Probleme der Rechtssoziologie [1 ed.]
 9783428424450, 9783428024452

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 20

Probleme der Rechtssoziologie Von

Prof. Dr. Barna Horvath

Duncker & Humblot · Berlin

BARNA HORVATH

Probleme der Rechtssoziologie

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von ErnBt E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 20

Probleme der Rechtssoziologie

Von

Prof. Dr. Barna Horvath

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

@ 1971 Duncker & Humblot. Berlln

n

Gedruckt 1971 bei Alb. Sayttaerth. Berlln 61 Printed in Germany ISBN S 428 02445 1

Einführung Die interessanten Auseinandersetzungen, die zwischen den beiden Weltkriegen um die Wiener rechtstheoretische Schule und hier insbesondere um den großen Hans Kelsen entbrannten, haben eine Reihe von Versuchen hervorgebracht, der Reinen Rechtslehre eine Soziologische Rechtslehre entgegenzustellen. Zu den bemerkenswertesten und ausgewogensten Ergebnissen dieser Bemühungen gehören die Arbeiten des ungarischen Rechtstheoretikers Barna Horvath, die - als einem ersten Höhepunkt - in seiner Rechtssoziologie aus dem Jahre 1934 gipfelten. Horvath, am 25.8.1896 in Budapest geboren, wurde im Jahre 1920 an der dortigen Universität promoviert und habilitierte sich 1925 für Rechtsphilosophie an der Universität in Szeged. Nach praktischer Tätigkeit in der Staatsanwaltschaft und in der Verwaltung lebte und lehrte er von 1929 bis 1949 als Professor der Rechtsphilosophie in Szeged. In diesen Jahren legte er den Grundstein für seinen internationalen Ruf als Rechtssoziologe und Rechtsphilosoph, der in zahlreichen akademischen Ehrungen, Mitgliedschaften und Ämtern in wissenschaftlichen Gesellschaften und in einer ausgedehnten wissenschaftlichen Vortragstätigkeit an europäischen Universitäten zum Ausdruck kam. Horvath beherrscht 6 Sprachen in Wort und Schrift und hat eine Fülle von Arbeiten in den verschiedensten Sprachen publiziert, die in seinem Vorwort zu diesem Bande nur unvollständig aufgeführt sind. Nach dem Weltkrieg wurde er ein Opfer der politischen Umwälzungen in seiner Heimat. 1949 wechselte er noch für kurze Zeit auf einen Lehrstuhl für Völkerrecht an die Universität Budapest über, mußte dann aber mit seiner Familie das Land verlassen und fand - wie so viele bedeutende europäische Gelehrte vor ihm - eine neue Wirkungsstätte als Gastprofessor für politische Wissenschaft, Völkerrecht und Rechtstheorie an der New School for Social Research in New York. Dort arbeitete er in den Jahren 1950 -1956, später in der amerikanischen Informationsbehörde. Er lebt heute zurückgezogen in Washington.

Einführung

6

Sicher hat Rene König recht, wenn er in einem nun schon allerorts zitierten Diktum der Rechtssoziologie der Gegenwart ein übermaß an Grundlagendiskussion vorwirft. Wenn aber Grundlagendiskussion, dann ist diese ohne eine Kenntnis der bisherigen Ergebnisse, insbesondere solcher Arbeiten wie der von Barna Horvath, nicht sinnvoll. Bielefeld, im März 1971 Manfred Rehbinder

Vorwort Der vorliegende Sammelband versucht, die theoretischen Voraussetzungen der Rechtssoziologie darzulegen sowie einige besonders wichtige Teilaspekte rechtssoziologischer Forschung näher zu beleuchten. Der erste Teil ist ein Nachdruck der methodologischen Ausführungen meiner 1934 erschienenen Rechtssoziologie, die inzwischen durch die Kriegswirren in Europa vergriffen ist. Diesen methodologischen Teil dem deutschsprachigen Leserkreis wieder zugänglich zu machen, erschien deshalb gerechtfertigt, weil die in ihm enthaltenen Überlegungen weniger dem Wandel der Zeit unterworfen sind und heute wohl noch wie vor 35 Jahren gleiche Aktualität und Gültigkeit beanspruchen können. Die Beiträge des zweiten Teiles meiner Rechtssoziologie, die sich den Hauptproblemen der Rechtssoziologie zuwandten, konnte ich dagegen in den folgenden Jahren weiter vertiefen. Dieser Teil wurde daher durch Veröffentlichungen aus neuerer Zeit ersetzt, allerdings nur durch diejenigen Beiträge, die in deutscher Sprache vorliegen. Zur Ergänzung darf ich auf die folgenden fremdsprachlichen Arbeiten von mir verweisen: Le probleme des sources du droit positif. Annuaire de l'Institut de Philosophie du Droit et de Sociologie Juridique 1934/35. Travaux de la premiere session. Paris, Sirey. 132 - 144 (1934); Sociologie juridique et theorie processuelle du droit. 5 Archives de Philosophie du Droit et de Sociologie Juridique 131 - 242 (1935); La structure du droit dans ses rapports avec les autres regles de la vie sociale et avec des lois de la realite. He Annuaire de l'Institut International de Philosophie du Droit et de Sociologie Juridique, 1935/36. Travaux de la seconde session. Droit, Morale, Moeurs. Paris, Sirey. 259 - 270 (1936); La realite, la valeur et le droit. Travaux du IXe Congres International de Philosophie. Congres Descartes. H. Paris. 42 - 48 (1937); L'avenir de l'organisation internationale. Etudes de droit en honneur de V. Ganeff. Sofia, 1939. In Bulgarian: 99 -119. In French: 121 - 139; Recent Developments in Legal Thought. Library of the Xth International Congress of Philosophy (Amsterdam, August 11 -18, 1948) vol. I, 401 - 403; Comparative Jurisprudence: Heidelberg and Louvain. The American Journal of Comparative Law 242 - 255 (1952); Between Legal Realism and Idealism. 48 Northwestern University Law Review 693 - 713 (1954);

Rights of Man - Due Process of Law and Exces du Pouvoir. 4 The American Journal of Comparative Law 539 - 573 (1955) sowie in The American Journal of Comparative Reader. Edited by Hessel E. Yntema. New York, 1966, 1 - 25;

Vorwort

8

El andlisis de la opini6n publica. 2 Revista de Derecho y Ciencias Sociales 15 - 31

(1956), Buenos Aires, Argentina;

Field Law and Law Field. 8 Österr. Zeitschrift für Öffentliches Recht 36 - 63

(1968);

Twilight of Government of Laws. 6'4 Archiv für Rechts- und Sozial philosophie

1 - 26 (1968);

Comparative Conjlicts Law and the Concept of Changing Law. 15 The Ameri-

can Journal of Comparative Law 136 - 158 (1966 - 67);

As fontes do Direito Positivo. Revista de Direito do Ministerio do Estado da

Guanabara, Brazilien. Ano II!, Vol. 9 (1969) 3 - 14.

Ich habe mich außer mit Rechtssoziologie insbesondere mit Fragen der Rechtstheorie im weitesten Sinne befaßt. Ergebnisse meiner diesbezüglichen Untersuchungen sind u. a. meine Werke: Der Rechtsstreit des Genius. I. Sokrates. Zeitschrift für Öffentliches Recht 22 (1942) 126 - 162. Ir. Johanna. Ebd. 295 - 342, 395 - 460. A közvelemeny vizsgdlata. Die Untersuchung der öffentlichen Meinung. The examination of public opinion (dreisprachig). Universitas Francisco-Jose-

phina, Kolozsvar. Acta Juridica-Politica 8. Kolozsvar. 1942. 167.

Angol Jogelmelet. A. M. Tud. Akademia Jogtudomany Bizottsaganak kiad-

vänysorozata 13. szam. Budapest 1943. A Magyar Tudomanyos Akademia kiadäsa. X + 657 (Englische Rechtslehre).

Ich danke den Herausgebern der Schriftenreihe für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, daß sie mir die Wiedervorlage der Arbeiten dieses Bandes ermöglicht haben. Washington, im Dezember 1970

Barna Horvath

Inhaltsverzeichnis ERSTER TEIL: GRUNDLAGEN

Rechtssoziologie als methodologisches Problem

13

1. Abschnitt: Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie ................

13

1. Kapitel: Die unmittelbaren positiven Voraussetzungen. . . . . . . . . . . . . ...

13

§ _1. Die Gesellschaftlichkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

13

§ 2. Die Geschichtlichkeit des Rechts

14

§ 3. Die Raumzeitlichkeit des Rechts

18

§ 4. Die Wandelbarkeit des Rechts ....................................

19

2. Kapitel: Die unmittelbaren negativen Voraussetzungen. . . .. ... . . . ...

21

§ 5. Keine Identität von Gesellschaft und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

21

§ 6. Keine Identität von Geschichte und Recht ........................

22

§ 7. Keine Identität von Natur, Norm und Recht......................

25

3. Kapitel: Die wissenschaftstheoretischen Folgen der unmittelbaren Voraussetzungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

26

§ 8. Begrenzung der Naturrechtslehre ................................

27

§ 9. Begrenzung des Rechtspositivismus ..............................

28

§ 10. Begrenzung des Rechtslogismus ..................................

29

§ 11. Begrenzung des Rechtsirrationalismus ............................

30

§ 12. Begrenzung der Rechtsdogmatik ..................................

31

§ 13. Begrenzung des Rechtshistorismus ................................

33

4. Kapitel: Die Haupteinwendungen gegen die Rechtssoziologie

34

§ 14. Der Einwand aus der Zufälligkeit des Rechtsinhalts . . . . . . . . . . . . . ...

34

§ 15. Der Einwand aus der Gesetzlosigkeit der Geschichte ..............

38

10

Inhaltsverzeichnis

§ 16. Der Einwand aus der Unmöglichkeit der soziologischen Abgrenzung

des Rechtsbegriffs

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

39

§ 17. Der Einwand aus dem Fehlen eines Erkenntnisgegenstandes . . . . . . ..

41

2. Abschnitt: Gegenstand und Methode der Rechtssoziologie. . . . . . . . . ...

42

1. Kapitel: Der Gegenstand der Rechtssoziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

42

§ 18. Natur und Norm

................................................

43

§ 19. Ausschließlichkeit und Bezogenheit von Sein und Sollen . . . . . . . . . . ..

48

§ 20. Das Recht als Beziehung von Natur und Norm ....................

51

§ 21. Das Recht als gegenständlich gespaltenes Gebilde . . . . . . . . . . . . . . . . ..

54

2. Kapitel: Die Methode der Rechtssoziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

58

§ 22. Gegenstand und Methode ........................................

58

§ 23. Die naturwissenschaftliche Methode

59

§ 24. Die normwissenschaftliche Methode

61

§ 25. Vermeidung des Synkretismus bei der Synopsis nach "reinlicher

Scheidung" ......................................................

63

§ 26. Hat die Synopsis Gesetze? ........................................

63

3. Abschnitt: Der wissenschaftstheoretische Ort der Rechtssoziologie

71

1. Kapitel: Rechtssoziologie und Rechtslehre ..........................

72

§ 27. Rechtssoziologie und Jurisprudenz

72

§ 28. Rechtssoziologie und Rechtstheorie

75

§ 29. Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte ............................

77

§ 30. Rechtssoziologie und Juristische Prinzipienlehre ..................

78

§31. Rechtssoziologie und Juristische Grundlehre ......................

79

§.32. Rechtssoziologie und Reine Rechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

80

2. Kapitel: Rechtssoziologie und Gesellschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

84

§ 33. Rechtssoziologie und Geschichtslehre ..............................

85

§ 34. Rechtssoziologie und Soziologie·..................................

87

Soziologie des Remts

90

Inhaltsverzeichnis

11

ZWEITER TEIL: EINZELPROBLEME

Der Sinn der Utopie

101

1. Die rechtstheoretische Bedeutung der Utopie ........................ 101

2. Die Zerstäubung der Utopie ..................... . .................. 103 3. Die Begrtlfsbestimmungen des Utopischen .......................... 105 4. Die Hauptinhalte der klassischen Utopie ............................ 112 5. Naturrecht und Utopie ............................................ 121 6. Die Tagesutopien der Juristen ...................................... 124 7. Die Grenzen des Utopischen und die realistische Rechtspolitik ........ 131

Remt und Wirtsmaft

136

I. a) Natur und Wirtschaft ........................................ 139 I. b) Natur und Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 154 II. Die Unentbehrlichkeit des Rechts ................................ 160 III. Die Leistungsfähigkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 162

Moral, Recht und Politik

166

I. Einleitung ...................................................... 166 II. Das Problem ..................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 167 III. Der übergang von Moral ins Recht .............................. 171 IV. Der völkerrechtliche Realismus .................................. 179 V. Hauptrichtungen der Ethik ...................................... 184 VI. Utopie und Politik .............................................. 188 VII. Tugend und Glück: Machiavelli .................................. 191 VIII. Die Weisheit der Schlange und die Unschuld der Taube: Bacon . . .. 196 IX. überirdische Gedanken und unterirdische Handlungen: Montaigne 200

ERSTER TEIL

Grundlagen Rechtssoziologie als methodologisches Problem 1. Abschnitt

Die Voraussetzungen der Redltssoziologie Unter Voraussetzungen soll hier in einem weiten Sinne sowohl dasjenige verstanden werden, was der rechtssoziologisch Erkennende dabei notwendig mitdenken muß (1. Kapitel), als auch was er dabei nicht mitdenken muß (obwohl eine gewisse Gefahr eines Mitdenkens naheliegt) oder kann (2. Kapitel), des weiteren sowohl die wissenschaftstheoretischen Folgen dieser unmittelbaren Voraussetzungen (3. Kapitel) als auch die Widerlegung der prinzipiellen Haupteinwendungen gegen die und der Beweis der Unabweisbarkeit der Rechtssoziologie (4. Kapitel). 1. Kapitel

Die unmittelbaren positiven Voraussetzungen Der rechtssoziologisch Erkennende denkt bei jedem Denkschritte die Gesellschaftlichkeit (§ 1), Geschichtlichkeit (§ 2), Raumzeitlichkeit (§ 3) und Wandelbarkeit (§ 4) des Rechts infolge der Erkenntnisart seiner Untersuchung notwendig mit. § 1. Die Gesellschaftlichkeit des Rechts

Die Rechtssoziologie setzt die Gesellschaftlichkeit des Rechts voraus1 • Das besagt nicht, daß sie Gesellschaft und Recht identifiziert2 • Aber sie ist nur insoweit möglich als das Recht, mindestens auch, als etwas Gesellschaftliches aufgefaßt und erkannt werden kann. Wäre das Recht von der Berührung der Bedingungen menschlicher Verhalten durch andere menschliche Verhalten so unabhängig wie irgendein physischer, che1 Kratt, Julius: Vortragen der Rechtssoziologie. Zvgl. Rw. 45 (1930) 1. 2 Kelsen, Hans: Eine Grundlegung der Rechtssoziologie. ASw.39 (1915) 876. Der Einwand, daß infolge soziologischer Unabgrenzbarkeit des Rechts die Soziologie des Rechts zur Soziologie der Gesellschaft überhaupt werden muß, wird uns in § 16 beschäftigen.

14

Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

mischer oder auch logischer Prozeß, so wäre eine Rechtssoziologie undenkbar. Gesellschaftlichkeit des Rechts ist einerseits in diesem Sinne ein Postulat, andererseits die Schranke des rechtssoziologischen Erkennens. Die Rechtssoziologie muß zugleich behaupten, daß in seiner Gesellschaftlichkeit Wesentliches über das Recht erkannt werden kann und daß infolgedessen die Erforschung außergesellschaftlicher Zusammenhänge, Beziehungen, Gründe usw. des Rechts aus ihrer Betrachtungsweise ausgeschlossen, abgelehnt werden darf. Sie betrachtet das Recht als soziale, aber auch nur als soziale Funktions. Probleme wie: Gott und Recht oder: Natur und Recht scheiden aus diesem Grunde aus dem Problemkreis der Rechtssoziologie aus. Gott oder das Erscheinen des Lebens auf der Erde mögen noch so grundwichtige Voraussetzungen des Rechts sein, für die Rechtssoziologie sind sie, mangels Gesellschaftlichkeit, von keinem Interesse. Diese Beschränkung der Untersuchung auf die gesellschaftlichen Grundlagen des Rechts bedeutet aber andererseits nicht die Leugnung außergesellschaftlicher Grundlagen und Bedingungen. Sie bedeutet nur die Erkenntnis, daß die unmittelbaren Grundlagen des Rechts in der Gesellschaft zu finden sind und daß daher die mittelbaren, außergesellschaftlichen Bedingungen des Rechts erst durch die Gesellschaft hindurchgegangen für das Recht spezifische Bedeutung erhalten können. Gott, Natur, das Leben oder auch die Wärme der Sonne mag Voraussetzung des Rechts, wie aller menschlichen Gesellschaft sein, solche Urgründe können niemals spezifische Bedingungen des Rechts abgeben, eben weil sie die gemeinsamen Voraussetzungen aller gesellschaftlichen und einer Vielzahl außergesellschaftlicher Erscheinungen sind, das Recht aber nur eine gesellschaftliche Erscheinung ist. Die spezifischen und unmittelbaren Grundlagen des Rechts sind erst in der Gesellschaft zu finden: die Rechtssoziologie beschränkt sich auf die sozialen Funktionszusammenhänge des Rechts, weil sie nur die Grundlagen und Funktionen des Rechts - und das sind strenggenommen nur die unmittelbar nächsten Bedingungen und Funktionen - nicht aber auch Grundlagen der Grundlagen oder Funktionen der Funktionen des Rechts interessieren. § 2. Die Geschichtlichkeit des Rechts

Außer der Gesellschaftlichkeit setzt die Rechtssoziologie auch die Geschichtlichkeit des Rechts voraus. Zwar folgt aus der Ablehnung des Asozialen - der Beschränkung auf das Gesellschaftliche - keineswegs unmittelbar die Ablehnung des Ahistorischen - die Beschränkung auf das Geschichtliche - von seiten der Rechtssoziologie. 3 "C'est dire que si l'on peut a la rigeur concevoir une economie ou une morale qui seraient strictement personnelles, le droit est par essence social, puisque ,interhumain"'. BougIe (C.) in L'Annee SocioIogique,12 (1913) 340.

