, 337, 339–341 Stoichita, Victor I. 339 Storz, Gerhard 110 Strauss, Johann 279 Strawinsky, Igor 14, 63, 65, 66, 67 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 286 Struck, Peter T. 62 Süskind, Wilhelm E. 110

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Namenregister Svevo, Italo 171 Szondi, Peter 41 Theokrit 33, 37, 43, 51, 58 Theweleit, Klaus 351, 355, 359, 366 Thukydides 37, 44 Tibull 39 Tieck, Ludwig 198 Titus Livius 44 Tolstoi, Leo 207 Tönnies, Ferdinand 149, 150, 153, 162 Trepp, Ann-Charlott 199 Tyrkir 363 Ueding, Gert 41 Uricchio, William 379, 380 Utz, Peter 251, 264 Valente, Caterina 65 Valentin, Karl 71 Vansant, Jacqueline 202, 204 Veit, Simon 194 Veldhoen, Ad 63 Vester, Heinz-Günter 195 Virgil 44 Vogl, Joseph 10, 385 Wagner, Fritz Arno 313, 340 Wagner, Heinrich Leopold 245 Wagner, Richard 206

Walser, Karl 268 Walser, Robert 19, 20, 56, 251–270 Wamper, Regina 101, 102 Weber-Kellermann, Ingeborg 199, 200, 201 Weber, Samuel 318 Weigel, Sigrid 39, 42, 210 Wellbery, David E. 230 Wellmann, Angelika 56 Wenzel, Dietmar 74 Whittaker, Gwendolyn 84 Wieland, Martin 339, 340 Wienfort, Monika 193, 199, 206, 210 Wild, Reiner 39, 42 Wilhelmer, Lars 147 Winckelmann, Johann Joachim 36, 39, 40, 41, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 49 Wittgenstein, Ludwig 239 Wölfel, Kurt 56 Wolzogen, Caroline von 203, 204 Woolf, Virginia 292 Wunberg, Gotthard 155, 156 Young, Neil 357 Zahn-Harnack, Agnes 282 Zauner, Adolf 278 Zawacki-Richter, Olaf 79 Zimmermann, Margarete 304 Zizek, Slavoj 308

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Autorinnen und Autoren Deniz Bayrak studierte Germanistik, Anglistik/Amerikanistik sowie Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dortmund, wo sie derzeit auch arbeitet. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Literatur/Film und Interkulturalität bzw. Flucht. Ihre Publikationen umfassen unter anderem Beiträge zur spatial theory sowie zu Werken türkisch-deutscher AutorInnen und RegisseurInnen. Frank Becker ist Inhaber des Lehrstuhls für Neue und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der politischen Kultur, intellectual history, Nationalismus und Krieg, koloniale Gesellschaften, Theorie- und Methodenfragen. Neuere Publikationen (Auswahl): (Mithrsg.) Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt am Main und New York: Campus 2016; (Mithrsg.) Liebesgeschichte(n). Identität und Diversität vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main und New York: Campus 2019; (Mithrsg.) Die Verortung der Bundesrepublik. Ideen und Symbole politischer Geographie nach 1945, Bielefeld: Transcript 2020; (Mithrsg.) Die Grenzen des Sag- und Zeigbaren – Humor im Bild von 1900 bis heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2020. Willi Benning Professor für deutsche Literatur am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Athen. Langjährige Leitung des Fachbereichs. In den letzten Jahren internationale Preise für wissenschaftliche und didaktische Leistungen. Forschungsschwerpunkte: Diskursanalyse, Psychoanalyse, Kollektivsymbolik, Komparatistik, Medialität, Übersetzungstheorie. Bücher über Kollektiv-Symbolik, Thomas Mann, Heinrich von Kleist, Literaturtheorie, Literatur und Mentalität. In den letzten Jahren verfasst er vornehmlich poetische Texte. Karin Bruns seit 2003 Professorin für Medientheorien an der Kunstuniversität Linz mit Forschungsschwerpunkten zu Theorien digitaler Medien, Kulturen des Gerüchts im World Wide Web, Gender und Medien, Kinogeschichte und anderem mehr. Ihren Beitrag „Alphafrauen im Mediendiskurs“ konnte sie nicht mehr beenden. Sie ist am 7. 10. 2016 in Linz gestorben.

