Probleme der Ästhetik

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G E O R G LUKACS W E R K E

GEORG LUKACS WERKE

BAND 10

GEORG LUKACS

Probleme der Asthetik

LUCHTERHAND

©

1 9 69 by Hermann Luchterhand Verlag GmbH, Neuwied und Berlin, alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Beiträge

zur

Geschichte der Ästhetik

Vorwort

II

Zur 1\sthetik Schillers I Die ästhetische Erziehung II Schiller und die 1\sthetik Kants III Die Probleme der objektiven Dialektik und die Schranke d es Idealismus

17 17 47 77

Hegels 1\sthetik

1 07

Einführung in die 1\sthetik Tschernyschewskijs

1 47

Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels

20 5

Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer A ufbau und Inhalt der Vischer-Exzerpte von Marx 1 II Vischers politische Entwicklung III Die Entwicklung der Vischerschen 1\sthetik (von Hegel zu Dilthey) IV Mythos und Realismus bei Vischer und Marx Vischer und die Gegenwart v

233 233 250

Nietzsche als Vorläufer der faschistischen 1\sthetik Franz Mehring ( 1 846- 1 9 1 9) 1 Die Persönlichkeit Mehrings 11 Die Jugendentwicklung III Die Wurzeln von Mehrings Lassalleanismus IV Die philosophischen Grundlagen v Die Prinzipien der Ksthetik VI Die Methodologie von Literaturgeschichte und Kritik

34 1 3 44 357 3 68 3 78 389 3 98

In halt

6 VII vrn

Der Fall Freiligrath Das Problem der proletarischen Literatur

Literatur und Kunst als Oberbau

433

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker Die Sickingendebatte zwischen Marx-Engels und Lassalle 1 Der Standpunkt Lassalles II Marx und Engels gegen die idealistische Ksthetik Lassalles III Die Selbstentlarvung Lassalles in seiner Replik

46 1 46 3 474 493

Friedrich Engels als Literaturtheoretiker und Literaturkritiker

5 05

Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik 1 II III IV

v VI

Die Frage der Besonderheit bei Kant und S chelling Hegels Lösungsversuch Das B esondere im Lichte des dialektischen Materialismus Das ästhetische Problem des Besonderen in der Aufklärung und bei Goethe Das Besondere als zentrale Kategorie der Ksthetik Zur Konkretisierung der Besonderheit als Kategorie der Ksthetik 1 . Das allgemeinste Merkmal der künstlerischen Form 2. Manier und S til 3. Technik und Form 4. Die ästhetische Subjektivität und die Kategorie der Besonderheit 5 . Künstlerische Originalität und Widerspiegelung der Wirklichkeit 6. Parteilichkeit 7. Wesen und Erscheinung 8 . Dauerwirkung und Veralten 9. Werkindividualität und Besonderheit IO. Das Typische : Probleme des Inhalts

5 39 5 65 5 97 639 669 687 687 690 69 1 696 705 709 718 726 738 755

1 1 . Das Typische : Probleme der Form 1 2. Die Kunst als Selbstbewußtsein der Menschheitsentwicklung

764 773

�achwort

787

Quellennachweis Personen- und Titelregister

791 793

Beitrcige zur Geschichte der Ä·sthetik

Vorwort

Die hier gesammelten Studien zerfallen in bezug auf ihre Entstehungszeit in zwei Gruppen : die erste entstand in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, die zweite nach der Befreiung. Die erste Gruppe stammt noch aus der Zeit, da man beweisen mußte, daß die formell zerstreuten, gelegentlichen Bemerkungen von Marx und Engels über Literatur und Kunst ein streng zusammenhängendes, konkretisierbares und zu konkretisierendes System bilden. Mit dieser Bestrebung hängen meine aus dieser Zeit stammenden Versuche zusammen, den dialektischen Zusammen­ hang der fortschrittlichen und reaktionären Tendenzen der deutschen idea­ listischen Asthetik aufzuzeigen (Schiller) ; das Zurückprallen und Reaktionär­ werden der ästhetischen Entwicklung im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 klarzumachen (Vischer) ; die ideologische Krise, die Verdunkelung der Lehren des Marxismus im Zeitalter der n. Internationale im Zusammen­ hang mit der Tätigkeit eines Revolutionärs und bedeutenden Schriftstellers vom Range Mehrings aufzuweisen ; und endlich : den Vorläufer der dunkelsten Reaktion, des Faschismus, Nietzsche, auch auf dem Gebiete der Asthetik zu entlarven. (Hier sei es erlaubt, den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß die Schiller-Studien ergänzt werden durch die in meinem Buch »Goethe und seine Zeit« erschienenen Artikel über den »Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe« und » Schillers Theorie der modernen Literatur«, Werke Bd. 7 .) Zur Zeit der Niederschrift der in die zweite Gruppe gehörenden Studien waren diese Kämpfe längst zu Ende. Die Aufgabe war nun, die ungarischen Leser mit den Resultaten der großen theoretischen Entwicklung, die in der Lenin-Stalinschen Periode des Marxismus in der Sowjetunion erreicht wor­ den waren, bekannt zu machen. Meine Studie über die ästhetischen Ansichten von Marx und Engels ist kurz nach der Befreiung als Vorwort zu der S amm1 ung der diesbezüglichen Bemerkungen erschienen. Die Analysen über die Asthetik von Hegel und Tschernyschewskij sind als Einleitungen zu den von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten Ausgaben ihrer Werke entstanden. Und die Studie über Stalin in der Diskussion über die Ar­ beiten Stalins über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft. Ich glaube, es ist überflüssig, näher darauf einzugehen, welch wichtigen Ein­ fluß die Entstehungszeiten und die Verschiedenheit der Umstände auf den Umfang, die Schreibweise usw. der Studien hatten.

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Wenn id1 nun also dieses Buch als eine Sammlu ng von Gelegenheitsschriften bezeichnen muß, so bedeutet dies noch lange nicht, daß diese Studien keinen geschichtlichen und systematischen Zusammenhang aufweisen, und gerade dies rechtfertigt ihr Erscheinen in einem Band. Der Grundgedanke: die Rolle und Bedeutung des Marxismus-Leninismus in der Entfaltung des ästhetischen D enkens im 19. Jahrhundert, ist vom Gesichtspunkt der systematischen und geschichtlichen Entwicklung der Ästhetik von en tscheidender B edeutung. Wer diese Frage richtig erkennen will, der muß vor allem sehen, daß die marxi­ stische Ästhetik nicht einfach die weitere Entfaltung der vergangenen Ent­ wicklung ist, nicht nur eine treffende Kritik der Einseitigkeit, Starrheit des mechanischen Materialismus, nicht ein einfaches überwinden der idealistischen Ästhetik, sondern etwas qualitativ Neues, ein Sprung, das Ankurbeln einer neuen höheren Entwicklung, das - erstmalige Aufhauen der Ästhetik auf wirklich wissenschaftlichen Grundlagen. Wenn wir aber diesen Sprung, dies wesentlich Neue in seiner wirklichen Bedeutung, in seinen vollkommenen, umfassenden und tiefen Konsequenzen begreifen wollen, dann müssen wir die vorangegangene Entwicklung, ihre Problematik sehen ; wir müssen sehen, wie die hervorragendsten Vertreter sowohl des alten Materialismus wie des Idealismus mit für sie unlösbaren Fragen ringen, auch dann, wenn ihre geschichtliche Lage, die Entwicklung der Künste, ihre denkerische Fähigkeit und Ehrlichkeit sie bis an die Schwelle der richtigen Fragestellung heranführen. Diese Schwelle können sie infolge ihrer Klassenschranken nicht überschreiten. Nur der von Marx und Engels begrün­ dete dialektische und historische Materialismus ist in der Lage, die Fragen richtig und konkret zu stellen und sie wirklich wissenschaftlich zu beant­ worten. Hier muß ich die Leser darauf aufmerksam machen, daß meine älte­ ren Studien über dieses Thema in dem Band »Marx und Engels als Literatur­ historiker« (Aufbau-Verlag) zu finden sind, das vorliegende Buch enthält hierüber nur einen zusammenfassenden Aufsatz. Natürlich erschöpfen sie alle zusammen nicht den reichen Gehalt der marxistischen Ästhetik; ich versuchte, nur einige, freilich nicht unwichtige Fragen ins reine zu bringen. Nur wenn es mir einmal - was ich hoffe - möglich sein wird, die Fragen der Ästhetik in ihrem systematischen Zusammenhang zu behandeln, werde ich in der Lage sein, diesen Problemkomplex womöglich allseitig zu beleuchten. Schon des­ halb muß der Titel des Bandes : »Beiträge zur Geschichte der Ästhetik « sein, ein Titel, der schon im voraus andeutet, daß ich hier dem Publikum keine, wenn auch noch so skizzenhafte, Geschichte der Ästhetik vorlege. Dieser Band hat indessen auch vom geschichtlichen Standpunkt einen frag-

Vorwort

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mentarischen Charakter. Denn wollte ich die oben angedeuteten Gesichts­ punkte wirklich ausführen, wirklich zur Geltung bringen, so müßte ich die ganze Entwicklungsgeschichte der ästhetischen Gedanken behandeln, zumin­ dest von den Griechen bis heute. In der wirklich marxistischen Erforschung dieser reichen und vielseitigen Entwicklung stehen wir aber heute nur am An­ fang, und ein zusammenfassendes Bild zu geben wird nur dann möglich sein, wenn wir zumindest die wichtigsten Knotenpunkte dieser Entwicklung im Lichte des Marxismus-Leninismus beleuchtet haben werden. Meine eigenen Forschungen reichen vom Ende des 1 8 . Jahrhunderts bis zu unseren Tagen und schon deshalb kann dieses Buch bloß den Charakter einer Zusammen­ stellung von Beiträgen haben. Freilich ist die dem Marxismus vorangegangene Periode der ästhetischen Den­ ker, mit denen sich diese Stu dien beschäftigen, von nicht geringer Bedeutung. Hat doch die Periode von Kant bis Hegel die moderne idealistische Dialektik ausgearbeitet, die Marx und Engels als die im bürgerlichen Rahmen erreichte höchste Stufe der Dialektik kritisiert haben. Wenn also der Leser hier mit den ästhetischen Gedanken, den Resultaten und der Problematik von Schiller und Hegel bekannt wird (wobei die Behandlung Schillers fortwährend auch rückwärts, auf Kant zurück weist und die Analyse von Schiller und Hegel des öfteren auch auf die romantische Ksthetik - Schelling - zu sprechen kommt), so bekommt er, trotz der fragmentarischen Behandlung, ein ge­ wisses Bild der Ksthetik der dem Marxismus vorangegangenen idealistischen Dialektiker. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet die Analyse der Tscherny­ schewskijschen Ksthetik eine wesentliche Ergänzung. (Den Leser, der sich auch für diese Frage interessiert, mache ich auf meine Studien über Tscherny­ schewskij, den Kritiker und Romanschriftsteller, aufmerksam, die in meinem Buch »Der russische Realismus in der Weltliteratur« erschienen sind.) Die ideologische Vorbereitung der Revolution von 1 8 4 8 brachte die Auflösung des Hegelianismus mit sich, eine Wendung in der Richtung zum Materialis­ mus. Die Wendung hat Feuerbach vollzogen, der größte Vertreter der neuen Richtung war aber - auch auf dem Gebiete der Ksthetik - Tschernyschew­ skij. Hier erreicht die theoretische Ausarbeitung der Ksthetik die höchste Stufe, die ohne dialektischen und historischen Materialismus zu erreichen möglich ist. Es entsteht nicht nur die scharfe, vernichtende Kritik des Hegelschen und damit jedes Idealismus, sondern auch das tiefgehende Aufwerfen und um­ fassende Beantworten der grundlegenden Fragen der Ksthetik, innerhalb der bereits bezeichneten Schranken. Das Vertrautwerden mit den Grundprinzi­ pien der Hegelschen und Tschernyschewskijschen Ksthetik ermöglicht es also

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Beiträge zur Geschichte der Äs thetik

dem Leser, den qualitativen Sprung konkret zu übersehen, den die Begrün­ dung des dialektischen und historischen Materialismus auch in der Geschichte der Ästhetik bedeutet. Die Auflösung des Hegelianismus hat jedoch nicht nur eine linke, vorwärts­ weisende Richtung, die in Tschernyschewskij ihren Höhepunkt erreicht, sondern auch eine liberale, ja ausgesprochen reaktionäre. Die Vorbereitung der Achtundvierziger Revolution und die durch ihren Ausgang hervorgeru­ fene ideologische Krise bringt eine tiefgreifende Wendung in der Entwicklung der Ästhetik hervor. Der objektive Idealismus wird immer mehr in den Hin­ tergrund gedrängt und verschwindet bald vollkommen ; Hegel wird durch Kant als den wegweisenden Klassiker der bourgeoisen Ästhetik abgelöst. Eine der Studien beschäftigt sich mit Vischer als dem wichtigsten Vertreter der sub­ jektiv-idealistischen, liberalen Ästhetik. Unter dem Gesichtspunkt der Ent­ wicklung ist Vischer besonders interessant : Vischer hat seine Laufbahn als freilich nicht konsequenter - Hegelianer begonnen, und unsere Studie skiz­ ziert gerade den Weg, den er, hauptsächlich unter der Wirkung der Revo­ lution von 1 8 4 8 , von Hegel zurück zu Kant beschrieb, wobei er zugleich jene Richtung des Neukantianismus vorbereiten half, die in der imperialistischen Epoche den subjektiven Idealismus in die Richtung des Irrationalismus lei­ tete (Dilthey usw. ). Vischers Gestalt ist auch deshalb histo risch i nteressant, weil sowohl Tschernyschewskij wie auch Marx sich mit seiner Ästhetik be­ schäftigt haben ; die Analyse beider Kritiken kann der Leser in dieser Samm­ lung von Studien finden. Vischer ist nur auf dem Wege zum Irrationalismus. Die extreme Rechte der Auflösung des Hegelianismus (Kierkegaard) entwickelt in derselben Zeit be­ reits die Ästhetik des Irrationalismus. Unter unseren Studien behandelt nur die über Nietzsche diese Richtung. In Nietzsches Philosophie und so auch in seiner Ästhetik erreichte diese irrationelle Tendenz ihren Gipfelpunkt : Nietzsche faßte als Philosoph und so als Ästhetiker in der dem Imperialismus vorangehenden Zeit die grundlegenden Probleme der Periode vorwegneh­ mend zusammen, hatte als Vorbereiter, als Vorläufer der sogenannten »welt­ anschaulichen« Entfaltung des Faschismus entscheidende Bedeutung. Wenn also diese Studien auch nicht die ganze Vorgeschichte der irrationalistischen Ästhetik des imperialistischen Zeitalters geben, wenn sie auch nicht die impe­ rialistische Entwicklung selbst und die Erfüllung, das Aufgipfeln aller reak­ tionären Strömungen dieser Entwicklung im Hitlerismus behandeln, so gibt doch die Analyse der Ästhetik Nietzsches ein Bild der entscheidenden Fragen dieser ganzen extrem reaktionären Ästhetik.

Vorwort

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Endlich wäre das Bild über die Entwicklung der Ästhetik selbst annäherungs­ weise nicht befriedigend, wenn wir nicht auf das Schicksal der marxistischen Ästhetik in der Periode des Imperialismus, der Weltkriege, der Weltrevolu­ tion eingingen. Unser Buch ist auch in dieser Hinsicht nur ein Beitrag : es be­ handelt die Entwicklung nicht in ihrer Totalität und Kontinuität, es greift wieder nur zwei Momente von großer Wichtigkeit heraus, die indessen, unse­ rer Meinung nach, geeignet sind, ein gewisses Licht auf die grundlegenden Kämpfe der Hauptrichtungen zu werfen. Eines dieser Momente ist die Ver­ flachung, die Verzerrung des Marxismus infolge des Opportunismus, des Reformismus, des Revisionismus. Diese Periode behandelt die Studie über Mehring. Freilich war Mehring selbst ein wirklicher Revolutionär, ja sogar ein bedeutender Marxist. Doch reichte seine Klarsicht und Kraft nicht dazu aus, mit dem Revisionismus konsequent abzurechnen. Seine Größe und seine Feh­ ler und Schranken zeigen deshalb klar die positiven und negativen Seiten die­ ser Entwicklungsphase des Marxismus. (Zur Vollständigkeit des Bildes gehörte freilich auch die Analyse der Ästhetiken von Plechanow und Lafargue.) Nur Lenin und Stalin und die durch sie begründete und geführte bolschewi­ stische Partei waren und sind imstande, auf allen Gebieten des Marxismus mit den sogenannten Theorien des Revisionismus aufzuräumen und in dem ideologischen Kampf gegen den Opportunismus den Marxismus nicht nur wiederherzustellen, sondern ihn auch den veränderten Zeiten, der Periode des Imperialismus, der Revolutionen entsprechend weiterzuentwickeln. Erst in dieser Periode konnte die marxistische Ästhetik zur Geltung kommen; be­ gann doch, wie wir bereits sagten, die Sammlung der ästhetischen Schriften von Marx und Engels erst in dieser Zeit, und erst hier tauchten die Fragen des systematischen Zusammenhangs der marxistischen Ästhetik konkret auf und konnten beantwortet werden. Diese Periode von so entscheidender Be­ deutung behandelt ebenfalls nur eine Studie unseres Buches : der Text meines in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrags bei Gelegenheit der Diskussion über die Stalinsche sprachwissenschaftliche Arbeit. Freilich analysiert dieses Werk Stalins die entscheidenden Fragen der Ästhe­ tik auf so grundlegende Weise, daß man aus ihm die mächtige Entwicklung ablesen kann, die die Lenin-Stalinsche Periode in der Geschichte der Ästhetik darstellt. Dies füllt natürlich die Lücke nicht aus, die der Mangel einer Studie über Lenins einschlägige Schriften und Stalins weitere diesbezügliche Arbeiten bedeutet. Dies unterstreicht nur wieder den Beitragscharakter des Buches. So fragmentarisch auch die Geschichte der Ästhetik in diesem Buch behan­ delt wird, so weit das Buch auch davon entfernt ist, der Vollkommenheit

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

selbst nu r nahezukommen, so hofft der Verfasser doch, daß es ihm gelungen ist, einige Knotenpunkte der Entwicklung von entscheidender Bedeutung her­ auszugreifen und diese zusammen mit der Au fzeigung ihrer Vorgeschichte und ihrer Konsequenzen so darzustellen, daß der Leser - zumindest bis die zusammenhängende Behandlung der 2\sthetik des 1 9 . Jahrhunderts zustande kommt - eine Orientierung über die Entwicklung der ästhetischen Probleme des erwähnten Zeitabschnitts erhält. Wieweit es dem Verfasser gelungen ist, dieses sein Bestreben zu verwirklichen, wi rd das Schicksal dieses Buches zeigen. Budapest, September 19 5 2.

Zur Ästhetik Schillers

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Die ästhetische Erziehung

Franz Mehring gibt für das Phänomen der entscheidenden Rolle der Ästhetik in der Periode der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung eine sehr einfache und auf den ersten Anblick sehr einleuchtende Erklärung. Er sagt über Deutschland, daß » dessen aufstrebendem Bürgertum allein die Renn­ bahn der schönen Künste offen stand«, und daß aus dieser Sachlage die zen­ trale Bedeutung der Ästhetik zu erklären sei. Diese Erklärung ist zwar unmittelbar einleuchtend und nicht vollständig falsch, sie vereinfacht aber die Besonderheiten der Stellung der Ästhetik in der klassischen deutschen Philosophie allzu sehr. Denn erstens ist es nicht ganz richtig, daß das Feld des ideologischen Kampfes selbst in Deutschland ausschließlich auf Theorie und Praxis der Kunst beschränkt gewesen wäre. In der theoretischen Behandlung der Naturwissenschaften, der Erkenntnis­ theori e, der Rechts- und Staatstheorie, der Geschichte und Geschichtstheorie und sogar in der Theologie w ar das Kampffeld für die deutsche Aufklärung, wenn auch mehr oder weniger mit Beschränkungen, ebenfalls offen, und ganz frei war selbstverständlich die Betätigung auf dem Felde der Theorie und Praxis der Kunst ebenfalls nicht. Man muß nur an die astronomischen Theo­ rien von Kant, an Goethes S tudien über Entwicklungslehre in der organi­ schen Welt, an den Kampf von Reimarus und Lessing in der Frage der Ent­ stehung des Christentums, an die Rechtsphilosophie des jungen Fichte usw. denken, um zu sehen, daß Mehrings Feststellung mindestens einseitig ist. Zweitens berücksichtigt die Feststellung Mehrings die verschiedenen Etappen der Rolle der Kunsttheorie in dem Klassenkampf der deutschen Bourgeoisie in u ngenügender Weise. Die »Hamburgische Dramaturgie« Lessings, als Kampfschrift für die Eigenheit, Freiheit und Einheit Deutschlands, bezeich­ net einen ganz anderen Entwicklungsabschnitt und hat demzufolge einen ganz anderen sozialen Inhalt als jene Wendung, die Schiller dem Problem der Ästhetik gegeben hat. Drittens übersieht Mehring die Tatsache, daß eine bei aller, leicht zu analy­ sierenden, Verschiedenheit analoge Entwicklung in der englischen Aufklärung der Periode nach der »glorreichen Revolution« vorhanden war. Die Schrif­ ten von Hutcheson, Horne, Shaftesbury usw. geben ebenfalls der Ästhetik eine

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Zentralstellung in der Gesellschaftswissenschaft. Und zwar auf eine mit der Schillerschen Wendung weitgehend analoge Weise, i ndem sie in der Asthetik ein entscheidendes Erziehungsmittel erblicken, das für die Hervorbringung jenes Menschentypus, den die Aufklärung dieser Periode erstrebt, von zen­ traler Wichtigkeit ist. Es handelt sich dabei in England um die ideologische Überwindung der primitven, » asketischen « Periode der bürgerlichen Ent­ wicklung, deren Gipfelpunkt der Puritanismus und die asketische Sektenreli­ giosität der Revolution gebildet hatten. Diese Richtung kämpft einen dop­ pelten Kampf, einerseits gegen die von der Entwicklung überholte religiös­ revolutionäre Asketik, andererseits gegen die sittliche Verkommenheit aer »Spitzen der Gesellschaft« , der verbürgerlichten Aristokratie und des sich ari­ stokratisierenden Großkapitalismus. Die Linie Hornes, der in der Asthetik ein Mittel erblickt, aus der Tugend eine Fertigkeit zu machen, ist die Weltanschau­ ung der fest in sich begründeten, in immer größeren Wohlstand gelangenden englischen höheren Mittelklasse, die nach dem endgültigen Sieg der bürger­ lichen Revolution bemüht ist, ihre eigenen gesellschaftlichen Forderungen dem England des Klassenkompromisses der »glorreichen Revolution« aufzuprägen. Die Fragestellung Schillers erwächst nun organisch aus der englischen Auf­ klärung. Welcher der englischen Aufklärer ihn besonders beeinflußt hat, ist dabei eine Frage von ganz untergeordneter Bedeutung, da es nachweisbar bekannt ist, daß Schiller sehr früh alle diese Schriftsteller studiert hat, daß ihr Einfluß, insbesondere der Shaftesburys, in Deutschland von der Kritik und Kunsttheorie der Schiller vorangegangenen Periode (Herder) vermittelt, außerordentlich allgemein und groß war. Freilich muß gleichzeitig mit die­ ser innigen Verwandtschaft der Fragestellung zugleich der scharfe Gegen­ satz hervorgehoben werden. Die englischen Aufklärer zogen in ihrer Theorie der Kunst als der Wegbereiterin der richtigen (der bü rgerlichen) Sittlichkeit ideologisch die Konsequenzen aus dem ökonomisch-sozialen Aufschwung ihrer Klasse und einer tatsächlich siegreichen bürgerli chen Revolution. Ihre Asthe­ tik und die mit ihr verbundene, aus ihr herauswachsende Ethik gehen des­ halb vom wirklichen Menschen, vom bürgerlichen Menschen ihrer Periode aus, sind unter allen Umständen sensualistisch und empirisch, zumeist sogar materialistisch oder wenigstens halb-materialistisch. (Der Klassenkompromiß, der die englische Revolutionsperiode absd1ließt, ist die ausschlaggebende Ur­ sache dafür, daß die materialistische Bewegung nicht weitergeführt wird, sondern in einem sensualistischen Empirismus versandet.) Schiller stellt das Problem der Beziehung von Ethik und Asthetik auf dem Boden einer Klasse, die noch viel zu schwach ist, um den revolutionären

Zur Ästhetik Schillers

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Kampf auch nur ernsthaft aufzunehmen, geschweige denn siegreich zu Ende zu führen. Darum ist für Schil ler die Verknüpfung von Ethik und Xsthetik in seiner revolutionären Jugendperiode {vgl. die Aufsätze »Über das gegen­ wärtige deutsche Theater« und »Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet«) noch ein re volutionäres Kampfmittel gegen den Feudalabso­ lutismus, ganz im Sinne Lessings und der vorrevolutionären französischen Schriftsteller. Erst in der Periode der Krise seines stoisch-revolutionären I dea­ lismus - noch vor der Französischen Revolution - entsteht bei ihm das Zurückgreifen auf die englischen Aufklärer. Was jedoch bei diesen eine sensua­ listisch-psychologische Theorie vom empirischen Menschen und seiner Be­ dürfnisse gewesen ist, wird bei Schiller zur Grundlage einer idealistischen Geschichtsphilosophie. Denn sein Problem war nicht, ideologisch die Konse­ quenzen einer tatsächlich vollzogenen bürgerlichen Revolution zu ziehen, viel­ mehr im Gegenteil, eine Geschichtsphilosophie zu konstruieren, die den Weg zur Erringung der ökonomisch-kulturellen Resultate der bürgerlichen Re­ volution weisen soll, bei gleichzeitigem Nachweis, daß zu ihrer Erringung die Revolution selbst überflüssig, ja schädlich sei . Schon in dem großen Gedicht der vorkantischen Periode »Die Künstler« wird diese Geschichtsphilosophie dichterisch gestaltet, indem die Kunst als der Werkmeister der menschlichen Zivilisation erscheint, als jene Kraft, die aus dem halbtierischen Urmenschen den wirklichen Menschen unserer Zivilisation gemacht hat. Allerdings liegt der Akzent im Gedicht noch mehr darauf, daß die Kunst, das Schöne, den Weg bedeutet, auf dem die Menschheit zur Er­ kenntnis der Wahrheit schreitet. (Ein Gedanke, der, freilich erkenntnistheo­ re tisch und nicht geschichtsphilosophisch, in der deutschen Aufklärung eine große Rolle gespielt hat.) Erst nach der Beschäftigung mit Kant tritt die Rolle des Xsthetischen als Vorbereitung zur sittlichen Vollkommenheit in ganz kla­ rer Weise hervor. Schiller schreibt in den Briefen über ästhetische Erziehung : »Durch die ästhetische Gemütsstimmung wird also die Selbsttätigkeit der Vernunft schon auf dem Felde der Sinnlichkeit eröffnet, die Macht der Emp­ findung schon innerhalb ihrer eigenen Grenzen gebrochen und der physische Mensch so weit veredelt, daß nunmehr der ge istige sich nach Gesetzen der Frei­ heit aus demselben bloß zu entwickeln braucht. Der Schritt von dem ästheti­ schen Zustand zu dem logischen und moralischen (von der Schönheit zur Wahr­ heit und zur Pflicht) ist daher unendlich leichter, als der Schritt von dem physi­ schen Zustande zu dem ästhetischen (von dem bloßen bl inden Leben zur Form) war. « Und ähnlich, sogar noch prägnanter in dem späteren Aufsatz »Über den moralischen Nutzen äs thetischer Schriften « : »Der Geschmack gib t also dem

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Gemüt eine für die Tugend zweckmäßige Stimmung, weil er die Neigungen entfernt, die sie hindern, und diejenigen erweckt, die ihr günstig sind. « All dies klingt trotz der hier zugrunde liegenden Kantschen Erkenntnistheo­ rie und Ethik den Aus führungen der englischen Aufklärer sehr ähnlich. Der tiefgehende Unterschied zwischen der sensual istischen Psychologie der eng­ lischen Aufklärung u nd Schillers idealistischer Geschichtsphilosophie tritt erst dort in voller Klarheit zutage, wo Schiller sein geschichtsphilosophisches Problem als Problem der Lösung der gesellschaftlichen Fragen der Revolu­ tionszeit formuliert. Schiller charakterisiert in den ästhetischen Briefen die Tageslage folgendermaßen : »Wahr ist es, das Ansehen der Meinung ist ge­ fallen, die Willkür ist entlarvt, und obgleich noch mit Macht bewaffnet, er­ schleidit sie doch keine Würde mehr; der Mensch ist aus seiner langen Indo­ lenz und Selbsttäuschung aufgewacht, und mit nachdrücklicher Stimmen­ mehrheit fordert er die Wiederherstellung seiner unverlierbaren Rechte. Aber er fordert sie nicht bloß ; jenseits und diesseits steht er auf, sich gewaltsam zu nehmen, was ihm nach seiner Meinung mit Unrecht verweigert wird. Das Gebäude des Naturstaats (des Feudalabsolutismus, G. L.) wankt, seine mür­ ben Fundamente weichen, und eine physische Möglichkeit scheint gegeben, das Gesetz auf den Thron zu stellen, den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu ma­ chen. Vergebliche Hoffnung! Die moralische Möglichkeit fehlt, und d er frei­ gebige Augenblick findet ein unempfängliches Geschlecht . « Diese »Tragik« der Französischen Revolution i s t aber i n Schillers Augen nur die Erscheinung der unlösbaren Antinomie der bürgerlichen Revolution über­ haupt. Der Feudalabsolutismus, der Naturstaat, ist nach Sdiillers Auffassung nicht nur im gegenwärtigen Augenblick morsch geworden und dem Unter­ gang geweiht, sondern ist von Anfang an den Gesetzen der Moral wider­ sprechend, da er »seine Einrichtung ursprünglidi von Kräften, nicht von Ge­ setzen ableitet« . Es ist dabei interessant, mit welcher naiven Selbstverständ­ lichkeit Schiller die Moral schlechthin mit der bürgerlichen Moral identifiziert und in der alten Gesellschafr eben nur eine rohe Kraft als begründendes u nd zusammenhaltendes Element erblickt. Diese Konzeption bringt er aus seiner revolutionären Jugendperiode mit, damals aber zog er aus diesem Bild, das er sich von der alten Gesellschaft gemacht hatte, die radikalste, wenn auch nodi so unklare revolutionäre Konsequenz : » Quae medicamenta non sanat, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat« (Was die Medizi n nicht heilt, heilt das Eisen, was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer) , heißt das Motto zur Vorrede der »Räuber«.

Zur Ästhetik Schillers

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Jetzt z ieht er - auf der Grundlage der Kantschen Philosophie - aus dersel­ ben Fes tstellung die Konsequenz, daß hier eine unlösbare Antinomie vor­ liegt. Diese Antinomie entstammt daraus, daß nach der grundlegenden Kon­ zeption der Kantschen Philosophie, das wahre Wesen des Menschen, das Ich der praktischen Vernunft, nichts Wirkliches, sondern ein Postulat, kein Sein, sondern ein Sollen ist. Die Antinomie, die hieraus für jede Revolution ent­ steht, formuliert Schiller folgendermaßen : »Nun ist aber der physische Mensch wirklich, und der sittliche nur problematisch. Hebt also die Vernunft den Naturstaat auf, wie sie notwendig muß, wenn sie den ihrigen an die Stelle setzen will, so wagt sie den physischen und wirklichen Menschen an den problematischen sittlichen, so wagt sie die Existenz der Gesellschaft an ein bloß mögliches (wenngleich moralisch notwendiges) I deal der Gesellschaft . . . Das große Bedenken also ist, daß die physische Gesellschaft in der Zeit keinen Augenblick aufhören darf, indem die moralische in der Idee sich bildet, daß um der Würde des Menschen willen seine Existenz n icht in Gefahr geraten darf. « Wir finden hier in zugespitzter geschichtsphilosophischer Formulie­ rung die letzten Konsequenzen jener Selbstkritik, die Schiller an den Helden seiner stoisch-revolutionären Jugendperiode geübt hat. Denn was er seiner­ zeit seinem Karl Moor und Marquis Posa vorwarf, war ja gerade, daß sie über dem Vorsatz der unmittelbaren Verwirklichun g der Idee das Seiende am Menschen, die Gesetze der lebenden Menschlichkeit, vernachlässigt und außer acht gelassen haben. Wenn aber dieses Dilemma so scharf gestellt wird, daß einerseits die Auf­ hebung des » Naturstaats « moralisch notwendig, andererseits seine tatsäch­ liche Aufhebung moralisch unmöglich ist - wo ist dann der Ausweg für Schiller? Die Gru ndlinie der Lösung stand für Schiller schon lange Zeit fest : Erziehung der Menschen zu einer sittlichen Höhe, die einen solchen Übergang gefahrlos möglich macht. Er hält sogar zeitweilig den Gedanken der Erzie­ hung selbst mitten in der Revolution nicht für vollständig hoffnungslos. Nach dem Ausbruch der Französischen Revolution schreibt er an Körner : » Ohne Zweifel kennst Du Mirabeaus Schrift sur l'education. Es war mir schon eine große Empfehlung für den Autor und das Buch, daß er gleichsam noch im Tumult des Gebahrens der französischen Konstitution schon darauf bedacht war, ihr den Keim der ewigen Dauer durch eine zweckmäßige Einrichtung der Erziehung zu geben. Schon der Gedanke verrät einen soliden Geist, und die Ausführung seiner Idee macht, soweit ich in dem Buche gelesen habe, sei nem philosophischen Kopf Ehre.« Wer oder was soll aber diese Erzie­ hung in Deutschland vollbringen? »Sollte diese Wirkung vielleicht von dem

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Staat zu erwarten sein ? Das ist nicht möglich ; denn der Staat, wie er jetzt beschaffen ist, hat das übel veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der I dee sich aufgibt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu kön­ nen, müßte selbst erst darauf gegründet werden . « Das Erziehungswerk muß also sowohl vor der Revolution, vor der Umwälzung der Gesellschaft den Forderungen der Vernunft gemäß geleistet werden wie unabhängig von dem bestehenden Staat und den realen gesellschaftlichen Mächten. Der Weg, die Forderungen der Vernunft, den sozialen Inhalt der bürgerlichen Revolution ohne Revolution zu verwirklichen, die Revolution also überflüssig zu machen, ist nach Schiller die ästhetische Erziehung der Menschheit, die Verwandlung der unwirklichen, sollensmäßigen Postulate der Moral in eine Realität, in eine Tagespraxis und Tagespsychologie der Menschen. Diese Wendung zur .i\sthetik als Zentralfrage der Philosophie, insbesondere der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie ist eine außerordentlich wider­ spruchsvolle. Sie ist, wie wir gesehen haben, in erster Reihe eine Abwendung von der Revolution, ein praktisches Sichabfinden mit dem gegenwärtigen scharf verurteilten - politischen und gesellschaftlichen Zustand; sie ist, wie Engels scharf und treffend sagt, Flucht aus der platten Misere in die über­ schwengliche Misere. I ndem Schiller sich auf den Boden der Kantschen Phi­ losophie stellt, verfällt er vollständig den apologetischen Tendenzen, die Marx an der höchsten Philosophie dieser Periode, der Hegelschen, so scharf kriti­ siert hat. Es entsteht auch bei ihm jener »unkritische Positivismus « , den Marx bei Hegel dahingehend kritisiert, daß »von einer Akkomodation He­ gels gegen Religion, Staat etc. also keine Rede mehr sein kann, da diese Lüge die Lüge seines Progresses ist«. Schiller hebt auch diese Seite der Kantschen Philosophie stets lobend hervor. Trotz seiner Bedenken gegen eine Idealisierung der christlichen Religion schreibt er an Körner folgendes über Kants »Philosophische Religionslehre « : »Er scheint mir von einem Grundsatz dabei geleitet zu werden, den Du sehr liebst, nämlich von diesem : das Vorhandene nicht wegzuwerfen, solange noch eine Realität davon zu erwarten ist, sondern es vielmehr zu veredeln. Ich achte diesen Grundsatz sehr, und Du wirst sehen, daß Kant ihm Ehre machte. « I n der von uns bereits angeführten Schrift »über den moralischen Nutzen ästhetischer Schriften« lobt er den Geschmack auch deshalb, weil »er der Legalität unseres Betragens im höchsten Grade beförderlich ist . . . Wenn wir deswegen, weil sie ohne moralischen Wert ist, für die Legalität unseres Betragens keine Anstalten treffen wollten, so könnte sich die Weltordnung darüber auflösen und, ehe wir mit unseren Grundsätzen fertig würden, alle

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Bande der Gesellschaft zerrissen sein . . . s o sind wir verpflichtet, uns durch Religion und durch ästhetische Gesetze zu binden, damit unsere Leidenschaft in den Perioden ihrer Herrschaft nicht die physische Ordnung verletze«. Noch viel krasser äußert sich dieselbe apologetische, zur Duldung aller Scheußlichkeiten des bestehenden Systems aufrufende Tendenz der ästheti­ schen Erziehung in Schillers letzter großer Abhandlung : »Über naive und sentimentalische Dichtung« : »Also nichts von Klagen über die Erschwerung des Lebens, über die Ungleichheit der Konditionen, über den Druck der Ver­ hältnisse, über die Unsicherheit des Besitzes, über Undank, Unterdrückung, Verfolgung ; allen Übeln der Kultur mußt du mit freier Resignation (von mir hervorgehoben, G. L. ) dich unterwerfen, mußt sie als Naturbedingungen des Einzigguten respektieren ; nur das Böse derselben mußt du, aber nicht bloß mit schlaffen Tränen, beklagen. Sorge vielmehr dafür, daß du selbst un­ ter jenen Befleckungen rein, imter jener Knechtschaft frei (von mir hervor­ gehoben, G. L. ), unter jenem launischen Wechsel beständig, unter jener An­ archie gesetzmäßig handelst. Fürchte dich nicht vor der Verwirrung außer dir, aber vor der Verwirrung in dir . . . « Es ist die Flucht in die »über­ schwengliche Misere «. Aber wenn Schiller die Asthetik ins Zentrum rückt, so hat das auch eine, mit dieser Apologetik unzertrennbar verwachsene andere Seite, die für die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie in positivem Sinne außerordentlich folgenschwer geworden ist. Schiller ist einerseits ein Kan­ tianer, der die Grundlinien der Kantschen Erkenntnistheorie, das unerkenn­ bare Ding an sich, niemals einer Kritik unterworfen hat. Er ist aber anderer­ seits - wie dies Hegel wiederholt hervorhebt - der erste, der den Weg zum objektiven Idealismus eingeschlagen hat. Daß die Ästhetik ein solcher Weg zum objektiven Idealismus gewesen ist, ist aus der Geschichte der klas­ sischen deutschen Philosophie, aus der Rolle der Asthetik in dem Aufbau des objektiven Idealismus Schellings in dessen Jenenser Periode hinlänglich bekannt. Es ist auch bekannt, daß der Ausgangspunkt dieser Entwicklung die »Kritik der Urteilskraft« Kants gewesen ist. Indem Schiller, wie wir später sehen werden, die Grundgedanken der »Kritik der Urteilskraft« zu Ende denkt, sprengt er - obwohl er bewußt der Meinung ist, die Kantsche Philo­ sophie nur anzuwenden - den Rahmen jener Halbheiten und Kompromisse, mit deren Hilfe Kant seiner Asthetik den Schein einer abgeschlossenen und widerspruchslosen Systematik gegeben hat. Aber nicht diese scheinbare ge­ schlossene Systematik, sondern die widerspruchsvolle Grundlage der Kant­ schen Ästhetik, gerade der schillernd vieldeutige Charakter ihrer Frage-

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik stellungen und Lösungsversud1e ist für die spätere Entwicklung fruchtbar ge­ worden. Denn in ihnen erhält die wirkliche Widersprüchlichkeit des Lebens einen, wenn aud1 verzerrten, aber an die wirklichen Widersprüche rühren­ den Ausdruck. Wir werden sehen, daß aum Schillers Lösung voll von Schwan­ kungen, Halbheiten und Kompromissen ist, philosophisch schon deshalb, weil er in vielen sehr wichtigen Punkten über die Kantsche Philosophie hinaus­ ging, sich aber zugleich an ihre erkenntnistheoretismen Voraussetzungen k lammerte, trotz ihres Widerspruches zu den Konsequenzen, die er daraus zog. Der Widerspruch zwischen dem formellen äußeren Abschluß der Systematik und den auseinanderstrebenden Konsequenzen, die die unge­ lösten Widersprüme widerspiegeln, ist selbstverständlich auch bei Smil­ ler vorhanden. Aber einerseits ist bei ihm die äußere Systematik viel weniger streng als bei Kant, schon wegen der essayistischen Form seiner ästhetischen Schriften, andererseits sind die Widersprüche bei ihm nom fruchtbarer als bei Kant, da er, trotz des Festhaltens an Kants Erkennt­ nistheorie, sachlich-ästhetisch einen bedeutenden Schritt über Kant h inaus getan hat. Es handelt sich dabei um das Verhältnis von Ethik und .i\sthetik, konkreter : um das Hinausgehen über den rein formalistischen Idealismus der Kant­ schen Ethik. Eine Bewegung, die damit zusammenhängt, daß die ideologischen Führer des deutsmen Bürgertums und die Spitze des Bürgertums selbst auf dem Wege waren, jene »asketisme« Periode ihrer Entwicklung zu verlassen, deren ideologische Repräsentanz gerade die Kantsche Ethik gewesen ist. (Goethe hat von Anfang an diese Schimt des deutsmen Bürgertums ideolo­ gisch repräsentiert, die über die Kantsche Ethik hinausging. ) Marx findet bei Kant » die marakteristische Form, die der auf wirklichen Klasseninteressen beruhende französische Liberalismus in Deutschland annahm« . Infolge der spezifischen Verhältnisse Deutschlands, führt Marx aus, trennte Kant »die­ sen theoretischen Ausdruck von den Interessen, die er ausdrückt, machte die materiell motivierten Bestimmungen des Willens der französischen Bourgoisie zu reinen Selbstbestimmungen des >freien Willenstreue< Kantianer Schiller in der Struktur der Kantschen Ethik, die er prinzipiell nicht kritisiert, etwas Knechtisches erblickt. G. L.) Weil oft sehr unreine Neigungen den Namen der Tugend usurpieren, mußte darum auch der uneigennützige Affekt in der edelsten Brust verdächtig gemacht werden? Weil der moralische Weichling dem Gesetz der Vernunft gern eine Laxität

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik geben möchte, die er zum Spielwerk seiner Konvenienz macht, mußte ihm darum eine Rigidität beigelegt werden, die die kraftvollste Kußerung mora­ lisd1er Freiheit nur in eine rühmlichere Art von Knechtschaft verwandelt . . . Mußte schon durch die imperative Form des Moralgesetzes die Menschheit angeklagt und erniedrigt werden, und das erhabenste Dokument ihrer Gr0ße zugleich die Urkunde ihrer Gebrechlichkeit sein? War es wohl bei dieser imperativen Form zu vermeiden, daß eine Vorschrift, die sich der Mensch als Vernunftwesen selbst gibt, die deswegen allein für ihn bindend und da­ durch allein mit seinem Freiheitsgefühle verträglich ist, nicht den Schein eines fremden und positiven Gesetzes annahm - einen Smein, der durch seinen radikalen Hang demselben entgegen zu handeln (wie man ihm Schuld gibt), schwerlich vermindert werden dürfte!« In dieser Polemik gegen Kant nähert sich Schiller sehr stark dem Standpunkt Goethes. Und in einem Brief an Goethe spricht er seinen Standpunkt so smarf aus, wie sonst nie in seinen veröff entlimten theoretischen Schriften. Er schreibt : »Die gesunde und smöne Natur braucht, wie Sie selbst sagen, keine Moral, kein Naturrecht, keine politisme Metaphysik: Sie hätten eben­ sogut hinzusetzen können, sie braumt keine Gottheit, keine Unsterblichkeit, um sich zu stützen und zu halten. « In dieser entsmiedenen Formulierung zeigt sich klar, wie sehr Schiller - und vor ihm nom viel entsmiedener Goethe - auf die Philosophie der englischen Aufklärung zurückgriff: die »schöne Seele«, die hier und aum sonst bei Goethe und Smiller als Ideal aufgestellt wird, ist eine deutsmzeitgemäße Erneuerung des alten » moral sense« . Die gesellschaftlime Grundlage dieses moral sense bei den englismen Aufklärern war der sehr einfache naive Dogmatismus einer politisch wie ökonomisch siegreimen und befestigten bürgerlimen Klasse. Es war die naiv­ dogmatische Selbstsicherheit der Überzeugung, daß die Klassennotwendig­ keiten der ökonomismen und kulturellen Blüte des Bürgertums den Men­ smen naturhaft eingeborene psymologische Eigentümlichkeiten seien. (Klare und skeptisd1e Beobachter dieser Periode, wie z . B. Mandeville, damten aum sehr geringschätzig über diese Konzeption.) Für die Dichter und Denker der klassischen Periode in Deutschland war ein solmer naiver Dogmatismus gesellsmaftlich unmöglich. Nimt nur die ökonomische und gesellschaftliche Zurückgebliebenheit Deutsmlands mußte einer solmen Konzeption notwen­ digerweise stets einen mehr oder weniger idealistisch-utopischen Charakter geben, auch die gesellschafl:lichen Probleme Deutschlands und im Zusam­ menhang mit ihnen die Höherentwicklung des philosophischen D enkens mad1ten einen solmen naiven Dogmatismus u nmöglim. Die » schöne Seele«

Zur Ästhetik Schillers mußte sich in irgendeiner Form mit dem bestehenden Feudalabsolutismus auseinandersetzen. Und diese Auseinandersetzung verläuft sowohl bei Goethe wie bei Schiller auf der Linie eines friedlichen Abbaus der bestehenden feu­ dalen Überreste, und zwar auf dem Wege einer Verschmelzung der kulturell am meisten entwickelten Spitzen von Adel, Bürgertum und bürgerlicher Intelligenz, auf der Grundlage eines freiwilligen Verzichts auf die feudalen Privilegien. Am klarsten ist diese Tendenz in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre « ausgesprochen. Die Krönung des Erziehungsweges aller Helden des Romans ist ein großer Versuch, kapitalistische L andwirtschaft zu treiben, wobei der adelige Lothario ein ausführliches Programm des freiwilligen Ver­ zichtes auf die Adelsprivilegien als conditio sine qua non seiner Teilnahme verkündet. Der Roman endet zugleich programmatisch mit drei Ehen zwi­ schen Adeligen und Bürgerlichen. Schiller hat diesen Roman nicht nur be­ geistert begrüßt, sondern auch dasselbe Programm in seiner dichterischen Praxis verwirklicht. In seinem »Wilhelm Tell«, in dem er eine Revolution nach seinen eigenen I dealen dargestellt hat, in dem die gegen Österreich aufständischen Bauern nur ihre »alten Rechte« verteidigen und weiter die Er­ füllung ihrer alteingesessenen feudalen Verpflichtungen übernehmen, ver­ zichtet der adelige Rudenz freiwillig auf diese Vorrechte, nachdem er vom Hof zu den Bauern übergeht. Es ist sicher programmatisch von Schiller gedacht, wenn die Worte von Rudenz den Abschluß des Dramas bilden : »Und frei erklär' ich alle meine Knechte . « Wie sehr alle Probleme der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung Probleme des Klassenkampfes und der Klassenumschichtung gewesen sind, zeigt am charakteristischsten Kants Reaktion auf die Kritik, die Schiller an ihm ausgeübt hat. Es ist bekannt, mit welcher schonungslosen Härte Kant von Fichte abgerückt ist, als es dieser unternahm, radikale politische, gesell­ schaftliche und ethische Forderungen aus seinem System zu ziehen. Dabei hat Fichte wirklich die Kantschen Prinzipien bloß weiterentwickelt und nicht völlig umgestoßen. Bei der Polemik hingegen, die Schiller gegen die Grund­ lage der Kantschen Ethik, die unüberbrückbare Entgegenstellung von Ver­ nunft und Sinnlichkeit, die erkenntnistheoretische Grundlage des kategori­ schen Imperativs richtete, benahm sich Kant außerordentlich duldsam. Er hält zwar seine These von der unbedingten Priorität der Pflicht vor allem Ksthetischen aufrecht, lehnt also den Kernpunkt der Schillerschen Auffas­ sung entschieden ab, aber er tut es in einer Weise, die zeigt, daß er bemüht ist, nicht die Brücke der Verständigungsmöglichkeiten zwischen sich und Schiller abzubrechen. Er gestattet zwar für die Pflicht » die Begleitung der

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehr­ erbietiger Entfernung halten . . . Nur nach bezwungenen Ungeheuern wird Herkules Musaget, vor welcher Arbeit jene guten Schwestern zurückbeben « . Kant betrachtet also Schillers Konzeption als reine Utopie ; e r betrachtet sie aber als eine unschuldige und jedenfalls nicht feindliche Utopie, während er in dem Radikalismus Fichtes sofort ein für seine liberale Konzeption feind­ liches Prinzip erkannte. Freilich kann Schiller, da er die Grundlagen der Kantschen Philosophie nicht kritisiert, diese seine Linie nicht konsequent durchführen. Sie müßte ja bei folgerichtigem Zuendedenken mit dem Verwerfen des kategorischen Impera­ tivs, der Ethik des Sollens enden, wie ja Goethe tatsächlich diese Ethik immer verworfen hat, wie später im objektiven Idealismus Schellings, in dem die Ksthetik konsequent die Zentralstelle einnahm, die Ethik im Kantschen Sinne vollständig verschwunden ist. Schiller schwankt zwischen dem Ver­ werfen der antinomischen Ethik Kants und seiner vollständigen Anerken­ nung, so daß er an den meisten Stellen seine neuen Gedanken in der Form einer Ergänzung zu der Kantschen Ethik, ein es neuen Unterbaus für sie formuliert. Dieses Schwanken reicht sehr tief in Schillers Konzeption der Ksthetik und der ästhetischen Kultur hinein. Denn die Kantsche Konzeption hat für die Ksthetik die notwendige Konsequenz, daß das Erhabene, als unmittelbarerer und adäquaterer ästhetischer Widerschein des moralischen Prinzips im System der Ksthetik, ein höherer Begriff sein muß als das Schöne selbst. An sehr vielen Stellen seiner ästhetischen Schriften zieht Schiller tatsächlich diese Konsequenz aus der Kantschen Philosophie und sprengt damit seine eigene Konzeption. So schreibt er in seinem Aufsatz »Über das Erhabene« : »Das Schöne macht sich bloß verdient um den Menschen, das Erhabene um den reinen Dämon in ihm ; und weil es einmal unsere Bestimmung ist, auch bei allen sinnlichen Schranken uns nach dem Gesetzbuch reiner Geister zu rich­ ten, so muß das Erhabene zu dem Schönen hinzukommen, um die ästhetische Erziehung zu einem vollständigen Ganzen zu machen. « Hier sind die Prin­ zipien der Schillerschen Geschichtsphilosophie des Ksthetischen vollständig preisgegeben: seine »schöne Seele« ist nur eine Übergangsstufe zur Verwirk­ lichung der Kantschen Ethik. Auf der anderen Seite formuliert er häufig das Problem so, daß gerade die Schönheit das Prinzip ist, das das Erhabene als aufgehobenes Moment in sich aufnimmt. Und für seine Kulturphilosophie muß dies letztere die Grund­ linie abgeben. So stellt er in seiner ästhetischen Erziehung die Kategorie des

Zur Ästhetik Schillers Edlen gerade zu diesem Zwecke auf. Er sagt dort über den Menschen : » Schon seinen Neigungen muß er das Gesetz seines Willens auflegen; er muß, wenn Sie mir den Ausdruck verstatten wollen, den Trieb gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen, damit er es überhoben sei, auf dem heiligen Boden der Freiheit gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten ; er muß lernen, edler begehren, damit er nicht nötig habe, erhaben zu wollen. Dieses wird geleistet durch ästhetische Kultur, welche alles das, worüber weder Naturgesetze die menschliche Willkür binden noch Vernunftgesetze, Gesetzen der Schönheit unterwirft und in der Form, die sie dem äußeren Leben gibt, schon das innere eröffnet. « Diese schwankend begründete und schwankend durchgeführte ästhetische Utopie beruht, wie wir gesehen haben, auf einem tiefen Pessimismus der Gegenwart gegenüber. Schiller charakterisiert seine Zeit damit, daß die Men­ schen entweder Wilde oder Barbaren sind. »Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein : entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber, verächtlicher als der Wilde, fährt er häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein.« Diese Kulturkritik seiner Gegenwart basiert auf der Grundlage der Kantschen Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, geht aber zugleich über sie hinaus; denn so sehr die Kon­ zeption des Wilden eine echt Kantsche Auffassung ist, so sehr widerstreitet die Formulierung des Barbarentums den Prinzipien der Kantschen Ethik. Denn den Barb aren unterscheidet vom Wilden nach dieser Schillerschen Kon­ zeption, daß die kulturwidrigen, kulturzerstörenden Kräfte hier selbst Kul­ turprodukte sind, daß in ihnen eine kulturfeindlich böse Maxime, ein das Schlechte wollendes Vernunftprinzip zum Ausdruck kommt. Aber die An­ nahme der Möglichkeit einander widerstreitender - guter und böser - Maxi­ men steht im schroffen Gegensatz zur Ethik Kants . Die Widersprüche der Kultur, die bei Kant oft eine sehr tiefe Formulierung erhalten, sind nicht die Widersprüche der moralischen Maximen untereinander. Kant sieht die Dia­ lektik zwischen Legalität und Moralität zuweilen sehr klar und gibt von hier aus interessante kritische Ausblicke auch auf die vollentwickelte bür­ gerliche Gesellschaft. Eine innere Dialektik der Moralität widerstreitet jedoch den Grundprinzipien seines Denkens. Kant gibt zwar die Möglichkeit zu, daß der Verbrecher nicht bloß für seine Tat eine Ausnahme von der - auch von ihm selbst anerkannten - allgemein

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gültigen sittlichen Maxime, also gewissermaßen eine Dispensation verlangen kann, sondern auch, daß »seine Maxime . . diametraliter als Widerspruch (gleichsam feindselig) dem Gesetz entgegen« ist. Kant sieht aber hier keinen wirklichen Widerspruch, den die Ethik di alektisch z u begreifen hätte, viel­ mehr bloß einen unerklärlichen Abgrund für den Gedanken . »So viel wir einsehen «, fährt Kant fort, »ist ein dergleichen Verbrechen, eine förmliche (ganz nutzlose) Bosheit zu begehen, menschenu nmöglich und doch (obzwar bloße Idee des Außerst-Bösen) in einem System der Moral nicht zu über­ gehen. « (Es ist nicht uninteressant, zu bemerken, daß diese Reflexionen Kants an die Hinrichtungen Karls 1 . und Ludwigs XVI . anknüpfen.) Es ist klar, daß Schiller nicht nu r in dieser Konzeption der Kultur übe r das Grundschema der Kantschen Ethik hinausgeht. Er tat es schon früher in seiner dramatischen Praxis. Schon der Figur des Franz Moor in den » Räu­ bern « liegt die Wirksamkeit einer bösen Maxime zugrunde, allerdings in einer vom jungen Schiller nicht du rchgehaltenen Weise ; denn die Handlung führt dazu, daß die bösen Maximen Franz Moors auch in ihm selbst zu­ sammenbrechen und er Religion und Moral als Sieger anerkennen muß . Dagegen erstrebt und erreicht Schiller i n der Gestaltung des Königs Philipp in »Don Carlos« eine Figur, bei welcher das böse Prinzip der Handlungen nicht aus persönlichen Empfindungen (in Kantscher Terminologie : aus der »Sinnlichkeit«) entspringt, sondern aus Maximen (aus der »Vernunft « ) . So sehr Posa und Philipp einander schroff entgegengesetzt handeln, so dia­ metral gegensätzlich alle Inhalte ihres Handelns sind, formell handeln beide in gleicher Weise : Maximen bestimmen beider Handlungen ; ihr Gegensatz ist also nicht der der Temperamente, der Neigungen usw., sondern der der Maximen. Schiller selbst hat klar empfunden, daß er hier einen wichtigen Schritt getan hat. Der Kampf gegen Philipp sollte gerade gegen die Prinzi­ pien, die er repräsentiert, gerichtet sein : gegen das Prinzip des Absolutismus, der Tyrannei, nicht gegen die Person eines individuell bösen Tyrannen. »Man erwartet« , schreibt Schiller im Vorwort zum Thalia-Fragment des »Don Carlos « , »- ich weiß nicht welches? Ungeheuer, sobald von Philipp 1 1 . die Rede ist - mein Stück fällt zusammen, sobald man ein solches darin findet . « Auch hier ist Lessing Schiller vorangegangen (mit dem Prinzen in »Emilia Galotti«), aber die Konzeption Philipps geht weiter, als Lessing gegangen ist. Lessing zeigt bloß, wie auch schwächliche und schwankende Gutmütigkeit in der Position des absoluten Herrschers von Verbrechen zu Verbrechen führen kann, Schillers Thema ist : das verbrecherische Prinzip am Absolutismus zu zeigen. Darum wird Philipp mit großen und mensch.

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liehen Zügen ausgestattet, darum s teht hinter ihm - künstlerisch monumental gezeichnet - der Großinquisitor, in dem bereits überhaupt keine persönlich egoistische Regung mehr lebendig ist, der nur mehr in dem Prinzip, für das Prinzip (für das böse Prinzip) ex istiert. Es soll gezeigt werden, daß sich hier weltgeschichtliche Mächte in ihren höchsten Repräsentanten messen. Schiller kommt hier - mehr küns tlerisch als gedanklid1 bewuß t - zu einer Ahnung der historischen Dialektik. Wie weit damit Schiller zu einem Begründer eines neuen Typus der Tragödie geworden ist, kann hier nicht untersucht werden. Hier kam es nur darauf an, festzustellen, daß erstens der methodologische Gegensatz zu Kant, der freilich als solcher unbewußt blieb, kein zufälliger ist, sondern aus den tiefsten Prinzipien von Schillers Entwicklung als Künst­ ler und Denker entspringt, und zweitens, daß Schiller, indem er hier über Kant hinausgeht, einen bedeutsamen Schritt zur Dialektik, und zwar zur Dialektik der geschichtlid1en Mächte und Tendenzen, gemacht hat. Nachdem er auf diese Weise in den Typen der Wildheit und der Barbarei große, zeitgeschichtliche Typen gezeichnet hat, geht Schiller nod1 einen Schritt weiter und konkretisiert nun diese doppelseitige Verurteilung der Menschen seiner Gegenwart auch in der Richtung ihrer Klassenschichtung : » In den niederen und zahlreicheren Klassen stellen sich uns rohe und gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung ent­ fesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierismen Befriedigung eilen . . . Auf der anderen Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigeren Anblick der Schlappheit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist . . . Die Aufklärung des Verstandes, deren sim die verfeinerten Stände nimt ganz mit Unremt rüh­ men, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnun­ gen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt . . . So sieht man den Geist der Zeit zwischen Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Un­ natur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben smwanken, und es ist bloß das Gleimgewimt des Smlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt. « Die letzte Ursame dieser Ersmeinungen erblickt Schiller in der gesellschafl­ lichen Arbeitsteilung. Aum in dieser Frage steht Schiller auf den Schultern der Aufklärungsphilosophie. Viele bedeutende Vertreter der Aufklärung haben die verderblichen Folgen der Arbeitsteilung für die Entwicklung der Menschen klar erkannt, gleichzeitig mit der ebenso folgerichtigen und rim­ tigen Anerkennung, die die fortschrittlidrn Bedeutung der Arbeitsteilung bei den Ökonomen fand. Dieser klar ausgesprochene und auf beiden Seiten bis

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in seine letzten Konsequenzen durchgeführte Widerspruch gehört ebenso zur Größe der Aufklärungszeit, wie die Tatsache, daß der dialektische Zusam­ menhang dieses Widerspruchs nicht erkannt wurde, ihre Grenze bezeichnet. Es ist ebenfalls ein Erbe der Aufklärung und nicht eine selbständige Geistes­ tat Schillers, wenn er die Zerrissenheit des Menschen in der und durch die moderne Arbeitsteilung mit der Totalität des Menschen im klassischen Grie­ chentum kontrastiert. Ferguson, der Lehrer Adam Smith', » denunziert « die Arbeitsteilung (Marx) so energisch, daß er bei dem Vergleich von antiken und modernen Verhältnissen sagt : »So bilden wir ein Volk von Heloten und haben keine freien Bürger mehr. « Er stellt fest, daß die Arbeitsteilung mit einer Ausschaltung des Verstandes des Arbeitenden verknüpft ist : » Viele Gewerbe erfordern in der Tat keine geistige Befähigung. Sie gelingen am besten bei vollständiger Unterdrückung von Gefühl oder Vernunft, und Un­ wissenheit ist die Mutter der Industrie sowohl wie des Aberglaubens . . . Dementsprechend gedeihen Manufakturen am besten, wo der Geist am wenigsten zu Rate gezogen wird und wo die Werkstatt ohne besondere An­ strengung der Phantasie als eine Maschine betrachtet werden kann, deren einzelne Teile Menschen sind. « Und er führt diesen Gedanken durch alle Gebiete des gesellsd1aftlichen Lebens (Staatsapparat, Armee usw.) durch. Diese notwendige Konsequenz der kapitalistischen Arbeitsteilung bringt einen grundlegenden Widerspruch des bürgerlichen Humanismus zum Vor­ schein : die Forderung der freien und vielseitigen Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ist von Anfang an eine Hauptlosung des bürgerlichen Huma­ nismus. Die großen I nitiatoren und Weiterführer dieser Bewegung haben von Anfang an die deutliche Empfindung dessen, daß die Entwicklung der Produktivkräfte, die Erhöhung der Technik, die Ausbreitung und Erleichte­ rung des Verkehrs im engsten Zusammenhang mit der Verwirklichung dieser Ideale stehen, daß sie unbedingt notwendig sind, damit die Menschheit aus der Finsternis, Enge und Unfreiheit des mittelalterlichen Lebens sich heraus­ arbeite. Es ist keineswegs zufällig, folgt vielmehr aus dem Wesen des Huma­ nismus, daß viele Gestalten der Renaissance nicht nur bedeutende Forscher und Künstler gewesen sind, sondern auch Erfinder und Organisatoren. Die immer höhere Differenzierung der Arbeitsteilung, sowohl der allgemein ge­ sellschaftlichen wie der im B etrieb, ist gleichzeitig Triebkraft und Konsequenz dieser Entwicklung der Produktivkräfte. Hier entsteht nun der tiefgehende und unauflösbare Widerspruch, dessen Analyse wir soeben aus dem Munde Fergusons vernommen haben . Dieser Widerspruch spiegelt sich bereits darin, daß die erste, gewaltigste, an gigan-

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tischen Persönlichkeiten u n d ewigen Werken reichste Periode des bürger­ lichen Humanismus gerade die Unentwickeltheit der Arbeitsteilung zur Vor­ aussetzung hatte. Engels charakterisiert diesen Zusammenhang zwischen der Größe der Renaissance-Männer und der Arbeitsteilung ihrer Zeit, nachdem er die Universalität Leonardo da Vincis, Dürers, Macchiavellis und Luthers hervorgehoben hat, folgendermaßen : »Die Herren jener Zeit waren eben noch nicht unter die Teilung der Arbeit geknechtet, deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. « Die Größe des Renaissancehumanismus, die Vielfältigkeit der Betätigung ihrer großen Männer, die Eindeutigkeit ihrer Bestrebungen, die Weite ihrer Perspektive hat also zur Grundlage, daß dieser Widerspruch damals noch nicht hervorgetreten ist. Je stärker die kapitalistische Produktion sich ent­ wickelt, desto divergenter werden die aus ein und derselben Ökonomie emporsprießenden Tendenzen. Der Kampf um die Vielfältigkeit der mensch­ lichen Tätigkeit und damit um den Reichtum und die Freiheit der Persön­ lichkeit gerät immer stärker und offensichtlicher in \Viderspruch mit seiner eigenen ökonomischen Basis. Dabei muß betont werden, daß die in der Aufklärungsperiode kritisierte Arbeitsteilung noch die der Manufaktur­ periode ist ; die der Maschinenindustrie, gegen die sich die späteren roman­ tischen Kritiker der kapitalistischen Arbeitsteilung vor allem wenden, war damals noch nicht vorhanden. Das griechische I deal der Aufklärung und Revolutionsepoche ist nicht nur das republikanische I deal der staatsbürgerlichen Freiheit, sondern Griechen­ land erscheint immer stärker als die verlorengegangene und wieder zu er­ obernde Heimat der freien und reichen Entfaltung der Persönlichkeit. Der Akzent des Wiedereroberns, die Hoffnung auf seine Möglichkeit, die enge gedankliche Verknüpfung der Freiheit der persönlichen Betätigung mit der republikanisch-staatsbürgerlichen Freiheit verhindert, daß diese !deale, ob­ wohl sie objektiv im Gegensatz zu der Entwicklung der Arbeitsteilung stehen, eine reaktionär-romantische Tendenz erhalten. Ihr Widerspruch bleibt un­ lösbar. Aber die bürgerlichen Humanisten kämpfen einerseits für die Weg­ räumung aller staatlich-gesellschaftlichen Hindernisse der ökonomischen Entwicklung. Andererseits bringt diese Lage heroisch-utopische Forderungen, rücksichtslose Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung vom Standpunkt des bürgerlichen Humanismus hervor, keine Sehnsucht nach vorkapitalistisch feudalen Gesellschaftsverhältnissen, die diese Arbeitsteilung noch nicht kann­ ten. Erst wenn das Mittelalter, das mittelalterliche Handwerk usw. in der Romantik zum Ideal werden, wenn die Sehnsucht nach der Aufhebung der

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kapitalistischen Arbeitsteilung und ihrer Zerstfükelung der menschlichen Persönlichkeit den Zusammenhang mit dem Kampf um politische Freiheit, um Zerstörung der Überreste des Mittelalters verliert, wenn diese Sehnsucht zum Wunsch der Rückkehr in die Enge, Gebundenheit, Unfreiheit, Horizont­ losigkeit usw. des mittelalterlichen Handwerks wird, erst dann wird der Kampf gegen die kapitalistische Arbeitsteilung romantisch-reaktionär. Die Periode der Französisd1en Revolution läßt auch in Deutschland den Kontrast von Antike und Gegenwart, von frei entfalteter Persönlichkeit und knech­ tender Arbeitsteilung im Lichte der heroisch-utopischen Illusionen der Fran­ zösischen Aufklärung und Revolution erscheinen. Es ist nach alledem, was wir von Schillers Entwicklung und Problemstellung wissen, nicht zu erwarten, daß er die Tiefe der Einsicht in die Zusammen­ hänge der bürgerlichen Gesellschaft von Ferguson besitze. Sein Blick wird durch die Kleinlichkeit, Enge und Zurückgebliebenheit der deutschen Ver­ hältnisse getrübt, und er sieht in der Arbeitsteilung, wenigstens vorwiegend, eine Konsequenz der staatlichen Verhältnisse. »Die Kultur selbst war es, welche der neueren Menschheit diese Wunde schlug . . . Diese Zerrüttung . . . machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein . . . Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines un­ abhängigen Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerk Platz, wo aus Zusammenstücke­ lung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im ganzen sidi bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten ; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus ; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpf\:, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbständig geben . . . , sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in wel­ chem man ihre freie Einsicht gebunden hält . . . Und so wird denn allmäh­ lich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet. « Dieses tief pessimistische Bild der kapi­ talistischen Arbeitsteilung hat aber auch bei Schiller - ebenso wie bei den

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früheren Aufklärern - keine romantische Opposition gegen das Progressive der kapitalistischen Entwicklung zur Konsequenz. So beredt auch Schiller die Zerstückelung des Menschen durch die Arbeitsteilung schildert, so fest hält er daran, daß dieselbe Arbeitsteilung zwar den einzelnen Menschen dem griechischen Bürger gegenüber zu einem minderwertigen Fragment macht, aber dennoch dem Fortschritt der Menschheit dient. »Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. « Zur richtigen Beurteilung dieser Stellungnahme Schillers ist es notwendig, nochmals zu bemerken, daß seine Kritik der Arbeitsteilung sich auf die der Manttfaktrerperiode bezieht. Marx bezeichnet Adam Smith gerade in bezug auf die Arbeitsteilung als » den zusammenfassenden Ökonomen der Manu­ fakturperiode«. Die dieser Periode spezifische Eigentümlichkeit der Arbeits­ teilung faßt Marx so zusammen : »Der Gesamtarbeiter besitzt jetzt alle pro­ duktiven Eigenschaften im gleich hohen Grade der Virtuosität und veraus­ gabt sie zugleich aufs ökonomischste. Die Einseitigkeit und selbst die Un­ vollkommenheit des Teilarbeiters werden zu seiner Vollkommenheit als Glied des Gesamtarbeiters. « (In der Anmerkung dazu : »Zum Beispiel ein­ seitige Muskelentwicklung, Knochenverkrümmung usw.« ) Noch bleibt »das Handwerksgeschick die Grundlage der Manufaktur . . . und der in ihr funk­ tionierende Gesamtmechanismus besitzt kein von den Arbeitern selbst unab­ hängiges objektives Skelett . . . « So sehr also die Manufaktur die objektiven, ökonomischen wie technischen Grundlagen zur Maschinenindustrie ausbil­ det, so bleiben die qualitativen Differenzen zwischen beiden gerade im Pro­ blem der Arbeitsteilung mit allen ihren kulturellen Konsequenzen bestehen. Die für uns ausschlaggebende Differenz lautet in Marx' Formulierung : » In der Manufaktur ist die Gliederung des gesellschafHichen Arbeitsprozesses rein subjektiv, Kombination von Teilarbeitern ; im Maschinensystem besitzt die große Industrie einen ganz objektiven Produktionsorganismus, den der Arbeiter als fertige materielle Produktionsbedingung vorfindet. « Die ver­ schiedenen Stellungnahmen in den verschiedenen Perioden zur Frage der Arbeitsteilung können nur dann historisch richtig gewürdigt werden, wenn man genau vor Augen hat, auf welche Entwicklungsstufe der Arbeitsteilung sie sich beziehen. Nur die objektive Entwicklungshöhe der Widersprüche gibt einen Maßstab dafür, welche Illusionen historisch notwendig und be­ rechtigt sind, welchen Grad der Widersprüchlichkeit und bis zu welcher Grenze ein ehrlicher und bedeutender Denker zu erkennen und anzuerken­ nen verpflichtet ist. Es ist deshalb wichtig festzustellen, daß die Aufklärung

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik (und selbstverständlich auch Schiller) nur von den Widersprüchen der Manufakturperiode sprechen können. Der Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Humanismus und der ökono­ mischen Basis des Bürgertums ist also da. Die ehrlichen Denker sprechen ihn mehr oder weniger richtig, mehr oder weniger tief aus. Jedoch der vorrevo­ lutionäre Charakter der Epoche - vor der Französischen Revolution, vor der industriellen Revolution, vor der Einführung d er Maschinen in ökonomisch entscheidendem Maßstabe - bestimmt den Charakter jener historisch frucht­ baren heroischen Illusionen, die das rücksichtslose Aussprechen der Wider­ sprüche nicht in romantische Verzweiflung umschlagen lassen. Aus diesem Zusammenhang gewinnt die ästhetische Geschichtsphilosophie Schillers ihr zweites Grundmotiv : die ästhetische Kultur hat die Aufgabe, die Zerrissenheit und Zerstückelung des Menschen durch die Arbeitsteilung wie­ der aufzuheben, die Integrität und die Totalität des Menschen wiederher­ zustellen. Erst wenn diese Totalität hergestellt ist, kann die wirkliche Um­ wandlung der Gesellschaft gefahrlos vollzogen werden. » Totalität des Cha­ rakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen. « Wir sehen : Schiller stellt das Problem der Arbeitsteilung viel abstrakter und idealistischer, viel entfernter vom Verständnis der ökonomisch-gesellschaft­ lichen Wirklichkeit als die Aufklärer. Ja, wenn wir die letzten Konsequenzen seiner Konzeption betrachten, so verflüchtigt sich bei ihm das Problem zu der rein erkenntnistheoretischen Frage der Beziehung der Vernunft zur Sinn­ lichkeit. Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung führt jedoch in diesem Fall die merkwürdige Lage herbei, daß gerade diese idealistische Verflüchtigung und Verzerrung des ökonomischen Problems zu einem rein ideologischen Problem den Weg dazu ebnet, auch das ökonomische Problem selbst in seinen dialektischen Verwicklungen aufzudecken. Denn hinter dieser idealistischen Verflüchtigung und Verzerrung stecken reale Probleme der Entwicklung der Gesellschaft und ihres denkenden Be­ greifens. Unzweifelhaft wird durch die Zurückführung des allgemeinen Pro­ blems der Arbeitsteilung, der Zerstückelung des Menschen auf Vernunft und Sinnlichkeit das Problem auf den Kopf gestellt. Aber bei aller Verzerrung, die dabei vor sich geht, wird hier doch ein wesentliches Moment des Pro­ blems selbst, wenn auch idealistisch verkehrt, erfaßt. Für den Menschen, der in der Gesellschaft der sich entfaltenden und siegreich vordringenden kapitalisti­ schen Arbeitsteilung lebt, ist das Zerrissensein seiner Psyche in Vernunft und Sinnlichkeit, ihr scheinbarer Dualismus eine unmittelbare Gegebenheit.