Die unmittelbaren positiven Voraussetzungen

15

Gesellschaftlichkeit im Gegensatz zur Asozialität des Rechts bedeutet zunächst nur, daß eine Mannigfaltigkeit, ein Kollektivum einander berührender menschlicher Verhalten gegeben sein muß, wenn die rechtssoziologische Erkenntnis möglich sein soll. Zu diesem Postulat tritt nun die Erkenntnis hinzu, daß eine solche Mannigfaltigkeit nur in der Geschichte vorkommt, nur als etwas in der geschichtlich-chronologischen Zeit singulär Gegebenes in konkreter Wirklichkeit bestehen kann. Mag diese Mannigfaltigkeit auch gegenüber dem Individuum als etwas Umfassendes - und in diesem Sinne nicht abstrakt, sondern nur konkret Allgemeines - erscheinen, so ist sie doch selbst etwas Individuelles und Singuläres. Als konkrete Gesellschaft ist sie ebenso einmalig wie das Individuum. Aber nicht nur, daß die Geschichtlichkeit des Rechts nicht unmittelbar aus seiner Gesellschaftlichkeit folgt; die rechtssoziologische Begriffsbildung bedeutet geradezu eine Vernachlässigung der Einmaligkeit, die das Wesen des Geschichtlichen ausmacht. Rechtssoziologie ist eine generalisierende, Rechtsgeschichte eine individualisierende Erkenntnis. "Eine gesellschaftliche Tatsache, als wissenschaftliches Datum, ist eine ihrer Einmaligkeit beraubte historische Tatsache4 ." Allein, warum soll die Rechtssoziologie die Geschichtlichkeit des Rechts voraussetzen, falls diese nicht notwendig aus der notwendigen Voraussetzung der Rechtssoziologie, der Gesellschaftlichkeit des Rechts, folgt, und, wenn vorausgesetzt, so auch gleich wieder vernachlässigt wird? Eine Rechtssoziologie, die nicht Kritik, sondern Dogma der Rechtsgeschichte ist5 , die Rechtsgeschichte nicht voraussetzen, sondern bedingen und vorschreiben oder übersehen will, kann nicht die konkrete, empirische, singuläre Geschichtlichkeit der Gesellschaftlichkeit des Rechts erklären, sondern muß mit diesen konkretesten Tatsachen der Gesellschaftlichkeit des Rechts in Widerspruch geraten. Aus diesem Grunde steht es unserer Ansicht nach nicht so ganz im Belieben der Soziologie, den geschichtlichen Untergrund abzulehnen, wie dies Menzel als Gegenstück einer Geschichtsphilosophie, die jeden Zusammenhang mit der Gesellschaftswissenschaft verleugnet, feststellen zu können glaubt8• 4 Har, Kyung Durk: Social Laws, A Study of the VaHdity of Sociological Generalizations, 1930, S. 22; vgl. Haff, Karl: Rechtsgeschichte und Soziologie.

(S.-A. aus Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte) Stuttgart (Kohlhammer) 1929. S. 7. 5 Die Auffassung, daß die Rechtssoziologie Erkenntniskritik der Rechtsgeschichte ist, findet sich bei Schönfeld, Walther: Vom Problem der Rechtsgeschichte. Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, 4. Jahr, Geisteswissenschaftliche Klasse, Heft 6, Halle (Saale), Max Niemeyer Verlag, 1927, S. 32. 8 Menzel, Adolf: Barth, Paul: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. ARWph. 10 (1916/17) S. 105.

16

Die Voraussetzungen der Rechtssoziologle

Eine ahistorische, um die Geschichtlichkeit des Rechts unbekümmerte Rechtssoziologie wird zum Naturrecht, wie ja die soziologischen Teile der Naturrechtslehre die besten Beispiele einer ungeschichtlichen Rechtssoziologie sind. Ein gutes Beispiel einer ahistorischen Rechtssoziologie ist die in Platons Politeia enthaltene, die in erhabener und ausgesprochener Gleichgültigkeit gegenüber der geschichtlichen Rechtswirklichkeit entwickelt wird, aber auch auf die Erklärung der letzteren verzichten muß. Wenn Platon behauptet, daß es an der Richtigkeit seiner Gedanken nichts ändert, "wenn wir nicht nachweisen können, daß ein Staat so leben kann, wie es gesagt wurde"7, oder wenn Hobbes zugeben muß, daß es weder den von ihm selbst erfundenen ursprünglichen Zustand der Gesellschaft: das bellum omnium contra omnes als einen allgemeinen Zustand der Menschheit, noch die nach ihm aus diesem mit Notwendigkeit entstehende absolute souveräne Macht bisher gegeben hat8 , so sind diese Äußerungen ebenso charakteristisch für eine ahistorische Naturrechtssoziologie wie ein Beweis dafür, daß in solcher Unbekümmertheit um seine Geschichtlichkeit die Gesellschaftlichkeit des Rechts nicht erkannt werden kann. Wenn es Gesellschaftlichkeit in der Geschichtlichkeit des Rechts gibt, so kann die Gesellschaftlichkeit des Rechts ohne Voraussetzung und ausdrückliche Berücksichtigung seiner Geschichtlichkeit nicht erklärt werden. Daß aber in der generalisierenden Tendenz der Rechtssoziologie eine Entfernung von der individualisierenden Rechtsgeschichte liegt, legt den Verdacht nahe, daß jede Rechtssoziologie einen naturrechtlichen Rest oder ein naturrechtliches Minimum notwendig mit in Kauf nehmen muß und beständig Gefahr läuft, dieses unvermeidbare Minimum zu überschreitenD. Die Lehre von der Allgeschichtlichkeit ist der Historismus, die von dem geschichtlichen Allwandel des Rechts der historische Rechtspositivismus. Historische Positivität des Rechts wird also von der Rechssoziologie mit der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Rechts in dem Maße mitvorausgesetzt, als sie auf historischer Grundlage errichtet wird, wobei noch unentschieden bleibt, ob nicht jeder Historismus notwendig sich selbst transzendiert10• In diesem historistischen Sinne bedeutet Positivität nichts anderes als Geschichtlichkeit oder Nur-Geschichtlichkeit. Ob daneben etwa im Sinne von ZufäLligkeit ll , Lebendigkeit l2 , 7 Politeia 472 e; vgl. meine Abhandlung: Die Gerechtigkeitslehre des Sokrates und des Platon, ZföR 10 (1930), S. 276. 8 Leviathan, I. 13, H. 20, 30. 9 Vgl. Menzel, Adolf: Naturrecht und Soziologie. Wien, 1912. 10 VgI.: Mannheim, Karl: Historismus. ASw. 52 (1924), S. 51, 58, 60. 11 In diesem Sinne werden technische Bestimmungen (z. B. über Verjährungsfristen oder Grenze der Volljährigkeit usw.) als lex mere positiva auf-

Die unmittelbaren positiven Voraussetzungen

17

Naturgegebenheit oder Souveränität13 von Rechtspositivität gesprochen werden kann, bleibt dahingestellt14• Sofern eine generalisierende Rechts-

soziologie den radikalen Historismus nicht mitmachen kann oder dieser

gefaßt. Es soll bemerkt werden, daß zwischen dieser Bedeutung und der der Geschichtlichkeit einerseits und Souveränität andererseits, trotz sonstiger weitgehender Verschiedenheit, ein inniger Zusammenhang besteht. Geschichte ist nämlich kraft ihrer konkreten Individualität und Einmaligkeit, Souveränität kraft ihrer Unbestimmbarkeit und Unabhängigkeit insbesondere von der Moral - zufällig. Die erste bedeutet einen Zufall gegenüber jeder allgemeinen Gesetzmäßigkeit, die zweite gegenüber der Moral. Auch der Begriff der Willkürlichkeit paßt in diesem Sinne auf diese drei Positivitätsbegriffe. Andererseits unterscheiden sie sich voneinander darin am schärfsten, daß von der Gekünsteltheit der ersten, der Einmaligkeit der zweiten und dem Zuhöchstsein der dritten Art in den übrigen nichts zu finden ist. 12 Spiegel, Ludwig: Jurisprudenz und Sozialwissenschaft. Grünhuts Zf. 36 (1909), S. 21. 13 Kelsen, Hans: Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft. Sch.40 (1916), S.1218-1225; Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Tübingen (Mohr) 1920, S. 86. 14 Nur das eine sei bemerkt, daß die Auffassung Kelsens, wonach "positiv" "die Verschiedenheit des Rechtes von Moral, Politik, Religion, Natur usw., die Selbständigkeit des Rechtes gegenüber anderen Normsystemen" (a. a. 0., S. 87) bedeutet, dem Sprachgebrauch nicht entspricht, was ein Blick auf die Begriffe positive Moral oder positive Religion beweist. Denn obwohl Kelsen in der Konsequenz so weit geht, daß er der Moral Positivität dann zuerkennt, wenn diese den Anspruch erhebt, "eine souveräne Ordnung zu sein" (a. a. 0., S. 88), so ist es dennoch offenbar, daß unter positiver Moral oder Religion niemand schon eine vom Recht verschiedene Moral oder Religion oder eine gegenüber Recht und Moral selbständige Religion, eine gegenüber Recht und Religion selbständige Moral versteht. Kelsen beschränkt sich auf diese Bedeutung der Positivität, weil er diesen Begriff aus dem Gegensatz zum Naturrecht entwickelt und die Frage nach dem Grund eines Sollens niemals durch ein Sein beantwortet werden kann (a. a. 0., S. 90). Aus dieser richtigen Einsicht glaubt er die Positivität im historischen Sinne ablehnen zu müssen. Indem er aber anerkennt, daß "das Sein all dieser Akte" - nämlich der Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Urteilsakte - "dieser ,historischen' Vorgänge nur die conditio sine qua non, nicht aber die conditio per quam für das rechtliche Sollen der gültigen Normen" ist (a. a. 0., S. 97), bedeutet dies die Anerkennung der historischen Positivität in demselben Sinne wie sie die Rechtssoziologie voraussetzen muß. Diese Voraussetzung im Sinne einer conditio sine qua non - und mehr besagt sie nicht, wenn man die Frage der Positivität und die des Geltungsgrundes auseinanderhält - schließt die Positivität im Sinne von Souveränität keineswegs aus: die beiden Fragen präjudizieren einander keineswegs. Wenn Kelsen in späteren Arbeiten den Unterschied von Naturrecht und positivem Recht in der Verschiedenheit, im Gegensatz des materialen und des formalen Geltungsprinzips, des statischen und des dynamischen Normsystems erblickt; wenn er das Problem der Positivität darin sieht, daß das Recht "zugleich als Sollen und Sein erscheint, obgleich sich diese beiden Kategorien logisch ausschließen" (Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Philosophische Vorträge veröffentlicht von der Kant-Gesellschaft 31, Charlottenburg [Heise] 1928, S. 10); wenn er sagt: "Die Norm des Naturrechtes gilt ... weil sie ... ,gerecht' ist; die Norm des positiven Rechtes: weil sie nur auf eine bestimmte Weise erzeugt ... wurde." (Die Idee des Naturrechtes, ZföR 7 [1928] S.224), so darf darin eine beträchtliche Annäherung an das historische Positivitätsprinzip erblickt werden, da die Erzeugungsakte auch nach ihm "historische Vorgänge" sind. (Vgl.: Naturrecht und positives Recht. IZTR 2 [1927/28] S. 71-94.)

18

Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

sich selbst transzendiert, entfernt sich die Rechtssoziologie von der Voraussetzung der historischen Rechtspositivität. Daraus, daß sie die Geschichtlichkeit des Rechts in ihrer unverkürzten Einmaligkeit fordern muß,aber nie ganz zu ergreifen vermag, erklärt sich ihre stetige Annäherung an die, aber auch ihr Abstand von den letzten Postulaten des historischen Rechtsposi tivismus. § 3. Die Raumzeitlichkeit des Rechts

Mit der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit ist bereits auch die Raumzeitlichkeit des Rechts vorausgesetzt. Umgekehrt ist mit der Raumzeitlichkeit seine Geschichtlichkeit noch nicht gegeben. Nicht nur Geschichte, sondern auch die Natur ist raumzeitlich. Mit der Widerlegung seiner Geschichtlichkeit wäre die Raumzeitlichkeit des Rechts noch keineswegs widerlegt. Die raumzeitliche Gegebenheit und Verschiedenheit des Rechts bedeutet in der einen Richtung mehr, in der anderen weniger als seine Geschichtlichkeit. Würde man nämlich das Recht als mit seiner Raumzeitlichkeit allein erschöpft ansehen, so würde man dadurch seine Geschichtlichkeit zerstören, man würde damit die Naturgegebenheit des Rechts behaupten: Recht als Natur auffassen. Man würde damit die Voraussetzung der GeseZlschaftlichkeit des Rechts außer acht lassen, da Gesellschaft auch in ihrer Naturgegebenheit nur eine Natur besonderer Art sein kann. Würde man aber Gesellschaftlichkeit und Raumzeitlichkeit ohne Geschichtlichkeit des Rechts voraussetzen, so gelangte man zu einer naturwissenschaftlichen Rechtssoziologie und zur Rechtspositivität als Naturgegebenheit. Die dürftigen Ergebnisse einer ahistorischen naturwissenschaftlichen Rechtssoziologie, wie sie insbesondere von Pikler versucht worden ist15, erklären sich aus dem bereits bekannten Umstande, daß die unmittelbaren und spezifischen Bedingungen und Funktionszusammenhänge des Rechts aus der Natur allein niemals zu erkennen sind. Eine ahistorische Gesellschaft aber ist selbst nur Natur. Ist die Gesellschaft, mindestens auch, geschichtlich, so ist weder sie noch das Recht als Natur allein erkennbar. Raumzeitlichkeit bedeutet nichtsdestoweniger, und insbesondere auch in der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit, die Naturgebundenheit des Rechts. Es kann ohne Fehler als eine Variation des Lebens im biologischen Sinne aufgefaßt werden, die im Kampfe ums Dasein Aussicht auf überleben eröffnet. Aber etwas Spezifisches ist damit über das Recht ebensowenig wie etwa über die Religion ausgesagt. 15 Einführung in die Rechtsphilosophie (1892), Ursprung und Entwicklung des Rechts 2 (1902), (beide ungarisch); vgl. meine Abhandlung: Die ungarische RechtsphHosophie, ARWph. 34 (1930/31) S. 52-59.

Die unmittelbaren positiven Voraussetzungen

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Eben darum steht die Raumzeitlichkeit, Naturgebundenheit des Rechts in keinem Gegensatze zu seiner Geschichtlichkeit. Recht mag Natur und überdies Geschichte sein. Selbst der Normativität oder Wertartigkeit des Rechts präjudiziert seine Raumzeitlichkeit oder Naturgebundenheit keineswegs, obgleich Sollen und Sein, Norm und Natur, Wert und Wirklichkeit einander logisch ausschließen. Das Recht vermag sehr wohl entweder norm- bzw. wertbezogene Natur oder natur- bzw. wirklichkeitsbezogene Norm zu sein, ja selbst in der methodenreinen Synopsis beider zu bestehen, ohne daß seine Naturgebundenheit seiner Normativität auch nur das mindeste anhaben könnte, insbesondere ohne daß der logische Gegensatz beider aufgehoben oder verwischt würde. Die spezifische Differenz seiner Geschichtlichkeit als Natur oder Norm ermöglicht diese methodenreine Abgrenzung, ergänzt die in sich ungenügenden Voraussetzungen der Gesellschaftlichkeit und Raumzeitlichkeit und bewährt sich so als die Grundvoraussetzung der Rechtssoziologie als Geschichtslehre des Rechts. "Alle sozialen Erscheinungen ... sind ... Erscheinungen in Raum und Zeit unter Naturgesetzen, und verlangen daher auch dem Ideal nach eine quantitativ-naturgesetzliche Deutung16." Ja, indem die Rechtssoziologie infolge ihrer generalisierenden Begriffsbildung sich von der unverkürzten Einmaligkeit der Rechtsgeschichte notwendig entfernt, nähert sie sich in ihrer Erkenntnisart der Naturwissenschaft. Allein, die Schranke dieses "rechtssoziologischen Naturalismus"17 liegt eben in dem Umstand, daß jede Annäherung an die Naturerkenntnis eine entsprechende Entfernung von der spezifischen Rechtserkenntnis notwendig dann bedeutet, wenn Geschichtlichkeit, Norm- oder Wertbezogenheit oder selbst Normund Wertcharakter etwas vom Recht nicht Wegzudenkendes sind. Der Rechtsnaturalismus leidet an der Paradoxie Schiffbruch: Wohl ist das Recht Natur, aber die Natur ist noch bei weitem nicht Recht. Naturgesetzlichkeit kann niemals für sich, sondern immer nur durch Normgesetzlichkeit gebrochen, durchschossen, abgegrenzt, spezifische Relevanz für das Recht haben. § 4. Die Wandelbarkeit des Rechts

Strenggenommen ließe sich ein gesellschaftliches, geschichtliches und raumzeitliches, aber nicht mehr wandelbares - z. B. das zeitlich letzte Recht denken. Macht nun "die Bestimmung der Bildungsfaktoren einer als unverändert gedachten Rechtsinstitution" den Inhalt der rechtssoziologischen Statik, "die Theorie der Rechtsveränderungen und... der Rechtsentwicklung" dagegen den Inhalt der dynamischen Rechtssoziolo18 17

2"

Kraft, a. a. 0., S. 2. Kraft, a. a. 0., S. 77.