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Autorinnen und Autoren

Bernd Essmann wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Amerikanistik der Fakultät Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Dortmund mit den Forschungsschwerpunkten Populärkulturen (insbesondere Musik und Fernsehserien), Mobilität, (städtische) Räume sowie Culture and Technology. Peter Friedrich wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft (Germanistik) der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Masse-und-Macht-Forschung, Literatur und Interdiskurs, Literatur und Recht, Medientheorie. Zuletzt erschienen: „Narren und Märtyrer. Konformität und Klugheit in Christian Weises Trauerspiel Masaniello“, in: Konformieren. Festschrift für Michael Niehaus, herausgegeben von Jessica Güsken, Christian Lück, Wim Peeters und Peter Risthaus, Heidelberg: Synchron 2019, S. 17–42. Walter Grünzweig ist Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dortmund mit Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert und euroamerikanischen Literatur- und Kulturbeziehungen. Im komparatistischen Bereich interessiert er sich für mitteleuropäische Literatur und Kultur, darunter auch Triest, wo er ein Semester als Gastprofessor lehrte. Im Jahr 2010 erhielt er den Ars Legendi-Preis für exzellente Hochschullehre des Stifter-Verbands und der Deutschen Hochschulrektorenkonferenz. Seit 2015 ist er Vorsitzender der Bildungskommission der Stadt Dortmund. Christof Hamann Schriftsteller und Professor für Literaturwissenschaft/Literaturdidaktik an der Universität zu Köln. Gemeinsam mit Andreas Erb gibt er die Zeitschrift die horen heraus. Tobias Lachmann Akademischer Rat auf Zeit an der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Literaturtheorie des 18. bis 21. Jahrhunderts, Literatur und (Nicht-)Wissen, Kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft, Diskurstheorie, Praxistheorie, Kulturtechniken. Helmut Lethen geboren 1939 in Mönchengladbach, Studium in Bonn, Amsterdam, Promotion 1970 an der FU Berlin in Germanistik, 1977–1995 Hochschuldozent in Utrecht/

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Autorinnen und Autoren

NL, von 1995–2004 Professur in Rostock. Gastprofessuren in Chicago, Los Angeles, Bloomington und Berkeley. 2007–2016 Leiter des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Gegenwärtig Gastprofessur an der Kunstuniversität Linz. Monographien: Verhaltenslehren der Kälte (1994), Der Sound der Väter (2006), Suche nach dem Handorakel (2010), Der Schatten des Fotografen (2014), Die Staatsräte (2018), Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen (Oktober 2020). Jürgen Link geb. 1940, Professor für Literaturwissenschaft (und Diskurstheorie) an der Universität Dortmund (seit 2006 a. D.). Forschungsschwerpunkte (mit zahlreichen Publikationen): struktural-funktionale Interdiskurstheorie; Kollektivsymbolik; Normalismustheorie; literarhistorisch: Lyrik; Hölderlin und die ‚andere Klassik‘; Brecht und die ‚klassische Moderne‘. Einige Titel: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, München: Wilhelm Fink 1974 (= UTB 305, 6 Aufl.); (Mithrsg.) kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie, Essen: K-West 1982 ff.; Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, München: Wilhelm Fink 1983; (mit Wulf Wülfing, Hrsg.) Nationale Mythen und Symbole, Stuttgart: Klett-Cotta 1991; Versuch über den Normalismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996; 5. erw. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013; Hölderlin-Rousseau: Inventive Rückkehr, Opladen: Westdeutscher Verlag 1999; Normale Krisen? Normalismus und die Krise der Gegenwart, Konstanz: Konstanz University Press 2013; Anteil der Kultur an der Versenkung Griechenlands. Von Hölderlins Deutschenschelte zu Schäubles Griechenschelte, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016; Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018; Roman: Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung, Oberhausen: asso 2008. Ursula Link-Heer Professorin (em.) für Romanistik und Komparatistik an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Romanistik, Germanistik und Philosophie in Bochum, Salamanca und München. Promotion 1979 in Bochum, Habilitation 1988 in Siegen. Publikationen zu Proust, darunter Prousts „A la recherche du temps perdu“ und die Form der Autobiographie (1988). Mithrsg. von Sammelwerken, darunter zur historiographischen Literatur des Mittelalters (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. XI), zu Rousseau und Rousseauismus u. a. Aufsätze zu literarischen und psychiatrischen Diskursen, zu Maniera/Manier und Manierismus sowie zu verschiedenen Autoren der Romania.

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Autorinnen und Autoren

Claas Morgenroth wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Technischen Universität Dortmund, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur. Studium der Germanistik, germanistischen Sprachwissenschaft und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Geschichte, Kritischen Theorie und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der UC Davis (USA). Aufsätze zum Rückwärtserzählen, zu Lichtenbergs Begriff der Aufzeichnung, zur Kritik der Ökokritik oder zu den Kulturträumen des Kapitalismus. Ausgewählte Veröffentlichungen: Hrsg. mit Matthias Thiele und Martin Stingelin, Die Schreibszene als politische Szene, München: Wilhelm Fink 2012 (= Zur Genealogie des Schreibens 14), Literaturtheorie. Eine Einführung, Paderborn: Wilhelm Fink 2016 (= UTB 4169), in Vorbereitung: Bleistiftliteratur, Paderborn: Wilhelm Fink 2021. Michael Niehaus ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienästhetik an der Fernuniversität Hagen. Julian Osthues war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere und neueste Literaturgeschichte sowie Literaturtheorie an der Universität Bremen. Junior-Fellow am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst (2017–2019). Publikationen zur Neueren deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Theorien des Postkolonialismus und der Interkulturalität, Intertextualität, Reiseliteratur, Literatur und Erschöpfung. Elke Reinhardt-Becker Studium der Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Politologie; Promotion 2005 mit einer Arbeit zur Liebessemantik in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen. Jüngste Publikationen (Auswahl): (Mithrsg.) Liebesgeschichte(n). Identität und Diversität vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main und New York: Campus 2019; „A never ending story? Romantic love in north-american TV series“, in: Sociologia e Politiche Sociali 22 (2019) H. 3, S. 5–24; „Amour, relations amoureuses et femmes dans téléséries nord-américaines“, in: Chiara Piazzesi, Julie Lavigne, Martin Blais, Catherine Lavoie Mongrain (Hrsg.), Intimités et sexualités contemporaines: changements sociaux, transformations des pratiques et des représentations, Montreal, CA 2020. 