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Es ist leicht einzusehen, daß damit alle Zusammenhänge auf den Kopf ge­ stellt sind, daß Schiller (wie auch seine anderen bedeutenden deutschen Zeit­ genossen) das Sein aus dem Bewußtsein, die Basis aus dem Überbau, die Ursachen aus der Folge usw. abzuleiten versucht. Schwieriger ist zu ver­ stehen, wie trotz dieser auf den Kopf gestellten Methodologie hier ein Weg zur Entdeckung von richtigen dialektischen Zusammenhängen der Wirklich­ keit eingeschlagen wurde. Zur Zeit seiner endgültigen Überwindung der Hegelschen Dialektik kommt Marx - sehr interessanterweise gerade bei der Analyse ökonomischer Kate­ gorien - auf das Problem der Entfremdung des Menschen von seiner eigenen sinnlichen Wirklichkeit, von der Sinnlichkeit zu sprechen. Dabei führt er, als materialistischer Dialektiker, diese Entfremdung stets auf reale ökonomische Seinsvorgänge zurück, entdeckt die realen ökonomisch-geschichtlichen Ur­ sachen, die das Entstehen solcher Kategorien in der Wirklichkeit und ihrer gedanklich gefühlsmäßigen Widerspiegelung im menschlichen Kopf bestimmt haben und bestimmen. Er geht dabei von der Arbeit des Proletariers aus : »Das Verhältnis des Arbeiters zum Produkt der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand. Dies Verhältnis ist zugleich das Verhältnis zur sinnlichen Außenwelt, zu den Naturgegenständen als einer fremden, ihm feindlich gegenüberstehenden Welt. « Diese Entfremdung des Menschen von sich selbst ist der allgemeine Charakter der kapitalistischen Welt. »An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne«, führt Marx aus, »ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten . . . Die Aufhebung des Privateigentums ist daher die vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften . . . Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als totaler Mensch. « Dieses Auf-die-Füße-Stellen der Hegelschen Philosophie, die weiter in einer gründlichen und tiefen Kritik ihrer zentralen Kategorien konkretisiert wird, hat zur Vorgeschichte, daß in der klassischen deutschen Philosophie, ins­ besondere bei Hegel, diese allseitigen Zusammenhänge als zentrale Probleme der Philosophie und der geschichtlichen Entwicklung, wenn auch in einer auf den Kopf gestellten, wenn auch in einer verzerrten und verengten Weise, aber wirklich behandelt wurden, ohne daß freilich Hegel imstande gewesen wäre, zwischen beiden Seiten des einheitlichen Prozesses einen dialektischen Zusammenhang herstellen zu können. In seinen ökonomisch-philosophi­ schen Manuskripten hebt Marx die diesbezüglichen Verdienste Hegels klar hervor : »Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem End­ resultate - der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugen-

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik den Prinzip - ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung ; er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirk­ lichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift. Das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen zu sich als Gattungswesen oder die B etäti­ gung seiner als eines wirklichen Gattungswesens, d. h. als menschlichen Wesens, ist nur möglich dadurch, daß er wirklich alle seine Gattungskräfte was wieder nur durch das Gesamtwirken der Menschen möglich ist, nur als Resultat der Geschichte - herausschafft, sich zu ihnen als Gegenständen ver­ hält, was zunächst wieder nur in der Form der Entfremdung möglich ist. « Die »Phänomenologie des Geistes« als Gipfelpunkt der klassischen deutschen Philosophie hat aber eine lange Vorgeschichte, in der gerade die von uns untersuchten Schriften von Schiller einen wichtigen Wendepunkt bilden. Die schroffe Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, die bei Kant, philoso­ phisch angesehen, eine notwendige Folge seiner schwankenden Stellung zwi­ schen Materialismus und agnostizistischem subjektivem Idealismus gewesen ist, hat für den Aufbau seiner Erkenntnistheorie die Folge, daß er einen außerordentlich komplizierten, in Begriffsmythologie übergehenden Apparat aufbauen muß, um die Beziehung der » Affektion der Sinnlichkeit durch das Ding an sich« mit der Apriorität der Vernunftkategorien in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Schon in diesem Aufbau tauchen die ersten Keime einer » Geschichte der reinen Vernunft « auf, indem dieser Gedanken­ apparat, diese Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens in einer Art » außerzeitlicher B ewegung« dargestellt ist : die Kategorien stehen nicht nebeneinander, sondern sind auseinander entwickelt, folgen - im Sinne einer solchen »außerzeitlichen Bewegung« - in notwendiger Reihenfolge aufein­ ander. Ja, Kant wirft im letzten Kapitel der »Kritik der reinen Vernunft « das Problem der » Geschichte der reinen Vernunft« als Problem auf, »um eine Stelle zu bezeichnen, die im System übrigbleibt und künftig ausgefüllt wer­ den muß «. Die Bedeutung der philosophischen Leistung Schillers b esteht nun darin, daß er den ersten Schritt tut, dieser Entwicklung den Charakter einer » außerzeitlichen Bewegung« innerhalb der Erkenntnistheorie zu neh­ men und sie als eine wirklich historische, freilich idealistisch-mystifiziert historische Bewegung aufzufassen. Wenn also Schiller das Problem der Zer­ rissenheit und der Depravation des Menschen durch die Arbeitsteilung auf die Zerrissenheit des Menschen in Vernunft und Sinnlichkeit reduziert und in dieser Zerrissenheit die historische Signatur der Gegenwart erblickt, wenn

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e r die Herstellung der Integrität und Totalität des Menschen aus dieser Zerrissenheit durch die Ksthetik als die große Aufgabe der Gegenwart auf­ stellt, so verwässert er auf der einen Seite idealistisch die konkreten Fest­ stellungen der englischen Aufklärer, auf der anderen Seite bereitet er jedoch gedanklich die Problemstellung der »Phänomenologie des Geistes« vor. Wie sehr Schiller hier ein Vorläufer Hegels ist, kommt gerade in seiner Theorie der ästhetischen Tätigkeit - in der Theorie des »Spiels« - zum Ausdruck. Schon daß er als zentrale Frage der Ksthetik nicht das bloße »Anschauen«, sondern eine Praxis (freilich selbstredend eine idealistische Praxis) sieht, daß er dieser Praxis eine wichtige Stelle im System der Ein­ heit der menschlichen Fähigkeiten, der Einheit von Vernunft und Sinnlich­ keit, somit eine Stelle im historischen Wachstum dieser Fähigkeiten vom Menschen als Halbtier bis zum heutigen Kulturzustand und darüber hinaus zu bestimmen trachtet, zwingt ihn, diesen zu Hegel führenden Weg einzu­ schlagen. Wir werden im folgenden sehen, wie widerspruchsvoll seine Metho­ dologie und Resultate dabei gewesen sind. Er ist aber doch an die Schwelle jener Hegelschen Fragestellung gelangt, in der Marx, wie wir gesehen haben, die Größe der »Phänomenologie des Geistes« erblickt : bis an die Schwelle der Auffassung des Menschen als Produktes seiner eigenen Arbeit, seiner eigenen Tätigkeit. Die Auffassung der ästhetischen Tätigkeit als einer solchen Selbstproduktion des Menschen ist ein Lieblingsgedanke der Übergangsperiode Schillers. Sein großes philosophisches Gedicht, »Die Künstler«, kreist ununterbrochen um diese Frage. In den »Briefen über ästhetische Erziehung« wird diese Funk­ tion der ästhetischen Tätigkeit ganz klar ausgesprochen : »Es ist also nicht bloß poetisch erlaubt, sondern auch philosophisch richtig, wenn man die Schönheit unsere zweite Schöpferin nennt. « (Die erste ist nach Schiller die Natur.) Daß Schiller dann, bei der Durchführung dieses Gedankens aus einem Widerspruch in den anderen verfällt, mindert nicht die Wichtigkeit dieses Vorstoßes zur Dialektik. Die wichtigsten Widersprüche werden wir später ausführlich behandeln. Freilich darf man von Schiller keine konsequente reale historische Frage­ stellung erwarten. Dazu ist die idealistische Philosophie prinzipiell nicht in der Lage, auch bei Hegel nicht. Die große Entdeckung des klassischen Idea­ lismus in Deuts chland, daß die geschichtliche Entwicklung sich in notwendig aufeinanderfolgenden Stufen, denen der dialektische Zusammenhang der Kategorien entspricht, vollzieht, muß in ihr notwendig auf den Kopf gestellt erscheinen. Nicht die gedankliche Aufeinanderfolge der Kategorien ist das

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik gedankliche Spiegelbild ihrer realen historischen Entwicklung auseinander, sondern umgekehrt, das historische Nacheinander wird als idealistisches Spiegelbild des logischen Auseinander aufgefaßt. Der Gedanke einer solchen Geschichte der Vernunft taucht bei Schiller s chon in seiner vorkantischen Periode auf. In der »Vorerinnerung« zu seinen » Phi­ losophischen Briefen « stellt Schiller folgendes Programm auf : »Die Vernunft hat ihre Epochen, ihre Schicksale, wie das Herz, aber ihre Geschichte wird weit seltener behandelt. Man scheint sich damit zu begnügen, die Leiden­ schaften in ihren Extremen, Verirrungen und Folgen zu entwickeln, ohne Rücksicht zu nehmen, wie genau sie mit dem Gedankensystem des Indivi­ duums zusammenhängen.« Schiller ist zwar in dieser Periode seiner Ent­ wicklung noch nicht imstande, dieses Programm auch nur einigermaßen kon­ kret auszuführen. Auf seine programmatische Einleitung folgt bei ihm die uns bereits bekannte Attacke auf den Materialismus, der Moralphilosophie der Aufklärung. Aber auch hier macht Schiller, wenn auch nur teils in ab­ gerissenen Aphorismen, teils in mystischen gefühlsphilosophischen Eruptio­ nen Vorstöße in der Richtung einer solchen idealistisch-geschichtsphiloso­ phischen Dialektik. So nähert er sich in einigen Bemerkungen der Hegelschen geschichtlichen Dialektik von Wahrheit und Irrtum an. »Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit - wir müssen den Irrtum und oft den Unsinn - zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit heraufarbeiten. « Und in dem Gipfelpunkt dieser Ab­ handlung, in der »Theosophie des Julius «, faßt Schiller seine mystische Ge­ schichtsphilosophie in folgenden Versen zusammen : » Arm im Arme, höher stets und höher, Vom Barbaren bis zum griech'schen Seher, Der sich an den letzten Seraph reiht, Wallen wir einmüt'gen Ringeltanzes, Bis sich dort im Meer des ew'gen Glanzes Sterbend untertauchen Maß und Zeit. Freundlos war der große Weltenmeister, Fühlte Mangel, darum schuf er Geister, Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit. Fand das höchste Wesen schon kein Gleid1es, Aus dem Kelch des ganzen W esenreiches Schäumt ihm die Unendlichkeit.«

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Am Schluß seiner »Phänomenologie des Geistes « faßt Hegel seinen doppel­ ten Grundgedanken dahin zusammen, daß einerseits die bestimmten Ge­ stalten des Bewußtseins aus der phänomenologischen Entwicklung nunmehr im absoluten Wissen als bestimmte Begriffe erscheinen, daß andererseits dieser Prozeß zugleich der Prozeß der Geschichte ist ; »beide zusammen«, sagt Hegel abschließend, »die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblos Einsame wäre. Nur Aus dem Kelche dieses Geisterreiches Schäumt ihm seine Unendlichkeit«. Das Zurückgreifen auf die philosophischen Briefe Schillers ist hier, nicht nur in den, wie bei Hegel stets, falsch zitierten Versen, auf den ersten An­ blick offenkundig. In den ästhetischen Schriften Schillers der Kantschen Periode lautet die Frage­ stellung, wie wir bereits wissen, so, daß der Mensch durch die Entwicklung der Kul tur selbst, durch die Arbeitsteilung auseinandergerissen ist, und als typische Erscheinungsform, als die Grundform dieses Auseinandergerissen­ seins die Zweiheit von Vernunft und Sinnlichkeit, von Denken und Empfinden erscheint. Die Ästhetik hat nun die historische Aufgabe, diese Zerrissenheit aufzuheben, die Einheit von Denken und Empfinden wiederherzustellen. Auch diese Fragestellung hat ihre Wurzeln in der Kantschen Philosophie. Kants Ästhetik, die »Kritik der Urteilskraft« hat im Kantschen System die Funktion, zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, zwischen phänomenaler und noumenaler Welt, zwischen Empirie und Ideen die m ethodologische Verbin­ dung herzustellen. Und die ästhetische Geschichtsphilosophie nimmt in allen methodologischen Fragen von hier ihren Ausgangspunkt. Wie wir bei der Behandlung der Beziehung von Ethik und Ästhetik bereits gesehen haben, wird Schiller seine Loslösung von den methodologischen Grundlagen der Kantschen Philosophie auch dann nicht bewußt, wenn er in Wirklichkeit weit über sie hinausgeht. Diese Unklarheit zeigt sich dann in den schwan­ kenden und widerspruchsvollen Antworten, die Schiller für die Frage des Verhältnisses von Ethik und Ästhetik fand. So ist es auch in diesem Falle. Die Grundlinie der »Kritik der Urteilskraft« ist es, eine Mittellinie, ein Ver­ bindungsglied, eine Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Vernunft in der ästhetischen Sphäre aufzufinden. Schiller geht ebenfalls von dieser Frage­ stellung aus. Er geht schon hier - allerdings der Tragweite seines Schrittes unbewußt - über Kant hinaus. Die Beziehung von Vernunft und Sinnlichkeit (für den Kantianer Schiller gleichbedeutend mit der Beziehung von Form

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik und Materie) ist für ihn keine einfache Unterordnung der Sinnlichkeit unter die Vernunft wie bei Kant. Schiller sagt : »Die Unterordnung muß allerdings sein, aber wechselseitig . . . Beide Prinzipien sind einander also zugleich sub­ ordiniert und koordiniert, d. h. sie stehen in Wechselwirkung ; ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form. « Schiller, der diesen Schritt über Kant hinaus unter betontem Einfluß von Fichte tut, ahnt etwas vom Wider­ spruch zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen des Kantschen Systems. Er tröstet sich aber - ebenso wie Fichte - damit, daß diese seine Ausführung sicher dem Geist, wenn auch nicht dem Buchstaben von Kants System ent­ spräche. Der Einfluß der subjektivistischen, in letzter Konsequenz solipsisti­ schen Erkenntnistheorie Fichtes ist zweifellos ein Hemmnis für Schiller bei diesem Vorstoß zum objektiven Idealismus. Dieser Einfluß geht aber nicht so tief, um Schiller auf die Bahn Fichtes mitzureißen. Im Gegenteil : sehr bald gehen ihre philosophischen Tendenzen offenkundig auseinander, freilich ohne daß Schiller sich je von der Auffassung frei machen würde, »dem Geiste nach« dem Kantianismus treu bleiben zu müssen und zu können. Gleichzeitig jedoch, da er in der Ästhetik jenes Zukunftsprinzip erblickt, das die gegenwärtige Entzweiung von Vernunft und Sinnlichkeit aufheben soll, muß er in einer, der Kantschen Konzeption widersprechenden Weise, in der Ästhetik ein Prinzip erblicken, das höher, synthetischer ist als jene Prinzi­ pien, die die gegenwärtige Entzweiung hervorgebracht haben. Obwohl nun Schiller beide Konzeptionen wahllos und widerspruchsvoll nebeneinander gebraucht, obwohl er sich so in für ihn unlösbare Widersprüche verwickelt, hat er damit den Weg betreten, der zu dem objektiven ästhetischen I dealis­ mus Schellings führt. Wir haben bereits die pessimistische Zeitcharakteristik Schillers, die Eintei­ lung seiner Zeitgenossen in Wilde und Barbaren geschildert. Schiller stellt diese Barbarisierung seiner Gegenwart stets mit den lebhaftesten und grell­ sten Farben dar. Er hebt immer wieder hervor, daß das Zeitalter auf der denkbar höchsten Höhe der Wissenschaft, der Aufklärung, der Kultur steht, daß sogar die Philosophie den richtigen Weg, den Weg zur Natur gewiesen hat ; doch »- woran liegt es«, fragt Schiller, » daß wir noch immer Bar­ baren sind ?« Und seine Antwort weist hier sehr entschieden in die Richtung einer Abwendung vom idealistischen Spiritualismus Kants und Fichtes. »Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insofern Achtung ver­ dient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden. Ausbildung des Empfindungsvermögens ist a lso das drin-

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gendere Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die ver­ besserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zur Verbesserung der Einsicht erweckt. « Auch diese Wendung ist in der späteren Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie zum objek­ tiven Idealismus typisch geworden. In seinen späteren Konkretisierungen dieses Satzes führt Schiller eine Polemik sowohl gegen die sensualistischen wie gegen die logizistisch-idealistischen i\sthetiker durch. Er sagt aber dort, daß die ersteren, »welche das Zeugnis der Empfindung mehr als das Rai­ sonnement gelten lassen, sid1 der Tat nach weit weniger von der Wahrheit entfernen als ihre Gegner«. Diese leise Sympathie für Sensualismus und sogar Materialismus ist sehr charakteristisch für das Übergangsstadium vom sub­ jektiven zum objektiven Idealismus in der klassischen d eutschen Philosophie. Schelling und Hegel gehen in ihrer Jenaer Periode in dieser Richtung viel weiter als Schiller hier, sie tun es aber in derselben Richtung. Hegel nimmt in seiner naturrechtlichen Abhandlung der Jenaer Zeit für Hobbes Stellung gegen Kant und Fichte, und S chelling schreibt in Opposition zu dem Spiri­ tualismus der Frühromantik das materialistische Gedicht »Epikuräisches Glaubensbekenntnis des Heinz Widerporst«. Schillers Problem ist also die Vereinigung des ursprünglich einheitlichen, von der Kultur zerstückelten Menschen. Schon in der Rezension über Bürger schreibt e r : »Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unserer Gei­ steskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst b einahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmoni­ schem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wiederherstellt. « Und in dem Aufsatz »Über Anmut und Würde« spricht er ganz klar aus : » Die menschliche Natur ist ein viel verbundeneres Ganze in der Wirklichkeit, als es dem Philosophen, der nur durch Trennen was ver­ mag, erlaubt ist, sie erscheinen zu lassen. « Mit dieser Fragestellung bahnt Schiller den Weg, den später der junge Hegel in seiner Jenaer Periode, in der Vorbereitungszeit der »Phänomenologie des Geistes« betreten hat. Freilich ist der Abstand hier ein sehr großer. Hegel hat die Kantsche Philosophie gründlich überwunden, er erkennt, daß die mecha­ nische Zergliederung des menschlichen Bewußtseins in einzelne » Seelenver­ mögen«, die steif und starr voneinander isoliert und einander gegenüber­ gestellt sind, j ede dialektische Lösung unmöglich macht. Er spricht bereits verächtlich von dem Kantschen » Seelensack des Subjekts«, während Schiller

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noch, trotz aller seiner Versuche, über Kant hinauszukommen, gerade in dieser entsd1eidenden Frage die Kantschen Voraussetzungen unrevidiert übernimmt. Darum verengt sich bei ihm sehr häufig die große Frage der Zerstückelung des Menschen in der Arbeitsteilung seiner Gegenwart zu einer bloß methodologischen Frage innerhalb der Wissenschaft, die auf rein philo­ sophisd1em Wege, sogar auf dem Boden der Kantschen Philosophie über­ wunden werden kann. So sagt er in seiner akademischen Antrittsrede über die Universalgeschichte : »Ebenso sorgfältig als der Brotgelehrte seine Wis­ sensd1aft von allen übrigen absondert, bestrebt sid1 jener, der Philosoph, ihr Gebiet ihr zu erweitern und ihren Bund mit den übrigen wiederherzu­ stellen herzustellen, sage id1, denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemad1t, hat jene Wissenschaften voneinander geschieden . « Und dieser Verengung und Verflachung des Problems entsprechend, stellt er, im Widerspruch zu der großen Linie seiner Geschichtsphilosophie im allgemeinen, hier die Frage so dar, als ob das unzerstückelte Ganze »nur in seiner Vorstellung vorhanden«, also etwas rein Subjektives wäre. Aud1 für Hegel ist diese Entzweiung, diese Zerrissenheit etwas Gedankliches. Jedod1 das Gedankliche ist bei Hegel niemals bloß subjektiv. Für Hegel handelt es sich hier, viel konsequenter als bei Schiller, um einen historischen Prozeß, der auch die Philosophie, das Bedürfnis nach ihr, ihre Probleme und ihre Lösungen hervorbringt. »Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Mensd1en verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Be­ ziehung und Wed1selwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie . . . Je weiter die Bildung gedeiht, je mannigfaltiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in welche die Entzweiung sich versd1lingen kann, desto größer wird die Mad1t der Entzweiung, desto fester ihre klimatische Heiligkeit, desto fremder dem Gan­ zen der Bildung und bedeutungsloser die Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wieder zu gebären.« Und er s tellt als Programm der Philosophie das Programm der Dialektik auf : » Solche festgewordene Gegensätze aufzu­ heben, ist das einzige Interesse der Vernunft. « Es ist klar, daß auch diese Auffassung Hegels in der idealistischen Schranke befangen bleibt. Er kann nur die gesellschaftlid1en Phänomene der Kultur und ihre Äußerungen auf dem Gebiet der Philosophie miteinander in Parallele setzen und die so ent­ stehenden Widersprüche rein gedanklich, rein philosophisch lösen. Den wirklid1en Zusammenhang der philosophischen Widersprüche mit der realen Entwicklung der Gesellschaft kann er nur in genialer Weise ahnen, aber nirgends adäquat auf den Begriff bringen. Erst der dialektische Materialis-

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mus vermag auch fü r die ideologische, für die methodologische und philo­ sophische Seite dieser Frage die angemessene Lösung zu finden. Wenn z. B. Marx sich mit dem Vorwurf gegen die klassische Ökonomie befaßt, » die Momente würden nicht in ihrer Einheit gefaßt«, so antwortet er sehr einfach : » als wenn dies Auseinanderreißen nicht aus der Wirklichkeit in die Lehr­ bücher, sondern umgekehrt aus den Lehrbüchern in die Wirklichkeit ge­ drungen sei, und es sich hier um eine dialektische Ausgleichung von Begrif­ fen handle und nicht um die Auffassung realer Verhältnisse ! « So weit auch Schillers Versuche, über die Kantsche Philosophie hinauszu­ gehen, hinter dem objektiven I dealismus Hegels zurückbleiben, kann er auch diese Konzeption nicht konsequent zu Ende führen. Die Schönheit wird bei ihm nicht nur zu einer synthetischen Einheit der Widersprüche der Kultur, die im Gegensatz von Vernunft und Sinnlichkeit gipfeln, sondern zugleich und in einer diese Synthese wieder aufhebenden Weise zu einem bloßen Mittelding zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, wobei die Ästhetik dann, ganz im Kantschen Sinne, die Aufgabe hat, die endgültige Herrschaft der Vernunft, das Reich des kategorischen Imperativs, vorzubereiten. Es gibt nach Schiller »zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit einen mittleren Zustand« , und es ist » die Schönheit, die uns in diesen mitt­ leren Zustand versetzt«. Und an anderer Stelle : »Das Gemüt geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in wel­ cher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich tätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig ist, verdient vorzugsweise eine freie Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.« Dieser Konzeption entsprechend entwirft nun Schiller eine andere Geschichts­ philosophie der menschlichen Entwicklung. Auf die erste Periode, wo der Mensch als bloßes Naturwesen den Naturmächten innerlich und äußerlich ausgeliefert ist, folgt als Krönung, wie bei jedem idealistischen Geschichts­ philosophen, das reine Geisterreich der Freiheit. Die Herrschaft der Ästhetik, das Reich der Schönheit, liegt als Verbindungsglied zwischen beiden. Und es ist sehr interessant und charakteristisch, daß Schiller in seiner Entwicklung in echt Kantscher Weise, nur Kant ins Geschichtsphilosophische umbiegend, vor allem die erste und dritte Periode miteinander kontrastiert und erst am

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Schluß seiner Ausführungen die Schönheit dazwischenschiebt. »Aber, indem ich bloß einen Ausgang aus der materiellen Welt und einen Übergang in die Geisterwelt suchte, hat mich der freie Lauf meiner Einbildungskraft schon mitten in die letztere hineingeführt. Die Schönheit, die wir suchen, liegt be­ reits hinter uns, und wir haben sie übersprungen, indem wir von dem bloßen Leben unmittelbar zu der reinen Gestalt und zu dem reinen Objekt über­ gingen. Ein solcher Sprung ist nicht in der menschlichen Natur, und um gleichen Schritt mit dieser zu halten, werden wir zu der Sinnenwelt wieder umkehren müssen. « Für die Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie ist dieses Schwan­ ken Schillers sehr bedeutsam geworden. Seine erste Konzeption der Ge­ schichtsphilosophie der Kunst ist eine Vorläuferin des Schellingschen objek­ tiven Idealismus. Die zweite, jetzt analysierte Konzeption, bildet das Ver­ bindungsglied zwischen der historisch gewendeten Kantschen Auffassung und der späteren historischen Gliederung der Hegelschen Ästhetik. Denn es wird jedem Leser der »Briefe über ästhetische Erziehung« auffallen müssen, wie stark die Beschreibung der ersten Periode bei Schiller an die Periode des Symbolischen in Hegels Ästhetik anklingt, und auch in der Konzeption des reinen Geisterreiches ist schon eine Vorahnung der Hegelschen Konzeption, daß der Weltgeist in seiner Entwicklung über das Stadium des Ästhetischen hinausgehen muß. Die Konzeption Schillers von der Schönheit als mittlerer Periode hat ihrerseits die folgenschwere Bedeutung, daß mit ihr die Grund­ lagen der idealistisch-dialektischen Auffassung der Antike als vergangener und nicht wiederkehrenden Herrschaft der Schönheit niedergelegt ist. Aber dieser Gedanke, der bei Hegel in seiner Ästhetik konsequent durchgeführt werden kann, bleibt bei Schiller, wie wir es bei Behandlung der Beziehung der Antike zur modernen Poesie sehen werden, die Quelle unlösbarer Wider­ sprüche, wenn auch zugleich die Quelle eines genialen Entwurfs zur Erkennt­ nis des Wesens der modernen Poesie. Es kann uns nach den bisherigen Analysen der Anschauungen Schillers nicht überraschen, daß er sein groß angelegtes utopisches Programm nicht erfüllen kann. Er zog aus mit der Absicht, in der Ästhetik ein Mittel zu finden, das geeignet ist, die bürgerliche Gesellschaft ohne die Gefahr der Revolution von innen heraus zu begründen. Er ist aber nicht einmal imstande, eine gedanklich klar umrissene Utopie aufzustellen. 'Nachdem er am Schlu ß seiner »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen « den dynamischen Staat der Rechte und den ethischen Staat der Pflichten mit dem ästhetischen Staat kontrastiert, kommt er am Schluß zu folgenden, sehr resignierten Folgerun-

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gen : » Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden ? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele ; der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geist­ lose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigene sd1öne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltesten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.« Dies ist die typische Antwort der klassischen deutschen Literatur. Man muß nur an den Schluß von »Wilhelm Meisters Lehrjahre« denken, um ihre Typik klar zu sehen. Die Schillersche Auffassung, die deutsche Gesellschaft durch - ästhetische - Beispielgebung zu reformieren, d. h. ohne Revolution die sozialen Ergebnisse der Französischen Revolution zu verwirklichen, er­ hält b ei Goethe eine dichterisch gestaltete Form. Allerdings darf hier der stets vorhandene Unterschied der Akzente zwischen ihnen nicht übersehen werden . Schiller betont vor allem die innere Umwandlung des menschlichen Seelenlebens, während Goethe sich diese nur in der Form von realen sozialen Handlungen - freiwillige Liquidation der feudalen Privilegien - vorstellen kann . Darum sind bei Goethe Anläufe zu einem gesellschaftlichen Utopismus vorhanden, darum kann er - freilich ebenfalls utopisch - wie Hegel die Einigung Deutschlands von Napoleon, vom Rheinbund erwarten, während bei Schiller, trotz stellenweise treffender Gesellschaftskritik, der Traum der Umwandlung etwas rein Innerliches, Ethisch-Ästhetisches bleibt. Dies erklärt die Ausnützung der Schillerschen Schwächen von den liberalen und sozial­ demokratischen Reaktionären, vor allem darin, daß die Veränderung der Menschen Voraussetzung und nicht Folge der sozialen Revolution sei. So ist das Ergebnis dieses großen und in vielen Fragestellungen tiefen und fruchtbaren Anlaufs doch nur eine Flucht in die » überschwengliche Misere«.

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Schiller und die Ästhetik Kants

Im laufe unserer bisherigen Darlegungen mußten wir bereits wiederholt über das Verhältnis Schillers zur Kantschen Philosophie im allgemeinen spre­ chen. Wir haben gesehen, daß bei Schiller das entscheidende Motiv für die Rezeption und Einarbeitung der Kantschen Philosophie ins eigene System der Kampf gegen den Materialismus und gegen die revolutionäre Ideologie

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik der Aufklärungszeit gewesen ist, der Drang zum Ausbau jener eigenartigen Position zu diesen Problemen - Beibehaltung ihres gesellschaftlichen Inhalts bei Verwerfung ihrer revolutionären Form -, die wir soeben ausführlich analysiert haben . Es kommt jetzt darauf an, in kurzen Zügen, uns au f die allerwesentlichsten, auf die zentralen Fragen der Ästhetik beschränkend , Schillers Beziehung zur » Kritik der Urteilskraft« zu skizzieren. Die richtige Auffassung dieser Beziehung hängt selbstverständlich davon ab, wie weit man die historische Bedeutung der »Kritik der Urteilskraft« selbst richtig einschätzt, wie weit man ihre Beziehung zur Ästhetik der Aufklärung einer­ seits und zu ihrer Weiterbildung in der klassischen deutschen Philosophie andererseits richtig bestimmt. Von beiden Gesichtspunkten aus bedarf die im deutschen Marxismus lange Zeit entscheidend gewordene Formulierung Franz Mehrings _einer Ergänzung und Berichtigung. Mehring formuliert die Beziehung Kants zu seinen Vor­ gängern folgendermaßen : »Hatte die bisherige Ästhetik die Kunst auf die platte Nachahmung d er Natur verwiesen oder sie mit der Moral verquickt oder sie als eine verhüllende Form der Philosophie betrachtet, so wies sie Kant als ein eigenes und ursprüngliches Vermögen der Menschheit nach, in einem tief durchdachten und eben deshalb auch künstlich konstruierten, aber an freien und weiten Ausblicken reichen System. « Mehring hat voll­ ständig recht, wenn er als besonderes Verdienst Kants hervorhebt, d aß die­ ser das aktive, das selbsttätige Element in d er Ästhetik mehr als irgendeiner seiner Vorgänger in d en Mittelpunkt gestellt hat. Kant steht damit am An­ fang jener Entwicklung, in der - wie Marx in den Feuerbachthesen h ervor­ hebt - »die tätige Seite, im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idea­ lismus entwickelt« wurde. Aber Mehring übersieht zugleich, d aß Kant nur am Anfang dieser Entwicklung steht, die auch auf dem Gebiet der Ksthetik in Hegel kulminiert. Indem er in der Ästhetik Kants nicht den Anfang, son­ dern den krönenden Abschluß der ästhetischen Theorie der Periode des klassischen Idealismus erblickt, versperrt er sich d en Weg, das Verhältnis Schillers zur Kantschen Ästhetik richtig darzustellen. Denn auch auf dem Gebiet der Ästhetik liegt Schillers Bedeutung darin, daß er den Weg vom subjektiven Idealismus zum objektiven angetreten hat. Hegel hat diese Be­ deutung Schillers ganz klar, richtiger als Mehring erkannt : >>Es muß Schiller das große Verdienst zugestanden werden, die Kantsche Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen und den Versuch gewagt zu haben, über sie hinaus die Einheit und Versöhnung denkend als d as Wahre zu fas­ sen un d künstlerisch zu verwirklichen. «

Zur Ästhetik Schillers

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Es steht schon lange fest, daß die meisten der Kantschen ästhetischen Prin­ zipien sich auch in der Ästhetik der Aufklärung nachweisen lassen. Sie haben freilich in der Kantschen Ästhetik, in der das aktive, tätige Element, die aktive Rolle des ästhetischen Subjekts energisch in den Mittelpunkt gerückt wird, oft eine andere Bedeutung als bei seinen Vorgängern in der Aufklä­ rungsästhetik. Es wäre aber wiederum falsch, auch in Hinsicht auf die Frage der Aktivität eine chinesische Mauer zwischen die Aufklärung und Kant zu errichten. Es handelt sich vielmehr um eine derartig gesteigerte Akzentbe­ tonung des subjektiv aktiven Elements, daß diese Quantität in Qualität um­ schlägt und einen neuen Typus des ästhetischen Systems zustande bringt. Jedoch wie überall bei dem Übergang des metaphysischen Denkens des alten Materialismus in die idealistische Dialektik ist diese Entwicklung eine un­ gleichmäßige, eine widerspruchsvolle, in der Momente des Fortschreitens mit Momenten des Zurückfallens hinter bereits errungene, wenn auch sehr oft einseitig schief und mechanisch formulierte Positionen sich untrennbar mit­ einander verschlingen. Dies ist der Fall sowohl in der Frage der Beziehung der Ästhetik zur Moral, wie in der Frage der Auffassung des .i\sthetischen als Vorstufe, als Hülle der Wahrheit. In beiden Fällen hat der Vorstoß Kants außerordentlich viel dazu beigetragen, die Eigenart des .i\sthetischen klar herauszuarbeiten, und seine Ästhetik bleibt in dieser Hinsicht wirklich ein Markstein in der Entwicklung der Probleme der .i\sthetik. Es darf aber nicht übersehen werden, daß hinter solchen zumeist unzulänglichen, weil mechanischen Formulierungen der Aufklärungsästhetik das entscheidende Problem der Beziehung von Inhalt und Form in der .i\sthetik steckt. Sowohl hinter der Unfähigkeit, das Ästhetische vom Moralischen zu trennen, wie hinter der Auffassung, daß die Kunst in einer gefühls- oder erlebnismäßigen Form dasselbe ausdrückt, was Wissenschaft und Philosophie in begriffsmäßi­ ger Weise erfassen, steckt ein richtiges Gefühl dafür, daß die Formprobleme der Kunst aus den Problemen des Inhalts herauszuwachsen haben, daß die Formprobleme von den Problemen des Inhalts bestimmt sind. Eine richtige Einschätzung des Verhältnisses der Ästhetik des klassischen Idealismus zu der der Aufklärung ist also nur dann möglich, wenn weder die Errungenschaften noch die Problematik beider vulgarisiert werden. Einer­ seits muß deshalb im Auge behalten werden, daß die Vollkommenheits­ theorie, die Auffassung des Ästhetischen als »verworrener Erkenntnis« usw. eine Tendenz in sich bergen, den Zusammenhang des Ästhetischen mit allen Fragen des gesellschaftlichen Lebens festzuhalten und von hier aus das Ver­ hältnis des Inhalts zur Form, das Verhältnis der Gesellschaftlichkeit des

Beiträge

zur

Geschichte der Ästhetik

Inhalts zur Al lgemeingültigkeit der Form zu bestimmen. Andererseits, daß darin die aktive Seite der Form zu kurz kommen muß, ja oft überhaupt nicht begriffen werden kann, weshalb die Fragestellung Kants einen gewal­ tigen Schritt vorwärts bedeutet. Aber einen Schritt zur Erhebung der Frage­ stellung auf ein höheres Niveau, zur Reproduktion derselben Schwie rigkei­ ten auf höherer Stufenleiter. Denn nicht nu r wird bei Kant und seinen Nachfolgern die Form oft vom Inhalt isoliert, sondern sie sind gleichzeitig gezwungen, auf Umwegen, in anderen (höheren) Fassungen auch zu den alten aufklärerischen Fragestellungen zurückzukehren. Der Weg von Kant über Schiller-Schelling zu Hegel ist auch eine Wiederaufnahme des Problems der Vollkommenheit, der innigen Beziehung von Asthetik und Erkenntnis usw. Das gehört dazu , um jene große geschichtliche Synthese hervorzubrin­ gen, die vor allem die Hegelsche Asthetik repräsentiert. In dem Bestreben, die für die Aufklärung und für Kant unaufhebbare und unlösbare Gegen­ sätzlichkeit von Form und Inhalt auf das Niveau des dialektischen Wider­ spruchs und damit der dialektischen Verbundenheit zu erheben, muß eine solche Tendenz zur dialektischen » Aufhebung« der Aufklärungsästhetik wirksam sein. Bei aller notwendigen Kritik der Asthetik der Aufklärung darf also das richtig Gemeinte in ihren Bestrebungen nie übersehen werden. Das metaphysische Denken gestattet jedoch keine richtige theoretische Aus­ bildung dieses richtigen Gefühls. Es ist auffallend - wie Marx und Engels wiederholt hervorgehoben haben -, daß die Praxis der mechanischen Mate­ rialisten sehr oft viel richtiger, viel dialektischer ist als ihre bewußt ange­ wendete Methode. So insbesondere auf dem Gebiet von Kunst und Asthetik. Dieselben Autoren, die theoretisch oft einen ganz flachen, mechanischen Ma­ terialismus vertreten (wir werden später die Anschauungen Diderots in der Nachahmungstheorie kennenlernen), schaffen in ihrer schriftstellerischen Praxis Meisterwerke der dialektischen Auffassung und Gestaltung der Wirk­ lichkeit. In der metaphysischen Formulierung ihrer Probleme muß aber aus Mangel an Dialektik die spezifische Eigenart des künstlerischen Gestaltens zumeist verlorengehen. Sie sind nicht imstande, die Dialektik des gleichen Inhalts und der verschiedenen Formen in konkreter Richtigkeit aufzudecken und festzuhalten ; bei ihrer Betonung der Inhaltlichkeit muß das Spezifische, die Eigenartigkeit, die Selbständigkeit und die Aktivität der künstlerischen Formung mehr oder weniger theoretisch verschwinden. Es ist Kants große Tat, daß er die Selbständigkeit und Selbsttätigkeit des ästhetischen Prinzips schroff und kühn in den Mittelpunkt seiner ästhetischen Darlegungen stellt. Die idealistische Erkenntnistheorie hindert ihn aber dar-

Zur Ästhetik Schillers an, das Problem richtig zu stellen und richtig zu lösen. Der Grundsatz seiner Erkenntnistheorie liegt darin, daß die Aktivität der menschlid1en Vernunft den an sich formlosen Elementen der Sinneswahrnehmung (Affektion durch das Ding an sich) erst die Form gebe. Da Kant die Anwendung aller Kate­ gorien, die nach ihm die Gegenständlichkeit der Objekte konstituieren (Kau­ salität, Substantialität usw.), auf das Ding an sich ablehnt, da also bei ihm die Gegenständlichkeit der Objekte nicht in den Objekten selbst, sondern in der menschlichen Vernunft begründet ist, muß er auch in der Asthetik zu einer subjektiv-idealistischen Überspannung der aktiven Rolle des subjektiven Prinzips gelangen, muß er alle inhaltlich-bestimmenden Momente aus dem Gebiet der Asthetik verbannen und die Asthetik rein formalistisch aufbauen. Kants Größe als Denker auf dem Gebiet der Asthetik z eigt sich darin, daß er einerseits dieses subjektiv-formalistisd1e Prinzip rücksichtslos zu Ende denkt und damit die Selbständigkeit der Asthetik Moral und Wissenschaft gegen­ über theoretisch begründet, andererseits darin, daß er in konkreten Fällen, wo die Absurdität des überspannten formalistisch-subjektivistischen Prin­ zips in offenkundigem Widerspruch zu den Tatsachen steht, seine Konzep­ tion ebenso entschlossen und rücksichtslos beiseite schiebt und versucht, auch der Inhaltlichkeit ihr Recht zu sichern, freilich unter Preisgabe seiner Prinzipien, freilich in inkonsequenter Weise. Da der Rahmen unserer Aus­ führungen es nicht gestattet, diese Widersprüchlichkeit der Kantschen Asthe­ tik in aller Breite aufzurollen, greifen wir nur ein, freilich zentrales Problem heraus, das für den Aufbau der Schillerschen Asthetik ebenfalls entscheidend geworden ist, nämlich das der freien und der bloß anhängenden Schönheit. Kant führt aus : »Es gibt zweierlei Arten von Schönheit : freie Schönheit (pulchritudo vaga) oder die b loß anhängende Schönheit (pulchritudo ad­ härens). Die erstere setzt keinen Begriff von dem voraus, was der Gegen­ stand sein soll ; die zweite setzt einen solchen und die Vollkommenheit des Gegenstandes nach demselben voraus. « Das konsequente Zuendeführen die­ ses Prinzips hätte zur Folge, daß der Gegenstand der reinen Schönheit nur eine »gegenstandslose« , bloß dekorative Kunst hätte sein können. Kant er­ läutert seine Darlegungen auch teilweise in dieser Richtung : » So bedeuten die Zeichnungen a la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten usw. für sich nichts ; sie stellen nichts vor, kein Objekt unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten. Man kann auch das, was man in der Musik Fantasieren (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text zur selben Art zählen.« Kant fühlt freilich, daß damit der Kunst ein viel zu enges Gebiet angewiesen ist, er kann aber das Gebiet nicht aus-

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik dehnen, ohne zu den größten Inkonsequenzen zu kommen. So sagt er unter anderem : »Blumen sind freie Naturschönheiten. Was eine Blume für ein Ding sein soll, weiß außer dem Botaniker schwerlich sonst jemand, und selbst dieser, der darin das Befruchtungsorgan der Pflanze erkennt, nimmt, wenn er darüber durch Geschmack urteilt, auf diesen Naturzweck keine Rücksicht. Es wird also keine Vollkommenheit von irgendeiner Art, keine innere Zweckmäßigkeit, auf welche sich die Zusammensetzung des Mannig­ faltigen beziehe, diesem Urteile zum Grunde gelegt. « Ähnlich steht es nach Kant mit der Schönheit vieler Vögel, Muscheln usw. Erst wenn es sich um die Schönheit eines Menschen, eines Pferdes, eines Gebäudes usw. h andelt, entsteht für ihn eine neue Lage. Jeder dieser Gegenstände » Setzt einen Be­ griff vom Zwecke, welcher bestimmt, was das Ding sein soll, mithin einen Begriff seiner Vollkommenheit voraus; und ist also adhärierende Schönheit« . Soll nun die anhängende Schönheit und damit das eigentliche, ganze Gebiet der Ästhetik nicht preisgegeben werden, so muß Kant einen großen, kompli­ zierten, sehr widerspruchsvollen Begriffsapparat einsetzen und kann dabei doch nicht verhindern, daß sein »Ideal der Schönheit«, das sich naturgemäß nur auf die anhängende Schönheit bezieht, seinen Versuch, die Vermischung von Ethik und Ästhetik in der Aufklärung aufzuheben, rückgängig machen, die Schönheit wieder als überwiegend ethischen Charakters erscheinen las­ sen muß. »Das Schöne « sagt Kant, »ist das Symbol des Sittlichguten.« Es ist verständlich, daß diese Konzeption der Ästhetik unter den deutschen Aufklärern keinen Beifall finden konnte. Herder hat in seiner »Kalligone«, ofl mit falschen Argumenten, die Halbheit der Kantschen Argumentation bitter verspottet. Schiller selbst, sobald er die ästhetischen Probleme selb­ ständig durchzudenken begann, sah sofort die Unhaltbarkeit dieser teils starr formalistischen, teils inkonsequenten Konzeption Kants. In einem seiner so­ genannten »Kallias-Briefe« an Körner, in denen er den ersten Entwurf seiner Ästhetik in großen Zügen skizziert, gibt er eine ausgezeichnete Kritik der Kantschen Konzeption und zugleich einen Entwurf seiner weit über Kant hinausgehenden Lösung der Frage. In seinen späteren Ausführungen bleibt dann Schiller weit hinter diesem ersten Entwurf zurück. Denn die Kantsche Fragestellung mit allen ihren Einseitigkeiten und Inkonsequenzen hängt so eng mit seiner ganzen Erkenntnistheorie zusammen, daß Schiller seine rich­ tigen Einwände und über Kant hinausgehenden Entwürfe nur dann hätte realisieren können, wenn er zugleich zu einer Kritik der Kantschen Erkennt­ nistheorie, zu einer erkenntnistheoretischen Überwindung von Kants s ubjek­ tivem I dealismus weitergegangen wäre. Wegen der sehr großen Wichtigkeit

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dieser Ausführungen müssen wir diesen Teil der Briefe vollständig zitieren. »Es ist interessant zu bemerken, daß meine Theorie eine vierte mögliche Form ist, das Schöne zu erklären. Entweder man erklärt es objektiv oder subjektiv ; und zwar entweder sinnlich-subjektiv (wie Burke und andere) , oder subjektiv-rational (wie K ant), oder objektiv-rational (wie Baumgarten, Mendelssohn und die ganze Schar der Vollkommenheitsmänner), oder end­ lich sinnlich-objektiv : ein Terminus, wobei Du Dir freilich jetzt noch nicht viel wirst denken können, außer wenn Du die drei anderen Formen mit­ einander vergleichst. Jede dieser nahegehenden Theorien hat einen Teil der Wahrheit ; und der Fehler scheint bloß der zu sein, daß man diesen Teil der Schönheit, der damit übereinstimmt, für die Schönheit selbst genommen hat. Der Burkianer hat gegen den Wolfianer vollkommen recht, daß er die Un­ mittelbarkeit des Schönen, seine Unabhängigkeit von Begriffen behauptet ; aber er hat unrecht gegen die Kantianer, daß er es in die bloße Affektibilität der Sinnlichkeit setzt. Der Umstand, daß bei weitem die meiste Schönheit der Erfahrung, die ihnen in Gedanken schweben, keine völlig freie Schönheiten, sondern logische Wesen sind, die unter dem Begriff eines Zweckes stehen, wie alle Kunstwerke und die m eisten Schönheiten der Natur, dieser Umstand scheint alle, welche die Schönheit in eine anschauliche Vollkommenheit set­ zen, irregeführt zu haben ; denn nun wurde das logisch Gute mit dem Schö­ nen verwechselt. Kant will diesen Knoten dadurch zerhauen, daß er eine pulchritudo vaga und fixa, eine freie und intellektuierte Schönheit annimmt; und er behauptet, etwas sonderbar, daß jede Schönheit, die unter dem Be­ griffe eines Zweckes steht, keine reine Schönheit sei : daß also eine Arabeske und was ihr ähnlich ist, als Schönheit betrachtet, reiner sei, als die höchste Schönheit des Menschen. Ich finde, daß seine Bemerkung den großen Nutzen haben kann, das Logische von dem 2\sthetischen zu scheiden, aber eigentlich scheint sie mir doch den Begriff der Schönheit völlig zu verfehlen. Denn eben dadurch zeigt sich die Schönheit in ihrem höchsten Glanze, wenn sie die logische Natur ihres Objektes überwindet ; und wie kann sie überwinden, wo kein Widerstand ist? Wie kann sie dem völlig farblosen Stoff ihre Form erteilen ? Ich bin wenigstens überzeugt, daß die Schönheit nur die Form einer Form ist, und daß das, was man ihren Stoff nennt, schlechterdings ein ge­ formter Stoff sein muß. Die Vollkommenheit ist die Form eines Stoffes, die Schönheit hingegen ist die Form dieser Vollkommenheit : die sich also gegen die Schönheit wie der Stoff zu der Form verhält. « Wir mußten dieses lange Zitat anführen, denn dies ist die entscheidende Stelle, in der die Kritik Schillers an der Kantschen 2\sthetik, sein Hinaus-

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gehen über sie am klarsten zum Ausdruck kommt. Es ist außerordentlich charakteristisch, daß Schiller hier mit dürren Worten Kant unter die Sub­ j ektivisten einreiht, während er sein eigenes Programm der Ästhetik als objektives aufstellt. Diese Kritik wird noch dadurch unterstrichen, daß in der Klassifizierung früherer Systeme Schiller Kant zu den Rationalisten zählt, während er seine eigene, objektiv gemeinte Konzeption als eine sinnlich­ objektive bezeichnet. (Ich muß dabei wieder auf die früheren Bemerkungen hinweisen, wo von der Hinwendung zum Sensualismus bei dem Übergang vom subjektiven Idealismus zum objektiven die Rede gewesen ist.) Von diesem Ausgangspunkt aus verwirft nun Schiller den Formalismus Kants in der Frage der reinen und der anhängenden Schönheit. Auch hier untersucht er nicht die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser ästhetischen Theorie Kants und sieht darum nicht, daß von diesen Voraussetzungen aus (die auch die seinen sind), nämlich bei Verwerfung der Erkennbarkeit der Dinge an sich, die Kantschen Konsequenzen notwendig folgen. Er entwirft also auf schwankender, widerspruchsvoller erkenntnistheoretischer Grundlage die kühne Konzeption einer objektiv-idealistischen Ästhetik. Die Schönheit ist für ihn bereits die Schönheit des realen, konkreten Gegenstandes, sie tritt nicht in einer äußerlich hinzugefügten Weise zur Gegenständlichkeit des Objektes hinzu, wie b ei Kant, sondern ist eine neue Formung des bereits gegenständlich existierenden, also bereits geformten Gegenstandes ; sie schwebt nicht rätselhaft über dem Gegenstand, sondern ist eine neue Eigen­ schaft des Gegenstandes selbst, die dialektisch aus ihm selbst, aus der Dia­ lektik der nunmehr zum Stoff gewordenen Form der Gegenständlichkeit und der neuen, der ästhetischen Form folgt. Damit hat Schiller einerseits die Asthetik aus der formalistischen Sackgasse, in die sie Kant hineingeführt hat, herausgerissen, andererseits hat er damit das aktive, tätige Prinzip der ästhetischen Formung über Kant hinausgeführt. Denn das ästhetische Prin­ zip ist bei Kant selbst nur dort wirklich aktiv, wo es gewissermaßen ins Leere, ins Nichts hineinarbeitet und aus einem formlosen Stoff die reine Schönheit herausholt. Während bei Schiller die Schönheit aus dem Gehalt, aus dem Objekt selbst herausgearbeitet werden soll, womit er zum ersten­ mal entschieden jenen Weg betritt, der zur objektiv-idealistischen Ästhetik Schellings und Hegels führt. Allerdings bleibt die inkonsequente erkenntnistheoretische Begründung die Achillesferse der ganzen Konzeption. Es ist kein lapsus linguae, sondern die konsequente Anwendung der Kantschen Erkenntnistheorie, wenn Schiller die Gegenständlichkeit des Objektes eine logische Gegenständlichkeit nennt.

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Denn hier übernimmt er kritiklos die Kantsche Konzeption von dem an sich formlosen Stoff der Sinneswahrnehmungen, aus denen die apriorischen Kate­ gorien der erkennenden Vernunft erst geformte Gegenstände schaffen. Er unternimmt also den unmöglichen Versuch, auf Grundlage einer subjektiv­ idealistischen Erkenntnistheorie, einer subjektiv-idealistischen Auffassung der Gegenständlichkeit der Objekte, eine objektivistische Theorie der ästheti­ schen Formung aufzubauen. Die w iderspruchsvolle Grundlage dieses Versuchs liegt darin, daß Schiller einerseits als »naiver« Mensch, als Künstler, und andererseits als Erkenntnis­ theoretiker mit zwei einander ausschließenden Konzeptionen der Gegen­ ständlichkeit der Außenwelt arbeitet. Als Asthetiker stellt er sich die - un­ mögliche - Aufgabe, diese beiden Konzeptionen miteinander gedanklich in Einklang zu bringen. In der ersten Hinsicht betrachtet er die Außenwelt »naiv« als unabhängig vom Bewußtsein existierend, also auch nicht als vom Bewußtsein geformt. In diesem Fall hat der Künstler das den Gegenständen selbst i nnewohnende Wesen zu erforschen, aus ihren eigenen Formen die künstlerisch wichtigen Züge herauszuholen, mit Hilfe der Aktivität und Selbsttätigkeit des künstlerischen Formens ihre wesentlichen Züge so abzu­ bilden, daß sie an Bedeutsamkeit ihr Vorbild übertreffen sollen. In zweiter Hinsicht ist jedoch für Schiller die sinnliche Außenwelt etwas an sich Form­ loses. Nur das Bewußtsein verleiht ihr überhaupt Formen. Diese Formen können aber - nach den Kantschen Voraussetzungen - nur die der Logik oder der Ethik sein. Gerade jene Formen also, von deren Oberherrschaft Kant selbst die Asthetik befreien wollte, in deren Oberherrschaft (»Voll­ kommenheit«) Kant das Falsche der Aufklärungsästhetik erblickt hat. Schil­ ler erkannte, wie wir gesehen haben, das Unzulängliche an Kants Versuch. Er reiht ihn unter die Subjektivisten und Rationalisten ein und will ihm gegenüber eine Asthetik der sinnlichen Objektivität - eine Asthetik, die der wirklichen Praxis der echten Künstler entspricht - begründen. Er sieht aber nicht, daß die Probleme der s innlichen Objektivität der Kunst sich nur auf der Gru ndlage des philosophischen Materialismus, auf der Grundlage der Anerkennung der Unabhängigkeit der Gegenstände vom menschlichen Be­ wußtsein konsequent lösen lassen. Trotz dieser Unlösbarkeit des Problems von seinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aus, hat Schiller damit die Asthetik doch weit über die Aufklärung und Kant hinausgeführt. Der Widerspruch zwischen mechanischer Nachahmung von etwas bereits Ge­ formtem und künstlerischer Aktivität, also Autonomie der Asthetik, ist auch bei ihm vorhanden, aber auf wesentlich höherem Niveau als in der Aufklä-

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik rung und bei Kant. Schiller ist also mit der bei ihm freilich sehr wider­ sprud1svollen Konzeption der sinnlichen Objektivität hart an die Schwelle der richtigen Fragestellung gelangt. Schelling und Hegel konnten ihre Auf­ gabe darum - innerhalb der Schranken, die hier jedem Idealismus, auch dem objektiven, gezogen sind - viel konsequenter lösen, weil für sie die Gegen­ ständlichkeit der Objekte etwas Objektives war, weil sie die Kantsche Tren­ nung von Ding an sich und subjektiver Erscheinungsform verworfen haben, wenn auch freilich in einer idealistisch mystifizierten Weise, indem diese objektive Gegenständlichkeit bei ihnen eine Manifestation des Geistes (Hegel) gewesen ist. Darum müssen bei ihnen, wenn auch auf höherer Stu fe, die­ selben idealistisch unlösbaren Fragen auftauchen wie bei Schiller. Dieser Widerspruch in der erkenntnistheoretischen Untermauerung seiner Konzeption einer objektiv-idealistisd1en, über den Kantschen Formalismus hinausgehenden Ästhetik hindert Schiller daran, seine Konzeption konkret durchzuführen. Indem er nämlich in j edem konkreten Fall, wo er die Be­ ziehung von ästhetischer Form und Wirklichkeit behandelt, die sinnliche Wirklichkeit im Kantschen Sinne als etwas Formloses auffaßt, ist er immer wieder gezwungen, zu den Kantschen agnostizistischen und formalistischen Folgerungen zurückzukehren. So sagt er an einer entscheidenden Stelle der »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen «, wo er die Beziehung von Person und Welt analysiert, folgendes : » Solange er (der Mensch G. L.) bloß empfindet, bloß begehrt und aus bloßer Begierde wirkt, ist er noch nichts weiter als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen . . . Um also nicht bloß Welt zu sein, muß er der Materie Form erteilen . . . « Und in den » Zerstreuten Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände« führt er aus : »Das Gute, kann man sagen, gefällt durch die bloße vernunfigemäße Form, das Schöne durch ver­ nunfiähnliche Form, das Angenehme durch gar keine Form . « Durch diese kritiklose Annahme der Kantschen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen wird Schiller in einzelnen Fällen zu ganz ähnlichen absurd-formalistischen Formulierungen getrieben, wie sie uns bereits bei Kant b egegneten. Schiller will z. B. im Aufsatz »Über Anmut und Würde« den rein ästhetischen Cha­ rakter der menschlichen Schönheit begreifen. Er kommt dabei zu denselben Schwierigkeiten, auf die Kant in der Frage der freien und anhängenden Schönheit gestoßen ist, und die Schiller früher, in dem von uns zitierten Brief, bereits gedanklich zu überwinden im Begriffe war. Um die menschliche Gestalt als reine Schönheit darzustellen, eliminiert er aus ihr, als bloß be­ grifflich, zweckmäßig usw., jeden Inhalt. Er sagt : »Ob also gleich die archi-

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tektonische Schönheit des menschlichen Baues durch den Begriff, der dem­ selben zugrunde liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtigt, so isoliert doch das ästhetische Urteil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts, als was der Erscheinung unmittelbar und eigen­ tümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen. « Die energische Betonung des Erscheinungscharakters, der sinnlichen Unmittel­ barkeit der Kunst gehört auch hier zu den Verdiensten der Schillerschen Asthetik im Kampf für die Eigenart des ästhetischen Gebietes, für die schöp­ ferische Aktivität der ästhetischen Tätigkeit. Die Kantsche Erkenntnistheorie zwingt Schiller jedoch, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, zwischen Erschei­ nung und Wesen eine undurchsichtige und unübersteigbare Mauer zu er­ richten. Und aus dieser Konzeption heraus muß die reine Erscheinung der Schönheit in einen absurd entl eerten, grotesken Formalismus entarten. Denn Schiller schließt diese seine Analyse mit folgender Paradoxie ab : »Gesetzt aber, man könnte bei einer schönen Mensmengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt ; man könnte ihr, ohne sie in der Ersmeinung zu ver­ ändern , den rohen Instinkt eines Tigers untersmieben, so würde das Urteil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären. « Man glaube nicht, daß es sich hier nur u m eine vereinzelte, absurd-paradoxe Formulierung handelt. Im Gegenteil. Die von Kant übernommenen erkennt­ nistheoretischen Voraussetzungen spielen überall störend, die von Schiller intiierte Vorwärtsbewegung der ästhetismen Theorie und Praxis hemmend in seine Schriften hinein. So wird z. B. Schiller in seinem Aufsatz »über das Erhabene« dazu getrieben, die ganze menschliche Gesmichte agnostizistisch aufzufassen und gerade den Agnostizismus zur erkenntnistheoretischen Grundlage der Theorie des Erhabenen zu machen. »Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von Limt und Erkenntnis - wie sehr findet man sim da getäuscht ! . . . Wie ganz anders, wenn man darauf resigniert, sie zu erklären, und diese ihre Unbegreiflichkeit selbst zum Stand­ punkt der Beurteilung macht ! « Wir wollen die verwirrenden Konsequenzen dieses Zwiespalts zwischen Schillers Streben nach einer objektiv-idealistischen Asthetik und seinen von Kant übernommenen erkenntnistheoretischen Grundlagen an einem Beispiel erörtern, das für seine dramatische Theorie und Praxis von ausschlaggeben­ der Bedeutung ist. Es handelt sich um die Frage des dramatischen Konflikts. Solange Schiller als stoisch-i dealistischer Revolutionär gegen die feudal-abso­ lutistische Gesellschaft Deutschlands gekämpft hat, war es für ihn selbstver-

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik ständlich, den Feind als Inbegriff der gesellschaftlich-moralischen Verdorben­ heit und Verkommenheit darzustellen. Aber bereits seine Schaffenskrise in der Periode des »Don Carlos « hängt wesentlich damit zusammen, daß Schil­ ler bestrebt war, die subjektive Berechtigung beider kämpfenden Parteien dramatisch zu gestalten (König Philipp, der Großinquisitor) . Diese Entwick­ lung Schillers ist natürlich durch seine Abwendung von seinen revolutionären Jugendidealen bestimmt. Man darf aber nicht übersehen, daß diese Ent­ wicklung auch eine andere Seite hat, daß sie zugleich eine bedeutende Vor­ wärtsentwicklung darstellt. Schiller strebt hier eine umfassende und unbe­ fangene Gesamtbetrachtung der menschlichen Gesellschaft in ihrer Bewegung an, in der die verschiedenen kämpfenden Mächte - unbeschadet der Stel­ lungnahme des Dichters zu ihnen - in ihrer geschichtlichen Notwendigkeit und darum in ihrer subjektiven Berechtigung gestaltet werden. Er geht also theoretisch in jene Richtung, die später in Hegels Theorie des Tragischen ihren Gipfelpunkt erreicht, die schöpferisch-praktisch in den Schriften der großen Realisten zum Ausdruck kommt. Diese Konzeption des Dramatischen widerstreitet jedoch den erkenntnis­ theoretischen Voraussetzungen Kants und dem aus diesen konsequent fol­ genden formalistischen Aufbau der Ethik. Da für Kant die formlose, der Vernunfl: völlig bare Sinnenwelt in ausschließender Entgegensetzung der praktischen VernunA: und ihren Formen gegenübersteht, gibt es b ei Kant nur einen Konflikt : den zwischen den Forderungen des kategorischen Impe­ rativs und zwischen den widerstrebenden sinnlichen Neigungen des empiri­ schen Menschen. Ein dialektischer Widerstreit zwischen den Forderungen der praktischen VernunA: selbst, ein Konflikt der Pflichten ist für Kant des­ halb prinzipiell unmöglich. Kant spricht sich darüber mit der brutalen Klar­ heit des bedeutenden Denkers aus : »Ein Widerstreit der Pflichten . . . würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe. - Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Hand­ lungen ausdrücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig : so ist eine Kollision von Pflichten und Ver­ bindlichkeiten gar nicht denkbar. « Schiller akzeptiert diese Grundlage der Kantschen Ethik ohne Widerspruch, ohne Kritik. Er führt in »Anmut und Würde« ganz im Kantschen Sinne aus : »Die Gesetzgebung der Natur durch den Trieb kann mit der Gesetzgebung der VernunA: aus Prinzipien in Streit

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geraten, wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fordert, die dem moralischen Grundsatz zuwiderläuft. In diesem Fall ist es unwandel­ bare Pflicht für den Willen, die Forderung der Natur dem Anspruch der Vernunft nachzusetzen . . . « Die eigene dramatische Praxis und die damit verbundene Analyse der Mei­ sterwerke der tragischen Kunst treiben Schiller über diesen eng formali­ stischen Standpunkt hinaus. Er analysiert in seiner Abhandlung »Über die tragische Kunst« die verschiedenen Möglichkeiten des tragischen Konfliktes und kommt zu dem Ergebnis, daß die höchste Form des Tragischen dort zu finden sei, »Wo die Ursache des Unglücks nicht allein nicht der Moralität widersprechend, sondern sogar durch Moralität allein möglich ist . . . Von dieser Art ist die Situation Ximenens und Roderichs im Cid des Peter Cor­ neille ; unstreitig, was die Verwicklung betrifft, dem Meisterstück der tragi­ schen Bühne. Ehrliebe und Kindespflicht bewaffnen Roderichs Hand gegen den Vater seiner Geliebten, und Tapferkeit macht ihn zum Überwinder des­ selben ; Ehrliebe und Kindespflicht erwecken in Ximenen, der Tochter des Erschlagenen, eine furchtbare Anklägerin und Verfolgerin. Beide handeln ihrer Neigung entgegen, welche vor dem Unglück d es verfolgten Gegen­ standes ebenso ängstlich zittern, als eifrig sie die moralische Pflicht macht, dieses Unglück herbeizurufen« . Es ist klar, daß Schiller als den höchsten tragischen Vorzug des »Cid« von Corneille gerade den Konflikt der Pflich­ ten betrachtet. Und ganz ähnlich analysiert er den Konflikt in Shakespeares »Coriolan« in dem Aufsatz »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen « . Die diametrale Gegensätzlichkeit dieser Auffassung des Tragischen und mit ihm des Konflikts der Pflichten zu der Kantschen Ethik ist offensichtlich. Und diese Gegensätzlichkeit geht durch die ganze Schillersche ästhetische Theorie und Praxis hindurch. (Ich verweise nur noch, im engsten Zusammenhang mit dem hier behandelten Fragenkomplex, auf die Frage der Gestaltung des Verbrechers in der Dichtung, ein Problem, das Schiller von früher Jugend an ununterbrochen b eschäftigte, und für das er niemals eine befriedigende Lösung finden konnte.) Diese Tendenz Schillers tritt b ereits aus jeder Analyse seiner Jugenddramen klar hervor. Er hat in dieser P eriode das Problem des Verbrechers auch in einer größeren Erzählung ( »Der Verbrecher aus verlorener Ehre«) behandelt. Die Frage beschäftigte ihn sein ganzes Leben lang, ohne daß er eine auch ihn selbst b efriedigende Lösung gefunden hätte. Dies ist kein Zufall ; weder die unausgesetzte Beschäftigung mit dieser Frage, noch die Unmöglichkeit, sie

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richtig zu beantworten. Denn die Frage des Verbrechers ist eine wichtige Widerspiegelung der dialektischen Widersprüche der bürgerlichen Gesell­ schaft. Erstens der Notwendigkeit für den Kapitalismus, die schlechtesten Instinkte der Menschen zu entfesseln und diese Instinkte zugleich in eine fü r den Kapitalismus vorteilhafte Bahn zu lenken (Hobbes und Mandeville haben diesen Widerspruch am offensten und klarsten ausgesprochen). Zwei­ tens handelt es sich um die ebenfalls mit den gesellschaftlichen Grundlagen des Kapitalismus unlösbar verknüpfte Lage, daß Gesetze und Moral Hand­ lungen notwendig verbieten, die vom Kapitalismus selbst stets ebenso not­ wendig wieder und wieder produziert werden. Das Heuchlerische, das in jeder Institution des Kapitalismus unvermeidlich enthalten ist, hat Marx scharf kritisiert : »Der Bourgeois verhält sich zu den Institutionen seines Regimes wie der Jude zum Gesetz ; er umgeht sie, so oft es tunlich ist in jedem einzelnen Fall, aber er will, daß alle anderen sie halten sollen. « Aber der von hier aus entspringende Widerspruch erzeugt nicht bloß diese Heu­ chelei, sondern zugleich auch das schuldlos Schuldigwerden sowohl bei den passiven Opfern des kapitalistischen Systems, wie bei jenen, die instinktiv gegen diese dem Kapitalismus innewohnende Heuchelei rebellieren. Goethes Harfenspieler aus dem »Wilhelm Meister« verleiht dem ersten Fall einen ergreifenden dichterischen Ausdruck, wenn er die »himmlischen Mächte« so anredet : » Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden, Und überläßt ihn dann der Pein : Denn alle Schuld rächt sich auf Erden. « Den zweiten Fall können wir in Schillers erwähnter Jugendnovelle o der i n Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas « sehen. Drittens läßt der wider­ spruchsvolle Charakter der kapitalistischen Gesellschaft, ja der Klassenge­ sellschaft überhaupt, jene Tendenzen, die die gesellschaftliche Entwicklung in fortschrittlicher Richtung weitertreiben, als Böses, als Verbrechen erschei­ nen. Die Erkenntnis dieses Zusammenhanges sieht Engels als Verdienst Hegels an : »Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung sich darstellt. « Die große Umwälzungsperiode an der Wende des 1 8 . und 1 9. Jahrhunderts war besonders geeignet, diese Tatsachen den Dichtern und Denkern als Themen geradezu aufzuzwingen. Die philosophische Erklärung oder die dichterische Gestaltung dieser Wider­ sprüche setzt freilich eine ziemlich hohe Einsicht in ihr Wesen voraus .

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Der Widerspruch in Schiller kommt hier darin zum Ausdruck, daß er einer­ seits leidenschaftlich von diesem Problemkomplex angezogen wird, daß es ihm aber andererseits nicht gelingt, zu befriedigenden Lösungen zu gelangen. Das ideologische Haupthindernis ist auch hier die Kantschc Philosophie. Wie wir gesehen haben, leugnet Kant die Möglichkeit eines ethischen Konflikts und damit selbst eine idealistische Dialektik auf dem Gebiet der Moral. Sogar dort, wo diese Dialektik ganz offenkundig ist, zum Beispiel in der Frage, ob der Führer einer siegreichen Revolution (Schweiz, Niederlande, England sind die Beispiele Kants) noch als Hochverräter zu beurteilen ist, bleibt er dem P rinzip der formalistischen Allgemeingültigkeit der ethischen Prinzipien treu. Wenn diese Revolutionen mißlungen wären - sagt Kant -, so hätte man in der Hinrichtung ihrer Urheber » nichts als verdiente Strafe großer Staatsverbrecher« gesehen. Daß man sie jetzt anders beurteilt, hätte bloß empirisch-faktische, nicht vernunflmäßig-ethische Gründe. »Denn der Aus­ gang mischt sich gewöhnlich in unsere Beurteilung der Rechtsgründe, obzwar jener u ngewiß war, diese aber gewiß sind.« Freilich bestreitet dann Kant konsequent in seiner formalistischen Inkonsequenz - auch die Rechtmäßig­ keit der Restauration einer durch Revolution (also nach Kant : unrechtmäßig) umgewälzten Staatsform als moralisch unzulässig. Der kategorische I mperativ hat im System Kants vor allem die Funktion, diese Widersprüche des gesellschafllichen Lebens aufzulösen. Die von Kant geforderte Möglichkeit, Motiv und Ziel des individuellen Handelns als all­ gemeines Gesetz, als Maxime für jede Handlung wünschen zu können, worin Kant das Kriterium des moralischen Charakters sieht, will gerade alle jene Handlungen aus dem Reich der Moral ausschließen, die in dieser Hinsicht einen Widerspruch in sich bergen. Damit aber wird das Reich der Moral auf einen engherzigen liberalen Legalismus eingeschränkt. Und so sehr Schiller im laufe seiner Entwicklung, ebenso wie Kant, zu einem Verwerfen der revolutionären Umwälzung gelangt, läßt sich sein Weltbild doch nicht in diesen Rahmen pressen. Wir haben bereits erwähnt, daß Schiller sogar offen gegen die Enge der Kantschen Ethik aufgetreten ist, freilich ohne ihre prin­ zipielle Schranke wirklich durchbrochen zu haben. Daß Schiller auch in dieser Frage dieselbe Halbheit in seiner Stellungnahme zu Kant zeigt wie auf ande­ ren Gebieten, hat hier zur Konsequenz, daß er zwar als Dichter zum Thema des Verbrechers (in dem eben angezeigten weitesten Sinne) hingezogen bleibt, daß aber die Durchführung seiner Themen stets von der Enge, von der un­ dialektischen Starrheit, von dem Hyperidealismus der Kantschen Ethik durchkreuzt wird. Er schafft zwar - sehr im Gegensatz zu Kant - auch

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik revolutionäre Helden. Der Held seiner späteren Periode, Wilhelm Tell, wäre ja nach der Kantschen Konzeption ein Hochverräter, ebenso wie jene Hel­ den und Heldinnen seiner späteren Dramen, die einen legalen status quo umwälzen oder umzuwälzen trachten (Wallenstein, die Jungfrau von Or­ leans, Demetrius usw. ). Und es muß, bei allen Schwächen dieser Dramen, betont werden, daß Schiller überall über die Kantsche Konzeption hinaus­ zugehen versucht, in »Wilhelm Tell« den Rebellen sogar siegen und nicht im tragischen Konflikt untergehen läßt. Aber eine wirkliche Gestaltung der rea­ len Widersprüche bleibt Schiller auch hier versagt. Er baut seine Konflikte trotz einer teilweisen Befreiung von Kant doch auf ein apriorisches Gleich­ gewicht von Schuld und Sühne, doch auf eine weitherziger gefaßte, im wesentlichen aber der Kantschen verwandten Moral auf. Der Ausweg, den Schiller dabei aus den Widersprüchen seines Standpunktes finden will, ist deshalb nur ein scheinbarer: die Ästhetisierung des » Verbre­ chers « , die Verherrlichung jener Kraft, Kühnheit und Entschlossenheit, die sich bei solchen, inhaltlich der Moral widersprechenden Handlungen äußert. Er ersetzt also den ethischen Formalismus durch den ästhetischen. Dabei ist allerdings zu bemerken, daß dieser ästhetische Formalismus nicht nur weni­ ger eng ist als der kantisch-ethische, sondern dem Wesen nach auch weniger formalistisch. Denn dadurch, daß er die große Leidenschaft - man könnte sagen : unabhängig von Motiv, Ziel und Inhalt - in den Mittelpunkt stellt, schafft er eine freiere Bahn für die Gestaltung jenes Wechselspiels von Lei­ denschaften, aus denen später Hegel mit Hilfe der Kategorie der »List der Vernunft« seine Geschichtsphilosophie aufbaut, und deren tiefe Gestaltung später die Grundlage des großen Realismus der Balzac und Stendhal wird. Die Befreiung von der Schranke des engen Moralismus hängt aber dabei . von dem Grad der Einsicht ab, durch die Inhalt und Ziel dieser Leidenschaft mit den großen Fragen von Gesellschaft und Geschichte verknüpft werden. Je höher diese Einsicht ist, desto mehr wird die ästhetische Bewertung der Leidenschaften (unabhängig von ihrem moralischen Inhalt) nur ein Durch­ gangspunkt zu dem Versuch sein, die realen Widersprüche der kapitalisti­ schen Gesellschaft denkerisch oder dichterisch zu bewältigen ; wenn diese Bewältigung auch mit » falschem Bewußtsein« , also gedanklich unvollständig, ja oft verzerrt geschieht. Je geringer diese Einsicht ist, desto größer ist die Gefahr der Verselbständigung des Ästhetischen : einer Richtung, die, von der romantischen Verherrlichung der Leidenschaft als solcher angefangen, eine große und später immer verhängnisvollere Rolle in der Ideologie des 1 9 . Jahrhunderts spielt. Die Befreiung von den Schranken der engen Spieß-

Zur Ästhetik Schillers bürgermoral schlägt in eine dekadente Verherrlichung des fü.rbarentums, in eine Barbarisierung der Vergangen heit und Gegenwart um (Auffassung der Antike und Renaissance bei Nietzsche, aber schon bei J acob Burckhardt) . Schiller ist in dieser Hinsicht ein Vorläufer sowohl der Romantik wie Hegels. Mit der ästhetischen Auffassung der - verbrecherischen - Leidenschaft hilft er, die Grundlagen für die romantische Auffassung zu legen. Aber dieses ästhetische Prinzip ist bei Schiller nie so rein, wie es nach vereinzelten For­ mulierungen den Anschein hat. Das heißt, Schiller ist bestrebt, hinter jener » Unabhängigkeit « vom Inhalt, die der ästhetische Formalismus statuiert, einen neuen, tieferen Inhalt, eine tiefere Beziehung zu den allgemeinen Fra­ gen der Menschheit zu entdecken. Schon im Vorwort zu den » Räubern« schreibt er über Franz Moors Verbrechertum : »Diese unmoralischen Cha­ raktere . . . mußten von gewissen Seiten glänzen, ja oft von der Seite des Geistes gewinnen, was sie von seiten des Herzens verlieren. Hierin habe ich die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben. Jedem, auch dem Lasterhaften, ist gewissermaßen der Stempel des göttlichen Ebenbildes aufgedrückt, und vielleicht hat der große Bösewicht keinen so weiten Weg zum großen Recht­ schaffenen als der kleine. Denn die Moralität hält gleichen Gang mit den Kräften, und je weiter die Fähigkeit, desto weiter und ungeheurer die Ver­ irrung, desto imputabler ihre Verfälschung. « Diese sehr unklare, vom theo­ logischen Moralisieren nicht freie, aber dennoch über die engen Schranken des Moralisierens hinausstrebende Auffassung gewinnt bei Schiller im Laufe seiner Entwicklung eine wachsende Verknüpftheit mit den großen Proble­ men von Gesellschaft und Geschichte (»Don Carlos«, »Wallenstein« usw.) . E r i s t aber nicht imstande, auf diesem Wege so weit z u gehen wie Hegel oder Goethe. Er kann und will das Band zur Kantschen Ethik nicht ganz zerreißen. Er formalisiert also ästhetisch die verbrecherischen Leidenschaften, um von dort aus wieder eine Brücke zur Ethik in einem - von ihm erwei­ terten - Kantschen Sinne zu bauen. Er grenzt sich damit allerdings von den romantischen Konsequenzen des ästhetischen Formalismus ab. Zugleich aber muß er, wie wir später zeigen werden, die gesellschaftlich-geschichtliche Konkretion in seinen Dramen wieder moral istisch verengern. In seinen ästhetischen Schriften geht Schiller von diesem ästhetischen For­ malismus aus, indem er in der ästhetischen Kraft des Verbrechers eine grö­ ßere Freiheit dem bloß sinnlichen Sein des Menschen gegenüber feststellt, als in »Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen«. Er erblickt also in der Kraft des Verbrechers eine »Starke Außerung von Freiheit und Willenskraft« . In dieser Auffassung, die sich inhaltlich außerordentlich weit

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik von derjenigen Kants entfernt, kommt trotzdem der Kantianismus Schillers zum Ausdruck. Denn über alle diese widerspruchsvollen Umwege hindurch bestimmt er das Wesen des Tragischen letzten Endes ganz im Sinne der Kantschen Ethik. Er sagt in seiner Abhandlung »über das Pathetische« : »Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des übersinnlichen, und die tragi­ sche Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, daß sie uns die mora­ lische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht. Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich ; der Widerstand aber kann nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden. « Die Grundlage des tragischen Konfliktes redu­ ziert sich also bei Schiller auf die Formel Kants vom ewigen Konflikt des homo noumenon mit dem homo phänomenon, des Konflikts des Menschen - in seiner eigenen Brust - als Vernunftwesen mit sich selbst als Sinneswesen. Die Erklärung dieser Flucht zurück zu Kant von seinen eigenen viel groß­ artigeren Konzeption, dieses sich Anklammern an die seinen Flug theo­ retisch wie dichterisch hemmende Kantsche Ethik und Erkenntnistheorie er­ gibt sich wiederum aus Schillers Stellung zu den Problemen der Französischen Revolution. Schiller teilt mit seinen großen Zeitgenossen in Deutschland die Illusion einer Erfüllung der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Inhalte der bürgerlichen Revolution ohne die Notwendigkeit einer gewalt­ samen Umwälzung. Während aber Hegel die weltgeschichtliche Notwendig­ keit der Französischen Revolution niemals verleugnet und sie als integralen Bestandteil in seine Geschichtsphilosophie einbaut, wenn er sie auch für Deutschland als aufgehobenes Moment behandelt, blieb für den einstigen stoisch-idealistischen Revolutionär Schiller die Revolution selbst in seiner ganzen späteren Periode ein Schreckbild, gegen das er stets mit den schärf­ sten Waffen, mit der schärfsten Selbstkritik an der eigenen revolutionären Jugend ankämpfte. Er blieb in dieser Hinsicht stets in der Enge einer sub­ jektivistischen, kleinbürgerlichen Moralisiererei stecken und konnte sich nie­ mals zu der unbefangenen objektiven Höhe der objektiv gesellschaftlichen Auffassung und historischen Einsicht Hegels aufschwingen. Da nun das re­ volutionäre Handeln nicht nur das Zentralproblem der Geschichte seiner Gegenwart war, sondern auch das zentrale Thema seiner eigenen Jugend­ entwicklung, konnte er gerade für diesen - zentralen - Problemkomplex die gleiche Notwendigkeit der miteinander kämpfenden Richtungen nicht aner­ kennen. Gerade hier brauchte er die Stütze der Konfliktlosigkeit der Kant­ schen Ethik, teils um die realen Konflikte aus ihrer historischen Objektivität in eine subjektiv-ethische Sphäre hinüberzutragen und damit ihre objektive

Zur Ästhetik Schillers Spitze abzubrechen, teils um das revolutionäre Handeln in der Hierarchie der Pflichten so tief wie möglich herabzusetzen. So sagt er in der Abhandlung »über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen« über das revolutionäre Handeln : »Die sogenannten unvollkommenen Pflichten sind es vorzüglich, die das Schönheitsgefühl in Schutz nimmt und nicht selten gegen die vollkommenen behauptet. Da sie der Willkür des Subjekts weit mehr anheimstellen und zugleich einen Glanz von Verdienstlichkeit von sich wer­ fen, so empfehlen sie sich dem Geschmack ungleich mehr als die vollkom­ menen, die unbedingt mit strenger Nötigung gebieten . . . Wie viele gibt es nicht, die selbst vor einem Verbrechen nicht erschrecken, wenn ein löblicher Zweck dadurch zu erreichen steht, die ein Ideal politischer Glückseligkeit durch alle Greuel der Anarchie verfolgen, Gesetze in den Staub treten, um für bessere Platz zu machen, und kein Bedenken tragen, die gegenwärtige Generation dem Elende preiszugeben, um das Glück der nächstfolgenden dadurch zu befestigen. Die scheinbare Uneigennützigkeit gewisser Tugenden gibt ihnen einen Anstrich von Reinigkeit, der sie dreist genug macht, der Pflicht ins Angesicht zu trotzen, und manchem spielt seine Phantasie den seltsamsten Betrug, daß er über die Moralität noch hinaus und vernünftiger als die Vernunft selbst sein will. Der Mensch von verfeinertem Geschmack ist in diesem Stück einer sittlichen Verderbnis fähig, vor welcher der rohe Natur­ sohn, eben dadurch seine Rohheit, gesichert ist . « In dem anderen großen Fragenkomplex des Übergangs der Asthetik vom mechanischen Materialismus zum dialektischen Idealismus, in der Nach­ ahmungstheorie, nimmt Schiller ebenso eine Zwischenstellung zwischen Kant und Hegel ein, wie in der bisher behandelten Frage von subjektivistischem Formalismus und objektivistischer Gehaltsästhetik. Nur daß hier Schiller infolge der tiefen Verbundenheit seiner theoretischen Tendenzen mit seiner dichterischen Praxis weitergekommen ist und sich auf höherem Niveau in Widersprüche verwickelt hat als in den bisher behandelten Problemen. Lenin hebt in seiner Kritik des » metaphysischen Materialismus « hervor, daß »des­ sen Hauptübel in der Unfähigkeit besteht, die Dialektik auf die Bildertheorie, auf den Prozeß und auf die Entwicklung der Erkenntnis anzuwenden« . Diese Unfähigkeit äußert sich auf ästhetischem Gebiet in der mechanischen Auf­ fassung der Aufgabe der Kunst als Widerspiegelung der objektiven Wirk­ lichkeit. Die Asthetiker des mechanischen Materialismus gehen von der rich­ tigen Anschauung aus, daß unsere Sinneseindrücke Abbilder, Kopien, Photo­ graphien der Gegenstände der objektiven Wirklichkeit sind. Ihr Fehler liegt darin, daß sie hier stehenbleiben und nicht sehen, daß auch die Natur-

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erkenntnis stets über diese Unmittelbarkeit hinauszugehen hat. In ihrer Praxis gehen sie sehr oft viel weiter als in ihrer Erkenntnistheorie, ebenso wie sie in ihrer ki.instlerischen Praxis sehr oft viel dialektischer sind als in ihrer Ksthetik. Hier kommt es aber auf die Theorie der Ksthetik an. Lenin hebt diese Seite der Erkenntnistheorie mit großer Kraft und Klarheit hervor : »Die Erkenntnis ist die Widerspiegelung der Natur durch den Menschen. Aber das ist keine einfache, keine unmittelbare, keine totale Widerspiege­ lung, sondern der Prozeß einer Reihe von Abstraktionen, der Formulierun­ gen, der Bildung von Begriffen, Gesetzen etc., welche Begriffe, Gesetze etc . . . . auch bedingt, annähernd die universelle Gesetzmäßigkeit der sich ewig be­ wegenden und entwickelnden Natur umfassen. « Und an anderer Stelle : »Die Abstraktion der Materie, des Naturgesetzes, die Abstraktion des Wertes etc., mit einem Worte alle wissenschaftlichen (richtigen, ernstzunehmenden, nicht unsinnigen) Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, getreuer, voll­ ständiger wider. Vom lebendigen Anschauen zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität . « Indem nun die Grundströmung der Aufklärungsästhetik, der allgemeinen Erkenntnistheorie des metaphysischen Materialismus entsprechend, die Auf­ gabe der Kunst auf die unmittelbare Nachahmung der sinnlichen Wirklich­ keit reduzierte, beengte sie einerseits das Feld der Kunst, eliminierte aus der Theorie der Kunst das spezifisch künstlerische schöpferische Moment, ande­ rerseits verwickelte sie sich in unzählige Widersprüche, da die viel entwickel­ tere und höherstehende Praxis der Kunst der Aufklärungszeit doch eine theoretische Widerspiegelung in der Xsthetik finden mußte und die wert­ vollen Errungenschaften der Praxis in Widerspruch mit den starren erkennt­ nistheoretischen Voraussetzungen brachte. Der klassische Idealismus Deutschlands stellt sich auch hier die Aufgabe, das aktive, schöpferische Moment, das spezifisch künstlerische Prinzip ge­ danklich herauszuarbeiten. Aber gerade bei der Nachahmungstheorie be­ deutet für ihn der idealistische Ausgangspunkt eine unübersteigb are Schranke. Denn eine wirkliche gedankliche Oberwindung der mechanischen Nach­ ahmungstheorie ist nur möglich bei Anerkennung der Richtigkeit ihres Aus­ gangspunktes, bei einer tieferen, vollständigeren, konsequenter materialisti­ schen Auffassung von der Objektivität der Außenwelt in ihrer dialektischen Bewegung. Der klassische Idealismus Deutschlands in seinem Kampf gegen den mechanischen Materialismus richtete aber seinen Hauptangriff gerade gegen den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt dieser Weltanschauung, -

Zur Ästhetik Schillers gegen den Materialismus sel bst. Indem Kant jede Gegenständlichkeit als Produkt des erkennenden Subjekts auffaßt, indem er die Erkennbarkeit des Dinges an sich (des Gegenstandes unabhängig vom Bewußtsein) für unmög­ lich erklärt, indem er in den Sinneseindrücken (in der Affektion des Subjekts durch das Ding an sich) nur einen formlosen Stoff erblickt, dem erst die apriorischen Kategorien des erkennenden Subjekts eine Form aufprägen, eine Gegenständlichkeit verleihen, muß aus seiner Ästhetik, die auf Grundlage dieser Erkenntnistheorie entsteht, die ganze Nachahmungstheorie stillschwei­ gend entfernt werden. Die tiefgehenden Widersprüche, die daraus für die Kantsche Ästhetik entstehen, haben wir bei Behandlung der Frage der ästhe­ tischen Gegenständlichkeit, bei der Frage der reinen und anhängenden Schönheit bereits kurz gestreift. Hier muß nur so viel hervorgehoben werden, daß diese Konzeption der Kantschen Ästhetik, bei all ihrer Widersprüchlich­ keit, die Selbständigkeit des schöpferisch künstlerischen Prinzips zum ersten­ mal mit einem wirklichen Radikalismus formuliert. Kant bestimmt den zen­ tralen Begriff seiner Ästhetik, die ästhetische Idee als » diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend­ ein b estimmter Gedanke, das ist Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. - Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunfiidee sei, welche umge­ kehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungs­ kraft) adäquat sein kann. Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnis­ vermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt.« Es ist sehr leicht, die Künstlichkeit und die idealistisch-überschwengliche Aufblähung dieses Prin­ zips aufzuzeigen. Es ist ebenfalls nicht schwer zu zeigen, daß Kant dadurch, daß er einerseits die gegenständliche Wirklichkeit als Produkt der Vernunft (Begriff) auffaßt, andererseits Vernunft und Einbildungskraft starr und mechanisch voneinander trennt, zu leeren und absurden Konsequenzen ge­ langen muß. Es ist aber ebenfalls klar, daß er dabei, wenn auch in über­ schwenglicher und überspannter Form, den Weg zur Erkenntnis der Selb­ ständigkeit und Aktivität der künstlerischen Phantasie betritt und auf diese Weise wirklich einen Schritt vorwärts über die Nachahmungstheorie des mechanischen Materialismus macht. Es handelt sich in der schöpferischen Tätigkeit in der Tat um die »Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt«, freilich mit dem entscheidenden Zusatz, daß diese » gleichsam andere Natur« eine dialektische Widerspie­ gelung der objektiven Wirklichkeit sein muß.