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Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

gie aus18, so scheint es, daß die Rechtssoziologie die Wandelbarkeit des Rechts gar nicht voraussetzen muß. Ailerdings wird zugegeben, daß da "in der historischen Realität ... sich ... die Rechtseinrichtungen in dauerndem Wandel" befinden, die Rechtssoziologie ohne Dynamik der Wirklichkeit nicht gerecht werden könnte 19 • Eine "als unverändert gedachte Rechtsinstitution" ist Naturrecht. Ihre Bildungsfaktoren zu bestimmen ist dagegen generalisierende Dynamik. Andererseits operiert auch die dynamische Rechtssoziologie mit dem Hilfsmittel der "Abstraktion der Dynamik". Der eigentliche Unterschied zwischen Bestimmung der Bildungsfaktoren und Theorie der Rechtsveränderung besteht gar nicht in der Verschiedenheit von Statik und Dynamik, sondern in der Verschiedenheit von Veränderung in weiterem auch Entstehen und Vergehen umfassendem - und engerem - nur Wandel von Bestehendem meinendem - Sinne. Ein Wandel ist mit dem ersten nicht weniger, sondern nachdrücklicher als mit dem zweiten gemeint: Ursprung und Untergang sind nicht statischer als Veränderung, sondern bedeuten einen dynamischeren, grundstürzenderen, radikaleren Wandel als diese. Ohne Voraussetzung der Wandelbarkeit hätte die Rechtssoziologie an der Gesellschaftlichkeit, Geschichtlichkeit und Raumzeitlichkeit des Rechts nichts zu erklären. Sie könnte vielleicht auch ein unwandelbares Recht beschreiben, aber was sie erklären möchte, ist gerade der Wandel, der Funktionszusammenhang des Rechts, die Variabilität der beschriebenen Elemente. Etwas Gesellschaftlich-Geschichtlich-Raumzeitlich-Unwandelbares läßt sich vielleicht individualisierend beschreiben, aber niemals generalisierend erklären. Die Wandelbarkeit, die Variabilität macht eine generalisierende Erklärung, Urteile wie: "Wenn A, dann B" allererst möglich. Diese generalisierende Erklärungsmöglichkeit ist aber auch die Schranke der Voraussetzung. Nicht einen radikalen Allwandel darf die Rechtssoziologie voraussetzen, der jede Generalisierung unmöglich macht, weil er Begriff und Wesen des sich Wandelnden radikal vernichtet. Bis zu diesem allerletzten Punkt kann die Rechtssoziologie den Gedanken des "panta rhei" nicht mitdenken, weil dies sie als generalisierende Erkenntnis aufheben würde. Ihre Generalisierungstendenz zieht sie somit in die Richtung des Unveränderlichen, des Naturrechts, dessen Voraussetzung sie aufheben, weil ihr eigenstes Problem: den Wandel des Rechts, vernichten würde. Ihr Erklärungsbedürfnis zieht sie dagegen in die Richtung des radikalen Allwandels, der jeder Erklärung nicht entgegen-, sondern widersteht, nicht Gegenstand, sondern unüberwindbaren 18 18

Kraft, a. a. 0., S. 8. Kraft, a. a. o.

Die unmittelbaren negativen Voraussetzungen

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Widerstand der erklärenden Erkenntnis bildet. Erst wenn "mehr als ein bloß chamäleonhafter Wandel ... in der Geschichte" erblickt werden darf, nur dadurch, "daß sie diesen ... Veränderungen ein Pri7lZip der Ordnung zu entreißen vermag, daß sie in die innerste Struktur dieses Allwandels einzudringen imstande ist"20, stimmt die allgemeine Geschichtslehre des Historismus mit der Rechtssoziologie in der Voraussetzung der Wandelbarkeit überein. Es ist ein relativer Wandel in dem Sinne, daß Rechtssoziologie wie jede Erkenntnis von Veränderung ohne ein Minimum von Veränderung, aber auch ohne ein Minimum von Beständigkeit des sich Wandelnden nicht möglich ist. 2. Kapitel

Die unmittelbaren negativen Voraussetzungen Der rechtssoziologisch Erkennende muß die Identität von Gesellschaft und Recht (§ 5) und kann die Identität von Geschichte und Recht (§ 6) oder diejenige von Natur, Norm und Recht (§ 7) infolge der Erkenntnisart seiner Untersuchung nicht mitdenken, obwohl eine gewisse Gefahr oder Versuchung in allen drei Richtungen naheliegt. § 5. Keine Identität von Gesellschaft und Recht

Aus der Gesellschaftlichkeit des Rechts folgt nicht die Rechtlichkeit der Gesellschaft. Aber die erste schließt auch die zweite nicht aus. Es kann auch nicht behauptet werden, daß schon aus dem Unterschied von Rechtssoziologie und Soziologie ohne weiteres die notwendige Verschiedenheit von Recht und Gesellschaft sich mit Evidenz ergäbe. Mindestens läßt sich so etwas nicht am Anfang der Rechtssoziologie behaupten, weil damit der bloße Name dem Endergebnis einer Wissenschaft vorgreifen würde. Es läßt sich sehr wohl denken, daß die Rechtssoziologie, die ihre Untersuchung bei ihrem Anfang ausschließlich auf das Recht richtet, bei dem Ergebnis endet, daß sie im Recht die Gesellschaft erkannt hat und so zu einer allgemeinen Gesellschaftslehre geworden ist, ohne aufzuhören, Rechtssoziologie zu sein. Wegen der Erkenntnisart ihrer Untersuchung muß also die Rechtssoziologie die Identität von Gesellschaft und Recht weder behaupten noch leugnen. Diese Frage gehört nicht zu den Voraussetzungen, sondern zu den Problemen der Rechtssoziologie. Es hängt nicht von methodologischer Einsicht in die Eigenart der Rechtssoziologie, sondern von den Ergebnissen der rechtssoziologischen Erkenntnis selbst ab, ob Recht ein Teil der Gesellschaft, oder die Gesellschaft selbst, oder ein Aspekt der Ge20 Mannheim, Karl: Historismus. ASw. 52 (1924) 4.

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Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

seIlschaft ist. Weder Identität noch Nichtidentität von Gesellschaft und Recht ist eine Voraussetzung der Rechtssoziologie, sondern es ist eine negative Voraussetzung der Rechtssoziologie, daß sie diese Frage nicht vorweg, voraussetzungsweise entscheide, weil sie damit ihrer eigenen Erkenntnis vorgreifen, diese letztere unmöglich machen und in diesem Sinne sich selbst aufheben würde. § 6. Keine Identität von Geschichte und Recht

Aus ähnlichen Erwägungen könnte dargetan werden, daß die Rechtssoziologie die Identität von Geschichte und Recht nicht vorauszusetzen braucht, also weder ihre Identität noch ihre Nichtidentität ohne Beweis voraussetzen darf. Es kann aber aus ihrer Erkenntnisart auch bewiesen werden, daß sie diese Identität gar nicht voraussetzen kann, also im Gegenteil die Nichtidentität von Geschichte und Recht voraussetzen und bei jedem Denkschritte mitdenken muß. Dies folgt aus ihrer gene-ralisierenden Erkenntnisart. Begnügt sie sich nicht damit, auf individualisierende, geschichtliche Weise zu verstehen, sondern will sie darüber hinaus gesetzmäßig erklären, dann kann sie die Spannung, ja Gegensätzlichkeit ihrer Erkenntnisart gegenüber der historischen nicht verleugnen. Denn die "Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Geschehens" gehören keineswegs zum "Wesen der Geschichte" als Wissenschaft selbst, obwohl die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeiten "eine höhere Erkenntnis des allmählichen Wandels"21 erst ermöglicht. Der "goldene Mittelweg", der nach Bauer einzuhalten ist "zwischen der Plastik der konkreten Wirklichkeit, die die Eigenart des individuellen Falles bevorzugt, und dem juristischen Sammelprinzip ... das von der Wirklichkeit abstrahiert, indem es diese unter eine juristische, daher für viele andere Fälle mitgeltende verallgemeinernde Norm einreiht"22, erinnert an etwas in der innersten Struktur des Rechts, das trotz und in seiner Geschichtlichkeit selbst jeder Geschichte wesensfremd entgegensteht: an seine Generalität. An dieser kann die generalisierende Erklärung der Rechtssoziologie selbst dann nicht achtlos vorübergehen, wenn sie den historischen Rechtspositivismus mitmacht. Sie muß die geschichtliche Individualität des Rechts verkürzen, sonst kann sie nicht zu Gesetzmäßigkeiten, Generalitäten, Typen gelangen. "Solange man" jedoch "Typen zu bewältigen versucht ... ist man ... in die unwiederholbare Individualität des Geistigen... noch nicht eingedrungen"23. Es besteht also trotz gegenseitiger Affinität eine Grund21 Haff, a. a. 0., S. 4-5. 22 Bauer, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, Grünhuts Zf. 36

(1909), 428. 23 Mannheim, a. a. 0., S. 42.

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verschiedenheit zwischen der Erkenntnisart der Geschichte und der Soziologie. In ihrer methodologischen Eigenart liegt es also begründet, daß die Rechtssoziologie einerseits die Geschichtlichkeit allen Rechts, andererseits aber auch die spezifische Verschiedenheit des Rechts und seiner Geschichtlichkeit, d. h. aber die Möglichkeit einer Rechtsbetrachtung voraussetzen muß, die der unverkürzten Geschichtlichkeit (Einmaligkeit) des Rechts nicht restlos gerecht wird. Diese beunruhigende aber unleugbare Verschiedenheit zwischen dem Recht und seiner Allgeschichtlichkeit büßt ihre Schärfe erst dann ein, wenn die Geschichtlichkeit des Rechts als Untersuchungsobjekt nicht der Rechtsgeschichtswissenschaft, sondern der Geschichtslehre des Rechts mitberücksichtigt wird. Auch die Geschichtslehre will Allgemeines über die Geschichte feststellen. Selbst wenn sie mit Konsequenz auf dem Prinzip des geschichtlichen Allwandels beharrt, behauptet sie über die Geschichte etwas Allgemeines, versteht nicht individualisierend, sondern erklärt generalisierend. Das ist der Sinn der Rede, daß der Historismus sich selbst transzendiert. Ist die absolute Einmaligkeit das Gesetz der Geschichte, so ist es immerhin ein allgemeines Gesetz der Geschichte. Es ist etwas ganz anderes, das Einmalige individualisierend zu verstehen als seine Einmaligkeit generalisierend zu behaupten. Mit dieser Behauptung wird das Einmalige zum denkbar Allgemeinsten. Diese Verlegung des Absoluten in das Einmalige, die Mannheim für den letzten Sinn der Forderung Troeltschs, die Geschichte durch die Geschichte zu überwinden, erachtet2" löst auch die Spannung zwischen dem Recht und seiner Geschichtlichkeit. Es kommt hier jedoch nicht auf die Richtigkeit dieser Lösung, sondern auf die Einsicht an, daß Geschichte in ihrer unverkürzten Einmaligkeit nur die individualisierend verstehende Geschichtswissenschaft, aber weder die Geschichtslehre noch die Soziologie erfassen kann. Das Recht vermag also sehr wohl für die Rechtsgeschichte Nurgeschichtliches zu sein, kann aber weder für die Geschichtslehre des Rechts noch für die Rechtssoziologie in individualisierend Verstandenes restlos aufgehen. Dies aber, und nicht mehr, ist der Sinn der Behauptung, daß die methodische Eigenart der Rechtssoziologie die Gleichheit von Recht und Geschichte ausschließt. Ob man "generalisierende Typik der sozialen ... Formen" entwirft oder dieselbe "in eine jeweils einmalige Stufenfolge dieser Formen" umwandeW 5, erfaßt die Geschichtslehre und die Soziologie die Geschichte niemals bloß individualisierend-verstehend, sondern immer generalisierend-erklärend und eben damit - auch im Sinne des radikalen Historismus - de-historisierend. Weil Erklärung 24

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A. a. 0., S. 58. Mannheim, a. a. 0., S. 51.

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mit Zerstörung (Verkürzung) des Individuellen gleichbedeutend ist, muß auch die Rechtssoziologie die von ihr selbst notwendig vorausgesetzte Geschichtlichkeit des Rechts infolge ihrer methodischen Eigenart im Laufe ihrer eigenen Bearbeitung immer wieder verkürzen und dehistorisieren. Diese methodische Notwendigkeit schließt es aus, daß die Rechtssoziologie die Gleichheit von Geschichte und Recht voraussetze. Durch das bisher Gesagte ist strenggenommen nur die Ungleichheit von Recht und Rechtsgeschichte, als Voraussetzung der Rechtssoziologie und nur gleichsam a fortiori die Ungleichheit von Recht und Geschichte überhaupt bewiesen. Nur weil Recht nicht gleich Rechtsgeschichte ist, ist es auch nicht gleich Geschichte überhaupt. Setzt man sich über die Verschiedenheit von Recht und Rechtsgeschichte hinweg, oder denkt man sich dieselbe etwa im Sinne des Historismus behoben, dann kann, ebenso wie dies in § 5 in bezug auf Gesellschaft und Recht gezeigt worden ist, nicht mehr bewiesen werden, daß die Rechtssoziologie diese Ungleichheit von Geschichte und Recht voraussetzen muß, sondern nur, daß sie der Entscheidung dieser Frage in ihren Voraussetzungen nicht vorgreifen darf. So unwahrscheinlich es auch ist, daß Geschichte überhaupt gleich Rechtsgeschichte sei, voraussetzen läßt sich dies auf Grund der methodischen Eigenart der Rechtssoziologie ebensowenig wie die notwendige Ungleichheit von Gesellschaft und Recht. Voraussetzung der Rechtssoziologie ist diesbezüglich nur die Unentschiedenheit der Frage dieser beiden Identitäten. Dies gilt insbesondere dann, wenn Geschichte als Gesellschaftsgeschichte aufgefaßt wird. Muß die Rechtssoziologie schon die Frage der Gleichheit von Gesellschaft und Recht in ihren Voraussetzungen unentschieden lassen, so muß sie sich um so mehr enthalten, sich über die Frage der Gleichheit von Rechtsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte in ihren Voraussetzungen zu entscheiden. Anderenfalls setzte sie sich der Gefahr aus, Gesellschaft und Recht auf Grund ihrer Ergebnisse als wesensgleich, Gesellschaftsgeschichte und Rechtsgeschichte dagegen auf Grund ihrer Voraussetzungen als wesensungleich betrachten zu müssen, was einen evidenten Widerspruch bedeutete. Faßt man aber Geschichte überhaupt weiter als Gesellschaftsgeschichte, dann läßt sich auch von dieser Seite her auf Grund der Voraussetzung der Gesellschaftlichkeit des Rechts beweisen, daß Geschichte und Recht nicht gleich, nicht koextensiv sein können. Ist Geschichte überhaupt ein umfassenderer Begriff als Gesellschaftsgeschichte, so liefe die Behauptung der Gleichheit von Geschichte und Recht auf die Leugnung der Gesellschaftlichkeit des Rechts hinaus und verstieße auf diese Weise gegen die Grundvoraussetzung der Rechtssoziologie. Aus der Voraussetzung der Gesellschaftlichkeit des Rechts folgt mithin die Voraussetzung der Un-

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gleichheit von Geschichte und Recht dann, aber auch nur dann notwendig, wenn Geschichte überhaupt ein die Gesellschaftsgeschichte umfassender weiterer Begriff ist, wenn es neben der Gesellschaftsgeschichte noch anderweitige, nichtgesellschaftliche (z. B. Natur-)Geschichte gibt. § 7. Keine Identität von Natur, Norm und Recht

Die Ungleichheit von Natur, Norm und Recht folgt unmittelbar aus der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Rechts. Weder Gesellschaft noch Geschichte kann weder als Natur noch als Norm schlechthin aufgefaßt werden. Ist die Natur auch raumzeitlich und wandelbar wie das Recht, so fehlt ihr - der Natur als Gegenstand der Naturwissenschaftdie geschichtliche Einmaligkeit des Rechts. Der Norm als zeitlosem Gebilde fehlt aber sowohl die Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit, als auch die Geschichtlichkeit des Rechts, obwohl die Gesellschaftlichkeit des Rechts sich auch als zeitlose Normativität (als Normsystem) denken ließe. Das eben Gesagte darf nun aber nicht dahin mißverstanden werden, als wenn die Rechtssoziologie voraussetzen müßte, daß das Recht weder Natur noch Norm, sondern ein Drittes sei. Man kann mit gleich gutem Grunde behaupten, daß das Recht weder Natur noch Norm und daß es notwendigerweise nur entweder Natur oder Norm sein kann. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich durch den Hinweis auf die generische Gleichheit aber spezifische Ungleichheit entweder von Natur und Recht (Gesellschaft, Geschichte) einerseits oder von Norm und Recht (Gesellschaft, Geschichte) andererseits. Man könnte diesen Sachverhalt so formulieren, daß die negative Voraussetzung der Rechtssoziologie nicht dahin geht, daß Recht nicht Natur (bzw. Norm), sondern daß Recht nicht gleich Natur (bzw. Norm) ist. Recht ist entweder Natur oder Norm, aber weder gleich Natur noch gleich Norm. Es gibt weder einen dritten Gegenstand neben Natur und Norm, noch eine Verschmelzung beider in einen Gegenstand. Aber es gibt normentsprechende (-widrige) Natur und naturentsprechende Norm. Eine in diesem Sinne naturbezogene Norm, eine in diesem Sinne normbezogene Natur ist zwar Norm (Natur), aber ist nicht gleich Norm (Natur) überhaupt. Sie ist eine von der Norm (Natur) überhaupt durch diese Natur(Norm-)bezogenheit spezifisch unterschiedene Norm (Natur). Ohne späteren Untersuchungen vorgreifen zu wollen, können wir schon jetzt aussprechen: sie ist eine spezifisch, nämlich durch eine bestimmte Natur(Norm-)bezogenheit, abgegrenzte, selektierte, durch ebendieseIbe Bezogenheit hindurch angeschaute, d. h. mit einer bestimmten Natur (Norm) zusammen angeschaute, synoptisch betrachtete Norm (Natur)26. U Vgl. meine Abhandlungen: Die Grundlagen der "Universalistischen Metaphysik" in der Rechtsphilosophie Julius Binders. ZföR 6 (1926), 113-115 und Hegel und das Recht, ZföR XII (1932), 55, 56, 64-66, 67.