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Autorinnen und Autoren

Sarah Reininghaus studierte Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Technischen Universität Dortmund. Derzeit arbeitet und lehrt sie dort und beschäftigt sich im Rahmen ihrer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Dissertation mit Ikonografien der Shoah. Forschungs- sowie Publikationsschwerpunkte sind neben Aspekten literar- und filmästhetischer Interkulturalität vor allem horrorfilm studies unter besonderer Berücksichtigung von Gender- und Körperlichkeitsaspekten. Ellen Risholm ist Professorin mit den Schwerpunkten Neuere deutsche Literatur und Film an der Technischen Universität Dortmund. Annette Runte Professorin für Allgemeine und Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Studium der Germanistik, Philosophie und Linguistik an den Universitäten Bonn, Bochum und Paris VII. Postdoktorandin am Graduiertenkolleg Kommunikationsformen als Lebensformen (Universität Siegen) von 1988 bis 1991. Gastprofessuren in Hannover, Graz und Rouen. Mitarbeit am Centre de Recherches sur l’Autriche et l’Allemagne von 2004 bis 2008. Ko-Organisation wissenschaftlicher Kolloquien im In- und Ausland. Spezialgebiete: Deutsch- und französischsprachige Literatur, Diskurstheorie, Autobiographik, Psychoanalyse und Geschlechterforschung. Publikationen (Auswahl): Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München: Wilhelm Fink 1996; Lesarten der Geschlechterdifferenz. Studien zur Literatur der Moderne, Bielefeld: Aisthesis 2005; Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst, Bielefeld: Transcript 2006; Rhetorik der Geschlechterdifferenz. Von Beauvoir bis Butler. Vorlesungen, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2010; (Hrsg.): Literarische ‚Junggesellen-Maschinen‘ und die Ästhetik der Neutralisierung/Machine littéraire, machine célibataire et ‚genre neutre‘ (Dt.Frz.), Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. Frederik Schreiber / „Schlakks“ M. A. Angewandte Literatur-/Kulturwissenschaften, freischaffender Künstler.  Schreibt, spricht, rappt und performt. Aktuelle Veröffentlichung: Indirekte Beleuchtung (Vinyl/CD/MP3). Weitere Aktivitäten als freier Dozent (Themen: „Schreiben.Performen“, „Kultur selber machen“), Leiter von Schreib-/ Rapworkshops, Mitbetreiber der Kulturorte „Rekorder“ & „Rekorder II“ und irgendwas dazwischen.

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Autorinnen und Autoren

Marianne Schuller studierte Medizin an der Universität Heidelberg sowie Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg und der Freien Universität Berlin. Promoviert wurde sie in München mit einer Arbeit zum Thema Romanschlüsse in der Romantik. Zum frühromantischen Problem von Universalität und Fragment. Bevor sie als Literaturwissenschaftlerin Rufe an die Philipps-Universität Marburg und die Universität Hamburg erhielt, forschte sie als Assistentin an der Ruhr-Universität Bochum. In den 1980er und 1990er Jahren arbeitete sie überdies als Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und am Bremer Theater am Goethe-Platz. Gastprofessuren bekleidete sie an der Leuphana Universität Lüneburg, der HafenCity Universität Hamburg, der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, der University of Virginia sowie der Indiana State University in Bloomington, Indiana. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wissensgeschichte, Psychoanalyse, die Zusammenhänge von Literatur und Theater sowie die Geschlechterforschung. Martin Stingelin Studium der Germanistik und der Geschichtswissenschaften in Basel und Essen. Nach einer SNF-Förderprofessur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel (2001–2006) Professor für Neuere deutsche Literatur an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Dortmund. Hrsg. der IX. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Nietzsche (zus. m. Marie-Luise Haase), „Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription“. Hrsg. der Reihe Zur Genealogie des Schreibens, Paderborn: Wilhelm Fink. Publikationen: „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München: Wilhelm Fink 1996; Das Netzwerk von Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, Berlin: Merve 2000; absolute Foucault, Freiburg im Breisgau: Orange Press 2009; Aufsätze zur Literaturtheorie, zur Literatur- im Verhältnis zur Rechts- und Psychiatriegeschichte, zu Dürrenmatt, Freud, Glauser, Goethe, Kraus, Laederach, Lichtenberg, Nietzsche, Schreber, Wölfli u.  a.; Übersetzungen aus dem Englischen (Salman Rushdie, Thomas Pynchon) und Französischen (Mikkel BorchJacobsen, Georges Didi-Huberman, Michel Foucault).

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