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Der Gedanke der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist bei Kant subjektivistisch verzerrt und idealistisch auf den Kopf gestellt. Trotzdem ist aber in dieser seiner Konzeption die widerspiegelnde Annäherung an das Wesen der Wirklichkeit durch das Denken und die Kunst enthalten, mit der sehr wichtigen Betonung der aktiven Rolle des Subjekts bei der Wider­ spiegelung gerade des Wesentlichen. Dabei ist auch noch eine Ahnung der objektiven Grundlage der Notwendigkeit dieser aktiven Rolle des Subjekts vorhanden, indem Kant die Diskrepanz zwischen Erscheinungsform des Wesens und zwischen den Mitteln für die bewußtseinsmäßige Widerspiege­ lung (Denken, Kunst) hervorhebt. Selbstverständlich sind diese o bjektiven Bedingungen in Kants Konzeption ebenfalls subjektivisiert und in starrer Ausschließung einander gegenübergestellt. An die Stelle der einheitlichen, nur verschiedenartig widergespiegelten objektiven Wirklichkeit treten die subjektiven und schroff, übergangslos voneinander getrennten » Ideen « . Dar­ um verzerrt sich in dieser Auffassung sowohl die richtig geahnte Grundlage der Selbständigkeit der Kunst (ausschließender Gegensatz von Begriff und Anschauung) wie das Hinausgehen über die mechanische Nachahmungs­ theorie. Das wirkliche, objektive Vorbild der »gleichsam anderen Natur« verflüchtigt sich zu einem subjektiven Hirngespinst. Es ist für die ganze Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie und Dichtung charakteristisch, daß in ihr diese Selbsttätigkeit und Selbständig­ keit der künstlerischen Phantasie stets überbetont wird. Nicht nur wegen des zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Idealismus - hier liegt frei­ lich der Hauptgrund -, sondern auch wegen der scharfen Polemik gegen die Nachahmungstheorie des mechanischen Materialismus. In diesem scharf polemischen Herausarbeiten der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der künstlerischen Prinzipien mußten selbst Schriftsteller, die weit vom Kant­ schen subjektiven Idealismus standen, diese Selbständigkeit und Selbsttätig­ keit bis zur Paradoxie, bis zum einseitigen Hinausschießen über das Ziel betonen. So behandelt Hegel in seiner Asthetik die Nachahmung der Natur fast als eine rein technische untergeordnete » Geschicklichkeit« . Und betont dabei die technische Virtuosität so übertrieben, daß nach seiner Auffassung in der Nachahmung als Prinzip »der Gegenstand und der Inhalt des Schönen als das ganz Gleichgültige angesehen« wird. »Denn es handelt sich sodann nicht mehr darum, wie das beschaffen sei, was nachgebildet werden soll, sondern nur darum, daß es richtig nachgeahmt werde. « Und Goethe kommt in seinen polemischen Bemerkungen zu Diderots »Versuch über die Malerei « z u der eingestandenermaßen paradoxen Formulierung : » Der Künstler soll

Zur Ästhetik Schillers nicht so wahr, so gewissenhaft gegen die Natur, er soll gewissenhaft gegen die Kunst sein . Durch die treueste Nachahmung der Natur entsteht noch kein Kunstwerk. Aber in einem Kunstwerk kann fast alle Natur erloschen sein, und es kann noch immer Lob verdienen. « Freilich liegt das Wesentliche und Richtige der klassischen deutschen .i\sthe­ tik nicht in solchen überspitzten und idealistischen Paradoxien, sondern dar­ in, daß sie, über die unmittelbare Nachahmung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit hinausgehend, eine Theorie der künstlerischen Abbildung des Wesens und der Gesetzlichkeit der Erscheinungen angestrebt hatte. Daß sie also den Versuch unternahm, der mechanischen Nachahmungstheorie eine dialektische Theorie der künstlerischen Abbildung gegenüberzustellen. Dieser Versuch, über den mechanischen Materialismus hinauszugehen, zeigt die großen Errungenschaften und zugleich die Grenzen des objektiven Idea­ lismus. (Das eben zitierte schroff ablehnende Urteil über die mechanische Abbildung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit ist keineswegs eine bloß zufällig überspitzte Formulierung.) Der objektive Idealismus der klassischen Periode geht einerseits über Kant gerade darin hinaus, daß er jenes Wesent­ liche, auf welches sich sowohl Erkenntnis wie Kunst zu richten haben, dessen Abbildung durch das Bewußtsein ihre Aufgabe ist, als etwas Objektives be­ stimmt. Andererseits versucht er, den mechanischen Materialismus dadurch zu überwin den, daß er den tiefgehenden Unterschied zwischen Erscheinung und Wesen aufzeigt. So stark auch Goethe und insbesondere Hegel den dia­ lektischen Zusammenhang zwischen Erscheinung und Wesen herausarbeiten, liegt in ihrer Kunsttheorie - zum Teil infolge der Polemik gegen den mecha­ nischen Materialismus - der Akzent auf der Betonung des Unterschiedes, ja der Kluft zwischen ihnen. Aber nur teilweise in folge dieser Polemik. Denn für den objektiven I dealismus ist dieses, als Objektives aufgefaßte Wesen etwas Geistiges, nicht Materielles. Der unlösbare Widerspruch in dieser Zen­ tralfrage, die Annahme eines geistigen »Wesens« unabhängig vom Bewußt­ sein, geht durch alle Darlegungen des objektiven Idealismus hindurch und zwingt ihre bedeutendsten Denker, gerade in den Zentralfragen zwischen » nach Methode und Inhalt idealistisch auf den Kopf gestelltem Materialis­ mus« (Engels) einerseits und Rückfall in subjektiven Idealismus, ja in theo­ logische Begriffsbildungen andererseits hin und her zu schwanken. Dieser Widerspruch in der Zentralfrage gibt auch jenen Formulierungen, die tief­ sinnige und weit in die Zukunft hinein aktuelle Bestimmungen der dialek­ tischen Abbildung der Wirklichkeit geben, etwas Schillerndes : die Richtigkeit der einzelnen Bestimmungen, die Tiefe der Tendenz zur Wirklichkeit wird

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik stets durch die unlösbare Unklarheit des zugleich in und außerhalb des Be­ wußtseins befindlichen, wirklich und pseudoobjektiven »Wesens« verdun­ kelt. So schreibt Hegel : »Der Künstler nimmt deshalb nicht alles das in Formen und Ausdrucksweisen auf, was er draußen in der Außenwelt findet und weil er es vorfindet, sondern er greift nur nach den rechten und den Begriff der Sache gemäßen Zügen, wenn er echte Poesie zustande bringen will, und nimmt er sich die Natur und ihre Hervorbringungen, überhaupt das Vorhandene zum Vorbild, so geschieht es nicht, weil die Natur es so und so gemacht, sond e rn weil sie es recht gemacht hat ; dies >recht< aber ist ein Höheres als das vorhandene selber. « Man sieht - trotz der unlösbaren Widersprüche in der Zentralfrage -, wie sehr die Tendenz zur dialektischen Objektivität von Erscheinung und Wesen einen viel größeren Raum für die schöpferische Tätigkeit des ästhetischen Subjekts schafft als im mechanischen Materialismus, und wie zugleich diese Tendenz die Beziehung der schöpferi­ schen Tätigkeit des Subjekts zur Außenwelt unvergleichlich konkreter und präziser bestimmt, als Kant dazu imstande sein konnte. Die letztere Seite kommt bei Goethe noch plastischer zum Ausdruck. So schreibt Goethe in derselben polemischen Abhandlung gegen Didero t : »Die Kunst übernimmt nicht, mit der Natur, in ihrer Breite und Tiefe, zu wett­ eifern, sie hält sich an die Oberfläche der natürlichen Erscheinungen ; aber sie hat ihre eigene Tiefe, ihre eigene Gewalt ; sie fixiert die höchsten Momente dieser oberflächlichen Erscheinungen, indem sie das Gesetzliche darin aner­ kennt, die Vollkommenheit der zweckmäßigen Proportion, den Gipfel der Schönheit, die Würde der Bedeutung, die Höhe der Leidenschaft. « In der Philosophie des klassischen deutschen Idealismus ist für den Kampf gegen die mechanische Nachahmungstheorie, für die Herausarbeitung einer d ialektischen Theorie der Abbildung der Wirklichkeit durch die Kunst freilich auf objektiv idealistischer Grundlage - die erkenntnistheoretische Abrechnung mit der Theorie von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich entscheidend geworden. Dann erst, vom erkennbaren und erkannten Ding an sich aus, konnten jene Maßstäbe entnommen werden, die einerseits die platte Nachahmung der unmittelbaren Wirklichkeit als niedrig und mecha­ nisch, als unkünstlerisch verwarfen, andererseits die vom Künstler geschaf­ fene » andere Natur« nicht der subjektiven \Villkür des Künstlers oder dem formalistischen Maßstab einer gegenstandslosen reinen Schönheit überließen, wie dies Kant tun mußte. Der Rahmen dieser Abhandlung gestattet nicht, diese Entwicklung in ihrer Breite, in ihren verschiedenen Etappen darzu­ stellen . Es kann nur kurz darauf hingewiesen werden, daß das Jenaer Zu-

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sammenarbeiten von Schelling und Hegel sowohl erkenntnistheoretisch wie ästhetisch zu diesem Resultat geführt hat. Schellings » Philosophie der Kunst« bringt zum erstenmal diese Formulierung in ihrer schroffen Reinheit. »Die wahre Konstruktion der Kunst ist die Darstellung ihrer Formen als Formen der Dinge, wie sie an sich oder wie sie im Absofoten sind.« Damit scheint die Theorie einer dialektischen Abbildung der Wirklichkeit durch die Kunst philosophisch begründet zu sein. Man braucht aber nur die weiteren Aus­ führungen Schellings zu lesen, um zu sehen, daß hier zwar einerseits der subjektivistische Agnostizismus der Kantschen Leugnung der Erkennbarkeit der Dinge an sich überwunden ist, daß aber andererseits das Resultat eine objektiv idealistische Mystik geworden ist. Schelling fährt nämlich folgender­ maßen fort : »Denn nach Satz 2 1 ist das Universum in Gott als ewige Schön­ heit und als absolutes Kunstwerk gebildet ; nicht minder sind alle Dinge, wie sie an sich oder in Gott sind, ebenso absolut schön, als sie absolut wahr sind. Demnach sind auch die Formen der Kunst, da sie die Formen schöner Dinge sind, Formen der Dinge, wie sie in Gott oder wie sie an sich sind, und da alle Konstruktion Darstellung der Dinge im Absoluten ist, so ist die Konstruk­ tion der Kunst insbesondere Darstellung ihrer Formen als Formen der Dinge, wie sie im Absoluten sind . . . Die Kunst ist dargetan als reale Darstellung der Formen der Dinge, wie sie an sich sind - der Formen der Urbilder also.« Auf den ersten Anblick scheint diese ganze Theorie ein Abklatsch der plato­ nischen Ideenlehre zu sein. Es ist aber der wichtige Unterschied vorhanden , daß bei Plato (im »Staat«) die Gegenstände der Wirklichkeit Abbilder der transzendenten Urbilder waren, wobei die Kunst von Plato als eine Nach­ ahmung des Abbildes, statt des Urbildes, als eine Kopie der Kopie kritisiert wurde. Schelling dagegen stellt der Kunst die Aufgabe, die Dinge an sich, die Urbilder abzubilden . Die Schellingschen Urbilder sind also idealistische Mystifikationen des Bestrebens, die objektive Wirklichkeit, die Dinge an sich wirklich zu erkennen, ihr Wesentliches, ihre Gesetzmäßigkeit zum Gegen ­ stand der Kunst und der Erkenntnis zu machen, und diesen Prozeß - im Gegensatz zu Kant - als ein Vordringen zum wirklichen Wesen der Dinge aufzufassen. In diesem Sinne spricht ja auch Marx von dem » aufrichtigen Jugendgedanken « Schellings. Die Berührung mit der platonischen Philoso­ phie, der Versuch die platonische Ideenlehre als Mittel zur Überwindung der mechanisch-unmittelbaren Objektivität des alten Materialismus und gleich­ zeitig zur Überwindung der agnostizistischen Konsequenzen des subjektiven I dealismus zu b e nützen, ist keineswegs eine besondere Spezialität Schellings. Seit der Renaissance spielt die platonische Ideenlehre auch eine solche Rolle

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in der Geschichte der Philosophie ; ich verweise bloß auf die platonischen Elemente in der Ästhetik des deistischen Materialisten Shaftesbury. Freilich kann die platonische Ideenlehre nirgends diese Mission erfüllen. Nicht nur weil, wie wir wissen, jede als objektiv gesetzte geistige » Wesen­ heit« unvermeidlich nur eine scheinbare Objektivität haben kann, sondern auch wegen des unaufhebbaren statischen Charakters der platonischen Kon­ zeption der Ideenwelt. Werden die Dinge und ihre gesetzmäßigen Beziehun­ gen als Kopien solcher ewiger Urbilder gedacht, so muß das Vordringen zum Wesen (zu den Ideen, zu den Urbildern) immer wieder den Charakter der bloß mechanischen Reproduktion ohne aktive Rolle des Subjekts erhalten. Platon selbst faßt die Funktion des Subjekts im Erkenntnisprozeß nicht zu­ fällig als Wiedererinnerung an etwas bereits Gewußtes auf ; er bezeichnet mit dieser Formulierung sehr prägnant das Statische, das mechanisch Ab­ bildende und Wiederholende gerade der auf d as Wesen gerichteten Erkennt­ nis. Das Subjekt ist bloß in negativer Weise aktiv, indem es über die Un­ mittelbarkeit der Erscheinungswelt bis zum Wesen, zu den Ideen vordringt. Für die Ästhetik entsteht daraus die Lage, daß das Wesentliche bereits voll­ ständig geformt ist, so daß die künstlerische Gestaltung, die künstlerische Formung zu einer Art Tautologie wird. Platon ist darum den Prinzipien seiner Ideenlehre treuer, ist konsequenter als seine Nachfolger, wenn er die Kunst als überflüssiges, als Tautologie verwirft. Andererseits wird es gerade hieraus noch verständlicher, warum mechanische Materialisten in der Ästhe­ tik Anschluß an die platonische Ideenlehre suchen konnten : die künstlerische Reproduktion der Ideenwelt ist ja nur ein idealistisch aufgeblähter Parallel­ fall zu der mechanisch-materialistischen Theorie der Abbildung der objek­ tiven Wirklichkeit selbst. Die Flucht zur platonischen Ideenlehre wiederholt in idealistischer Form dieselben Schwierigkeiten, die der mechanische Mate­ rialismus als Materialismus nicht zu lösen vermochte. Nur das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit bedeutet einen Fortschritt, indem über die Erschei­ nung hinaus das Wesen gesucht wird. Das Wohin des Weges und das Was des Zieles müssen sich aber in mystischen Nebeln verlieren. Aber gerade diese mystisch schillernde Unzulänglichkeit der platonischen Ideenlehre zur Lösung der theoretischen Schwierigkeiten des mechanischen Materialismus ist ein Element ihrer Wirkung und Anziehungskraft. Das Zurückgreifen auf die platonische I deenlehre geschieht überall dort, wo es den Denkern noch nicht gelungen ist, trotz Anerkennung der Erkenn­ barkeit des Dinges an sich, bis zur Erkenntnis der Dialektik von Erscheinung und Wesen vorzudringen. Diesen Schritt vollzieht in der klassischen deut-

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sehen Philosophie erst Hegel. Darum muß das erkannte Ding an sich bei Schelling über das für jeden Idealismus notwendige Maß der Mystifizierung hinaus ins Göttliche mystifiziert werden. Jedoch das klarste Durchschauen dieser Mystifizierung als Grundlage der Methode S chellings und der Künst­ lichkeit und Willkürlichkeit seiner Methode der »Konstruktion«, hebt die Tatsache nicht auf, daß hier ein entscheidender Schritt zu einer Theorie der künstlerischen Abbildung der Wirklichkeit, die keine naturalistisch-photo­ graphische Nachahmung der unmittelbaren Wirklichkeit ist, getan wurde. Auch in dieser Frage ist Schiller - wie Hegel hervorhebt - das Verbindungs­ glied zwischen Kant und Schelling. Der Zwiespalt in der Theorie Schillers beruht darauf, daß er sich erkenntnistheoretisch niemals von der Kantschen Leugnung der Erkennbarkei t der Dinge an sich loslöst, aber durch seine künstlerische Praxis gezwungen ist, gerade in der Frage der künstlerischen Abbildung der Natur über Kant hinauszugehen. Es ist sehr interessant zu sehen, wie früh bei Schiller die Forderung einer Abbildung der Wirklichkeit ohne sklavisches Steckenbleiben in der gegebenen Unmittelbarkeit auftaucht. In seinem Jugendaufsatz » Über das gegenwärtige deutsche Theater« stellt er der Kunst folgende Aufgab e : » Allerdings sollte man denken, ein offener Spiegel des menschlichen Lebens, auf welchem sich die geheimsten Winkel­ züge des Herzens illuminiert und al fresco zurückwerfen, wo alle Evolutio­ nen von Tugend und Laster, alle verworrensten Intriguen des Glücks, die merkwürdige Ökonomie der obersten Fürsicht, die sich im wirklichen Leben oft in langen Ketten unabsehbar verliert, wo, sage ich, dieses alles, in kleine­ ren Flächen und Formen aufgefaßt, auch dem stumpfesten Auge übersehbar zu Gesichte liegt ; - ein Tempel, wo der wahre natürliche Apoll, wie einst zu Dodona und Delphos, goldene Orakel mündlich zu Herzen redet . . . « Und er stellt dem Dichter die Aufgabe : »Er bereite uns von der Harmonie des Kleinen auf die Harmonie des Großen, von der Symmetrie des Teils auf die Symmetrie des Ganzen und lasse uns letztere in der erstem bewundern. Ein Versehen in diesem Punkte ist eine Ungerechtigkeit gegen das ewige Wesen, das nach dem unendlichen Umriß der Welt, nicht nach einzelnen heraus­ gehobenen Fragmenten beurteilt sein will. Bei der getreuesten Kopie der Natur, so weit unsere Augen sie verfolgen, wir die Vorsehung verlieren, die auf das angefangene Werk in diesem Jahrhundert vielleicht erst im folgenden das Siegel drückt. « Bei aller Verworrenheit und sogar religiösen Befangenheit dieser Ausführungen i st es auffallend, daß der junge Schiller an dem Ge­ danken einer Abbildung der Natur - er gebrau cht sogar das Wort Kopie festhält, zugleich aber, freilich vergebens, nach einem gedanklichen Maßstab

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sucht, der die Auswahl des Wesentlichen, des Gesetzlid1en aus der wirren Fülle der Unmittelbarkeit erst möglich macht. In der Periode der Auseinandersetzung mit der Kantschen Philosophie sucht Schiller verzweifelt nach einer Möglichkeit, im Rahmen dieser Philosophie zu bleiben, deren Errungenschaften in bezug auf Selbsttätigkeit und Selbstän­ digkeit des künstlerischen Schaff ungsprozesses zu bewahren und doch einen Maßstab für die Objektivität der künstlerischen Gestaltung zu bekommen, etwas festzustellen, woran die innere Übereinstimmung des Kunstwerkes gemessen werden könnte. Er sucht also im Rahmen des Kantschen Systems eine Stelle, wo er das für seine eigene Kunst unerläßliche Prinzip, das über­ einstimmen der künstlerischen Gestaltung mit dem Wesen, der Gesetzl ichkeit der Außenwelt philosophisch unterbringen könnte. Seine Lösung ist so außerordentlich spitzfindig und gekünstelt, daß er sie in seiner späteren theoretischen Tätigkeit vollständig fallen läßt. Als echter Kantianer erkenn t er nämlich nur zwei Formen der Bestimmung von Gegenständen an. Die Bestimmung der Vorstellungen durch die theoretische Vernunft und die Be­ stimmung der Handlungen durch die praktische Vernunft. Der Gegenstand der Ksthetik gehört keinem dieser beiden Begriffe an, aber trotzdem muß er mit ihren Formen zur Übereinstimmung gelangen. (Schiller quält sich hier mit dem unmöglichen Versuch ab, seine naturwüchsige Einstellung, daß die Gegenstände des künstlerischen Schaffens mit der Wirklichkeit übereinstim­ men müssen, in die Kantsche Terminologie einzuzwängen.) Für diese Form der Übereinstimmung wäre es also nach Schiller sehr schwer, die richtige Formulierung zu finden. »Man drückt sich daher richtiger aus, wenn man diejenigen Vorstellungen, weld1e nicht durch theoretische Vernunft sind und doch mit ihrer Form übereinstimmen, Nachahmungen von Begriffen, die­ jenigen Handlungen, welche nicht durch praktische Vernunft sind und doch mit ihrer Form übereinstimmen, Nachahmungen freier Handlungen, kurz wenn man beide Arten Nachahmungen (Analoga) der Vernunft nennt. « Man sieht, die Schillersche Lösung, die er hier sehr gekünstelt und verzwickt formuliert, ist nichts anderes als eine uneingestandene platonisierende Ideen­ lehre, eine Theorie der Abbildlichkeit der Kunst den Vernunftideen gegen­ über, die hier Schiller in die Kantsche Philosophie, man könnte sagen, hin­ einschmuggelt. Schiller ist also viel unkonsequenter in der Rezeption der platonischen Lehre der Abbildlichkeit als Schelling, denn er hält an der Unerkennbarkeit des Dinges an sich fest, wodurch die ganze Abb ildung der Ideen widerspruchsvoll auch innerhalb seiner eigenen Voraussetzungen wird, gleichzeitig bewahrt ihn freilich dieser selbe Agnostizismus davor,

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seine Ideenwelt zu einem theologischen Mythos :\ la Schelling (die Dinge an sich sind die Dinge in Gott) umzudichten. In seinen späteren theoretischen Schriften vermeidet es Schiller, auf diese Frage ausdrücklich zurückzukommen. Dafür aber behandelt er die Frage der Abbildlichkeit, der Nachahmung nach den Bedürfnissen der theoretischen Formulierung seiner Praxis in ganz ungenierter Weise. Das heißt, er spricht ununterbrochen von der Nachahmung und meint die Nachahmung der wesentlichen Züge der Gegenstände der Außenwelt, ohne noch einmal die erkenntnistheoretische Frage aufzuwerfen, was nun an Wirklichkeit nach­ geahmt werde. Am bezeichnendesten hierfür ist seine Abhandlung »über die tragische Kunst«, in der er den aristotelischen Begri ff der Nachahmung, der Nachahmung einer Handlung, der Nachahmung einer Reihe von Begeben­ heiten, der Nachahmung der vollständigen Handlung usw. anwendet, ohne auf die Frage, ob das Nachgeahmte etwas Empirisches oder eine Idee sei, auch nur mit einem Worte einzugehen. Erst in seiner viel späteren Einleitung zu seinem Drama »Die Braut von Messina« nimmt er diese Frage wieder prinzipiell auf. Er stellt hier Wahrheit und Wirklichkeit in einen ausschlie­ ßenden Gegensatz zueinander. Er kämpfte gegen zwei Extreme der Auf­ fassung und Ausübung der Kunst. Das eine ist die Nachahmung der Natur. Wer dieser Theorie folgt, »der wird ein treuer Maler des Wirklichen sein, er wird die zufälligen Erscheinungen, aber nie den Geist der Natur ergreifen. Nur den Stoff der Welt wird er uns wiederbringen ; aber es wird eben darum « nicht unser Werk, nicht das freie Produkt unseres bildenden Geistes sein Das andere Extrem »wird sich um keine Wahrheit bekümmern, sondern mit dem Weltstoff nur spielen, nur durch phantastische und bizarre Komb ina­ tionen zu überraschen suchen «, was es produziert, wird » nur Schaum und Schei n « sein. Die wirkliche Kunst verfällt keinem dieser Extreme. »Wie aber nun die Kunst zugleich ideell und doch im tiefsten Sinne reell sein - wie sie das Wirkliche ganz verlassen und doch aufs Genaueste mit der Natur über­ einstimmen soll und kann, das ist, was wenige fassen, was die Ansicht poeti­ scher und plastischer Werke so schielend macht, weil beide Forderungen einander im gemeinen Urteil aufzuheben scheinen . . . Beide Forderungen stehen so wenig im Widerspruch miteinander, daß sie vielmehr - eine und dieselbe sind ; daß die Kunst nur dadurch wahr ist, daß sie das Wirkliche ganz verläßt und rein ideell wird. Die Natur selbst ist nur eine Idee des Geistes, die nie in die Sinne fällt. Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie, aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Ideals ist es verliehen oder vielmehr es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu .

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik ergreifen und in einer körperlichen Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar n ie vor die Sinne, aber doch durch ihre schaffende Gewalt vor die Einbildungskraft bringen und dadurch wahrer sein, als alle Wirklichkeit, und realer, als alle Erfahrung. Es ergibt sich daraus von selbst, daß der Künstler kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, daß sein Werk in allen seinen Teilen ideell sein muß, wenn es als ein Ganzes Realität haben und mit der Natur übereinstimmen soll.« Vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus sind diese Ausführungen so verworren, wie nur möglich. Schiller behält hier die Kantsche subjektive Erkenntnistheorie bei (die Natur ist nur eine Idee des Geistes), er kümmert sich aber in seinen konkreten Ausführungen keinen Moment um den Wider­ spruch mit seinen eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und spricht von der Wahrheit in einem konkreten Sinn, als ob er schon auf der Grundlage der Hegelschen Dialektik stünde. Von diesem Standpunkt aus macht er nun hier eine ganze Reihe von tiefen und treffenden Bemerkungen. Seine den eigenen Ausführungen gegenüber rückständige erkenntnistheore­ tische Position kommt (freilich) in den entscheidenden dialektischen Fragen, insbesondere in dem Zusammenhang von Erscheinung und Wesen zur Gel­ tung. Da Schiller beide von den Kantschen Voraussetzungen aus schroff und ausschließend trennt, kann er ihre konkrete Verbindung, die er als Theo­ retiker der künstlerischen Praxis notwendig braucht, nur mit einem mysti­ schen salto mortale herstellen. Die Kunst wird - wie später bei Schelling zu einem Organon der Erkenntnis der Wahrheit, der Idee, die für das ge­ wöhnliche, das normale menschliche Erkennen sonst unerreichbar ist. Auch dieser Wendung ist freilich in bestimmtem Sinne bereits in der »Kritik der Urteilskraft« vorgearbeitet worden. Die berühmten Paragraphen der »Kritik der Urteilskraft«, in denen Kant eine » anschauende Urteilskraft« hypothetisch konstruiert, als die Eigentümlichkeit einer anderen Intelligenz als der menschlichen, einer Intelligenz, die mit » intuitivem Verstan d « die Antinomien des menschlichen Denkens (des Allgemeinen und des B esonde­ ren) überwindet, spielt für diese Auffassung Schillers eine ebenso entschei­ dende Rolle, wie sie für Goethe, für Schelling und andere entscheidend ge­ worden war. Bei Kant handelt es sich um eine mystifizierende hypothetische Synthese jener Widersprüche, die für den menschlichen Verstand seiner Auf­ fassung nach unaufhebbar sind. Schelling macht aus ihr ein mystisches Organ der dialektischen Synthese. Schiller steht auch hier zwischen beiden : er wen­ det diese mystische Vorwegnahme der Dialektik praktisch an, ohne sie in irgendeiner Erkenntnistheorie zu verankern.

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Trotz dieser mehr als schwankenden erkenntnistheoretischen Grundlegung ist es offensichtlich, daß Schiller hier sehr weit zu der Theorie eines nicht photographischen Realismus vorgestoßen ist. Seine Formulierung vom Ver­ lassen der Wirklichkeit, von der Nichtübereinstimmung der Details mit der Wirklichkeit, vom ideellen Charakter des Ganzen, von der gerade dadurch erzielten Übereinstimmung mit der Natur ist mehr stilistisch als inhaltlich eine Paradoxie. Inhaltlich drückt sie sehr wesentliche Gestaltungsprinzipien des g roßen Realismus, des Realismus von Goethe, Balzac oder Stendhal aus. Die s tilistische Paradoxie ist freilich mehr als eine Zuspitzung der Formulie­ rung. Wenn Schiller »kein einziges ElementBild­ theoriedas Erhabene< zu sagen, das Große. Julius Cäsar, Marius sind nicht >erhabenegroße< Charaktere. Die s ittliche Erhabenheit ist nur eine besondere Art des Großen überhaupt.« Damit räumt Tschernyschewskij mit der falschen idealistischen Rangordnung der ästhetischen Kategorien, mit ihrer konstruierten Ableitung auseinander auf, wie sie die Scheindialektik der idealistischen Asthetik setzte. »Es ist ferner klar, daß durch die D efinitionen des Schönen und des Erhabenen, die uns richtig erscheinen, der unmittelbare Zusammenhang zwischen diesen

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Begriffen zerstört wird, die einander untergeordnet werden durch die D efini­ tion : >Das Schöne ist das Gleichgewicht zwischen Idee und BildDas Erha­ bene ist das Übergewicht der Idee über das BildDas Schöne ist das LebenDas Er­ habene ist das, was viel größer ist als alles Nahe oder GleichartigeInteressantenein rein zufälliger Untergang ist ein Widersinn in der Tragödie< - ja, vielleicht in den von Schriftstellern verfaßten Tragödien ; aber im wirklichen Leben nicht. In der Dichtung hält es der Autor für seine unumgängliche Verpflichtung, die >Lösung aus dem Knoten selbst abzuleiten< ; i m Leben ist die Lösung o ft ganz zufällig, und ein tragisches Schicksal kann

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik ganz zufällig sein, ohne aufzuhören, tragisch zu sein. Wir geben zu, daß das Schicksal von Macbeth und Lady Macbeth, das notwendig aus ihrer Lage und ihren Taten entspringt, tragisch ist. Aber ist etwa das Schicksal Gustav Adolfs, der ganz zufällig auf dem Wege des Triumphes und des Sieges i n der Schlacht bei Lützen umkam, nicht tragisch? Die Definition : Das Tragische ist das Furchtbare im menschlichen Leben, scheint uns eine ganz vollständige Defini­ tion des Tragischen im Leben und in der Kunst zu sein. Gewiß berechtigt die Mehrzahl der Kunstwerke dazu, hinzuzufügen : >das Furchtbare, das den Menschen mehr oder weniger unausweichlich heimsucht< ; aber erstens ist es zweifelhaft, inwieweit die Kunst richtig verfährt, indem sie dieses Furchtbare fast immer als unausweichlich darstellt, während es in der Wirklichkeit selbst meistens durchaus nicht unausweichlich, sondern rein zufällig ist ; zweitens scheint es, daß wir sehr häufig nur aus der Gewohnheit, in jedem großen Kunstwerk nach der >notwendigen Verkettung der Umständenotwendigen Entwicklung der Handlung aus dem Wesen der Handlung selbst< zu suchen, auch dort mit Ach und Krach die >Notwendigkeit im Gang der Ereignisse< finden, wo sie durchaus nicht vorhanden ist, zum Beispiel in einem großen Teil der Tragödien Shakespeares. « Es ist klar, daß Tschernyschewskij hier die literarische Form der Tra gödie verkennt. Im späteren werden wir sehen, daß wir im Gedankengang Tscherny­ schewskijs - auch dort, wo er an die Schranken seiner Zeit, seiner Klasse und infolgedessen seiner philosophischen Methode gelangt - vom Gesichtspunkt der zukünftigen Entwicklung immer außerordentlich fruchtbare Ahnungen finden. In diesem Gedankengang hingegen - abgesehen von den literari­ schen Formfragen - kommen in der Bewertung der Lebenstatsachen auch ge­ wisse Schranken der Weltanschauung Tschernyschewskijs zum Vorschein, die, obwohl sie unserer Meinung nach zu irrtümlichen Resultaten führen, den­ noch mit den großen und positiven Seiten seines Revolutionärtums in eng­ stem Zusammenhang stehen. Wenn Tschernyschewskij hier sehr entschieden hervorhebt, daß das Schreck.liehe (also das Tragische) im Leben » ganz zufäl­ lig sein kann, ohne aufzuhören, tragisch zu sein«, und als Beweis sich auf das SchiErbe< stammt, glaubte man felsenfest an das fortschrittliche We­ sen der gesellschaftlichen Entwicklung, man wendete sich mit unauslösch­ lichem Haß voll und ausschließlich gegen die Überreste der Vergangenheit, man war davon überzeugt, daß man bloß diese Überreste erbarmungslos aus­ rotten muß, und die Dinge gehen dann so ausgezeichnet, daß es besser gar nicht mehr möglich ist . . . « Im Namen dieser revolutionären Au fklärung tritt Tschernyschewskij in sei­ nem Roman offen gegen das Tragische auf; die Erörterungen seiner Disserta­ tion sind aus dem Grunde nicht genügend klar und folgerichtig, weil er hier diese Verneinung des Tragischen als eine neue affirmative Theorie des Tragi­ schen hinstellt. Daß jedoch aus dieser Theorie - wenn wir alle ihre Konse­ quenzen ziehen - die Verneinung der Tragödie folgt, beweisen klar die Dis­ kussionen, die sie hervorrief. Plechanow hielt die Theorie der Tragödie Tschemyschewskijs für unrichtig (auf seine Argumentation wollen wi r noch später zurückkommen), Lunatscharskij hingegen verteidigte ihm gegenüber Tschernyschewskij. Interessant ist in Lunatscharskijs Argumentation die An­ schauung, daß er unsere Schwäche gegenüber den Natu rkräften, deren Grund er in der Klassengesellschaft, im Kapitalismus sieht, und unsere daraus fol­ genden Zusammenbrüche ebenfalls als tragisch ansieht. Die so entstehende Tragik (das Schreckliche) verschwinde aber mit dem Sturz der kapitalistischen Gesellschaft. Lunatscharskij beruft sich auf Marx' Anschauung über das Ver­ schwinden der Religion, sobald die Klassengesellschaft aufgehoben ist. »So­ bald der Mensch«, sagt er, » die Natur besiegt hat, ist die Religion überflüs­ sig, dann verschwindet aus unserer Existenz auch das Gefühl der Tragik. « Unserer Meinung nach hatte Lunatscharskij kein Recht, sich bei dieser Paral­ lelisierung von Religion und Tragödie auf Marx zu berufen. In derselben Schrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitu ng«, in der er aufs Schärfste gegen die Religion Stellung nimmt, in der sein berühmt ge­ wordener Satz : »Religion ist Opium für das Volk« enthalten ist, behandelt Marx die Tragödie als eine reale historische Tatsache und stellt sie durchaus nicht mit der Religion in Parallele. Eine solche Anerkennung der Tragödie, so­ wohl im Leben wie in der Literatur - Marx begeisterte s ich sein Leben lang für die Tragödien von .Aschylos und Shakespeare, ja der alternde Engels in­ teressierte sich aufs Wärmste für Ibsen -, begleitet die ganze Tätigkeit von Marx und Engels. Sie verwarfen nicht einfach die alte Theorie der Tragödie, sondern stellten sie auch, wie jedes ideologische Erbe, mit Hilfe der materiali­ stischen Dealektik auf die Füße. Ein bestimmendes Moment ist hierin die

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konkrete geschichtliche Auffassung und Erklärung der Tragödie, sowohl im Leben wie in der Literatur. Dies offenbart sich bereits vollkommen in der früher zitierten Jugendschrift von Marx, mit voller Plastizität erscheint es aber in der eingehenden brieflichen Debatte, die die Begründer des Marxis­ mus mit Lassalle im Zusammenhang mit dessen » Sickingen«-Tragödie durchfochten. Dieses materialistische Umstülpen gibt auf einmal eine neue, wahrheitsge­ treue Erklärung der großen Werke der bisherigen Tragödienliteratur (siehe Engels' Analyse der » Ürestie«) und zugleich neue Zielsetzungen für die Ent­ wicklung des Dramas. So weisen Marx und Engels in ihrer Debatte mit Lassalle auf die Tragödie des zu früh gekommenen Revolutionärs hin und heben hervor, daß in der Geschichte des deutschen Bauernkrieges nicht der reaktionäre Ritter Sick.ingen die wirklich tragische Gestalt ist, sondern der Führer der plebejischen Revolution, Thomas Münzer. Hier ist von einer ganz anderen, die Totalität der gesellschaftlich-geschichtlichen Fragen enthaltenden Opposition gegenüber der Auffassung der Tragödie des Hegelschen Idealis­ mus die Rede als bei Tschernyschewskij, der mit der unrichtigen Theorie auch die Tragödie selbst verwirft. Denn wenn auch Marx und Engels natürlich nie eine systematische Drama­ turgie geschrieben haben, so deckten sie doch sehr klar die entscheidenden Mo­ mente der wirklichen Tragödie auf und damit zugleich auch deren reale ge­ sellschaftliche Funktion. Sie hoben die bestimmende Rolle des Konflikts hervor, ohne den es weder eine Tragödie noch ein Drama gibt. Marx weist jedoch auch darauf hin, daß tragische oder komische Wesensart eines realen gesellschaftlichen Konfliktes nicht durch irgendwelche formalen Kennzeichen bestimmt sind, noch weniger durch die subjektive dichterische Phantasie, son­ dern daß auch die Tatsache, wann und wo irgendein bestimmter Konflikt sich in tragischen beziehungsweise komischen Formen abspielt, das Resultat der konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Lage ist. Die dialektisch-materialistische Konkretisierung der Tragödie geht jedoch bei Marx und Engels darüber, daß sie den Konflikt in den Mittelpunkt stellen, hinaus. Marx und Engels sehen klar jene seelischen, moralischen, gesellschaft­ lichen Momente, welche unter den möglichen Konflikten nur einige auf die Höhe der Tragödie erheben. Ein solcher Moment ist in erster Linie das Sich­ Bewähren des Menschen (der Klasse) im Konflikt und im engsten Zusam­ menhang damit die aus dem dramatischen, tragischen Ablauf des Konflikts sich ergebende gesellschaftliche Lehre ; jene Kritik und Selbstkritik, die der Konflikt und seine tragische Lösung in der revolutionären Klasse, im Lager

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

des Fortschrittes auslösen. Es ist kein Zufall, daß Marx und Engels die Kritik der deutschen Revolution von 1 8 4 8 mehr als einmal mit der Analyse des tra­ gischen Schicksals von Thomas Münzer verbanden. Es ist kein Zufall, daß Marx, als er in seinem Brief an Kugelmann von den Umständen und vor­ aussichtlichen tragischen Aussichten der Pariser Kommune spricht, ebenfalls diese Momente : den gesellschafHichen Konflikt, das Sich-Bewähren, die ge­ sellschafHich reinigende (revolutionierende) Wirkung des tragischen Unter­ gangs hervorhebt. Der für uns wichtige Passus des vom 1 7. April 1 8 7 1 datier­ ten Briefes lautet : »Der entscheidend ungünstige >Zufall< ist diesmal keines­ wegs in den allgemeinen Bedingungen der französischen Gesellschaft zu suchen, sondern in der Anwesenheit der Preußen in Frankreich und ihrer Stel­ lung dicht vor Paris. Das wußten aber auch die bürgerlichen Kanaillen von Versailles. Eben darum stellten sie die Pariser in die Alternative, den Kampf aufzunehmen oder ohne Kampf zu erliegen. Die Demoralisation der Arbei­ terklasse in dem letztem Falle wäre ein viel größres Unglück gewesen, als der Untergang einer b eliebigen Anzahl von >Führernkonkrete< Beispiel davon.« Das Konkrete ist im selben Sinne nach Marx » konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen« . Diese Feststellungen gelten auch für d i e ästhetische Widerspiegelung der Wirklichkeit ; freilich nur dann, wenn wir die Besonderheiten dieser Wider­ spiegelungen in Betracht ziehen. Unter diesen m üssen wir vor allem hervor­ heben, daß die Kunst sich bei der Erfassung der Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit nicht auf die Feststellung von allgemeinen - und deshalb im obigen Sinne konkreten - Gesetzen richtet, sondern solche einzelnen, beson­ deren, einzigartigen Fälle darstellt, die, ohne ihre Einzigartigkeit zu v erlie­ ren, ja sogar durch Hilfe der Steigerung ihres einzigartigen Charakters, alle großen gesetzmäßigen Zusammenhänge des Lebens getreu versinnbildlichen. Eine solche, durch die künstlerische Konzentration geschaffene tragische Form enthält unweigerlich das Element der Notwendigkeit. Diese hebt den einzel­ nen Fall über das Niveau der Zufälligkeit, s ie verleiht dem dargestellten

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Konflikt und der Bewährung eine gesellschaftliche Bedeutung, macht ihn ty­ pisch, und nur eine derartige Typik kann im Zusd1auer die tragische Kathar­ sis hervorrufen, das tiefe Erl ebnis dessen, daß es sich hier um sein eigenes gesellschaftliches - Schicksal handelt ; ohne dieses Moment wäre die gesell­ schaftlich erzieherische, i deologisch vorwärtstreibende Wirkung der Tragödie undenkbar. \Venn also Tschernyschewskij sagt, daß wir in den großen Wer­ ken der Kunst bloß aus Gewohnheit » die notwendige Verknüpfung der Um­ stände« suchen, so geht er verständnislos an einem der wichtigsten Momente des I deengehalts der künstlerischen Form vorbei. Diese Feststellung vermindert natürlich nicht die Bedeutung seiner Polemik gegen die idealistische, liberale Verzerrung des Tragischen. Und zwar nicht bloß in dem allgemeinen, revolutionären, weltanschaulichen Sinn, den wir schon berührt haben, sondern auch in den Fragen der künstlerischen Ent­ wicklung des Dramas. Tschernyschewskijs Kampf ging auch hier über das rein Inhaltliche hinaus ; die Widerlegung der Vischerschen Theorie bedeutet die Zertrümmerung der epigonenhaften akademischen Dramaturgie, die weit­ gehend unter ihrer Wirkung (freilich teilweise auch die Vischerschule beein­ flussend) besonders in D eutschland entstanden war. Obwohl also, wie wir ausgeführt haben, die Theorie Tschernyschewskijs jene höheren Formfragen innerhalb der Entwicklung des Dramas nicht zu beantworten imstande war die erst der Marxismus theoretisch gelöst hat -, so leisteten Tschernyschew­ skij und hauptsächlich sein großer Kampfgenosse Dobroljubow dem in der Mitte des Jahrhunderts durch ihre kritische Praxis aufblühenden neuen rus­ sischen Drama, namentlich der ganz neugearteten Kunst Ostrowskijs, durch ihre kritische Praxis eine große Hilfe, indem sie gegen das formale Epigonen­ tum scharf Stellung nahmen. Hier kommt auch jenes, des öfteren hervorge­ hobene Motiv zur Geltung, daß Tschernyschewskij und Dobroljubow, gera­ deso wie zu seiner Zeit Diderot, in ihrer kritischen Praxis durch die konkrete Anwendung der Dialektik viel weiter gelangten als in ihrer abstrakten Theo­ rie. Freilich verdrängt selbst in den bedeutenden Ostrowskij-Artikeln von Dobroljubow das inhaltlich weltanschauliche Element das Dramatisch-For­ male ; trotzdem haben diese Artikel eine epochemachende Bedeutung für die Theorie des neuen Dramas. Der Marxismus-Leninismus ging gerade in der Erfassung und Ausarbeitung der richtigen Dialektik von Inhalt und Form über das hinaus, was für Tschernyschewskij erreichbar war. Doch trotz aller, notwendigerweise festzustell enden Schranken bleiben Tschernyschewskij und Dobroljubow ein lebendiges Erbe in den theoretischen Fragen der Asthetik, auch in bezug auf die Ausarbeitung der künstlerischen Formen.

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In diesen Fragen werden viele durch die falsche Auffassung von historisch bekannten Tragödien beeinflußt, die die Asthetik und Philosophie des bürger­ lichen Niedergangs in das Bewußtsein hämmerten : die Auffassung von dem angeblichen Pessimismus der Tragödie, jenem angeblich formellen, ja darüber hinausgehend angeblich weltanschaulichen Zwang, daß die Tragödie mit dem Sturz, der Vernichtung, dem Tod des Helden enden muß. Letztere Behaup­ tung hat keine ernste historische Basis, es genügt vielleicht, wenn wir auf die »Ürestie« hinweisen, um zu zeigen, daß selbst in den durch Jahrtausende hindurch als kanonisch anerkannten Tragödien der Antike der physische Un­ tergang des Helden nicht obligatorisch ist. Und im 1 9 . Jahrhundert schreibt gerade jener Hebbel, der durch seine Theorie und Praxis im großen Maße zur Herausbildung dieser falschen Auffassung beigetragen hat, über den » Prinz von Homburg« Kleists : »Der >Prinz von Homburg< gehört zu den eigen­ tümlichsten Schöpfungen des deutschen Geistes, und zwar deshalb, weil in ihm durch die bloßen Schauer des Todes, durch seinen hereindunkelnden Schatten erreicht worden ist, was in allen übrigen Tragödien (das Werk ist eine solche) nur durch den Tod selbst erreicht wird . « Und der so bedeutende und fortschrittliche Vertreter der modernen Theorie der Tragödie, Lessing, spricht es auch theoretisch aus, daß das Zugrundegehen der Hauptgestalt durchaus kein unumgänglich notwendiges Kennzeichen der Bestimmung des Tragischen ist. Noch vielmehr gilt dies für das Erbe der Asthetik des niedergehenden Bür­ gertums, für die angebliche Verflochtenheit der Tragödie mit der pessimisti­ schen Weltanschauung. Die Philosophien von Schopenhauer und Nietzsche haben diesen Zusammenhang formuliert, und der Wagner und der Hebbel der Zeit nach I 8 4 8 sowie die dramatische Praxis des späteren Ibsen gaben die­ ser Auffassung einen allgemeinen Nachdruck. Trotz dieser viele Jahrzehnte dauernden Wirkung ist hier rein von einem dekadenten Vorurteil die Rede. Die größten Tragödien des Erbes aus der Vergangenheit stellten durchaus nidu die notwendige Vergeblichkeit und das zum Untergang Verurteiltsein der menschlichen Bestrebungen dar, sondern im Gegenteil : den jeweils kon­ kreten und jeweils sich konkret erneuernden Kampf des Alten und des Neuen, in welchem den Zusammenbruch des Alten oder den Untergang des mit noch schwachen Kräften gegen das Alte kämpfenden Neuen die Verwirklichung oder zumindest die Perspektive der Verwirklichung einer höheren Entwick­ lungsstufe krönt. So schon in der Entstehungszeit der Tragödie im »Prome­ theus« von .i\.schylos, so in der » Ürestie « ; so bedeutet bei Shakespeare der Untergang des Helden in den selbstzerfleischenden inneren Kämpfen der feu-

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dalen Gesellschaft nie einen pessimistischen Weltzusammenbruch, und in den Tragödien ist der das Alte ablösende Vertreter des Neuen immer gegenwär­ tig und erscheint am Ende als Sieger (Macduff in »Macbeth« , Edgar in »Lear « , Richmond in » Richard III . « usw.) ; so im »Egmont« Goethes, wo dem Helden, der bereit ist, für die Unabhängigkeit und Freiheit seines Vater­ landes auf das Schafott zu steigen, Klärehen als Genius der Freiheit erscheint usw. usw. Die Gesamtheit all dieser Tatsachen gibt den historischen Beweis dafür, daß die Klassiker des Marxismus die Theorie der Tragödie endgültig auf materia­ listische Weise auf die Füße gestellt haben. Diese Tatsachen - unter denen diejenige nicht an letzter Stelle steht, daß Vischer und die anderen Hegelianer entscheidende Schritte getan haben zur Verzerrung des Wesens der Tragödie im Sinne des niedergehenden Bürgertums - unterstreichen gleichzeitig die große geschichtliche Bedeutung von Tschernyschewskijs Auftreten. Abgesehen von den Begründern des Marxismus war er der einzige, der entschieden Stel­ lung nahm gegen die dekadent bourgeoise, fortschrittsfeindliche, idealistische Auffassung des Tragischen. Obwohl die positiven Seiten seiner Stellungnahme sich nicht bis auf die Höhen des dialektischen und historischen Materialismus erheben und deshalb nicht imstande sind, die ausreichenden Grundlagen für das richtige historische Erfassen der vergangenen und damit der gegenwär­ tigen und zukünftigen tragisd1en Erscheinungen niederzulegen, so mindert dies durchaus nichts an der historischen Bedeutung seines Auftretens. Daß keine zaristische Tyrannei den fortschrittlichen Ideengehalt der russischen Literatur niederbrechen konnte, daß ein sehr beträchtlicher Teil der russischen Intelligenz viel später und in viel kleinerem Maße unter den ideologischen Einfluß der dekadent bürgerlichen Ideologie geriet als in Westeuropa, dies ist natürlich in erster Reihe durch die gesellschaftliche Entwicklung und die Klas­ senkämpfe in Rußland bestimmt, aber innerhalb dieses objektiven Spielraums haben die Schriften Tschernyschewskijs - auch in den Fragen der Tragödie eine entscheidende, positive, fortschrittliche, revolutionäre Bedeutung.

Diese Einführung konnte sich nicht die Aufgabe setzen, die Gesamtprobleme der Tschernyschewskijschen .iX.sthetik auch nur skizzenhaft zu besprechen. Wir haben nur auf die wichtigsten hingewiesen, damit Tschernyschewskijs wirk­ liche Gestalt dem Leser plastisch vor Augen geführt werde : dieser größte

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

revolutionäre Denker seines Vaterlandes in der Zeit vor der Entfaltung der russischen Arbeiterbewegung, der auf jedem Gebiet, auf dem er wirkte - und solcher waren gar viele -, eine tiefgreifende Veränderung, ein Hinlenken auf die Zukunfl:, auf die Befreiung, in bezug auf die Gesichtspunkte, die Methode, die konkrete Ausarbeitung, hervorrief. Diese Gedanken wuchsen aus dem Boden der Klassenkämpfe seiner Zeit. D ies ändert aber nichts d aran, daß ein beträchtlicher Teil dieser Gedanken auch heute noch, nach der Auf­ hebung der kap italistischen Ausbeutung, ihre Aktualität behielt, daß sie einen lebendigen ideologischen Motor für die Gegenwart und für die Zukunft bil­ den. Gleid1zeitig aber und von diesen unvergänglichen Zügen unabtrennbar, bleibt Tschernyschewskij doch ein Kind seiner Zeit, seine Methode zeigt not­ wendigerweise die Spuren jener ideologischen Beschränktheit au f, die unab­ trennbare Eigentümlichkeiten der revolutionär-demokratischen Bewegung waren ; trotz ihrer Größe und ihrer in die Zukunft weisenden Kraft. Auf die Konsequenzen dieser Tatsache haben wir in den gegebenen konkreten Fällen ausführlich hingewiesen. Hier mußten wir noch einmal die Aufmerksamkeit darauf hinlenken, daß auch Tschernyschewskij, so wie sein Vorgänger Dide­ rot, sich bei der Behandlung von konkreten Fragen mehr als einmal von den Schranken seiner eigenen Methoden befreit, so wie dies Engels in bezug auf Diderot festgestellt hat, war Tschernyschewskij - wie sein bedeutender Kampfgenosse Dobroljubow - in einzelnen Kritiken über konkrete Litera­ turwerke viel dialektischer als in seinen allgemeinen ästhetischen oder er­ kenntnistheoretischen Erörterungen. Nur die Methode des Marxismus-Leninismus ist imstande, Tschernyschewskij Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie lehrt den Leser, Tschernyschewskij, seine Argumentation und seine Resultate, mit entsprechender Kritik zu stu­ dieren, und gleichzeitig beleuchtet sie ihre große Fruchtbarkeit für unsere Gegenwart und Zukunft. In dieser Beleuchtung sehen wir Tschernyschewskij als den größten Vorläufer des Marxismus, als einen Denker, der besser als jeder andere der wirklich wissenschafl:lichen Methode nahegekommen ist. Wer Tschernyschewskijs Schriften in dieser Beleuchtung studiert, wird außer­ ordentlich viel aus ihnen lernen, selbst aus den Stellen, wo heute die fort­ schrittliche Wissenschaft seine Argumentationen und seine Resultate weit überholt.

Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels

Die literarischen Studien von Marx und Engels haben eine ganz eigentüm­ liche Form : darum ist es angebracht, den Leser vor allem von der Notwen­ digkeit dieser Form zu überzeugen, damit er die notwendige Einstellung zur richti gen Lektüre und zum richtigen Verständnis dieser Studien findet. Vor allem muß man wissen, daß Marx und Engels nie ein zusammenhängendes Buch oder kaum eine Studie über literarische Fragen im eigentlichen Sinn des Wortes geschrieben haben. Der reife Marx hat zwar immer davon geträumt, in einer größeren Studie seine Gedanken über seinen Lieblingsschriftsteller, Balzac, auszuführen. Aber dieser Plan blieb, wie viele andere, bloß ein Traum. Den großen Denker nahm sein grundlegendes ökonomisches Werk bis zu seinem Todestag so in Anspruch, daß weder jenes Vorhaben noch das geplante Buch über Hegel zustande kommen konnten. Deshalb enthält dieses vorliegende Bucht zum Teil Briefe und Aufzeichnungen über Gespräche, zum Teil einzelne, Büchern anderen Inhalts entnommene Ab­ schnitte, in denen Marx und Engels die Hauptfragen der Literatur berührt haben . Unter solchen Umständen ist es selbstverständlich, daß die Auswahl und Gruppierung nicht von den Autoren selber stammt. Den deutschen Le­ sern ist die von Professor M. Lifschitz zusammengestellte, ausgezeichnete Ausgabe »Marx und Engels über Kunst und Literatur« (Verlag Bruno Hen­ schel und Sohn, Berlin 1 94 8 ) bekannt. Die Feststellung dieser Tatsache bedeutet aber keineswegs, daß die hier ge­ sammelten Fragmente nicht eine organische, systematische gedankliche Ein­ heit bildeten. Wir müssen nur vor allem verstehen, welcher Natur auf Grund der philosophischen Vorstellungen von Marx und Engels dieses System ist. Wir haben hier natürlich nicht die Möglichkeit, die Theorie der marxistischen Systematisierung ausführlich auseinanderzusetzen. Wir wollen lediglich den Leser auf zwei Gesichtspunkte aufmerksam machen. Der erste liegt darin, daß das marxistische System - in scharfem Gegensatz zur modernen bürger­ lichen Philosophie - sich nie von dem einheitlichen Prozeß der Geschichte ab­ löst. Nach Marx und Engels gibt es bloß eine einzige, einheitliche Wissen­ schaft : die Wissenschaft der Geschichte, welche die Entwicklung der Natur, r

Georg Lukacs schrieb diese Einführung für die u ngari sch e Ausgabe der ästheti­ schen Schriften von Marx u nd Engels.

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der Gesellschaft, des Denkens usw. als einen einheitlidten geschichtlichen Pro­ zeß auffaßt und bestrebt ist, seine allgemeinen und besonderen - sich auf einzelne Perioden beziehenden - Gesetzmäßigkeiten aufzudecken . Dies be­ deutet aber - und das ist der zweite Gesichtspunkt - unter keinen Umstän­ den einen historischen Relativismus. Auch in dieser Hinsicht steht der Mar­ xismus in sdtroffem Gegensatz zum modernen bürgerlichen Denken. Das We­ sen der dialektischen Methode besteht eben darin, daß in ihr das Absolute und das Relative eine unzerreißbare Einheit bilden : die absolute Wahrheit hat ihre relativen, an Ort, Zeit, Umstände gebundenen Elemente, anderer­ seits ist die relative Wahrheit, insofern sie eine wirkliche Wahrheit ist, inso­ fern sie die Wirklichkeit in treuer Annäherung widerspiegelt, von absoluter Gültigkeit. Es ist eine notwendige Folge dieses Gesidttspunktes, daß die Marxsche An­ schauung die in der bürgerlidten Welt modische scharfe Scheidung, Isolierung der einzelnen Wissensdtaftszweige nicht anerkennt. Weder die Wissensdtaft, noch die einzelnen Zweige der Wissenschaft, noch die Kunst haben ihre selb­ ständige, immanente, ausschließlich aus ihrer eigenen inneren Dialektik flie­ ß ende Geschichte. Die Entwicklung aller wird bestimmt vom Gang der Ge­ samtgesdtidtte der gesellschaftlichen Produktion ; nur auf dieser Grundlage können die auf den einzelnen Gebieten auftretenden Veränderungen, Ent­ wicklungen wirklidt wissenschaftlich erklärt werden. Freilich darf diese vielen modernen wissenschaftlichen Vorurteilen scharf widersprechende Auffassung von Marx und Engels nicht mechanisdt interpretiert werden, wie dies zahlreiche Pseudomarxisten, vulgäre Marxisten zu tun pflegen . In unse­ ren späteren, in die Einzelheiten gehenden Analysen werden wir auf dieses Problem nodt zurückkommen. Hier wollen wir bloß hervorheben, daß Marx und Engels die relativ selbständige Entwicklung der einzelnen Tätigkeits­ gebiete des menschlichen Lebens - des Rechts, der Wissenschaft, der Kunst usw. - nie geleugnet haben, nie verkannt, daß etwa der einzelne philoso­ phisdte Gedanke sich einem vorhergehenden anschließt, ihn weiterentwickelt, ihn bekämpft, korrigiert usw. Marx und Engels leugnen einzig, daß es möglich sei, die Entwicklung der Wissenschaft oder der Kunst aussdtließlich o der auch nur primär aus ihren immanenten Zusammenhängen zu erklären. Diese immanenten Zusammenhänge existieren zweifellos in der objektiven Wirklidtkeit, aber bloß als Momente des historisdten Zusammenhanges, des Ganzen der historisdten Entwicklung, innerhalb welchem dem ökonomischen Faktor : der Entwicklung der Produktivkräfte - im Komplex der kompli­ zierten Wedtselwirkungen - die primäre Rolle zufällt.

Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels Die Existenz und das Wesen, das Entstehen und die Wirkung der Literatur können also bloß im gesamthistorischen Zusammenhang des ganzen Systems verstanden und erklärt werden. Entstehung und Entwicklung der Literatur sind ein Teil des gesamthistorischen Prozesses der Gesellschaft. Das ästheti­ sche Wesen und der ästhetische Wert der literarischen Werke und im Zusam­ menhang damit ihre Wirkung sind ein Teil jenes allgemeinen und zusammen­ hängenden gesellschaftlichen Prozesses, in dem sich der Mensch die Welt durch sein Bewußtsein aneignet. Vom ersten Gesichtspunkt aus sind die mar­ xistische Asthetik, die marxistische Literatur- und Kunstgeschichte ein Teil des historischen Materialismus, vom zweiten Gesichtspunkt aus die Anwen­ dung des dialektischen Materialismus. Freilich in beiden Fällen ein besonde­ rer, eigentümlicher Teil dieses Ganzen, mit bestimmten spezifischen Gesetz­ mäßigkeiten, bestimmten spezifischen, ästhetischen Prinzipien. Die allgemeinsten Prinzipien der marxistischen Asthetik und Literaturge­ schichte finden wir also in der Lehre des historischen Materialismus. Nur mit Hilfe des historischen Materialismus können die Entstehung der Kunst und der Literatur, die Gesetzmäßigkeit ihrer Entwicklung, ihre Wendungen, ihr Aufschwung und Niedergang innerhalb des ganzen Prozesses usw. ver­ standen werden. Deshalb müssen wir gleich anfangs einige allgemeine, grund­ legende Fragen des historischen Materialismus aufwerfen. Und zwar nicht bloß im Interesse der notwendigen wissenschaftlichen Fundierung, sondern auch deshalb, weil wir gerade auf diesem Gebiet den echten Marxismus, die echte dialektische Weltanschauung besonders deutlich von ihrer billigen Vul­ garisierung abtrennen müssen, denn diese hat in den Augen breiter Kreise ge­ rade auf diesem Gebiet die Lehre des Marxismus vielleicht am ärgsten kom­ promi ttiert. Es ist bekannt, daß der historische Materialismus im wirtschaftlichen Unter­ bau das Richtungsprinzip, die bestimmende Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung sieht. Die Ideologien - darunter die Literatur und Kunst figurieren in diesem Zusammenhang im Entwicklungsprozeß nur als sekundär bestimmender Überbau. Aus dieser grundlegenden Fes tstellung zieht der Vulgärmaterialismus die me­ chanische und falsche, verzerrende und irreführende Konsequenz, es bestehe zwischen Unterbau und Überbau ein einfacher Kausalzusammenhang, in wel­ chem der erstere nur als Ursache und letzterer nur als Folge figuriere. In den Augen des Vulgärmarxismus ist der Überbau eine mechanische, kausale Folge der Entwicklung der Produktivkräfte. Derartige Zusammenhänge kennt die dialektische Methode überhaupt nicht. Die Dialektik bestreitet, daß irgendwo

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auf der Welt rein einseitig Ursache-Folge-Beziehungen existieren ; sie erkennt in den einfachsten Tatsachen komplizierte Wechselwirkungen von Ursachen und Folgen. Und der historische Materialismus betont mit besonderer Schärfe, daß bei einem so vielschichtigen und vielseitigen Prozeß, wie es die Entwick­ lung der Gesellschaft ist, der Gesamtprozeß der gesellschaftlichen, der histo­ rischen Entwicklung überall als das komplizierte Geflecht von Wechselwir­ kungen zustande kommt. Nur mit einer solchen Methode ist es möglich, das Problem der Ideologien auch nur anzurühren. Wer in den Ideologien das me­ chanisdie, passive Produkt des ihre Grundlage bildenden ökonomischen Pro­ zesses sieht, der versteht von ihrem Wesen und ihrer Entwicklung gar nichts, der vertritt nicht den Marxismus, sondern sein Zerrbild, seine Karikatur. Engels sagt in einem seiner Briefe in bezug auf diese Frage : »Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische usw. Entwick­ lung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren auch aufeinander und audi auf die ökonomische Basis. Es ist nicht, daß die ökonomisdie Lage Ursache, allein aktiv ist und alles andere nur passive Wirkung, sondern es ist Wediselwirkung auf der Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchset­ zenden ökonomischen Notwendigkeit. « Diese marxistische methodologische Einstellung hat zur Folge, daß sie der schaffenden Energie, der Tätigkeit des Subjekts eine außerordentlich große Rolle in der historischen Entwicklung zusdireibt. Der entwicklungsgeschicht­ lidie Grundgedanke des Marxismus vertritt die Auffassung, daß der Mensch durdi seine Arbeit vom Tier zum Mensdien wurde. Die schöpferische Rolle des Subjekts äußert sich also darin, daß der Mensch - durch seine Arbeit, deren Charakter, Möglichkeit, Entwicklungsgrad usw. freilich von objektiv natürlichen und gesellschaftlichen Umständen bestimmt werden - sich selbst schafft, sich selbst zum Menschen madit. Diese Auffassung der historischen Entwicklung zieht sich durch die ganze Marxsche Gesellschaftsphilosophie, also auch durch die Asthetik. Marx spricht an einer Stelle davon, daß die Musik im Menschen den Sinn für die Musik schaffe. Diese Auffassung ist wie­ der ein Teil der Gesamtauffassung des Marxismus in bezug auf die Entwick­ lung der Gesellschaft. Marx konkretisiert die hier berührte Frage folgender­ maßen : » . . erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des mensch­ lidien Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Sdiönheit der Form, kurz, wer­ den erst menschlidier Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. « Diese Auffassung hat eine große Bedeutung nicht nur für das Verständnis der .

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historisch und gesellschaftlich aktiven Rolle des Subjekts, sondern auch dafür, wie der Marxismus die einzelnen Perioden der Geschichte, die Entwicklung der Kul tur, die Grenzen, die Problematik, die Perspektive dieser Entwick­ lung sieht. Marx schließt den oben zitierten Gedankengang : »Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte. Der unter dem rohen praktischen Bedürfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornier­ ten Sinn. Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Dasein als Speise : ebensogut könnte sie in rohster Form vorliegen, und es ist nicht zu sagen, wodurch sich diese Nahrungstätigkeit von der tierischen Nahrungstätigkeit unterscheide. Der sorgenvolle, bedürftige Mensch hat keinen Sinn für das schönste Schau­ spiel ; der Mineralienkrämer sieht nur den merkantilischen Wert, aber nicht die Schönheit und eigentümliche Natur des Minerals ; er hat keinen mineralogischen Sinn ; also die Vergegenständlichung des menschlichen Wesens, sowohl in theo­ retischer wie praktischer Hinsicht, gehört dazu, sowohl um den Sinn des Men­ schen menschlich zu machen, als um für den ganzen Reichtum des menschlichen und natürlichen Wesens entsprechenden menschlichen Sinn zu schaffen. « Die geistige Tätigkeit des Menschen hat also auf jedem ihrer Gebiete eine bestimmte relative Selbständ igkeit; dies bezieht sich vor allem auf die Kuns t und die Literatur. Ein jedes solches Tätigkeitsgebiet, eine jede Sphäre ent­ wickelt sich - durch das schaffende Subjekt hindurch - selbst, knüpft un­ mittelbar an die eigenen früheren Schöpfungen an, entwickelt sich weiter, wenn auch kritisch und polemisch. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß diese Selbständigkeit relativ ist, daß sie keineswegs das Leugnen der Priorität des wirtschaftlichen Unterbaus bedeutet. Daraus folgt aber bei weitem nicht, daß jene subjektive Überzeu­ gung, eine jede Sphäre des geistigen Lebens entwickle sich selbst weiter, eine bloße Illusion sei. Diese Selbständigkeit ist im Wesen der Entwicklung, in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung objektiv fundiert. Engels schreibt über diese Frage : »Die Leute, die dies (die ideologische Entwicklung, G. L.) besorgen, gehören wieder besonderen Sphären der Teilung der Arbeit an und kommen sich vor, als bearbeiteten sie ein unabhängiges Gebiet. Und insofern sie eine selbständige Gruppe innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bilden, insofern haben ihre Produktionen, inklusive ihre Irrtümer, einen rückwirken­ den Einfluß auf die ganze gesellschaftliche Entwicklung, selbst auf die ökono­ mische. Aber bei alledem stehen sie selbst wieder unter dem beherrschenden Einfluß der ökonomischen Entwicklung. « Und im folgenden führt Engels klar aus, wie er sich den ökonomischen Primat methodologisch vorstellt:

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»Die schließliche Suprematie der ökonomischen Entwicklung auch über diese Gebiete steht mir fest, aber sie findet statt innerhalb der durch das einzelne Gebiet selbst vorgeschriebenen Bedingungen : in der Philosophie z. B. durch Einwirkung ökonomischer Einflüsse - die meist wieder erst in ihrer politi ­ schen usw. Verkleidung wirken - auf das vorhandene philosophische Mate­ rial, das die Vorgänger geliefert haben. Die Ökonomie schafft hier nichts a novo, sie bestimmt aber die Art der Abänderung und Fortbildung des vorge­ fundenen Gedankenstoffes, und auch das meist indirekt, indem es die politi­ schen, juristischen, moralischen Reflexe sind, die die größte direkte Wirkung auf die Philosophie üben . « Was hier Engels über d i e Philosophie sagt, bezieht sich natürlich in vollem Maße auch auf die Grundprinzipien der Entwicklung der Literatur. Es ver­ steht sich aber von selbst, daß konkret genommen jede Entwicklung ihren besonderen Charakter hat, daß die erkennbare Parallelität zweier Ent­ wicklungen nie mechanisch verallgemeinert werden darf, daß die Entwick­ lung einer jeden Sphäre - innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Gesetz­ mäßigkeit - ihren eigenen eigentümlichen Charakter, ihre eigene Gesetz­ mäßigkeit hat. Wenn wir nun das so gewonnene allgemeine Prinzip nur einigermaßen kon­ kretisieren wollen, gelangen wir zu einem der wichtigsten Prinzipien der marxistischen Geschichtsauffassung. Dies bedeutet für die Geschichte der Ideo­ logie, daß der historische Materialismus - auch hier in schroffem Gegen­ satz zum Vulgärmarxismus - erkennt, daß die Entwicklung der Ideologien durchaus nicht mechanisch und notwendigerweise mit der wirtschaftlichen Höherentwicklung der Gesellschaft parallel läuft. Es ist für die Geschichte des Urkommunismus und der Klassengesellschaften, über welche Marx und Engels schrieben, durchaus nicht notwendig, daß jeder wirtschaftliche, gesell­ schaftliche Aufschwung unbedingt einen Aufschwung der Literatur, der Kunst, der Philosophie usw. nach sich ziehe ; es ist durchaus nicht unumgäng­ lich notwendig, daß eine gesellschaftlich höher stehende Gesellschaft unbe­ dingt eine höher entwickelte Literatur, Kunst, Philosophie habe als die nied­ rigere. Marx und Engels weisen wiederholt energisch auf die ungleichmäßige Ent­ wicklung auf dem Gebiet der Geschichte der Ideologien hin. So illustriert En­ gels seinen oben zitierten Gedankengang damit, daß die französische Philoso­ phie des 1 8., die deutsche des 1 9 . Jahrhunderts in vollkommen oder verhält­ nismäßig zurückgebliebenen Ländern entstanden, so daß auf dem Gebiet der Philosophie die Kultur eines Landes die führende Rolle spielen konnte, das

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auf wirtschaftlichem Gebiet weit hinter den es umgebenden Ländern zurück­ geblieben war. Engels formulierte diese seine Feststellungen so : »Und daher kommt es, daß ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können : Frankreich im x 8 . Jahrhundert gegenüber England, auf dessen Philosophie die Franzosen fuß ten, später Deutschland gegenüber beiden.« Marx formuliert diesen Gedanken, prinzipiell in bezug auf die Literatur, wo­ möglich noch schärfer, entschiedener. Er sagt : »Bei der Kunst ist es bekannt, daß bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemei­ nen Entwicklung der Gesellschaft:, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaus ihrer Organisation stehen. Z. B. die Griechen ver­ glichen mit den Modernen oder auch Shakespeare. Von gewissen Formen der Kunst, z. B. dem Epos, ist sogar anerkannt, daß sie in ihrer Weltepoche machenden, klassischen Gestalt nie produziert werden können, sobald die Kunstproduktion als solche eintritt ; also daß innerhalb des Bereichs der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickel­ ten Stufe der Kunstentwicklung möglich sind. Wenn dies im Verhältnis der verschiedenen Kunstarten innerhalb des Bereichs der Kunst selbst der Fall ist, ist es schon weniger auffallend, daß es im Verhältnis des ganzen Bereichs der Kunst zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft: der Fall ist.« Diese Auffassung der historischen Entwicklung schließt bei wirklichen Mar­ xisten jede Schematisierung, jedes Arbeiten mit Analogien, mechanischen Parallelen aus. Wie sich das Prinzip der ungleichmäßigen Entwicklung auf einem beliebigen Gebiet der Geschichte der Ideologien in einer beliebigen Pe­ riode äußert, ist eine konkrete historische Frage, auf die der Marxist nur auf Grund einer konkreten Analyse der konkreten Lage antworten kann. Deshalb schließt Marx den zitierten Gedankengang folgendermaßen ab : »Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt.« Marx und Engels wehrten sich ihr Leben lang gegen die vereinfachende, vul­ garisierende Auffassung ihrer sogenannten Schüler, die an Stelle des konkre­ ten Studiums des konkreten historischen Prozesses eine auf rein konstruierten Folgerungen, Analogien fußende Geschichtsauffassung setzen und die kom­ plizierten und konkreten Zusammenhänge der Dialektik durch mechanische Zusammenhänge verdrängen wollten. Man findet eine hervorragende An­ wendung dieser Methode in Engels' an Paul Ernst gerichteten Brief, in dem Engels scharf gegen Paul Ernsts Versuch Stellung nimmt, Ibsens »kleinbürger­ lichen « Charakter auf Grund des allgemeinen Begriffes des »Kleinbürgers«,

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den er aus der Analogie mit dem deutschen Kleinbürgertum konstruiert, zu bestimmen, statt auf die konkreten Eigentümlichkeiten der norwegischen Entwicklung zurückzugehen. Die historischen Forschungen von Marx und En gels auf dem Gebiet der Kunst und Literatur erstrecken sich auf die Gesamtentwicklung der menschlichen Gesellschaft. Doch geradeso wie bei dem Versuch, die wirtschaftliche Ent­ wicklung und die gesellschaftlichen Kämpfe wissenschaftlich zu erfassen, richtet sich auch hier ihr Hauptinteresse darauf, die wesentlichsten Züge der Jetztzeit, der modernen Entwicklung, zu erkennen und auszuarbeiten . \Venn wir nun in diesem Zusammenhang die Literaturbetrachtung des Marxismus ins Auge fassen, so sehen wir noch klarer, welch wichtige Rolle dem Prinzip der ungleichmäßigen Entwicklung bei der Ausarbeitung der Eigentümlich­ keiten irgendeiner Periode zufällt. Zweifellos ist in der Entwicklung der Klassengesellschaften die kapitalistische Produktionsweise die wirtschaftlich höchste Stufe. Nach Marx ist es aber geradeso zweifellos, daß diese Produk­ tionsweise ihrem Wesen zufolge ungünstig ist für die Entfaltung von Litera­ tur und Kunst. Marx ist nicht der erste und auch nicht der einzige, der diesen Zusammenhang aufdeckt und ausführt. Aber die wirklichen Gründe erschei­ nen erst bei ihm in ihrer wahren Vollständigkeit. D enn nur eine solche um­ fassende, dynamische und dialektische Auffassung kann ein Bild dieser Lage geben. Natürlich können wir hier die Frage nicht einmal skizzieren. Bei dieser Frage wird es dem Leser besonders klar, daß die marxistische Lite­ raturtheorie und Literaturgeschichte bloß ein Teil eines umfassenden Ganzen : des historischen Materialismus, sind. Marx bestimmt diese grundlegende kunstfeindliche Richtung der kapitalistischen Produktionsweise nicht aus ästhetischen Gesichtspunkten. Ja wenn wir Marxens Aussprüche quantitativ, statistisch betrachten würden - was wir selbstverständlich nie tun dürfen, wenn wir zu einem richtigen Verständnis gelangen wollen -, könnten wir geradezu sagen, daß ihn diese Frage kaum interessierte. Wer aber mit richti­ gem Verständnis und richtiger Aufmerksamkeit »Das Kapital« und andere Schriften von Marx durchstudiert hat, wird sehen, daß einige seiner Hin­ weise, aus dem Gesichtspunkt des umfassenden Ganzen gesehen, einen tiefe­ ren Einblick in das Wesen der Frage gewähren als die Schriften der roman­ tisd1en Antikapitalisten, die sich ihr Leben lang mit .Xsthetik beschäftigten. Die marxistische Ökonomie führt nämlich die Kategorien des wirtschaftlichen Seins, das die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens bildet, dorthin zurück, wo sie sich in ihren wirklichen Formen äußern, als Beziehungen von Menschen zu Menschen und durch diese hindurch als Verhältnis der Gesellschaft zur

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Natur. Doch gleichzeitig beweist Marx auch, daß all diese Kategorien im Kapitalismus unbedingt in verdinglichten Formen erscheinen und mit ihrer verdinglichten Form ihr wirkliches Wesen, die Beziehungen der Menschen, verdecken. Dieses Auf-den-Kopf-Stellen der grundlegenden Kategorien des menschlichen Seins ist die notwendige Fetischisierung der kapitalistischen Gesellschaft. In dem Bewußtsein der Menschen erscheint die Welt ganz an­ ders, a ls sie ist, in ihrer Struktur verzerrt, aus ihren wahren Zusammenhän­ gen herausgerissen. Es ist eine ganz besondere Gedankenarbeit notwendig, damit der Mensch des Kapitalismus diese Fetischisierung durchschaue, damit er hinter den das alltägliche Leben der Menschen bestimmenden verdinglich­ ten Kategorien (Ware, Geld, Preis usw.) ihr wirkliches Wesen erfasse : die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander. Nun gehört die Humanität, d. h. das leidenschaftliche Studium der mensch­ lichen Beschaffenheit des Menschen, zum Wesen jeder Literatur, jeder Kunst ; im engen Zusammenhang hiermit ist jede gute Kunst, jede gute Literatur auch insofern humanistisch, als sie nicht nur den Menschen, das wirkliche We­ sen s einer menschlichen Beschaffenheit leidenschaftlich studiert, sondern zu­ gleich auch die menschliche Integrität des Menschen leidenschaftlich gegen alle sie angreifenden, entwürdigenden, verzerrenden Tendenzen verteidigt. Da nun alle diese Tendenzen, vor allem natürlich die Unterdrückung und Aus­ beutung des Menschen durch den Menschen, in keiner Gesellschaft eine so unmenschliche Form annehmen - gerade infolge ihres scheinbar objektiven verdinglichten Charakters - wie in der kapitalistischen Gesellschaft, so ist jeder wirkliche Künstler, jeder wirkliche Schriftsteller ein instinktiver Feind jeder derartigen Verzerrung des humanistischen Prinzips ; unabhängig da­ von, wie weit dies in den einzelnen schöpferischen Geistern bewußt wird. Wir wiederholen : Es ist selbstverständlich unmöglich, diese Frage hier breiter auszuführen. Marx hebt - ausgehend von der Analyse einzelner Gestaltun­ gen Goethes und Shakespeares - diese antihumane, das Wesen des Menschen verdrehende, verzerrende Wirkung des Geldes hervor. »Shakespeare hebt an dem Geld besonders zwei Eigenschaften hervor: r. Es ist die sichtbare Gottheit, die Verwandlung aller menschlichen und na­ türlichen Eigenschaften in i hr Gegenteil, die allgemeine Verwechslung und Verkehrung der Dinge ; es verbrüdert Unmöglichkeiten ; 2. es ist die allgemeine Hure, der allgemeine Kuppler der Menschen un d Völker. Die Verkehrung und Verwechslung aller menschlichen und natürlichen Qua­ litäten, die Verbrüderung der Unmöglichkeiten - die göttliche Kraft - des

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Geldes liegt in seinem Wesen als dem entfremdeten, entäußernden und sich veräußernden Gattungswesen der Menschen. Es ist das entäußerte Vermögen der Menschheit. Was ich als Mensch nicht vermag, was also alle meine individuellen Wesens­ kräfte nicht vermögen, das vermag ich durch das Geld. Das Geld macht also jede dieser Wesenskräfte zu etwas, was sie an sich nicht ist, d. h. zu ihrem Gegenteil. « Damit sind aber die hier z u behandelnden Hauptgesichtspunkte noch nicht erschöpft. Die Kunstfeindlichkeit der kapitalistischen Produktionsordnung offenbart sich auch in der kapitalistischen Arbeitsteilung. Die wirkliche Er­ fassung dieses Satzes weist wieder auf das Studium der Totalität der Okono­ mie zurück. Vom Gesichtspunkt unseres Problems greifen wir hier bloß ein Prinzip heraus : wieder das Prinzip der Humanität, welches der Befreiungs­ kampf des Proletariats von den ihm vorausgegangenen großen demokrati­ schen und revolutionären Bewegungen geerbt und qualitativ weiterentfaltet hat : die Forderung der Entfaltung des vielseitigen, des ganzen Menschen. Die kunstfeindliche, kulturfeindliche Richtung der kapitalistischen Produktions­ weise bedeutet hingegen die Zerstückelung des Menschen, die Zerstückelung der konkreten Totalität in abstrakte Spezialitäten. Diese Tatsache selbst erkennen auch die romantischen Antikapitalisten. Aber sie sahen hier nichts anderes als ein Fatum, ein Unglück, und darum versuch­ ten sie - zumindest gefühlsmäßig, gedanklich -, in primitivere Gesell­ schaften zu flüchten, demzufolge ihre Stellungnahme notwendigerweise ins Reaktionäre umschlagen mußte. Marx und Engels leugneten nie den fort­ schrittlichen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise, deckten aber gleichzeitig alle ihre Unmenschlichkeiten schonungslos auf. Sie sahen klar und führten es klar aus, daß die Menschheit nur auf diesem Wege die materiellen Grundbedingungen ihrer endgültigen und wirklichen Befreiung, des Sozialis­ mus, schaffen könne. Aber die Erkenntnis der wirtschaftlichen, gesellschaft­ lichen und der historischen Notwendigkeit der kapitalistischen Gesellschafts­ ordnung, das überlegene Verwerfen jedes Zurückgreifens auf schon überlebte Perioden stumpft Marxens und Engels' Kritik der kapitalistischen Kultur nicht ab, verschärft sie vielmehr. Wenn sie in einem solchen Zusammenhang auf alte Zeiten verweisen, so bedeutet dies nie eine romantische Flucht in die Vergangenheit, sondern nur einen Hinweis auf den Beginn jenes Befreiungs­ kampfes, der die Menschheit aus einer noch stumpferen und hoffnungslose­ ren Periode der Ausbeutung und Unterdrückung herausgeführt hat : aus der Periode des Feudalismus. Wenn also Engels von der Renaissance schreibt,

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dann beziehen sich seine Bemerkungen auf diesen Befreiungskampf, auf die beginnenden Etappen des Befreiungskampfes der \Verktätigen, und wenn er die damalige Arbeitsweise der späteren kapitalistischen Arbeitsteilung ge­ genüberstellt, so tut er dies nicht so sehr, um jene zu verherrlichen, als vor allem, um den \Veg der Menschheit in die Zukunft der kommenden Befrei­ ung anzudeuten. Deshalb kann Engels, wenn er von der Renaissance spricht, sagen : »Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte. Rie­ sen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehr­ samkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründe­ ten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt . . . Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter der Teilung der Arbeit geknechtet, deren be­ schränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist, daß sie alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem D egen, manche mit beiden. Daher jene Fülle und Kraft des Charakters, die sie zu ganzen Männern macht. Stubengelehrte sind die Ausnahme : entweder Leute zweiten und dritten Rangs oder vorsichtige Philister, die sich die Finger nicht verbrennen wollen. « Dementsprechend forderten Marx und Engels von den Schriftstellern ihrer Zeit, daß sie durch die Charakterisierung ihrer Gestalten leidenschaftlich Stel­ lung nehmen gegen die zersetzenden und erniedrigenden Wirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung und daß sie die Menschen in ihrem Wesen und ihrer Totalität erfassen sollten. Und eben weil sie bei der Mehrheit ihrer Zeit­ genossen dieses Auf-das-Ganze-und-Wesentliche-Gehen, das erfolgreiche Stre­ ben nach Totalität vermißten, betrachteten sie sie als unbedeutende Epigo­ nen. In seiner Kritik von Lassalles »Sickingen«-Tragödie schreibt Engels : »Mit vollem Recht treten Sie der jetzt herrschenden schlechten Individua­ lisierung entgegen, die auf lauter kleine Klugscheißereien hinausläuft und ein wesentliches Merkmal der im Sande verrinnenden Epigonenliteratur ist. « Im selben Brief zeigt er aber auch, wo der moderne Dichter diese Kraft, diese umfassende Betrachtung, diese Totalität finden kann. Indem Engels Las­ salles Drama kritisiert, macht er ihm nicht nur den politischen Vorwurf, daß er die Sickingensche, von vornherein hoffnungslose, dem Wesen nach reaktio­ näre Adelsbewegung überschätzt und zugleich die großen Bauernrevolutionen der Zeit unterschätzt hat, sondern er weist auch darauf hin, daß nur die viel­ seitige und reiche Darstellung des Volkslebens dazu hätte führen können, sei­ nem Drama wirkliche, lebensvolle Charaktere zu geben.