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Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

Daß Gesellschaft und Geschichte sich in diesem Sinne von Natur und Norm spezifisch unterscheiden, scheint auf der Hand zu liegen. Beider Ungleichheit mit Natur und Norm bedeutet ihre spezifische Verschiedenheit von, trotz generischer Gleichheit mit, Natur oder Norm überhaupt, die in ihrer spezifischen Norm- bzw. Naturbezogenheit begründet ist. Sie sind, vom Standpunkt der Naturwissenschaft, willkürlich abgegrenzte Natur oder vom Standpunkt der Normwissenschaft, willkürlich abgegrenzte Norm. Ohne Bezugnahme auf die Norm menschlichen Verhaltens läßt sich die Gesellschaft, als Teil der Natur, ebensowenig abgrenzen wie ohne Bezugnahme auf das Naturgeschehen sie, als Teil der denkbaren Normen, abgrenzbar ist. Das gleiche gilt für Geschichte und Recht. Man könnte glauben, daß wenn schon die Rechtssoziologie die spezifische Ungleichheit von Natur, Norm und Recht voraussetzen muß, sie doch, und gerade auf Grund dieser nur spezifischen Ungleichheit, wenigstens ihre generische Gleichheit voraussetzen darf, ja soll. Infolge des logischen Gegensatzes von Natur und Norm und infolge des Umstandes, daß die Rechtssoziologie das Recht, wenn auch nur generisch, nur mit beiden gleichsetzen dürfte, weil weder für die Bevorzugung der generischen Natur- noch der Normgleichheit ein zureichender Grund in ihren Voraussetzungen vorliegt, kein Gegenstand aber mit zwei einander logisch ausschließenden Gegenständen zugleich gleichgesetzt werden kann, darf sie aber auch diese generische Gleichsetzung nur im Sinne eines streng gleichwertigen Entweder-Oder vollziehen. Weder mit Natur noch mit Norm spezifisch gleich, ist für sie das Recht voraussetzungsgemäß mit gleich gutem Grunde, aber immer nur entweder mit Natur oder mit Norm generisch gleichgesetzt. 3. Kapitel Die wissenschaftstheoretischen Folgen der unmittelbaren Voraussetzungen Die entwickelten unmittelbaren - positiven und negativen - Voraussetzungen bestimmen durch ihre wissenschaftstheoretischen Folgen die Funktion der Rechtssoziologie solchen großen Richtungen der Rechtsbetrachtung gegenüber, wie sie die Naturrechtslehre (§ 8), der Rechtspositivismus (§ 9), der Rechtslogismus (§ 10), der Rechtsirrationalismus (§ 11), die Rechtsdogmatik (§ 12) und der Rechtshistorismus (§ 13) darstellen. All diesen Richtungen gegenüber bedeutet die Rechtssoziologie mit ihren Voraussetzungen eine Begrenzung, innerhalb dieser aber auch eine relative Rechtfertigung.

Wissenschaftstheoretische Folgen der unmittelbaren Voraussetzungen 27 § 8. Begrenzung der Naturrechtslehre

Die Rechtssoziologie begrenzt die Naturrechtslehre durch die Voraussetzungen der Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit des Rechts. Aus diesen Voraussetzungen folgt, daß sie das Recht in der geschichtlichen, raumzeitlichen und wandelbaren Erfahrung vorfindet, während die Naturrechtslehre - als die rechtstheoretische Spielart des philosophischen Idealismus im Sinne der platonischen Ideenlehre - das Recht hinter oder vor der Erfahrung sucht. Sie ist die ewige Berufung von der Rechtserscheinung auf das Rechtsding an sich, auf das "ontos on" des Rechts, auf das rechte Recht, auf das Recht hinter dem Recht, wie der philosophische Idealismus die Berufung von der Erscheinung auf die Idee (Ding an sich), auf das wahrhaftig Seiende, auf die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit ist 27 • Es ist bereits in § 2 gezeigt worden, daß in der generalisierenden Tendenz der Rechtssoziologie eine naturrechtliche Gefahr verborgen liegt. Auch die in §§ 6 und 7 bewiesene Ungleichheit von Geschichte, Natur und Recht spricht dafür, daß die Rechtssoziologie einen wahrhaft konsequenten Rechtsempirismus nicht mitmachen kann, weil sie das geschichtlich Einmalige erklärend verkürzen muß, das Recht als Natur schlechthin aber überhaupt nicht spezifisch erklärbar ist. Verallgemeinern heißt Vernachlässigen. Bereits mit der generalisierenden Typik der rechtsgeschichtlichen Erfahrung vernachlässigt also die Rechtssoziologie das Einmalige dieser Erfahrung, entfernt sich von den letzten Konsequenzen des Rechtsempirismus. Damit nähert sie sich notwendig der Naturrechtslehre, weil für eine generalisierende Erkenntnis ein radikaler Allwandel unerfaßbar ist und sie daher als generalisierende Erkenntnis der Rechtsveränderung dabei ein Minimum der Beständigkeit des sich Wandelnden voraussetzen muß (§ 4). Dieses Minimum der Beständigkeit, d. h. Unwandelbarkeit des Rechts ist aber ein Minimum an Naturrecht. Es ist vielleicht Naturrecht in einem gereinigten, transzendentallogischen Sinne: das Unerfahrene nicht als Erkanntes, sondern als Erkenntnisbedingung. Da jedoch die Erkenntnisbedingungen mit zur Struktur des Erkannten gehören, ist die Voraussetzung einer wenn auch minimalen Unwandelbarkeit des Rechts als Erkenntnisbedingung der Rechtsveränderung: 27 Nur soviel gehört zum Wesen des Naturrechtsgedankens, der sich dadurch als die rechtstheoretische Funktion des philosophischen Idealismus im strengen Sinne erweist. Die sehr verbreitete Auffassung, daß nur die Behauptung eines unwandelbaren überempirischen Rechtsinhalts Naturrecht bedeute, die Unwandelbarkeit der Rechtsform dagegen nichts mit Naturrecht zu tun habe, ist nichts anderes als eine allzu bequeme Erledigung des Naturrechtsproblems, eine Figur des Naturrechtsdenkens selbst, die die Relativität von Form und Inhalt benützend ermöglicht, unerwünschtes Naturrecht als inhaltliches leicht zu widerlegen, erwünschtes Naturrecht aber als Rechtsform zu rechtfertigen.

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Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

Recht hinter dem (erfahrenen) Recht, d. h. Naturrecht. In diesem Sinne bedeutet die Rechtssoziologie innerhalb der Begrenzung auch eine relative Rechtfertigung der Naturrechtslehre. § 9. Begrenzung des Rechtspositivismus

Faßt man den Rechtspositivismus als Gegenteil der Naturrechtslehre auf, so bedeutet die Begrenzung und relative Rechtfertigung der letzteren zugleich, in ihrer Inversion, die Begrenzung und relative Rechtfertigung des ersteren. Durch die Generalisierungstendenz und die darin vorausgesetzte minimale Unwandelbarkeit des Rechts, durch die Voraussetzung der Ungleichheit von Geschichte, Natur und Recht begrenzt die Rechtssoziologie, durch die Voraussetzungen der Geschichtlichkeit, RaumzeitIichkeit und Wandelbarkeit des Rechts rechtfertigt sie den Rechtspositivismus. Faßt man hingegen den Positivismus als eine Spielart der Naturrechtslehre auf, - wie ja der philosophische Empirismus als eine Spielart des philosophischen Idealismus aufgefaßt werden kann, die die Erkennbarkeit des Dinges an sich hinter der Erscheinung ebenso ohne Erfahrungsgrundlage leugnet wie der Idealismus dieselbe behauptet, die Erkenntbarkeit des Dinges an sich in der Erscheinung aber ebenso vor aller Erfahrung behauptet wie der Idealismus das Gegenteil, - dann bedeutet Begrenzung und relative Rechtfertigung der Naturrechtslehre selbst, und nicht erst ihre Inversion, zugleich Begrenzung und relative Rechtfertigung des Rechtspositivismus. Rechtspositivismus als negativer Dogmatismus ist genau so nur die rechtstheoretische Funktion des philosophischen Empirismus, wie die Naturrechtslehre als positiver Dogmatismus die genaue Funktion des philosophischen Idealismus ist.

Dogmatismus bedeutet dann nichts anderes als die unbewiesene, vorurteilsweise aufgestellte Behauptung das eine Mal der Möglichkeit, das andere Mal aber der Unmöglichkeit der Rechtserkenntnis ohne Erfahrung. Es gibt keinen logisch zwingenden Beweis dafür, daß das Recht wie es in der Erfahrung, vielleicht im Gegensatz zum überempirischen Recht, nur erscheint, nicht Recht, sondern das wahre Recht nur das Recht vor der Erfahrung ist. Und es gibt schlechterdings keinen Erfahrungsbeweis des Satzes, daß Recht nur in der Erfahrung gegeben sein könne. Die absolute Leugnung des Rechtes vor, bzw. in der Erfahrung ist aus diesem Grunde immer notwendig dogmatisch. Begrenzung der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus seitens der Rechtssoziologie bedeutet also in letzter Linie die Begrenzung des Dogmatismus, d. h. aber die Verwandlung der dogmatischen in eine kritische Naturrechtslehre und die entsprechende Umgestaltung des dogmatischen in einen kritischen Rechtspositivismus. Durch diese Umgestal-

Wissenschaftstheoretische Folgen der unmittelbaren Voraussetzungen 29 tung wird die Rechtssoziologie selbst zu einer von unbewiesenen Vorurteilen gereinigten, zur reinen Rechtssoziologie. Diese Reinheit bedeutet die Freiheit von dogmatischen, weil beweisbar unbeweisbaren Voraussetzungen. Eine ihre eigenen Voraussetzungen nicht folgerichtig zu Ende denkende, sondern dieselben als dogmatische Behauptungen aufstellende Rechtssoziologie würde damit selbst zur Naturrechtslehre oder zum dogmatischen Rechtspositivismus. In § 2 wurde gezeigt, daß eine ahistorische Rechtssoziologie zum Naturrecht wird. Es wurde auch in §§ 1-4 dargetan, wie die Rechtssoziologie Gesellschaftlichkeit, Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit nur bedingt, hypothetisch voraussetzen darf. Sie darf nicht unbewiesenerweise voraussetzen, daß Recht etwas nur Gesellschaftliches ist, sie darf aber feststellen, daß ihr Erkennen nur insoweit möglich ist, wenn das Recht als etwas mindestens auch Gesellschaftliches vorausgesetzt werden kann. Sie muß und darf die Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit des Rechts als die konstitutiven Bedingungen ihres Erkenntnisgegenstandes, aber auch die Ungleichheit von Geschichte, Natur und Recht als Bedingungen ihrer spezifischen Erkenntnisart, sie darf daher keineswegs die Nur-Geschichtlichkeit, -Raumzeitlichkeit, -Wandelbarkeit des Rechts dogmatisch, sondern nur seine AuchGeschichtlichkeit, -Raumzeitlichkeit, -Wandelbarkeit hypothetisch behaupten. Das folgerichtige Durchdenken ihrer eigenen Voraussetzungen macht dieselben zu Hypothesen, sie selbst aber zu kritischer Rechtssoziologie. Eine ihre eigenen Voraussetzungen nicht folgerichtig zu Ende denkende Rechtssoziologie, aber nur sie, kann und muß zur dogmatischen Rechtssoziologie werden, deren Beispiele die Naturrechtssoziologie, die naiv historische und naturwissenschaftliche Rechtssoziologie sind. § 10. Begrenzung des Rechtslogismus

Die nunmehr ins Auge zu fassenden Richtungen sind nur Abschattungen der Naturrechtslehre, bzw. des Rechtspositivismus. So vor allem der Rechtslogismus. Seine Begrenzung erfolgt durch die Voraussetzung der Geschichtlichkeit, seine relative Rechtfertigung durch die generalisierende Tendenz der Rechtssoziologie, die zur negativen Voraussetzung der Ungleichheit von Recht und Geschichte führt. Rechtslogismus ist der in der Naturrechtslehre, aber auch in der sogenannten Begriffsjurisprudenz und manchmal in solchen rechtstheoretischen Richtungen wie Juristische Grundlehre und Reine Rechtslehre zutage tretende logische Fehlgriff, daß man durch Begriffe, die von der Erfahrung abgezogen sind, späterer Erfahrung vorgreifen zu können glaubt. Da der logische Fehler dieses Verfahrens am Tage liegt, bedeutet

so

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Logismus nie ein Zuviel, sondern immer einen Mangel an Logik. Er ist logischer Dogmatismus, logisches Naturrecht. Die Rechtssoziologie wird schon durch ihre Voraussetzung der geschichtlichen Einmaligkeit des Rechts darüber belehrt, daß die Irrationalität dieses einmaligen Rechts eine ebensogute Hypothesis ist wie die durch die Ungleichheit von Geschichte und Recht nahegelegte Annahme der Rationalität des Rechts. Durch ihre gegenseitige Begrenzung erhalten beide Voraussetzungen auch ihre relative Rechtfertigung, werden aus logizistisch-irrationalistischen Dogmen zu kritischen Hypothesen. Die relative Rechtfertigung des kritischen Logismus liegt darin, daß Erfahrung überhaupt nur durch Begriffe konstituiert werden kann. § 11. Begrenzung des Rechtsirrationalismus

Begrenzung und relative Rechtfertigung des Rechtslogismus ist die inverse oder direkte Begrenzung und relative Rechtfertigung des Rechtsirrationalismus, je nachdem, ob man den letzteren als Gegenteil oder als Spielart des ersteren auffaßt. Auch der dogmatische Irrationalismus ist nämlich strenggenommen ein logizistisches Vorurteil, eine erfahrungsfreie Verallgemeinerung der Erfahrung. Er besteht in der, insbesondere im Rechtshistorismus und in der Freirechtslehre eine gewisse Rolle spielenden, dogmatischen Verallgemeinerung der Beobachtung, daß die geschichtlich-konkret-einmalige Rechtswirklichkeit wegen dieser ihrer absoluten, unwiederholbaren Individualität überhaupt oder doch für eine generalisierende Erkenntnis schlechthin irrational (für die Erkenntnis unerfaßbar) sei. Daß darin eine logizistische, spätere Erfahrung verachtende, Verallgemeinerung des erfahrenen Einmaligen liegt, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Für einen kritischen Irrationalismus aber, ebenso wie für den kritischen Logismus, bedeuten das Unwiederholbare und das Allgemeine selbst nur letzte methodische Abstraktionstypen, die prinzipiell gegenüber jeder Erfahrung mit gleich gutem Rechte in Anwendung gebracht werden können. Strenggenommen begrenzen sich Logismus und Irrationalismus selbst. Der erste, indem er die erfahrungsfrei logisch zu bewältigende Erfahrung voraussetzt, der zweite, indem er das für Einmaliges ausgesprochene Erfahrene verallgemeinert. Durch ihre Selbstbegrenzung rechtfertigen sie einander relativ gegenseitig. Das Recht, als Einmaliges, kann nur erfahren, seine durchgängige Einmaligkeit aber niemals erfahren, sondern nur aus vergleichender Verallgemeinerung logisch erschlossen werden. Dieser logische Schluß aber ebenso wie der Schluß auf die Allgemeinheit, den typischen Cha-

Wissenschaftstheoretische Folgen der unmittelbaren Voraussetzungen 31 rakter des Rechts, ist erj'ahrungsbedingt. Er ist eine Hypothesis auf Grund bisheriger für zukünftige Erfahrung. Keine Erfahrung des Einmaligen kann seine logische Verallgemeinerung, keine Verallgemeinerung die Möglichkeit der Berichtigung durch abweichende Erfahrung ausschließen. Das Recht als einmalig erfahrenes und als allgemein erkanntes ist die gleichwertige Hypothesis des kritischen Rechtsirrationalismus und des kritischen Rechtslogismus. § 12. Begrenzung der Rechtsdogmatik

Rechtsdogmatik ist die spezifisch juristische Abart des rechtstheoretischen Dogmatismus, des Rechtslogismus. Sie besteht in der Behandlung des positiven, geschichtlichen Rechts als zeitlos-allgemeiner, voraussetzungsloser, unbewiesen behaupteter Gültigkeit. Sie vernachlässigt die Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit eines geschichtlich-raumzeitlich-wandelbaren Rechts, sie vernachlässigt insbesondere die unwiederholbare Einmaligkeit des Rechtsfalls neben der für sie zeitlosen Gültigkeit des allgemeinen Rechtssatzes. Sie ist die absolute Statik eines Querschnittes der Dynamik28 • Sie ist das spezifisch juristische Naturrecht des Juristen innerhalb der Jurisprudenz. Das Zeitlich-Vergängliche für Zeitlos-Unvergängliches, das Allgemein-Begriffliche für das einzig Wesentliche, das Erscheinend-Einmalige daneben für Unwesentliches, vielleicht Störendes, aber auf jeden Fall durch das erstere restlos zu Bewältigendes zu erachten, diese beiden Grundcharakteristiken der Rechtsdogmatik erklären sich in ihrem scheinbaren Widerspruch durch die Einsicht, daß jede Dogmatik einen Zeitpunkt für die Ewigkeit festzuhalten, einen willkürlich herausgegriffenen Zustand der Rechtsentwicklung als feststehend, perennierend anzusehen und alle späteren, insbesondere die partikulären, Momente der Entwicklung zu vernachlässigen geneigt ist. Faßt man ihre Genesis und ihre Intention in eine Formel zusammen, so ist sie die zeitgebundene Zeitlosigkeit selbst. Hat man diese Zeitverbundenheit der Rechtsdogmatik eingesehen, so wird sie dadurch schon begrenzt. Auf Grund der Voraussetzungen der Geschichtlichkeit, Raumzeitlichkeit und Wandelbarkeit muß die Rechtssoziologie fordern, daß die Rechtsdogmatik sich zu einer fortlaufenden Rechtsdogmenkritik umgestalte, daß sie sich durch die Ziehung der Verbindungslinien zwischen den unendlichen Statiken der jeweiligen Querschnitte der Dynamik diese einzelnen Statiken zu einem ideellen Kontinuum der logischen und zeitlichen Bewegung synoptisch zusammenfüge. In dieser Begrenzung liegt auch die relative Rechtfertigung der Rechtsdogmatik, ihre Rechtfertigung als Dogmenkritik, beschlossen. Die 28 Vgl. Kraft, a. a. 0., S. 3 und in Artikel Rechtssoziologie des Handwörterbuchs der Soziologie, hrsg. von Vierkandt, Stuttgart (Enke) 1931, S. 467.

Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

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Ungleichheit von Geschichte, Natur und Recht spricht dafür, daß auch die Rechtssoziologie eine Zeitlosigkeit des Zeitlichen mit in Kauf nehmen muß. Andererseits ist es ein Irrtum zu glauben, daß jede Jurisprudenz notwendig naiv dogmatisch sein muß. Die Freirechtslehre hat gezeigt, daß dies in der juristischen Praxis viel weniger der Fall ist als insbesondere in der Kathederjurisprudenz. Auch gibt es keine zwingenden Gründe dafür, daß die Rechtssoziologie die Jurisprudenz in ihrer naiven Dogmatik belassen, ja bestärken muß wie dies Kraft zu glauben scheint29 • Die Rechtsdogmatik muß und kann also begrenzt werden. Ganz entbehrt kann sie ebensowenig werden wie "Rechtsgeschichte einen anhängigen Prozeß entscheiden" kann30 • Die Statik der Rechtsdogmatik ist etwas ebenso Notgedrungenes, durch ihre eigene Fragestellung ihr Aufgezwungenes wie die Generalisierungstendenz der Rechtssoziologie. Darin liegt ihre relative Rechtfertigung. Durch individualisierendes Verstehen der Geschichte kann die Frage der allgemeinen sozialen Funktionszusammenhänge des Rechts ebensowenig wie ein anhängiger Prozeß entschieden werden. Beide können aber entschieden werden, auch auf Grund der Geschichte, wenn man deren Einmaligkeit nicht bloß individualisierend versteht, sondern sie z. B. im Sinne des Historismus geschichtstheoretisch verallgemeinert und zum alleinigen Maßstab der Beurteilung macht. Dann "soll" sein, was "war", und "ist" nur, was "einmalig" ist. Die Rechtsdogmenkritik wird selbst ebenso soziologisch wie die Rechtssoziologie ihrerseits dogmenkritisch wird. Es ragt dann eine soziologische Struktur in die Rechtsdogmatik und eine rechtsdogmatische Struktur in die Rechtssoziologie hinein. Es muß immer wieder gefragt werden, wie es sich mit der Seinsverbundenheit der Dogmen, sei es des Rechts, sei es der Rechtserkenntnis, verhält und diese dogmenkritische Frage ist rechtssoziologisch. Aber auch die Frage der Generalisierbarkeit und Voraussehbarkeit, der Gesetzmäßigkeit des Einmalig-Erfahrenen, die Frage wie angesichts des Erfahrenen gehandelt, entschieden werden soll, kann nach ihrer soziologisch-dogmenkritischen Begrenzung nur als unabweisbargerechtfertigt aufgefaßt werden. Die kritische Leistung besteht also in der Aufdeckung der soziologischen Zeitverbundenheit der Dogmatik und in der dieser Erkenntnis entsprechenden Gestaltung der Dogmatik zu einer Rechtsdogmenkritik einerseits und in dem Erblicken eines dogmatischen Elements in der Generalisierungstendenz der Rechtssoziologie und in der entsprechenden Gestaltung der Rechtssoziologie zu einer Kritik ihrer eigenen Verallgemeinerungen und dieser letzteren zu Hypothesen andererseits. 29 30

Vortragen, S. 3; Rechtssoziologie, S. 467. Kelsen: Das Problem der Souveränität, S. 91.

Wissenschaftstheoretische Folgen der unmittelbaren Voraussetzungen 33 § 13. Begrenzung des Rechtshistorismus

In §§ 2 und 6 ist bereits gezeigt worden, wie die Rechtssoziologie die Geschichtlichkeit des Rechts, aber auch die Ungleichheit von Geschichte und Recht voraussetzt. Aus diesen unmittelbaren Voraussetzungen der Rechtssoziologie folgt wissenschaftstheoretisch die Begrenzung, aber auch die relative Rechtfertigung des Rechtshistorismus. Dieser ist die Lehre vom geschichtlichen Allwandel, von der Nurgeschichtlichkeit des Rechts. Sie ist eine Spielart des Rechtspositivismus und des Rechtsirrationalismus. Begrenzung und relative Rechtfertigung der Rechtsdogmatik bedeutet die direkte oder inverse Begrenzung und Rechtfertigung des Rechtshistorismus, je nachdem, ob man letzteren als eine Spielart oder als das Gegenteil der ersteren auffaßt. In der Verallgemeinerung des erfahrenen Geschichtlich-Einmaligen zum Erfahrbaren überhaupt stimmt nämlich der Rechtshistorismus mit der Rechtsdogmatik - mit der zeitlosen Betrachtung des Zeitlichen - zusammen. Sie kann daher, ebenso wie der Rechtspositivismus als Spielart der Naturrechtslehre, der Rechtsirrationalismus als Spielart des Rechtslogismus, selbst als eine besondere Spielart der Rechtsdogmatik aufgefaßt werden. Allgemeine Behauptung der Nurgeschichtlichkeit des Rechts transzendiert die individualisierend-verstehende geschichtliche Erkenntnis genau so auf eine dogmatische Weise, wie die allgemeine Behauptung der Irrationalität des Rechtes das irrationale Erlebnis auf logizistische Weise und die allgemeine Behauptung der Nurpositivität des Rechts die Erfahrung auf eine naturrechtZiche Weise transzendiert. Rechtshistorismus schlägt also mit Notwendigkeit in das Gegenteil von Rechtsgeschichte um. Ist die ungeschichtliche Behandlung des geschichtlichen Rechts Rechtsdogmatik, so folgt aus dem Gesagten, daß der Rechtshistorismus durch die Verallgemeinerung des Geschichtlichen zur Rechtsdogmatik wird. Erfolgt so die Begrenzung des Rechtshistorismus durch die Logik seines immanenten Sinnes, durch seine Selbsttranszendenz, so liegt ihre relative Rechtfertigung einerseits in der Umgestaltung der Rechtsdogmatik zur Rechtsdogmenkritik, andererseits in der Notwendigkeit der hypothetischen Verallgemeinerung des Rechtsgeschichtlichen auch in der Rechtssoziologie. Die Rechtssoziologie als Dogmenkritik und hypothetische Verallgemeinerung des Rechtsgeschichtlichen nimmt in dieser Begrenzung die relativ gerechtfertigten Gesichtspunkte der Rechtsdogmatik und des Rechtshistorismus in sich selbst auf und wird so zur kritischen Geschichtslehre des Rechts 31 • 31

In diesem Zusammenhang sei es gestattet, auf meine Abhandlung Die

3 Horvath

34

Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie 4. Kapitel

Die Haupteinwendungen gegen die Rechtssoziologie Der kritische Beweis, daß wesentliche Bedenken gegenüber der Ausführbarkeit einer Rechtssoziologie nicht zu Recht bestehen, gehört offenbar zu den Voraussetzungen der Rechtssoziologie. Nur wenn die Einwendung aus der Zufälligkeit des Rechtsinhalts (§ 14), aus der Gesetzlosigkeit der Geschichte (§ 15), aus der Unmöglichkeit der Abgrenzung ohne Rechtsbegriff (§ 16), aus dem Fehlen eines Erkenntnisgegenstandes (§ 17) entweder als sachlich unzutreffend widerlegt oder als die Möglichkeit einer Rechtssoziologie nur scheinbar ausschließend erwiesen werden können, ist der Weg für die rechtssoziologische Forschung freigelegt. § 14. Der Einwand aus der Zufälligkeit des Rechtsinhalts

Ist die Auffassung richtig, "daß die Rechtssoziologie den Inhalt der Rechtserscheinung betrifft, während die Rechtswissenschaft sich nur mit ihrer Form zu befassen hat"32 und trifft es zu, daß "der Rechtsinhalt ... immer zufällig" ist3S, so ist die Rechtssoziologie als generalisierende Wissenschaft dann unmöglich, wenn das rein Zufällige nicht verallgemeinert werden kann. Allerdings läßt sich auch diese letztere Voraussetzung noch bezweifeln. Das Zufällige ist nicht das Gegenteil vom Allgemeinen, sondern vom Notwendigen. Die Behauptung selbst, der Rechtsinhalt sei immer zufällig, ist eine allgemeine Behauptung über Zufälliges. Eine zufällige Allgemeinheit ist ebenso denkbar wie eine notwendige. Aber auch abgesehen von der Frage, ob es nur eine Wissenschaft des notwendigen oder auch des zufälligen Allgemeinen gibt, kann mit gutem Grunde bezweifelt werden, sowohl, daß die Rechtssoziologie den Rechtsinhalt betrifft als auch, daß dieser zufällig ist. Will man verstehen wie es zur Behauptung kommt, daß die Rechtssoziologie nur den zufälligen Rechtsinhalt betreffen könnte und deshalb Idee der Gerechtigkeit (ZföR 7 [1927/28],508-544) zu verweisen, die zum Ausgangspunkt lebhafter Polemik geworden ist (vgl. Kelsen, Hans: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (philos. Vorträge der Kant-Gesellschaft 31,1928,68-72); Darmstaedter, Friedrich, ARW 22 (1928/29),363; Rohatyn, G.: Das Naturrecht des Stärkeren, ZföR 8 (1928/29), 593-600; Menzel, Adolf: Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophischhistorische Klasse, 210. Bd., 1. Abh., Wien (Hölder) 1929, 62-63; Moor, Julius: Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, Kelsen-Festschrift, Wien (Springer) 1931, 97-102. Vgl. zur Erwiderung meine Ausführungen in: Rechtssoziologie (1934), S. 26-32. 32 Kelsen, Zur Soziologie des Rechts. ASw. 34 (1912), 602. 33 Moor, Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, KelsenFestschrift, Wien (Springer) 1931, 63, 66, 91.

Die Haupteinwendungen gegen die Rechtssoziologie

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unmöglich ist, so muß man sich vergegenwärtigen, aus welchem Grunde die Aufspaltung des Rechts in Rechtsform und Rechtsinhalt vollzogen wird. Ist das unveränderliche Recht als Naturrecht, die notwendige Allgemeinheit aber als Bedingung der theoretischen Rechtserkenntnis erkannt, so muß die letztere - soll Naturrecht vermieden werden - als bloße Formerkenntnis, der Rechtsinhalt aber als wandelbar gedacht werden. Man beruhigt sich damit, daß wandelbar ja nur der Inhalt zu sein braucht. Die allgemeingültige, unbedingte Rechtserkenntnis kann als Formerkenntnis gerettet werden, wenn nur der Inhalt als wandelbarja darüber hinaus als zufällig - preisgegeben wird. Man spaltet also das Recht in Form und Inhalt, um die notwendig-allgemeingültige Rechtserkenntnis zu retten und den Verdacht des Naturrechts mit dem Hinweis auf den wandelbar-zufälligen Inhalt zu entkräften. Vor den Konsequenzen der Einsicht, ein notwendiges Recht sei Naturrecht, sucht man in der Beschränkung des Naturrechts auf einen notwendigen Rechtsinhalt Ausflucht. Die Form als Notwendiges, Allgemeines, Wesentliches, Unveränderliches darf an die Stelle des Naturrechts treten, wenn der Inhalt als Zufälliges erkannt wird. Dann gibt es aber natürlich keine notwendigen Gesetze der Veränderung des Rechts - die nur eine Veränderung des Rechtsinhalts sein kann - und eine Rechtssoziologie, die generalisierende Erkenntnis dieser Veränderung sein möchte, ist unmöglich. Auf die kürzeste Formel gebracht: Es verändert sich nur der Inhalt, weil nur ein notwendiger Rechtsinhalt Naturrecht ist; ist aber der wandelbare Rechtsinhalt zufällig, so kann es keine notwendig-allgemeine Erkenntnis dieses Wandels geben: Rechtssoziologie kann nur den wandelbaren Rechtsinhalt betreffen, ist aber wegen der Zufälligkeit des letzteren unmöglich. Sie betrifft den Rechtsinhalt, weil nur dieser wandelbar, sie aber Erkenntnis des Rechtswandels ist; sie ist unmöglich, weil der Inhalt, - gibt es kein Naturrecht, d. h.: keinen notwendigen Rechtsinhalt, - zufällig ist, sie aber notwendig-allgemeine Erkenntnis sein sollte. Es wurde niemals bewiesen, daß die Rechtsform absolut unveränderlich sein muß, wenn der Rechtsinhalt wandelbar ist. Niemals wurde es bewiesen, daß es keine allgemeinen Formen des Rechtswandels in demselben Sinn geben kann, wie es eine angeblich unwandelbare Form des wandelbaren Inhalts gibt. Niemals wurde die Zufälligkeit des Rechtsinhalts in einem anderen Sinne gezeigt, als daß das Besondere aus dem Allgemeinen nicht abgeleitet werden, dem letzteren gegenüber zufällig, weil nicht denknotwendig ist. Daß der Inhalt zufällig ist, bedeutet nur, daß die "denk"-zufälligen Elemente Inhalt, die allgemein-denknotwendigen Form genannt werden. Aber auch die letzteren machen einen Wandel durch und sind - auch als unwandelbare Formen - Formen des Wandels. Ist Form das Allgemeine, Inhalt aber das Besondere, so setzt die Zufälligkeit und Wandelbarkeit des letzteren nicht die absolute, 3*

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Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

sondern nur die relative, im Verhältnis zu ihm größere Notwendigkeit und kleinere Wandelbarkeit des ersteren voraus34 • Setzt man den Inhalt nicht der Form, sondern dem Vorgang entgegen, so verliert die Behauptung, der Rechtsinhalt allein sei wandelbar und zufällig, jeden Schein von Evidenz. Inhalt ist dann der jeweilige Querschnitt des Vorgangs, ein zeitloser, raumloser, unerzeugbarer, unwandelbarer Sinn, der von dem Längsschnitt des Vorgangs abgehoben werden kann wie der Wortschatz einer vielleicht toten Sprache oder der logische Gedankeninhalt vom psychologischen Gedankengang. Nur wenn man eingesehen hat, daß dieser "Inhalt" als das Allgemeine, Denknotwendige, Unveränderliche an den einzelnen Vorgängen aufgefaßt werden kann, wenn es sich z. B. um eine lebende Sprache, ein lebendes Recht oder eine Ideologie handelt, gewinnt man den erforderlichen Einblick in die Relativität des Form-Inhalt-Verhältnisses35• Inhalt der Sprachvorgänge ist 34 Mannheim, Karl, Historismus, ASw. 52 (1924), 10 hat sehr richtig hervorgehoben, welchen gewaltigen Unterschied es macht, ob beim Denken des Form-Inhalt-Verhältnisses das Bild von Gefäßen oder Schläuchen, in die immer neuer Wein gegossen wird - also sich gleichbleibenden, toten Formen - oder aber das Bild von wachsenden Pflanzen vorschwebt, in welchen nicht nur die aufbauenden Stoffe sich ändern, sondern auch die "Form", die "Gestalt" der Pflanze mitwächst und sich mit dem immer sich erneuernden "Inhalt" verändert. 35 Vgl.: Soml6, Juristische Grundlehre, Leipzig (Meiner) 1917, 5, 6-10, 27,

30,128-129,230,520.

über diese Korrelativität von Form und Inhalt hinaus kann von einer

absoluten Rechtsform kaum gesprochen werden. Husserl hat bewiesen, daß

die logische Form nicht so in den sie tragenden Inhalten liegt wie die "Farbe" im "Roten" oder "Blauen". Reine Form bedeutet absolute Leerheit von anschaulichem Material, die Formalität der allgemeinen Begriffe dagegen ist eine durchaus relative. Nur die absolute Form unterscheidet sich von der Allgemeinheit, wie auch von der Apriorität (Logik und Mathematik sind apriorisch, aber die erste formal, die zweite material). Vgl. Husserl, Edmund,

Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1913, § 13; Scheler, Max, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 1 (1913), 452. Abgesehen von der Frage, ob das Recht nur in der Erfahrung oder

auch "hinter" der Erfahrung anzutreffen ist, kann es von jeder (sinnlichen oder unsinnlichen) Materie leer nicht gedacht werden, weil es doch nicht zu den "wesensnotwendigen Beständen einer vernünftigen Subjektivität" gehört, sondern ein besonderer Sachbestand ist. Es könnte, in der Sprache Husserls gesprochen, nur ein kontingentes und kein eingeborenes Apriori bedeuten. Es ist etwas zu Speziflsches, um prinzipielle Form zu sein. Man sieht, daß in dieser Wendung das Subjekt-Objekt-Verhältnis an die Stelle des Form-Inhalt-Verhältnisses tritt, daß prinzipielle Formalität in diesem Sinne allein den "wesensnotwendigen Beständen einer vernünftigen Subjektivität" zukommt. Wie seltsam es dabei noch immer um den absoluten Unterschied von Form und Inhalt bestellt ist, zeigt der Umstand, daß nach Husserl "der Begriff Hyle ... ein Formbegriff" ist, weil die Materie im allgemeinsten Sinne zu den wesensnotwendigen Beständen einer vernünftigen Subjektivität überhaupt gehört. Das gilt aber nur von der "Materie überhaupt", aber weder von der Rechtsform noch vom Rechtsinhalt. Vgl. Husserl, Formale und transzendentale Logik, Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Halle (Niemeyer) 1929, 26-27. Aus der Anwendung dieser Ergebnisse auf die Rechtserkenntnis folgt, daß die Erkenntnis der Rechtsform weder reine Rechts-