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Die bisher angeführten Gesichtspunkte zeigen, wie die wirtschaftliche Grund­ lage der kapitalistischen Produktionsordnung auf die Literatur zurückwirkte, zumeist geradezu unabhängig von der Subjektivität der Schriftsteller. Marx und Engels sind aber weit davon entfernt, dieses letztere Moment auch nur im mindesten zu vernachlässigen. Im Laufe unserer weiteren Darlegungen werden wir noch eingehend auf die hier aufgetauchte Frage zurückkommen. Jetzt wollen wir nur auf ein Moment hinweisen. Den durchschnittlichen bür­ gerlichen Schriftsteller macht seine Anpassung an eine Klasse, an deren Vor­ urteile, an die kapitalistische Gesellschaft feige, läßt ihn vor dem Eingehen auf die wirklichen Probleme zurückschrecken. Der junge Marx schrieb im Laufe seiner in den vierziger Jahren geführten weltanschaulichen und litera­ rischen Kämpfe eine eingehende Kritik über den damals vielgelesenen, in Deutschland außerordentlich populär gewordenen und einflußreichen Roman von Eugene Sue : »Die Geheimnisse von Paris «. Hier wollen wir nur darauf aufmerksam machen, daß Marx gerade jenen Umstand am heftigsten geißelt, daß Sue sich feig der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft anpaßt, daß er aus Opportunismus die Wirklichkeit verzerrt und verfälscht. Selbstver­ ständlich : heute liest niemand mehr Sue. Aber in jedem Jahrzehnt treten, den bürgerlichen Stimmungen des jeweiligen Jahrhunderts entsprechend, Modeschriftsteller auf, für die - mit entsprechenden Varianten - diese Kri­ tik in jeder Hinsicht ihre Gültigkeit behält. Wir sahen : unsere Analyse, die von der Entstehung und Entwicklung der Literatur ausgegangen war, wächst geradezu unbemerkt in ästhetische Fragen im engeren Sinne des Wortes hinein. Und damit sind wir zum zweiten Fra­ genkomplex der marxistischen Kunstanschauung gelangt. Marx hält die Er­ forschung der historischen und gesellschaftlichen Vorbedingungen der Ent­ stehung und Entwicklung für außerordentlich wichtig, aber er behaupet nie­ mals, daß damit die Fragen der Literatur auch nur im mindesten erschöpft wären : »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. « Marxens Antwort auf die selbstgestellte Frage ist wieder inhaltlich-geschicht­ lich. Er weist darauf hin, wie sich das Griechentum, als die normale Kind­ heit der Menschheit, zum Seelenleben der viel später geborenen Menschen verhält. Die Frage führt dennoch nicht zu dem Problem der Entstehung der Gesellschaft zurück, sondern formuliert die grundlegenden Prinzipien der 1'.sthetik, freilich wieder nicht formalistisch, sondern in einem umfassenden

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dialektischen Zusammenhang. Die Antwort nämlich, die Marx hier gibt, wirft in bezug auf das ästhetische Wesen jedes Kunstwerkes, jeder Periode zwei große Fragenkomplexe auf : was bedeutet die so dargestellte Welt aus dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Menschheit? und : wie stellt der Künstler innerhalb dieser Entwicklung eine ihrer bestimmten Stufen dar? Nur von hier aus führt der Weg zur Frage der künstlerischen Form. Diese Frage kann selbstverständlich nur im engsten Zusammenhang mit den all­ gemeinen Prinzipien des dialektischen Materialismus gestellt und beantwor­ tet werden. Es ist eine Grundthese des dialektischen Materialismus, daß jedes beliebige Bewußtwerden der Außenwelt nichts anderes ist als die Wider­ spiegelung der vom Bewußtsein unabhängig existierenden Wirklichkeit in den Gedanken, den Vorstellungen, den Empfindungen usw. des Menschen. Frei­ lich grenzt sich der dialektische Materialismus, der in diesem aufs allgemeinste gefaßten Grundsatz mit jeder An von Materialismus konform geht und in schroffem Gegensatz zu jeder Abart des Idealismus steht, scharf vom mecha­ nischen Materialismus ab. Wenn Lenin diesen alten und veralteten Materialis­ mus kritisiert, so hebt er als Hauptgesichtspunkt gerade das hervor, daß der veraltete Materialismus nicht imstande ist, die Widerspiegelungstheorie dia­ lektisch zu fassen. Die künstlerische Schöpfung gehört also als eine Art der Widerspiegelung der Außenwelt im menschlichen Bewußtsein der allgemeinen Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus an. Allerdings ist sie, infolge der Eigentüm­ lichkeit der künstlerischen Schöpfung, ein eigentümlicher, besonderer Teil, in welchem oft von den anderen Gebieten scharf unterschiedene Gesetzmäßig­ keiten zur Geltung kommen. Im folgenden werden wir auf einige dieser Eigentümlichkeiten der literarischen, der künstlerischen Widerspiegelung hin­ weisen, ohne freilich auch nur den Versuch zu einem wenn auch bloß skiz­ zenhaften Erschöpfen des ganzen Fragenkomplexes zu machen. Die Theorie der Widerspiegelung in der Ästhetik ist durchaus nicht neu. Das Bild, die Widerspiegelung selbst, als die das Wesen der Schöpfung ausdrük­ kende Metapher, wurde durch Shakespeare berühmt, der in der Schauspieler­ szene im »Hamlet« auf diese Auffassung der Kunst hinweist als auf das Wesen seiner eigenen literarischen Theorie und Praxis. Aber der Gedanke selbst ist noch viel älter. Er ist bereits in der Ästhetik des Aristoteles eine zentrale Frage und herrscht auch seither - von dekadenten Zeiten abgesehen - in beinahe jeder großen Ästhetik. Die historische Darstellung dieser Ent­ wicklung ist selbstverständlich nicht die Aufgabe dieses Vorwortes. Es muß nur kurz darauf hingewiesen werden, daß viele idealistische Ästhetiken, auf

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ihre Weise, ebenfalls auf der Grundlage dieser Theorie stehen (z. B. die Pla­ tons). Noch wichtiger ist die Feststellung, daß geradezu alle großen Schrift­ steller der Weltliteratur instinktiv oder mehr oder minder bewußt so geschaf­ fen haben und bestrebt waren, sich die Hauptprinzipien ihres Schaffens in dieser Richtung bewußt zu machen. Das Ziel gleichsam aller großen Schrift­ steller war die dichterische Reproduktion der Wirklichkeit ; Treue der Wirk­ lichkeit gegenüber, leidenschaftliches Streben nach umfassender und wirklicher Wiedergabe der Wirklichkeit war für jeden großen Schriftsteller das echte Kri­ terium der schriftstellerischen Größe (Shakespeare, Goethe, Balzac, Tolstoi) . Daß die marxistische Ästhetik in dieser zentralen Frage nicht mit dem An­ spruch einer radikalen Neuerung auftritt, ist nur für jene überraschend, die die Weltanschauung des Proletariats ohne jeden ernsten Grund und ohne echte Kenntnis der Dinge mit etwas »radikal Neuem «, mit einem künstleri­ schen »Avantgardismus « verkoppeln ; die glauben, daß die Befreiung des Proletariats auf dem Gebiet der Kultur ein vollkommenes Aufgeben der Ver­ gangenheit bedeute. Die Klassiker und Begründer des Marxismus standen nie auf diesem Standpunkt. Ihrer Ansicht nach erben der Befreiungskampf der Arbeiterklasse, ihre Weltanschauung und die dereinst selbstgeschaffene Kul­ tur all das, was die vieltausendjährige Entwicklung der Menschh e it als wirk­ liche Werte hervorgebracht hat. Lenin stellt einmal fest, daß eine der Überlegenheiten des Marxismus über die bürgerlichen Weltanschauungen gerade in dieser Fähigkeit liegt, das pro­ gressive Kulturerbe kritisch zu übernehmen und sich die große Vergangenheit organisch anzueignen. Der Marxismus überflügelt nur insofern diese Ahnen - aber dieses »nur« bedeutet methodologisch und inhaltlich außerordentlich viel -, als er alle diese Bestrebungen bewußt macht, die idealistischen oder mechanischen Abschwenkungen aus ihnen entfernt, sie auf ihre wirklichen Ursachen zurückführt, sie in das System der richtig erkannten Gesetzmäßig­ keiten der gesellschaftlichen Entwicklung einfügt. Auf dem Gebiet der Ksthetik, der Literaturtheorie und der Literaturgeschichte können wir daher die Lage dahin zusammenfassen, daß der Marxismus jene zentralen Grund­ prinzipien der schöpferischen Arbeit, die im System der besten Denker, in den Werken der hervorragendsten Schriftsteller und Künstler seit Jahrtausenden lebendig sind, in die Sphäre der geklärten Begriffe hinaufhebt. Wenn wir nun einige der wichtigsten Momente dieser Lage zu klären wün­ schen, dann taucht sofort die Frage auf : was ist jene Wirklichkeit, deren treues Spiegelbild die literarische Gestaltung sein muß ? Hier ist vor allem die negative Seite der Antwort wichtig : diese Wirklichkeit besteht nicht bloß aus

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der unmittelbar empfundenen Oberfläche der Außenwelt, nicht bloß aus den zufälligen, momentanen eventualen Erscheinungen. Gleichzeitig damit, daß die marxistische Ästhetik den Realismus in den Mittelpunkt der Kunsttheorie stellt, bekämpft sie aufs schärfste jedweden Naturalismus, jede Richtung, die sich mit der photographischen Wiedergabe der unmittelbar wahrnehm­ baren Oberfläche der Außenwelt begnügt. In dieser Frage sagt die marxisti­ sche Ästhetik wiederum nichts radikal Neues aus, sondern hebt lediglich all das, was seit jeher im Mittelpunkt der Theorie und der Praxis der alten gro­ ßen Künstler stand, auf die höchste Stufe der Bewußtheit und vollkommenen Klarheit. Die Ästhetik des Marxismus bekämpft aber gleichzeitig ebenso scharf ein ande­ res falsches Extrem der Entwicklung, jene Auffassung nämlich, die aus der Einsicht, daß das Kopieren der Wirklichkeit zu verwerfen ist, daß die künst­ lerischen Formen unabhängig sind von dieser oberflächlidien Wirklichkeit, zu dem Extrem gelangt - in Theorie und Praxis der Kunst -, den künstle­ risdien Formen eine absolute Unabhängigkeit zuzuschreiben, die Vollkom­ menheit der Formen beziehungsweise ihre Vervollkommnung als Selbstzweck anzusehen und damit von der Wirklichkeit selbst zu abstrahieren, sich als von der Wirklichkeit unabhängig zu gebärden, sidi das Recht anzumaßen, diese radikal umzugestalten und zu stilisieren. Dies ist ein Kampf, in dem der Marxismus die Ansicht der wirklichen Größen der Weltliteratur darüber, was richtige Kunst ist, fortsetzt und weiterentfaltet : j ene Ansicht, wonad1 die Aufgabe der Kunst die treue und wahre Darstellung des Ganzen der Wirklich­ keit ist ; die Kunst ist geradeso weit entfernt von dem photographischen Kopie­ ren wie von der - letzten Endes - leeren Spielerei mit abstrakten Formen. Das so aufgefaßte Wesen der Kunst wirft eine zentrale Frage der Erkennt­ nistheorie des dialektischen Materialismus auf : die vom Erscheinen und We­ sen. Das bürgerliche Denken und demzufolge die bürgerliche .i\sthetik konn­ ten mit diesem Problem nie fertig werden. Jede naturalistische Theorie und Praxis vereinigt mechanisch, antidialektisch Erscheinung und Wesen, und in dieser trüben Mischung wird notwendigerweise das Wesen verdunkelt, ja es verschwindet sogar in den meisten Fällen vollständig. Die idealistische Kunst­ philosophie, die künstlerische Praxis des Stilisierens sehen den Gegensatz zwischen Wesen und Erscheinung zuweilen klar, aber infolge des Mangels an Dialektik oder infolge einer unvollkommenen, idealistischen Dialektik sehen sie zwischen Erscheinung und Wesen ausschließlich den Gegensatz und erkennen innerhalb der Gegensätzlichkeit nicht die dialektische Einheit der Widersprüche. (Diese Problematik ist bei Schiller in seinen außerordentlich

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interessanten und tiefschürfenden ästhetischen Studien wie auch in seiner dich­ terischen Praxis klar zu sehen.) Und die Literatur und Literaturtheorie nieder­ gehender Perioden pflegen beide falsche Tendenzen zu vereinigen : an die Stelle der wirklichen Erforschung des Wesens tritt ein Spiel mit oberflächlichen Ana­ logien, welche Analogien aber ebenso von der Wirklichkeit abstrahieren wie die Wesensdarstellung der idealistischen Klassiker ; diese leeren Konstruk­ tionen sind dann mit naturalistischen, impressionistischen usw. Details be­ hängt, und die organisch zusammengehörigen Teile werden durch eine Art mystifizierende » Weltanschauung« in einer Pseudoeinheit zusammengefaßt. Die wirkliche Dialektik von Wesen und Erscheinung beruht darauf, daß beide gleichermaßen Momente der objektiven Wirklichkeit sind, beide Produkte der Wirklichkeit und nicht bloß des menschlichen Bewußtseins. Jedoch - und dies ist ein wichtiger Satz der dialektischen Erkenntnis - die Wirklichkeit hat verschiedene Stufen : es gibt die nie wiederkehrende, flüchtige Wirklich­ keit der Oberfläche, der Augenblicklichkeit, und es gibt tiefere, gesetzmäßig wiederkehrende, obwohl mit den sich verändernden Umständen wechselnde Elemente und Tendenzen der Wirklichkeit. Diese Dialektik durchdringt das Ganze der Wirklichkeit, so daß in diesem Zusammenhang Erscheinung und Wesen sich wieder relativieren : das, was als Wesen der Erscheinung gegen­ überstand, als wir von der Oberfläche des unmittelbaren Erlebnisses aus tie­ fer gruben, wird bei eingehenderer Forschung als Erscheinung figurieren, hin­ ter welcher ein anderes, ein neues Wesen entsteht. Und so weiter bis in die Unendlichkeit. Die wirkliche Kunst tendiert daher auf Tiefe und Umfassung. Sie ist bestrebt, das Leben in seiner allseitigen Totalität zu ergreifen. Das heißt, sie erforscht, so weit wie möglich in die Tiefe dringend, jene wesentlichen Momente, die hinter den Erscheinungen verborgen sind, aber sie stellt sie nicht abstrakt, von den Erscheinungen abstrahierend, sie ihnen gegenüberstellend dar, sondern gestaltet gerade jenen lebendigen dialektischen Prozeß, in dem das Wesen in Erscheinung umschlägt, sich in der Erscheinung offenbart, sowie jene Seite desselben Prozesses, in welchem die Erscheinung in ihrer Bewegtheit ihr eige­ nes Wesen aufdeckt. Andererseits bergen diese einzelnen Momente nicht nur in sich eine dialektische Bewegung, ein Ineinander-überschlagen, sondern stehen auch in einer ununterbrochenen Wechselwirkung miteinander, sie sind die Momente eines ununterbrochenen Prozesses. Die echte Kunst stellt also immer ein Ganzes des menschlichen Lebens dar, es in seiner Bewegung Ent­ wicklung, Entfaltung gestaltend. Da dieserart die dialektische Auffassung das Allgemeine, Besondere und Ein-

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zeine i n eine bewegte Einheit zusammenfaßt, ist es klar, daß sich die Eigen­ art dieser Auffassung auch in den spezifischen künstlerischen Erscheinungs­ formen manifestieren muß . Denn im Gegensatz zu der Wissenschaft, die diese Bewegung in ihre abstrakten Elemente auflöst und bestrebt ist, die Gesetz­ mäßigkeit der Wechselwirkung dieser Elemente gedanklich zu erfassen, bringt die Kunst diese Bewegung als Bewegung in ihrer lebendigen Einheit zu sinn­ licher Anschauung. Eine der wichtigsten Kategorien dieser künstlerischen Syn­ these ist der Typus. Es ist daher kein Zufall, daß Marx und Engels bei der Bestimmung des echten Realismus in erster Linie auf diesen Begriff zurück­ greifen. Engels schreibt : »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typi­ schen Umständen . « Engels weist aber auch darauf hin, daß man diese Typen­ haftigkeit durchaus nicht der Einmaligkeit der Erscheinungen gegenüber­ stellen, daß man keine abstrakte Verallgemeinerung aus ihr machen darf : » . . . jeder ist ein Typus, aber auch zugleich ein bestimmter Einzelmensch, ein >DieserKabale und LiebeVolksstaatsHeften< verstehe ich solche, etwa wie die, worin Vischers Asthetik nach und nach erschienen ist. «l Es ist verständlich, daß Marx unter diesen Umständen den Aufbau der Asthetik Vischers sorg­ fältig untersuchte, um unter den äußerst ungünstigen Bedingungen, unter denen er damals sein ökonomisches Hauptwerk zur Publikation vorberei­ tete, eine möglichst günstige Kompositionsform für die Veröffentlichung zu finden. Dieses Interesse von Marx erklärt selbstredend nur die äußere Form der Exzerpte, nur die Tatsache, daß sie den Rahmen, die Komposition, den Auf­ bau des Vischerschen Werkes so gewissenschaft und gründlich fixieren. Hier liegt aber doch bloß ein vorübergehendes, formales Interesse ; vorübergehend, weil ja Marx bekanntlich später zu einem grundlegend anderen Aufbau ge­ kommen ist. Die endgültige schriftste l lerische Fixierung seines ökonomischen Hauptwerkes hat mit dieser Kompositionsart in »Heften« a la Vischer nichts mehr zu tun. Betrachten wir nun vom inhaltlichen Standpunkt aus die Marxschen Ex­ zerpte, vom Standpunkt seines Interesses an den ästhetischen Problemen und an der Art ihrer Betrachtung durch Vischer, so müssen wir vor allem darauf 1

Lassalles nachgelassene Schriften und Briefe, B erlin/Stuttgart 1 9 20, Bd.

m,

S.

x

1 6.

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achten, welche Teile der Vischerschen Asthetik Marx verhältnismäßig einge­ hend exzerpierte und an welchen er stillschwiegend vorbeiging und sich - wie gezeigt - auf die Fixierung ihres Aufbaus, ihrer Anordnung, ihrer Titel be­ schränkte. Gehen wir von diesem Standpunkt an die Exzerpte heran, indem wir sie fortlaufend mit dem Text Vischers vergleichen, so treten vor allem zwei Gesichtspunkte, zwei Interessenkreise von Marx ganz klar in den Vor­ dergrund. Auf den ersten hat bereits der sowjetische Literaturhistoriker M. A. Lifschitz in seiner Arbeit über Marx hingewiesen. Lifschitz schreibt sehr richtig : » Genau wie i n den Vorarbeiten zum >Traktat über die christliche Kunst< interessiert Marx in den Darlegungen Vischers nicht so sehr das >Asthetische< selbst als dessen direkter Gegensatz . . . so interessierten Marx in der Epoche der Abfassung des >Kapital< die Kategorien und Formen, die auf der Grenze des eigentlich Asthetischen liegen, in ihrer Analogie mit der widernatürlichen und verkehrten Welt der Kategorien der kapitalistischen WirtschaA:. « t In der Tat, wenn wir die Exzerpte rein quantitativ betrachten, so müssen wir be­ merken, daß fast die Hälfte der Notizen von Marx und noch dazu jener Teil, wo er am meisten die Grundlinien des Textes von Vischer für sich fixiert un d sich am seltensten mit bloßen Titelnotierungen begnügt, der Frage der sogenannten » Momente des Schönen «, den Problemen des Erhabenen und des Komischen gewidmet ist. Wir werden uns im Laufe unserer eingehenden Behandlung der Asthetik Vischers davon überzeugen können, daß hier ein entscheidender Problem­ komplex n icht bloß der Asthetik Vischers, sondern der ganzen Entwicklungs­ periode der nachhegelschen Asthetik vorliegt, dessen historische Wurzeln zumindest bis zur Frühromantik und Jean Paul zurückgehen : der Problem­ komplex der Formulierung der ästhetischen Probleme des Realismus vom Standpunkt der deutschen Bourgeoisie in der ersten Hälfte des 1 9 . Jahr­ hunderts. Die zentrale Wichtigkeit dieser Frage macht es unerläßlich, schon hier einige Bemerkungen über die Problemstellung der bürgerlichen Asthetiker und über die völlig entgegengesetzte Stellungnahme von Marx zu machen, wobei betont werden muß, daß die eigentliche Behandlung der Frage erst später, im Laufe der Analyse von Vischers Anschauungen, ihrer Wandlungen und der ökonomisch-politischen Ursachen dieser Wandlungen, erfolgen kann. I

MnxaMJI Jl J!lcPllIH� : BonpOCbI HCKYCC T B a Jil cPHJIOCOcPJll Jil . (Michail Lifschitz :

Fragen der Kunst und Philusophie), Moskau 1 9 3 5 , S. 2 5 5 ff.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Das Problem des Realismus, der naturwahren Reproduktion der gesellschaft­ lichen Wirklichkeit, taucht in Deutschland, auf Grund der verspäteten Ent­ wicklung des Kapitalismus und der infolgedessen verspäteten und schwäch­ licheren Entwicklung der Bourgeoisie als revolutionärer Klasse, später und schwächlicher auf als in England und Frankreich. Dieselbe Ungleichmäßig­ keit der Entwicklung hat aber zugleich zur Folge, daß - wie es Engels für die allgemeine philosophische Entwicklung nachwies - die praktisch rück­ ständiger gelösten Fragen der Kunst theoretisch auf einem sehr hohen Niveau, freilich in idealistischer Weise, gestellt und gelöst wurden. Hegel faßt diese Probleme noch vom Standpunkt der ins Napoleonische verwandelten Fran­ zösischen Revolution zusammen ; die zentrale Stellung des Griechentums in Hegels Ästhetik ist der klarste Ausdruck dieses Entwicklungsstadiums auf dem Gebiet der deutschen Ideologie. Bei Hegel geht dementsprechend die ge­ schichdid1e Entwicklung über die Sphäre der Kunst, die ihre adäquate Ver­ wirklichung im Griechentum findet, hinaus. Die Gegenwart, die Periode des Realismus, der Prosa, ist für Hegel eine Entwicklungsstufe des » G eistes «, in der für diesen die Kunst bereits nicht mehr einen zentralen, substantiellen Gehalt bilden kann, in der der »Geist« sich wirklich adäquat nur prosaisch - als Staat, als Philosophie - zu verkörpern vermag. Dieser Anschauung tritt bereits gleichzeitig die theoretische Verteidigung der Kunst der Gegenwart gegenüber (Schlegel, Solger, Jean Paul), und diese Ver­ teidigung verstärkt sich mit der Zeit, wird noch klarer formuliert im Lager des Hegelianismus selbst und in dem seiner Gegner. Nicht nur linke Hegelia­ ner wie Ruge (»Neue Vorschule zur Ästhetik«, 1 8 3 7), nicht nur das soge­ nannte »Zentrum« der Hegelianer (Rosenkranz : »Die Asthetik des Häß­ lichen«, 1 8 5 3, auch Vischer), sondern sogar rechte Gegner Hegels (Weiße : »Ästhetik«, 1 8 3 0) stellen, i n ständiger Polemik gegen Hegel und dessen Be­ wertung der Möglichkeit einer Kunst der Gegenwart, diese Frage in den Mittelpunkt der Debatten. Kurz gefaßt, lautet die Fragestellung so : die Ge­ genwart als Inhalt und Stoff der Kunst macht eine Gestaltung, auf die die Kategorie » Schönheit« in ihrer herkömmlichen Fassung anwendbar wäre, unmöglich. Dieser für die Verwirklichung der » Schönheit« ungünstige Cha­ rakter der Gegenwart muß von der Asthetik anerkannt werden. Es dürfen jedoch aus dieser Sachlage nicht jene Konsequenzen gezogen werden, die Hegel selbst gefolgert hat, sondern es muß der Schönheitsbegriff so ausgedehnt wer­ den, daß er die Tendenzen der modernen Kunst als »Moment« in sich auf­ nehmen kann. Es muß also der Begriff des Häßlichen als integraler Bestand­ teil und nicht bloß als Negation des »Schönen« in die .Asthetik einbezogen

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werden . Während für die klassische Ästhetik das Häßliche, als kontradikto­ rischer Gegensatz des Schönen, außerhalb der Ästhetik liegt, als Negation der ganzen Ästhetik, als das von ihr glatt zu negierende Prinzip gilt, versuchten die von uns angeführten Autoren - die nur die prägnantesten Repräsen­ tanten einer breiten und vielseitigen Tendenz in der deutschen Ästhetik vor­ stellen - zwischen schön und häßlich ein dialektisches Verhältnis der Gegen­ sätzlichkeit zu konstruieren. Das Erhabene und das Komische sind nun jene Momente des idealistischen - dialektischen Prozesses, mit dessen Hilfe diese Denker, jeder in verschiedener Weise, die dialektische Aufhebung des Schönen durch das Häßliche und seine dialektische Rückkehr zu sich selbst über die gesetzten und aufgehobenen Momente des Erhabenen und des Komischen, also die dialektische Wiederherstellung des Schönen bewerkstelligen. Es ist keine Frage : diese Problemstellung ist ein Fortschritt über Hegel hin­ aus. Jedoch ein sehr ungleichmäßiger, ein Fortschritt, der zugleich, und in untrennbarer Weise, Elemente des Stehenbleibens auf dem Hegelschen Standpunkt, ja auch Elemente des Zurückfallens hinter diesen Standpunkt in sich birgt. Vor allem teilen alle diese Schriftsteller die idealistische Grund­ einstellung Hegels, ja sie geraten viel öfter als Hegel selbst in eine unorga­ nische Mischung von objektivem und subjektivem Idealismus. Ihre Dialektik, als reine Gedankendialektik, ist daher nicht imstande, das entschei dende Problem, das die gesellschaftliche Wirklichkeit der Ästhetik gestellt hat, ge­ danklich zu erfassen und durchzuarbeiten. Diese Unfähigkeit zur wirklichen Lösung der objektiv entstandenen Probleme wurzelt im gesellschaftlichen Sein der deutschen Bourgeoisie dieser Periode. Das Problem des Häßlichen ist das Problem der künstlerischen Widerspiegelung, der künstlerischen Reproduk­ tion und Gestaltung der kapitalistischen Wirklichkeit. Will man dieses Pro­ blem theoretisch lösen - so wie die großen realistischen Schriftsteller der französischen und englischen Bourgeoisie von Le Sage bis Balzac, von Swift bis Dickens an seine Lösung praktisch-schöpferisch herangingen -, so muß man den ökonomisch-gesellschaftlichen Tatsachen der kapitalistischen Ent­ wicklung unerschrocken ins Gesicht sehen. Andererseits - und das ergibt sich aus diesem Mut zum Erforschen und Aufdecken der unerfreulichsten Tat­ sachen - muß es sich künstlerisch erweisen, daß die traditionellen ästheti­ schen Kategorien zum Erfassen und Darstellen der kapitalistischen Wirklich­ keit ungeeignet sind ; daß » die kapitalistische Produktion gewissen geistigen Produktionszweigen, wie Kunst und Poesie, >feindlich< ist« (Marx). Die I deologen der in der ökonomischen Entwicklung spät gekommenen deutschen Bourgeoisie, die den Kampf um die Staatsmacht in einer Periode aufzuneh-

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik men gezwungen war, m der bereits das Proletariat als selbständige Macht die - internationale - Arena der Klassenkäm pfe betrat, die die volle Ent­ faltung der kapitalistischen Produktion erst in einer Zeit erlebte, in der ihre unbefan gene Erforschung klassenmäßig unmö glich geworden war, konnten unmöglich die hier nötige Unerschrockenheit und Rücksichtslosigkeit im Zu­ endedenken der Probleme besitzen. Die »Schönheit«, die ihre .itsthetik trotz allem zu retten versuchte, ist einerseits nicht mehr das klassisch-revolutionäre citoyen-Ideal der Periode von Macchiavelli, Milton, Rousseau und Hegel, sondern sinkt immer mehr, mit dem Abnehmen des revolutionären Schwungs im Bürgertum, zu einem formalistisch-inhaltslosen, posenhaf ten oder süß­ lichen Akademismus herab. Andererseits zwängen die Kategorien Erhaben und Komisch, wie wir später ausführlich darlegen werden, alle Probleme der kapitalistischen Wirklichkeit von vornherein in einen » ästhetischen Rah­ men « ; d. h. die Kategorien werden idealistisch-apologetisch von vornherein so bestimmt, daß ihre Aufhebung in die »Schönheit« möglich sei. Und dies ist nichts weiter als der ästhetisch-theoretische Ausdruck für die allgemeine Klassentendenz : ein » verklärtes « Bild der kapitalistischen Wirklichkeit zu geben, ihre fürchterlichen Seiten als •Auswüchse«, als »Ausnahmen«, als »außerhalb« des Typischen, des Gottes, des Gesetzes liegende Erscheinun­ gen aufzufassen ; also : die kapitalistische Wirklichkeit - theoretisch wie praktisch nur scheinbar, nur, im besten Fall, halbscheidig in die 1\sthetik einzubeziehen. Die abstrakt-idealistische Gedankendialektik vermag nur auf der Oberfläche diese gesellschaftliche Grundlage der Problemstellung und -lösung zu ver­ decken. Wenn Ruge, im Anschluß an den reaktionären Hegelgegner Weiße, das Problem des Häßlichen aufwirft und gegen » die unwahre Gestalt eines großen Teils der allerneuesten Poesie« wettert, so kommt er zur Bestimmung des Häßlichen als des » endlichen Widerspruchs «l. (Das Erhabene ist der »absolute Widerspruch «2.) Was aber unter »Endlichkeit« zu verstehen ist, führt er sehr klar aus : »Denn dies ist die höchste Weisheit für diese Sphäre; ihre Helden sind Manufakturhelden, große Landwirte, der berühmte Ban­ quier, Fulton und seine Dampfmaschine und so weiter. Diese Weisheit, die in der Endlichkeit steckenbleibt, ist freilich borniert und unwahr, aber böse und häßlich wird sie erst, wenn sie nun diesen vereinzelten Geist in seiner Be­ wußtlosigkeit und Beschränktheit zum Prinzip macht in Widersetzlichkeit -

x Ru g e : Neue Vorschule zur �sthetik, Halle 1 8 37, S. 96. 2 Ebd., S. 92.

Karl Marx und Friedrich Theodo r Vischer gegen das Allgemeine und Absolute, indem nämlich geleugnet wird, daß es eine wahre Gestalt des Geistes außer diesen endlichen gäbe, dat1 also die end­ liche u nwahre die einzig wahre Ges talt des Geistes, also die endlichen Zwecke die höchsten Gesetze seien . « 1 Die tragische Selbsttäuschung der revolutio­ nären Ideologen des Bürgertums, der Jakobiner, deren künstlerischer Aus­ druck das Antikisieren in Theorie und Praxis der Kunst gewesen ist, ver­ wandelt sich hier in eine kleinbürgerliche Schulmeisterei gegenüber der kapitalistischen Entwicklung vom Standpunkt der »Bildung«, des »redlichen Beamtenbewußtseins« . »Welche kolossale Täuschung« , schreibt Marx über die Jakobiner, » die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der In­ dustrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen , der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität - in den Menschenrechten anerkennen und sanktio­ nieren zu müssen und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen ! «2 Die tragische Selbsttäuschung dieses » schwärmerischen Terrorismus« hat sich bei Ruge be­ reits in ein komisch-überhebliches Schulmeistertum verwandelt : die kapitali­ stische Entwicklung wird » anerkannt«, es wird von ihr »bloß « gefor­ dert, daß sie ihrerseits wiederum die Superiorität der »Bildung« anerkenne, daß sie sich mit der »Endlichkeit« begnüge und sich nicht anmaße, Selbst­ zweck und Endziel zu sein. Und diese Überheblichkeit der Ideologen kann sich die Bourgeoisie um so mehr gefallen lassen, als jene »Erlösung« des ab­ gefallenen »Geistes« , die Ruge hier predigt, letzten Endes auf eine Verherr­ lichung des Kapitalismus hinausläuft. Daß diese Verherrlichung mit einem Schuß von romantischer Kritik am Kapitalismus untermischt ist, mit einer Kritik, die das Häßliche des Kapitalismus an der » Schönheit« vorkapitalisti­ scher oder primitiv-kapitalistischer Zustände mißt, ändert an den grundlegen­ den Tatsachen nichts. Sehr charakteristisch spricht Vischer diese Nuance aus, wenn er die »Versöhnung« am Ende von Goethes » Faust« für notwendig ansieht, jedoch hinzufügt : » Diese Versöhnung mochte immerhin durch geord­ nete praktische Tätigkeit herbeigeführt werden, aber nur nicht durch eine prosaisch industrielle. «3

1 Ehd., s. 97· 2 Marx/Engels : Die heilige Familie und andere philosophisdie Frühschriften, Berlin 1 9 5 3 , s. 2 5 0. 3 Vischer : Kritisdie Gänge, Neue Ausgabe, München 1 9 2 2 , Bd. 11, S. 2 1 1 .

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Womöglich noch klarer zeigt sich die gesellschaftliche Grundlage dieser Frage­ stellung bei Rosenkranz ; sein Buch ist ja auch nach 1 8 4 8 geschrieben worden. Für Rosenkranz ist das Häßliche »an und für sich mit dem Bösen identisch«1• Indem er nun diesen Gedanken und seine Anwendung auf die Poesie, also das Häßliche als Gegenstand der Dichtung zu konkretisieren beginnt, kommt er zu einer sehr merkwürdigen und charakteristischen Aussage : »Die Neigung zur poetisierenden Behandlung des Kriminalverbrechens « entsteht nämlich nach Rosenkranz »erst mit dem Bewußtsein über das welthistorische Auf­ treten des Proletariats«2. Rosenkranz stellt also einerseits den Zusammen­ hang jener ideologischen Entwicklung der Bourgeoisie, jener ideologischen Krise, die dazu geführt hat, den Problemen des Häßlichen in der Äs thetik eine zentrale Stellung zu geben, mit dem Auftreten des Proletariats fest, an­ dererseits verengt und verbiegt er sogleich das Problem, um einer wirklichen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ausweichen zu können. Er charakterisiert die »sozialen Romane« der Periode von 1 8 3 0-4 8 (in erster Linie die Ro­ mane Eugene Sues) als »Giftblüten« . Er sieht aber zugleich ein, daß die bürgerliche Literatur der Frage des Bösen, des Häßlichen infolge der Ent­ wicklung der Gesellschaft selbst nicht mehr entraten oder ausweichen kann. Die Lösung, die er hier findet, ist nun wieder sehr charakteristisch für die deutsche Bourgeoisie, die sich in einer Periode der raschen ökonomischen Er­ starkung auf die totale Unterwerfung unter die »bonapartistische Monarchie« Bismarcks vorbereitete. Rosenkranz verlegt nämlich die ästhetische Verklä­ rung des Bösen aus der Stoffwelt der »Unteren« Klassen, wo sie eine »Giftblüte« ist, in die » oberen« Klassen, und sofort hat sich das Bild ver­ schoben. »Die Verbrechen, die begangen werden, sind materiell dieselben. «J Da aber »mit dem Leben hervorragender, insbesondere fürstlicher Persönlich­ keiten große Veränderungen des Staates und der Gesellschaft unmittelbar verknüpft sind, steigert sich unsere Teilnahme« . Diese Auffassung des Häß­ lichen als ästhetischer Kategorie führt also vom großen bürgerlichen Realis­ mus weg. Sie wird zum theoretischen Wegbereiter jener Entwicklungsrichtung, deren bedeutendste Vertreter in Deutschland Friedrich Hebbel und Richard Wagner gewesen sind und die die Zersetzung der alten moralischen Anschau­ ungen der Bourgeoisie infolge ihres Hinüberwachsens aus einer revolutio­ nären Klasse in eine reaktionäre darstellt, aber in einer Weise darstel lt, die 1 Rosenkranz : Die Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1 8 5 3 , S. 3 2 5 . 2 E b d . , S . 3 27.

3 Ebd., S. 329.

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diese Zersetzung von ihrer materiellen, gesellschaftlich en Grundlage mög­ lichst loslöst und sie in dieser Loslösung mit den Mitteln heroisierender Stili­ sierung und psychologischer »Vertiefung« ästhetisch verklärt. Rosenkranz, der persönlich mehr zu einem kompromißleris chen Akademismus neigt, ist hier weniger charakteristisch als Vischer selbst, dessen Entwicklung in dieser Richtung später behandelt werden wird. Aber der persönliche Geschmack Rosenkranz', auch seine theoretisch, an Vischer gemessen, rechtere Einstel­ lung, seine Abneigung gegen Hebbel usw. ändern an der Grundtendenz sehr wemg. Diese Darlegungen genügen wohl, um klarzustellen, daß die verschiedenen Formen der idealistisch-formalistischen, scheindialektischen Triade von Er­ haben - Komisch - Schön bei diesen Schriftstellern nur dazu dienen : das zentrale Problem der künstlerischen Praxis ihrer Epoche, das Problem der Gestaltung der kapitalistischen Wirklichkeit, das zu stellen sie gesellschaft­ lich genötigt waren, ins Apologetische umzubiegen. Die Frage des Realismus wird gestellt, mußte gestellt werden ; sie wird aber so gelöst, daß ihre Beja­ hung der Verneinung des wirklichen, gesellschaftskritischen Realismus gleich­ kommt. Aus alledem ist der diametrale Gegensatz dieser Ksthetiker, die verschiedene Schattierungen der deutschen l iberalen Bourgeoisie vor und nach der Revolu­ tion von 1 8 4 8 vertraten, zu Marx klar ersichtlich. Um das Bild ganz abzu­ runden, stellen wir einige Bemerkungen von Vischer und Rosenkranz über Eug�ne Sues »Geheimnisse von Paris« denen von Marx aus der »Heili­ gen Familie« gegenüber. Denn Marx kritisiert die sentimental-pseudoreali­ stischen Halbheiten dieses Romans mit vernichtender Schärfe von links, während Vischer und Rosenkranz sie in charakteristisch deutsch-liberaler Weise von rechts angreifen. Vischers allgemeine Charakteristik läuft darauf hinaus, daß der Stoff von Sues Roman ästhetisch unmöglich sei. Er begründet dieses Urteil folgendermaßen : »Wir verlangen, wenn von einer wahrhaft ästhetischen Durchführung die Rede sein soll, ein Bild, welches einen Prozeß der Bewegung in sich darstell t, einer Bewegung, welche durch Schauer und Elend zu einem versöhnenden Schluß führt.« .1 Diese Möglichkeit ist ge­ schichtlich noch nicht gegeben ; daher die Problematik der modernen Kunst. Vischer steht nämlich, bei allen seinen liberalen Halbheiten, an Ehrlichkeit noch immer turmhoch über den einfachen Apologeten des Kapitalismus etwa Eugen Richterseher Observanz . Er versteht von den ökonomischen Ursachen 1 Vischer : A.

a.

0. Bd. 11, S. 1 5 2 .

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der gesellschaftlichen Schrecken des Kapitalismus nichts ; er leugnet sie aber nicht schlechtweg, wenn er ihnen begegnet (wenigstens nicht vor 1 8 4 8 ) . Er hat nur aus den unentwickelten kapitalistischen Verhältnissen Deutschlands, aus Unkenntnis des französischen und englischen Kapitalismus, aus Unverständ­ nis der allgemeinen Gesetze der kapitalistischen Entwicklung eine liberale Utopie zusammengebraut, die in dem Gedanken gipfelt : » Die politische Re­ form soll auch eine soziale sein ; eine Hauptursache der Zerstörung aller For­ men ist die Armut des Volkes.«1 Also : die Umgestaltung Deutschlands im Sinne des Liberalismus wird die sozialen Fragen lösen. Bis dahin l i egt die »Versöhnung« und mit ihr die Aufhebung des Häßlichen in die wieder­ hergestellte Schönheit » nur in Hoffnungen und Forderungen an die Zukunfl« ; d . h . für Vischer außerhalb der Kunst. Ist also Sue in Vischers Augen zu realistisch, so gibt die Analyse von Marx eine zerschmetternde Kritik seines Mangels an Realismus, seiner Verlogen­ heit, seines teils naiven, teils bewußt-heuchlerischen Verkennens und Ver­ drehens aller gesellsdiaftlichen Tatsachen, Zusammenhänge, Typen usw., die er schildert. Marx führt ironisch aus, » daß Eugene Sue aus Höfl ichkeit gegen die französische Bourgeoisie einen Anachronismus begeht, wenn er das Motto der Bürger aus der Zeit Ludwigs x1v : >Ah ! si le roi le savait ! < in der modifizierten Form : >Ah ! si le riche le savait !< dem Arbeiter Morel in den Mund l egt. In England und Frankreich wenigstens hat dies naive Verhältnis zwischen Reich und Arm aufgehört. «2 Oder an einer anderen Stel l e : »Wie in der Wirklichkeit alle Unterschiede immer mehr in den Unterschied von arm und reich zusammenschmelzen, so lösen sich in der Idee alle aristokra­ tischen Unterschiede in den Gegensatz des Guten und des Bösen auf. Diese Untersdieidung ist die l etzte Form, welche der Aristokrat seinen Vorurteilen erteilt. «3 Wir können hier unmöglich die - auch ästhetisch sehr wichtige - Kritik von Marx an Sue ausführlich analysieren. Wir woll en ja bloß den Kontrast zwi­ schen der marxistisdien und der l iberal-idealistischen Behandlung dieser ästhetischen Probleme kurz beleuchten. Wer die »Heilige Familie« gelesen hat, wird sidi erinnern, daß Marx an einem Punkt, bei der Darstell ung der Fleur de Marie, etwas Positives an Sue findet. »Eugen Sue«, sagt er, »hat sich über den Horizont seiner engen Weltanschauung erhoben. Er hat den

1

Vischer : Ästhetik, Reutlingen -Leipzig von 1 84 6 an, Bd. u . § 378 .

.2

Marx/En gels : Die heilige Familie, a. a. 0. S. 1 6 3 .

3 Ebd., S. 3 5 4.

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Vorurteilen der Bourgeoisie ins Gesicht geschlagen.«1 Marx zeigt aber dann, daß im Laufe der Entwicklung die bourgeoise Verlogenheit Sues immer mehr in Erscheinung tritt. Die »tüchtige Natur« Maries wird zertreten, »Rudolph hat also die Fleur de Marie erst in eine reuige Sünderin, dann die reuige Sünderin in eine Nonne und endlich die Nonne in eine Leiche verwandelt«2. Es ist nun sehr interessant, wie Rosenkranz über Marie als Prostiuierte, die nach Marx »einen menschlichen Seelenadel, eine menschliche Unbefangen­ heit und eine menschliche Schönheit bewahrt, welche ihrer Umgebung im­ ponieren«, urteilt. Er sagt nur : eine Prinzessin als Prostituierte sei »inter­ essant, aber nichts weniger als poetisch«. Und über den Schluß - nebenbei über die Ansätze zu einer Gesellschaftskritik in Hebbels »Maria Magdalena« scharf aburteilend - sagt er : » Sue hat wenigstens so viel Takt gehabt, sie unverheiratet am Hof ihres Vaters, des deutschen allegorischen Fürsten Rudolphe, an der Schwindsucht sterben zu lassen.«3 Warum hat nun Marx sich gerade für diesen Teil der Vischerschen .Ästhetik am m eisten interessiert, wo es doch aus unseren Darlegungen klar hervor­ geht, daß er für die Problemlösungen Vischers nur die unwilligste Verach­ tung haben konnte? Uns scheint, daß gerade diese radikale Ablehnung der eine Grund für das gründliche Exzerpieren der Abschnitte über die »Mo­ mente« des Schönen gewesen ist. Vergessen wir nidit, daß Marx die Vischer­ sche .Ästhetik in der Periode der Vorarbeiten zum »Kapital«, knapp vor der endgültigen Niederschrift von » Zur Kritik der politischen Ökonomie« ge­ lesen hat. Und vergessen wir nicht, daß er in diesen Werken sowohl die gräßlichen Seiten des Kapitalismus wie zugleich auch die riditigen und vor allem die falschen ideologisdien Widerspiegelungen der Bewegung, Erschei­ nungsweise usw. des Kapitalismus in systematischer Ausführlichkeit behan­ delt hat. Vischers .Ästhetik hat ihm nun einen solchen Widerspiegelungskom­ plex in ausführlichster, geradezu pedantischer Systematik, mit einer reichen Fülle von konkreten Beispielen, von problemgesdiichtlichen Darstellungen geboten. Diese Ausführlichkeit und Systematik, dieser Versuch, auf alle Mög­ lichkeiten einzugehen, konnte also für Marx ein bestimmtes Anschauungs­ material für falsche Ideologie, für verzerrte Widerspiegelung des objektiven Verzerrungsprozesses liefern. (Lifschitz weist mit Recht auf das Problem der »Maßlosigkeit« hin.) Die Falschheit der Anschauungen Vischers entwertete I Ebd., s. 3 I 2 . z Ebd., S. 3 1 9 . 3 Rosenkranz : A . a. 0. S . 1 0 6 f.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik nicht das Material für Marx : er erhielt ein Kompendium von ideologischen Problemen, von Möglicl1keiten ästhetischer Fragestellungen und Lösungen, die, wenn auch von unrichtigen Ausgangspunkten ausgehend, wenn auch falsch gestellt und gelöst, doch ästhetische Widerspiegelungen gerade jener Seite der objektiven Wirklichkeit gewesen sind, für die Marx in dieser Pe­ riode ein spezifisches Interesse haben mußte. Der zweite Hauptgesichtspunkt, der, offenbar, das Interesse von Marx an Vischers Asthetik bestimmte, war das Problem des tätigen Anteils des Sub­ jekts an der Entstehung des »Schönen « . Dieses Interesse von Marx beschränkt sich nicht auf den eigentlichen »subjektiven « Abschnitt der Vischerschen Asthetik, auf den Abschnitt über die Phantasie. Marx exzerpiert aus allen Teilen der Vischerschen l\sthetik die historisch oder methodologisch wichtigen Sätze, die sich mit der aktiven, tätigen Rolle des Subjekts in dieser Sphäre befassen, sowohl aus d em ersten prinzipiellen Teil der »Metaphysik des Schönen «, wie aus der B ehandlung der Naturschönheit und aus den Schluß­ kapiteln über künstlerische Technik. Dieses Interesse von Marx an Proble­ men, die Vischer aufwirft und behandelt, läßt sich, wenn wir an die Periode der Lektüre denken, leicht verstehen. Marx führte zeit seines Lebens einen ununterbrochenen Zweifrontenkampf gegen Idealismus und mechanischen Materialismus. In den vierziger Jahren, in d er Periode der Oberwindung und materialistischen Umstülpung Hegels, stand notwendig der Kampf gegen den Idealismus im Vordergrund (»Heilige Familie«, »Deutsche Ideo­ l ogie«). Es darf jedoch auch hier nicht vergessen werden, daß der Feu erbach­ Abschnitt der »Deutschen Ideologie« und insbesondere die Feuerbach-Thesen die Frage der Oberwindung des mechanischen, des » alten« Materialismus mit größter Schärfe stellen. Und gerade durch diese Thesen geht der Vorwurf gegen den bisherigen, den mechanischen Material ismus durch, daß er die » tätige Seite«, die Praxis, dem Idealismus überlassen habe, der sie selbstver­ ständlich nur abstrakt entwickeln konnte ; daß der mechanische Materialismus die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und den Umständen außer acht l äßt, daß er »vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden« usw. Die Konkretisierung seiner Anschauungen auf breiter histori­ scher Basis, die in »Zur Kritik der politischen Ökonomie« beginnt und im »Kapital « gipfelt, zeigt die konsequente Durchführung dieser Linie. Die Konkretisierung dieser »tätigen Seite« auf dem Gebiet der Ökonomie, die Zurückführung der fetischistischen bürgerlichen Vorstellungen über die Kate­ gorien der Ökonomie (als »Dinge«) auf (durch Dinge vermittelte) Beziehun­ gen von Menschen (Klassen), die dialektische Klarlegung der Beziehung von

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Produktion und D istribution, Austausch und Konsumtion usw., alle diese Probleme in » Zur Kritik der politischen Ökonomie« bestimmten Marx, die »tätige Seite« sehr scharf herauszuarbeiten und die Polemik gegen ihre mechanische Verkennung zu verschärfen. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Engels in seiner Besprechung von » Zur Kritik der politischen Ökonomie« gerade diese Momente energisch in den Vordergrund stellt und, den Zwei­ frontenkampf vollständig bewahrend, sich scharf ironisch über den »steifen Karrengaul des bürgerlichen Alltagsverstandes« äußert, mit dem man un­ möglich »auf das sehr kupierte Terrain des abstrakten Denkens par force jagen « gehen kann1• Und ein Haupthindernis, vor dem der »Steife Karren­ gaul « steht, ist, nach Engels, der » Graben, der Wesen von Erscheinung, Ur­ sache von Wirkung trennt«. Aber dieses Problem heißt für die Ökonomie soviel : »Die Ökonomie handelt nicht von Dingen, s ondern von Verhältnis­ sen zwischen Personen und in letzter Instanz zwischen Klassen ; diese Ver­ hältnisse sind aber stets an Dinge gebunden und erscheinen als Dinge.«2 Wenn wir noch hinzufügen, daß Marx in »Zur Kritik der politischen Ökonomie« diese Frage nicht nur für die Untersuchung der ökonomischen Basis, sondern auch, von ihr ausgehend, für das Verhältnis von Basis und Überbau gestellt und gelöst hat ; wenn wir hinzufügen, daß in diesen Untersuchungen die Frage der »ungleichmäßigen Entwicklung« auch der Kunst auftaucht, so ist, glauben wir, das Interesse von Marx diesem Fragenkomplex gegenüber ge­ rade in dieser Periode seines Schaffens leicht zu verstehen. Wiederum handelt es sich dabei nicht um die Kritik der diesbezüglichen An­ schauungen Vischers oder der von ihm behandelten Autoren, die Marx dabei exzerpiert. Die Linie der Marxschen Kritik an ihnen ist so klar, daß es für Marx offenbar überflüssig schien, sie auch nur andeutend niederzuschreiben. Das Interesse von Marx konzentrierte sich dabei zweifellos auf die verschie­ denen Formen von ästhetischen Fragestellungen und -lösungen, bei denen diese Probleme - wenn auch unrichtig gestellt - auftreten. Wir verweisen dabei z. B. auf das sehr interessente ausführliche Exzerpt, wo er die ver­ schiedenen, bei Vischer zerstreuten Außerungen von Kant, aus der »Kritik der Urteilskraft«, systematisch zusammenfaßt, um die Eigenart der Kant­ schen Fragestellung hervortreten zu lassen, nämlich den rein subjektiven Ausgangspunkt für die Asthetik, der aber doch dazu führt, das Schöne (im

1

Engels : Karl Marx, » Zur Kritik der politischen Ökonomie« in Marx : Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 19 5

2 Ebd., S . 2 19 .

I,

S. 2 1 5 .

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Gegensatz zum Angenehmen) nicht auf » reine Privatgefühle« zu gründen, s ondern von hier aus zu versuchen, ein Allgemeines aufzufinden. Vielleicht noch interessanter ist die Stelle, wo er, im Abschnitt über »Natur­ schönheit«, besonders » die Schönheit in der anorganischen Natur« (Licht, Farbe usw.) sehr ausführlich exzerpiert. Wir schreiben einige wichtige Zeilen dieses Exzerptes hierher, um kurz auf eine Stelle in »Zur Kritik der poli­ tischen Ökonomie«, die ebenfalls die Frage der Farben s treift, einzugehen. Marx exzerpiert also aus Vischer : »Farbe. Colores apparentes. An bestimmte Körper gebundene Farben - erscheint als der Ausdruck der innersten Mischung, der eigentlichen Qualität der Dinge - Stimmungen (unbewußte Symbolik), die Weiß, Schwarz, Grau-Gelb, Rot, Blau, Grün mit sich führen. Sinnlich-sittliche Bedeutung. Übergangsfarben, Schattierungen und Töne der Farben, Eigenheit der Färbung für jedes Individuum. Farben, das differen­ zierte Licht usw . . . . « Man lese nun die folgende Stelle über Gold und Silber aus »Zur Kritik der politischen Ökonomie« : » . . . Andrerseits sind Gold und Silber nicht nur negativ überflüssige, d. h. entbehrliche Gegenstände, sondern ihre ästhetischen Eigenschaften machen sie zum naturwüchsigen Material von Pracht, Schmuck, Glanz, sonntäglichen Bedürfnissen, kurz zur positiven Form des Überflusses und Reichtums. Sie erscheinen gewissermaßen als gediegenes Licht, das aus der Unterwelt hervorgegraben wird, indem das Silber alle Lichtstrahlen in ihrer ursprünglichen Mischung, das Gold nur die höchste Potenz der Farbe, das Rot, zurückwirft. Farbensinn aber ist die populärste Form des ästhetischen Sinnes überhaupt. Der etymologische Zusammenhang der Namen der edlen Metalle in den verschiedenen indogermanischen Spra­ chen mit Farbenzeichnungen ist von Jakob Grimm nachgewiesen worden. (Siehe seine Geschichte der deutsd1en Sprache.) « 1 E s ist dabei eine sekundäre und auch nicht entscheidbare Frage, o b den un­ mittelbar anregenden Anlaß zu diesen Darlegungen von Marx die exzerpierte Vischerstelle oder Grimm gebildet hat. Wichtig für uns in diesem Neben­ einanderstellen ist der Kontrast der Methoden, der dabei zwischen Vischer und Marx zum Ausdruck kommt. Vischer ist, als idealistischer Hegelianer, gezwungen, die Naturerscheinungen entweder vom Menschen und seiner Pra­ xis zu trennen oder subjektive Elemente auch dort hineinzutragen, wo es sich offenbar um Erscheinungen handelt, deren Wesen es ist, vom Subjekt unab­ hängig zu sein ; er verfällt also, wie Marx über den späteren Hegel s agt, gleichzeitig einem »unkritischen Positivismus « und einem »unkritischen I dea1 Marx : Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 195 1, S. 1 66 f.

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lismus « 1 • Wir werden später sehen, daß gerade dieses Problem zu den Moti­ ven gehörte, die Vischer von Hegel zu Kant und von Kant zu einem positi­ vistischen I rrationalismus führten. Marx dagegen behandelt das Problem der Naturschönheit - hier die Frage der ästhetischen Eigenschaften von Gold und Silber - mit derselben umfassenden und allseitigen materialistischen Dialektik, mit der er in » Zur Kritik der politischen Ökonomie« und später im » Kapital« das Verhältnis von Mensch und Natur überhaupt behandelt. überall sehen wir jene vielfältige Wechselwirkung, in der der Mensch, selbst Naturprodukt, vermittels des materiellen Produktionsprozesses sich die Gegenstände der Natur sukzessive aneignet. »Aus der bestimmten Form der materiellen Produktion «, sagt Marx, »ergibt sich erstens eine bestimmte Glie­ derung der Gesellschaft, zweitens ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Natur. «2 Daß also die Naturprodukte nur infolge ihrer objektiven, vom Menschen, vom Subjekt unabhängigen Eigenschaften durch den Produktions­ prozeß der Gesellschaft für bestimmte Zwecke angeeignet und benutzt wer­ den können, widerspricht gar nicht der Tatsache, daß ihre Rolle in der Pro­ duktion und demzufolge im Oberbau (.itsthetik) untrennbar mit der »tätigen Seite « des dialektischen Prozesses, mit dem materiellen Produktionsprozeß verknüpft ist. Wo also der idealistische Philosoph Vischer ratlos eine unlös­ bare Antinomie zwischen mechanischer Objektivität (Natur, abstrahiert vom materiellen Produktionsprozeß) und aufgeblähter Subjektivität (das mensch­ liche Denken und Empfinden, ebenfalls abstrahiert vom materiellen Pro­ duktionsprozeß) sieht, stellt Marx auch hier die Frage dialektisch, konkret. Marx brauchte Vischer hier gar nicht zu kritisieren, denn er hat in der Kritik von Strauß und Bruno Bauer, als zwei Seiten des Hegelianismus, diesen Widerspruch bereits in der »Heiligen Familie« kritisch erledigt. Er spricht dort über den Kampf zwischen Strauß und Bauer als einem »Kampf innerhalb der Hegelschen Spekulation« : »Das erste Element ist die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zwei te ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur . . . «3 Für das Spezifische der Darstellung der Naturschönheit bei Vischer, für die Geschichte als Naturschönheit, wo sich der junge Vischer einbildet, Hegel

1 M arx : öko nomisch-Philosophische Manuskripte 1 844. MEGA 1. Abt., Bd. s. 1 5 5 . .i Marx : Theorien über den Mehrwert, Stuttgart 1 9 1 9. Bd. I, S. 3 8 1 f. 3 Marx/Engels : Die heilige Familie, a. a. 0. S. 3 1 5 f.

m,

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik überwunden zu haben, hat Marx gar kein Interesse gezeigt. Allerdings hat er aus dem diesbezüglichen Abschnitt in der Ksthetik einiges sehr Wichtige ex­ zerpiert, was auch in der großen Einleitung zu »Zur Kri tik der politischen Ökonomie« eine Rolle spielt : die Bemerkungen Vischers über den Mythos und seine Beziehung zu r alten und neuen Poesie. Freilich ist hier besonders zu betonen, daß Marx dabei nichts Neues - nicht einmal Stoffliches - aus Vischers Ksthetik entnehmen konnte, denn, wie wir später sehen werden, ist die Marxsche Konzeption der Rolle des Mythos in der Geschichte viel älter als seine Lektüre Vischers. Da jedoch diese Frage mit dem Gegensatz von marxistischer und liberaler Konzeption der modernen Poesie aufs engste zusammenhängt, können wir sie erst behandeln, nachdem wir die Entwick­ lung dieser liberalen Philosophie bei Vischer im Zusammenhang mit seiner politischen Entwicklung etwas näher beleuchtet haben.

11

Vischers politische Entwicklung

Die politische Entwicklung Vischers ist die eines liberalen Württemberger Kantönli-Demokraten zur unbedingten Bejahung des Bismarckschen Kaiser­ reichs. Er geht also den typischen Weg, den die liberale deutsche Bourgeoisie von 1 840 bis 1 8 7 0 gegangen ist. Wenn wir jetzt diesen Weg etwas näher betrachten werden, so heben wir dabei einerseits die spezifischen Züge der Vischerschen Entwicklung hervor, andererseits tun wir es mit der Absicht, die gesellschaftlichen Gründe der Entwicklung seiner ästhetischen Anschauungen aufzudecken. Die Darstellung der Klassenkämpfe selbst von 1 8 40 an liegt notwendigerweise außerhalb des Rahmens dieser Abhand­ lung. Wir können hier um so mehr auf ihre, wenn auch skizzenhafte, Dar­ stellung verzichten, weil ja in den Schriften und Briefen von Marx und Engels der Leser die ausführliche Geschichte dieser Klassenkämpfe finden kann. Vischer hat von Anfang an den Zusammenhang zwischen seinen ästhetischen Anschauungen und seinen politischen Stellungnahmen klar ausgesprochen. (Was selbstverständlich nicht bedeutet, daß er die wirklichen Zusammen­ hänge je verstanden hätte.) In seiner Antrittsrede als Professor in Tübingen ( 1 844) erklärt er, daß die Ästhetik »bei der Lehre von den verschiedenen Staatsformen im höd1sten Grade beteiligt« ist1• Er bekennt sich auch in I

Vischer : Kritische Gänge, Bd.

1,

S. 1 7 3 .

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25 1

dieser Periode zur Republik als einzig möglicher Lösung der politischen und gesellschaftlichen Probleme ; wi r kennen bereits seinen Ausspruch, daß die notwendig erfolgende Revolution nicht nur eine politische, sondern auch eine soziale sein muß. Dieses Bekenntnis zu Republik und Revolution wird je­ doch schon in der vorachtundvierziger Periode in echt süddeutsch-liberaler Weise eingeschränkt. In seiner Asthetik spielt die Frage der Revolution als zentrales Thema der Poesie der Gegenwart eine große Rolle. Jedoch kommt zu der sehr allgemein gehaltenen Bejahung immer ein so starker liberaler Vorbehalt, daß die Bejahung sofort aufgehoben ist. Wir führen nur eine sehr bezeichnende Stelle an : »Der Freiheitskampf und die Republik in Amerika geht voraus. Wenn wir behaupten, daß nur in der Republik schöne Mensch­ heit als wirklicher Volkszustand möglich sei, so ist damit nicht gesagt, daß jede Republik, auch eine solche, die eine kaufmännische Kolonie in fremdem lande unter Mißhandlung der Ureinwohner gründet, ein schönes Bild dar­ bietet. Republikanische Luft ist immer erhebend und erfrischend, aber Asthe­ tisches entwickelt sie erst, wenn sie so durchgedrungen, daß sie die entspre­ chenden Formen geschaffen hat. - So ist nun auch die Französische Revolu­ tion nur die Hälfte eines nicht fertigen Werkes. « Und er kommt bei der konkreteren Darlegung dazu, es begreiflich zu finden, »Warum das ästhetische Interesse sich mit Vorliebe an die Opfer der Revolution, Adel und Thron, an die Reaktion in der Vendee, Bretagne, hält . . . Die Revolution will Ge­ schichte machen ; gemachte Geschichte ist nicht Asthetik. Die Revolution soll daher nach dem Mißlingen ihres ersten abstrakten Durchbruchs sich mit der Natur und der Überlieferung vermitteln . . . «1 In diesen Sätzen haben wir die liberalen Grundlagen der ganzen Vischerschen Philosophie und Ästhetik in Reinkultur vor uns. Wir sehen, wie hier der geschichtsphilosophische Grundgedanke des späteren Hegel : die Revolution wird bejaht als Vergangenheit, aber als erledigt angesehen für Gegenwart und Zukunft, den Klassenkämpfen der vierziger Jahre entsprechend abge­ wandelt wird. Hegel konnte sich, wenigstens bis zur Julirevolution, die er ja nur um einige Monate überlebte, einbilden, die revolutionäre Periode wäre abgetan und die bürgerliche Gesellschaft würde sich auch in Deutschland all­ mählich auf preußischer Grundlage entfalten. In der Jugendzeit Vischers rüstete sich aber die deutsche Bourgeoisie zur bürgerlichen Revolution. Das unau fhaltsame Eindringen des Kapitalismus in Deutschland, die Wirkungen des Zollvereins usw. zeigen, insbesondere nach den romantisch-reaktionären r

Vischer : Ästhetik, Bd.

n,

§ 3 74, Zusatz.

252

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Versuchen von Friedrich Wilhelm 1v. , immer klarer, daß es zwischen dem alten Regime in Preußen und Deutschland und der vordringenden Bourgeoi­ sie zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung kommen muß1• Vischer ist also gezwungen, die Revolution aus der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft zu verlegen. Damit wird aber für ihn jenes vorbehaltlose Bejahen der großen vergangenen Revolutionen, das sich Hegel noch leisten konnte, unmöglich. Er muß das Bild der Revolution den Bedürfnissen der liberalen Bourgeoisie ( bei ihm : süddeutsch-kleinstädtischer Observanz ) um­ modeln. Die Revolution muß gesittet, organisch, die Überlieferungen bewah­ rend, »ästhetisch« sein, d. h. sie darf keinen Schritt weitergehen, als es die Interessen der Bourgeoisie erfordern. Man darf sich nämlich durch den ästhe­ tischen Charakter des oben angeführten Zitats nicht irreführen lassen. Vischer ist in dieser Periode gar nicht so sehr ausschließlich »li.sthetiker« . Und auch in seiner späteren Periode ist die direkte Beziehung zwischen politischer Stel­ lungnahme und ästhetischer Wertung bei ihm viel enger und durchsichtiger als bei den meisten seiner Zeitgenossen. In dieser Periode versucht er aber noch dazu, einerseits die l\.sthetik selbst zu politisieren, andererseits die Inter­ essen der Kunst den allgemeinen politischen und sozialen Interessen unter­ zuordnen. So sagt er z . B. in seiner Antrittsrede : »Und wenn mir jemand sagte, ich müßte wählen : Armut und Roheit, dafür Kunstpflege oder Wohl­ stand und glückliche Entfaltung, aber keine Kunstschätze, so würde ich mit Lust alle Glyptotheken und Pinakotheken ins Feuer wünschen.«2 Wir lassen es dahingestellt, wie ernst Vischer dies gemeint haben mag. Sicher ist es, daß er in dieser Periode keineswegs ausschließlich vom ästhetischen Standpunkt ausgegangen ist, und deshalb war das, was ihn an den Revolutionen abge­ stoßen hat, keineswegs ihre unästhetische Wesensart, sondern v ielmehr ihr politisch-sozialer Radikalismus. Wir können also die angeführte Stelle über die Revolution erst dann richtig verstehen, wenn wir Vischers politische Ab­ grenzung vom linken Flügel des Hegelianismus in Betracht ziehen. Er sagt in der bereits oft zitierten Antrittsrede : »Man weiß auch, daß wir nicht die Wirklichkeit nach abstrakten Maßstäben übers Knie brechen wollen, daß wir alles demagogische Wesen hassen, daß wir mit Ruge wegen der Art, wie er >die Praxis mit der Idee< faßt, gebrochen haben, und daß es unsere Ansicht

1 Vgl. darüber den bedeutenden neuentdeckten Aufsatz von Engels : Der status quo in Deutschland . Marx/En gels/Lenin/Stalin : Zur d eutschen Geschichte, Berlin 1 9 5 4 . Bd. II, 1 , s. 1 2 3 ff. 2 Vischer : Kritische Gänge, Bd. 1, S. 1 70 f.

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ist, man müsse in besonnenem Gange die Geister reifen, damit seinerzeit die Frucht der Zukunft von selbst vom Baume falle. « t Wir sehen also, wie e s u m d en »Republikanismus « Vischers steht, wir sehen auch, daß die Keime zu seiner Abwendung von jeder Revolution schon in dieser »radikalen « Periode seiner Entwicklung vorhanden waren. Ist Ruge später zu Bismarck übergegangen, so ist die Bismarcksche Entwicklung jenes Vischer, der sich 1 8 44 so scharf von dem für ihn zu radikalen Ruge abge­ grenzt hat, sicher nicht überraschend. Wir werden im Späteren auch sehen, daß die Keime des Vischerschen Irrationalismus bereits in dieser Hegelschen Periode seiner Entwicklung vorhanden waren, und zwar in der Auffassung von der organischen Entwicklung, die nicht »gemacht« werden kann. Dieser Gedanke, daß es unmöglich sei, die Geschichte zu lenken, nimmt bei Vischer immer stärker den Charakter der absoluten Irrationalität der Geschichte an. Der Widerspruch in den Klasseninteressen der deutschen Bourgeoisie, die ihre ökonomischen und außenpolitischen Interessen durch Bismarck erfüllen läßt, dafür aber auf die politische Macht, auf das rasche Durchsetzen ihrer anderen Forderungen verzichtet und sich einem Staat einfügt, der ihrer ursprüng­ lichen Ideologie kraß widerspricht, spiegelt sich, wie wir sehen werden, bei Vischer gerade in dem Problem des Irrationalismus wider. Dies mußte schon eingangs scharf hervorgehoben werden ; denn es ist für die ganze deutsche Entwicklung außerordentlich charakteristisch, daß die zentralen Welt­ anschauungsgrundlagen des Faschismus auch auf dem Boden der liberalen Bourgeoisie und ihrer Ideologien heranwachsen und der Faschismus, allem ideologischen Scheinkrieg gegen den Liberalismus zum Trotz, auch ideologisch aus dem großen Strome der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie heraus­ wächst . Ist also auch die ästhetische Stellungnahme von Vischer von seiner klassen­ mäßig politischen Stellungnahme entscheidend bestimmt und nicht umge­ kehrt, so steht natürlich für Vischer von Anfang an das Problem der Ästhetik oder, etwas breiter gefaßt : das Problem der Kultur im Mittelpunkt seines Interesses. Eine der wesentlichen Änderungen, die Vischer an der Hegelschen Ästhetik vollzieht, ist ja gerade die Konzeption, daß die Gegenwart eine selbständige neue Periode für die Ästhetik bedeutet. Er bekennt sich zu der »groß, aber unschön kämpfenden und ringenden Gegenwart«2• Und diese seine Konzeption einer modernen Periode neben Antike und Mittelalter ist 1 Ebd., s . 1 4 3 . i

Zitiert bei Glockner : Vischer und das 1 9 . Jahrhundert, Berlin 1 9 3 1 , S . 6.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik mit seiner politischen Konzeption einer Revolution im oben gezeigten Sinne aufs engste verbunden. Er selbst charakterisiert in späteren Jahren diese Periode folgendermaßen : »Wir glaubten damals, wie vor einer politischen Revolution - worin wir recht hatten -, so vor der Geburt einer ganz neuen Kunst zu stehen, die uns als notwendige Frucht derselben erschien, was freilich ein schöner Traum war. « t Diesen Traum hat freilich der junge Vischer in echt liberal-zaghafter Weise geträumt. Er war auch in den vierzi­ ger Jahren nichts weniger als ein kühner Vorkämpfer der damals entstehen­ den modernen Poesie. I nsbesondere hat er die politische Poesie der Herwegh und Heine stets bekämpft und ihnen provinzielle I dylliker wie Mörike gegenübergestellt. Allerdings bekämpft auch Vischer die politischen Zustände seiner Zeit, aber dieser Kampf hat von vornherein einen vor jedem wirk­ lichen Zusammenstoß zurückweichenden, gemäßigt-liberalen Charakter. Er faßt die entschieden oppositionellen Schriftsteller als unästhetisch auf, wobei er sie gleichzeitig damit entschuldigt, daß unsere Zeit » keine Gegenwart hat, sondern nur eine Vergangenheit und eine Zukunft. Wir ringen nach neuen Lebensformen; sind sie erst da, so wird die Kunst ihren Stoff haben « . Und mit dem Stoff wird sie auch ihre Formen haben. Und für die Gegenwart tröstet er sich mit solchen - freilich halb ironisch gemeinten - Versuchen, dem wirklichen Kampf auszuweichen : »Die ewige Sonne wenigstens kann man uns nicht nehmen, die Luft nicht zensurieren , den Bäumen und Wellen i hre polizeiwidrigen geheimen Gespräche nicht untersagen, die Vögel des Himmels nicht numerieren und nach Sibirien schicken. «2 Diese Zwiespältigkeit Vischers gründet sich nicht bloß auf die allgemeine Halbheit der liberalen Bourgeoisie Deutschlands. Vischer, als I deologe der Bourgeoisie, drückt zwar deren allgemeine Klasseninteressen ziemlich p räzis aus, es kommen aber bei ihm auch jene Tendenzen zur Geltung, die seiner eigenen Schicht, der Schicht der kleinbürgerlichen Ideologen der Bourgeoisie, entspringen. Und seine Stellung zur Gegenwart ist sehr stark durch diese Situation bestimmt. Als I deologe der Bourgeoisie bejaht er bedingungslos die kapitalistische Entwicklung Deutschlands, sieht in ihr den einzig gangbaren Weg in die Zukunft. Als kleinbürgerlicher Ideologe, als »Kulturphilosoph«, hat er aber ein scharfes Auge für die »Schattenseiten« der kapitalistischen Entwicklung für die Kultur, insbesondere für die Kunst. Er ist jedoch zu stark mit der Bourgeoisie verwachsen, um von hier aus zu einem romantischen 1 Vischer : Kritische Gänge, Bd. v, S . i Ebd., Bd. v, S. 3 8 ff.

rx.

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Antikapitalismus - wie etwa zeitweilig Carlyle - zu kommen. Es entsteht deshalb aus dem Widerstreit dieser Interessen bei ihm eine eklektische Anti­ nomik, die im Laufe seiner späteren Entwicklung ebenfalls dazu beiträgt, ihn in der Richtung des Irrationalismus weiterzutreiben. Vorerst begnügt er sich mit dem Aussprechen der Antinomie selbst und mit einer Klarheit darüber, daß diese Antinomie unlösb ar sei . »Es ist ein schrecklich wahrer Satz : das Interesse der Kultur und das Interesse des Schönen, wenn man darunter das unmittelbare Schöne versteht, sie liegen im Krieg miteinander und jeder Fortschritt der Kultur ist ein tödlicher Tritt auf Blumen, die im Boden des Naiv-Schönen erblüht sind . . . Es ist traurig, aber es hilft nichts; beide Sätze sind gleich wahr, und es ist nur menschlich, bald zu klagen, bald sich philoso­ phisch zu ergeben. « 1 Diese Sätze sind für Vischer außerordentlich charakte­ ristisch. Er ist einerseits mit der klassischen Kultur Deutschlands zu verwach­ sen, um als Asthetiker eine reine Apologetik des sehr miserabel emporwach­ senden deutschen Kapitalismus zu verkünden, wie dies nach der Revolution in der schriftstellerischen Praxis Gustav Freytags zum Ausdruck kam, ande­ rerseits ist er zu sehr mit den großen Klasseninteressen der Bourgeoisie ver­ bunden, um vom Standpunkt der ästhetischen Verhimmelung der vom Kapi­ talismus zerstörten kleinbürgerlichen und bäuerlichen Idylle aus den Kapita­ lismus selbst zu bekämpfen . Er kommt also zu einer nicht unrichtigen Fest­ stellung des unästhetischen Charakters der kapitalistischen Gegenwart und berührt sich in diesen Feststellungen, was die Feststellung der Tatsachen be­ trifft, zuweilen sogar mit Marx. Jedoch wenn zwei die gleichen Tatsachen konstatieren, so ist es nicht dasselbe. Marx erfaßt die Dialektik des Kapitalismus in umfassendster Weise. Er er­ kennt, daß jener kolossale und fürchterliche Prozeß, der Millionen zugrunde richtet und knechtet, der alle alten idyllischen Formen zerstört, der die Men­ schen zerstückelt und die ganze Welt in ein Warenlager und ein Handels­ geschäft verwandelt, zugleich revolutionäre Bedeutung hat, daß er die ma­ teriellen Vorbedingungen für die wirkliche Revolution schafft, die durch Zerstörung der Ausbeutung und der Klassenstruktur den Boden für den »all­ seitigen Menschen« des Sozialismus vorbereitet. Vischer, als I deologe der Bourgeoisie, kann dagegen nicht über den Horizont des Kapitalismus hin­ ausschauen. Er kann also nur - in eklektischer Weise - entweder die zer­ trümmerte Idylle beweinen und dabei doch den Zertrümmerer segnen, oder er muß von der bürgerlichen Revolution die Lösung eines Dilemmas erwarten, die I

Ebd ., s. 399 ·

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik diese Revolution, auch wenn sie nicht so miserabel endet wie die deutsche von 1 84 8 , nur auf erhöhter Stufenleiter reproduzieren kann. Die besondere Klassen­ lage Vischers macht es ihm möglich, dieses Problem überhaupt zu sehen, was ein gewisses Verdienst ist ; sie macht es ihm aber zugleich unmöglich, die von ihm selbst aufgeworfene Frage in irgendeiner Weise beantworten zu können. Mit einer solchen Weltanschauung hat Vischer an der Revolution von 1 8 4 8 als Abgeordneter des Frankfurter Parlaments teilgenommen . E s ist n a ch dem bisher Gesagten sicher nicht überraschend, daß er dabei eine außerordentlich klägliche Rolle gespielt hat. Die anfängliche Begeisterung verflog sehr rasch. ( » Ich war trunken wie billig vom Weine der Zeit und unklar wie alle Welt« , sagt er darüber in seiner Selbstbiographie1.) Sie verflog hauptsächlich des­ halb, weil Vischer ebenfalls, wie die deutsche B ourgeoisie überhaupt, einsah, daß der Ausgang der Revolution weitgehend vom Verhalten der Bourgeoisie selbst abhing. »Dennoch hat das Parlament eine Zeitlang tatsächlich regiert, und dies brachte ein Gefühl der Verantwortung mit sich, welches die Zentner­ last vermehrte, die auf mir lag . . . Ich war Mitglied der >gemäßigten Linken< ; Prinzip : sanfte Vorbereitung der Republik. Wer hat sich sehr zu schämen, wenn er damals im Phantasierausche der Zeit nicht erkannte, was uns sonnen­ klar ist, nachdem wir den Untergang der damaligen französischen Republik im Staatsstreich, die Kommune, den Wahnsinn in Spanien erlebt haben ? « schreibt e r 1 8 74 i n seiner Selbstbiographie2• Vischer verschweigt hier scham­ haft, was die klareren Vertreter der Bou rgeoisie deutlich gesehen haben, nämlich die Einwirkung der Junischlacht in Paris und die Furcht vor der drohenden Erhebung des deutschen Proletariats. Er sieht nicht, daß sein gan­ zer damaliger rechtlicher und parlamentarischer Kretinismus nur eine ideo­ logische Form dafür war, daß die deutsche Bourgeoisie aus Angst vor einem Weitertreiben der Revolution ununterbrochen bemüht war, die bereits ent­ fesselten Kräfte einer radikalen bürgerlichen Revolution zu demobilisieren und desorganisieren, sie in »legale« Schranken einzuzwängen und sich, wenn nötig, mit der Reaktion gegen sie zu verbünden. Sein Ausspruch, daß er sich nach wenigen Wochen im klaren darüber war : » Wir werden nichts zustande bringen«, drückt diese Stimmung richtig aus, freilich ohne auf ihre wirklichen Ursachen einzugehen, ohne diese Ursachen wirklich zu verstehen. Die objektiven Widersprüche der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie spie­ geln sich im Kopfe von Vischer - ebenso wie in den Köpfen der meisten Ehd„ B d . XI, s. 487. 2 Ebd., S. 489. I

Karl Marx imd Friedrich Theodor Vischer

257

bürgerlichen Ideologen dieser Zeit - in der Zweiteilung und Entgegenset­ zung des einheitlichen Grundprinzips der bürgerlichen Revolution wider : der nationalen Einheit und der Freiheit. Da Vischer vor einem revolutionären Verwirklichen der nationalen Einheit aus Furcht vor der Revolution über­ haupt zurückschreckt, da er trotz seines Lippenbekenntnisses zur Republik vor einem Lassalleschen »Großdeutschland moins les dynasties« eine panische Angst hat, stellt er die Prinzipien von Freiheit und Einheit einander gegen­ über und bekennt sich in diesem Dilemma zur Einheit. Er bereitet damit schon 1 8 4 8 seinen Umfall zu Bismarck vor. Er schreibt über sein Verhalten charakteristischerweise : »Ich war nicht deswegen, weil ich Republikaner bin, auf die Linke getreten, sondern weil ich bei dieser Partei am sichersten die unter allen Umständen so nötige Energie zu treffen hoffte.«t Diese Energie erwartete aber Vischer nicht dort, wo sie objektiv zu suchen und zu finden war, in der Energie des \Veitertreibens der bürgerlichen Revolution bis zur Schaffung der einheitlichen deutschen Republik, nach dem Wegfegen aller morschen feudal-absolutistischen Überreste, sondern in der Schaffung eines die »Überlieferungen « schonenden einheitlichen Deutschland, das imstande ist, auch eine aggressive Außenpolitik zu führen. In seiner Autobiographie spricht er dies ziemlich klar aus : » In der Tat, war von den zwei Prinzipien, um die es sich handelte, das der nationalen Einheit und Macht im Grunde viel stärker in mir, als das der Freiheit. Natürlich fehlte viel, daß ich mir darüber klar geworden wäre, wie mich diese Gesinnung eigentlich von der Demokratie trenne, welche wie sie einmal ist, die Freiheit auf Kosten der Einheit will . « 2 Wie diese Sätze gemeint sind, zeigt Vischers Verhalten im Frankfurter Parlament zu den Fragen Italien und Polen. In einer Rededis­ position faßt er seine Gedanken so zusammen : »Eine Nation muß zusam­ menhalten, was ihr von Rechts wegen gehört (nämlich die von Österreich eroberten italienischen und die von Preußen annektierten polnischen Provin­ zen - G. L.). Sich selbst ehren und hochhalten, dieser großartige Egoismus ist die erste Tugend einer Nation ; erst in zweiter Linie kommt die Gerech­ tigkeit gegen andere Nationen. «3 Vischer hat also in seiner Selbstbiographie durchaus recht, wenn er sagt : » . . . verhielt ich mich so streng deutsch . . . gegen fremde Nationalitäten, daß meine Parteigenossen und ich selbst meinen künftigen Abfall leicht hätten voraussehen können4. « I

Eb d„ B d. lll, s. 77 .

Eb d., Bd . VI, s. 490. 3 Zitiert bei Adolf Rapp : Vischer und die Politik, Tübingen I 9 I I , S. 22.

.2

4 Vischer : Kritische Gänge, B d. V l , S . 490.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Daß Vischer nicht schon damals zu r Bismarckschen Linie umgeschwenkt ist, hat seinen Grund in seinen Württemberger liberalen Traditionen. Er hatte in dieser Periode eine tiefe Abneigung und ein tiefes Mißtrauen gegen Preußen und wollte die nationale Einheit nicht unter preußischer Hegemonie ver­ wirklicht sehen, weil er darin keine Garantie für die Aufrechterhaltung und organische Weiterbildung der süddeutsch-liberalen Traditionen erblickte. Diese Traditionen waren für ihn auch später eine gewisse Hemmung, die preußische Hegemonie unbedingt zu begrüßen. Da aber der eigentliche poli­ tisd:ie Inhalt seiner Tätigkeit in diese Richtung ging, entstand wieder in seinem Denken eine unlösbare Antinomie, als verzerrte Widerspiegelung des für ihn objektiv schwer lösbaren Widerspruches. Er konnte von diesen Grund­ lagen aus begreiflicherweise kein einziges politisches Argument gegen die preußisd:ie Hegemonie ins Feld führen. Er findet also - in einer Weise, die für die bürgerlichen Nachfolger Hegels außerordentlich charakteristisch ist ein formal-logisches Argument : »Der Satz stand mir fest, daß ein Teil des Ganzen sid:i nicht anmaßen dürfe, das Ganze zu sein, d. h. an seine Spitze zu treten. Darin war Logik; man kann sagen, es war Logik statt Politik. « 1 Diese Selbstkritik in der Autobiographie stammt bereits aus der irrationalistischen Periode. Und wir werden sehen, daß Vischer im Laufe seiner Annäherung an die Bismarcksche Politik immer stärker an die Stelle der » Logik« eine prinzipiell irrationalistisch gefaßte »Realpolitik« setzt. Diese Entwicklung ist sehr interessant, weil sie die gesellschaftlich-politischen Gründe dafür auf­ zeigt, wie die philosophische Entartung des Hegelianismus in ein leer-logi­ sches Formengeklapper mit Kategorien notwendig in einen Irrationalismus umschlägt ; beide Formen sind nur ideologische Widerspiegelungen der immer stärkeren Abwendung der deutschen Bourgeoisie von der bürgerlid:ien Revo­ lution. Im ersten Stadium verdeckt die idealistisch-formalistische Scheindia­ lektik die in Unklarheit verhüllte Angst vor der Revolution ; in der zweiten tritt die Abkehr von der Revolution bereits vollständig klar zutage. Die Stellung Vischers zur Revolution von 1 8 4 8 ist nad:i alledem klar. Wenn wir noch einige Bemerkungen über sein Verhalten zum polizeilichen Ausein­ anderjagen des Stuttgarter Rumpfparlamentes hinzufügen, so tun wir es nur deshalb, weil hier die gesellschaftlichen Wurzeln eines zentralen Punktes seiner �sthetik, seiner Theorie des Tragischen, klar zutage treten. In seinem Aufsatz über Uhland billigt er dessen Verhalten, zu dieser letzten Sitzung des Parlamentes hingegangen zu sein. »Einfach weglau fen wäre ein u nwürI

Ebd., s. 490.

Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer diges Ende gewesen, dies war immer nod1 ein Ende mit Ehren, das als mar­ kiertes Punktum, als männliche Schlußentscheidung dem Gedächtnis der Men­ schen sich eingeschrieben hat ; befanden sich die Minister (die das Parlament auseinanderjagten - G. L.) in einem tragischen Konf/.ikte, so war die Sach­ lage nicht minder tragisch für den anderen Teil: die Mitglieder des Parla­ ments konnten, wenn sie nicht als feige dastehen wollten, so wenig rückwärts, als die Minister unschlüssig und untätig bleiben durften. Ich meines Teils gestehe, daß id1, wenn ich mich in zwei Personen hätte trennen können, wenn ich im Zuge gegangen und zugleich Minister gewesen wäre, gegen mich selbst, als im Zuge Befindlichen, das Militär aufgeboten hätte . . . «1 In diesen B e­ merkungen, in denen die b ereits damals vollendete Lakaienhaftigkeit der liberalen deutschen Bourgeoisie kraß zum Ausdruck kommt, zeigt sich zu­ gleich die Umbildung des Tragischen aus einem revolutionären Prinzip in ein konterrevolutionäres, in eine ideologische Verklärung der Unterwerfung der deutschen Bourgeoisie unter die preußisch-monarchistische Fuchtel. Die tragische Notwendigkeit war bei Hegel - am klarsten in der »Phäno­ menologie des Geistes« - ein Ausdruck für die revolutionär-dialektische Entwicklung der gesellschaA:lichen Wirklichkeit. Von gleicher Notwendigkeit getrieben, stoßen entgegengesetzte Mächte aufeinander, und in ihrem Kampf muß der geschichtlich niedriger stehende Teil, der die tiefere Entwicklungs­ stufe des » Geistes« repräsentiert, tragisch untergehen. Der Zusammenstoß von Antigone und Kreon bei Sophokles ist in Hegels Augen der große dich­ terische Ausdruck für die ausgeprägte Klassengesellschaft und ihren Staat, die über den Zustand der Pietät und der Familie brutal und notwendig triumphiert . Aber das tragisch untergehende Alte ist bei Hegel stets nur wenn auch in idealistisch-verzerrter Weise - die vorkapitalistische Gesell­ schaft, die von der » bürgerlichen Gesellschaft« tragisch vernichtet wird. (Auf das Antigone-Kapitel folgt in der »Phänomenologie des Geistes« die Auf­ lösung der alten griechischen Welt, die Entstehung des römischen Imperiums, das b ei Hegel außerordentlich moderne Züge trägt. Auch seine Shakespeare­ Auff assung in der »Asthetik« geht von einer ähnlichen Auffassung einer mittelalterlichen Periode der » Heroen « und ihrer Ablösung durch die »bür­ gerliche Gesellschaft« aus.) Vischer dagegen verallgemeinert die Notwendig­ keit einerseits ins Formalistische, indem er von dem tautologischen Satze, daß alles notwendig sei, ausgeht, und benützt andererseits diese formalistische Allgemeinheit dazu, um die Schergen und Henker der Gegenrevolution als I

Ebd., Bd. II, s.

3 89.

260

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

» tragisch-notwendig« handelnde Personen, als tragische Helden zu verherr­ lichen. Diese Auffassun g der Notwendigkeit dient zugleich dazu, die Mise­ rabilität des bloß formalen Widerstandes, den die Vertreter der deutschen Bourgeoisie der Konterrevolution gegenüber gezeigt haben, ebenfalls als »tragisch-notwendige« Handlung zu verklären. Es ist also in gleicher Weise »tragisch-notwendig«, daß die Hohenzollern unbeschränkt über Deutschland herrschen, wie es »tragisch-notwendig« ist, daß die deutschen Bürger und ihre Ideologen die Stiefel der Hohenzollern lecken. Diese Auffassung Vischers vom Tragischen tritt freilich erst in der Revolution von 1 8 4 8 und nach ihr in ihrer klassenmäßigen Nacktheit hervor. Sie ist jedoch die Grundlage seiner Theorie des Tragischen schon in der Ästhetik, da er die bisherigen Theorien des Tragischen dahingehend »verbessert« , daß nach seiner Konzeption in der höchsten Tragödie der Held selbst von der Notwendigkeit seines Unterganges überzeugt werden müsse. »Eignet sich nunmehr auch das Subjekt im Untergange das Bewußtsein dieser reinigenden Fortdauer und der Gerechtigkeit seines Leidens an, so ist eben hiermit volle Versöhnung eingetreten und das Subjekt selbst ist in diese Verewigu ng als sich überlebende verklärte Gestalt aufgenommen . . . «1 Damit wird für die Niedergangsepoche der deutschen Bourgeoisie eine Theorie des Tragischen formuliert, die durch die ganze schri:A:stellerische Praxis der deutschen bür­ gerlichen Literatur von Hebbel bis Rilke durchgeht. Der liberal-konterrevolutionäre Charakter dieser Theorie des Tragischen tritt, glauben wir, aus ihrer »Bewährung« in der Praxis der Achtundvierziger Revolution klar hervor. Noch deutlicher wird jedoch dieser Zusammenhang zwischen Theorie des Tragischen und Klassenkämpfen i n Deutschland, wenn wir die diesbezüglichen Bemerkungen von Marx aus dem Jahre 1 8 4 3 kurz anführen : »Der Kampf gegen die deutsche politische Gegenwart ist der Kampf gegen die Vergangenheit der modernen Völker . . . Es ist lehrreich für sie, das ancien regime, das bei ihnen seine Tragödie erlebte, als deutschen Revenant seine Komödie spielen zu sehen. Tragisch war seine Geschichte, solange es die präexistierende Gewalt der Welt, die Freiheit dagegen ein per­ sönlicher Einfall war, mit einem Wort, solange es selbst an seine B erechtigung glaubte und glauben mußte. Solange das ancien regime als vorhandene Weltordnung mit einer erst werdenden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber kein persönlicher. Sein Untergang war da­ her tragisch. Das jetzige deutsdie Regime dagegen, ein Anachronismus . . „ die 1 Vischer : 1\.sthetik, Bd. 1, § 1 2 6.

Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer zur Weltschau ausgestellte Nichtigkeit des ancien regime, bildet sich nur noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbil­ dung . . . Das moderne ancien regime ist nur mehr der Komödiant einer Welt­ ordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind. Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie.«t Wir werden im Laufe der späteren Untersuchungen der Vischerschen .i\sthetik de­ tailliert sehen, wie Vischer die .i\sthetik Hegels im liberalen Sinne verwässert und damit ins Konterrevolutionäre umbiegt, während Marx die .i\sthetik Hegels materialistisch umstülpt, auf die Füße stellt und damit ihre richtigen und brauch­ baren Elemente für den dialektischen Materialismus kritisch durcharbeitet. Die Grundlinie der Entwicklung Vischers nach 1 84 8 ist die vollkommen klare Entfaltung dieser Tendenzen, d. h. Vischer geht den Weg der liberalen deut­ schen Intelligenz, indem er mit einigen » ethischen« Bauchschmerzen, mit eini­ gem philosophischen Wenn und Aber sich bedingungslos der Bismarck.sehen »honapartistischen Monarchie« beugt. Diese Kapitulation der liberalen deut­ schen Bourgeoisie vor der Bismarck.sehen »Realpolitik« nimmt ideologisch in ihren verschiedenen Schichten und Fraktionen verschiedene Formen an. B ei Vischer ist die besondere Nuance, daß er den formalistisch verwässerten Hegelianismus seiner Jugendperiode in einen Irrationalismus umhaut. Da nun dieser Irrationalismus in der Ideologie der imperialistischen Bourgeoisie Deutschlands, als ideologische Vorbereitung der faschistischen Weltanschau­ ung, eine große Rolle spi elen wird, scheint es uns unerläßlich, kurz zu zeigen, daß die eigentliche Grundlage dieses Umbaus des Vischerschen Systems seine mit der Revolution von 1 84 8 zusammenhängende politische Wendung, letz­ ten Endes also die Entwicklung seiner Klasse gewesen ist. Wir führen aus der Fülle der politischen Stellungnahmen Vischers nur einige bezeichnende Stellen an. Er sd1reiht ( 1 8 5 9) über das Problem Preußen Österreich, daß es ein unlösbarer Knoten sei, und fährt fort : » solche Knoten können durch keinen menschlichen Verstand entwirrt, sondern müssen durch Tatsachen zerschnitten, sie müssen durchhauen werden.«2 Und nach dem deutsch-österreichischen Krieg von 1 8 66 schreibt er in einem Brief: »Der Glaube an ein Gesetz, das in der Geschichte waltet, ist mir nicht abhanden gekommen. Allein wir können die Wege dieses Gesetzes nicht übersehen. «.3 l

Marx : Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Marx/Engels : Die heilige Fa milie und a n d e r e philosophische Frühschriften, a. a.

2 Zitiert bei Rapp, a. a. 0. S. 8 4 .

3

Vischers Brief a n Günther vom

0.

S.

10. 7. 1 8 66. Zitiert, S . 1 3 5 f.

l

5

f.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Und schließlich formuliert er diese Anschauung rein prinzipiell : »Die Aus­ sicht ist falsch : nicht auf organischem, sondern nur auf chaotischem Wege kann es anders werden. « Damit kapituliert der einstige Hegelianer Vischer vor der Geschichtsauffassung des reaktionären Antipoden Hegels, Rankes, des Abgottes der Ideologen der deutschen Bourgeoisie in der imperialistischen Periode. Ranke schrieb noch in den dreißiger Jahren über die Frage der nationalen Einheit Deutschlands : »Nationalität ist der dunkle, undurchdring­ liche Mutterschoß, ein geheimes Etwas, eine aus der Verborgenheit wirkende Kraft, an sich selbst unkörperlich, aber Körperliches erzeugend und durch­ dringend . . . Wer darf ihn nennen und wer bekennen? Wer will jemals in den Begriff oder in Worte fassen, was deutsch sei ? « 1 Und dieser Irrationalismus hilft nun Vischer dazu, sein altes »Problem « aus der Achtundvierziger Revo­ lution, die Grundfrage der deutschen Bourgeoisie in dieser Periode, die Ge­ genüberstellung von Einheit und Freiheit, in der Richtung zu lösen, in der es die ganze Klasse gelöst hat : in der Richtung der bedingungslosen Kapitu­ lation vor Bismarck. D er Patriot, schreibt Vischer in einem Aufsatz aus dem Jahre 1 8 6 1 , »Will ein Vaterland, frei oder unfrei, gut oder schlecht, und er will es geehrt wissen, wie sich, wie seine eigene Person«.2 So gelangt Vischer, nach einigen Schwankungen, die aber prinzipiell nicht interessant genug sind, um hier analysiert zu werden, so weit, daß es im Krieg von 1 8 70/7 1 seine einzige große Sorge ist, ob die deutsche Regierung auch » stark« genug sein werde, Elsaß-Lothringen zu annektieren3. Es scheint uns aber nicht unwesentlich zu sein, festzustellen, daß die Verklä­ rung der Bismarckschen Lösung der deutschen Einheit, der Grundlegung des imperialistischen Deutschland, sich bei Vischer auch jetzt in die uns bereits bekannte Theorie des Tragischen kleidet. Im österreichisch-preußischen Krieg von 1 8 66 war seine Stellungnahme infolge seiner süddeutschen Traditionen noch zwiespältig. Er bejaht aber trotzdem den preußischen Sieg, nur ist er unzufrieden mit der bedingungslosen Begeisterung seines Freundes D. F. Strauß. Und er schreibt darüber in einem Brief : »Ich meinte, doch etwas beschatteter durch das Gefühl des Tragischen werde seine Siegesfreude sein. «4 Nach dem Deutsch-Französischen Krieg faßt er seine »tragische« Theorie der

1 Ranke : Trennung und Einheit, 1 8 3 1 . Zitiert bei Meinecke : Weltbürgertum und Nationalstaat, Berlin 1 9 2 8 , S. 29 1 . 2 Zitiert bei Rapp, a. a. 0. S. 9 8 . 3 Zitiert ebd., S. 1 4 5 . 4 Zitiert ebd., S . 1 3 6.

Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer ganzen Periode so zusammen : »Preußen geht ans Werk, eine Schuld zu süh­ nen. Der ungerechte, unheilige Krieg soll durch einen gerechten, heiligen ge­ sühnt werden . . . «1 Wir geben die Zusammenfassung der »tragischen« Ge­ schichtsphilosophie Vischers in einem Auszug aus dem Buche seines politischen Biographen, Rapp : »Den Krieg 1 8 66 anzustiften, war eine schuld volle Tat . . . Aber was zu Recht besteht, kann sich doch überlebt haben. Wir haben es nicht vermocht, an die Stelle des überlebten eine Schöpfung zu setzen, die dem veränderten Bedürfnis entsprach. Unter 40 Millionen war einer, Bis­ marck, der handelte ; er nahm es auf sich, schuldvoll zu handeln. Es gibt tragische Verwicklungen, wo, wenn nicht gehandelt wird, alte Schuld unab­ sehlich immer neue übel bringt, und wo doch nicht gehandelt werden kann, ohne daß neue Schuld begangen wird . . . Die neue Schuld schuf den Nord­ bund. Nicht leicht, nicht rasch durfte diese Schöpfung begrüßen, wer es mit ewigen sittlichen Begriffen von Schuld und Unrecht nicht leicht nimmt. Es war recht und gut, daß es nicht wenige gab, die erst abwarteten, ob der neue Bau solid sei. Er ist es ; die Schuld hat gute Früchte getragen, der 7oer Krieg war die Sühne, auch für uns andere : wir können uns sagen, daß wir für Unterlassungssünden, für den Sondergeist geblutet haben. « Die Lakaienhaftigkeit dieser Auffassung des Tragischen bedarf keines Kom­ mentars. Und Vischer liquidiert auch im Laufe dieser Entwicklung immer mehr seine alten - zaghaften und zwiespältigen - demokratischen An­ schauungen aus der Periode vor 1 84 8 . Schon 1 8 6 3 ist er entschieden gegen eine demokratische Lösung. Sein politischer Biograph, Rapp, faßt seine An­ schauungen aus einer Rede so zusammen : »Er (Vischer - G. L.) fürchtet, daß eine Versammlung aus unmittelbaren Volkswahlen die unbesonnenen Radikalen an die Oberfläche werfen werde, die nicht die kleinste Schuld an dem Rückgang der Märzbewegung haben. Die Gattung von Demokraten, die aus den Ereignissen seit 1 84 8 nichts lernen will, hat sich sogar vermehrt. Ein neues Parlament aber braucht Männer, die in praktischer Arbeit gelernt haben, >daß Pathos und Politik verschiedene Dinge sind und daß man mit den Idealen nicht ausreicht, wenn es sich um konkrete Fragen handeltein< Lachen ; denn nicht jedes Lachen ist komischer Natur, und es ist daher zweck­ mäßig, den Ausdruck >das Lächerliche< nicht für das Komische zu gebrauchen. Streng auszuschließen ist von dem Komischen, also überhaupt von dem ästhe­ tischen Gebiete, das Lachen, das aus einem bitteren Affekte hervorgeht, namentlich das ä rgerliche Lachen des satirischen Ernstes, der Schadenfreude, und das meckernde der Frivolität. Die Behauptung eines Hobbes, Addison und anderer, daß das Gefühl der Überlegenheit über den verlachten Gegen­ stand der Grund des Lachens sei, verdient in einer ästhetischen Untersuchung keiner Widerlegung. « t Die kühne humoristische und satirische Gesellschafts­ kritik der revolutionären Periode der Bourgeoisie, die die verwesende Welt des Feudal-Absolutismus mit der unbarmherzigen Überlegenheit des histo­ risch berechtigten Siegers dem Lachen preisgab, fällt also für Vischer ohne Diskussion einfach aus dem Gebiet der 1\.sthetik heraus. Man halte dagegen die Urteile von Marx und Engels über Diderots »Le neveu de Rameau «, über Balzacs, E. Th. A. Hoffmanns usw. satirische Novellen. Wie hoch Marx und Engels dieses sich auch im Humor äußernde Überlegenheitsgefühl der revolu­ tionären Klasse nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch eingesd1ätzt haben, zeigt ein Brief von Engels an Bebel ( I I . 1 2 . 1 8 8 4 ) nach den Wahlen unter dem Sozialistengesetz . Engels schreibt über die deutschen Arbeiter : »Dieser sichere, siegesgewisse und eben deshalb heitere und humoristische Fortgang ihrer Bewegung ist musterhaft und unübertrefflich. «2 Diese grundlegend entgegengesetzte Auffassung des Kapitalismus und der von ihr produzierten ideologischen Formen steht im engsten Zusammenhang mit der grundlegend entgegengesetzten Auffassung beider vom Mythos und den Bedingungen und Formen seiner notwendigen Auflösung. Marx führt die Mythologie wie jede Ideologie konsequent auf den materiellen Produktions­ prozeß und seine Wandlungen zurück. Er sagt in der von uns bereits mehr­ fach zitierten Einleitung zu » Zur Kritik der politischen Ökonomie« : »Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung : verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben. «3 Diese konkrete, materialistisch-dialektische l 2

Eb d „ B d .

lV, s . 149 f.

Marx/Engels : B rie fe an A . Bebel, W. Liebknecht, K. Kautsky und andere, T.

Moskau

193 3 ·

3 Marx : Z u r

S.

3 80.

Kritik der politischen Ökonomie, a. a. 0. S. 268 .

1,

Beiträge zitr Geschichte der Ästhetik Bestimmung des Entstehens und Vergehens des Mythos wird nun von Marx im »Kapital « noch weiter konkretisiert in der Richtung au f die Feststellung des Entstehens, der Beharrung und des schließlichen Verschwindens aller religiö­ sen Vorstellungen. »Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Wer­ keltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Le­ bensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht. « 1 Die poli­ tischen Schriften von Marx und Engels und insbesondere die ihrer größten Schüler und Fortsetzer, Lenin und Stalin, konkretisieren weiter die prak­ tischen Aufgaben des Proletariats in der aktiven Förderung und Beschleuni­ gung dieser Auflösung und Liquidierung aller mythischen Vorstellungen. Die Marxsche Theorie des Mythos erklärt aber nicht bloß die materiellen Ursachen seines Entstehens, sie erklärt zugleich die unwiderstehliche Anzie­ hungskraft, die der griechische Mythos und die auf seinem Boden entstan­ dene griechische Kunst auch heute ausüben, in einer materialistischen Weise. »Warum sollte«, fragt Marx, » die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? . . . Normale Kinder waren die Griechen, der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrenn­ lich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehenden konnte, nie wiederkehren kön­ nen.«2 Und in ihrer materialistisch-dialektischen Durcharbeitung der bahn­ brechenden Forschungsarbeiten Morgans zeigen Marx und Engels ganz kon­ kret, auf welchen gesellschaftlichen Bedingungen diese unwiderstehliche An­ ziehungskraft des alten Griechentums, der schönsten Erscheinungsform der Gentilgesellschaft, beruht. Wir können hier nur einige bezeichnende Stellen anführen : »Und es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung ! Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang. Allen Zank und Streit entscheidet die Gesamtheit derer, die es angeht . . . Obwohl viel 1 Marx : Das Kapital, Volksausgabe, Berlin 1 9 5 1 , Bd. 1, S. 8 5 . 2 Marx : Zur Kritik der politischen Ökonomie, a . a . 0 . S. 2 69 f.

Karl Ma rx und Friedrich Theodor Vischer mehr gemeinsame Angelegenheiten vorhanden sind als jetzt . . . , so braucht man doch nicht eine Spur unsres weitläufigen und verwickelten Verwaltungs­ apparats. Die Beteiligten entscheiden . . . Arme und Bedürftige kann es nicht geben . . . Alle sind gleich und frei - auch die Weiber. Für Sklaven ist noch kein Raum . . . Und welche Männer und Weiber eine solche Gesellschaft erzeugt, beweist die Bewunderung aller Weißen, die mit unverdorbnen India­ nern zusammenkamen, vor der persönlichen Würde, Geradheit, Charakter­ stärke und Tapferkeit dieser Barbaren . . . Der lumpigste Polizeidiener des zivilis ierten Staats hat mehr >Autorität< als alle Organe der Gentilgenossen­ schaft zusammengenommen ; aber der mächtigste Fürs t und der größte Staats­ mann oder Feldherr der Zivilisation kann den geringsten Gentilvorsteher beneiden um die unerzwungne und unbestrittene Achtung, die ihm gezollt wird. Der eine steht eben mitten in der Gesellschaft ; der andere ist genötigt, etwas vorstellen zu wollen, außer und über ihr. «1 So weit Marx und Engels von jeder romantischen Trauer über den notwendigen Untergang dieses Ge­ sellschaftszustandes entfernt sind - sie haben ja gerade ökonomisch die unabweisliche Notwendigkeit ihrer Auflösung bewiesen -, so klar sehen sie, daß diese Gesellschaft vernichtet wurde » durch Einflüsse, die uns von vorn­ herein als eine Degradation erscheinen, als ein Sündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. « 2 Und Marx und Engels zeigen nun materialistisch-dialektisch, daß der Mythos das notwendige Produkt die­ ser Gesellschaft, der niedrigen Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte und der Beherrschung der Natur, die ihre materielle Grundlage bildet, ge­ wesen ist, daß der Mythos, wie jede Ideologie, keine von dem materiellen Produktionsprozeß losgelöste Existenz haben kann. »Herrn Grate ferner zu bemerken«, fügt Marx ein, » daß obgleich die Griechen ihre Gentes aus der Mythologie herleiten, jene Gentes älter sind als die von ihnen selbst geschaffne Mythologie mit ihren Göttern und Halbgöttern. «3 Und Engels konkretisiert diese Anschauung in bezug auf die Mythologie der Heroenzeit : »Während, wie Marx bemerkt, die Stellung der Göttinnen in der Mythologie uns eine frühere Periode vorführt, wo die Frauen noch eine freiere, geachtetere Stel­ lung hatten, finden wir zur Heroenzeit die Frau bereits erniedrigt durch die Vorherrschaft des Mannes und die Konkurrenz von S klavinnen. «4 Die Tatsache, daß mit der Entwicklung der Zivilisation die Produktion den 1 Engels : Ursprung der Familie, Berlin 1 9 5 2 , S. 9 6 2 Ebd., S . 9 8 .

3 Ebd., S. 1 0 1 . 4 Ebd., S . 6 2

u.

171.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Produzenten über den Kopf wächst und »gespenstische fremde Mächte ihnen gegenüber« erzeugt, schafft einen neuen, veränderten Boden für religiöse Vorstellungen, für verschiedene Formen von Mythen, in denen sich die Ver­ änderungen des materiellen Produktionsprozesses und die Aufgaben, die diese Veränderungen den verschiedenen Klassen stellen, verzerrt widerspiegeln. Jedoch Marx und Engels haben die Geschichte niemals formalistisch allge­ mein behandelt. Sie haben aus der Theorie des notwendig entstehenden » fal­ schen Bewußtseins « (Engels) niemals eine »soziologische« Theorie gemacht, sondern haben auch in dieser Frage stets ihre eigene Methode, die Marx in der Einleitung zu »Zur Kritik der politischen Ökonomie« klar formuliert hat, konsequent durchgeführt : »Die Schwierigkeit besteht nur in der allgemeinen Fassung dieser Widersprüche. Sobald sie spezifiziert werden, sind sie schon erklärt. «1 Und Marx gibt in seiner Behandlung der Geschichte glänzende Beispiele dafür, wie man diese Frage, die Frage der mythischen Vorstellungen spezifizieren muß, wie man sie der jeweiligen Höhe der Klassenkämpfe ent­ sprechend konkret zu formulieren hat. Wir führen hier als Beispiel nur die glänzende Analyse an, in der Marx die mythischen Vorstellungen der Revo­ lutionäre der großen englischen und französischen Revolution der Jakobiner­ karikatur der französischen Achtundvierziger gegenüberstellt. » Ab er un­ heroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völker­ schlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale u nd die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürger­ lich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten. So hatten auf einer anderen Entwicklungsstufe, ein Jahrhundert früher, Crom­ well und das englische Volk dem alten Testament Sprache, Leidenschaften und Illusionen für ihre bürgerliche Revolution entlehnt. Als das wirkliche Ziel er­ reicht, als die bürgerliche Umgestaltung der englischen Gesellschaft vollbracht war, verdrängte Locke den Habakuk. - Die Totenerweckung in jenen R evolu­ tionen diente also dazu, die neuen Kämpfe zu verherrlichen, nicht die alten zu parodieren, die gegebene Aufgabe in der Phantasie zu übertreiben, nicht vor ihrer Lösung in der Wirklichkeit zurückzuflüchten, den Geist der Revolution wiederzufinden, nicht ihr Gespenst wieder umgehen zu machen. «2 1

Marx : Zur Kritik der politischen Ökonomie, a. a. 0. S. 268 .

2 Marx : Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin 1 9 5 3 , S. 1 3 .

Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer

29 3

Seit die Entwicklung der Klassenkämpfe den »schwärmerischen Terrorismus« der bürgerlichen Klasse von der Tagesordnung abgesetzt hatte, hat Marx nu r den bittersten Hohn und Spott für alle Formen der bürgerlichen Mythen­ bildung, da diese nur dazu dienen, vor der Lösung der revolutionären Auf­ gaben in der Wirklichkeit zurückzuflüchtcn, die alten Revolutionen zu paro­ dieren. So spricht er auch in e inem Brief an Engels über die »moderne Mytho­ logie« und bezeichnet als deren Inhalt die »wieder grassierenden Göttinnen der >Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit etc.< « 1 . Marx gibt auch - schon sehr früh - eine eingehende vernichtende prinzipielle Kritik aller modernen Mythentheorien. Als Proudhon die wichtigsten öko­ nomischen Kategorien aus einer mystisch travestierten Robinsonade, aus einem neugebackenen Prometheusmythos ableiten wollte, nennt Marx diesen Prometheus einen sonderbaren Heiligen, »ebenso schwach in der Logik wie in der politischen Okonomie « . Die Art Proudhons, » die Dinge zu erklären, tappt gleichzeitig ins Griechische und Hebräische, ist mythisch und allegorisch zu gleicher Zei t « . Und nachdem er nun den ganzen Prometheusmythos Prou dhons auseinandergepaukt und überall die wirklichen ökonomischen Ur­ sachen der Proudhonschen Fragen (Arbeitsüberschuß) konkret dargelegt hat, sagt er abschließend : » Was ist also in letzter Instanz dieser von Herrn Proud­ hon auferweckte Prometheus? Es ist die Gesellschaft, es sind die gesellschaft­ lichen Verhältnisse, basiert auf den Klassengegensatz. Diese Verhältnisse sind nicht die von Individuum zu Indivi duum, sondern die von Arbeiter zu Kapi­ talist, von Pächter zu Grundbesitzer usw. Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganze Gesellschaft aufgehoben; euer Prometheus ist nur mehr ein Phantom ohne Arme und Beine, d. h. ohne Maschinenbetrieb, ohne Arbeits­ teilung, dem mit einem Worte alles fehlt, was ihr i hm ursprünglich gegeben habt, um ihn diesen Arbeitsüberschuß erlangen zu machen.«2 Der letzte Grund der modernen Mythenbildung nach Marx liegt also in der Scheu vor dem wirklichen Aufdecken der ökonomisch-gesellschaftlichen Gründe der ge­ sellschafl:lichen Erscheinungen, in einer Tendenz, die sich mit der Verschär­ fung des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat ständig ver­ schärft. Je entschiedener die apologetischen Tende nzen in der bürgerlichen Okonomie werden, desto mehr nimmt auch die Neigung, gesellschaftliche Erscheinungen mythisch zu » erklären«, also den Kapitalismus mit Hilfe von neuen oder aufgewärmten Mythen zu verklären, zu . 1 Marx an Engels am 1 . 8 . 1 877. Marx/Engels : Briefwechsel, Bd. 2 Marx : Das Elend der Philosophie, a . a. 0 . S . 1 2 1 .

1v, S.

561.

294

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Und die proletarische Revolution, deren Träger und durchführende KraA:, die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde, ihre Handlungen auf richtige Er­ kenntnis des ökonomischen Prozesses basiert, die die Ziele ihrer Revolution aus der Erkenntnis des ökonomischen Prozesses von vornherein richtig zu s tellen imstande ist, bedarf zur Erweckung des revolutionären Enthusiasmus keines » falschen Bewußtseins «, keines Mythos. »Die soziale Revolution des 1 9. Jahrhundens kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreifl hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des 1 9· Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen I nhalt anzukommen. « 1 Die abstrakte Berührung mit der Vischerschen .itsthetik (genau er gesagt : mit jenen Teilen von ihr, die vor der Revolution von 1 84 8 vollendet worden sind) beruht auf der Auffassung Vischers von der modernen Periode als der der »weltlich freien Phantasie« im Gegensatz zu der früheren » religiös be­ stimmten « . Diese Berührung ist jedoch, wie wir schon gesehen haben und noch sehen werden, sehr abstrakt. Sie beruht darauf, daß die deutsche Bour­ geoisie vor l 8 4 8 sich als revolutionäre Klasse fühlte, daß die objektiven Aufgaben der Revolution von 1 84 8 die einer bürgerlichen Revolution ge­ wesen sind. Jedodi, wie es die Politik der »Neuen Rheinischen Zeitung « von Anfang an zeigt, wäre die bürgerliche Revolu tion in Deutschland nur mit plebejischen Mitteln gegen den Widerstand der deutschen Bourgeoisie durch­ führbar gewesen. Der Schatten dieses notwendigen Verrats fällt auch auf die ideologischen .i\ußerungen der liberalen deutschen Bourgeoisie vor 1 84 8 , da dieser Verrat eine notwendige Folge der verspäteten Entwicklu ng des Kapi­ talismus in Deutschland, des Zusammenfallens der bürgerlidien Revolution in Deutsdiland mit Klassenkämpfen auf ungleich höherer Stufe (Junisdiladit in Paris), des bereits drohenden Auftretens auch des deutschen Proletariats ge­ wesen ist. Dieser Klassenlage entsprechend, ist Vischer von Anfang an nicht imstande, alle Konsequenzen aus seiner Feststellung der »weltlich freien Phantasie« zu ziehen, diese Phantasie wirklich radikal von den religiös­ mythischen Vorstellungen der Vergangenheit zu reinigen. Ansätze freilich zu einer soldien Befreiung sind bei ihm vorhanden. Wie Hegel sieht er in der Reformation den Anfang der neuen Periode in Deutschland. Und er geht 1

Marx : Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a. a. 0., S. 1 4 .

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über Hegel hinaus, indem er auch den Bauernkrieg in diese Betrachtungen einbezieht und Luther für sein Verhalten im Bauernkriege scharf kritisiert. Er schreibt in seiner Asthetik : » Der Bauernkrieg zeigt zunächst überhaupt das Erwachen des Volkes an . . . Die geistige Befreiung der Reformation wird von edlen Agitatoren zum Gedanken einer politischen erweitert, und jener kurze, fruchtbare, von den Bauern unklug geführte, von der adeligen Mili­ tärmacht, die hier zum erstenmal als innere Polizei auftritt, so grausam be­ endigte Krieg bricht los . . . Mit der Dämpfung dieser so berechtigten Be­ wegung, wobei Luther durch seine servile Haltung seinem großen Charakter einen ewigen Flecken anhängte, ist es ausgesprochen, daß die Reformation, statt sich zur Idee der wahren Freiheit zu entwickeln, stockt und zu seiner, eben darum nur halben, Befreiung des Inneren im religiösen Gebiete sich einengt. « 1 So sehr Vischer auch hier seine liberale Zaghaftigkeit verrät, so geht er hier doch entschieden über Hegel hinaus. Und er polemisiert darum richtig gegen die Hegelsche Auffassung des Mittelalters als einer Vollendung des Anthropomorphismus . Im Mittelalter ist nach Vischer »in Wahrheit . . . keine Vollendung, sondern nur ein stockender Anfang der Vollendung des Anthropomorphismus . . . Die Natur ist nichts weniger als entgöttert, alte Götter, Halbgötter spuken hinter jedem Busch . . . Es ist eine nur verbleichte, schattenhaft, geisterhaft gewordene Vielgötterei. «2 Jedoch Vischer gehörte auch in dieser Periode nicht zu dem radikalsten Flügel des deutschen Bürgertums. In den ideologischen Kämpfen der Hegelschen Schule um die Auflösung der alten theologischen und religiösen Vorstellun­ gen ist er niemals bis zur Höhe von Feuerbach gekommen. Nicht einmal zu der der politisch radikalen idealistischen Junghegelianer. (Wir erinnern an seine scharfe Abgrenzung von Ruge in seiner Antrittsrede.) Er bleibt im wesentli chen auf dem Standpunkt seines persönlichen Freundes und Lands­ manns David Friedrich Strauß stehen. Freilich ist in dieser Beziehung bei ihm - vor 1 84 8 eine gewisse Vorwärtsentwicklung zu sehen. In seiner Schrift » Doktor Strauß und die Württemberger« ( 1 8 3 8) verteidigt er Strauß noch damit, daß dieser » nicht gegen, sondern für die wohlverstandenen Inter­ essen der Religion« kämpfe3 . In einem Zusatz zur Neuauflage ( 1 844) fügt er jedoch hinzu : »Es liegt mir aber nichts daran, wenn jemand streitig macht, daß, was nach der Kritik der Mythen übrigbleibt, noch Religion zu nennen -

1 Vischer : Asthetik, B d .

11,

§ 3 68 , Zusatz .2 .2 Ebd., § 448, Zusatz, und § 449, Zusatz. 3 Vischer : Kritische Gänge, Bd. 1, S . 7 2 .



Beiträge zur Geschichte der Ästhetik sei . « 1 Man sieht also, der Standpunkt Vischers vor 1 8 4 8 ist ein liberal-skep­ tisches Ablehnen der Religion mit einer großen Reihe von Vorbehalten, mit einer Reihe von Wenn und Aber, aber er bleibt immerhin im wesentlichen auf dem Standpunkt der Straußschen Religionskritik. Die Entwicklung Vischers nach 1 8 4 8 , deren politische, weltanschauliche und ästhetische Resultate wir bereits kennen, führt auch in dieser Hinsicht zu einer gründlichen Rückbildung seines vor der Revolution bereits erreichten Standpunktes. Der Standpunkt der »Einfühlung« in der �sthetik beinhaltet auf diesem Gebiet die Verwandlung des Mythos in eine »ewige « Kategorie, u nd zwar in eine solche Kategorie, die sich auf der Linie des »religiösen Atheismus« bewegt, ohne selbst hier den Scheinradikalismus eines Schopen­ hauer oder Nietzsche zu erreichen. Visdier beschränkt sich darauf, den Glau­ ben an die positiven Religionen abzulehnen, um dem religiösen Bewußtsein mit Hilfe seiner versdiiedenen ästhetischen Theorien eine Theorie der » wah­ ren Religion« unterzubauen. In einer ausführlichen Besprechung des Buches von David Friedridi Strauß »Der alte und der neue Glaube« ( 1 8 7 3 ) schreibt er über dieses Thema folgendes : »Es b raucht kei ne Götter, keine Halbgötter, keine Wunder- und keine Priesterhilfe, um sich dem geistdurchdrungenen . . . Weltganzen gegenüber als ein verschwindend Kleines zu fühlen . . . Das aber ist Religion. Die Religion ist das Tauwetter des Egoismus. Religiös ist die Seele in jedem Momente, wo sie von dem tragischen Gefühle der Endlichkeit alles einzelnen durdischüttert, durchweicht, im Mittelpunkte des starren, stol­ z en Ich gebrochen wird und aus der Welt der Trauer, die in diesem Gefühle liegt, durch den einen Trost sich rettet : Sei gut ! Lebe nicht Dir, sondern dem herrlichen Ganzen.«2 Wir sehen, wie hier die Vischersche Theorie des Tragi­ schen, ebenso wie die des Komischen (man denke an »untere« und » obere« Welt aus »Auch Einer«) organisch in diese »wahre Religion« des »beschränk­ ten Untertanenverstandes«, der deutsch-bürgerlichen Lakaienhaftigkeit, des Spießertums einmündet. Aber auch diese Anschauung ist für den Vischer dieser Zeit zu radikal. Diese »wahre Religion« ist nur für die Vertreter der Bildung, für die geistige Elite da. Für die Masse soll die alte Religion erhalten bleiben. In seinen weiteren Ausführungen wendet sich Vischer gegen die » allzu radikale« Religionskritik von Kant und Strauß und revidiert zugleidi seine eigene, von uns früher zitierte Auffassung der Reformation als einer Halbheit. Die Halbheit der I .i

Ehd., s. 1 06 Ehd., S. 2 8 3 . •

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Reformation wird auch jetzt von ihm anerkannt, er erblickt jedoch - von seinem philosophisch-irrationalistischen, politisch Bismarckschen Standpunkt aus ganz konsequent - gerade darin den Vorwg der Reformation. »Nun aber ist die Frage, ob es mit der radikalen Schneide nicht wohl vereinbar wäre, dem Schicksal der Mehrheit, die ewig das nicht entbehren kann, was Lessing zeitweilige Stütze der Religion nennt, ein Kapitel der Teilnahme zu widmen . . . dürfen wir . . . die Halbheiten auch in unserem Urteil verwerfen? Der Mensch braucht ja Halbheiten, die Menschheit kann ja gar nichts Ganzes ertragen, weil ihr, sobald ihr ein solches gereicht wird, der Superlativ nicht superlativ genug ist, weil sie nicht ruht, als bis es hin ist . . . Die Geschichte der Religionen zeigt eine Reihe von Entwicklungsphasen, die sämtlich den Mythos und die Magie nicht aufhoben, sondern nur auf ein Weniger redu­ zierten, also Halbheiten waren, aber an diese Reduktion, an diese Halbheit die heilsamsten sittlichen Krisen knüpften. Der letzte große Ruck dieser Art war die Reformation . . . Ist es nun nicht möglich, daß eine neue Krisis von ebensolcher Gewalt in den j etzigen unklaren Gärungen sich vorbereitet, eine Krisis, die wiederum die sinnliche Bilderwelt der Religion allerdings um eini­ ges reduzieren, aber an diese Reduktion eine Neubelebung des sittlichen und politischen Lebens knüpfen wird, der wir so sehr bedürfen? Also auch wieder eine Halbheit, aber eine gute und gesunde. « 1 Man sieht hier die Notwendigkeit der Verewigung des Mythos von liberaler Seite in Reinkultur. Vischer nimmt damit in jener Erneuerung der Mythen­ theorie, die in Deutschland in der offiziellen Philosophie des Hitlerfaschismus ihren bisherigen Gipfelpunkt erreicht hat, eine eigenartige Stellung ein. Er ist noch von der » Schaffung« neuer Mythen weit entfernt ; in der reaktionä­ ren Aktualisierung der Religion ist er bei weitem nicht so radikal wie sein jüngerer Zeitgenosse Nietzsche. Jedoch gerade die Inhaltslosigkeit des Vischer­ schen Mythosbegriffs, die Verwandlung des Mythos zu einer »zeitgemäßen Erkenntnistheorie«, bei Vischer allerdings konkret vorwiegend auf dem Ge­ biet der Ästhetik, machen ihn zu einem sehr wichtigen Vorläufer jener, eben­ falls liberalen Denker, die im Zeitalter des Imperialismus mit Hilfe der Ver­ bindung des Irrationalismus und einer Mythenlehre als Methodologie die Philosophie des Faschismus vorbereitet haben. Denn wir haben ja bereits gesehen, daß die Vischersche Theorie der »Einfühlung « weit davon entfernt ist, eine bloß ästhetische Theorie zu sein. Sie geht überall den Weg von der Methodologie zur Weltanschauung. Wenn Vischer beim Mythos von einem I

Ebd., s . .29.2 f.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik »poetischen Glauben« spricht, so ist es bei ihm viel mehr als etwas bloß künstlerisch Methodologisd1es. Er sagt sehr charakteristisch über die Wi rkung von Symbol und Mythos : »Die Täuschung darin ist Wahrheit in höherem Sinn als die Wahrheit, worüber wir uns täuschen . . . . hinter der Täuschung liegt und gibt ihr Recht die Wahrheit aller Wahrheiten, daß Weltall, Natur und Geist in der Wurzel eines sein muß. - Also ein Widerspruch : symbolisch und doch in dem Sinn nicht symbolisch, daß die Täuschung über das bloß Symbolische im Verfahren die Wahrheit idealer Berechtigung hat, und dieser Widerspruch lebt, besteht. «1 Der faschistische Neuhegelianer Glockner hat also ganz recht, wenn er in der Entwicklung Vischers nach 1 8 4 8 eine wichtige Vorbereitung der einflußreichsten »lebensphilosophischen« und agnostizisti­ schen Denker der imperialistischen Zeit, der Lotze und Dilthey, der Windel­ band und Rickert, erblickt. Der notwendige Verrat der deutschen Bourgeoisie an der Revolution von 1 8 4 8 , die reaktionäre politische Form, in der ihre zentrale Forderung, die deutsche Einheit, verwirklicht wurde, lenken die liberalen Ideologen in eine Entwicklungsrichtung, an deren Endpunkt ihnen freilich lange unbewußt - die faschistische Weltanschauung steht. Vischer ist für diese Entwicklung nicht nur ein ideologisch wichtiges Verbin­ dungsglied, sondern auch ein sehr lehrreiches Beispiel. Wir konnten i n seiner ganzen vorachtundvierziger Weltanschauung die Widerspiegelung der Un­ entschiedenheit der liberalen Bourgeoisie Deutschlands vor der bürgerlichen Revolution erblicken : das Drängen zur .Knderung der deutschen Zustände, die für die Entwicklung der Produktivkräfte des wachsenden deutschen Kapitalismus unhaltbar geworden sind, und zugleich die Angst vor einem radikalen Zuendegehen bei dieser Veränderung. Nach dem Scheitern der Revolution zieht Vischer auch weltanschaulich alle Konsequenzen , und es ist sehr interessant, zu verfolgen, wie dabei sämtliche Begriffe seiner Ästhetik und seiner Weltanschauung umgebaut wurden. Umgebaut ins entschieden Reaktionäre. Hat er vor 1 8 4 8 zur Frage des Mythos eine, wenn auch nicht entschiedene, so doch für damals verhältnismäßig progressive Haltung ein­ genommen, so baut er gerade hier ganz radikal ab : mit der Statuierung des Mythos als »ewiger Kategorie« tritt er, freilich in liberaler Form, in die Reihe der offenen Reaktionäre und Obskuranten ein.

1 Ebd., Bd. 1v, S. 4 3 4 .

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Vischer und die Gegenwart

Die oben angedeutete Wirku ng Fr. Th. Vischers auf die faschistische Ideolo­ gie, insbesondere auf den Faschisierungsprozeß im Neuhegelianismus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, hat eine lange und komplizierte Vorgeschichte, die wir hier nur in ihren gröbsten Zügen, nur sehr skizzenhaft darstellen können. Die Zeit, die unmittelbar auf Vischers Tod folgte, war für seine unmittelbare Wirkung sehr ungünstig. Seine Asthetik, seine kri tischen Schrif­ ten sind in den breiten Kreisen der Intelligenz vergessen, sie werden nur akademisch behandelt, und auch die akademische Behandlung fällt für ihn nicht allzu günstig aus. Nur der Roman »Auch Einer« bleibt in der ganzen Vorkriegszeit eine Art » Volksbuch« der liberalen Bourgeoisie. Dieses Buch ist in vielen Zehntausenden von Exemplaren verbreitet, und es gibt wohl keinen Angehörigen des deutschsprachigen gebildeten Mittelstandes der Vor­ kriegszeit, der dieses Buch in seiner Jugend nicht gelesen hätte. Aber es schien, als ob sowohl die offizielle wissenschaftliche Philosophie wie die zeitgenös­ sische künstlerische Praxis über Vischer endgültig hinausgegangen wären und ihn endgültig der Vergessenheit preisgegeben hätten. Der Neukantianismus, ebenso wie der gleichzeitig aufkommende und mit ihm vielfach verschlun­ gene deu tsche Positivismus (Mach, Avenarius usw.) stehen anfangs der klas­ sischen deutschen Philosophie, insbesondere Hegel, ablehnend gegenüber. Und dementsprechend wird Vischer von den meisten Philosophen dieser Zeit als Hegelianer gemeinsam mit Hegel kurz abgetan. Die » literarische Revolu­ tion « , die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre einsetzt, steht, auf der Oberfläche, in schärfster Opposition zu den ihr unmittelbar vorangegangenen Richtungen. Sie predigt eine »radikal neue « Kunst (Naturalismus, später Symbolismus usw.) und meint, die literarische und künstlerische Entwicklung Deutschlands aus der zweiten Hälfte des 1 9. Jahrhunderts radikal überwun­ den zu haben. Vischer, als kritischer Vorkämpfer der Spätromantik und der aus ihr hervorgegangenen Schriftsteller (Keller, Hebbel usw.), scheint damit auch als Kritiker völlig abgetan zu sein. Die wirkliche Lage, die wirkliche Einwirkung Vischers auf Theorie und Pra­ xis der Asthetik entspricht aber keineswegs diesem Bilde. Jene Umbildung seines eigenen Systems nach der Achtundvierziger Revolution, die wir ein­ gehend geschildert haben, wirkt viel stärker, als es auf der Oberfläche sichtbar ist, »unterirdisch« weiter. Sowohl seine Auffassung des Tragischen und des Komischen wie seine Theorie der »indirekten Idealisierung« und der »Ein­ fühlung« bleiben, ohne daß Vischer dabei oft genannt würde, grundlegende

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Tendenzen der ästhetischen Theorie und Praxis. Freilich werden dabei mit­ unter auch seine Verdienste anerkannt. So hebt der von 1 900 an immer ein­ flußreicher werdende Begründer der irrationalistischen »Lebensphilosophie« , Dilthey, schon i n den achtziger Jahren hervor, daß die Entdeckung d e r »in­ direkten Idealisierung« eine »wirkliche ästhetische Entdeckung« Vischers ist. D ie Einfühlungstheorie beherrscht immer stärker sowohl die ästhetische Lite­ ratur wie die Psychologie und die Kunstgeschichte (Lipps usw.). Sie nimmt freilich einen immer stärker psychologischen, ja experimental-psychologischen Charakter an, entfernt sich - scheinbar - immer stärker von der Spekula­ tion. Wir haben aber gesehen, daß diese positivistische Wendung der Theorie der Einfühlung gar nicht gegen die wirklichen Absichten des späten Vischer geht. Noch stärker - freilich noch viel »unterirdischer« - ist der Einfluß der von Vischer ausgesprochenen ästhetischen Theorien auf die künstlerische Praxis . Vischers Gedanken sind j a hier nichts anderes als gedankliche Formulierungen der ideologischen Bedürfnisse der liberalen Bourgeoisie der Bismarck.sehen Periode. Daß Vischer eine Reihe dieser ideologischen Bedürfnisse klar und konsequent formuliert, nämlich die Inkonsequenz und Unklarheit der libe­ ralen Bourgeoisie in theoretische Formen gießt, macht seine Bedeutung in der Geschichte des Niedergangs, des Reaktionärwerdens des deutschen Denkens aus. Die Schriftsteller und Künstler dieser Periode brauchen eben deshalb Vischer nicht gelesen zu haben, brauchen ihn n icht einmal dem Namen nach zu kennen, um in ihrer Praxis diese Prinzipien zu verwirklichen. Es ist ja die Weiterentwicklung der Klassenpraxis der deutschen Bourgeoisie, die so­ wohl die Vischerschen Theorien wie, im Laufe der Zeit, ihre künstlerische »Anwendung« in Wirklichkeit produziert hatte. Wir können hier unmöglich ein noch so skizzenhaftes Bild von der Entwicklung der schöpferischen Methoden in Deutschland von den neunziger Jahren angeben. Es ist aber heute bereits nachgerade zum Gemeinplatz geworden, daß die schöpferische Methode des Naturalismus und noch mehr die des ihn ablösenden Impressio­ nismus, Symbolismus usw. eine tiefe innere Verwandtschaft mit der »Ein­ fühlung« hat. Die Art, wie der Naturalismus seine Gestalten verlebendigt, wie er vor dem Erfassen der objektiven, ökonomisch-gesellschaftlichen Be­ stimmungen der Gedanken und Handlungen d er Menschen ausweicht, wie er den gesellschaftlichen Charakter nur in der Form einer subjektivistisch-stim­ munghaften Milieudarstellung gestaltet, zeigt eine außerordentliche prak­ tische Nähe zu den theoretischen Forderungen der »Einfühlungstheorie« . Und die Leichtigkeit, mit der dieser Naturalismus in einen mystischen Symbolis-

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mus hinüberwuchs, ohne daß e r seine schöpferische Methode grundlegend hätte verändern müssen, die Tatsache, daß er naturalistische Mittel zur Dar­ stellung dieses mystischen Symbolismus unverändert gebrauchen konnte (Ger­ hart Hauptmann), zeigt noch klarer, wie stark hier nicht nur die ästhetische, sondern auch die weltanschauliche Verwandtschaft ist. Die Art, wie alle diese Richtungen die Notwendigkeit einer Handlung und die davon beherrschten handelnden Menschen erfassen, ist wiederum ein sehr deutliches Zeugnis da­ für, daß die Theorie der allgemeinen Symbolik, der »Einfühlung«, nicht nur bei Vischer in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Vischerschen Theorie des Tragischen steht, d. h. daß die Formulierung beider Theorien bei Vischer keineswegs eine biographische Angelegenheit ist, keineswegs eine persönliche Folge seiner Entwicklung, sondern die Widerspiegelung der objektiven Be­ dingungen des Klassenkampfes in Deutschland im Bewußtsein der deutschen Bourgeoisie. Denn man kann an fast allen naturalistischen und nach-natura­ listischen künstlerischen Produkten Deutschlands in dieser Periode sehr genau beobachten, daß die Erkenntnis der Notwendigkeit in den Handlungen der Ausbeuter und Unterdrücker stets und in steigendem Maße zu einem Apolo­ getisieren der Ausbeutung und Unterdrückung führt. Die Ausbeuter und Unterdrücker werden immer mehr als »Opfer der Notwendigkeit« darge­ stellt, man »fühlt sich in sie ein « , »versteht« ihre Lage und die Notwendigkeit ihres Handelns, umgibt sie mit der sympathischen Melancholie eines »tragi­ schen« Nicht-anders-handeln-Könnens. Diese weltanschauliche, apologetische Auswirkung der »Einfühlung« als schöpferischer Methode wirkt sich weit über den Naturalismus hinaus bis zu Rilke und Werfe! aus. Bei den offener reaktionären Theoretikern und Praktikern der Kunst gibt es noch viel stärkere Verbindungsfäden zu Vischer ; wenn freilich auch hier die direkte und bewußte Übernahme seiner Gedanken fast nirgends nachweisbar ist. Die späteren, im Faschismus berühmt gewordenen Theoretiker und Prak­ tiker Adolf Bartels und Paul Ernst gehen nämlich in ihrer Linie der literari­ schen Kritik auf die Vischerschen Traditionen zurück. Sie kritisieren und ver­ werfen die Kunst der Gegenwart - freilich mit einer Kritik von rechts -, und sie gehen dabei in erster Linie nicht auf die Periode Goethes und Schillers, sondern auf die sogenannte »silberne Periode« der deutschen Dichtung, auf die Literatur der fünfziger, sechziger Jahre zurück, auf Hebbel, Mörike usw., auf den sich aus der Spätromantik herausentwickelnden, ihre Traditionen beibehaltenden, gemäßigten, d. h. sich wirklicher Gesellschaftskritik enthal­ tenden deutschen Realismus. Es handelt sich dabei um eine andere politische Nuance innerhalb der deutschen Bourgeoisie. Während der Naturalismus der

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ideologische Ausdruck der linken Bourgeoisie Deutschlands gewesen ist, die allmählich zu der Erkenntnis gedrängt wurde, daß der politische Überbau Deutschlands dem in den Imperialismus hinüberwachsenden Kapitalismus » zeitgemäß « angepaßt werden mußte, vertraten Barteis und Ernst jenen Flügel der deutschen Bourgeoisie, der die politischen Formen des Bismarck­ schen Deutschl and unverändert beibehalten sehen wol lte, ja nach Möglichkeit dessen »übertriebene Demokratie « abzubauen vorschlug. Die Aufnahme der literarischen Tradition der fünfziger Jahre als Vorbild für die Kunst der Gegenwart bedeutet also ein »zeitgemäßes « Aufrechterhalten der Bismarck­ schen Traditionen der deutschen Politik ; besser gesagt : eine weitere Rückbil­ dung im Sinne der immer reaktionärer werdenden imperialistischen Bour­ geoisie. Dabei konnten die Elemente einer romantischen Kritik der »schlech­ ten Seiten « des Kapitalismus in der Literatur der fünfziger Jahre (und auch bei Vischer) dazu benutzt werden, die ersten Grundsteine der Kritik des Liberalismus als Scheinangriff gegen den Kapitalismus, als Verkündung einer reaktionären Form der Kapitalherrschaft, unter der Fl agge einer » Gesun­ dung«, eines »organischen Fortschritts«, niederzulegen . Die wirkliche »Renaissance« Vischers setzt aber erst in der Nachkriegszeit, im engsten Zusammenhang mit dem Neuhegelianismus ein. Die Werke Vischers werden in verschiedenen Gesamt- und Auswahl ausgaben herausge­ geben, einer der führenden Theoretiker des Neuhegelianismus, Hermann Glockner, hat Vischer zwei eigene Bücher gewidmet. Dies ist kein Zufall. Denn der Zusammenhang der Entwicklung Vischers mit dem faschistischen Neuhegelianismus der imperialistischen Nachkriegsperiode Deutschlands ist objektiv außerordentlich stark. Wir können hier nur ganz kurz die aller­ wesentlichsten Momente anführen . Erstens erstrebt der Neuhegelianismus eine vollständige Vereinigung von Kant und Hegel. »Es mag paradox klin­ gen«, sagt Glockner, » die Hegelfrage ist heute in Deutschl and zunächst eine Kantfrage.«1 Und wir müssen hier den Leser nur ganz kurz an die Ent­ wicklung Vischers erinnern, an die Tatsache, daß er nach der Achtundvierzi­ ger Revolution von Hegel zu Kant übergegangen ist. Glockner hebt auch dieses » Verdienst« Vischers ganz besonders hervor : »Der erste Teil der Selbst­ kritik, die Abhandlung von 1 8 66, gehört, was noch niemals bemerkt worden ist, mit in die Geschichte der Neukantischen Bewegung hinein.«2 Zweitens ist das Hauptbestreben der Neuhegelianer, die Dialektik aus dem Hegelschen 1 Protokoll des 1 . Hegelkongresses, Tübingen 1 9 3 1 , S . 79 . Glodmer, a. a. 0., S. 1 4 1 .

2

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System auszumerzen, um an die Stelle dieser »Al gebra der Revolution« (A. Herzen) eine reaktionäre Pseudodialektik zu setzen ; wir verweisen, da wir h ier uns nur auf einige Beispiele beschränken müssen, auf Siegfried Marck, der aus der Dialektik das Prinzip der Negation der Negation aus­ merzt, wobei wi r den Leser ebenfalls an unsere Ausführungen über Vischers Behandlung der Negation der Negation erinnern. Aus der Dialektik müssen alle Elemente sowohl des gewaltsamen Umschlagens, wie der fortschrittlichen Umwandlung der Geschichte entfernt werden. Es ist kein Zufall, daß der Hegelrenaissance eine »lebensphilosophische« Erneuerung Goethes voranging. Denn Goethe ist trotz allen seinen, mitunter großartigen, Versuchen, den Entwicklungsgedanken in die Naturwissenschaft einzufügen, vor dem Prin­ zip des gewaltsamen Umschlagens, vor der Dialektik als Geschichtstheorie zurückgeschreckt und hat dementsprechend eine Hegel gegenüber niedriger stehende Form der Dialektik vertreten. Die reaktionären Erneuerer Hegels klammerten sich nun an diese Rückständigkeit Goethes. Und so wie sie er­ kenntnistheoretisch mit Hilfe Kants Hegel zum rein subjektiven Idealisten machen, so verwandeln sie mit Hilfe Goethes die Dialektik Hegels in eine » lebensphilosophische« Scheinbewegung ; wobei selbstredend auch Goethe selbst den reaktionären Bedürfnissen entsprechend verfälscht wird. So wird aus der Dialektik bei Glockner ein mystisches »Urphänomen« . Er zitiert als Paradigma der dialektischen Zusammenhänge das Gedicht »Der römische Brunnen « von Conrad Ferdinand Meyer (beiläufig gesagt ebenfalls ein Dich­ ter der »silbernen Periode«) : »Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd überfließt In einer zweiten Schale Grund ; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. «1 Die ständige Bewegung des Wassers im Brunnen ergibt also als Ganzes einen Stillstand. Das Urphänomen ist also, nach Glockners Worten, »die Schönheit 1 Glockner : Vischers Ksthetik in ihrem Verh ältnis zu Hegels Phänomenologie des Geistes, Leipzig 1 9 20, S. 1 9 .

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik der Evolution« , besser gesagt, die Schönheit des ruhigen Stillestehens bei dem S chein einer Bewegung. Drittens - und hauptsächlich - knüpft der Neuhege­ lianismus bei den Irrationalitätsgedanken Vischers an. Kroner, der andere Führer des Neuhegelianismus, sagt : »Dialektik ist der zur Methode, der ratio­ nal gemachte Irrationalismus selbst. « 1 Darin ist ein sehr wesentlicher Teil des Programms des Neuhegelianismus enthalten : er soll eine Sammlungsideo­ logie für die faschistische Bourgeoisie sein. Kroner sagt in seiner Rede auf dem ersten Hegelkongreß über die verschiedenen reaktionären Richtungen der Philosophie der Gegenwart vom Neukantianismus bis zur »lebensphilo­ sophischen« Neuromantik : »Sie sind nur deshalb uneinig untereinander, weil sie ihre gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit nicht begreifen, weil sie sich gegenseitig nicht durchdringen und miteinander vereinigen. «2 Diese Vereini­ gung will der Neuhegelianismus vollziehen. Und bei dem rapiden Faschisie­ rungsprozeß, den das ganze öffentliche Leben Deutschlands in der Nach­ kriegsperiode durchgemacht hat, ist es selbstverständlich, daß in dieser Ver­ einigung der verschiedenen Richtungen der Irrationalismus die philosophische Hegemonie haben muß. Es darf aber nicht vergessen werden, daß die wesent­ liche Erneuerung Hegels, durch Wilhelm Dilthey noch in der Vorkriegszeit, bereits eine Erneuerung des - vollständig verfälschten - jungen Hegel im Zeichen des Irrationalismus gewesen ist. Glockner setzt die Linie D iltheys ganz konsequent fort, indem er auch beim alten Hegel eine irrationalistische Linie, eine »zweite Krise« im Alter entdeckt und auch Feuerbach mit dem »lebensphilosophisch-irrationalistischen « jungen Hegel in nahe Beziehung setzt. In diesem Zusammenhang nun wird auch Vischer von Glockner erneuert. Glockner sagt über das Verhältnis beider : »Hegel ist durch die Frühromantik hindurchgegangen, Vischer aus der Spätromantik herausgewachsen. «3 Der erste Teil dieser Behauptung ist die typische neuhegelianisch-faschistische Ge­ schichtsfälschung. Der zweite Teil ist, wie wir gesehen haben, eine richtige Einschätzung der Entwicklung Vischers. Jene Umbildung Hegels, die Vischer vollzogen hat, die bei aller Kritik und allen Abgrenzungen doch niemals die äußerliche, formalistische Verbindung mit Hegels Philosophie preisgegeben hat, ist tatsächlich eine wesentliche ideologische Vorform des heute aktuellen faschistischen Neuhegelianismus. Darum sagt auch Glockner ganz konsequent Kroner : Von Kant zu Hegel, Tü b ingen 1 9 2 1'24, Bd. n, S. 272. 2 Protokoll des 1. Hegelkon gresses, S. 2 5 . 3 Glockner : Vischer und das 1 9 . Jahrhundert, S. 1 2 1 . I

Karl Marx und Friedrich Theodor Vischer über Vischer, daß er » Schlüsselgestalt zum Verständnis des 1 9 . Jahrhunderts, Hegelianer und Wegbereiter des Irrationalitätsproblems « istl. Vischer ist für den neuhegelianischen Flügel des Faschismus, für jenen Teil der deutschen Bourgeoisie, der ihre liberalen Traditionen in den Faschismus hineinzubauen versucht, der die liberalen Traditionen organisch in den Faschismus hinein­ wachsen lassen will, tatsächlich eine Schlüsselgestalt. Wenn Glockner in Vischer den philosophischen Repräsentanten der »silbernen Periode« der deutschen Dichtung, der »Kultur« der Bismarckperiode verherrlicht, so führt er nur auf philosophischem Gebiet konsequent jene Linie durch, die in dieser Zeit die deutsche Bourgeoisie auf politischem Gebiet durchführt. Man denke an den steigenden Bismarckkultus der zweiten Hälfte der Nachkriegszeit, der auch von den Sozialdemokraten vollständig übernommen worden ist. Es ist hier unmöglich, die Geschichte dieses Bismarckkultus ausführlich zu analy­ sieren, es muß nur darauf hingewiesen werden, daß dieser Kultus Bismardie Sklaven< oder der >Pöbeldie Herde< . . . , >die Herren< sind abgetan . . . Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durcheinander gemengt) . . . die >Erlösung< des Menschengeschlechts (nämlich von den >Herrenprivat und öffentlichmodernen Idee< par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so daß die Revolution als Schauspiel auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. Ich sehe nur Einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muß, mit Ekel - Goethe . . . « Dementsprechend bekämpft Nietzsche Wagner kunsthistorisch dadurch, daß er ihn in die Reihe der französischen Romantiker einreiht : Wagner ist für Nietzsche » der Victor Hugo der Musik als Sprache« . Nun ist in Nietzsches Augen die französische Romantik eine »plebejische Reaktion des Geschmacks« ; Victo r Hugo selbst »ist flach und demagogisch, vor allen großen Worten und Gebärden auf dem Bauche, ein Volksschmeichler, der mit der Stimme eines Evangelisten zu allem Niedrigen, Unterdrückten, Mißratenen, Verkrüppelten redet und nicht einen Hauch davon weiß, was Zucht und Redlichkeit des Geistes, was intellektuelles Gewissen ist - im ganzen ein unbewußter Schau­ spieler, wie fast alle Künstler der demokratischen Bewegung. Sein Genie wirkt auf die Masse n ach Art eines alkoholischen Getränks, das zugleich be­ rauscht und dumm macht. « Dieselben Kennzeichen findet Nietzsche bei Michelet, bei George Sand usw. Und er faßt kritisch die Hierarchie der Künstlertypen folgendermaßen zusammen : » Es gibt

monologische Kunst (oder >im Zwiegespräch mit GottVolkWer es umwirfl:, der ist stark ; wer uns erhebt, der ist göttlich ; wer uns ahnen macht, der ist tief< . . . Um die Menschen zu erheben, muß man selbst erhaben sein. Wandeln wir über Wolken, haranguieren wir das Unendliche, stellen wir die großen Symbole um uns herum ! Sursum ! Bum­ bum ! - Es gibt keinen besseren Rat. D er >gehobene Busen< sei unser Argu­ ment, das >schöne Gefühl< unser Fürsprecher. Die Tugend behält recht noch gegen den Kontrapunkt . « Dieselbe übersteigerte Grobheit der Mittel für ein pöbelhaftes Publikum äußert sich nach Nietzsches Urteil in dem literarischen Naturalismus : »Man will den Leser zur Aufmerksamkeit zwingen, >verge­ waltigen< ; daher die vielen packenden kleinen Züge des >naturalisme< - das gehört zu einem demokratischen Zeitalter : grobe, durch Überarbeit ermüdete Intellektuelle sollen gereizt werden ! « Diese Dekadenz der D emokratie und der Pöbelhaftigkeit wird von Nietzsche mit der gesellschafl:lich ökonomischen Entwicklung des 1 9 . Jahrhunderts in engen Zusammenhang gebracht. Nicht als ob Nietzsche von den spezifischen ökonomischen Bestimmungen des Kapitalismus je irgend etwas verstanden hätte, er interessierte sich nicht einmal oberflächlich für sie. Er sieht aber die augenfälligsten Symptome der kapitalistischen Ökonomie, wie Einführung der Maschine, wachsende Arbeitsteilung, Wachsen der Großstädte, Zugrunde­ gehen der Kleinproduktion usw. und verknüpfl: sie n un, ohne die ökono­ mischen und klassenmäßigen Vermittlungen zu erkennen, unmittelbar mit den von ihm beobachteten Symptomen des kulturellen Niedergangs. Seine Stellung zu den kulturellen Folgen der kapitalistischen Entwicklung ist in ihrem Ausgangspunkte die des romantischen Antikapitalismus, der roman­ tischen Kritik an den kulturzerstörenden Wirkungen des »Maschinenzeit­ alters « . Seine diesbezügliche Kritik erhebt sich keineswegs über das Niveau des Durchschnitts dieser Richtung, ja bleibt an Einsicht in die wirklichen -

Nietzsche als Vorläufer der fasdJistischen Ästhetik

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Zusammenhänge weit hinter den englischen und französischen romantischen Antikapitalisten zurück. Man lese z. B. seine Ausführungen über die demüti­ gende Wirkung der Maschine : »Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt, - also sein bißchen Humanität. Frü­ her war alles Kaufen von Handwerkern ein Attszeichnen von Personen, mit deren Abzeichen man sich umgab ; der Hausrat und die Kleidung wurde der­ gestalt zur Symbol ik gegenseitiger Wertschätzung und persönlicher Zusam­ mengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersön­ lichen Sklaventum zu leben scheinen. - Man muß die Erleichterung der Arbeit nicht zu teuer kaufen. « Seinen Hauptangriff richtet Nietzsche gegen die kulturzerstörenden Fol gen der kapitalistischen Arbeitsteilung. Auch hier entgeht ihm all es, was sich auf die Produktion selbst, auf den Kampf der Klassen bezieht. Ihn interessieren nur zwei Momente. Erstens die Tatsache, daß die kapitalistische Arbeits­ teilung jeder Beschäftigung jenen unmittelbaren Sinn, den sie in früheren Gesellschaften hatte, genommen hat, daß jede Beschäftigung, sowohl die des Kapitalisten, wie die des Arbeiters in der Gesellschaft der Gegenwart sinnlos geworden ist. Zweitens und hauptsächlich interessiert ihn das Problem der Muße. Nietzsche betrachtet mit Recht die Muße als die subjektive Voraus­ setzung einer aktiven wie rezeptiven kulturellen Betätigung, er sieht als Ken­ ner der antiken Entwicklung sehr klar, was die Muße des Polisbürgers für die antike Kultur bedeutet hat. Er analysiert deshalb von diesem Standpunkt mit Wut und Ironie die quantitativ wie qualitativ unzureichende Muße in der kapitalistischen Gesellschaft, wobei es aber für ihn sehr bezeichnend ist, daß er dieses Problem ausschließlich für die herrschende Klasse stellt ; die Arbeiter kommen für die Kultur nach Nietzsches Auffassung sowieso nicht in Frage, ihre Muße ist für Nietzsche kein interessantes Problem. Darum ist es kein Zufall, daß im Bild der Antike, das der junge Nietzsche entwirft, die Sklaverei eine so große Rolle spielt. Ohne Sklaverei : keine Muße für die herrschende Schicht; und ohne Muße : keine Kultur. Nietzsche sagt : » Und wenn es wahr sein sollte, daß die Griechen an ihrem Sklaventum zu Grunde gegangen sind, so ist das andere viel gewisser, daß wir an dem Mangel des Sklaventums zu Grunde gehen werden . « Von beiden Gesichtspunkten aus gelangt Nietzsche - ohne den ökonomischen Hintergrund sehen zu können - zu einer Polemik gegen die Entpersön­ lichtmg des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft. Er kritisiert den »Hauptmangel der tätigen Menschen« folgendermaßen : »Den tätigen fehlt

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik gewöhnlich die höhere Tätigkeit : ich meine die individuelle. Sie sind als Be­ amte, Kaufleute, Gelehrte, d. h. als Gattungswesen tätig, aber nicht als ganz bestimmte, einzelne und einzige Menschen ; in dieser Hinsicht sind sie faul. Es ist das Unglück der Tätigen, daß ihre Tätigkeit fast immer ein wenig unvernünftig ist. Man darf z. B. bei dem geldsammelnden Bankier nach dem Zweck seiner rastlosen Tätigkeit nicht fragen : sie ist unvernünftig. Die Täti­ gen rollen, wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik. - Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten, so auch jetzt noch, in Sklaven und Freie ; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle : Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Ge­ lehrter. « Es ist sehr interessant und charakteristisch, in welcher romantisch-reaktionä­ ren Abwandlung bei Nietzsche die alte Kritik des Kapitalismus durch die Aufklärer wiederkehrt. Schon Ferguson griff kritisch die kapitalistische Ge­ sellschaft in der Richtung an, daß ihre Arbeitsteilung alle Menschen in Helo­ ten verwandle und es keine freien Menschen in ihr gäbe. Nietzsche verengt diese Kritik einerseits dadurch, daß er sie auf die herrschende Klasse redu­ ziert, während Ferguson in erster Reihe die Degradation der Werktätigen durch den Kapitalismus kritisiert, andererseits dadurch, daß er seine Kritik fast ausschließlich auf die Kultur im engeren, im bürgerlichen Sinn beschränkt. Demzufolge führt seine Kritik nur dazu, daß er vom Kapitalismus ein » Sinn­ volles Leben« für die Produzenten der Kultur und für ein gebildetes, aber ökonomisch-gesellschaftlich parasitisches Publikum fordert. Die Anwendung der griechischen Polisideologie mit ihrer in den damaligen ökonomischen Ver­ hältnissen begründeten Verachtung für die Arbeit, die in ihrer Erneuerung in der Periode der großen Französischen Revolution tragisch problematisch gewesen ist, entwickelt sich bei Nietzsche am Vorabend des Imperialismus zu einer reaktionären Apologie des Parasitismus. Dieser parasitische Zug tritt ganz klar zutage, wo Nietzsche die für ihn ent­ scheidenden Folgen der kapitalistischen Arbeitsteilung, die Folgen für die Kunst analysiert. Er geht auch hier von der Quantität und Qualität der Muße aus. »Wir haben das Gewissen eines arbeitsamen Zeitalters : dies er­ laubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die größte und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Muße, der Erholung : wir weihen ihr die Reste unserer Zeit, unse­ rer Kräfte. - Dies ist die allgemeine Tatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist : sie hat, wenn sie ihre großen Zeit- und Kraftansprüche an die Kunst Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeit-

Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik

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samen und Tüchtigen gegen sich, sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der großen Kunst nicht zugetan sind und ihre Ansprüche als Anmaßungen empfinden. Es dürfte des­ halb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Atem fehlt; oder - die große Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten) , die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötz­ lichen Zerstreuung das natürliche Element ist. « Und an anderer Stelle charak­ terisiert Nietzsche die höherentwickelten Menschen der kapitalistischen Ge­ sellschaft im Gegensatz zu früheren Perioden : »Wir haben daher ein Gefühl der ungeheuren Weite, - aber auch der ungeheuren Leere voraus : und die Erfindsamkeit aller höheren Menschen besteht in diesem Jahrhundert darin, über dies furd1tbare Gefühl der öde hinwegzukommen. Der Gegensatz dieses Gefühls ist der Rausch . . . Wie verzeichnen wir und führen gleichsam Buch über unsere kleinen Genüsse, wie als ob wir mit dem Summieren des vielen kleinen Genusses ein Gegengewicht gegen jene Leere, eine Füllung jener Leere erlangen könnten - : wie täuschen wir uns mit dieser summierenden Arg­ list ! « Mit dieser Nietzscheschen Charakterisierung des Rezeptiven der Kunst im kapitalistischen Zeitalter sind wir wieder bei seiner früher charakterisierten Polemik gegen die pöbelhaft demokratische Kunst seiner Zeit angelangt. In den zuletzt zitierten Ausführungen gibt ja Nietzsche bloß die gesellsc.i. aft­ lichen Grundlagen an, die das Vorherrschen der Pöbelhaftigkeit in der Kunst seiner Anschauung nach befördern. Er faßt nun alle Seiten dieses Problems zu einer Kulturphilosophie zusammen, welche die allgemeine Signatur der modernen Zeit in der Barbarei erblickt. »Diese Bewegtheit wird so groß, daß die höhere Kultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann . . . aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus.« Diese Barbarei ist aber nach Nietzsches Anschauung eine » Zahme Barbarei« , ihre wesentlichen Kennzeichen sind die Verdummung, die Verhäßlichung, die Zunahme der sklavischen Tugenden, die bereits geschilderte Pöbelhaftigkeit in der Kunst usw. (Diese Barbarei muß, wie wir sehen werden, von der von Nietzsche bejahten Barbarei der »blonden Bestie« , der »Herren d er Erde« unterschieden werden.) Diese Polemik führt Nietzsche sein ganzes Leben hindurch konse­ quent aus. Bereits in seiner Jugendschrift gegen David Friedrich Strauß ver­ spottet er den Ästhetiker Vischer wegen seiner Hölderlin-Rede, in der er bei Hölderlin einen Mangel an Humor fand. Aus Mangel an Humor »konnte er (Hölderlin) es nicht ertragen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik ein Philister ist«, sagt Vischer. Nietzsche verhöhnt diese spießerhafte Verun­ glimpfung des Andenkens des »herrlichen Hölderlin« als »süßliche Beileids­ bezeigung« . Er sagt : »Ja man gibt zu, Philister zu sein, - aber Barbar ! um keinen Preis. Der arme Hölderlin hat l eider nicht so fein unterscheiden kön­ nen . . . Ersichtlich will der Ästhetiker uns sagen : man kann Philister sein und Kulturmensch - darin liegt der Humor, der dem armen Hölderlin fehlte, an dessen Mangel er zugrunde ging. « Es is t für den ersten Augenblick sichtbar und bedarf deshalb keiner neueren Ausführung, daß Nietzsche in diesem Kampf gegen die Kultur, gegen die Kunst und Kunsttheorie seiner Zeit ein Fortsetzer der Traditionen der roman­ tischen Kritiker des Kapitalismus ist. Wie diese stellt er immer wieder der Kulturlosigkeit seiner Gegenwart die hohe Kultur vorkapitalistischer oder frühkapitalistischer Perioden gegenüber. Wie alle romantischen Kritiker der Degradation des Menschen durch den Kapitalismus bekämpft er die feti­ schisierte moderne Zivilisation, um ihr die Kultur ökonomisch und gesell­ schaftlich primitiverer Stufen gegenüberzustellen. Er spricht ausdrücklich von einer »Abendröte der Kunst« und bemerkt in seinen melancholischen Kom­ mentaren zu dieser Tatsache : »Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindun­ gen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können ; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens blüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.« Dieser romantische Grundzug in der Kulturkritik ist für seine Ästhetik von ausschlaggebender Bedeutung. Eine ganze Reihe von Motiven seiner B eurtei­ lungen leitet sich direkt von hier ab . Und zwar verherrlicht Nietzsche nicht bloß die Kunst vorkapitalistischer oder frühkapitalistischer Zeiten, wie dies alle romantischen Kritiker der kapitalistischen Zivilisation tun, sondern auch jene Schriftsteller, die infolge besonderer Umstände ihres Schaffens, wegen der kapitalistischen Zu rückgebliebenheit ihres Tätigkeitsfeldes Bewahrer von friihkapitalistischen Kulturtraditionen sind, werden zu seinen besonderen Lieblingen. In einer zusammenfassenden Beurteilung der deutschen Prosa hebt Nietzsche neben Goethes Gesprächen mit Eckermann und Lichtenbergs Aphorismen zwei Bücher seiner Zeitgenossen hervor : Adalbert Stifters »Nachsommer« und Gottfried Kellers »Leute von Seldwyla«, deren funda­ mentale Entgegengesetztheit er vollständig verkennt. Auf die Widersprüche, die zwischen diesen Motiven in Nietzsches Ästhetik und den anderen Motiven seiner Beurteilung der Kunst bestehen, werden wir später ausführlich zurück­ kommen. Hier sei nur einerseits die eigenartige, wenn auch keineswegs

Nietzsche als Vorläufer der faschistischen Ästhetik zufällige Tatsache bemerkt, daß in dieser Einschätzung der deutschen halb­ realistischen Spätromantik, zu der er den Kellersehen Realismus herabnivel­ liert, Nietzsches Urteil mit dem des von ihm so bitter verhöhnten liberalen Asthetiker Vischer zusammenfällt. Andererseits muß schon jetzt hervorge­ hoben werden, daß Nietzsche auch die hier angedeutete Linie der Beurtei­ lung niemals konsequent durchführt, sondern ganz im Gegenteil zu diametral entgegengesetzten Urteilen kommt. So kritisiert er den Musiker Brahms, der in der Entwicklung der Musik eine ähnliche, nachklassische und spätroman­ tische, nur bedeutendere Erscheinung als Stifter in der Literatur ist, wie folgt : »Er hat die Melancholie des Unvermögens ; er schafft nicht aus der Fülle, er durstet nach der Fülle. « Die historische Eigenheit Nietzsches besteht jedoch darin, daß er die kapita­ listische Zivilisation seiner Gegenwart nicht nur von diesem romantischen Standpunkt aus kritisiert. Nietzsche haßt zwar die kapitalistische Zivilisa­ tion seiner Zeit, und er haßt sie, wie wir gesehen haben, gerade deshalb, weil ihre Grundlage die Entfaltung des Kapitalismus (Maschine, Arbeitsteilung usw.) bildet. Er haßt aber die Zivilisation seiner Gegenwart zugleich aus einem ganz entgegengesetzten Grunde : nämlich deswegen, weil ihm dieser Kapitalismus noch nicht genügend entwickelt scheint. Nietzsche, der am Vor­ abend der imperialistischen Periode gewirkt hat, ist also zugleich und in untrennbarer Weise ein romantischer Elegiker der vergangenen Kulturepo­ chen und gleichzeitig ein Herold und »Prophet« der imperialistischen Ent­ wicklung. Freilich ist seine » Prophetie« des Imperialismus nicht eine klare Voraussicht der wirklich wi rkenden gesellschaftlichen Tendenzen, die zum Imperialismus geführt und sich im Imperialismus entfaltet haben, sondern ebenfalls eine romantische Utopie. Nietzsche gibt keine wirkliche Vorahnung des wirklichen Imperialismus, dazu hätte er ja vor allem die Verschärfung der Klassengegensätze sehen müssen. Er macht bloß aus jenen Zügen der Kulturlosigkeit des zeitgenössischen Kapitalismus, die er wegen ihrer Rück­ ständigkeit bekämpft, ein utopisches Bild von einem Gesellschaftszustand, in welchem diese überwunden sein werden. Die Kulturlosigkeit der Kapi­ talisten und die »Begehrlichkeit« der Proletarier sind die beiden Pole, die er am Kapitalismus seiner Zeit haßt. Aber wenn er auch in allgemein kulturellen Fragen immer wieder auf die Kultur früherer Zeiten zurückgreift und diese als Ideal der Gegenwart ent­ gegenstellt, so tut er dies gerade in diesen für ihn entscheidenden Fragen nicht. Das heißt, er schwärmt weder für den bornierten Zunfthandwerker, noch für das patriarchalische Verhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeiter.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Sein Ideal ist vielmehr eine Herrschaft von entwickelten, kultivierten, solda­ tisch-römisch gewordenen Kapitalisten über das disziplinierte Heer von sol­ datisch-genügsamen Arbeitern. (Er ist in dieser kapitalistischen Utopie ein Vo rläufer der Spenglerschen Konzeption von der Herrschaft der kapitalisti­ schen Cäsaren.) »Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zueinander als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete Kultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Kultur : l etztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die ge­ meinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Not : man will leben und muß sich verkaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den Arbeiter kaeefi . . D en Fabrikanten und Großunternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzu sehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse . . . Hätten sie die Vor­ nehmheit des Geburtsadels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sklave­ rei jeder Art, vorausgesetzt, daß der Höhere . . . als zum Befehlen geboren legitimiert ist . . . , aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüch­ tigte Fabrikantenvulgarität mit roten feisten Händen bringen ihn auf den Gedanken, daß nur Zu fall und Glück hier d en einen über den anderen er­ hoben habe . « Es ist für Nietzsche charakteristisch und für die spätere Entwicklung der faschistischen Ideologie b edeutsam, daß in dieser reaktionär­ romantischen Utopie über die gewünschte Entwicklung des Kapitalismus zwar die kapitalistische Rückständigkeit Deutschlands als Gegenstand der Kritik eine Rolle spielt (berüchtigte Fabrikantenvulgarität mit roten feisten Händen), jedoch das kapitalistisch entwickelteste Land, England, in keiner Hinsicht zum Vorbild wird, sondern vielmehr die Quintessenz der ruhelosen Dummheit der Zivilisation in Nietzsches Augen bildet. Vorbild ist vielmehr die romantische Stilisierung des Militarismus, ein Preu­ ßen, das seine verknöcherten, bornierten, provinziellen Züge überwunden hat, das - bei Beibehaltung seines militärischen Charakters - europäisch, kultiviert, zur Weltpolitik fähig geworden ist. (Auch in dieser Hinsicht ist die Nietzschesche Konzeption zum Vorbild aller späteren faschistischen Ge­ sellschaftstheorien geworden.) Durch diese Konzeption unterscheidet sich Nietzsche von den meisten romantischen Kritikern des Kapitalismus. Er ist mit der Entwicklungsrichtung des Kapitalismus nicht einverstanden, aber seine Ablehnung richtet sich jetzt nidlt gegen die Entwicklung des Kapitalis­ mus überhaupt, ist also kein Zurückwünschen der alten patriarchalischen Beziehungen zwischen Kapitalist und Arbeiter. Nietzsche akzeptiert vielmehr .