Die Haupteinwendungen gegen die Rechtssoziologie

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zugleich ihre gemeinsame Form wie die Formalitäten, der Formenreichtum eines Verfahrens seine abhebbaren Inhalte bedeuten. Inhalt der Vorgänge ist das relativ Bleibende an ihnen, wie die Form als das relativ Bleibende an den Inhalten aufgefaßt wird. Inhalt aller Rechtsgeschichte, d. h. der gemeinsame abhebbare Inhalt aller Rechtsvorgänge, ist dann nichts anderes als dasjenige, was man als Rechtsform bezeichnet. Sie ist Inhalt aller, während der sogenannte Rechtsinhalt der Inhalt nur einiger Rechtsvorgänge ist. Sie als allgemeinster Inhalt der Rechtsvorgänge ist Form der spezielleren Inhalte und Vorgänge. Sie ist aber zugleich Inhalt, abhebbarer Querschnitt dieser Vorgänge und Teilmoment dieser Inhalte. Rechtsform ist immer Teilmoment des Rechtsinhalts, Rechtsinhalt ein spezifisches hinzutretendes Moment der Rechtsform. Kann angesichts solcher Relativität von Form und Inhalt noch von Notwendigkeit der Form, aber Zufälligkeit des Inhalts, von Beschränkung der Wandelbarkeit und damit der rechtssoziologischen Erkenntnis auf den Inhalt und von der Unmöglichkeit generalisierender Erkenntnis des nur zufällig Allgemeinen gesprochen werden? Der Einwand aus der Zufälligkeit des Rechtsinhalts ist mit den folgenden Erwägungen widerlegt: 1. Es ist nicht bewiesen, daß generalisierende Erkenntnis nur des Notwendigen, nicht aber des Zufälligen möglich ist, 2. Die Rechtsform als Teilmoment des veränderlichen und zufälligen Rechtsinhalts braucht nicht absolut, sondern nur relativ bleibend, notwendig zu sein, 3. Ist Rechtsinhalt veränderlich und Rechtsform Form des Rechtsinhalts, so ist der Wandel des Rechtsinhalts selbst Rechtsform und die Rechtssoziologie betrifft nicht nur Rechtsinhalt, sondern auch Rechtsform. 4. Zufälligkeit des Rechtsinhalts ist ein irreführender Ausdruck für die Besonderheit gegenüber der Allgemeinheit eines Rechtsinhalts, bedeutet aber keineswegs, daß auch der Vorgang, dessen Querschnitt der fragliche Inhalt darstellt, zufällig wäre. Weder ist also die Rechtssoziologie auf den Rechtsinhalt beschränkt, noch dieser zufällig, noch würde die Wahrheit beider Sätze eine Rechtssoziologie als generalisierende Wissenschaft ausschließen. lehre, noch apriorisch gegenüber der Erkenntnis des Rechtsinhalts genannt werden darf. Reine, d. h. prinzipielle Form des Rechts kann es nicht geben, weil es nicht zu den Wesensbeständen vernünftiger Subjektivität überhaupt gehört: eine prinzipiell reine Rechtserkenntnis ist mithin unmöglich. Apriorisch könnte eine überempirische Rechtserkenntnis, nicht aber die Erkenntnis der Form des empirischen Rechtes sein, der nur die Würde der allgemeinen, aber weder die der prinzipiellen Form, noch die des kontingenten Apriori zukommt. Reine Rechtslehre kann jedoch die kritische Rechtslehre in dem Sinne genannt werden, daß sie die logischen Konsequenzen der prinzipiellen Form, d. h. der Wesensbestände der vernünftigen Subjektivität überhaupt auch in der Rechtserkenntnis zur Geltung bringt, also insofern, als diese Konsequenzen in die Rechtserkenntnis selbst hineinragen, aber nicht wegen Beschränkung auf die empirische Rechtsform.

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Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie § 15. Der Einwand aus der Gesetzlosigkeit der Geschichte

Vom Standpunkte einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit aus ist das Einmalige zufällig. Zufälligkeit des Rechtsinhalts und Einmaligkeit des Rechtsgeschichtlichen scheinen also dasselbe zu besagen: die Unmöglichkeit rechtssoziologischer Gesetzmäßigkeiten. Aus der Ungleichheit von Recht und Rechtsgeschichte folgt jedoch, daß, obwohl eine generalisierende Erkenntnis das Einmalige des Rechtsgeschichtlichen nicht unverkürzt erfassen kann, eine solche Erkenntnis des Rechts nicht unmöglich ist. Das Einmalige ist allerdings nicht nur zufällig, schließt nicht nur Notwendigkeit, sondern auch Allgemeinheit aus. Die absolute Einmaligkeit des Rechtsgeschichtlichen würde also nicht nur die notwendige, sondern auch die zufällige Allgemeinheit, jede Art von Gesetzmäßigkeit ausschließen. Es wurde jedoch bereits gezeigt, daß die Behauptung der absoluten Einmaligkeit des Einmaligen selbst eine allgemeine Behauptung, die Aufstellung einer Gesetzmäßigkeit, das Ergebnis einer generalisierend erklärenden, nicht einer individualisierend verstehenden Erkenntnis ist. Bestände diese Behauptung zu Recht, so würde die Feststellung des einmaligen Zusammenhanges, des Ortes des Einmaligen im Zusammenhang, die denkbar allgemeinste Erkenntnis, die erschöpfende Gesetzmäßigkeit bedeuten. Diese Selbsttranszendenz der Behauptung von der absoluten Einmaligkeit besagt, daß der Einwand aus der Gesetzlosigkeit der Geschichte für die Rechtssoziologie ungefährlich ist. Besteht sie zu Recht, so ist sie bereits ein Satz der Rechtssoziologie. Die Rede von der Gesetzlosigkeit der Geschichte ist irreführend. Sie besagt nur, daß erkannte Gesetze der Geschichte diese selbst - ihre Einmaligkeit - gewissermaßen zerstören, weil Geschichte eben nur das Einmalige genannt wird. Es handelt sich mehr um terminologische und methodologische, um Betrachtungsprobleme als um Sachprobleme. Dasselbe Ereignis ist Geschichte in seiner Einmaligkeit verstanden und Soziologisches in seiner Allgemeinheit erklärt38 • 38 Die Frage, ob überhaupt hinsichtlich geschichtlicher Vorgänge etwas Allgemeines festgestellt werden kann, darf nicht mit der mit Recht beanstandeten Tendenz unzulässiger Verallgemeinerung verwechselt werden. Die prinzipielle Frage ist nicht, ob es eine absolute Allgemeinheit, sondern ob überhaupt eine, wenn auch nur die mindeste, Allgemeinheit von der Geschichte ausgesagt werden darf. Diese Frage bezeichneten wir als terminologisch-methodologisch, während der zulässige Grad der Verallgemeinerung ein empirisches Sachproblem ist. Die Verwechslung beider Probleme hat methodische Verwirrung in der ethnologischen Rechtsforschung, im Kampfe der evolutionistischen Richtung mit der Kulturkreislehre verursacht. Bereits Tarde leugnete den "Elementargedanken" einer uniformen Rechtsentwicklung,

Die Haupteinwendungen gegen die Rechtssoziologie

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Aus dieser doppelten - individualisierend verstehenden und generalisierend erklärenden - Betrachtung des Rechtssoziologischen folgt, daß die Rechtssoziologie in ihrer Erklärung neben Herausarbeitung von Gesetzmäßigkeiten auch dem Einmaligen Raum übrig lassen darf. Etwas, was letzten Endes doch einmalig-zufällig ist, braucht deswegen nicht jeder Gesetzmäßigkeit bar sein. Und die Erkenntnis dieser unvollkommenen, dieser teilweisen Gesetzmäßigkeit ist nicht weniger wertvoll als die einer absoluten Gesetzlichkeit. Es ist durchaus denkbar, daß gesetzmäßige Zusammenhänge bestehen, innerhalb deren es erkennbare und strenge Gesetze gibt, deren letzte Komplikation untereinander jedoch zufällig-einmalig ist. Eine solche Struktur dürfte wohl auch das Ineinander des Gefüges von Geschichtlichem und Soziologischem aufweisen. § 16. Der Einwand aus der Unmöglichkeit der soziologischen Abgrenzung des Rechtsbegriffs

"Ein soziologischer Begriff des Rechtes" - sagt Kelsen 37 - "ist ebenso möglich wie der mathematische Begriff eines biologischen Vorganges oder der sittliche Begriff des freien Falles". Andererseits bildet die Frage der die generatio aequivoca unabhängiger Rechtseinrichtungen. (Les transformations du droit. :F;tude sociologique7 • Paris [Alcan] 1912). Den entgegengesetzten Gedanken einer absoluten - mindestens menschheitlich einförmigen Allgemeinheit in der Rechtsgeschichte enthält die Behauptung Fehrs: "Die

Gleichartigkeit des Rechts bei der schroffen Ungleichheit der Rasse kann nur aus einem gemeinsamen menschlichen Untergrunde erklärt werden" (Hammurapi und das salische Recht. Eine Rechtsvergleichung. Bonn [Marcus] 1913, 136) und die Feststellung seines Rezensenten, G. Davy: "Chaque l{~gislation contient donc outre la part nationale qui ressortit a l'etude historique, une part humaine qui ne saurait etre comprise qu'en depassant le point de vue de l'historien ... " (L'Annee Sociologique, t. XII, 1913, 344). Dieser Gegensatz betrifft offenbar ausschließlich den Grad, nicht die prinzipielle Möglichkeit der Verallgemeinerung der Rechtsgeschichte. Dasselbe kann auch von der Auffassung Trimborns behauptet werden, nach welcher über naturgesetzliche Einwirkungen (Anthropologie) und psychologisch-formale Beziehungsmöglichkeiten (Völkerpsychologie) hinaus "nur eine klare Scheidung der Geister möglich" ist, "welche die Ergebnisse der letzten Jahrzehnte praktisch längst zugunsten der Kulturkreislehre entschieden haben". (Die Methode der ethnologischen Rechtsforschung, Zvgl. RW.43 [1928] 459-460). Ein "Kulturkreis" ist genau so die Verallgemeinerung - wenn auch eine bescheidenere Verallgemeinerung - des geschichtlich Einmaligen, wie der "gemeinsame menschliche Untergrund". übrigens kann und darf die Einmaligkeit der Rechtsgeschichte viel radikaler als die Zufälligkeit des Rechtsinhalts die Grundlagen rechtssoziologischer Erkenntnis berühren. Sie kann zur Einmaligkeit der jeweiligen Rechtsform gesteigert werden. Aber selbst dann, wenn "mit der Änderung der Rechtsordnungen auch diese sogenannten allgemein gültigen Rechtsbegriffe genau so gut wandelbar sein können, wie irgendein Rechtsbefehl, eine Rechtsnorm" (Krückmann, in ARW 14 [1920/21], 83-84), ist eine relative Allgemeinheit des Rechtsgeschichtlichen nicht prinzipiell bezweifelt. Auch dann wäre dies m. E. nicht der Fall, wenn man die Unvergleichbarkeit z. B. anglo-amerikanischer und kontinentaler Rechtsauffassung behaupten würde. All dies betrifft allein den Grad der Verallgemeinerung. 87 Eine Grundlegung der Rechtssoziologie. ASw. 39 (1915), 876.

Die Voraussetzungen der Rechtssoziologie

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Abgrenzbarkeit des Rechts von anderen Regeln sozialen Verhaltens "den Eck- und Grundstein einer soziologischen Rechtslehre"38, "weil es aber der normative Rechtsbegriff ist, der ihre Probleme abgrenzt, so müssen ihre Grenzen vom Standpunkte ... der Soziologie - willkürlich erscheinen"39. Die Rechtsnorm sei einer auf das Sein gerichteten Soziologie überhaupt nicht gegeben und darum sei Rechtssoziologie ein vom Standpunkte soziologischer Erkenntnis durchaus willkürlicher Ausschnitt aus einer allgemeinen Wissenschaft. Eine Soziologie des Rechts werde zu einer Soziologie der Gesellschaft überhaupt, "weil sich soziologisch der Begriff des Rechtes nicht abgrenzen läßt"40. Diese Beweisführung setzt voraus, daß die Soziologie nur kausal-wissenschaftlich-explikativ verfahren, der Rechtsbegriff aber nur mit der normativen Methode erfaßt werden könne. Gibt es aber eine "normative Tendenz der Soziologie", kann "die Objektivität der sozialen Gebilde als die objektive Geltung gewisser Normen" aufgefaßt, "der Gruppenwille ... ein Normsystem, eine Ordnung, das Gruppenmitglied ... eine Teilordnung" genannt werdenu, so kann die soziologische Unabgrenzbarkeit des Rechts nicht mehr mit der Verschiedenheit des Erkenntnisgegenstandes und der -methode begründet werden. Abgesehen von dieser methodischen Verschiedenheit kann aber der Einwand nur die in allen empirischen Wissenschaften enthaltene eigentümliche Sachlage besagen, daß sie auf die letzte Erkenntnis je eines Begriffs gerichtet sind, den sie jedoch bei Abgrenzung ihres Arbeitsgebietes bereits voraussetzen müssen. Der Begriff, der am Ende des Erkenntnisweges steht, sollte dessen Anfang bestimmen. Diese Sachlage bedeutet aber keine unüberwindbare Schwierigkeit für die betreffende Wissenschaft. Versteht man unter Wissenschaft den zeitlichen, genetischen Entwicklungsgang der Erkenntnis, so steht am Anfang der Begriff als Arbeitshypothese, der im Laufe des Erkennens genauer bestimmt, in feste Form gegossen, aber auch umgestaltet, durch einen anderen abgelöst werden kann. Ist aber Wissenschaft die fertige, zeitlose Gestalt der Erkenntnis, dann wird natürlich die Rechtssoziologie durch denselben fertigen Rechtsbegriff abgegrenzt, der das Ergebnis der rechtssoziol0gischen Erkenntnis ist, weil hier genetischer Anfang und zeitliches Ende überhaupt nicht in Betracht kommen, logisch aber das Ergebnis der Rechtssoziologie ihrer Abgrenzung ebenso vorgreift wie ihre Abgrenzung dem Endergebnis. 38 39

40

Kelsen, a. a. 0., S. 842. A. a. 0., S. 875. A. a. 0., S. 875-876; vgl. Zur Soziologie des Rechts. ASw. 34 (1912), 609.

4t Kelsen, Der soziologische und der ;uristische Staats begriff, Tübingen

(Mohr) 1922, 54, 73.

Die Haupteinwendungen gegen die Rechtssoziologie

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§ 17. Der Einwand aus dem Fehlen eines Erkenntnisgegenstandes

Der erwähnte Einwand Kelsens kann auch so verstanden werden, daß der Rechtssoziologie ein Gegenstand überhaupt fehlt, weil Recht zur Sphäre der normativen Idealität, Gesellschaft hingegen in das Gebiet der kausalen Realität gehört. Nicht nur, daß der Rechtsbegriff soziologisch nicht abgegrenzt werden kann, es fehlt der Rechtssoziologie geradezu an einem Erkenntnisgegenstand. Erzeugt der Erkenntnisweg - die Methode - den Erkenntnisgegenstand und ist die Methode der Rechtssoziologie die kausalwissenschaftlich-explikative Methode, das Recht aber eine normative Idealität, dann kann allerdings dasjenige, was überhaupt Gegenstand der Rechtssoziologie werden könnte, nicht Recht sein, das Recht aber niemals zum Gegenstand der Rechtssoziologie werden. Unter solchen Voraussetzungen macht das Fehlen eines Erkenntnisgegenstandes die Rechtssoziologie unmöglich. Mit diesem Einwand ist aber weder bewiesen, daß die Rechtssoziologie eine kausalwissenschaftlich-explikative Wissenschaft ist, noch daß das Recht zur Sphäre der normativen Idealität gehört. Beide Behauptungen stehen in schroffem Gegensatz zu der Voraussetzung der Geschichtlichkeit des Rechts. Sowohl die Auffassung, die Gesellschaft sei kausalwissenschaftlich erklärbare Natur, als auch die Meinung, das Recht sei normative Idealität, hat sich mit der großen und unleugbaren Tatsache der Geschichtlichkeit von Gesellschaft und Recht auseinanderzusetzen, da weder die Natur noch die Norm den Begriff der Geschichte erschöpfen. Dieser Einwand ist jedoch der wichtigste und fruchtbarste für die Begründung der Rechtssoziologie. Versteht man nämlich unter Gegenstand das Erzeugnis der Methode, dann ist es unleugbar, daß zu zwei verschiedenen, einander ausschließenden Methoden ein und derselbe Gegenstand nicht gehören kann. Sind kausale und normative Methode zwei verschiedene Methoden, so gehören zu ihnen zwei verschiedene Gegenstände. Ist das Recht nur in der kombinierenden Anwendung beider Methoden voll erfaßbar, so würde sich ergeben, daß das Recht in diesem streng erkenntnistheoretischen Sinne nicht einen Gegenstand, sondern zwei verschiedene Gegenstände, nämlich entweder kausale Realität oder normative Idealität bedeutet. In diesem Sinne könnte sich der Einwand bewahrheiten - daß nämlich die Rechtssoziologie nicht einen, sondern zwei Gegenstände aufeinander beziehend betrachtet - ohne die Möglichkeit der Rechtssoziologie von vornherein auszuschließen. Ohne Gegenstand ist Wissenschaft unmöglich. Aber daß eine Wissenschaft sich mit zwei Erkenntnisgegenständen nicht zugleich in beziehender Betrachtung befassen könnte, wurde bisher nicht bewiesen. Allerdings ist eine solche Wissenschaft dem schweren Verdacht des methodischen Synkretismus ausgesetzt. Da aber der hier besprochene Einwand in übereinstimmung mit

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Gegenstand und Methode der Rechtssoziologie

den dargelegten Voraussetzungen der Rechtssoziologie nur auf diesem einzigen Weg entkräftet werden kann, muß versucht werden, die Rechtssoziologie als zwei Erkenntnisgegenstände - kausale Realität und normative Idealität - aufeinander beziehende Wissenschaft unter Vermeidung des methodischen Synkretismus, d. h. in Methodenreinheit zu begründen. Daß dieser Versuch notwendig ist, ist dadurch bewiesen, daß weder die kausale noch die normative Methode der Geschichtlichkeit des Rechts gerecht werden kann, Natur und Norm aber verschiedene, einander logisch ausschließende Erkenntnisgegenstände sind, die zu einem einzigen Gegenstand nicht zusammengeschweißt werden können, ihre methodensynkretistische Vermengung aber zu den größten Verwirrungen führen muß. Der einzige Ausweg scheint daher die in Methodenreinheit durchgeführte Aufeinanderbeziehung beider Methoden, die beziehende Betrachtung beider Gegenstände zu sein. Der Beweis, daß eine solche Wissenschaft unmöglich ist, ist bisher nicht erbracht worden. Daß die stetige Aufeinanderbeziehung zweier Methoden notwendig zum Synkretismus führte, ist nicht ohne weiteres offenbar. Allerdings ist die Begründung einer solchen Wissenschaft ein schwieriges methodologisches Problem, dessen Lösung vielleicht mit radikalen Konsequenzen für jede Rechtserkenntnis verbunden ist. Dieses Problem soll im folgenden Abschnitt in Angriff genommen werden.

2. Abschnitt

Gegenstand und Methode der Reddssoziologie Durch die Besprechung der Voraussetzungen der Rechtssoziologie

(1. Abschnitt) wurde das methodologische Problem aufgerollt. Es fragt

sich, ob die Rechtssoziologie nach diesen Voraussetzungen überhaupt einen Gegenstand haben kann (1. Kapitel) und wie die Frage ihrer Methode zu beantworten ist (2. Kapitel). 1. Kapitel

Der Gegenstand der Rechtssoziologie Ist es schon auf Grund des Bisherigen offenkundig, daß der Gegenstand der Rechtssoziologie weder Natur noch Norm (§ 18) sein kann - obwohl nur entweder das Eine oder das Andere sein könnte -, so muß die Frage der Ausschließlichkeit und Bezogenheit von Sein und Sollen (§ 19) auf-

Der Gegenstand der Rechtssoziologie

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geworfen werden. Hat man das Recht als Beziehung von Natur und Norm erkannt (§ 20), dann läßt sich auch die Frage beantworten, ob das Recht als gegenständlich gespaltenes Gebilde wissenschaftlich beherrschbar

sei. (§ 21).

§ 18. Natur und Norm

Aus §§ 3 und 7 folgt unmittelbar, daß das Recht, wegen seiner Geschichtlichkeit, weder gleich Natur noch gleich Norm sein kann - weil sowohl Natur als auch Norm ungeschichtlich sind - aber als Gegenstand trotzdem nur entweder Natur oder Norm sein könnte - weil mit diesen beiden Gebieten der Bereich des Gegenständlichen erschöpft ist-. Da nun die Begriffe Gegenstand, Natur und Norm das tragende Gerüst aller weiteren methodologischen Erörterungen ausmachen, soll vor allem genau bestimmt werden, in welchem Sinn sie hier angenommen werden. Diese genaue Bestimmung ist um so angebrachter, als einerseits die "Autarkie" der Norm gegenüber der Natur, andererseits das Wesen des "Gegenständlichen" immer wieder bezweifelt werden bzw. in Vergessenheit geraten. Gegenstand ist nicht alles, was "gedacht" wird bzw. werden kann. Kriterium der Gegenständlichkeit im kategoriallogischen Sinne ist vielmehr das Ineinander von logischer Form und alogischem Material42 . Indem die Kategorien "sich nun als ein ,Material' zur Gegenständlichkeit erhöhende ,Formen' erweisen, so ist in der kategorialen Form das logische Urphänomen, in der Gespaltenheit in Kategorie und Kategorienmaterial, in dieser Artikulation der Gegenstände, die logische Urstruktur zu erblicken"43. Gegen diese strenge Auffassung der Gegenständlichkeit könnten zwei Bedenken erhoben werden. Einerseits läßt sich bei dieser Auffassung das Logische selbst als Form nicht als Gegenstand denken und andererseits kann dasjenige Alogische, das nicht in eine logische Form gebracht werden kann, nicht Gegenstand sein. Der Grund der Beschränkung der Gegenständlichkeit auf die konstitutive Funktion des Logischen liegt darin, daß in dieser Leistung, das Alogische zu ergreifen, der eigentliche Reingewinn des logischen Unternehmens, die spezifische Leistung des Logischen besteht. Es hat einen ebensoguten Sinn, das in logischer Form stehende Logische von den Gegenständen im strengen Sinne zu unterscheiden - und dadurch sein Eigenartigstes hervorzuheben - als darauf zu bestehen, daß dasjenige kein Gegenstand sein kann, was keine logische Form duldet. 42 Vgl. meine Abhandlung: Die Grundlagen der "Universalistischen Metaphysik" in der Rechtsphilosophie Julius Binders. ZföR 6 (1926), 110. n Lask, Emil: Die Lehre vom Urteil, 1912, S. 2-3.

Gegenstand und Methode der Rechtssoziologie

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Hat man in diesem Sinne einmal eingesehen, daß "identische Qualität" das Modell des Gegenstandes ist, daß selbst die Identität, als Gegenstand gedacht, nur "heterologisch faßbar" ist, daß also Gegenstände sich "nur heterologisch denken lassen"44, dann kann das Problem keine Schwierigkeit mehr bereiten, daß, in einem allerdings uneigentlichen Sinne, auch das Logische gleichsam vergegenständlicht werden kann. Dieses einzigartige Phänomen kann man unter die Gegenstände dann einreihen, wenn man es so auffaßt, daß das Logische bereits dadurch alogisiert wird, daß es als Inhalt auftritt45. Denn ein "theoretischer Gegenstand ist notwendig erlebter oder geschauter Inhalt in einer Form des Denkens"48. Das Logische in der funktionalen Lage der Form ist demnach etwas anderes (Denken), als in der des Inhalts (Erleben, Schau). Will man aber den Widersinn vermeiden, der darin liegt, daß das Logische durch seine logische Form alogisiert und dann doch das in logischer Form stehende Logische genannt wird, so tut man am besten, hier überhaupt nicht von Gegenständen, sondern von einer anderen Sphäre der Logik, von formalen oder reflexiven Begriffen zu sprechen. Das zweite Bedenken ist noch unwesentlicher. Ist der Gegenstand ein "Stehen" in Geltungsbeziehungen47 , so kann doch die "Unwahrheit an sich" kein Gegenstand sein. 3 + 2 = 6 wäre ein Gegenstand, "der nicht Gegenstand sein könnte, weil er in Geltungsbeziehungen stehen müßte, die keine Geltungsbeziehungen wären, und Sachverhalte umfassen müßte, die keine Sachverhalte wären. Die 3 könnte nicht 3, die 2 nicht 2, das + nicht +, das = nicht =, die 6 nicht 6 sein, wenn 3 + 2 = 6 sein sollte, weil 3, 2, 6, usw. selber nicht Gegenstände sein könnten, in denen Sachverhalte zum Stehen des Gegenstandes gekommen sein könnten"48. Es ist demnach die logische Form - und nur die logische Form - die das alogische Material - und nur ein alogisches Material - zur Gegenständlichkeit erheben kann. Geht man nun vom Gegenstand überhaupt zum Gegenstand im fachwissenschaftlichen Sinne über, so kann man an die Stelle der "logischen Form" die "Methode" setzen. Daß die Methode den Gegenstand erzeugt, bedeutet, daß für die Wissenschaft nur dasjenige Gegenständlichkeit hat, was in den logischen Formen ihrer Methode stehen kann. In diesem Sinne ist die Natur Gegenstand der Naturwissenschaft. Versteht man unter der logischen Form der Natur die 44 Rickert, Heinrich: Allgemeine Grundlegung der Philosophie. (System der Philosophie, I. Teil), Tübingen (Mohr) 1921, S. 55, 59.

4S "Nennt man logisch nur die Form, dann stellt sich schon das Etwas als ein Zusammen der logischen Form des einen mit Alogischem dar." Rickert, a. a. 0., S. 55. 48 Rickert, a. a. 0., S. 53. 47 Bauch, Bruno: Wahrheit, Wert und Wirklichkeit, Leipzig (Meiner) 1923,

S.90. 48

Bauch, a. a. 0., S. 91.

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nach der Methode der Naturwissenschaft erkannten Naturgesetze, dann erschöpft sich die Natur als Gegenstand - in der Ausdrucksweise Kants - in den "Bestimmungen eines Dinges nach einem innern Prinzip der Kausalität" oder im "Inbegriff der Erscheinungen, sofern diese, vermöge eines innern Prinzips der Kausalität, durchgängig zusammenhängen"49. Wenn man neben der Natur keinen anderen wirklichen Gegenstand anerkennt, so ist der einzige Sinn dieser Stellungnahme, daß es neben der naturwissenschaftlichen keine andere wissenschaftliche Methode der Beherrschung der Wirklichkeit gibt. Die Behauptung aber, es gebe außer der Natur noch etwas, das in demselben Sinn Wirklichkeit sei, nur mit der Methode der Naturwissenschaft nicht beherrschbar sei, ist unhaltbar, da die Gegenständlichkeit der Natur im wissenschaftlichen Sinne ausschließlich darin besteht, daß sie mit der naturwissenschaftlichen Methode beherrschbar ist. Ist die Natur Wirklichkeit und diese mit der naturwissenschaftlichen Methode beherrschbar, so kann es keine Wirklichkeit außer der Natur in wissenschaftlichem Sinne geben. Gelänge es nämlich einmal, diese angeblich außernatürliche Wirklichkeit mit der Methode der Naturwissenschaft zu beherrschen, so wiirde dies nur beweisen, daß die außernatürliche Wirklichkeit selbst schon Natur war. Gelänge es hingegen, sie mit einer anderen Methode zu beherrschen, so wiirde dies bedeuten, daß sie niemals Wirklichkeit in dem Sinne war, in welchem die Natur Wirklichkeit ist. Aus diesem Grunde ist die Rede von der außernatürlichen Wirklichkeit un- oder vorwissenschaftlich. Da die wissenschaftliche Form der Wirklichkeit die naturwissenschaftliche Gesetzlichkeit ist, gibt es außer der Natur keine Wirklichkeit in wissenschaftlichem Sinne. Wirklichkeit in wissenschaftlichem Sinne ist Natur, weil es kein anderes wissenschaftliches Kriterium der realen Gegenständlichkeit gibt, als die naturwissenschaftliche Methode. Es geht nicht an, auf Grund dieses Kriteriums den Begriff der Wirklichkeit zu bilden und dann noch von einer Wirklichkeit zu reden, die diesem Kriterium nicht entspricht. Mag die Wirklichkeit in vorwissenschaftlichem Sinne sein, was sie will, in wissenschaftlichem Sinne ist sie naturwissenschaftliche Gegenständlichkeit50• Gibt es aber neben der naturwissenschaftlichen Methode eine davon grundverschiedene normwissenschaftliche Methode, dann gibt es neben der Naturgegenständlichkeit auch eine Normgegenständlichkeit. Gibt es neben dem Alogischen, das naturwissenschaftlich beherrschbar ist, ein Alogisches, das naturwissenschaftlich unbeherrschbar und doch wissenschaftlich beherrschbar ist, dann sind die Voraussetzungen dafür ge-

Kritik der reinen Vernunft, 11. T., 2. Abt., 2. Hauptst., 1. Abschn. Auch die "geschichtliche Wirklichkeit" darf niemals als eine außernatürliche aufgefaßt werden. Sie ist als Wirklichkeit selbst Natur, aber eine individualisierte und hierdurch aus der naturwissenschaftlichen Methode gehobene Natur: Geschichte. 48

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geben, daß man von einer unwirklichen, irrealen Gegenständlichkeit spricht. Ihre Voraussetzungen sind mithin: 1. Radikale Unbeherrschbarkeit durch die Naturwissenschaft, 2. Beherrschbarkeit durch eine wissenschaftliche Methode, 3. Alogisches Material. Nachdem nun die normative Methode in ihrer radikalen Verschiedenheit von der naturwissenschaftlichen insbesondere von Kelsen in der Rechtslehre begründet wurde, ist der "Dualismus von Sein und Sollen", "die Gegenüberstellung von Sein und Gelten oder von Sein und Sinn oder von realen und idealen Gegenständen" prinzipiell in Zweifel gezogen worden 51 • Nach Kaufmann ist ein "isolierter Sollsatz" , ein "aus dem Konditionalzusammenhang mit einem Wollen herausgelöstes" Sollen sinnlos, weil es nicht verifizierbar ist, weil "die das Bestehen absoluter Werte intendierenden Behauptungen (Scheinbehauptungen) nicht reflexionsbeständig sind", weil man nicht wissen kann, was der Fall ist, wenn sie wahr sind. Es scheint hier aber überschätzung der Sicherheit der Natur- und entsprechende Unterschätzung der Sicherheit der Normerkenntnis vorzuliegen. Dies ist gerade bei einem Autor überraschend, der die reine Mathematik mit Einstein für tautologisch hält, die angewandte aber als mit dem "Unsicherheitsmoment aller empirischen Erkenntnis" behaftet auffaßt5!. Ist die Mathematik nur soweit sicher, als von ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit abgesehen wird: wie verhält es sich dann mit der Invarianz der Richtigkeit der Wirklichkeitserkenntnis gegenüber der Variation der Urteilsfakten, worin das Kriterium der Wahrheit bestehen soll? Ist aber bereits mit dem Anerkennen des "Unsicherheitsmoments aller empirischen Erkenntnis" die nur begrenzte Verifizierbarkeit aller Seinserkenntnis zugegeben, dann kann man keinen prinzipiellen Unterschied mehr zwischen Verifizierbarkeit der Seins- und der Werterkenntnis entdecken. Daß eine begrenzte Invarianz ihrer Richtigkeit auch Wertaussagen zukommt, läßt sich ernstlich nicht bezweifeln. Daß ein isolierter 51 Kaufmann, Felix: Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff, KelsenFestschrift, 1931, S. 31; Die philosophischen Grundprobleme der Lehre von der Strafrechtsschuld, Wiener Staats- und Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. XI, 1929, S. 5-28. Die Auffassung, daß das Recht als reine ideelle Norm gedacht werden kann, ist auch von anderen - so von Moor in seiner erwähnten Arbeit und von Sander (Das Recht als Sollen und das Recht als Sein, ARWph. 17 [1923/24] 1-52) - angegriffen worden. Hier interessiert uns jedoch vorerst nur die Frage, ob Normen als ideale Gegenstände überhaupt Bestand haben und aus diesem Grunde beschäftigt uns nicht die Ablehnung der normativen Rechtsauffassung, sondern nur die Ablehnung des Dualismus von Natur und Norm. Es ist offenkundig, daß die zweite zwar die erste bedingt, die erste aber auch bei Anerkennung des Dualismus denkbar ist, weil aus dem Bestehen des Dualismus noch keineswegs die Zuordnung des Rechts zur Normsphäre folgt.

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Kaufmann, Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff, 30.

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Sollsatz nicht verifizierbar ist, ist ebenso selbstverständlich wie daß auch ein isolierter Seinssatz nicht verifiziert werden kann. Auch der letztere kann nur durch andere Seinssätze gerechtfertigt werden, wie ja auch ein Sollsatz niemals anders als durch andere Sollsätze begründet oder entkräftet werden kann. Wird aber unter "isoliertem" ein vom Sein unabhängiger Sollsatz verstanden, so hat die Behauptung der Sinnlosigkeit dieses Sollens denselben Wert, als wenn man die Sinnlosigkeit eines vom Sollen unabhängigen Seinsatzes behaupten würde. Das Sein kann ebensogut als Funktion des Sollens, als umgekehrt das Sollen als Funktion des Seins aufgefaßt werden. Bei der Feststellung des methodologischen Dualismus kommt aber diese Funktionalität nicht in Betracht. Es mag richtig sein, das Sein als Funktion der Geltung des es bejahenden Urteils, der Soll geltung seiner Wahrheit oder selbst der Sollgeltung der ethischen Norm der Wahrheitssuche, das Sollen aber als Funktion einer bestimmten, seinsverbundenen Sicht zu begreifen. Eine einseitige Funktionalität kann jedoch weder zugunsten des Seins noch zugunsten des Sollens festgestellt werden. Der spezifische Sinn des Soll- bzw. Seinsatzes kann aber gerade in dieser seiner Funktionalität niemals erfaßt werden. Der Seinsgrund ist niemals ein Sollsatz und der Sollgrund niemals ein Seinsatz. Der Funktionalität von Sollen und Sein tritt die Funktionalität von Sollen und Sollen einerseits, von Sein und Sein andererseits zur Seite. Die zweite kann durch die erste nicht verdrängt werden. Sie bleibt unabhängig von der ersten bestehen. Wenn Kaufmann glaubt, daß das Kriterium der Wahrheit des Satzes "Du sollst den markierten Weg gehen, wenn du in einer Stunde nach N kommen willst" in dem Satz liegt: "Nur wenn du den gebahnten Weg gehst, wirst du in einer Stunde nach N kommen", wenn er meint, im ersten Satz sei dasselbe und nichts weiter behauptet als im zweiten, so irrt er sich. Es ist der gute alte Methodensynkretismus, der hier begangen wird. Man kann ebensowenig sagen: "ich soll weil ich werde" wie umgekehrt "ich werde weil ich soll". Ich soll nicht den markierten Weg gehen, weil ich nur so in einer Stunde nach N komme, sondern weil ich in einer Stunde nach N kommen soll. Es folgt aus dem Tatsachenzusammenhang, daß nur auf dem markierten Weg N in einer Stunde erreicht werden kann, ebensowenig der Sollsinn wie aus dem Sollzusammenhang, daß er den markierten Weg gehen soll, wer in einer Stunde in N sein will, der Seinsinn sich ergibt. Der spezifische Sinn des den-markierten-Weg-Gehen-Sollens folgt erst aus dem Sinn des in-einerStunde-nach-N-Kommen-Sollens; der spezifische Sinn des KommenWerdens hingegen aus dem Sinn der Tatsachenelemente Entfernung, Geschwindigkeit usw. Die "Selbständigkeit" des Seins gegenüber der "Unselbständigkeit" des Sollens ist ein bloßer Schein, der aus der "Massivität" des Realen entsteht und dessen Hypostase zum Ding an sich bedeutet. Es besteht kein

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zureichender Grund für die Verdrängung der methodenreinen Funktionalität des Seins auf Sein, des Sollens auf Sollen, durch die methodenverschiedene Funktionalität zwischen Sein und Sollen. Die Norm ist nicht mehr eine Illusion als die Natur. Ihre methodenreine Funktionalität kann nicht in Frage gestellt werden, wenn es mißlang, ihre prinzipielle Unverifizierbarkeit im Gegensatz zur Verifizierbarkeit der Natur, die besondere Sinnlosigkeit des isolierten Sollsatzes im Gegensatz zum isolierten Seinsatz und die einseitige Funktionalität der Norm auf die Natur zu beweisen. Da es neben der logischen unleugbar auch anderweitige, alogische Geltung und Normativität gibt, die mit der naturwissenschaftlichen Methode unmöglich beherrscht werden kann, die aber mit der normlogischen Methode beherrschbar ist, sind die Voraussetzungen (1-3) beisammen dafür, daß irreale Gegenstände angenommen werden. Das Problem ist nicht mehr ihre methodenreine, sondern ihre methodenverschiedene Funktionalität. Ist die Norm immer Funktion einer anderen Norm, wie kann sie daneben auch Funktion der Natur sein? Gibt es außer der Ausschließlichkeit noch eine Bezogenheit von Sein und Sollen? Diesem Problem wollen wir uns nunmehr zuwenden. § 19. Ausschließlichkeit und Bezogenheit von Sein und Sollen

"Niemals kann ein Sollen auf ein Sein zurückgeführt, aus einem Sein abgeleitet werden! Das gehört zum methodologischen ABC jeder Erkenntnis." Dieser Satz Kelsens 53 besagt die Ausschließlichkeit von Sein und Sollen. Steht einmal fest, daß weder die Norm mit der naturwissenschaftlichen, noch die Natur mit der normwissenschaftlichen Methode beherrschbar ist, so besteht die Ausschließlichkeit von Sein und Sollen auch dann zu Recht, wenn ihre gegenseitige Funktionalität in dem Sinne aufweisbar ist, daß ein bestimmtes Sollen an einem und nur an diesem Punkte des Seinszusammenhanges oder umgekehrt, daß ein bestimmtes Sein nur an einem Punkte des Sollenszusammenhanges gegenständlich wird. Gerade wenn man eine Funktionalität von Sein und Sollen in diesem Sinne verstehen will, ist daran festzuhalten, daß mit dieser Funktionalisierung des Sollens als eines "Unselbständig-Realen" - der ja eine entsprechende Funktionalisierung des Seins als eines "Unselbständig-Geltenden" entgegenhalten werden könnte - noch nichts über seine methodologische Beherrschbarkeit ausgemacht ist. Das eine mag der wesenslose Reflex des anderen sein, mag eine bloße IZZusion bedeuten, es ist nur mit einer grundverschiedenen Methode beherrschbar. 53 Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft. Sch. 40 (1916), 1220.