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N ietzscbe als Vorläufer der faschistischen Ästhetik diese Entwicklung als solche, er wirft ihr aber ihren pöbelhaft-demokrati­ schen Charakter, die Zerstö rung der richtigen Hierarchie zwischen Kapitalist und Arbeiter vor. Sein Ideal ist, »daß sich hier eine bescheidene und selbst­ genügsame Art Mensch, ein Typus Chinese ausbilde : und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Notwendigkeit gewesen«. Aber die Konzes­ sionen an die Demokratie, das Kokettieren mit der Revolution, die jüdisch­ christlichen Kulturtendenzen usw. haben der Entwicklung eine andere, ent­ gegengesetzte Richtung gegeben. »Man hat den Arbeiter militärtüchtig ge­ macht, man hat ihm das Koalitionsrecht, das politische Stimmrecht gegeben : was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Notstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht) empfindet? . . . Will man einen Zweck, muß man auch die Mittel wollen : will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht. « Solange nicht eine radikale Wendung in der Richtung auf die Nietzschesche Utopie - deren Symbol sein Übermensch ist - gemacht wird, » muß man vorwärts, will sagen Schritt für Schritt wei­ ter in die decadence (dies meine Definition des moderenen >FortschrittsFreiheit des Indi­ viduumsglei­ che Rechte für alleWollust und Hölle< gewesen ist . . . « Dies Werk ist durchaus das non plus ultra Wagners ; er erholte sich von ihm mit den Meistersingern und dem Ring. »Gesünder werden, das ist ein Rück­ schritt bei einer Natur wie Wagner . . . « Nun meint natürlich Nietzsche, in seiner letzten Periode » gesund« geworden zu sein und die »Krankheit« sei­ ner bisherigen Dekadenz als Übergangsstufe betrachten zu können, jedoch ebenso, wie seine Kritik des Wagnerschen Stiles seine ästhetische Selbstkritik als Schriftsteller gewesen ist, ebenso gilt seine eben zitierte Ji.ußerung über Wagner auch für ihn selbst. Freilich (wie auch bei Wagner) nur hypothetisch ; denn Nietzsche ist niemals - gesund geworden, auch nicht im Sinne seiner eigenen Definitionen. . Wir haben gesehen, daß Nietzsche neben Wagner als Künstler der Dekadenz in seiner reifen Periode Schopenhauer als Philosophen der Dekadenz be-

Nietzsche als Vorläu.fer der faschistischen Ästhetik kämpfte. Der Pessimismus ist fü r den reifen Nietzsche eines der bezeichnend­ sten Symptome der Dekadenz. Die Entwicklung Richard Wagners zum Pessi­ mismus, seine Entwicklung von Peuerbach zu Schopenhauer, vom Siegfried zum Parsifal ist für Nietzsche das typische Symptom des dekadenten Cha­ rakters der \Vagnerschen Kunst, und Schopenhauer wird durch seine pessi­ mistisd1e Philosophie zum Musageten der europäischen Dekadenz. All dies ist aus unseren bisherigen Analysen hinreichend klar hervorgegan­ gen. Wir müssen nun die Kehrseite des Nietzscheschen Kampfes gegen den Pessimismus etwas näher betrachten. Wir haben bereits als Eigenart des phi­ losophischen Standpunkts Nietzsches hervorgehoben, daß er den Kapitalis­ mus durch Bejahung seiner »schlechten Seite« zu rechtfertigen versucht, aus welcher philosophischen Position seine Bejahung der Barbarei konsequent erfolgt ist. Die Doppelseitigkeit der Nietzscheschen Philosophie bringt es nun notwendig mit sich, daß diese Lebensbejahung von der »schlechten Seite« des Lebens aus zu der paradoxen und widerspruchsvollen philosophischen Ten­ denz führt : das Leben vom Pessimismus her zu bejahen. Wir können hier unmöglid1 die philosophischen Widersprüche, die aus dieser Stellungnahme Nietzsches folgen, auseinandersetzen, es genügt für unsere Zwecke vollstän­ dig, zu sehen, daß Nietzsche das Wesen der Kunst - wie Schopenhauer darin erblickt, daß sie das an sich verwerfenswerte D asein, zu dem man denkerisch nur als Pessimist stehen kann, verklärt und im Kunstwerk be­ jahenswert macht. Nur daß Schopenhauer als geradliniger und konsequenter Pessimist die Kunst als eine Form der Abwendung vom Leben auffaßt, wäh­ rend Nietzsche den paradoxen Versuch unternimmt, diese Funktion der Kunst zum Vehikel seiner pessimistischen Lebensbejahung zu machen. (Diese pessimistische Lebensbejahung ist die Quelle jenes »heroischen Realismus« Nietzsches, den seine heutigen faschistischen Verehrer am meisten verherr­ lichen.) Schon sein Jugendwerk »Die Geburt der Tragödie« , die noch sehr stark unter Schopenhauers Einfluß stand, ist diesem Problem gewidmet. In einem späte­ ren Entwurf zu einem neuen Vorwort zu diesem Werke charakterisiert Nietz­ sche sein damaliges Grundproblem folgendermaßen : »Über das Verhältnis der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden : und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt. Mein erstes Buch war ihm geweiht ; die Geburt der Tragödie glaubt an die Kunst auf dem Hintergrund eines anderen Glaubens : daß es nicht möglich ist, mit der Wahrheit zu leben : daß der >Wille zur Wahrheit< bereits ein System der Ent­ artung ist.«

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Dieses Grundproblem b leibt im Zentrum der Kunstauffassung Nietzsches. Er sagt auch in seiner letzten Periode in einer fast Schopenhauerischen Formu­ lierung : »Nur ästhetisch gibt es eine Rechtfertigung der Welt. « Und dieser Grundauffassung gemäß bestimm t er das Wesen der Kunst dahin : » Die Um­ formung der Welt, um es in ihr aushalten zu können, ist das Treibende : folglich als Voraussetzung ein ungeheures Gefühl des Widerspruchs . Das >Los-Sein von Interesse und ego< ist Unsinn und ungenaue Beobachtung. Es ist vielmehr das Entzücken, jetzt in unserer Welt zu sein, die Angst vor dem Fremden los zu sein ! « Die philosophische Begründung des Wesens der Kunst bleibt also bei Nietzsche pessimistisch im Stil von Schopenhauer, auch nachdem Nietzsche die Schopenhauersche Philosophie und ihren dekadenten Pessimismus vollständig überwunden zu haben wähnte : die weltanschauliche Voraussetzung für die Kunst bleibt nämlich die Auffassung der Welt als eines Chaos, als eines sinnlosen Gewirrs von irrationellen und feindlichen Mächten, die an sich unerträglich und verneinungswürdig sind, deren An­ blick nur durch die verdeckende und verzerrende Stilisierung der Kunst er­ träglich gemacht werden kann. Nietzsche steht mit dieser Grundauffassung, ebenso wie Schopenhauer, im schroffen Gegensatz zu allen Traditionen der revolutionären Periode der Bourgeoisie, zu der deutschen i\sthetik von Kant bis Hegel, die bei aller Verschiedenheit ihrer weltanschaulichen Grundlegung der i\sthetik doch stets von der Auffassung ausgeht, daß es die Au fgabe der Kunst sei, das an sich vernünftige Wesen der Welt abzubilden, daß die Stili­ sierung der Kunst darin bestünde, dieses Wesen von dem verwirrenden Bei­ werk des bloß Empirischen zu befreien. Freilich gibt es auch bei Nietzsche eine gar nicht unwesentliche Tendenz zur Annäherung an diese Richtung der klassischen i\sthetik. Im laufe seines Kampfes gegen die Wagner-Schopenhauer-Bismarcksche Dekadenz gewinnt Nietzsche mitunter eine etwas freiere Beziehung zur Hegelschen Philosophie als in seiner Jugend. Diese Tendenz kann aber infolge der gesellschaftlich­ geschichtlichen Grundlagen seines Philosophierens zu keiner wirklichen Auf­ hebung der Widersprüche seines Denkens führen , sie vermehrt im Gegenteil die Antinomien seiner i\sthetik und seiner Beurteilung der einzelnen Künstler und Kunstwerke. Im Kampfe gegen Wagner und die künstlerische Dekadenz ist nämlich Nietzsche gezwungen, gegen Wagners pöbelhafte »Monumentali­ tät« die Forderung eines wirklichen, klassischen großen Stils aufzustellen. Und bei der Begründung dieser Forderung muß er nun das Prinzip der Ver­ nünftigkeit des Kunstwerks, die Bedeutung der Logik für den Aufbau des großen Kunstwerks gegen Wagner vertreten. »Es liegt im Unlogischen, Halb-

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logischen viel Verführerisches - das hat Wagner gründlich erraten - . . . Die Männlichkeit und Strenge einer logischen Entwicklung war ihm versagt : aber er fand >Wirkungsvolleres !«< Und an anderer Stelle : »Das Drama ver­ langt die harte Logik : aber was lag Wagnern überhaupt an der Logi k ! « Diese prinzipielle Polemik, die sich gegen die ganze irrationalistische Ent­ wicklung des deutschen Dramas seit den Klassikern und überhaupt gegen die ganze moderne Literaturentwicklung richtet, bedarf selbstverständlich auch bei Nietzsche neben der prinzipiell ästhetischen Hervorhebung des Vernunft­ prinzips für die ästhetische Stilisierung einer historischen Begründung. Schon in den Erörterungen, die Nietzsche an die zuletzt angeführte Äußerung knüpft, unterstreicht er mehrmals, daß das Publikum Wagners eben nicht das Publikum Corneilles gewesen ist. Die Hinneigung Nietzsches zur fran­ zösischen Literatur und Kunst, seine Parole gegen Wagner : » II faut m�di­ terraniser la musique« konzentrieren sich um die Tendenz der Verherrlichung der streng und logisch aufbauenden klassischen Literatur Frankreichs. Nietz­ sche geht an mehreren Stellen sogar so weit, zu erklären, » daß mein Arti­ sten-Geschmack die Namen Moliere, Corneille und Racine nicht ohne In­ grimm gegen ein wüstes Genie wie Shakespeare in Schutz nimmt« . Er beruft sich an anderer Stelle auf die Polemik Byrons gegen Shakespeare als Vorbild und z itiert aus seinen Ausführungen : » Wir folgen alle einem innerlich fal­ schen revolutionären System . . . , ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den außerordentlichsten Dichter.« Und Nietzsche fordert, daß die wahre Kunst aus den Trümmern und Ruinen dieser falschen Entwicklung des 1 9 . Jahrhunderts wieder herausgegraben werde : »Nicht In­ dividuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken ; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit ; Zeitcharaktere, Lokalfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht ; das gegenwärtige Emp­ finden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem anderen als dem artistischen Sinn wir­ kungslos gemacht; keine neue Stoffe und Charaktere, sondern die alten längst gewohnten in immer fortwährender Neubeseelung und Umbildung : das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten. « Und er faßt seine Anschauungen über den vorbild­ lichen wahren und großen Stil dahin zusammen : »Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt. « Diese Tendenz in der Ästhetik und ästhetischen Kritik Nietzsches ist bei all ihrer Gegensätzlichkeit zu seinen uns bereits bekannten Beurteilungen der

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Kunst keineswegs etwas Nebensächliches für ihn. Nietzsche ist nicht nur ein Verehrer der tragedie classique, sondern auch ihres letzten großen Fort­ setzers, Voltaires. Er hat sein Buch »Menschliches, allzu Menschliches« ur­ sprünglich dem Andenken Voltaires gewidmet, und er lobt wiederholt die außerordentliche artistische Weisheit von Voltaires Tragödien, insbesondere des Mahomet. Der Gegensatz Voltaires zu der Entwicklung des 1 9 . Jahr­ hunderts und zu Rousseau, in dem Nietzsche den geistigen Vater all dieser falschen demokratischen Tendenzen erblickt, ist in seinen Augen nicht nur ein künstlerischer, sondern auch ein weltanschaulicher und politischer Gegensatz. Nietzsche schreibt über diesen »Wahn in der Lehre vom Umsturz« folgendes in bezug auf Voltaire und Rousseau : »Nicht Voltaires maßvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umhauen zugeneigte Natur, sondern Rousseaus leidenschaft­ liche Torheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe : >1krasez l'infame !< Durch ihn ist der Geist der A ufklärung und der fortschreitenden Entwicklung auf lange ver­ scheucht worden : sehen wir zu - ein jeder bei sich selber -, ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen. « Die ästhetische Grundlinie dieser Tendenz Nietzsches ist also die Rettung der Logik und der Vernunft gegen die irrationalistische Gefühlsüberschwemmung des 1 9 . Jahrhunderts, die Rettung des aristokratisch traditionellen Charak­ ters der Kunst gegenüber ihrer plebejisch-demokratischen Verseuchung. Diese Tendenz gerät jedoch bei Nietzsche in einen u nauflösbaren Widerspruch zu seinen allgemeinen pessimistisch-irrationalistischen Tendenzen ; wir haben eben gesehen, daß für Nietzsche der Optimismus Rousseaus ein Ausdruck seines pöbelhaften Revolutionärtums gewesen ist. Die aristokratische, die tra­ ditionelle, die » logische « Tendenz ist bei Nietzsche mit einem tiefen Pessimis­ mus, mit einer zersetzenden Skepsis verbunden, insbesondere in bezug auf die Möglid1keit und den Wert der Erkenntnis der A ußenwelt. Wir können hier unmöglich die agnostizistische Erkenntnistheorie Nietzsches, die dem Machismus außerordentlich verwandt ist und den faschistischen Neomachis­ mus sehr stark beeinflußt hat, ausführlich analysieren. Wir illustrieren seinen Standpunkt nur mit einer sehr bezeichnenden Stelle, um dann auf die ästhe­ tischen Konsequenzen seiner agnostizistischen Erkenntnistheorie zu sprechen zu kommen. »Nicht die Welt als Ding an sich - diese ist sinnleer und eines homerischen Geläduers würdig ! -, sondern die Welt als lrrtt1m ist so bedeu­ tungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoße tragend.« Und für die Bewertung von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit. »Was muß Nietzsche zieht aus diesem Agnostizismus rücksichtslos alle Konsequenzen

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unter solcher Voraussetzung aus der Wissenscbafl werden ? Wie steht sie da? In einem bedeutenden Sinne beinahe als Gegner der Wahrheit : denn sie ist optimistisch, denn sie glaubt an die Logik . « Nietzsches Analyse der Kunst hat stets diese Unerkennbarkeit der Außen­ welt zur Voraussetzung. Der Künstler, sagt Nietzsche, »hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheit eine schwächere Moralität als der Denker.« Für die Kunst der groß en Vergangenheit stellt Nietzsche fest, daß ihre Größe aufs engste mit dem Glauben der Künstler an falsche » ewige Wahrheiten« zusammenhängt. Er begnügt sich aber nicht mit solchen historischen Fest­ stellungen, sondern bemüht sich, überall an der Hand der konkreten Pro­ bleme der Ksthetik nachzuweisen, daß die schöpferische Methode der Kunst zur objektiven Grundlage die Unerkennbarkeit der Welt und die Wertlosig­ keit einer solchen Erkenntnis hat. So analysiert er in sehr interessanter Weise das Schaffen der Menschen durch die Künstler. »Wenn man sagt, der Drama­ tiker (und der Künstler überhaupt) schaffe wirkliche Charaktere, so ist dies eine schöne Täuschung . . . In der Tat verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und generalisieren sehr oberflächlich, wenn wir ihm diesen oder jenen Charakter zuschreiben : dieser unserer sehr un­ vollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen macht (in diesem Sinne >schafftIn Ketten tanzenDie WageEs gibt keine aus sich selbst, sei es in Gegensätzen, sei es in direkter Linie sich entwickelnde Philoso­ phie, sondern es gibt nur philosophierende Männer, welche mitsamt ihren Lehren Kinder ihrer Zeit sind.ZukunftsstaatDarin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Mei­ sters, d aß er den Stoff durch d ie Form vertilgt.< überhaupt, wenn Schillers ästhetische Abhandlungen nid1t immer Kants philosophische Tiefe erreichen, so s ind bei ihm die rein ästhetischen Urteile, eben weil er ein Dichter war, oft reicher und schärfer gefaßt als bei Kant. «2 Mehring akzeptiert also die bei Kant aus seinem subjektiven Idealismus heraus konsequente Priorität der Form vor dem Inhalt nicht nur kritiklos, sondern sogar in ihrer Schillerschen, ganz p aradox auf »reine Kunst« zugespitzten Fassung. In seinen »Asthe­ tischen Streifzügen « schwächt Mehring diesen Satz nur in dem Sinn seiner allgemeinen »Relativierung« d er Kantschen Asthetik überhaupt ab. Er sagt : » In seiner absolut abstrakten Fassung unanfechtbar (von mir hervorgeho­ ben - G. L.), ist dieser Satz in der historischen Entwicklung des KunstI Ebd., Bd. II, s. 2 67. 2 Ebd., Bd. 1 , S. 2 14 .

Beiträge wr Geschichte der Ästhetik gesd1macks immer nur zur bedingten Geltung gekommen.« Aber die nähere Formulierung dieser historismen »Relativierung« zeigt, daß Mehring ge­ rade hier den Konsequenzen seiner Theorie nur durm einen ganz trüben Ek­ lektizismus auszuweimen vermag. »Gerade weil alle lebendige Kunst«, führt er aus, » im Boden ihrer Zeit wurzelt und nirgendwo anders wurzeln kann, vermag sie nicht jeden Stoff künstlerisch zu bemeistern, hängt der Geschmack also auch vom Inhalt und nicht bloß von der Form ab. « 1 (Von mir hervor­ gehoben - G. L.) Dieser Eklektizismus bedarf wirklich keines Kommentars. Selbstverständlich ist aum in dieser Frage die Praxis von Mehring s ehr ofl: viel, viel besser als diese Theorie. Sein gesunder revolutionärer Instinkt treibt ihn in jedem Fall dazu, gegen alle Formexperimente, gegen alle »Lite­ raturrevolutionen« von der Form aus heftig zu protestieren. So analysiert er z. B. sehr richtig die lyrischen Formexperimente des von ihm im allgemei­ nen sehr wohlwollend behandelten Arno Holz und smreibt als Abschluß eine vernichtende Kritik über dessen und Paul Ernsts »Revolutionierung der Ly­ rik« durch die freie Rhythmik, gerade dadurch, daß er die I nhalte der freien Rhythmen von Goethe, Heine und Walt Whitman den I nhalten von Holz gegenüberstellt. Aber freilich liegt die Lage auch hier so, daß Mehring seine richtige Kritik im Gegensatz zu seiner unrichtigen Theorie schreibt. Aber ebenso selbstverständlicherweise muß diese von Grund aus falsche Ksthetik auch auf die Grundlinie von Mehrings praktischer Kritik einwirken. Wir haben bereits verfolgen können, daß Mehring aus dem Prinzip der Kant­ schen » Interesselosigkeit« in eine gefährliche Nähe des l'art pour l'art ge­ raten ist, aus welcher er sich bloß mit einem Salto mortale zu retten ver­ mochte. Die Konsequenzen dieser Theorie treten aber bei ihm doch zutage in seiner Konzeption der für die Kunst günstigen, beziehungsweise ungünsti­ gen Perioden. Mehring formuliert seinen Standpunkt auch hier mit seiner ge­ wohnten Prägnanz : »Unter den Waffen schweigen die Musen. «2 Und er er­ örtert diese seine Auffassung im selben Aufsatz folgendermaßen : » I n allen revolutionären Zeiten, in allen um ihre Befreiung kämpfenden Klassen wird der Geschmack immer reichlich durch Logik und Moral getrübt s ein, was ins Philosophische übersetzt nur heißt, daß, wo Erkenntnis- und Begehrensver­ mögen stark angespannt sind, die ästhetische Urteilskraft: immer ins Ge­ dränge kommen wird . «3 Mehring versucht auch hier, diese Sätze historisch I Ebd., Bd. 11, s. 2 64. 2 Ebd., S. 299. 3 Ebd., S. 263.

Franz .Mehring

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zu relativieren, abzusdiwächen, ihren letzten Konsequenzen zu entgehen, in­ dem er fordert, daß man sich in ihrer Anwendung vor jeder Schablone hüten und die einzelnen Fälle einzeln untersuchen solle. J edodi auch in seiner eigenen Praxis treten die Konsequenzen dieses Stand­ punkts sowohl positiv wie negativ stark hervor. Negativ, indem er, wie wir es bereits gesagt haben, der Analyse des großen revolutionären Realismus nach Möglichkeit ausweicht. Positiv in seiner Analyse solcher Realisten. So sagte er z. B. über Zola, nachdem er dessen Kunsttheorie dargestellt hat : » Man kommt darüber nicht hinweg, wenn man sagt, Zola sei zwar ein gro­ ßer Dichter, aber ein schlechter Asthetiker gewesen. Vielmehr stimmen der Asthetiker und der Poet in Zola vollkommen zusammen. Seine Romane sind weit mehr reformatorische M ahn- und Weckrufe als reine Kunstwerke . . . Das wäre vom ästhetischen Standpunkt aus ein hartes Urteil, wenn nur eben der ästhetische Standpunkt nicht auch dem historischen Wechsel unterworfen wäre. Sicherlich ist die Kunst ein ursprünglidies Vermögen der Menschheit und nimmt als solches ihre Gesetze nur von sich selbst. Aber i n dem histori­ schen Flusse der Dinge steht sie auch und sie kann sich nicht entwickeln, ohne die revolutionären Erschütterungen, in denen es größere Ehre sein mag, ihre Altäre zu zerbrechen, als auf ihnen zu opfern. « 1 Mehring vermag also seine revolutionäre Sympathie mit den Tendenzen Zolas nur so auszudrük­ ken, daß er seiner Asthetik den ganzen Dichter Zola opfert, was, wie immer man zu den künstlerischen Grenzen Zolas stehen mag, auch ästhetisch ein ganz ungeheuerliches Urteil ist. Auf der anderen Seite drängt diese Position Mehring, wenn er einen großen, kämpferischen Dichter ästhetisch anerkennt, dazu, diese Anerkennung i n einer den wahren Sachverhalt sowohl gesellschafl:lich wie ästhetisch entstel­ lenden Formulierung auszudrücken. Als Beispiel diene sein Urteil über Mo­ liere : » Aber Moliere wäre kein großer Komödiendichter gewesen, wenn er nicht bis zu einem gewissen Grade über die Klassenkämpfe seiner Zeit erhaben gewesen wäre. (Von mir hervorgehoben - G. L.) Wenn er nicht das bunte Gewirr der sozialen Kämpfe, das sich vor seinen Augen abspielte, in allen Teilen beobachtet und studiert hätte. Er sah auch die Kehrseite der Bourgeoisie und schilderte sie, eben im >GeizigenZukunftstaaten< wissen will, worin sich der >freie Wuchs< der Menschheit entfalten kann.«2 Diese Auffassung Schil­ lers ist nicht bloß an und für sich falsch, denn sie verkennt und idealisiert die Klassenkämpfe der Bourgeoisie in Schillers Zeiten, sondern verwickelt Meh­ ring innerhalb seiner Schillerauff assung in unlösbare Widersprüche. Wir haben ja bereits bei der Behandlung der ästhetischen Fragen sehen können, daß die grundlegende ästhetische Konzeption Mehrings, der Ausgang von der Kant­ schen 1\.sthetik mit der Anerkennung des Fluchtcharakters dieser 1\.sthetik widerspruchsvoll - verbunden war. Mehring ist also gezwungen, in unauf­ lösbarem Widerspruch zu seiner allgemeinen Schillerauffassung, zu seiner Lassalleanischen Verteidigung Schillers gegen die Kritik von Marx und En­ gels, stellenweise vor der Marxschen Auffassung zu kapitulieren. So schreibt er am Schluß seiner Schillerbiographie : »Man darf den ästhetisch-philosophi­ schen Idealismus Schillers nicht mit dem historisch-philosophischen Idealismus Fichtes und Hegels verwechseln. Schiller flüchtete aus dem engen dumpfen Leben in das Reich der Kunst, während Fichte im kühnen Sturme der Ge­ danken dies Leben aus aller Dumpfheit und Enge befreien wollte ; Fichte verkündete frank und frei den Atheismus, das Recht auf Revolution, die Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt, eben die Gleichheit, die Schiller nur im Reiche des ästhetischen Scheines gelten lassen wollte. Und so auch flüchtete Hegel nicht aus seiner Zeit, sondern erfaßte sie in Gedanken und eroberte mit seiner historischen D ialektik ungezählte Provinzen des 1 Mehring : Schiller und die großen Sozialisten, Neue Zeit, xxm. J ahrg., Bd. u, S. 1 5 4 f. 2 Mehrin g : Gesammelte Schriften, Bd. n, S. 24 5 .

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik Geistes. Schiller spottete über Fichte als einen >WeltverbessererGyges< nicht an eine tiefe phi­ losophische Wahrheit des Revolutionärs Lassalle, sondern an einige Ver­ legenheitsredensarten des Reaktionärs Bismarck erinnert fühlen, B artels an quieta non movere, Meyer an die Imponderabilien. « 1 Hier, wo Mehring auf den Einfluß der Bismarckschen Periode der » bonapartistischen Monarchie « auf die deutsche Literatur stößt, polemisiert er scharf und richtig gegen die flachen Apologeten des Bismarcktums, aber seine Polemik bleibt ebenfalls eng und beschränkt (stellenweise fast wie seinerzeit die politische Kritik Wil­ helm Liebknechts) , weil er die widerspruchsvolle historische Notwendigkeit der bonapartistischen Monarchie nicht begriffen hat. Der scharfe Kampf ge­ gen das Bismarckregime gehört zu den besten Elementen seines bürgerlich­ revolutionären Erbes, und er steht damit turmhoch über den sozialdemokra­ tischen » Verstehern« und Apologeten dieser Zeit, die in den letzten J ahren massenhaft hervorgetreten sind, sein Kampf bleibt aber einseitig, undialek­ tisch. D arum kann er sich auch in dem Fall Hebbel nur in die Region der »reinen Kunst«, die er bei Bartels bekämpft hat, flüchten. Denn er s agt ab­ schließend über den » Gyges « : »Doch vor der Fülle des Glanzes und der Schönheit, die über dies Werk ergossen ist, verstummt gern die Kritik ; so lange es eine deutsche Literatur gibt, wird sie es zu ihren Kleinodien zählen. « Die schematische Vereinfachung der ökonomischen Grundlagen bei Mehring kommt bei seiner Behandlung der Romantik noch deutlicher als hier zur I

Ebd., s. 4 8 .

Franz Mehring Geltung. Mehring vereinfacht die Frage auf den Gegensatz von feudaler Ro­ mantik und bürgerlich-fortschrittlid1en Strömungen, worin er unkritisch das Erbe der bürgerlich-progressiven K ritiker der Romantik aus den dreißiger und vierziger Jahren bis zu den Junghegelianern ohne kritische Revision übernahm. Er steht damit im schärfsten Kontrast zu der Auffassung von Marx über die Romantik. Marx hat bereits in seiner Jugendzeit (in der Kritik Hugos) die ideologischen Verbindungsfäden zwischen Romantik und 1 8 . Jahr­ hundert aufgedeckt u nd diese Zusammenhänge später (in seinen brieflichen K ritiken über Chauteaubriand) meisterhaA: weitergeführtt . Andererseits stand er nicht bloß von Anfang an in seinem Kampf gegen die Romantik auf einem ganz anderen, höheren und umfassenderen Standpunkt als die Jung­ hegelianer, sondern deckte zugleich das romantische Element in ihrer Kritik der Romantik scharfsinnig und richtig auf. Diese Auffassung der Romantik als einer bürgerlichen und nicht feudalen Geistesströmung beruht bei Marx auf der tiefen und richtigen, konkreten und vielseitigen Darstellung der Ent­ wicklung des Kapitalismus, insbesondere der Umwandlung des feudalen Grundbesitzes in kapitalistischen. Schon in der »Neuen Rheinischen Zeitung« schreibt Marx über die Entwicklung Deutschlands : » In Deutschland ist der Kampf der Zentralisation mit dem Föderativwesen der Kampf zwischen der modernen Kultur und dem Feudalismus. Deutschland verfiel in ein ver­ bürgerlichtes Feudalwesen in demselben Augenblick., wo sich die großen Mon­ archien im Westen bildeten.«2 Und Engels schreibt ähnlich über die Folgen des Bauernkrieges : »Die kapitalistische Periode kündete sich an auf dem Lande als Periode des landwirtschaA:lichen Großbesitzes auf Grundlage der leibeigenen Fronarbeit.«3 Marx und Engels haben mit dieser Richtung ihrer Forschungsergebnisse den Weg gewiesen, den später Lenin, ihre Lehre genial weiterführend, zu der Theorie des »preußischen Weges« der kapita­ listischen Entwicklung weitergebildet hat. Aus dieser ökonomischen Auffas­ sung folgt notwendig die Auffassung der Romantik als einer bürgerlichen Marx über Hugo : MEGA, 1. Abt., Bd. 1, 2, S. 2 5 1 ff. ; über Chateaubriand : Briefe an Engels : 26. 10. 1 8 5 4 und 3 0. I I . 1 8 73 , Marx/Engels : Briefwechsel, Berlin 1 949, Bd. II, S. 73 , und Bd. 1v, S . 4 8 9 ; über Bruno Bauer und die Romantik 1 8 . x . 1 9 5 6, ebd., Bd. u, S. 102 ; über die ganze Frage das ausgezeichnete Kapitel über Marx und die Romantik im Buch von M. Lifschitz : Woprossij iskusstwa i filosofii, Moskau 1 9 3 5 , S. 4 5 ff. 2 Mehring : Aus dem literarischen Nachlaß von Marx, En gels u nd Lassalle, a. a. 0. Bd. m, S. 94. 3 Engels : Die Mark, Elementarbücher, Bd. VII, S. 1 5 0. l

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Tendenz, als einer Fraktion innerhalb der Bourgeoisie, zu der sich ja ökono­ misch der sich immer mehr kapitalisierende feudale Großgrundbesitz trotz politisch-reaktionärer Tendenzen, trotz Beibehaltung der feudalen Ausbeu­ tungsformen immer energischer weiterentwickelt. Es ist nun für Mehring außerordentlich charakteristisch, daß er von diesen ökonomischen Feststellungen von Marx und Engels Kenntnis nimmt, ja sie gelegentlich selbst anwendet, z. B . wo er davon spricht, daß sich in Ost­ elbien » der ritterliche Grundherr in den warenproduzierenden Gutsbesitzer verwandelte«!. Aber diese Erkenntnis bleibt bei Mehring eine gelegentliche richtige historische Feststellung von Tatsachen, sie geht nicht in seine Metho­ dologie ein, sie ändert nichts an seinem Schema der D arstellung der ideolo­ gischen Strömungen. Ja selbst dort, wo Mehring die ideologischen Folgen zwischen bereits sich kapitalisierendem und noch feudal-patriarchalisch blei­ bendem Grundbesitz richtig beobachtet, bleibt diese Beobachtung unausge­ wertet. Es bleibt dabei sogar - ganz naiv - sein normales Schema, die Verherrlichung der zurückgebliebeneren » idealistisdien « Phase gegenüber der entwickelteren und kapitalistischeren, undialektisch bestehen. D arum kann er in der »Lessing-Legende« von der Sympathie Lessings zu hinterpommer­ schen Junkern romantisch verherrlichend sprechen, ohne von der Dialektik ihrer Lage etwas zu ahnen. »Der hinterpommersche Adel« , führt Mehring aus, »sehr im Gegensatze zu dem vorpommerschen arm und frugal, mehr B auer als Junker, mit seinen Hintersassen mehr patriarchalisch hausend, als sie rücksichtslos ausbeutend, war die übelste Rasse nicht ; er besaß mehr d ie Tugenden als die Laster einer herrschenden Klasse ; dem von den B erliner Spießern gelangweilten und den Leipziger Geldprotzen gepeinigten Lessing mußte so ein Kleist oder Tauentzien aus der Kassubei, die nichts als ihre Ehre, ihren Degen und ihr Leben besaßen, die ihr Leben täglich in die S chanze schlugen und lieber ihren Degen zerbrachen, als ihre Ehre befleckten, eine gar willkommene Erscheinung sein . « Und er fügt sogar über die Gegenwart hinzu : »Die hinterpommerschen Junker der >Kreuzzeitung< stehen an ehr­ lichem Kampfesmut und ritterlicher Gesinnung turmhoch über den k apita­ listischen Soldschreibern der Freisinnigen oder der > Vossischen Zei­ tung< . . . «2 Und selbst wo die Widersprüche dieser Klasse am krassesten zutage treten, bei der Analyse von York, bemerkt er von der geschichtlichen Dialektik, davon, daß diese den Kapitalismus von einer zurückgebliebeneren I .1

Mehring : Nachlaß, Bd. 111, S . .1 8 . Mehring : Die Lessing-Legende, a. a. 0. S. 3 40.

Franz Mehring Stufe aus kritisieren und hassen, daß ihr Bündnis mit den fortgeschritteneren Klassen oder ihren Vertretern nur ausnahmsweise, nur in unentwickelten Zu­ ständen, nur gegeniiber einem Regime, das vom S tandpunkt der fortge­ schrittenen Bourgeoisie aus gesehen ökonomisch und sozial bereits überholt ist, zeitweise möglich ist, so gut wie gar nichts. Vergleicht man Mehrings unkritisch sympathisierende Schilderung eines Kleist oder Tauentzien mit der B alzacschen Schilderung der diesem viel mehr ans Herz gewachsenen alten Vendeekämpfer Du Guenic oder D'Esgrignons, so sieht man, um wie vieles dialektischer dieser große Realist instinktiv, gegen seine politischen Überzeugungen, diese Verhältnisse dargestellt hat als der in seinem Schema befangene Mehring. So bleibt die ganze Darstellung der Romantik bei Mehring in diesem starren und leeren Gegensatz stecken. Und wo er die Probleme der Romantik etwas zu konkretisieren versucht, kommt er nicht weiter als zur Schilderung der in­ neren Gegensätze, die die Kämpfe gegen Napoleon mit ihrem unentwirr­ baren Knäuel von progressiven und reaktionären Tendenzen hervorgerufen haben . Dabei übersieht er erstens, daß die meisten entscheidenden Kategorien der Romantik (romantische Ironie usw.) vor den Freiheitskriegen und ihren Problemen als i deologische Folgen der allgemein europäischen Konsequenzen des Thermidor der Französischen Revolution entstanden sind. Zweitens und das ist die Hauptsache - übersieht er vollständig die Romantik als all­ gemein europäische Geistesströmung, nimmt von ihren fortgeschrittensten Formen, der englischen und französischen Romantik, überhaupt keine Kennt­ nis. D iese allgemeine Unklarheit Mehrings in bezug auf die Romantik schließt natürlich nicht treffende Charakteristiken einzelner Romantiker aus. Vor allem sei auf die Analyse der Persönlichkeit und des Werks von Heinrich von Kleist hingewiesen. Damit sind wir zum zweiten Haupteinwand gekommen, den Engels gegen Mehrings »Lessing-Legende « erhob. Er verlangt, » die preußische Lokal­ geschichte als Stück der deutschen Gesamtmisere darzustellen«. Im Verlauf dieses Einwands gibt er ihm einen sehr deutlichen methodologischen Wink : »Beim Studium der deutschen Geschichte - die ja eine einzige fortlaufende Misere darstellt, habe ich immer gefunden, daß das Vergleichen der ent­ sprechenden französischen Epochen erst den rechten Maßstab gibt, weil dort das gerade Gegenteil von dem geschieht, was bei uns.«1 Und er gibt im weite­ ren eine gedrängte übersieht über diese für die Geschichtsauffassung not1 Marx/Engels : Ausgewählte Briefe, a. a. 0. S. 5 5 I .

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wendige Kontrastierung der deutschen Geschichte mit der französischen, eine Methode, die übrigens Marx in seinen Leitartikeln der Neuen Rheinischen Zeitung stets mit der größten Wucht angewandt hat. Diese Kritik von Engels ging an Mehring spurlos vorüber. Trotz seiner universellen Belesenheit in der ganzen europäischen Literatur behandelt er die Geschichte der deutschen Literatur von einem engen, rein deutschen, provinzellen Standpunkt. Und indem er die Engelssd1e Kritik nicht berücksichtigt, bleibt auch die bei ihm stets wiederkehrende Behandlung der deutschen Misere oft schematisch ; sie wird zu einer bloßen » Soziologie« des deutschen Kleinstaat- und Kleinstadt­ wesens, statt die ganze B reite aller Probleme zu umfassen, die die Besonderheit der kapitalistischen Entwicklung in Deutschland vom 1 6. Jh. an bildeten, die Marx und Engels wiederholt in der glänzendsten Weise dargestellt haben. Dieser Provinzialismus, der in engster Wechselwirkung mit der ganzen Meh­ ringschen idealistischen Ksthetik steht, hat zur Folge, daß in Mehrings Lite­ raturgeschichte der große revolutionäre Realismus Englands und Frankreichs ganz unberücksichtigt bleibt, und dies, obwohl Mehring aus seinen Studien über Lessing, Goethe usw. sehr gut bekannt war, wie entscheidend dieser Rea­ lismus die deutsche Entwicklung beeinflußt hat, wie sehr es in Deutschland nur einen sehr abgeschwächten Nachklang dieses Realismus gab. Und wenn Mehring gelegentlich auf diese Realisten zu sprechen kommt, so stellt er die geschichtlichen und ästhetischen Zusammenhänge geradezu auf den Kopf. Wir führen nur eine außerordentlich charakteristische Stelle aus seinem Zola­ aufsatz an : »Der Naturalismus der Rousseau und der Diderot, wie der Bal­ zac und der Zola hat gewiß eine gemeinsame Tendenz : es ist die Flucht der Kunst aus einem Zustand gesellschaftlicher Entartung, es ist ihre Rückkehr in die erlösenden Arme der Natur. « t Es scheint uns, daß der Ausdruck : die Zusammenhänge auf den Kopf stellen - noch viel zu schwach für eine Auffassung ist, die bei Schiller die Flucht nicht anerkennen will, sie bei Dide­ rot und Balzac aber als bewiesen ansieht. Allerdings macht Mehring zwischen Rousseau und Diderot einerseits und Balzac und Zola andererseits einen Un­ terschied. » Jene retteten sich vor der gesellschaftlichen Fäulnis des Feudalis­ mus zur Natur, will sagen zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung, diese aber suchen die Rettung vor der gesellschaftlichen Fäulnis des Kapitalismus, ohne zu wissen, wo sie zu finden ist. So sind jene bei alledem Optimisten, diese aber Pessimisten. « Wir wollen hier gar nicht n äher darauf eingehen, daß es ein starkes Stück ist, das Frankreich der Diderot und Rousseau einfach und 1 Mehring : Gesammelte Schriften, Bd.

u,

S.

306.

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schlicht als feudal zu bezeichnen. Aber die Charakterisierung Balzacs als »Pessimisten « steht ungefähr auf dem Niveau, den bürgerliche Geschichts­ schreiber der Ökonomie (z. B . Gide und Rist) einnehmen, wenn sie Ricardo einen Pessimisten nennen. Auf einem unvergleichlich höheren Niveau steht Mehrings Darstellung und Kritik der naturalistischen Bewegung in Deutschl and. Hier, wo er unmittel­ b ar in den literarischen Tageskämpfen stand, wirkt sich sein kämpferischer Instinkt ungehemmter aus . Zudem ist der Vergleich der naturalistischen »Re­ volution in der Literatur« mit den dichterischen Nachklängen der großen Französischen Revolution in D eutschland den kritiklosen Verherrlichern die­ ser Bewegung gegenüber eine relativ richtige und jedenfalls gesunde und nüchterne Reaktion gewesen. Außerdem hat Mehring d as Aufkommen der internationalen literarischen Vorfahren des deutschen Naturalismus in Frank­ reich, Skandinavien und Rußland miterlebt und war schon als Theaterkriti­ ker zu einem Internationalismus, zu einem Messen der deutschen Leistungen an den entsprechenden Strömungen des Auslands gezwungen. Dazu kommt noch - gewissermaßen als persönlich biographisches Motiv -, daß Meh­ ring in seinem Kampf gegen die Pressekorruption mit einer Reihe von bür­ gerlichen Verherrlichern des Naturalismus, die zugleich Mitschuldige und Verteidiger der Pressekorruption waren (Otto Brahm und andere Scherer­ schüler), in eine heftige Fehde geriet. Jedenfalls gibt Mehring schon in seiner Broschüre »Kapital und Presse« eine sehr gute und scharf differenzierte Kritik des deutschen Naturalismus. Hier stellt er dem deutschen Naturalis­ mus die größeren Realisten Zola, Ibsen und Tolstoi gegenüber. Im deutschen Naturalismus selbst stellt er zwei Richtungen fest. Die eine wurzelt »in demokratischem und sozialem Boden . . . strebt in ihrer Weise nach Ehrlich­ keit und Wahrheit ; sie will die Dinge sehen, wie sie sind, aber sie sieht die Dinge doch nur einseitig, weil sie in dem Elend von heute nicht die Hoffnung von morgen zu erkennen weiß. Sie hat den Mut und die Wahrheitsliebe, das Vergehende zu schildern, wie es ist, aber ihr - heute ( 1 8 9 1 - G. L.) noch ungewisses - Schicksal hängt davon ab, ob sie den höheren Mut und die höhere Wahrheitsliebe finden wird, auch das Entstehende zu schildern, wie es werden muß und täglich schon wird. Die andere . . . wurzelt dagegen ganz und gar im kapitalistischen Boden. Sie unterscheidet sich von den Lin­ dau, Wiehert und Konsorten zwar im Grade, aber keineswegs in der Art ; sie ist nur eine Potenzierung des kapitalistischen Geistes . . . «1 Und dieser Stel1 Mehring : Kapital und Presse,

S. l J l f.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

lungnahme entsprechend, nimmt Mehring mit feinem Verständnis für die radikalen Tendenzen in den Anfängen des Naturalismus Stellung. Er ver­ teidigt richtig »Die Weber« und den »Biberpelz« von Hauptmann gegen ihre formalistischen Kritiker usw. Erst als die innere Leere, das Apologeten­ tum des Kapitalismus im ganzen Naturalismus offen zutage tritt, insbeson­ dere als der Naturalismus den Obergang zur Renaissance der Romantik voll­ zieht, wendet sich Mehring mit scharfem und treffendem Spott gegen diese modernste Literatur. Allerdings tritt hier trotz der Richtigkeit seiner Kritiken in fast allen Einzelheiten wieder seine Schranke zum Vorschein. Er verurteilt die neuen Literaturströmungen, er ist aber nicht imstande, ihre sozialen Wur­ zeln aufzudecken. Wie die andern Führer des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie den Eintritt in die imperialistische Periode spät bemerkt und diese Periode nie richtig und vollständig verstanden haben, so war auch Mehring außerstande, das Charakteristische und Spezifische an der deutschen Literatur der imperialistischen Periode zu erkennen.

VII

Der Fall Freiligrath

Wie wir an der Methodologie und Praxis von Mehring beobachten konnten, ist die Kritik von Engels spurlos an ihm vorbeigegangen. Mehring hat wäh­ rend seiner ganzen Tätigkeit als Theoretiker, Historiker und Kritiker seine »selbständige« Linie Marx und Engels gegenüber konsequent - freilich mit den dieser Linie innewohnenden Inkonsequenzen und Widersprüchen - durchgeführt. Es ist bekannt, daß er dabei in der Geschichte der Arbei­ terbewegung zu einer immer schärferen Stellungnahme Marx und Engels ge­ genüber getrieben wurde. Auf die »Rettung« Lassalles folgte die von Schweitzer und dann sogar die von Bakunin. Mehring selbst meinte dabei, ein Werk der historischen Gerechtigkeit zu vollziehen. Er meinte, daß er da­ mit jenen Kampf fortsetzt, den er der bürgerlichen Geschichtsschreibung ge­ genüber seit jeher geführt hat : die Zerstörung von Geschichtslegenden, die »Rettung« von historischen Persönlichkeiten, die von der Geschichtslegende verleumdet worden sind. Auch dies war ein wertvoller Teil eines bürgerlich­ revolutionären Erbes. Mehring ist dabei ein bewußter Nachfolger Lessings und hat während seiner Tätigkeit in der Zerstörung von verherrlichenden und verleumdenden Legenden sehr Bedeutendes geleistet. Als er jedoch dieses Prinzip unrevidiert auf die Geschichte der Arbeiterbewegung angewendet hat, wurde seine Methode zu der einer historischen Rettung von bestimmten

Franz Mehring

Nuancen des Opportunismus, und zwar insbesondere jenes Opportunismus, der aus dem Nichtliquidieren der Traditionen der radikal-bürgerlichen Ideo­ logie entstanden ist. Es ist ja aus den bisherigen Ausführungen klar hervor­ gegangen, daß Mehring mit seiner »Rettung « Schillers auf dem Gebiete der Ästhetik und Literaturgeschichte dieselbe Linie verfolgte wie als Historiker der Sozialdemokratie mit der Rettung Lassalles. Die Mischung von an­ archistischer » Gedankenfreiheit« und mechanisch-bürokratischer Kontrolle in der deutschen Sozialdemokratie hat auf dem linken Flügel eine Opposi­ tion hervorgerufen, die jedoch - wie in allen anderen Fragen - sich nicht zu dem richtigen bolschewistischen Standpunkt der » Parteilichkeit« entwik­ keln konnte, sondern eben in der oben geschilderten » Selbständigkeit« Mehrings Marx und Engels gegenüber verzerrt zum Ausdruck kam. Daß Meh­ ring dabei nicht allein stand, zeigt die Besprechung seiner Schillerbiographie von Rosa Luxemburg. Sie nennt dieses Buch eine »hochwillkommene Gabe an die deutsche Arbeiterschaft, um ihr ein von bürgerlich-tendenziöser und andererseits auch von partei-tendenziöser Verzerrung freies Bild des großen Dichters zu liefern « 1 . Diese falsche Konzeption der deutschen Linken steht in engstem Zusammen­ hang mit ihrer Unfähigkeit, die richtige und berechtigte Polemik gegen den weltanschaulichen un d strategischen, taktischen und organisatorischen Oppor­ tunismus der II. Internationale konsequent in Theorie und Praxis durchzu­ führen, wie es den Bolschewiki unter Lenins Führung gelang. Die besondere Nuance, die Mehring dabei vertritt, ist uns bereits bekannt geworden. Wie auf dem Gebiet der Parteigeschichte die »Rettung « Lassalles im Mittel­ punkt dieser Linie stand, so steht im Mittelpunkt seiner Tätigkeit als Litera­ turhistoriker - neben der »Rettung« Schillers - die von Freiligrath. Bei der »Rettung« Freiligraths treten nun die schwachen Seiten von Mehring, sein Nicht-Liquidieren der eigenen bürgerlich-demokratischen Vergangenheit in der krassesten Weise zutage. In so krasser Weise, daß Mehring nicht dabei stehenblieb, die Gestalt Freiligraths vollkommen falsch, nämlich schönfärbe­ risch zu interpretieren, sondern sogar so weit ging, als Herausgeber von Marx und Engels eine ganze Reihe ihrer wesentlichen Äußerungen über Freiligrath zu unterdrücken und damit der eigenen Anschauung über Freiligrath den An­ schein zu geben, als ob sie nicht im Widerspruch zu der von Marx und En­ gels stehen würde. So ist bei dem Zerstörer so vieler bürgerlicher Geschichts1 Rosa Luxemburg : Rezension von Mehrings Schillerbiograph ie, Neue Zeit, Jahrg. XXIII, Bd. 11, s. 1 63 .

Beiträge zur Geschich te der Ästhetik

legenden eine neue Geschichtslegende entstanden : die Legende von dem revo­ lutionären Dichter Freiligrath, der sich vom Moment seiner Annäherung an die revolutionäre Bewegung konsequent weiterentwickelte, der bis ans Ende seines Lebens revolutionär blieb, der - trotz einiger vorübergehender persön­ licher Reibungen mit Marx und Engels - bis an sein Ende ihr Freund und Kampfgenosse geblieben ist. Wenn wir nun im folgenden diese Freiligrath­ Legende etwas von der Nähe betrachten werden, so tun wir es deshalb, weil in ihr die äußersten und gefährlichsten Konsequenzen der Position Mehrings in Erscheinung treten, weil sie, wie wir sehen werden, im tiefsten Zusammen­ hang mit jenen falschen Anschauungen Mehrings steht, die wir in unseren bisherigen Ausführungen analysiert haben. Betrachten wir nun ganz kurz die einzelnen Momente der Freiligrath-Legende. Nach Mehrings Auffassung ist Freiligrath in seinem ersten revolutionären Gedichtband » halben Insurrektionskrieg< nannte, so auch den Krieg von 1 8 7 0 einen halben Revolutionskrieg nennen kann «. Und drittens kommt das uns hinläng­ lich bekannte »ästhetische« Prinzip Mehrings zum Vorschein : »Diese schönste Seite des Krieges von 1 8 7 0 hat in den Dichtungen Freiligraths den vollendetsten Ausdruck gefunden . . . Sie gehören zum dauernden Besitztum unserer Literatur, so schmählich auch die Hoffnungen auf ein >freisinniges DeutschlandHurra ! Germania !< Auch >Gott< fehlt nicht in seinem mühsam herausge­ furzten Gesang, und der >GallierPartei< einen seit acht Jahren verstorbenen >Bund< oder eine seit zwölf Jahren aufgelöste Zeitungsredaktion verstehe. Unter Partei verstand ich die Partei im großen historischen Sinne. «1 Freiligraths, nach Mehring, mit Marx harmonisierende Ansicht lautet dagegen : »Dennoch, und obgleich ich dem Banner der >classe la plus laborieuse et la plus mise­ rable< immer treu geblieben bin und treu bleiben werde, weißt Du so gut wie ich, daß mein Verhältnis zur Partei, wie es war, und mein Verhältnis zur Partei, wie es ist, durchaus verschiedener Natur sind . . . Der Partei habe ich diese sieben Jahre hindurch fern gestanden . . . Faktisch also war mein Ver­ hältnis zur Partei längst gelöst . . . Und ich kann nur sagen, daß ich mich wohl dabei gefunden habe. Meiner und der Natur jedes Poeten tut die Freiheit not. Auch die Partei ist ein Käfig, und es singt sich, selbst für die Partei, besser drauß als drin. Ich bin Dichter des Proletariats und der Revolution gewesen, lange b evor (von mir hervorgehoben - G. L.) ich Mitglied des Bundes und Mitglied der Redaktion der >Neuen Rheinischen Zeitung< war ! So will ich denn auch ferner (von mir hervorgehoben - G. L.) auf eigenen Füßen stehen, will nur mir selbst gehören und will selbst über mich disponieren. «2 Und in einem Brief an Berthold Auerbach gibt Freiligrath einen noch deutlicheren Kommentar zu dieser Auffassung: » I ch bin froh, daß ich keiner Partei meh r angehöre, daß ich jetzt schon seit Jahren auf jener höheren Warte stehe, von welcher ich einst gesungen. « 3 (Von mir hervorgehoben - G. L.) Diese A nspielung Freiligraths auf sein berühmtes Gedicht führt zu dem lite­ raturtheoretischen Ausgangs- und Endpunkt der Mehringschen Publikation des Briefwechsels zwischen Marx und Freiligrath. Mehring beginnt seinen Kommentar mit einer Auslegung dieses Gedichtes. Wegen der literaturtheo­ retischen Wichtigkeit von Mehrings Ausführungen bringen wir hier die wich­ tigsten und strittigsten Zeilen. »Die ihr gehört, - frei hab ich sie verkündigt ! Ob jedem Recht : - schiert ein Poet sich drum? Seit Priams Tagen, weiß er, wird gesündigt In Ilium und außer Ilium ! Er beugt sein Knie dem Helden Bonaparte Ebd., s. 4 6 Ebd., S. 4 0. 3 Ebd „ S. 5 4 . I

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Und hört mit Zürnen d'Enghiens Todesschrei : Der Dichter steht auf einer höheren Warte Als auf den Zinnen der Partei. « Mehring gibt nun einleitend folgende Auslegung des Gedichtes : » Nimmt man diese Strophe ihrem Sinne nach, so enthält sie nicht mehr als die haus­ backene Wahrheit, daß der schöpferische Dichter über seinen Gestalten steht, daß er Menschen bildet mit souveräner Kraft, ob sie ihm selbst gefallen oder nicht, etwa wie Schiller den ihm höchst unsympathischen Wallenstein zum tragischen Helden geschaffen hat. « 1 Und Mehring setzt im weiteren ausein­ ander, daß diese Strophe erst von anderen im Sinne einer Stellungnahme ge­ gen Herweghs politische Poesie »ausgelegt« worden sei. Für den historischen Tatbestand ist dazu allerdings zu bemerken, daß Freiligrath selbst, nicht ganz drei Jahre nach Abfassung dieses Gedichtes, seine eigene Bekehrung zur poli­ tischen Poesie ausdrücklich als ein A brücken von diesem Gedicht auf gefaßt hat. Er schreibt im Vorwort seines Gedichtbandes : »Ein Glaubensbekenntnis « ( l 844) : »- und das .Argste, was sie mir vorzuwerfen h aben, wird sich zu­ letzt vielleicht auf das eine beschränken : daß ich nun doch von jener >höheren Warte< auf die >Zinnen der Partei< herabgestiegen bin. Und darin muß ich ihnen allerdings Recht geben ! « Mehring sieht es nicht, oder will es nicht se­ hen, daß Freiligrath von l 84 l , von der Abfassung dieses Gedichtes bis über die Revolution von l 8 4 8 hinaus, sich zur politischen Poesie vorwärtsentwik­ kelt, dann aber in der von uns geschilderten Richtung sich wieder zu einem dem früheren ähnlichen literarischen Standpunkt, der freilich unter den ver­ änderten Umständen eine ganz andere politische Bedeutung hatte, zurück­ entwickelt hat. Mehring konstruiert also hier eine Einheit in Freiligraths Ent­ wicklung hinein, die in ihr in Wirklichkeit nicht vorhanden war. Aber diese Mißachtung der historischen Zusammenhänge ist nicht das allei­ nige Produkt der Mehringschen Freiligrath-Legende, sie hat auch eine d amals ( 19 1 2) sehr aktuelle literaturpolitische Bedeutung gehabt: die Stellungnahme Mehrings gegen die ersten schüchternen Tendenzen zu einer selbständigen proletarischen Literaturtheorie. Mehring schließt seinen Kommentar zu dem Briefwechsel Marx-Freiligrath mit folgendem Angriff auf diese Tendenzen ab : »In dem Feuilleton des >Vorwärts< ist kürzlich eine eifrige Propaganda für eine Ästhetik der schwieligen Faust gemacht worden ; was den Arbeiter­ massen nicht gefiele, hätte keinen ästhetischen Wert. Da der Unfug in letzter 1 Ebd., S. 5 .

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Zeit aufgehört hat, so mag man ihn als eine vorübergehende Verirrung laufen lassen, jedoch die unerfreuliche Tatsache, daß er sich überhaupt, wenn auch nur zeitweise, breit machen konnte, zeigt allzu deutlich, wieviel hier noch zu tun ist. Die Grenzmarken aber (nämlich zwischen Politik und Poesie - G. L.) sind deutlich abgesteckt, auf der einen Seite von Freiligrath mit dem Worte, daß d er Dichter auf einer höheren Warte stehe als auf den Zinnen der Partei, von Marx mit den nicht minder wahren Worten, daß der Dichter in den Kämpfen der Gegenwart seine Partei im großen historischen Sinne nehmen müsse. « 1 Der literaturpolitische Sinn der Freiligrath-Legende, die Verfäl­ schung der Entwicklung Freiligraths und seiner Beziehung zu Marx, erreicht in dieser Umkehrung des klaren Ausspruches von Marx in sein grades Gegen­ teil seinen Gipfelpunkt.

VIII

Das Problem der proletarischen Literatur

Der von Mehring so hart gerügte »Unfug« bestand aus einigen Feuilletons im »Vorwärts «, wo Heinz Sperber und einige andere Schriftsteller in einer ziemlich unklaren Weise, ziemlich zaghaft für einen proletarischen Klassenge­ sichtspunkt in der Beurteilung der Literatur Stellung genommen haben. Für Mehrings Position ist es einerseits charakteristisch, mit welcher Leidenschaft er gegen die naiv-mechanischen Formulierungen dieser Schriftsteller auftrat, an­ dererseits, daß im Jahre 1 9 1 2 u nter seinem Protektorat im Feuilleton der »Neuen Zeit « eine ästhetische Enquete über dieses Thema stattfand, wo aber dann Mehring die allerbürgerlichsten Anschauungen, das vollkommene Leug­ nen der Möglichkeit einer proletarischen Literatur ohne ein Wort der Kritik geduldet hat. Obwohl Mehring sich persönlich kaum mehr als mit den oben zitierten Worten an der Diskussion beteiligte, halten wir es doch für notwen­ dig, wenigstens die Hauptmomente hier kurz anzuführen, teils weil es an und für sich interessant ist, wie in Deutschland vor dem Krieg »naturwüchsig « ein dem Trotzkismus ähnliches Leugnen der Möglichkeit der proletarischen Literatur entstanden ist, teils und hauptsächlich, weil die Zitate zeigen wer­ den, daß diese Tendenz im allerengsten Zusammenhang mit gewissen von uns analysierten literaturtheoretischen Anschauungen von Mehring steht, wobei es nicht entscheidend ist, wieweit sich Mehring selbst mit der einen oder an­ deren Formulierung seiner Anhänger solidarisierte. I

Ebd., s. 5 6 .

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Den wichtigsten Stein des Anstoßes bildete das Feuilleton von Heinz Sperber über den humoristischen Roman »Kubinke« von Georg Hermann. Sperber grenzt ganz im Sinne der herkömmlichen Ästhetik zuerst den Humor von der Satire ab. »Wer von Haß beseelt ist, kann nidu humorvoll schreiben. Und obendrein verlangt Humor den gleichen gesellschaftlichen Boden . . . Ein Bourgeois kann sich humoristisch über einen Bourgeois äußern, ein Arbeiter nur über einen Arbeiter. Ein humoristisches Buch eines Arbeiters über die Bourgeoisie ist undenkbar, ein solches Buch muß unweigerlich sarkastisch oder satirisch werden . . . Humor kann und darf nie kränken oder verlet­ zen . Der bürgerliche Humorist, der ein Buch schafft, das in Arbeiterkrei­ sen spielt, der also mit >Liebe und Güte< erfüllt ist, bleibt in der Liebe und Güte seiner Klasse stecken. Seine Standesgenossen werden sich an seinem Hu­ mor ergötzen, aber die von ihm humoristisch betrachteten Arbeiter werden diesen Humor mit Ekel empfinden. « 1 Und Sperber kontrastiert im weiteren das wirkliche Leben der von Hermann geschilderten Proletarier mit dessen Schilderung, um zu der Konsequenz zu kommen, daß das Buch ein » erlogenes Lebensbild« gibt. Der Mehring damals literaturtheoretisch sehr nahestehende Heinrich Ströbel nimmt sogleich im »Vorwärts « scharf Stellung gegen Sper­ ber : »Es wäre kompromittierend, ohne Protest Anschauungen für proleta­ rische Ästhetik ausgeben zu lassen, die jedes freie künstlerische Schaffen ge­ fährden müßten.«2 (Von mir hervorgehoben - G. L.) Ströbel nützt Sper­ bers theoretische Naivität, daß er den Begriff des Humors unkritisch aus der bürgerlichen Ästhetik übernimmt, rücksichtslos für seine Zwecke aus, um extrem opportunistisch jene Arbeiter, die an der Verspottung ihrer eigenen Klasse keinen ästhetischen Geschmack finden können, als unreif darzustel­ len : »Um sich selbst im Spiegel einer humoristischen Dichtung genießen zu können, dazu bedarf es allerdings einer geistigen Reife, die nicht jeder primi­ tive Mensch besitzt. « Und er begründet dann die Möglichkeit für den bür­ gerlichen Dichter, Proletarier »humorvoll « zu gestalten, in einer Weise, die, wie wir sehen werden, eine Mischung der Lassalleschen Theorie vom nicht­ ökonomischen Wesen des Bourgeois und der Mehringschen psychologischen Soziologie ist. Er führt aus : »Ein echter Bourgeois, ein in den kapitalistischen Klassenvorurteilen befangener Bürgerlicher wird auch die B ourgeoisie nicht im Lichte dichterischen Humors schildern können Wer aber bürgerliches Leben wirklich humoristisch zeigt, der ist eben kein Bourgeois, sondern ein .

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1 Heinz Sperber : » Kubinke «, Vorwärts : 1 3 . 2 H. Ströbel im Vorwärts : 1 5 . 1 2 . 1 9 10.

u.

1 9 1 0.

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Franz Mehring - Dichter . . . Daß Klassenzugehörigkeit auch gewisse Beeinflussungen durch die Klassenpsyche mit sich bringt, werde ich . . . zu allerletzt bestreiten. Aber daß das Seelenleben des Proletariats etwas so Eigenartiges und Geheimnis­ volles sein sollte, daß es sich dem aus bürgerlichen Kreisen stammenden Dich­ ter - nicht zu verwechseln mit dem >Bourgeois< ! - nicht erschlösse . . . ist eine geradezu maßlose Übertreibung ! « Sehr ähnlich äußert sich über dieselbe Frage Robert Grötzsch : »Wo immer ein Künstler keinen einseitigen Aus­ schnitt, sondern ein ganzes Weltbild gibt, in dem die menschlichen Schwächen aller Gesellschaftsschichten von der komischen Seite genommen werden, da müßte der Proletarier ein kleinlicher Griesgram sein, der sich mit Grausen abwendete. « Der von Sperber betonte Ekel der Arbeiter beweist nichts »ge­ gen die künstlerische Qualität des betreffenden Kunstwerks«•. In dieser Polemik beruft sich Ströbel auf Gottfried Keller, Grötzsch auf Dickens, um sein Recht Sperber gegenüber zu beweisen. Die Verwechslung der Schriftsteller der aufsteigenden Periode der Bourgeoisie mit denen der imperialistischen Gegenwart ist aber bei ihnen kein falscher Zungenschlag. Denn Ströbel protestiert in einem späteren Artikel dagegen, daß man einer­ seits in der Gegenwart zwischen bürgerlicher und proletarischer Kunst und andererseits zwischen der Kunst der Vergangenheit und der Gegenwart eine starre Schranke ziehe. Und hier kommt nun in einer fast karikaturistischen Übertreibung die letzte Konsequenz der Mehringschen Position, die Identi­ fikation der großen Kunst der vergangenen bürgerlichen revolutionären Periode mit der kommenden Kunst der sozialistischen Gesellschaft, zum Vor­ schein. Ströbel bestimmt das, was er »sozialistische Weltanschauung« nennt, so : »Der Gedanke, für alle Menschen einen Zustand von möglichster Glück­ seligkeit zu schaffen, ihnen Freiheit, Bildung und edlen Lebensgenuß zu er­ obern. Waren das nicht die I deale mindestens des aufstrebenden Bürger­ tums ? « Und er meint, feststellen zu können, daß zwischen - angeblich »proletarischen« Dichtern wie Gerber oder Andersen Nexö und - angeblich »bürgerlichen « keine wirkliche Differenz bestehe2• {Bürgerlich oder prole­ tarisch schreibt Ströbel nur in Anführungszeichen.) Daß in dieser Konzeption die Kunst - ganz im Sinne der Lassalleschen Auffassung der Rolle der Wissen­ schaft - »eine verbündete Macht« ist, kann nunmehr niemanden überraschen. Die äußersten Konsequenzen der ganzen Diskussion zieht W. Zimmer in einem Artikel gegen ein » Vorwärts«-Feuilleton von Döscher. Er sagt : » An1 Neue Zeit, xxx . Jahrg. Bd. i

Ebd., S. 786 ff.

n,

S. 799.

Beiträge zur Geschich te der Ästhetik

statt immer von neuem den Ruf nach der proletarischen Klassenkunst ertönen zu lassen, der sich auf die Dauer doch etwas langweilig anhört, sollte man lieber betonen, daß und warum eine solche gar nicht Wirklichkeit werden wird (von mir hervorgehoben G. L.) : daß eine Kunst der Arbeit, eine wirkliche Kunst, die mehr ist als ein proletarischer Tendenzroman oder ein proletarisches Tendenzdrama - seien sie auch ungleich gewaltiger als alle, die wir heute besitzen, erst möglich ist, wenn das Proletariat seine Mission als Überwinder des Kapitalismus erfüllt, damit aber auch seiner eigenen Exi­ stenz als Klasse den Boden entzogen hat.«1 Hier ist der deutsche »urwüch­ sige« Trotzkismus bereits in Reinkultur aufgetreten. Es mag vielleicht die Frage auftauchen : Ist Mehring wirklich für solche An­ schauungen verantwortlich zu machen? Wir glauben, daß unsere bisherigen Ausführungen deutlich gezeigt haben, wie viele grundlegende theoretische Voraussetzungen (insbesondere Lassallesche Voraussetzungen) diese S chrift­ steller mit Mehring gemeinsam haben. Und Mehrings Schlußworte aus seinem Kommentar des Briefwechsels zwischen Freiligrath und Marx, seine offene Stellungnahme für die »höhere Warte« Freiligraths, sein kurzes und unwir­ sches Aburteilen über Heinz Sperber (Unfug) zeigen, daß seine Sympathien in dieser Diskussion durchaus auf der Seite der Ströbel, Zimmer und Co. waren. Und wir glauben, ebenfalls gezeigt zu haben, daß diese Sympathien keineswegs zufällige sind, daß die »höhere Warte« bei Mehring organisch aus seinen philosophisch-ästhetischen Grundanschauungen herauswuchs, daß sie eine notwendige Folge seiner Entwicklung gewesen ist. Dabei ist es be­ sonders interessant, daß im Laufe der Tätigkeit Mehrings in der Sozialdemo­ kratie sich bei ihm in dieser Frage eine entschiedene Rechtsentwicklung voll­ zogen hat. Sein Standpunkt der proletarischen Literatur gegenüber ist an­ fangs abwartend. Ja, wir erinnern an seine Ausführungen aus dem Jahre 1 89 1 , als er den naturalistischen Schriftstellern zum Vorwurf macht, daß sie im Elend der Gegenwart bloß das Elend erblicken und nicht die bereits wirk­ samen in die Zukunft weisenden Tendenzen. Dieser Stellungnahme entspre­ chend formuliert er - freilich recht vorsichtig und allgemein - die methodo­ logische Stelle der proletarischen Ästhetik im Jahre 1 89 3 : »Die proletarische Ästhetik verhält sich zur proletarischen Politik wie die bürgerliche Ästhetik zur bürgerlichen Politik. In beiden Fällen h andelt es sich um getrennte Stämme aus gemeinsamer Wurzel, und so ist von jeher das Verhältnis von Ästhetik und Politik gewesen. «2 In dieser vorsichtigen Formulierung treten -

I

Ebd.,

s. 796 .

2 D i e Volksbühne,

u.

Jahrg., Nr. 2 .

Franz Mehring

die Konsequenzen der Kantschen »Interesselosigkeit«, der Kantschen Tren­ nung von Kunst und »Moral« noch nicht klar hervor. Auch 1 89 5 formuliert er noch ein entsprechendes Dilemma in dieser Frage, freilich wieder ohne eine klare Stellung zu nehmen : » Für das kämpfende Proletariat gibt es zwei dis­ kussion sfähige Standpunkte, die es zur Kunst einnehmen kann. Entweder sagt man : die Kunst und namentlich die Bühne hat für die Emanzipation der arbeitenden Klasse nicht entfernt dieselbe Bedeutung, die sie namentlich in Deutschland für die Emanzipation der bürgerlichen K lasse gehabt hat ; lassen wir also die Kunst Privatsache sein und konzentrieren wir unsere ganze Kraft auf das entscheidende Schlachtfeld der Ökonomie und der Politik. Oder man sagt : so gewiß die sozialistische Gesellschaft eine herrliche Wiedergeburt der Kunst schaffen wird, so unmöglich ist es, dem kämpfenden Proletariat das Gebiet der Kunst zu verschließen, nach dem es um so eifriger drängt, je höher es sich entwickelt ; suchen wir uns also, in wohlgemessenem Abstand nach den Forderungen des ökonomischen und politischen Kampfes über die Bedingun­ gen einer proletarischen Asthetik zu verständigen ! Jeder dieser Standpunkte ist in sich konsequent, und für wie gegen jeden läßt sich manches anführen. Aber was dazwischen liegt ist unter allen Umständen vom übel.«1 Einige Jahre später ( 1 899) faßt Mehring in seinen von uns vielfach analysier­ ten »Asthetischen Streifzügen « seine Anschauungen zusammen. Und er kommt dabei sehr konsequent - »Unter den Waffen schweigen die Musen« zu dieser Formulierung : »Mit anderen Worten : wenn die absteigende Bürger­ klasse k eine große Kunst mehr schaffen kann, so kann die aufsteigende Arbei­ terklasse noch keine große Kunst schaffen, mag auch immer in den Tiefen ihrer S eele eine heiße Sehnsucht nach der Kunst leben . . . Je unmöglicher sich aber aus dem proletarischen Klassenkampfe ein neues Zeitalter der Kunst entwickeln kann, um so sicherer ist es, daß der Sieg des Proletariats eine neue Weltwende der Kunst herbeiführen wird, eine edlere, größere, herrlichere, als Menschenaugen je gesehen haben.«2 Die leuchtenden, von Schillers Palette entnommenen Farben, mit denen Mehring die Kunstblüte des »Zukunfts­ staates« schildert, dürfen uns nicht übersehen lassen, daß er hier für die P eriode des proletarischen K lassenkampfes, also auch für die Periode der proletarischen Diktatur die Möglichkeit einer eigenen Kunst, einer proleta­ rischen Kunst mit dürren Worten leugnet. Der deutsche Herausgeber seiner ästhetischen Schriften, der theoretische Führer der Brandlerschen Renegaten, 1

Mehring : Gesammelte Schriften, Bd.

2 Ebd., S. 2 9 9 .

11,

S. 3 29 .

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Herr August Thalheimer, faßt auch dementsprechend die Anschauungen Meh­ rings am Schluß seines Vorwortes zusammen : » Ein Zeitalter großer Kunst ist der bürgerlichen Gesellschaft jedoch nicht mehr beschieden. Erst die voll ent­ wickelte sozialistische Gesellschaft wird es bringen . « 1 (Von mir hervorge­ hoben - G. L.) Somit ist Mehring nicht zufällig, nicht ganz unverschuldet zur Beute der Brandlerschen Renegaten geworden. Die deutschen Brandlerianer, die aus taktischen Gründen die theoretische Größe Lenins nicht zu leugnen wagen, konstruieren zur Unterstützung ihrer eigenen Linie eine untrennbare Einheit zwischen Lenin, Rosa Luxemburg und Mehring als den gleich großen und gleich bedeutenden nachmarxistischen Theoretikern. Praktisch bedeutet diese »Einheit« den Versuch der Liquidierung der L eninschen Lehren, der Lenin­ schen Weiterführung des Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung, das Zurückschrauben des ideologischen Niveaus der deutschen Arbeiterbewegung auf das Niveau des Spartakusbundes. So sagt Thalheimer über Mehring als Philosophen : »Wenn Lenin mit Recht auf bestimmte Mängel im Verständnis des dialektischen Materialismus bei Plechanow hinweist, so war M ehring dieses Verständnis in Fleisch und B lut übergegangen . . . Die materialistische Dialektik, wie sie von M arx und Engels begründet, von Mehring, L afargue, Antonio Labriola, Plechanow und Lenin popularisiert, verteidigt, angewandt und weiterentwickelt wurde, ist und bleibt >ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär< . . . Die Arbeiten Franz Mehrings auf diesem Gebiet sind her­ vorragend geeignet, diese lebendige Aneignung des dialektischen Materialis­ mus durch die Arbeiterklasse zu erleichtern.«2 Selbstverständlich ist dieser Zusammenhang zwischen den Fehlern und Schranken Mehrings und der »Theorie« der Brandleristen nicht auf d as Ge­ biet der Asthetik und L iteraturtheorie beschränkt. Jedoch der Rahmen dieser Abhandlung gestattet es nicht, auf den ganzen Komplex dieser Probleme einzugehen. Wir wollen nur ganz kurz auf einige Punkte, freilich auf solche, die sich mit unseren Problemen eng berühren, hinweisen, wo der Zusammen­ hang der Fehler und Schranken Mehrings mit späteren rechten Richtungen ganz offensichtlich ist. (über die Bedeutung seiner Verteidigung Lassalles haben wir bereits gesprochen.) Wir wissen z. B., ein wie überzeugter Anhän­ ger und Vorkämpfer des Materialismus Mehring gewesen ist. Trotzdem ver­ mochte er nicht, zu jenem Standpunkt des richtigen, materialistisch-dialekl

Ebd., s. 1 5 .

2 Ebd., Bd. VI, s. 7 u. 2 1 .

Franz Mehring

tischen B ekämpfens der Religion zu gelangen, wie ihn schon in dieser Periode Lenin in unvergleichlicher Prägnanz formuliert hat. Auch bei Mehring bleibt die Religion Privatsache ; freilich fügt Mehring sogleich hinzu, »womit von selbst gesagt ist, daß es (das sozialdemokratische Parteiprogramm - G. L.) sich gegen jede Form der Kirche ablehnend verhält« t . Aber demzufolge kommt Mehring der späteren austro-marxistischen Trennung von Religion und Kirche sehr nahe. Er sagt : »Solange sich die Kirchen zu Werkzeugen der politischen oder sozialen Unterdrückung hergeben und dabei den Schild der Religion über sich halten, solange ist es ganz unvermeidlich, daß die Arbei­ ter, die keine philosophischen Haarspalter sind, auch einmal auf die Religion schlagen, wenn sie eine Kirche meinen. « Mehring schrieb dies in einem rich­ tigen Kampf gegen den extremen Opportunismus Göhres, der auch die Kir­ chen vom Angriff der Sozialdemokratie verschont wissen wollte. Mehring ist aber dabei doch nur zu einem halben und zwiespältigen S tandpunkt vor­ gedrungen, was, wie wir glauben, ganz tief mit den Schranken seiner Methode verbunden ist. Er faßt nämlich die Frage der Überwindung der Religion als eine rein ideologische Frage auf, und sieht nicht, wie Lenin, die tiefe Verknüpfung der heutigen Formen der Religion mit der Ökonomie des Kapitalismus, er übersieht die tiefen Analysen von Marx über die Verbin­ dung der Religion mit dem gesellschaftlichen Sein der Menschen, über die Notwendigkeit der ständigen Reproduktion der religiösen Ideologie, solange das B eherrschtsein der Produzenten durch die Produktion bestehen bleibt. Diese ideologische Auffassung Mehrings kommt z. B . in seiner Einschätzung der Junghegelianer scharf zum Ausdruck. So richtig und verdienstvoll es ist, daß er die Leistung des total vergessenen Bruno Bauer auf dem Gebiete der Religionskritik immer wieder hervorhebt, zu so schiefen Konsequenzen ge­ langt er in der idealistischen Überschätzung dieser Leistung. Er sagt z. B . : »Dank ihrer historischen Dialektik vollbrachten die Junghegelianer nun leicht, woran die Aufklärung einschließlich der Kantschen Philosophie ge­ scheitert war : die Vernichtung der Religion.«2 (Von mir hervorgehoben G. L.) Diese Stellungnahme Mehrings ist auch darum sehr bezeichnend, weil in ihr klar zum Ausdruck kommt, wie aus dieser seiner wirklich linken, aber nicht zu Ende gedachten theoretischen Position »naturwüchsig« opportuni­ stische Folgerungen gezogen werden können. Mehring hält nämlich den par­ teimäßigen Kampf gegen die Religion darum für überflüssig, weil er die

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2

Ebd., s. 3 9 1 f. Ebd., S. 80.

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Religion theoretisch für bereits erledigt ansieht und den Kampf deshalb aus­ schließlich auf die soziale Unterdrückungsmacht der Kirche konzentriert haben will. Damit zerreißt er aber den Zusammenhang zwischen Kirche und Religion, den Lenin so vortrefflich dialektisch darstellt, und die von Mehring gutgläubig »radikal« fixierte Zweiheit öffnet Tür und Tor einer opportuni­ stischen »Bekämpfung« der Kirche, bei »Anerkennung« der Religion. Noch wichtiger und verhängnisvoller sind jene Ansichten von Mehring, die sich auf die ideologischen Voraussetzungen der Parteientwicklung beziehen. Wir kennen die Anschauungen Rosa Luxemburgs in dieser Frage, bei denen es offensichtlich ist, daß sie einerseits notwendige Folgen ihrer Stellungnahme zum Streit in den Organisationsfragen zwischen Bolschewiki und Mensche­ wiki gewesen sind, andererseits daß Rosa sich dabei in voller Übereinstim­ mung mit Mehring befand. Mehring nimmt nun theoretisch-philosophisch zu der Parteientwicklung Stellung in einer Form, die ein theoretisches Unter­ bauen der menschewistischen Spontaneitätstheorien, der Theorien von der Organisation » als Prozeß « bedeuten. »Eine Partei überlebt ihre Irrtümer, aber korrigiert sie nicht wie ein Schulmeister die Schreibübungen seiner Zög­ linge. Wohin sollte es führen, wenn in der älteren Parteiliteratur alles >revi­ diert< werden soll, was sich darin an wissenschaftlich unhaltbaren Behaup­ tungen etwa über das eherne Lohngesetz oder die Werttheorie findet. « 1 Aus dieser theoretischen Stellungnahme folgt nun, daß Mehring zu dem Revisio­ nismus als Strömung eine ganz unrichtige Stellung einnahm. Er hat ihn ideo­ logisch kritisiert, und zwar sehr oft richtig und scharf kritisiert, er hat ihn nur als Strömung jedoch ebenso unterschätzt wie Rosa Luxemburg. So schreibt er z. B. ( 1 909) über den Neukantischen Revisionismus : »Dabei haben wir gar nicht einmal den Revisionismus im Auge, dessen Bedenken und Zwei­ fel gerade in diesem Punkte ziemlich unschädlicher Natur sind. Was z. B . Bernstein i n seinen >Voraussetzungen< gegen den historischen Materialismus einwendet, ist so ohne jede Bedeutung, und es lohnt nicht mehr, darüber ein Wort zu verlieren.«2 Mehring polemisiert nun des weiteren gegen die jünge­ ren Marxisten, die sich statt den historischen Einzelforschungen zu ergeben, ihre Zeit auf methodologische »Hirnweberei « verschwenden. Und in dieser unrichtigen Richtung seiner Polemik übersieht Mehring vollständig den neuen, viel gefährlicheren machistischen Revisionismus Friedrich Adlers, sowie den neukantischen Revisionismus Max Adlers. Diese falsche theoretische StelI Ebd., s. 3 9 3 · 2 Ebd., S. 2 2 5 f.