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Im Interesse der Trennung der methodenverschiedenen von der methodenreinen Funktionalität ist die Ausschließlichkeit von Sein und Sollen in allen ihren Konsequenzen so scharf wie möglich festzuhalten. Eine Synthese von Wert und Wirklichkeit ist dann logisch unmöglich54• Eine wertvolle Wirklichkeit ist dann strenggenommen ebenso wie ein wirklicher Wert eine contradictio in adjecto 55.Der sogenannte subjektive Wert ist dann kein Wert, sondern eine Wirklichkeit55 • Objektiv wird aber nicht die Wirklichkeit, sondern ein Inhalt gewertet, der das eine Mal in der Erkenntnisform des Seins, das andere Mal in der des Sollens auftreten kann57• Die Polarität ist nur für die subjektive Wertung, als Wollen, bezeichnend, während das objektive Werturteil ein Akt der Erkenntnis, nicht des Wollens oder Fühlens ist. Auch das Urteil, das einen Tatbestand für wertindifferent konstatiert, ist formal ein Werturteil 58 • Jedenfalls stehen Seins- und Sollensbetrachtung in einem strikten Gegensatz zueinander, das Sollen kann niemals an die Wirklichkeit herangebracht, niemals kann beides miteinander verbunden werden und das Substrat des Sollens ist niemals ein Sein50• Erst jetzt, als man eingesehen hat, daß man einen Glauben "dadurch nicht zu einem Wissen machen" kann, daß man Begriffe zu bilden sucht, die einander widersprechende Elemente enthalten, wie den eines "wirkenden Wertes", als man sich davon überzeugt hat, daß es schlechthin unmöglich ist, "einen Begriff von dem zu bilden, was sowohl als Wert gilt, als auch real wirkt", daß man "an der Grenze alles Wissens" angelangt ist, wenn man einsehen will, wie das Werten sich als Glied in den Zusammenhang der Realität so einordnet, daß es diese zum Gut macht und daß das Reich, in welchem a11 dies möglich wäre, "überlogisch" sein müßte80 - erst jetzt ersieht man die ganze Hoffnungslosigkeit der Situation, in die man gerät, wenn man Gebilde, wie das Recht, die weder Natur noch Norm sein können - weil sie sich von beiden durch ihre Geschichtlichkeit spezifisch unterscheiden - dennoch vergegenständlichen will. Diese "unzulässige Vergegenständlichung"81 ist zu vermeiden. "Jeder Versuch, Geltendes und Wirkliches in einem Dritten untergehen zu lassen, kommt darauf hinaus, daß aus mehreren, in ihrer Trennung klaren Begriffen ein verworrener Begriff entsteht62." Die außerordentliche Schwierigkeit besteht darin, daß es Gebilde gibt, die als Gegenstand - nämlich entweder als Natur oder als Norm - nicht 54 55 58 57 58 59

60

81 82

Kelsen, a. a. 0., S. 1190. Kelsen, a. a. 0., S. 1210. Kelsen, a. a. 0., S. 1200. Kelsen, a. a. 0., S. 1201. Kelsen, a. a. 0., S. 1201, 1203. Kelsen, a. a. 0., S. 1209-1210. Ricke'/"t, a. a. 0., S. 308-309. Ricke'/"t, a. a. 0., S. 274. Ricke'/"t, a. a. 0., S. 250.

4 Horvath

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in ihrem Wesen, in ihrem Wesen aber - als Beziehung von Natur und Norm - nicht als Gegenstand erfaßt werden können. Sind sie als Gegenstand erfaßt, so entschlüpft ihr Wesen: sie werden dadurch entweder zur Natur oder zur . Norm, obwohl sie ihrem Wesen nach weder das eine noch das andere sein können. Sind sie hingegen in ihrem Wesen erfaßt, so geht ihre Gegenständlichkeit und damit ihre logische Einheit, ihre Gesetzmäßigkeit verloren: es konkurrieren zwei grundverschiedene Gesetzmäßigkeiten und Gegenständlichkeiten um sie: die der Natur und die der Norm. Eine gewisse Bezogenheit von Sein und Sollen wird auch bei der radikalsten Trennung anerkannt. Selbst Kelsen gibt zu, daß der Inhalt von Sein und Sollen der gleiche sein kann, und damit ist bereits ein Beziehungspunkt angegeben. Ricken spricht von einem "Zwischenreich des immanenten Sinnes" und meint, das Verbindende sei der subjektive Aktsinn, welcher nicht Gegenstand, nicht Reales, nicht Geltendes und doch an Realität und Geltung Teilnehmendes ist83 . Auch innerhalb der Rechtslehre ist es versucht worden, dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, daß das Recht weder als Natur noch als Norm, sondern nur als KulturM oder als "Verknüpfung von Idee und Wirklichkeit" als "eine merkwürdige Verquickung zwischen der Welt des Seinsollenden und des Seienden"65 in seinem Wesen verstanden werden kann. über die Frage jedoch, ob es überhaupt angeht und mit welchen Schwierigkeiten es verbunden ist, "sich bei der Bestimmung des Rechtsbegriffes an zwei verschiedenen Ebenen anzulehnen"88, hat man sich hinweggesetzt. Das zugrunde liegende Problem sei ein metaphysisches, dessen Lösung die Rechtslehre nicht angeht87• Dieses Verfahren läuft jedenfalls Gefahr, auf einem Fundament zu bauen, dessen Tragfähigkeit nicht erprobt worden ist. Demgegenüber war ich bestrebt, die weittragenden Konsequenzen herauszuarbeiten, die sich aus der Beziehung des Rechts auf zwei Gegenstandsgebiete ergeben88. Es kann doch nicht ohne weiteres darauf losgegangen werden, aus Stücken realer und idealer Gegenstände einen dritten Gegenstand zusammenzukneten! Es kann keinen Gegenstand geben, "der sowohl ist, als auch gilt", und darum läßt sich ein Gegenstand "der zugleich Wert und Wirklichkeit wäre ... ohne Widerspruch nicht 83 A. a. 0., S. 254-277.

Binder, Julius: Philosophie des Rechtes, Berlin (Stilke) 1925, LIII und 1063; dazu meine Besprechung: Die Grundlagen der "Universalistischen Metaphysik" in der Rechtsphilosophie Julius Binders. ZföR 6 (1926), 107-127. 65 Moor, Julius: Macht, Recht, Moral, 1922, S.5-6; dazu meine Abhandlung: Die ungarische Rechtsphilosophie, ARWph. 24 (1930/31), 74-75. 86 Moor, a. a. 0., S. 5. 87 Moor, a. a. 0., S. 6. 88 Die Grundlagen der "Universalistischen Metaphysik" in der Rechtsphilosophie Julius Binders. ZföR 6 (1926). 84

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denken". Daher ist "am Rechte ... gegenständlich immer nur ein Teil, nämlich entweder seine Wirklichkeit oder sein Gelten erfaßbar". Aber weder die Erkenntnis der einen noch die des anderen führt zur vollen Erkenntnis des Rechtes, wenn dieses die Relation eines wirklichen und eines geltenden Gegenstandes ist. Es "kann weder eine isolierende Wirklichkeitserkenntnis, noch eine isolierende Werterkenntnis zur Erkenntnis des Rechtes führen". Es entsteht die eigentümliche Aufgabe der steten Bezugnahme der methodenreinen Erkenntnis auf die methodenverschiedene. "Die methodenreine Erkenntnis wird sofort irrelevant, sobald die spezifische Relation ihres Gegenstandes zum anderen Glied nicht mehr aufzeigbar ist." "Die Kulturwissenschaften erhalten auf diese Weise einen synoptischen Charakter89." § 20. Das Recht als Beziehung von Natur und Norm

Aus dem bisherigen folgt, daß das Recht als Gegenstand der Rechtssoziologie nur eine Beziehung von Natur und Norm sein könnte, solche Beziehung aber kein Gegenstand ist, weil die logische Einheit und einheitliche Gesetzmäßigkeit ihres Materials fehlt. Als Gegenstand ist sie Zweiheit - zwei Gegenstände - und keine Einheit. Als ein Gegenstand kann sie ebensowenig bestehen wie 3 + 2 = 6. Sie kann nicht in Geltungsbeziehungen zum Stehen kommen. Man kann das Recht ebensowenig wie nach Rickert "das Weltall zum verkörperten Widerspruch machen.... Von den beiden Sätzen: die Welt ist ihrem Wesen nach zeitlich, und: die Welt ist ihrem Wesen nach zeitlos, muß einer unwahr sein, falls das Wesen der Welt nur Eines sein soll"70. Auch das Recht vermag nicht als Eines zeitlich und zeitlos, Natur und Norm zugleich als ein einziger Gegenstand zu sein. Zeitlich könnte nicht zeitlich, zeitlos nicht zeitlos, Natur nicht Natur und Norm nicht Norm sein, wenn ein Gegenstand gedacht werden sollte, der zeitlich und zeitlos, Natur und Norm zugleich wäre. Man hat die Beziehung von Natur und Norm so verstehen wollen, daß beide denselben "Inhalt" haben können. Dies ist auch die Auffassung Kelsens, obwohl er weiß, daß im strengen Sinne nicht die Wirklichkeit gewertet wird, weil eine werthafte Wirklichkeit strenggenommen ein Widerspruch ist. Dieser "Inhalt" nun, der angeblich bald in der Erkenntnisform des Seins, bald in der des Sollens auftreten kann und so beide doch verbindet, ist den gleichen methodologischen Bedenken ausgesetzt wie der ,,'tQt"tOS av'ltQO>1tOS" der antiken Philosophie, der als denknotwendig erachtet wird, wenn die Idee und die Erscheinung des Menschen aneinander herangebracht werden sollen. Das Sein als logische Form kann 69 A. a. 0., S. 113-115; vgI. Hegel und das Recht, ZföR 12 (1932), 55, 56, 64,67. 70 A. a. 0., S. 237.

4"

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jedoch ausschließlich Form für Seiendes, das Sollen Form für Sollendes sein: wie kann dann aber derselbe Inhalt in beiden Formen auftreten, wie kann Seiendes derselbe Inhalt sein wie Sollendes? Auch der "immanente Sinn" Rickerts, der gleichfalls die Beziehung von Realem und Geltendem sein soll, ist als Sinn Geltendes, der Akt aber, in welchem er immanent ist, Reales. Selbst in einem reflexiven Gegenstandssurrogat also, das man das "dritte Recht" nennen könnte, ist das Recht nur entweder als Natur oder als Norm denkbar. Es ist dann aber besser, jede gewaltsame Vereinheitlichung von vornherein zu vermeiden und die Beziehung einfach als die Funktion "ein Sein zu einem Sollen" zu denken. Hat man die Trennung so weit getrieben, dann kann auch die funktionale Verbindung prinzipiell schrankenlos sein. Zu einem jeden Sein läßt sich ein Sollen und umgekehrt zuordnen. Das Sein, das in Geltungsbeziehungen zum "Stehen" kommt, ist ein Sein zu diesem Sollen. Das Sollen, das ein bestimmtes Sein erst "durchblicken", "sichtbar werden", "realisieren" läßt, ist ein Sollen zu diesem Sein. Gewisse physikalische Ton-, Gestalt-, Linien-, Farbenerscheinungen werden Werten funktional zugeordnet, und diese Beziehung Kunstwerk genannt. Gewisse biologischpsychologische Erscheinungen, die dann wegen dieser Beziehung ethisch zurechenbares Handeln genannt werden, ordnet man bestimmten Normen zu und bezeichnet die Beziehung als Moral. Oder man ordnet der Regelmäßigkeit gesellschaftlichen Verhaltens, - einer Mannigfaltigkeit biologisch-psychologischer Erscheinungen - die durch Ausbildung eines verwickelten Verfahrensapparats erhöhte soziale Bedürfnisbefriedigung ermöglicht, eine Norm zu und nennt es Recht. Es ist also keine "inhaltliche" übereinstimmung, sondern eine ureigene Beziehung, wenn gewisse Normen an bestimmten Wirklichkeiten gleichsam "entzündet", d. h. Televant werden. Es ist dieselbe ureigene Beziehung, wenn bestimmte Teile der Natur von bestimmten Normen betToffenwerden. Wie aber auch diese Beziehung zuwege gebracht wird, die methodologischen Schwierigkeiten ihrer wissenschaftlichen Behandlung sind jetzt nicht mehr verkennbar. Erblickt man im Recht die Beziehung zweier Gegenstandsgebiete, so ergibt sich hieraus, daß es als Gegenstand immer nur entwedeT als, wenn auch normbezogene, Natur odeT als, wenn auch naturbezogene, Norm gedacht werden kann. Gerade durch dieses gegenständliche Denken des Rechts gelangt man jedoch nicht zu seiner vollen Bedeutung, zu seinem Wesen. Dazu muß man die Beziehung selbst ins Auge fassen. Entweder hat man also die Eigengesetzlichkeit des Gegenstandes - der Natur oder der Norm - aber nicht das Recht. Oder man hat das Recht, aber keine gegenständliche Eigengesetzlichkeit.

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Man bedenke nur, wohin man gelangt, wenn man das Recht als einen, aus Natur- und Normelementen aufgebauten Gegenstand denken will. Man muß es dann doch entweder als Norm oder als Natur denken. Man will doch Eigengesetzlichkeit haben. Folgt man der Eigengesetzlichkeit der Norm, so gelangt man zur naiven Dogmatik und verliert alsbald die Beziehung zur Wirklichkeit aus den Augen. Folgt man der Eigengesetzlichkeit der Natur, so verliert man alsbald die Beziehung zur Norm aus den Augen und gelangt an einen Punkt, wo nicht nur kein "anhängiger Prozeß" entschieden, sondern selbst die geschichtliche Veränderung des Rechts nicht mehr verstanden werden kann. Jeder Jurist weiß, daß es für den Rechtsfall nicht allein entscheidend ist, wie er auf Grund der Rechtsnorm in abstrakter normlogischer Konsequenz beurteilt werden soll, sondern wie er vom zuständigen Organ beurteilt wird. Und für die genaue "Zuständigkeit" dieses Organs ist wiederum nicht allein die normlogische Konsequenz der delegierenden Norm, nicht die Frage allein entscheidend, wie weit diese Zuständigkeit auf Grund der delegierenden Norm reichen soll, sondern wie weit sie von einem anderen zuständigen Organ erstreckt wird. Für die Zuständigkeit dieses zweiten Organs gilt dasselbe und so weiter. Jedes Soll erscheint als die Funktion eines Seins, aber auch jedes Sein als die Funktion eines Sollens. Die Rechtsgeschichte ist eine Fundgrube der Fälle, in denen das "zarte Gewebe" rechtslogischer Konsequenz von der "brutalen" Seinsgesetzlichkeit der Tatsachen, aber auch umgekehrt, der scheinbar selbstherrliche, eiserne, massive Schritt der Tatsachen von der "zarten" Gesetzlichkeit der Normen durchbrochen, das Sollen seinsfunktional, das Sein sollfunktional abgebogen wird. Es ist seinsfunkti()nal abgebogene Normlogik, wenn "stillschweigende Verträge" angenommen werden, um die Tierhalterhaftung71 auszuschließen, oder die des agent7! zu begründen, wenn der bayerische Richter "in jedem Eisenbahnbetrieb schlechthin eine Fahrlässigkeit sah, um dem durch Funkenflug aus der Lokomotive abgebrannten Bauer den aquilischen Schadenersatz beschaffen zu können"73, wenn "die milde Aufklärungszeit" die "grausamsten Strafdrohungen der Carolina ... viel früher außer Kraft setzte, als diese Beseitigung in der richtigen staatsrechtlichen Form erfolgte'