Franz Mehring

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lungnahme Mehrings wirkt sich dann zur Zeit der Krise der Sozialdemokratie im Kriege verhängnisvoll aus, indem er nicht imstande ist, einen wirklichen, vernichtenden ideologischen Feldzug, gegen den Standpunkt der USP zu führen 1 • Und es ist klar, daß dieses theoretische »Versöhnlertum «, das bei Mehring seine Grundlage in einem G lauben an die spontane Fähigkeit der Arbeiterbewegung hatte, die fehlerhaften Anschauungen »von selbst« zu kor­ rigieren, in einem späteren Stadium der Entwicklung bei den Brandlerianern zur G rundlage einer antileninistischen Theorie weiterentwickelt, ausgebaut und systematisiert werden konnte. Die Feststellung dieses Zusammenhanges, die Feststellung, daß zwischen den Schwächen und Schranken Mehrings und der »Theorie « der Thalheimer und Co. Zusammenhänge bestehen, darf aber nicht so viel bedeuten, daß das Mehringsche Erbe nun diesen Renegaten überlassen werden dürfte. Es ist richtig, daß eine Theorie und Praxis der proletarischen revolutionären Lite­ ratur in Deutschland sich nicht ohne schärfste Kritik der Mehringschen ideo­ logischen Fehler entwickeln konnte und kann (ebenso ist die Lage in der Parteigeschichte usw.) . Jedoch diese allerschärfste Kritik darf unter keinen Umständ en so weit gehen, daß auf das Mehringsche Erbe verzichtet wird. So sehr d ie Mehringsche Zusammenfassung der Prinzipien der Xsthetik, der Methodologie der Literaturgeschichte, Literaturkritik und beider Anwendung voll der schwersten Abweichungen von der Marxschen Linie gewesen ist, so sehr M ehring als Gesamtgestalt, mit allen seinen Fehlern und Schranken im Horizont der r r . Internationale steckengeblieben ist, so sehr ist die Mehring­ sche Etappe doch eine Entwicklungsphase, die nur kritisch überwunden, nicht aber übersprungen oder ausgelöscht werden kann. Die ungeheure literarische Kultur Mehrings, seine tiefe und lebendige Verbundenheit mit den revolutio­ nären Traditionen Deutschlands machen sein Werk zu einem unumgänglichen Gegenstand des Studiums für jeden, der sich mit den Problemen der deutschen Literatur vom marxistisch-leninistischen Standpunkt auseinandersetzen will. Um so mehr, als wir im Lau fe unserer Darstellung wiederholt gezeigt haben, daß viele der falschen Formulierungen und Stellungnahmen Mehrings anläß­ lich einer richtig empfundenen und objektiv berechtigten Opposition gegen falsche, opportunistische Richtungen der Arbeiterbewegung seiner Zeit ent-

1 Vgl. z . B. Mehrings Stellungnahme zur » ausgezeichneten« Resolution Haases ;

Mehring : Kriegsartikel, Berlin 1 9 1 8 , S. 1 9 , und im allgemeinen Lenins Kritik der Stellungnahme des Spartakusbundes zum Revisionismus als Strömung und ins­ besondere zum » Zentrum«.

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Beiträge zur Geschich te der Ästhetik

sprungen sind und unbeschadet ihrer Falschheit Elemente und Tendenzen einer viel höheren Betrachtung der Gegenstände enthalten, als sie bei irgend­ einem anderen zeitgenössischen deutschen Marxisten zu finden sind. Der revo­ lutionäre Aktivismus Mehrings, seine Betonung des aktiven Elements der revolutionären Subjektivität in der Kunst ist eine wichtige Entwicklungsstufe unserer Literaturtheorie, deren Fehler nur durch gleichzeitige kritische An­ eignung des bedeutenden positiven Erbes, das bei Mehring enthalten ist, wirklich überwunden werden können. D ie eingehende und konkrete A usein­ andersetzung mit der Gesamtheit der Mehringschen Anschauungen, sowohl mit seiner Methodologie wie mit seinen Einzelergebnissen, ist also eine ent­ scheidend wichtige aktuelle Aufgabe der marxistischen Literaturtheorie der Gegenwart, insbesondere für Deutschland, wo die konkrete Erforschung der eigenen Vergangenheit eine wichtige Tagesaufgabe ist und bisher von den marxistischen Ideologen ziemlich vernachlässigt wurde. Erst durch das kri­ tische überwinden der Fehler Mehrings ist eine marxistische Theorie und Geschichte der deutschen Literatur möglich. Und als große Gestalt des radi­ kalen Flügels der deutschen Sektion der u . Internationale, als, wenn auch noch so problematischer Vermittler der deutschen Literaturentwicklung für die internationale Arbeiteröffentlichkeit ist und bleibt Mehring eine geschicht­ liche Figur von dauernder internationaler Bedeutung. Die Notwendigkeit auch des internationalen Kampfes gegen alles Falsche an seiner I deologie kann dieses Interesse nicht mindern, ja sie muß es sogar steigern, da in diesem kritischen Durcharbeiten des Mehringschen Erbes erst die deutsche Literatur­ geschichte marxistisch-leninistisch erarbeitet werden kann. Die Fehler und Schranken Mehrings sind für den, der sie marxistisch-leninistisch studiert, ebenso lehrreich, wie die glänzenden Resultate seiner Literaturforschung . 193 3

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Literatur und Kunst als überbaut

Es ist erst ein Jahr her, daß die Arbeiten Stalins zu den Fragen der Sprach­ wissenschaft erschienen sind, aber wir können heute schon sagen, daß diese Beiträge historische Bedeutung erlangt haben. Historisch selbstverständlich nicht im bürgerlichen Sinne, nicht in dem Sinne des Gegensatzes zwischen dem, was brennend aktuell ist und unser Sein und D enken von Grund auf verändert, und dem, was die bürgerliche I deologie als historisch bezeichnet und im Schrein der Überlieferungen vor der zersetzenden Einwirkung der Gegenwart sorgfältig schützt. Nein. Für uns erhält ja ein Ereignis erst da­ durch einen historischen Charakter, daß wir danach anders denken und anders handeln als vorher. Historisch ist ein Ereignis, das unser Dasein ver­ ändert. In diesem Sinne dürfen wir die Beiträge Stalins zu den Fragen der Sprach­ wissenschaft mit Recht als historisch bezeichnen. Wer seine eigene wissen­ schaftliche Tätigkeit der vergangenen Jahre sorgfältig untersucht, der gelangt zu der Feststellung, daß wir heute in einer Reihe Fragen von entscheidender Bedeutung einen grundsätzlichen Wechsel unseres Blickpunktes vollzogen haben, daß in der Arbeit unseres Fachgebiets ein grundsätzlicher Wandel eingetreten ist, daß wir die Dinge unter einem neuen Gesichtspunkt betrach­ ten, daß diese neue Betrachtungsweise ergebnisreicher ist als die zuvor prak­ tizierte und besser als alle bisherigen Mittel hilft, Fehler, Scheinprobleme und Ru dimente bürgerlicher Auffassungen zu eliminieren. In unserem wissen­ schaftlichen Leben ist eine Wendung eingetreten. Wer nicht fähig ist, dies zu begreifen und sich in seiner Praxis danach zu richten, wird hinter dieser auf eine höhere Stufe gehobenen Methode der Wissenschaft zurückbleiben. Auf Grund dieser Überlegungen dürfen wir die Beiträge Stalins zu den Fra­ gen der Sprachwissenschaft mit Recht als historisch b ezeichnen. Uns Kunst­ und Literaturwissenschaftler hat diese Wendung in eine seltsame, ich möchte fast sagen : paradoxe Lage versetzt. Denn wenn wir die Erkenntnisse, die wir auf unserem Fachgebiet aus den Arbeiten Stalins geschöpft haben, ganz kurz zusammenfassen wollen, so genügt es, den Titel dieses Vortrages zu wieder­ holen : Literatur und Kunst gehören zum Überbau. Damit wiederholten wir x

Vortrag, gehalten in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften am 29. Juni 195 1 .

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Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

das, was die Klassiker des Marxismus immer schon behauptet haben. Diese scheinbar paradoxe Lage ist mit der Situation vergleichbar, die seinerzeit beim Erscheinen von Lenins Werk »Staat und Revolution « entstanden war. Auf den ersten, oberflächlichen Blick schien es einzelnen so, als hätte Lenin nur all das systematisiert, was Marx und Engels seinerzeit vom Staat und dessen Verhältnis zum Klassenkampf festgestellt hatten. In Wirklichkeit lag die Sache ganz anders. Es stellte sich heraus, d aß es kaum Marxisten gab, die die Staatstheorie des Marxismus richtig verstanden hatten. Dadurch, daß Lenin die Lehren von Marx und Engels auf die konkreten Verhältnisse des Imperialismus und der proletarischen Revolution anwandte und sie damit weiterentwickelte, entlarvte er gleichzeitig alle diesbezüglichen weitverbrei­ teten falschen Ansichten, die dem Marxismus scheinbar die Treue hielten und angeblich auf der Kenntnis des Marxismus fußten. Nur wenn wir Lenins »Staat und Revolution« wiederholt gründlich studiert haben, können wir von uns behaupten, die Staatstheorie des Marxismus richtig zu verstehen. Und dieselbe Bedeutung haben nun die Arbeiten Stalins - unter anderem für das Verstehen des Oberbau-Charakters von Literatur und Kunst.

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Worauf läßt sich der Widerwille gegen die Marxsche Überbautheorie selbst b ei solchen bürgerlichen Gelehrten, die lernbegierig und guten Willens sind, zurückführen? Meiner Meinung nach darauf, daß selbst diese Gelehrten in der Feststellung, Literatur und Kunst gehören zum Überbau, eine ästhetische und ideelle Erniedrigung von Literatur und Kunst erblicken. Sehr zu Unrecht. Die bürgerliche Ideologie glaubt, in der Literatur und Kunst die Verkörpe­ rung des »ewig Menschlichen« entdeckt zu haben. Ebenso wie die bürgerliche Ideologie bestrebt ist, Staat und Recht ihrer Rolle zu entheben, die sie als Waffe im Klassenkamp f spielen, so versucht sie auch, die humanistische Be­ deutung von Literatur und Kunst und deren Platz in der menschlichen Ge­ sellschaft in der Art nachzuweisen, daß sie an die Stelle des gesellschaftlich tätigen, kämpfenden, wirklichen, sich historisch wandelnden Menschen das Trugbild des niemals und nirgends existierenden »ewig Menschlichen « setzt. Ehe Stalins Arbeit erschienen war, glaubten wir, daß der Marxismus-Leninis­ mus dieses bürgerliche Rudiment aus den Köpfen der Literatur- und Kunst­ gelehrten eliminiert habe, zumindest bei jenen Wissenschaftlern, die sich zum Marxismus bekennen o der die ernste Absicht haben, sich den Marxismus

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anzueignen. Wir hatten uns geirrt. Die bedeutsamen Feststellungen Stalins, weshalb die Sprache nicht zum Überbau gehört, haben in einem nicht gerin­ gen Teil unserer Kunst- und Literaturforscher die Hoffnung geweckt, daß es jetzt auch für die Marxisten statthafl: sein werde, Literatur und Kunst aus jener » erniedrigenden « Bindung zu lösen, in der sie als Teil des Überbaus, als Schutzfaktor für die eigene und als Zerstörungsfaktor für die feindliche Basis, als wichtiges Element der Aktivität des Menschen, des Klassenkampfes figurieren ; daß jetzt auf einer ganz neuen Grundlage, im Zusammenhang mit dem Nicht-Überbau-Charakter der Sprache die B eweisführung für den » ewig-menschlichen « Charakter von Literatur und Kunst - angeblich auf der Basis des Marxismus-Leninismus, unter Zuhilfenahme der wichtigen Fest­ stellungen Stalins - erneut angetreten werden könne. Einer nach dem anderen traten die Vertreter dieser Ansicht während der Jubiläums-Festwoche der Ungarischen Akademie der Wissenschaften auf; sie waren der Ansicht, daß nicht allein Kunst und Literatur, sondern auch das Recht, ja sogar der Mythos nicht zu den Elementen des Überbaus gehörten. Mit Recht könnte man die Frage aufwerfen : ja, gibt es dann überhaupt noch einen Überbau? (Vielleicht akzeptiert jeder das Fachgebiet des anderen als über bau.) Wir waren des Glaubens, daß unsere Diskussionen und die seither in der Sowjetunion und den Ländern der Volksdemokratie durchgeführten Diskus­ sionen diese Frage im großen und ganzen geklärt hätten . Wir haben uns geirrt. So können wir zum Beispiel bei dem hervorragenden und zu Recht angesehe­ nen Akademiker Prof. lmre Trencsenyi-Waldapfel, der vor kurzem mit dem Anspruch der Klärung dieser Frage auftrat und ihr eine neue Fassung gab, alle bisher umlaufenden, hoffnungslos konfusen Fragestellungen vorfinden. Vor allem muß festgestellt werden, daß Prof. Trencsenyi-Waldapfel das, was Stalin über die Sprache im allgemeinen sagt, zu Unrecht auf die soge­ nannte poetische Sprache überträgt. Ich betone : auf die sogenannte poetische Sprache. Dieser Ausdruck ist eigentlich eine Abkürzung, ja eine Metapher. Logisch bedeutet er eine durch dichterische Formen, mit dichterischen Mitteln, zu dichterischen Zwecken gestaltete Sprache. Die Sprache der Dichtung ist nicht einmal in dem Sinn eine besondere »Sprache« neben der gewöhnlichen, allgemeinen Sprache wie der Dialekt oder der Jargon. Wenn wir den wirk­ lichen Sinn dieses Begriffs ungeklärt lassen, kann es ein großes Durcheinander geben. Trencsenyi-Waldapfel sagt richtig, daß das »Grundmaterial « der dich­ terischen Form die Sprache sei. Das trifft in eben d em Maße zu, wie die Tatsache, daß der Marmor, die Bronze oder das Holz das Grundmaterial der

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Bildhauerei und die Töne das Grundmaterial der Musik sind. Diese Materia­ lien gehören an sich ebensowenig zum Oberbau wie die Sprache. Aber kann man deshalb jenen Oberbau-Charakter des künstlerischen I nhalts und der künstlerischen Form verneinen, der sich in der Gestaltung des Marmors bei Phidias, Michelangelo u nd Rodin offenbart? Farben und Linien an sich stellen ebenfalls keinen Oberbau dar, aber ist etwa die Kunst eines Goya oder eines Daumier kein echter, aktiver, klassenkämpferischer Oberbau? Thomas Mann ist kein Marxist. Wer jedoch wissen will, wie aus den Tönen (die an sich ebenfalls nicht zum Überbau gehören) durch die ideelle und verstandesmäßige Gestaltung der musikalischen Formen ein musikalischer Oberbau entsteht, der für die Befreiung des Menschen oder für die Aufrechterhaltung seiner Versklavung, für die Wahrung oder für die Zersetzung seines menschlichen Wesens, für die Hinwendung des Menschen zum Volk oder für seine Abkehr vom Volk kämpft, der kann es aus dem »Doktor Faustus « lernen. Der Fehler Trencsenyi-Waldapfels besteht meines Erachtens darin, daß er nicht an seiner Definition der Sprache als Material der Dichtung festhält. Dieser Fehler offenbart sich nicht nur darin, daß er an einer anderen Stelle - hier schon unrichtig - in der Sprache die »elementare Form « der Lite­ ratur erblickt, sondern hauptsächlich darin, daß er versucht, aus den speziel­ len Zügen der Dichtung eine neue »Sprache« zu konstruieren, die keinen Oberbau-Charakter trägt. D er »Überschuß «, auf den er sich beruft : » die Assoziationen, die der Inhalt der Worte hervorruft und die über die Grenzen der Semantik hinausgehen, die Beschwörungskraft der Wortbilder und Re­ densarten«, diese für u ns wichtigen Züge resultieren unserer Ansicht nach gerade aus jener die Sprache gestaltenden Tätigkeit der Literatur, die als Oberbau einen aktiv erhaltenden oder zerstörenden Charakter trägt. Der Unterdrücker bedient sich derselben Sprache wie der Unterdrückte, der Revo­ lutionär derselben wie der Konterrevolutionär. Die Tatsache, daß zum Bei­ spiel auch in der Alltagspraxis das Wort »Gendarm « beim Gutsbesitzer zu ganz anderen Assoziationen führte als bei der Dorfarmut, ändert nichts an der Feststellung Stalins : »Die Sprache als Mittel des Verkehrs war und bleibt stets eine für die Gesellschaft einheitliche und für ihre Mitglieder gemein­ same Sprache. « Ja, unser Beispiel bestätigt und unterstreicht die Richtigkeit der Stalinschen Feststellung. Ganz anders dagegen steht das Problem der Literatur. Und zwar gerade deshalb, weil die Literatur zum Überbau gehört, weil sie sowohl eine künst­ lerische Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit darstellt, als auch - untrennbar von dieser Widerspiegelung - aktiv für oder wider irgend-

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eine Basis kämpft. Deshalb muß jedes literarische Werk mittels der literari­ schen Gestaltung der Sprache, der Gruppierung der Bilder und Wörter, des Rhythmus usw. in uns solche Gedankenverbindungen, Gefühle und Stim­ mungen erzeugen, solche Erlebnisse und Gedanken beschwören, die uns für oder wider etwas mobilisieren. Es geht hierbei um die elementare Wirkung jeder Literatur. Durch ein einfaches Beispiel sei das beleuchtet, worauf ich hinweisen wollte. Man kann sich kaum ein alltäglicheres Wort vorstellen als » Z aun« . Dieses Wort kommt im Alltagsleben immer wieder vor; es kann - wie auch alle anderen Wörter - von den Angehörigen aller Klassen gleichermaßen verwendet werden, und es wird in der Tat auch von allen Klassen der Gesellschaft gleid1ermaßen gebraucht. Welche Funktion aber er­ hält dieses Wort in der Literatur, wenn es einem bedeutenden Dichter zum künstlerischen Erlebnis wird? Ein Gedicht des ungarischen Lyrikers Mihaly Babits, » Ich umzäune mein Haus «, beginnt folgendermaßen : »Meine Lattensoldaten, in Reih und Glied, stehen wie stramme Ulanen auf Wacht. Hüten das Fleckchen Erde, das mein ist; sind die Gerechtigkeit und das Gesetz ; geben mir Kraft, sind Ruhe und Lohn, ein Zeichen, daß ich bin : die Stacheln meines l geldaseins vertreiben die Fremden. « E s ist fraglich, o b Babits das »Kommunistische Manifest« gekannt, aber sicher, daß er den Seelenzustand, der im Privateigentum die Grundlage der bür­ gerlichen Persönlichkeit erblickt, zutiefst erlebt und bejaht hat. Der Zaun wird in diesem Gedicht zum Symbol der Entfaltung und Bewahrung der Persönlichkeit : die moralische und kulturelle Bejahung des Zauns macht den wirklichen Inhalt des Gedichts aus ; seine Worte, Sätze, Bilder und Rhythmen dienen dem Zweck, im Leser solche Vorstellungen und Gefühle heraufzu­ beschwören. Was ist dies, wenn nicht eine aktive, kämpferische Stellung­ nahme für die bürgerliche, für die kapitalistische B asis? An der Aktivität wird auch dadurch nichts geändert, daß B abits' Poesie lange die Illusion gehegt und gepflegt hat, als gehörte eine solche Stellungnahme nicht zum Wesen der Dichtkunst, ja als stünde sie dazu im Widerspruch. Auch für den Lyriker Attila J 6zsef wurde der Zaun zu einem dichterischen Erlebnis. In seinem Gedicht »Am Stadtrand« findet sich diese Strophe :

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

» Auf, vorwärts . . . Rings um dieses aufgeteilte Land weint, schwankt und wankt der Lattenzaun vor unserem Atem, als tobte Gewitter. Seid mutig ! Laßt ihn in Flammen aufgehen ! « In diesem Gedicht stehen sämtliche auf der Sprache als dem gemeinsamen Material basierende Mittel der Dichtung im D ienst des Heraufbeschwörens genau der entgegengesetzten Gedankenassoziationen usw. als bei Babits. Die Widerspiegelung der Wirklichkeit des Zauns, das Wort > Zaun « (mit all seinen Synonymen), ist also gleichermaßen geeignet, die B ejahung und die Verneinung des Privateigentums samt allen hiermit zusammenhängenden ge­ sellschaftlichen, weltanschaulichen, moralischen usw. Gefühlen und Gedanken zu einem hohen dichterischen Ausdruck zu bringen. Und gerade hier offenbart sich der von Stalin definierte Nicht-Überbau­ Charakter der Sprache : ihre Eignung, den sich gegenseitig auf Tod und Leben bekämpfenden Klassen, jedem beliebigen Oberbau gleichermaßen zu Dien­ sten zu sein. Die ungarische faschistische Zeitschrift »Egyedül vagyunk « und die illegalen Flugblätter der Kommunstischen Partei Ungarns waren in der­ selben Sprache verfaßt ; in ein und derselben Sprache schrieben der Faschist J6zsef Erdelyi und der Kommunist Attila J6zsef; in ein und derselben Sprache schreiben der Faschist Celine und der Kommunist Aragon. Einen Unterschied zwischen ihren » Sprachen« gibt es - bei Einheit und G emein­ schaft des grundlegenden Wortschatzes und des Satzbaus - nur in bezug auf Tendenz und Inhalt der Auswahl, der Anordnung, der B etonung usw. ; das heißt in der Art, wie die dem Oberbau zugehörende Aktivität der Lite­ ratur ihr Material, die gemeinsame Nationalsprache von Nicht-Oberbau­ Charakter, verarbeitet. All das also, womit man den Begriff Sprache unge­ rechtfertigterweise erweitern will, beweist Stalins Feststellung : » Wem ist da­ mit gedient, wenn >WasserErdeBergWaldFischMensch gehentunherstellenkaufen< usw. nicht Wasser, Erde, Berg usw. heißen, sondern irgendwie anders?« Die Tatsache, daß - mittels der Herbeiführung von Assoziationen - diese Worte verschiedene, ja gegenteilige Gefühle auszu­ lösen imstande sind, kann den B egriff der Sprache nicht zu dem einer »poeti­ schen Sprache« » erweitern«, sondern zeigt kraß den Unterschied zwischen der Sprache von Nicht-Überbau-Charakter und der Dichtung von überbau­ Charakter.

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Diese gemeinsame Sprache stellt das Material der Literatur dar. Das ist nur zu natürlich. Die Einwirku ng der Literatur auf die gesamte Nation, ja - durch Übersetzungen - auf die gesamte Menschheit wäre ohne ein sol­ ches gemeinsames Material, ohne ein sold1es gemeinsames Medium unvor­ stellbar. Ein solches gemeinsames Medium kommt in den bildenden Künsten und der Musik ganz unmittelbar zur Geltung. Durch die Übersetzung wird die Wirku ng der Literatur zweifellos in gewissem Sinn abgeschwächt. Die Grundlage der Beschwörungskraft des dichterischen Werkes, die organische Einheit von Wort und Gedanken, Klang und Stimmung, sprachlichem und ideellem Rhythmus wird zweifellos selbst durch die beste Übersetzung be­ einträchtigt. Die Möglichkeit der Wirkung wird dadurch jedoch nicht aufge­ hoben. Es genügt, auf die weltweite Wirkung Homers oder Shakespeares zu verweisen ; die Zahl der Menschen, die Homer oder Shakespeare in Überset­ zung lesen, ist weitaus größer als die Zahl jener, die zu den Originalen grei­ fen können. An diese Tatsache mußte deshalb erinnert werden, weil dadurch klar wird, daß die Sprache das Material, nicht aber die Form der Literatur darstellt. Denn sonst wäre die künstlerische Form der Epen Homers und der Shakespeareschen Dramen untrennbar mit der griechischen bzw. englischen Sprache verbunden und die Übersetzung könnte lediglich den Inhalt in einer undichterischen Weise wiedergeben. Es ist aber offensichtlich, daß die for­ mellen Momente des Aufbaus, der Charakteristik, der Steigerung usw. in der Übersetzung wiedergegeben werden können, und zwar deshalb, weil zwar die Sprache als Material, als Vermittlerin der unmittelbaren literarischen Beschwörung, die den Leser mitreißt, nur unvollkommen, nur annähernd in eine andere Sprache zu übersetzen ist, die entscheidenden Faktoren der lite­ rarischen Form aber, die den widergespiegelten gesellschaftlichen Inhalt in einen aktiven Teil des literarischen Überbaus verwandeln, infolge ihres nicht­ sprachlichen Charakters sehr wohl in anderen Sprachen reproduziert werden können. Lassen wir uns also nicht durdi die Metapher »poetische Sprache« irreführen und in ein Labyrinth von Scheinproblemen locken. Vor allem aber sollen wir nicht vor der - scheinbar - paradoxen Tatsache zurückschrecken, daß etwas, was weder Basis noch Überbau ist (die Sprache), das Material eines Oberb aus (der Literatur) abgeben kann. Gibt es doch in der 2\sthetik noch viel paradoxere Erscheinungen. Denken wir nur an die Brücke. Nach der Auffassung von Marx ist die Brücke ein Teil der Produktion, weil der Trans­ port ein Teil der werteschaffenden Produktion ist. Schließt nun diese Tat­ sache aus, daß eine Brücke als Gegenstand der 2\sthetik zum Oberbau gehört?

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Wir glauben nein. Unsere wunderschöne Kettenbrücke in Budapest ist ebenso ein Kunstprodukt der klassizistischen Architektur des Reformzeitalters wie das Nationalmuseum oder zahlreiche Herrensitze in der ungarischen Provinz. I hre ästhetischen Eigentümlichkeiten lassen sich ebenso nur aus der Basis dieses Zeitalters, der auf diesem Boden entstandenen gesellschaftlich-histori­ schen Situation erklären wie die S chönheit des Ponte Vecchio aus dem florrn­ tinischen Mittelalter oder die des Ponte Santa Trinita aus dem Florenz des 1 6. Jahrhunderts. Die Brücke als Verkehrsmittel ist ein Teil der Produktion ; ästhetisch aber gehört sie zum Überbau. Diese theoretische Klärung zieht weitgehende praktische Folgerungen nach sich. D er Formalismus in der unga­ rischen Architektur unterschätzt diesen Überbau-Charakter und will sämtliche Gesetzmäßigkeiten der Architektur direkt aus der Materie (Beton, Eisen usw.) ableiten. Das führt dann in der Praxis dazu, daß solch ein Gebäude zu einem ästhetischen Ausdruck des imperialistischen Formalismus und Kosmopolitis­ mus wird. Ein Überbau also - aber ein Überbau feindlichen Charakters. Nach dieser Abschweifung, die zur Beleuchtung des Wesens der künstlerischen Form, glaube ich, notwendig war, wollen wir den nationalen Charakter der Kunst, der Literatur untersuchen. Stalin führt in seiner Arbeit eine scharfe Polemik gegen jene Vulgarisatoren des Marxismus, die »die Gegensätzlichkeit der Interessen der Bourgeoisie und des Proletariats, ihren erbitterten Klassenkampf als einen Zerfall der Gesellschaft, als einen Abbruch jedweder Beziehungen zwischen den feind­ lichen Klassen auffassen «. Diese vernichtend scharfe Kritik ist nicht nur für die Sprachwissenschaft, sondern auch für die marxistische Erforschung von Literatur und Kunst von großer Bedeutung. Wenn diese Vulgarisatoren recht hätten, wäre ein jedes Werk der Literatur und der Kunst auch in der Wirkung klassengebunden, also ohne nationale B edeutung. Tolstoi könnte keinen Kul­ turwert für die Arbeiterklasse darstellen, Gorki nicht außerhalb der Arbei­ terklasse wirken. Es liegt klar auf der Hand, daß die gesamte Wirkungs­ geschichte von Literatur und Kunst gerade das Gegenteil beweist. O ffen­ sichtlich existiert die auseinandergefallene Gesellschaft, die ausschließlich feindliche Klassen kennt, einzig in den Gehirnen der Vulgarisatoren ; sie hat mit einer wissenschaftlichen, marxistisch-leninistischen Auffassung von der Gesellschaft nichts gemein. Vor dem Erscheinen der Arbeit Stalins hatte sich auch bei uns ein Vulgarisa­ torentum dieser Art breitgemacht. Heute kann man sagen, daß die Beiträge Stalins zu den Fragen der Sprachwissenschaft mit dieser Auffassung in unse­ rem literarischen und künstlerischen Leben im großen und ganzen aufgeräumt

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haben. Dies ist eine überaus begrüßenswerte Tatsache. Wenn wir aber die heutige Lage auf dem Gebiet der Theorie unvoreingenommen betrachten, b leibt unsere Freude dennoch nicht ungestört. Bei der Liquidierung dieses Fehlers unterlief es nämlich mehreren Forschern, daß sie in das andere Extrem verfielen. Für sie existiert nunmehr ausschließlich eine nationale Literatur und Kunst, und aus dem Begriff Nation, wie sie ihn verstehen, ist der Klassen­ kampf völlig oder beinahe völli g verschwunden. Dies aber steht im Widerspruch zu den Grundprinzipien des Marxismus. Schon das »Kommunistische Manifest« gibt eine genaue Definition der aus der richtigen Erkenntnis der L age fußenden politischen Zielsetzung : » Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur natio­ nalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. « Die Parteien der 11. Internationale wichen auch in dieser Frage vom Marxismus ab. Es ist ein großes Verdienst Lenins und Stalins, unter den Verhältnissen des Impe­ rialismus, am Vorabend der Weltkriege und der Revolutionen, auch diese Lehren des Marxismus konkretisiert und weiterentwickelt zu haben. Lenin weist in seinem Werk » Was tun ? « klar nach, daß ein Verzicht auf die Lösung der gesamtnationalen Probleme im proletarischen Sinne unweigerlich bedeute, eine Lösung dieser Fragen den Interessen der Bourgeoisie gemäß zu unter­ stützen. Lenin und Stalin haben die dialektischen Zusammenhänge zwischen Klassenkampf und nationaler Entwicklung in unermüdlicher, systematischer Arbeit für die Arbeiterschaft, für ihre Avantgarde herausgearbeitet. D eshalb schrieb Lenin im ersten Jahr des imperialistischen Weltkrieges : »Und wir, die großrussischen Arbeiter, die wir vom Gefühl nationalen Stolzes erfüllt sind, wollen um jeden Preis ein freies und unabhängiges, ein selbständiges, demokratisches, republikanisches, stolzes Großrußland, das seine Beziehungen zu den Nachbarn auf dem menschlichen Prinzip der Gleichheit aufbaut und nicht auf dem jede große Nation entwürdigenden Prinzip der Hörigkeit und der Privilegien. Gerade weil wir das wollen, sagen wir : man kann im 20. Jahrhundert in Europa (und sei es auch im fernen Osteuropa) nicht anders das >Vaterland verteidigenfeudalen Überbaucharakter< abspre­ chen, verhalten sich zu den Phänomenen der Kunst auf eine ahistorische Art, indem sie die fortschrittlichen Kunstwerke der höfischen Epoche der Be­ freiungsbewegung in die heutige Zeit transponieren. «

II

Nachdem wir versucht haben, den prinzipiellen, grundsätzlichen Teil der in den Arbeiten Stalins angeschnittenen Probleme, den Überbaucharakter von Literatur und Kunst zu klären, sei versucht, diese Frage dadurch weiter zu konkretisieren, daß zu einer der fruchtbarsten Feststellungen in Stalins Arbeit übergegangen wird, die leider in den bisherigen Diskussionen nicht genügend, nicht ihrer Wichtigkeit entsprechend behandelt wurde. Ich meine die Fest­ stellung : »Der Überbau ist nicht unmittelbar mit der Produktion, mit der Produktionstätigkeit des Menschen verbunden. Er ist mit der Produktion nur indirekt, vermittels der Ökonomik, vermittels der Basis verbunden. « Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, die Folgerungen dieser wichtigen Feststellung hinsichtlich der Gesamtheit des Überbaus zu ziehen, wir wollen bei Literatur und Kunst bleiben. Jene Basis, deren konkrete Beschaffenheit und deren Veränderungen das Wesen und die Entwicklung von Literatur und Kunst bestimmen, ist durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse ge­ geben, d. h. durch die gesellschafHichen Beziehungen und Verbindungen der

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Menschen (der Klassen und der Individuen) untereinander, also durch die grundlegenden Tatsachen des menschlichen Lebens. Die Feststellung, daß Lite­ ratur und Kunst mit dieser Produktion selbst nur indirekt, nur vermittels dieser B asis verbunden sind, daß Literatur und Kunst als Überbau durch diese Basis bestimmt werden, daß Inhalte, Themen und Formen von Literatur und Kunst in der Basis ihren Ursprung haben, läßt deren wichtigste Probleme in einem neuen Licht erscheinen. Genauer gesagt : diese Feststellung Stalins gibt der richtigen Literatur- und Kunstauffassung eine marxistische Grundlage. Wir wollen mit einem - scheinbaren - Negativum beginnen. Die Rolle des Menschen in der Produktion b estimmt das jeweilige Verhältnis des Menschen zur Natur, zur unabhängig von uns existierenden objektiven Wirklichkeit. Dieses Verhältnis, der Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, wie Marx sagt, kommt in den Produktionsverhältnissen nur noch indirekt zum Aus­ druck. Hier liegt die Betonung auf den produktionsbedingten menschlichen Verhältnissen, und die Welt der Dinge erscheint nur als ein Moment, das diese Verhältnisse, diese Verbindungen vermittelt. D araus folgt dann - was für viele im ersten Augenblick überraschend klingen mag -, daß die Kunst mit der Natur nicht direkt, sondern nur vermittels der menschlichen Verhält­ nisse verbunden ist. Hier l iegt der grundsätzliche Unterschied zwischen der Art, wie die Natur­ wissenschaften die objektive Wirklichkeit widerspiegeln, und der Art, wie die Kunst es tut. Jede Produktion wäre unmöglich, wenn der Mensch nicht bestrebt (und, von der historischen Perspektive aus gesehen, mit Erfolg be­ strebt) wäre, die von unserem Bewußtsein unabhängig existierende objektive Wirklichkeit so zu widerspiegeln, wie diese wirklich, von uns unabhängig existiert. Daraus folgt im Anfang lediglich die scharfe B eobachtung der Naturphänomene, die möglichst vollkommene Ausschaltung der durch die Schranken unserer Sinnesorgane bedingten Fehlerquellen. Im Verlauf der weiteren Entwicklung folgt daraus aber die Entdeckung solcher Geräte, In­ strumente, Denk- und Berechnungsschemata, die das Erkennen der objektiven Wirklichkeit von u nseren Sinnesorganen immer unabhängiger machen. In der Optik spielt es bereits keine Rolle, ob es sich um Lichtstrahlen handelt, die unser Auge als Farbe oder Licht wahrnehmen kann ; in der Akustik spielt es keine Rolle, ob es sich um Luftschwingungen handelt, die unser Ohr als Ton wahrnehmen kann oder nicht und so geht es weiter; bis zum Elektronen­ mikroskop und anderen Geräten, mit deren Hilfe wir Erscheinungen wahr­ nehmen und ihre objektiven Gesetzmäßigkeiten erforschen können, die ihrer Natur nach unseren Sinnesorganen unzugänglich sind.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Die Frage ist nun, ob auch auf dem Gebiet der künstlerischen Widerspiege­ lung der Wirklichkeit eine ähnliche Entwicklung vor sich gegangen ist. Eine gewisse Entwicklung zweifellos, diese Entwicklung besteht jedoch nur darin, daß die Aufnahmefähigkeit unserer Sinnesorgane und die gedankliche und emotionelle Verarbeitung des Wahrgenommenen einen gewaltigen Fortschritt durchgemacht haben. Engels hat sehr richtig festgestellt : »Der Adler sieht weiter als der Mensch, aber das Menschenauge erblickt in den Dingen viel mehr als das Adlerauge. « Die oben geschilderten Erfolge in der Überwindung der natürlichen Grenzen unserer Sinnesorgane wären niemals möglich ge­ wesen, hätte der Mensch im Verlauf der Arbeit, der Produktion seine Sinnes­ organe nicht entwickelt, hätte er nicht gelernt, die Eigentümlichkeiten der verschiedensten Naturerscheinu ngen und Prozesse immer vollkommener zu beobachten. Zweifellos stellt diese Entwicklung auch die Grundlage für die Vervollkommnung der künstlerischen Widerspiegelung dar. Hierbei tauchen jedoch neue Momente auf. Das erste Moment besteht darin, daß die auf diesem Gebiet mögliche Entwicklung die natürlichen Grenzen unserer Sinnesorgane niemals überschreiten kann. Die Naturwissenschafl mag noch so viel über die Existenz ultravioletter und infraroter Strahlen und ihre Gesetzmäßigkeiten wissen, für die Malerei kommen ausschließlich Lichtstrah­ l en in Frage, die unser Auge wahrnehmen kann. Die andere, positive Seite dieser negativen Feststellung ist, daß die künstlerische Widerspiegelung zwar ebenfalls die objektive, von unserem Bewußtsein unabhängige Wirklichkeit wiedergibt - das müssen wir s charf betonen -, aber diese objektive Wirk­ lichkeit stets in ihrer B ezogenheit auf den Menschen widerspiegelt. So ent­ steht ausschließlich aus der Welt der hörbaren Töne die Universalität der Musik; so entwickelt sich das Sehvermögen des Menschen bis zu einer Rem­ brandtschen Schärfe und Tiefe, die es dem Künstler ermöglichen, durch kaum wahrnehmbare Schattierungen des Gesichts umfassende moralische Probleme zu verdeutlichen ; so entsteht jene Verfeinerung in der dichterischen Hand­ habung der Sprache, die mit Hilfe einiger Sätze lebendige Menschen vor uns hinstellt, die die tiefsten Gefühle und wichtigsten Gedanken des Menschen unmittelbar versinnbildlichen können. All das fußt gerade auf der Tatsache, daß die Kunst nur die Produktions­ verhältnisse unmittelbar widerspiegelt, alles andere, d. h. gerade die Natur, nur durch ihre Vermittlung. So entsteht die eigentümliche Objektivität der künstlerischen Darstellung, die notwendige Gegenwart des Menschen in der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit, ohne daß dadurch deren Ob­ jektivität aufgehoben werden würde. Das Landschaftsbild ist kein einfacher

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Ausschnitt aus der Natur, das Stilleben ist keine einfache Sammlung von Gegenständen. Bei dieser Feststellung meinen wir nicht in erster Linie die künstlerische Komposition. Daß diese überhaupt in Funktion treten kann, wie und mit welchem Erfolg sie funktioniert, das ist schon ein sekundäres, abgeleitetes Moment des Gesamtprozesses der künstlerischen Widerspiege­ lung. Primär ist, wie der Mensch (der Mensch der jeweiligen Gesellschaft) sich zur Welt der darzustellenden Natur verhält, welche menschlichen Ver­ hältnisse (konkrete Produktio nsordnung) die künstlerisch darzustellenden Gegenstände vermitteln. Und auch selbst dann, wenn - wie zum Beispiel beim Landschaftsbild und beim Stilleben - das unmittelbare Thema aus­ schließlich die gegenständliche Welt ist, die die menschlichen Beziehungen vermittelt, selbst dann noch werden Stil, Ideengehalt, Sinn und die durch sie bedingte künstlerische Form durch jene menschlichen Verhältnisse bedingt, unter denen die darzustellenden Gegenstände ihre Vermittlerrolle spielen. Nehmen wir das holländische Stilleben des 1 7. Jahrhunderts, um die Lage an Hand eines möglichst unkomplizierten Themas zu beleuchten. Schon Hegel hat erkannt, daß diese Gemälde die bürgerliche Freude eines Volkes zum Ausdruck bringen, das nach schweren Kämpfen ein fremdes Feudaljoch abge­ schüttelt hat. Anordnung, Komposition, Kolorit usw. sind durch dieses Lebensgefühl bedingt. In der objektiv-wirklichkeitstreuen Wiedergabe haben diese Maler eine wahre Meisterschaft erreicht. Das »Wie « ihrer malerischen Vollendung wird aber gerade durch das oben erwähnte Lebensgefühl : das Verhältnis der Kunst zu den gegebenen, konkreten Produktionsverhältnissen der Epoche bedingt. Wenn wir nun unter demselben Gesichtspunkt einen Blick auf bedeutende Stillebenmaler der nahen Vergangenheit, vor allem auf Cezanne, werfen, was sehen wir dann ? Die malerische Vollendung, die wirklichkeitstreue Reproduktion der thematisch gegebenen Außenwelt ist auch hier zweifellos vorhanden. Hier stehen wir aber einer qualitativ völlig andersgearteten Welt gegenüber. Jenes Verhältnis der Menschen zueinander, das durch den Hoch­ kapitalismus entwickelt wurde, kann die Lebensfreude der alten Niederlän­ der unmöglich kennen. Damals war das Stilleben nur eines unter vielen The­ men (die zahlreichen, menschliche Verhältnisse vermittelnden gegenständ­ lichen Momente), die malerische Vollendung war eine fast selbstverständliche Beigabe der Lebenslust eines starken, in schweren B efreiungskämpfen be­ währten Volkes auf dem Gebiet der Kultur. Zu Cezannes Zeiten war die malerische Vollendung eine trotzige Abwehr der kunstfeindlichen, die Kunst erniedrigenden Grundtendenz des Kapitalismus. »Eine gut gemalte Rübe ist

Beiträge zur Geschich te der Ästhetik

künstlerisch wertvoller als eine schlecht gemalte Madonna«, erklärte ein her­ vorragender bürgerlicher Maler aus der Epoche der Dekadenz. Dieser Satz hat zum Inhalt sowohl den oben angedeuteten oppositionellen Charakter der malerischen Vollendung als auch den Umstand, daß unter den Produktions­ verhältnissen der hochkapitalistischen Gesellschaft die alten bedeutenden Themen der Malerei aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschaltet und nicht durch neue ersetzt werden. (Es ist unnötig, zu sagen, daß diese Nivellierung der malerisch dargestellten Außenwelt eine tiefe Wirkung auf die malerische Darstellungsweise der einzelnen Gegenstände ausübt.) Damit tritt auch in der thematischen, ideellen und gefühlsmäßigen Bedeutung des Stillebens eine .Anderung ein : nun wird das Stilleben, gerad e durch seinen nichtssagenden Inhalt, zum Symbol des Verhältnisses zwischen dem kapitalistischen Men­ schen und seiner Umwelt und dadurch zum Ausdruck eines resignierten, ver­ zweifelten (bei van Gogh eines aufrührerischen) Pessimismus. Das, was für das Stilleben gilt, hat noch viel mehr für die Themen der Malerei Geltung, in denen die Vermittlerrolle noch reichhaltigere Verbindun­ gen zu jenen menschlichen Verhältnissen erschließt, die diese Themen als Ver­ mittler miteinander verknüpfen. Wir denken in erster Linie an das Land­ schaftsbild, dessen Geschichte und .Asthetik nur dann erschlossen werden kann, wenn die konkrete Forschung auf der Grundlage der Feststellungen Stalins vor sich geht. Ich brauche darauf wohl nicht näher einzu gehen, daß die Natur, wie sie in der Dichtung gestaltet wird, noch viel weniger von den menschlichen Verhältnissen zu trennen ist als die in der Malerei dargestellte. Lessing kämpfte seinerzeit - wenn auch nur mit ästhetischen Argumenten gegen eine lebensfremde, rein beschreibende Dichtung, die den Menschen als gesellschaftliches Wesen nicht zur Kenntnis nehmen will. (Diese unmensch­ liche Form der Beschreibung kehrt im Naturalismus der imperialistischen Periode wieder und übt einen gefährlichen Einfluß auf die sozialistische Lite­ ratur in �hrem Anfangsstadium aus.) Wenn wir jetzt im Lichte der Stalin­ schen Feststellungen die Naturbeschreibungen der Dichtung prüfen, wird es klar, daß in Petöfis ungarischer Tiefebene, in Adys Paris und Odland, in Attila J6zsefs Vorstädten - auf eine viel prägnantere Art, als dies bei den Stilleben der alten niederländischen Meister der Fall war - die künstlerische Vollendung der Beschreibung niemals Selbstzweck, niemals die nur wirklich­ keitstreue Darstellung einer noch so interessanten oder anziehenden gegen­ ständlichen Welt ist, sondern mit um so gewaltigerer dichterischer Kraft ge­ sellschaftliche Verhältnisse unter Menschen zum Ausdruck gebracht werden, je vollkommener das vermittelnde gegenständliche Moment veranschaulicht ist.

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All dies untermauert eine weitere allbekannte Feststellung Stalins von einer anderen Seite her : jeder Überbau spiegelt nicht nur die Wirklichkeit wider, sondern nimmt aktiv Stellung für oder wider die alte oder die neue Basis, und wenn der Überbau diese aktive Rolle aufgibt, hat er aufgehört, Überbau zu sein. Die Lehre für die Kunsttheorie besteht darin, daß alle Literatur und Kunst gleichzeitig Aktivität bedeutet, eine Stellungnahme für oder wider eine Basis. In der Asthetik. der Klassengesellschaften findet sich freilich häufig eine gegenteilige Erklärung ; wir wollen uns aber darüber im klaren sein, daß dies entweder auf Selbstbetrug oder Heuchelei basiert. Flaubert und Maupassant haben nur sich selbst getäuscht, als sie erklärten, ihre literarische Tätigkeit bedeute keinerlei Stellungnahme. In Wirklichkeit war ihre schrift­ stellerische Praxis eine klare und scharfe Stellungnahme gegen die kapitali­ stische Gesellschaft ihrer Epoche. Wenn Literatur und Kunst des verfaulen­ den Imperialismus irgendeinen »Objektivismus« verkünden, dann handelt es sich lediglich um eine heuchlerisd1e Form, in der jede gesellschaftliche Um­ wälzung, jeder Fortschritt, jede neue, entstehende Gesellschaftsordnung ver­ leumdet wird. Wenn also - nach Stalin - Literatur und Kunst nur indirekt, nur vermittels der Basis mit der Produktion verbunden sind, so hat diese negativ definierte These zum Inhalt die Bejahung, die tiefgründige neue Rechtfertigung des humanistischen Grundsatzes von Literatur und Kunst.

III

Schließlich möchten wir noch auf eine überaus wichtige Frage eingehen, die bei nicht wenigen Literatur- und Kunstforschern zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat. Stalin sagt : »Der Überb au ist das Produkt einer Epoche, in deren Verlauf die gegebene ökonomische Basis besteht und wirkt. Daher be­ steht der Überbau nicht lange, er wird beseitigt und verschwindet mit der Beseitigung und dem Verschwinden der gegebenen Basis. « Die wahre Bedeu­ tung dieser Feststellung liegt in der Tatsache, daß sie die Kontinuität der Entwicklung und die Unabhängigkeit der Sprache von den in der Basis vor sich gehenden revolutionären Veränderungen klärt im Gegensatz zu jenen tiefgreifenden Umwälzungen, denen in dieser Hinsicht jeder Überbau aus­ gesetzt ist. Etwas später sagt Stalin : »Seit dem Tode Puschkins sind über hundert Jahre vergangen. In dieser Zeit wurden in Rußland die Feudalord­ nung sowie die kapitalistische Ordnung beseitigt, und es entstand eine dritte,

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die sozialistische Ordnung. Folglich wurden zwei Basen mitsamt ihren über­ bauten beseitigt, und es entstand eine neue, die sozialistische Basis mit ihrem neuen Oberbau. Nimmt man aber zum Beispiel die russische Sprache, so hat sie in dieser langen Zeitspanne keine Umwälzung erfahren, und die heutige russische Sprache unterscheidet sich ihrer Struktur nach kaum von der Sprache Puschkins. « Können wir dies auch von der Literatur der gleichen Zeit be­ haupten? Ich glaube, selbst der verbissenste Verteidiger des Nicht-Überbau­ Charakters der Literatur - vorausgesetzt, daß er die Tatsachen gewissen­ haft studiert - muß die bestehenden Unterschiede anerkennen. In der Erforschung der Geschichte von Literatur und Kunst herrschen jedoch immer noch Traditionen vor, die aus dem Erbe der bürgerlichen Wissenschaft kritiklos übernommen wurden. Dazu gehört zum Beispiel die Gleichsetzung der ständig existierenden Wirklichkeit von Literatur und Kunst mit wenigen hervorragenden Kunstwerken beziehungsweise mit deren Schöpfern ; hierbei handelt es sich um das unbewußte Fortbestehen des bürgerlichen Geniekults, des künstlerischen Aristokratismus. Das Ergebnis ist jene bereits erwähnte falsche Auffassung, als ob das Werk eines Genies vom Range Puschkins nicht zum Überbau gehörte, als ob der Überbau nur die Werke von Schriftstellern und Künstlern minderer Gewichtigkeit erfaßte. Ein anderes kritiklos über­ nommenes bürgerliches Erbe ist die historische Selbsttäuschung, wonach Werke, die für Literatur- und Kunsthistoriker von geschichtlichem (philolo­ gischem, musealem usw.) Wert sind, gleichzeitig mit zu den lebendigen Tra­ ditionen der Literatur oder Kunst zählen. Darin offenbart sich die Lebens­ fremdheit eines Teils der Literatur- und Kunsthistoriker. Versuchen wir das Phänomen unbefangen zu betrachten : wie verhält es sich mit der Lage der wirklichen Literatur und der wirklichen Kunst in bezug auf die revolutionären (oder auch nicht einmal revolutionären, doch wesentlichen) Veränderungen der Basis? Wir müssen zunächst kurz die Rolle untersuchen, die die Literatur in der Wirklichkeit, im gesellschaftlichen Leben spielt. Es war mir nicht möglich, dieser Frage auf Grund einer zuverlässigen Statistik nachzugehen. Ich will versuchen, das Wesen dieser Frage bloß an Hand eini­ ger Daten zu beleuchten, die sich - zufälligerweise - in meinem Besitz befinden. 1 9 2 7 sind in Deutschland mehr als einunddreißigtausend Bücher erschienen. Davon waren fünftausend belletristische Werke. Wenn wir das Zeitalter des Imperialismus unter diesem Gesichtspunkt betrachten, so sind in dieser Zeit in Deutschland allein zwei- bis dreihunderttausend Werke der schönen Literatur erschienen. (Die in Zeitungen und Zeitschriften publizierte Belletristik bleibt hierbei unberücksichtigt.) Sie stellen in ihrer Gesamtheit

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den belletristischen Überbau des imperialistischen Zeitalters dar, denn auch zahlreiche Bücher, die keinerlei ästhetischen Wert besitzen, zum Beispiel die Detektivromane, spielen eine sehr große Rolle bei der aktiven Unterstützung der alten Basis. Wie verhält es sich nun mit dem Schicksal dieser Literatur in bezug auf die Veränderungen der Basis? Ich glaube, es wird für niemanden fraglich sein, daß diese Literatur als Ganzes gesehen außerordentlich kurzlebig ist, daß die geringste Veränderung der Basis genügt, um einen sehr großen Teil der end­ gültigen Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Es wird vielleicht genügen, wenn ich auf ein Beispiel aus der Geschichte der deutschen Literatur verweise. Dieses Beispiel ist um so bezeichnender, da ich es nicht der großen Masse der Werke, sondern den oberen fünf Prozent entnommen habe. Um und nach 1 87 0 war Spielhagen für weite Kreise der deutschen Bourgeoisie, man könnte sagen, der große Romanschriftsteller. Als aber - ohne eine revolutionäre Erschütterung der Basis - der Übergang in das Zeitalter des Imperialismus erfolgte, war Spielhagen in einigen wenigen Jahren fast spurlos aus der lebendigen Literatur verschwunden. Und aus welchem Grunde sollte man annehmen, daß die Jakob Wassermann und Stefan Zweig, die ungefähr seinen Rang repräsentieren, die revolutionäre Vernichtung der Basis über­ leben könnten? Dieser Prozeß ist überall zu beobachten. Wir können also festhalten, daß, wenn die alte Basis zugrunde geht, der überwiegende Teil des alten literarischen und künstlerischen Oberbaus als Überbau der vollkommenen Vernichtung anheimfällt u nd aufhört, lebendige Literatur und Kunst (d. h. Überbau) zu sein. Andererseits steht jedoch die Tatsache unverrückbar fest, daß im Verlauf der gesamten bisherigen Geschichte, in allen Epochen literarische und künstlerische Werke eine bedeutende Rolle gespielt haben, die ursprünglich überbauten längst vergangener Epoche waren. Wie können wir diese Erscheinung erklä­ ren? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage wird nicht schwerfallen. Eine jede Klasse steht in ihren ideologischen Kämpfen auf dem Moliereschen Standpunkt : » Je prend mon bien, ou je le trouve.« (Ich nehme, was mir nützt, wo ich es finde.) Aus den Werken der Literatur und Kunst, die in Form von Büchern, Bildern, Skulpturen usw. sozusagen das tote Erbe der Ver­ gangenheit darstellen, greift jede Klasse mit instinktiver Sicherheit jene Werke heraus, die ihr in bezug auf ihre gegenwärtigen Kämpfe, die Festi­ gung der eigenen oder die Schwächung einer feindlichen Basis, eine erfol­ reiche Verwendung versprechen. Diese fügen sich dann in die ideologischen Bestrebungen der betreffenden Klasse ein, freilich so, daß diese Werke den

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Klassenzielen entsprechend gedeutet (und sehr oft mißdeutet) werden. Nach dieser Umwertung sind sie dann eine wirksame Stütze derjenigen Klassen­ ideologie, die sie erneuert und verwertet. Leider hat sich die ungarische Literatur- und Kunstgeschichte bis heute recht wenig mit diesen überaus wichtigen Problemen der Wirkungsgeschichte von Literatur und Kunst beschäftigt. (In der sogenannten Geistesgeschichte fin­ den wir entsprechende Monographien, aber diese sind - mit Ausnahme des in ihnen angehäuften Rohstoffs - für uns selbstverständlich völlig un­ brauchbar.) Dabei muß ein jeder sehen, daß die Geschichte von Literatur und Kunst uns mit solchen Tatsachen auf Schritt und Tritt konfrontiert. Ich möchte nur einige wichtige Beispiele erwähnen. Eine solche Rolle spielte die römische Literatur (Vergil, Horaz, Senecas Dramen) für die theoretische Fundierung und dichterische Praxis der klassizistischen Literatur in der ab­ soluten Monarchie. Andererseits dienten im Verlauf des 1 8 . Jahrhunderts Homer und Shakespeare sozusagen als Rammböcke im Kampf der bürger­ lichen Literatur gegen die mit feudalen Überresten durchsetzte Literatur der absoluten Monarchie. Und - um ein modernes Beispiel zu nehmen - eine solche Rolle spielten die ägyptische Kunst, die Gotik, die Negerplastik usw. in der Schaffung der dekadenten, antirealistischen Theorie und Praxis des imperialistischen Zeitalters. So verwertet zum Beipiel der extrem reaktionäre Kreis des englischen Schriftstellers T. S. Eliot die reaktionäre mystische Lyrik aus der Zeit der englischen Restauration usw. Wir haben bereits erwähnt, daß die Verwertung erst mit Hilfe einer entspre­ chenden Umdeutung, ja oft Mißdeutung möglich wird. Auch hier stellt uns die Literaturgeschichte ein reiches Belegmaterial zur Verfügung. Es genügt, wenn wir an die bereits erwähnte Verwendung Shakespeares denken. Für die englische Restauration bedeutete Shakespeare (zusammen mit seinen Zeit­ genossen) eine Waffe gegen den revolutionären Puritanismus. In den Augen Lessings war Shakespeare (zusammen mit Sophokles und Diderot) die prak­ tische Vollendung der umgewerteten aristotelischen Dramentheorie, der bür­ gerlichen Tragödie. D er junge Goethe, Herder und der Sturm und Drang feierten in Shakespeare den Vertreter der vollkommenen dichterischen Frei­ heit, den Zerstörer jeder Schulregel, d. h. jeder feudalabsolutistischen Regel. Die deutsche Romantik aber, die Shakespeare dem spanischen Drama an­ näherte und auch seine Zeitgenossen aus ihrer Vergessenheit hervorholte, be­ gann bereits, das moderne Prinzip des l'art pour l'art, das Spielerische und das Selbstironisd1e der Kunst in Shakespeare hineinzuinterpretieren. Dies sind freilich nur Beispiele, aber methodologisch charakteristische B eispiele.

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Und wenn unsere Literatur- und Kunsthistoriker dieses Material im Geiste des Marxismus-Leninismus, den Weisungen der Stalinschen Artikel folgend, verarbeiten, werden sie zahlreiche »Rätsel« erklären, zahlreiche scheinbare Widersprüche auf ihre echten gesellschaftlichen Ursachen zurückführen kön­ nen. (Zum Beispiel die Tatsache, daß der junge Goethe ein begeisterter Vor­ kämpfer Shakespeares war, der alte Goethe aber den Shakespeare-Kult der Romantik bekämpfte.) Der Sieg des Sozialismus vollzog auch eine grundlegende Veränderung in bezug auf die Kunst der Vergangenheit. Vor allem führt die Tatsache, daß die Menschen ihre Geschichte nicht nur selber machen, sondern dies auch vom richtigen Selbstbewußtsein getragen tun, zu wesentlichen Veränderun­ gen auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit, so auch in der Literatur und Kunst. Wir haben bereits gesehen, daß bisher jede aktuelle Rolle der Kunst vergangener Zeiten mit einer Umwertung und nicht selten Mißdeutung ver­ bunden war. Da die Gründe hierfür durch die Notwendigkeiten des Klassen­ kampfes bedingt sind, ist es klar, daß sie unter den gegebenen Umständen unvermeidlich waren. (Das bedeutet natürlich nicht, daß alte Kunstdeutungen fortschrittlichen Charakters nicht zahlreiche Elemente und Momente der Wahrheit enth alten würden.) Weiter hat mit den antagonistischen Wider­ sprüchen der Klassengesellschaften auch jene außerordentlich komplizierte und verwickelte Konstruktion des Kampfes zwischen Fortschritt und Reak­ tion aufgehört zu existieren, die in der Literatur und Kunst (und in deren Theorien) noch viel kompliziertere Zusammenhänge ergeben hat als auf an­ deren G ebieten des Überbaus. Der Gegensatz zwischen Neuem und Altern gewann als Gegensatz zwischen Sozialismus und Kapitalismus schärfere und klarere Konturen. Die Frage der fortschrittlichen Traditionen kann erst jetzt in voller Eindeutigkeit bestimmt und in die Praxis übersetzt werden. Was folgt nun aus dieser neuen Situation für unser Verhältnis zur Literatur und Kunst der Vergangenheit? Auf keinen Fall, daß wir Stalins Feststellun­ gen über ihren Überbaucharakter verwischen. Die Überlieferungen des Mar­ xismus werden durch Stalins Feststellungen konkretisiert und weiterentwik­ kelt. Als Marx in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts - von der Analyse Homers ausgehend - unsere Stellung zur Kunst der Vergangenheit festlegte, stellte er zwei Fragen von grundsätzlicher Bedeutung. Die erste Frage betraf die Bestimmung jener gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen eine gewisse Kunst, im gegebenen Falle die Dichtung Homers hervorgegan­ gen war. Es ist klar, daß Marx hier, wo er die Frage nach der Genesis, nach der Herkunft stellt, danad1 fragt, aus welcher Basis ein bestimmter, konkre-

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Beiträge zur Geschid1te der Ästhetik

ter Überbau hervorgeht. Die zweite Frage, die auf unser gegenwärtiges Pro­ blem eine Antwort erteilt, lautet : »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Ent­ wicklungsformen geknüpft sind. Die Schwieri gkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. « Die Begründung, die Marx zu dieser zweiten Frage - und zugleich zur Be­ jahung der heutigen lebendigen Wirkung Homers - gibt, enthält mehrere entscheidende Gesichtspunkte in bezug auf unser Problem ; deshalb seien einige wichtige Sätze dieses Marxschen Gedankenganges zitiert : » Warum sollte die gesellschaftliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten ent­ faltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. « Was folgt daraus ? Daraus folgt vor allem, daß unser Verhältnis z u solchen Werken immer das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit, niemals aber die heutige unveränderte Aktualität einer - eventuell vor langem ent­ deckten - Wahrheit ist. Hier wird der Unterschied offenbar zwischen der Art, wie eine mathema­ tische oder naturwissensdiaftliche Wahrheit und der Art, wie ein Kunstwerk fortbesteht. Audi die Entdeckung des pythagoreischen Lehrsatzes wurde erst durch einen bestimmten Entwicklungsgrad in der Produktion möglich und notwendig. Wenn wir aber heute diesen Lehrsatz anwenden, so ist es für uns vollkommen gleichgültig, unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen er zum erstenmal formuliert wurde. Seine Entstehung ist lediglich für die Geschiditsschreiber der Geometrie von Belang. Die heutige Wirkung Homers aber ist unzertrennlich mit der Epoche, mit den Produktionsverhältnissen verbunden, in der bzw. unter denen das Werk Homers entstand : ihr Nach-Erleben bildet die inhaltliche Grundlage unseres Kunsterlebnisses. Die griechische Kunst wirkt somit auf uns ein wie die nie­ mals wiederkehrende »normale Kindheit« der Menschheit, also in der Er­ innerung, als künstlerische Fixierung einer wichtigen Etappe des Weges, den die Menschheit bis heute zurückgelegt hat. Und auch hier handelt es sich nidit um irgendein beliebiges Andenken an diese Etappe, sondern ausschließlich um ein Andenken, das die entscheidend wichtigen Faktoren dieser Etappe in einer klassischen Form verdichtet. (Das Beiwort »klassisch« verwenden wir hier in demselben Sinne, wie es Engels bei seinen Untersuchungen des Zusammen­ hanges zwischen Logik und Gesdiichte erörtert.) Folglich ist in der künstleri-

Literatur und Kunst als Überbau

45 5

sehen Wirkung, die aus den Epen Homers »Norm und unerreichbare Mu­ ster« schafft, unzertrennlich auch der Oberbau-Charakter der Kunst ent­ halten : die großen Kunstwerke spiegeln beispielhaft die Basis wider, die Produktionsverhältnisse und die grundsätzlichen gesellschaftlichen Bezie­ hungen ihrer Epoche. Darin liegt die inhaltliche Grundlage ihres Fortbestehens, worin, wie bereits betont, der »klassische« Charakter der menschlichen Be­ ziehungen - »klassisch« im Engelssehen Sinne - mit einbegriffen ist. Es ist klar, daß nur ein Künstler imstande ist, Kunstwerke dieser Art zu schaf­ fen, der in den entscheidenden Fragen seiner eigenen Zeit einen fortschritt­ lichen Standpunkt einnimmt, denn die Art der Widerspiegelung kann nur in diesem Fall »normal «, »klassisch« und unverzerrt sein. Und die Form? I ch glaube, für den, der die künstlerische Form als eine - wenn auch, a n der in­ haltlichen Widerspiegelung gemessen, abstrakte - Widerspiegelung der ob­ jektiven Wirklichkeit betrachtet, so wie dies Lenin in der Logik in bezug auf die Schlußformen auseinandergesetzt hat, kann es hier nichts Rätselhaftes geben. Die künstlerische Form ist um so vollkommener, je organischer sie die wesentlichsten, gesetzmäßigsten Verhältnisse einer konkreten Basis (der sie bildenden menschlichen Beziehungen) mit der menschlichen Versinnbildlichung konkreter, also individualisierter Menschen verbindet. Je mehr uns eine künstlerische Formgebung in die Lage versetzen kann, die durch sie gestal­ teten, in ihr dargestellten konkreten menschlichen Beziehungen unmittelbar zu erleben, um so sicherer ist der Fortbestand des betreffenden Kunstwerkes. Um so mehr wird nämlich auch der Mensch einer ferneren Zukunft in der Lage sein, in den künstlerisch gestalteten Menschen, Menschenschicksalen und der gegenständlichen Welt, die diese Menschenschicksale vermittelt, un­ vermittelt sich selbst, seine eigene Vergangenheit, in der Vergangenheit der Menschheit zu erkennen . Die Geschichtswissenschaft erschließt uns den bisher zurückgelegten Weg der Menschheit, der einzelnen Nationen in seiner objektiven Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die großen Kunstwerke aber versetzen uns in die Lage, in unmittelbarer Anschauung zu erleben, welche M enschen, welche mensch­ lichen Beziehungen für diese oder jene bedeutende Entwicklungsetappe der Menschheit typisch waren. Man könnte vielleicht sagen : die Geschichtswissen­ schaft fundiert unser Geschichtsbewußtsein, die Kunst erweckt unser ge­ schichtliches Selbstbewußtsein und hält es wach. Die inhaltliche Vorausset­ zung hierfür ist, wie wir bereits gesehen haben, der »normale«, »klassische« Charakter der Produktionsverhältnisse. Die Form des einzelnen Kunstwerks aber ist stets die konkrete Form des eigenen konkreten Inhalts. Der »klassische

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Charakter« folgt also nicht aus der Einhaltung irgendwelcher formaler »Re­ geln«, sondern gerade daraus, daß das Kunstwerk imstande ist, den we­ sentlichsten und allertypischsten menschlichen Verhältnissen den maximalen Ausdruck der Versinnbildlichung, der Individualisierung zu geben. Zur Bewußtheit des vielseitig entwickelten, das Leben bewußt beherrschen­ den Menschen gehört unerläßlich die bewußte Kenntnis seiner eigenen Ge­ schichte. Der primitive Mensch hatte keine Geschichte, oder das unklare Be­ wußtsein seiner Vergangenheit verlor sich im Mythos. Je höher sich die Menschheit entwickelt, desto mehr verstärken und vertiefen sich historisches Bewußtsein und Selbstbewußtsein der Menschheit. Ihre Entfaltung wird aber nicht nur durch die Lücken unserer Kenntnisse behindert, sondern hauptsäch­ lich durch die Interessen der herrschenden Unterdrücker- und Ausbeuterklas­ sen. Diese haben das Erhellen der gesetzmäßigen Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterbunden, weil sie sich mit Recht vor der Zukunftsperspektive fürchteten, die sich aus dem Aufdecken der wahren Zu­ sammenhänge ergeben muß. In Zeiten des Niederganges, der Krise aber hat sich die Ideologie der herrschenden Klassen der Geschichtswissenschaft direkt entgegengestellt ; sie leugnete ihre Möglichkeit, wie Schopenhauer, oder ihren Wert, wie Nietzsche. Daraus ergab sich die Mythisierung des historischen Charakters der Kunst. Nur die im Sozialismus befreite Menschheit ist willens und fähig, die Ge­ schichte in ihrer Gesamtheit kennenzulernen ; historisches Bewußtsein und Selbstbewußtsein nehmen in unserem Kulturleben den Platz, der ihnen zu­ kommt, erst dann ein, wenn - wie Marx sagt - die »Vorgeschichte« der Menschheit beendet ist und ihre wirkliche Geschichte begonnen hat. D amit aber gewinnen die fortschrittlichen Überlieferungen der Kunst eine Bedeu­ tung, die weit über die Grenzen der Kunst hinausgehen : sie werden zu inte­ grierenden Bestandteilen der Kultur eines jeden wirklich sozialistischen Men­ schen. Daneben und im engen Zusammenhang damit gewinnen die fortschrittlichen Überlieferungen eine außerordentliche Bedeutung für die Schaffung der künstlerischen Kultur in der sozialistischen Kunst. Es wäre jedoch eine ober­ flächliche Analogie, zu glauben, daß die großen Leistungen und Ergebnisse der Kunst ebenso zu verwerten sind, wie die Naturwissenschaftler richtige Thesen, die als Errungenschaften der griechischen Antike, der Renaissance usw. überliefert wurden, nebeneinander verwerten können. Die fortschritt­ lichen Überlieferungen der Kunst, die in diesen großen Werken aufgehäufte Formkultur können niemandem eine solche unmittelbare Hilfe in seinem

Litera tur und Kunst als Überbau

457

eigenen künstlerischen Schaffen geben. Wer glaubt - um es auf die Spitze zu treiben -, von Breughel die » Kniffe « des Kolorits, von Vermeer die des Va­ leurs und von Ingres die des Zeichnens abgucken zu können, wird in einem epigonenhaften Eklektizismus versacken. Die großen Meister der Kunst haben innerhalb der Grenzen ihrer Kunstgattung die grundlegenden mensch­ lichen Beziehungen ihrer Epoche stets getreulich widerspiegelt und zum Aus­ druck gebracht. Zu studieren, wie sie dies, angefangen bei inhaltlichen Fragen, bei der Themenwahl bis zu den technischen Detaillösungen, durchgeführt ha­ ben, ist eine nützliche Schule für einen jeden Künstler. Sie ist es aber nur dann, wenn der Künstler lernen will, wie er die menschlichen Beziehungen seiner Epoche im Rahmen der - mehr oder minder modifizierten - Kunst­ gattungen seiner Epoche darstellen kann, wie er sie ebenso adäquat gestalten und auf eine noch höhere Ebene des I deengehalts heben kann, als das bei den klassischen Künstlern der Fall war. Kurz gesagt, dies alles gilt nur, wenn der Künstler stets im Auge behält, daß jedwede Formgebung darin besteht, die konkrete Form für irgendeinen konkreten Inhalt zu finden. Das heißt : die richtige Kenntnis der fortschrittlichen Überlieferungen von Kunst und Literatur und die richtige Verwertung dieser Kenntnis hängen da­ von ab, in welchem Maße Literatur und Kunst zu aktiven überbauten der neuen, der sozialistischen Basis werden, wie aktiv sie für die Stärkung der neuen B asis, für die Zerstörung der Überreste der alten Basis und für die endgü ltige Vernichtung der wirtschaftlichen und ideologischen Überreste des Alten kämpfen. Zweifellos ist auch auf diesem Gebiet eine qualitativ neue Lage eingetreten. Es würde weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausfüh­ ren, wollte ich versuchen, diese Frage auch noch so skizzenhaft zu analysieren. Es steht jedoch fest, daß die Kunstgeschichte noch niemals eine Entwicklung gekannt hat, in der die richtige Widerspiegelung der Wirklichkeit, das huma­ nistische, menschenbefreiende, der menschlichen Entwicklung dienende Wesen der Kunst, ihr bewußter und kämpferischer Standpunkt in den gesellschaft­ lichen Auseinandersetzungen so tief und eng mit dem S treben nach ästheti­ scher Formvollendung verwachsen waren. Die Epoche des sozialistischen Rea­ lismus stellt in der Entwicklung der Kunst, der Literatur eine neue Epoche dar, die qualitativ höher steht als alle vorangegangenen. Wir wollen jedoch nicht vergessen, daß wir das Wesen dieses qualitativ Neuen am prägnantesten zusammenfassen können, indem wir feststellen : die Ziele und Mittel der Kunst und der Literatur des sozialistischen Realismus decken sich genau mit den Ausführungen Stalins über den Überbau-Charakter von Literatur und Kunst.

Beiträge zur Geschichte der Ästhetik

Wie wir sehen, erhält auch diese Frage ihre Lösung, wenn wir bestrebt sind, mit den Methoden des Marxismus-Leninismus an sie heranzutreten. Wir sa­ hen aber auch, von einer wie großen Wichtigkeit für die richtige Fragestellung und Beantwortung Stalins Feststellung war, daß Literatur und Kunst zum Oberbau gehören. Nur wenn wir diese Wahrheit unablässig im Auge behalten, werden wir in der Lage sein, den wirklichen Platz der Kunst, der Literatur und der fortschrittlichen Oberlieferungen in der sozialistischen Kultur richtig zu bestimmen.

Karl Marx und Friedrich Enge ls als Literaturh istoriker

Die Sickingendebatte zwischen Marx - Engels und Lassalle

Die Veröffentlichung der nachgelassenen Briefe und Schriften Lassalles brachte neues und wichtiges Material zur richtigen Beurteilung der Beziehungen von Marx und Engels zu Lassalle, vor allem durch den Abdruck der Briefe von Marx und Engels an Lassalle im dritten Band dieser Ausgabe, während Meh­ ring im vierten Band seiner »Nachlaß «-Ausgabe im wesentlichen nur die Briefe Lassalles vorlegen konnte. Weitere Ergänzungen brachte die neue Aus­ gabe des Briefwechsels zwischen Marx und Engels (Gesamtausgabe, III. Abt. ) mit den auf Lassalle bezüglichen Stellen, die Bernstein ausgelassen hatte. Die allgemeinen Ergebnisse der Mayerschen Veröffentlichung hat der Verfasser dieser Zeilen - nach Erscheinen des vierten B andes der sechsbändigen Aus­ gabe - zu analysieren versucht (Grünbergs Archiv, XI. Jahrg.). Er greift jetzt ein Spezialthema heraus, weil einige prinzipielle Gegensätze von Marx und Engels gegenüber Lassalle auf diesem Gebiet prägnanter zum Ausdruck kamen als in anderen Diskussionen und weil Marx und Engels hier - wegen der ästhetischen Veranlassun g - Gelegenheit hatten, sich über das Thema Kunst auszusprechen, über ein Thema, das sie sonst nur beiläufig berühren konnten und über das ihre Anschauungen noch bei weitem nicht vollständig bekannt und gewürdigt sind. Die eingehende Beschäftigung von Marx mit Problemen der Kunst und der 2'.sthetik ist allgemein bekannt. Wie auch die philologische Kritik seinen An­ teil am zweiten Teil der Bruno Bauerschen »Posaune« bestimmen mag, die Briefe dieser Zeit zeigen eine tiefdringende Arbeit an den Problemen der 2'.sthetik, die aber auch für die spätere Zeit hinreichend belegt ist. Die Art etwa, in der Marx einige Jahre nach der hier zu analysierenden Diskussion, in der brieflichen Kritik von Lassalles » System der erworbenen Rechte«, die französischen Dramatiker der Zeit Ludwigs XIV. behandelt1 , zeigt, wie stark sein theoretisches und historisches Interesse für diese Fragen geblieben ist. D as gilt besonders für die von uns behandelte Zeit. Der Briefwechsel über den » Sickingen « wird vom März bis zum Mai 1 8 5 9 geführt2, also unmittel-

l .i

Brief vom 2 2 . 7 . 1 8 6 1 , Bd. m, S. 3 7 5 , Mayers Ausgabe . Lassalle schreibt an Marx und Engels am 6. 3 ., Marx antwortet am 1 9 . 4., Engels am l 8 . 5 . Endlid1 ist Lass alles Replik vom 2 7. 5. datiert. Marx bezieht sich auf diesen Brief an Engels am 10. 6 .

Karl Marx und Friedrich Engels als Litera turhistoriker bar nach der Abhandlung »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, deren später veröffentlichte fragmentarische Einleitung zu den ökonomischen Stu­ dien dieser Periode eine der ausführlichsten Darlegungen Marxens über Asthe­ tik aus seiner späteren Periode bringt. Dazu kommt, daß wir aus den Jahren 1 8 5 7 und 1 8 5 8 ausführliche Exzerpte von Marx aus der Asthetik Fr. Th. Vischers besitzen, die ebenfalls eine intensivere Beschäftigung mit ästhetischen Problemen gerade in dieser Zeit bezeugent. Wenn Marx an Engels im zu­ letzt erwähnten Brief über den zweiten »Sickingen«-Brief Lassalles schreibt : » Unbegreiflich, wie ein Mensch in dieser Jahreszeit und unter diesen welt­ historischen Zuständen nicht nur selbst Zeit findet, solcherlei von sich zu ge­ ben, sondern uns sogar die Zeit zumutet, es zu lesen «, so bezieht sich - wie aus den späteren Ausführungen erhellen wird - die Bemerkung keineswegs auf die Beschäftigung Lassalles mit ästhetischen Fragen. Ihr Grund scheint uns darin zu liegen, daß Marx nunmehr die Debatte mit Lassalle für völlig unfruchtbar und zwecklos hielt, da Lassalle in allen wichtigen politischen, historischen und weltanschaulichen Fragen unbelehrbar blieb. Ja, im Laufe der Debatte treten die gefährlichen Folgen seines Standpunktes noch offener zutage als früher. Freilich geschieht das nicht zum erstenmal. Aber die Ande­ rung des Tones von den - bei aller scharfen Kritik - ziemlich herzlichen ersten Antwortbriefen von Marx und Engels auf »Sickingen«, die viel weni­ ger » diplomatisch« gehalten sind als der vorhergehende Brief von Marx über »Heraklit2«, zu der zitierten Bemerkung ist so schroff, daß es der Mühe wert erscheint, ihrer Ursache und ihrer Bedeutung nachzugeben. Alle diese Gründe scheinen uns eine nähere Beschäftigung mit diesen Briefen zu rechtfertigen, wobei selbstverständlich das Hauptgewicht auf dem Zu­ sammenhang des ästhetischen Teiles der Debatte mit den politischen und weltanschaulichen Streitpunkten liegen muß. Eine systematische Untersu­ chung der ästhetischen Anschauungen des reifen Marx ist nicht unsere Auf­ gabe, nicht wegen ihrer Unwichtigkeit, sondern weil die Frage noch zu wenig erforscht ist : bis jetzt wurden noch nicht einmal sämtliche Außerungen von Marx und Engels über dieses Thema zusammengestellt und auf ihre inneren 1 Wir wollen noch beiläufig erwähnen, daß 1 8 5 7 Marx von Dana den Auftrag er­

hielt, für die »New American Encyclopaediac einen Artikel über Ästhetik zu schreiben. In den Briefen vom 2 3 . 5 . und 2 8 . 5 . 1 8 5 7 spotten Marx und Engels über Danas Zumutung, auf einer Seite die Ästhetik abzumachen (Bd. 11, S . 1 9 5 bis 1 9 6). Der Artikel i n der Encyclopaedia stammt auch keinesfalls von einem der beiden. 2 3 1 . 5 . 1 8 5 8 , Bd. m, S. 1 22-1 2 3 .

Die Sickingendebatte

Beziehungen und auf ihre Stellung im System untersucht. Wir wollen diesen notwendigen Untersuchungen auf der Grundlage des gedruckten und unge­ druckten Materials nicht vorgreifen, und wir werden die allgemein ästheti­ schen Anschauungen von Marx und Engels nur so weit heranziehen, als es für unser enger begrenztes Thema unbedingt nötig ist.

1

Der S tandptmkt Lassalles

Am 6. März 1 8 5 9 schickt Lassalle seinen »Sick.ingen« mit Vorwort und mit einem Manuskript über die tragische Idee im »Sickingen« an Marx und En­ gels. Beide enthalten die programmatischen Gesichtspunkte Lassalles : das erste, für die Öffentlichkeit bestimmte Vorwort stellt das ästhetische Problem in den Vordergrund und behandelt die dem Drama zugrunde liegende histo­ risch-politische Frage nur als Stoff. Das zweite, für Lassalles engere Freunde bestimmte Manuskript rückt die politisch-historischen Probleme energischer in den Vordergrund und behandelt die ästhetischen Fragen (das Tragische, Form des Dramas) im Zusammenhang mit ihnen. Lassalles »Sick.ingen« sollte - nach den Absichten des Verfassers - die Tragödie der Revolution werden. Der tragische Konflikt, der nach Lassalles Ansicht jeder Revolution zugrunde liegt, ist der Widerspruch zwischen der »Begeisterung« , dem » unmittelbaren Zutrauen der Idee in ihre eigene Kraft und Unendlichkeit«, und der Notwendigkeit einer » Realpolitik« . Lassalle formuliert diese Frage mit Absicht von vornherein so abstrakt wie nur mög­ lich. Aber gerade dadurch gibt er der Frage - unbeabsichtigt - von vorn­ herein eine eigentümliche inhaltliche Wendung. Das Problem der »Realpoli­ tik, mit den gegebenen endlichen Mitteln zu rechnen« , erhält nämlich folgenden Inhalt: » Die wahren und letzten Zwecke der Bewegung andern geheimzu­ halten und dttrch diese beabsichtigte Täuschung der herrschenden Klassen (von uns in Schrägschrift gesetzt) , ja durch die Benützung dieser, die Möglichkeit zur Organisierung der neuen Kräfte zu gewinnen1 . « Dementsprechend muß das Gegenbild, die revolutionäre Begeisterung, eine ebenso abstrakte und ebenso eigenartige Formulierung erhalten, indem sie in Gegensatz zur Klugheit gebracht wird. An der » Klugheit« sind die meisten Revolutionen gescheitert und » das Geheimnis der Stärke der äußersten Parteien« beruht gerade darauf, »den Verstand beiseite zu setzen« . Es ist also, » als ob ein unlöslicher Widerspruch I

Bd. 111, s.

151.

Ka rl Marx und Friedrich Engels als Literatttrhistoriker

zwischen der spekulativen Idee, welche KraA: und Begeisterung einer Revolu­ tion ausmacht, und dem endlichen Verstand und seiner Klugheit bestünde1 « . Dieser ewige objektive dialektische Widerspruch lag - nach Lassalle - auch der Revolution von 1 8 4 8 zugrunde ; diesen Widerspruch will Lassalle in seinem Drama gestalten. Also die Tragödie der Revolution. Die »tragische Kollision « ist » eine formale « , wie Lassalle die Frage in seinem zweiten Brief polemisch gegen Marx und Engels formuliert2 : » nicht einer be­ stimmten Revolution spezifisch-eigentümliche, sondern eine bei allen oder fast allen gewesenen und zukünftigen Revolutionen stets wiederkehrende (das eine Mal überwunden, das andere Mal nicht) Kollision, daß sie, mit einem Wort, die tragische Kollision der revolutionären Situation selbst in den Jahren 1 84 8 und 49 da war wie 1 792 usw. « Daraus folgt der Widerspruch von Zweck und Mittel, der für diesen Typus des von Lassalle geschilderten Revolutionärs zur Tragödie führen muß ; man »stellt sich auf das Prinzip des Gegners und erklärt sich somit schon theoretisch für geschlagen«. Die von Hegel und Aristoteles erkannte dialektische Einheit von Zweck und Mittel wird zerrissen, aber es »kann jeder Zweck nur durch das seiner eigenen Na­ tur Entsprechende, und darum also können revolutionäre Zwecke nicht durch diplomatische Mittel erreicht werden«. Die Klugheit, das d iplomatische Rechnen in der Revolution muß scheitern. »Es muß also zuletzt kommen, daß solche Revolutionsrechner statt die getäuschten Gegner nicht vor sich und die Freunde hinter sich zu haben, zuletzt umgekehrt die Feinde vor sich und die Anhänger ihres Prinzips nicht hinter sich haben3. « Aus dieser Auffassung der Revolution folgt Lassalles ganze Konzeption des Tragischen, der dramatischen Form und des S tils. Die Auffassung selbst, die wir hier möglichst in Lassalles eigener Formulierung wiedergegeben haben, beruht klassenmäßig auf der Selbstkritik, die die äußerste Linke der bürger­ lichen Demokratie auf Grund der Erfahrungen der Revolution von l 8 4 8 üben konnte und mußte. Lassalle, der hier der spekulativen Selbsttäuschung verfällt, den Konflikt der Revolution selbst gefunden zu haben, wird zum Sprachrohr des schmalen äußersten linken Flügels der deutschen bürgerlichen Demokratie, der darauf gehofft hat, eine bürgerlich-proletarische demokra­ tische Einheitsfront gegen die » alten Mächte« aufzurichten und mit ihr eine •





s. I 5 2 · 2. Bd. III, s. 1 87. 3 Bd. u, S. 1 5 2-1 5 3 (Auszeichnungen in Zitaten, wenn nichts Gegenteiliges ver­ merkt, immer vom jeweiligen Verfasser.) I Bd. III,

Die Sickingendebatte ernsthafte bürgerliche Revolution durchzusetzen. Diese Bestrebung, die sich freilich - wie wir später zeigen werden - bei Lassalle schon hier mit ande­ ren, entgegengesetzten Absichten kreuzt, bildet die Grundlage seines »Sy­ s tems der erworbenen Rechte«, ist das Motiv, das überzeugte Demokraten vom Typus Franz Zieglers zu Lassalle zieht ; die Enttäuschung über ihre Un­ durchführbarkeit bildet ein Grundmotiv seines späteren »Torychartismus«, seines erbitterten und einseitigen Kampfes gegen die industrielle Bourgeoisie, bei Vernachlässigung des Kampfes gegen den halbfeudalen Grundbesitz und seine politischen Exponenten in Preußen, ja sogar in bewußt-unbewußtem Bündnis mit ihnen. Kurz gefaß t : nach dieser Anschauung ist die Revolution von 1 8 4 8 an der »Klugheit«, an der »Diplomatie«, an dem »staatsmännischen Verhal­ ten« der Führer gescheitert. »Sickingen« soll die Tragik dieses Scheiterns, als Tragik aller Revolutionen, in der dichterischen Gestaltung aussprechen. Durch diese geschichtsphilosophisch-politische Fragestellung sind die ästheti­ s chen Probleme des » Sickingen « bedingt, seine einzigartige Stellung in der Entwicklung des modernen Dramas. Lassalle steht zwar in vielen wesentli­ chen ästhetischen Fragen durchaus auf dem Boden des zeitgenössischen deut­ schen Dramas und seiner Theorie (unter dem starken Einfluß der Philosophie von Kant bis Hegel) . Er selbst ist sich auch dieses Zusammenhanges vollstän­ dig bewußt. Im Vorwort zum »Sickingen« legt er ein klares Bekenntnis die­ s er Zusammengehörigkeit ab : » I ch setze den Fortschritt, den das deutsche Drama mit Schiller und Goethe über Shakespeare hinaus gemacht hat, da­ hinein, daß diese, zumal Schiller, das historische Drama im eigenen Sinne erst geschaffen haben l . « Er sucht also, allerdings im Gegensatz zu Hegel selbst, im weitgehenden Einklang jedoch mit den 2\sthetikern und Dichtern des Nachhegelianismus, einen Typus des Dramas, der als selbständige Form neben Antike und Shakespeare (der b ei Hegel die Krönung des »modernen« Typus im Gegensatz zur Antike ist) bestehen kann, ja gewissermaßen als dritte Periode des Dramas über Antike und Shakespeare hinausführt2• Und Lassalle S. 1 3 3 (Ausgabe Cassirer) .

I

Werke, B d.

2.

Wir müssen uns hier mit einigen A n deutun gen begnügen, verweisen also bloß au f

1,

Vischers Asthetik, die als Au fgabe des modernen D ramas eine Vereinigung von Antike und Shakespeare bestimmt (Asthetik,

§ 908, Bd.

III, S.

1 4 1 7) . D ieses P ro­

g ramm steht in voller Übereinstimmu ng mit der programmatischen Erklärung Fr. Hebbels im Vorwort von » Maria Magdalena«, daß i m Gegensatz zu Antike u n d Shakesp eare das mit Goethe einsetzende n eue Drama die » D ialektik unmit­ telbar in die Idee s elbst hinein geworfe n « hat. Solche Beispiele ließen sich beliebig häu fen .

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker

selbst erblickt dieses Neue an der von Schiller eingeleiteten Entwicklung darin, daß »es sich in einer solchen Tragödie nicht mehr um die Individuen als solche handelt, die vielmehr nur die Träger und Verkörperungen dieser tiefinnersten kämpfenden Gegensätze des allgemeinen Geistes sind, sondern nur Schicksale, welche über das Wohl und Wehe des allgemeinen Geistes ent­ scheiden« t . Die Entwicklung muß aber über Schiller hinausgehen, denn »bei Schiller selbst sind die großen Gegensätze des historischen Geistes nur der Boden, auf welchem sich der tragische Konflikt bewegt. Was auf diesem historischen Hintergrunde als die eigentliche dramatische Handlung hervortritt und ihre S eele bildet, ist doch wieder . . . das rein individuelle Geschick2. « Der Zusammenhang dieser Gedankengänge mit der allgemeinen Entwicklung der bürgerlichen Klasse, besonders mit der Problementwicklung in der klassi­ schen deutschen Philosophie, ist zu augenfällig und bekannt, um hier ausführ­ lich behandelt werden zu müssen. Betont muß nur werden, daß sich Lassalles Fragestellung in den entscheidenden Punkten wesentlich von der seiner Zeit­ genossen unterscheidet, die mehr oder weniger b ewußt, freilich von verschie­ denen Klassenstandpunkten aus, die Auflösu ng des Hegelianismus mitma­ chen. Es handelt sich bei allen diesen Denkern und Dichtern des vierten und fünften Jahrzehnts darum, die Entstehung und Weiterentwicklung der bür­ gerlichen Gesellschaft gedanklich zu fassen o der dichterisch zu ges talten, die Widersprüche, die durch die wirtschaftliche Entwicklung entstehen, aber nicht als solche begriffen werden, in einem System (oder einem Kunstwerk) zur Versöhnung zu bringen. Wir betonen die Wichtigkeit der Kategorie der » Ver­ söhnung« nicht nur, weil sie schon bei Hegel selbst eine Hauptquelle der inneren Widersprüche des Systems war, nicht nur, weil diese Frage - ver­ ständlicherweise - auch bei den nachhegelschen Denkern keine Antwort fand, ja bei jedem Lösungsversuch noch dringlicher wurde, zu Rückfällen in subjektiven I dealismus, Eklektizismus, Relativismus, Empirismus führte, sondern vor allem deshalb, weil hierbei der Klassensinn der ganzen ästheti­ schen Fragestellung klar zutage trat. Und zwar insofern, als die b eiden Anti­ nomien, die den neueren Dramatikern und Ästhetikern vorlagen, die Antino­ mie von Freiheit und Notwendigkeit und die von Individuum und Gesell­ schaft, deren Wichtigwerden und deren konkreter Inhalt gesellschaftlichen

I

Wk., Bd. 1, s. I 3 4 ·

2 Wk., Bd. 1 , S. 1 3 3 . Sehr ähnlich Hebbel über Goethe, daß dieser » die große Erb­

schafl: der Zeit wohl angetreten, aber nicht verzehrt« hat (a .

a.

0.).

Die Sickingendebatte

Ursprung haben, auf diese Weise zu »zeitlosen « Problemen mystifiziert wurden und eine »Lösung« fanden, die die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft nicht in Frage ziehen durfte. Alle Debatten, die um Hegel und nach Hegel in der Frage der »tragischen Schuld« geführt wurden, drehen sich letzten Endes um diese Frage, und ihre Beantwortung, die über Aufbau und Stil der Tragödie entscheidet, beleuchtet am klarsten den Punkt, an dem der betreffende Denker klassenmäßig steht. Hegel selbst, bei dem einerseits die inneren Widersprüche der bürgerlichen Klassenentwicklung - wenn auch überwiegend in i deologischer Fassung klar hervortreten, der anderseits am entschiedensten diese Entwicklung und mit ihr die konkrete Gegenwart bejaht, hebt energisch das ganze Problem Schuld-Unschuld auf. Man muß » di e falsche Vorstellung von Schuld und Un­ schuld beiseite lassen «. Im Sinne eines freien Willens, unter der Vorausset­ zung, die Helden der Tragödie hätten eine Wahl gehabt, sind sie unschuldig. Ihre Notwendigkeit, ihr P athos trieb sie zu den »schuldvollen Taten. An diesen nun wollen sie gar nicht unschuldig sein. Im Gegenteil : was sie getan, wirklich getan zu haben, ist i hr Ruhm . . . Es ist die Ehre großer Charaktere, schuldig zu sein t . « Freilich ist diese Auffassung - deren Zusammenhang mit der Geschichtsphilosophie Hegels ganz offensichtlich ist - auf die griechische Tragödie orientiert; in der »Phänomenologie« allerdings noch ausgespro­ chener und klarer als in der »Asthetik « selbst. Aus der Stellung, die Hegel der Kunst in der Gesamtentwicklung zuweist, folgt, daß die ganze moderne Kunst, ja schon die »romantische« Kunst als Auflösung der Kunst, als Aufhebung der I dee der Kunst in Religion bzw. Philosophie erscheint2• Auch die Schuldfrage, die Frage von Freiheit und Notwendigkeit in der modernen Dichtung erscheinen also in Hegels Asthetik als Auflösungsformen der ur­ sprünglichen, klassischen griechischen Fassung; die eigentlichen angemessenen Formu lierungen der Probleme, die diesen ästhetischen Fragen nach Hegel objektiv zugrunde liegen, kann Hegel demzufolge nur in seiner Geschichts­ philosophie und Rechtsphilosophie geben. Die nachhegelsche Asthetik geht in dieser Frage von dem entgegengesetzten S tandpunkt aus : ihr Bestreben geht gerade darauf aus, die zeitgenössische Dichtung philosophisch zu rechtfertigen. Das hat einen tiefgehenden Umbau der Hegelschen Fassung der Probleme zur Folge. Denn obwohl die Absicht eine historische ist, ein - mehr oder weniger bewußter - Bruch mit dem 1 .itsthetik, 2 Vgl. ebd.

Wk. I o, 111. Bd., S. 5 5 2-5 5 3 . n.

Bd. S. 23 1 f.,

m.

Bd. S. 5 8 0 usw.

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker Hegelschen »Ende der Geschichte«, so zeigt sich der konkrete Ausbau gerade darin, daß Kategorien gesucht und scheinbar gefunden werden, die, mit be­ stimmten Variationen, auf alle Perioden der Geschichte der Kunst angewen­ det werden können. Während die Hegelschen Kategorien im Grunde genom­ men gedankliche Fassungen einer bestimmten Geschichtsepoche waren (in der »Phänomenologie« ist das klarer sichtbar als in der »Ästhetik «) und darum in ihrem Aufbau und Zusammenhang die inhaltlichen Bestimmungen dieser Geschichtsepoche an sich tragen, führt der Weg der nachhegelschen Ästhetik zu einer formalistischen Auffassung der ästhetischen Probleme. Freiheit über­ haupt soll der Notwendigkeit überhaupt gegenüberstehen ; die Lage des Men­ schen in der Geschichte, des Individuums in der Gesellschaft soll bestimmt werden. Damit aber klaffen die bei Hegel noch irgendwie zusammengehalte­ nen Prinzipien schroff auseinander. Daß methodologisch sowohl das histo­ risch-inhaltliche Prinzip (die positive Erfassung des Spezifisch-Modernen) wie das formalistische Prinzip (über-historische Kategorien, die alle Perio­ den und Formen in gleicher Weise umfassen) überspannt werden müssen, hat zur Folge, daß in den Einzelausführungen die dialektisch gemeinten Kategorien ebenfalls schroff, einseitig, unvermittelbar auseinandertreten. Es entsteht eine Zweiheit des abstrakten Form alismus und des empirischen Positivismus. Im Einzelfalle - also hier im Drama - wird auf der einen Seite die Notwendigkeit in eine ans Mystische grenzende, oft (z. B. bei Hebbel) direkt ins Mystische verfallende Abstraktheit erhoben, während auf der anderen Seite das Individuum bis ins Genrehafte oder bis ins Patho­ logische hinein individualisiert wird. Den auf diese Weise zerrissenen Zu­ sammenhang müssen dann komplizierte, konstruierte, erklügelte oder mysti­ fizierte Vermittlungen wiederherstellen. Die dialektische Einheit von Frei­ heit und Notwendigkeit, ihre notwendige Zusammenbewegung im bewegten Widerspruch, die bei Hegel oft - freilich nicht immer und überall - vor­ handen war, geht verloren und muß durch »Ethik« oder » Psychologie« ersetzt werden. Die Grundlage dieser ganzen Umschichtung der ästhetischen Fragestellun gen bildet die Notwendigkeit, zur Revolution als zu einer herannahenden aktu­ ellen Frage Stellung zu nehmen. Hegel konnte die Revolution - die Große Französische Revolution - als Voramsetzung der Gegenwart, als Vergan­ genheit behandeln. Es ist für ihn deshalb möglich, konkret jene Zusammen­ stöße aufzuzeigen, die die Revolutionen hervorriefen und die von ihnen her­ vorgerufen worden sind, und er kann so die Versöhnung, die gegenseitige Aufhebung der widerstreitenden Grundsätze als konkreten Weltzustand

Die Sickingendebatte fassen1• Es konnte also die Bejahung der vergangenen Revolution mit der Bejahung des gegenwärtigen Zustandes vereint werden (eine Analyse der inne­ ren Widersprüche der Hegelschen Position selbst gehört nicht hierher) . Ganz anders sieht es aus, wenn die Revolution als aktuelles , gegenwärtiges Problem vor den Denkern und Dichtern steht. Da die Frage historisch konkret gestellt ist, bedeutet jede Abstraktion in der Methode und der Beantwortung der Einzelfragen ein Amweichen vor dem konkret geschichtlichen Problem. Und zwar desto schärfer, je konkreter die Frage gestellt ist. Am klarsten zeigt sich das bei Fr. Th. Vischer, dem bedeutendsten nachhegelschen Asthetiker. Es be­ deutet ohne Zweifel einen Schritt über Hegel hinaus, wenn Vischer die Revo­ lution als das eigentliche Thema der Tragödie bcstimmt2. Dieser eine Schritt nach vorwärts wird aber sogleich rückgängig gemacht, ja Vischer fällt sogar hinter Hegel zurück, wenn er unter Revolution den »Steten Gegensatz des freien Fortschritts und des notwendig Bestehenden, des jugendlichen und des Hemmenden « versteht. Denn daraus folgt, daß bei ihm Antigone, Tasso, Wallenstein, Götz unterschiedslos als »Revolutionäre« nebeneinandergestellt werden, daß jede Auflehnung gegen das »Bestehende« unter die Kategorie der »Revolution« fällt, selbst wenn sie vom Prinzip d es Alten ausgeht (An­ tigone, Götz). Anderseits zwingt dieselbe erweitert abstrakte Fassung des Problems Vischer dazu, sein gemäßigt-liberales Herz zu enthüllen. Er sagt : Von den beiden Prinzipien ist »das tiefere Recht aber, weil die sittliche Idee absolute B ewegung ist, auf der ersten Seite« (der Seite des Neuen) . Jedoch : »das B estehende hat auch sein Recht. Das Wahre liegt in der Mitte • . . Erst die weite Zukunft . . . bringt die wirksame Vermittlung herbei3. « Hat diese Theorie in ihrer Entstehungszeit noch den Charakter einer wenn auch ge­ mäßigten, so doch bürgerlich-revolutionären Anschauung, so verwandelt sie 1 Am lehrreidtsten hierfür gerade die »Phänomenologie«, in der die Tragödie die »Entvölkerung des Himmels « vollendet, der Kampf der Philosophie gegen die Götter beginnt. (Ausgabe Phil. Bibi., S. 476.) Noch klarer sind diese Gedanken im Kapitel »Der wahre Geist, die Sittlidtkeit« (ebd. S. 2. 8 8 ff.) ausgesprochen, wo das tragische Zeitalter als notwendiges Vorspiel zum »Redttszustand« er­ scheint. 2. Ästhetik, § 1 3 6, Bd. 1, S. 3 1 5-3 1 6 (die Stelle ist audt von Marx exzerpiert). 3 Vgl. .i\sthetik, § 374, Bd. II, S. 2. 87, wo er es »begreiflidt« findet, daß das » ästhe­ tische Interesse sich mit Vorliebe an die Opfer der Revolution, Adel und Thron, usw . . . . wendet . . . Die Revolution soll nach dem Mißlingen ihres ersten ab­ strakten Durchb rudts sich mit der Natur und der Überlieferung vermitteln . . . natürlich wadtsen, und erst der künftige Baum, der so gewadtsen, verspricht Schön­ heit« . .



.

4 70

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker

sich im Laufe ihrer Konkretion und Ausführung in einen rein ästhetischen Rechtfertigungsversuch der » modernen« Dichtung, wobei das Formal-Asthe­ tische zum entscheidenden Moment wird und das bürgerlich-revolutionäre Prinzip ganz im gemäßigten Liberalismus verblaßt. Die Grundlagen dieser Wandlung sind aber selbstverständlich bereits in der ursprünglichen Anlage vorhanden. Noch schärfer tritt der reaktionäre Klasseninhalt des formali­ stischen Revolutionsbegriffes bei dem bedeutendsten Dramatiker dieser Zeit, bei Hebbel, zutaget. Wenn nach seiner Theorie die Tragödie und besonders die moderne Tragödie die Aufgabe hat, » die Geburtswehen der um eine neue Form ringenden Menschheit « darzustellen, so ist der I nhalt und d as Ziel dieser Darstellung : »Die dramatische Kunst soll den welthistorischen Prozeß, der in unseren Tagen vor sich geht und der die vorhandenen Institutionen des menschlichen Geschlechts, die politischen, religiösen und sittlichen, nicht umstürzen, sondern tiefer begründen, sie also vor dem Umsturz sichern will, beendigen helfen3 . « Damit haben wir die allgemeinsten ästhetisch-philosophischen Umrisse der literarischen Strömungen gezeichnet, zu denen Lassalles »Sickingen« gehört. Wenn wir eingangs hervorgehoben haben, daß Lassalles Drama einerseits in seinen wesentlichen Elementen auf dem Boden dieser Strömungen steht, an­ derseits jedoch eine ganz eigenartige Stellung zu ihnen einnimmt, so haben wir nur scheinbar etwas Widerspruchsvolles behauptet. Lassalle hat die Pro­ blemstellung, den Ausgangspunkt, mit diesen Strömungen gemein, geht in einer Reihe von entscheidenden methodischen Fragen kaum über sie hinaus (ja, er knüpft - wie wir sehen werden - eher an ältere Strömungen an), aber er unterscheidet sich von allen anderen darin, daß er dem formalen Be­ griffe der Revolution, als Grundlage der modernen Tragödie, eine revolutio­ näre Wendung zu geben versucht, d. h. er stellt sich im Kampf des » Alten« und des »Neuen« vorbehaltlos auf die Seite d es Neuen. Das hat verschie­ dene neue Wendungen in der Problemstellung zur Folge, die jedoch, da die Grundlage der ganzen Problemstellung von Lassalle nicht erneuert wird, I

Die Heranziehung Hebbels zur Charakterisierung des allgemeinen ästhetisch-phi­ losophischen Ausgangspunktes von Lassalles Auftreten als Tragiker rechtfertigt sich schon dadurch, daß bereits mehreren, vor allem Mehring, eine gewisse Ver­ wandschaft - wenn auch von entgegengesetzten Ausgangspunkten - ihrer Be­ handlung des Zusammenhanges von Tragödie u nd Revolution aufgefallen ist. Vgl. Mehring über Hebbels » Gyges « und Lassalles » Sickingen «, Wk„ Bd. n , S. 4 8 . 2 A. a. O.

Die Sickingendebatte

47 1

nur dazu führen, daß die Widersprüche bei ihm noch schroffer ausein­ anderklaffen als bei den anderen. Denn die Betonung der Höherwertigkeit des »Neuen « (des »revolution ären Prinzips«) nicht bloß vom Standpunkt der welthistorischen Idee, was ja Vischer auch tut, sondern als » ästhetische Idee« des Dramas, also die konkrete Zentralstellung des »revolutionären Prinzips « muß Lassalle zu dem Versuch führen, die konkreten gesellschaft­ lich treibenden Kräfte des tragischen Kampfes konkreter zu gestalten, als es seine Zeitgenossen tun, die sich mit dem »Bestehenden« in sehr abstrakter Form o der in mystifizierter Konkretheit begnügen konnten. Anderseits mußte ihn dieselbe Tendenz dazu führen, in den konkreter gefaßten Menschen und gesellschaftlichen Verhältnissen bloße Träger, Repräsentanten, Sprachrohre der » weltgeschichtlichen Idee« zu sehen und zu gestalten. Dieser Wider­ spruch, der zu einem dialektisch fruchtbaren Widerspruch führen könnte, wenn bei ihm die konkrete Beziehung von Mensch und Klasse der wirkliche Ausgangspunkt wäre, schlägt durch Lassalles Idealismus in eine abstrakte Antinomie um, weil er » die I dee der Revolution « in die konkreten Men­ schen und Beziehungen hineinträgt, statt die wirklich konkrete dialektische Beziehung aus ihnen herauszuentwickeln, weil er also ihre Konkretheit zu­ gleich setzt und aufhebt. Vom revolutionären Drang seines Ausgangspunktes aus kommt Lassalle zu einer berechtigten Ablehnung der dramatischen Genre­ malerei seiner Zeit, der breiten Vertiefung in die gedanken- und wesenslose Besonderheit des zufälligen Charakters. Er entgeht aber der von ihm selbst gesehenen » Klippe«, »einer abstrakten und gelehrten Poesie zu verfallen«, keineswegs, wenn er das Historische, »durchaus nicht in dem historischen Stoff« selbst erblickt, sondern darin, daß sich hier »der innerste welthistorische Gedanke und Gedankenkonflikt einer solchen Wendeepoche . . . entfaltet1 «. Aus diesem Grunde geht Lassalle - trotz seiner bereits angeführten Vorbe­ halte - auf Schiller zurück. Da es ihm von dort aus unmöglich gelingen konnte, die Einheit des Allgemeinen und Besonderen in Gestalten und Fabel als Einheit von Individuum und Klasse, Einzelgeschick und historischem Klassenschicksal zu fassen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu versuchen, die unüberwundene Antinomie des Einzelnen und Allgemeinen durch ein rhetorisch-ethisches Pathos zu überbrücken. Diese Art der Überbrückung, also die Rückkehr zum Posa-Pathos Schillers, mag der mystifizierenden Psy­ chologie der reaktionären Zeitgenossen noch so überlegen sein, kann jedoch nicht einmal eine reale Gestaltung bürgerlich-revolutionärer Zusammenhänge I

Wk„ Bd. 1, s. 1 3 5 .

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker

472

bieten. Es ist ja kein Zufall, daß dieser S til nicht auf dem Boden der bürger­ lichen Revolutionen selbst, also in Frankreich oder England, sondern auf dem ihrer ästhetischen Spiegelung, in Deutschland, entstanden ist. Er gestaltet von vornherein die großen geschichtlichen Gegensätze als Rededuelle der führen­ den »welthistorischen Persönlichkeiten«, von deren »Willen« oder » Ent­ schluß « usw. das Schicksal der Entwicklung abhängen soll. Der Idealismus dieses Stils hängt also - bei Schiller ist das besonders in der Posa-Zeit deut­ lich - mit der Vorstellung einer »Revolution von oben«, eines »aufgeklär­ ten « Monarchen stark zusammen. Lassalles stilistischer Rückgriff auf Schiller ist jedoch keineswegs bloß formal, wenn Lassalle selbst auch von dieser Illu­ sion erfüllt ist. Es steckt vielmehr in der ganzen Fabel und so in seiner gan­ zen Geschichtskonzeption ein solches Rechnen mit einer »Revolution von oben«. Die entscheidende Szene im zweiten Akt zwischen Sickingen und Kai­ ser Karl v.1 enthält den Versuch Sickingens, den Kaiser für seine Zwecke zu gewinnen, die im Laufe der formal an den Dialog Posa-Philipp erinnern den Szene erkennbar werden : Karl solle in Deutschland eine Revolution » eng­ lischen« Typus' durchführen. Freilich glaubt Lassalle hoch über dieser Illu­ sion seines Helden zu stehen. Sieht er doch die »tragische Schuld« seines Hel­ den gerade in diesem »listen « mit der » I dee der Revolution« . Die Selbst­ täuschung Lassalles zeigt sich jedoch gerade darin, daß er - schillerisch hier eine »tragische Schuld« sieht. Er geht nicht von den objektiv-klassenmä­ ßigen Bedingungen aus, d. h. der Charakter Sickingens z. B. entsteht nicht als der des Repräsentanten einer bestimmten Klasse, sondern das objektiv-klas­ senmäßig Bedingte ist bloßer Hintergrund, von dem sich die Dialektik der » I dee der Revolution« selbständig abheben soll. Durch diesen idealistischen Ausgangspunkt werden die Charaktere der Dramen » freigesetzt« . Wie sie im Dialog die » I deen« nunmehr bloß rhetorisch vortragen können (statt sie durch ihre Handlungen zu gestalten), werden ihre Verknüpfungen miteinan­ der, mit ihrer Klasse, mit der Fabel zu » freien« Taten : zu Gegenständen der Ethik. Lassalle ist also gezwungen, sowohl theoretisch wie praktisch hin­ ter Hegel zurückzugehen und die Aristotelessche » tragische Schuld« zu er­ neuern2. In der Verteidigung von Sickingens Charakter kämpft Lassalle um

1 Bd.

I,

S. 1 9 5 ff. (vgl. besonders S. 20 5 -206.) 2 Wie in vielen Fragen, so auch hier, meint Lassalle auf orthodox hegelschem Boden zu stehen. Vgl. seine Diskussion mit Adolf Stahr über Aristoteles und die tra­ gische Schuld. (Lassalles Brief in »Deutsche Revue« 1 9 1 1 , November. Stahrs Ant­ wort in Mayers Ausgabe der Lassalle-Briefe, Bd. II, S. 1 4 r .) In der Diskussion

Die Sickingendebatte

4 73

die These, daß Sickingens »Schuld« nicht bloß » ein intellektueller Irrtum«, sondern zugleich - und auch als intellektueller Irrtum - eine sittliche Schuld sei. »Denn sie entspringt gerade aus einem Mangel an Zutrauen an die sitt­ liche I dee und ihre an und für sich seiende unendliche Macht, und einem Übervertrauen an die schlecht endlichen Mittel 1 . « D e r Zusammenhang zwischen dem sowohl theoretisch-ästhetischen wie dra­ matisch-kompositionellen Problem der »tragischen Schuld«, zwischen dem Schillerschen ethisch-rhetorischen Stil und der abstrakt-idealistischen (und darum moralisierend, nicht politisch gestellten) Frage von »Realpolitik« und » Kompromissen « anderseits ist offensichtlich. Weil Lassalle die Frage der » Realpolitik«, der » Kompromisse« nicht klassenmäßig-inhaltlich, sondern geschichtsphilosophisch-/ormell stellt, versperrt er sich selbst jede andere Lösung als die »ethische � . Wenn die »Prinzipien« des »Alten« und des »Neuen « schroff und unvermittelt einander gegenüberstehen, kann die Frage, die bei jedem konkreten Klassenkampf auftaucht, wie man durch Kompromisse schwankende Klassen als Verbündete gewinnen oder neutralisieren kann, überhaupt nicht gestellt werden. Jedes Abweichen von der direkten Verwirklichung des letzten Zieles (des »Prinzips«) wird nun »Verrat« an der » Idee«, verwickelt den Hel­ den in die » tragische Schuld«. Der Unterschied zwischen Gemäßigten und Radi­ kalen, zwischen Girondisten und Jakobinern wird zum moralischen Problem2, wobei freilich Lassalle übersehen muß, daß die Jakobiner gelegentlich ebenso » Kompromisse« geschlossen haben wie die Girondisten - nur von anderem klassenmäßigen Ausgangspunkt, also mit anderen Klassen, mit anderem Inhalt. Daraus folgt natürlich, daß er sich das Problem sowohl der Bauernkriege wie der Revolution von 1 84 8 auch nur unter diesem Gesichtspunkt vorstellen kann. Auf eine ganze Reihe von ästhetischen und geschichtlich-politischen Wider­ sprüchen, die aus dieser Stellung Lassalles folgen, werden wir noch ausführ­ licher zu sprechen kommen. Vorläufig muß nur noch festgestellt werden, wie stark und organisch Lassalles Stilfrage, eine Tragödie Schillerschen Stiles, auf beruft sich Lassalle stets auf Hegel, obwohl die von ihm angeführte, von uns weiter oben ebenfalls zitierte Stelle in schroffem Widerspruch zu seiner ganzen The orie steht. Es ist nicht der einzige Fall, wo Lassalle gezwungen ist, subjektiv­ ethische Elemente in Hegel hineinzuinterpretier en, Hegel zu fichteisieren, obwohl er bewußt, wie seine Polemik gegen Rosenkranz zeigt, gegen diese Bestrebungen gekämpft hat. 1 B riefwechsel, Bd. m , S. I 5 4 · 2 Ebd., Bd. m , S. 1 5 3 . Daß hier eine der ideologischen Grundlagen der » einheit­ lichen reaktionären Masse« liegt, ist klar.

4 74

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der Grundlage der » tragischen Schuld« komponiert, die die dialektischen Widersprüche der » Idee der Revolution« zum Thema hat, mit seiner ein­ gangs skizzierten politisch-historischen Fragestellung zusammenhängt. Wenn Lassalle die »Selbstkritik « der Revolution von 1 84 8 als » tragische« Kritik der Revolution überhaupt auffaßt, wenn er demzufolge in der zögernden, feilschenden, zu »klugen« »Realpolitik« die typische »tragische Schuld « der Revolutionäre erblickt, so bedingt diese abstrakt-formale Fragestellung nicht bloß, wie wir gesehen haben, den ganzen ästhetischen Charakter, den künst­ lerischen Gehalt seines Dramas, sondern sie hängt zugleich mit dem politi­ schen Inhalt seiner ganzen Stellung eng zusammen. Das Problem der » Real­ politik« wird von den Klassenkämpfen der Revolution von I 8 4 8 , vor allem vom Kampfe zwischen Bourgeoisie und Proletariat gelöst, und damit wird von vornherein jede wirkliche Stellungnahme zu den Problemen der bürger­ lichen Revolution methodologisch unmöglich gemacht. Aber die Selbsttäu­ schung Lassalles, hier durch seine abstrakte idealistisch-dialektische S tellung­ nahme eine hohe Warte der Selbstkritik der Revolution bezogen zu haben, enthüllt sich nicht bloß in dieser Hinsicht als Selbsttäuschung. Sie ist vielmehr eine doppelte. Denn die Selbstverständlichkeit, die Kritiklosigkeit, mit der Lassalle diesen Ausgangspunkt zur Selbstkritik der Revolution von 1 84 8 wählt, die Art, wie er bei der Unmittelbarkeit eines radikal-bürgerlichen S tandpunktes ohne Einsicht in seine Klassenbedingtheit stehenbleibt, enthüllt zugleich, daß er sich die Revolution mit naiver Selbstverständlichkeit nur als »normale« bürgerliche Revolution vorzustellen imstande ist, daß er die hier von ihm gestellten Fragen der Revolution - unbewußt - vom bürgerlichen und nicht vom proletarischen Standpunkt stelltt.

II

Marx und Engels gegen die idealistische Ästhetik Lassalles

Wenn wir nun auf die Kritik des »Sickingen« von Marx und Engels, auf ihre Polemik gegen Lassalles Anschauungen zu sprechen kommen, so müßten wir vorerst ihre intimen Außerungen über dieses Thema mit den Briefen an Lassalle vergleichen. Leider läßt uns für eine solche Kontrolle, die beim

I

Diese Frage wird sich im Laufe der Diskussion über die Rolle der B auern weiter aufk lären. Die Enttäuschung Lassalles über die Aufnahme seines » System der erworbenen Rechte« bei Marx hat dieselbe Quelle. Vgl. besonders den Brief Las­ s alles an Marx vom 27. 8 . 1 8 6 1 (Mayer, Bd. m , S. 3 8 1 ).

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47 5

»Heraklit« und beim »System der erworbenen Rechte« möglich und auf­ schlußreich ist, der Briefwechsel von Marx und Engels im Stich. Marx und En­ gels kamen weder auf den ers ten Brief Lassalles noch auf ihre eigenen Ant­ worten untereinander zu sprechen. Die einzige Bemerkung, die sich - mög­ licherweise - auf dieses Thema bezieht, ist die Bemerkung von Marx im Brief vom 1 9 . 4 . 1 8 5 9 (Datum von Marx' Antwort an Lassalle) , in dem es heißt : »Ad vocem Lassalle morgen, wenn ich Dir überhaupt näher schreiben werdet . « Im nächsten, v o m 2 2 . 4 . datierten Brief ist aber Lassalle gar nicht erwähnt. Wir sind also auf die Analyse der Briefe selbst angewiesen. Wenn wir nun von ihrem verhältnismäßig herzlichen Ton und von der verhältnismäßig offe­ nen Kritik ausgehen, so müssen wir selbstverständlich berücksichtigen, daß zur Zeit dieses Briefwechsels die erste große Erschütterung des von vornherein nicht felsenfesten Vertrauens zu Lassalle2, die Denunziation Levis, bereits eingetreten war, daß Marx in dem »Heraklit« eine »posthume Blüte einer vergangenen Epoche« erblickt und das vollständig unkritische Verhalten Lassalles zur Hegelschen Dialektik mit vernichtender Schärfe kritisiert hattel, daß sich zudem auch die politischen Differenzen sowie die Spannungen bezüg­ lich der deutschen Publikation von Marx' und Engels' Werken zwischen ihnen bereits ziemlich stark zugespitzt haben. Um so mehr muß der Ton der Briefe, die kameradschaftliche Offenheit der Kritik auffallen, wenn man dabei auch berücksichtigen muß, daß Kritik einen Teil der komplizierten »Diplomatie« von Marx gegenüber Lassalle gebildet hat4• Trotzdem scheint es uns nicht angebracht, diese Briefe als rein diplomatisch auszulegen. Es ist z . B. auffallend, daß sich in einem Briefe Engels' die Wendung findet : »Im übrigen aber macht es mir und uns immer Freude, wenn ein neuer Beweis vorliegt, daß unsere Partei, auf welchem Gebiete auch sie auftritt, immer mit Überlegenheit auftritt«, eine Wendung, die ganz im Sinne der Marxschen intimen Einschätzung des »Heraklit« liegts. Wenn wir noch hinzufügen, daß

Bd. II, s. 379· Vgl. die Briefe von Marx aus 1 8 5 3 , B d. 1 , S. 4 5 6-4 5 7 und S. 4 5 9· 3 Bd. II, S. 2 5 9, 2 8 3 , auch Marx' Brief an Lassalle (Mayer, Bd. 111, S. 1 2 3 ) . 4 Vgl. den Brief a n Engels über »Heraklit « : » In einigen unscheinbaren Neben­ remarks - da das Lob doch durch tadelnde Schattierungen erst sich ernsthaft ausnimmt - habe ich einigermaßen das wirklich Mangelhafte leise, leise angedeu­ tet.« Bd. 11, S. 3 2 1 . 5 Mayer, Bd. 111, S . 1 8 4 . Die Briefstelle bei Marx lautet : »Lassalle ist, selbst sein He­ raklitos, obgleich hunzschlecht geschrieben, besser als alles, womit sich die Demo­ kraten rühmen können. « Bd. II, S. 366. I

z

Karl Marx und FriedridJ Engels als Literaturhistoriker Marx Lassalles Berliner Lage unmittelbar vor unseren Briefen so eingeschätzt hat, daß sein Bruch mit der linksbürgerlichen Demokratie unvermeidlich sei1 , so haben wir alle Ursache, anzunehmen, daß diese Briefe von Marx und Engels nicht bloße »Diplomatie « gewesen sind, sondern vom Bemühen erfüllt waren, Lassalle von der Unrichtigkeit seines Standpunktes zu überzeugen. Sowohl Marx wie Engels gehen denn auch in ihren Erwiderungen sofort an die Kernfrage heran. Marx lobt die Absicht Lassalles, eine dramatische Selbst­ kritik der Revolution von 1 84 8 zu schreiben : »Die beabsichtigte (von uns in Schrägschrift gesetzt) Kollision ist nicht nur tragis ch, sondern ist die tragische Kollision, woran die revolutionäre Partei von 1 84 8/49 mit Recht unterge­ gangen ist. Ich kann also nur meine höchste Zustimmung dazu aussprechen, sie zum Drehpunkt einer modernen Tragödie zu machen . « Diese Zustim­ mung schlägt jedoch sofort in die schärfste Kritik um. »Aber ich frage mich, ob das behandelte Thema passend zur Darstellung dieser (von uns in Schräg­ schrift gesetzt) Kollision war2 ? « Der Einwand von Marx scheint im ersten Augenblick ein rein ästhetischer zu sein, er enthält auch, wie wir sehen wer­ den, tatsächlich wichtige ästhetische Fragen : das Aufdecken der Widersprüche zwischen Thema und Stoff in Lassalles Drama. Es zeigt sich jedoch sogleich, daß es sich bei Marx und Engels vor allem um etwas ganz anderes h andelt. Die Übereinstimmung in bezug auf die »beabsichtigte« Kollision ist von vornherein eine bloß scheinbare : sie bezieht sich ganz abstrakt nur darauf, daß eine Kritik der Revolution von l 84 8 überhaupt wichtig und wünschens­ wert sei. Marx und Engels verstehen aber unter dieser Kritik, sowohl metho­ dologisch wie inhaltlich, etwas völlig anderes als Lassalle, weshalb auch der Einwand, daß das von Lassalle gewählte Thema nicht zur Darstellung » die­ ser« Kollision passe, nicht bloß ein ästhetischer Einwand ist, sondern die ganze Konzeption Lassalles in ihren Grundlagen trifft. Das hat Lassalle auch klar empfunden u nd in seiner Erwiderung ausgesprochen, indem er an Marx und Engels schrieb : »Eure Einwürfe reduzieren sich in letzter Analyse dar­ auf, daß ich überhaupt einen >Franz von Sickingen< und nicht einen >Thomas Münzer< oder eine andere Bauernkriegstragödie geschrieben habe3. « Hier liegt der Kern der Einwände von Marx und Engels. Sie polemisieren ge­ gen die Vorstellung Lassalles, Sickingens »Diplomatie« , also seine individu»Zugleich hat ihn sein Aufenthalt in Berlin überzeugt, daß mit der Bourgeoisie­ partei für einen energischen Kerl wie ihn nichts anzufangen ist.« Bd. u, S. 3 69 . .2 Bd. III, s. 173 . 3 Bd. III, s. 204. x

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4 77

elle » tragische Schuld« (sei sie nun intellektuell, sittlich oder beides) sei die Ursache seines Untergangs gewesen. Das, was Lassalle auf diese Weise um­ deutet, ist nichts anderes als notwendige Folge seiner objektiven Klassenlage. »Er ging unter«, schrieb Marxt, »weil er als Ritter und als Repräsentant einer untergehenden Klasse gegen das Bestehende sid1 auflehnte oder vielmehr gegen die neue Form des Bestehenden.« Damit ist sogleich, stillsdiweigend, mit einer Handbewegung die ganze Lassallesche Fragestellung von der Tra­ gödie der Revolution, wofür der Sickingen nur Gewand wäre, beiseitege­ schoben, und es wird gefragt, was der wirkliche »Sickingen« in den tatsäch­ lichen Klassenkämpfen seiner Zeit darstelle. Die Antwort von Marx ist klar2. Wenn man das I ndividuelle des Sickingen abstreift, »SO bleibt übrig - Götz von Berlichingen. In diesem letztem miserablen Kerl ist der tragische Gegen­ satz des Rittertums gegen Kaiser und Fürsten in seiner adäquaten Form vor­ handen, und darum hat Goethe mit Redit ihn zum Helden gemacht«. Sickin­ gen in seinem Kampf ist »in der Tat ein Don Quichotte, wenn auch ein hi­ storisch berechtigter « . Diese Bemerkung, auf deren weitere Folgen wir sogleich ausführlidi eingehen wer den, ist recht aufschlußreich ; sie beleuchtet scharf den ganzen Komplex der prinzipiellen Gegensätze zwischen den Anschauungen von Marx und La­ salle, ist aber zugleich geeignet, die Beziehungen beider in diesen Fragen zu Hegel und zu seinen Nachfolgern zu zeigen. Der Gegensatz kommt in der ästhetischen Auffassung Götz von Berlichingens, in der Beurteilung Goethes klar zum Ausdruck, um so klarer, weil sie in der politischen Beurteilung des Götz als eines »miserablen Kerls« ganz einig sind. Marx lobt, wie wir gesehen haben, Goethe, weil er in Götz einen Helden wählt, in dem der hi­ storische Gegensatz zwischen Rittertum und Kaiser und Fürsten zu angemes­ senem Ausdruck gelangt. Er befindet sich in dieser Hinsicht in weitgehendem Einklang mit Hegel. Hegel schreibt : »Diese Berührung und Kollision der mittelalterlichen Heroenzeit und des gesetzlichen modernen Lebens zum ersten Thema gewählt zu haben, bekundet Goethes großen Sinn. Denn Götz, Sickin­ gen sind noch Heroen, welche aus ihrer Persönlichkeit, ihrem Mut und redu­ lichem geraden Sinn heraus die Zustände in ihrem engeren und weiteren Kreise selbständig regulieren wollen ; aber die neue Ordnung der Dinge bringt Götz selber ins Unrecht und richtet ihn zugrunde. Denn nur das Rittertum und Lehnsverhältnis sind im Mittelalter der eigentliche Boden für diese Selbl Bd. m, S. 1 7 3 . 2 B d . 111, S. 1 7 3-174.

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker s tändigkeit1 . « Diese Ausführungen schließen auch bei Hegel mit dem Hin­ weis auf Don Quicho tte. Es kommt hier nicht auf den diametralen Gegen­ satz in der Bewertung von Götz ( »miserabler Kerl « und »Heros «), son­ dern darauf an, daß sowohl Hegel wie Marx Götz und Sickingen als Reprä­ sentanten einer untergehenden Zeit erfaßt haben und Goethes dichterische Bedeutung darin sahen, daß er einen weltgeschichtlich-typischen Konflikt zum Thema gewählt hat. Ganz anders Lassalle. In seinem Antwortbrief an Marx und Engels klammert er sich an den Ausdruck »miserabler Kerl «, lehnt das Lob Goethes von Marx entschieden ab und meint, man könne »nur aus Man­ gel an historischer Anlage in dem Geist Goethes « erklären, »wie er diesen durchaus nach rückwärts gewandten Burschen zum Helden einer Tragödie machen konnte2. « Auf den inneren Widerspruch, der dabei in Lassalles gan­ zer Geschichtsauffassung zutage tritt, kommen wir erst bei der Analyse seines Antwortbrief es zu sprechen. Dort wertet er die ganze Bauernbewegung, ganz wie die des historischen Sickingen, als reaktionäre Bewegung, die folglich gerade nach seiner Auffassung kein Thema zur Tragödie ergeben könne. Wir weisen nur deshalb schon jetzt auf diesen Widerspruch hin, weil darin die be­ sondere Stellung Lassalles zu Hegel und zu den Nachhegelianern d eutlich wird. Sie alle gehen über die inhaltlich-historische Auffassung des Tragischen bei Hegel hinaus und erstreben eine allgemeine formale Konzeption der Tragödie, in deren Mittelpunkt, wie wir gezeigt haben, die - formal auf­ gefaßte - Revolution steht. Die Folgen dieser Auffassungen haben wir b ei zwei repräsentativen Zeitgenossen Lassalles, bei dem �sthetiker Vischer und bei dem Dichter Hebbel, bereits angedeutet. Jetzt müssen wir zu dem dort Ausgeführten nur so viel hinzufügen, daß bei Vischer infolge des rein formalen Begriffs des Tragischen sowohl der Götz wie der Bauernkrieg als Tragödien möglich sind3, während bei dem konservativen Hebbel der

1

Xsthetik, Bd. 1, S .

246-247. Selbstverständlich muß man bei dem Begriff »Hero s «

an d i e spezifische Hegelsche Bestimmung d e s » Vo rrechtlichen«, vor d e r » bürger­ lichen GesellschaA:c Liegenden denken. Vgl. das früher über die Tragödie in der » Phänomenologie« An geführte und insbesondere die Rechtsphilosophie, Zusatz, Phil. Bibl., S .

2 A . a . 0., S. 1 96.

§ 93,

308-3 09 .

3 Vgl. neben der früher angeführten Stelle besonders Xsthetik, § 3 6 8 , Bd. II, S. 273 bis 274. Es i s t freilich für d e n gemäßigten Liberalen Vischer charakteristisch, daß er, acht Jahre nach der Emp fehlung des Bauernkrieges als Thema, selbst das Sik­ kingen-Thema ablehnt. » Er war ein tüchtiger Mann, aber kein Heros im höheren Sinne«, s chreibt er an Lassalle am

2 6 . 4. 1 8 5 9. Mayer, Bd.

II, S .

206.

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formale Begriff so zugespitzt wird, daß die tragische Kollision sich der Erb­ sünde nähert und es dramatisch ganz gleichgültig wird, »ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung zugrunde gehtl «, womit der Weg von Hegel über seine Nachfolger zu Schopenhauer beschritten wird. Lassalle, der grundsätzlich au f dem Boden der formalen Auffassungen des Tragischen steht, bemüht sich verzweifelt, den reaktionären Fol gen seines Ausgangspunktes zu entgegehen, aus der formalen Bestimmung des Tragi­ schen, aus dem formalen Begriff der Revolution revolutionäre Inhalte zu ge­ winnen. Natürlich vergebens. Um nicht einem reaktionären »Objektivismus «, einer metaphysischen Apologie des Bestehenden zu verfallen, ist er gezwun­ gen, sich einem moralisierenden Subjektivismus in die Arme zu werfen. Bei Marx ist das Urteil über Götz eine objektiv-historische Feststellung, die in keinem Widerspruch zu der Feststellung Hegels (oder zur Gestaltung Goe­ thes) steht, wenn er auch dabei den Idealismus Hegels materialistisch » auf die Fü ße« stellt, d. h. aus der mythologisierenden Darstellung eine wirt­ schaftlich-klassenmäßige Analyse macht, wenn er auch bei Goethe die »phi­ listerhaften« Grenzen klarer erkennt als irgendwer sonst. Lassalles Urteil ist jedoch, trotz politisch inhaltlicher Obereinstimmung mit Marx, ein moralisie­ rendes Werturteil2. Um nun auf den Kern der Polemik selbst zurückzukom­ men, muß von Marx' Standpunkt aus gefragt werden, was für eine Tragö­ die auf solcher Grundlage entstehen kann. Die Tragödie liegt nach Marx darinJ, daß »Sickingen und Hutten untergehen, weil sie in ihrer Einbildung Revolutionäre waren (letzteres kann von Götz nicht gesagt werden) und ganz wie der gebildete polnische Adel von 1 8 30 sich einerseits zu Organen der modernen Ideen machten, anderseits in der Tat aber ein reaktionäres Klasseninteresse vertraten « . Das heißt, Sickingen konnte von seiner Klasse aus, als Ritter, nicht anders handeln. »Sollte er anders beginnen, so müßte er direkt und gleich im Beginn an Städte und B auern appellieren, d. h. exakt an die Klassen, deren Entwicklung - negiertem Rittertum. « Engels, der auf diese Seite der Frage noch ausführlicher als Marx eingeht, unterstellt, um sich Lassalle verständlicher zu machen, für einen Augenblick die für Lassalle günstigste Annahme, Sickingen und Hutten hätten vorgehabt, die Bauern zu befreien. »Damit hatten sie aber sogleich«, fährt er fort4, » den tragischen »Mein Wort über das Drama.« 1 Mehring ist, wie auch sonst oft, hier stärker von Lassalle als von Marx beeinflußt. Bd. II, s. I I O. 3 Ibid„ S. 1 74· 4 Ibid„ S. 1 8 3- 1 8 4 . x

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker Widerspruch, daß beide zwischen den Adel einerseits, der dies entschieden nicht wollte, und die Bauern anderseits gestellt waren. Hier lag meiner An­ sicht nach die tragische Kollision zwischen dem historisch notwendigen Postu­ lat und der praktisch unmöglichen Durchführung« (die letzte Auszeichnung von uns) . Es ist aus alledem leicht ersichtlich, daß die »beabsichtigte Kolli­ sion«, die Marx lobt, mit dem wirklichen Thema Lassalles nichts gemein­ sam hat, ja ihr diametral entgegengesetzt ist. Wir können dabei die Frage der »formalen« Auffassung der Revolution, die der Lassalleschen Tragödie der Revolution beiseite lassen, da Marx' und Engels' Stellung zu dieser idealistischen Konzeption ganz klar erscheint. Beschränken wir uns auf das Thema Bauernkrieg im - von Lassalle gewünschten - Zusammenhang mit der Revolution von 1 84 8 . Die Parallele zwischen beiden ist keineswegs ein Lassallescher Gedanke. Engels hat diesen Vergleich in seiner Studie über den deutschen Bauernkrieg (in der Revue der »Neuen Rheinischen Zeitung« 1 8 5 0) sehr konkret, mit großer Schärfe gezogen. Wenn nun Marx und Engels in ihrer Polemik gegen Lassalle immer wieder auf die Münzerfrage zu spre­ chen kommen, so ergibt sich das ebenso notwendig aus ihrer Stellung zur Re­ volution von 1 84 8 (und damit - wenn auch in methodisch entgegen­ gesetzter Weise, als es Lassalle tat - zur bürgerlichen Revolution überhaupt) , wie Lassalles Wahl und Interpretation des » Sickingen «-Themas sich aus sei­ ner Stellung zur bürgerlichen Revolution ergab, die er freilich mit der Re­ volution überhaupt gleichsetzte. Engels führt das bei der Analyse von Mün­ zers Position mit unübertroffener Klarheit aus : »Es ist das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die B ewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt . . . Er findet sich notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma : was er tun kann, wider­ spricht in seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmit­ telbaren Interessen seiner Partei ; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er muß im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigene Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, daß die Interessen jener fremden Klasse ihre eigenen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verlorent . « Die Tragik Münzers ist also historisch ; es lassen sich aus ihr wohl strategisch­ taktische Lehren ziehen, die sich - mutatis mutandis - auf andere Situationen 1

Engels : »Der deutsc:he Bauernkrieg. « Elementarbücher des Kommunismus, Bd. vm, S. n7- n 8 .

Die Sickingendebatte anwenden lassen, es führt aber notwendig zur Verfälschung der Dialek­ tik, zum Opportunismus, wenn die oben angeführten Sätze Engels' ab­ strakt, im Sinne einer allgemeinen Warnung vor der Aufnahme des Kamp­ fes in einer » unreifen « Situation aufgefaßt werden. Darum hob Lenin in seinem Artikel gegen Martinowt richtig und scharf den konkret-historischen Charakter dieser Sätze hervor. Martinow (wie zur selben Zeit auch Plecha­ now) wollte die Engelssche Münzeranalyse als Argument gegen die Teil­ nahme der RSDAP an der revolutionären Regierung in der Revolution von 1 90 5 , für die Hegemonie der Bourgeoisie in der bürgerlichen Revolution aus­ nützen. Lenin wies schlagend nach, daß der konkrete Widerspruch in der Lage Münzers, aus der auch Engels im Brief an Lassalle seine Tragik ableitet, mit diesem Problem gar nichts zu tun hat, daß Martinow den Ausspruch Engels' nur als Vorwand benützt, um der wirklichen Analyse der Lage und den Folgerungen einer richtigen Analyse auszuweichen. Die Ausführungen von Engels sind eine konkrete Analyse der Klassenlage Deutschlands um 1 5 2 5 , und man kann aus ihnen gerade durch Erkenntnis der Tragik Münzers erken­ nen, wie aus einer schweren, »unreifen« Situation das revolutionär mög­ liche Maximum durch richtige und entschlossene Praxis herausgeholt wer­ den kann. Sie ist aber das Gegenteil dessen, was die Opportunisten wollen : das » Urbild « einer »unreifen« Lage, in der überhaupt nicht (d. h . i m Inter­ esse der feindlichen Klasse) gehandelt werden kann. In der Analyse der frü­ heren Revolu tionen entwickeln Marx und Engels stets aus der »unreifen« Lage jene Selbsttäuschungen der Revolutionäre über die wirkliche Richtung des objektiven, fortschrittlich-revolutionären Vorgangs, die als historisch un­ vermeidliche falsche Spiegelungen des Prozesses in den Köpfen der Anhänger der » extremen Partei« entstehen. So Marx in der Analyse der Jakobiner2, so Engels im Falle Münzer. Diese revolutionäre Selbstkritik der Vorläufer durch Marx, Engels und Lenin bietet gleichzeitig die Unterlage sowohl zum historischen Verständnis (und zur dichterischen Bearbeitung) früherer Revolutionen, wie dazu, aus dieser Selbstkritik die richtigen politischen Leh­ ren zu ziehen. Die abstrakt-schematische, idealistisch-unhistorisd1e Auffassung dagegen (von Lassalle bis Martinow und über ihn hinaus in den verschie­ densten Nuancen) führt praktisch zum Opportunismus, versperrt theore­ tisch den Weg zum Verständnis der früheren Revolutionen. Das kann sich, je nach der historischen Lage des jeweiligen Opportunismus, entweder in der 1 Wk., deutsche Ausgabe, Berlin 1 929, Bd. vu, S. 2 5 3 ff. 2 Vgl. z. B . » Heilige Familie «, Gesamtausgabe, Bd. III, S. 29 8 .

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker I dealisierung der früheren Revoiutionen, im Verwischen der besonderen Un­ terschiede zwischen den verschiedenen Entwicklungsstufen oder in der Ver­ zerrung, Herabsetzung, Verleumdung ihres revolutionären Charakters (Bern­ stein, Conradi über die Pariser Kommune) äußern. In j edem Fall wird der dialektisch-historische Zusammenhang zerrissen, der sowohl die Verwandt­ schaft wie die Verschiedenheit der verglichenen Lagen umfaßt. Aber weil die Analyse der Lage Münzers bei Marx, Engels, Lenin konkret historisch ist, hängt jede Anwendung ihrer Lehren von der Lage ab, in der u nd auf die sie angewendet werden sollen. Engels sah im Jahre r 8 5 0 im Münzerproblem - mutatis mutandis - ein Problem der Revolution von 1 8 4 8, wie unter anderem seine Ausführungen zeigen, die sich unmittelbar an das oben von uns angeführte Zitat anschlie­ ßen. Daß er aber im ganzen Problem, selbst in dieser breitesten Auffassung, nur das Problem einer bestimmten Stufe der revolutionären B ewegung sah, z eigen die von uns ebenfalls angeführten einleitenden Sätze. Bereits l 8 70 (in den Vorbemerkungen der zweiten Ausgabe) stellt Engels die Frage der Analogie von r 5 2 5 und 1 84 8 so, daß das Proletariat »also auch auf Bun­ desgenossen angewiesen« ist ; die tragische Lage Münzers verwandelt sich also - mit der Herausbildung und Erstarkung der revolutionären Klasse - in die strategischen Fragen des Oberganges der bürgerlichen Revolution in die proletarische, der Bundesgenossen und der Reserven der Revolution. So ist bei Marx und Engels diese Analyse der » tragischen « Lage der » extremen Partei« keinen Augenblick ein » ewiges « Problem. Engels meint mit ihr nur die besondere Stellung Münzers als des Führers der revolutionä­ ren » Plebejer«-Partei, die - wenigstens in der Phantasie - selbst über die kaum empordämmernde bürgerliche Gesellschaft hinausgreifen mußte. Die Analogie mit l 8 4 8 bezieht sich aber bei Marx und Engels nur auf bestimmte konkrete Momente der Klassenbeziehungen und auf die sich daraus ergeben­ den strategisch-taktischen Probleme, also auf bestimmte Seiten der Klassen­ grundlage der Stellung Münzers, nicht auf seine Tragik als » die« Tragik » der« Revolution. Das »Kommunistische Manifest« stellt noch vor dem Ausbruch der Revolution ein klares Aktionsprogramm für die »extreme Par­ tei« auf. Und in einer konkreten Selbstkritik nach der Niederlage der Revolution, in Erwartung eines neuen revolutionären Aufschwungs, stellt Marx fest, daß sein Zukunftsbild sich vollständig bewahrheitet hat. Er stellt freilich ebenfalls fest, daß mit den Erfolgen zugleich der »Kommunisten­ bund« sich »bedeutend gelockert« hat; damit aber verlor die Arbeiter­ partei ihren einzigen festen Halt und geriet dadurch in der allgemeinen

Die Sickingendebatte Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten1• Und dieselbe »Ansprache « arbeitet genaue taktische Richt­ linien aus, um das richtige Verhalten der Arbeiterpartei zu den verschiede­ nen Klassen und deren Parteien in allen Phasen des kommenden revolutionä­ ren Aufschwungs zu sichern. Münzers Tragik ist also für Marx und Engels die Tragik einer bereits damals geschichtlich überholten Situation. Daß sie sie trozdem in den Vordergrund rückten - und zwar, wie wir sahen, nicht nur gelegentlich der Sickingen-Debatte -, beruht politisch-historisch auf der von Engels wiederholt auf gezeigten Problemverwandtschaft mit der Revo­ lution von 1 84 8, deren Lehren zu ziehen und den Anhängern einzuprägen ein Hauptanliegen ihrer Tätigkeit nach der Niederlage der Revolution ge­ wesen ist. In der Sammlung der Kräfte, in ihrer ideologischen Klärung spielte noch in dieser Periode Lassalle für Marx und Engels keine unbedeu­ tende Rolle. Darum mußten sie seinen Versuch begrüßen, an diese Fragen künstlerisch heranzutreten. Eben deshalb mußten sie aber versuchen, ihn von der grundlegenden Falschheit seiner Konzeption zu überzeugen. Der - scheinbar ästhetische - Streitpunkt, ob Münzer- oder Sickingen­ Thema, löst sich also in die Frage auf, ob man die Hauptschwierigkeit der Revolution in der wirtschaftlich-ideologisch-organisatorischen Schwäche der revolutionären Klasse selbst2 sieht, woraus die von Engels soeben skizzierte Münzer-Tragik und die von Marx und Engels in ihren Briefen an Lassalle formulierten Einwände gegen die Eignung des Sickingen-Themas folgen, oder ob man mit Lassalle eine » allgemeine« Revolution gegen das »Alte « als Zentralproblem erblickt, wobei sich dann als Hauptfrage die »Diploma­ tie«, die »Realpolitik«, das Thema Sickingen ergibt. Es ist also auf der einen Seite die Frage nach den »Bundesgenossen « der revolutionären Klasse, eine objektiv-historische Frage. Auf der anderen Seite die Frage nach Führer­ fähigkeiten einer Art von » intellektueller« Zwischenschicht über sämtliche mit dem herrschenden Regime unzufriedenen Klassen, wobei das Zentral­ problem die Verwachsenheit dieser Führer mit der »alten« Welt ist, die Schwierigkeit für sie, »den alten Adam auszuziehen « ; also eine ethisch­ psychologische Frage. Marx und Engels führen auf diese Weise eine wirkliche

1 Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten, März 1 8 5 0. Ele­ mentarbücher des Kommunismus, Bd. 1 , S . 6 0-6 1 . Es ist merkwürdig, daß Las­ salle diese Ansprache „vortrefflich « findet. Brief an Marx 3 . 7. 1 8 5 1 , Bd. m, s. 3 6 . 2 Bei Engels die »Plebejer«, a. a. 0., S. 39-40.

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker

Selbstkritik des » extremen«, allein wirklich revolutionären Flügels der Revolution von r 8 4 8 durch, decken die objektiven Bedingungen des Scheiterns der Revolution mit Hilfe einer schonungslosen Klassenanalyse auf. Lassalle dagegen macht das - aus objektiv wirtschaftlichen Gründen - schwan­ kende, » diplomatisierende«, » rcalpolitische « Zentrum zum Gegenstand seiner Kritik. Da er in seinem Verhalten das historisch-notwendige objektiv wirtschaftliche Moment nicht (oder nicht in seiner wirklichen Bedeutung) 1 erkennt, ist er zu einer rein ideologischen Auslegung des Geschichtsablaufs ge­ zwungen, was dann inhaltlich zum Sickingen-Thema, ästhetisch-formell zum moralisierenden Pathos, zur » tragischen Schuld «, zu Schiller führt. Sowohl Marx wie Engels stellen denn auch in ihren Briefen die Frage des Schillerschen Stils im »Sickingen« . D amit wendet sich die Diskussion noch stärker in eine ästhetische Richtung, ohne deshalb ihre enge Verknüpfung mit dem bisher analysierten Grundgegensatz zu verlieren. Denn der ent­ scheidende kompositionelle Fehler, den Marx und Engels bei Lassalle rügen, ist nach Marx 2 : »Die adligen Repräsentanten der Revolution - hinter deren Stichworten von Einheit und Freiheit immer noch der Traum des alten Kai­ sertums und des Faustrechts l auert - durften dann nicht so alles I n teresse absorbieren, wie sie es bei Dir tun, sondern die Vertreter der Bauern (nament­ lich dieser) und der revolutionären Elemente in den Städten mußten einen ganz bedeutenden aktiven Hintergrund geben. « Sehr ähnlich führt Engels aus3, nachdem er Lassalle für seine Darstellung der Fürsten und S tädte ge­ lobt hat: » und somit sind die sozusagen offiziellen Elemente der dama­ ligen Bewegung ziemlich erschöpft. Worauf Sie aber nicht, wie mir scheint, den gehörigen Nachdruck gelegt haben, sind die nichtof:fiziellen plebejischen und bäuerlichen Elemente, mit ihrer daneben laufenden theoretischen Reprä­ sentation. « Nach dem bisher Dargelegten ist klar, worin der eigentliche Kern dieser ästhetischen, kompositionellen Einwände besteht. Marx und En­ gels versäumen aber k eine einzige Wendung der Diskussion, um Lassalle •





Es kommt hier auf die entscheidende Stellungnahme Lassalles in seinen Werken und politischen Taten an. Natürlich finden sich bei ihm Aussprüche in Hülle und Fülle, die die Rolle des Proletariats anerkennen. Es kommt aber darau f an, daß seinen Werken, seinem Handeln eine ganz andere Konzeption der Revolution zu­ grunde liegt und die Verbindung der beiden Prinzipien nur rein äußerlich, eklek­ tisch sein kann. Wir werden sehen, daß im Antwortbrief Lassalles dieser Wider­ spruch ganz klar zutage tritt. 2 Bd. I I , s. 174. 3 Ibid., S. 1 8 2. I

Die Sickingendebatte von allen möglichen Gesichtspunkten auf das Fehlerhafte seiner Auffassung aufmerksam zu machen. So weist Engels im unmittelbaren Anschluß an das soeben angeführte Zitat darauf hin, daß Lassalle das Ziel, das er sich gesteckt hat, in Sickingen einen Helden der »politischen Befreiung und natio­ nalen Größe 1 « darzustellen, durch Darstellung des Bauernkrieges viel bes­ ser erreicht hätte. Denn, sagt Engels, »die Bauernbewegung war in ihrer Weise ebenso national, ebenso gegen die Fürsten gerichtet wie die des Adels, md die kolossalen Dimensionen des Kampfes, in dem sie erlag, stechen sehr bedeu­ tend ab gegen die Leichtigkeit, mit der der Adel, Sickingen im Stich lassend, sich in seinen historischen Beruf des Schranzentums ergab . « Und Engels führt das Verfehlen der wirklid1 tragischen Elemente in Sickingens Schicksal2 auf » diese Zurücksetzung der B auernbewegung« zurück. Noch entschiedener drückt Marx diesen Gedanken aus. Er zieht die Konsequenz seiner Polemik gegen das Sickingen-Thema und greift geradewegs den zentralen Gedanken­ inhalt von Lassalles Drama an, indem er ihm zum Vorwurf macht, daß die Handlung seines Dramas nur die Probleme der bürgerlichen Revolution um­ fasse, ohne entschieden über sie hinauszugehen. »Du hättest«, schreibt er3 im Anschluß an die eben angeführte Stelle über Vernachlässigung der Bau­ ern, » dann auch in viel höherm Grade die modernsten Ideen in ihrer reinsten Form (von uns ausgezeichnet !) sprechen lassen können, während jetzt in der Tat, außer der religiösen Freiheit, die bürgerliche Einheit die Hauptidee bil­ det. « Und er versucht damit, der Kritik der von Lassalle beabsichtigten Selbstkritik der Revolution von 1 8 4 8 eine dialektische Wendung in dem Sinne einer Selbstkritik Lassalles zu geben, indem er schließt : »Bist Du nicht selbst gewissermaßen wie Dein Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler verfallen, die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejisch­ Münzersche zu stellen? « Wenn wir nun zum Schluß zur - scheinbar - a m reinsten ästhetischen Seite der Diskussion übergehen, zur Kritik des Schillerschen Stiles in Lassalles Drama, so ist aus dem bisher Angeführten wohl hinlänglich klar, daß auch diese Frage ihre klassenmäßige und weltanschauliche Seite hat. Nicht zufäl­ lig setzt Marx seine Stilkritik zwischen die beiden von uns zuletzt angeführ­ ten Sätze. Wenn er hier Lassalle den Vorwurf macht, »Du hättest dann von selbst mehr Shakespearisieren müssen, während ich Dir das Schillern, das Ver1 2

Vorwort, Wk„ B d . 1, A. a. 0., S . 1 8 3 .

3 Ibid.,

S.

1 74.

S.

1 3 0.

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker wandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeu­ tendsten Fehler (die letzte Auszeichnung von uns) anrechne«, so leitet dieser Satz sehr zwingend und überzeugend zum Vorwurf des D iplomatisierens mit der Revolution über. Marx weist hier, freilich sehr vorsichtig, d urchaus im Rahmen der ästhetischen Debatte bleibend, auf den Zusammenhang von Lassalles abstrakt-moralisierendem Idealismus und seinem politischen Op­ portimi >mus hin. Es wäre also ganz verfehlt, in der Fragestellung Shakespeare kontra Schiller eine bloß ästhetische Frage zu sehen. Oder gar, wie dies Mehring tut, in der Vorliebe von Marx und Engels für Shakespeare, Lassalles für Schiller bloß individuelle Geschmacksfragen zu erblicken. Wenn Mehring in einem dieser Frage gewidmeten Aufsatz1 ausführt : »Lassalle war nicht minder als Marx und Engels ein Schüler Fichtes und Hegels «, so verwischt er damit alle wesentlichen entscheidenden Probleme des philosophischen Gegensatzes zwi­ schen Marx, Engels und Lassalle. Lassalle hat tatsächlich philosophisch auf Fichte zurückgegriffen, so wie er ästhetisch auf Schiller zurückging, d. h„ er macht vom objektiven I dealisten Hegel einen Schritt rückwärts zum subjekti­ ven Idealismus, während Marx und Engels in Fichte und Schiller bereits durch Hegel überwundene und durch die materialistische » Umstülpung« Hegels erst recht der Vergangenheit angehörende Gestalten erblickten. Es ist also ganz schief, wenn Mehring einerseits die » Antipathie« von Marx gegen Schiller, andererseits die » Sympathie« Lassalles für ihn aus den » Umstän­ den « erklärt, da dieser »unterscheidet zwischen Schiller und dessen bürger­ lichen Interpreten« . Nein. Marx und Engels haben in Schiller (und im Zu­ sammenhang damit in Kant) eine ganz bestimmte, konkrete Entwicklungs­ stufe der deutschen Ideologie abgelehnt. Daß diese Ablehnung auch ihre ästhetischen Seiten besitzt, ist selbstverständlich. Marx und Engels waren viel zu einheitliche Persönlichkeiten, als daß ihre weltanschaulichen Bejahungen und Ablehnungen sich nicht auch im rein Geschmacklichen, in Sympathie und Antipathie, in ästhetischem Gefallen und Mißfallen geäußert hätten. So z. B. Marx' strenge Kritik des »übertriebenen Reflektierens der Individuen über sich selbst« (was, wie Marx2 richtig hervorhebt, »von D einer Vor­ liebe für Sdliller herrührt«), insbesondere bei den Frauengestalten. D as Entscheidende in der Frage Shakespeare kontra Schiller liegt aber für Marx und Engels darin, daß das, was sie vom D rama verlangen, das kräftige l

Schiller und die großen Sozialisten. Neue Zeit xxm,

2 A . a. 0., S. 1 7 5 ·

n,

S. 1 5 4 ·

Die Sickingendebatte und realistische Schildern der geschichtlichen Klassenkämpfe, so wie sie wa­ ren, das sinnfällige Gestalten der wirklichen treibenden Kräfte, der wirk­ lichen objektiven Konflikte in ihnen, nur mit den dichterischen Mitteln mög­ lich ist, die Marx hier mit dem Ausdruck »Shakespearisieren « bezeichnet. Noch ausführlicher als Marx geht Engels in seinem Brief an Lassalle auf diese Frage eint. Er schreibt hier über die Charaktere des Dramas : »Mit vollem Recht treten Sie der jetzt herrschenden schlechten Individualisierung entgegen, die auf lauter Klugscheißereien hinausläuft und ein wesentliches Merkmal der im Sande verrinnenden Epigonenliteratur ist. Indes scheint mir, daß eine Person nicht bloß dadurch charakterisiert wird, was, sondern auch wie sie es tut ; und nach dieser Seite hin, glaub ich, würde es dem Gedanken­ inhalt des Dramas nichts geschadet haben, wenn einzelne Charaktere etwas schärfer voneinander in mehr gegensätzlicher Weise geschieden worden wä­ ren. Die Charakterisierung der Alten reicht heutzutage nicht mehr aus, und hier, meine ich, hätten Sie der Bedeutung Shakespeares für die Entwicklungs­ geschichte des Dramas wohl unbeschadet ein wenig mehr Rechnung tragen können. « Diese Stelle im Zusammenhang mit der Marxschen Empfehlung des » Shakespearisierens « sowie mit der anderen Stelle in Engels Brief, worin er2 die Schilderung der »damaligen, so wunderbar bunten plebejischen Ge­ sellschaftssphäre« wiederum mit der Shakespearefrage zusammenbringt, erklären, scheint uns, den Zusammenhang dieser entschiedenen ästhetischen Einwände von Marx und Engels mit dem früher Angeführten genug, wie es auch schon früher dargelegt wurde, wie das Zurückgreifen Lassalles auf Schiller mit seiner ganzen Konzeption der Revolution, mit dem Kern seiner Weltanschauung zusammenhängt. Allerdings hat diese Berufung von Marx auf Shakespeare einen doppelten Ton, den wir, um die Stellungnahme gegen Lassalle richtig würdigen zu kön­ nen, kurz analysieren müssen. Wir haben bereits im Zusammenhang mit der Hegelschen Auffassung vom Tragischen auf die von Marx hingewiesen und angedeutet, daß er auch in dieser Frage Hegel » auf die Füße gestellt« hat. Der Weg hierzu konnte nur die gesellschaftlich-geschichtliche Konkretisierung des tragischen Problems sein. Bei Hegel selbst ist zwar die Tragö die ebenfalls ein gesellschaftlich-geschichtliches Gebilde, jedoch bei aller Klarheit und Kon­ kretheit im einzelnen doch in mystifizierter Form. Indem Hegel die Periode der Tragö die, die Periode der » Heroen« in die Zeit vor der Entstehung der 1 A.

a.

0., S. 1 8 1-1 8 2 .

2 Ibid., S . 1 8 3 .

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker bürgerlichen Gesellschaft setzt und im Phänomen des Tragischen die dia­ lektische Selbstauflösung dieser Periode, ihren Übergang in die bürgerliche Gesellschaft erblickt (besonders in der »Phänomenologie«), lokalisiert er ganz bewußt die Tragödie auf die griechisch-klassische Entwicklung, und mit Hilfe der Verbundenheit von griechischer Tragödie und Mythologie gelingt es ihm, diesen Zusammenhang geschichtsphilosophisch zu mythologisieren. (Shakespeare ist in Hegels Asthetik ein merkwürdiges analoges Nachspiel, e twa in der Art der Vicoschen »Ricorsi «.) Marx stellt für die Vergangenheit das Moment der dialektischen Auflösung einer Gesellschaftsordnung in den Mittelpunkt der Theorie des Tragischen. Das Tragische ist also der Ausdruck des heroisd1en Untergangs einer Klasse. So schreibt er, gerade in bezug auf Shakespeare, allerdings ohne seinen Namen zu nennen 1 : »Wenn der Unter­ gang früherer Klassen, wie des Rittertums, zu großartigen tragischen Kunst­ werken Stoff bieten konnte, so bringt es das Spießbürgertum ganz angemes­ sen nicht weiter als zu ohnmächtigen Außerungen einer fanatischen B osheit und zu einer Sammlung Sancho Pansascher Sinnsprüche und Weisheits­ regeln. « Noch schärfer kommt der historische Charakter des tragischen Phä­ nomens in »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« zum Ausdruck, wo in derselben geschichtlichen Entwicklung des Niedergangsprozesses einer Klasse und der von ihr beherrschten Gesellschaftsordnung die tragische Aus­ drucksweise eine Etappe ist, auf die Etappen des weiteren Niedergangs, der Auflösung des Tragischen ins Komische folgen. Er schreibt über das Interesse der deutschen Kämpfe für die Völker des Westens2 : »Es ist lehr­ reich für sie, das ancien regime, das bei ihnen seine Tragödie erlebte, als das deutsche Revenant seine Komödie spielen zu sehen. Tragisd1 war seine Ge­ schichte, solange es die präexistierende Gewalt der Welt, die Freiheit dagegen ein persönlicher Einfall war, mit einem Wort, solange es selbst an seine Be­ rechtigung glaubte und glauben mußte. Solange das ancien regime als vor­ handene Weltordnung mit einer ers t werdenden Welt kämpfte, stand auf seiner Seite ein weltgeschichtlicher Irrtum, aber k ein persönlicher. Sein Unter­ gang war daher tragisch. « Dieser einen Form der Tragödie stellen Marx und Engels in ihrer Polemik gegen Lassalle einen zweiten Typus an die Seite. Bei Hegel war der tragische Held stets der Verteidiger einer von der Geschichtsentwicklung zum Tode

1

z

Besprechung von Daumers » Die Religion des neuen Weltalters «, Revue der »Neuen Rheinischen Zeitung« . Nachlaß, Bd. m, S. 4 0 4 . Gesamtausgabe, B d . 1, S. 6 1 0-6 I I .

Die Sickingendebatte

verurteilten Gesellschaftsordnung. Aus der eben angeführten Stelle ist ersicht­ lich, daß Marx für Altertum und Mittelalter die Richtigkeit dieser Auffas­ sung, freilich bei Entfernung der Mythologie und der idealistischen Mysti­ fikation (Bewertung Götz von Berlichingens), bei konkreter Zurückführung des Phänomens auf seine gesellschaftlichen Ursachen im allgemeinen aner­ kannt hat. Für die Neuzeit jedoch gab es bei Hegel keine Tragödie und konnte es keine geben. Denn die Verwirklichung der Idee im Staate, die Ent­ stehung der bürgerlichen Gesellschaft, die Unterordnung des einzelnen unter die Arbeitsteilung schaffen einen Weltzustand, in dem der einzelne nicht als die selbständige totale und zugleich individuelle lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschränktes Glied derselben erscheint ; anderseits ist diese Gesellschaftordnung so sehr mit der Vernunft identisch, daß eine prinzipielle Auflehnung gegen sie als Ganzes (z. B. Karl Moor bei Schiller) als » knabenhaft« wirken mußt. Die Ablehnung der modernen Tragödie ist also bei Hegel die direkte Folge seiner ganzen Auffassung der Neuzeit, die sowohl die prosaische, der Poesie ungünstige Wesensart des gan­ zen » Weltzustandes« mit dem Sich-selbst-Erreichen und Erfassen des Geistes in Zusammenhang bringt, wie sie aus eben demselben Grunde die Möglich­ keit des » heroischen Untergangs« einer Klasse für diese Periode bezweifelt. Und eine Tragödie des Revolutionärs mußte von ihm noch mehr abgelehnt werden2. Gerade hier liegt die Frage für Marx und Engels. Die nachhegel­ sche Literatur und Asthetik hat zwar, indem sie auch ästhetisch das »Ende der Geschichte « Hegels zu überwinden unternahm, wie wir gesehen haben, das Problem der Revolutionstragödien gestellt. Sie hat jedoch bei dieser Fragestellung ebenfalls höchstens die Hegelsche Stufe erreicht, d. h. die Frage in einer Weise gestellt, die das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft (als S tufe der bereits verwirklichten Vernunft) nicht erschüttert - woraus dann r Ästhetik, Bd. 1, S. 26 5 -2 67. 2 Die einzige Ausnahme der tragischen Auffassung eines » Revolutionärs « bei He­

gel ist das Schicksal von Sokrates. Diese Ausnahme beruht ab er auf der Grund­ konzeption des späteren Hegel, wonad1 es - um die Worte von Marx zu variieren - eine Revolution gab, aber keine mehr gibt. Sokrates erscheint als » He­ ros « , weil er im Namen eines neuen Weltzustandes, der sich später als Christen­ tum realisierte, ein berechtigtes Prinzip gegen die Athener vertrat, welches aber diese ebenso berechtigt, weil fü r ihren Weltzustand auflösend, mit allen Mitteln von sid1 fernzuhalten versuchten . »Das Sd1icksal des Sokrates ist also echt tra­ gisch.« (Geschichte der Philosophie, Bd. u, S . 1 19 . ) Mit der Verwirklichung des Christentums hört das aber auf, und es steht Hegel ganz fern, etwa die Jako­ biner tragisch au f zufassen.

Karl Marx und Friedrich Engels als Literaturhistoriker die liberale Zwiespältigkeit Vischers und die konservative Romantik der Ge­ schichtsnotwendigkeit bei Hebbel entspringen. Lassalle versucht bekanntlich die Lösung auf der Grundlage eines revolutionären Subjektivismus (Schiller­ Tradition) . Da aber dieser Subjektivismus selbst nur der Ausdruck der un­ überwundenen Hegelsdien Grundlage (also des Nichtüberschreitens des Ho­ rizontes der bürgerlichen Gesellsdiaft) ist, erscheinen auch alle Katogorien der Hegelschen Lösung (Versöhnung usw.) in eklektischer Mischung mit denen des Sdiiller-Fichteschen subjektiven Idealismus (Tragische Schuld) . Las­ salle durchschaut dabei zwar die Hohlheit der ästhetischen Kategorien, mit denen seine Zeitgenossen das Hegelsche Prinzip vom »unpoetischen« Cha­ rakter der Neuzeit überwinden wollten (gemäßigter Realismus Visdiers, » Wirklichkeitsandacht« der liberalen Sdiriftsteller und Kunsttheoretiker der Zeit, als »Versöhnung« mit den elendesten Seiten der k apitalistisdien Wirklichkeit Deutschlands), er kann ihnen aber nur den rhetorischen I dealis­ mus und Subjektivismus des Schillerschen Pathos gegenüberstellen. Er fin­ det also auch auf künstlerischem Gebiet bloß eine eklektische Lösung, weil seine Grundeinstellung zu den Problemen, die der künstlerischen Lösung in der Realität zugrunde liegen, ebenfalls eine eklektisch-idealistische ist. Sik­ kingen soll nadi seiner Absicht ein Schillerisch revolutionärer Held sein, ist jedoch objektiv ein Held des Hegelschen Tragödientypus, der Repräsentant einer untergehenden Klasse. (Die Widersprüche stehen im Drama ungelöst nebeneinander.) Marx und Engels haben - wie gezeigt wurde - den Hegelschen Typus der Tragödie als eine Form der Tragödie angenommen. Daneben steht aber für sie die Tragödie des zu früh gekommenen Revolutionärs, die Münzer-Tra­ gödie. Mit dieser Zweiteilung ziehen sie auch ästhetisch alle Folgerungen ihrer Umstülpung der Hegelsdien Theorie des Tragischen : die Tragödie (und die Komödie) ersdieint als dichterischer Ausdruck bestimmter Stufen des Klas­ senkampfes, und zwar sowohl bei der absteigenden als auch bei der revolu­ tionären Klasse. Und der zweite Typus des Tragischen hebt auch die Hegel­ sche Charakteristik der Gegenwart als »unpoetisch« auf, jedoch in einer materialistisch-dialektischen Weise. D aß die »kapitalistisdie Produktion gewissen geistigen Produktionszweigen, wie der Kunst und Poesie, feindlich ist1 «, betont Marx wiederholt. D as kann weder durch »versöhnlichen« Rea­ lismus noch durch subjektivistische Idealisierung überwunden werden, son­ dern allein durch einen revolutionären Realismus, der die inneren Wider1 Theorien über den Mehrwert, Bd. 1, S. 3 8 2 .

Die Sickingendebatte

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sprüche der kapitalistischen Entwicklung mit schonungsloser Offenheit, mit u nerschrocken-zynischer oder revolutionär-kritischer Wahrheit bloßlegt. Es ist die Poesie der revolutionären Klarheit über die Fundamente der Vor­ wärtsentwicklungl . Die Tragödie des » ZU früh« aufgetretenen Revolutio­ närs kommt gerade in ihrer geschichtlichen Konkretheit, untrennbar ver­ knüpft mit allen Schwächen und Fehlern, die sich aus der noch »unreifen« revolutionären Lage ergeben, zur Geltung. D en traurigen Philistern gegen­ über, die mit Plechanow stets ein »Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen« ausrufen, unterstreicht Marx auf der einen Seite immer die un­ erbittliche geschichtliche Notwendigkeit, die den Untergang verursacht hat. Auf der anderen Seite betont er ebenso stark die Notwendigkeit, den Kampf dennoch aufzunehmen und die positive, weiterführende Bedeutung dessen, daß der Kampf aufgenommen und tapfer aufgenommen wurde . . . »Die Demoralisation der Arbeiterklasse wäre in dem letzteren Fall (wenn die Pariser Arbeiter auf die von der Bourgeoisie gestellte >Alternative< nicht mit Aufnahme des Kampfes reagiert hätten, G. L.) ein viel größeres Unglück ge­ wesen als der Untergang einer beliebigen Zahl von >Führern